Plenarprotokoll 16/91

Deutscher

Stenografischer Bericht

91. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Inhalt:

Wahl des Abgeordneten Hermann-Josef Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Scharf als Schriftführer ...... 9119 A DIE GRÜNEN) ...... 9135 A

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- (SPD) ...... 9136 A nung ...... 9119 B Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 9137 B

Absetzung der Tagesordnungspunkte 26 c und Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 9138 C 33 b ...... 9120 A (BÜNDNIS 90/ Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 9120 A DIE GRÜNEN) ...... 9139 C

René Röspel (SPD) ...... 9140 C

Tagesordnungspunkt 3: Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) ...... 9141 C

Vereinbarte Debatte: Patientenverfügungen Detlef Parr (FDP) ...... 9142 C

Joachim Stünker (SPD) ...... 9120 C Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 9143 B

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) ...... 9122 C Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9144 A (FDP) ...... 9124 D Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 9145 C Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 9126 D (CDU/CSU) ...... 9146 D Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 9147 D DIE GRÜNEN) ...... 9128 A Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 9148 D , Bundesministerin BMJ ...... 9129 B (SPD) ...... 9149 D

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) ...... 9130 C Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 9151 B

Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 9131 A Dr. (SPD) ...... 9152 B Wolfgang Zöller (CDU/CSU) ...... 9131 C Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) ...... 9153 B Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ...... 9132 C Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 9154 B Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) ...... 9133 D Daniela Raab (CDU/CSU) ...... 9155 A II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. , Donnerstag, den 29. März 2007

Rolf Stöckel (SPD) ...... 9156 A g) Antrag der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Margareta Wolf () und der Frak- Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 9157 A tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Reformpartnerschaften mit Af- rika intensivieren – Afrika muss auf die Tagesordnung des G-8-Gipfels in Tagesordnungspunkt 32: Deutschland 2007 (Drucksache 16/2651) ...... 9159 A a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- h) Antrag der Abgeordneten , derung des Bundeswahlgesetzes , Patrick Meinhardt, weiterer (Drucksache 16/1036) ...... 9158 B Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das Internationale Polarjahr 2007/2008 b) Erste Beratung des von der Bundesregie- und Konsequenzen für eine deutsche rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Beteiligung zes zu dem Abkommen vom 15. Dezem- (Drucksache 16/4454) ...... 9159 A ber 2003 über Politischen Dialog und Zusammenarbeit zwischen der Europäi- i) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, schen Gemeinschaft und ihren Mit- , Monika Knoche, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der gliedstaaten einerseits und der Repu- LINKEN: Keine Unterstützung von blik Costa Rica, der Republik El Militäreinsätzen aus dem Europäi- Salvador, der Republik Guatemala, der schen Entwicklungsfonds Republik Honduras, der Republik (Drucksache 16/4490) ...... 9159 B Nicaragua und der Republik Panama andererseits j) Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar (Drucksache 16/4716) ...... 9158 B Bisky, Cornelia Hirsch, Dr. Lukrezia Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der c) Erste Beratung des von der Bundesregie- Fraktion der LINKEN: Einrichtung des rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Europäischen Technologieinstituts ver- zes zum Schutz vor Gefährdung der hindern Sicherheit der Bundesrepublik (Drucksache 16/4625) ...... 9159 B Deutschland durch das Verbreiten von hochwertigen Erdfernerkundungsda- k) Antrag der Abgeordneten Brigitte ten (Satellitendatensicherheitsgesetz – Pothmer, Dr. Thea Dückert, , SatDSiG) weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 16/4763) ...... 9158 C des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Mit Mitteln des Europäischen Sozial- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- fonds Migrantinnen und Migranten so- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- wie Personen fördern, die Asyl bzw. in- ten Gesetzes zum Abbau bürokrati- ternationalen Schutz erhalten oder scher Hemmnisse insbesondere in der beantragt haben mittelständischen Wirtschaft (Drucksache 16/4772) ...... 9159 B (Drucksache 16/4764) ...... 9158 C l) Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Birgit Homburger, Markus Löning, weite- e) Erste Beratung des von den Abgeordneten rer Abgeordneter und der Fraktion der , Katrin Kunert, Dorothée FDP: Bürokratie abbauen – Zeitumstel- Menzner, weiteren Abgeordneten und der lung abschaffen und Sommerzeit per- Fraktion der LINKEN eingebrachten Ent- manent einführen wurfs eines Gesetzes zur Änderung des (Drucksache 16/4773) ...... 9159 C Eisenbahnkreuzungsgesetzes (Drucksache 16/4858) ...... 9158 D m) Antrag der Abgeordneten , Marie-Luise Dött, (Pots- f) Antrag der Abgeordneten Kerstin dam), weiterer Abgeordneter und der Andreae, Peter Hettlich, Christine Scheel, Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- weiterer Abgeordneter und der Fraktion ordneten Christoph Pries, Marco Bülow, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: , weiterer Abgeordneter und Zügig Grundsteuerreform auf den Weg der Fraktion der SPD: Schutz der Wale bringen sicherstellen (Drucksache 16/1147) ...... 9158 D (Drucksache 16/4843) ...... 9159 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 III n) Unterrichtung durch die Bundesregierung: c) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Nationaler Beschäftigungspolitischer nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- Aktionsplan der Bundesrepublik ordneten , Christine Deutschland 2004 Scheel, Dr. , weiterer Ab- (Drucksache 15/5205) ...... 9159 D geordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Für starke o) Unterrichtung durch die Bundesregierung: und handlungsfähige Kommunen Dritter Versorgungsbericht der Bun- (Drucksachen 16/371, 16/2501) ...... 9160 D desregierung (Drucksache 15/5821) ...... 9159 D d) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- p) Unterrichtung durch die Bundesregierung: ordneten Dr. , Frank Zweiter Erfahrungsbericht der Bundes- Schäffler, Dr. , weite- regierung über die Durchführung des rer Abgeordneter und der Fraktion der Stammzellgesetzes (Zweiter Stammzell- FDP: Mehrwertsteuersatz für apothe- bericht) kenpflichtige Arzneimittel (Drucksache 16/4050) ...... 9160 A (Drucksachen 16/3013, 16/3164) ...... 9161 A

e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- Zusatztagesordnungspunkt 3: manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten , Alexander a) Antrag der Abgeordneten Peter Hettlich, Bonde, Jürgen Trittin, weiterer Abgeord- , Dr. , neter und der Fraktion des BÜNDNIS- weiterer Abgeordneter und der Fraktion SES 90/DIE GRÜNEN: Waffen unter des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Kontrolle – Für eine umfassende Be- Energieeinsparung zügig verabschieden – grenzung und Kontrolle des Handels Energieausweis als Bedarfsausweis ein- mit Kleinwaffen und Munition führen (Drucksachen 16/1967, 16/3875) ...... 9161 B (Drucksache 16/4787) ...... 9160 A f) Beschlussempfehlung und Bericht des b) Antrag der Abgeordneten Marina Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- Schuster, Dr. , Jens entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- Ackermann, weiterer Abgeordneter und neten (Bayreuth), Jan der Fraktion der FDP: Katastrophe in Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeord- Simbabwe verhindern neter und der Fraktion der FDP: Beleuch- (Drucksache 16/4859) ...... 9160 A tete Dachwerbeträger auf Taxen zulas- sen (Drucksachen 16/3050, 16/4597) ...... 9161 C Tagesordnungspunkt 33: g) – l) a) – Zweite Beratung und Schlussabstim- Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- mung des von der Bundesregierung schusses: Sammelübersichten 195, 196, eingebrachten Entwurfs eines Geset- 197, 198, 199 und 200 zu Petitionen zes zu der Akte vom 29. November (Drucksachen 16/4751, 16/4752, 16/4753, 2000 zur Revision des Übereinkom- 16/4754, 16/4755, 16/4756) ...... 9161 C mens vom 5. Oktober 1973 über die Erteilung europäischer Patente (Eu- ropäisches Patentübereinkommen) Zusatztagesordnungspunkt 4: (Drucksachen 16/4375, 16/4877) . . . . 9160 B – Zweite und dritte Beratung des von der a) – i) Bundesregierung eingebrachten Ent- Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung schusses: Sammelübersichten 201, 202, der Akte vom 29. November 2000 203, 204, 205, 206, 207, 208 und 209 zu zur Revision des Übereinkommens Petitionen über die Erteilung europäischer Pa- (Drucksachen 16/4866, 16/4867, 16/4868, tente 16/4869, 16/4870, 16/4871, 16/4872, 16/4873, (Drucksachen 16/4382, 16/4877) . . . . 9160 C 16/4874) ...... 9162 B IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Zusatztagesordnungspunkt 1: Tagesordnungspunkt 5:

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- nen der CDU/CSU und SPD: Die aktuelle schusses für Bildung, Forschung und Tech- Lage der Menschenrechte in Simbabwe nikfolgenabschätzung

Christoph Strässer (SPD) ...... 9163 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Grütters, , , (FDP) ...... 9164 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion (CDU/CSU) ...... 9165 B der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. , Jörg Tauss, Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 9166 A Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Den Hoch- , Staatsminister AA ...... 9167 A schulpakt erfolgreich umsetzen

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia DIE GRÜNEN) ...... 9168 C Hirsch, Dr. , Volker Schneider Hartwig Fischer (Göttingen) (Saarbrücken) und der Fraktion der LIN- (CDU/CSU) ...... 9169 D KEN: Hochschulpakt 2020 – Kapazi- tätsausbau und soziale Öffnung Brunhilde Irber (SPD) ...... 9170 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 9171 C Gehring, , Priska Hinz (Her- born), weiterer Abgeordneter und der Gabriele Groneberg (SPD) ...... 9172 C Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Hochschulpakt 2020 zum (Lübeck) (CDU/CSU) ...... 9173 D Erfolg bringen – Studienplätze bedarfs- gerecht und zügig ausbauen Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 9174 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, Tagesordnungspunkt 4: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Die Qualität der Hochschul- Bericht des Rechtsausschusses gemäß § 62 lehre sichern – den Hochschulpakt 2020 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag erfolgreich abschließen und weiterent- der Abgeordneten Sabine Leutheusser- wickeln Schnarrenberger, , , weiterer Abgeordneter und der (Drucksachen 16/4563, 16/3278, 16/3281, Fraktion der FDP: Unterhaltsrecht ohne 16/3290, 16/4875) ...... 9185 A weiteres Zögern sozial und verantwor- tungsbewusst den gesellschaftlichen Rah- Andreas Storm, Parl. Staatssekretär menbedingungen anpassen BMBF ...... 9185 C (Drucksachen 16/891, 16/4860) ...... 9175 A Uwe Barth (FDP) ...... 9187 A Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ...... 9175 B Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) ...... 9188 B

Ute Granold (CDU/CSU) ...... 9176 C Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 9189 D Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 9179 B (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 9180 B DIE GRÜNEN) ...... 9191 B

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ Monika Grütters (CDU/CSU) ...... 9192 D DIE GRÜNEN) ...... 9181 D Klaus Hagemann (SPD) ...... 9194 B Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ ...... 9183 A Ulrike Flach (FDP) ...... 9195 C

Christine Lambrecht (SPD) ...... 9184 A Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 9196 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 V

Tagesordnungspunkt 6: Tagesordnungspunkt 8:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- desregierung eingebrachten Entwurfs eines rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie Gesetzes zur Neuordnung der ERP- über Märkte für Finanzinstrumente und Wirtschaftsförderung (ERP-Wirtschafts- der Durchführungsrichtlinie der Kommis- förderungsneuordnungsgesetz) sion (Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungs- (Drucksache 16/4664) ...... 9211 D gesetz) b) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksachen 16/4028, 16/4037, 16/4883, Bundesregierung eingebrachten Entwurfs 16/4899) ...... 9197 B eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sonderver- Nina Hauer (SPD) ...... 9197 C mögens für das Jahr 2007 (ERP-Wirt- schaftsplangesetz 2007) Frank Schäffler (FDP) ...... 9198 D (Drucksachen 16/4376, 16/4881) ...... 9212 A (CDU/CSU) ...... 9200 A Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär BMWi ...... 9212 B Dr. (DIE LINKE) ...... 9201 C (FDP) ...... 9214 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9202 B Christian Lange (Backnang) (SPD) ...... 9215 A Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 9216 C Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 7: DIE GRÜNEN) ...... 9217 C a) Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- Tagesordnungspunkt 9: KEN: Grundsätzliche Überprüfung der Abschiebungshaft, ihrer rechtlichen a) Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Grundlagen und der Inhaftierungspra- Sylvia Kotting-Uhl, , wei- xis in Deutschland terer Abgeordneter und der Fraktion des (Drucksache 16/3537) ...... 9203 B BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Sicher- heit geht vor – Besonders terroranfäl- b) Antrag der Abgeordneten Josef Philip lige Atomreaktoren abschalten Winkler, , (Drucksache 16/3960) ...... 9218 A (Köln), weiterer Abgeordneter und der b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Uhl, Hans-Josef Fell, Dr. Reinhard Loske, GRÜNEN: Humanitäre Standards bei weiterer Abgeordneter und der Fraktion Rückführungen achten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: (Drucksache 16/4851) ...... 9203 B Schnelle Einführung innovativer erneu- erbarer Energien nur mit Atomausstieg – Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 9203 C Ablehnung der Laufzeitverlängerung für Biblis A ein richtiger Schritt (CDU/CSU) ...... 9204 D (Drucksache 16/4770) ...... 9218 D Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 9206 C Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9218 D Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 9207 C Philipp Mißfelder (CDU/CSU) ...... 9219 D Rüdiger Veit (SPD) ...... 9208 B Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 9208 D DIE GRÜNEN) ...... 9221 A (FDP) ...... 9222 A (CDU/CSU) ...... 9209 B Marco Bülow (SPD) ...... 9223 C Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9210 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 9224 C VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Gerold Reichenbach (SPD) ...... 9225 C (Münster) (FDP) ...... 9234 A

Horst Meierhofer (FDP) ...... 9226 C Willi Zylajew (CDU/CSU) ...... 9235 B Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 9236 A

Tagesordnungspunkt 10: Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 9237 A a) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag DIE GRÜNEN) ...... 9238 B der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Eike Hovermann (SPD) ...... 9239 A Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU sowie der Abgeordneten DIE GRÜNEN) ...... 9240 B Annette Faße, Reinhold Hemker, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Nationale Natur- landschaften – Chancen für Natur- Tagesordnungspunkt 12: schutz, Tourismus, Umweltbildung und nachhaltige Regionalentwicklung Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- (Drucksachen 16/3298, 16/4269) ...... 9227 A ausschusses zu der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Tätigkeitsbericht 2003 und 2004 des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Bundesbeauftragten für den Daten- Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- schutz – 20. Tätigkeitsbericht – geordneten Undine Kurth (Quedlinburg), (Drucksachen 15/5252, 16/4882) ...... 9240 D Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des (CDU/CSU) ...... 9241 A BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Natur- parke – Chancen für Naturschutz und Gisela Piltz (FDP) ...... 9242 D Regionalentwicklung konsequent nut- Jörg Tauss (SPD) ...... 9244 A zen (Drucksachen 16/3095, 16/4278) ...... 9227 B (DIE LINKE) ...... 9246 A

Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 9227 C Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 9247 A Jens Ackermann (FDP) ...... 9228 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9247 C Dirk Becker (SPD) ...... 9229 C

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 9230 C Tagesordnungspunkt 13: Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 9231 B Antrag der Abgeordneten , Reinhold Hemker (SPD) ...... 9232 B Kornelia Möller, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Innovative Arbeitsförderung ermöglichen – Projektförderung nach § 10 SGB III zulas- Tagesordnungspunkt 11: sen (Drucksache 16/3889) ...... 9248 C Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 9248 D trag der Abgeordneten Daniel Bahr Peter Rauen (CDU/CSU) ...... 9249 D (Münster), Heinz Lanfermann, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 9250 C Fraktion der FDP: Ausgleich für neue Arbeitszeitmodelle in Krankenhäusern Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 9252 A vorziehen (Drucksachen 16/670, 16/4596) ...... 9233 B Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 9253 A Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ BMG ...... 9233 C DIE GRÜNEN) ...... 9254 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 VII

Tagesordnungspunkt 14: Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) ...... 9261 B – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Andrea Astrid Voßhoff eines Gesetzes zur Änderung des Ab- (CDU/CSU) ...... 9262 B satzfondsgesetzes und des Holzabsatz- fondsgesetzes Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 16/4692, 16/4876) ...... 9255 C DIE GRÜNEN) ...... 9263 A

– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- Tagesordnungspunkt 17: brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Absatzfondsgesetzes und Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr (Müns- des Holzabsatzfondsgesetzes ter), Paul K. Friedhoff, Heinz Lanfermann, (Drucksachen 16/4149, 16/4876) ...... 9255 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Umlageverfahren U1 zur Entgeltfort- zahlung im Krankheitsfall auf freiwillige Tagesordnungspunkt 15: Basis stellen (Drucksache 16/2674) ...... 9264 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- Tagesordnungspunkt 18: ordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion des BÜNDNIS- Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, SES 90/DIE GRÜNEN: Indigene Völker – , Dr. , weiterer Ratifizierung des Übereinkommens der In- Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: ternationalen Arbeitsorganisation (IAO) Gesetz zum Ausgleich behinderungsbe- Nr. 169 über Indigene und in Stämmen le- dingter Nachteile vorlegen (Nachteilsaus- bende Völker in unabhängigen Staaten gleichsgesetz – NAG) (Drucksachen 16/1971, 16/4838) ...... 9256 A (Drucksache 16/3698) ...... 9264 B Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9256 B Tagesordnungspunkt 19:

Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 16: (), Volker Beck (Köln), , weiterer Abgeordneter und der Frak- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: CDU/CSU und SPD eingebrachten Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Ver- füllen besserung rehabilitierungsrechtlicher (Drucksache 16/4852) ...... 9294 C Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR (Drucksache 16/4842) ...... 9257 B Tagesordnungspunkt 20: b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Petra Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Pau, Dr. Gesine Lötzsch und der Fraktion Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer der LINKEN eingebrachten Entwurfs ei- Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: nes Dritten Gesetzes zur Verbesserung Öffentlichen Verkehr in den neuen Bundes- rehabilitierungsrechtlicher Vorschrif- ländern nicht gefährden – Verkehrsflä- ten für politisch Verfolgte im Beitritts- chenbereinigungsgesetz verlängern gebiet und zur Einführung einer Opfer- (Drucksache 16/4856) ...... 9264 C rente (Opferrentengesetz) (Drucksache 16/4846) ...... 9257 C

Dr. Carl-Christian Dressel (SPD) ...... 9257 D Tagesordnungspunkt 21:

Andrea Astrid Voßhoff a) Antrag der Abgeordneten Omid (CDU/CSU) ...... 9259 A Nouripour, Dr. Gerhard Schick, Silke VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Stokar von Neuforn, weiterer Abgeordne- Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 9270 D ter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: SWIFT-Fall auf- Christoph Pries (SPD) ...... 9271 D klären – Datenschutz im internationa- len Zahlungsverkehr wieder herstellen (Drucksache 16/4066) ...... 9264 D Tagesordnungspunkt 24: b) Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz, Antrag der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Dr. Volker Wissing, Jens Ackermann, wei- Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck terer Abgeordneter und der Fraktion der (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- FDP: Deutsche EU-Ratspräsidentschaft tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: nutzen – Zugriff US-amerikanischer Politische Lösungen sind Voraussetzung Stellen auf SWIFT-Daten unverzüglich für Frieden in Somalia stoppen und Vorgang umfassend auf- (Drucksache 16/4759) ...... 9272 D klären (Drucksache 16/4184) ...... 9265 A

Tagesordnungspunkt 25:

Tagesordnungspunkt 22: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- a) Antrag der Abgeordneten Dr. Harald lung Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und – zu dem Antrag der Abgeordneten Lutz der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Heilmann, Dorothée Menzner, Heidrun GRÜNEN: Bioethische Grundsätze Bluhm, weiterer Abgeordneter und der auch bei Arzneimitteln für neuartige Fraktion der LINKEN: Kein Bau einer Therapien sicherstellen festen Fehmarnbelt-Querung – Fähr- (Drucksache 16/4853) ...... 9265 B konzept verbessern b) Beschlussempfehlung und Bericht des – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder Ausschusses für Gesundheit zu der Unter- Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton richtung durch die Bundesregierung: Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Vorschlag für eine Verordnung des Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Europäischen Parlaments und des Ra- GRÜNEN: Statt fester Fehmarnbelt- tes über Arzneimittel für neuartige Querung – Für ein ökologisch und fi- Therapien und zur Änderung der nanziell nachhaltiges Verkehrskonzept Richtlinie 2001/83/EG und der Verord- (Drucksachen 16/3668, 16/3798, 16/4630) 9273 C nung (EG) Nr. 726/2004 (inkl. 15023/05) ADD 1 Nächste Sitzung ...... 9273 D KOM (2005) 567 endg.; Ratsdok. 15023/05 (Drucksachen 16/419 Nr. 2.7, 16/2182) . . 9265 B

Anlage 1

Tagesordnungspunkt 23: Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9275 A

Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Renate Künast, und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für Anlage 2 eine Schließung des Forschungsendlagers Asse II unter Atomrecht und eine schnelle Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Rückholung der Abfälle Patientenverfügungen (Tagesordnungs- (Drucksache 16/4771) ...... 9265 D punkt 3) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9275 A DIE GRÜNEN) ...... 9266 A Dr. (DIE LINKE) ...... 9275 D Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU) ...... 9267 A (FDP) ...... 9276 C Jörg Tauss (SPD) ...... 9269 B (CDU/CSU) ...... 9278 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 IX

Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 9279 D schriften für politisch Verfolgte im Bei- trittsgebiet und zur Einführung einer Fritz Rudolf Körper (SPD) ...... 9280 C Opferrente (Opferrentengesetz) Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 9282 D (Tagesordnungspunkt 16 a und b) Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ Sabine Leutheusser-Schnarrenberger DIE GRÜNEN) ...... 9283 C (FDP) ...... 9294 A Michael (Heringen) (SPD) ...... 9284 A Anlage 6

Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Umlageverfahren U1 zur Ent- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung geltfortzahlung im Krankheitsfall auf freiwil- des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung lige Basis stellen (Tagesordnungspunkt 17) des Absatzfondsgesetzes und des Holzabsatz- fondsgesetzes (Tagesordnungspunkt 14) (CDU/CSU) ...... 9294 C (CDU/CSU) ...... 9285 B Jella Teuchner (SPD) ...... 9295 C (SPD) ...... 9287 A Heinz Lanfermann (FDP) ...... 9296 C Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 9287 B Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 9297 B Dr. (DIE LINKE) ...... 9288 A Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9298 B Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9289 B

Anlage 7

Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Gesetz zum Ausgleich behinde- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung rungsbedingter Nachteile vorlegen (Nachteils- der Beschlussempfehlung und des Berichts zu ausgleichsgesetz – NAG) (Tagesordnungs- dem Antrag: Indigene Völker – Ratifizierung punkt 18) des Übereinkommens der Internationalen Ar- beitsorganisation (IAO) Nr. 169 über Indigene Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 9298 D und in Stämmen lebende Völker in unabhän- gigen Staaten (Tagesordnungspunkt 15) Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) ...... 9299 D

Dr. (CDU/CSU) ...... 9290 B Jörg Rohde (FDP) ...... 9301 D

Christel Riemann-Hanewinckel Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 9303 B (SPD) ...... 9291 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Dr. (FDP) ...... 9292 D DIE GRÜNEN) ...... 9304 C Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 9293 B

Anlage 8 Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: des Antrags: Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen (Tagesordnungspunkt 19) – Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ver- (CDU/CSU) ...... 9305 D besserung rehabilitierungsrechtlicher Vor- schriften für Opfer der politischen Verfol- Johannes Pflug (SPD) ...... 9307 B gung in der ehemaligen DDR Harald Leibrecht (FDP) ...... 9308 C – Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ver- besserung rehabilitierungsrechtlicher Vor- Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) ...... 9309 B X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ – Beschlussempfehlung und Bericht zu der DIE GRÜNEN) ...... 9310 A Unterrichtung: Vorschlag für eine Verord- nung des Europäischen Parlaments und Gernot Erler, Staatsminister AA ...... 9311 B des Rates über Arzneimittel für neuartige Therapien und zur Änderung der Richtli- nie 2001/83/EG und der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 (inkl. 15023/05) ADD 1 Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (Tagesordnungspunkt 22 a und b) des Antrags: Öffentlichen Verkehr in den Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 9321 C neuen Bundesländern nicht gefährden – Ver- kehrsflächenbereinigungsgesetz verlängern Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 9322 B (Tagesordnungspunkt 20) Michael Kauch (FDP) ...... 9323 B (CDU/CSU) ...... 9312 B Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 9324 B Dr. (SPD) ...... 9313 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ (FDP) ...... 9314 C DIE GRÜNEN) ...... 9325 A Heidrun Bluhm (DIE LINKE) ...... 9315 A Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ Anlage 12 DIE GRÜNEN) ...... 9315 D Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Für eine Schließung des Forschungs- endlagers Asse II unter Atomrecht und eine Anlage 10 schnelle Rückholung der Abfälle (Tagesord- nungspunkt 23) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: Angelika Brunkhorst (FDP) ...... 9325 D – SWIFT-Fall aufklären – Datenschutz im internationalen Zahlungsverkehr wieder herstellen Anlage 13

– Deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen – Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zugriff US-amerikanischer Stellen auf des Antrags: Politische Lösungen sind Vo- SWIFT-Daten unverzüglich stoppen und raussetzung für Frieden in Somalia (Tages- Vorgang umfassend aufklären ordnungspunkt 24)

(Tagesordnungspunkt 21 a und b) Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU) ...... 9326 D

Georg Fahrenschon (CDU/CSU) ...... 9316 C Brunhilde Irber (SPD) ...... 9328 A

Lothar Binding () (SPD) ...... 9317 A (FDP) ...... 9329 A

Gisela Piltz (FDP) ...... 9318 C Dr. (DIE LINKE) ...... 9330 A Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 9320 A Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/ Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9330 C DIE GRÜNEN) ...... 9320 B

Anlage 14 Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Antrag: Bioethische Grundsätze auch bei Arzneimitteln für neuartige Therapien si- – Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Que- cherstellen rung – Fährkonzept verbessern Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 XI

– Statt fester Fehmarnbelt-Querung – Für Hans-Joachim Hacker (SPD) ...... 9332 D ein ökologisch und finanziell nachhaltiges Verkehrskonzept Patrick Döring (FDP) ...... 9334 B Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 9335 B (Tagesordnungspunkt 25) Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 9331 D DIE GRÜNEN) ...... 9336 B

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(A) (C) Redetext

91. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ich eröffne die Sitzung. Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle Union sehr herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen. ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 33) Es gibt ein paar wenige Hinweise, bevor wir in die a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Tagesordnung eintreten können. Der Kollege Ralf Göbel schusses (2. Ausschuss) hat sein als Schriftführer niedergelegt. Als Nach- Sammelübersicht 201 zu Petitionen folger schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen – Drucksache 16/4866 – Hermann-Josef Scharf vor. Ich nehme an, dass Sie da- b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- mit einverstanden sind. – Das scheint der Fall zu sein. schusses (2. Ausschuss) Dann ist der Kollege Scharf zum Schriftführer gewählt. Sammelübersicht 202 zu Petitionen (B) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene – Drucksache 16/4867 – (D) Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführ- c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- ten Punkte zu erweitern: schusses (2. Ausschuss) ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU Sammelübersicht 203 zu Petitionen und der SPD: – Drucksache 16/4868 – Die aktuelle Lage der Menschenrechte in Simbabwe d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- schusses (2. Ausschuss) SES 90/DIE GRÜNEN Sammelübersicht 204 zu Petitionen zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 12 – Drucksache 16/4869 – und 13 auf Drucksache 16/4802 (siehe 90. Sitzung) e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er- schusses (2. Ausschuss) gänzung zu TOP 32) Sammelübersicht 205 zu Petitionen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hettlich, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abge- – Drucksache 16/4870 – ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- GRÜNEN schusses (2. Ausschuss) Energieeinsparung zügig verabschieden – Energieaus- Sammelübersicht 206 zu Petitionen weis als Bedarfsausweis einführen – Drucksache 16/4871 – – Drucksache 16/4787 – g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Überweisungsvorschlag: schusses (2. Ausschuss) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Sammelübersicht 207 zu Petitionen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und – Drucksache 16/4872 – Reaktorsicherheit h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina Schuster, schusses (2. Ausschuss) Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP Sammelübersicht 208 zu Petitionen Katastrophe in Simbabwe verhindern – Drucksache 16/4873 – – Drucksache 16/4859 – i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- schusses (2. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Sammelübersicht 209 zu Petitionen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – Drucksache 16/4874 – 9120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Scheel, Dr. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3: (C) Gerhard Schick, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Vereinbarte Debatte Unternehmensteuerreform für Investitionen und Arbeits- plätze Patientenverfügungen – Drucksache 16/4855 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Überweisungsvorschlag: diese Aussprache drei Stunden vorgesehen. Die Parla- Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie mentarischen Geschäftsführer haben sich darauf verstän- digt, dass aufgrund der großen Anzahl der Redewünsche ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN: und der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit für Konsequenzen der Bundesregierung aus den UN-Berich- ten des Sonderberichterstatters, Vernor Muñoz, zum deut- die Aussprache die Reden derjenigen Kolleginnen und schen Bildungssystem Kollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt wer- den kann, zu Protokoll gegeben werden können. Ich Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- nehme an, dass es auch dazu Einverständnis gibt. – Dann weit erforderlich, abgewichen werden. ist das so beschlossen. Die Tagesordnungspunkte 26 c und 33 b werden ab- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- gesetzt. nächst dem Kollegen Joachim Stünker für die SPD-Frak- Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus- tion. schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Joachim Stünker (SPD): Der in der 82. Sitzung des Deutschen Bundestages Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Meine sehr verehrten Damen und Herren! Warum debat- Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitbera- tieren wir heute über die Frage der rechtlichen Verbind- tung überwiesen werden. lichkeit von Patientenverfügungen? Wir debattieren darüber, weil circa 7 bis 8 Millionen Menschen in Antrag der Abgeordneten Lutz Heilmann, Eva Deutschland eine Patientenverfügung gemacht haben Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, weiterer und darauf vertrauen, dass ihre dort getroffenen Bestim- Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN mungen auch beachtet und befolgt werden. Sie wehren Trendwende beim Klimaschutz im Verkehr – sich damit gegen die, wie sie es nennen, Apparatemedi- Nachhaltige Mobilität für alle ermöglichen zin, gegen das Diktat des medizinisch Machbaren, gegen (B) die Verlängerung eines Lebens, das für sie nicht mehr le- (D) – Drucksache 16/4416 – benswert ist. überwiesen: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Zwar ist der in der Patientenverfügung geäußerte Finanzausschuss Wille schon heute grundsätzlich verbindlich und Grund- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie lage ärztlichen Handelns. Der Bundesgerichtshof hat Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit dies trotz des Fehlens einer gesetzlichen Regelung wie- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung derholt entschieden. Aber über genau die Frage, was im Ausschuss für Tourismus Einzelfall unter „grundsätzlich verbindlich“ zu verstehen Haushaltsausschuss ist, wird ganz unterschiedlich diskutiert. Ich denke, die Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages heutige Debatte wird das breite Spektrum der Meinun- überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem gen, die in diesem Hohen Hause vertreten werden, sehr Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe anschaulich zeigen. (17. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Es kann einen Unterschied bedeuten, in welches Antrag der Abgeordneten Miriam Gruß, Dr. Karl Krankenhaus oder zu welchem Arzt ich nach einem Ver- Addicks, , weiterer Abgeordne- kehrsunfall im Zustand der Bewusstlosigkeit gebracht ter und der Fraktion der FDP werde, wenn ich mich nicht mehr selber äußern kann, aber eine Patientenverfügung bei mir trage, in der ich Rücknahme der Vorbehaltserklärung der Bun- zum Beispiel für eine bestimmte Situation das Setzen ei- desrepublik Deutschland zur Kinderrechtskon- ner Magensonde ausgeschlossen habe. Die einen erken- vention der Vereinten Nationen nen dies als verbindlich an, die anderen nicht. Viele An- wälte, die tagtäglich im Medizinrecht tätig sind, können – Drucksache 16/4735 – hierzu beredt Beispiele benennen; bei mir sowie bei vie- überwiesen: len Kolleginnen und Kollegen stapeln sich dazu die Rechtsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Briefe. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Die Menschen wollen Rechtssicherheit. Ich meine, sie haben einen Anspruch darauf, dass der Staat ihnen Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – hier Rechtssicherheit gibt. Auch das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so be- schlossen. (Beifall im ganzen Hause) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9121

Joachim Stünker (A) Es handelt sich daher bei unserem Thema nicht, wie ruht darauf, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, (C) gestern zu lesen war, um ein von der Politik künstlich sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befä- aufgebautes Thema, sondern, wie wir alle wissen, um higt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu ent- ein Thema, das die Menschen in diesem Lande zuneh- scheiden und sein Verhalten an den Normen des rechtli- mend brennend beschäftigt. Jeder Politiker, der dazu chen Sollens auszurichten. Daraus folgt zum Beispiel, Veranstaltungen durchführt, weiß, dass bei einer solchen dass der Staat bei Überschreitung dieser Normen das Veranstaltung der Saal voll ist. Recht zum Strafen hat. Das ist der tiefste Eingriff, den ich in die Freiheitsrechte vornehmen kann. (Jörg van [FDP]: Ja, sehr richtig!) Der Umkehrschluss ist aber genauso zwingend: Der Darum die Frage: Bringt denn eine gesetzliche Neure- Staat hat es zu achten und darf sich nicht einmischen, gelung für die Zukunft Rechtssicherheit? Ich sage: Ja, wenn sich das Individuum in seinem Verhalten an diesen wenn es eine klar definierte materiellrechtliche Rege- Normen des rechtlichen Sollens ausrichtet. Das Grund- lung zum zulässigen, verbindlichen Inhalt einer Patien- gesetz garantiert daher ein Recht auf Leben, es begrün- tenverfügung gibt. Nach dem Grundsatz der Einheit det aber keine Pflicht, zu leben. der Rechtsordnung entfaltet eine Regelung im Bürger- lichen Gesetzbuch Gültigkeit in allen Lebensbereichen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Die Frage der Rechtswidrigkeit eines medizinischen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eingriffs wird im Strafrecht dadurch entschieden. Ansonsten müsste der Suizid strafbewehrt sein, was wir Ich sage aber genauso deutlich Nein zu einer Rege- alle nicht wollen. Der Staat darf das Leben nie gegen den lung, die quasi nur einen Katalog der Voraussetzungen erklärten Patientenwillen schützen, wenn er denn frei aufstellt, unter denen ein Mensch fordern kann, dass ein und von einer geschäftsfähigen Person bestimmt worden medizinischer Eingriff an ihm nicht vorgenommen wird. ist. Das zum Beispiel wäre eine Regelung mit einer abge- Die Patientenverfügung findet nach dem Grundgesetz stuften Reichweitenbeschränkung. Dies würde nur neue ihre Grenze allein in der Verletzung der Rechte anderer Rechtsunsicherheit bedeuten und, wie ich meine, ein Ar- Menschen. Hierzu hat die höchstrichterliche Rechtspre- beitsbeschaffungsprogramm für die Vormundschaftsge- chung, ebenfalls unter Berufung auf die Verfassung, fest- richte sein. Ich betone daher: Gar keine Regelung ist gestellt, dass ein Patient mit dem Verbot einer künstlichen besser als eine schlechte gesetzliche Neuregelung. Lebensverlängerung niemals die Rechte von Ärzten, Pfle- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gekräften oder Angehörigen verletzen kann. Vielmehr der CDU/CSU und der FDP) verletzten diese sein Selbstbestimmungsrecht und seine körperliche Integrität, wenn sie eine solche Lebensverlän- (B) (D) Wie müsste eine mich überzeugende Neuregelung gerung gegen den Patientenwillen aus Gewissensgründen aussehen? Im Mittelpunkt müsste das uneingeschränkte durchführten. Selbstbestimmungsrecht des Patienten stehen. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 unseres Grundgesetzes bestimmen: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Un- versehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletz- Auch die Beurteilung der Pflicht des Staates zum lich. Lebensschutz führt zu keinem anderen Ergebnis. Diese Pflicht bedeutet, dass eine Patientenverfügung so ausge- Daraus folgt: Jeder Patient hat das Recht, sich für oder staltet sein muss, dass der Missbrauch dieser Patienten- gegen eine medizinische Behandlung zu entscheiden und verfügung weitgehend ausgeschlossen werden kann. gegebenenfalls deren Umfang zu bestimmen. Dieser Deshalb postuliert die heutige Rechtsprechung, auf die Grundsatz gilt auch für den antizipierten Willen. Daraus ich bereits Bezug genommen habe, entgegen anderslau- folgt, dass der sicher festgestellte Wille des Patienten un- tender Interpretationen nach herrschender Meinung abhängig von Art oder Stadium einer Erkrankung zu be- keine Reichweitenbeschränkung einer Patientenverfü- achten ist. Eine Regelung, wonach eine Patientenverfü- gung. gung nur in dem Fall verbindlich ist, wenn das Grundleiden des Betreuten nach ärztlicher Überzeugung Rund um diesen Kernbereich, den ich zu skizzieren bereits unumkehrbar einen tödlichen Verlauf angenom- versucht habe, bedarf es deshalb klarer Regelungen zur men hat, genügt dem Selbstbestimmungsrecht nicht und Ermittlung des freien Willens des Patienten. Ich will ist deshalb meiner Meinung nach mit Nachdruck abzu- die Eckpunkte dieser Regelung kurz skizzieren: Der Be- lehnen. troffene muss vor Unterzeichnung der Patientenverfü- gung ein breites Beratungs- und Informationsangebot (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und zur Verfügung haben, er muss volljährig und geschäfts- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) fähig sein, die Patientenverfügung muss immer den ak- Eine Patientenverfügung mit einer Reichweitenbe- tuellen oder aktuellsten Willen widerspiegeln, der Arzt schränkung ist nach meiner Überzeugung mit unserer und der Betreuer oder der Bevollmächtigte haben in der Rechtsordnung nicht in Übereinstimmung zu bringen. konkreten Krankheitssituation des Patienten festzustel- len, ob die in der Patientenverfügung niedergelegten Vo- Unsere Rechtsordnung hat den philosophischen Mei- raussetzungen für die Einwilligung in einen ärztlichen nungsstreit zwischen Determinismus und Indeterminis- Eingriff oder eine ärztliche Heilbehandlung bzw. für de- mus eindeutig entschieden. Unsere Rechtsordnung be- ren Untersagung vorliegen, und nur bei Nichtverständi- 9122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Joachim Stünker (A) gung, beim Dissens zwischen Arzt und Betreuer ist das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Vormundschaftsgericht einzuschalten. der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Die Patientenverfügung muss zu ihrer Verbindlichkeit schriftlich abgefasst sein. Anderenfalls ist von Arzt und Präsident Dr. Norbert Lammert: Betreuer der mutmaßliche Wille des Patienten zu er- Herr Kollege Stünker, ich gratuliere Ihnen herzlich mitteln. Bei dieser Ermittlung sind insbesondere frühere zu Ihrem heutigen Geburtstag, verbunden mit allen gu- mündliche und schriftliche Äußerungen, seine ethischen ten Wünschen, nicht nur für das neue Lebensjahr. und religiösen Überzeugungen sowie persönliche Wert- vorstellungen, die verbleibende Lebenserwartung und (Beifall – Joachim Stünker [SPD]: Danke!) das Maß der zu erleidenden Schmerzen zu berücksichti- Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Bosbach gen. für die CDU/CSU-Fraktion. Die Patientenverfügung ist jederzeit formlos wider- rufbar. Hierzu genügt die natürliche Willensbekun- Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): dung – ich betone: natürliche –, nicht die rechtsfähige Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Willensbekundung. Das heißt, auch ein Dementer kann Fasziniert bewundern wir alle die beeindruckenden Fort- natürlichen Lebenswillen äußern. schritte der modernen Medizin, den rasanten medizi- nisch-technischen Fortschritt, aber auch die großartige Wir müssen klar zum Ausdruck bringen, dass die Für- Heilkunst der Ärztinnen und Ärzte. Die neuen, scheinbar sorgepflicht der Ärzte für ihre Patienten die Achtung des grenzenlosen Möglichkeiten der modernen Medizin kön- Selbstbestimmungsrechts einschließt. Eine so skizzierte nen aber nicht nur das Leben verlängern, sondern auch und normierte Patientenverfügung entspricht im Übrigen das Leiden und Sterben. Die Hoffnungen und Befürch- der Position der Bundesärztekammer; so habe jedenfalls tungen der Menschen liegen hier nahe beieinander. Je ich deren Papier verstanden, das uns allen in diesen Ta- beeindruckender die medizinischen Möglichkeiten sind, gen zugegangen ist. desto eher erfahren wir den Tod nicht mehr als schicksal- haft, sondern als das Ergebnis menschlicher Entschei- (Zuruf von der SPD: So ist es!) dung. Die Rechtspolitiker der SPD-Fraktion haben zusam- Beim Thema Lebensende gab es immer Fragen, die men mit dem Bundesministerium der Justiz und Frau uns Menschen zu allen Zeiten begleitet haben. Werden Ministerin Zypries eine so skizzierte Patientenverfügung wir friedlich einschlafen? Werden wir lange leiden? (B) in einem Gesetzentwurf vorgelegt. Wir werben für die- Werde ich den Tod annehmen können, oder versuche (D) sen Entwurf. Mit Kolleginnen und Kollegen der Fraktio- ich, gegen ihn anzukämpfen? Mit neuen Behandlungs- nen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen sind möglichkeiten stellen sich auch immer neue Fragen. wir im Gespräch. Ich bin sicher, dass wir Ihnen nach den Werde ich vielleicht selbst dann noch behandelt, wenn Gesprächen, nach der Osterpause hierzu einen gemein- jede Hoffnung auf ein bewusstes Leben vergeblich ist? samen Gruppenantrag vorlegen werden. Wir werden Wird mein Wille respektiert und können die Ärzte und dann gemeinsam darüber diskutieren. alle, die mir nahestehen, mir dabei helfen, in Würde zu sterben? Der Staat kann keine Antworten auf alle Fragen Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Anmer- geben. Aber er hat die Aufgabe, die Rahmenbedingun- kung machen: In der öffentlichen Diskussion, aber auch gen dafür zu schaffen, dass die Menschenwürdegarantie in der Diskussion in diesem Hohen Hause sollten wir unserer Verfassung im Leben wie auch im Sterben be- eine Verwechslung nicht vornehmen: Wenn wir über die achtet wird. Rechtsverbindlichkeit einer Patientenverfügung disku- Der Staat muss dafür Sorge tragen, dass das Selbstbe- tieren, reden wir nicht über aktive Sterbehilfe. stimmungsrecht des Patienten auch dann zur Geltung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommt, wenn er zu einer bewussten Entscheidung nicht der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- mehr in der Lage ist. SES 90/DIE GRÜNEN) Der Gesetzgeber schuldet den Angehörigen, den Ärz- ten, den Pflegekräften und den rechtlichen Vertretern des Die Tötung auf Verlangen nach § 216 des Strafgesetzbu- Patienten die Gewissheit, dass alle unter sicheren recht- ches bleibt ausdrücklich strafbewehrt. Wir reden auch lichen Rahmenbedingungen handeln und auf sicherer nicht darüber, dass der Gesetzgeber, dass wir und damit Rechtsgrundlage Entscheidungen treffen. Bei Fragen der Staat letzten Endes die Menschen massenhaft dazu von Leben und Tod, um die es heute geht, darf es keine bringen wollen, Patientenverfügungen zu machen. Das rechtlichen Grauzonen geben. muss jeder Einzelne für sich entscheiden. All jenen Men- schen, die keine Patientenverfügung machen, haben wir Damit der Wille des Patienten auch dann noch beach- nicht hineinzureden. Aber die, die für sich entscheiden, tet wird, wenn er diesen krankheitsbedingt nicht mehr eine zu machen, haben einen Anspruch darauf, dass ihr äußern kann, haben viele Menschen in den letzten Jahren verfassungsrechtlich garantiertes Selbstbestimmungsrecht Patientenverfügungen verfasst; die diesbezüglichen von uns und damit vom Staat beachtet wird. Schätzungen schwanken zwischen mindestens 2 und circa 8 Millionen. Parallel dazu gibt es eine Rechtspre- Schönen Dank. chung, und zwar sowohl der Zivil- als auch der Strafge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9123

Wolfgang Bosbach (A) richte, die sich intensiv mit dem Selbstbestimmungs- ren Irrtum bei der Abfassung seiner Verfügung nicht an (C) recht des Patienten und der Lebensschutzpflicht des ihrem Inhalt festgehalten wird. Wenn Grund zur An- Staates beschäftigt, die aber ganz unterschiedlich inter- nahme besteht, dass sich der Patient in der Situation, in pretiert wird. der er sich im Moment befindet, anders entschieden hätte, dann darf man ihn nicht an seine frühere Erklärung Vor diesem Hintergrund diskutieren wir in Staat und binden. Die Beendigung eines Lebens darf man nie auf Gesellschaft seit vielen Jahren über die Notwendigkeit Irrtum stützen. der Schaffung einer klaren rechtlichen Regelung. Die heutige Debatte soll das in Kürze beginnende Gesetzge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bungsverfahren vorbereiten. Gemeinsam mit vielen an- neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- deren Kolleginnen und Kollegen haben René Röspel, SES 90/DIE GRÜNEN) Josef Winkler, Otto Fricke und ich vor wenigen Tagen In unserem Antrag wird deutlich gemacht, dass In- einen eigenen Gruppenantrag vorgestellt. Es kann nicht halte einer Patientenverfügung, die gegen ein gesetzli- Aufgabe dieser Debatte sein, jede einzelne darin getrof- ches Verbot verstoßen, zum Beispiel gegen das Verbot fene Regelung näher zu erläutern. Deshalb möchte ich der Tötung auf Verlangen, nicht wirksam sind. Das ist mich auf die Grundzüge konzentrieren. keine unzulässige Einschränkung des Selbstbestim- In fast allen Gesprächen, die man mit Bürgern oder mungsrechts. Journalisten über dieses Thema führt, wird nach weni- (Joachim Stünker [SPD]: Das sagt auch kei- gen Sekunden die Frage gestellt: Sind Sie für das Selbst- ner!) bestimmungsrecht des Patienten oder für den Schutz des Lebens auch gegen dessen Willen? Das hört sich an, als Die Zivilrechtsordnung darf nicht das erlauben, was das seien Selbstbestimmung und Lebensschutz Gegensätze. Strafrecht ausdrücklich verbietet. Das sind aber keine Gegensätze. Unser Gruppenantrag will beiden Prinzipien Geltung verschaffen: das Selbst- Obwohl die Einzelfragen von großer Bedeutung sind, bestimmungsrecht des Patienten stärken und sein Wohl dreht sich die öffentliche Debatte fast ausschließlich um schützen. Das sollte übrigens die Aufgabe von Staat und die Reichweitenbegrenzung. Man hat den Eindruck, als Gesellschaft sein. seien wir aufgerufen, nur über diese eine Frage zu ent- scheiden. Eine Begrenzung der Reichweite einer Patien- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tenverfügung ist nach unserer Überzeugung nicht nur neten der SPD, der LINKEN und des BÜND- verfassungsrechtlich zulässig, sondern auch zum Wohle NISSES 90/DIE GRÜNEN) des Patienten erforderlich. Natürlich wissen wir, dass es leicht ist, daran Kritik zu üben – das liegt schon in der Wir schlagen im Hinblick auf die Wirksamkeit einer (B) Natur der Sache –: Wer für Schrankenlosigkeit plädiert, (D) Patientenverfügung zwar die Schriftform vor, verzich- der muss nur, ohne dies begründen zu müssen, darauf ten aber auf weitere formelle Voraussetzungen. Natürlich hinweisen, dass der Inhalt einer Patientenverfügung wären eine vorherige ärztliche Aufklärung und eine re- Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Menschen gelmäßige Aktualisierung sinnvoll – dafür sollten wir ist. Welcher Bürger würde nicht gerne seine eigenen An- auch im Parlament werben –, aber wir sollten beides gelegenheiten selber regeln, ohne staatliche Bevormun- nicht zur rechtlichen Voraussetzung für die Wirksamkeit dung? Das klingt auf den ersten Blick ganz plausibel. einer Patientenverfügung machen. Jede weitere Hürde Aber nur auf den ersten Blick. Denn das ändert sich oberhalb der Schriftform würde die Zahl der gewollten, schlagartig, wenn man die sich aus dieser Haltung aber rechtlich nicht verbindlichen Patientenverfügungen zwangsläufig ergebenden Risiken für die betroffenen Pa- erhöhen. Der Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht tienten genauer ansieht. Diese Risiken sind nämlich er- des Einzelnen gebietet es, die Abfassung wirksamer Pa- heblich. tientenverfügungen für jedermann so leicht wie möglich zu machen. Bei der Patientenverfügung geht es nicht um den ak- tuellen Willen des Patienten in einer Krankheitssituation, Dass wir die Schriftform vorschlagen, bedeutet aber die er just in diesem Moment erfährt, erduldet, erleidet. nicht, dass man den einmal verfügten Willen nur schrift- Der aktuelle – wohlgemerkt: der aktuelle – Wille des Pa- lich widerrufen kann. Wenn der Patient, aus welchen tienten ist immer und unter allen Umständen zu beach- Gründen auch immer, nicht mehr an seiner Verfügung ten. Selbst wenn die Ärzte oder die Angehörigen der festhalten will, dann müssen auch eine mündliche Äuße- Auffassung sind, dass der Patient sich objektiv unver- rung oder der durch Zeichen oder Gesten erkennbare Le- nünftig, gegen sein Wohl entscheidet, ist die Entschei- benswille ausreichend sein, um die vorherige schriftliche dung des Patienten verbindlich und muss von allen Verfügung außer Kraft zu setzen. In einem solchen Fall respektiert werden, selbst dann hat das Selbstbestim- verdrängt der aktuelle Patientenwille, der immer Vorrang mungsrecht des Patienten Vorrang vor dem Willen ande- vor vorherigen Festlegungen haben muss, jede frühere rer. Das war immer so, und das wird sich auch durch un- Verfügung. seren Entwurf nicht ändern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Im vorliegenden Fall geht es aber um eine antizi- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- pierte, um eine vorweggenommene Entscheidung für NISSES 90/DIE GRÜNEN) eine später vielleicht eintretende Erkrankung, mit der die Darüber hinaus wollen wir sicherstellen, dass der Betroffenen, jedenfalls in den meisten Fällen, noch keine nicht mehr äußerungsfähige Patient bei einem erkennba- eigene, persönliche Erfahrung als Patienten gemacht 9124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Wolfgang Bosbach (A) haben. Dann beruhen die Erklärungen auf Erwartungen zum Sterben, um Verkürzung von Leiden. Im zweiten (C) oder Befürchtungen, nicht auf persönlichen Erfahrun- Fall geht es streng genommen nicht um Sterbehilfe, son- gen. Misstrauen wir Erklärungen, hinter denen keine ei- dern um die Lebensbeendigung von Erkrankten, die an gene, persönliche Erfahrung steht! Das ist bei den aktu- ihrer Erkrankung nicht sterben müssten. ellen Äußerungen eines Patienten anders: Er kann Wenn Verfassungsgüter miteinander in Konkurrenz aufgeklärt werden, der Arzt kann ihm sagen, welche Ri- treten, dann wird durch die Rechtsordnung nicht ver- siken sich bei einer Behandlung ergeben können, aber langt, dass das eine Verfassungsgut das andere ver- auch, welche Heilungschancen er hat. Das alles ist bei drängt, sich also durchsetzt, sondern der Gesetzgeber ist einer vorweggenommenen Erklärung nicht möglich: Er verpflichtet, nach einem schonenden Ausgleich zu su- kann nichts erfragen, er kann nichts erfahren, man würde chen: hier zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des ihn an seiner vorherigen, schriftlichen Festlegung fest- Einzelnen und der Lebensschutzpflicht des Staates. binden. Der Gesetzgeber kann nicht alles im Leben regeln, Deshalb darf auch die Rechtsordnung den aktuellen und niemand hat die Absicht, das Sterben zu normieren Willen eines Patienten nicht gleichsetzen mit einer Ver- oder gar den Ärzten ihre Verantwortung oder den Patien- fügung, die er 15 Jahre zuvor einmal verfasst hat. Ich ten ihre Selbstbestimmung zu nehmen. Das wollen auch verkenne nicht, dass der damalige Wille der aktuelle die Kolleginnen und Kollegen nicht, die diesen Grup- Wille sein kann; das ist möglich. Aber es ist genauso gut penentwurf gemeinsam vorstellen. Das Mögliche müs- möglich, dass er nicht mehr der aktuelle Wille ist. Wir sen wir aber schon regeln. Das schulden wir insbeson- wissen es nicht. Bei einem im Voraus erklärten Willen dere den Schwachen und Hilflosen, die sich nicht selber weiß man nie mit letzter Sicherheit, ob er dem aktuellen helfen können. Ihnen gebührt in erster Linie der Schutz Willen des Betroffenen entspricht. Darum kann der anti- durch Staat und Gesellschaft. zipierte, der in einer Patientenverfügung vorweggenom- mene Wille nicht so behandelt werden wie der aktuelle Danke fürs Zuhören. Wille eines Patienten, der ganz konkret eine Krankheit (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie hat und sich in Kenntnis aller Umstände für oder gegen bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- eine Behandlung entscheiden kann. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist keine kühne Behauptung, es ist alltägliche Er- fahrung, dass die aktuellen Wünsche eines Patienten Präsident Dr. Norbert Lammert: vom früher Geäußerten abweichen können. Menschen, Ich erteile dem Kollegen Michael Kauch für die FDP- deren Leben entgegen einem früheren Entschluss geret- Fraktion das Wort. tet wurde, sind mit ihrer Rettung im Nachhinein sehr oft (B) (D) einverstanden. Jetzt bitte nicht sagen: „Dem Patienten (Beifall bei der FDP) geschieht doch kein Leid; denn die Beendigung der le- benserhaltenden Maßnahmen beruht doch nur auf dem, Michael Kauch (FDP): was er selber einmal vorher geschrieben hat“; denn da- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Men- hinter steht, zumindest unausgesprochen, der Gedanke: schenwürdig leben bis zuletzt – das war das Leitmotiv selber schuld – es muss ja niemand eine Patientenverfü- der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der moder- gung verfassen. nen Medizin“ in der letzten Wahlperiode, der ich ange- hören durfte. Wir hatten gestern Nachmittag ein Symposium bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Da hat ein bekannter Dieses Leitmotiv – Menschwürdig leben bis zuletzt – Palliativmediziner uns gesagt: Ihr unterstellt immer, es muss auch Leitmotiv dieser Debatte sein; denn der Ster- gibt den bewusstlosen Patienten und es gibt den Patien- beprozess ist Teil des Lebens. Es ist unser aller Aufgabe, ten, der äußerungsfähig ist. Es gibt aber auch den Patien- mit sterbenden Menschen Solidarität zu üben und sie ten, der äußerungsfähig ist und eine Patientenverfügung nicht alleinzulassen. Das gilt persönlich genauso wie po- hat. Die Fälle, in denen ein äußerungsfähiger Patient so litisch; denn sie gehören zu den Schwächsten in unserer behandelt werden wollte, wie er zuvor schriftlich festge- Gesellschaft. legt hatte, kann ich am Daumen einer einzigen Hand ab- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zählen. – Er selber habe in seiner ärztlichen Praxis also der SPD) erst einen einzigen Fall gehabt, wo der Patient nach ärzt- licher Beratung gesagt habe: Nein, es soll so bleiben, wie Wir sprechen heute über mehr Selbstbestimmung ich zuvor schriftlich festgelegt habe. – Ein Kollege, der durch Patientenverfügungen. Dabei müssen wir erken- neben ihm saß, hat sogar gesagt, er könne sich an keinen nen, dass das ein Baustein einer Politik für ein men- einzigen solchen Fall erinnern. In den allermeisten Fäl- schenwürdiges Leben bis zuletzt ist, aber eben nur ein len hätten die Betroffenen von ihrer vorherigen Verfü- Baustein. Wir brauchen mehr Qualität in der Pflege, wir gung Abstand genommen und sich nach ärztlicher Bera- brauchen ein Gesundheitssystem, mit dem wir nicht se- tung anders entschieden. Ebenso wenig, wie wir den henden Auges in die Rationierung laufen, wir brauchen aktuellen und den vorweggenommenen Willen eines Pa- mehr menschliche Zuwendung für Sterbende, und wir tienten in Voraussetzung und Rechtsfolgen gleichsetzen brauchen gerade auch für die Menschen, die zu Hause können, können wir irreversible Krankheiten mit tödli- sterben wollen, eine professionelle, leidmindernde Pal- chem Verlauf bei infausten Prognosen gleichsetzen mit liativmedizin nicht nur in wenigen Zentren, sondern in heilbaren Erkrankungen. Im ersten Fall geht es um Hilfe der Fläche. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9125

Michael Kauch (A) (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Dritter für einen selbst entscheidet. Die Alternative ist (C) Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND- die Fremdbestimmung des Menschen. NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Mit der Finanzierung der ambulanten palliativmedi- der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- zinischen Versorgung ist ein Anfang gemacht. Jetzt SES 90/DIE GRÜNEN) kommt es darauf an, dass wir auch in der Aus- und Wei- Bei aller Relativierung des autonom handelnden Men- terbildung von Ärzten und Pflegekräften hier Akzente schen: Wir entscheiden uns deshalb für die Selbstbestim- setzen. All diese Maßnahmen sind aber kein Gegensatz mung. zu einer Politik für mehr Patientenautonomie. Beides gehört zusammen: das Angebot einer optimalen Versor- Die moderne Medizin hat viele Möglichkeiten ge- gung an die Gesellschaft, aber eben auch die Freiheit des schaffen, die man sich vor 50 Jahren noch nicht vorstel- Einzelnen, bestimmte Behandlungen, die er nicht len konnte. Für viele Menschen ist das ein Geschenk, für wünscht, auch ablehnen zu dürfen. Selbstbestimmung ist viele ist es aber auch eine Qual. Ob es als Geschenk oder nämlich untrennbarer Teil der Menschenwürde. Qual empfunden wird, kann nur jeder Einzelne für sich selbst entscheiden und nicht der Deutsche Bundestag. (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND- (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN NISSES 90/DIE GRÜNEN) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eines möchte ich klarstellen – auch der Kollege Jede medizinische Maßnahme, nicht aber der Verzicht darauf, ist durch die Einwilligung des Patienten zu recht- Stünker hat das bereits getan –: Wir reden hier nicht über fertigen. Eine Zwangsbehandlung ist Körperverletzung, aktive Sterbehilfe. die strafrechtlich bewehrt ist. Dies gilt im Grundsatz für (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Richtig!) den nichteinwilligungsfähigen Menschen. Wir reden nicht über das gezielte Töten eines Menschen. Niemand muss eine Patientenverfügung abfassen. Je- Es geht auch nicht um die Verweigerung indizierter me- der hat das Recht, auch existenzielle Entscheidungen dizinischer Maßnahmen. Es geht nicht um Töten, es geht seinem gesetzlichen Vertreter zu überlassen. Doch wer um Sterbenlassen. klar weiß, was er will und was er nicht will, dessen Ver- fügung muss geachtet werden. (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Es geht darum, der Natur ihren Lauf zu lassen, wenn der der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- Patient das wünscht. SES 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abge- Für die große Mehrheit der FDP-Abgeordneten ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kommt deshalb eine Begrenzung der Reichweite von Patientenverfügungen nicht infrage. Eine Begrenzung Bereits 2004 und 2006 haben die Liberalen als bisher der Reichweite auf irreversibel zum Tode führende Er- einzige Fraktion einen Antrag zur Stärkung der Patien- krankungen liefert Patientinnen und Patienten in be- tenautonomie und Patientenverfügungen in den Deut- stimmten Fällen Zwangsbehandlungen gegen ihren er- schen Bundestag eingebracht. Leitbild unseres Antrages klärten Willen aus. Denn diese Rechtsfigur macht ist dabei das Bild eines Menschen, der über sein Leben Patientenrechte von einer ärztlichen Prognose abhängig, auch in existenziellen Fragen so weit wie möglich selbst deren Verlässlichkeit nicht in allen Fällen garantiert wer- entscheiden kann. Mit diesem Menschenbild geben wir den kann. Das gilt analog auch für die Erweiterung im der Selbstbestimmung Vorrang vor anderen Überlegun- Entwurf von Herrn Bosbach auf Zustände der Bewusst- gen, seien sie auch noch so fürsorglich motiviert. Das ist losigkeit, bei denen mit an Sicherheit grenzender Wahr- die eigentliche Trennlinie zwischen den Lagern, die sich scheinlichkeit das Bewusstsein nicht wiedererlangt wer- hier in dieser Debatte abzeichnen. Die eine Seite nimmt den kann. Wie machen Sie denn diese Sicherheit fest? fürsorglichen Paternalismus mit Zwangsbehandlung in Der eine Arzt sagt 99 Prozent, der nächste 95 Prozent Kauf, die andere Seite vertraut auf die Kraft und die Ur- und der dritte 90 Prozent. teilsfähigkeit des einzelnen Menschen. (Widerspruch des Abg. Wolfgang Bosbach (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der [CDU/CSU]) SPD – Zurufe von der Linken) Wann ist die Wahrscheinlichkeit groß genug, und wann Um es klar zu sagen: Wir haben keine naive Vorstel- zwingen sie den Patienten trotz gegenteiliger Verfügung, lung von der Selbstbestimmung eines autonom han- weiter künstlich am Leben gehalten zu werden? delnden Individuums. Natürlich ist der Mensch einge- Eine Reichweitenbegrenzung bedeutet auch, dass ge- bunden in Beziehungen und auch in innere Zwänge. gen den Willen der Patienten Magensonden gelegt, Seh- Gerade bei Patientenverfügungen kommt ein anderer nen zerschnitten und Antibiotika verabreicht werden. Aspekt hinzu: Man verfügt etwas für die Zukunft, was Das hat mit Selbstbestimmung nichts, aber auch gar man nicht genau abschätzen kann. Der vorausverfügte nichts zu tun. Wille ist immer schwächer als der aktuell verfügte. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Aber was ist die Alternative? Die Alternative zum vo- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE rausverfügten Willen unter Unsicherheit ist, dass ein GRÜNEN) 9126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Michael Kauch (A) Auch über religiös motivierte Behandlungsbeschrän- trag wichtig, dass zuvor die Pflegekräfte und die nächs- (C) kungen setzen Sie sich hinweg. Wenn ein Zeuge Jehovas ten Angehörigen zumindest angehört wurden. Wenn sie verfügt, keine Bluttransfusionen zu wollen, weil das ge- dann mit einer Betreuerentscheidung nicht einverstanden gen seine religiöse Überzeugung verstößt, dann ist das sind, können sie das Vormundschaftsgericht anrufen. aktuell wirksam. Warum endet die Religionsfreiheit in Damit gibt es eine zusätzliche Missbrauchskontrolle in Ihrem Entwurf dann, wenn die Bewusstlosigkeit eintritt? dem Verfahren. Das ist – auch bei einer christlichen Partei – nicht hin- nehmbar. Meine Damen und Herren, die Verbindlichkeit und der Anwendungsbereich von Patientenverfügungen müs- Nehmen Sie als weiteres Beispiel einen 85-jährigen sen endlich neu geregelt werden. Es herrscht verbreitete Patienten, der nach einem Herzinfarkt schon einmal wie- Rechtsunsicherheit über die Auslegung der Entschei- derbelebt wurde. Er weiß genau, dass bei einer weiteren dungen des Bundesgerichtshofs. Erst gestern habe ich Wiederbelebung nach einem Herzinfarkt die Wahr- es erlebt, dass eine Ärztin in einer Radiosendung angeru- scheinlichkeit hoch ist, einen Gehirnschaden zu erleiden. fen hat, die gerade von einer Fortbildung über die recht- Wollen Sie diesem Patienten, wenn er verfügt, keine lichen Fragen in diesem Bereich kam. Mir standen die Wiederbelebung zu versuchen, weil er in seinen letzten wenigen Haare, die mir verblieben sind, wirklich zu Jahren nicht dahinvegetieren will, wirklich sagen: „Das Berge. Was dort gesagt wurde, entsprach absolut nicht darfst du nicht, weil wir das für falsch halten“? Das kann dem, was der Bundesgerichtshof entschieden hat. Die nicht Inhalt eines Gesetzes sein, das wir zugunsten von Rechtsunsicherheit, gerade unter den Ärzten, ist groß. Patientenrechten verabschieden wollen. Umso mehr ist eine gesetzliche Regelung erforderlich, um Klarheit in diesem Bereich zu schaffen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD) (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Kernforderung unseres Antrags und zahlreicher Kol- NEN und der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE legen anderer Fraktionen ist es deshalb, Therapiewün- LINKE]) sche, Therapiebegrenzungen und Therapieverbote durch eine Patientenverfügung für jeden Zeitpunkt eines Meine Damen und Herren, wir werden jetzt versu- Krankheitsverlaufes zuzulassen. Voraussetzung ist, dass chen, die Anliegen, die wir in unserem Antrag formuliert die Patientenverfügung hinreichend klar formuliert ist haben, mit den Kolleginnen und Kollegen aus den ande- und es keine offenkundigen – auch nonverbalen – Äuße- ren Fraktionen in einen Gesetzentwurf zu gießen. Unsere rungen des Patienten gibt, die dagegensprechen. Bei Leitlinie ist dabei die Selbstbestimmung des Patienten. manchen Formen der Demenz wird man daran Zweifel Ich lade Sie ein, mit uns gemeinsam diesen Gesetzent- (B) haben müssen. Insofern ist es unser Anliegen, dass ein wurf zu formulieren. (D) Gesetzentwurf dies berücksichtigt. In Zweifelsfällen muss dann pro vita entschieden werden. Vielen Dank. Wir möchten, dass die Patientenverfügung schriftlich (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei verfasst wird, aber wir lehnen eine Pflicht zur regelmäßi- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- gen Aktualisierung nach dem Motto „Wenn seit der Un- NEN und der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE terschrift zwei Jahre vergangen sind, dann ist sie ungül- LINKE]) tig“ ab. Das entspricht nicht der Lebensrealität gerade älterer Menschen. Wir können nicht sagen: Wenn du ver- Präsident Dr. Norbert Lammert: gessen hast, die Patientenverfügung wieder zu unter- Monika Knoche ist die nächste Rednerin für die Frak- schreiben, dann legen wir sie beiseite und beachten sie tion Die Linke. nicht. Auch eine generelle Beratungspflicht ist nicht prakti- Monika Knoche (DIE LINKE): kabel. Ich selbst habe diese einmal befürwortet, aber alle Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Da- Experten – von den Kirchen bis zu den sonstigen Bera- men! Wir brauchen diese Debatte, aber brauchen wir tungsstellen – sagen, dass man eine solche Pflicht nicht auch ein Gesetz? ins Gesetz schreiben kann. Es geht um das gute Sterben. Ist das Vertrauen in die Wir müssen aber dafür werben, dass es in dieser Ge- Medizin erschüttert? Ist die Gewissheit verloren gegan- sellschaft mehr Aufklärung gibt über die Möglichkeiten, gen, in schwersten Krankheitszuständen und in der Nähe die die moderne Palliativmedizin und neue Behand- des Todes eine fürsorgende, angepasste medizinische lungsmethoden bieten. Denn je aufgeklärter ein Mensch Behandlung zu bekommen? Oder ist gar das Gegenteil ist, desto selbstbestimmter kann er Entscheidungen tref- der Fall? Treibt die Menschen die Angst um, überthera- fen. piert nicht sterben zu dürfen? Wenn das der Fall wäre, hätten wir in Deutschland einen schwerwiegenden Ver- Darüber hinaus sprechen wir uns dafür aus, bei einer lust des Humanen und eine Kulturlosigkeit des Sterbens schriftlichen Patientenverfügung die Zuständigkeit des zu beklagen. Vormundschaftsgerichtes einzuschränken. Nur im Konfliktfall zwischen dem behandelnden Arzt und dem Das allerdings wäre mit keiner Form der Verrechtli- gesetzlichen Vertreter soll das Vormundschaftsgericht chung der Selbstbestimmung zu beheben. Gäbe es einen eingeschaltet werden. Dabei ist für uns in unserem An- solchen Werteverfall, wäre die Propagierung von Patien- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9127

Monika Knoche (A) tenverfügungen für Behandlungsunterlassung unmora- stand der Nichteinwilligungsfähigkeit münden, soll (C) lisch. Darum kann es nicht gehen. meine Behandlung so oder so verlaufen. – Das ist eine Garantie, die wir den Menschen geben müssen. Schon Es gibt die Angst, bei einem Leben im Wachkoma, bei heute ist das durch Patientenverfügung und Vorsorge- fortgeschrittener Demenz die Würde, die Selbstachtung vollmacht möglich. Ich spreche also gegen eine Reich- und den Respekt anderer zu verlieren, und deshalb den weitenbegrenzung in diesem Fall. Wunsch, lieber sterben zu wollen. Trifft das alles zu? Dann ist es die vordringlichste Aufgabe, über die Pallia- Ganz anders denke ich über schwere Demenz, tiefe tivmedizin, die medizinischen Behandlungsrichtlinien Depression, schizophrene oder manische Schübe und und die großen Möglichkeiten der Gerontopsychiatrie über Wachkoma. Allesamt sind das schwere Krankheits- umfassend aufzuklären, um unbegründete Ängste zu neh- bilder, die oft zwingend einer Behandlung in dieser exis- men. tenziellen Notlage bedürfen. Hier kann das Freiheitssub- Auch muss das Thema Pflege und Hospizarbeit zen- jekt nicht als Begründung für Behandlungsverzicht tralen Stellenwert in der Gesellschaftspolitik bekommen. greifen. Das möchte ich all den Damen und Herren des Ich weiß, Familien brauchen Hilfe und Zeit, wenn sie Deutschen Juristentages sagen. Die Entscheidung zum mit schwerstkranken Angehörigen zusammenleben. Die Suizid kann nicht als Form von Freiheit und Autonomie Debatte darüber steht noch aus. qualifiziert werden. Das halte ich nachgerade für unver- antwortlich. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ohne Selbstbestimmung können wir uns als Indivi- Der Wunsch nach einem würdigen Leben bis zuletzt duen aber gar nicht denken. Die Selbstbestimmung ist mit einem abstrakten rechtsphilosophischen Diskurs braucht gewissermaßen auch die Idee vom Ich. Dass – wie weit reicht die Autonomie? – und mit einem For- Krankheit die Identität und die Persönlichkeit ganz ver- mular nicht zu beantworten. ändern kann oder dass man unter Umständen nie mehr Dennoch, wir sprechen über das Selbstbestimmungs- diejenige oder derjenige sein kann, als die oder der man recht als den Kern des Menschenrechts – ein Grund- sich in gesunden Tagen denkt, löst tiefe Ängste aus. Ge- recht, das sich im Zustand der Hilfebedürftigkeit und rade Menschen in unserer Kultur fürchten den Verlust Abhängigkeit durch Krankheit bewähren muss. Daneben der kognitiven Fähigkeiten am meisten. Gerade deshalb geht es aber auch um die Schutzpflicht des Staates für habe ich große Probleme, bei irreversiblem Bewusst- das Leben eines jeden und einer jeden – unabhängig da- seinsverlust den vorab geäußerten Willen mit Absolut- von, wie sich dieses Leben zeigt. Schon heute ist die heit durchzusetzen. Wenn der betreffende Mensch im Einwilligung in eine medizinische Behandlung oder die Moment der Anwendung seiner Verfügung nicht mehr derselbe ist, dann glaube ich nicht, dass verfassungs- (B) Ablehnung einer solchen auch und gerade dann, wenn (D) Patienten in das Endstadium einer tödlich verlaufenden rechtlich gesehen nichts anderes in Betracht kommt als Krankheit eingetreten sind, möglich. Der Informed die Durchsetzung des vorab erklärten Willens. Consent, die informierte Zustimmung, ist Vorausset- Auch die Ermittlung des mutmaßlichen Willens durch zung für das ärztliche Tun. Deshalb ist die Angst, an Dritte passt nicht zu meinem Verständnis von voller Schläuchen zu hängen oder nicht sterben zu dürfen, ei- Selbstbestimmung; denn es ist unerlässlicher Bestandteil gentlich nicht begründet; denn es gibt ärztliche Richtli- der Autonomie, sich in diesen letzten Dingen ganz zu nien zur Sterbebegleitung, die einzuhalten sind. Auch verschweigen. Was können Angehörige wirklich vonei- die Angst, in Angst und Schmerz aus dem Leben zu nander wissen? Letztlich müssen und sollen Ärzte die scheiden, sollte durch die Palliativmedizin gemindert Möglichkeit haben, nach Maßgabe ihrer Kunst und in werden. Wir müssen also Sorge dafür tragen, dass diese hoher ethischer Verantwortung das Richtige zu tun. existenziellen Regeln in jedem Krankenhaus Anwen- dung finden und dass die Palliativmedizin stationär wie Meine Erwägungen münden bis jetzt in folgenden ambulant zum Standard in Deutschland wird. Feststellungen: Wir brauchen keine bürokratische und weitere Verrechtlichung der Situation. Wir brauchen Ärzte helfen im Sterben, aber Ärzte töten nicht. Sie keine Reichweitenbegrenzung für Patientinnen und Pa- töten nicht auf Verlangen, und sie assistieren nicht bei ei- tienten, die auf Grundlage eines Informed Consent Fest- nem Suizid. Von diesem Einvernehmen gehe ich aus. legungen treffen, wann und wie sie bei einer tödlich ver- Die Bundesärztekammer hat in diesen Tagen Empfeh- laufenden Krankheit einen Behandlungsabbruch oder lungen zum Umgang mit Patientenverfügungen heraus- eine Änderung des Behandlungsziels wollen. Auszu- gegeben. Sie sagt: Jede Behandlung hat unter Wahrung schließen davon sind Patienten mit Wachkoma, Demenz der Menschenwürde, der Achtung der Persönlichkeit, und psychischen Erkrankungen. des Willens und der Rechte der Patienten zu erfolgen. Sie verweist darauf, wie vielfältig die Fragen am Ende Diese Überlegungen finden sich derzeit in keinem der des Lebens sind und dass hochkomplexe und sehr indivi- bekannten Gesetzentwürfe wieder. Ich werbe also für ei- duelle Situationen das Lebensende charakterisieren kön- nen weiteren Antrag, halte es aber für durchaus denkbar, nen und somit das Nichtwissen über das Kommende dass das Parlament nach ausgiebiger Beratung zu dem nicht die Grundlage für eine rechtsverbindliche Verfü- Ergebnis kommt, dass es keines Gesetzentwurfes bedarf, gung sein kann. um die Selbstbestimmung des Menschen zu sichern. Wenn aber ein schwerkranker Mensch über den ab- Ich danke Ihnen. sehbaren Verlauf seiner Krankheit weiß, muss er vorab verfügen können: Sollte meine Krankheit in einen Zu- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 9128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: gesetzliche Regelungen zu stärken und Rechtssicherheit (C) Das Wort erhält nun die Kollegin Irmingard Schewe- zu schaffen. Gerigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeord- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neten der CDU/CSU) NEN): Meine Vorredner haben es gesagt: Das bedeutet nicht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die den Einstieg in die aktive Sterbehilfe, wie das in der Ver- Würde des Menschen ist unantastbar – so der Art. 1 un- gangenheit vielfach behauptet wurde. Es stimmt auch seres Grundgesetzes. Aber wie steht es um die Würde al- nicht, dass jede Verfügung eins zu eins umgesetzt wird; ter und kranker Menschen in unserem Lande? Viele kön- denn nur unter vier Voraussetzungen ist eine Patienten- nen in Pflegeheimen nicht in Würde leben, andere in verfügung überhaupt wirksam. Erstens. Die in der Verfü- Krankenhäusern nicht in Würde sterben. Eine halbe Mil- gung beschriebene Situation stimmt mit der konkreten lion Menschen wird in Heimen dauerhaft künstlich er- Situation überein. Zweitens. Der Wille ist aktuell, und es nährt, oft ohne medizinische Indikation oder gegen ihren gibt keine Anzeichen einer Willensänderung. Drittens. Willen. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass diese Ver- (Zustimmung der Abg. Monika Knoche [DIE fügung unter Druck entstanden ist. Viertens. Es wird LINKE]) keine aktive Sterbehilfe verlangt. Anstelle einer lebensverlängernden Therapie muss In Krankenhäusern werden häufig Menschen durch die dann eine gute palliativmedizinische und pflegerische Intensivmedizin am Sterben gehindert. Versorgung in den Vordergrund treten, wie sie auch in „Es hängt immer weniger von den Krankheiten selbst vielen Hospizen geleistet wird. Ich habe den Eindruck, ab, wann der Tod eintritt, sondern von medizinisch-ärzt- bis dahin sind wir uns in diesem Hause einig. lichen Maßnahmen“, sagt der Berliner Palliativmedizi- Aber die in den letzten Monaten mit großer Heftigkeit ner Professor Christof Müller-Busch. So seien Sterben geführte Auseinandersetzung drehte sich doch darum, ob und Tod zu einer medizinischen Aufgabe geworden, und eine solche Patientenverfügung nur für den Fall Gültig- das Sterben in medizinischen Institutionen sei letztend- keit haben darf, dass das Leiden einen irreversibel tödli- lich immer nur dann möglich, wenn auf Maßnahmen chen Verlauf haben wird, wie es auch der Vorschlag des verzichtet werde, die zu einer – wenn auch begrenzten – Kollegen Bosbach vorsieht. Genau wie vor kurzem drei Lebensverlängerung beitragen könnten. Viertel der Befragten in einer Forsa-Umfrage sage ich (B) Aber gerade diese Verzichtentscheidung stellt an dazu: Nein. Wenn ein einwilligungsfähiger Mensch le- (D) alle hohe ethische Anforderungen. Solange ein einwilli- bensverlängernde Maßnahmen ablehnen kann, muss die- gungsfähiger Mensch sich äußern kann, kann er oder sie ser Wille auch geachtet werden, wenn die gleiche Person jederzeit einen ärztlichen Eingriff ablehnen, selbst dann, ihn im Voraus für eine bestimmte Situation festgelegt wenn als Folge der Ablehnung der Tod eintritt. Das deut- hat, in der sie keine Einwilligung mehr geben kann. sche Recht stellt das Selbstbestimmungsrecht des Men- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schen über seinen Körper höher als die Schutzpflicht an- derer über sein Leben. Das heißt, niemand hat das Recht, Achtet man den Willen, der aus einer Patientenverfü- gegen den Willen eines Patienten oder einer Patientin gung hervorgeht, nur im Falle eines tödlichen Verlaufs eine Behandlung durchzusetzen; ansonsten macht er sich des Leidens, dann bedeutet das für alle anderen eine un- strafbar. erlaubte Zwangsbehandlung. Eine Begrenzung der Reichweite auf Personen mit einer irreversibel tödlichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Krankheit lässt sich meines Erachtens nicht rechtferti- und der FDP sowie bei Abgeordneten der gen. Sie wirft nicht nur große medizinische Probleme SPD) auf, wie uns in den letzten Tagen die Bundesärztekam- mer deutlich gemacht hat; sie wäre meines Erachtens Das Selbstbestimmungsrecht bildet auch die Grund- auch ethisch ohne Begründung und verfassungsrechtlich lage dafür, im Voraus Verfügungen über gewünschte unhaltbar. Bevor wir ein solches Gesetz beschließen, oder unerwünschte Behandlungen für den Fall einer Ein- sollten wir wirklich ganz darauf verzichten; willigungsunfähigkeit festzulegen. Die Verbindlichkeit solcher Verfügungen wurde vom Bundesgerichtshof im (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Jahre 2003 ausdrücklich bestätigt. Ungefähr 8 Millionen SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der Menschen haben davon Gebrauch gemacht. SPD, der FDP und der LINKEN) Trotzdem herrscht nicht nur in der Bevölkerung große denn unser Grundgesetz verbietet jede Beschränkung der Unsicherheit. Es existiert auch viel Unkenntnis in der Selbstbestimmung, die nicht in der Verletzung anderer Medizin und bei den Gerichten. Bei einer Umfrage hiel- begründet ist. Darum darf es keine Reichweitenbe- ten die Hälfte der Ärzte, aber auch ein Drittel der Vor- schränkung geben. Ich erinnere, wie vorhin der Kollege mundschaftsrichter die von einer Patientin gewollte Be- Kauch, an die Entscheidung des Bundesverfassungs- endigung der künstlichen Beatmung für strafbare aktive gerichts von 2002 zu einem Angehörigen der Zeugen Sterbehilfe. Auch darum sind wir im Bundestag aufge- Jehovas, der eine lebensrettende Bluttransfusion ab- fordert, die Patientenautonomie am Lebensende durch lehnte. Das gilt nicht nur in der aktuellen Situation, son- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9129

Irmingard Schewe-Gerigk (A) dern das gilt auch, wenn diese Person nicht mehr äuße- üblich war, nicht mehr geschieht, nämlich dass man dem (C) rungsfähig ist. Das wird akzeptiert, und ich frage Sie: Lebenslauf entsprechend friedlich aus dem Leben schei- Warum soll ein religiös begründetes Behandlungsverbot det, dass ein Mensch, der alt ist und dessen Herz einen eines Zeugen Jehovas bedingungslos akzeptiert werden, Stillstand hat, nicht so, wie es früher war, stirbt, sondern wenn man es für alle anderen Weltanschauungen unter dass er im hohen Alter wiederbelebt und an Apparate an- eine Bedingung stellt? Das ist doch wirklich nicht nach- geschlossen wird. Diese Bedenken haben die Menschen. vollziehbar. Der Segen dieser Medizin macht gleichzeitig Angst. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP) FDP) Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht wirkt Ich meine, es muss darum gehen, den Menschen diese immer sehr formal. Fragt man die Menschen, wie sie Angst zu nehmen und ihnen die Gewissheit zu geben, sich ihr Sterben vorstellen, so wünschen sich die meisten dass ihr Selbstbestimmungsrecht auch in denjenigen Si- einen Abschied vom Leben in Würde, ohne Schmerzen tuationen gilt, in denen sie sich nicht mehr äußern kön- und im Beisein nahestehender Menschen. Zur Würde nen. Wir sind uns einig: Solange man reden kann, so- kann neben einer einfühlsamen Behandlung das Respek- lange man durch Gesten bedeuten kann, was man will, tieren des Willens in einer Patientenverfügung beitragen. so lange darf niemand gegen seinen Willen behandelt Die Schmerzen können durch die Palliativmedizin weit- werden. Das ist Konsens hier im Haus. So viel ist klar. gehend ausgeschaltet werden. Die Nähe von liebenden Menschen aber bleibt ein Ziel. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Das ist im Übrigen Rechtsprechung und Rechtslage in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland, und es kann deshalb nur Konsens hier im und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD Hause sein. und der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]) Herr Bosbach, wenn ich es richtig verstanden habe, sagen Sie: Wenn eine Krankheit ärztlicher Diagnose ent- sprechend einen irreversibel tödlichen Verlauf zu neh- Präsident Dr. Norbert Lammert: men droht, dann soll man wieder entscheiden dürfen, Das Wort erhält nun die Bundesministerin der Justiz, wie man behandelt bzw. wie man nicht behandelt wer- Brigitte Zypries. den will. Zu dem Zeitraum dazwischen sagen Sie: Das ist eine Phase des Lebens, in der man im Zweifel nicht (B) Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: entscheiden kann. Ich habe noch nicht verstanden, wie (D) Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Sie das legitimieren. Damen und Herren! Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich in den letzten vier Jahren einmal so einer Mei- Sie haben in Ihrer Rede vorhin Folgendes gesagt – ich nung mit Ihnen, Frau Schewe-Gerigk, war wie heute. habe mitgeschrieben –: Wir können den tödlichen Ver- lauf einer Krankheit nicht gleichsetzen mit heilbaren Diese Orientierungsdebatte, die wir heute führen, ist Krankheiten. Dazu kann ich nur sagen: Selbstverständ- eine wichtige Debatte, und sie soll Aufschluss über das lich. Jeder Mensch, der eine heilbare Krankheit hat, geben, was Frau Schewe-Gerigk ganz zum Schluss ge- kann heute festlegen, dass er nicht geheilt, dass er nicht sagt hat, nämlich über die Frage, ob wir wirklich ein Ge- behandelt werden will. Es gibt den Fall der Zeugen setz brauchen oder nicht. Ich würde Ihnen und Herrn Jehovas, die das aus religiösen Gründen nicht wollen, Stünker, der das heute Morgen auch schon gesagt hat, und es gibt andere Menschen, die es aus anderen Grün- zustimmen: Ehe wir ein Gesetz machen, das eine Reich- den nicht wollen. Das ist vom Selbstbestimmungsrecht weitenbegrenzung vorsieht und damit, wie ich meine, des Menschen umfasst. verfassungsrechtlich nicht zulässig wäre, sollten wir bes- ser kein Gesetz machen. Sie sagen: Der Wille wurde zuvor festgeschrieben; wir wissen aber nicht, ob das der aktuelle Wille ist; des- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) halb wollen wir uns vorsichtshalber einmal nicht danach Die Erwartungen, die die Menschen in unsere Debatte richten, sondern andere darüber entscheiden lassen. Ich heute und überhaupt zu diesem Thema haben, sind sehr frage Sie: Was machen Sie denn, wenn es noch der aktu- hoch. Es gibt kein anderes Thema, das die Menschen so elle Wille ist und Sie gegen den Willen des Betroffenen bewegt und zu dem wir so viel Post bekommen. Wir ha- handeln? ben 700 000 Exemplare unserer Broschüre zur Patien- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, tenverfügung in den letzten zweieinhalb Jahren in der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ Deutschland verschickt. Sie sehen, da besteht ein echter DIE GRÜNEN) Bedarf. Der Anlass dafür ist, wie Herr Bosbach heute Morgen aufgezeigt hat – da sind wir uns im Befund einig –, Ich meine, dieser Ansatz kann nicht richtig sein. dass wir eine ausdifferenzierte Apparatemedizin haben, Man sollte nicht davon ausgehen, dass man es selbst die die Lebensverlängerung in einem hohen Maße er- – oder andere – in solchen Situationen, in solchen Pha- laubt und die, so schön sie in einer Notfallsituation ist, sen des Lebens, besser weiß vielen Menschen am Ende ihres Lebens Angst macht. Die Menschen haben Angst davor, dass das, was früher (Joachim Stünker [SPD]: Besser! Genau!) 9130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) und dass man deshalb anstelle der Betroffenen entschei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) det. Dazu sage ich Nein; das kann nicht sein. Nach der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- Art. 2 Grundgesetz usw. hat man das Recht, selbstbe- SES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. stimmt darüber zu entscheiden, wie man behandelt wer- Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]) den will. Das muss auch für den Moment gelten, in dem man es nicht mehr selbst artikulieren kann, in dem aber Präsident Dr. Norbert Lammert: etwas Antizipiertes, etwas vorher Aufgeschriebenes vor- Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege liegt. Wolfgang Bosbach das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Frau Ministerin, Sie haben mich direkt angesprochen. Wir können uns dann gern wieder darüber verständi- Sie sagten, Sie verstünden die Argumentation nicht, Sie gen, welche Anforderungen an eine solche Patienten- verstünden nicht, warum wir in dem Gruppenantrag ei- verfügung zu stellen sind. Was heißt das? Wir haben nen Unterschied machen, was den Zeitpunkt der Ab- festgestellt – das hat auch Herr Stünker in seinem Ent- gabe der Willenserklärung angeht. Deswegen will ich wurf formuliert –: Sie muss schriftlich sein; sie kann je- es noch einmal ganz kurz erläutern. derzeit mündlich widerrufen werden; die Situation soll Selbstverständlich ist es ein Unterschied, ob jemand nicht durch irgendwelche formalen Vorschriften er- an einer Krankheit leidet, die unaufhaltsam zum Tode schwert werden. Auch wir sind der Auffassung, dass führt – es ist zwar nicht bekannt, wann der Tod eintreten man klarmachen muss, dass es sich in der Tat um den ak- wird, aber man weiß: Trotz aller ärztlichen Kunst wird tuellen Willen einer Person handelt. Schließlich muss der Patient nicht mehr zu heilen sein –, oder an einer eine Patientenverfügung zur Überzeugung des Arztes Krankheit, die man therapieren kann, an der er nicht ster- den Willen des Patienten dokumentieren, und dazu ge- ben muss. hört eben, dass sie nachvollziehbar ist, dass die Willens- erklärung aktuell ist. Deswegen wird empfohlen, dass sie Wenn man sagt: „Wir machen keinen Unterschied alle zwei Jahre neu unterschrieben wird. zwischen der vorweggenommenen Willenserklärung und der akuten Willenserklärung“, dann muss man auch die Den Vorschlag zur Patientenverfügung in der Bro- Haltung einnehmen: Es macht keinen Unterschied, ob schüre des Bundesministeriums der Justiz halte ich im ein Patient sich für oder gegen eine Behandlung ent- Übrigen für sehr gut. Vorgeschlagen wird, eine gewisse scheidet in einer konkreten Krankheitssituation, die er Gesamtschau des Lebens vorzunehmen. Ob ein 85-Jähri- also kennt, die er persönlich erfährt, erleidet, in der er (B) ger eventuell einen weiteren Herzinfarkt bekommt oder vom Arzt über Chancen und Risiken aufgeklärt werden (D) ob jemand mit Anfang 50 für den Fall Vorsorge trifft, kann, oder in einer Situation Jahre zuvor. – Darin sehen seinen ersten Herzinfarkt zu bekommen, ist ein Unter- die Verfasser des Gruppenantrags aber tatsächlich einen schied. Die Lebenssituationen können ganz unterschied- Unterschied. lich sein. Die Position der Betroffenen dazu ist daher Wir wollen die ärztliche Aufklärung nicht zur Voraus- eine andere. setzung machen – der Auffassung sind wir übereinstim- Im Übrigen gilt: Es ist immer sinnvoll, einen Bevoll- mend –, sondern – in Anführungszeichen – nur die mächtigten zu bestellen. Das sollte man schon heute Schriftform. Wenn jemand in einer Situation, die er nicht tun, unabhängig von diesem Gesetzgebungsvorhaben; kennt, die er gar nicht kennen kann – jedenfalls ist das in den allermeisten Fällen so –, in der es keine ärztliche denn es ist keineswegs so, dass Ehepartner oder Kinder Aufklärung gibt – zu dem Zeitpunkt weiß er auch gar automatisch entscheiden können. Sie können nur ent- nicht, ob es zum Zeitpunkt des Krankheitseintritts Hei- scheiden, wenn sie bevollmächtigt sind. Deswegen sollte lungschancen, neue Therapiemöglichkeiten geben wird, eine Vorsorgevollmacht auf alle Fälle vorliegen. Der Be- die jetzt noch unbekannt sind –, eine Erklärung abgege- vollmächtigte kann dann zusammen mit dem behandeln- ben hat – es handelt sich um eine vorweggenommene Er- den Arzt den Willen des Patienten deutlich machen, klärung –, dann ist das anders zu bewerten, als wenn wir wenn es um die Auslegung der Patientenverfügung geht. es mit dem aktuellen Willen des Patienten zu tun haben, Sie ist nämlich selbstverständlich – wie alle anderen der immer, unter allen Umständen beachtlich ist. schriftlichen Willenserklärungen – im Zweifel ausle- gungsbedürftig und natürlich auch – um das ganz klar zu Ein Beispiel aus der Nachbarschaft, aus einem Kran- sagen – auslegungsfähig. kenhaus in meinem Wahlkreis: Eine ältere Patientin wird drei Tage künstlich beatmet. Die künstliche Beatmung Man kann sich also auch nicht auf den Standpunkt kann dann abgestellt werden, weil sie wieder selbststän- stellen: Da ist ein Halbsatz nicht deutlich genug; deswe- dig atmen kann. Sie macht dem Arzt – in Anführungs- gen gilt das alles nicht. – Man muss schon aus dem, was zeichen – einen Vorwurf. Sie sagt, sie habe doch eine Pa- zum Ausdruck kommt, am besten auch aus einer Ge- tientenverfügung. Die hatte sie in ihrem Handgepäck mit samtschau des Lebens und der Situation, in der sich der ins Krankenhaus gebracht. Sie war den Ärzten aber nicht Patient befindet, heraus argumentieren und – im Zusam- bekannt. Daraufhin hat der Arzt gefragt, ob er nun einen menwirken von Arzt und Bevollmächtigten – zu dem Er- Fehler gemacht habe. Die Patientin antwortete, nein, sie gebnis kommen: Das scheint plausibel zu sein; das ist sei heilfroh, dass man ihre Patientenverfügung nicht ge- das, was der Patient gewollt hat. funden habe. Die Patientin ist aus dem Krankenhaus ent- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9131

Wolfgang Bosbach (A) lassen worden. Sie hat noch zweieinhalb Jahre gelebt genteil. Ich habe vor unserer Broschüre gesessen. Ich (C) und ihre Enkel weiter aufwachsen sehen. Sie ist dann habe Stunden gebraucht. Das ist nicht einfach. Das ist friedlich eingeschlafen. so. Man muss sich wirklich mit Grenzsituationen be- schäftigen. Aber wenn sich jemand dazu durchgerungen Das Beispiel zeigt den Grund dafür, dass ich vorhin in hat, zu erklären: „Das ist das, was ich will“, dann, finde einem Halbsatz gesagt habe: Wir können doch nicht ich, muss das von anderen respektiert werden, genauso, blind darauf vertrauen, dass eine vorweggenommene Er- wie wenn er sich noch äußern könnte. klärung exakt dem Willen zum Zeitpunkt der Äuße- rungsunfähigkeit entspricht. Wohlgemerkt: Es kann sein, (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Frau Zypries, dass es der aktuelle Wille ist; er muss es Abgeordneten der LINKEN und des BÜND- aber nicht sein. Der aktuelle Wille kann ein anderer sein. NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Das wissen wir aber nicht! Wer entscheidet das?) Präsident Dr. Norbert Lammert: Deswegen sagen wir: im Zweifel für das Leben. Der Vorzug dieser Intervention und der Erwiderung liegt vielleicht darin, dass das Abwägungsproblem noch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- einmal verdeutlicht wurde, für das es eine rundum über- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zeugende Lösung vermutlich nicht gibt. und der Abg. Monika Knoche [DIE LINKE]) Nun hat das Wort der Kollege Wolfgang Zöller für die CDU/CSU-Fraktion. Präsident Dr. Norbert Lammert: Zur Erwiderung Frau Kollegin Zypries. Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je- Herr Bosbach, ich glaube, es sind zwei verschiedene der Mensch hat seinen eigenen Glauben, seine eigenen Themen, die Sie ansprechen. Ihnen geht es zum einen Überzeugungen und Wertvorstellungen, die wir respek- um die Frage: Wie alt darf eine Patientenverfügung sein, tieren und schützen müssen, vom Anfang bis zum Ende. oder wie aktuell muss sie sein? Sie heben darauf ab – das Unser Handeln muss dieser Vielfalt gerecht werden. habe ich hinsichtlich der Differenzen herausgehört –, Erfreulicherweise ist in der Diskussion heute früh dass ein Wille geäußert wird und erst viele Jahre später festzustellen, dass wir uns in den Zielen einig sind, näm- ein solcher Krankenhausaufenthalt folgt. Das war das, lich: Die Würde des Menschen ist unantastbar vom An- worüber wir auch schon gesprochen haben. Es muss fang bis zum Ende seines Lebens, und Sterben ist ein (B) schon ein möglichst aktueller Wille sein. Teil des Lebens. – Die Menschenwürde gebietet uns, die (D) Auf die andere Frage bin ich in meiner Rede bereits Selbstbestimmung der Patienten vor unberechtigten eingegangen. Sie sagen: Es kann sein, dass es der aktuelle Eingriffen Dritter zu schützen und auch zu fragen: Wie Wille ist; es muss aber nicht der aktuelle Wille sein. – Ich kann ich dem Patienten die Unsicherheit und die Unge- frage Sie umgekehrt: Was machen Sie, wenn es der aktu- wissheit nehmen bezüglich seiner Frage, was mit ihm elle Wille ist? Sie behandeln dann gegen den Willen des geschieht, wenn er nicht mehr entscheidungsfähig ist, Patienten. und wie kann ich ihm die Angst nehmen, dass er zwangsbehandelt wird oder es in einer unwürdigen Be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten handlung oder Pflege endet? Dem Wunsch nach Zulas- der FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS- sung der aktiven Sterbehilfe ist Einhalt zu gebieten; SES 90/DIE GRÜNEN) zugleich ist auf die Verbesserungen der palliativmedizi- Das ist das, was ich problematisch finde. Darüber kom- nischen und hospizlichen Versorgungsstrukturen hinzu- men Sie auch nicht hinweg. Sie müssen dann schon sa- weisen. gen: Normalerweise respektiere ich den Willen, aber in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) solchen Situationen eben nicht. Es geht auch um die Frage: Welche gesetzlichen Vorga- Da sage ich: Im Zweifel entscheidet jemand anders. ben sind notwendig, um Rechtssicherheit zu gewährleis- (Joachim Stünker [SPD]: Richtig!) ten? Sie können gar nicht wissen, was der Betroffene denkt Wie kann man diese Ziele am besten umsetzen? Ich oder will; denn er kann sich ja nun gerade nicht äußern. habe Bedenken, wenn man mit Einzelbeispielen ver- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Sie auch sucht, seinen Standpunkt zu belegen. nicht!) (Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!) – Ich gehe davon aus, dass er eine solche Situation anti- Es gibt für die unterschiedlichsten Ansichten jeweils zu- zipiert hat, sich bei Ärzten Informationen geholt hat treffende Einzelbeispiele. Weil dies so ist, bin ich per- – das empfehlen wir ja auch –, sich Gedanken darüber sönlich der Meinung, dass man diese Vielfalt nicht sau- gemacht und dann eine Festlegung getroffen hat. Ich ber gesetzlich regeln kann. gebe zu, dass das keine einfache Situation ist; das habe ich auch nie behauptet. Ich habe nie gesagt, dass es ein- (Beifall des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/ fach ist, eine Patientenverfügung zu verfassen; im Ge- CSU]) 9132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Wolfgang Zöller (A) Das Handeln muss sich nämlich am Wohl des Patienten kenhausaufenthalt und intensivmedizinische Behand- (C) ausrichten und darf nicht von der Angst vor der Staatsan- lung hatte er abgelehnt. Dieser Wille ist respektiert wor- waltschaft bestimmt sein. den – ohne das Vorliegen einer Patientenverfügung, ohne vorhergehendes Konzil und ohne Anrufung eines Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sehe, Vormundschaftsgerichts. ebenso wie der Bundesgerichtshof, einen Auftrag an den Gesetzgeber im Zusammenhang mit Patientenverfügun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gen nur insoweit, als die Rolle der Vormundschaftsge- der FDP) richte geklärt werden soll. (Beifall der Abg. Dr. Herta Däubler-Gmelin Präsident Dr. Norbert Lammert: [SPD]) Die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Für mich sind die Vormundschaftsgerichte immer dann die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion. zuständig, wenn es Meinungsverschiedenheiten zwi- (Beifall bei der FDP) schen Arzt und Betreuer des Patienten über den Willen des Patienten gibt. Das und nur das bedarf meiner An- sicht nach einer gesetzlichen Klarstellung. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der nen und Kollegen! Herr Zöller, ich möchte gleich an Ihre SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- letzte Bemerkung anschließen: Der Papst hatte zwar NEN) keine schriftliche Patientenverfügung verfasst; aber sein Ich halte die Vorschläge der Bundesärztekammer und Wille war bekannt. Er hatte mündlich gesagt, er wolle deren Zentralen Ethikkommission für zielführend, die nicht auf einer Intensivstation mit lebensverlängernden, eine besondere Bedeutung der Vorsorgevollmacht bei- jedoch nicht heilenden Maßnahmen gequält werden. messen, mit der ein Patient eine Person seines Vertrau- Aber wenn genau darüber sich jeder Einzelne schon ens zum Bevollmächtigten in Gesundheitsangelegenhei- vorher Gedanken macht und sich damit auseinander- ten erklärt. Ich darf zitieren: setzt, nicht erst in dieser letzten Phase des Lebens, son- Damit hat der Arzt einen Ansprechpartner, der den dern sehr viel früher, dann ist es doch sehr wichtig und Willen des Verfügenden zu vertreten hat und der bei gut, wenn er seinen Willen in einer Patientenverfügung der Ermittlung des mutmaßlichen Willens mitwirkt. schriftlich niederlegt, Herr Stünker, da bin ich anderer Auffassung als Sie; (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) denn im zweiten Satz heißt es: der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- (D) Die Praxis hat gezeigt, dass ein grundsätzlicher Un- SES 90/DIE GRÜNEN) terschied besteht, ob Menschen in gesunden Tagen und zwar möglichst ausführlich. Denn viele Beispiele und ohne die Erfahrung ernsthafter Erkrankung – allein anhand von Beispielen kann man diese Debatte eine Verfügung über die Behandlung in bestimmten allerdings nicht führen – zeigen, dass sich aus Patienten- Situationen treffen oder ob sie in der existenziellen verfügungen nicht klar genug ergibt, was im Zustand des Betroffenheit durch eine schwere, unheilbare vollen Bewusstseins tatsächlich verfügt worden ist, als Krankheit gefordert sind, über eine Behandlung zu man sich mit diesen schwierigen Fragen beschäftigt hat: entscheiden. mit Blick auf einen Unfall mit Bewusstseinsverlust, Deshalb halte ich eine Kombination aus Vorsorgevoll- schwersten Verletzungen, möglicherweise mit Koma- macht und Patientenverfügung für ratsam; ich würde sie folge oder auch mit Blick auf eine Erkrankung, die nicht einer Patientenverfügung ohne Vorsorgevollmacht vor- heilbar ist, aber vielleicht einen ganz unterschiedlichen ziehen. Verlauf nehmen kann. Aus diesem Grund plädiere ich dafür, wirklich nur Ich denke, dass unabhängig von jedweder rechtlichen das unbedingt Notwendigste gesetzlich zu regeln. In ei- Regelung den Bürgerinnen und Bürgern gesagt werden ner freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die die muss, dass sie sich, wenn sie eine Patientenverfügung Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Men- verfassen, sehr intensiv und gründlich mit den Fragen, schen respektiert und fördert, verbietet sich jede Über- die wir hier ansprechen und die jetzt in vielen Zeitschrif- regulierung. Wir sollten uns darauf beschränken, die ten und Medien teilweise ganz hervorragend dargelegt Rolle des Vormundschaftsgerichts zu klären und nicht werden, befassen müssen. Beim Abfassen einer Patien- mehr. tenverfügung gibt es kein Multiple-Choice-Verfahren, sondern es sollte möglichst konkret das wiedergegeben Lassen Sie mich mit einer Bemerkung schließen. Ich werden, was man selbst denkt, empfindet, meint und an denke in diesem Zusammenhang oft an den verstorbenen Wünschen und Erwartungen im Hinblick auf eine Situa- Papst Johannes Paul II. Laut einem offiziellen Bericht tion hat, in der man nicht mehr einwilligungsfähig ist. des Vatikans sprach Johannes Paul II als letzte Worte am 2. April 2005 um 15.30 Uhr auf Polnisch: „Lasst mich Deswegen spreche ich mich ganz deutlich dafür aus, zum Haus des Vaters gehen“. Vier Stunden später fiel er dass eine solche schriftlich abgefasste Patientenverfü- ins Koma, sechs Stunden später starb er im Alter von gung in ihrer Reichweite, ihrer Wirkung nicht be- 84 Jahren in seinen Privaträumen. Einen erneuten Kran- schränkt werden darf. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9133

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei men kann. Damit kann vielleicht sogar die Existenz ei- (C) Abgeordneten der LINKEN und des BÜND- nes Arztes vernichtet werden. Erst in zweiter und dritter NISSES 90/DIE GRÜNEN) Instanz könnte dieses Unrecht gegebenenfalls korrigiert werden. Denn welche Rolle soll eine solche Vorausverfügung sonst spielen? Wenn das Niedergelegte im Ernstfall nicht (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei gilt, dann brauche ich diese Patientenverfügung, die Abgeordneten der LINKEN) mein Selbstbestimmungsrecht konkretisiert und zum Ausdruck bringt, wirklich nicht. Ich spreche mich daher ganz eindeutig für eine ge- setzliche Regelung aus. Ich glaube, dass eine solche Re- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gelung nicht überbürokratisch ist. Wir können uns auf der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- die wichtigsten Kernpunkte beschränken. Man muss SES 90/DIE GRÜNEN) aber auch deutlich machen, von welchem Bild des Men- schen, der über sich verfügt und seinen Willen formu- Ich glaube, darin liegt einer der Hauptunterschiede bei liert, man bei einer solchen gesetzlichen Regelung aus- der Bewertung der Bedeutung der Patientenverfügung. geht. Ich denke, dass das, was in unserem Antrag Die vielen als Beispiele angeführten Fälle, in denen es formuliert ist und was aus einem früheren Gesetzentwurf aus heutiger Sicht vielleicht doch richtig war, dass man des Bundesjustizministeriums stammt – auch aus Ihren die Patientenverfügung nicht beachtet hat, machen deut- Worten, Herr Stünker, ging dies hervor –, nach meiner lich, dass letztendlich immer Dritte über das entschei- Einschätzung und nach Überzeugung der Liberalen die den, was in dieser schwierigsten Phase mit einem selbst Grundlage ist, auf der wir handeln und einen Vorschlag passieren soll. Wenn man für Selbstbestimmung anstelle für eine gesetzliche Regelung machen sollten. von Fremdbestimmung eintritt und damit gegen eine Zwangsbehandlung und gegen eine Lebensverlängerung Vielen Dank. um jeden Preis ist, dann muss man sich für eine Patien- tenverfügung aussprechen, die diese inhaltliche Be- (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei schränkung nicht enthält. Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion Die Linke ist die nächste Rednerin Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Daran kann man die Frau Dr. Jochimsen. unterschiedlichen Positionen in dieser Debatte und auch (B) bei der anstehenden Beratung über – wahrscheinlich – (Beifall bei der LINKEN) (D) zwei unterschiedliche Gruppenanträge festmachen. Ich komme zu einem weiteren Punkt, den Sie, Herr Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Zöller, und auch Sie, Frau Knoche, bereits angesprochen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! haben. Ich bin der Meinung, dass wir eine gesetzliche Endlich findet diese Debatte statt. Endlich holen wir das Regelung brauchen, die den wichtigen Punkt behandelt, große Thema „Tod und Sterben“ vom verdrängten Rand wie sich eine Patientenverfügung auswirken soll. in die Mitte unseres politischen Denkens und Handelns. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Winkelmeier [fraktionslos]) GRÜNEN) In alten Texten finden wir immer wieder den Satz: Er Es besteht Unsicherheit bei der Frage, wann das Vor- fühlte seinen Tod nahen, rief die Seinen zusammen, re- mundschaftsgericht angerufen werden soll; denn es gibt, gelte die weltlichen Dinge und nahm Abschied. – Wie auf Einzelfällen beruhend, sehr unterschiedliche Ent- viel Würde enthält diese Beschreibung! Diese Würde ha- scheidungen unterer Instanzen, aber auch des Bundesge- ben wir in unserer den Tod und das Sterben aus dem Be- richtshofs. Der Bundesgerichtshof selbst sagt, dass seine wusstsein verdrängenden Gesellschaft weitgehend verlo- Rechtsprechung etwas unübersichtlich ist. Wie sollen ren, was es schwer macht, sie jetzt zurückzuholen – auch denn Ärzte, Pflegepersonal und Angehörige, die mit gu- weil die Situationen am Lebensende heute so komplex tem Willen und den besten Absichten handeln wollen, in und individuell sind, wie sie es noch nie zuvor waren. einer konkreten Situation eine Entscheidung treffen kön- Aber eine gesetzlich verbindliche, allen Menschen nen, die von einer Einzelfallentscheidung des Bundesge- bekannt gemachte und für alle verlässliche Regelung zu richtshofs abgedeckt wird? selbst bestimmten Entscheidungen über medizinische (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Behandlung am Lebensende eröffnet uns jetzt diese Möglichkeit. Es geht um eine Kernfrage der durch das Ich will doch nicht einen Anwalt am Krankenbett haben. Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des Indivi- Ich will doch nicht, dass die rechtliche Beratung im Vor- duums: um das Recht auf Selbstbestimmung über den dergrund steht. Die Menschen dürfen nicht in rechtlicher eigenen Körper. Unsicherheit handeln, weil sie Angst haben müssen, dass es, auch wenn sie wohlmeinende Gründe für ihr Handeln (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert hatten, zu einem Verfahren vor einem Strafgericht kom- Winkelmeier [fraktionslos]) 9134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Dr. Lukrezia Jochimsen (A) Seit Jahren kennen wir die grundsätzlich verbindliche (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und (C) Patientenverfügung, in der schriftlich festgelegt ist, wel- der SPD sowie des Abg. Gert Winkelmeier che Therapie der Verfügende sich wünscht und welche er [fraktionslos]) ausschließt. Nun geht es darum, dass diese Patientenver- Nennen wir das doch nicht eine Zumutung. Wenn es um fügung endlich gesetzlich geregelt wird. Ich halte diesen unsere Telefonverträge, unsere Versicherungspolicen Schritt für überfällig und folgende Einzelheiten für not- und die Fahrtüchtigkeit unserer Autos geht, wendig: (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie Erstens. Niemand darf dazu gedrängt werden, eine bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Gert Patientenverfügung zu verfassen. Winkelmeier [fraktionslos]) (Joachim Stünker [SPD]: Einverstanden!) dann sind solche Aktualisierungen selbstverständlich. Zweitens. Jede Person, die eine Verfügung verfasst Warum dann ausgerechnet nicht bei solch existenziellen hat, muss sicher sein, dass diese Verfügung geachtet und Fragen wie schwerster Krankheit und Sterben? umgesetzt wird. Die Verfügung soll jederzeit veränderbar sein, den Phasen des individuellen Lebens angepasst. Sie sollte (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie auch – das wäre die fünfte Forderung – für jeden Zeit- des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) punkt eines Krankheitsverlaufes verändert werden kön- Drittens. Die Abfassung der Verfügung muss schrift- nen. Es darf keine Zwangsbehandlung geben, auch nicht lich erfolgen, und die Verfügung muss jederzeit – auch bei Personen, die nicht einwilligungsfähig sind. mündlich – widerrufen werden können. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der (Joachim Stünker [SPD]: Auch einverstan- SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ den!) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Insofern halte ich den Fall, der vorhin beschrieben wurde, was nämlich Mediziner mit Patienten machen, Sechstens. Liegt eine schriftliche Patientenverfügung die bei Bewusstsein sind, eine Patientenverfügung da- vor, die konkret auf die Behandlungssituation anwend- beihaben, nun aber etwas anderes wollen, nicht für einen bar ist, dann ist das kein Fall für das Vormundschaftsge- Fall, der uns zu belasten hat. richt. (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) (Beifall bei der LINKEN, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (B) Vormundschaftsgerichte sollten nur noch im Fall von (D) des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Konflikten zwischen Ärzten, Betreuern und Angehöri- gen angerufen werden. Denn ein Wille ist vorhanden; er kann geäußert werden. Der Wille steht dann natürlich über der vorhandenen Pa- Das wären aus meiner Sicht die wichtigsten Einzel- tientenverfügung. heiten der gesetzlichen Regelung. Im Übrigen muss sie aber auch unbedingt Teil einer großangelegten Aufklä- Viertens. Die Verfügung sollte so konkret und aktuell rungskampagne sein; da stimme ich dem FDP-Antrag wie möglich sein: Will ich künstlich ernährt werden oder nachdrücklich zu. Die Grundsatzfragen von Sterben und nicht? Soll eine auftretende Lungenentzündung mit An- Tod waren in unserem Lande lange tabu; das liegt auch tibiotika behandelt werden oder nicht? Soll mein jetziger an der mangelnden Auseinandersetzung mit den Todes- Wille auch gelten, wenn ich an Demenz erkranke, oder apparaten der nationalsozialistischen Diktatur. Sie sind nicht? – Wir fordern viel von Ärzten und Pflegern in den immer noch tabu, weil die Gesellschaft sehr säkular und Situationen zwischen Leben und Tod. Da haben sie ih- materialistisch geworden ist. Die große Mehrheit der Be- rerseits das Recht, sicher zu wissen, was ihre Patienten völkerung hat sich mit dem Thema Patientenverfügung wollen. bisher nicht befasst. Viele Menschen haben ganz irrige Es geht eben im Grundsatz darum – Frau Vorstellungen und wenig Wissen. Leutheusser-Schnarrenberger hat das gesagt –, dass sich Eine gesetzliche Regelung ist jetzt das Wichtigste, jeder von uns in allen Lebensphasen damit auseinander- genügt allein aber nicht. Diese Debatte heute könnte der setzt, ob er sich, durch einen plötzlichen Unfall oder eine Anfang für eine Wende, einen neuen Umgang mit Alter, tödliche Krankheit getroffen oder in schwerem Siechtum Krankheit, Sterben und Tod unter dem Schild der frei- gefangen, lebensverlängernden Maßnahmen unterzie- heitlichen Selbstbestimmung und des sie schützenden hen will oder nicht und, wenn ja, in welchem Umfang. Rechts sein. Sie muss aber auch das Thema „Schmerz- Jeder muss diese Auseinandersetzung vollziehen. Nur therapie für Sterbende“ neu aufgreifen. Immer noch wer sich dieser Auseinandersetzung stellt, kann auf sei- müssen Sterbende in unserem Land Schmerzen erleiden, nem Selbstbestimmungsrecht bestehen. die medizinisch nicht sein müssten, wodurch ihnen das Sterben oft schwer gemacht wird. In diesem Land die Soll die Patientenverfügung eines 20-Jährigen auch Möglichkeit zu schaffen, selbstbestimmt und schmerz- noch 60 Jahre später gelten? Diese Frage hätte ich gern frei zu sterben, ist eine Aufgabe für uns alle. Meine so beantwortet: Zum eigenen Schutz, zur eigenen Recht- Fraktion ist bereit, daran aktiv mitzuarbeiten. fertigung und zur eigenen Klarstellung sollte jeder seine Verfügung alle drei bis fünf Jahre erneuern. Ich danke Ihnen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9135

Dr. Lukrezia Jochimsen (A) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- denn der wirklich aktuelle Wille, der nicht mehr geäu- (C) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ßert werden kann, würde nach dem Willen mancher hin- GRÜNEN) ter der oft nicht mehr aktuellen Willensbekundung in ei- ner Patientenverfügung zurückstehen müssen. Das wäre aus meiner Sicht die Beendigung eines Lebens durch Präsident Dr. Norbert Lammert: Dritte und nicht die erwünschte Hilfe beim Sterben. Das Wort erhält nun der Kollege Josef Winkler für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der LINKEN) Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Deshalb will ich ganz offen bekennen, dass ich daran Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich zweifele, ob die Regelung, die die Kollegen Bosbach, habe in meinem erlernten Beruf als Krankenpfleger in Röspel, Fricke, andere Kollegen und ich für die, wenn den letzten fünf Jahren vor meiner Wahl in den Deut- man so sagen will, noch schlimmeren Fälle, für Wach- schen Bundestag in einer Abteilung gearbeitet, in der komapatienten und Schwerstdemente, die wohl endgül- sich sehr viele an Demenz, also an Krankheiten wie Alz- tig ohne Bewusstsein, aber eben keine Sterbenden sind, heimer erkrankte Patienten befanden. erarbeitet haben, ein wirklich gangbarer Kompromiss ist. (Beifall der Abg. Katrin Göring-Eckardt In diesen Jahren habe ich immer wieder mit Men- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie der schen zu tun gehabt, die im Anfangsstadium ihrer Abg. Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]) Krankheit noch relativ geringe Ausfallerscheinungen hatten, im weiteren Verlauf aber einen fast vollständigen Zu den konkreten Vorschlägen, die sich auf tatsäch- Gedächtnis-, häufig auch Bewusstseinsverlust erlitten. lich Sterbende beziehen. Wir schlagen in diesem Zusam- Wenn später eine schwere Demenz eingetreten ist, waren menhang vor, dass, wenn eine Patientenverfügung vor- diese Patienten oft von einer sehr ausgeglichenen, liegt, die eine Hilfe beim Sterben verlangt, und die freundlichen, oft fröhlichen Lebensweise geprägt, was Krankheit nach ärztlicher Meinung vermutlich einen sich Gesunde, die nicht mit Dementen zu tun haben, oft irreversibel tödlichen Verlauf genommen hat, von le- überhaupt nicht vorstellen können. benserhaltenden Maßnahmen abzusehen ist. Es ist natür- lich auch der Fall denkbar, dass zwar ein irreversibel (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) tödlicher Verlauf vorliegt, aber keine Patientenverfü- Das gilt aber auch für andere Erkrankungen. Dass gung zur Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen ab- gefasst wurde. Wenn dieser Wunsch nach Meinung des (B) Kranke anders denken als Gesunde, wurde heute schon (D) mehrfach gesagt. Betreuers vorliegt, sollte das – das schlagen wir vor – in einem Konsil aus ärztlichem und Pflegepersonal ge- In der Öffentlichkeit und in diesem Hause wird im- meinsam mit dem Betreuer und den Angehörigen geklärt mer wieder die Forderung aufgestellt, man müsse bei werden. Falls danach der mutmaßliche Wille zwischen dieser oder anderen Erkrankungen die Möglichkeit Arzt und Betreuer einheitlich gesehen wird, sind die le- schaffen, mit einer Patientenverfügung die medizinische benserhaltenden Maßnahmen ebenfalls einzustellen, und Behandlung von Sekundärerkrankungen wie Lungenent- zwar ohne dass sich das Vormundschaftsgericht damit zu zündung oder Ähnliches auszuschließen. Ich halte das befassen hat. für eine absolut nicht unterstützenswerte Forderung. Den nach Meinung des Betreuers mutmaßlichen Wil- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ len des Patienten auf Abbruch lebenserhaltender Maß- DIE GRÜNEN und der CDU/CSU sowie der nahmen aber auch dann gelten zu lassen, wenn keine Abg. Monika Knoche [DIE LINKE]) irreversibel tödliche Erkrankung vorliegt, würde meiner Meinung nach das Gleichgewicht zwischen den mehr- Wenn ich mir die Fälle, die ich beurteilen kann, weil fach angesprochenen Verfassungswerten „Recht auf ich sie selbst miterlebt habe – es handelt sich nicht nur Selbstbestimmung des Patienten“ auf der einen Seite und um Fälle, in denen Menschen an Demenz erkrankt sind –, „Verpflichtung zum Schutz des Lebens und der Würde vor Augen führe, muss ich sagen, dass wohl sehr viele des Menschen“ auf der anderen Seite zerstören. dieser Patienten in der Anfangsphase ihrer Erkrankung weitreichende Patientenverfügungen unterschrieben hät- Deshalb muss meiner Meinung nach nicht nur die ten, wenn dies damals üblicher gewesen wäre. Sie wären Reichweite von Patientenverfügungen, sondern auch die sicherlich der festen Überzeugung gewesen, dass sie in Reichweite des sogenannten mutmaßlichen Willens in einem bestimmten, späteren Stadium ihrer Krankheit ihrer Wirkung eingeschränkt werden, wenn es nicht um nicht mehr am Leben erhalten werden wollten. Wir müs- Krankheiten geht, die einen irreversibel tödlichen Ver- sen uns aber immer vor Augen halten, was es heißt, lauf genommen haben. Diese dürfen meiner Meinung wenn man dieser Forderung folgen würde: Das Leben ei- nach keinesfalls in unbeschränkter Form zulässig sein. nes nicht mehr äußerungsfähigen Menschen würde auf- Dafür werde ich mit den anderen Kolleginnen und Kol- grund von Entscheidungen, die er zwar selbst getroffen, legen, die sich in dieser Form äußern, im weiteren parla- an die er sich aber nicht mehr erinnern kann, die ihm mentarischen Verfahren werben. nicht mehr bewusst sind, vorzeitig beendet; Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Joachim Stünker [SPD]: Nein!) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) 9136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Sicht Sophismus, eine solche Unterscheidung vorzuneh- (C) Das Wort erhält nun der Kollege Olaf Scholz für die men, um sich als Gesetzgeber das Recht zu verschaffen, SPD-Fraktion. in dem Fall, in dem der Mensch ganz hilflos und be- wusstlos ist, über ihn zu verfügen, obwohl er genau das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mit seiner Patientenverfügung ausschließen wollte.

Olaf Scholz (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Millionen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Menschen – auf die hohe Zahl ist schon hingewiesen GRÜNEN) worden – haben eine Patientenverfügung unterschrieben. Als ein Argument werden die Schwierigkeiten bei der Sie haben sich sorgfältig Gedanken darüber gemacht, Feststellung des Willens genannt. Rechtssoziologen sa- was mit ihnen geschehen soll, wenn sie nicht mehr ein- gen uns, dass der Interpret, der Bevollmächtige, das Ge- willigungsfähig sind. Wir diskutieren hier heute darüber, richt oder wer auch immer sich damit beschäftigt, sich ob diese vielen Patientenverfügungen gelten sollen oder selbst als Person bei der Auslegung einbringt. Das wis- nicht. Darum geht es in dieser Debatte, wenn wir über sen wir. Sogar wenn uns etwas ganz klar erscheint, spielt Reichweitenbeschränkungen sprechen. Deshalb sollten die Auslegung bei der Ermittlung des Sachverhalts eine wir dieses Thema so ernst nehmen, wie es die Sache ge- Rolle. Trotzdem trauen wir uns das zu und halten es für bietet. möglich. Das müssen wir auch. Denn wenn wir uns nicht Eine solche Debatte wird bei uns Abgeordneten des vorstellen könnten, dass wir uns auf die Auslegung eines Bundestages genauso verlaufen wie bei jedem anderen Willens verständigen können, dann könnten wir gar Menschen: Wir schließen von uns auf andere. Das ist bei nicht vernünftig zusammenleben. Deshalb ist es notwen- einer so wichtigen Angelegenheit mehr als angemessen. dig, dass wir so eine Entscheidung akzeptieren. Deshalb will ich nicht verheimlichen, dass ich selbst Der Verweis darauf, dass man sich bei der Auslegung eine Patientenverfügung unterschrieben habe und dass irren kann, rechtfertigt eine Ablehnung dennoch nicht; ich in dieser Patientenverfügung Festlegungen getroffen denn das ist eigentlich nur ein Hinweis darauf, dass wir habe, die nach der möglichen Umsetzung einiger Geset- uns unglaublich viel Mühe geben müssen. Selbstver- zesvorschläge, die heute anberaten werden, nicht mehr ständlich, wenn ein 20 Jahre alter Patientenwille vor- wirksam sein würden. Insofern können Sie sich vorstel- liegt, dann muss sich derjenige, der darüber zu entschei- len, dass sich mit mir viele Hunderttausende – vielleicht den hat, große Mühe geben, um herauszufinden, ob das auch Millionen – Menschen Sorgen machen, dass etwas, wirklich noch der aktuelle Wille ist. was sie sich gut überlegt haben, nicht mehr gelten soll, (B) weil andere, insbesondere der Deutsche Bundestag, es (Zurufe von der CDU/CSU: So, so! – Aha! – (D) besser wissen wollen. So ist das also! – Aber wie?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, – Das ist ganz einfach. Man kann zum Beispiel fragen, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE ob der Patient seinen Willen mündlich oder auf ir- GRÜNEN) gendeine andere Weise widerrufen hat. Niemand in die- Ich kann mich damit nicht abfinden – und bin mir übri- sem Haus hat einen Zweifel daran, dass das möglich ist. gens sicher, dass viele andere das auch nicht tun werden Daher sollte man das nicht zum Anlass für die Gesetzge- und dass sie, falls der Bundestag ihnen mit seiner Weis- bung nehmen. heit nicht hilft, das Bundesverfassungsgericht um Hilfe (Beifall bei der SPD, der LINKEN und der bitten werden. FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Joachim Stünker [SPD]: Ganz richtig!) SES 90/DIE GRÜNEN) Da wiederum bin ich mir sicher, dass manche der hier Das gilt aus meiner Sicht – das will ich ausdrücklich zur Beratung stehenden Gesetzesvorschläge mit unserer sagen – auch im Hinblick darauf, dass wir eine auf sorg- Verfassung nicht vereinbar sind und deshalb vor Gericht fältige Weise getroffene Entscheidung akzeptieren müs- keinen Bestand haben würden. sen. Es hat also auch dann zu gelten, wenn ein Mensch nicht mehr einwilligungs- und geschäftsfähig ist, er aber (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, noch eine Willensäußerung von sich geben kann, die der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE deutlich macht, was er will. Auch daran gibt es keinen GRÜNEN) Zweifel. Das gilt in der Rechtsprechung, und das gilt ins- Gestatten Sie mir, ganz kurz auf Aspekte einzugehen, gesamt. die in dieser Debatte eine Rolle spielen. Einer hat damit zu tun, dass wir etwas aus meiner Sicht Unverantwortli- (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei ches tun: Wir unterscheiden zwischen dem antizipierten Abgeordneten der LINKEN und des BÜND- Willen und dem aktuellen Willen. Das klingt zwar zu- NISSES 90/DIE GRÜNEN) nächst einmal vernünftig, ist aber so selbstverständlich Meine Zeit ist kurz. Gestatten Sie mir deshalb nur nicht. Sehr oft in unserem täglichen Leben – etwa wenn noch eine Bemerkung. wir etwas unterschreiben – drücken wir unseren Willen aus und sind auch völlig damit einverstanden, dass wir ( [SPD]: Na, na, Herr hinterher daran gebunden sind. Insofern ist es aus meiner Kollege! Nicht übertreiben! – Renate Künast Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9137

Olaf Scholz (A) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Rede- Eloquenz für die Galerie unter Beweis stellen zu müs- (C) zeit! – Heiterkeit) sen. – Ja, meine Redezeit. Schönen Dank. Es beruhigt mich, (Zuruf von der CDU/CSU: Er meint wohl dass Sie das klarstellen. Herrn Tauss!) Das ist heute anders. Die heutige Debatte ist – trotz Präsident Dr. Norbert Lammert: gelegentlich vorkommender spaßiger Einwände, zu de- Es liegen bisher auch keine Absichten einer anderen nen auch der Präsident immer wieder beizutragen ver- gesetzlichen Regelung vor, Herr Kollege Scholz. mag – so ernst, dass man keine Meinung, die hier vertre- ten wird, auch wenn sie nicht der eigenen entspricht, (Heiterkeit) a priori für abwegig erklären würde. Das sollte man auch nicht tun, schon gar nicht mit dem Verdikt der Verfas- Olaf Scholz (SPD): sungswidrigkeit. Denn vor diesem Hintergrund wären Auch das beruhigt mich. auch Regelungen im Erbrecht – etwa, dass der Erblasser aufgrund der Tatsache, dass es einen Pflichtteil gibt, Noch ein kurzer Hinweis: Es wird gesagt, man müsse nicht uneingeschränkt bestimmen kann, was mit dem unterscheiden zwischen der Situation, in der jemand ver- Nachlass seines Vermögens geschieht – per se verfas- fügt, so nicht sterben zu wollen, und der Situation, in der sungswidrig. Ich könnte also nicht einfach sagen – ob- jemand verfügt, so nicht leben zu wollen. Das ist sprach- wohl ich das gerne täte –: Mein gesamtes Vermögen ver- lich schön, aber nicht das Gegensatzpaar, um das es in mache ich meinem Freund . dieser Debatte geht. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Elke Ferner [SPD]: Richtig!) Einen Teil des Vermögens – den ich ihnen natürlich auch Denn in der Patientenverfügung verfügt man sowohl für nicht vorenthalten möchte – würden demnach als den Fall, dass man bald stirbt, als auch für den Fall, dass Pflichtteil meine Frau und meine Kinder bekommen. Sie man noch lange lebt – eventuell aber ohne Bewusstsein –, sehen: Der Gesetzgeber hat de lege lata durchaus Gren- nur, so nicht am Leben erhalten werden zu wollen. zen für die Selbstbestimmung gesetzt. Wenn man begreift, dass es sich dabei nicht um zwei Wenn man sieht, dass jemand, der, aus welchen Grün- unterschiedliche Zustände handelt, sondern dass das ein den auch immer, selbstmordgeneigt ist, von einem Dach und derselbe Zustand ist und dass diese Unterscheidung springen will, dann geht man nicht teilnahmslos vorbei künstlich herbeigeführt wird, um sich Gesetzgebungs- und sagt sich, das ist nun einmal sein letzter Wille, und (B) kompetenzen anzumaßen, die man sich besser nicht an- das ist Selbstbestimmung, sondern dann versucht man, (D) maßen sollte, dann kommt man zum Ergebnis, dass das ihn davon abzubringen, und es werden zum Beispiel Selbstbestimmungsrecht im Vordergrund stehen sollte. Sprungtücher aufgespannt. All das geschieht, obwohl Schönen Dank. dieser Mensch das vielleicht gar nicht will. (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Zur Frage der Kongruenz bzw. Inkongruenz von aktu- Abgeordneten der LINKEN und des BÜND- ellem Willen und sogenanntem antizipierten bzw. vor- NISSES 90/DIE GRÜNEN) weggenommenen Willen möchte ich noch eine andere Variante ansprechen. Wir haben eben von Herrn Zöller gehört, dass Einzelbeispiele sicherlich nicht geeignet Präsident Dr. Norbert Lammert: sind, ein gesamtes Konzept zu Fall zu bringen: Je nach- Dr. Jürgen Gehb ist der nächste Redner für die CDU/ dem, vor welchem Publikum und mit welcher Verve Sie CSU-Fraktion. etwas vorbringen, bekommen Sie vielleicht zunächst to- senden Beifall. Aber dann bringe ich ein anderes Bei- Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): spiel, und es ist auch so. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Doch längst nicht alle, die eine Patientenverfügung Diese Debatte ist eine Debatte der leisen Töne. Es ist ein verfassen, sind in der Lage, die Begriffe zu verstehen. außergewöhnliches Phänomen, dass die Ränge noch so voll sind, und das, obwohl bereits sehr viele Reden ge- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- halten worden sind und trotz der fortgeschrittenen Zeit. NEN]: Das ganze Recht geht vom natürlichen Das zeigt, wie wichtig diese Debatte ist. Ich denke, die Willen aus!) Besucher auf der Tribüne und sogar die Zuschauer am Fernseher können förmlich spüren, wie schwer man sich Wir sind doch nicht alle Volljuristen. Nehmen wir an, ein mit diesem Thema tut. Modellathlet, der für die Olympischen Spiele vorgese- hen ist, schreibt: Wenn ich morgen einen Motorradunfall Typischerweise gibt es in den Debatten im Deutschen habe und das Bewusstsein verliere, möchte ich nicht, Bundestag eine geborene kontradiktorische Schlachtord- dass die Beatmung weitergeführt wird. – Würden Sie das nung zwischen Regierung und Opposition. Es fallen Be- machen wollen? Im „Spiegel“ von dieser Woche ist ein griffe wie „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“, Streitgespräch zwischen Herrn Borasio, einem Pallia- „schlecht“ und „dilettantisch“, es werden Zurufe ge- tivmediziner, und Herrn Hoppe zu lesen, in dem Herr macht, und es wird hart gefochten, manchmal auch un- Borasio gesagt hat: Zum bloßen Automaten, zum Voll- terhalb der Gürtellinie, weil man meint, seine besondere streckungsgehilfen von Patientenverfügungen möchte 9138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Dr. Jürgen Gehb (A) ich auch nicht werden. Direkt die Weiterbeatmung ein- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) stellen, das würde ich nicht machen; das würde auch Der Kollege Hans-Michael Goldmann ist der nächste dem hippokratischen Eid eines Arztes widersprechen. Redner für die FDP-Fraktion. Wenn er aber merke, dass dieser Patient das Bewusstsein mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht (Beifall bei der FDP) wieder erlangt, dann stelle sich die Sache ganz anders dar. Hans-Michael Goldmann (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Heute Morgen ist eingewandt worden: Was heißt ei- Kollegen! Wie viele Vorredner begrüße auch ich diese gentlich „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich- Debatte, die wir aus meiner Sicht auch in der gebotenen keit“? Das ist ein Begriff, den wir auch sonst im Beweis- Breite führen, sehr. Es ist vorhin angesprochen worden, recht kennen. Das ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. dass es nicht nur darum geht, für Patienten in einer be- Herr Bosbach hat darauf hingewiesen, dass auf die stimmten Lebenssituation eine Regelung zu finden. Es Frage: „Würden Sie jetzt auch noch so entscheiden, wie geht meiner Meinung nach auch ganz entscheidend da- Sie sich vor Jahren in Ihrer Patientenverfügung festge- rum, dass man Menschen vor dem Hintergrund der ver- legt haben?“ die Antwort sehr gut lauten kann: „Nein, änderten Situation in der Medizin und vor dem Hinter- das würde ich nicht.“ – Die Frau Justizministerin wie- grund der veränderten Situation, in der sie häufig auch in derum argumentiert, es könne auch den umgekehrten ihrem persönlichen Lebensumfeld stehen, das Trauma Fall geben. des Sterbens und das Trauma des Leidens bis zum Tod Insofern sind wir wieder einmal in der Situation, dass nimmt, dass wir uns intensiv beschäftigen mit Bereichen der Fall des Zweifels vom Gesetzgeber gesetzlich gere- der Hospizbewegung, der Hospizarbeit und der Palliativ- gelt werden muss – wie auch sonst bei der Beweislast- medizin und dass wir endlich dazu beitragen, dass Ärzte verteilung, die wir vom Zivilprozess kennen, eine non und Ärztinnen zur Verfügung stehen, die Patienten in liquet. Deshalb muss der Gesetzgeber entweder sagen dieser Phase die richtige Hilfestellung geben. „In dubio pro vita“ oder „In dubio pro …“ – Nun fällt (Beifall bei der FDP) mir der lateinische Begriff für „Selbstbestimmung“ nicht direkt ein. Ganz ungewöhnlich, nicht wahr, meine Da- Ich empfinde die Situation als schwierig und gleichzeitig men und Herren? – Diese Regelung müssen wir treffen. als sehr intensiv. Ein Letztes: Natürlich steht der Patient, steht das Ich will einen Aspekt einbringen, der gewissermaßen Schicksal des Patienten im Vordergrund. Aber ich habe aus meiner Aufgabe in unserer Fraktion als Sprecher für Kirchen- und Religionsgemeinschaften erwächst. Ich (B) es vor zwei Jahren in meiner eigenen Familie erfahren: (D) Vor zwei Jahren hat meine Mutter einen irreparablen me- finde es interessant, dass sich, soweit ich weiß, in dieser dialen Hirnschlag erlitten. Sie ist gefunden worden von Diskussion kaum Menschen zu Gehör melden, die keine einem Arzt, und dann war die PEG-Sonde dran. Nun christliche Glaubenshaltung haben. Die Äußerungen standen mein Bruder und ich vor der Situation: Sollen der katholischen Kirche, des ZdK, sind mir sehr wohl wir einwilligen, dass weiterhin künstlich ernährt wird, bekannt. Aber sind Ihnen Äußerungen der Muslime zu oder nicht? Ohne Anrufung des Vormundschaftsgerichts dieser Thematik bekannt? wäre gerade ich als Politiker – sehr beliebt bei der heimi- Fast jeder von Ihnen, wie auch ich, verfügt über sehr schen Presse – Gefahr gelaufen, mit der Überschrift ver- persönliche Erfahrungen mit diesem Thema. Der Vater sehen zu werden: Bundestagsabgeordneter lässt seine brauchte lange, bis er verstarb, und die Mutter ist Mutter verhungern. 92 Jahre alt. Da beschäftigt man sich mit solchen Din- gen, und man versucht, seinen Standpunkt zu finden. Ich Das zeigt, dass nicht nur der Patient selber, sondern finde das, was Kollege Scholz und auch der Kollege das gesamte Konsil, die Hinterbliebenen, die Ärzte und Gehb eben gesagt haben, hervorragend, nämlich dass wir das Pflegepersonal, Rechtssicherheit haben müssen – uns alle in unserem Ringen um die beste Lösung ange- Ihre Entscheidung ist schwer genug. Wir sollten nicht so nommen fühlen sollten. anmaßend sein, zu glauben, ihnen diese Entscheidung mit irgendeinem Gesetz abnehmen zu können. Aber wir Ich frage mich – auch als praktizierender Katholik –, normieren nicht das Sterben, sondern wir normieren be- was in diesem Bereich eigentlich Aufgabe des Staates stimmte Verhaltensweisen in kritischen Situationen. Ich ist. Meine Mutter hat Angst davor, dass der Staat hier finde, da sollte jeder dem anderen zubilligen, dass er das etwas für sie regeln will. Durch Aufklärung und Infor- nach bestem Wissen und Gewissen und in der besten mation versuche ich, ihr diese Sorge zu nehmen und Absicht macht. Deswegen werben wir in der nächsten klarzumachen, dass in der Ausgestaltung einer Patien- Zeit auch in diesem Hohen Hause um die Zustimmung tenverfügung gerade auch für gläubige Menschen ei- zu verschiedenen Anträgen. Ich finde es schön, dass die gentlich eine große Chance besteht. Ich kann in diese Pa- Abstimmung völlig freigegeben ist und niemand mit tientenverfügung hineinschreiben, wie ich mein Leben dem Stigma rechnen muss, in eine bestimmte Ecke ge- beenden will, und ich meine, andere müssen sich daran stellt zu werden. halten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Jerzy Montag [BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9139

Hans-Michael Goldmann (A) Die anderen haben nicht das Recht, dieser meiner per- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) sönlichen und glaubensbestimmten Haltung entgegenzu- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE arbeiten. Ich finde, das ist eine große Chance. Ich bin der GRÜNEN) Auffassung, dass die katholische Kirche in dieser Frage In diesem Sinne, meine ich, sollten wir die Diskussion nicht ganz auf dem richtigen Weg ist. intensiv weiterführen. Ich bin dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger das Herzlichen Dank. Recht haben, sehr substanzielle Patientenverfügungen auszugestalten – detailliert, eigenverantwortlich und, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wie gesagt, glaubensorientiert –, weil ich möchte, dass der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- nicht andere dort hineinregieren. Das dürfen sie aus mei- SES 90/DIE GRÜNEN) ner Sicht zu keiner Zeit. Vorhin ist – ich glaube, von Ihnen, Kollege Winkler – Präsident Dr. Norbert Lammert: die besondere Situation bei Demenzkranken angespro- Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Jerzy Montag, chen worden. Es ist richtig, dass es dort eine besondere Bündnis 90/Die Grünen. Problematik gibt. Wir machen aber doch auch Erfahrun- gen mit Demenzkranken. Wir könnten eine Patientenver- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fügung im Grunde genommen entsprechend ausgestal- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ten, weil wir wissen, wie es um Menschen mit dieser kann in Deutschland keine Debatte über den Wert und Krankheit bestellt ist. den Schutz menschlichen Lebens und über die Würde des Menschen und seine unantastbaren, garantierten (Joachim Stünker [SPD]: Richtig!) Menschenrechte geben, ohne den Blick zurück in die Wir wissen auch, wie es um Menschen bestellt ist, die im Geschichte zu richten. Die Barbarei der nationalsozia- Koma liegen. Wir können zu ihnen hingehen und haben listischen Diktatur und ihre Menschenverachtung sind Kontakt zu ihnen. deshalb auch Mahnung für unsere heutige Debatte über das Selbstbestimmungsrecht bis in den Tod, über die Der Erfahrungsschatz nimmt auch in diesen Berei- menschliche Würde im Sterben und über die Pflichten chen insgesamt immer weiter zu. Deswegen glaube ich, der Gesellschaft und des Staates zum Schutz der Würde dass man zum Zeitpunkt des Abschließens einer Patien- und des Lebens von uns allen. tenverfügung sehr wohl darüber im Klaren sein kann, wie sich diese Patientenverfügung in einer speziellen Si- Es ist wichtig, dass wir dies im Verlauf dieser Debatte tuation – beim Ableben, im Alter – auswirkt. Ich plä- und auch aller folgenden nicht vergessen. Für mich ist (B) diere daher nachdrücklich dafür, dass eine solche Patien- das Kürzel „T 4“ das Stichwort: Es steht für eine Villa in (D) tenverfügung eine uneingeschränkte Reichweite hat. der Tiergartenstraße 4 in Berlin Mitte. Diese Villa gibt es nicht mehr, nur noch eine Gedenktafel ist dort zu finden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dort wurde – in unüberbietbarem Zynismus als Gnaden- der SPD und des Abg. Jerzy Montag [BÜND- tod bezeichnet – die Entscheidung über die Vernichtung NIS 90/DIE GRÜNEN]) von über 100 000 Kranken, Alten und Behinderten ge- Wir dürfen es nicht anderen überlassen, die individuelle, troffen, denen ein Recht auf Leben und jedes Menschen- die persönliche, die eigenverantwortliche Entscheidung recht abgesprochen wurde. sozusagen wieder rückgängig zu machen. Das kann mei- Nicht zuletzt dieser Schrecken war es, der zu den für ner Meinung nach nicht Aufgabe des Gesetzgebers und uns unumstößlichen Prinzipien führte: Jeder hat das damit auch nicht Inhalt einer Patientenverfügung sein. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Jeder Ich finde die Ausführungen von Herrn Andreas Lob- hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Hüdepohl, des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe „Patien- Die Würde jedes Menschen ist unantastbar. tenverfügungen“ des ZdK, immer wieder großartig und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehr lobenswert. In der letzten Sitzung des ZdK haben sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP wir einen ganzen Tag darüber diskutiert, liebe Julia und der LINKEN) Klöckner. Ich denke aber, dass er mit seiner Kritik, die er hinsichtlich der Wachkoma- und Demenzpatienten an- Nur dann, wenn wir das zur Grundlage unserer Überle- bringt, wirklich falsch liegt. Ich befürchte nicht den gungen machen, wird es uns gelingen, die Vor- und Dammbruch zur Tötung unwerten Lebens, Nachteile der vorgestellten Gesetzesvorschläge sachlich und respektvoll miteinander zu diskutieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Ich will die Punkte nennen, in denen wir uns einig GRÜNEN) sind. Wir sind uns einig, dass das Selbstbestimmungs- recht jedes einwilligungsfähigen Patienten zu beachten sondern ganz im Gegenteil: Ich plädiere für die Fest- ist. Wir sind uns einig, dass die Patientenverfügung auf schreibung, dass auch ein Demenzkranker und ein eine eingetretene konkrete Situation zutreffen muss und Komapatient das Recht auf ein Weiterleben haben, wenn dass sie jederzeit, in jeder Form, auch formlos und ohne sie in ihren Patientenverfügungen festgeschrieben ha- Worte konkludent widerrufen werden kann. Wir sind uns ben, dass sie nicht möchten, dass jemand ihr Leben des- auch einig, dass eine Patientenverfügung nur dann wirk- wegen beendet. sam sein kann, wenn sie schriftlich vorliegt, frei und 9140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Jerzy Montag (A) ohne Zwang verfasst wurde, nicht irrtümlich oder unter dergestalt, dass die Patientenverfügung, der geäu- (C) Täuschung entstanden ist und nichts Gesetzwidriges ver- ßerte Patientenwille, absoluten Vorrang hat. Denn langt. nur der Patient ist es, der über sein Leben, aber auch über die Art und Weise seines Todes – seines Weg- Weitere Begrenzungen darüber hinaus – insbeson- gehens aus diesem Leben – zu entscheiden hat. Nie- dere in der Reichweite – halte ich nicht für richtig. Denn mand sonst hat darüber zu entscheiden, denn es ist wer verlangt, dass sie nur in Kenntnis der möglichen me- das Leben des Patienten. Der Patient hat zwar ein dizinischen Behandlungen und zukünftiger medizini- Lebensrecht, aber er hat keine Lebenspflicht. scher Entwicklungen wirksam sein soll, der macht prak- tisch alle Patientenverfügungen wertlos. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!) sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN) Ich wünsche mir, meine Damen und Herren, dass wir diese Worte beherzigen und danach ein bestmögliches Auch ihre Begrenzung auf Leiden, die einen unumkehr- Gesetz zustande bringen. bar tödlichen Verlauf genommen haben, und auf Be- wusstlose, die ihr Bewusstsein mit Sicherheit niemals Danke. wiedererlangen werden, verbietet den Menschen, gerade das zu regeln, was sie für ihr Lebensende verbindlich re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, geln wollen. Dahinter stehen verständliche Ängste und bei der SPD, der FDP und der LINKEN) Befürchtungen. Sie werden aber mit diesen Begrenzun- gen auf falsche Weise gelöst und bringen letztlich nicht Präsident Dr. Norbert Lammert: weniger, sondern mehr Leid und mehr Fremdbestim- Das Wort erhält nun der Kollege René Röspel von der mung. SPD-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) René Röspel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Zwei Grundsatzfragen müssen wir beantworten. Herren! Als ich mich vor vier Jahren zum ersten Mal mit Erstens. Kann und darf man seinen Willen für die Zu- dem Thema Patientenverfügung befasste, war mir ziem- kunft binden? Darf der geäußerte und eindeutige Wille lich schnell klar, welche Meinung ich dazu habe: Na des Patienten von Ärzten, Betreuern oder Gerichten in klar, ich will selbst entscheiden, wie ich einmal sterben Zweifel gezogen werden? Ich meine, nein. Es kann nicht werde. Wer sonst soll denn das Recht dazu haben, über (B) darum gehen, zu beweisen, dass der geäußerte Wille mich und meinen Tod zu entscheiden? (D) weiter gilt – das ist nie möglich –; vielmehr tragen dieje- nigen, die ihn anzweifeln, die Beweislast, dass er sich Ich habe mich intensiver mit diesem Thema befasst, wirklich geändert hat. Gespräche darüber geführt und irgendwann Menschen kennengelernt, die froh waren, dass ihre Patientenverfü- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gung nicht umgesetzt worden ist. Der Motorradfahrer, sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- der als 18-Jähriger ein Leben im Rollstuhl für unerträg- KEN) lich gehalten hat und nun nach einem Unfall im Koma Zweitens stellt sich die Frage nach unserem Selbstbe- lag – wir wissen nicht, was er selbst entschieden hätte. stimmungsrecht, also unserem Recht, selbst zu bestim- Hätte er den Tod herbeigesehnt oder nach dem Leben ge- men, wie wir leben wollen oder es nicht mehr wollen. schrien? Dritte haben für ihn entschieden. Die Ärzte ha- Dabei hat der Staat die Pflicht, Leben zu schützen und zu ben sich entschieden, weiterzumachen. Heute lebt er im erhalten. Steht in Fragen, die Menschen in einer Patien- Rollstuhl. Er führt ein anderes Leben, als er es sich als tenverfügung verbindlich regeln wollten, die Pflicht des 18-Jähriger vorgestellt hat, aber er hat eine Perspektive. Staates gegen das Recht der Menschen? Und er freut sich, wenn ihn seine Kinder besuchen. Es gibt übrigens genug andere gute Gegenbeispiele, das ist (Joachim Stünker [SPD]: Nein!) keine Frage. Darf der Staat lebenserhaltend gegen das Selbstbestim- Aber alle diese Erfahrungen haben in mir Zweifel mungsrecht angehen und es in fremdbestimmte Schran- wachsen lassen: Können wir wirklich die Entscheidung ken weisen? – Ich meine, nein. eines Gesunden, der sich nicht in einer Krankheitssitua- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ tion befindet, mit der Entscheidung gleichsetzen, die er DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP) in einer Situation als Kranker treffen würde? Folgenlos bleibt übrigens ein Irrtum in einer solchen Entscheidung Ich will mit einem Zitat der Vorsitzenden Richterin immer nur dann, wenn es sich um eine tödlich verlau- des XII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, Frau fende Krankheit handelt. Deswegen, glaube ich, ist eine Dr. Hahne, enden. Sie hat die grundlegende Entschei- Reichweitenbegrenzung möglich und auch notwendig. dung getroffen, nach der Patientenverfügungen über- haupt Verbindlichkeit genießen. Ich zitiere: Warum wird in letzter Zeit so viel über Patientenver- fügungen gesprochen? Viele Menschen haben Angst da- Wünschenswert wäre eine gesetzgeberische Stär- vor, einen einsamen Tod zu sterben. Viele Menschen ha- kung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten ben Angst davor, einen schmerzhaften Tod zu sterben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9141

René Röspel (A) Viele Menschen haben Angst davor, bis ans Ende und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (C) über das erträgliche und würdige Maß hinaus an Schläu- bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und chen zu hängen und der Apparatemedizin ausgeliefert zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Rolf sein. Und viele äußern einfach den Wunsch, den Ange- Stöckel [SPD]: Das ist bereits verboten!) hörigen nicht zur Last zu fallen: Ich will meinen Kindern keine Last sein, also möchte ich nicht, dass diese oder Wenn jemand sagt: „Ich will so nicht sterben“, dann jene Maßnahme ergriffen wird. sollten wir das akzeptieren und dem Tod nichts in den Weg stellen. Ich glaube, das ist ein Unterschied. Wenn (Vorsitz: Vizepräsidentin ) jemand sagt: „Ich will so nicht leben“, dann steht der Tod noch nicht vor der Tür; das ist etwas anderes. Dann Sind Patientenverfügungen die Lösungen dieser Pro- hat die Gesellschaft die Pflicht, die richtige Lösung für bleme? Geben sie die richtigen Antworten auf die Fra- seine Verzweiflung anzubieten. Vor vier Jahren habe ich gen, die wir diskutieren müssen? Ist die Patientenverfü- gefragt, wer denn außer mir die Entscheidung in einer gung geeignet, diese Ängste zu nehmen? Krankheitssituation treffen soll. Heute weiß ich die Ant- (Zuruf von der SPD: Die Ärztekammer sagt: wort: Ich. Ja!) Vielen Dank. Wir sind uns sicherlich einig, dass die Lösungen auf einer ganz anderen Ebene liegen – das ist vorhin schon (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gesagt worden –: den Menschen helfen und garantieren CDU/CSU) zu können, schmerzfrei in den Tod zu gehen, bessere Palliativ- und Schmerzmedizin, Hospizarbeit, damit man Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: in diesem Land nicht einsam sterben muss. Wahrschein- Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Hans Georg lich ist es auch dringend notwendig, das Arzt-Patienten- Faust für die Fraktion der CDU/CSU. Verhältnis wieder ins Lot zu bringen, also die Abwägung zwischen der Selbstbestimmung auf der einen Seite und Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): der Fürsorgepflicht des Arztes auf der anderen Seite Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – auf beiden Elementen besteht die Ärzteschaft – vorzu- Das Wohl des Patienten ist oberstes Gebot. Nach diesem nehmen. Dies also muss ins Lot gebracht und ausbalan- Leitsatz handeln Ärzte seit der Antike. Der Wille des Pa- ciert werden, weil das Misstrauen gegenüber moderner tienten ist oberstes Gesetz, sagen uns Ärzten die Juristen Medizin und Ärzten in den letzten Jahren größer gewor- in einer modernen Gesellschaft. Gut, wenn beides Hand den ist und sicherlich auch dazu beiträgt, dass viele in Hand geht, wie es die Berufsordnung der Ärzte vor- (B) Menschen solche Entscheidungen treffen wollen. Wenn gibt. Dafür ist aber, auch wenn es vielstimmig gefordert (D) wir die Defizite in diesem Bereich beseitigen, brauchen wird, nach meiner festen Überzeugung eine umfassende, wir – davon bin ich fest überzeugt – weniger über Pa- neue gesetzliche Regelung zur Patientenverfügung nicht tientenverfügungen zu reden. notwendig. Wir sollten aber nicht nur darüber diskutieren, was Die Patientenverfügung war schon bisher Richt- eine Patientenverfügung für den Einzelnen bedeutet. Wir schnur ärztlichen Handelns. Sie soll jetzt zum gesetzli- müssen vielmehr auch darüber diskutieren, was Patien- chen Gebot erhoben werden. Auch den Befürwortern ei- tenverfügungen für die Gesellschaft bedeuten. Viele ner mehr oder weniger weitgehenden Bindungswirkung Menschen haben – das wurde vorhin angesprochen – für das ärztliche Handeln ist dabei klar, dass es sich eben nicht unberechtigte Angst vor den Zuständen in den nicht um einen vollwertigen Ersatz einer aktuellen freien Pflegeheimen sowie vor würdeloser und endloser Be- Willensäußerung des Patienten handelt. Wie anders wä- handlung. Sie fürchten sich vor einer Magensonde. Es ist ren die Diskussionen über eine Reichweitenbegrenzung immer wieder zu hören: Ich will auf keinen Fall eine zu verstehen? Wie anders wären die Diskussionen da- Magensonde. – Vor diesem Hintergrund müssen wir uns rüber zu erklären, dass Vorschläge zur Form der Patien- fragen: Werden die Patientenverfügungen zu einem tenverfügung, zur Aktualisierung und insbesondere zur „leichten Ausweg“ aus der Pflegemisere? Wird der Kos- Interpretation von Befundkonstellationen gemacht wer- tendruck die Umsetzung von Patientenverfügungen be- den? Das ist eine der entscheidenden Fragen: Stimmt die schleunigen? Wird der gesellschaftliche Druck, anderen Krankheitssituation mit dem überein, was der Patient in nicht zur Last fallen zu wollen oder zu müssen, zuneh- seiner Patientenverfügung vorgesehen hat und für das er men? Egal was wir tun, welche Variante wir bevorzugen, ein Behandlungsgebot oder ein Behandlungsverbot fest- wir werden prüfen müssen, welche Auswirkungen die gelegt hat? von uns beschlossenen Gesetze auf die Situation in der Pflege und den Umgang mit Pflegebedürftigen haben. Der Arzt, der auf der einen Seite dem Leben ver- Ich meine, das haben wir noch nicht zu Ende gedacht. pflichtet ist, der die Gesundheit schützt und wiederher- Das müssen wir aber tun. Einig sollten wir uns aber zu- stellen will, der auf der anderen Seite Leiden lindert und mindest in einem Punkt sein: Wenn es wirklich stimmt, den Sterbenden bis zum Tod begleitet, fragt sich, ob mit dass einige Pflegeheime die Aufnahme davon abhängig den zur Diskussion stehenden Änderungen Rechtsklar- machen, dass man eine Patientenverfügung abschließt, heit geschaffen wird. Er fragt sich, ob nicht bestenfalls in der bestimmte kostenträchtige Maßnahmen ausge- die Abläufe nur komplizierter werden, schlimmstenfalls schlossen sind, dann sollten wir alle gemeinsam darauf er aber als Arzt in Gewissensnot kommen kann, wenn hinwirken, dass das verboten wird. objektiv unvernünftige, dem Wohl des Patienten zuwi- 9142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Dr. Hans Georg Faust (A) derlaufende Anweisungen aus der Patientenverfügung (Beifall bei der FDP) (C) umgesetzt werden müssen. (Joachim Stünker [SPD]: Was ist „objektiv un- Detlef Parr (FDP): vernünftig“?) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag hat es sich nicht leicht gemacht. Über Die Probleme liegen doch nicht auf der Intensivsta- Jahre haben wir in Enquete-Kommissionen, in denen ich tion, wo die Menschen, wie man so häufig sagt, „an für die FDP mitarbeiten durfte, über Möglichkeiten und Schläuchen hängen“. Dieses Wortbild ist die Sicht des Grenzen der Autonomie am Lebensende nachgedacht. Außenstehenden, es ist nicht die Sicht des Patienten auf Wir müssen bald den Mut zur Entscheidung haben. der Intensivstation. Ich habe in über 30 Jahren intensiv- medizinischer Erfahrung in den seltensten Fällen Pro- Mitmenschlichkeit ist gefragt, Vertrauen und Respekt bleme gehabt, die sich mit den jetzt angedachten Neure- vor dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. So gelungen zur Patientenverfügung hätten besser lösen viel bei der geltenden Rechtslage möglich ist, so wenig lassen. Nein, meine Damen und Herren – Herr Röspel hat Rechtssicherheit ist für alle Beteiligten gegeben, im es angesprochen –, es geht darum, dass in deutschen Pfle- Krankenhaus, aber mehr noch bei der ambulanten und geheimen bei nicht vom Tode bedrohten Patienten mit stationären Pflege. Das müssen wir ändern, zum Beispiel oder ohne Demenz zur Erleichterung der Nahrungsauf- durch mehr Beratung und Schulung von Ärztinnen und nahme Magensonden – sogenannte PEG-Sonden – in Ärzten, Heimleitung und Pflegekräften sowie durch großem Umfang gelegt werden und damit eine Lebens- mehr Wissensvermittlung über Palliativmedizin und entwicklung über Jahre hinweg vorprogrammiert wird, in Hospizbetreuung. die dann alle anderen Maßnahmen zur Lebensverlänge- rung zwangsläufig einmünden. Hier liegt aus meiner (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Sicht das Problem, und hierüber sollten wir uns Gedan- Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]) ken machen. Unsere Diskussion ist eingebettet in eine immer Nach meiner Auffassung soll der in einer Patienten- sprachloser werdende Gesellschaft. Manche Eltern und verfügung geäußerte Wille eines Patienten wie bisher Kinder finden über Gespräche nicht nahe genug zuein- grundsätzlich verbindlich bleiben. Dennoch entstehen ander. Manche reden viel, aber zu wenig miteinander. Behandlungssituationen, die wichtige Fragen zu dem in Dabei werden gerade die Probleme des Alters verdrängt der Patientenverfügung genannten Willen offenlassen. und die Unausweichlichkeit des Sterbens ausgeblendet. Hier ist es sehr hilfreich, wenn von dem Patienten eine Das beste gegenseitige Verständnis und die höchste Ent- Vorsorgevollmacht ausgestellt wurde und man die darin scheidungssicherheit bringen aber Gespräch und Bera- (B) genannte Vertrauensperson zurate ziehen kann. Im Übri- tung mit dem Ziel einer umfassenden Vorsorge, zum ei- (D) gen ist es selbstverständlich, dass die Angehörigen, die nen in der Familie, zum anderen auch mit dem man als Arzt immer umfassend informiert und einbe- Geistlichen oder aber auf eigene Initiative auch mit dem zieht, zur Interpretation des Willens beitragen. Am Ende Arzt. Durch unsere hochtechnisierte Medizin werden wir steht dann nach meiner Erfahrung in den allermeisten immer mehr Zeit für Kommunikation brauchen und auch Fällen eine für alle Beteiligten mit ruhigem Gewissen zu die Bereitschaft – nicht nur des Arztes –, uns diesen ele- tragende Entscheidung über Behandlung oder Behand- mentaren Fragen zu stellen. Eine Patientenverfügung lungsabbruch, die der Sorge um das Wohl des Patienten muss also mehr sein als das Ausfüllen eines Formulares Rechnung trägt und seinem mutmaßlichen Willen ent- im stillen Kämmerlein. spricht. Dem steht nicht entgegen, dass wir als Parlament für auch in Zukunft auftretende Konfliktfälle die Rolle (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des Vormundschaftsgerichtes weiter präzisieren und der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ klarstellen. DIE GRÜNEN) Das Wohl des Patienten und sein Wille sind in der Re- Sie sollte im Ergebnis eine Übereinkunft sich naheste- gel keine Gegensätze. Das Bild vom Arzt als Verfechter hender Menschen sein, die einander ohne Wenn und einer seelenlosen Apparatemedizin, der um jeden Preis Aber vertrauen und sich aufeinander verlassen können. menschliches Leben verlängern will, und das Bild vom Diese Verlässlichkeit muss auch der Staat garantieren. Juristen, der ihm mit Vorschriften und Gesetzen bewaff- Dabei ist es eine Illusion, einen Ausgleich zwischen dem net in den Arm fallen muss: Beide sind falsch. Noch ha- Grundrecht auf Selbstbestimmung und dem Grundrecht ben Patienten, Ärzte und Angehörige eine Vertrauens- auf Lebensschutz finden zu können. Wer einer Reich- beziehung, in der die bisherige Patientenverfügung und weitenbegrenzung das Wort redet, sorgt eben für diese weitere behutsame gesetzliche Regelungen entschei- Verlässlichkeit nicht. dende Hilfen für Lebensentscheidungen sein können. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) neten der SPD) Wir leben in einer freien Gesellschaft. Wir müssen den Vorrang der Selbstbestimmung respektieren. Ich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: stimme dem Präsidenten der Bundesärztekammer, Pro- Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr, FDP- fessor Hoppe, ausdrücklich zu: Eine Lebensverlänge- Fraktion. rung um jeden Preis ist abzulehnen. Natürlich wollen wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9143

Detlef Parr (A) kein Gesetz, das bei den Ärzten einen Automatismus in „Wir tun doch nur das Beste für euch, wenn wir euch (C) Gang setzt, jeder Verfügung uneingeschränkt Folge leis- umbringen“, ist nicht von der Hand zu weisen. ten zu müssen. Ein Konsilium, in dem vor einer Ent- scheidung über den Verzicht auf lebenserhaltende Maß- (Unruhe) nahmen Angehörige und Pflegekräfte bei Nichtvorliegen – Das ist ein hartes Wort, ich weiß. Ich sage es auch gar einer Patientenverfügung gehört werden, ist die richtige nicht gern. Grundlage für einen Dialog, der unverzichtbar ist. Ich bin nun einmal sehr tief in der Behindertenbewe- Ich wünschte mir, dass ich keine Patientenverfügung gung verwurzelt. Es ist kein Zufall, dass der Verband, brauchte. Ich wünschte mir, wenn ich nicht mehr selber dessen Gründungspräsident ich war, schon in seinem entscheiden kann, Menschen um mich zu haben, die Namen die Worte „Selbstbestimmung und Würde“ trägt. nach bestem Wissen und Gewissen für meine Belange Ich halte diese Begriffe sehr hoch. Selbstbestimmung eintreten. Wenn dies aber nicht möglich ist und keine aber so hehr darzustellen, als wäre sie ein unumstößli- Vertrauensperson meine Wünsche vertreten kann, soll ches Faktum, vor allen Dingen so, als würde sie wirklich mein erklärter Wille auf eindeutiger, rechtssicherer jeden Tag praktiziert, ist mit dem realen Leben doch Grundlage nicht nur ernst genommen, sondern auch um- nicht vereinbar. Wir erleben jeden Tag etwas anderes. gesetzt werden. Ich möchte nicht zum Spielball ideologi- scher, religiöser oder moralischer Wertvorstellungen an- Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr halte ich derer werden. es in diesem Punkte mit einem Satz unserer ehemaligen Kollegin Margot von Renesse, die in der 14. Wahl- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. periode Vorsitzende der Enquete-Kommission „Recht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und Ethik der modernen Medizin“ war. Mit Frau von der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- Renesse stimmte ich in vielen Punkten nicht überein. SES 90/DIE GRÜNEN) Aber: Sie sagte immer wieder, insbesondere in den Pau- sen: Das Arzt/Patient-Verhältnis lässt sich nicht ver- rechtlichen; es beruht am Ende auf Vertrauen oder auf Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nichtvertrauen; wenn wir es nicht zustande bringen, Nun hat der Kollege Dr. Ilja Seifert, Fraktion dass zwischen Ärztin/Arzt und Patientin/Patient ein Ver- Die Linke, das Wort. trauensverhältnis besteht, dann nützen alle rechtlichen Zusagen nichts, weil das Verhältnis zwischen beiden (Beifall bei der LINKEN) Parteien eben nicht gleichberechtigt ist. Das kann es auch überhaupt nicht sein, weil der Patient gar nicht das (B) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Wissen des Arztes hat. (D) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Ich bin ein sehr großer Verfechter des Informed Con- legen! Meine Damen und Herren! Die Debatte hier wird sent; das ist gar keine Frage. Ob aber ein Patient wirklich so geführt, dass man manchmal das Gefühl hat, als ob kluge Entscheidungen fällen kann, hängt von vielem ab, die freie Selbstbestimmung von staatlicher Bevormun- unter anderem von der Vorbildung, aber auch davon, wie dung bedroht sei. Ich sehe diesen Konflikt eigentlich viele Schmerzen – sie beeinträchtigen unter Umständen nicht. Wir haben die Situation in diesem Lande, dass die Wahrnehmung und die Entscheidungsfähigkeit – Zehntausende von Menschen gegen ihren Willen in Pfle- eine Krankheit bereitet. geheimen mit Magensonden und ähnlichen „pflegeer- leichternden Maßnahmen“ versorgt werden. Was sie Vielleicht brauchen wir weniger Patientenverfügun- nicht wollen, was sie nicht brauchen und was auch nicht gen als vielmehr eine gesetzliche Regelung des Arzt/Pa- gut ist. Wir tun hier so, als ob eine Patientenverfügung, tient-Verhältnisses, durch die der Arzt nicht als jemand mit der jemand entscheidet, dass er nicht an Schläuchen Paternalistisches, nicht als ein allwissender Gott in Weiß oder Drähten liegen will, am Lebensende die Rechtssi- dargestellt wird, aber auch nicht als ein Bösewicht, ge- cherheit schaffen würde, die man brauchte. Ich glaube gen den man nur mit seinem Rechtsanwalt ankommt. dieses Märchen nicht. Je länger ich der Diskussion hier zuhöre, desto eher tendiere ich dazu, lieber keine Rege- Ich hatte im vergangenen Monat das zweifelhafte Ver- lung zu treffen als eine schlechte. Ich bin also einer von gnügen, eine Weile im Krankenhaus zu sein. In den denjenigen, die noch nicht entschieden haben, wie sie 14 Tagen, die ich dort war, wurde mir von Ärzten oder am Ende abstimmen werden, wenn hier entsprechende auch vom Pflegepersonal ungefähr 17-mal gesagt: Die- Anträge vorliegen. ses und jenes müssen wir aus rechtlichen Gründen so und so machen. Ich weiß nicht, wie viele Papiere ich un- Ich möchte ausdrücklich hinzufügen, dass ich Herrn terschreiben musste, um diesem oder jenem zuzustim- Kollegen Montag sehr dankbar dafür bin, dass er die ge- men. schichtliche Dimension eingebracht hat. Ich kann es mir jetzt sparen, das zu wiederholen. Wir leben nun einmal Es ist ja schon jetzt fast so, dass die Ärztin ihrerseits mit der Geschichte der Euthanasie. Wir können nicht so oder der Arzt seinerseits mit dem Rechtsanwalt drohen tun, als ob es sie nicht gäbe. So schlimm es ist und so muss und dass der Patient seinerseits mit seinem Rechts- heftig alle beteuern, dass es nie wieder so sein wird, wis- anwalt drohen muss, bevor entschieden werden kann, ob sen wir doch: Die Gefahr, dass so etwas wiederkommt eine Spritze gegeben werden darf oder nicht. Liebe Kol- und eines Tages wieder welche kommen und sagen: leginnen und Kollegen, lassen Sie uns lieber das 9144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Dr. Ilja Seifert (A) vernünftig regeln als eine Situation, die in der Wirklich- rantierte Lebensschutz, bei uns einen sehr hohen Rang, (C) keit immer anders ist als antizipiert. und zwar zu Recht. Eine Vorsorgevollmacht – das heißt unter anderem, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) man legt fest, zu wem man Vertrauen hat – ist eine einfa- Die Frage, vor der wir jetzt stehen, lautet: Brauchen che Sache. Mit dem anderen richten wir aber womöglich mehr Schaden an, als wir Nutzen stiften. wir eine explizite gesetzliche Regelung über die rechtli- che Bindungswirkung von Patientenverfügungen? Dabei Vielen Dank. rankt sich der Streit in ganz besonderer Weise um die Frage der Reichweite der Patientenverfügung: Soll sie (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- unter allen Umständen gelten, oder soll es Fälle geben, neten der CDU/CSU) in denen von ihr abgewichen werden kann, wenn näm- lich eine Differenz zwischen dem in der Patientenverfü- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gung ehemals geäußerten Willen und dem aktuellen Wil- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Loske, len vermutet wird? Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Ich glaube nicht, dass das die entscheidenden Fragen sind. Ähnlich wie mein Vorredner bin auch ich von der Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Notwendigkeit einer rechtlichen Regelung noch nicht Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! überzeugt. Ich sehe nicht, dass nur zwei Vorschläge im Wir sprechen heute über ein Thema, dem wir uns alle Korb sind, nämlich der von Stünker et al. und der von nur sehr zögerlich nähern wollen, vor dem wir uns auch Bosbach et al. Wir müssen ernsthaft auch eine dritte Va- allzu gerne drücken: Wir sprechen über das Sterben, vor riante in unsere Überlegungen einbeziehen, nämlich die, allem über das Sterben unter schwierigen Bedingungen. die Patientenverfügung bis auf Verfahrensfragen nicht rechtlich zu normieren und stattdessen alles dafür zu tun, Wir sind unser ganzes Leben lang auf andere Men- dass die Informationslage verbessert wird und vor allem schen angewiesen, die uns wohlgesonnen sind. Ange- dass die Kommunikation zwischen allen Beteiligten, die wiesen sind wir auf sie aber nie so sehr wie am Beginn einen Menschen beim Sterben begleiten und seinem und am Ende des Lebens. In diesen Phasen sind wir noch vorab verfügten Willen entsprechen wollen, verbessert nicht oder nicht mehr das, was man heute gemeinhin als wird. „vollautonom“ bezeichnet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sofern wir uns mit diesem Thema überhaupt beschäf- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (B) tigen, haben wir eine Idealvorstellung, wie es sein der SPD) (D) sollte, wenn wir selber einmal sterben: möglichst nach Das sind die Angehörigen und, sofern vorhanden, Vor- einem langen, prallen Leben, mit kurzer Leidenszeit, sorgebevollmächtigten auf der einen Seite und die Be- möglichst bei vollem Bewusstsein und im Kreise unserer treuer, Pfleger und Ärzte auf der anderen Seite. Liebsten. Viele wünschen sich auch religiöse Rituale. Das wurde ehedem als Ars Moriendi, als Kunst des Ster- Auf diesen Zusammenhang hat Oliver Tolmein, Ham- bens, beschrieben. Vielleicht ist es auch so, dass wir als burger Rechtsanwalt, in seinem wirklich sehr lesenswer- moderne Gesellschaft diese Kunst oder – sagen wir bes- ten Buch mit dem schönen Titel „Keiner stirbt für sich ser: – Kultur ein wenig verlernt haben und dass es durch- allein“ zu Recht hingewiesen. Seine These lautet in etwa aus an der Zeit ist, sie wieder zu entdecken. so: In der letzten Lebensphase sind nicht Rechtsfragen entscheidend, sondern eine gute Kommunikation zwi- Aber wir alle wissen, dass es so, wie wir es uns wün- schen allen Beteiligten. – Das scheint mir plausibel zu schen, leider, muss man sagen, oft nicht geschieht. Trotz sein. und wegen des technischen Fortschritts in der Medizin sind die Fragen zum Lebensende komplizierter gewor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und den. Es wimmelt gewissermaßen nur so von Ambiva- der SPD) lenzen aller Art. Einerseits genießen wir natürlich die Ich muss mich ein bisschen sputen, damit ich mit mei- Errungenschaften der medizinischen Kunst, die uns län- ner Zeit auskomme. – Wir haben in den letzten Tagen ger leben lassen, andererseits graut uns aber bei der Vor- zahlreiche Positionspapiere erhalten. In allen Positions- stellung, wir endeten gegen unseren Willen an Schläu- papieren, so unterschiedlich sie auch sind, wird betont, chen und Maschinen, die uns nicht sterben lassen, dass eine verbesserte palliativmedizinische Versor- obwohl wir es doch wollen. Auch von selbstherrlichen gung und eine verbesserte Hospizversorgung essenziell Ärzten – das wurde gerade schon gesagt – ist gelegent- für humanes Sterben in diesem Land sind. Das will ich lich die Rede. ausdrücklich noch einmal unterstreichen. Wir sollten alle diejenigen, die in diesem Bereich ehrenamtlich arbeiten, In diese Ambivalenz fällt auch die Debatte, die wir ermutigen, ihnen helfen und gleichzeitig die Kranken- heute führen. Ich bin, ehrlich gesagt, sehr froh darüber, kassen zu mehr Kooperation auffordern. Das scheint mir dass sie nicht nach dem Muster verläuft: hier der Le- sehr wichtig zu sein. bensschutz, da die Selbstbestimmung. Das wäre eine völlig falsche Polarisierung; denn natürlich haben beide Zur Frage nach der rechtlichen Bindungswirkung Rechtsgüter, die Selbstbestimmung und der staatlich ga- von Patientenverfügungen haben wir aus der Ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9145

Dr. Reinhard Loske (A) sellschaft allerdings keine einheitlichen Antworten be- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) kommen. Die Hospizstiftung ist für eine gesetzliche Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Herta Däubler- Regelung. Die Behindertenverbände und die Bundesärz- Gmelin, SPD-Fraktion. tekammer halten eine solche nicht für erforderlich und sind dagegen. Ich habe diese Positionspapiere bzw. die Handreichung der Bundesärztekammer sehr intensiv stu- Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): diert. Ganz unabhängig davon, welcher Position man zu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! neigt, kann man ohne Weiteres sagen: Wenn das, was die Die Fragen, um die es heute geht, wühlen auf. Wenn wir Bundesärztekammer in Bezug auf Vorsorgevollmachten ehrlich sind, wühlen sie nicht nur die Menschen auf, mit und Patientenverfügungen vorgestern vorgelegt hat, in denen wir reden – darüber ist heute viel berichtet wor- den Krankenhäusern und Pflegeheimen zum Standard den –, sondern jeden von uns. Das ist auch sehr begreif- würde, dann wären wir schon einen großen Schritt vo- lich; denn Sterben oder Leiden anzunehmen, ist extrem rangekommen. schwer, wenn es überhaupt möglich ist. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich glaube, deswegen ist es vernünftig, dass wir mit- SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und einander reden – wenn es irgendwie geht –, ohne dass der SPD) der eine oder andere meint, er hätte in dieser oder jener Form immer Recht. Es gibt Annäherungen, die wir als Zu den Anträgen will ich mich im Detail nicht äußern. Gesetzgeber sehen müssen und die wir berücksichtigen Nur so viel: Meine Vorbehalte gegenüber dem Antrag müssen, wenn wir überhaupt Gesetze machen. Stünker et al. beziehen sich vor allem darauf, dass das ein sehr individualistisches Konzept ist und nach mei- Frage Nummer eins ist ja: Wie ist es denn eigentlich nem Empfinden eine gewisse Rationalisierung des Ster- mit der Selbstbestimmung des Menschen? Da ist heute beprozesses bedeutet. Die Beteiligten in diesem Prozess und in der Zukunft völlig klar: Wenn ich klaren Kopfes werden zu wenig berücksichtigt. Die Reichweitenbe- bestimme, was mit mir sein soll, wenn ich also eine me- schränkung im Antrag Bosbach et al. ist ethisch gut ge- dizinische Behandlung nicht will, dann ist dies völlig meint, aber juristisch, glaube ich, schwierig und nicht eindeutig. Das kann unvernünftig sein. Aber wenn ich handhabbar; sie wirft mehr Rechtsprobleme auf, als sie informiert und aufgeklärt bin, dann ist das völlig eindeu- löst. tig. Heute gilt im Prinzip auch das – wenn ich es selber (Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE nicht mehr sagen kann –, was ich niederschreibe. Das LINKE]) heißt, wir können heute nicht so tun, als gäbe es keine Patientenverfügungen bzw. als seien sie nicht rechtsver- Auch den Vorschlag zur Behandlung von Wachkoma- (B) bindlich, wenn sie den Willen des Patienten, des Leiden- (D) patienten halte ich für sehr problematisch, weil hier eine den oder Sterbenden deutlich machen. Das gilt heute. Stufung in der Wertigkeit von Leben vorgenommen wird, die wir bis jetzt nicht gehabt haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE Wir haben auch die Vorsorgevollmacht, die ebenfalls, LINKE]) und zwar in der Kommunikation mit Ärzten, Angehöri- gen und Betreuern, Gott sei Dank – das will ich jetzt ein- Da könnte ich – muss ich sagen – auf keinen Fall mitge- mal mit großem Dank an die Beteiligten sagen – in den hen. allermeisten Fällen hilft. Bei diesem ernsten Thema darf man natürlich keine Witze machen. Aber eine Sache will ich Ihnen zum (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD] und Schluss doch nicht vorenthalten, weil uns das, glaube des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]) ich, doch zeigt, was uns hier verbindet und wo wir nicht Dies haben wir. Das Problem sind, glaube ich, andere hinwollen. Vor wenigen Tagen war im „Spiegel“ in ei- Bereiche. Das Problem ist, dass wir unglaublich viel nem Artikel unter der Überschrift „Medizinethik – Com- Unsicherheit darüber haben, was heute eigentlich gilt. puter errät Patientenwillen“ nachzulesen: Diese Unsicherheit muss behoben werden. Diese Unsi- Forscher der National Institutes of Health in den cherheit muss bei den Beteiligten, bei den Ärzten, bei USA haben ein Computerprogramm entwickelt, das den Angehörigen, in den Kliniken und beim Pflegeper- den mutmaßlichen Patientenwillen angeblich ge- sonal behoben werden. Dazu ist – das will ich auch noch nauso gut ermitteln kann wie die nächsten Angehö- einmal unterstreichen – das Entscheidende, dass wir In- rigen. Beide lagen in verschiedenen Tests mit fik- formationen haben, dass wir Handreichungen, Klarstel- tiven medizinischen Fällen … in etwa 78 Prozent lungen und Empfehlungen in allen Bereichen geben. Das der Fälle richtig. brauchen wir mit einer ebenso großen Klarheit und Deutlichkeit wie eine flächendeckende hospizliche Ver- Bei den 22 Prozent will man nicht sein. Aber man sorgung. Auch das ist erwähnt worden. Ich will das nur kann ganz sicher auch sagen: Das ist eine Entwicklung, noch einmal im Namen der etwa 150 000 Frauen und die wir alle nicht wollen, und das eint uns. Männer, die sich auf diesem Gebiet engagieren, hervor- Schönen Dank. heben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP sowie bei der CDU/CSU und der SPD) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 9146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) Jetzt stellt sich aber die Frage, liebe Kolleginnen und Ich bin der Auffassung: Wenn ein Gesetz, dann ist seine (C) Kollegen: Brauchen wir eigentlich eine neue gesetzliche Idee eines Gesetzes richtiger; es vermeidet große Fehler. Regelung? Ich bin der Auffassung: Wir brauchen sie ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gentlich nicht. Wir brauchen sie zwar – da hat Herr CDU/CSU) Zöller Recht –, weil die technische Veränderung hin- sichtlich der gerichtlichen Zuständigkeit erforderlich ist. Ich will Ihnen als Letztes sagen, welche Sorge ich Aber ich neige sehr stark dazu, dem zu folgen, was die habe, wenn wir ein Gesetz machen, das falsche Gleich- Ärzte dazu sagen oder was ich als Schirmherrin der Hos- setzungen automatisiert. Sorge Nummer eins ist, dass die pizbewegung höre, weil die neuen gesetzlichen Regelun- praktischen Probleme nicht gelöst werden und die Men- gen die Probleme, die es heute in der Praxis aufgrund der schen Steine statt Brot haben. Davor sollten wir uns hü- Unsicherheit gibt, möglicherweise gar nicht lösen kön- ten, gerade im Hinblick auf Informationskampagnen und nen und weil wir durch eine gesetzliche Regelung mögli- Handreichungen in der Öffentlichkeit. Die zweite Sorge cherweise nur die Illusion verstärken würden, die prakti- angesichts eines Automatismus bei einer falschen schen Probleme würden gelöst. Gleichsetzung bezieht sich nicht auf aktuellen Miss- brauch oder gar auf den bösen Willen des einen oder an- (Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE deren Kollegen hier bzw. der Ärzteschaft oder der Pfle- LINKE]) ger, sondern darauf, dass die Auswirkung eines solchen Vor dieser Illusion sollten wir uns hüten. Deswegen Gesetzes sein kann, dass in Zweifelsfällen eben nicht für lassen Sie mich sozusagen – wir Juristen sagen immer: – das Leben entschieden wird, sondern in der Richtung, höchst vorsorglich Folgendes fragen: Was müssen wir dass Alte, Schwerstkranke, Leidende oder Sterbende denn eigentlich bedenken, wenn wir ein Gesetz machen? nicht optimal betreut und versorgt werden. Wenn wir ein Gesetz machen, müssen wir bedenken, Das ist meine Sorge. Deshalb ist die Tatsache, dass dass eine schriftliche Patientenverfügung im eintreten- wir uns, wenn wir denn ein Gesetz machen, mit einer den Fall durchaus von dem aktuellen Willen abweichen Gesetzesformulierung unglaublich viel Mühe geben, ge- kann, der immer vorgehen muss; denn die Patientenver- rechtfertigt. fügung rechtfertigt sich nur dadurch, dass sie den Willen des Betroffenen zum Zeitpunkt der Entscheidung deut- Herzlichen Dank. lich machen soll. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Das bedeutet – das hätte ich jetzt gern dem Kollegen Scholz gesagt, wenn er noch da wäre –, dass es keine ge- (B) (D) setzgeberische Arroganz ist, wenn wir feststellen, dass Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wir diese Unterschiede berücksichtigen müssen. Es ist Nächster Redner ist der Kollege Thomas Rachel, eine Lehre aus der Erfahrung von Ärzten oder, wie wir CDU/CSU-Fraktion. gerade vom Kollegen Winkler gehört haben, von Sterbe- begleitern – das begegnet auch mir ständig –, dass wir Thomas Rachel (CDU/CSU): prüfen müssen, und zwar in jedem Fall, ob eine Kongru- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Alten enz, eine Übereinstimmung, besteht. Testament, der hebräischen Bibel, dem gemeinsamen Buch von Juden und Christen, steht beim Prediger Diese Prüfung und Bewertung in jedem Fall – das Salomo, bei Kohelet: bitte ich zu bedenken, lieber Kollege Stünker – liegt im- mer in der Hand eines Dritten: der Angehörigen, der Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Ärzte, der Betreuer. Deswegen ist Kommunikation not- Zeit. wendig, und deswegen darf man nicht die Illusion ver- Für uns Christen liegen Leben und Sterben in Gottes breiten, die Patientenverfügung könne dieses Problem lösen; denn das kann sie nicht. Hand. Wir wissen und spüren, dass im Versuch einer ge- setzlichen Regelung immer auch ein Stück Hilflosigkeit (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ liegt. Denn ein Mensch ist letztlich immer hilflos, wenn CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- es um seinen Tod geht. In der letzten Lebensphase haben NEN) unsere Wünsche ein besonderes Gewicht. In diesem Mo- ment wird die Patientenverfügung wichtig. Sie dient der Jetzt stellt sich die Frage: Wie wirkt ein Gesetz, das das Achtung der Menschenwürde, indem sie ein Instrument nicht berücksichtigt? Deswegen bitte ich, noch einmal zu bereitstellt, mit dem wir unsere Selbstbestimmung auch überdenken, wie sich Ihre Formulierung auswirkt. Eine dann zur Geltung bringen können, wenn wir zu einer be- klare – sozusagen automatisch geltende – Gleichstellung wussten Willensäußerung nicht mehr in der Lage sind. dessen, was in einer Patientenverfügung niedergeschrie- ben worden ist, mit dem aktuellen Willen ist annähe- Die Wertschätzung der Patientenverfügung wird auch rungsweise am ehesten in den Fällen möglich, die Herr dadurch deutlich, dass die beiden Kirchen seit über sie- Bosbach und Herr Röspel so definiert haben, dass die ben Jahren ein eigenes Patientenverfügungsformular mit Krankheit einen irreversibel tödlichen Verlauf nimmt. einer Handreichung anbieten und davon bereits mehr als Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Wille de- 1,5 Millionen Exemplare abgegeben haben. Patienten, ckungsgleich ist, am größten. Dann kann Sterbenlassen Angehörige, Ärzte und Betreuer sind verunsichert. Sie unter der Formulierung auf jeden Fall so gesehen werden. brauchen aber mehr Rechtssicherheit bei den Entschei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9147

Thomas Rachel (A) dungen am Lebensende. Deshalb sollten die Verbind- Patient in einer Patientenverfügung ausdrücklich und (C) lichkeit und Stellung der Patientenverfügung gestärkt klar medizinische Maßnahmen abgelehnt hat. werden, indem sie gesetzlich geregelt wird. Auch das grundlegende Papier der Evangelischen Aber kann man alles Denkbare in einer solchen Ver- Kirche in Deutschland geht genau diesen Weg, indem es fügung festlegen? Befürworter einer unbeschränkten Pa- besagt, dass wir zum Besten des Patienten handeln müs- tientenverfügung führen meistens an, es könne nicht sen, was einschließt, dass man seine Sicht und seinen sein, dass jemand gegen seinen Willen einer medizini- Willen soweit wie möglich achtet. In diesen schwierigen schen Maßnahme unterzogen wird. Das ist richtig. Aber Fällen darf das Unterlassen einer lebenserhaltenden gilt dieser Satz auch für die Patientenverfügung? Müss- Maßnahme aber nicht auf einen mutmaßlichen Willen, ten wir den Satz nicht anders formulieren: Niemand darf sondern nur auf eine konkrete Patientenverfügung ge- gegen seinen früheren Willen behandelt werden? Damit stützt werden. Außerdem sollte das Vormundschaftsge- sind wir mitten im Problem. Es geht um eine Entschei- richt auf jeden Fall einbezogen werden. dung für die Zukunft. (Joachim Stünker [SPD]: Das arme Gericht!) Es ist möglich, dass sich das Empfinden und die Maß- Eine Basisversorgung sollte in allen Fällen durchge- stäbe, an denen Freud und Leid gemessen werden, und führt werden. Dazu zählt beispielsweise das Stillen des auch die Wertvorstellungen des Patienten in der Zwi- Gefühls von Durst und Hunger. Eine Magensonde wird schenzeit grundlegend ändern. Dies zeigen auch die Er- jedoch oft als ein Eingriff in die eigene körperliche Inte- fahrungen von Ärzten, wenn sie interveniert haben. grität wahrgenommen. Der Patient muss deshalb die Manche Patienten sind froh gewesen, dass ihre Patien- Möglichkeit haben, im Wege der Patientenverfügung auf tenverfügung nicht befolgt wurde. eine künstliche Ernährung verzichten zu können. Ein Leben, das mit erheblichen Einschränkungen ver- Nach christlicher Überzeugung gilt, dass Gott allen bunden ist, schätzen gesunde Menschen vielfach gerin- Dingen ihre Zeit bestimmt. Der Mensch steht letztlich ger ein als davon betroffene Menschen. Wir müssen den vor der Aufgabe, zu erkennen, wann was an der Zeit ist. Unterschied zwischen vorausverfügtem Willen und ak- Dazu kann eben die Erkenntnis gehören, dass auch dem tuellem Willen beachten. Je gravierender die Folgen ei- Sterben seine Zeit gesetzt ist, es also darauf ankommt, nes Behandlungsverzichts sind, desto mehr Vorsicht ist den Tod zuzulassen und seinem Kommen nichts mehr geboten. Wir müssen versuchen, Selbstbestimmung des entgegenzusetzen. Es gibt also keine Pflicht zur Leidens- Patienten und Fürsorge für ihn in einen schonenden Aus- verlängerung um jeden Preis. Wir sollten uns also um gleich zu bringen. eine gesetzliche Absicherung der Patientenverfügung, den Ausbau der palliativmedizinischen Versorgung und (B) (D) Der Lösungsweg, der maßgeblich von Wolfgang der Hospizdienste kümmern und uns gemeinsam bemü- Bosbach initiiert wurde und der die Fälle unumkehrbar hen, die Bedürfnisse der Ältesten und Schwerstkranken tödlicher Krankheitsverläufe oder irreversiblen Bewusst- wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen. seinsverlustes umfasst, ist ein guter und gangbarer Weg. Denn gerade bei den unumkehrbar tödlichen Krankheits- Herzlichen Dank. verläufen ist die Trennlinie klar: Es geht deutlich er- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kennbar um das Sterbenlassen. der SPD) (Joachim Stünker [SPD]: Wer stellt das denn fest?) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Carola Reimann, Wenn von anderer Seite die unbegrenzte Möglichkeit SPD-Fraktion. zum Abbruch lebenserhaltender Behandlungen ange- strebt wird, dann geht es dort um Lebensbeendigung von Dr. Carola Reimann (SPD): Erkrankten, die an dieser Erkrankung aber nicht sterben Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und müssten. Genau hier liegt der entscheidende Unter- Kollegen! Der medizinisch-technische Fortschritt hat schied. dazu geführt, dass Leben in einem wesentlich größeren Aber auch für Situationen, in denen Betroffene ohne Umfang als früher gerettet und auch verlängert werden Bewusstsein sind und nach ärztlicher Überzeugung mit kann. an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Be- Wie so häufig hat eine im Grunde positive und erfreu- wusstsein niemals wiedererlangen werden, muss es liche Entwicklung auch eine Kehrseite. Heute haben möglich sein, in einer Patientenverfügung das Unterlas- viele Menschen Angst vor Schmerzen und vor Leiden sen einer Behandlung festzulegen. am Lebensende. Die Vorstellung, nicht mehr äußerungs- fähig zu sein und somit nicht selbst über medizinische In einer aussichtslosen Situation, zum Beispiel im Maßnahmen entscheiden zu können, ist für viele beängs- Fall eines langfristig stabilen Wachkomas, sollte der tigend. staatliche Lebensschutz hinter den erklärten Willen des Betroffenen zurücktreten, wenn dies in der Patienten- Genau hier setzt die Patientenverfügung an, über deren verfügung ausdrücklich verlangt wurde. Meines Erach- gesetzliche Verankerung wir heute debattieren und für die tens kann der Staat einen Patienten nicht zwingen, über ich mich ausdrücklich ausspreche. Denn ich glaube nicht, Jahre in schwerstem Wachkoma zu bleiben, wenn der dass der bloße Aufruf zu mehr Kommunikation, zu mehr 9148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Dr. Carola Reimann (A) Information und zu mehr Kooperation ausreicht. Wir ratung dient dazu, über Krankheiten, denkbare Krank- (C) wollen mit der Patientenverfügung die Patientenautono- heitsverläufe, über medizinische Möglichkeiten und mie stärken und eine selbstbestimmte Entscheidung am Behandlungsalternativen wirklich informiert zu sein. Lebensende ermöglichen. Wie viele andere Unterstützer Mögliche Fehlvorstellungen, Fehleinschätzungen auch des sogenannten Stünker-Entwurfs bin ich der Auffas- durch Unwissenheit und Ängste können so reduziert und sung, dass die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen die Folgen eines Behandlungsverzichts deutlich gemacht nicht davon abhängen darf, dass das Grundleiden irrever- werden. sibel und trotz medizinischer Behandlung zum Tode füh- Mein Eindruck ist auch, dass viele, die schon heute ren wird. Patientenverfügungen verfasst haben, im Vorfeld einer (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der solchen Patientenverfügung das Gespräch mit ihrem LINKEN) Arzt gesucht haben. Auch die Aktualisierung der Patien- tenverfügung sollte mit einer erneuten Beratung einher- Fragen wir uns doch einmal, warum Millionen von gehen, damit die Verfasser einer Patientenverfügung Menschen Patientenverfügungen verfassen. Das Abfas- – gegebenenfalls vor dem Hintergrund einer eigenen sen einer Patientenverfügung, vor allem einer Ableh- fortschreitenden Erkrankung – auf diese Weise regelmä- nungsverfügung – das sind die allermeisten –, ist in fast ßig über medizinisch-technische Fortschritte, neue allen Fällen dadurch motiviert, dass jemand, auch wenn Behandlungsmöglichkeiten und Entwicklungen in der er nicht mehr äußerungsfähig ist, selbst über seine Wei- Palliativmedizin informiert werden, die mit in die Ent- terbehandlung bestimmen und dies eben nicht den Ärz- scheidung einfließen. ten und damit dem überlassen will, was sie in dieser Si- tuation für richtig halten. Durch die genannten Wirksamkeitsvoraussetzungen wird meiner Ansicht nach sichergestellt, dass der Ein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zelne eine informierte und reflektierte Entscheidung Wenn man aber die Verbindlichkeit der Patientenäuße- trifft. Unter diesen Umständen ist eine uneingeschränkte rung auf Situationen begrenzt, in denen ich nicht äuße- Verbindlichkeit und Reichweite von Patientenverfügun- rungsfähig bin und an einer irreversibel zum Tode führen- gen bei aller Fürsorgepflicht des Staates vertretbar. Ich den Grunderkrankung leide, lege ich diese Entscheidung finde es wichtig, dass jeder auf der Basis einer selbstge- doch wieder in die Hände von Dritten, in die Hände von troffenen und gut informierten Entscheidung ein men- Medizinern und Ärzten. Dies ist eine Entscheidung, mit schenwürdiges und bis zuletzt selbstbestimmtes Leben der sich im Übrigen auch die Ärzte schwertun werden, führen kann. Die Koppelung der Reichweite und der zumal diese Beurteilung in vielen Fällen nicht eindeutig Verbindlichkeit an diese Wirksamkeitsvoraussetzungen zu treffen ist und den Ärzten – das kommt hinzu – im ist meiner Meinung nach der beste Weg, dieses Ziel zu (B) (D) Falle einer Fehleinschätzung Sanktionen drohen können. erreichen und die Patientenautonomie auch am Lebens- ende zu stärken. (Joachim Stünker [SPD]: So ist es!) Ich will an dieser Stelle sagen, dass ich eine Vorsor- Vor diesem Hintergrund ist abzusehen, dass Ärzte be- gevollmacht in Ergänzung zur Patientenverfügung für handlungsablehnende Patientenverfügungen nicht be- mehr als empfehlenswert halte; das ist heute schon achten werden und der in der Verfügung festgehaltene mehrfach angeklungen. Wille des Patienten letztlich unberücksichtigt bleibt. Ich danke für das Zuhören. Darüber hinaus vertrete ich die Auffassung, dass die Reichweitenbeschränkung – darauf haben die Juristen (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ schon hingewiesen – das Recht jedes Einzelnen auf CSU, der FDP und der LINKEN) Selbstbestimmung zu stark beschneidet. Bei aller gebo- tenen und notwendigen Fürsorge des Staates darf der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Gesetzgeber meiner Ansicht nach die Freiheit des Ein- Nächster Redner ist der Kollege Hubert Hüppe, CDU/ zelnen, der ja für sich persönlich eine informierte Ent- CSU-Fraktion. scheidung trifft und eine solche auch treffen will – das alles ist freiwillig –, nicht in diesem Ausmaß begrenzen. Hubert Hüppe (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Je län- FDP) ger ich mich mit dem Thema Patientenverfügung ausein- andersetze, umso unsicherer bin ich – das hat sich auch Wir erwarten, dass jeder, der eine Patientenverfügung durch die heutigen Debattenbeiträge bestätigt –, ob es abfasst, damit für sich eine individuelle, informierte und wirklich Sinn macht, zu diesem Thema ein Gesetz zu reflektierte Entscheidung trifft; auf die Problematik der machen. Ich frage mich, ob es richtig ist, zu glauben, der Vorausverfügung ist heute Morgen schon hingewiesen Gesetzgeber könne alles regeln, bis in den Tod hinein. worden. Deshalb bin ich dafür, dass eine Patientenverfü- Ich glaube, wir übernehmen uns damit. gung ohne Einschränkung der Reichweite verbindlich ist, wenn bestimmte Wirksamkeitsvoraussetzungen er- Inzwischen hört man auch von den Betroffenen, die füllt sind. Dazu zählen für mich neben der Schriftlichkeit an vorderster Front arbeiten – die Ärztekammer ist schon die ärztliche Beratung und Information vor der Abfas- häufiger zitiert worden –, dass die Erwartungen, die an sung einer Patientenverfügung und eine regelmäßige die Patientenverfügung geknüpft werden, viel zu hoch Aktualisierung. Ich will sagen, warum. Die ärztliche Be- sind. Die Frage ist: Können Patientenverfügungen die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9149

Hubert Hüppe (A) Selbstbestimmung so absichern, wie sich das viele wün- lich; Sie wollen das Vormundschaftsgericht nicht einbe- (C) schen? Es ist etwas anderes, wenn ich einwilligungsfä- ziehen. hig bin. Dann kommt der Arzt, erklärt mir die Diagnose und sagt, welche Behandlung im Vordergrund stehen In diesem Zusammenhang muss ich sagen: Auf der wird. Er wägt mit mir die Chancen und Risiken ab. Ge- einen Seite wollen Sie in § 1904 des Bürgerlichen Ge- meinsam werden wir berücksichtigen, welche Erfolgs- setzbuches die Regelung beibehalten, dass man das Vor- aussichten bestehen. Wenn ein Arzt der inneren Medizin mundschaftsgericht befragen muss, wenn es um einen eine neurologische Erkrankung erkennt, dann wird er Eingriff geht, der für den Menschen zwar lebensgefähr- diese Entscheidung über die Behandlung nicht mit mir lich ist, der sein Leben aber retten soll. Auf der anderen allein treffen, sondern einen Neurologen hinzuziehen. Seite soll das Vormundschaftsgericht aber nicht ent- scheiden, wenn eine Behandlung abgebrochen bzw. All das kann man durch eine Patientenverfügung, die überhaupt nicht durchgeführt werden soll, was zwangs- man möglicherweise Jahre zuvor verfasst hat, nicht ab- läufig den Tod nach sich ziehen würde. Das halte ich für decken. Selbst wenn man sich alle Mühe gibt, wenn man falsch; diese Regelung sollten wir nicht treffen. sich vorher ärztlichen Rat einholt, wird man nicht für jede mögliche Situation vorsorgen können. Deswegen Zum Schluss möchte ich betonen – hier teile ich, was muss man, denke ich, mit dem, was man sagt, sehr vor- andere bereits gesagt haben –: Es trifft nicht hauptsäch- sichtig sein. Man könnte sonst nämlich den Eindruck er- lich für Fälle auf der Intensivstation zu. Manchmal wird wecken, dass man die Selbstbestimmung durch eine Pa- so getan, als ob Hunderttausende von Menschen auf der tientenverfügung wirklich durchsetzen kann und die Intensivstation sterben. Das Problem liegt tatsächlich in Situation dadurch für diejenigen, die am Bett sitzen, ein- den Pflegeheimen. Ich sage Ihnen: Wenn es wirklich so facher wird. ist – ich will nicht die Pflegeheime als solche insgesamt desavouieren –, dass Menschen dort nur aus Zeitgründen Man muss einmal in Länder schauen, in denen es ge- eine Magensonde gelegt wird, weil das Geben der Nah- setzliche Regelungen zur Patientenverfügung bereits rung zu viel Zeit beanspruchen würde, dann ist da bereits gibt. In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es die Menschenwürde verletzt, dann müssen wir uns Ge- seit ungefähr 16 Jahren eine Regelung zur Patientenver- danken darüber machen, wie wir diesen Zustand ändern. fügung. Überall, in jeder Einrichtung, in jedem Kranken- haus und in jeder Pflegeeinrichtung, wird dafür Werbung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gemacht. Trotzdem haben dort nur 18 Prozent aller Men- SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜND- schen eine Patientenverfügung. NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Rolf Stöckel [SPD]: Es gibt ja keinen Zwang Es wurde bemängelt, dass es eine Grauzone gibt. (B) dazu!) Aber ich glaube, als Abgeordnete müssen wir uns damit (D) abfinden, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt. Interessant ist, dass die Patientenverfügung in sehr weni- gen Fällen, in denen eine Entscheidung erforderlich ist, Vielen Dank fürs Zuhören. angewandt wird, weil die Patientenverfügung entweder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gar nicht verfügbar ist, nicht aufgefunden wird, oder SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- weil sie – das ist häufiger der Fall – gar nicht auf die Si- NEN) tuation passt. Herr Kollege Stünker, deswegen habe ich ein biss- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: chen Angst vor der Regelung, die Sie vorschlagen. Sie Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese, betrifft nämlich auch die 97 Prozent der Fälle, in denen SPD-Fraktion. entweder keine Patientenverfügung vorliegt, oder eine, die nicht genau zu der Situation passt. Sie wollen eine Kerstin Griese (SPD): Regelung für die Fälle schaffen – das sieht Ihr Entwurf, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wenn er denn noch so steht, vor –, in denen keine Patien- Viele von uns haben hier aus einem christlichen Selbst- tenverfügung vorliegt. Dann sollen zwei Personen, näm- verständnis heraus gesprochen. Auch ich will das tun; lich der behandelnde Arzt und der Betreuer – ich sage in ich spreche hier als evangelische Christin. Ich spreche Klammern: möglicherweise nur der Berufsbetreuer –, al- auch als Kirchenbeauftragte meiner Fraktion. Ich will lein entscheiden, ob eine lebensnotwendige Maßnahme ausdrücklich sagen, dass ich glaube, dass es niemanden durchgeführt wird oder nicht. Das ist nicht Selbstbestim- gibt, der für sich in Anspruch nehmen kann, dass er oder mung. Da entscheiden zwei andere. sie allein eine christliche Position vertritt. Ich bin mir si- (Joachim Stünker [SPD]: Das ist doch gar cher: Auch die Christenmenschen in diesem Parlament nicht die Regelung!) werden sich am Ende für verschiedene Anträge entschei- den. Wir müssen uns gegenseitig darüber Auskunft ge- – Es sei denn, Sie haben es geändert. Sie machen das ben, was unser Werthorizont ist und warum wir uns wie ohne das Vormundschaftsgericht. entscheiden. (Joachim Stünker [SPD]: Sie haben es nicht Ich will mich in diesem Zusammenhang ganz herzlich richtig gelesen! Das ist das Problem!) bedanken. Gemeinsam mit der Kollegin Fischbach und – Ich habe Ihren Vorschlag natürlich gelesen. Er enthält den Kollegen Goldmann, Ramelow und Winkler hatten viel Gutes, in diesem Punkt halte ich ihn aber für gefähr- wir die evangelische und katholische Kirche zu einem 9150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Kerstin Griese (A) fraktionsoffenen Nachmittag zum Thema Patientenver- (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD] und (C) fügung eingeladen, der, glaube ich, für viele von uns er- der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- kenntnisreich war. Wir haben dort eine gute Form der NIS 90/DIE GRÜNEN]) Zusammenarbeit und der Diskussion gestartet. Das heißt, Fürsorge und Selbstbestimmung gehören (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ zusammen. Es gehört gerade zur Fürsorgepflicht der CSU und der FDP) Ärzte, dass sie die Selbstbestimmung achten, dass sie Leben erhalten und Sterben nicht verlängern. Zum Le- Es ist schon erwähnt worden: Auch die Kirchen ge- ben gehört das Sterben. Patientenverfügungen sollen ben christliche Patientenverfügungen heraus, seit 1999 dazu beitragen, dass Ärzte diese Fürsorgepflicht wahr- über 2,5 Millionen. Es gibt eine große Nachfrage. Die nehmen. zweite Auflage wurde bezüglich der Reichweite erwei- tert, nämlich um zusätzliche Verfügungen für Situatio- Ich glaube, dass wir in der Frage der Verbindlichkeit nen außerhalb der eigentlichen Sterbephase. Das heißt, und Gültigkeit sehr eindeutige Regelungen für Patien- das Bedürfnis danach ist anscheinend vorhanden und tenverfügungen brauchen. Ich glaube, man kann meinem sehr groß. Kollegen Stünker nicht unterstellen, dass er in seinem Entwurf einen Automatismus befürwortet. Selbstver- Mir ist ganz wichtig festzuhalten, dass wir uns da- ständlich muss eine Patientenverfügung immer interpre- rüber einig sein müssen, dass es niemals so etwas wie tiert werden. Es muss immer die Möglichkeit bestehen, eine Pflicht zu einer Patientenverfügung geben darf. dass auch mündliche Äußerungen, körperliche Regun- Niemals darf es so sein, dass ein Pflege- oder Altersheim gen oder Zeichen eines Patienten in die Interpretation verlangt, dass jemand, der dort aufgenommen wird, eine der Patientenverfügung einfließen. Brigitte Zypries hat Patientenverfügung hat. Ich denke, das muss klar sein das vorhin die „Gesamtschau des Lebens“ genannt. Nie- und dagegen müssen sich alle äußern. mand wird sagen können, dass es einen absoluten Auto- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Ilja matismus gibt. Seifert [DIE LINKE]: Das ist aber gang und (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP gäbe!) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Aber es ist nicht anständig, wenn es gang und gäbe ist. Auch die, die sich für die Regelung einer Patientenverfü- Das darf nicht sein. Auch das muss man sagen dürfen. gung aussprechen, werden, wie ich hoffe – zumindest ist (Joachim Stünker [SPD]: Das ist rechtlich das mein Eindruck aus dieser Diskussion –, sagen: Wir nicht zulässig!) müssen darauf achten, wie und wo sie zutrifft. (B) – Es ist sogar rechtlich nicht zulässig. Ich möchte noch einmal aus dem Papier der EKD zi- (D) tieren: Mein zweiter Punkt. Leben und Sterben haben ihre Zeit. Leben und Sterben liegen nach christlichem Selbst- Wenn ein urteilsfähiger Patient angesichts von verständnis in Gottes Hand. Aber dennoch dürfen und schwerster Krankheit und Leiden Nahrung verwei- müssen wir Menschen darüber nachdenken, wie wir ster- gert, verbietet es der Respekt vor dessen Selbstbe- ben wollen. Deshalb ist die Hospizarbeit, die hier schon stimmung, ihn in diesem Fall zwangsweise zu er- vielfach erwähnt wurde, so wichtig. Die Schriftstellerin nähren. Wenn wir aber in dieser Weise den Willen Hilde Domin hat einmal vom „kostbarsten Unterricht am und die Selbstbestimmung des urteilsfähigen Pa- Sterbebett“ gesprochen. Wenn wir diese Arbeit machen tienten respektieren, muss dies prinzipiell auch für und wenn wir damit in Kontakt kommen, belehrt uns das den Fall seiner Urteilsunfähigkeit gelten. über uns selbst. Ich bin froh, dass wir endlich begonnen (Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!) haben, die Palliativmedizin und Hospizarbeit stärker zu unterstützen. Das macht deutlich, dass Respekt vor dem Patienten und Fürsorge wichtig sind. Der aktuelle Wille hängt nun Wichtig ist mir: Wir leben nicht allein, wir sterben einmal sehr stark mit dem zusammen, was man vorher auch nicht allein. Zum Sterben gehören pflegende Ange- als Willen aufgeschrieben hat. Aber es kommen weitere hörige, Freundinnen und Freunde, Ärztinnen und Ärzte, Aspekte hinzu. Auch das muss ein verantwortlicher, für- Seelsorgerinnen und Seelsorger. Ich glaube, wir sollten sorglicher Arzt, ein Bevollmächtigter oder ein Betreuer Selbstbestimmung und Fürsorge nicht gegeneinander- klären. setzen. Das dürfen keine Gegensätze sein. Gerade am Ende des Lebens gehören Selbstbestimmung und Für- Ich will kurz auf die Bestimmung der Reichweite ein- sorge zusammen. Krankheit, Sterben und Tod eines gehen. Dieser Punkt, der der ethisch schwierigste Aspekt Menschen können nicht ohne seine soziale Einbettung, in dieser Debatte ist, macht mir persönlich – ich sage das ohne die Fürsorge anderer Menschen verstanden werden. ganz ehrlich – die meisten Probleme; da ich dieser Dis- kussion bereits seit 9 Uhr folge, kann ich sagen, dass sie Ich will die Kammer für Öffentliche Verantwortung eine der interessantesten ist, die wir je geführt haben. der Evangelischen Kirche in Deutschland zitieren, die unter dem Titel „Sterben hat seine Zeit“ ein interessantes (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Papier vorgelegt hat. Dort heißt es: CDU/CSU) Der Respekt vor der Selbstbestimmung der Patien- Ich glaube, dass ich in eine Patientenverfügung schrei- ten ist … geradezu eine Implikation der Fürsorge. ben würde, dass sie für tödlich verlaufende Krankheiten Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9151

Kerstin Griese (A) gelten soll. Aber ich kann nicht zu der Entscheidung Dass wir alle sterben werden, ist unausweichlich. (C) kommen, das allen anderen Menschen so vorzuschrei- Wenn allerdings danach gefragt wird, wie jemand ster- ben. ben möchte – das hat eine Umfrage der Deutschen Hos- piz-Stiftung ergeben –, dann antworten die meisten Men- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP schen: erst im hohen Alter, man möchte geistig und und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) körperlich fit sein, alle Lieben um sich versammelt ha- Hier müssen wir genau unterscheiden. ben, in Frieden vereint sein und irgendwann einfach zu Hause einschlafen. – Das ist eine wunderbare Vorstel- Ich habe auch ein Problem damit, dass Demenz und lung. Doch nur ein ganz geringer Prozentsatz wird das so Wachkoma in einigen Diskussionen gleichgesetzt wer- erleben. Denn die Patientenverfügung hat einen ganz den. Ich bin der Meinung, dass es einen großen Unter- klaren Gegner: die Realität. Wir möchten mit Blick auf schied zwischen Demenz und Wachkoma gibt und dass die letzte Lebensphase für Sicherheit sorgen, aber das man damit unterschiedlich umgehen sollte. einzige, was sicher ist, ist die Unsicherheit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Es ist nicht gerade erheiternd für die nachmittägliche FDP) Runde in der Familie, über Patientenverfügungen oder Mein letzter Punkt – ich spreche diesen Aspekt nur über den letzten Lebensabschnitt zu reden. Aber wir ganz kurz an, weil die Kolleginnen Reimann und brauchen Kommunikation. Kommunikation leisten wir Volkmer dazu bereits Vorschläge gemacht haben –: Ich heute auch mit dieser Debatte. Deshalb auch Dank an die glaube, wir brauchen unbedingt die Festlegung auf die Vorsitzenden und an die Geschäftsführer aller Fraktio- Schriftform, die Pflicht zur Aktualisierung und die Mög- nen, dass wir in der Kernzeit drei Stunden lang und ohne lichkeit der Beratung. All das ist notwendig, um deutlich gewissermaßen Schaum vor dem Mund zu haben da- zu machen, dass die Würde und der Wille der Schwerst- rüber debattieren. kranken unsere obersten Prinzipien sind, damit bei der Auch wenn wir ein Gesetz machen, können wir damit Abfassung einer Patientenverfügung nicht die Angst vor nicht alle Klarheiten schaffen, die wir uns wünschen und Fremdbestimmung oder Apparatemedizin die Feder von denen heute auch geredet wurde, bzw. die Unklar- führt. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Le- heiten ausräumen, die heute bemängelt wurden. Aber bens bis zum Ende, also bis zum Sterben, das zum Leben was wir schaffen können und sollten, ist Klarheit für die gehört, ist eine Aufgabe, die weit über die Patientenver- am Prozess Beteiligten, auch für diejenigen, die eine sol- fügung hinausreicht. Ich hoffe, dass wir auch bei ande- che Patientenverfügung umsetzen müssen. Heute früh ren Themen, bei denen wir uns mit solchen Fragen be- bekam ich einen Anruf von dem Chefarzt eines Kran- schäftigen müssen, gute Lösungen finden werden. (B) kenhauses in meinem Wahlkreis. Er hat mir erzählt, dass (D) Vielen Dank. eine Klage von einem Sohn anhängig ist, der sich da- durch, dass der Arzt nicht die Patientenverfügung umge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ setzt hat, wodurch es zu erhöhten Pflegekosten kam, um CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ sein Erbe betrogen fühlt. Wir brauchen Rechtssicherheit DIE GRÜNEN) für die Ärztinnen und Ärzte. Ich möchte auch sagen: Ich bin für eine Reichweiten- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: begrenzung, um Missbrauch zu verhindern. Ich gebe zu, Nun hat das Wort die Kollegin Julia Klöckner, CDU/ dass ich Bauchschmerzen habe angesichts dessen, dass CSU-Fraktion. das Wachkoma laut Entwurf in die Reichweitenbegren- zung einbezogen werden soll. Denn ich habe ein Wach- Julia Klöckner (CDU/CSU): komazentrum besichtigt. Kollege Hüppe ebenfalls; er Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hat in seinem Wahlkreis auch eines. Diese Debatte, die wir nun schon seit fast drei Stunden (Michael Kauch [FDP]: Ich war auch in ei- führen, hat mich sehr nachdenklich gemacht, und ich nem!) denke, auch Sie. Es sind Aspekte und Akzentuierungen zur Sprache gekommen, die auch diejenigen, die in die- – Viele andere auch. Herr Kauch, ich freue mich, dass ser Frage eine feste Meinung haben, doch noch einmal auch Sie in einem waren. zum Reflektieren bringen. Ich finde, wir sollten diese Die Erfahrung hat gezeigt, dass Wachkomapatienten Debatte zum Anlass nehmen, uns innerhalb der Fraktio- nicht zwingend Sterbende sind, sondern dass das Wach- nen erneut mit diesem Thema zu beschäftigen. koma auch ein Zustand der Behinderung sein kann. Wir Vorweg zu meiner persönlichen Positionierung: Ich müssen uns also fragen: Was bedeutet es, wenn wir diese unterstütze den Antrag der Kollegen Bosbach, Winkler, Reichweite noch vergrößern oder ganz wegfallen ließen? Fricke und Röspel. Für mich ist die Frage von Bedeu- Wie gehen wir um mit Behinderung in unserer Gesell- tung, welche Alternativen wir im politischen Prozess ha- schaft? ben. Wenn man die beste Entscheidung nicht erreicht, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dann sollte man überlegen, welche Entscheidung die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zweitbeste ist, um sozusagen – das sage ich aus meiner Sicht; damit möchte ich andere Meinungen nicht abqua- Wir müssen aufpassen, dass wir die Autonomie nicht lifizieren – etwas Schlimmeres zu verhindern. konterkarieren. Ich habe gestern Abend im Taxi den 9152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Julia Klöckner (A) Fahrer gefragt, ob er sich schon einmal über das Thema tensivstation gewesen. Ich habe Menschen reanimiert (C) Patientenverfügung Gedanken gemacht habe. Er antwor- und mir hinterher Vorwürfe gemacht, dass ich sie reani- tete mir: Ja, abschalten. Das war schwierig, und unser miert habe. Ich habe Apparate ausschalten und Men- Gespräch zog sich dann etwas länger hin. Allein dass je- schen sterben lassen müssen. Ich habe versucht, Ange- mand so schnell eine Antwort finden zu können meint, hörige zu erreichen, was ich nicht immer geschafft habe. macht mir schon Sorge. Die Frage ist: Muten wir den Das Ganze geschah im Schichtdienst und unter großem Bürgerinnen und Bürgern, die keine medizinische, keine zeitlichem Druck. Das ist seit der Zeit, in der ich im juristische Ausbildung haben, bei dieser Entscheidung Krankenhaus gearbeitet habe, noch schlimmer gewor- nicht zu viel zu? Auf dem Gebiet des Verbraucherschut- den. zes heißt es: Beim Haustürgeschäft gilt ein 14-tägiges Widerrufsrecht, weil man sich irren kann. Wenn hinge- Es besteht Personalknappheit. Durch die Arbeitska- gen eine solche Patientenverfügung umgesetzt wird, das pazität, die für die Bedienung der vielen tollen techni- heißt lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt werden, schen Möglichkeiten erforderlich ist, und die administra- ist irren zwar menschlich, aber unumkehrbar. Ohne tiven Vorgänge wird die Zeit des Personals, der Reichweitenbeschränkung, meine ich, werden wir ge- Pflegekräfte und Ärzte, aufgefressen, die diese eigent- rade das Gegenteil bekommen. lich bräuchten, um solche Gespräche zu führen, wie wir sie uns vorstellen. Abschließend möchte ich auf den Freiburger Appell hinweisen, unterzeichnet von Professor Dr. Thomas Klie (René Röspel [SPD]: So ist es!) und Professor Dr. Christoph Student. Beide haben, finde Hier liegt nicht nur möglicherweise ein Versagen juristi- ich, etwas Wichtiges festgehalten: dass es nicht sein scher Apparate, sondern auch ein Organisationsversagen kann, dass der Tod das kleinere Übel ist, um unzurei- in den Einrichtungen vor, in denen Menschen in chende Lebensbedingungen zu beenden, und dass es Deutschland sterben. Hier müssen wir etwas tun. nicht sein kann, dass diejenigen, die keine Patientenver- fügung verfassen, das Gefühl haben müssen, dass nicht (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) in ihrem Sinne entschieden wird. Ich bin der Meinung, wir müssen uns zusammensetzen, wir müssen schauen, Ich sagte es bereits: Wir haben damit angefangen, et- wie wir Rechtsklarheit schaffen, aber im Zweifel für das was zu tun. Wie sieht es aber in den Pflegeheimen aus? Leben plädieren. Sicherheit, Selbstbestimmung – aber Mir ist von Ärzten eines Krankenhauses von einem Fall für das Leben. berichtet worden, über den sie dort lange diskutiert ha- ben: Aus einem Pflegeheim wurde eine Frau eingewie- Besten Dank. sen, der eine Magensonde gelegt werden sollte. Das (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Pflegeheim sagte: Wir können das nicht, wir können sie (D) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE nicht mehr ernähren. Die Ärzte im Krankenhaus haben GRÜNEN) ihre eigenen Pflegekräfte angeordnet: Nein, versucht einmal, sie zu füttern und ihr etwas zu trinken zu geben. Das hat geklappt. Diese Patientin wurde wieder zurück Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ins Pflegeheim verlegt. Die Ärzte haben dann herausbe- Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg, kommen, dass sie eine Woche später in das Nachbar- SPD-Fraktion. krankenhaus eingeliefert wurde. Dort hat man die Sonde sofort gelegt. Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wird Ich glaube, es wird klar, was das bedeutet und wie keine Not entstehen, wenn wir uns Zeit lassen mit die- wichtig schon die Indikationsentscheidung ist. Wenn Sie sem Gesetz zu Patientenverfügungen. Die Patientenver- sich anschauen, dass im Wettbewerb die Ausgaben für fügung ist ein kleiner, juristischer Baustein in einem grö- das Personal gesenkt werden, wie wenig Zeit auch für ßeren Problemfeld. In diesem großen Problemfeld um das Pflegepersonal vorhanden ist, um Gespräche zu füh- das Sterben in Deutschland gibt es in der Tat viel zu tun, ren, und welche Not in den Pflegeheimen herrscht, dann auch für den Gesetzgeber. Wir haben schon einiges ge- wird klar, dass es nicht die Pflegekräfte sind, die unver- tan: Wir haben die Bedingungen für Hospize verbessert. antwortlich handeln. Sie haben gar keine Zeit für das ge- Wir hoffen, dass die Krankenkassen jetzt etwas mehr als duldige Füttern und für Gespräche! bisher für die Palliativversorgung tun. Es ist nicht leicht (René Röspel [SPD]: Richtig!) für die Kassen, das zu tun; denn die Sterbenden sind häufig die teuersten Versicherten. Eine Kasse, die sich Wir müssen uns fragen, weshalb 80 Prozent der Men- dort anstrengt, muss das auch zahlen. Im Wettbewerb der schen sagen: Um Gottes willen, ich will nicht ins Heim, Kassen wird das manchmal schwierig. Das mag ein ich will zu Hause bleiben, wenn es mir schlecht geht. Grund dafür sein, dass es bisher so wenig Palliativver- Das wissen wir ganz eindeutig. Trotzdem landen die sorgung gibt. meisten dort. Hier gilt es, etwas zu tun. Wenn wir uns die tägliche Not ansehen – die es in der Wir werden über die Pflegeversicherung beraten. Tat gibt –, dann stellen wir fest, dass es zum einen die Dann wird wirklich etwas entschieden, weil wir dort Not derjenigen gibt, die krank sind, dass es zum anderen nämlich etwas tun und dafür sorgen können, dass die aber auch die Not derjenigen gibt, die den Kranken ge- Menschen zu Hause bleiben können, dass sie dort nicht genüberstehen. Ich bin lange Stationsarzt auf einer In- allein gelassen werden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9153

Dr. Wolfgang Wodarg (A) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) ten, auch in Zukunft darauf verzichten, eine Patienten- (C) verfügung zu verfassen. und dass der Hausarzt jederzeit jemanden heranziehen kann, der sich mit der Schmerztherapie auskennt. Das Aber je mehr sich die Möglichkeiten der modernen Wesentliche ist, dass wir solche Gesetze vernünftig ge- Medizin und Technik weiterentwickeln, desto stärker stalten. kann der Eintritt des Todes durch menschliches Handeln beschleunigt oder verzögert werden. Deswegen werden Das, was wir jetzt tun, ist ein juristisches Ablassge- mit Sicherheit immer mehr Menschen hinsichtlich dieses schäft. Von daher denke ich, dass wir uns konzentrieren menschlichen Handelns in einer Patientenverfügung sollten. Wir verlieren nichts, wenn wir hierüber ruhig Vorsorge treffen wollen. diskutieren. Mit dieser Debatte ist der große Vorteil ver- bunden, dass wir die Chance haben, uns die ganze Pro- Das eigentliche Problem der Patientenverfügung liegt blematik wirklich in Ruhe und in all ihren vielen Dimen- darin, dass man zu einem frühen Zeitpunkt bei vollem sionen anzusehen. Bewusstsein etwas niederschreibt, das man im Falle der Nichteinwilligungsfähigkeit nicht mehr korrigieren Wenn ich die juristischen Perspektiven betrachte, kann. Deswegen verstehe ich die Polemik gegen die im dann erkenne ich, dass das meiste geregelt ist. Die Sorg- Bosbach-Entwurf vorgeschlagene Reichweitenbegren- faltspflicht derjenigen, die als Arzt, als Pflegekraft und zung einer Patientenverfügung nicht. als Betreuer Verantwortung tragen, besteht bereits. Jeder muss sich danach erkundigen und müsste nachforschen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – was der wirkliche Wille des Patienten ist. Es wäre schön, Joachim Stünker [SPD]: Was ist denn daran wenn wir auch die notwendige Zeit dafür zur Verfügung Polemik? – Rolf Stöckel [SPD]: Die Ärzte- stellen könnten und es ermöglichen würden, dass das kammer ist doch nicht polemisch!) dann auch geschieht. Denn was die Behauptung angeht, durch die Reichwei- Viele sagen, die Vorsorgevollmacht sei eigentlich die tenbegrenzung würde das Selbstbestimmungsrecht des bessere Lösung. Dabei wird jemand bestimmt, der mich Einzelnen ausgehebelt, meine ich, dass das Gegenteil der kennt und für mich entscheidet, weil er weiß, wie ich Fall ist. Ich meine, dass die Reichweitenbegrenzung jetzt entscheiden würde. Das ist ohne Zweifel besser als Ausdruck von Hochachtung gegenüber dem Selbstbe- eine Patientenverfügung. Das Problem ist nur: stimmungsrecht ist; denn aufgrund unserer Lebenserfah- 60 Prozent der Haushalte in Berlin und in anderen Städ- rung wissen wir, dass der aktuelle Wille von dem Willen ten sind Einpersonenhaushalte. differieren kann, den man vor vielen Jahren in schriftli- cher Form verfügt hat. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja, genau!) (B) (Joachim Stünker [SPD]: Aber nur kann!) (D) Was kann man da also machen? Man muss dafür sorgen, – Er kann differieren. Aber das ist ein wichtiger Punkt. dass sich die Leute treffen. Wir müssen Möglichkeiten dafür schaffen, dass man über diese Dinge diskutiert. Ich kann auch den Hinweis auf andere Verträge nicht Warum soll nicht jeder Hausarzt eine Möglichkeit anbie- nachvollziehen. Jeden Vertrag können wir wie alles, was ten, sich zu treffen, zu diskutieren und jemanden zu fin- wir tun, zu korrigieren versuchen. Aber die Entschei- den, mit dem man sich verabredet? dung über Leben und Tod ist endgültig; sie ist nicht kor- rigierbar. Deswegen haben wir, glaube ich, so große All diese Punkte können vermittelt werden. Wir kön- Schwierigkeiten, diese Entscheidung gesetzlich zu re- nen sehr viel dafür tun. Deshalb bitte ich darum, dass wir geln. uns bei dieser Gelegenheit vornehmen, noch viel mehr zu tun, als nur diese rechtliche Regelung zur Patienten- Ich glaube auch nicht, dass man den Abgeordneten verfügung zu schaffen. des Parlaments vorwerfen kann, sie würden sich als Bes- serwisser gegenüber denjenigen aufführen, die in einer Ich danke Ihnen. Patientenverfügung eine Festlegung getroffen haben. Ich glaube vielmehr, dass wir Abgeordneten, die über das (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Gesetz entscheiden, die Lebenserfahrung berücksichti- CSU, der LINKEN und des BÜNDNIS- gen müssen, dass ein einmal verfügter Wille nicht immer SES 90/DIE GRÜNEN) auch dem aktuellen Willen entspricht. Deswegen plä- diere ich für die Reichweitenbegrenzung. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für mich und, wie ich weiß, etliche andere Kollegen Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/ ist eine der schwierigsten Fragen, wie im Falle schwers- CSU-Fraktion. ter Demenz und eines seit langem anhaltenden Wach- komas mit einer Patientenverfügung umzugehen ist. Die Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Entscheidungsfindung in dieser Frage wird auch nicht Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dadurch leichter, dass vonseiten der wissenschaftlichen Als Christ kann ich sagen: Ich weiß mein Leben in Got- Ethik und der christlichen Kirchen dazu differenzierte tes Hand. Dieses Wissen gibt vielen Menschen auch mit Empfehlungen gegeben werden. Dass es dabei nicht um Blick auf das Ende des Lebens Gelassenheit. Deswegen Sterbende, sondern um Schwerstkranke geht, ist klar; es werden viele im Vertrauen auf gute Ärzte, Pfleger und sind allerdings Schwerstkranke, die nach ärztlicher Er- liebe Angehörige, die sie am Ende ihres Lebens beglei- kenntnis das Bewusstsein niemals wiedererlangen 9154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Peter Weiß (Emmendingen) (A) werden und die in ihrer Patientenverfügung eine Beendi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und (C) gung lebenserhaltender Maßnahmen angeordnet haben. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich glaube, dass für diesen Fall besonders strenge Vo- Wir brauchen in diesem Bereich eine gesetzliche Re- raussetzungen definiert werden müssen, um einer Pa- gelung, auch wenn es gleichzeitig notwendig ist, die Pal- tientenverfügung Geltung zu verschaffen. Dazu gehört, liativmedizin und das Hospizwesen zu stärken und die dass der Betroffene selber lebenserhaltende Maßnahmen Organisationsstrukturen im Krankenhaus und im Pflege- für diesen konkreten Fall in einer Patientenverfügung heim zu ändern. wirksam ausgeschlossen hat, dass er ohne Bewusstsein ist und nach ärztlicher Erkenntnis mit an Sicherheit gren- Die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung kann zender Wahrscheinlichkeit trotz Ausschöpfung aller me- nicht davon abhängen, dass das Leiden einen irreversibel dizinischer Möglichkeiten das Bewusstsein niemals wie- tödlichen Verlauf genommen oder der Patient einen end- dererlangen wird und dass das Vormundschaftsgericht gültigen Bewusstseinsverlust erlitten hat. Abgesehen da- dies überprüft und genehmigt hat. Keinesfalls darf eine von, dass eine solche Einschränkung medizinisch unsin- Basisversorgung unterbleiben, und keinesfalls darf ein nig ist, ist sie auch ethisch nicht tragbar. Sie widerspricht nur mutmaßlicher Wille ausschlaggebend sein. der Selbstbestimmung der Menschen und würde in der Konsequenz zu Zwangsbehandlungen führen. Ich glaube, dass mit diesen hohen Anforderungen der Pflicht, einen verhältnismäßigen Ausgleich herbeizufüh- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und ren zwischen den verfassungsrechtlichen Geboten der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Achtung des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen Die Zulässigkeit einer Behandlung muss in jedem und der staatlichen Schutzpflicht für das Leben, Genüge Fall – unabhängig vom Krankheitsstadium – vom tat- getan werden kann. sächlichen oder mutmaßlichen Willen des Patienten ab- Nun wird in dieser Debatte – und erst recht von au- hängen. ßerhalb des Parlaments – geraten, gesetzlich eher nichts Es ist zweifellos richtig, dass eine Patientenverfügung zu regeln. Ich bin aber der Auffassung: Wenn wir für die für eine im Voraus nur schwer vorhersehbare Situation Menschen, die uns fragen, was ihre Patientenverfügung getroffen wird. Deshalb ist es meiner Meinung nach wert ist und was sie wirklich bedeutet, und für diejeni- wichtig, die verbindliche Patientenverfügung, die Arzt gen, die als Ärzte, Bevollmächtigte, Betreuer oder Pfle- und Vorsorgebevollmächtigten bzw. Betreuer bindet ger mit einer Patientenverfügung umgehen, mit einem – diese müssen die Verfügung ja umsetzen –, an be- Gesetz mehr Klarheit schaffen können, dann sollten wir stimmte Voraussetzungen zu knüpfen, nämlich die doku- (B) vor dieser Aufgabe nicht kneifen, sondern eine entspre- mentierte ärztliche Beratung und die Aktualisierung. (D) chende gesetzliche Regelung treffen. Ich möchte das kurz begründen. Es ist notwendig, den Vielen Dank. Dialog über die Behandlung, der ja mit dem äußerungs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und unfähigen Patienten nicht mehr geführt werden kann, der SPD) vor Abfassung der Patientenverfügung mit dem Arzt des Vertrauens zu führen. Es geht darum, möglichst genau zu beschreiben, welche Maßnahmen in welcher Situation Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: durchgeführt oder unterlassen werden sollen. Das kann Nun hat die Kollegin Dr. Marlies Volkmer von der ein Patient in der Regel nicht allein. Er braucht hierzu SPD-Fraktion das Wort. eine professionelle Beratung. Eine Patientenverfügung ist ein Dokument, bei dem es letztlich um Leben und Tod geht. Auch darüber muss sich der Patient im Klaren Dr. Marlies Volkmer (SPD): sein. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns mit dem Thema Patientenverfügung be- Eine Aktualisierung der Patientenverfügung – zum fassen, dann sprechen wir gleichzeitig über unsere in- Beispiel alle fünf Jahre – ist erforderlich, weil sich die nersten Überzeugungen, über den Umgang mit Leben Medizin schnell weiterentwickelt und schon nach fünf und Sterben. Das sieht bei jedem Menschen anders aus. Jahren im Lichte neuer Behandlungsmethoden oder Er- Jeder Mensch hat ganz eigene Vorstellungen davon, was kenntnisse möglicherweise durch den Patienten eine an- für ihn eine unzumutbare Belastung ist oder was er als dere Entscheidung getroffen wird. würdelos empfindet. Das haben wir zu akzeptieren. Patientenverfügungen, die diese Voraussetzungen nicht Patienten schreiben Verfügungen, um ihrem Willen erfüllen, sind unabhängig von Art und Stadium einer Er- dann Geltung zu verschaffen, wenn sie sich nicht mehr krankung als starkes Indiz für den Patientenwillen zu be- selbst äußern können. Aber mit der Begründung der not- achten und natürlich zu befolgen. Aber hier erfolgt die wendigen Fürsorge werden immer wieder Patientenver- Umsetzung eben nicht unmittelbar durch den Vorsorgebe- fügungen missachtet, und zwar deswegen, weil die Mei- vollmächtigten oder den Betreuer. Hier muss dann der ge- nungen darüber, welche Rechtsqualität und Bindung setzliche Vertreter – natürlich immer in enger Beratung eine Patientenverfügung für Ärzte hat, weit auseinander- mit dem Behandlungsteam – über das weitere Vorgehen gehen. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, damit nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten entschei- Rechtssicherheit herrscht. den. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9155

Dr. Marlies Volkmer (A) Der Respekt vor der Patientenautonomie und die ge- Sicherheit sagen, dass der Patient in der eingetretenen (C) setzliche Regelung der Verbindlichkeit von Patienten- Krankheitssituation, in einer Situation, in der er nicht verfügungen sind nach meiner Überzeugung wesentliche mehr bei Bewusstsein ist, genauso entscheiden würde, Voraussetzungen, damit das Verbot der aktiven Sterbe- wie er es Jahre zuvor verfügt hat? Ist es tatsächlich noch hilfe auch in Zukunft in Deutschland eine breite gesell- sein aktueller Wille, den er im Voraus verfügt hat? Man schaftliche Akzeptanz findet. muss sich das einmal praktisch vorstellen: Allein die persönliche Lebenssituation kann sich zwischen Nieder- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ legung der Patientenverfügung und Auftreten einer CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ Krankheit verändert haben. DIE GRÜNEN) Nehmen Sie folgenden Fall als Beispiel – vorhin Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wurde gesagt, wir sollten keine Beispielsfälle anführen; Nun erteile ich das Wort der Kollegin Daniela Raab, aber wir brauchen solche Beispiele, um es plausibel zu CDU/CSU-Fraktion. machen –: Ein junger Mann verfasst eine Patientenverfü- gung, in der sinngemäß steht, eine Querschnittslähmung sei für ihn das Allerschlimmste, was ihm passieren Daniela Raab (CDU/CSU): könne. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer wünscht sich nicht für sein späteres Ableben, sanft (Joachim Stünker [SPD]: Das ist keine Patien- einzuschlafen? Leider sieht die Realität in den meisten tenverfügung!) Fällen anders aus. Gerade der medizinische Fortschritt – Ich sagte „sinngemäß“; ich möchte hier jetzt keine Pa- hat dazu geführt, dass nicht nur das Leben, sondern auch tientenverfügung ausformulieren. – Er schreibt hinein – das Leiden verlängert werden kann. Deshalb stellt sich sinngemäß –: Wenn ihm etwas passiert, er bewusstlos ist für immer mehr Menschen die Frage: Wie kann ich mich und ihm eine Querschnittslähmung droht, dann möchte und meine Angehörigen darauf vorbereiten, und wie er auf gar keinen Fall weiter behandelt werden. Mittler- kann ich meinen Willen bzw. den meiner Angehörigen weile sind nach dieser Verfügung zehn Jahre vergangen, durchsetzen oder durchsetzen lassen, wenn ich selbst der junge Mann ist Familienvater geworden und hat sich bzw. meine Angehörigen dazu nicht mehr in der Lage mit dem Gedanken an seine Patientenverfügung nicht sind? Obwohl sich aus der bisherigen Rechtslage eine weiter beschäftigt; auch das soll vorkommen, auch das Verbindlichkeit von Patientenverfügungen ableiten lässt ist zutiefst menschlich. Er wird jetzt Opfer eines schwe- und obwohl wir eine gute Rechtsprechung haben, stellen ren Autounfalls, fällt in die Bewusstlosigkeit und kommt immer mehr Menschen fest, dass trotz Vorliegens einer ins Krankenhaus. eindeutigen Patientenverfügung diese oft unterschiedlich (B) interpretiert wird. Deswegen sehe ich genauso wie viele Die Patientenverfügung liegt auf dem Tisch. Was tun (D) meiner Kollegen – darin sind wir uns einig – gesetzgebe- wir nun? Wollen wir ernsthaft ihm und – das bitte ich rischen Handlungsbedarf. nicht zu vergessen – seinen Angehörigen sowie den Ärz- ten nun zumuten, die Geräte abzuschalten? Was wollen wir? Wir wollen in der Tat eine gesetzli- che Regelung der Patientenverfügung, um gerade (Joachim Stünker [SPD]: Das ist nicht die Rechts- und Verhaltensunsicherheiten in einer Situation Frage!) zu beseitigen, die an sich schon zu sensibel und zu Ich sage Nein. Für uns gilt immer noch die Unterschei- schwierig ist, um sie noch mit zusätzlichen Unsicherhei- dung – das haben wir auch im Entwurf klar niederge- ten zu belasten. Deshalb sieht der Bosbach-Entwurf, zu legt –: Lassen wir einen Sterbenden sterben, oder been- dem ich mich eindeutig bekenne, eine einfache äußerli- den wir das Leben eines noch Lebensfähigen, dessen che Form, die Schriftform, vor. Wir wollen keine nota- Gesundung nicht ausgeschlossen ist? Deswegen plä- rielle Beurkundung. Wir wollen keine Pflichtberatung diere ich für eine klare Reichweitenbeschränkung. im Vorfeld. Wir können diese nur empfehlen. Natürlich würde sie Sinn machen. Wir wollen sie aber nicht ge- Ich habe allergrößten Respekt, Herr Stünker und setzlich vorschreiben. Unser Petitum ist klar: möglichst auch Kollege Bosbach, vor dem Vorhaben, überhaupt niedrige Hürden für die Patientenverfügung. eine gesetzliche Regelung zu treffen; denn Sie haben sich hier – wie auch viele Kollegen – mit einem äußerst Wir wollen – wir haben darüber lange diskutiert und sensiblen Thema befasst, um das man sich gerne drü- waren uns nicht immer ganz einig – kein Verfallsdatum cken möchte. Ich plädiere wirklich dafür, dass wir uns für eine Patientenverfügung. Sie wird niedergelegt und intern schon darüber auseinandersetzen, was wir wol- gilt, solange sie nicht – in welcher Form auch immer – len und was nicht, was unsere Grundüberzeugungen widerrufen wurde. sind und was nicht, ohne dass jemand in die eine oder Wir wollen zudem eine in ihrer Reichweite be- andere Ecke gestellt wird. Ich persönlich kann Sie nur schränkte Patientenverfügung; dazu wurde schon vieles bitten, unseren Weg – wenn ich das so sagen darf – mit- gesagt. Es ist juristisch argumentiert worden. Aber man zugehen und damit für Selbstbestimmung und Lebens- muss hier auch zutiefst menschlich argumentieren. Ich schutz zu entscheiden. stelle die Frage, die mich bewegt – Herr Stünker, ich Vielen Dank. habe mich mit Ihrem Entwurf sehr intensiv auseinander- gesetzt und habe gut zugehört, weil ich mich noch im- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- mer überzeugen lasse; aber bisher hat Ihre Argumenta- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ tion nicht gegriffen –: Können wir immer mit absoluter DIE GRÜNEN) 9156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: auf die schon eingegangen worden ist. Diese Beschrän- (C) Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Rolf Stöckel, kung im Bosbach-Antrag ist ein Rückschritt hinter die SPD-Fraktion. bestehende Rechtsprechung. Ich meine, dass sie nicht nur praxisfern, sondern auch mit der aktuellen Recht- Rolf Stöckel (SPD): sprechung und den Verfassungsgrundsätzen unvereinbar Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die De- ist. Das würde nämlich Millionen von Patientenverfü- batte war gut – ich bin ja der vorletzte Redner und wage gungen, die schon existieren – das ist hier oft gesagt das insofern zu beurteilen –, sie war vor allen Dingen worden –, wertlos machen. wichtig – das haben viele Kollegen hier deutlich ge- Es muss uns doch zu denken geben, dass sich höchst macht –, und sie war von Respekt vor den jeweils ande- unterschiedliche Persönlichkeiten und Organisationen ren Auffassungen getragen. mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten und Wert- Ich glaube, dass wir gemeinsam Ja sagen zu einer vorstellungen in einem entscheidenden Punkt einig sind neuen Lebens- und Behandlungsqualität im Sterbepro- – die Bundesärztekammer hat es uns allen vorgestern zess, die im Palliativ- und Hospizbereich, aber ebenso noch einmal geschrieben –: keine Reichweitenbeschrän- im Pflegebereich auszubauen ist. Wir sagen aber Nein zu kung. Diese Ansicht vertreten in der Öffentlichkeit nam- einem Lebensverlängerungs- und Behandlungszwang, hafte Palliativmediziner, der Präsident der Bundesärzte- der rein gar nichts mit ärztlicher Fürsorge zu tun hat. kammer, der im aktuellen „Spiegel“ warnt – ich zitiere –: Weil das in den bisher 29 Reden nicht vorgekommen ist, „Die Reichweitenbeschränkung führt praktisch zu einer sage ich an dieser Stelle, dass eine Patientenverfügung Lebensverlängerung um jeden Preis. Das lehnt die Ärz- natürlich auch bewirken kann, dass alle medizinisch in- teschaft ganz klar ab.“ Die „Aktion Gemeinsinn“, deren dizierten und möglichen lebensverlängernden Maßnah- Schirmherr Bundespräsident Horst Köhler ist, warnt vor men eingefordert werden. Bestrebungen – ich zitiere –: (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Verpflichtung zur Befolgung des Patientenwil- NEN]: Die werden eh durchgeführt!) lens aufzuweichen, sie auf die Todesnähe zu be- schränken oder grundsätzlich die Prüfung durch ein Heute garantiert die moderne Medizin ein immer län- Vormundschaftsgericht vorzusehen. geres Leben und eine fast unbeschränkte Erhaltung kör- perlicher Funktionen – auch bei Krankheitszuständen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) welche die Betroffenen selbst für sich nicht mehr als ver- längerungswürdig empfinden. Da kann wohl niemand Das ist ein Zitat aus dem Aufruf „Die Würde des Men- mehr glaubwürdig darstellen, Leben und Sterben lägen schen ist unantastbar“. (B) (D) in „Gottes Hand“ oder entsprächen noch einem natürli- Ebenfalls gegen eine Reichweitenbeschränkung aus- chen Lauf der Dinge. gesprochen haben sich der Vormundschaftsgerichtstag, Ich empfinde es im Übrigen als großen Fortschritt, der Deutsche Juristentag 2006, namhafte Bundesrichter, dass viele engagierte Menschen berufs-, partei- und unter anderem Klaus Kutzer, und Organisationen, die weltanschauungsübergreifend mitgeholfen haben, dass Patienten, zum Beispiel auch Psychiatriebetroffene, ver- in dieser Debatte mittlerweile nicht mehr bedenkenlose treten oder sich für humanes Sterben in Würde einset- Euthanasiebefürworter oder paternalistische Kreuzritter zen. Aktuell waren es die Bundesärztekammer, die ich den Ton angeben, sondern engagierte Mediziner und Ju- zitiert habe, und ihre zentrale Ethikkommission. Ich risten überall in Deutschland, Mitarbeiterinnen und Mit- kann nur davor warnen, dass wir als Abgeordnete des arbeiter von ambulanten wie stationären Pflege- und Deutschen Bundestages uns so weit von der Lebenswelt Palliativteams sowie Patientenberatungs- und Hospiz- und der Erfahrungspraxis in unserem Land entfernen, diensten genauso wie Theologen und Medizinethiker. eine Reichweitenbeschränkung zu beschließen – ein Konstrukt, das übrigens in Ländern mit vergleichbaren Ich sage auch ganz klar, dass mir diese Entwicklung zu Regelungen unbekannt ist. einer bürgerschaftlichen und professionellen Praxis für ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Sterben noch wich- Ich bin zutiefst überzeugt: Wir brauchen einfache, tiger ist als eine Gesetzgebung, die oft dem Einzelfall gar rechtspolitisch klare und verantwortbare Regeln für die nicht gerecht werden kann. Die Gesetzgebung kann und Patientenverfügung, eine qualitative Verbesserung der muss meiner Meinung nach aber einen klarstellenden Palliativmedizin und der Hospizversorgung, aber keinen Rahmen im Betreuungsrecht für die Praxis vorgeben; Behandlungs- und Lebenszwang mit einer Reichweiten- denn sonst werden die Rufe nach einer Regelung für ak- beschränkung. Kranke und gesunde Menschen haben tive Sterbehilfe wie der niederländischen – das Beispiel sich innerhalb von Familien und zusammen mit ihren des Taxifahrers haben wir gerade gehört – nicht nur nicht Ärzten oder anderen kompetenten Beraterinnen und Be- verstummen, sondern lauter werden. Dann werden uns die ratern ernsthafte Gedanken gemacht. Das hat nichts mit Menschen fragen: Ist die Politik nicht in der Lage, einen überzogener Autonomie, sehr wohl aber mit Verantwor- wesentlichen Lebensbereich, nämlich den Sterbeprozess, tung und persönlichem Gewissen zu tun. Wir als Abge- rechtlich in einer Rahmenregelung niederzulegen? ordnete des Deutschen Bundestages sollten uns nicht an- maßen, in Details unsere eigenen Vorstellungen anderen Was ich wie viele Experten für verwirrend und nicht mündigen Bürgerinnen und Bürgern aufzuzwingen, umsetzbar halte, ist der Vorschlag im Entwurf des Kolle- gen Bosbach, nämlich die Reichweitenbeschränkung, (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9157

Rolf Stöckel (A) zumal an deren Eigenverantwortung sonst doch so gern mehr als 200 gängige Muster. Frau Ministerin Zypries (C) und oft in diesem Hause appelliert wird. hat zuvor geschildert, wie schwer sie sich selber getan hat, aus den vielen Bausteinen des Bundesjustizministe- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. riums eine Patientenverfügung auszuwählen. Der Arzt (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP kann häufig auch nicht feststellen, ob die Unterschrift und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) echt ist und ob der Unterzeichner bei der Unterschrift einwilligungsfähig war. Eine Patientenverfügung mit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: unbeschränkter Reichweite wäre so auch eine scharfe Waffe, die ein Mensch gegen sich selber oder die ein an- Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege derer gegen ihn richten könnte. Markus Grübel, CDU/CSU-Fraktion. (Zuruf von der SPD: Nein, eben nicht!) Markus Grübel (CDU/CSU): Wie ich bereits sagte, tut sich der Arzt schwer, die Urhe- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! berschaft der Patientenverfügung und die Einwilligungs- Als letzter Redner kann ich feststellen: Es ist gut, dass fähigkeit zur Zeit der Abfassung sicher zu klären. Meh- wir heute diese ausführliche Orientierungsdebatte ge- rere Untersuchungen zeigen uns auch, dass junge und führt haben. Wir haben jahrelang in verschiedenen Kom- dass gesunde Menschen eine andere Einstellung als missionen beraten. Es wäre gut, wenn wir nun eine Re- Kranke, Behinderte und Pflegebedürftige haben. Kranke gelung schaffen würden. Der heutige § 1904 BGB hat Menschen haben einen viel größeren Lebenswillen, als die schwierigsten Fragen eigentlich ausgeklammert. Er sie in gesunden Tagen meinen. Das können wir bei der regelt im Grunde die harmloseren Fragen. Wenn eine Bewertung des vorausverfügten Willens nicht unberück- ärztliche Untersuchung oder Heilbehandlung eingeleitet sichtigt lassen. Die Unterschiede bei aktuellem und vo- wird, die der Heilung dient und die mit Risiken verbun- rausverfügtem Willen haben Folgen für die Fragen der den ist, dann braucht man die vormundschaftsgerichtli- Reichweite und der Verbindlichkeit einer Patientenver- che Genehmigung. Aber die viel schwierigere Frage, fügung. was geschieht, wenn die Behandlung abgebrochen oder erst gar nicht aufgenommen wird, ist in § 1904 nicht ge- Die Diskussion in den vergangenen Monaten hat mir regelt. Diese Lücke hat der Gesetzgeber beim ersten Be- aber auch gezeigt: Viele Menschen haben Sorgen vor ei- treuungsrechtsänderungsgesetz durchaus gesehen, aber ner Übertherapie im Krankenhaus. Darum darf ich daran er hat sie offengelassen. Wenn der Bundestag bewusst erinnern, dass Voraussetzung für die Fragen der Patien- keine Regelung beschließt, dann kommen wir an die tenverfügung ist, dass der Arzt eine Behandlung über- Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. Dann muss haupt anbietet. Wo eine kurative, also heilende Behand- (B) der Bundestag handeln, und wir können uns nicht auf die lung nicht mehr angezeigt ist, darf sich die Frage nach (D) Rechtsprechung verlassen. einer Patientenverfügung überhaupt nicht mehr stellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) der FDP) Hier ändert sich das Therapieziel hin zur palliativen Ich halte die aktuelle Rechtsprechung in Teilen auch Versorgung. Dies wäre ein wichtiges Feld für die Aus- für widersprüchlich. Keiner von uns weiß, wie sich die und Fortbildung der Ärzte. Rechtsprechung in Zukunft entwickelt. Auch darum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) brauchen wir eine gesetzliche Regelung, die die Reich- weite, die Verbindlichkeit und das Verfahren regelt. Im Grenzfall kann eine Patientenverfügung aber eine Er- gänzung sein und dem Arzt die Entscheidung erleich- Heute haben alle Redner nur vom Zivilrecht gespro- tern. chen. Das Zivilrecht liefert die Rechtfertigung für die Behandlung oder Nichtbehandlung und schlägt so auch Ich habe schließlich die Sorge, dass die Gesellschaft auf das Strafrecht durch. Eine Änderung des Strafrechts Druck auf Patienten, insbesondere auf ältere Men- würde den Anschein erwecken, wir würden tragende schen, ausübt oder dass ältere, kranke und behinderte Grundsätze insbesondere beim Verbot des Tötens auf Menschen nur den Eindruck haben, sie fielen der Gesell- Verlangen aufweichen. Darum ist es gut, dass keiner das schaft oder ihrer Familie zur Last und könnten diese Last Strafrecht ändern will. durch eine weitreichende Patientenverfügung nehmen. Um welche Fragen geht es heute ganz besonders? Es Selbstbestimmung ist wichtig; wichtig ist aber auch geht entscheidend um die Frage, ob der aktuelle und der Schutz des Lebens. Beides sind gleichwertige Ver- der vorausverfügte Wille gleich sind. Das ist nach mei- fassungsgüter. Die Verfassung verlangt von uns einen ner Meinung nicht der Fall. Gefragt wäre ein ausführli- schonenden Ausgleich zwischen Selbstbestimmung und ches Gespräch zwischen Arzt und Patient. Im Fall der Pa- Lebensschutz. Dieser Ausgleich ist nach meiner Mei- tientenverfügung hat der Arzt ein Blatt Papier auf dem nung im Gruppenantrag, den der Kollege Bosbach vor- Tisch mit einer Unterschrift. Der Arzt kann nicht nach- gestellt hat, am besten gelungen. Dieser Antrag bildet fragen, der Patient kann seine Erklärungen nicht interpre- auch am ehesten die heutige Rechtsprechung ab. tieren, und er kann Missverständnisse nicht aufklären. Wer die Selbstbestimmung absolut setzt, landet aus Der Arzt weiß regelmäßig auch nicht, woher der Pa- meiner Sicht früher oder später bei der aktiven Sterbe- tient die Patientenverfügung hat. Es gibt in Deutschland hilfe, weil es hier keine denktechnische Grenze gibt. Die 9158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Markus Grübel (A) aktive Sterbehilfe ist im Grunde die Höchstform der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (C) Selbstbestimmung. Der aktiven Sterbehilfe hat hier kei- Entwicklung ner das Wort geredet, und das war gut so. Aber die Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Frage, die ich stellen möchte, ist: Wo ist die Grenze zwi- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- schen aktiver und passiver Sterbehilfe, und worin be- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz steht der Unterschied? Was die praktische Tätigkeit an- vor Gefährdung der Sicherheit der Bundesre- geht, gibt es keinen Unterschied; denn auch das Beenden publik Deutschland durch das Verbreiten von einer Maßnahme kann durchaus aktiv sein. hochwertigen Erdfernerkundungsdaten (Sa- (Michael Kauch [FDP]: Jetzt wird es aber ab- tellitendatensicherheitsgesetz – SatDSiG) surd!) – Drucksache 16/4763 – Die Antwort einer menschlichen Gesellschaft auf Überweisungsvorschlag: diese Fragen sind nicht Sterbehilfe, sondern Palliativme- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) dizin und Hospizarbeit. Ich bin froh, dass es uns bei der Innenausschuss Rechtsausschuss aktuellen Gesundheitsreform gelungen ist, hier deutliche Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Verbesserungen zu erreichen. Neben einer Klärung der rechtlichen Fragen sollte man darum auf dem Weg wei- d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- tergehen, die palliativmedizinische Versorgung und die gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes Hospizarbeit in Deutschland zu verbessern. Auch daran zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbe- müssen wir arbeiten. sondere in der mittelständischen Wirtschaft Herzlichen Dank. – Drucksache 16/4764 – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Innenausschuss Rechtsausschuss Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Wie zu Beginn der Debatte vereinbart, haben eine Verbraucherschutz ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen ihre Reden Ausschuss für Arbeit und Soziales zu Protokoll gegeben1). Insgesamt haben dies neun Ab- Ausschuss für Gesundheit geordnete – sie kommen aus allen Fraktionen – getan. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dieses Thema wird uns in diesem Haus in den nächs- Ausschuss für Bildung, Forschung und (B) ten Monaten noch mehrfach beschäftigen. Technikfolgenabschätzung (D) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tages- Ausschuss für Kultur und Medien ordnungspunkt. Haushaltsausschuss Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 p sowie e) Erste Beratung des von den Abgeordneten die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf: Heidrun Bluhm, Katrin Kunert, Dorothée Menzner, weiteren Abgeordneten und der Frak- 32 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten tion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Änderung des Eisenbahnkreu- Bundeswahlgesetzes zungsgesetzes – Drucksache 16/1036 – – Drucksache 16/4858 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO kommen vom 15. Dezember 2003 über Politi- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin schen Dialog und Zusammenarbeit zwischen Andreae, Peter Hettlich, Christine Scheel, weite- der Europäischen Gemeinschaft und ihren rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Mitgliedstaaten einerseits und der Republik NISSES 90/DIE GRÜNEN Costa Rica, der Republik El Salvador, der Re- publik Guatemala, der Republik Honduras, Zügig Grundsteuerreform auf den Weg brin- der Republik Nicaragua und der Republik Pa- gen nama andererseits – Drucksache 16/1147 – – Drucksache 16/4716 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 1) Anlage 2 Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9159

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) g) Beratung des Antrags der Abgeordneten fördern, die Asyl bzw. internationalen Schutz (C) Dr. Uschi Eid, Margareta Wolf (Frankfurt) und erhalten oder beantragt haben der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN – Drucksache 16/4772 – Überweisungsvorschlag: Reformpartnerschaften mit Afrika intensivie- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) ren – Afrika muss auf die Tagesordnung des Innenausschuss G-8-Gipfels in Deutschland 2007 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 16/2651 – l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Überweisungsvorschlag: Kopp, Birgit Homburger, Markus Löning, weite- Auswärtiger Ausschuss (f) rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Bürokratie abbauen – Zeitumstellung abschaf- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und fen und Sommerzeit permanent einführen Entwicklung – Drucksache 16/4773 – h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Das Internationale Polarjahr 2007/2008 und Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Konsequenzen für eine deutsche Beteiligung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 16/4454 – m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert Liebing, Marie-Luise Dött, Katherina Reiche Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und (), weiterer Abgeordneter und der Frak- Technikfolgenabschätzung (f) tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Christoph Pries, Marco Bülow, Dirk Becker, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, Alexander Ulrich, Monika Knoche, wei- Schutz der Wale sicherstellen terer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN – Drucksache 16/4843 – (B) Keine Unterstützung von Militäreinsätzen aus Überweisungsvorschlag: (D) dem Europäischen Entwicklungsfonds Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und – Drucksache 16/4490 – Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: n) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und gierung Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Nationaler Beschäftigungspolitischer Aktions- Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe plan der Bundesrepublik Deutschland 2004 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 15/5205 – j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Überweisungsvorschlag: Dr. , Cornelia Hirsch, Dr. Lukrezia Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der Frak- Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie tion der LINKEN Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Einrichtung des Europäischen Technologiein- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stituts verhindern Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Drucksache 16/4625 – Ausschuss für Tourismus Überweisungsvorschlag: o) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Ausschuss für Bildung, Forschung und gierung Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Dritter Versorgungsbericht der Bundesregie- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union rung k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte – Drucksache 15/5821 – Pothmer, Dr. Thea Dückert, Anja Hajduk, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) NISSES 90/DIE GRÜNEN Finanzausschuss Verteidigungsausschuss Mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds Mi- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend grantinnen und Migranten sowie Personen Haushaltsausschuss 9160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) p) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (C) gierung gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Akte vom 29. November Zweiter Erfahrungsbericht der Bundesregie- 2000 zur Revision des Übereinkommens über rung über die Durchführung des Stammzellge- die Erteilung europäischer Patente setzes (Zweiter Stammzellbericht) – Drucksache 16/4382 – – Drucksache 16/4050 – Überweisungsvorschlag: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Ausschuss für Gesundheit (f) schusses (6. Ausschuss) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 16/4877 – Technikfolgenabschätzung Berichterstattung: ZP 3a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Abgeordnete Dr. Günter Krings Hettlich, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Dirk Manzewski weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Sabine Leutheusser-Schnarrenberger BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Sevim Dağdelen Jerzy Montag Energieeinsparung zügig verabschieden – Ener- gieausweis als Bedarfsausweis einführen Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4877, den Ge- – Drucksache 16/4787 – setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4375 Überweisungsvorschlag: anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4877, den Ge- setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4382 Katastrophe in Simbabwe verhindern anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- – Drucksache 16/4859 – men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in (B) Überweisungsvorschlag: zweiter Beratung bei Gegenstimmen der Fraktion Die (D) Auswärtiger Ausschuss (f) Linke angenommen. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Dritte Beratung Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – fachten Verfahren ohne Debatte. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist damit mit der gleichen Mehrheit angenommen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Tagesordnungspunkt 33 c: überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/4773 zu Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkt 32 l soll abweichend von der Ta- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu gesordnung zur federführenden Beratung an den Innen- dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, ausschuss überwiesen werden. – Sind Sie damit einver- Christine Scheel, Dr. Gerhard Schick, weiterer standen? – Ich sehe: Das ist der Fall. Dann sind die Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Überweisungen so beschlossen. SES 90/DIE GRÜNEN Ich rufe dann die Tagesordnungspunkte 33 a, 33 c bis Für starke und handlungsfähige Kommunen 33 l sowie Zusatzpunkte 4 a bis 4 i auf. Es handelt sich dabei um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen – Drucksachen 16/371, 16/2501 – keine Aussprache vorgesehen ist. Berichterstattung: Wir kommen zunächst zum Tagesordnungspunkt 33 a: Abgeordnete Kerstin Andreae – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- eines Gesetzes zu der Akte vom 29. November lung auf Drucksache 16/2501, den Antrag der Fraktion 2000 zur Revision des Übereinkommens vom des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/371 5. Oktober 1973 über die Erteilung europäi- abzulehnen. – Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- scher Patente (Europäisches Patentüberein- lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- kommen) schlussempfehlung ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion der Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die – Drucksache 16/4375 – Linke angenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9161

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Tagesordnungspunkt 33 d: Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke (C) angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Tagesordnungspunkt 33 f: dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wissing, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag der FDP der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Mehrwertsteuersatz für apothekenpflichtige Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordne- Arzneimittel ter und der Fraktion der FDP – Drucksachen 16/3013, 16/3164 – Beleuchtete Dachwerbeträger auf Taxen zulas- sen Berichterstattung: – Drucksachen 16/3050, 16/4597 – Abgeordneter Manfred Kolbe Berichterstattung: Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Abgeordnete Heidi Wright lung auf Drucksache 16/3164, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3013 abzulehnen. Wer Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage- lung auf Drucksache 16/4597, den Antrag der Fraktion gen? – Enthaltungen? – Enthaltung auch bei den Grü- der FDP auf Drucksache 16/3050 abzulehnen. Wer nen? – Ich muss die Abstimmung wiederholen, weil das stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage- offensichtlich nicht eindeutig war. gen? – Stimmenthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/ Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer ist Die Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion der dagegen? – Enthaltungen? – Jetzt ist es eindeutig. Die FDP angenommen. Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Frak- tion der FDP sowie bei Enthaltung der Fraktion Die Tagesordnungspunkte 33 g bis l sowie Zusatzpunk- Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen te 4 a bis 4 i. Wir kommen damit zu den Beschlussemp- angenommen. fehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 33 e: Tagesordnungspunkt 33 g: (B) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (D) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ausschusses (2. Ausschuss) richts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag Sammelübersicht 195 zu Petitionen der Abgeordneten Winfried Nachtwei, , Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und – Drucksache 16/4751 – der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Stimm- NEN enthaltungen? – Die Sammelübersicht 195 ist mit den Waffen unter Kontrolle – Für eine umfassende Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Begrenzung und Kontrolle des Handels mit Tagesordnungspunkt 33 h: Kleinwaffen und Munition Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksachen 16/1967, 16/3875 – ausschusses (2. Ausschuss) Berichterstattung: Sammelübersicht 196 zu Petitionen Abgeordnete Carl-Eduard von Bismarck Christoph Strässer – Drucksache 16/4752 – Burkhardt Müller-Sönksen Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Stimment- haltungen? – Auch die Sammelübersicht 196 ist mit den Volker Beck (Köln) Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Tagesordnungspunkt 33 i: lung auf Drucksache 16/3875, den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1967 Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- ausschusses (2. Ausschuss) lung? – Sammelübersicht 197 zu Petitionen (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: – Drucksache 16/4753 – Unglaublich! – Typisch!) Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Stimment- Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- haltungen? – Die Sammelübersicht 197 ist bei Gegen- fehlung ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion des stimmen der Fraktion der FDP angenommen. 9162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Tagesordnungspunkt 33 j: Zusatzpunkt 4 c: (C) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 203 zu Petitionen Sammelübersicht 198 zu Petitionen – Drucksache 16/4868 – – Drucksache 16/4754 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Stimment- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Stimment- haltungen? – Die Sammelübersicht 203 ist damit bei haltungen? – Die Sammelübersicht 198 ist bei Gegen- Stimmenthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke ange- angenommen. nommen. Zusatzpunkt 4 d: Tagesordnungspunkt 33 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 204 zu Petitionen Sammelübersicht 199 zu Petitionen – Drucksache 16/4869 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Stimm- – Drucksache 16/4755 – enthaltungen? – Die Sammelübersicht 204 ist damit mit Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Stimment- den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. haltungen? – Die Sammelübersicht 199 ist bei Gegen- Zusatzpunkt 4 e: stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 33 l: Sammelübersicht 205 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 16/4870 – ausschusses (2. Ausschuss) Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Stimmenthaltun- (B) Sammelübersicht 200 zu Petitionen gen? – Die Sammelübersicht 205 ist damit bei Gegen- (D) stimmen der Fraktion der FDP angenommen. – Drucksache 16/4756 – Zusatzpunkt 4 f: Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Stimment- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- haltungen? – Die Sammelübersicht 200 ist mit den Stim- ausschusses (2. Ausschuss) men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Sammelübersicht 206 zu Petitionen Zusatzpunkt 4 a: – Drucksache 16/4871 – Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Stimmenthaltun- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- gen? – Die Sammelübersicht 206 ist damit bei Gegen- ausschusses (2. Ausschuss) stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Sammelübersicht 201 zu Petitionen Zusatzpunkt 4 g: – Drucksache 16/4866 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Stimm- enthaltungen? – Die Sammelübersicht 201 ist damit mit Sammelübersicht 207 zu Petitionen den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. – Drucksache 16/4872 – Zusatzpunkt 4 b: Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 207 ist damit bei Gegen- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des ausschusses (2. Ausschuss) Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Sammelübersicht 202 zu Petitionen Zusatzpunkt 4 h: – Drucksache 16/4867 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Stimm- Sammelübersicht 208 zu Petitionen enthaltungen? – Auch die Sammelübersicht 202 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. – Drucksache 16/4873 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9163

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Wer ist dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- genen gefordert. Ich denke, das stößt hier auf Zustim- (C) gen? – Die Sammelübersicht 208 ist bei Gegenstimmen mung im ganzen Hause. der Fraktion der FDP und der Fraktion des Bündnis- ses 90/Die Grünen angenommen. (Beifall im ganzen Hause) Menschenrechtsverletzungen, politisch motivierte Zusatzpunkt 4 i: Gewalt und Missachtung von Recht und Gesetz sind in Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Simbabwe leider an der Tagesordnung. Die Rechtsstaat- ausschusses (2. Ausschuss) lichkeit ist erheblich eingeschränkt, insbesondere durch selektive Anwendung geltenden Rechts, Nichtbeachtung Sammelübersicht 209 zu Petitionen von Gerichtsurteilen und Eingriffe in die richterliche – Drucksache 16/4874 – Unabhängigkeit. Vor allem repressive Gesetzesvorhaben wie unter anderem das Gesetz zur öffentlichen Sicher- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- heit und Ordnung, das Wahlrechtsänderungsgesetz, das gen? – Die Sammelübersicht 209 ist damit mit den Stim- neue Pressegesetz und das Gesetz über die Arbeit von men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Nichtregierungsorganisationen führen seit Anfang 2002 Oppositionsfraktionen angenommen. zu immer neuen schweren Rückschlägen für Rechts- staatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte. Diese re- Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf: pressiven Gesetze dienen dem Regime vor allem zur An- Aktuelle Stunde wendung gegen regimekritische Kräfte in Politik, auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und Gewerkschaften, Medien und Zivilgesellschaft. der SPD In der Regierungsführung von Präsident Mugabe ver- Die aktuelle Lage der Menschenrechte in Sim- einigt sich zudem politische Repression zur Erhaltung babwe der Macht mit der absoluten Unfähigkeit, die wirtschaft- liche Misere des Landes in den Griff zu bekommen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Vielmehr verstärken sich beide Aspekte mit fatalen Fol- Kollegen Christoph Strässer für die SPD-Fraktion. gen für die Menschen. Aufgrund von Zwangsräumungen (Beifall bei der SPD) im Rahmen der Operation „Murambatsvina“ – übersetzt: Abfallbeseitigung – verloren nach Angaben der Verein- ten Nationen circa 700 000 Menschen ihr Zuhause; Christoph Strässer (SPD): 2 Millionen Menschen waren von den Folgen indirekt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! betroffen. Auch die sich daraufhin ergebende Operation Es ist natürlich nicht ganz einfach, nach der vorangegan- „Garikai“, die angeblich dazu diente, den obdachlos ge- (B) genen Debatte über die grundlegenden Werte unserer wordenen Menschen ein neues Zuhause zu verschaffen, (D) Gesellschaft in eine bittere Realität auf dieser Welt ein- kam in den meisten Fällen Parteigängern des Präsidenten zutauchen. Es ist aber aller Ehren wert und richtig, dass Mugabe zugute. Auch damit ist dieses Land auf dem sich der Deutsche Bundestag heute auch mit der sehr Weg in eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung dramatischen, schlimmen Menschenrechtssituation in weiter zurückgefallen. Simbabwe beschäftigt. Die Menschen dort haben es ver- dient, dass wir uns mit ihnen solidarisieren und ihnen im 80 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos. Die Infla- Kampf ums Überleben in diesem Land Unterstützung tion – man mag es kaum glauben; ich greife einen mittle- geben. ren Wert heraus, weil die Zahlen variieren – ist mit 1 700 Prozent die höchste weltweit. Jeder Zweite hat (Beifall im ganzen Hause) nicht genug zu essen. Die medizinische Versorgung ist vielerorts zusammengebrochen. Ein Drittel der Bevölke- Das Land – wir wissen es – droht im Chaos zu versin- rung ist mit dem HI-Virus infiziert. Mehr als 900 000 ken. Präsident Mugabe, vor fast 30 Jahren – damals, wie Kinder haben mindestens ein Elternteil durch Aids ver- ich finde, zu Recht – als Befreier und Reformer der frü- loren. Die Lebenserwartung in Simbabwe liegt für heren britischen Kolonie Rhodesien gefeiert, richtet sein Frauen bei 34 Jahren und für Männer bei 37 Jahren. Das Handeln vollständig und mittlerweile auch gegen Wider- ist die geringste Lebenserwartung weltweit. stände in seiner eigenen Partei, ZANU-PF, ausschließ- lich auf ein Ziel aus: den Machterhalt auch über 2008 Dieses wirtschaftliche, soziale und humanitäre Desas- hinaus, koste es, was es wolle. ter in Simbabwe schmerzt umso mehr, als Simbabwe nach Erkämpfung seiner Unabhängigkeit wie nur wenige Das zeigte zuletzt wieder die Inhaftierung, Folterung andere Staaten in Afrika aufgrund seiner Ressourcen ei- und brutale Misshandlung von Angehörigen der Opposi- gentlich den Weg in eine gute Zukunft hätte einschlagen tion, insbesondere der Repräsentanten der unterschiedli- können. All das, was nun passiert ist, ist auf die autori- chen Gruppen der MDC, des Movement for Democratic täre und diktatorische Herrschaft von Präsident Mugabe Change, wie Morgan Tsvangirai oder Arthur Mutambara. zurückzuführen. Das sollten wir in den zukünftigen Ver- Gestern Nachmittag hat uns die Nachricht erreicht, dass handlungen im Menschenrechtsrat, in dem die Bundes- Tsvangirai und weitere Oppositionelle erneut verhaftet republik für die westlichen Staaten eine führende Rolle worden sind. Der Menschenrechtsausschuss des Deut- innehat, aber auch im Rahmen des Internationalen Straf- schen Bundestages hat auf seiner gestrigen Sitzung kon- gerichtshofes ganz deutlich zur Sprache bringen. sequent, wie ich finde, und mit den Stimmen aller Frak- tionen in einer Erklärung die sofortige Freilassung und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Garantien für die körperliche Unversehrtheit der Gefan- GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) 9164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Christoph Strässer (A) Die EU hat die Sanktionen gegen Simbabwe wegen afrikanischer Staatspräsident residiert in einem so gro- (C) massiver Verletzung wesentlicher Elemente erweitert. ßen und prächtigen Palast wie Mugabe. Gleichzeitig ist Das ist richtig. Aber ich denke – damit will ich schließen –, aber die Lebenserwartung in Simbabwe in nur zehn Jah- der Schlüssel für die Lösung der Probleme liegt in der ren von 55 auf knapp über 35 Jahre zurückgegangen. Ich Tat im südlichen Afrika. Ich finde es bemerkenswert und glaube, plastischer als mit der Gegenüberstellung dieser unterstützenswert, dass sowohl der südafrikanische Prä- beiden Entwicklungen kann man die Widersinnigkeit, sident Mbeki als auch insbesondere der zukünftige Präsi- wenn nicht sogar die Perversion dieses Regimes von dent Sambias klar erkannt haben, dass die Spirale des Mugabe kaum illustrieren und schildern. Schweigens durchbrochen werden muss. Die Verhält- (Beifall bei der FDP) nisse werden sich nicht allein von innen reformieren las- sen. Es ist allerdings unverkennbar, dass in jüngerer Zeit die Machtbasis von Mugabe bröckelt, auch in der eige- Ich hoffe und wünsche, dass die Europäer gemeinsam nen Partei. Deshalb ist Europa jetzt und in den kommen- mit der Weltgemeinschaft, also auch mit den Staaten in den Monaten gefragt, darauf eine Antwort zu finden. Ich der südlichen Region Afrikas, dafür sorgen, dass die finde es gut und richtig, dass die heutige Aktuelle Stunde Menschen in Simbabwe eine lebenswerte Zukunft ha- auf die jüngsten Entwicklungen in Simbabwe eingeht; ben, die dem entspricht, was sie sich von ihrem Leben denn sie gehen über das hinaus, was wir seit vielen Jah- erträumen. ren aus diesem Land erfahren müssen. Danke schön. Es hat mich gefreut, dass die deutsche Ratspräsident- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem schaft umgehend und entschlossen auf die Verhaftung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von Tsvangirai Mitte März reagiert hat. Das darf aber kein Ausreißer bleiben. Vielmehr muss Europa jetzt eine Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Strategie entwickeln, wie es mit der sich verändernden Situation in Simbabwe umgeht. Denn freiwillig – das Nächster Redner ist der Kollege Florian Toncar für können wir dieser Tage erkennen – wird Robert Mugabe die FDP-Fraktion. das Feld nicht räumen. (Beifall bei der FDP) Deshalb muss nun die portugiesische Regierung, die ab Juli dieses Jahres die Ratspräsidentschaft der EU über- Florian Toncar (FDP): nimmt, ganz eng eingebunden werden; denn sie muss das, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und was Europa jetzt entwickelt, später fortsetzen. Das Re- Herren! Kollege Strässer hat es schon angesprochen: Die gime Mugabe muss – und kann – weiter international iso- (B) (D) derzeitige Lage in Simbabwe ist ausgesprochen ernst. liert werden. Gerade die afrikanischen Nachbarstaaten Dass der dortige Machthaber Robert Mugabe ein fürch- Simbabwes sind an dieser Stelle gefragt. Der Regierung- terliches und rücksichtsloses Regiment führt, ist schon schef von Sambia hat bereits harsche, deutliche Worte zur seit langem bekannt. Wir haben seit fast 20 Jahren etwa Situation in Simbabwe gefunden und sie mit der Situation die Diskriminierung, die Verfolgung und die Vertreibung auf der „Titanic“ kurz vor ihrem Untergang verglichen. von weißen Farmern auf dem Land. Wir stellen fest, dass Derartige Worte und einen stärkeren Druck würde ich mir Simbabwe eines der Länder ist, wo es am wenigsten An- in Zukunft auch von Südafrikas Präsidenten Thabo Mbeki sätze einer freien Presse gibt. Wir stellen außerdem fest, wünschen. dass Andersdenkende jeder Richtung verfolgt und ver- haftet werden oder dass sie schlicht und ergreifend spur- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei los verschwinden. Das alles ist leider seit längerem be- Abgeordneten der SPD und der LINKEN) kannt. Doch auch die Europäische Union kann selbstver- Doch aktuell hat sich die Lage in Simbabwe drama- ständlich mehr tun, damit es in Simbabwe zu einer guten tisch zugespitzt. Äußerlich ist das an der Festnahme und Entwicklung kommt. Es gibt bereits Reisebeschränkun- Misshandlung des Oppositionsführers Tsvangirai Mitte gen gegen zahlreiche Angehörige der Regierung. Doch des Monats erkennbar. Gestern haben wir zur Kenntnis es gibt weiterhin prominente und wichtige Teile des Ap- nehmen müssen, dass Herr Tsvangirai und weitere Op- parats, die von diesen Reisebeschränkungen nicht be- positionelle in Simbabwe erneut festgenommen worden troffen sind. Ich möchte stellvertretend nur den Zentral- sind. Wir verurteilen dies und verlangen, dass Herr bankchef Gideon Gono nennen. Er ist einer derjenigen, Tsvangirai und die anderen Oppositionspolitiker sofort die bisher noch nicht unter die Reisebeschränkungen fal- freigelassen werden. len. Ich glaube, die EU sollte schnellstens darüber disku- tieren, ob man die Reisebeschränkungen nicht auch auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie ihn und andere ausweiten kann. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Nicht zuletzt gibt es eine Initiative Großbritanniens, Australiens und Neuseelands. Diese Länder verlangen, Die jüngste Zuspitzung der Lage hat jedoch tiefere dass man Mugabe sowie seine Regierungsmitglieder und Ursachen. Es wird immer mehr erkennbar, dass sich engsten Helfer vor den Internationalen Strafgerichtshof Robert Mugabe und die Seinen die Taschen vollgestopft in Den Haag bringt. Auch Kollege Strässer hat gefordert, haben, während die Bevölkerung in einer verzweifelten dass man den Komplex Simbabwe vor dem Internationa- und immer schlimmer werdenden Lage verharrt. Kein len Strafgerichtshof zur Sprache bringt – was auch im- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9165

Florian Toncar (A) mer das bedeutet. Ich würde mir wünschen, dass die sagen muss: Die selbstverständlichsten Rahmenbedin- (C) Bundesregierung sich der Forderung Großbritanniens, gungen für das Überleben der Menschen sind dort nicht Australiens und Neuseelands anschließt. Mugabe muss mehr gewährleistet. sich meines Erachtens in Den Haag verantworten. Nicht zuletzt für solche Fälle ist dieses Gericht eingerichtet Deshalb halte ich es für dringend erforderlich, dass worden. wir von Europa und anderen Teilen der Welt aus alle Möglichkeiten, diesen Verfall, diesen freien Fall des (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Staats Simbabwe aufzuhalten, nutzen. Kastner) Alles hat, so glaube ich, mit einer Fehleinschätzung Doch neben allem Druck auf das Umfeld Mugabes Robert Mugabes begonnen. Weil Robert Mugabe kein muss natürlich auch für diejenigen eine Perspektive ent- Mann Moskaus war, hat der Westen in der Zeit der wickelt werden, die dieses Land hoffentlich bald nach Blockkonfrontation, des Kalten Krieges, gedacht, er ihm regieren. Simbabwe könnte ein Land sein, in dem könnte vielleicht ein Verbündeter sein. Wir hätten aber die Menschen sehr auskömmlich leben können. Die geo- schon sehr früh feststellen können, um wen es sich bei grafischen und klimatischen Voraussetzungen dafür sind dieser Person wirklich handelt. Um seinen politischen vorhanden. Aber die Menschen werden, sollten sie sich Gegner Joshua Nkomo auszuschalten, hat er sich näm- Mugabes entledigen, auf unsere Hilfe im medizinischen lich bereits in den frühen 80er-Jahren der sogenannten Bereich ebenso wie bei der Lebensmittelversorgung und Fünften Brigade bedient – das ist eine Armeeeinheit, die der Infrastruktur angewiesen sein. Darauf müssen wir von nordkoreanischen Offizieren geführt wurde – und uns vorbereiten – und dies schon heute. im Matabeleland ein Massaker angerichtet, dem eine Die Bundesregierung muss daher Simbabwe über die fünfstellige Anzahl von Menschen zum Opfer gefallen Ratspräsidentschaft und die aktuellen Ereignisse hinaus ist. Dieser Mann erfüllt die Kriterien für einen Massen- auf der Agenda behalten. Ich glaube, dass in Simbabwe mörder. Aus diesem Grunde müssen wir alles unterneh- eine Zeit angebrochen ist, in der sich entscheiden wird, men, um ihn daran zu hindern, sein Land weiter zu zer- ob sich die Dinge zum Besseren wenden, ob sich das stören. Volk von Simbabwe dieses unsäglichen Tyrannen entle- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- digen kann oder nicht. In dieser für Simbabwe kriti- neten der SPD und der FDP) schen, aber wichtigen Zeit sollte Europa abseits von den aktuellen Anlässen, die zu verurteilen sind, eine gemein- In Simbabwe wurde eine sogenannte Landreform same Strategie entwickeln, wie man diejenigen stärken durchgeführt. Niemand in diesem Saal wird bestreiten, kann, die sich für Simbabwe eine andere Lage als die ge- dass es notwendig war, in Simbabwe eine Landreform (B) genwärtige katastrophale vorstellen können. durchzuführen; nicht nötig war aber diese Landreform, (D) die die Vertreibung von nahezu 90 Prozent der Farmer Vielen Dank. und eine Reduzierung der Leistungsfähigkeit der Land- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie wirtschaft auf etwa 30 Prozent des ehemaligen Niveaus bei Abgeordneten der SPD) zur Folge hatte. Das Land Simbabwe, das die umliegen- den Länder früher mit Landwirtschaftsprodukten ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sorgt und Landwirtschaftsprodukte exportiert hat, muss Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz, CDU/CSU- jetzt selbst durch das World Food Programme ernährt Fraktion. werden. Dieser Zustand ist indiskutabel. Ich glaube, auch darüber sollten wir reden. Arnold Vaatz (CDU/CSU): Im Bereich der Entwicklungshilfe ist grundsätzlich Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und die Frage zu stellen, ob es richtig ist, dass wir einem Herren! Wer das Land Simbabwe kennt, weiß: Es ist ei- Land erst mit über 1,3 Milliarden helfen, Entwick- nes der schönsten, interessantesten und liebenswertesten lungsnachteile aufzuholen, und dann nach sieben Jahren Länder Afrikas. tatenlos zuschauen müssen, wie all das, was mit unserer Hilfe dort entstanden ist, nach und nach zerstört wird, (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Jawohl, und zwar irreversibel. Die Bauern, die das Land verlas- sehr richtig!) sen haben, leben jetzt in Mosambik und haben dort neu Wer sich eine Perspektive für Afrika vorstellt und die In- angefangen. Fragt man sie: „Würdet ihr denn zurückge- frastruktur von Simbabwe sieht, kommt sofort zu der hen, wenn sich die Rahmenbedingungen in Simbabwe Aussage: „So müsste es eigentlich auch in anderen Län- ändern?“, dann lautet die Antwort: Nein, wir können in dern Afrikas aussehen“; so gut ist beispielsweise die In- unserem Leben nicht mehrmals bei null anfangen. – Das frastruktur in diesem Land. heißt: Insbesondere der Zerfall der Landwirtschaft ist in Simbabwe bis auf Weiteres irreversibel. Das ist die Re- Nun findet dort seit sieben Jahren ein Prozess des ste- alität. tigen Verfalls statt, wie man ihn sich eigentlich kaum vorstellen kann. Simbabwe unterscheidet sich von ande- Ich glaube, diese Angelegenheit ist ein afrikanisches ren afrikanischen Ländern dadurch, dass es auf einem Problem, und wir müssen stärker darauf drängen – ich hohen Niveau begonnen hat und Jahr für Jahr und Stück kann nur dazu aufrufen –, dass die anderen Länder Afri- für Stück in eine desolate Lage verfallen ist und schließ- kas, die SADC-Länder, ihre Verantwortung für Sim- lich jetzt an einem Punkt angekommen ist, an dem man babwe erkennen und Simbabwe stärker drängen, diesen 9166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Arnold Vaatz (A) Weg aufzugeben. Ich bin nicht der Meinung, dass wir den korrupten Präsidenten Conté, einen Teil seiner abso- (C) mit dem, was Thabo Mbeki in diesem Zusammenhang luten Herrschaft abzugeben. Das ist eine Botschaft an bisher geleistet hat, zufrieden sein können. alle Regierungen dieser Erde. Es muss ein Recht auf po- litischen Streik geben, damit sich das Volk wehren kann. (Beifall des Abg. Florian Toncar [FDP]) Erzbischof Pius Ncube aus Simbabwe hat diese Wo- Er ist einer der wichtigsten Verteidiger von Robert che gesagt: Mugabe. Ich bin bereit, mich an die Spitze einer gewaltlosen (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Massendemonstration zu setzen, denn dieser Dikta- NEN]: Vorsichtig ausgedrückt!) tor muss verschwinden … Es ist nicht zu viel, wenn wir von diesem Land, das dem- Dieser Meinung bin auch ich. nächst die Fußballweltmeisterschaft ausrichten wird, verlangen, wenigstens die aktive Unterstützung des Dik- Die Entschlossenheit der Opposition ist bewunderns- tators von Simbabwe einzustellen. Genau das sollten wir wert. Nicht so bewundernswert sind die Reaktionen verlangen. Ich hoffe, unser Drängen führt letzten Endes mancher Nachbarstaaten. Die südafrikanische Staatenge- dazu. meinschaft SADC hat aus meiner Sicht versagt. Die ANC-Regierung in Südafrika äußert bislang keine of- Ich bedanke mich. fene Kritik an Mugabe. Angolas Innenminister Ramos (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Monteiro hat der simbabwischen Regierung die Entsen- neten der SPD und des Abg. Florian Toncar dung von rund 2 500 Sondereinsatzkräften zugesagt. Sie [FDP] und der Abg. Kerstin Müller [Köln] sollen zwei Tage vor dem bevorstehenden Streik zur [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Verfügung stehen. Das ist ein skandalöser Vorgang. Ich erwarte von der Bundesregierung ein deutliches Wort Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Kritik an Angolas Regierung. Das Wort hat der Kollege Hüseyin-Kenan Aydin, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Fraktion Die Linke. neten der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Internationale Solidarität erfährt das simbabwische Volk von anderer Seite. Bischof Tutu hat das Still- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): schweigen der Regierung in Pretoria verurteilt. Der süd- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit bru- afrikanische Gewerkschaftsdachverband Cosatu hat an- gekündigt, am Tag des Streiks in Simbabwe einen (B) taler Gewalt versucht das Regime in Simbabwe, die (D) Kontrolle über das Land zu behalten. Die andauernden Solidaritätsmarsch in Johannisburg zu organisieren. Die Übergriffe gegen die Opposition sind nur die Spitze des Solidarität im südlichen Afrika kommt von unten, von Eisbergs. Bereits im September 2006 wurden 15 Ge- den Gewerkschaften, von den Aktivisten und Aktivistin- werkschafter in der Haft so schwer misshandelt, dass sie nen. in Krankenhäuser eingeliefert werden mussten. Vor zwei Wir, die Abgeordneten von der Linksfraktion, unter- Wochen stürmte die Polizei die Gewerkschaftszentrale stützen sie dabei. Lassen Sie mich das hervorheben. Als in Harare. Sie beschlagnahmten Plakate und Flugblätter, Gewerkschafter wünsche ich den Kollegen und Kolle- die zum Streik am 3. und 4. April aufrufen. ginnen vom Gewerkschaftsdachverband Simbabwes für Das Regime hat Angst vor der Wut in der Bevölke- den Streik am 3. und 4. April viel Erfolg. Wir, Die rung. Im Armenviertel Highfield in Harare vergeht kaum Linke, unterstützen die Forderungen nach einer neuen ein Tag ohne Proteste gegen die Lebensmittelknappheit. Verfassung und nach fairen Neuwahlen in Simbabwe. Es herrscht eine Inflation, die an Weimarer Zeiten erin- Das polizeiliche Versammlungsverbot muss ganz aufge- nert. Vorgestern wurden über Nacht die Preise für die hoben werden. Benutzung wichtiger Zugverbindungen verdoppelt. Das Das alles wird mit Mugabe nicht zu machen sein. heißt, Arme sind nicht mehr mobil. Doch der Wechsel darf nicht auf eine Palastrevolte be- Deshalb kämpfen die Gewerkschaften in Simbabwe schränkt bleiben. Dass führende Politiker der ehemali- für einen an die Inflation gekoppelten Mindestlohn. Das gen Kolonialmacht Großbritannien erkennen lassen, mögen die Unternehmer nicht, weder in Simbabwe noch dass sie sich gegebenenfalls auch mit dem Austausch ei- in Deutschland. Das mag auch Mugabe nicht. Je schwä- niger Köpfe zufriedengeben würden, ist zynisch. In Sim- cher seine Position wird, desto mehr spitzt das Regime babwe geht es nicht um die Interessen Blairs oder Euro- die Situation zu. Der Innenminister hat in dieser Woche pas, sondern es geht um die Interessen des der Polizei einen Freibrief für den Einsatz scharfer Mu- simbabwischen Volkes. nition erteilt. Doch alle Waffengewalt wird Mugabe (Beifall bei der LINKEN) nichts nützen, wenn die Opposition endlich ihre Spal- tung überwindet. Der Streik am 3. und 4. April, den die Wir, Die Linke, sind an der Seite derer, die für die Gewerkschaften organisieren, kann auch zum Mobilisie- Rechte der Menschen kämpfen. rungspunkt für die Masse der Arbeitlosen werden. Eine letzte kurze Anmerkung. Auch wir, die Fraktion So wie in Guinea. Dort zwang ein von den Gewerk- Die Linke, haben gestern dem interfraktionellen Antrag schaften organisierter Generalstreik vor einem Monat im Ausschuss für Menschenrechte zugestimmt. Aber Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9167

Hüseyin-Kenan Aydin (A) langsam müssen Sie damit aufhören, Die Linke immer Schärfste verurteilt. Die verletzten Oppositionellen (C) wieder auszugrenzen. Auch das ist nicht demokratisch. konnten inzwischen nach Südafrika ausfliegen, und die meisten der am 11. März verhafteten Oppositionellen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sind wieder auf freiem Fuß. Das Versammlungs- und Ich hoffe, Sie werden Ihr kindisches Verhalten irgend- Demonstrationsverbot ist inzwischen bis auf einige Teile wann ablegen. in Harare aufgehoben worden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Wie schon erwähnt wurde, gab es gestern erneut des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Übergriffe gegen die Opposition. Das Hauptquartier des MDC, des Movement for Democratic Change, das Har- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vest House, wurde von der Polizei umstellt, und Morgan Nächster Redner ist der Staatsminister Gernot Erler. Tsvangirai sowie 20 seiner Mitstreiter wurden verhaftet. Ich kann Ihnen aber die positive Botschaft übermitteln, Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: dass Herr Tsvangirai und die meisten seiner Mitstreiter Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! inzwischen wieder freigelassen worden sind. Allerdings Die Ereignisse der letzten Wochen haben in dramati- war das natürlich ein weiterer Versuch der Einschüchte- scher Weise unterstrichen, dass die seit langem schwe- rung der Opposition. lende Krise in Simbabwe eskaliert. Die brutale Behand- All das findet vor dem Hintergrund einer dramati- lung friedlicher Demonstranten und oppositioneller schen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Sim- Politiker, aber auch die Drohungen gegenüber westli- babwe statt. Die dortige Wirtschaft verzeichnet fast jedes chen Botschaftern zeigen ein Regime, das die Maske der Jahr ein Negativwachstum in der Größenordnung von Rechtsstaatlichkeit endgültig fallengelassen hat. etwa 5 Prozent. Seit 1998 ist das Bruttosozialprodukt um Präsident Mugabe kämpft mit allen Mitteln um den ein Drittel gesunken. Erhalt seiner Macht. Zugleich wendet sich die Stimmung in Simbabwe angesichts der desolaten Wirtschaftslage Auf die dramatische Inflationsrate hat der Kollege und der zunehmenden Repressionen immer offener ge- Strässer bereits hingewiesen. Das Haushaltsdefizit liegt gen ihn, nicht nur in der Bevölkerung allgemein, sondern im Moment bei 24 Prozent. Es gibt eine Krise der Land- auch in seiner Partei, der ZANU-PF. Wir schauen mit In- wirtschaft. Die Maisproduktion ist seit 1996 um teresse auf die morgigen Beratungen im Zentralkomitee 40 Prozent zurückgegangen. Der Kollege Vaatz hat da- der ZANU-PF, die auch darüber entscheiden wird, ob es rauf aufmerksam gemacht, dass inzwischen 4 Millionen Mugabe gelingen wird, seine Macht im Jahr 2008 zu be- Menschen, das heißt ein Drittel der Bevölkerung, von (B) halten. Nahrungsmittelhilfen des Welternährungsprogramms (D) abhängig sind. 80 Prozent der Bevölkerung haben – das Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat in den ver- entspricht unseren Armutskriterien – weniger als gangenen Wochen zu den Ereignissen in Simbabwe ein- 2 Dollar pro Tag zur Verfügung, 50 Prozent sogar weni- deutig Stellung bezogen. In zwei Erklärungen, vom ger als 1 Dollar. 35 Prozent der Bevölkerung gelten als 12. März und vom 14. März dieses Jahres, haben wir die unterernährt. Kriminalisierung der friedlichen Gebetsversammlung, des Prayers Meeting, in Harare am 11. März verurteilt Hinzu kommt eine erhebliche und ernsthafte Aids- und die Freilassung der Verhafteten sowie die Gewäh- durchseuchung: In der Altersgruppe der 25- bis 45-Jähri- rung rechtlichen und medizinischen Beistands gefordert. gen sind davon etwa 25 Prozent betroffen. Rund 1,2 Mil- Die Deutsche Botschaft in Harare hat am 13. März 2007 lionen der 1,6 Millionen Waisenkinder, die es in diesem im Namen aller EU-Partner in einer Note die simbabwi- Land gibt, haben ihre Eltern aufgrund einer Aidserkran- sche Regierung nachdrücklich zur Einhaltung rechts- kung verloren. staatlicher Prinzipien aufgefordert. Inzwischen hat das zu einem Flüchtlings- und Emi- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie grantenstrom von mehr als 3,5 Millionen Simbabwern bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- geführt. Man sieht, das ist nicht mehr nur ein Problem NISSES 90/DIE GRÜNEN) Simbabwes, sondern das ist zu einem Problem der gan- Die EU-Botschafter vor Ort haben in enger Abstimmung zen Region geworden. untereinander gegenüber der Regierung zum Ausdruck Präsident Mugabe entwickelt in dieser Situation zu- gebracht, dass sie jederzeit bereit sind, sich persönlich nehmend eine Bunkermentalität. Doch seit den Ereignis- um die von der Regierung Verhafteten und Verletzten zu sen vom 11. März rückt das Ende seines Regimes nach kümmern; das haben sie auch getan. unserer Analyse zusehends näher. In der EU hat deswe- Am Wochenende des 17./18. März dieses Jahres kam gen neben der Diskussion über die aktuellen Entwick- es erneut zu Festnahmen mit Misshandlungen von Oppo- lungen ein Nachdenken über mögliche Szenarien von sitionellen. Zwei bei den Übergriffen am 11. März Veränderungen in Simbabwe begonnen. Wir haben für schwerverletzte weibliche Oppositionelle wurden zudem den 4. April eine Sondersitzung der auch für Simbabwe durch Passentzug an der Ausreise nach Südafrika gehin- zuständigen Afrika-Arbeitsgruppe der EU anberaumt. dert, wo sie sich medizinisch behandeln lassen wollten. Zusätzlich soll es am 18. April eine umfassende Diskus- Die deutsche EU-Präsidentschaft hat diese Maßnahme sion der EU-Afrikadirektoren geben. Wir streben außer- am 18. März in einer weiteren Erklärung auf das dem an, dass der Rat der Außenminister am 23. April die 9168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Staatsminister Gernot Erler (A) Krise in Simbabwe erörtert und Schlussfolgerungen ver- sche Reflexe, sich mit Präsident Mugabe zu solidarisie- (C) abschiedet. ren, weiter zu verhindern. Es gibt in dieser Situation nur eine unterstützenswerte Solidarität: Das ist die Solidari- Wir beobachten sehr aufmerksam die Reaktionen der tät mit dem simbabwischen Volk und mit den mutigen Nachbarn Simbabwes; das ist hier praktisch von allen und auch zum Eigenrisiko bereiten Oppositionellen. Rednern angesprochen worden. Unsere Botschaften in der Region stehen mit den Regierungen ihrer Gastländer Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. in einem intensiven politischen Dialog. Parallel hierzu hat die Afrikabeauftragte des Auswärtigen vor (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der zwei Wochen am Sitz der Afrikanischen Union in Addis FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Abeba zahlreiche Gespräche über die Simbabwekrise SES 90/DIE GRÜNEN) geführt. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es verdichten sich die Anzeichen, dass in der gesam- Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/ ten Region – nicht zuletzt unter dem Druck der Zivilge- Die Grünen. sellschaft – die Solidarität mit dem Mugabe-Regime brö- ckelt. Hoffnung macht insbesondere, dass jetzt auch unsere afrikanischen Partner erstmals offen zeigen, dass Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Lösung der Simbabwekrise ihnen ein zentrales An- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass liegen ist. gestern Abend die verhafteten Oppositionellen freige- kommen sind, ist sicher auch der internationalen Auf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der merksamkeit hinsichtlich der gegenwärtigen Vorgänge CDU/CSU) in Simbabwe zu verdanken. Deshalb ist es wichtig, dass Sambias Staatspräsident Mwanawasa hat Simbabwe mit wir diese Aktuelle Stunde hier durchführen, um zu si- der sinkenden „Titanic“ verglichen. Das südafrikanische gnalisieren, dass der Deutsche Bundestag einheitlich die Kabinett hat am 22. März Besorgnis über die Situation in Freilassung aller Oppositionellen verlangt und die Rück- Simbabwe geäußert. Die Troika der SADC hat sich am kehr zu einem Regime erwartet, in dem Menschenrechte 22. März mit Simbabwe befasst, und seit gestern tagt ein und Rechtstaatlichkeit gewahrt werden, einem Regime, Sondergipfel der afrikanischen Staats- und Regierungs- das Simbabwe schon so lange begehrt und entbehrt. Wir chefs der Region in Tansania, in Daressalam, übrigens sind uns darin einig und senden damit ein klares Signal. im Beisein von Mugabe. Das zeigt, dass in der Region Nach dieser Aktuellen Stunde dürfen wir nicht nachlas- die Sorge wächst und allmählich konkrete Aktivitäten sen, uns die Vorgänge genau anzuschauen und auch öf- ergriffen werden. fentlich Stellung dazu zu nehmen. (B) (D) Angesichts der eskalierenden Gewalt und zunehmen- Das Regime von Mugabe kämpft gegenwärtig um der Menschenrechtsverletzungen mehren sich die Stim- sein Überleben. Es gibt absehbare Entscheidungen: Es men, die eine Ausweitung der geltenden EU-Visasank- stellt sich die Frage, ob im Jahre 2008 die Amtszeit von tionen gegenüber Simbabwe auf die Mitarbeiter der an Mugabe ausläuft. Wird die Verfassung geändert, um sie den Übergriffen vom 11. März beteiligten Sicherheitsor- zu verlängern? Gibt es Wahlen, bei denen er erneut an- gane fordern. Wir wollen darüber am 4. April mit unse- tritt? Das Regime ist in einer starken Krise, weil ren EU-Partnern in Brüssel beraten. Mugabe, der zunächst das Land befreit hat, es danach gründlichst zugrunde gerichtet hat. Ökonomisch, sozial Es besteht Einvernehmen unter den EU-Partnern, dass und menschenrechtlich liegt Simbabwe am Boden. eine Lösung der Krise in Simbabwe nur mit afrikani- scher Unterstützung gelingen kann. Unsere afrikani- Schauen wir uns an, was in den letzten Jahren passiert schen Partner machen deutlich, dass sie nach den Ereig- ist: Er hat eine allumfassende Diktatur errichtet, die nur nissen vom 11. März nicht länger bereit sind, auf ihn zugeschnitten ist, er hat eine Kommandowirt- wegzuschauen. Die Präsidenten Kikwete und Mbeki ha- schaft eingeführt, durch die die Ökonomie zugrunde ge- ben eine Initiative vereinbart, die auf einen Dialog zwi- richtet wurde, und Versäumnisse bei der Landreform schen Regierung und Opposition in Simbabwe abzielt. haben dazu geführt, dass viele vorher abhängige Landar- beiter heute arbeitslos sind. 80 Prozent Arbeitslose und Wir sollten das stärker werdende afrikanische En- 1 200 Prozent Inflation – gagement als Chance begreifen, auch mit Blick auf den für Dezember dieses Jahres geplanten zweiten EU-Afrika- (Brunhilde Irber [SPD]: 1 700 Prozent!) gipfel in Lissabon, für den wir uns eine breite und hoch- diese ökonomischen Daten und die Misswirtschaft haben rangige Beteiligung aus Afrika wünschen. Es gilt für die in einem Land, das eine reiche Landwirtschaft haben EU, weiterhin mit dem nötigen Nachdruck auf die Ereig- könnte, natürlich zu einer Situation geführt, in der ein nisse in Simbabwe zu reagieren. Die EU kann und wird Großteil der Bevölkerung auf Nahrungsmittelhilfe ange- zu Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen. wiesen ist. Die HIV-Krise mit den hohen Infektionsraten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kommt hinzu. All dies zusammen führt dazu, dass die Bevölkerung auf eine Verbesserung ihrer Lage drängt. Zugleich sollten wir aber verhindern, dass Präsident Mugabe erneut einen Keil zwischen die EU und die afri- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kanischen Nachbarn Simbabwes treibt. Behutsam und sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit viel Fingerspitzengefühl müssen wir versuchen, fal- der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9169

Volker Beck (Köln) (A) Ich glaube, wir müssen unseren britischen Freunden, Wenn das Lob berechtigt ist, dann habe ich kein Problem (C) die vorhin so gelobt wurden, auch sagen: Wenn sie die damit. Zusage eingehalten hätten, der simbabwischen Regie- Wir haben an Südafrika und die SADC-Staaten wie rung bei der Landreform stärker zu helfen, wäre die Situa- auch an die Regierung in Simbabwe appelliert. Wir müs- tion heute natürlich eine andere, weil dies auch eines der sen aber, glaube ich, auch klarmachen, dass wir unsere Probleme ist, die zur jetzigen Lage geführt haben. politischen Beziehungen und Initiativen in diesem Be- Wenn wir jetzt über eine Lösung reden, dann müssen reich an diesen Fragen ausrichten werden. Wir haben wir dabei auch ein klares Signal setzen, dass wir hier deshalb der Bundesregierung vorgeschlagen – leider hat nicht tatenlos zuschauen. Wir müssen darüber reden, ob unser Vorschlag keine Mehrheit gefunden –, vor dem wir die schon vorhandenen Sanktionen erweitern und auf EU-Afrikagipfel zu bewerten, ob die Teilnahme Sim- weitere verantwortliche Kreise ausweiten, damit deut- babwe wirklich sinnvoll ist, wenn es nicht zu einer Ver- lich wird, dass wir eine klare Linie verfolgen und unse- besserung der Menschenrechtslage in Simbabwe kommt. ren Worten auch Taten folgen lassen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Morgan Tsvangirai fordert, dass wir das Regime von SES 90/DIE GRÜNEN) Simbabwe isolieren. Darin müssen wir die demokrati- Wenn man es damit ernst meint, dann muss man auch sche Opposition unterstützen, und bei den Initiativen, die Konsequenzen ziehen. Deshalb müssen wir über ent- jetzt aus Tansania kommen, müssen wir auch mit der sprechende Maßnahmen reden und klarmachen, dass es SADC zusammenarbeiten, damit es nicht wieder bei hinsichtlich des Afrikagipfels am Ende dieses Jahres Wortgeplänkeln bleibt Konsequenzen haben wird, wenn es nicht zu einer Ver- (Florian Toncar [FDP]: So ist es!) besserung der Menschenrechtslage in Simbabwe kommt.

und Südafrika diese Fortschritte danach wieder mit sei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ner Politik der stillen Diplomatie blockiert. Herr Kollege Beck! Ich glaube, wir müssen ein offenes Wort auch mit Südafrika reden. Es gibt in Südafrika eine innenpoliti- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sche Diskussion darüber, wie man mit Simbabwe um- Dafür möchte ich an dieser Stelle werben. Dass dieser geht. Robert Mugabe ist heute eben nicht ein Freiheits- kluge Vorschlag im Ausschuss keine Mehrheit gefunden führer und nicht mehr der Freund des ANC – das war er hat, heißt schließlich nicht, dass ihn sich die Bundesre- früher –, sondern ein fürchterlicher Diktator. Deshalb gierung nicht zu eigen machen und ihn auf europäischer (B) dürfen alte Freundschaften nicht zu falschen Rücksicht- Ebene vortragen kann. (D) nahmen führen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich verstehe nicht, dass gerade die Regierung von sowie bei Abgeordneten der SPD) Südafrika, das selbst erlebt hat, dass der Sturz des Apart- heidregimes letztendlich durch die internationale Solida- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rität und die Sanktionen gegen Südafrika mit herbeige- Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer, führt wurde, nicht verstehen will, dass jetzt Druck auf CDU/CSU-Fraktion. Simbabwe notwendig ist, damit diese Zustände endlich beseitigt werden. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, gerade wir Deutsche – andere sind dafür Von 1970 bis 1980 hat in Simbabwe – dem damaligen vielleicht weniger geeignet – können aufgrund unserer Rhodesien – unter der Beteiligung von Mugabe ein Be- Geschichte in der Solidaritätsbewegung deutlicher mit freiungskampf stattgefunden, der 1980 mit dem Errei- dem ANC sprechen als die Briten, die eine koloniale chen der Unabhängigkeit endete. Bei der Wahl 1980 er- Vergangenheit haben und gleichzeitig immer auch eine rang Mugabe mit seiner ZANU-Partei 57 von 100 Sitzen Belastung darstellen, wenn sie politische Initiativen in und wurde zum Präsidenten gewählt. Es ging eine große Afrika ergreifen. Wir sollten hier eine aktive Rolle ein- Hoffnung durch das Land, dass er der richtige Führer nehmen, damit die SADC die Unterstützung Südafrikas sein würde. Ich glaube sogar, dass er zu dem Zeitpunkt erhält, wenn sie Druck auf Simbabwe ausübt, sodass es der richtige Führer war. Er wurde anerkannt und hat in hier endlich zu anderen Zuständen kommt. den ersten Jahren seiner Regierungszeit viel für die In- frastruktur, das Bildungswesen und das Gesundheitswe- Wir haben gestern im Menschenrechtsausschuss eine sen geleistet. Dann kam es zum Verfall auch der politi- gemeinsame Resolution verabschiedet. Wir haben viele schen Sitten in diesem Land. Appelle formuliert und die Bundesregierung zu Recht für ihre Taten gelobt. Bei den Wahlen 1995 gewann die Partei Mugabes un- ter eigenartigen Umständen 118 von 120 Sitzen. Es be- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gann ein grundlegender Wechsel der politischen Strate- SES 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der CDU/ gie und des politischen Umgangs in Simbabwe. Das war CSU und der SPD) der Anfang vom Ende einer Entwicklung, die von 9170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) Europa und der internationalen Staatengemeinschaft Ich bin sehr froh, dass Herr Kufuor, der Vorsitzende (C) einst als positive Entwicklung von der Kolonialzeit in der Afrikanischen Union, deutliche Worte gefunden hat. eine Transitionszeit gesehen wurde. Ich bin auch sehr glücklich darüber, dass der Bundestag dieses Thema nicht zum ersten Mal behandelt, sondern Aber dann wurde das Recht gebrochen. Die rechts- dass wir schon in der Vergangenheit Druck ausgeübt ha- staatlichen Strukturen wurden aufgegeben, und die Pres- ben. Diejenigen, die bei der letzten Debatte über Sim- sefreiheit wurde eingeschränkt. 2002 kam es zu weiteren babwe mitdiskutiert haben, haben allerdings auch die Ig- Einschränkungen der Pressefreiheit. Die Opposition noranz der Botschafterin aus Simbabwe erlebt, die sich wurde bis zum heutigen Tage drangsaliert, sowohl durch nach der Debatte in Protestnoten darüber beklagt hat, Verhaftungen wie gestern Abend, als auch durch die Zer- dass wir die Situation in ihrem Land falsch darstellen störung der Parteistrukturen ebenso wie der familiären würden. Strukturen und der Stammesstrukturen. Ich bin großer Hoffnung, dass es jetzt ein gemeinsa- Seit der Hungerrevolution 2003 in Bulawayo und mes Handeln der internationalen Gemeinschaft und der Chitungwiza sind über 100 000 Menschen durch Gewalt Europäischen Union gibt, und habe keine Zweifel daran, oder Hunger ums Leben gekommen. Wir haben erhebli- dass die Bundesregierung entsprechend verfährt. che Flüchtlingsströme nach Botswana und Südafrika er- leben müssen. Die Wanderarbeiter, die nach Mosambik (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gegangen sind, haben keine Perspektiven mehr, wie eben SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ bereits ausgeführt wurde. DIE GRÜNEN)

Ich will wiederholen, was die Kollegen Strässer und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Erler gesagt haben. 80 Prozent der Bevölkerung von Das Wort hat die Kollegin Brunhilde Irber von der Simbabwe leben unter der Armutsgrenze. Die Lebenser- SPD-Fraktion. wartung ist weltweit am niedrigsten; sie beträgt bei Frauen 34 Jahre und bei Männern 37 Jahre. Das heißt, dass bereits eine ganze Generation um die Zukunft und Brunhilde Irber (SPD): um das Leben betrogen wurde. Simbabwe hat die welt- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und weit höchste Kindersterblichkeit und die höchste Anzahl Kollegen! Der afrikanische Kontinent präsentiert sich an Waisen. derzeit mit unterschiedlichen Gesichtern. Einerseits hat sich in den letzten 15 Jahren der Grad politischer und Die gestrigen Verhaftungen und Misshandlungen ha- bürgerlicher Freiheit erheblich verbessert. Andererseits ben gezeigt, dass Mugabe nicht mehr lernfähig ist und erleben wir – wie zum Beispiel jetzt in Simbabwe – eine (B) dass er ein Diktator ist, der ohne Rücksicht auf sein Volk deutliche Rückwärtsbewegung hin zu autokratischen (D) vorgeht. Strukturen. Die Zermürbungstaktik, die er gegenüber Oppositio- Das diktatorische Mugabe-System ist nur am Macht- nellen und Journalisten anwendet, hat dazu geführt, dass erhalt interessiert. Dies ist heute schon von mehreren immer weniger Menschen im Lande bereit sind, sich zu Kollegen geäußert worden. Die Kernaufgaben des Staa- bekennen. Durch die Art und Weise, wie zum Beispiel tes, nämlich die Bereitstellung sozialer und ökonomi- Lebensmittel verteilt wurden – nämlich nur gegen Vor- scher Grunddienstleistungen, werden nicht erfüllt. Die lage des Parteiausweises von ZANU-PF; auch dagegen letzten sieben Jahre von den insgesamt fast 27 Jahren musste die Weltgemeinschaft einschreiten –, hat er den mit Mugabe als Ministerpräsident sind gekennzeichnet Menschen jegliche Chance genommen und mit dazu bei- durch Armut, Hunger, eine galoppierende Inflation und getragen, dass der Stamm der Matabele zu weiten Teilen wirtschaftliche Rezession. ausgerottet worden ist. Seit Mitte der 90er-Jahre ist die Lebenserwartung Ich persönlich sehe jetzt zum ersten Mal Bewegung – wie heute schon mehrfach geäußert – deutlich gesun- auch in den südafrikanischen Ländern. Der Staatspräsi- ken. Mehr als 12 Prozent der Kinder sterben, bevor sie dent von Botswana war in den vergangenen zwei oder das fünfte Lebensjahr erreichen. Simbabwe ist unfähig, drei Jahren der einsame Rufer in der Wüste, der zu der die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschen- Situation, die sich auch auf die Nachbarländer ausge- rechte zu achten, zu gewährleisten und zu schützen. wirkt hat, offen Stellung bezogen hat. Jetzt hat auch der Mit den politischen Menschenrechten verhält es sich Vorsitzende der Afrikanischen Union Stellung genom- ebenso. Die Pressemeldungen zu den Misshandlungen men. Die Debatte gestern im Parlament in Südafrika von Morgan Tsvangirai gingen um die Welt. Gestern ist zeigt auf, dass nicht nur die Opposition, sondern auch er abermals verhaftet worden, aber – wie wir wissen – die Regierung – wenn auch unter gewissem öffentlichen aufgrund der internationalen Bemühungen und auch der Druck – scheinbar zum Handeln bereit ist. Bemühungen der Bundesregierung am Abend wieder freigelassen worden. Ich möchte mich ausdrücklich dafür bedanken, dass Frau Dr. Merkel für die Bundesregierung am Sonntag Der Druck auf Mugabe wächst. Sein Einfluss, auch das Thema in ihrer Rede noch einmal deutlich angespro- auf die verschiedenen Gruppierungen innerhalb seiner chen hat und bereit ist, Sanktionen anzustreben, wenn eigenen Partei, nimmt ab. 2008 stehen Präsidentschafts- die UN selbst nicht dazu in der Lage ist, Sanktionen ein- wahlen an, und niemand kann sich so recht vorstellen, zuleiten. dass der dann 85 Jahre alte Mugabe für weitere sechs Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9171

Brunhilde Irber (A) Jahre das Land regiert und ruiniert. Sein Versuch, die Simbabwe überzeugen. Die Zeiten von Herrschern wie (C) Präsidentschaftswahlen auf 2010 zu verschieben, wird Mugabe sollten endgültig vorbei sein. aller Voraussicht nach scheitern. Ein Hoffnungszeichen Herzlichen Dank. ist, dass ihn selbst seine regierende ZANU-PF-Partei nicht zu einer erneuten Kandidatur aufgefordert hat. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Die Lösung könnte ein neuer gesellschaftlicher Pakt geordneten der FDP) sein. Tsvangirai selbst sagte in einem Interview in der heutigen Ausgabe der „Frankfurter Rundschau“: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der einzige Weg zur Lösung der Krise ist ein natio- Das Wort hat der Kollege Holger Haibach, CDU/ naler Dialog, der zu einer neuen Verfassung und CSU-Fraktion. schließlich zu freien und fairen Wahlen führt. (Beifall bei der CDU/CSU) Die regierende ZANU-Partei und die oppositionelle Bewegung für den demokratischen Wandel müssen sich Holger Haibach (CDU/CSU): möglichst schnell an einen Tisch setzen und eine politi- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und sche Strategie für die Zeit nach Mugabe entwickeln. Herren! Die Tragödie Robert Mugabes droht zur Tragö- Erste Kontakte mit den Parteileuten von Salomon die seines eigenen Landes, Simbabwes, zu werden. Die Mujuru soll es schon gegeben haben. Südafrika und die Diskussion, die wir jetzt im Deutschen Bundestag füh- SADC-Staaten, aber auch die Afrikanische Union sollten ren, kann nur ein Ziel haben: Wir müssen mithelfen, dass diesen Prozess nach Kräften unterstützen und damit ein diese Tragödie nicht stattfindet. Zeichen für das neue Afrika setzen. Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Nachbarstaates reicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- als Ausrede nicht mehr aus. Jetzt geht es darum, eine neten der SPD) weitere Eskalation zu verhindern und die Loyalität des Welche teilweise bizarren Formen das Leben in Sim- Mugabe-Apparates zu brechen. Mit dem SADC-Sonder- babwe zurzeit annimmt, möchte ich einmal illustrieren. gipfel, der momentan tagt, könnte endlich etwas in Gang Ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin aus einem kommen. Artikel der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“: Eines ist klar: Selbst wenn ein Neuanfang gelingt, Eines der vielen Anzeichen dafür, dass Zimbabwe wird es noch lange dauern, bis sich das Land vom wirt- ins Chaos abgleitet, wird nur selten bewusst wahr- schaftlichen Desaster erholen wird. Über 90 Prozent Ar- genommen: Die Leichenhäuser werden voller. Das (B) beitslosigkeit, Versorgungsausfälle bei Strom und Was- liegt nicht nur daran, dass mehr Menschen sterben. (D) ser sowie Inflationsraten von bis 1 700 Prozent sind kein Sondern auch daran, dass die Angehörigen vieler gutes Startkapital. Aber es ist Mugabe trotz aller Gewalt Todgeweihter die Arztrechnungen nicht mehr be- nicht gelungen, die Opposition auszuschalten. Damit zahlen können. Deshalb lassen sie die Kranken un- dieser Einsatz nicht umsonst war, braucht Simbabwe ter falschen Namen registrieren. Wenn diese dann jetzt internationale Unterstützung. Ich wiederhole mich sterben, gibt es niemanden, der Anspruch auf die an dieser Stelle: Südafrika muss hier eine führende Rolle Leichen erhebt. übernehmen. So weit ist diese Gesellschaft bereits gekommen. Übrigens berichten CNN und BBC derzeit fast täglich über diverse afrikanische Staaten und die Ereignisse Wenn wir zum Beispiel über 1 700 Prozent Inflation dort, sei es mit Nachrichten oder Reportagen. Ich würde reden, dann ist das erst einmal eine sehr theoretische es sehr begrüßen, wenn auch bei uns sowohl die öffent- Zahl. Wenn es aber heißt, dass die Fahrt zur Arbeit mit lich-rechtlichen Fernsehanstalten als auch die privaten dem Bus teurer ist als das, was man mit der Arbeit ver- Sender hier nachziehen würden. Wenn wir wollen, dass dienen kann, dann ist das eine wirklich lebensbedrohli- Afrika mehr ins Bewusstsein rückt, dann sollte eine ent- che Situation. Hier haben nicht nur wir und die Afrikani- sprechende Berichterstattung die logische Konsequenz sche Union, sondern hier hat vor allem die Regierung sein. Auch die mediale Öffentlichkeit kann den Men- Simbabwes eine echte Aufgabe; diese muss sie erfüllen. schen vor Ort helfen und ihnen Hoffnung für eine bes- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sere Zukunft geben. der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Nicht einmal mehr die Regierung selbst bestreitet, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- dass sich das Land in einer schwierigen Situation befin- geordneten der LINKEN) det. Der Zentralbankchef verkündet vor dem Parlament, dass er nur noch Geld für Elektrizität habe. Ich zitiere Die Situation in Simbabwe ist besorgniserregend. noch einmal aus dem Artikel: Wenn es gelänge, die bröckelnde Unterstützung Mugabes in seiner eigenen Partei zu befördern, bestünde Es gebe kein Geld, um die Flugzeuge der Luftwaffe Hoffnung, dass trotz allen Leidens der Bevölkerung einzusetzen oder Polizeiautos zu reparieren. Licht am Ende des Tunnels erkennbar wird. Wir müssen 300 000 Menschen müssten auf Pässe warten, weil unsere südafrikanischen Partner im Sinne von NEPAD es kein Papier und keine Tinte gebe, um sie auszu- von der Notwendigkeit eines politischen Wechsels in stellen. Lebensmittel- und Ölgroßhändler, die staat- 9172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Holger Haibach (A) liche Fluglinie und die Eisenbahngesellschaften, so darauf, dass die Länder ihre Verantwortung selbst in die (C) der Zentralbankchef weiter, flehten ihn ständig an, Hand nehmen, sehr großen Wert. Sie werden sie aber sie bräuchten ausländische Währungen – die aber nicht selbst in die Hand nehmen können, wenn wir nicht fehlen, weil die Tabakexporte, einst Zimbabwes bereit sind, unseren Teil dazu beizutragen und zu helfen. Hauptquelle für amerikanische Dollars, nur noch Ich glaube, dass Hilfe an dieser Stelle willkommen ist. ein Fünftel dessen einbringen, was sie vor der Ver- Ich will nur darauf hinweisen – es ist schon darüber treibung der weißen Farmer einbrachten. Die gesprochen worden –, dass es Hoffnung gibt, dass ge- zweite wichtige Einnahmequelle, der Tourismus, ist rade im südlichen Afrika inzwischen ein anderes Ver- ebenfalls versiegt. ständnis und eine andere Einstellung zu Herrn Mugabe Insofern befindet sich dieses Land in einer wirklich existiert. Bei einer Sondersitzung des südafrikanischen katastrophalen Situation. Es ist zu fragen, wie eigentlich Parlaments hat ein Vertreter der Opposition, und zwar aus Robert Mugabe, dieser Lichtgestalt der afrikani- ein Sprecher der Inkatha Freedom Party, erklärt: schen Schwarzenbewegung, ein solcher Diktator, ein Wir rufen heute dem tyrannischen Regime in Sim- solch autokratischer Herrscher werden konnte. babwe zu: Die Zeit ist abgelaufen. In Gottes Na- Bartholomäus Grill hat es in der „Zeit“ im Jahre 2005 men: Geh! wie folgt ausgedrückt: Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen. Der einstige Befreiungsheld wird nicht viel mehr hinterlassen als einen Leitfaden für Diktatoren. Mit Danke sehr. folgenden sieben Programmpunkten: Zentralisiere (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP alle Macht … Führe die Kommandowirtschaft wie- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der ein … Säubere den Justizapparat … Schränke die Grundrechte ein … Schalte die Medien gleich … Erzeuge ein Klima der Angst … Manipu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: liere die Wahlen, aber lass dir niemals in die Karten Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele schauen. Groneberg, SPD-Fraktion. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) traurige Ergebnis, das wir heute vor uns haben. Es stellt sich natürlich die Frage, wie wir damit weiter umgehen. Gabriele Groneberg (SPD): Wir müssen – ich glaube, das ist schon deutlich gewor- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den – unsere Verantwortung in der Europäischen Union Warum? Warum eigentlich? Warum, fragt man sich, (B) – insbesondere während der deutschen EU-Ratspräsi- entwickelt sich ein Mensch, der sich im Freiheitskampf (D) dentschaft – wahrnehmen. Angesichts der Reaktionen, gegen die britischen Kolonialherren anerkannte Ver- die wir direkt nach den Verhaftungen – zum Beispiel von dienste erworben hat, zu einem skrupellosen Despoten? Herrn Tsvangirai – erlebt haben, habe ich den Eindruck, Warum, fragt man sich, entwickelt sich ein Mensch, der dass die Bereitschaft und die Erkenntnis da sind. Dafür zu Beginn seiner Regierungszeit als ein Mann der Ver- will ich der Bundesregierung an dieser Stelle einmal söhnung gegolten hat, zu einem hemmungslosen Dikta- ganz herzlich danken. tor? Warum wirtschaftet ein Regierungschef sein Land (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von einem blühenden Vorzeigeland in Afrika, von ei- neten der SPD) nem Musterknaben, herunter auf das Niveau eines Schmuddelkindes? Warum bloß? Unsere Reaktion – auch das ist heute schon angeklun- gen – darf aber nicht auf heute oder auf morgen begrenzt Wir können eine Menge Vermutungen anstellen und sein. Wir müssen das Thema weiterhin in der Öffentlich- uns das trotzdem nicht schlüssig erklären. Wo war ei- gentlich der Punkt, wo es gekippt ist? So richtig hat das keit halten und weiterhin entsprechende Schritte unter- nehmen. Das bedeutet auch, dass wir versuchen sollten, anscheinend keiner von uns wahrgenommen. Das war unsere afrikanischen Freunde davon zu überzeugen, dass eine schleichende Entwicklung, bis es dann 2000 durch die mangelnde Zustimmung der Bevölkerung zur Wahl sie von der Politik der stillen Diplomatie, die gescheitert ist – ich glaube, das kann man heute feststellen –, Ab- Mugabes richtig deutlich wurde und es danach stetig stand nehmen müssen. Es wäre auch richtig, wenn wir bergab ging. Zuerst waren die weißen Farmer das Ziel das Thema einmal im Menschenrechtsrat in Genf ein- seiner aggressiven Politik. Landreform hat man das ge- nannt. Jetzt konzentriert er sich auf die Opposition, auf bringen würden. Wir kritisieren dieses Gremium so oft, aber bei diesem Thema hätte es eine wirkliche Chance kritische Stimmen in der eigenen Bevölkerung. Über- und eine wirkliche Aufgabe. Vielleicht wäre das eine griffe am laufenden Band und gewaltsames Vorgehen der Sicherheitskräfte Mugabes sind an der Tagesord- Initiative, die Deutschland und die Europäische Union ergreifen sollten. nung. Schauen wir zu? Sicher nicht. Wiederholt haben sich (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Menschen und Regierungen aus der ganzen Welt gegen FDP) den Diktator Mugabe ausgesprochen, und es sind Sank- Natürlich will niemand, dass Afrika seine eigene Ver- tionen gegen Simbabwe verhängt worden. Aber was uns antwortung nicht wahrnehmen kann. Wir legen auf das, fehlt – das muss man auch ganz deutlich sagen; es ist was neuhochdeutsch „African Ownership“ heißt, also von den Kolleginnen und Kollegen angesprochen wor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9173

Gabriele Groneberg (A) den –, ist, dass die Regierungen in Afrika über Jahre die- die Entsendung von 2 500 Elitepolizisten – Ninjas ge- (C) sem Treiben unwidersprochen zugeschaut haben. Wir er- nannt – ab dem 1. April dieses Jahres. warten auch von ihnen ein deutliches Wort. Immerhin, die kritischen Stimmen auch in Afrika mehren sich. Dass (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: So ist das!) die Southern African Development Community, die Ent- Wenn der angolanische Innenminister sagt – das ist im wicklungsgemeinschaft für das südliche Afrika, die Zu- staatlichen angolanischen Rundfunk tatsächlich gesche- stände in Simbabwe auf die Tagesordnung gesetzt hat, hen –, Angola werde dem westlichen Imperialismus ist der richtige Schritt. Es ist durchaus richtig, Herr nicht erlauben, Simbabwe zu übernehmen, dann habe ich Haibach, dass wir den Afrikanern Unterstützung geben dafür kein Verständnis mehr. Es tut mir leid. müssen, damit sie die Verantwortung für ihr eigenes Land wahrnehmen können. So ist es zu begrüßen, dass (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem der Präsident von Botswana und jetzt auch der Präsident BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von Sambia sich deutlich zu dem System Mugabe geäu- Ich denke, wir sind in unserem Unverständnis nicht al- ßert haben. Aber das alles reicht nicht. Wir erwarten leine. Wir hier im Bundestag sind uns mit Sicherheit in ganz speziell vom Präsidenten Südafrikas, Thabo Mbeki, dieser Einschätzung der Lage einig. Wir hoffen darauf, dass er deutliche Worte spricht und auch deutlich han- dass sich in Simbabwe möglicherweise ein friedlicher delt. Umsturz abzeichnet. Wenn es diesen friedlichen Um- sturz gibt, dann sind wir die Ersten, die ihn unterstützen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) werden. Wenn man weiß, dass Südafrika rund 25 Prozent des Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Stromes, den Simbabwe benötigt, liefert, und wenn man weiß, dass Südafrika das zentrale Durchgangsland für (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- den Handel von und nach Simbabwe ist, dann weiß man wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ auch, dass da ein Ansatzpunkt besteht, den man benut- DIE GRÜNEN) zen muss, um Druck auf dieses Regime auszuüben. Das erwarten wir auch von der Regierung Südafrikas. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Vaatz hat die Aufbauarbeit, die wir mitfinan- Das Wort hat die Kollegin Anke Eymer, CDU/CSU- ziert haben, bereits skizziert. Mugabes Regime hat hem- Fraktion. mungslos alles wieder zerstört. Die eigene Bevölkerung (Beifall bei der CDU/CSU) benutzt er als Geisel. Sie leidet. Hunger ist an der Ta- gesordnung. Die Lebenserwartung der Menschen ist (B) Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): (D) niedriger als die im ebenfalls krisengeschüttelten Sudan – und das heißt schon etwas –, in Nordkorea und in Af- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe ghanistan. Frauen haben eine Lebenserwartung von Kollegen und liebe Kolleginnen! Wir sprechen heute 34 Jahren, Männer von 37. Die Menschen sterben im hier über die aktuellen Ereignisse in Simbabwe. Die Stillen, jede Woche rund 3 500, und zwar an Aids, an Härte, mit der vom Mugabe-Regime gegen die Opposi- Armut und an Unterernährung. Der Einsatz von Nah- tion vorgegangen wird, ist ein gefährliches Zeichen. rungsmitteln – auch das ist hier bereits beschrieben wor- Afrika im 21. Jahrhundert ist ein Kontinent, auf dem den – wird als politische Waffe gegen die eigene Bevöl- überall positive Aufbrüche hin zu Demokratie und kerung benutzt. Rund 3 Millionen illegale Flüchtlinge Rechtstaatlichkeit zu verzeichnen sind. alleine in Südafrika leben unterhalb des Existenzmini- Wenn wir auf die Entwicklung Simbabwes schauen, mums. Ich bin dankbar, dass sich die Bundeskanzlerin sehen wir Schatten und große Rückschläge. Seit 1980 ist bereits Mitte Februar beim französischen Afrikagipfel dort Präsident Mugabe an der Macht. Die letzten Jahre in Cannes deutlich gegen die Verletzung der Menschen- sind ein Beispiel für den Niedergang eines ehemals flo- rechte ausgesprochen hat und dass sich Bundesministe- rierenden Landes. Wichtige Themen, die auch andere rin Wieczorek-Zeul zu Übergriffen, die in den letzten Länder Afrikas beschäftigen – etwa die Notwendigkeit Wochen speziell gegen die Opposition erfolgt sind, ge- einer Landreform –, wurden unter der Regierung äußert hat. Mugabe zu einem Instrument der illegalen Enteignung, der Vertreibung und der Bereicherung weniger im Staat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sind die letzten Ereignisse in Simbabwe, die Nieder- Wir müssen das immer wieder deutlich benennen. Wir schlagung der Opposition, die Lebensgefahr, der sich die können auf europäischer und internationaler Ebene dazu Opposition in Simbabwe ausgesetzt sieht, ein Zeichen nicht schweigen. Aller Druck, der ausgeübt werden des unaufhaltsamen Niedergangs des Regimes? Das fra- kann, muss benutzt werden. gen wir uns heute. Ich will einen Punkt erwähnen, der in dieser Debatte Unsere, die deutsche Politik in Abstimmung mit unse- noch nicht angesprochen worden ist. Ich finde, es ist äu- ren europäischen Verbündeten muss eine geschlossene ßerst kritisch zu bewerten, dass Angola dem Diktator Linie verfolgen. Es stellt sich die Frage, ob die Sanktio- Polizisten zur Verfügung stellt, um sein Regime abzusi- nen gegenüber Simbabwe ausreichen. Dies sage ich auch chern. Die Sicherheitsvereinbarung, die zwischen An- im Hinblick auf Eigeninteressen, die noch bei einigen gola und Simbabwe geschlossen worden ist, beinhaltet wenigen europäischen Nachbarstaaten bestehen. 9174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Anke Eymer (Lübeck) (A) Die Situation in Simbabwe, die ständigen Verletzun- passiert; vielmehr sind wir der Meinung, dass wir dafür (C) gen der Menschenrechte sind nicht länger hinzunehmen. mitverantwortlich sind. Die internationale Gemeinschaft, auch unsere deutsche Politik sind gefordert, zusammen mit unseren afrikani- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ schen Partnern schnell dafür zu sorgen, dass die Men- CSU und der FDP) schenrechte in Simbabwe wieder eingehalten werden Ein Problem ist, dass heute das in Bezug auf einige und der Weg zur Demokratie freigemacht wird. Länder Afrikas, auch des südlichen Afrikas, zwar sehr Ich danke für die Aufmerksamkeit. wohl klar ist, dass das aber für andere noch nicht gilt. Dazu gehört völlig eindeutig Simbabwe. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Es hätte zur Kritik viele Anlässe gegeben. Ich darf da- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ ran erinnern: Auch wir haben die Wahlrechtsrichtlinien DIE GRÜNEN) der SADC begrüßt, die für freie und faire Wahlen ein- tritt. Auch wir haben begrüßt, dass diese Wahlgrundsätze Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: in den letzten Jahren eigentlich in allen SADC-Ländern Das Wort hat die Kollegin Herta Däubler-Gmelin, eingehalten wurden, aber eben nicht in Simbabwe. Wir SPD-Fraktion. alle haben uns darüber geärgert, dass die SADC-Wahl- kommission, die Kritik geübt hat, von den Nachbarlän- dern Simbabwes nicht genügend oder gar nicht unter- Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): stützt wurde. Das war damals ein Riesenproblem, und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das ist noch immer eines. Als letzte Rednerin in einer Aktuellen Stunde kann man eigentlich nur noch bekräftigen, was andere gesagt ha- Heute sehen wir: Es gibt Hunderttausende von Flücht- ben. Das will ich tun. Die Lage in Simbabwe ist ver- lingen, die Wirtschaft Simbabwes bricht zusammen, das zweifelt. Willkür, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen Leiden nimmt zu. Deswegen rührt sich natürlich Wider- sind an der Tagesordnung. Es ist nicht nur schrecklich, stand in Südafrika, aber auch in anderen Ländern – Sam- sondern nahezu tragisch, wie sehr sich an Präsident bia und Botswana seien da besonders hervorgehoben –, Mugabe und seiner Regierung bewahrheitet, was kluge deshalb tritt man jetzt endlich dafür ein, mit der bisheri- Leute schon immer gesagt haben: Macht korrumpiert, gen stillen Diplomatie, die man aus persönlicher Rück- lang dauernde totale Macht korrumpiert total. sicht gegenüber Mugabe ständig propagiert hat, endlich Schluss zu machen. Es ist schrecklich, den Niedergang dieses Landes – es (B) hat sich nicht nur gegen die Kolonialisierung kräftig ge- Es ist richtig, dass wir zu allem ermutigen müssen, (D) wehrt, sondern es hat sich auch im Antiapartheidkampf was diese Haltung fördert, was den Neuanfang in Sim- wirkliche Verdienste erworben – zu verfolgen; es befin- babwe, und zwar den friedlichen Neuanfang, befördert. det sich im freien Fall. Herr Kollege Vaatz, ich stimme Natürlich gehört auch die Befassung des Menschen- Ihnen zu: Wer in diesem Land einmal oder mehrfach rechtsrats der UN dazu; da stimme ich dem Kollegen war, der ist nicht nur von der Schönheit, seiner unglaub- Haibach völlig zu. lich langen Geschichte und seiner uralten Kultur über- Aber was können wir eigentlich noch tun? Wir müs- wältigt, sondern auch von der Freundlichkeit seiner sen an dieser Stelle klarmachen, dass wir die Arbeit der Menschen und – lassen Sie mich das hinzufügen – der Stiftungen im südlichen Afrika, auch in Simbabwe, un- hinreißenden Schönheit seiner Musik. Wenn man sieht, terstützen und insofern Ermutigung betreiben. wie die Menschen dort hungern und leiden und wie sehr das alles auf Kosten und zulasten der Frauen geht, dann (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ wird einem ganz schlecht. CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen das auch deutlich sagen, weil wir ganz ge- nau wissen, dass nicht nur Journalisten unter Druck ste- Auf der anderen Seite wissen wir ganz genau – das hen, die den Mund aufmachen, sondern auch Stiftungs- finden wir auch gut –, dass es in Afrika längst Bewegung leute oder Kirchenvertreter. Die bedürfen ebenfalls gibt, die innerafrikanischen Probleme afrikanisch zu lö- unserer Unterstützung und unseres Schutzes. sen. Das sollten wir unterstützen. Das ist einer derjeni- gen Grundsätze, auf die auch wir setzen sollten. Dieser Der Herr Staatsminister hat völlig recht, wenn er sagt: Grundsatz wird über Fraktionsgrenzen hinweg geteilt. Er Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten sehr befindet sich auch in der Charta der Afrikanischen darauf achten, dass die Überlegungen, Simbabwe auf den Union. Der Beauftragte für Frieden und Sicherheit, Said Weg der Menschenrechte und in die Richtung einer ver- Djinnit, von dem der Staatsminister eben gesprochen nünftigen Politik für die Bevölkerung zurückzuführen, hat, hat etwas, wie ich finde, Richtiges, Vernünftiges und vonseiten der Europäischen Union und der Bundesregie- allgemein Verständliches gesagt: Für Afrika gilt jetzt das rung mitgetragen werden. – Das wird auch Unterstützung Ende des Verbots der Einmischung, also End of Interfe- kosten. Peacebuilding ist aber eine Maßnahme, die sich rence; jetzt gilt der Grundsatz „End of Indifference“, langfristig immer lohnt. Hilfsmaßnahmen werden wir also wir Afrikaner hören endlich damit auf, gleichgültig nicht nur für den Notfall jetzt brauchen, wo die Bevölke- zuzusehen, was Grauenvolles in den einzelnen Staaten rung verhungert, sondern auch in Zukunft, wenn es da- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9175

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) rum geht, den Neuanfang wirklich zu unterstützen. Das anscheinend ein bisschen unter die Kinderkrippen gera- (C) ist die Bitte, die ich an dieser Stelle noch habe. ten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ekin (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- [CDU/CSU]: Was ha- NISSES 90/DIE GRÜNEN) ben Sie gegen Kinderkrippen?) Wir als FDP-Bundestagsfraktion halten es für ganz Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wichtig, anderthalb Jahre nach dem Koalitionsvertrag, Die Aktuelle Stunde ist beendet. nach der Vorlage des Gesetzentwurfs, nach der ersten Lesung im letzten Jahr im Bundestag, nach der Anhö- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: rung im Oktober mit vielen Sachverständigen, die alle Beratung des Berichts des Rechtsausschusses die Notwendigkeit der Reform betont haben, zu hören, (6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts- wie es jetzt mit dieser wirklich sehr wichtigen und not- ordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine wendigen Reform weitergeht. Leutheusser-Schnarrenberger, Sibylle Laurischk, Noch am 16. Oktober 2006 habe ich in einer Presse- Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der mitteilung von Kolleginnen und Kollegen der CDU/ Fraktion der FDP CSU-Fraktion lesen können – das war nach der Anhö- Unterhaltsrecht ohne weiteres Zögern sozial rung –: Es ist davon auszugehen, dass das Gesetzge- und verantwortungsbewusst den gesellschaftli- bungsverfahren nun rasch abgeschlossen wird. – Seitdem chen Rahmenbedingungen anpassen geht nichts weiter, jedenfalls nicht hier im Parlament. – Drucksachen 16/891, 16/4860 – (Beifall bei der FDP – Zuruf von CDU/CSU: Doch, jede Menge!) Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim) Wir sind jetzt im Parlamentsverfahren. Die Regierung selbst kann ihren Gesetzentwurf nicht mehr abändern. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Jetzt möchten wir mehr wissen, als einigen Mitteilungen Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich in der Presse zu entnehmen ist. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- (Beifall bei der FDP) gin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion. (B) Der Presse haben wir entnehmen können, dass man sich, (D) (Beifall bei der FDP) nachdem der Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD gemeinsam beschlossen worden ist, auch im Kabinett – ich denke, in Anwesenheit auch der Minister der CDU/ Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): CSU – auf wichtige Änderungen verständigt hat, die wir Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und als Parlamentarier allerdings noch nicht kennen. Kollegen! Die FDP-Fraktion hat nach § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundestages eine Debatte zum (Jürgen Koppelin [FDP]: Leider wahr!) Unterhaltsrecht beantragt. Es geht natürlich nicht nur um unseren Antrag. Dieser Antrag ist eine Beratungsgrund- Ich weiß nur, dass etwas geändert werden soll. Aber das, lage für die Reform des Unterhaltsrechts – zusammen was ich lese, stimmt mich nicht besonders froh. mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung. (Beifall bei der FDP) Ich darf einmal aus der Koalitionsvereinbarung zitie- Ein Kernpunkt der Unterhaltsrechtsreform ist natür- ren, was man als Opposition nicht immer tut. lich die Besserstellung der Kinder. (Zuruf von der SPD: Das sollten Sie aber! Das (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der könnten Sie öfter tun!) SPD) Darin heißt es: Es ist ein unter allen Fraktionen unstreitiger Punkt, dass Wir alle Kinder – egal, ob ehelich oder nicht ehelich –, was ihre Unterhaltsansprüche angeht, im ersten Rang ver- – die Koalitionsfraktionen – bleiben werden. Dies ist eine gute Nachricht, aber eine, wollen die Situation von Familien mit Kindern wei- die wir schon seit Jahren verkünden. ter verbessern. Deshalb wird das Unterhaltsrecht re- Wie ist es jedoch mit den Elternteilen, mit der geschie- formiert. Kinder sollen beim Unterhalt an erster denen Ehefrau, die Kinder betreut, und mit der nicht ver- Stelle stehen. Die Eigenverantwortung nach der heirateten Mutter, die Kinder betreut? Wie ist ihre Stel- Ehe soll gestärkt werden. Eine Harmonisierung der lung? Wir alle wissen, dass das Kindeswohl, also die steuer- und sozialrechtlichen Bestimmungen wird Tatsache, wie es dem Kind geht, nicht allein davon ab- angestrebt. hängig ist, ob ein erster Rang im Unterhaltsrecht besteht. Ein richtiges Ziel! Wir haben das unterstützt. Wir brau- Vielmehr kommt es darauf an, wie es den betreuenden chen diese Reform des Unterhaltsrechts. Jetzt ist sie aber Elternteilen geht. Der Unterhalt für die betreuenden 9176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Elternteile – ob verheiratet oder nicht – spielt bei der Si- Deshalb möchten wir Ihnen jetzt die Gelegenheit geben, (C) tuation der Kinder eine ganz entscheidende Rolle. uns hier im Plenum, wo es hingehört, darüber zu infor- mieren, wie es inhaltlich weitergeht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- Vielen Dank. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Deshalb kann die Koalitionsvereinbarung in dem Sinne, der SPD) dass Kinder auch nichtjuristisch den ersten Rang haben sollen, nur umgesetzt werden, wenn auch in diesem Be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: reich Klarheit besteht. Das Wort hat die Kollegin , CDU/CSU- Wir als FDP-Fraktion – das ergibt sich aus unserem Fraktion. Antrag – haben den Gesetzentwurf der Bundesregierung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) in dem Punkt unterstützt, dass Geschiedene – Mutter oder Vater –, die ein Kind betreuen, und nicht Verheira- tete, die ein Kind betreuen, den gleichen Rang haben sol- Ute Granold (CDU/CSU): len, was ihre Unterhaltsansprüche bei der Betreuung an- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- geht, gen! Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben natürlich einen Anspruch auf Information; aber (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) ich denke, das Wesentliche wissen Sie, wenn nicht aus gerade weil es sich unmittelbar auf die Situation der Kin- dem Parlament, so doch aus der Presse. Insofern sind Sie der auswirkt. nicht ganz unwissend. Da scheint jetzt innerhalb der Koalitionsfraktionen Wir führen heute eine Geschäftsordnungsdebatte. eine Kehrtwendung stattzufinden. Darüber sollten wir Deshalb möchte ich einiges zu dem sagen, was Sie hier die Bürgerinnen und Bürger informieren. vorgetragen haben. Sie haben sicherlich recht, wenn Sie anmahnen, dass die Unterhaltsreform, was den Inhalt an- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Britta geht, abgeschlossen werden soll. Auch hinsichtlich der Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Zeit ist Reformbedarf dringend vonnöten; da kann ich Sie sollten wissen, was jetzt Gegenstand der Reform ist Ihnen nur recht geben. Aber Sie wissen sehr gut, dass und ob das Herzstück dieser Reform – so hat es die Bun- wir den Gesetzentwurf, der schon in der letzten Legisla- desjustizministerin immer genannt –, die Gleichrangig- turperiode als Referentenentwurf mit den Verbänden eng (B) keit der betreuenden Mütter, egal in welchem Status sie abgestimmt wurde, aufgrund der Diskontinuität neu ein- (D) leben, tatsächlich kommen wird oder ob es eher eine bringen und beraten mussten. Die erste Lesung hat im Verschlechterung der Situation der nicht verheirateten letzten Jahr stattgefunden. Danach gab es eine umfas- betreuenden Mutter geben wird. sende Anhörung im Rechtsausschuss. Insofern sind wir völlig d’accord. Ich denke, das bisherige Verfahren ist (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der bis dahin in Ordnung gewesen. SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Reformbedarf besteht auch aufgrund der Verände- Das alles wird noch verwirrender, wenn ich Herrn rungen im Gesellschaftsbild. Die Werte haben sich zum Röttgen höre, Teil gewandelt. Es hat eine Wandlung von der reinen Hausfrauenehe über die Zuverdienerehe bis zur Doppel- (Jürgen Koppelin [FDP]: Wer ist das?) verdienerehe stattgefunden; Ehen mit Kindern, ohne der sagt: Es wird alles viel besser; denn wir werden hin- Kinder, nichteheliche Lebensgemeinschaften, die hohe sichtlich der Anzahl der Jahre der Unterhaltsansprü- Zahl der Scheidungen, die große Zahl der Alleinerzie- che jetzt die geschiedene Ehefrau mit der betreuenden henden, eine steigende Zahl von Zweitehen und von nicht verheirateten Mutter gleichstellen. Alle sollen zehn nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern und Jahre lang Unterhaltsansprüche bekommen. – Wir alle ohne Kinder erfordern, dass wir als Gesetzgeber uns der wissen, wie die derzeitige Situation ist. Es wäre wunder- Realität stellen und auf diese gesellschaftlichen Entwick- bar, wenn es zu einer Verbesserung käme. Aber das heißt lungen reagieren. Wir haben eine gewisse Ordnungs- natürlich, dass die Ansprüche sowohl für die nicht ver- funktion, und die Bevölkerung erwartet von uns, dass wir heiratete betreuende Mutter, deren Anspruch bisher drei Gesetze machen, die von ihr akzeptiert werden. Jahre beträgt – es sei denn, es wäre grob unbillig, wenn (Beifall bei der CDU/CSU) sie nicht länger Unterhalt bekommt –, als auch für die geschiedene betreuende Mutter, deren Anspruch bislang Insoweit sind wir, denke ich, alle einer Meinung. im Schnitt zehn Jahre – acht bis zehn Jahre – beträgt, auf zehn Jahre angehoben würden. Ich lese das nur. Ich weiß Der Bundestag hat bereits 2000 einstimmig beschlos- nicht, was ist. Die interessierte Öffentlichkeit möchte sen, das Unterhaltsrecht zu überprüfen und Vorschläge gerne wissen, was aus dieser wirklich wichtigen Reform für eine Neuregelung zu machen. Auch das Bundesver- wird. fassungsgericht hat das angemahnt. Darüber besteht si- cher ebenfalls Konsens. Aber da wir eine Geschäftsord- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des nungsdebatte führen, sollten wir noch zwei, drei Dinge BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zur Genese sagen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9177

Ute Granold (A) Die FDP hat schon vor langer Zeit in Anfragen und (Beifall bei der CDU/CSU – Zustimmung des (C) Anträgen die Reform des Unterhaltsrechts angemahnt Abg. Christoph Strässer [SPD]) und Vorschläge für eine Neuordnung gemacht. Dann gab es den Referentenentwurf, den ich eingangs angespro- Bei aller Sorge um das Wohl der Kinder gilt es aber chen habe, aus dem BMJ. Ich möchte an dieser Stelle auch, die Institution der Ehe – ihr Verfassungsrang nicht noch einmal unsere Koalitionsvereinbarung zitie- wurde bereits angesprochen – zu schützen und zu stär- ren; Sie haben das gerade sehr schön gemacht. Der Kern ken. In Art. 6 des Grundgesetzes steht: dessen ist jetzt im Entwurf umgesetzt. Das entspricht Ehe und Familie stehen unter dem besonderen dem, was in diesem Hause Konsens ist. Schutz der staatlichen Ordnung. (Beifall bei der CDU/CSU) Man sollte deshalb das eine nicht gegen das andere aus- spielen, sondern man sollte versuchen, in diesem Werte- Lassen Sie mich aus unserer sehr hochwertigen Anhö- verhältnis eine Regelung zu finden, die allen Interessen rung – Sie waren ja dabei – mit Topsachverständigen Pro- gerecht wird. fessor Willutzki, den Ehrenvorsitzenden des Deutschen Familiengerichtstages, zitieren, der wörtlich gesagt hat: ( [CDU/CSU]: Sehr vernünf- Erfreulich ist, dass der Gesetzgeber keine umfassende tig!) Reform des Unterhaltsrechts an Haupt und Gliedern vor- Professor Schwab von der Universität Regensburg, nehmen will, sondern sich darauf beschränkt, einerseits einer der Sachverständigen aus der Anhörung, hat in Ab- das Recht den gesellschaftlichen Veränderungen anzu- wandlung eines bekannten Spruchs die provokative passen, zum anderen aber die Gelegenheit nutzt, These aufgestellt, das Kindschaftsrecht sei dem Eherecht Schwachstellen bei der Umsetzung des Rechts in der ge- sein Tod. richtlichen Praxis auszumerzen. Auch das ist erforder- lich. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie ha- ben im Rahmen der ersten Lesung – ich habe sie noch Das Konzept zur Umsetzung dieser Zielsetzung ha- einmal nachgelesen – die Entwicklung der Ehe in den ben wir schon in der ersten Lesung ausführlich disku- letzten Jahren nachgezeichnet: von der Versorgungsge- tiert: Stärkung des Kindeswohls, Betonung der Eigen- meinschaft in früherer Zeit bis zum heutigen Stand. Sie verantwortlichkeit nach der Ehe und die Vereinfachung haben dann bemerkt, die Union hänge noch dem alten des Unterhaltsrechts. Bild von der Ehe nach. Die Reform sollte ursprünglich – dazu gibt es draußen (Jörg Tauss [SPD]: Das stimmt gelegentlich!) verschiedene Meinungen – zum 1. April dieses Jahres in (B) Das ist nicht der Fall. Wir haben schon ein sehr moder- (D) Kraft treten; das war damals unsere Intention. Aber die nes Bild von der Ehe. Auch wir wissen, dass es verschie- Anhörung hat ergeben, dass die Praxis Zeit zur Umstel- dene Möglichkeiten des Zusammenlebens gibt. Eine da- lung braucht. Die Leitlinien müssen umgeschrieben wer- von ist die Ehe, aber es gibt auch andere Möglichkeiten. den, und die Jugendämter müssen sich darauf einstellen. Deshalb haben die Sachverständigen gesagt, der 1. Juli Für die Union ist es sehr wichtig, festzustellen, dass sei der richtige Zeitpunkt. Ich bin zuversichtlich, dass die Ehe mehr ist als nur ein Zusammenleben oder gar ein das Gesetz – das ist Konsens in der Union, und da gibt es Zusammenleben auf Zeit. Die Ehe ist – verfassungs- gar keine Diskussion – zum 1. Juli in Kraft treten wird. rechtlich geschützt – eine auf Dauer angelegte Solidar- gemeinschaft, in der man füreinander einsteht. Das muss Da Sie die Diskussion innerhalb der Koalition bzw. im Gesetzentwurf an der richtigen Stelle zum Ausdruck der Union angesprochen haben, möchte ich dazu das kommen. Ich denke, dass wir darüber in der zweiten Le- eine oder andere sagen. Das Unterhaltsrecht ist ein sung reden sollten. Ich werde gleich noch darauf einge- Rechtsgebiet, das sehr komplex und kompliziert ist, in hen, welcher Kompromiss hier ausgehandelt wurde. dem teilweise auch Juristen, die nicht aus diesem Fach- gebiet sind, ihre Schwierigkeiten haben – die Laien Sie haben in Ihrem Antrag eine Reihe von Punkten umso mehr –, von dem viele Menschen betroffen sind aufgeführt, die auch Inhalt unseres Gesetzentwurfs sind. und in dem sehr emotional und teilweise ein bisschen Wir werden sie umsetzen, weil sie richtig und gut sind. unsachlich diskutiert wird. Das sollten wir auch bei der Dazu gehören der Vorrang des Kindesunterhaltsan- Diskussion, die jetzt noch vor uns liegt, bedenken. spruchs gegenüber allen anderen Unterhaltsansprüchen – ich denke, darüber herrscht in diesem Haus Konsens – Aufgrund der Historie sollten wir auch bedenken, und die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit im Falle dass es hier nicht um eine isolierte Unterhaltsrechtsre- von nachehelichen Unterhaltsansprüchen. Ich denke, form geht. 1977 hatten wir eine Eherechtsreform, Mitte auch das ist kein strittiges Thema. Ich nenne ferner die der 80er-Jahre hatten wir eine Reform des Unterhalts- Befristung des Unterhalts nach Zeit und Höhe. Diese rechts; außerdem gab es eine Kindschaftsrechtsreform. Regelung steht heute schon im Gesetz, sie wird aber All das müssen wir als Folge dessen sehen, dass sich un- nicht angewandt. Deshalb wird sie richtigerweise noch sere Gesellschaft schon vor langer Zeit gewandelt hat. einmal an exponierter Stelle aufgeführt. Die Anwendung Wir müssen bei dieser Reform darauf achten, dass das in der Praxis muss sozusagen angeschoben werden. Es Kind – darüber sind wir uns alle einig – als schwächstes gibt eine Annäherung der Unterhaltsansprüche der ge- Glied im Zentrum steht und dass das Kindeswohl in je- schiedenen Elternteile an die der nicht verheirateten El- der Weise gestärkt wird. ternteile. 9178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Ute Granold (A) Wir haben eine gesetzliche Regelung des Mindest- lig zu Recht daran, dass wir deutlich machen müssen, (C) unterhaltes und eine Änderung des Unterhaltsvor- worum es geht. schussgesetzes, weil die Regelunterhaltsverordnung durch die Regelung des Mindestunterhalts aufgehoben Auf der Agenda steht, dass wir die Beratungen nach wird. Sie haben das Unterhaltsvorschussgesetz in Ihrem Ostern abschließen und dass im Mai der Gesetzentwurf Antrag aufgeführt. Ich möchte dazu sagen, dass Reform- dem Bundesrat vorgelegt wird, sodass er am 1. Juli 2007 bedarf im materiellen Recht besteht. Darüber sind wir in Kraft treten kann. uns einig. Wir sollten uns aber an dieser Stelle nicht un- Nun gab es auf der Zielgeraden, auf der wir gerade nötig lange aufhalten. sind, einen kleinen Sturm. Wir in der Union haben ein Wir sind mit einer Vereinfachung und Beschleuni- bisschen diskutiert; als großer Volkspartei steht uns das gung der gerichtlichen Unterhaltsdurchsetzung und einer auch zu. Förderung von Unterhaltsvereinbarungen nach dem Cochemer Modell einverstanden. Über eine andere Bau- (Beifall bei der CDU/CSU) stelle, nämlich über die FGG-Reform, wird derzeit inten- Wir müssen und sollten auf der einen Seite die Stärkung siv beraten. Wir tragen also Ihren Anliegen Rechnung. des Kindeswohls vor Augen haben. Das Wohl des Kin- (Beifall bei der CDU/CSU) des ist ja nur dann gesichert, wenn die Elternteile, die das Kind betreuen, ihr Auskommen haben. Insofern ist Die Harmonisierung des Unterhaltsrechts mit dem es legitim, aus der Sicht des Kindes zu sagen: Allen El- Steuer- und Sozialrecht möchten wir dem Grunde nach ternteilen, die Kinder betreuen, ist der zweite Rang ein- ebenfalls. Das bedarf aber einer gründlichen Vorberei- zuräumen, wenn es um die Befriedigung von Unterhalts- tung, und es bedarf ausreichend Zeit. Eine Harmonisie- ansprüchen geht. Der erste Rang gebührt den ehelichen rung ist aber nicht uneingeschränkt möglich, weil die und den nichtehelichen Kindern, und im zweiten Rang Zielrichtungen im Unterhalts-, Steuer- und Sozialrecht sind alle Elternteile gleichgestellt; denn wir sagen: Ein teilweise verschieden sind. Deshalb sollten wir versu- Kind kann nichts dafür, ob es ehelich oder nichtehelich chen, das auf den Weg zu bringen, was möglich ist. geboren ist. Insofern erfolgt hier eine Gleichstellung; denn der Betreuungsunterhalt knüpft am Kind an. Ich denke, wir haben schon einige wichtige Entschei- dungen getroffen. Ich hatte schon die Regelung des Min- Nun gibt es auf der anderen Seite den Schutz der destunterhalts angesprochen. Wir haben aber auch das Ehe. Beim zweiten Rang ist ja auch die Ehe von langer Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum Dauer ein Kriterium. Wir haben konkret beschrieben, und Beschäftigung auf den Weg gebracht. Damit wurde was eine Ehe von langer Dauer ist. Das sind nicht nur (B) die Möglichkeit geschaffen, Kosten, die aufgrund der acht, zehn oder zwölf Jahre. (D) Erwerbstätigkeit der Eltern für die Betreuung der Kinder anfallen, von der Steuer abzusetzen. Auch Unterhalts- (Jörg Tauss [SPD]: Bei mir sind es 31 Jahre! zahlungen können von der Steuer verstärkt abgesetzt Das ist schon ganz gut! – Gegenruf des Abg. werden. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Da muss Ihre Ehefrau ja ein hohes Schmerzensgeld krie- Wir diskutieren aktuell die Weiterentwicklung des gen!) Ehegattensplittings in Richtung Familiensplitting. Wir sind für alle Modelle offen. Es gibt weitere Komponenten, die dazu führen, dass ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Anspruch dem Kriterium einer Ehe von langer Dauer an- geglichen wird. Unser aller Ziel ist es, dass eine Weiterentwicklung den Zielgruppen, also den Kindern und Familien, zugute In dem Spannungsfeld zwischen Kindeswohl auf der kommt. Ich möchte die Diskussion über die Weiterent- einen Seite und Schutz der Ehe auf der anderen Seite wicklung des Ehegattensplittings zum Familiensplitting – ich hatte vorhin Art. 6 des Grundgesetzes angespro- oder die Ergänzung des Ehegattensplittings um das Fa- chen – haben wir einen Kompromiss vorgelegt, über den miliensplitting nicht weiter vertiefen. Sie sehen, dass wir natürlich noch entschieden werden muss. Wir haben ge- darüber diskutieren; das ist gut so. Wir sollten dafür sor- sagt: Der zweite Rang ist den ehelichen Elternteilen, wo- gen, dass wir zu einer sinnvollen Regelung kommen. bei die Kinderbetreuung und das Kriterium der Lang- zeitehe hinzukommen, einzuräumen und der dritte Rang (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- den nichtehelichen Elternteilen. wie des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Die eine Seite des Kompromisses ist, dass der Rang Sie haben vorhin angesprochen, dass die Menschen verändert wurde. Aber dafür haben wir eine weitere An- gar nicht wissen, über was wir eigentlich diskutieren. näherung der Unterhaltsansprüche der ehelichen El- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: ternteile auf der einen Seite – ob geschieden oder ge- Genau!) trennt – und der nichtehelichen auf der anderen Seite erreicht. Das heißt, die Erwerbsobliegenheit besteht ab Nach der Anhörung im Rechtsausschuss waren wir der dem gleichen Zeitpunkt, und auch die Zahlung des Un- Auffassung, dass das Vorhaben auf einem guten Weg ist. terhalts über den Zeitraum ist gleichgestellt. Das ist eine Die Mehrheit der Sachverständigen hat gemeint, die Re- quasi Eins-zu-eins-Annäherung und eine gute Regelung form sei ein richtiger Ansatz. Insofern erinnern Sie völ- für die nichtehelichen Elternteile. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9179

Ute Granold (A) Wir haben in diesem Kompromiss weiter klargestellt, (Dirk Manzewski [SPD]: Es ist doch völlig (C) dass für kein Elternteil unterhalb eines Alters der Kinder normal in einer Koalition, dass man es erst mal von drei Jahren Erwerbsobliegenheit besteht. Das ist bespricht!) Konsens; das ist auch völlig in Ordnung. Nach fast einem Jahr seit Kabinettsbeschluss ist we- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!) der in einem der federführenden Ausschüsse in der Sa- che abschließend beraten worden, noch liegen entspre- Wir haben beschlossen – das ist nicht neu; das wurde nur chende Votenanforderungen bei den mitberatenden klargestellt und war schon im Entwurf festgelegt gewe- Ausschüssen vor. Das zeigt wieder, dass Gesetzentwürfe sen; darauf möchte ich an dieser Stelle hinweisen –, dass erarbeitet werden, die nicht stimmig sind und die dann die Erwerbsobliegenheit der betreuenden Elternteile im Rahmen von Kompromissbeschlüssen der Koalition nach dem dritten Lebensjahr des Kindes nur dann be- so weit revidiert werden, dass am Ende nichts Geschei- steht, wenn die Belange des Kindes nicht beeinträchtigt tes übrig bleibt. „Gut Ding will Weile haben“, heißt es. sind und überhaupt Möglichkeiten einer Kinderbetreu- Wenn das Ding dann wenigstens gut wäre! ung gegeben sind. Das ist uns ganz wichtig. Das stand im Gesetzentwurf und ist auch Teil des Kompromisses. Über die Inhalte der Vorlagen, die dem Parlament wahrscheinlich wieder wenige Stunden vor der abschlie- Das ist der aktuelle Stand. Hierüber werden wir schon ßenden Beratung zugehen werden, kann man ja nur mut- in der nächsten Sitzungswoche nach der Osterpause dis- maßen, dank einiger Pressemitteilungen. Dass die CSU kutieren. Ich hoffe sehr, dass wir das Unterhaltsrecht mit – laut Pressemitteilung von Herrn Singhammer vom diesem Kompromiss auf den Weg bringen können. Es heutigen Tag – die Verantwortung von Eltern, die ihre sind aber noch weitere Punkte zu klären; ich hatte die Kinder ohne Trauschein erziehen möchten, geringer FGG-Reform angesprochen. Aber auch im Unterhalts- schätzt als die von Eltern mit Trauschein, verwundert recht gibt es noch vieles, was man auf den Weg bringen mich inzwischen nicht mehr. Die CSU hinkt der Realität kann, aber nicht so drängt wie das, was jetzt auf der Ta- halt hinterher. gesordnung steht. Die Armutsgrenze, der Familienstand oder ein Trau- Mit diesem Kompromiss kann man in Anbetracht des schein können doch nicht der Maßstab für den Unterhalt Spannungsverhältnisses, das hier besteht, leben. Deshalb sein. Der Unterhalt hat sich vielmehr am Kindeswohl zu sollten wir ihn auf den Weg bringen. Ich würde mich orientieren. In der Anhörung im Oktober hieß es schon freuen, wenn wir das zusammen fertigbringen würden. – ich zitiere –: Vielen Dank. Für 95 Prozent der rund 2,2 Millionen Kinder von (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Alleinerziehenden bringt der Entwurf zur Änderung des Unterhaltsrechts erhebliche finanzielle Nach- teile. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion Wenn die Stärkung des Kindeswohls das Ziel der Re- Die Linke. form sein soll, dann müssen doch alle Kinder, egal ob ehelich oder nichtehelich, ein Recht auf Gleichbehand- (Beifall bei der LINKEN) lung haben. (Beifall bei der LINKEN) Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Zum Nun kann man ja sagen, dass wir das haben, weil jetzt Unterhaltsgesetz lief bis zum Sommer letzten Jahres, bis alle Kinder im ersten Rang stehen. Das klingt gut, aber zur ersten Lesung im Juli, noch alles glatt. Dann kam im nur auf den ersten Blick; denn die Realität sieht ein biss- Oktober die Anhörung. Danach wurde die Beratung ver- chen anders aus: In gewohnter Weise werden soziale Un- tagt, und seitdem herrscht Schweigen im Walde. Gegen- gerechtigkeiten und Armutsrisiken von Kindern und Al- wärtig wird der Gesetzentwurf nicht beraten. Auch der leinerziehenden verfestigt; denn die Lebensentwürfe von damals in gleicher Lesung mitberatene Antrag zum Un- Elternteilen orientieren sich zum Großteil nicht mehr an terhaltsvorschussgesetz liegt im Ausschuss auf Halde. einer lebenslangen Ehe. Kinder wachsen vermehrt mit einer Person allein, in einer nichtehelichen Lebensge- Offensichtlich hat die Regierungskoalition kein Inte- meinschaft, in einer Lebenspartnerschaft oder in anderen resse an parlamentarischer Beratung. Warum, muss man denkbaren Konstellationen auf. sich fragen. Nach der Anhörung im Oktober letzten Jah- res wurden die Unzulänglichkeiten des Gesetzentwurfs Ziel der Reform muss doch sein, dass sich die Ausge- auch bei der Koalition reflektiert. Dann ging es nach der staltung der Rechtsmaterie an der geänderten Lebens- inzwischen schon fast gewohnten Praxis weiter: Es wird wirklichkeit orientiert. Insbesondere die Lebenswirk- nicht im Ausschuss beraten. Argumente und Gegenargu- lichkeit vieler Frauen wird durch unhaltbare Zustände mente, verschiedene Positionen werden nicht wahrge- bestimmt: Alleinerziehende – das sind überwiegend nommen; sie sind ja nicht einmal gefragt. Es wird wieder Frauen – werden vor die unlösbare Aufgabe gestellt, bei hinter verschlossener Tür gekungelt und das Ergebnis geringen Löhnen ihren Unterhalt zu erarbeiten und zu- anschließend durch das Parlament gepeitscht; die Mehr- gleich die Kinderbetreuung und -erziehung zu gewähr- heitsverhältnisse machen es ja möglich. leisten. 9180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Jörn Wunderlich (A) An die Union gerichtet – schade, dass Herr gen würden. Deshalb ist es geboten, dass wir über dieses (C) Singhammer schon weg ist – kann ich in diesem Zusam- Thema in dieser Ausführlichkeit sprechen. menhang nur sagen: Sie haben sich bei dieser Reform des Unterhaltsrechts mit einem Frauenbild durchgesetzt, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) welches aus dem vorletzten Jahrhundert stammt und Sie haben es angesprochen. Deswegen bin ich über den weit weg ist von Fortschritt und Moderne. Vorwurf, es sei nichts passiert, etwas verwundert. (Beifall bei der LINKEN) Ende 2005 haben wir unsere Leitlinien in die Koali- Sie wollen immer noch die Ehe als finanzielle Absiche- tionsvereinbarung geschrieben. Im April 2006 gab es rung der Frau; Ehefrauen sollen gegenüber unverheirate- dazu einen Entwurf der Bundesregierung. Ich finde, das ten Müttern bei der Rangfolge im Unterhaltsrecht privi- ist nicht übermäßig lange; da kenne ich Regierungsent- legiert werden. würfe, die mehr Zeit in Anspruch genommen haben. Dann gab es hier im Plenum eine Debatte über dieses Die Fraktion Die Linke fürchtet, dass als Ergebnis Thema, wir haben im Ausschuss darüber geredet, und es dieses Kompromisses drohen: weniger Mindestunterhalt gab im Oktober letzten Jahres eine Anhörung. Jetzt ist für Kinder, ein Unterhalt, der sich an der Armutsgrenze gleich April 2007. So wie Sie reden, könnte man denken, orientiert, weniger oder kein Geld für den erziehenden das Ganze hätte zehn Jahre auf Eis gelegen. Elternteil, eine größere Erwerbsobliegenheit für Frauen, was aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der fehlen- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: den Kinderbetreuungseinrichtungen im Grunde unmög- Wir waren uns ja alle einig!) lich zu erfüllen ist. Wenn man dann noch berücksichtigt, Ich glaube also, wir haben in dieser Frage recht zügig dass die Möglichkeit, den Betreuungsunterhalt steuerlich beraten. Es gab einen Regierungsentwurf, der im Kabi- abzusetzen, die es im Augenblick gibt, nach der Reform nett einstimmig beschlossen wurde. Wir hatten eine aus- wegfällt, weil zunächst diejenigen bedient werden müs- führliche Beratung in der Anhörung, sen, denen der erste Rang eingeräumt worden ist, dann kann im Mangelfall – im Osten ist er inzwischen der (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Normalfall geworden – nur festgestellt werden, dass für Ja!) die Unterhaltsberechtigten weniger Geld übrig bleibt, in der viele Fragen geklärt werden konnten. Die Fachpo- zum Vorteil der Unterhaltsvorschusskassen. litiker, insbesondere die Rechtspolitiker, in der Koalition (Beifall bei der LINKEN) waren sich einig. Nach der Anhörung gab es noch einige Veränderungen. Dann hätte man eigentlich zum Zuge Angesichts dessen frage ich mich: Wer soll mit dieser kommen können. (B) Reform des Unterhaltsrechts gefördert werden: die Kin- (D) der oder die Landesfinanzminister? (Beifall bei der SPD – Sabine Leutheusser- Schnarrenberger [FDP]: Genau!) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Aber dann wurden, das muss ich jetzt so deutlich sa- (Beifall bei der LINKEN) gen, einige Damen und Herren in der Union – ich hoffe jedenfalls, dass es nur wenige waren; vielleicht wurden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sie auch von entsprechender Seite beeinflusst – Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lambrecht, SPD-Fraktion. NEN]: Sie sind nicht da!) (Beifall bei der SPD – Sabine Leutheusser- wach und haben weitgreifende Veränderungen gefordert. Schnarrenberger [FDP]: Jetzt kommt die Er- An uns jedenfalls lag es nicht. Auch ich bin über dieses hellung!) Vorgehen verwundert, dass man trotz eines Kabinettsbe- schlusses, der einstimmig gefasst wurde, und gegen den Christine Lambrecht (SPD): ausdrücklichen Willen der Fachpolitiker sagt, dass man Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe das Ganze noch einmal auf den Kopf stellen möchte. Kolleginnen und Kollegen! Frau Leutheusser- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schnarrenberger, ich kann Ihre Unruhe und Aufregung der FDP und der Abg. Ekin Deligöz [BÜND- darüber verstehen, dass sich im Unterhaltsrecht noch NIS 90/DIE GRÜNEN]) nicht mehr getan hat, als bisher auf dem Tisch liegt. Ich gebe in diesem Zusammenhang aber zu bedenken, dass Das ist verwunderlich und in einer Koalition nicht üb- diese Materie nicht ganz einfach zu regeln ist, weil ganz lich. viel damit zusammenhängt. Jetzt muss man sich anschauen, warum das alles ver- Das momentan geltende Gesetz hat seine Ursprünge ändert werden soll. Um was geht es? Im Endeffekt geht in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Wenn wir es, glaube ich, um eine ideologische Auseinanderset- das Unterhaltsrecht jetzt ändern, sollten wir es nicht in zung. Wir haben im Unterhaltsrecht mutig die Formel drei, vier oder fünf Jahren wieder verändern müssen: Es „Kinder zuerst“ geprägt. Bei all den Debatten, die wir in sollte Bestand haben. Die Fachleute an den Gerichten diesem Zusammenhang führen, geht es um die Kinder. und die Fachanwälte würden sich die Haare raufen, Die Kinder sollen im Vordergrund stehen, weil sie in der wenn wir in drei Jahren ein völlig neues Konzept vorle- Regel keinen Einfluss darauf haben, ob ihre Eltern ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9181

Christine Lambrecht (A) heiratet sind oder nicht, ob sie zusammenleben oder Erst dann kamen im dritten Rang die Exehefrauen (C) nicht, ob sie sich trennen. Da sie darauf keinen Einfluss aus Ehen von kurzer Dauer. Frauen, die drei, vier Jahre haben, sollen sie auch nicht darunter leiden. Das war die verheiratet waren und keine Kinder erzogen haben, Prämisse. mussten sich hintenanstellen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Davon sollen wir jetzt abweichen? Jetzt sollen wir sa- der FDP und der LINKEN) gen: Entscheidend ist, ob ein Trauschein erreicht wurde oder nicht; Hauptsache, ihr wart irgendwann einmal ver- Aus diesem Grund sollten alle Kinder in den ersten heiratet, ob in zweiter, dritter oder vierter Ehe, ist völlig Rang kommen, egal ob ehelich oder nichtehelich. Das, egal; dann steht ihr in unserer Achtung auf jeden Fall hö- was verteilt werden kann, sollten sie mit niemandem tei- her als diejenigen, die ein Kind erziehen? Das kann es len müssen. Diese Regelung konnten wir retten. Das ist doch nicht sein. So etwas ist zumindest mit mir nicht zu weiterhin der Fall. machen. Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen, die Jetzt haben verschiedene Beratungen stattgefunden. ebenfalls der Meinung sind, dass es nicht aufgrund einer Das Ergebnis möchte ich nicht Kompromiss nennen, Privilegierung im Hinblick auf den Unterhalt zu einer In- weil das voraussetzen würde, dass alle damit einverstan- flation von Trauscheinen kommen darf. den sind. Ich kann Ihnen sagen: In der SPD-Fraktion gibt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, die zumindest DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der mit dem, was öffentlich transportiert wird, keineswegs LINKEN) einverstanden sind. Deswegen möchte ich das nicht Kompromiss nennen. Darüber – Frau Granold, Sie haben das angesprochen – werden wir noch diskutieren müssen. Wenn wir jetzt eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Reform des Unterhaltsrechts, die 20 oder 30 Jahre lang Um was geht es? Es geht darum, dass dann, wenn Geltung haben soll – eher sollten wir es vernünftigerweise noch Geld zu verteilen ist, die Exehefrau im zweiten nicht ändern –, auf den Weg bringen, müssen wir uns Rang steht, und zwar nicht nur die erste Exehefrau, son- überlegen, ob wir das an der Lebensrealität der Menschen dern alle Exehefrauen. Es wäre ja noch nachvollziehbar, vorbei machen oder ob wir sagen: Wir schreiben den dass man dann, wenn man ideologisch an das Thema he- Menschen nicht vor, wie sie zu leben haben, und daher rangeht, sagt: einmal verheiratet, einmal vertraut! Alle werden wir keine Regelung treffen, die einen Anreiz dar- anderen müssen hintenanstehen, sie müssen quasi mit stellt, Trauscheine in beliebiger Anzahl zu erwerben. der Altlast leben, dass der Partner schon einmal verhei- Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen. Ich ratet war. – Aber nein, alle Exehefrauen kommen in den weiß, dass sie nicht ganz einfach sein werden. Aber ich (B) (D) zweiten Rang. Die Frauen, die Kinder erziehen, aber auf glaube, bei diesem Thema lohnt es sich wirklich, zu den Trauschein nicht gepocht oder ihn nicht erreicht ha- kämpfen, und zwar nach dem Motto: die Kinder zuerst! ben – das kommt auf die jeweilige Beziehung an –, kom- men nicht in den zweiten Rang. Da fängt es an, un- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schlüssig, unlogisch zu werden. der FDP und der LINKEN – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Ja, ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nau! Deshalb wollen wir darüber ja auch hier der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- im Parlament diskutieren!) NEN – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Genauso ist es!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wenn ich will, dass die Kinder im Vorteil sind, dann Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/ muss ich die Regelung unabhängig vom Familienstand Die Grünen. des erziehenden Partners ausgestalten. Es muss egal sein, ob man verheiratet war oder nicht. Ein Kind zu be- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): treuen, ist ein Wert in unserer Gesellschaft. Das wollen Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Reform des wir bekunden. Unterhaltsrechts ist nicht nur längst überfällig, sondern (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sie wurde auch schon vor langer Zeit eingebracht. Dieses des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vorhaben war nicht nur im Koalitionsvertrag der jetzi- gen Regierung enthalten, sondern die rot-grüne Koali- Deswegen wäre es richtig gewesen, so wie in der Ur- tion hatte bereits Eckpunkte für eine Reform des Unter- sprungsfassung zu sagen: Jeder, der ein Kind erzieht, haltsrechts vorgelegt und war dabei, die geplanten wird von der Gesellschaft geachtet, und das drückt sich Änderungen auf den Weg zu bringen. Umso erfreulicher auch im Unterhaltsrecht aus. Darüber hinaus gibt es ist, dass Sie diese Vorschläge übernommen und wir sie selbstverständlich einen Vertrauensschutz für Ehefrauen, beraten haben, sodass ein zeitgemäßer Gesetzentwurf nämlich für solche, die lange verheiratet waren. Genau vorgelegt werden konnte. sie haben in diesem Punkt Vertrauen verdient. Deswegen waren Exehefrauen, die aus einer langen Ehe kamen, Das Beste daran war, dass alle Kolleginnen und Kol- auch wenn sie keine Kinder erzogen haben bzw. aktuell legen mit den erwähnten Eckpunkten einverstanden wa- keine Kinder mehr erziehen, im zweiten Rang. Denn wir ren oder zu sein schienen. Aber dann kam doch alles haben gesagt: Das ist gleichwert mit einer aktuellen Er- ganz anders als erwartet. Das familienpolitische Hin und ziehungsleistung. Her der Großen Koalition darf uns eigentlich nicht ver- 9182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Ekin Deligöz (A) wundern. Denn wer die Rede, die Sie, Frau Lambrecht, De facto ist es so, dass Mütter und Kinder aus einem (C) heute gehalten haben, gehört hat, der muss das Gefühl Topf wirtschaften, egal ob die Mütter vorher verheiratet haben, dass es eigentlich keinen einzigen Bereich der waren oder nicht. Daher ist es auch so, dass diejenigen, Familienpolitik mehr gibt, in dem sich die Große Koali- die vorher nicht verheiratet waren, diejenigen sind, die tion noch einig ist. meist leer ausgehen. 80 Prozent dieser Fälle sind näm- lich Mangelfälle. Das heißt, die Betroffenen werden ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – fach kein Geld mehr bekommen. Wenn das Ihr Verständ- Dirk Manzewski [SPD]: Oh, doch! Es gibt so- nis von der Förderung des Kindeswohls ist, dann haben gar ganz viele!) Sie irgendetwas falsch verstanden. Darüber sollten Sie Die Debatte, die Sie führen, ist eine reine Ideologie- schleunigst noch einmal nachdenken. All das ist zwar debatte, nichts anderes. Ich gehe davon aus, dass es ei- Balsam für die konservative Seele, hat aber nichts mit nen Grund gibt, warum dieser Gesetzentwurf, der schon der Förderung des Wohls der Kinder in diesem Land zu lange in der Diskussion ist, bei seiner Einbringung we- tun. der im Kabinett noch im Parlament von den Kollegen der CDU/CSU in irgendeiner Form kritisiert wurde – üb- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rigens auch in der Anhörung nicht und sogar Monate sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nach der Anhörung nicht –, dass er aber jetzt plötzlich Sie wollen noch etwas: Sie wollen Familien zum auf die Tagesordnung gesetzt wurde und sich nun man- Trauschein zwingen. Sie wollen die Leute dazu bringen, che berufen fühlen, die Ehe zu retten. Der Grund dafür aus finanziellen Erwägungen zu heiraten. Was ist das für ist ganz einfach: Die Verhandlungen zum Thema Kin- eine Politik?! Die Menschen entscheiden selber, sie ha- derbetreuung stehen an, und dass es in der CDU/CSU ben die Wahlfreiheit, sie möchten nicht von der Politik plötzlich zu Ansätzen familienpolitischer Modernisie- vorgegeben bekommen, wie sie zu leben haben. Im Ge- rung kommt, gefällt manch einem in der Union nicht. genteil, wir müssen auf die gesellschaftlichen Verände- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rungen reagieren. Das haben Sie sogar selber gesagt. und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Dann muss man aber die gesellschaftlichen Realitäten LINKEN) anerkennen. Ihr Problem ist, dass die Koalition gezwungen ist, ei- (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- nen Gegenpunkt zu setzen. Deshalb das taktische Zuge- NIS 90/DIE GRÜNEN]) ständnis an die Konservativen, an die Traditionalisten in Ihrer Partei. Es geht darum, Ihr überholtes Familienbild Jetzt gibt es noch den Fall, dass Partner lange mitein- festzuschreiben. ander verheiratet waren. Ja, auch wir Grünen glauben, (B) dass man dann einen Vertrauensschutz wahren muss (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) Nun mag sich die Koalition die Frage stellen, ob sie ihre und für diesen eine Regelung finden muss. Das aber war Justizministerin brüskiert oder nicht. ein Ergebnis, auf das wir uns gemeinsam verständigt (Zuruf von der CDU/CSU: Darüber müssen hatten – in dieser Diskussion ging es gar nicht um den Sie sich Ihren hübschen Kopf aber wirklich Trauschein –, und wir waren dieser Meinung von An- nicht zerbrechen!) fang an. Übrigens betrifft das nicht nur die Verheirate- ten: Was ist denn mit den Unverheirateten, die lange zu- Die Leidtragenden sind allerdings die nicht verheirateten sammen waren? Erziehenden. Das muss man festhalten. Worum geht es? Natürlich geht es uns allen um die An diesem Punkt möchte ich etwas zu dem Antrag Förderung des Kindeswohls. Meine Kollegin von der der FDP sagen: Ich glaube, dass Ihr Modell, wonach FDP hat zu Recht gesagt: Wir alle sind einverstanden, nicht die Gerichte im Einzelfall über Vertrauenstatbe- dass die Kinder an erster Stelle stehen. Der Punkt, um stände entscheiden sollen, sondern die Ehe mindestens den es jetzt geht, ist aber: Wenn es darüber hinaus noch 15 Jahre bestanden haben muss, dem Anspruch nicht ge- etwas an Unterhalt zu verteilen gibt, dann sollten die El- nügt. Die Richter müssen an diesem Punkt mehr Ent- tern, die Kinder erziehen, an zweiter Stelle stehen. scheidungsspielraum bekommen. Nur dann können sie die Hintergründe beleuchten und dem Einzelfall gerecht (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: werden. Insofern müssen wir endlich auch über die Zu- So ist es!) mutbarkeit von Arbeit reden. Auch da ist es an der Zeit, zu handeln und nicht wegzuschauen. Sie allerdings bestätigen uns eines: dass Ihnen der Trau- schein wichtiger ist als die Leistung der Kindererzie- Ein Ziel des Ganzen ist, klare Verteilungsregeln auf- hung. zustellen. So bitter das auch sein mag: Auch wenn alle in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Mitte der Schlange stehen, wird das zu verteilende und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Geld nicht mehr. Unser Prinzip lautet: Kindeswohl vor LINKEN) Trauschein. Sie bestätigen noch etwas: dass der Trauschein Vorrang (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor Kindern unverheirateter Paare hat. sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9183

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: legen – entscheidet in der Tat darüber, welches Maß an (C) Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär finanzieller Solidarität Familienangehörige voneinan- Alfred Hartenbach. der erwarten können. Es regelt einen zentralen Aspekt familiärer Verantwortung. Trennung, Scheidung, Unter- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- haltspflichten bringen viele Familien in eine schwierige desministerin der Justiz: Lage. Das gilt ganz besonders für die Familien, bei de- Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! nen sich Partner gefunden haben, deren vorige Ehe ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau scheitert ist. Ich halte es deshalb für richtig, dass die Deligöz, genau dem, was Sie zuletzt gesagt haben, wer- Unterhaltsansprüche derjenigen, die in zweiter Ehe ver- den wir nachkommen. heiratet sind und Kinder betreuen, künftig nicht mehr hinter den Unterhaltsansprüchen, die es aus erster Ehe (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) gibt, zurückstehen. Das ist in dem Entwurf, der demnächst in die Beratung (Daniela Raab [CDU/CSU]: Ein deutlicher kommt, vorgesehen. Fortschritt, jawohl!) Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen, verehrte Das ist ein wichtiges Signal für diese Familien. Der Un- Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, dass Sie darauf terhaltsverpflichtete befindet sich heute häufig in der Si- bestanden haben, dass wir heute über den Antrag nach tuation, dass, wenn man abzieht, was er für seine ge- § 62 GO debattieren; da können wir nämlich ein paar scheiterte Ehe zahlt, für seine neue Familie nicht genug Dinge klarstellen. übrig bleibt. Ich sage zu den Grünen nur eines: Wir waren sieben Deshalb sollten die Ansprüche der Verheirateten Jahre in einer Koalition. Ich als Rechtspolitiker habe bei und der Geschiedenen, wenn sie Kinder betreuen, mehr Gesetzentwürfen wegen Ihrer Kollegen zurückste- künftig im gleichen Rang stehen. Damit erhält auch die cken müssen, als wir das bisher gemacht haben. neue Familie die Chance, die sie wie jede andere Familie auch verdient. (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Hartenbach, was soll denn das?) (Beifall des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]) Ein Wort zur FDP: Sie waren 23 Jahre in der Regie- rung, und das Problem ist nicht erst seit gestern bekannt. Ich hätte mir darüber hinaus gewünscht, dass alle El- (Zuruf von der FDP) tern, die minderjährige Kinder betreuen, mit ihren An- sprüchen in den zweiten Rang kommen, egal, ob sie ver- (B) – Aber nicht das, was Sie jetzt wollen. – Wir hätten uns heiratet sind oder nicht. Ich mache keinen Hehl aus (D) nach der intensiven Anhörung im Rechtsausschuss im meiner Meinung: Allein dieser Ansatz wäre zum Wohle vergangenen Oktober natürlich gewünscht, des Kindes konsequent gewesen. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: NEN]: Vielleicht sagen Sie einmal etwas zu Ja!) Ihrem Arbeitsfeld!) Um deren Betreuung geht es nämlich. dass wir bei dem Gesetz etwas schneller vorankommen, selbstverständlich. Ich meine, dass die Reform zu wichtig ist, als dass wir es uns leisten könnten, sie allein an dieser Frage schei- (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es tern zu lassen oder sie bis auf Weiteres zu vertagen und ist Ihre Ministerin, nicht unsere!) vielleicht sogar irgendwohin in den Orkus verschwinden zu lassen. Wenn wir diesen Punkt heute auch zurückstel- Wir waren uns hier einig. Aber es ist nun einmal so, dass len müssen, so erreichen wir doch wesentliche Ziele der auf der Zielgeraden – darüber bin auch ich nicht glück- Reform, nämlich, dass alle Kinder als Unterhaltsberech- lich – in der Union einige bei dem, was verabredet war, tigte in den ersten Rang kommen. Herr Wunderlich, das, ich sage es einmal ganz platt, kalte Füße bekommen ha- was Sie eben gesagt haben, finde ich schon ein bisschen ben. wunderlich. (Holger Haibach [CDU/CSU]: Das ist wirklich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Quatsch!) – Herr Haibach, das ist nun einmal so. Ich beklage es gar Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, an einer anderen nicht, ich sage nur, wie es gewesen ist. – Wichtig für Stelle werden wir die Situation nicht verheirateter El- mich ist, dass wir es schaffen – und das wird diese Ko- tern, die erziehen, zusätzlich verbessern. Der Anspruch alition –, dieses Gesetz zum 1. Juli in Kraft treten zu las- einer nicht verheirateten Mutter soll nicht mehr grund- sen, weil das wichtige Weichenstellungen sind. Ich sätzlich schon nach drei Jahren enden. Ihr Anspruch soll glaube, wir erfüllen damit auch die Erwartungen vieler künftig für mindestens drei Jahre bestehen. Damit verab- Bürgerinnen und Bürger. Wir könnten uns wünschen, schieden wir uns vom bisherigen Regel-Ausnahme-Ver- dass wir das gemeinsam machen. hältnis. Es wird nur noch geprüft, ob die Fortdauer des Unterhaltsanspruchs der Billigkeit entspricht. Dabei Das Unterhaltsrecht – lassen Sie mich einmal ein bis- kann auch berücksichtigt werden, ob ein Kind in einer schen philosophisch werden, liebe Kolleginnen und Kol- dauerhaft gefestigten Lebensgemeinschaft geboren 9184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) wurde. In diesen Fällen erreichen wir eine weitgehende Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- (C) Annäherung an die Dauer des Betreuungsunterhalts bei desministerin der Justiz: verheirateten Eltern. Ich denke, dass unsere Familienge- Liebe Kollegin Lambrecht, ich glaube, ich habe eben richte in der Lage sein werden, dies richtig zu entschei- deutlich gemacht, dass wir hier in vielen Fällen akade- den. misch streiten. Mir ist klar, dass diese Regelung in Mangelfällen (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht besonders viel bringt, weil es dann auf die Rang- NEN]: Das ist nicht akademisch, das sind Zah- folge ankommt und die Unterhaltsansprüche zwar länger len!) bestehen, deren Durchsetzung jedoch an der fehlenden Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners scheitert. – Frau Deligöz, Sie können gleich ja auch eine Frage stellen, wenn Sie möchten. Ich freue mich über solche (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Zwischenfragen. Genau!) (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich habe bei der Debatte manchmal das Gefühl ge- NEN]: Ich würde gerne erst einmal eine Ant- habt, dass wir uns hier sehr akademisch über diese Dinge wort hören!) gestritten haben, die praktisch so nie eintreten werden. Ich habe eben gesagt, dass wir hier in aller Regel aka- demisch diskutieren. Das gilt auch für die Frage, ob die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht verheiratete alleinerziehende Mutter im zweiten Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage Rang wäre. Denn in aller Regel geht es hier um Mangel- der Kollegin Lambrecht? fälle. Aber im Fall derjenigen, wo der Unterhaltsver- pflichtete ein deutlich höheres Einkommen hat, als zum Beispiel ein Facharbeiter im Durchschnitt verdient – es Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- soll etwa gut verdienende Beamtinnen und Beamte oder desministerin der Justiz: auch Rechtsanwälte und -anwältinnen geben –, kann bei Natürlich, wenn es uns weiterhilft, Christine. einer Verlängerung der Dauer der Unterhaltsleistungen unter dem Strich durchaus etwas übrig bleiben. Von da- (Jörg Tauss [SPD]: Fragen von Christine hel- her sind wir auf dem richtigen Weg. Um Ihre Frage zu fen immer weiter!) beantworten: Es kommt sicherlich nicht zu einer Ver- schlechterung. Christine Lambrecht (SPD): (B) (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D) Ich versuche einmal, mit der Praxis zu argumentieren. Die Zahlen klingen aber ganz anders!) Wir haben eben gehört, dass sich der grundsätzliche An- spruch der nicht verheirateten Frauen zeitlich verlängert. Ich darf nun mit meinen Ausführungen fortfahren. Ich Die Frage ist aber natürlich, ob sie in einem entsprechen- setze an der Stelle fort, an der Frau Lambrecht mich un- den Rang landen, das heißt, in der Gruppe, in der sie terbrochen hatte. Ich hatte darauf hingewiesen, dass die überhaupt etwas bekommen. Regelung in Mangelfällen nicht besonders viel bringt, weil es auf die Rangfolge ankommt und der Unterhalts- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: anspruch zwar länger besteht, deren Durchsetzung je- So ist es! Dritter Rang und zehn Jahre bringen doch an der fehlenden Leistungsfähigkeit des Unter- nichts!) haltsschuldners scheitert. Diesen Satz hätten Sie noch Was nützt es ihnen nämlich, wenn sie zwar theoretisch abwarten sollen; dann wäre Ihre Frage beantwortet ge- länger Geld bekommen, praktisch aber nichts erhalten? wesen. Ich denke, wir gehen einen Schritt in die richtige Deswegen habe ich einmal eine ganz praktische Frage Richtung. In den vergangenen Tagen wurde immer wie- an Sie. Wenn sich ein Mann mit einem Nettoeinkommen der die Frage aufgeworfen, ab wann von Eltern eine von 2 400 Euro, der verheiratet war und aus dessen Ehe Erwerbstätigkeit erwartet werden kann. zwei Kinder hervorgegangen sind, einer neuen Partnerin zugewandt und mit ihr ein Kind hat, dann sah die Vertei- (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie lung bisher wie folgt aus – das geht übrigens aus einer blamieren Ihre eigene Ministerin!) Tabelle hervor, welche das Bundesministerium der Justiz veröffentlicht –: Die Exehefrau bekam 668 Euro und die Bereits der Regierungsentwurf geht davon aus, dass kein neue Partnerin 0 Euro. Nach dem angeblichen Kompro- Elternteil einen Krippenplatz gegen seinen Wunsch nut- miss, der ausgehandelt wurde, bekommt die Exehefrau zen muss, wenn das Kind unter drei Jahren ist. Das wer- jetzt 716 Euro – also knapp 50 Euro mehr – und die neue den wir ausdrücklich in den Gesetzentwurf aufnehmen. Partnerin weiterhin 0 Euro. Können Sie mir erklären, wo Bei älteren Kindern wird neben dem Kindeswohl stets zu hier die Verbesserung für nicht verheiratete Lebenspart- berücksichtigen sein, ob die Betreuung in einer Betreu- ner liegt, die Kinder erziehen? Sehen Sie darin eine Ver- ungseinrichtung – in einer Kinderkrippe oder in einem besserung? Kindergarten – möglich ist. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass in Deutschland nach wie vor keine ange- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: messene Betreuungslandschaft vorhanden ist. Insofern Das finde ich jetzt ein bisschen eng!) sind Verbesserungen notwendig. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9185

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Wir haben gut 90 Prozent des Regierungsentwurfs Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) umgesetzt. Auch ich hätte mir gewünscht, dass wir ihn Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich zu 100 Prozent umgesetzt hätten, weil wir dann den von höre keinen Widerspruch. uns gewollten Paradigmenwechsel im Unterhaltsrecht tatsächlich erreicht hätten. Aber bei allen Regierungen, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- denen ich angehört habe und die ich erlebt habe, hat es mentarische Staatssekretär Andreas Storm. Gesetzesvorhaben gegeben, deren Umsetzung viel schlechter verlaufen ist. Deswegen bitte ich sehr höflich: Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Lasst uns gemeinsam für das Ergebnis streiten. ministerin für Bildung und Forschung: Vielen Dank. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Hochschulen in Deutschland stehen in den nächsten Jah- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ren vor großen Herausforderungen. Die Reform der Stu- CDU/CSU) dienstruktur – ich verweise in diesem Zusammenhang auf den Bolognaprozess, den internationalen Wettbe- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werb um eine leistungsfähige universitäre Forschung und nicht zuletzt auf den absehbaren Anstieg der Stu- Ich schließe die Aussprache. dienbewerberzahlen – erfordert vielfältige Anstrengun- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: gen. Zugleich sind mit den genannten Entwicklungen aber auch große Chancen für die Zukunft der jungen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Menschen, für unser Wissenschaftssystem und die Inno- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung vationskraft unseres Landes verbunden. und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und – zu dem Antrag der Abgeordneten Monika der SPD) Grütters, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, dass wir CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Ernst auch die in den kommenden Jahren steigende Zahl der Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, Studienanfänger nicht etwa als Belastung, sondern als weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Chance begreifen. Denn während im Zuge des wirt- SPD schaftlichen Strukturwandels der Bedarf an hoch qualifi- zierten Arbeitskräften kontinuierlich steigt, droht zu- Den Hochschulpakt erfolgreich umsetzen gleich infolge der demografischen Entwicklung ein (B) massiver Fachkräftemangel. (D) – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saar- Bundesbildungsministerin hat die brücken) und der Fraktion der LINKEN Herausforderung der steigenden Studierendenzahlen an- Hochschulpakt 2020 – Kapazitätsausbau genommen und bereits im vergangenen Jahr die Initia- und soziale Öffnung tive für einen Hochschulpakt 2020 ergriffen. Das in den Verhandlungen mit den Ländern erreichte Ergebnis ist – zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, ein gelungenes Beispiel dafür, wie Bund und Länder in- Krista Sager, Priska Hinz (Herborn), weiterer nerhalb der Möglichkeiten, die sich nach der Föderalis- Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- musreform für sie ergeben, ihre politische Verantwor- SES 90/DIE GRÜNEN tung für die Hochschulen und die junge Generation gemeinsam wahrnehmen. Hochschulpakt 2020 zum Erfolg bringen – Studienplätze bedarfsgerecht und zügig aus- Im November 2006 haben sich die Wissenschaftsmi- bauen nister von Bund und Ländern auf Eckpunkte für die Aus- gestaltung des Hochschulpaktes geeinigt, denen an- – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Barth, schließend die Regierungschefs von Bund und Ländern Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weiterer im Dezember zugestimmt haben. Derzeit werden diese Abgeordneter und der Fraktion der FDP Eckpunkte in eine konkrete Fördervereinbarung umge- Die Qualität der Hochschullehre sichern – setzt, die bei der nächsten Konferenz der Regierungs- den Hochschulpakt 2020 erfolgreich ab- chefs von Bund und Ländern am 14. Juni dieses Jahres schließen und weiterentwickeln zur Unterzeichnung vorgelegt werden soll. – Drucksachen 16/4563, 16/3278, 16/3281, 16/3290, Dieser Hochschulpakt wird auf zwei Säulen beruhen: 16/4875 – zum einen auf einem Programm zur Aufnahme zusätzli- cher Studienanfänger, denen insbesondere durch die Berichterstattung: Schaffung zusätzlicher Stellen im Bereich der Lehre ein Abgeordnete Monika Grütters qualitativ hochwertiges Hochschulstudium ermöglicht Dr. Ernst Dieter Rossmann werden soll; zum anderen auf einem Forschungselement, Uwe Barth auf einer Programmkostenpauschale für erfolgreiche Cornelia Hirsch Hochschulforschung, die sich im Wettbewerb um För- Kai Gehring dermittel der DFG durchsetzt. 9186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Parl. Staatssekretär Andreas Storm (A) Bei der ersten Säule für die Lehre geht es um eine Zudem werden die Länder den zusätzlichen Ausbau der (C) langfristig angelegte Grundsatzverpflichtung von Hochschulen dazu nutzen, den Anteil der Studienanfän- Bund und Ländern zur Aufnahme zusätzlicher Stu- gerplätze an Fachhochschulen zu erhöhen. dienanfänger. Im Vergleich zum Basisjahr 2005 rech- nen wir auf der Basis der mit der KMK abgestimmten (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- Prognose für die Jahre von 2007 bis 2010 zunächst ein- Eckardt) mal mit rund 90 000 zusätzlichen Studienanfängern. In Ein weiteres Ziel in diesem Zusammenhang ist es, den den Jahren des Spitzenbedarfs 2011 bis 2013 kommen Anteil von Frauen bei der Besetzung von Professuren jährlich etwa 40 000 zusätzliche Studienanfänger hinzu. und sonstigen Stellen im Bereich der Lehre auszubauen. Der Bund wird sich an den Kosten für diese zusätzlichen Studienanfänger alleine im Zeitraum von 2007 bis 2010 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit insgesamt 565 Millionen Euro beteiligen. der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Meine Damen und Herren, mit der zweiten Säule des der SPD) Hochschulpaktes wollen wir im Bereich der Forschungs- förderung einen schrittweisen Einstieg in die Vollfinan- Mit dieser massiven Beteiligung des Bundes wird es den zierung von Forschungsprojekten durch Programm- Ländern möglich sein, die Gesamtfinanzierung sicherzu- pauschalen – sogenannte Overheads – erreichen. stellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für diese Gewährung der Bundesfinanzierung ist eine klare Erfolgskontrolle vereinbart, die sich nach den tat- Dies ist ein Projekt, das auf internationaler Ebene in vie- sächlich aufgenommenen zusätzlichen Studienanfängern len Ländern schon gang und gäbe ist, auch im Rahmen richtet. Ein Problem war in diesem Zusammenhang, dass der EU-Förderung. wir in den einzelnen Teilen unseres Landes vor sehr un- terschiedlichen Entwicklungen stehen, und zwar einer- Dieses Instrument leistet einen wichtigen Beitrag seits vor einem deutlichen Aufwuchs der Studierenden- dazu, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deut- zahlen in den alten Ländern und andererseits – wenn schen Hochschulen zu sichern und auszubauen. Die For- nicht gegengesteuert wird – vor einem deutlichen Ein- schungsförderung an den Hochschulen wird so von der bruch der Studierendenzahlen in den neuen Ländern. Grundfinanzierung unabhängiger gemacht und effektiver Auch dieser Situation wollen wir begegnen. Deshalb gilt gestaltet. Dies ist neben dem Ausbau der Forschungsför- es zu vermeiden, dass vorhandene Studienkapazitäten in derung an Fachhochschulen – die Mittel hierfür haben den neuen Ländern abgebaut werden, während an ande- wir seit 2005 bereits verdreifacht – und der zu Jahresbe- (B) rer Stelle ein umso höherer Ausbau erforderlich wäre. ginn gestarteten Forschungsprämie ein weiterer wichti- (D) ger Baustein zur Stärkung der Forschung an den Hoch- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schulen, der seine Wirkung in der Breite entfalten kann. der SPD) Diese Programmpauschalen in Höhe von 20 Prozent wer- Das ist im Hochschulpakt berücksichtigt worden, in- den von diesem Jahr an sukzessive für von der Deutschen dem für die neuen Länder ein Anteil von 15 Prozent der Forschungsgemeinschaft geförderte Forschungsvorha- Bundesmittel reserviert ist, wenn sie sich dazu verpflich- ben eingeführt. Hierfür übernimmt der Bund bis zum Jahr ten, die Studienanfängerzahlen auf der Basis des 2010 eine 100-prozentige Finanzierung in Höhe von ins- Jahres 2005 bis zum Jahr 2010 zu halten. Unter der glei- gesamt rund 700 Millionen Euro. chen Voraussetzung – das ist sozusagen der zweite Son- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- derbereich, die Stadtstaaten – erhalten Bremen und neten der SPD) zusammen 3,5 Prozent der Bundesmittel. Das Land Berlin erhält eine Pauschale von 4 Prozent – ver- Ich freue mich, dass – bei aller Kritik an einzelnen bunden mit der Verpflichtung, in den nächsten Jahren Punkten – die Ausschussberatungen gezeigt haben, dass eine jährliche Studienanfängerzahl von 19 500 zu halten. die meisten Vertreter der Oppositionsfraktionen den Hochschulpakt im Grundsatz unterstützen. Neben dieser Gesamtvorgabe – das ist sehr wichtig – ist es uns vor allen Dingen gelungen, das Hauptziel der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Aufnahme zusätzlicher Studienanfänger mit wichtigen der SPD) strukturpolitischen Zielsetzungen zu verbinden. So ver- pflichten sich die Länder, bei der Verwendung der För- Bund und Länder unternehmen gemeinsam erhebliche dermittel Schwerpunkte in der Schaffung zusätzlicher Anstrengungen. Alleine der Bund stellt bis zum Jahr Stellen an Hochschulen zu setzen, zum Beispiel durch 2010 1,27 Milliarden Euro für den Hochschulpakt zur vorgezogene Berufungen auf Lehrstühle, die Einrichtung Verfügung. zusätzlicher Juniorprofessuren oder etwa die Einführung Lassen Sie mich abschließend aber auch darauf hin- neuer, lehrbezogener Personalkategorien nach dem Mo- weisen: Der Hochschulpakt entlässt die Länder nicht aus dell des angelsächsischen Lecturers. Die Länder sind in ihrer primären Verantwortung für die Hochschulen. den nächsten Tagen gefordert, ihre Vorschläge dazu vor- zulegen. (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Er ist kein Allheilmittel für sämtliche hochschulpoliti- der SPD) schen Herausforderungen. Insbesondere für die Umset- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9187

Parl. Staatssekretär Andreas Storm (A) zung der Bolognareformen werden zusätzliche Anstren- (Jörg Tauss [SPD]: Guck einmal die Länder (C) gungen erforderlich sein. an, wo Sie mitregieren!) (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) Es reicht nicht aus, einfach mehr Stühle in die ohnehin überfüllten Hörsäle zu stellen. Zu neuen Studienplätzen Aber lassen Sie uns mit dieser Debatte den Hochschulen gehören erweiterte Angebote, von der Betreuung über und den Studierenden in unserem Lande ein klares Signal die Hörsäle bis zu den Laborkapazitäten. – Das geht na- geben. Mit dem Hochschulpakt eröffnen wir neue Chan- türlich genauso an die Länder, in denen wir mitregieren, cen. Wir brauchen die jungen Menschen, die sich für ein Herr Tauss, aber auch an die Länder, in denen Sie mitre- Hochschulstudium entscheiden. Wir brauchen ihre Bega- gieren. bungen. Wir werden ihnen alle Chancen für eine qualifi- zierte Hochschulausbildung geben. (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Fan- gen wir bei Baden-Württemberg an!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bei aller Unterstützung des Hochschulpaktes ist die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wortspielerei zwischen Studienanfängern und zusätz- Als Nächstem erteile ich dem Kollegen Uwe Barth lichen Studienplätzen, die auch der Staatssekretär be- für die FDP-Fraktion das Wort. müht hat, kein gutes Zeichen, ebenso wie die bei diesem Thema für meine Begriffe etwas zu leere Bundesrats- (Beifall bei der FDP) bank. Da hätte ich mir auch ein größeres Interesse vor- stellen können. Uwe Barth (FDP): (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Ernst Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieter Rossmann [SPD]) Wir diskutieren heute im Zusammenhang mit dem Hochschulpakt über die Grundlage einer gemeinsamen Wir wissen aber auch, dass sich diese Entwicklung in Hochschulpolitik für die nächsten 14 Jahre, die wesentli- Deutschland nicht gleichmäßig vollzieht. Der Osten er- chen Einfluss auf die qualifizierte Ausbildung des wis- wartet einen Rückgang, während wir im Westen einen senschaftlichen und akademischen Nachwuchses in un- Aufwuchs erwarten. Auch auf diese divergierende Ent- serem Land haben wird. wicklung müssen wir natürlich reagieren. Ich freue mich, dass es im Hochschulpakt – wenn er denn unter- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) schrieben ist – auch zu einer formalen Verständigung zu Letztlich muss dieser Pakt dazu führen, dass wir den Be- dieser Problematik kommen wird. Die Studienplätze in darf an qualifizierten Nachwuchskräften und Fachkräf- den neuen Ländern und in Berlin sollten also gehalten (B) ten in unserer Wirtschaft, aber auch in unserer Verwal- werden; denn auch die ostdeutschen Hochschulen müs- (D) tung und insbesondere in Forschung und Lehre decken sen einen Beitrag dazu leisten, den prognostizierten und so auf lange Sicht unsere Innovationskraft nicht nur Fachkräftemangel aufzuhalten. erhalten, sondern wieder stärken; das ist dringend nötig. Dabei kann es nicht bei einer gemeinsamen Marke- (Beifall bei der FDP) tingstrategie bleiben. So richtig, wichtig und notwendig eine solche Marketingstrategie – die sich, durch die his- Die Chancen sind gut; denn bis 2020 wird die Anzahl torischen Gegebenheiten bedingt, insbesondere auch der Studienberechtigten aufgrund der demografischen nach Mittel- und Osteuropa wenden kann und muss – Entwicklung letztmalig erheblich ansteigen. Schon heute auch ist, gehören dazu neben bunten Prospekten auch klagt die deutsche Wirtschaft über das Fehlen von ganz konkrete Taten. Ich denke hierbei insbesondere da- 1,6 Millionen Fachkräften, wie wir es in der letzten Wo- ran, dass ins Ausland gehende Absolventen über ganz che in der „ Deutschland“ lesen konnten. konkrete Forschungsaufträge und eine damit verbundene Das macht deutlich, wo das Problem liegt. Diese Zahl entsprechende Betreuung langfristig und durchaus auch wurde vom Institut der deutschen Wirtschaft bestätigt, strategisch an die Heimathochschule gebunden werden das die bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten können. Das ist aus meiner Sicht eine ganz wichtige Er- über 400 000 offenen Stellen hochgerechnet hat. gänzung dieser Marketingstrategie. (Jörg Tauss [SPD]: Die muss endlich auch (Beifall bei der FDP) mehr tun! Da sind wir uns einig!) Auch wenn Bund und Länder jetzt 22 000 Euro in je- Der VDI geht davon aus, dass derzeit 22 000 Ingenieur- den zusätzlichen Platz investieren wollen: Eine ange- stellen in Deutschland nicht besetzt werden können. An- messene Besetzung der Hochschullehrerstellen ist ein gesichts dieser Entwicklung handelt es sich tatsächlich Punkt, den wir nicht aus dem Auge verlieren dürfen. Ich um so etwas wie eine letzte Chance. warne deshalb davor, in der kurzfristigen Besetzung sol- Mit dem Hochschulpakt, der im Sommer geschlossen cher Stellen durch Lecturer und Lehrprofessuren die al- werden soll, können wir entscheidende Weichenstellun- lein seligmachende Lösung zu sehen. gen vornehmen. Bund und Länder gehen davon aus – der (Jörg Tauss [SPD]: Allein seligmachend gibt Staatssekretär hat es bereits gesagt; das ist kein Geheim- es nicht einmal bei euch!) nis –, dass 90 000 zusätzliche Studienanfänger auf die Universitäten zukommen. Es geht aber um den Bedarf Die deutschen Universitäten funktionieren so nicht; das an neuen Studienplätzen, Herr Staatssekretär. ist nicht das Selbstverständnis der deutschen Universitä- 9188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Uwe Barth (A) ten. Wir wissen, dass wir über 8 000 Lehrstühle an Uni- (Beifall bei der SPD) (C) versitäten und Fachhochschulen haben, die wir bereits ohne irgendwie – Frau Aigner, wir könnten zusammen jetzt schrittweise mit jungen Fachleuten, mit jungen Pro- frohlocken – nachkarten zu wollen. Schließlich gibt es fessoren nachbesetzen müssen. Auch hier gilt: Die Mög- einen Sichtwechsel. Es gibt den Sichtwechsel – der lichkeit der Emeritierung mit 67 – so richtig sie ist – ist Staatssekretär hat es positiv angesprochen –, dass mehr alles andere als die strategische Antwort auf dieses Pro- Studienanfänger eine Chance sind, sowohl individuell blem. Vielmehr müssen diese Stellen bereits jetzt sozu- als auch für Deutschland insgesamt. Weiterhin gibt es sagen parallel besetzt werden. Im Ergebnis müssen die den Sichtwechsel, dass wir mehr Studienanfänger, mehr Hochschulen die Entwicklungen der nächsten Jahre als erfolgreiche Studienabsolventen und mehr Menschen einmalige Chance betrachten, ihr Profil zu schärfen, sich brauchen, die sich an der Hochschule begeistert engagie- zukunftsfähig zu machen und den jungen Forschern die ren. Das können wir mit diesem Hochschulpakt errei- Erkenntnis zu vermitteln, dass ihre strategische Chance chen. auch hier in Deutschland liegt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Jörg Tauss [SPD]: Sagen Sie das einmal Herrn Pinkwart!) Rückfragen ergeben sich in dreierlei Hinsicht. Die erste Frage lautet: Was tun wir denn, um diese Quantität Den über 300 000 Studienanfängern, die wir in jedem wirksam werden zu lassen? Denn der Hochschulpakt ist Jahr haben, stehen nur etwas mehr als 200 000 Absol- mit nicht unbescheidenen 1,25 Milliarden Euro für meh- venten gegenüber. Das heißt, jedes Jahr bleiben 100 000 rere Jahre gut ausgestattet. junge Menschen auf der Strecke; im Schnitt erreichen nur 66 Prozent aller Anfänger in Deutschland einen Ab- (Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es!) schluss. Der Hochschulpakt soll nun zusammen mit der Die zweite Frage ist: Was tun wir, damit das Studium Einführung der neuen Studienabschlüsse Bachelor und auch ein gutes Studium ist? Nicht nur gute Arbeit, auch Master einen wirksamen Beitrag zur Senkung der Ab- eine gute Lehre und ein gutes Studium müssen ein Mar- brecherquoten unserer Studenten und auch des mit kenzeichen sein. Die dritte Frage ist – das darf man von 28 Jahren sehr hohen Altersdurchschnitts unserer Sozialdemokraten erwarten –, wie sich der soziale Aus- Hochschulabsolventen leisten. gleich bzw. die soziale Unterstützung gestaltet. Eine persönliche Anmerkung sei mir zum Schluss Ich möchte zunächst etwas zur Quantität sagen. Ich aber gestattet: Der Weg, dem erwarteten Studierenden- will nicht im Detail ausführen, was die Unterschiede berg mit einer Verkürzung der Studienzeiten die Spitze zwischen Studienanfängern und Studienplätzen sind, nehmen zu wollen, darf nicht zu einer dauerhaften Sen- aber ich will Ihnen, Herr Staatssekretär, und auch dem (B) kung des Niveaus unserer Hochschulabschlüsse und des (D) Parlament sagen: Wenn die Präsidentin der Hochschul- Bildungsniveaus unserer Absolventen führen. Der Ba- rektorenkonferenz ein Monitoring ankündigt, in dessen chelor muss deshalb, wenn er zum Zukunftsmodell Rahmen man genau nachvollziehen will, was sich in den avancieren will, dem Anspruch gerecht werden, wirklich einzelnen Hochschulen tut und wie die einzelnen Bun- ein berufsqualifizierender Abschluss zu sein. desländer mit der Chance umgehen, die ihnen jetzt mit Vielen Dank. viel Geld ermöglicht werden soll, dann darf der Bundes- tag nicht hinter diesem Monitoring der Hochschulrekto- (Beifall bei der FDP) renkonferenz zurückstehen. Wir als Bundestag müssen das genauso ernst nehmen und kontinuierlich begleiten, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wie jetzt der Hochschulpakt in den Ländern, die sich en- Ernst Dieter Rossmann kommt jetzt zu Wort für die gagieren, mit mehr Geld und mit mehr Studienplatzka- SPD-Fraktion. pazitäten umgesetzt wird. Wir sollten das insbesondere in Bezug auf das tun, Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): was ich hier heute exemplarisch ansprechen möchte. Es Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! geht um die Frage: Wie verhält es sich eigentlich mit Es ist gut, dass wir nach dem langen Vorlauf, den dieser dem Ost-West-Ausgleich? Mir als jemandem, der aus Hochschulpakt hat, heute gemeinsam eine gute Zwi- der Gegend von Hamburg kommt, ist die Dramatik gar schenbilanz ziehen können; denn das wirkliche Ereignis, nicht so klar gewesen, nämlich dass gerade einmal die Unterzeichnung des Paktes, steht noch aus. Im Rück- 3 Prozent aller westdeutschen Studienberechtigten in die blick darf man daran erinnern, wie es zu diesem Hoch- neuen Bundesländer gehen, um dort zu studieren, wäh- schulpakt kommen konnte. Wir haben sicherlich finan- rend 25 Prozent aller Studienberechtigten aus den neuen zielle Spielräume dadurch neu gewonnen, dass die Bundesländern in die westdeutschen Bundesländer ge- Eigenheimzulage abgeschafft wurde und die eingespar- hen, um dort zu studieren. Um es in absoluten Zahlen zu ten Mittel den Studienanfängern zugute kommen. Das ist sagen: Wir haben 356 000 Studienanfänger, davon im- entschieden dynamischer und zukunftsorientierter. Wir merhin 71 000 in den neuen Bundesländern. Darin steckt haben im Rahmen der Föderalismusreform durch die doch ein ungeheures Potenzial, vor allen Dingen da ab- Veränderung des Art. 91 b des Grundgesetzes den sehbar ist, dass aufgrund des demografischen Wandels Spielraum für den Abschluss eines qualitativen Hoch- die Zahl der jungen Leute in den neuen Bundesländern schulpaktes gewonnen. Wir sind froh, dass der Spiel- von jetzt 285 000 auf nur noch 100 000 sinken wird. raum so gut genutzt worden ist, Was das für die Kapazität, die an den Hochschulen in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9189

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) den neuen Bundesländern vorhanden ist, bedeutet, muss soren in Zukunft unter Umständen Lehrverpflichtun- (C) man – vielleicht wissen es schon alle – publik machen. gen in einem Umfang von zwölf statt bisher acht Stunden erfüllen sollen. Sowenig wie die Einheit von Deshalb möchte ich eine Botschaft von hier aussen- Forschung und Lehre dadurch gefährdet wird, dass die den: Junge Leute, ihr bekommt gute Studienbedingun- Lehrverpflichtungen von acht auf vier Stunden reduziert gen in den neuen Bundesländern. Richtet euren Blick werden, so wenig wird sie dadurch gefährdet, dass sie nicht nur nach Bayern, nach Baden-Württemberg, nach von acht auf zwölf Stunden aufgestockt werden. NRW und nach Hessen, sondern schaut genauso nach Sachsen, nach Thüringen, nach Berlin, nach Branden- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) burg, nach Mecklenburg-Vorpommern und nach Sach- sen-Anhalt! Dort sind Hochschulen, Diese Schwerpunktsetzung muss doch möglich sein. Auch deshalb bitte ich den Deutschen Hochschullehrer- (Jörg Tauss [SPD]: Gute Hochschulen!) verband, die mit Differenzierung und Verbindung von Forschung und Lehre verbundene Chance zu nutzen. die jetzt schon exzellent sind. Wie erklären wir es uns eigentlich, dass wir mit dem (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Hochschulpakt zwar viele Chancen eröffnen wollen, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gleichzeitig aber den Rückgang der Studienanfängerzah- Exzellente Hochschulen gibt es in , in Berlin len erleben? Hängt das vielleicht mit den Studiengebüh- und anderswo. Es gibt nicht nur exzellente Hochschulen, ren zusammen? sondern, was besonders wichtig ist, es entsteht auch ein Umfeld. Man kann nicht nur einen Studienabschluss er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werben, sondern auch Arbeit in der Forschung finden. Es des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der entstehen Arbeitsplätze durch den Wissenstransfer, und LINKEN – Jörg Tauss [SPD]: Eindeutig!) es gibt Chancen, im universitären Umfeld den Schritt in Ich bin heute so koalitionsloyal, dass ich in meiner Frage die Selbstständigkeit zu tun. Jüngst ist die Prognos-Stu- ein „vielleicht“ benutzt habe. Vielleicht ist es ein Pro- die erschienen, die die Entwicklung der einzelnen Re- blem der Organisation von Studienplätzen: Serviceein- gionen Deutschlands in Bezug auf die Städte und Kreise richtungen, Studienvermittlungen müssten vielleicht anhand von 439 solcher Körperschaften untersucht hat. besser ausgestaltet werden. Es geht sicherlich auch da- Es kann uns doch nur freuen, dass es nicht nur Dresden, rum – das ist ein materielles Problem –, ob und wie wir Potsdam oder Jena, sondern genauso Greifswald, Leip- es schaffen, das BAföG weiterzuentwickeln. zig, Magdeburg, Eisenach oder Cottbus sind, die gewal- tige Sprünge nach vorne machen. Sozialdemokraten formulieren dieses „ceterum cen- (B) seo“ in dieser Legislaturperiode immer am Schluss ihrer (D) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜND- Rede. Daher möchte auch ich es zum Ausdruck bringen: NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Lassen Sie uns die Chance ergreifen, die vorhandenen fi- Man kann dort gut studieren, und man findet dort gute nanziellen Spielräume beim BAföG dafür zu nutzen, Voraussetzungen für ein erfolgreiches Berufsleben. dass viel mehr junge Leute aus den Mittelschichten und Diese Chance sollten wir gemeinsam nutzen. Das wäre vor allen Dingen junge Leute mit Eltern, die materiell gut für die deutsche Einheit und für die Perspektiven der nicht so gut ausgestattet sind, studieren können. jungen Leute. (Beifall bei der SPD) Von Vorteil wäre auch, wenn wir die dort bereits vor- Die Sozialdemokratie – handenen materiellen Reserven wirklich ausschöpften. Das Centrum für Hochschulentwicklung, CHE, hat Fol- (Uwe Barth [FDP]: Regiert mit!) gendes ermittelt: Wenn wir diese Reserven nicht aus- – regiert mit –, und sie kämpft, und das sogar erfolg- schöpfen, setzen wir über 3 Milliarden Euro in den Sand. reich. Wir sind uns fast sicher: Andere werden bald mit- Diese Mittel wären schon jetzt nutzbar, wenn genügend kämpfen. Das ist doch ein gutes Zeichen für die Hoch- junge Leute die sich dort bietenden Möglichkeiten in schulen. Anspruch nähmen. Danke. Offen bleibt, ob in diesem Bereich schon genügend getan wird. Ich will ergänzen: Auch in Bezug auf die üb- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rigen Studienorte muss die Frage gestellt werden, ob der der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Lehre schon hinreichend Priorität eingeräumt wird. DIE GRÜNEN) Wir wünschen uns, dass der Exzellenzansatz in der For- schung mit einem Bemühen um qualitativ hochwertige Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Lehre in der Breite einhergeht. Die Hochschulen sollten Ich erteile jetzt Cornelia Hirsch das Wort für Die dies im Interesse der Studierenden ausgesprochen ernst Linke. nehmen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte einen Kritikpunkt nennen. Der Deutsche Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Hochschullehrerverband glaubt, die Einheit von For- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schung und Lehre werde dadurch gefährdet, dass Profes- Herr Staatssekretär Storm, Sie haben eben behauptet, 9190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Cornelia Hirsch (A) dass Bund und Länder mit dem Hochschulpakt ihrer Ver- Zweiter Punkt. Das war noch verlogener, Herr Storm. (C) antwortung für die junge Generation gerecht werden. Sie haben gesagt, es sei Ihnen gelungen, strukturelle Für Die Linke möchte ich sagen, dass wir diese Behaup- Vorgaben zu machen und die dann auch entsprechend tung wirklich deutlich zurückweisen. Ich kann mich umzusetzen. Mit Verlaub: Wenn man sich diesen Antrag nicht daran erinnern, dass wir den Hochschulpakt, den anschaut, findet man nur Formulierungen wie: Sie wol- Sie hier vorgelegt haben und den Sie jetzt auch umsetzen len darauf drängen. Sie wollen dafür Sorge tragen. Sie wollen, im Ausschuss jemals begrüßt hätten. Wir sind wollen darauf hinwirken. Sie wollen bestimmte Dinge für einen grundsätzlich anderen Hochschulpakt eingetre- zu nutzen versuchen. – Das ist wirklich nicht das, was ten. wir unter verbindlichen Vorgaben verstehen. Das wird sehr deutlich, wenn man den heute von den Das beste Beispiel ist das Frauenförderprogramm. Sie Koalitionsfraktionen vorgelegten Antrag mit dem von haben hier gesagt: Die Länder werden das tun. Sie wer- uns, von der Fraktion Die Linke, schon im letzten No- den dafür sorgen, dass mehr Frauen auf Stellen für Pro- vember eingebrachten Antrag vergleicht. fessorinnen und Professoren kommen. – Im Antrag steht aber, dass man auf die Länder einwirken möchte, dass (Jörg Tauss [SPD]: Unserer ist besser!) sie sich bitte darum kümmern mögen. Darüber, ob das Ich möchte drei zentrale Forderungen unseres Antrags funktioniert, können wir uns vielleicht im nächsten Jahr aufgreifen, Herr Tauss, die Sie in Ihrem Antrag „Den noch einmal unterhalten, aber für uns ist relativ klar, Hochschulpakt erfolgreich umsetzen“ vollständig außen dass man mit einer solchen Politik sicherlich keinen qua- vor lassen. litativen Umbau an den Hochschulen hinbekommen wird. Erstens. Wenn man die Hochschulen wirklich öffnen will, wenn man wirklich mehr jungen Menschen einen Noch ein Punkt zur Qualität. Auch das war einmal Zugang zu den Hochschulen ermöglichen will, dann wieder sehr eindeutig. Qualität heißt immer auch, dass muss man der Frage nachgehen, wie viel Geld für einen die Beschäftigten in der Wissenschaft gute Rechte und Hochschulpakt zur Verfügung gestellt wird. Man kann gute Arbeitsbedingungen haben müssen. Sie begrüßen sagen: 1,25 Milliarden Euro, das klingt nach schrecklich – das müssen wir hier lesen –, dass das Wissenschafts- viel Geld. zeitvertragsgesetz durchgesetzt wurde. (Uwe Barth [FDP]: Das ist es ja wohl auch!) (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) Alle Zuhörerinnen und Zuhörer werden dazu erst einmal Damit sind aber gerade schlechtere Arbeitsbedingungen sagen: Wow! Das ist ja wirklich eine große Menge. Man für die Beschäftigten in der Wissenschaft verbunden. (B) muss aber überlegen: Was wird damit eigentlich finan- (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) (D) ziert? Darauf möchte ich ganz konkret eingehen. Das halten wir dann wirklich für eine komplette Heuche- Herr Storm hat gesagt: Wir haben jetzt den Bologna- lei und weiß Gott nicht für einen qualitativ hochwertigen prozess, in dem die Studiengänge umgestellt werden sol- Hochschulpakt. len. – Da ist einfach noch mehr Geld vonnöten. Dritter und letzter Punkt. Ich fand es sehr nett, dass (Uwe Barth [FDP]: So kann nur jemand reden, auch Herr Rossmann das an die letzte Stelle gesetzt hat. der mit Geld nicht umgehen kann! – Monika Es geht um die Frage: Wie geht man mit der sozialen Grütters [CDU/CSU]: Das müssen Sie den Öffnung der Hochschulen um, und wie bekommt man Bundesländern sagen!) das hin? Im Zusammenhang mit dem Hochschulpakt ha- Dies beziehen Sie in Ihre Berechnung für mehr Studien- ben wir im Ausschuss darüber diskutiert. Wir haben ein- anfängerinnen und -anfänger kein bisschen ein. Das hal- gefordert, dass das zum Thema gemacht wird. Da beka- ten wir für falsch. men wir von der Bundesregierung zur Antwort: Man wird sich schon irgendwann einmal darum kümmern; Man muss anmerken, dass im Rahmen der Föderalis- wenn man das jetzt noch in den Hochschulpakt einbe- musreform Gelder weggefallen sind. Die Gelder, die zieht, besteht das große Problem, dass dann vermutlich mit dem Hochschulpakt hineinkommen, sind teilweise sogar der ganze Pakt scheitert, was man in keinem Fall nur Kompensationsmittel, sodass es nicht viel Geld ist, will. was am Ende für die Hochschulen faktisch übrig bleibt. Dazu sagen wir: Wann geht man das Problem, dass Im Prinzip hat diese Kritik, die wir hier üben, nämlich nur rund 10 Prozent der Studierenden aus einkommens- dass das Geld nicht ausreicht, auch Herr Rossmann in schwachen Schichten kommen, denn sonst an, wenn seiner Rede gerade zum Ausdruck gebracht. Er hat ge- nicht bei einem Pakt, bei dem es gerade darum geht, die zeigt, dass im Antrag durchgängig nur von Studienan- Hochschulen zu öffnen und mehr Studierende in die fängerinnen und -anfängern die Rede ist, aber gerade Hochschulen zu holen? Wenn man bei der Gelegenheit nicht von Studienplätzen. Wenn es wirklich um eine gute nicht sagt: „Wir wollen diese Entwicklung nutzen, um Ausfinanzierung gehen soll – für mehr Studierende an gleichzeitig soziale Ungleichheit abzubauen“, dann ist den Hochschulen –, müsste sichergestellt sein, dass für das aus unserer Sicht kein guter Pakt und kein Pakt, dem diesen Hochschulpakt mehr Geld zur Verfügung gestellt wir in dieser Form zustimmen können. wird. Deshalb halten wir das so für falsch. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Ernst Dieter (Beifall bei der LINKEN) Rossmann [SPD]: BAföG!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9191

Cornelia Hirsch (A) Allerletzter Punkt. Herr Rossmann, Sie haben eben Wir haben uns als Grüne bereits damals klar gegen (C) angesprochen, dass sich Sozialdemokratinnen und diesen Murks eingesetzt. Wären wir dabei auch gemein- Sozialdemokraten für eine BAföG-Erhöhung einsetzen. sam mit den Bildungspolitikerinnen und -politikern aus Ich hätte es deutlich glaubwürdiger gefunden, wenn So- den anderen Oppositionsfraktionen nicht erfolgreich ge- zialdemokratinnen und Sozialdemokraten das nicht erst wesen, dann würde sich heute jede Debatte über einen jetzt machen würden, gesamtstaatlichen Ausbau von Studienplätzen völlig er- übrigen, und wir könnten uns die Diskussion heute im (Jörg Tauss [SPD]: Wann denn dann? Dem- Plenum auch sparen. nächst sind die Haushaltsberatungen!) sondern schon unter Rot-Grün versucht hätten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) (Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir auch getan! – Gegenruf der Abg. Ulrike Flach [FDP]: Aber Wir haben es geschafft, die klugen Kräfte der Koali- nicht ausreichend!) tion bei der Föderalismusreform zu unterstützen. sich dafür einzusetzen, dass nicht sechs Jahre nacheinan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der die BAföG-Erhöhung verschleppt wird. Es ist wirk- sowie bei Abgeordneten der SPD) lich eine verlogene Politik, wenn Sie sich jetzt als die Allein darüber bleibt ein Fenster für ein gemeinsames großen Retterinnen und Retter des BAföG aufführen. hochschulpolitisches Handeln von Bund und Ländern Ich komme zu dem Punkt zurück, den ich am Anfang offen. gesagt habe: Der besonderen Verantwortung für die Trotzdem ist klar: Hochschulpolitik ist durch die Fö- junge Generation wird man damit nicht gerecht. deralismusreform keinesfalls einfacher geworden; denn Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Bundesinitiativen für mehr Studienplätze können nur bei Einstimmigkeit aller Länder beschlossen werden. (Beifall bei der LINKEN – Uwe Barth [FDP]: Da wird jedem noch so absurden Sonderwunsch eines Was sie zu Rot-Grün gesagt hat, stimmt! – Landes oder Ministerpräsidenten Tür und Tor geöffnet, Weitere Zurufe) oder, um es klar zu sagen: Ein Koch allein kann den Brei schon verderben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt spricht Kai Gehring für das Bündnis 90/Die Grü- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen. sowie bei Abgeordneten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Auch die Lahmen werden mitgenom- (B) men!) (D) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur Wir Grüne haben bereits im Februar 2006 unseren ein kurzer Hinweis vorab: Durch die rot-grüne BAföG-Re- ersten Antrag mit klaren politischen Leitlinien für einen form ist die Zahl der Geförderten um 50 Prozent gestiegen. Hochschulpakt 2020 vorgelegt. Bei der Koalition hat das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bis März 2007 gedauert. Offenbar hat Rot-Schwarz erst und bei der SPD sowie der Abg. Monika eine hochschulpolitische Sommerpause und dann einen Grütters [CDU/CSU]) tiefen Winterschlaf gebraucht. Das war die größte BAföG-Reform, die es in der Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – desrepublik Deutschland überhaupt gegeben hat. Ich Jörg Tauss [SPD]: Wir alle waren hellwach im kann nur hoffen, dass die Große Koalition diese Dimen- Winter!) sion auch nur annähernd erreicht. Man könnte meinen, dass bei einer so langen Bedenk- (Jörg Tauss [SPD]: Dieser Hoffnung schließen zeit wenigstens ein großer Wurf entsteht. Leider nein! wir uns an!) Beim Lesen Ihres Antrags zeigt sich die ganze Früh- jahrsmüdigkeit der Koalition in der Hochschulpolitik. Ich habe da große Zweifel; denn noch steht eine BAföG- Sie fordern darin von den Ländern, dass diese eine Kam- Nullrunde an. Ich wünsche uns gute Beratungen dazu, pagne für ein Studium im Osten auflegen mögen, dass auch in der Anhörung. sie neue Personalstellen für die Lehre schaffen mögen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und dass sie doch bitte die Frauenförderung in der Wis- senschaft nicht vergessen mögen. Das ist alles richtig. Versetzen wir uns jetzt aber erst einmal ein Jahr zurück! Aber ich frage mich: Warum haben Sie diese Forderun- Damals begrüßte Bundesbildungsministerin Schavan tag- gen nicht als klare Bedingungen im Hochschulpakt ver- ein, tagaus, dass der Bund durch die Föderalismusreform einbart? in der Bildungs- und Hochschulpolitik praktisch nichts mehr zu sagen habe. Der Bundesanteil im Hochschulpakt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sollte ihr zufolge einzig der Forschungsförderung dienen. Immerhin legt der Bund im Rahmen des Paktes Für die ausreichende Anzahl an Studienplätzen würden 565 Millionen Euro als Zuschuss für die Länder auf den dann die Bundesländer schon selber sorgen. Aus heutiger Tisch. Da können, ja, da müssen doch verbindliche Qua- Perspektive ist das erschreckend naiv. litätskriterien dafür formuliert werden, wie diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Summe genau ausgegeben wird. Wir brauchen einen 9192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Kai Gehring (A) Hochschulpakt für Qualität und nicht nur für fleischlose turen zum Aufbau von Studienplätzen schaffen und in- (C) Quantität. dem Sie die Länder wirklich belohnen, die bislang über den Eigenbedarf hinaus Studierende ausgebildet haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und dies auch in Zukunft tun werden. sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Es muss für ein Land teurer sein, keine neuen Stu- dienplätze einzurichten, als neue zu schaffen. Dies gelingt Der von Ihnen verhandelte Hochschulpakt hat zen- in einem intelligenten Verteilungs- und Ausgleichsmecha- trale Konstruktionsfehler; darauf haben wir immer hin- nismus nach dem Motto „Geld folgt Studierenden“. gewiesen. Er ist erstens unterfinanziert. 22 000 Euro pro Studierenden reichen weder für ein Bachelor-Studium (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ noch für einen anschließenden Master-Abschluss. DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP) Zweitens. Ihr Pakt ist zu kurz gesprungen. Dreiein- halb Jahre nach Verabschiedung des Hochschulpakts Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: laufen die Mittel bereits wieder aus. Wie es in den Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. Spitzenjahren 2011 bis 2013 weitergeht, wird erst dann feststehen. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme zum Ende. (Jörg Tauss [SPD]: Dann regieren wir wieder! Da könnt ihr zulangen!) Ich fordere die Koalition auf: Korrigieren Sie bitte die Webfehler in diesem Hochschulpakt, bevor es zu spät ist – Diese Kurzsichtigkeit wird kaum zu einem stetigen im Interesse der Wirtschaft, die dringend mehr Fach- und nachhaltigen Aufbau führen. So kann kein Hoch- kräfte benötigt, aber vor allen Dingen im Interesse aller schulkanzler langfristig planen, weder finanziell noch jungen Menschen, die jetzt und künftig an die Hoch- personell. schulen drängen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Das darf so nicht bleiben. Wir Grüne fordern ganz klar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine langfristige Planungssicherheit statt Kurzsichtig- keit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Drittens. Der Hochschulpakt droht auch, eine Mogel- Es spricht jetzt Frau Professorin Monika Grütters für packung zu werden. Auf den Unterschied von Studien- die CDU/CSU-Fraktion. plätzen und Studienanfänger ist ja hier hinlänglich ein- (B) (D) gegangen worden. Ob den jungen Menschen, die dann (Beifall bei der CDU/CSU – Michael als Studienanfänger an die Hochschulen kommen, ent- Kretschmer [CDU/CSU]: Hervorragende sprechend mehr Seminarplätze, mehr Lehrbücher und Frau!) Professoren, eine bessere soziale Infrastruktur und bes- sere Lern- und Studienbedingungen zur Verfügung ste- Monika Grütters (CDU/CSU): hen, ist zurzeit mehr als fraglich. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im ver- Das Schlimmste ist aber: Der Hochschulpakt droht gangenen Oktober – das zum Thema Winterschlaf, Herr sein eigentliches Ziel klar zu verfehlen. Die Zahl von Gehring – haben wir über den Hochschulpakt zuletzt dis- 90 000 zusätzlichen Studienplätzen bis 2010 wird wohl kutiert. Damals meinte die Opposition, uns alle mahnen nicht erreicht. Darauf deuten unsere Anfragen in den zu müssen, dass wir noch ein bisschen schneller und ein Bundesländern hin. Wir befürchten, dass die Länder bisschen besser an diesem Werk arbeiten und Bund und deutlich weniger Geld auf den Tisch legen als der Bund. Länder möglichst einstimmig auf eine Melodie ver- pflichten. (Jörg Tauss [SPD]: Das wäre empörend!) Dass das schwierig ist, weil es in der KMK der Län- Dies hätte Billigstudienplätze zur Folge, die niemandem derkammer – nicht etwa hier – das Einstimmigkeitsprin- helfen, am wenigsten den Studierenden. Dies müssen zip gibt, weshalb es übrigens das Bonmot gibt, die Kul- wir verhindern. tusministerkonferenz sei der letzte Hort der Reaktion, wissen wir. Aber immerhin: Keine fünf Monate später (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN können wir ein, wie ich meine – ich mache seit 13 Jahren sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss Wissenschaftspolitik, unter anderem in Berlin –, beispiel- [SPD]: Das stimmt!) loses, innovatives Reformwerk, den Hochschul- Ich bin gespannt darauf, welche Zusicherungen die pakt 2020, abschließend zur Abstimmung stellen. Weil Länder bis übermorgen vorlegen; vor allem bin ich ge- das so ist, bin ich enttäuscht von der kleinlichen Kritik, spannt darauf, wie belastbar sich diese dann in der Reali- die in erster Linie aus der Opposition kam, Herr Barth tät erweisen. Da haben wir leider noch erhebliche Zwei- und Frau Hirsch. Es ist natürlich immer so, dass es noch fel. Sie müssen in der Koalition verhindern, dass der ein bisschen besser sein könnte. Natürlich hätte auch Pakt scheitert, indem Sie klare Zielvorgaben für die dieser Hochschulpakt anders ausfallen können; das wis- Zahl ausfinanzierter Studienplätze und auch die Höhe sen wir. Aber es ist doch mindestens eine Erleichterung der Gegenfinanzierung durch die Länder machen, indem und auch eine große Anerkennung wert, dass erstmals in Sie im Hochschulpakt auch wirklich echte Anreizstruk- der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9193

Monika Grütters (A) verbindliche Vereinbarung zwischen dem Bund und al- Hinzu kommt, dass Frau Schavan sich vom ersten Tag (C) len Ländern zum Thema Wissenschaftspolitik zustande ihrer Amtszeit an diesem Thema verpflichtet hat. Jetzt gekommen ist. wird das Ganze zu einem Ende gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Zuruf: Aber nur zum Teil!) Zum ersten Mal gibt es einen regelrechten Vertrag, – Ja, nur zum Teil. der für beide Seiten rechtlich bindend ist und in dem der Herr Rossmann, ein Teil der Kritik gilt auch Ihnen. aktuellen Situation an den deutschen Hochschulen buch- Bei allem Respekt davor, dass jeder von uns die eigene stäblich Rechnung getragen wird. Dadurch dokumentie- Leistung in der Großen Koalition herausstellen will: Das ren wir doch, dass wir alle – da beziehe ich auch die Op- Ergebnis des Hochschulpaktes 2020 ist begrüßenswert position mit ein – die ungeheuren Chancen für die und wäre natürlich nicht ohne Nachverhandlungen bei Republik wahrnehmen, die für uns eine große Anzahl der Föderalismusreformdebatte zustande gekommen. Studierender bedeuten – das haben Sie gesagt –, dass wir Auch Sie, Herr Rossmann, wissen ganz genau, dass viele aber auch anerkennen müssen, dass das eine Anstren- Bildungspolitiker auf unserer Seite dieses Interesse tei- gung aller ist, nicht nur der Bundesländer, die immer auf len. ihrer hoheitlichen Aufgabe beharren. Ich möchte jetzt nicht auf Kritik eingehen, sondern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- betonen, dass wir seitens der Koalitionsfraktionen wich- neten der SPD) tige Eckpunkte in diesem Antrag formuliert haben. Es Wir dokumentieren ebenso, dass wir anerkennen, dass gibt beispielsweise eine unterschiedliche Berücksichti- das unser aller Geld kostet, auch das Geld des Bundes, gung der künftigen Entwicklung in den Ost- und in den und dass nicht allein den Ländern überlassen werden Westbundesländern. Die Tatsache, dass es eine größere kann, was sie aufgrund ihrer Bildungshoheit zwar immer Mobilität zwischen den Bundesländern gibt, ist ein Lob tun wollen, aber nicht tun; sie finanzieren die Hochschu- wert. Man sollte also nicht ausschließlich kritisieren, len schließlich seit Jahren nicht richtig mit. Das ist nicht was wir nicht aufgenommen haben. die Schuld des Bundes. Deshalb geht Ihre Kritik an den Dies hat es vorher noch nie gegeben, dass in einem falschen Adressaten. Vertragswerk Wanderungen der Studierenden festge- schrieben werden. Außerdem wird die besondere Situa- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tion der Stadtstaaten berücksichtigt. Richten Sie sie an diejenigen in den Bundesländern und (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) der Wissenschaftspolitik, zu denen Sie noch Zugang ha- (B) ben. Die Stadtstaaten sind zwar aufgrund der hohen Studie- (D) rendenzahlen glücklich, aber aufgrund ihrer relativ nied- (Jörg Tauss [SPD]: Die sind nicht da, blöd!) rigen Einwohnerzahl können sie sich diese nicht leisten. Der gesamtgesellschaftliche Nutzen wird auch ge- Dieser Punkt ist, wie gesagt, berücksichtigt worden. samtgesellschaftlich begleitet werden müssen. Es ist (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann wirklich schade, dass bei solch einer Debatte, wo es zum [SPD]) ersten Mal um eine verbindliche Zusammenarbeit zwi- schen Bund und Ländern auf diesem Zukunftsfeld geht, Man sollte nicht immer nur gegen die Unterfinanzierung die Länderpräsenz so gering ist. polemisieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dass die Bedeutung der natur- und ingenieurwissen- schaftlichen Fächer berücksichtigt wurde, wissen Sie. Nicht erst seit der – ich will sagen: leidigen – Föderalis- Ihren Appell, dass die Wirtschaft Fachleute braucht, musreform ist das ein Meilenstein in der bundesrepubli- kennen wir bereits. Die Kontrolle der tatsächlichen Ver- kanischen Bildungspolitik. wendung der Mittel für den Hochschulbau und die Sorge für eine angemessene Betreuung der Studierenden sind (Ulrike Flach [FDP]: Das sind aber ganz neue von uns ebenfalls berücksichtigt worden, Herr Gehring. Töne in der CDU!) Dass die Evaluation der Umsetzung des jetzigen Paktes Die Opposition beklagt, dass nur 565 Millionen Euro die Verlängerung bis 2020 ermöglichen soll, ist ebenfalls investiert würden. Wie viel haben Sie denn in Ihrer Regie- niedergeschrieben worden. rungszeit zur Verfügung gestellt: 1 Milliarde Euro, 2 Milli- Ich nenne als weitere Stichpunkte die Frauenförde- arden Euro, 5 Milliarden Euro? Es sind immerhin 565 Mil- rung, die Vorzüge neuer Personalkategorien und die Be- lionen Euro. deutung der Fachhochschulen. Das sind Ansätze aus der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Opposition, die wir in unserem Antrag aufgenommen neten der SPD) haben. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Insgesamt ist es ein Paket von 1,27 Milliarden Euro, das [SPD]) der Bund den Hochschulen, die in der Zuständigkeit der Länder sind, zusätzlich zur Verfügung stellt. Mit den Ge- Wir haben ganz bewusst den Antrag mit Aufforderun- genfinanzierungen durch die Länder sind es gen an die Bundesregierung, aber auch mit Erwartungen 2MilliardenEuro. an die Bundesländer versehen. Herr Gehring und Frau 9194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Monika Grütters (A) Hirsch, ich muss schon sagen: Vorgaben zu machen, Mit diesem Hochschulpakt, über den wir heute diskutie- (C) mag Ihr Stil sein. Demokratischer ist es aber, die Zustän- ren, wollen wir dazu beitragen. digkeiten und die Verteilung der hoheitlichen Aufgaben Wir kennen die Klagen der Wirtschaft; Herr Kollege zu respektieren. Barth hat sie angesprochen. Aber auch die Wirtschaft (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Genau so könnte sich ein bisschen stärker in diesem Bereich betei- ist es!) ligen: Ich kann Ihnen nur eines mit auf den Weg geben: In (Beifall bei der SPD) Berlin hat Ihre Partei, Frau Hirsch, das Vergnügen, an in der Ausbildung, aber beispielsweise auch bei der Fi- der Regierung zu sein und die Wissenschaftspolitik – ich nanzierung von Lehrstühlen. muss sagen: leider – mit zu beeinflussen. Machen Sie dort den Verantwortlichen doch einmal Vorgaben, ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der bisschen mehr für die Hochschulen zu tun. FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist in Amerika gang und gäbe und sei an dieser Stelle noch einmal gefordert. Sieben von zehn Studienanfängern werden in dem Bun- desland wieder nach Hause geschickt, in dem Sie die Wir wissen aber, dass nicht erst in der Zukunft Studie- Verantwortung für die Hochschulpolitik tragen. Es wäre rendenplätze fehlen, sondern auch jetzt schon. Von 9 000 schön, Sie würden dort die Vorgaben, die Sie uns hier Studiengängen in der Bundesrepublik Deutschland sind machen, umsetzen. nach den Erkenntnissen des Centrums für Hochschulent- wicklung 57 Prozent zulassungsbeschränkt. Das heißt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sie haben einen Numerus clausus. Ich komme zum Schluss. Wir haben nur Appelle an Frau Kollegin Flach, Nordrhein-Westfalen ist ein gutes die Hochschulen aufgenommen, weil wir Respekt vor Beispiel. Unser geschätzter ehemaliger Kollege Pinkwart der Hochschulautonomie haben, für die wir jahrelang eingetreten sind. Bei Beginn der Verhandlungen zum (Uwe Barth [FDP]: Hören Sie mal zu, Herr Hochschulpakt hat die „FAZ“ von „haltlosen Länderego- Tauss!) ismen“ geschrieben, denen man begegnen müsse. Ich hat einen Anstieg des Anteils der zulassungsbeschränk- glaube, wir haben es geschafft. Wir haben 90 000 neue ten Fächer von 38 Prozent auf 45 Prozent zu verantwor- Plätze für Studienanfänger ermöglicht. Zum Pakt gehört ten, Herr Kollege Barth. Das ist praktisch ein Wegfall die neue Mobilität zwischen den Ländern, und dazu ge- von Studierendenplätzen. Frau Flach, bitte nehmen Sie hören auch fast 2 Milliarden Euro, mit denen der Unter- (B) das mit und sagen Sie das Ihrem Kollegen Pinkwart, da- (D) finanzierung der Hochschulen begegnet wird. Der Hoch- mit das wieder ins Lot kommt. schulpakt 2020 ist ein zuversichtlich stimmendes Signal. (Beifall bei der SPD) Ich hoffe – das sind wir allen jungen Menschen schul- dig –, dass nach der Ministerpräsidentenkonferenz im Aber auch Bayern sei erwähnt. Hier ist ein extremer Juni dieser Pakt in Kraft treten kann. Nachholbedarf festzustellen. Vielen Dank. (Jörg Tauss [SPD]: Oh ja!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das Centrum für Hochschulentwicklung sagt, dass 29 000 Plätze fehlen. Frau Professor Grütters, eines Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: möchte ich Ihnen zurufen: Berlin hat natürlich eine Zum Abschluss der Debatte hat der Kollege Klaus große Überlast, die es hier schon übernimmt. Hagemann für die SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Monika (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Grütters [CDU/CSU]: Das weiß ich! Dafür hat der CDU/CSU) es 4 Prozent!) Auch mein Heimatland Rheinland-Pfalz hat sich sehr Klaus Hagemann (SPD): stark für Studienplätze engagiert. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Herren! Deutschland kann froh und dankbar sein, dass Tauss [SPD]: Vorbildlich!) die Studierendenzahlen in den nächsten Jahren steigen werden. Ich hoffe, dass viele von den Jugendlichen, die – Ja, vorbildlich. heute unsere Gäste sind, darunter sein werden. Herzlich Wir wissen, dass die steigenden Studierendenzahlen willkommen, liebe Jugendlichen, im Deutschen Bundes- eine Herausforderung für den Gesamtstaat, für Bund und tag! Länder, sind. Deswegen muss sich der Bund hier enga- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gieren. Wir sollten keine großartigen Diskussionen über Finanzzuständigkeiten führen, sondern handeln und die Wir werden einen Anstieg von zurzeit 2 Millionen entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen. Studierenden auf etwa 2,7 Millionen bekommen. Da Deutschland ein Land ohne nennenswerte Rohstoffvor- Verehrter Kollege Gehring, ich bin froh und dankbar, kommen ist, brauchen wir gut ausgebildete Menschen. dass die Union im Hinblick auf Art. 91 b Grundgesetz Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9195

Klaus Hagemann (A) doch noch den Dreh bekommen hat und ihm zustimmen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) konnte. Es gab ja heftigen Widerstand seitens einiger Möchten Sie beide zulassen? – Ja. Länder dahin gehend, dass dem Bund mehr Zuständig- keiten im Hochschulbereich zugestanden werden sollten. Frau Flach, bitte schön. Ich möchte lobend anerkennen, dass sich die Bildungs- politiker hier durchgesetzt haben. Ulrike Flach (FDP): Lieber Kollege Hagemann, wir sind uns ja immer an (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vielen Stellen einig. der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in meiner Klaus Hagemann (SPD): restlichen Redezeit die Situation aus Sicht eines Haus- Richtig. hälters, als der ich hier rede, darstellen. Wenn wir die veröffentlichte Meinung beobachten, so ist festzustellen, dass dort dargestellt wird, wir in der Bundesrepublik Ulrike Flach (FDP): Deutschland würden im Geld schwimmen und die Ein- Jetzt haben Sie gerade sehr erbittert auf den Linken nahmen sich überschlagen. Aber die Realitäten sehen et- herumgehauen; auch da sind wir uns oft einig. was anders aus. Denn etwa 10 Milliarden Euro der Aus- (Heiterkeit bei der SPD) gaben, die im Entwurf des Haushaltsplans für 2008 vorgesehen sind, sind – das können wir schon jetzt vor Aber wir alle haben ja in den letzten Tagen gemeinsam der Steuerschätzung im Mai sagen – noch nicht gedeckt. die Zeitung gelesen. Auch weiterhin ist im Interesse der jungen Generation, (Jörg Tauss [SPD]: Gemeinsam?) der jungen Menschen, die hier unsere Gäste sind, Kon- solidierungsbedarf notwendig. Da sprangen mir natürlich die Titelseiten entgegen, auf denen stand, dass angesichts der steigenden Steuerein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nahmen und des steigenden BIPs sowohl Frau Schavan CDU/CSU) als auch Herr Glos als Erste den Finger gehoben und ge- Denn wir haben noch zu hohe Schulden und eine zu sagt haben: Wir wollen deutlich mehr Geld haben. hohe Nettokreditaufnahme. Die Nettokreditaufnahme Wir werden darüber im Herbst diskutieren, Herr muss zurückgeführt werden. Hagemann. Aber mich interessiert angesichts der Worte, Deswegen bitte ich darum, verehrte Frau Hirsch, in die Sie eben gefunden haben, natürlich schon Ihre Mei- (B) Ihre Rede auf der einen Seite realistische Überlegungen nung. Halten Sie das für positiv? Sind Sie als Haushälter (D) und auf der anderen Seite die verfassungsrechtlichen Be- der SPD bereit, den beiden entgegenzukommen, oder dingungen mit einzubeziehen. Auch darauf sollten Sie nicht? hinweisen, Frau Hirsch, und nicht Forderungen stellen, die nicht mit der Realität zu vereinbaren sind, sondern Klaus Hagemann (SPD): aus dem Wolkenkuckucksheim stammen, obwohl sie Frau Flach, zunächst einmal gebe ich das Kompli- vielleicht unter inhaltlichen Aspekten richtig wären. ment zurück: Wir arbeiten in diesem Bereich gut im Haushaltsausschuss zusammen. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind der Meinung, dass Bildungsinvestitionen Investitio- (Jörg Tauss [SPD]: Habt ihr auch zusammen nen in die Zukunft sind. Zeitung gelesen?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber ich habe nicht auf der Linken herumgehauen, wie der CDU/CSU) Sie gesagt haben, sondern nur für ein bisschen Realitäts- sinn und die Verfassungslage geworben. Ich schätze Deswegen müssen wir trotz der Einsparungsnotwendig- Frau Hirsch viel zu sehr als Fachfrau, als dass ich auf ihr keiten entsprechende Mittel zur Verfügung stellen; da herumhauen würde. Das möchte ich hier unterstreichen. sind sich die Kolleginnen und Kollegen im Haushalts- ausschuss einig. Frau Flach, natürlich freuen wir uns darüber, dass die Steuereinnahmen steigen. Es ist aber nicht so – ich habe das deutlich gemacht –, dass die Kasse überläuft. Wich- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tig ist, dass wir gerade im Bildungs- und im Forschungs- Herr Kollege, ich will Ihren Schwung nicht stoppen; bereich die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen. aber die Kollegin Flach würde Ihnen gern eine Zwi- Das ist nämlich eine Investition in die Zukunft; das schenfrage stellen. möchte ich hier doch noch einmal unterstreichen. (Jörg Tauss [SPD]: Die Kollegin Hirsch auch!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) – Die Kollegin Hirsch auch. Wir werden in diesem Jahr die ersten Schritte unter- nehmen, wenn wir den Haushalt für das Jahr 2008 auf- stellen. Zum BAföG – der Kollege Rossmann hat das an- Klaus Hagemann (SPD): gesprochen – liegen entsprechende Beschlüsse meiner Das ist nett. Darauf habe ich gewartet. Fraktion vor. 9196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Klaus Hagemann (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrike den. Der Selbstfinanzierungseffekt ist noch gar nicht be- (C) Flach [FDP]: Hört! Hört!) rücksichtigt. Dieser Schritt ist, so meine ich, notwendig und richtig. Dazu möchte ich jetzt keine weiteren Fragen Auch den Hochschulpakt werden wir, so denke ich, beantworten. zum großen Teil finanzieren können. Herr Staatssekretär Storm, rund 265 Millionen Euro der 1,3 Milliarden Euro, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der die für den Hochschulpakt eingeplant sind, sind bisher CDU/CSU) noch nicht gegenfinanziert. Hierfür muss und wird die Lassen Sie mich auf die 1,3 Milliarden Euro zurück- Koalition eine Lösung finden. Ich hoffe, dass wir auf kommen, die der Bund in der nächsten Zeit für beide diesem Gebiet kreativ arbeiten können. Säulen zur Verfügung stellen wird. Herr Storm, ich habe (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bereits angesprochen, dass wir kreativ sein müssen, um entsprechende Mittel zur Verfügung stellen zu können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir müssen die Länder in die Pflicht nehmen. Frau Hirsch, bitte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!) Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Es ist schön, dass Sie als Fachmann für Finanz- und Die zusätzlich notwendigen Mittel müssen tatsächlich Haushaltsfragen in der Bildungsdebatte sprechen. zusätzlich zur Verfügung gestellt werden und dürfen nicht in anderen Bereichen eingespart werden. Darauf (Beifall bei Abgeordneten der SPD) legen wir großen Wert. Wir wollen das Ziel, die For- Das finde ich wirklich gut. schung mit 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu för- dern, erreichen. Sowohl die Wirtschaft als auch die Län- Vielleicht können wir einen kleinen Disput klären, der müssen ihren Einfluss nutzen, damit dieses Geld den wir in der gestrigen Fragestunde mit dem Kollegen auch wirklich da ankommt, wo es ankommen soll. Tauss hatten, als wir gefragt haben, wie bestimmte Fi- nanzierungen aussehen. Ich habe vorgeschlagen – ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sage das, da Sie uns mangelnden Realitätssinn vorge- CDU/CSU) worfen haben –, dass wir uns das anschauen, was wir am Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Für den Freitag im Bundestag beschließen sollen, nämlich die Hochschulpakt stellen wir 1,3 Milliarden Euro als frei- sogenannte Unternehmensteuerreform. Nach Berech- willige Investition des Bundes zur Verfügung. Der nungen des Ministeriums, aber auch nach Berechnungen Hochschulpakt ist genauso wie das Ganztagsschulpro- (B) anderer Stellen, gehen dadurch rund 10 Milliarden Euro gramm, das Rot-Grün vor wenigen Jahren auf den Weg (D) verloren. gebracht hat, wegweisend; denn dadurch hat sich die (Widerspruch bei der CDU/CSU) Denkweise verändert. Wie können Sie uns vorwerfen, in einem Wolkenku- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ckucksheim zu leben, wenn Sie gleichzeitig so eine Re- Wir befinden uns auf einem guten Weg. Dieses Geld form mit auf den Weg bringen und nicht ganz massiv da- muss aber auch verausgabt werden. Die Länder rufen gegenreden? Wenn es Ihnen so wichtig ist, für die junge das Geld für das Ganztagsschulprogramm Gott sei Dank Generation etwas zu tun, dafür zu sorgen, dass viele Ju- ab. Von den 4 Milliarden Euro wurden 2 Milliarden Euro gendliche an die Hochschulen kommen können, warum abgerufen. Sogar Bayern und Hessen rufen die Gelder stellen Sie für BAföG und Hochschulpakt dann nicht ab, obwohl sich die CDU/CSU-Länder am Anfang be- mehr Mittel zur Verfügung, was möglich wäre, wenn Sie sonders gewehrt haben. ein Projekt wie die Unternehmensteuerreform nicht mit- beschließen würden? (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (Jörg Tauss [SPD]: Frau Präsidentin, dürfen Wir befinden uns, wie gesagt, auf einem guten Weg. Ich wir jetzt die ganze Reform erläutern?) hoffe, dass wir der jungen Generation den richtigen Weg aufzeigen können. Klaus Hagemann (SPD): Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Frau Kollegin Hirsch, ich darf antworten: 10 Milliarden (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Euro für die Unternehmensteuerreform, das ist völlig un- realistisch. Für die Endstufe sind 5 Milliarden Euro nicht Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gegenfinanziert, am Anfang sind es 6 Milliarden Euro. Ich schließe die Aussprache. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Rechnen konn- ten die noch nie!) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Das wird sich nach und nach einpendeln. Da die Be- schätzung. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner triebe ihre Einnahmen hier im Land versteuern sollen, ist Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4875 die An- die Unternehmensteuerreform dringend notwendig. Des- nahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und halb muss gehandelt werden. Nach einer gewissen Zeit der SPD auf Drucksache 16/4563 mit dem Titel „Den wird wieder mehr Geld eingehen; das ist deutlich gewor- Hochschulpakt erfolgreich umsetzen“. Wer stimmt für Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9197

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie- (C) haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung ange- ren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. nommen mit den Stimmen der Großen Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke, der FDP und Ich eröffne die Aussprache. Als Erstes erteile ich das Bündnis 90/Die Grünen. Wort in der Aussprache der Kollegin Nina Hauer für die SPD-Fraktion. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) che 16/4875 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3278 mit dem Titel „Hochschulpakt 2020 – Kapazitätsausbau Nina Hauer (SPD): und soziale Öffnung“. Wer stimmt für diese Beschluss- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Diese Wir beraten heute abschließend die Umsetzung der EU- Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen mit den Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente. Es geht Stimmen der Großen Koalition und der FDP gegen die darum, welche Regeln in Zukunft europaweit beim Kauf Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung des und Verkauf von Wertpapieren gelten. Die Richtlinie hat Bündnisses 90/Die Grünen. das zentrale Anliegen, den Anlegerschutz bei Wertpa- piergeschäften zu stärken und europaweit ein gleiches Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Niveau zu bilden. Sie bietet für den Anleger mehr Wett- che 16/4875 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des bewerb, mehr Transparenz und mehr Schutz vor falscher Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Beratung. Drucksache 16/3281 mit dem Titel „Hochschulpakt 2020 zum Erfolg bringen – Studienplätze bedarfsgerecht Wenn jemand sein Vermögen von jemandem, der ein und zügig ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschluss- solches Portfolio verwalten kann, verwalten lassen will, empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Diese kann er in Zukunft davon ausgehen, dass er umfassend Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen und transparent beraten wird. Er muss dann im Um- der Koalition gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die kehrschluss seine Vermögens- und Lebenslage offenle- Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der gen. Wir in den Koalitionsfraktionen haben gesagt: Fraktion der FDP. Wenn es von demjenigen, der sich beraten lassen möchte, keine Offenlegung gibt, kann die Beratung nicht Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Bildung, For- stattfinden. Denn wer Wertpapiergeschäfte solide betrei- schung und Technikfolgenabschätzung unter Nr. 4 seiner ben will, muss auch so beraten können, dass derjenige, Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4875 die Ab- der auf der anderen Seite des Tisches sitzt, weiß, wie lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksa- hoch das Risiko bei bestimmten Anlagen sein kann (B) che 16/3290 mit dem Titel „Die Qualität der Hochschul- (D) lehre sichern – den Hochschulpakt 2020 erfolgreich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der abschließen und weiterentwickeln“. Wer stimmt für CDU/CSU) diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- und was das unter Umständen für die eigene Vermögens- tungen? – Damit ist diese Beschlussempfehlung eben- lage bedeuten kann. falls angenommen mit den Stimmen der Großen Koali- tion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Das bedeutet: keine Beratungen ohne Offenlegung. FDP bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen. Das heißt für den Kleinanleger, beispielsweise für den Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin mit ganz norma- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf: lem Einkommen, der bzw. die für die Altersvorsorge Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Geld investieren will: Wenn er bzw. sie in Zukunft zu ei- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes nem Bankberater oder zu einem unabhängigen Finanz- zur Umsetzung der Richtlinie über Märkte für berater geht, dann kann er bzw. sie darauf vertrauen, Finanzinstrumente und der Durchführungs- dass größeres Augenmerk auf die individuelle Situation richtlinie der Kommission (Finanzmarkt-Richt- gerichtet wird. Man muss selbst deutlich machen, in wel- linie-Umsetzungsgesetz) cher finanziellen Lage man ist. Auf der anderen Seite des Tisches wiederum muss dargelegt werden, welche – Drucksachen 16/4028, 16/4037 – Konsequenzen das hat, wie hoch die Provision ist und welche Interessenlage aufseiten der Bank bzw. des Fi- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- nanzdienstleisters vorhanden ist. schusses (7. Ausschuss) Das heißt, dass man leichter nachvollziehen kann, – Drucksachen 16/4883, 16/4899 – welches Produkt warum empfohlen wird. Ich denke, das Berichterstattung: ist ein wesentlicher Punkt, der gerade bei ganz normalen Abgeordnete Georg Fahrenschon Leuten mit ganz normalem Einkommen eine große Rolle Nina Hauer spielt. Denn oft ist nicht klar: Was ist das Besondere an Frank Schäffler diesem Produkt? Kann ich mir das leisten? Warum wird Dr. Gerhard Schick mir ausgerechnet dieses Produkt verkauft? Dann kann es vorkommen, dass die Überraschung hinterher sehr groß Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion ist. Das kann in finanzieller Hinsicht unter Umständen des Bündnisses 90/Die Grünen vor. sehr unangenehm werden. 9198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Nina Hauer (A) In Zukunft gibt es größere Klarheit über die Interes- durchaus Kunden bzw. Kundinnen gibt, die falsche Vor- (C) senlage bei der Beratung, und Geschäftsvorgänge wer- stellungen von den Gewinnchancen eines Investments in den dokumentiert, sodass sie nachvollziehbar sind. Man einen solchen Fonds haben. kann sich darauf verlassen, dass leichter nachzuvollzie- hen ist, was von wem versprochen wurde. Bei ganz nor- Wir haben in unseren Gesetzentwurf die Definition malen Bankkunden ist es nämlich oft der Fall, dass sie einer Handelsplattform aufgenommen. Diese Defini- sich hinterher nicht mehr erinnern können, warum ihnen tion umfasst nicht nur die Börse, sondern dazu gehören was gesagt wurde. auch die multilateralen Handelssysteme und die soge- nannten systematischen Internalisierer. Da herrscht mehr Es gibt immer mehr Menschen, die ihre privaten Transparenz. Weil wir dafür sorgen wollen, dass sich Geldgeschäfte abends, nach Feierabend im Internet erle- alle, die da kaufen und verkaufen, darauf verlassen kön- digen. Das Onlinebroking hatte bisher einen zweifel- nen, dass für sie Regeln gelten, wollen wir im Gegensatz haften Ruf. Ich denke, dass es diesen Ruf nicht unbe- zum Regierungsentwurf die aktienvertretenden Zertifi- dingt verdient hat. In Zukunft wird auch der Anleger, der kate in den Geltungsbereich des Gesetzes einbeziehen. im Rahmen des Onlinebroking investiert, informiert. Es soll also nicht möglich sein – das könnte nämlich pas- Aber er muss auch selber angeben, wie seine Vermö- sieren –, eine Plattform zu bilden, über die nur solche genslage und seine Risikosituation sind. Dann wird er Produkte gehandelt werden. Dieses Risiko erscheint uns unter Umständen gewarnt. Auch das Onlinebroking zu hoch. Denn bei diesen Produkten, die auf den Märk- kann also nicht dazu verführen, ein Derivat oder ein ähn- ten – nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika – liches Produkt zu kaufen, das eine hohe Risikostruktur sehr verbreitet sind, handelt es sich eindeutig um Wert- aufweist, vielleicht auch eine hohe Gewinnchance bietet, papiere. Dadurch, dass wir sie in Deutschland einbezie- für den einzelnen Anleger aber überhaupt nicht geeignet hen – alle Regeln dieses Gesetzes sollen auch für diese ist. Zumindest wird der Anleger vor dem Kauf solcher Produkte gelten –, sorgen wir für mehr Klarheit, wer mit Produkte gewarnt. Solche Geschäfte können nicht ver- was handeln darf. hindert werden. Aber man kann dafür sorgen, dass dieje- nigen, die vor ihrem Computer sitzen, ausreichende In- Wir haben insgesamt klarere Spielregeln, wir haben formationen erhalten. eine ordentliche Beratung. Ich denke, dass dieses Gesetz den unterschiedlichen Erwartungen, die wir an den Fi- Für alle Aufträge gilt in Zukunft, dass derjenige, der nanzmarkt Deutschland haben, gerecht wird. Wir wollen anbietet, das günstigste und beste Produkt aussuchen einen Finanzmarkt, auf dem sich die Unternehmen Geld muss. Es gibt keinen Verkauf aufgrund der eigenen Ge- beschaffen können, um ihre Ideen umzusetzen. Aber schäftslage und aufgrund des eigenen Geschäftsinteres- auch ganz normale Leute, die ihr Einkommen in ihre Al- (B) ses mehr, sondern es gibt nur einen Verkauf nach dem tersversorgung oder Vermögensbildung – und sei dieses (D) besten Preis. Auch das ist neu und gilt europaweit. Vermögen auch klein – stecken wollen, sollen einschät- zen können, welches Risiko sie eingehen. Sie sollen gut Wir haben in den Beratungen zu diesem Gesetzent- über die Risikostruktur beraten werden und sich gegen wurf beschlossen, dass wir die Investmentfonds von Geschäftspraktiken wehren können, die dazu führen, dieser Regelung ausnehmen wollen. Diese Produkte sind dass sie ein hohes Risiko haben und, im schlimmsten hoch standardisiert. Sie haben einen speziellen Mecha- Fall, auch einen hohen Verlust. Ich denke, dem wird un- nismus bei der Preisbildung und einen eigenen Vertriebs- sere nationale Umsetzung dieser europäischen Richtlinie weg. Unserer Einschätzung nach passen sie weder fach- gerecht. lich, noch gehören sie von der Verkaufsstrategie her in diesen Gesetzentwurf. Ich denke, das wird einleuchten, Ich möchte mich für die Zusammenarbeit bedanken, wenn man berücksichtigt, dass das Risiko in diesem Be- auch bei den Berichterstattern der Oppositionsfraktio- reich extrem niedrig ist, weil es sich um ein standardi- nen, ebenso beim Bundesfinanzministerium. Ich be- siertes Produkt handelt. Das heißt nicht, dass es in die- danke mich für die gute Arbeit in den Beratungen. Im sem Bereich nicht auch Produkte mit hohem Risiko gibt. Hinblick auf manche Fragen bedanke ich mich auch Aber man kann diese Produkte leichter einordnen, weil herzlich für die Geduld. Ich denke, wir haben hier eine sie in der Regel standardisiert sind. gute Umsetzung erreicht, die unseren Finanzmarkt nach vorne bringt. Wir haben lange darüber diskutiert, wie wir die geschlossenen Fonds behandeln. Wir haben beschlos- Vielen Dank. sen, dass wir uns in naher Zukunft mit den Vertriebswe- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gen und mit der Nachfrage nach ihnen auseinandersetzen werden. Dabei muss man bedenken, dass manche Kun- den vielleicht denken, dass ein geschlossener Fonds et- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: was Ähnliches wie ein Wertpapier ist. Da das aber nicht Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Frank der Fall ist und geschlossene Fonds keine Wertpapiere Schäffler für die FDP-Fraktion. sind und auch nicht wie solche gehandelt werden, haben (Beifall bei der FDP) wir sie von dieser Richtlinie ausgenommen. Das ist mit der Richtlinie insgesamt vereinbar, und das ergibt sich aus dem Sachzusammenhang. Trotzdem bedeutet das, Frank Schäffler (FDP): dass wir uns genau ansehen müssen, wer was an wen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und verkauft. Denn es gibt einige Hinweise darauf, dass es Herren! Was hat der größte Anlegerbetrugsskandal der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9199

Frank Schäffler (A) deutschen Nachkriegsgeschichte mit der Umsetzung der (Beifall bei der FDP) (C) MiFID-Richtlinie in deutsches Recht zu tun? Diese Chance lassen Sie von der Großen Koalition heute (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Gar nichts!) aber verstreichen. Die EdW darf zwar Anleger entschä- digen, deren Ansprüche gegenüber Dritten werden der- Bei Phoenix geht es in den nächsten Wochen um die Ent- zeit aber nicht automatisch auf die EdW übertragen. schädigung von knapp 30 000 Anlegern durch die Ent- Diese Gesetzeslücke haben wir als Gesetzgeber zu ver- schädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunterneh- antworten. Dies könnte durch eine kleine, aber wichtige men, in der 750 Unternehmen als Zwangsmitglieder Änderung beseitigt werden. zusammengeschlossen sind. Die Unternehmen müssen bis zu 180 Millionen Euro nachschießen. Das bringt Natürlich müssen wir uns auch grundsätzlich über die viele dieser Unternehmen an den Rand ihrer Existenz. Entschädigungseinrichtung EdW unterhalten. Das hilft Viele verlassen inzwischen unser Land oder beschreiten den Zwangsmitgliedern im Fall von Phoenix aber nicht den Klageweg. mehr. Gerade nach aktuellen Medienberichten ist das aber umso wichtiger. Durch die Geltendmachung solcher Mit dem Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz Ansprüche durch die EdW könnte die Entschädigungs- regeln wir die Bedingungen für den Wertpapierhandel in summe erheblich verringert werden. Dass die Summe Deutschland. Der vorliegende Gesetzentwurf orientiert nicht weiter reduziert werden kann, müssen Sie, meine sich weitestgehend am Prinzip der Eins-zu-eins-Umset- Damen und Herren von der Koalition, den Unternehmen zung. Endlich; oft genug hat sich diese Koalition nicht einmal erklären. an dieses Prinzip gehalten. Erst werden die Unternehmen in einen Zwangsver- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der FDP: band gepresst, und nun lassen Sie sie im Regen stehen. Leider! – Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Wir haben im internationalen Vergleich ohnehin nur eine Betreiben Sie einmal Beweisführung!) sehr geringe Zahl von Vermögensverwaltern. Wenn wir – Da können wir viele Beispiele nennen, zum Beispiel hier nicht entschieden einschreiten, droht der Markt wei- die Umsetzung von Basel II. ter Schaden zu nehmen. Das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über (Beifall bei der FDP – Märkte für Finanzinstrumente und der Durchführungs- [CDU/CSU]: Man kann das auch herbeireden, richtlinie der Kommission ist nicht nur vom Namen her Herr Kollege!) ein Ungetüm. Auch die Umsetzung in die Praxis bedeu- Sie haben ja auch keine Sachargumente dafür. Ihr eige- tet eine gewaltige Belastung für die Finanzwirtschaft. (B) nes Finanzministerium hat den Weg als gangbar bezeich- (D) Wichtig war uns bei diesem Gesetz, die Finanzwirtschaft net. nicht zu überfordern und den Anwendungsbereich nicht über den von der Richtlinie vorgegebenen Rahmen aus- Sie haben davon gesprochen, dass Sie das Gesetz zudehnen. Das Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsge- nicht mit anderen Regeln überfrachten wollen. setz dient dem Ziel, gleiche Wettbewerbsbedingungen in Europa zu schaffen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Thema ist doch MiFID!) Beide Sachverhalte – MiFID-Umsetzung und Phoenix – haben einen engen Zeithorizont: Die Banken müssen die Das war schon ein hilfloses Argument, zumal Sie Rege- Vorschriften dieses Gesetzes bis zum 1. November um- lungen der Basel-II-Umsetzung oder zur Geldwäschebe- setzen. Das erfordert erhebliche Anstrengungen der Bran- kämpfung in das Gesetz eingeführt haben. Grund für che. Wir hätten uns gewünscht, es wäre der Bundesregie- Ihre Ablehnung scheint allein eine gekränkte Eitelkeit zu rung gelungen, diese Frist zu verlängern. Bei Phoenix sein nach dem Motto: Warum ist uns das nicht eingefal- wird der Insolvenzverwalter im April die Schadensumme len? nennen. Dann hat die Entschädigungseinrichtung drei Monate Zeit, die Anleger zu entschädigen. (Beifall bei der FDP) Wir wollten im Rahmen des vorliegenden Gesetzge- Meine Damen und Herren von der Koalition, hier bungsverfahrens die Lösung des Anlegerbetrugsskandals geht es nicht um einen parteipolitischen Streit, sondern Phoenix voranbringen und die 750 Unternehmen entlas- es geht um die Existenz von 750 Unternehmen und ihrer ten. Diese meist mittelständischen Unternehmen haben Mitarbeiter. nichts mit dem Phoenix-Skandal zu tun. Viele der be- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist rich- troffenen Zwangsmitglieder können nicht einmal einen tig!) Entschädigungsfall auslösen. Sie sind mehr oder weni- ger willkürlich der Entschädigungseinrichtung zugeord- Sie haben immerhin zugestanden, dass das Thema in der net worden und jetzt in ihrer Existenz gefährdet. nächsten Sitzungswoche erneut auf der Tagesordnung stehen soll. Ich hoffe nur, dass es dann nicht spät sein (Zuruf von der FDP: Das ist wirklich ein Pro- wird. blem!) Vielen Dank. Eigentlich müsste der Gesetzgeber alles dafür tun, um den Schaden für diese Unternehmen zu minimieren. (Beifall bei der FDP) 9200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Finanzausschus- (C) Als Nächster spricht der Kollege Georg Fahrenschon ses unter der Führung des Vorsitzenden , für die CDU/CSU-Fraktion. die in der vergangenen Nacht bis 2 Uhr am Bericht gear- beitet haben, damit wir den Gesetzentwurf heute beraten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und darüber abstimmen können. neten der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Georg Fahrenschon (CDU/CSU): des Abg. Frank Schäffler [FDP] – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir müssen uns schon Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und selber loben, wenn es die anderen nicht tun!) Herren! Am vergangenen Wochenende haben wir hier in Berlin und in ganz Europa den 50. Jahrestag der Römi- Ich will auch den Berichterstattern herzlich danken – da- schen Verträge gefeiert. mit schließe ich mich der Kollegin Hauer an –, die sich meines Erachtens tief in jede Sachfrage eingearbeitet ha- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es!) ben und mit denen wir gut und konzentriert zusammen- Das war schon ein besonderes Signal. gearbeitet haben. Die Europäische Union ist ein Erfolg. Wir müssen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) uns aber auch damit auseinandersetzen, an welchen Stel- Mit dem Finanzmarkt-Richtlinie-Umsetzungsgesetz len wir besonders darauf achtgeben müssen, dass sie wird die europäische Richtlinie über Märkte für Finanz- auch in Zukunft erfolgreich sein kann. Damit sind wir instrumente umgesetzt. Im Vergleich zu ihrer Vorgänge- unmittelbar bei der Frage, wie in Europa gewirtschaftet rin – der Wertpapierrichtlinie – erweitert die sogenannte wird. MiFID das Spektrum der betroffenen Finanzdienst- Wenn wir uns mit den Rahmenbedingungen der Wirt- leistungen in zweierlei Hinsicht. Zum einen werden schaft in Europa auseinandersetzen, dann muss uns klar neben den bekannten Kreditinstituten, Banken, Wert- sein, dass die Finanzmärkte für eine Volkswirtschaft papierfirmen und Börsen in Zukunft auch die Anlagebe- von zentraler Bedeutung sind. Mehr Wachstum, mehr rater, die Betreiber sogenannter multilateraler Handels- Beschäftigung und auch die Stabilisierung unserer sozia- systeme, die Vermögensverwalter und die vertraglich len Sicherungssysteme können nur funktionieren, wenn gebundenen Vermittler von dieser Richtlinie erfasst. die Finanzmärkte stabil sind, wenn sie Geld aber auch Zum anderen werden auch die betroffenen Instrumente möglichst preiswert zur Verfügung stellen. Je höher der erweitert. Über das klassische Wertpapier und die uns Grad der Integration ist, desto effizienter gestalten sich bekannten Derivate hinaus werden in Zukunft auch Kre- (B) die Verteilung von Kapital und langfristig auch die wirt- ditderivate, Derivatkontrakte sowie finanzielle Diffe- (D) schaftliche Leistungsfähigkeit. renzgeschäfte durch die staatliche Gesetzgebung organi- siert, kontrolliert und beaufsichtigt. Vor dem Hintergrund muss uns klar sein: Wenn wir die Rahmenbedingungen für die Finanzmärkte in Europa Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen haben setzen, dann positionieren wir uns auch im direkten wir zudem die aktienvertretenden Zertifikate mit aufge- Wettbewerb mit anderen großen Märkten, wie zum Bei- nommen. Die Kollegin Hauer hat unsere Argumente be- spiel dem der Vereinigten Staaten. Deutschland hat in- reits dargestellt. nerhalb Europas natürlich ein ganz besonderes Interesse daran, weil die größte Volkswirtschaft allein durch die Wir haben uns auch mit einer großen Anzahl von Rahmenbedingungen, die die Finanzmärkte für sie dar- Petita des Bundesrates auseinandergesetzt und sind auf stellen, mittendrin statt nur dabei ist. viele Wünsche eingegangen. Wir haben die Anwendbar- keit der Vorgaben des Investment- und des Wertpapier- (Beifall bei der CDU/CSU) prospektgesetzes für die Werbung mit aufgenommen. Wir haben die Kennzeichnungspflicht von allgemeinen Durch drei Zahlen soll das untermauert werden: Zum Empfehlungen als Werbung konkretisiert. Wir haben Ersten trägt der Finanzdienstleistungssektor mit einer eine Übergangsregelung zur Kundeneinstufung geschaf- Bruttowertschöpfung von rund 86 Milliarden Euro maß- fen und ein Paket zum Bürokratieabbau im Zusammen- geblich zum deutschen Bruttoinlandsprodukt bei. Zum hang mit der Arbeit des Börsenrates und dem Institut des Zweiten arbeiten in der Finanzbranche rund 1,4 Millio- Skontroführers bei den Börsen geschnürt. nen hochqualifizierte Beschäftigte. Zum Dritten ist der deutsche Finanzmarkt mit über 80 Millionen Privatkun- In Bezug auf die vorgeschlagene Definition von Wa- den der größte Markt für Finanzdienstleistungen in Eu- renbörsen sind wir ebenfalls auf den Bundesrat einge- ropa. gangen. In Zukunft werden nicht nur Emissionszertifi- kate und hierauf bezogene Termingeschäfte, sondern Das vorliegende Finanzmarkt-Richtlinie-Umset- auch andere, warenbezogene Wirtschaftsgüter und zungsgesetz ist der zentrale Bestandteil zur Vollendung volkswirtschaftlich bedeutsame Variablen wie etwa des Binnenmarktes. Denn mit diesem Gesetzesvorhaben Frachtsätze oder Klimavariablen entsprechend der euro- ist die Umsetzung des EU-Aktionsplans für Finanz- päischen Vorgabe ausdrücklich zugelassen. dienstleistungen in deutsches Recht für den kompletten Wertpapierbereich abgeschlossen. Deshalb gilt an dieser Hinsichtlich des neuen dritten Weges neben den Ban- Stelle mein besonderer Dank dem BMF für die sachliche ken und Börsen – den MTFs, den sogenannten multilate- und hochqualifizierte Begleitung des Verfahrens und den ralen Handelsplattformen – konnten wir dem Wunsch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9201

Georg Fahrenschon (A) des Bundesrates, die Kontrolle bei der Börsenaufsicht In diesem Sinn beschreiten wir mit dem heutigen Ab- (C) der Länder zu lassen, leider nicht entsprechen. Für die schluss der MiFID einen weiteren maßgeblichen Schritt Unionsfraktion möchte ich jedoch ausdrücklich festhal- hin zu einem integrierten, zukunftsfesten und wettbe- ten, dass mit dieser Entscheidung keine Vorfestlegung werbsfähigen Finanzmarkt in Europa. Wir bitten um Ihre im Hinblick auf die anstehenden Verhandlungen der Fö- Zustimmung. deralismuskommission II getroffen wurde. Das Thema Börsenaufsicht wird von dieser Kommission noch ein- Herzlichen Dank. mal behandelt. Das haben wir auch in Abstimmung mit (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) unserem Koalitionspartner mit einer entsprechenden Passage im Bericht des Finanzausschusses festgehalten. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Lieber Herr Kollege Schäffler, ich gebe unumwunden Jetzt hat Axel Troost das Wort für die Fraktion Die zu, dass uns Ihr Vorschlag, durch einen Antrag noch eine Linke. Änderung in dem Verfahren der Einlagensicherung für (Beifall bei der LINKEN) die Wertpapierdienstleister auf den Weg zu bringen, zu intensiven Beratungen veranlasst hat Dr. Axel Troost (DIE LINKE): (Frank Schäffler [FDP]: Das war schon ein Er- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- gebnis!) legen! Das Kriterium der Beurteilung des vorliegenden und dass es auch einen gewissen Charme hat, im laufen- Gesetzes lässt sich aus meiner Sicht ganz eindeutig be- den Verfahren nachzusteuern. Wir müssen uns aber auch nennen: Bringt es eine Verbesserung des Verbraucher- darüber im Klaren sein, lieber Herr Kollege, dass die be- schutzes für die Kleinanleger? Wenn man, wie es die Re- trügerischen Vorgänge bzw. die kriminellen Energien, gierungspolitik in beklagenswerter Kontinuität tut, die die bei Phoenix gewirkt haben, nicht dadurch besser Beschäftigten durch reale Rentenkürzungen in die pri- werden, dass Sie im Laufe eines Gesetzgebungsverfah- vate Altersvorsorge treibt, ist dieses Beurteilungskrite- rens hopphopp eine Änderung einschieben. rium nur konsequent. Denn dann kann und muss man er- warten, dass die sogenannten kleinen Leute vor den (Frank Schäffler [FDP]: Das sagt das Finanz- schwarzen Schafen der Finanzmärkte geschützt werden. ministerium!) (Beifall bei der LINKEN) Lassen Sie sich doch überzeugen, dass wir zu einer stabileren und wirkungsvollen Handlungsweise kom- Die gute Nachricht ist, dass das vorliegende Gesetz men, wenn wir erst Sachaufklärung betreiben hierbei in der Tat einen ganz erheblichen Fortschritt ge- (B) genüber dem Status quo bringt; denn es bringt mehr (D) (Frank Schäffler [FDP]: Das ist zu spät!) Schutz für die Verbraucher. und dann gemeinsam mit den Betroffenen und allen Ak- Aber die Frage ist: Reichen die vorgelegten Regelun- teuren auf dem Finanzmarkt auf der Basis der geltenden gen aus? Wir meinen, trotz stimmiger Gesamtrichtung Rechtslage handeln, werden durch Ausnahmetatbestände und Unterlassungen (Frank Schäffler [FDP]: Sie haben noch drei einige Chancen vertan. Monate Zeit!) Ich will einige Punkte nennen: erstens die geschlosse- statt einfach zwischen der fünften und sechsten Zeile nen Fonds, die aus den verbraucherfreundlichen Anfor- eine Änderung einzuschieben. derungen der Richtlinie herausgenommen worden sind. Sie haben es damit zum einen versäumt, den schwarzen Wir sind hochinteressiert daran, dass der Finanzmarkt Schafen auf diesem Markt das Handwerk zu legen und in diesem Zusammenhang keinen Schaden nimmt. Wir ihn mit unter die Aufsicht der BaFin zu stellen. Zum an- wollen sauber arbeiten; denn wenn etwas mit heißer Na- deren widerspricht dieses Vorgehen dem europäischen del gestrickt ist, ist es nicht unbedingt besser. Recht. Es ist daher zu befürchten, dass geschädigte An- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) leger zu Recht Schadensersatzansprüche gegen die Bun- desrepublik geltend machen. Ich frage mich, ob Sie wis- Meine sehr geehrten Damen und Herren, die MiFID sen, was Sie sich damit eingehandelt haben. – oder auf Deutsch das FRUG; man könnte über die Ab- kürzungen in der Finanzmarktregulierung einen geson- Ein weiterer Punkt ist der Ausschluss der freien derten Vortrag halten – Fondsvermittler aus dem verbraucherfreundlichen An- wendungsbereich des Gesetzes. Die Verbraucher werden (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir müssen uns nicht erkennen, dass ein und dasselbe Produkt je nach mal einen schöneren Namen einfallen lassen! Vertriebsweg unterschiedlichen Schutzniveaus unter- Das ist ein fürchterlicher Name!) liegt. ist für die Wertpapierdienstleister das, was Basel II für Auch die Umsetzung der so wichtigen Warnpflicht die Bankenbranche und Solvency II für die Versiche- gegenüber den Verbrauchern ist aus unserer Sicht unzu- rungsbranche ist. Es ist daher meines Erachtens nicht reichend ausgefallen. Das zeigt sich bereits terminolo- übertrieben, zu sagen, dass die MiFID nach der Einfüh- gisch. Wir haben darauf gedrängt, den Terminus „war- rung des Euro eines der größten und wesentlichsten Pro- nen“ ins Gesetz aufzunehmen. Stattdessen heißt es im jekte im europäischen Finanzmarkt darstellt. Gesetz nur relativ harmlos: „hinweisen“. 9202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Dr. Axel Troost (A) Aber es kommt noch schlimmer: Im Internet gilt sondern ein Warnhinweis erfolgen; das hat Brüssel ein- (C) keine Erkundigungspflicht, keine Angemessenheitsprü- deutig signalisiert. Das ist ein qualitativer Unterschied fung und keine Warnpflicht. Das ist an sich schon pro- und nach unserer Meinung ein Beispiel dafür, dass es blematisch. Sie haben diesen Ausnahmetatbestand für sinnvoll gewesen wäre, unseren Änderungsantrag anzu- das Internet aber so weit gefasst, dass ihn auch ganz nor- nehmen. Statt einer Eins-zu-eins-Umsetzung haben wir male Banken faktisch zum Schaden der Kunden nutzen in diesem Fall eine 1-zu-0,9-Umsetzung. Wir hätten uns können. Ein Ärgernis! besser an die Vorlage aus Brüssel gehalten. Die Verbraucher im Vorfeld zu warnen, ist das eine. Obwohl wir dem Gesetzentwurf zustimmen, fordern Das andere, aber genauso Wichtige ist, sie im eingetrete- wir Sie in unserem Entschließungsantrag auf, nicht ste- nen Schadensfall zu schützen. Es ist sehr unbefriedi- hen zu bleiben. Es gibt eine Reihe von Punkten, die wir gend, dass geschädigte Anleger die Fehler bei der Anla- noch aufgreifen sollten. In bestimmten Fragen konnten geberatung nach wie vor selbst beweisen müssen. Man wir im Ausschuss gemeinsames Verständnis herstellen. kann sich vorstellen, dass gerade Kleinanleger damit Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar Beispiele überfordert sind. Leider ist es versäumt worden, die Po- nennen. sition der Verbraucher durch eine Beweislastumkehr zu Das eine Beispiel ist das große Thema Verjährungs- stärken. Hierbei muss aus unserer Sicht für die Zukunft frist. Eine Reihe von Regelungen, die wir nun bei der Abhilfe geschaffen werden. Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie treffen, betrifft die Zuletzt – dieser Punkt ist auch sehr wichtig – haben Frage, wie sich der Anleger, wenn er nicht gut bzw. Sie es unterlassen, die Verjährungsfristen bei fehler- falsch beraten wurde, zur Wehr setzen und Schadener- hafter Beratung zu verlängern. Verbraucher merken aber satz fordern kann. 1998 wurde vor einem anderen häufig erst sehr spät, zum Beispiel wenn sie ihre Alters- Rechtshintergrund eine Sonderregelung für den Wertpa- vorsorge in Anspruch nehmen wollen, dass sie falsch be- pierbereich eingeführt, damit die Wertpapierunterneh- raten worden sind. Hier muss ebenfalls Abhilfe geschaf- men nicht der 30-jährigen Verjährungsfrist unterliegen. fen werden. Hier ist aus unserer Sicht eine deutliche Da diese aber im Jahr 2001 abgeschafft wurde, wäre nun Verlängerung der Verjährungsfristen notwendig. im Rahmen der Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie eine gute Gelegenheit gewesen, diese nicht mehr not- Das Angesprochene ändert nichts daran, dass wir wendige Sondernorm in § 37 a des Wertpapierhandels- zwar die Grundrichtung unterstützen, weil es sich in der gesetzes zu streichen. Ich hoffe, dass es uns in weiteren Tat um eine Verbesserung des Verbraucherschutzes han- Beratungen gelingt, diese Sondernorm abzuschaffen. delt, dass wir uns aber in der Abstimmung enthalten werden, weil die aufgezeigten Mängel aus unserer Sicht Nach unserer Meinung gibt es ganze Regelungsberei- che, in denen es noch viel zu tun gibt. Der Bereich der (B) nicht behoben wurden. (D) geschlossenen Fonds wurde bereits angesprochen. Das Danke schön. ist der Bereich des Kapitalmarktes, in dem es die meis- ten Fälle von schlechter Beratung und Betrug gibt und in (Beifall bei der LINKEN) dem Unklarheit herrscht. Hier sollten wir unbedingt ak- tiv werden. Das gilt auch für den Bereich der Zertifi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kate, einen Markt, der bei insgesamt geringer Anlage in Jetzt spricht als Letzter in dieser Debatte der Kollege Fonds und Aktien in den letzten Jahren massiv zuge- Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen. nommen hat und der extrem intransparent ist, weil die Standards des Anlegerschutzes noch nicht in gewünsch- tem Maße gelten. Diesen Markt sollten wir uns unbe- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dingt vornehmen. Wir werden Vorschläge dazu vorlegen. NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vor- Ein weiteres Beispiel ist die Strombörse. Sie alle liegende Entwurf eines Finanzmarkt-Richtlinie-Umset- haben sicherlich die Nachrichten mitbekommen. Wir zungsgesetzes findet bei uns Grünen überwiegend Zu- müssen hier ebenfalls für Transparenz sorgen, wenn das stimmung. Deswegen stimmen wir ihm zu. ein zukunftsfähiger Markt sein soll. Wir haben in den Ausschussberatungen deutlich ge- Wir sind der Meinung, alle diese Bereiche, die ihre ei- macht, dass es zwei, drei kleinere Punkte gibt, die wir genen Strukturen haben, nicht im Finanzmarkt-Richtli- für verbesserungswürdig halten. Ich möchte als Beispiel nie-Umsetzungsgesetz zu berücksichtigen, sondern sie die Frage nach den Warnhinweisen ansprechen, die gesondert zu regeln. Kollege Troost gerade gestellt hat. Häufig ist davon die Wir fordern Sie auf: Lassen Sie uns im Stil der Ge- Rede, dass wir ein Gold Plating machen, dass wir sozu- meinsamkeit, in dem wir über den vorliegenden Gesetz- sagen auf europäische Richtlinien noch etwas draufsat- entwurf beraten haben – herzlichen Dank an alle Be- teln. Aber in diesem Fall ist es nach unserer Meinung richterstatter für die Zusammenarbeit –, die noch umgekehrt. Außen kommt nicht eine goldene Lack- offenen Punkte angehen, um in den nächsten Monaten schicht drauf. Vielmehr wird von dem, was die MiFID einen deutlichen Schritt im Interesse der Anlegerinnen vorsieht, etwas abgekratzt. und Anleger voranzukommen. Wenn beispielsweise subjektiv ungeeignete Anlage- Danke schön. wünsche außerhalb der Anlageberatung geäußert wer- den, sollte nicht nur ein Hinweis oder eine Information, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9203

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der LINKEN) (C) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): desregierung eingebrachten Entwurf eines Finanzmarkt- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Richtlinie-Umsetzungsgesetzes. Der Finanzausschuss Herren! Die Dokumentationsstelle der Antirassistischen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Initiative Berlin berichtet für die Jahre 1993 bis 2006 Drucksache 16/4883, den Gesetzentwurf der Bundesre- von 50 Flüchtlingen, die in deutschen Abschiebehaftan- gierung auf den Drucksachen 16/4028 und 16/4037 in stalten starben. 399 Häftlinge hätten sich bei dem Ver- der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, such, sich umzubringen, infolge von Hungerstreiks oder die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Hand- aus Protest gegen ihre drohende Abschiebung selbst zum zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist Teil schwer verletzt. der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat- bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. lichen Gewalt. Dritte Beratung So heißt es in Art. 1 Grundgesetz. Der Eingriff in die und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Freiheit der Person ist im demokratischen Rechtsstaat ei- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ner der massivsten staatlichen Eingriffe in die Men- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz- schenrechte, der nur unter sehr begrenzten Bedingungen entwurf mit dem gleichen Stimmverhältnis wie vorher überhaupt statthaft ist. angenommen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Freiwillige Ausreise, dann passiert nichts!) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Doch im Umgang mit Flüchtlingen wurde und wird in Grünen auf Drucksache 16/4884. Wer stimmt für diesen der Bundesrepublik etwas ganz anderes deutlich. Da Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltun- werden Grundrechte und einige wesentliche, von der gen? – Damit ist der Entschließungsantrag bei Zustim- Bundesrepublik unterzeichnete und anerkannte Men- mung der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und schen- und Völkerrechtsstandards in vielen Fällen nicht Die Linke und Gegenstimmen der übrigen Fraktionen gewährleistet bzw. nicht umgesetzt. abgelehnt. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wie wäre es Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: mit einer freiwilligen Ausreise?) (B) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Die Würde von Flüchtlingen in Deutschland ist an- (D) Dağdelen, Wolfgang Nešković, Petra Pau, weite- tastbar, ihre Freiheit ist verletzlich und ihre Gleichheit ist rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN anfechtbar. Das ganze gegenwärtige System der Ab- schiebehaft und der Abschiebepraxis – Freiheitsentzug Grundsätzliche Überprüfung der Abschiebungs- ohne Straftatbestand, Strafe ohne Rechtsgrund und ohne haft, ihrer rechtlichen Grundlagen und der In- Rechtsschutz – ist in einem sich demokratisch nennen- haftierungspraxis in Deutschland den Staat das eklatanteste Beispiel eines staatlichen Ras- – Drucksache 16/3537 – sismus. Überweisungsvorschlag: (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Unglaublich!) Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Die Linke lehnt die Inhaftierung von Menschen, die Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ausschließlich zur Sicherung einer Verwaltungshandlung erfolgt, grundsätzlich ab und fordert, die Abschiebehaft b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef als Mittel zur Durchsetzung von Abschiebungen abzu- Philip Winkler, Omid Nouripour, Volker Beck schaffen. (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der LINKEN) Humanitäre Standards bei Rückführungen ach- Abschiebehaft ist unverhältnismäßig und stempelt Mi- ten grantinnen und Migranten zu Kriminellen ab. – Drucksache 16/4851 – (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das sind sie ja auch! Sie können doch freiwillig ausreisen!) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) – Das stimmt einfach nicht. Das, was Sie hier behaupten, Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ist falsch und unwahr. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Aber nicht nur das: Abschiebehäftlinge, die sich we- Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. der einer Straftat schuldig gemacht haben noch einer sol- Die Fraktion Die Linke soll dabei fünf Minuten erhal- chen verdächtigt werden, werden schlechter gestellt ten. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so be- schlossen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sie sind zur Ausreise verpflichtet!) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. – das ist keine Straftat – 9204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Sevim DaðdelenDağdelen (A) (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler und unmenschlicher werdende Abschiebungspolitik zu (C) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) lenken, der die Abwehr von Flüchtlingen wichtiger ist als der Schutz bedrohter Menschen in diesem Land. und behandelt als verurteilte Straftäterinnen und Straftä- Laudator Günter Wallraff kritisierte die deutschen ter. – Herr Grindel, Sie sollten sich erst einmal im Straf- Abschiebegefängnisse als „Institutionen der Unmensch- recht kundig machen. – Dies kritisierte das Antifolterko- lichkeit“. Damit steht er nicht allein. mitee des Europarates schon im Jahr 2000. Daran hat sich bis zum letzten Besuch Ende 2005 nichts (Beifall bei der LINKEN) geändert. Nach wie vor bleibt die Kritik bestehen. Keine der besuchten Anstalten verfüge – ich zitiere – „über die Darum geht es auch in unserem Antrag. Es geht um personelle oder materielle Ausstattung zur Schaffung die Wahrung von Mindeststandards in der Inhaftie- von Haftbedingungen, wie sie dem rechtlichen Status rungspraxis. Es ist aus menschenrechtlicher Sicht ein- von Abschiebehäftlingen angemessen“ wären, etwa in fach unzumutbar, wenn Minderjährige, traumatisierte Bezug auf Besuchsrechte, den Hofgang, den Zugang zu und alte Menschen, Schwangere sowie Menschen mit Medien und auch die Beschäftigungsmöglichkeiten. Behinderungen inhaftiert werden. Es ist unzumutbar, dass die medizinische und psychologische Betreuung Leider sind wir heute nicht hier, um über die Abschaf- nur rudimentär besteht. Es ist auch unzumutbar, viel zu fung der Abschiebehaft zu diskutieren. Dazu fehlt es in häufig, zu leichtsinnig und auch viel zu lange – in eini- diesem Haus – wie jetzt von der CDU/CSU noch einmal gen Fällen bis zu 18 Monaten – in Abschiebungshaft ge- demonstriert – offenkundig an einer humanistisch geson- nommen zu werden, ohne dass die Abschiebung unmit- nen Mehrheit. telbar bevorsteht. Das ist untragbar. Bei Ihnen ist die (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Abschiebungshaft eben nicht Ultima Ratio zur Durchset- der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Na, na!) zung einer Ausreiseverpflichtung. Wenigstens daran möchten wir Sie erinnern, und das erwarten wir von Ih- Die Damen und Herren der Großen Koalition wollen nen. Asylsuchende in Zurückweisungshaft nehmen, was eine klare Verletzung internationaler Standards ist. Flücht- Danke sehr. linge dürfen während des Asylverfahrens generell nicht (Beifall bei der LINKEN) inhaftiert werden. Auch die von der Regierungskoalition gestern beschlossene Durchbeförderung ist glatter Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Rechtsbruch. Eine Inhaftierung ohne richterliche Anord- Der Kollege Helmut Brandt hat jetzt das Wort für die nung ist mit Art. 104 Grundgesetz – da sollten Sie ein- CDU/CSU-Fraktion. mal bei Gelegenheit hineinschauen – unvereinbar. (B) (D) (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU)

Auch wenn ich es sonst mit Che Guevaras Leitsatz Helmut Brandt (CDU/CSU): halte „Seien wir realistisch, versuchen wir das Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Unmögliche“ – in Ihrem Falle halte ich menschenrecht- Herren Kollegen! Wir behandeln in dieser Stunde zwei lich Hopfen und Malz für verloren. Was Sie im Rahmen Anträge, einmal den gerade von der Kollegin Dağdelen der Umsetzung der aufenthalts- und asylrechtlichen vorgetragenen Antrag wegen der Abschiebungshaft, zum EU-Richtlinien gestern vorgestellt haben, ist nichts an- anderen einen Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ deres als „demokratisch abgesicherte Barbarei“, Die Grünen. Die Fraktion Die Linke lehnt die Möglich- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der keit der Abschiebehaft grundsätzlich ab und fordert die SPD – Helmut Brandt [CDU/CSU]: „Barba- Bundesregierung auf, die bestehenden gesetzlichen rei“ ist eine Unverschämtheit! – Weiterer Zu- Grundlagen aufzuheben und auf das Instrument der Ab- ruf von der CDU/CSU: Ein bisschen mäßigen schiebehaft zu verzichten. müsste sich die Dame schon!) (Beifall bei der LINKEN – Sevim Dağdelen wie es Heiko Kauffmann, Vorstandsmitglied von Pro [DIE LINKE]: Sie können ja doch lesen, Herr Asyl, bezogen auf die Abschiebungshaft sagte. Brandt!) (Unruhe – Zuruf des Abg. Reinhard Grindel – Am Schluss meiner Rede haben Sie Gelegenheit, mir [CDU/CSU]) zu applaudieren. Warten Sie noch einen Moment! – Frau Präsidentin, ich kann so nicht weitermachen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) (Lachen und Zustimmung bei Abgeordneten Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen beschäf- der CDU/CSU und der SPD) tigt sich demgegenüber in ihrem Antrag mit Standards der Abschiebung im Rahmen einer europäischen Könnten Sie vielleicht für Ruhe sorgen? – Rechtsangleichung in Form einer Richtlinie. Das sind Umso erfreulicher ist es, dass am 1. September 2006 also zwei völlig unterschiedliche Ansätze, wobei anzuer- der Aachener Friedenspreis an den Verein „Hilfe für kennen ist, dass die Fraktion des Bündnisses 90/Die Menschen in Abschiebehaft Büren e. V.“ verliehen Grünen die in § 62 Aufenthaltsgesetz enthaltene Mög- wurde. Ziel der Auszeichnung war es, die Aufmerksam- lichkeit einer Anordnung und Durchführung von Ab- keit der Öffentlichkeit auf ebendiese immer rigoroser schiebungshaft nicht infrage stellt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9205

Helmut Brandt (A) (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ja, die passen gesehen, an der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift (C) sich an das System an!) zu zweifeln. Ich hatte zumindest gehofft, Frau Dağdelen, dass Sie (Beifall bei der CDU/CSU) das, was Sie in Ihrem Antrag schriftlich formuliert ha- Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Beschluss ben, hier nicht mündlich wiederholen. Sie haben es den- vielmehr die Gerichte aufgefordert, von ihrer Möglich- noch getan. Um es deutlich zu machen: Da ist die Rede keit der Auslegung des Gesetzes in der von mir eben zi- von „menschenunwürdiger Praxis“, von „herunterge- tierten Weise Gebrauch zu machen, was auch geschieht. kommenen Haftbedingungen“, von „Inhaftierung im Dienst einer rigorosen Asyl-, Abschottungs- und Aus- Sollen wir wirklich ohnmächtig mit ansehen, dass weisungspolitik“. Schließlich zitieren Sie aus einem ver- Ausländer nach illegaler Einreise – ein Straftatbestand – traulichen Bericht des Antifolterkomitees des Europara- untertauchen und sich auf unabsehbare Zeit – tes, der bislang weder veröffentlicht wurde noch sonst (Zuruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE vollständig bekannt ist. Offensichtlich stammen diese LINKE]) bruchstückhaften Zitate aus in Tageszeitungen wie der „Frankfurter Rundschau“ und der „taz“ veröffentlichten – hören Sie doch bitte zu; Sie haben doch eben gesagt, Artikeln. Ich bezeichne diese Vorgehensweise als unse- Sie wollten lernen – illegal in Deutschland aufhalten und riös. der Ausweisung entziehen? (Beifall bei der CDU/CSU) (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Ich überlege schon die ganze Zeit, Die provokante und unerträgliche Formulierung muss wer die Kommunisten sind, die Sie eben ange- ich entschieden zurückweisen. Es handelt sich ganz offen- sprochen haben!) sichtlich um einen Antrag, von dem man sich eine ge- wisse Außenwirkung auf die eigene Gefolgschaft ver- – Dazu können Sie sich ja einmal bekennen. Das würde spricht. Sie selber glauben Ihren eigenen Formulierungen die Verhältnisse im Deutschen Bundestag deutlicher sicherlich nicht; denn sonst hätten Sie nicht unter machen. – Dies ist weder unserem Staat noch den Bür- Ziffer I.5. Ihres Antrags zur Glaubhaftmachung sogar gern zuzumuten. Erst recht ist es nicht den vielen auslän- den – man höre und staune – Heiligen Stuhl bemüht. Es dischen Mitbürgern zuzumuten, die sich in Deutschland hat mich wirklich in Erstaunen versetzt, dass Kommunis- redlich und legal aufhalten und unsere Gesetze respek- ten im Deutschen Bundestag darauf verweisen. tieren. Trotz dieser völlig unqualifizierten und – gerade nach (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (B) Ihren Ausführungen eben muss ich das sagen – des Par- Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist (D) laments nicht würdigen Vorgehensweise möchte ich Stammtischniveau!) mich dennoch mit der Frage der Abschiebungshaft und Jetzt kommen wir zu den Haftbedingungen. Das, der Abschiebung von sich in Deutschland illegal aufhal- was Sie behaupten, lässt sich durch nichts nachweisen tenden Ausländern auseinandersetzen. Drei Fragen stel- und entspricht auch nicht der Realität. Stammtischni- len sich: Erstens. Brauchen wir die Vorbereitungs- und veau ist, etwas, was man nicht belegen kann, in den Abschiebungshaft? Zweitens. Wie wird die Abschie- Raum zu stellen und der Öffentlichkeit zu präsentieren, bungshaft gestaltet? Drittens. Wie wird die Abschiebung nur weil es einmal behauptet worden ist. des Betroffenen in sein Heimatland durchgeführt? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zur Notwendigkeit der Abschiebungshaft könnte neten der SPD – Sevim Dağdelen [DIE man – machte man es sich einfach – auf das Gesetz ver- LINKE]: Das glauben Sie doch selber nicht!) weisen. Nur der vollziehbar Ausreisepflichtige, der sich seiner Abschiebung entzieht, nicht freiwillig ausreist Über die Haftbedingungen und die durchschnittliche oder sich der Abschiebung entziehen will, kann durch Haftdauer existieren nach meiner Kenntnis keine bun- richterlichen Beschluss in Abschiebungshaft genommen desweiten Erhebungen. Die im Bericht des Antifolterko- werden. Dabei ist sowohl der Vorbehalt der richterli- mitees des Europarates beklagten Zustände betreffen im chen Entscheidung über die freiheitsentziehende Maß- Übrigen nach den bisherigen Pressemeldungen nur eine nahme gewährleistet als auch der dem Betroffenen zu- einzige Haftanstalt in Hamburg, in der sich zum Zeit- stehende Rechtsbehelf der sofortigen Beschwerde. punkt der Untersuchung fünf bis sieben Abschiebungs- Macht der Betroffene dabei glaubhaft, dass er sich der häftlinge aufgehalten haben. Abschiebung nicht entziehen will, dass er freiwillig aus- In Nordrhein-Westfalen liegen die Zahlen für den reisen will, so ist er auch nicht in Abschiebungshaft zu Stichtag 28. Februar 2007 vor. Am 28. Februar dieses Jah- nehmen – und wird auch nicht in Abschiebungshaft ge- res befanden sich 222 Personen und damit 106 Personen nommen. Das ist wohl die Mindestvoraussetzung, deren weniger als noch vor einem Jahr in Abschiebehaft. Einhaltung man verlangen kann. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Es kommen (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!) ja keine mehr rein!) Das ist nach unserer Auffassung in keiner Weise zu Die durchschnittliche Haftdauer beträgt nach Auskunft beanstanden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in der Behörden in Nordrhein-Westfalen 30 bis 40 Tage. Im einem Verfahren aus dem Jahre 1994 keinerlei Anlass Übrigen: Wer die zentrale Haftanstalt in Büren in Nord- 9206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Helmut Brandt (A) rhein-Westfalen kennt, wird die leichtfertigen Vorwür- schen Union auch auf eine Richtlinie drängen, die den (C) fe – heruntergekommene Haftanstalten – guten Gewis- notwendigen und in Deutschland üblichen Standards sens nicht aufrechterhalten können, auch wenn Sie das entspricht. wohl wollen. Ich danke Ihnen. (Widerspruch der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Josef Philip Winkler [BÜND- Bei diesen Fakten fragt man sich wirklich: Wo liegt NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir aber mal das Problem? Die Zahlen, die Fakten sprechen für sich gespannt!) und damit eindeutig gegen die bösartigen Unterstellun- gen im Antrag der Fraktion Die Linke. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hartfrid Wolff hat jetzt das Wort für die FDP-Frak- neten der SPD) tion. Festzuhalten bleibt: Wir brauchen die Abschiebehaft (Beifall bei der FDP) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): zur Durchsetzung rechtmäßiger Ausweisungen. Die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nach unserem Grundgesetz für die Durchführung aus- Die Abschiebehaft ist ein Instrument des Ausländer- schließlich zuständigen Länder sind Garanten dafür, dass rechts, mit dem man sich seriös beschäftigen sollte, Frau diese auch ordnungsgemäß und nach rechtsstaatlichen Dağdelen, und nicht in der Form, wie Sie das hier ge- Grundsätzen durchgeführt werden. macht haben. Sie sprechen in Ihrem Antrag auch die Beiordnung ei- ( [CDU/CSU]: Sehr rich- nes Rechtsanwalts an. Ich verweise nur darauf, dass es tig!) selbst bei Anordnung von Untersuchungshaft – dabei geht man von einem Straftatbestand aus – regelmäßig Meiner Ansicht nach ist es kein vernünftiger Umgang keinen Anspruch auf Beiordnung eines Pflichtverteidi- damit, wenn in dieser Art und Weise Behauptungen auf- gers gibt. Ein solcher Anspruch besteht nach dem Gesetz gestellt werden. ohnehin erst nach dreimonatiger Untersuchungshaft. Der Umgang mit illegal sich in Deutschland aufhalten- Diese Dauer wird bei der Abschiebehaft regelmäßig den Menschen betrifft durchaus auch das Selbstverständ- nicht erreicht. nis einer freiheitlichen Gesellschaft und die grundsätzli- (B) (D) Abschließend – ich komme sonst mit der Zeit nicht chen Fragen der Durchsetzung der rechtsstaatlichen zurecht – Ordnung. Die vorliegenden Anträge kommen entspre- chend mit humanitärer Absicht daher, erfassen aber die (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Thematik nur rudimentär und verschweigen – das gilt für GRÜNEN]: Ich hätte auch gern mal neun Mi- beide Anträge – konsequent ihre Folgen für die deutsche nuten!) Zuwanderungspolitik. möchte ich noch zum Antrag der Fraktion des Bündnis- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Clemens ses 90/Die Grünen Stellung nehmen. Die von Ihnen an Binninger [CDU/CSU] – Josef Philip Winkler die Bundesregierung gerichtete Forderung, bei den Ver- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schreibt mal handlungen um die Rückführungsrichtlinie der EU be- einen besseren! Immer meckern, aber nichts stimmte, von Ihnen formulierte Grundsätze zu beachten, machen!) halten wir – Josef Winkler, ich muss es deutlich sagen – für überflüssig. Alles das, was Sie in Ihrem Antrag for- In entlarvender Weise fordern Die Linken die Auf- dern, ist bei uns in der Bundesrepublik Deutschland nach gabe der staatlichen Durchsetzungsmöglichkeit und da- unserer Auffassung Standard, Gegenstand des geltenden mit quasi die Einstellung jeglicher Abschiebung aus Rechts oder wird bei der jetzt vom Kabinett beschlosse- Deutschland. So einfach kann man sich das nicht ma- nen Gesetzesinitiative umgesetzt. chen; tut mir leid, wenn ich das so sagen muss. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Na, jetzt Auch die Forderungen nach weiteren kostenlosen wird’s aber lustig!) Leistungen, die Herr Brandt eben zu Recht ansprach, sind unverhältnismäßig. Die Privilegierung illegal oder zu- Dass mithin die Bundesregierung darauf hinwirken wird, mindest ohne Rechtsgrundlage eingewanderter Men- dass unsere Standards auch europaweit umgesetzt wer- schen gegenüber legal eingewanderten Menschen und ge- den, halten wir für selbstverständlich. genüber allen deutschen Staatsbürgern ist fragwürdig. Zu Betrachtet man die vielfältigen Möglichkeiten des Ende gedacht, ruft die Linkspartei unter dem Vorwand der Ausländerrechts sowie die Rechtsbehelfe, so kommt Menschenrechte zur weitgehenden Abschaffung vieler man zu dem Schluss: Die Bundesrepublik Deutschland Migrationssteuerungsinstrumente auf. Gleichzeitig aber beachtet alle notwendigen Standards bei Rückführungen. schimpft sie über Integrationsmängel, Schwarzarbeit, die Aus Fehlern, die in der Vergangenheit begangen wurden, Spannungen auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen sind die notwendigen Konsequenzen gezogen worden. Sicherungssystemen. Das ist – tut mir leid, wenn ich auch Damit wird die Bundesregierung im Rat der Europäi- das so sagen muss – unlogisch und unrealistisch. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9207

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zuwanderer beeinträchtigen und die Rechtstreue im All- (C) tag aushöhlen. Ein weitgehender Verzicht auf Abschiebungen, wie der Antrag der Linkspartei ihn impliziert, stellt letztlich einen massiven Anreiz zur illegalen Zuwanderung dar. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich habe manchmal den Eindruck, dass bei den Vertre- Kommen Sie bitte zum Schluss. tern der Linken eine naive Freude an unkontrollierter, nicht steuerbarer Zuwanderung besteht. Dies ist gerade Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): auch für die Betroffenen unverantwortlich. Auch deswegen – letzter Satz – bleibt die Abschiebe- (Zuruf von der LINKEN: Quatsch!) haft ein letztes, aber legitimes Mittel, den Abschiebe- vollzug sicherzustellen. Es ist eben auch notwendig, illegale Migration zu unter- binden und keine falschen Hoffnungen zu schüren. Hier (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) müssen auch hemmende Maßnahmen, wie sie von der EU vorgelegt worden sind, greifen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es spricht jetzt der Kollege Gert Winkelmeier. Generell aus dem deutschen Zuwanderungsrecht ei- nen Verstoß gegen die Menschenrechte abzuleiten, ist, gelinde gesagt, erheblich überzogen. Gert Winkelmeier (fraktionslos): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hat vor kur- Wer die in Abschiebehaft Genommenen nur als arme Op- zem Flüchtlinge als Botschafter der weltweiten Unge- fer darstellt, die sich in ihrem gesamten Leben niemals et- rechtigkeit bezeichnet. Fast 70 Konfliktherde weltweit was zuschulden kommen lassen – wörtliches Zitat –, muss führen derzeit dazu, dass sich laut UNHCR rund sich nach seinem Rechtsverständnis fragen lassen. Jeder 40 Millionen Menschen auf der Flucht vor Kriegen, Abschiebung liegt ein Verstoß gegen geltendes Aufent- Menschenrechtsverletzungen und Armut befinden. Dass halts- und Zuwanderungsrecht zugrunde. Europa von ihnen lediglich 1 Prozent aufnimmt, ist aller- dings ein Skandal. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Bei aller Kritik, die in manchem Einzelfall ja ange- bracht sein mag: Die pauschale Herabsetzung rechts- Statt Schutz zu erhalten, werden Flüchtlinge an der staatlichen Handelns, die Die Linke vornimmt, ist unan- Einreise nach Europa gehindert. Diejenigen, die es trotz- gemessen. dem schaffen, werden massiv kriminalisiert. Hierzu- (B) lande gelten Flüchtlinge per se als verdächtig, deutsches (D) (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie wollen li- Recht zu missbrauchen. beral sein?) Von dieser Leitlinie ist auch die gestern beschlossene Grundsätzlich halten wir Abschiebehaft jedoch für Zuwanderungsnovelle geprägt. Bundesinnenminister durchaus gerechtfertigt und in einigen Fällen auch für Schäuble legitimierte die aufenthaltsrechtlichen Ver- notwendig. Insofern können wir dem sehr viel detaillier- schärfungen damit, dass man den Missbrauch von teren und deutlich ausgewogeneren Antrag der Grünen Rechten verhindern müsste. Das heißt im Klartext: eher positive Seiten abgewinnen, weil die Grünen kon- krete Probleme benennen und auch Lösungsvorschläge (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sind sel- aufzeigen. Aber, lieber Josef Winkler, ihr hattet 1998 un- ber schuld!) terschrieben, dass ihr euch mit der Abschiebehaft be- Man setzt internationale Standards des Flüchtlingsrechts schäftigen wollt. Dazwischen ist nichts passiert. Deswe- nicht um, um zu verhindern, dass Flüchtlinge diese gen fand ich es etwas überraschend, jetzt die einzelnen Rechte missbrauchen. Diese Logik ist absurd und per- Punkte wieder zu lesen. fide. (Beifall bei der FDP – Josef Philip Winkler Die deutsche Politik der Zuwanderungsbegrenzung, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da war ich die, statt sich um die Aufnahme von Flüchtlingen zu noch nicht im Bundestag!) kümmern, lediglich versucht, sie so schnell wie möglich Wir stimmen den Grünen aber zu, wenn sie in ihrer wieder loszuwerden, benötigt die Abschiebungshaft, um Antragsbegründung auf die drei essenziellen Aspekte Abschiebungen durchzusetzen. Was aus der Sicht der hinweisen, die die EU-Kommission beschlossen hat. Behörden als Verwaltungsakt daherkommt, bedeutet je- Demnach müssen das Primat der freiwilligen Rückkehr doch für Flüchtlinge einen massiven Eingriff in ihre gestärkt, verfahrensrechtliche Mindestgarantien gesi- Freiheit; denn inhaftiert werden Menschen, die kein Ver- chert und die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. brechen begangen haben. Ihr einziges Vergehen besteht darin, nicht die richtigen Papiere zu besitzen. (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) Deutschland ist mit einer gesetzlich möglichen Inhaf- Eine individuelle Betreuung bzw. Bewertung jeder tierungsdauer von 18 Monaten Spitzenreiter der Ab- einzelnen Lage ist notwendig. Aber institutionalisierte schreckung in Europa. Nirgendwo sonst in Europa kön- und automatisierte Nachsicht mit denen, die sich nicht nen Menschen so lange in Haft genommen werden wie an unsere Rechtsordnung halten, kann das Ansehen aller hier. Deutschland ist eine treibende Kraft, Abschie- 9208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Gert Winkelmeier (A) bungshaft als Mittel der Abschreckung in Europa zu Elend leben, oder bei den zig Millionen bereits auf der (C) stärken. Flucht befindlichen Menschen herumsprechen, dass, wer immer deutschen Boden erreicht, auch hier bleiben kann, (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Hören Sie würden wir einen – womöglich noch durch professio- mal zu, Herr Wolff!) nelle Schleuserbanden organisierten – Zustrom erzeu- In den Verhandlungen um die EU-Richtlinie für gemein- gen, den wir niemals bewältigen könnten. Dies ist nun same Normen der Mitgliedstaaten bei Abschiebungen einmal das vielfach traurige und auch unter humanitären hatte sich gerade der deutsche Berichterstatter als Gesichtspunkten oftmals nur schwer zu bewältigende Scharfmacher hervorgetan. Er forderte, in der Richtlinie Spannungsfeld, in dem wir uns, ebenso wie die beiden eine Höchstdauer der Abschiebehaft von einem Jahr Anträge, um die es heute geht, bewegen. festzuschreiben. Gerade deswegen war es – wenn ich das an dieser Meine Damen und Herren, in Berlin traten im Stelle einmal sagen darf – uns Sozialdemokraten wich- Frühjahr 2003 mehr als 60 Abschiebungshäftlinge in den tig, im Rahmen des jetzt auf uns zukommenden Gesetz- Hungerstreik. Circa 40 Menschen verletzten sich selbst gebungsverfahrens zur Umsetzung der elf EU-Richtli- oder versuchten sogar, sich umzubringen. Ein paar Mo- nien eine gesetzliche Bleiberechtsregelung für die nate später protestierten in Schleswig-Holstein 33 Insas- Menschen mit aufzunehmen, die bereits seit langer Zeit sen ebenfalls gegen ihre schlechten Haftbedingungen. in Deutschland leben und hier gut integriert sind. Ich Diese Liste könnte ich beliebig fortsetzen. füge allerdings hinzu: Weit genug geht diese Bleibe- rechtsregelung eigentlich nicht, wenn man dieses Pro- Abschiebehaft schafft Räume der Entrechtung und blem auf Dauer lösen will. der Erniedrigung. Abschiebehaft ist ein derart massiver Eingriff in die Freiheit und Integrität von Flüchtlingen, (Beifall des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] dass sie ersatzlos abgeschafft werden muss. [FDP] und des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der LINKEN) Es ist trotzdem eine wichtige Perspektive für die Men- Bis dahin ist das Mindeste, was ein demokratischer schen, deren Zahl ich jetzt gar nicht benennen will, die Rechtsstaat leisten muss, bestimmte Mindeststandards davon potenziell betroffen sind, vor allen Dingen die einzuhalten und die Haft so kurz wie möglich zu halten. Kinder und Jugendlichen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU) (B) (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt spricht Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion. Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dağdelen zulassen? (Beifall des Abg. [SPD])

Rüdiger Veit (SPD): Rüdiger Veit (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, bitte. Wenn wir Menschen zwingen müssen, unser Land gegen ihren Willen zu verlassen, dann ist das fast immer mit Sevim Dağdelen (DIE LINKE): menschlichen Tragödien verbunden. Das gilt umso Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben zwar gesagt, mehr, wenn sie sich schon viele Jahre in Deutschland dass Sie hier keine Zahlen nennen wollen; aber Sie ha- aufgehalten haben. Das wühlt viele von uns, die das se- ben doch besonders aufgrund Ihrer Verhandlungen auch hen, vor allen Dingen dann auf, wenn es dabei um Fami- mit Ihrem Koalitionspartner einen Einblick in die Sach- lien mit Kindern geht, die in Deutschland aufgewachsen lage gehabt und können sicher eine ungefähre Einschät- oder sogar hier geboren sind. zung geben, wie viele Menschen von dieser Regelung werden profitieren können. Das beginnt im Übrigen nicht erst dann, wenn die Be- treffenden unter Anwendung unmittelbaren Zwangs ins (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das kann Flugzeug gesetzt oder in Abschiebegewahrsam genom- niemand sagen!) men werden, sondern es beginnt schon mit den voraus- gegangenen Verwaltungsentscheidungen und Gerichts- Rüdiger Veit (SPD): urteilen, mit denen ihnen mitgeteilt wird, sie müssten Der Kreis der potenziell Begünstigten mag, wenn Deutschland verlassen, obwohl sie vielleicht glaubten, man jetzt nur an die Fristen von sechs oder acht Jahren hier bei uns eine neue Heimat gefunden zu haben; denn denkt, vielleicht sogar an die 100 000 gehen. Wenn Sie nunmehr erwartet sie ein ungewisses Schicksal oder aber die sonstigen Kriterien, die Bestandteil der gesetzli- vielleicht Gefahr in ihren Herkunftsländern. chen Bleiberechtsregelungen sind, heranziehen, dann Andererseits kann der Staat auf die notfalls zwangs- werden Sie im Ergebnis feststellen müssen, dass sich der weise Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung nicht Kreis der potenziell Begünstigten bei – so meine per- verzichten. Denn würde sich unter den vielen Hundert sönliche Einschätzung – maximal 60 000 bewegen wird, Millionen Menschen in der Welt, die in Armut und was im Klartext heißt, es werden weiterhin immer noch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9209

Rüdiger Veit (A) rund 120 000 Menschen im Zustand der Kettendul- (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ich ziehe zu- (C) dung bei uns in Deutschland leben. rück!) Aber, Frau Kollegin, meine lieben Kolleginnen und – Gut. Bitte schön, Herr Veit. Kollegen, ich sage das einmal in ganz persönlicher Be- wertung: Wenn man diesen Menschen – sie bilden einen Rüdiger Veit (SPD): Personenkreis von der Größe einer Mittelstadt, und die Ich darf nun zu dem hier zur Debatte stehenden An- Kinder und Jugendlichen machen vielleicht eine Klein- trag der Linken kommen. Sie verlangen in erster Linie, stadt aus – wenigstens eine konkrete Perspektive vermit- die Abschiebehaft gänzlich abzuschaffen. Was ich dazu teln könnte – mehr können wir in den nächsten zweiein- vom Grundsatz her zu bemerken hatte, habe ich getan. halb Jahren politisch wohl nicht erreichen –, dann wäre Sie sind dabei nicht ganz konsequent. Denn in Ihrem das ein triftiger Grund, an anderer Stelle – das werden Antrag schlagen Sie eine Modifikation des gesamten wir im Gesetzgebungsverfahren dann auch tun – den Rechtskomplexes vor, die völlig konträr zu der Forde- Wünschen unseres Koalitionspartners entgegenzukom- rung steht, die Abschiebehaft gänzlich abzuschaffen. men. Manche könnten sagen – wir werden darüber noch debattieren –, der Preis sei zu hoch. Meine persönliche (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Auf dem Bewertung ist: Da es hier um eine Hilfeleistung für eine Weg dorthin!) Vielzahl von Menschen geht, ist es gerechtfertigt, sich so Auf dem Weg dorthin verlangen Sie unter anderem zu verhalten. auch die Streichung des § 62 Abs. 3 des Aufenthaltge- setzes und übersehen dabei, dass in dieser Vorschrift die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Regelung enthalten ist, dass die Abschiebehaft in der Herr Kollege Veit, auch Herr Grindel möchten Ihnen Regel maximal nur sechs Monate dauern kann. Das gerne eine Zwischenfrage stellen. heißt, diese zeitliche Begrenzung gibt es nicht mehr, wenn Sie die Vorschrift ersatzlos abschaffen. Sie erlau- ben, dass ich an dieser Stelle meine Bedenken anmelde, Rüdiger Veit (SPD): ob Ihr Antrag hinreichend durchdacht ist. Bitte sehr. Ich will auch dazu etwas sagen, warum ich nicht der Meinung bin, dass es sinnvoll wäre, die Anordnung der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Abschiebehaft den Verwaltungsgerichten zu übertragen. Bitte schön, Herr Grindel. Zum einen haben Haftrichter bei den Amtsgerichten sehr viel mehr Erfahrung hinsichtlich der Haft; sie wis- (B) Reinhard Grindel (CDU/CSU): sen auch sehr viel genauer, wohin sie die Leute schicken (D) Herr Kollege Veit, stimmen Sie mir zu, dass die Be- müssen. Zum anderen sind Amtsrichter in der Regel so- wertung der Bleiberechtsregelung nicht von der Zahl wohl zeitlich – Stichwort Bereitschaftsdienst, 24 Stun- derjenigen abhängen kann, die sich am Ende darauf be- den jeden Tag – als auch räumlich sehr viel besser er- rufen können? Wir geben nämlich denjenigen ein Blei- reichbar als Richter an Verwaltungsgerichten. berecht, bei denen es humanitär nicht verantwortlich Aus meiner Erfahrung kann ich aber vor allem sagen, wäre, sie in ihr Heimatland zurückzuschicken, weil sie dass es ausgerechnet die Richter in den Oberlandesge- hier verwurzelt sind, weil insbesondere ihre Kinder hier richtsbezirken Frankfurt und München sind, die im Inte- eine gute Perspektive haben und weil es im Interesse un- resse der Betroffenen – das ärgert manchmal die Auslän- seres Staates liegt, dass diese Menschen bei uns bleiben, derbehörden – eine eher liberale Rechtsprechungspraxis ohne dass es Verwerfungen gibt. Es kommt also mehr an den Tag legen, wenn es um die Anordnung oder Ver- auf den menschlichen und sozialen Hintergrund der aus- längerung der Abschiebehaft geht. Also geht auch diese ländischen Mitbürger und nicht auf die Zahl der Betrof- Forderung nicht in die richtige Richtung. fenen an, um die Bleiberechtsregelung hinsichtlich ihrer Richtigkeit zu bewerten. Sie kritisieren zudem, dass in dem jetzt in Rede ste- henden Gesetzentwurf zusätzliche Sanktionen im Be- reich der Abschiebehaft enthalten sind. Dazu will ich Ih- Rüdiger Veit (SPD): nen Folgendes sagen: Herr Kollege Grindel, ich stimme Ihnen uneinge- schränkt zu. Sie haben eine ausgezeichnete Begründung Zum einen ist es so, dass wir mit einer Neufassung dafür geliefert, warum – das ist auch meine persönliche des § 62 Abs. 4 des Aufenthaltsgesetzes klarstellen, un- Überzeugung – der Kreis der potenziell Begünstigten ter welchen dann engeren Voraussetzungen als bisher hätte gesetzlich wesentlich weiter gefasst werden kön- Verwaltungsbehörden, Ausländerbehörden Menschen nen. Ich bedanke mich für Ihre Frage. vorübergehend in Haft nehmen können, bis sie dann dem Richter vorgeführt werden müssen, und zwar, wie der (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der FDP vorgesehene Wortlaut besagt, unverzüglich. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zum anderen ist es so, dass wir uns im Bereich des Transitgewahrsams auf Drängen der SPD mit unserem Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Koalitionspartner haben darauf verständigen können, Herr Kollege, Frau Dağdelen möchte eine weitere dass nach längstens 30 Tagen ein Richter das Verbleiben Zwischenfrage stellen. in der Flughafenunterkunft bestätigen muss. Das ist 9210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Rüdiger Veit (A) deswegen wichtig und keineswegs selbstverständlich, In der alten Koalition haben wir dann zumindest erreicht, (C) weil sehr viele der Betroffenen aufgrund von sogenann- dass durch die Einrichtung einer neuen Unterkunft am ten, wie ich immer fand, sehr fragwürdigen Freiwillig- Frankfurter Flughafen sowohl für die betroffenen Men- keitserklärungen erklären, sie würden lieber in der Flug- schen als auch die dort tätigen Bediensteten recht ver- hafenunterkunft bleiben, als in Abschiebehaft zu gehen. nünftige, humanitär erträgliche Bedingungen geschaffen Ich glaube, das ist durchaus ein richtiger Schritt in die worden sind. Damit ist ein Großteil der schwierigen Dis- richtige Richtung. kussion in der Praxis erledigt worden. Aber mehr – das muss man klar und deutlich sagen – haben wir nicht er- Was nun den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ reicht. Die Grünen angeht: Sie beziehen sich in der Begründung – ich nehme an, auch in dem, was Sie jetzt mündlich In den Koalitionsverhandlungen 2005 mit unserem vortragen werden – in der Tendenz zu Recht auf den neuen Koalitionspartner, der CDU/CSU, hatten wir – ich Vorschlag einer Richtlinie der EU-Kommission vom darf das sagen, ohne Betriebsgeheimnisse preiszugeben – 5. September 2005 und weisen ebenso zu Recht darauf schon verschiedentlich unsere Last, sie zu bitten, auf die hin, dass die Beratungen darüber leider ins Stocken gera- Aufnahme weiterer Abschiebungshaftgründe in das Ge- ten sind, übrigens schon in der Arbeitsgruppe „Migra- setz zu verzichten. Das ist uns gelungen. Ich habe vorhin tion und Rückführung“, also noch nicht einmal im gesagt, es gebe einen Richtervorbehalt. Auch bei Transit- Ministerrat selber. Es gab dann unter der finnischen Prä- gewahrsam muss jetzt nach 30 Tagen ein Richter einge- sidentschaft mit Datum vom 6. Oktober und 13. Novem- schaltet werden. Ich denke, das ist ein Schritt in die rich- ber 2006 noch Änderungen an diesem Vorschlag, die ich tige Richtung. inhaltlich als Rückzieher gegenüber den ursprünglichen, Zusammengenommen – das gilt für die rot-grüne Re- wie ich glaube, sehr vernünftigen und abgewogenen gierungszeit genauso wie für das, was wir bisher in Um- Vorstellungen bezeichnen möchte. setzung der Koalitionsvereinbarung gemacht haben – ist das vielleicht nicht unbedingt als glorreich zu bezeich- Nunmehr hat der Rat der Europäischen Union am nen. Es wäre erfreulicher, eine Reform des nationalen 28. Februar 2007 unter deutschem Vorsitz nur noch eine Rechtes nach Maßgabe des EU-Richtlinienvorschlages Umsetzung der Richtlinie in Teilschritten vorgesehen vorzunehmen. Ich würde mir wünschen, dass der deut- und den Rest eher auf die lange Bank geschoben, was sche Ratsvorsitz in dieser Hinsicht mutig, offensiv, klar, ich bedauern würde. Gerade was die Frage der Inge- eindeutig und geradlinig voranschreitet. wahrsamnahme und der Sicherung der Abschiebung an- geht, bezieht sie sich im Wesentlichen auf das nationale, Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. deutsche Recht und ist in dieser Hinsicht, gemessen am (Beifall bei der SPD) (B) Maßstab der ursprünglichen Richtlinie und des Vorschla- (D) ges, zu weitgehend. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Josef Kastner) Winkler, Bündnis 90/Die Grünen. Es ist das unbestreitbare Verdienst des Antrags des Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bündnisses 90/Die Grünen, darauf hinzuweisen, dass NEN): auf europäischer Ebene ein wichtiger Gesetzgebungs- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen prozess – das ist er nämlich – im Gange ist, auf den wir und Kollegen! Meine Fraktion setzt sich seit langem da- als nationales Parlament antworten und in den wir uns für ein, die Anordnungsdauer von Abschiebehaft auf ein einschalten müssen, anstatt uns immer nur hinterher, Mindestmaß zu begrenzen. Wir vertreten die Position, wenn eine Richtlinie vorliegt, Gedanken zu machen, wie dass Abschiebehaft lediglich der Sicherung einer Ab- wir das jetzt in nationales Recht umsetzen. Dies ist umso schiebung dienen darf. Das heißt, nur dann, wenn sich wichtiger, als wir diese Richtlinie bereits am 8. März jemand der Abschiebung erkennbar entziehen will, darf 2006, wie mir meine Mitarbeiter herausgesucht haben, Abschiebehaft verhängt werden. Wenn das in dieser Art auf der Tagesordnung des Innenausschusses hatten, das und Weise durchgeführt würde, könnte, nebenbei be- dann aber ohne nähere Begründung vertagt haben. Ich merkt, eine große Anzahl der in Deutschland befindli- begrüße es, dass wir diese Problematik vor dem Hinter- chen Abschiebehaftanstalten geschlossen werden. grund Ihres Antrages jetzt wieder im Innenausschuss aufrufen. Des Weiteren setzen wir uns seit langem dafür ein, dass Minderjährige nicht inhaftiert werden dürfen; denn Lassen Sie mich eine nicht ganz bierernst gemeinte die schwerwiegenden psychischen Folgen, die Haft be- Schlussbemerkung politischer Art machen. Wir hatten sonders auf Kinder und Jugendliche haben kann, sind of- 1998 in der Koalitionsvereinbarung zwischen Rot-Grün fensichtlich und bedürfen, glaube ich, keiner weiteren den Satz festgelegt – darauf ist zu Recht hingewiesen Erläuterung. worden –: Wir wollen die Abschiebungshaft und das Flughafenverfahren im Lichte der Verhältnismäßigkeit Dass die Abschiebehaft auf den Prüfstand gehört überprüfen. – zumindest in der Art und Weise, wie sie im Moment durchgeführt wird –, ist inzwischen durch zahlreiche (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das habe Dokumentationen und Berichte belegt. Auf die hohe An- ich auch gelesen!) zahl von Suiziden wurde bereits hingewiesen. Leider Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9211

Josef Philip Winkler (A) Gottes ist der Befund des Vorsitzenden Richters am Hes- Richtlinie festgelegt werden, auf einen Minimalkonsens (C) sischen Verwaltungsgerichtshof, von Herrn Göbel- einigt und es den Mitgliedstaaten überlässt, wie repres- Zimmermann, aus dem Jahre 1996 noch immer aktuell. siv sie vorgehen wollen. Er sagte: (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Abschiebungshaft wird teilweise zu schnell und zu oft beantragt und angeordnet sowie zu lange vollzo- Unsere Kriterien, die wir an eine faire Richtlinie stel- gen. Das Abschiebungshaftverfahren ist häufig mit len, lauten – das sage ich in aller Kürze –: Schutzbedürf- gerichtsorganisatorischen Mängeln, Verfahrensfeh- tige sollten nicht abgeschoben werden; Familien dürfen lern und Fehleinschätzungen der Rechtslage belas- nicht getrennt werden; Rechtsmittelzugang muss ge- tet, sodass es zu einer nicht unerheblichen Zahl feh- währleistet sein; soweit wie möglich soll Abschiebehaft lerhafter Entscheidungen kommt. das letzte Mittel sein; die humanitären Standards bei den Flugabschiebungen müssen verbessert werden und dür- Die hohe Anzahl an Menschen, die entlassen wird – es fen auf keinen Fall hinter den innerhalb der Bundesrepu- sind 30 bis 40 Prozent –, zeigt, dass das nicht ganz falsch blik Deutschland bereits geltenden Bestimmungen über ist. die Rückführung ausländischer Staatsangehöriger auf dem Luftweg zurückfallen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Helmut Brandt [CDU/CSU]: Das hat ja ganz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) andere Gründe!) Diese waren als Reaktion darauf erlassen worden, dass Nach Auffassung meiner Fraktion hätte die Bundesre- der sudanesische Staatsangehörige Amir Ageeb im gierung schon lange die Konsequenzen aus der Diskus- Mai 1999 bei einer Abschiebung durch den Bundes- sion über mildere Mittel, die sich stärker am Verhältnis- grenzschutz zu Tode gekommen ist. mäßigkeitsgrundsatz orientieren, ziehen müssen. Das Problem ist in dem Gesetzentwurf, der eben angespro- Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Wir set- chen wurde, in diesem großen Paket, nicht befriedigend zen uns weiterhin dafür ein, dass über diese EU-Richtli- gelöst worden. nie von der Bundesregierung besser verhandelt wird, Wir sagen, dass § 62 Aufenthaltsgesetz so geändert (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Die nicht da werden sollte, dass dieser schwerwiegende Eingriff in ist!) die Freiheitsrechte des Einzelnen auf absolute Ausnah- also von denen, die jetzt nicht mehr anwesend sind, aber mefälle beschränkt wird. Wir orientieren uns dabei an bis eben noch anwesend waren. der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Im (B) Jahr 2000 hat es entschieden, dass die bisher übliche (D) Haftdauer bis zu einem Maximum von 18 Monaten nicht Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: verhältnismäßig ist. Herr Kollege, bitte.

Die EU-Richtlinie, die unter anderem von dem Kolle- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen Veit schon angesprochen wurde, sieht eine maxi- NEN): male Dauer der Abschiebehaft von sechs Monaten vor, Wir hoffen, dass die Bundesregierung dabei von den zumindest war das im September 2005 noch der Fall. Kollegen aus dem Parlament, denen sie vielleicht zuhört, (Rüdiger Veit [SPD]: Mittlerweile acht!) im Innenausschuss unterstützt wird. – Der Kollege sagt: „Acht.“ – Inzwischen hat sich das Herzlichen Dank. geändert; darauf wollte ich jetzt zu sprechen kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege Brandt, die Vorgehensweise der Bundesre- gierung war bisher nicht so rühmlich, wie Sie behauptet haben. In unserem Antrag haben wir den aktuellen Stand Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Verhandlungen ausführlich geschildert. Das, was Sie Ich schließe die Aussprache. dargestellt haben, deckt sich nicht mit unserer Kenntnis Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf über die Vorgehensweise der Bundesregierung. Drucksache 16/3537 an die in der Tagesordnung aufge- (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Ich rede von er- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf strebenswerten Standards!) Drucksache 16/4851 soll zur federführenden Beratung an den Innenausschuss und zur Mitberatung an den Aus- Das können Sie gerne noch einmal nachlesen. Aus den schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe sowie Reihen Ihrer Koalition wurde unser Antrag ja ausdrück- an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- lich gelobt. Vielleicht stellen Sie, wenn Sie sich unseren schen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einver- Antrag durchlesen, ja fest, dass Sie sich ihm anschließen standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so können. beschlossen. Unser Antrag betont im Gegensatz zu dem der Links- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: fraktion die europäische Dimension. Das ist wichtig, weil die Verhandlungen der Bundesregierung auf euro- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- päischer Ebene zurzeit darauf hinauslaufen, dass man gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu- sich hinsichtlich der humanitären Aspekte, die in dieser ordnung der ERP-Wirtschaftsförderung 9212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) (ERP-Wirtschaftsförderungsneuordnungsge- Zunächst zum Substanzerhalt. 2 Milliarden Euro ge- (C) setz) hen in den Haushalt; 2 Milliarden Euro fließen aus Rückstellungen und Rücklagenbildung in der Vergan- – Drucksache 16/4664 – genheit zurück. Deshalb kommen wir zu dem Fazit: Die Überweisungsvorschlag: Substanz des Sondervermögens bleibt erhalten. Es wird Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) sich auf die alte, bewährte Höhe jenseits von 12 Milliar- Finanzausschuss den Euro belaufen. Die Risiken bei den Rückstellungen Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – soweit welche angefallen sind – übernimmt der Fi- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit nanzminister. Die Rücklagen werden vom Finanzminis- Ausschuss für Tourismus ter auf das ERP-Sondervermögen beim BMWi übertra- Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO gen. Insoweit glaube ich, dass wir der Verpflichtung, die b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Substanz zu erhalten, nachgekommen sind. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Was ist mit den Erträgen? Zunächst einmal besteht im über die Feststellung des Wirtschaftsplans des gesamten Parlament der Wunsch, dass wir sie zusammen- ERP-Sondervermögens für das Jahr 2007 halten und dass Wirtschaftsförderung und Mittelstands- (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2007) förderung ungeschmälert und nachhaltig gewährleistet – Drucksache 16/4376 – werden. Ich gehe davon aus, dass wir das mit den jetzi- gen Annahmen erreichen können. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- Durch eine andere Anlage der Erträge erhöhen wir schuss) die Effizienz und stärken die Sicherheit. Die Gelder sind bisher zu einem kleinen Teil in der KfW und zum Teil im – Drucksache 16/4881 – Markt angelegt und haben Erträge erzielt, die etwa zwi- schen 4,5 und 5 Prozent liegen. Das sind grobe Zahlen; Berichterstattung: ich will das hier in der Kürze der Zeit nicht im Einzelnen Abgeordneter Dr. Michael Fuchs vortragen. Die Anlageentscheidung ist zum Teil über die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die KfW, zum Teil über das ERP-Sondervermögen und das Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre BMWi getroffen worden. Ausgegeben haben wir immer keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. nur die Erträge. Wir haben sogar Rückstellungen gebil- det, um die Substanz weiterzuentwickeln. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- mentarische Staatssekretär Hartmut Schauerte. Jetzt sagen wir, dass die Hälfte dieser frei angelegten (B) Beträge in Höhe von 9,3 Milliarden Euro, also 4,65 Mil- (D) (Beifall bei der CDU/CSU) liarden Euro, als Eigenkapital und weitere 3,1 Milliarden Euro als Nachrangkapital in der KfW angelegt werden Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär beim Bun- sollen. Ein Vermögensbestandteil in Höhe von 1,5 Mil- desminister für Wirtschaft und Technologie: liarden Euro, mit dem wir zum Beispiel bisher bei Air- bus begleitend tätig waren, bleibt außerhalb dieser neuen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Anlageentscheidung. Was auch immer in der Zukunft Herren! Wir beraten heute den Entwurf des ERP- daraus wird – zurzeit wird an der Stelle nichts verändert. Wirtschaftsförderungsneuordnungsgesetzes. Jetzt beginnt die parlamentarische Beratung. Die Eingeweihten haben Diese Anlageform ist nachhaltig. Sie ist sicherer als schon viele Beratungen zur Vorbereitung des Gesetzent- die bisherigen Anlagen und ertragreich. Der Ertrag, den wurfs hinter sich. Sie wissen, dass wir im Koalitionsver- wir dadurch erzielen, ist mindestens so hoch wie der, den trag vereinbart haben, dass das ERP-Vermögen neu ge- wir bisher erzielt haben. Wie haben in den Verträgen und ordnet wird. Das ist jetzt auf der Agenda. in den Regelungen, die wir getroffen haben, festgelegt, dass wir pro Jahr Erträge von mindestens 590 Millionen Verabredet war, dass 2 Milliarden Euro in den Haus- Euro zu erwirtschaften und abzuliefern haben. Sie sind halt eingestellt werden – das ist im Entwurf des Gesetzes dann, nachdem Rückstellungen für den Substanzerhalt in vorgesehen – und dass Forderungen und Verbindlichkei- der Zukunft gebildet worden sind, wie bisher für die För- ten in Höhe von etwa 14 Milliarden Euro, die bisher dem derung der Wirtschaft und des Mittelstands einzusetzen. ERP-Sondervermögen zugeordnet waren, mit Aktiva und Passiva, so wie sie sind, in die Zuständigkeit des Fi- Damit das für alle Zweifler ganz klar ist: Wir legen nanzministers übertragen werden. Es gab an der Stelle das ERP-Vermögen jetzt im Wesentlichen bei der KfW- immer wieder die Forderung des Haushaltsausschusses, Bank an. Wir bleiben also Eigentümer. Wir hätten dieses solche Forderungen und Verbindlichkeiten aus Neben- Vermögen auch anders anlegen können. Dann würden haushalten herauszunehmen und in die Gesamtverant- wir möglicherweise höhere Erträge erwirtschaften, wortung des Finanzministers zu überstellen. Auch dem müssten aber auch größere Risiken eingehen. Es wurde wird Rechnung getragen. die Grundentscheidung getroffen, dass wir das ERP-Ver- mögen auf diese Weise anlegen. Es ging in diesem Zusammenhang um drei wesentli- che Aspekte: um den Substanzerhalt, um das Fördervo- Dazu möchte ich noch eine Bemerkung machen: Die lumen und um die Mitwirkung der Amerikaner. Über politischen Entscheidungen im Hinblick auf dieses Ver- diese drei Komplexe müssen wir diskutieren. mögen trifft nach wie vor der Bund. Bei allem Abstand Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9213

Parl. Staatssekretär Hartmut Schauerte (A) ist die Kreditanstalt für Wiederaufbau immer noch eine Der Vorsitzende des Unterausschusses, Hans (C) Bank des Bundes. Wir geben dieses Geld also nicht in Michelbach, weiß ganz genau, dass wir uns schon zu eine fremde Struktur, sondern in unsere eigene Struktur. einem sehr frühen Zeitpunkt in einer nichtöffentli- Insoweit sei gerade denjenigen, die wollen, dass das Par- chen Sitzung des Untersuchungsausschusses lament entscheidungsbefugt bleibt, gesagt: Die Befugnis des Parlaments, über das ERP-Vermögen zu entscheiden, (Zurufe von der CDU — Dr. ist bei dieser Form der Anlage mindestens so groß, wie [SPD]: Was nicht ist, kann noch werden!) es bei einer anderen Anlageform der Fall gewesen wäre. – da hören alle sofort spitz zu –, des Unterausschusses Die Erträge sind vorrangig sicherzustellen. Das haben dafür ausgesprochen haben, dass die amerikanische wir durch das Gesetz und durch den Vertrag zwischen Seite an dieser Sitzung teilnehmen sollte. Bei aller Be- dem ERP-Sondervermögen und der Kreditanstalt für reitschaft, zu streiten, möchte ich daher darauf aufmerk- Wiederaufbau geregelt, den wir dem Parlament ebenfalls sam machen: An dieser Stelle sind wir weiter gegangen, zur Beratung vorgelegt haben. Dem Parlament ist also als es, was die internationalen Gepflogenheiten angeht, bereits im Rahmen der ersten Beratung eine Befassung üblich ist. mit dem untergesetzlichen Regelwerk angeboten wor- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das kann den. Das ist, wie ich meine, eine faire Art und Weise des man wohl sagen!) Umgangs miteinander. Das ERP-Sondervermögen bleibt Eigentümer des nun weitgehend in der KfW gebundenen In einer nichtöffentlichen Sitzung, also bevor das Parla- Kapitals. ment informiert wird, eine befreundete Macht an der Be- ratung zu beteiligen, war nur gerechtfertigt, weil wir be- Nun komme ich zum zweiten wichtigen Punkt: Die sonderen Respekt vor der Situation hatten, in der das Erträge sind gesichert. Wer entscheidet über die Erträge? ERP-Vermögen nach dem Kriege im Rahmen des Mar- Wir sagen: Das machen, wie auch bisher, das BMWi und shallplans entstanden ist. das Parlament. Das BMWi stellt, wie auch in der Vergan- genheit, gemeinsam mit der KfW die Haushaltspläne (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und den Jahreswirtschaftsbericht über diese Erträgnisse auf, und das Parlament berät und entscheidet darüber. Sonst hätte man es nicht verantworten können. Ich bitte alle, aus dieser Situation jetzt aber keinen Nebenkriegs- Sollte bei der Durchsicht des Vertrages der Eindruck schauplatz werden zu lassen, auf dem wir uns am Ende entstehen, dass die Rechte des Parlaments an dieser mehr Ärger einhandeln als Freude. Wir werden mit den Stelle nicht hinreichend klar formuliert sind, dann bleibt Amerikanern weiterverhandeln. Sie haben angekündigt, (B) es dem parlamentarischen Verfahren überlassen, ob an eine Delegation zu schicken – es ist ja besser zu reden (D) dieser Stelle noch nachgebessert werden kann, um etwa- als Schriftstücke auszutauschen –, die in der ersten oder ige Unklarheiten zu beseitigen. Ich kann nur sagen: Wir zweiten Woche nach Ostern hierher nach Berlin kom- als vorlegendes Haus wollen, dass das Parlament in vol- men wird. Wir werden das weitere Vorgehen und die Be- lem Umfang entscheiden kann, wie die Erträge zur För- wertung dieser Vorgehensweise mit den Amerikanern derung des Mittelstandes geplant, bewirtschaftet und freundschaftlich erörtern. eingesetzt werden. Dass ausgerechnet am Tag vor der Veranstaltung der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) G 8 in Heiligendamm der 60. Geburtstag des Marshall- plans zu begehen ist, ist eine besondere Tücke oder Sollte zu irgendeinem Zeitpunkt ein Veto der Kredit- – wenn Sie so wollen – ein gewisser Charme der Ge- anstalt für Wiederaufbau drohen, dann ist das nicht beab- schichte. Wir haben einen Brief der amerikanischen sichtigt. Darüber können wir im Beratungsverfahren Seite bekommen. Den werden wir jetzt prüfen, und wir miteinander reden. Das kann ich, ohne irgendeiner Ver- werden ihn ordnungsgemäß beantworten. handlung vorzugreifen, sagen. Aber ich sage Ihnen: Nach der Vorbereitung erwarte Nun möchte ich noch ein paar Bemerkungen zur Be- ich konstruktive Beratungen im Parlament. Ich freue teiligung der Vereinigten Staaten von Amerika ma- mich insbesondere auf die Gespräche mit der amerikani- chen; denn dieses Thema wird momentan besonders in schen Seite, die wir nach Ostern ausführlich und an der den Mittelpunkt gerückt. Ich kann nur in aller Klarheit Sache orientiert führen werden. Ich glaube, das, was wir sagen: Wir haben uns exakt an die Informationen und hier vorlegen, ist ganz ordentlich. Vorgehensweisen gehalten, die wir mit den Amerikanern vereinbart haben; daran besteht überhaupt kein Zweifel. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Herzli- Zunächst einmal äußerten die Amerikaner die Bitte – das chen Dank. ist auch vernünftig –, erst dann informiert zu werden, wenn wir unsere Entscheidung einigermaßen abge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schlossen haben. Den Gesetzentwurf, den wir dem Kabi- nett zur Beratung vorlegen wollten, haben wir vorher der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: amerikanischen Seite übersandt. Wir haben den Verei- Ich gebe das Wort dem Kollegen Martin Zeil, FDP- nigten Staaten auch bereits vor der ersten Lesung das un- Fraktion. tergesetzliche Regelwerk, nämlich den Vertrag, überge- ben. (Beifall bei der FDP) 9214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Martin Zeil (FDP): Unantastbarkeit des ERP-Vermögens in seiner Substanz (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wird auf dem Altar Ihrer Koalitionsabsprache geopfert. Kollegen! Wilhelm Busch hat einst gereimt: (Beifall bei der FDP) Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Sie können noch so viele Parlamentsvorbehalte und Böse, was man läßt! schöne Absichtserklärungen in das Gesetz hineinschrei- Die FDP-Fraktion hat die Regierungen in den letzten ben – an der Verfügungsgewalt des KfW-Vorstandes, an acht Jahren immer vor der bösen Tat gewarnt. Bis zum der Entmachtung des Parlaments ändert dies alles nichts. Regierungswechsel hatten wir unsere Freunde von der Und das schlechte Gewissen, meine Damen und Her- Union dabei an unserer Seite. ren von der Koalition, dringt Ihnen ja schon aus den Po- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ ren. Es ist ja anders nicht zu erklären, dass uns verspro- DIE GRÜNEN]: Die sind jetzt abhanden ge- chene Unterlagen entweder viel zu spät oder gar nicht kommen!) erreichen. Dieses Gesetz soll so schnell wie möglich durch das Parlament gepeitscht werden als willfähriger Für uns ist festzuhalten: Das ERP-Vermögen eignet Erfüllungsgehilfe des Finanzministers. sich aus vielerlei Gründen nicht als Steinbruch für den Bundeshaushalt und auch nicht als Kapitalspritze für ( [SPD]: Was wollen Sie denn damit staatliche Großbankträumereien. sagen?) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans-Josef Und wie das so ist mit den bösen Taten, Frau Kollegin Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Berg: Es schleichen sich auch gravierende Fehler ein. Der Mittelstand in Deutschland ist mit der umsichtigen (Lachen der Abg. Ute Berg [SPD]) Verwaltung dieses Treuhandvermögens und mit der klu- Die jüngste Reaktion der USA – Sie lachen: aber ich gen, von allen Regierungen getragenen Förderpolitik finde das, ehrlich gesagt, gar nicht zum Lachen –, von jahrzehntelang sehr gut gefahren. Es gibt nicht den ge- der wir übrigens erst aus der Zeitung erfahren mussten, ringsten Grund, hieran irgendetwas zu ändern. obwohl der Brief von Mitte März datiert, spricht Bände. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans-Josef Die Vereinigten Staaten haben sich unverblümt zum Ver- Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) fahren, zum Stil und zum Inhalt geäußert. Sie wollen heute mit dem Gesetz zur Neuordnung der (Ute Berg [SPD]: Dazu hat Herr Schauerte ERP-Wirtschaftsförderung einzig und allein die Begehr- schon was gesagt!) lichkeiten Ihres Finanzministers bedienen. (B) Und wir haben immer davor gewarnt, Frau Kollegin, (D) (Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ist es!) ausgerechnet in dieser Frage kleinkariert auf Rechts- standpunkten zu beharren. Es verbietet sich unseres Er- Dabei verwickeln Sie sich zusehends in Widersprüche: achtens, dem amerikanischen Volk als dem großherzigen Zunächst mussten die 2 Milliarden herhalten, um zu sa- Geldgeber ausgerechnet kurz vor dem 60. Geburtstag gen, Deutschland muss das Maastrichtkriterium endlich mit dieser unsensiblen Tollpatschigkeit zu begegnen, wieder einhalten. Nun, nach der größten Steuererhöhung meine Damen und Herren. in der deutschen Geschichte, ist Ihnen dieses Argument aus der Hand geschlagen. Jetzt rücken die Großbankfan- (Beifall bei der FDP) tasien wieder in den Vordergrund: 9,3 Milliarden Euro „Geschichtsvergessen“ nannte dies gestern die „Finan- aus dem Treuhandvermögen des Mittelstandes sollen cial Times“. die zweitgrößte deutsche Bank außerhalb der Banken- aufsicht entstehen lassen. Ordnungspolitisch, aber auch (Zuruf von der FDP: Gute Zeitung!) wettbewerbspolitisch ist das ein Sündenfall ersten Ran- Und ich füge hinzu: Selbst die größte Haushaltsnot ges. Hier wäre eigentlich der Wirtschaftsminister gefor- würde es nicht rechtfertigen, die Grenzen der Peinlich- dert. Aber er schweigt – wieder einmal. keit in dieser Weise zu überschreiten. Hätte man es nur darauf angelegt – wofür ja viel (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!) spricht –, Effizienzsteigerungen in dem ERP-Vermögen zu erzielen, so hätte die Anlage in einem sauberen Ver- Tätige Reue, meine Damen und Herren von der Ko- fahren öffentlich ausgeschrieben werden müssen. Auch alition, reinigt bekanntlich von den Sünden. Beschreiten die vorgesehene Zinsregelung ist weder marktgerecht Sie die im Schreiben der USA vom 16. März gebaute noch auf Dauer ausreichend für den Substanzerhalt. goldene Brücke und nehmen Sie Ihren Gesetzentwurf Und, Herr Schauerte – Sie haben das zwar etwas ver- zurück oder setzen Sie wenigstens das Verfahren aus! kleistert –: Erst nach Ablauf des Förderjahres ist künftig (Dr. Rainer Wend [SPD]: Rücktritt!) eine Berichterstattung des Ministeriums gegenüber dem Bundestag im Gesetz vorgesehen. Damit wird der Bun- Wir sollten den freundlich formulierten Vorschlag der destag einer wichtigen Mitwirkungsmöglichkeit beraubt. Amerikaner aufgreifen und den 60. Jahrestag nutzen, um – ich zitiere wörtlich – „gemeinsam über innovative (Zuruf von der FDP: Aha!) Wege zur Nutzung der Gelder in Übereinstimmung mit Lassen Sie uns trotz aller Winkelzüge und kosmeti- den ursprünglichen Zielen des Marschall-Plans zu spre- scher Bemühungen festhalten: Die Selbstständigkeit und chen“. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9215

Martin Zeil (A) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Gute gibt. Auch die Mittelabflüsse sind gestiegen. Das muss (C) Idee!) man an dieser Stelle vielleicht auch einmal sagen. Die FDP-Fraktion würde einen solchen Weg kon- Wenn wir uns die Zahlen der Mittelzusagen an- struktiv begleiten. schauen und sie vergleichen, dann stellen wir fest, dass es im Jahre 2006 gegenüber 2005 einen Zuwachs von (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das 70 Prozent gab. Es lohnt sich an dieser Stelle also, für glaube ich nicht!) diese Mittelstandsfinanzierung zu streiten. Das sollte Eine Plünderung und Zweckentfremdung des ERP-Ver- man vielleicht auch einmal erwähnen, damit verstanden mögens aber, wie Sie dies mit Ihrem Gesetz machen, wird, warum wir hinsichtlich des ERP-Wirtschaftsplan- wird weiterhin auf unseren entschiedenen Widerstand gesetzes eine solche Neuordnung vornehmen wollen und stoßen. was unser eigentliches Herzblut dahinter ist. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans- Herr Schauerte, Sie haben den Koalitionsvertrag be- Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – reits erwähnt – unter anderem auch den Mittelabfluss in Lachen der Abg. Ute Berg [SPD]) Höhe von 2 Milliarden Euro. Wir haben aber auch ganz klar gesagt, dass wir die Substanz erhalten wollen. Dazu hat Ihr Haus ja auch ein Gutachten in Auftrag gegeben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dabei kamen zwei Ergebnisse heraus: Erstens. Der dau- Nächster Redner ist der Kollege Christian Lange, erhafte Erhalt der ERP-Wirtschaftsförderung ist nur SPD-Fraktion. möglich, wenn neben der laufenden Förderung auch der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Substanzerhalt gewährleistet ist. Zweitens werden für Förderung und Substanzerhalt Christian Lange (Backnang) (SPD): jährlich mindestens 590 Millionen Euro benötigt, und Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und zwar 300 Millionen Euro zur Finanzierung neuer För- Herren! Herr Kollege Zeil, den Vertrag und das Gesetz derleistungen und 290 Millionen Euro, um den Substan- durch das Parlament peitschen? Wir können Parlaments- zerhalt sicherzustellen. vorbehalte beschließen, wie wir das wollen. Herr Zeil, Neben dem Substanzerhalt des Sondervermögens war meine Damen und Herren von der FDP, sagen Sie doch uns bei der Entscheidung auch die Beteiligung des Par- einfach, dass Sie das Ganze ablehnen wollen. laments wichtig. Das haben wir im Unterausschuss ein- (Martin Zeil [FDP]: Ja, das haben wir deutlich vernehmlich beschlossen. (B) gesagt!) Der Vertrag ist uns – darin will ich der Bundesregie- (D) Das wäre doch ehrlicher, als wenn Sie das jetzt hier mit rung zur Seite springen – vor der ersten Beratung ver- diesen Dingen bemänteln. sprochen worden. Das war so vereinbart; das können Sie dem Protokoll entnehmen. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir wollen doch etwas ändern! Wir (Martin Zeil [FDP]: Das war am Tag vorher! sind in der ersten Lesung!) Das war ein bisschen spät!) In der Tat findet heute die erste Lesung von zwei Insofern bitte ich Sie im Rahmen unseres fairen Mitei- Gesetzen statt; sie werden eingebracht. Zum einen ist nanders, das wir um der guten Sache willen in der Ver- dies der Regierungsentwurf zum ERP-Wirtschafts- gangenheit gepflegt haben, dazu zu stehen, statt den Ein- plangesetz 2007 – darüber hat noch niemand ein Wort druck zu erwecken, die Bundesregierung würde etwas verloren –, zum anderen ist dies das Gesetz zur Neu- vorenthalten. Das ist nicht der Fall. ordnung der ERP-Wirtschaftsförderung. Gestatten Sie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mir, zumindest ein Wort zum ERP-Wirtschaftsplange- setz 2007 zu sagen; denn wir haben es zumindest im Insbesondere der Vertrag, der zwischen der KfW und Unterausschuss immerhin einstimmig beschlossen. dem Bund im Rahmen der Neuordnung auszuhandeln war, erfüllt die Vorgaben mit Leben. Das Bundeswirt- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaftsministerium bleibt – das ist ein wichtiges Krite- NEN]: War auch gut so!) rium – Verwalter des ERP-Sondervermögens und setzt den Wirtschaftsplan zusammen mit der KfW um. Das ist Diejenigen, die uns zuhören, sollten das vielleicht auch nicht nur im Gesetzentwurf, sondern auch im Vertrag einmal wissen. eindeutig festgelegt. Für Existenzgründungen und Wachstumsfinanzierun- Das Fördervolumen und die Förderintensität der gen sind 1,1 Milliarden Euro, für Innovationsförderun- ERP-Wirtschaftsförderung bleiben uneingeschränkt er- gen 850 Millionen Euro, für Vorhaben in regionalen För- halten. Das neu in der KfW angelegte Kapital des Son- dergebieten 650 Millionen Euro und für mittelständische dervermögens bleibt weiterhin ausdrücklich der Wirt- Bürgschaftsbanken sowie die Refinanzierung privater schaftsförderung gewidmet. Die Maßnahmen dienen Kapitalbeteiligungsgesellschaften und Beteiligungs- insbesondere der Effizienzsteigerung. fonds 350 Millionen Euro vorgesehen. Insbesondere aus unseren Reihen haben viele Wert darauf gelegt, dass es Jetzt stellt sich die Frage, wie das Parlament ins Spiel darüber hinaus auch jede Menge Stipendienprogramme kam. Herr Staatssekretär, Sie haben festgestellt, dass es 9216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Christian Lange (Backnang) (A) Ihres Erachtens ausreichend gewürdigt wurde. Im Text Aber dass die Vereinigten Staaten keine Ahnung ge- (C) wird das Parlament allerdings nicht direkt erwähnt. Wir habt haben, was wir machen, kann nicht vonseiten des werden uns damit zu befassen haben – wir werden dazu Parlaments behauptet werden. Denn damit würden Sie eine Anhörung durchführen, die wir voraussichtlich den Amerikanern unterstellen, dass die Kommunikation morgen im Wirtschaftsausschuss beschließen werden –, zwischen Botschaft und State Department nicht funktio- wie das Parlament noch besser beteiligt werden kann. niert. Das wäre die einzige logische Erklärung für Ihren Ob das im Gesetz oder im Vertrag geschieht, wird sich in Vorwurf. Deshalb meine ich: Überlassen wir diesen Teil der Anhörung zeigen. Insofern gilt auch hier: gemach, der Regierung. Konzentrieren wir uns auf das, was wir gemach! Wir haben uns darauf verständigt, und die Ko- im Parlament zu tun haben, insbesondere, was die Wah- alitionsfraktionen haben es fest im Blick. rung unserer eigenen Rechte anbelangt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich bin der festen Überzeugung, dass die ERP-Förde- rung auch für die kommenden 50 Jahre auf einem guten Der nächste Punkt ist die Wettbewerbsverzerrung. Weg ist und dass sowohl die Vereinigten Staaten als die Die Bundesregierung hat die Frage einer möglichen Gründerväter des Sondervermögens als auch die Mittel- Wettbewerbsverzerrung durch die Kapitalverstärkung ständler, die darauf bauen, dass wir das ERP-Vermögen der KfW auch im Hinblick auf das EU-Beihilferecht prü- in Deutschland erhalten, in der Tat sicher sein können: fen lassen. Wie Sie wissen, kam man zu dem Ergebnis, Das ERP-Vermögen wird ihnen auch in den nächsten dass keine aus EU-beihilferechtlicher Sicht bedenkliche 50 bis 60 Jahren zur Verfügung stehen. Das muss unser Maßnahme ergriffen worden ist. Dennoch will ich darauf Ziel sein. hinweisen, dass das in die KfW eingebrachte Kapital vollständig zweckgebunden ist – Sie haben das Thema Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Großbank bzw. Staatsbank angesprochen –; es darf nur zur Mittelstandsförderung eingesetzt werden. Volumen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und Intensität der Förderung bleiben auf bisherigem Ni- veau. Die KfW gewinnt hierdurch weder neue Ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schäftsfelder noch neue Kundengruppen. Kurzum, es Ich gebe das Wort dem Kollegen Herbert Schui von können mit dem Kapital keine Industriebeteiligungen der Fraktion Die Linke. der KfW oder Ähnliches finanziert werden. (Beifall bei der LINKEN) Ich weiß, dass es diffuse Sorgen gibt, die aber keinen realen Hintergrund haben. Der Gesetzentwurf und der Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Vertrag sind an dieser Stelle eindeutig. Deshalb meine Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines ist (B) ich, dass man diese Sorgen nicht schüren sollte. Man bei den Beratungen des Unterausschusses deutlich ge- (D) sollte vielmehr darauf verweisen, dass es nicht möglich worden: Es geht nicht nur um zusätzliche Mittel für den wird, neue Kundengruppen zu akquirieren oder die Mit- Bundeshaushalt. Die Fraktion Die Linke war nicht die tel für andere Zwecke als die Mittelstandsförderung ein- einzige, die Bedenken bezüglich des Einflusses des Par- zusetzen. lamentes bei der Gestaltung und Geschäftspolitik von öf- Wie ich weiß, wird dies nicht nur von Ihnen, sondern fentlichen Krediteinrichtungen hatte. auch vonseiten der USA mit Skepsis betrachtet. Dabei Zunächst aber zum Stichwort Bundeshaushalt: 2 Mil- spielen aber – da müssen wir ehrlich sein – häufig auch liarden Euro sollen abgeführt werden. Weiterhin sieht handelspolitische Fragen eine gewisse Rolle. Insofern das Gesetz vor, dass der Bund Forderungen und Verbind- sollten wir auch hier die Kirche im Dorf lassen. Schließ- lichkeiten in Höhe von etwa 14 Milliarden Euro über- lich wollen wir am Hausbankenprinzip nichts ändern, nimmt. Wenn nun die Verbindlichkeiten weiter beim ganz im Gegenteil. Das hat auch die gestrige Beratung Bund bleiben, er sich aber entschließen sollte, die Forde- im Ausschuss noch einmal deutlich gemacht. Am Haus- rungen zu verbriefen und zu liquidieren, dann ständen bankenprinzip wird festgehalten. Deshalb meine ich, ihm nicht nur 2 Milliarden Euro, sondern 16 Milliarden dass nicht von einer Wettbewerbsverzerrung gegenüber Euro zur Verfügung. anderen Banken in der Bundesrepublik die Rede sein kann. Das ist nicht meine Vermutung, sondern ich habe das in der Stellungnahme der kreditwirtschaftlichen Ver- Erlauben Sie mir abschließend eine Bemerkung zu bände gelesen. Nun ist das Problem des Staatsdefizits den Vereinigten Staaten von Amerika. Es freut mich au- nicht mein Thema. Aber warum nehmen denn die Regie- ßerordentlich, dass die Opposition so sehr um die Au- rung und die Koalitionsfraktionen zu dieser Vermutung ßenpolitik bemüht und besorgt ist. Aber als Mitglied der nicht Stellung? Sie könnten ja sagen, dass das eine Erfin- Legislative sage ich deutlich: Es geht hierbei eindeutig dung ist und dass die Informationen, auf die sich die kre- um eine Aufgabe der Exekutive. Wir haben aber schon ditwirtschaftlichen Verbände berufen, aus der Luft ge- großes Entgegenkommen gezeigt – Sie haben darauf griffen sind. In Ordnung. Aber dass man sich gar nicht hingewiesen, Herr Schauerte –, indem wir einen Vertre- dazu äußert, ist nicht nachzuvollziehen. Man sollte zu- ter der Botschaft an unseren nichtöffentlichen Beratun- mindest die Position, die man einnimmt, in irgendeiner gen in unserem Unterausschuss haben teilnehmen las- Art und Weise verdeutlichen. sen. Das hat zwar nicht allen gefallen, aber mit Rücksicht auf unsere amerikanischen Freunde haben wir Wenn die Informationen richtig wären, dann ent- das hingenommen. stünde sicherlich ein Schattenhaushalt, zusätzliche Kre- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9217

Dr. Herbert Schui (A) ditierungsmöglichkeiten und damit ein bisschen Luft – Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): (C) Stichwort Maastricht. Aber dazu möchte ich hier nicht Ich bin sofort fertig. – Wenn das so ist, hat die KfW weiter sprechen. drei Aufgaben zu erledigen: Sie hat dann tätig zu wer- den, wenn Marktversagen vorliegt; so etwas gibt es. Da- Die Konsolidierungsschwüre der Bundesregierung von redet auch die Kreditwirtschaft. Sie hat des Weiteren wären allerdings etwas fragwürdig, wenn die kreditwirt- den Wettbewerb dort zu intensivieren, wo es die private schaftlichen Verbände Recht hätten. Damit sind wir Wirtschaft nicht tut. beim Umgang mit dem Parlament: Warum bezieht die Regierung nicht Stellung? Sie hätte das unaufgefordert tun sollen. Wie ist es mit dem bereits oft zitierten Brief Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: des Herrn Bellinger an das Auswärtige Amt? Immerhin Herr Kollege! ist Herr Bellinger der oberste Rechtsberater des US-Au- ßenministeriums. Mein Problem ist nicht, dass ein deut- Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): sches Parlament oder eine deutsche Regierung in be- Sie hat vor allem im Auftrag des Parlamentes Indus- stimmten Fragen im Gegensatz zu den USA stehen triepolitik zu betreiben. Es wäre Aufgabe des Gesetzge- könnten. Aber ich empfinde es als außerordentlich merk- bers, ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen. würdig, dass die „Wirtschaftswoche“ den Brief am Vielen Dank. 24. März veröffentlicht hat und uns der Brief erst nach dreimaliger Nachfrage am 27. März im Unterausschuss (Beifall bei der LINKEN) vorgelegt worden ist. Ich glaube nicht, dass hier gezielt Informationen zu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rückgehalten werden sollten. Dafür ist das alles nicht be- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege deutend genug. Aber ich vermute, dass es dem beteilig- Hans-Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen. ten Ministerium offensichtlich gar nicht in den Sinn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gekommen ist, dass ein solcher Brief den Mitgliedern des Parlaments weitergeleitet werden müsste. Da stimmt Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wohl etwas nicht bei der Einschätzung. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Des Weiteren haben wir auf die Verwaltungsverein- Herren! Das Parlament hat über Jahrzehnte das ERP- barung gewartet, die uns über die Qualität des Gesetzes Sondervermögen als das wichtigste Instrument der Mit- intensiver informiert. Diese Verwaltungsvereinbarung telstandsförderung demokratisch legitimiert. Der Bun- destag entschied immer über den ERP-Wirtschaftsplan, (B) wird in der Stellungnahme der kreditwirtschaftlichen (D) Verbände erwähnt. Diese Stellungnahme wurde uns im genauso wie heute über den von 2007. Herr Kollege Ausschuss auch unaufgefordert vorgelegt. Nun mussten Lange hat ihn dargelegt. Zudem hat der ERP-Unteraus- wir, nachdem wir gelesen hatten, dass die Kreditwirt- schuss über Jahrzehnte fraktionsübergreifend das ERP- schaft über solche Informationen verfügt, nachfragen, ob Sondervermögen gegen sämtliche Begehrlichkeiten ein- wir sie nicht auch bekommen können. Ich finde, das ist mütig verteidigt. ein unangemessener Umgang des Bundeswirtschaftsmi- Seit dieser Woche ist dies nun anders. Jetzt will die nisteriums mit dem Parlament. Große Koalition gegen den Willen der Opposition ein Verfahren beschließen, das die Übertragung des ERP- Es stellen sich jetzt folgende Fragen: Warum ist das Sondervermögens auf die KfW beschleunigt. Die SPD alles so eilig? Haben wir nicht noch ein bisschen Zeit? kann das Vermögen gar nicht schnell genug der KfW hi- Oder hätte man – entsprechende Festlegungen zur Neu- nüberschieben, und die Union macht einfach mit. Dabei ordnung des ERP-Vermögens gab es ja bereits in der interessiert es die Große Koalition offensichtlich nicht, Koalitionsvereinbarung – das rascher auf den Weg brin- dass die USA erst vor wenigen Tagen darum gebeten ha- gen können? Jetzt geht das ja sehr zügig. Herr Schauerte, ben, dass kein Verfahren stattfindet, bevor ein Konsulta- angesichts dessen fällt mir nur die Frage ein, ob Ihnen tionsverfahren mit einem gemeinsamen Ergebnis durch- als Repräsentant des Wirtschaftsministeriums vielleicht laufen ist. Bedauerlich daran ist, dass die Mitglieder des die Opposition, ja sogar das ganze Parlament in ir- Unterausschusses darüber aus der Zeitung erfahren müs- gendeiner Weise lästig ist und ob Sie lieber keine parla- sen und nicht einmal von der Regierung informiert wer- mentarische Beteiligung möchten. § 12 des Vertrages den. Lieber verzichtet die Regierung auf eine 60-Jahr- widerlegt das nicht. Feier zu den Marshallplanhilfen im Juni, als diesen Deal Mein letzter Punkt: Wie sollte man die Dinge betref- zu verhindern. fend das ERP-Sondervermögen und die Kreditanstalt für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wiederaufbau regeln? Halten wir einfach fest, dass die KfW Bestandteil eines notwendigen öffentlichen Sektors Worum geht es? Die Große Koalition will in einem gemischt-wirtschaftlichen System sein muss. 4,65 Milliarden Euro des ERP-Sondervermögens der KfW übertragen. Dabei ist unumstritten, dass die Verfü- gungsgewalt des Bundes über dieses Kapital vollständig Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: an die KfW verloren geht. Mehr noch: Auch über die Er- Herr Kollege, das müsste wirklich Ihr letzter Punkt träge aus diesem Eigenkapital verfügt die KfW. Die sein. KfW denkt nicht daran, die Erträge auf ein Konto auszu- 9218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Hans-Josef Fell (A) schütten. Nur mit Zustimmung der KfW darf über die setzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des (C) Ertragsverwendung entschieden werden. Zwar behauptet ERP-Sondervermögens für das Jahr 2007. Der Aus- die Bundesregierung, dass das Geld bei der KfW beson- schuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner ders sicher sei. Aber sie sagt nicht, warum die KfW nur Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4881, den Ge- dann Erträge zahlen will, wenn sie Gewinne macht. Der setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4376 Bundestag hat zukünftig nur noch das Recht, das zu ver- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- abschieden, was ihm von der KfW zugestanden wurde. wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Mehr lässt die Rechtslage dann nicht zu, auch wenn uns stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf die Bundesregierung weiter vorzumachen versucht, die ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gan- Rechte des Bundestages blieben ungeschmälert. zen Hauses angenommen. Handelt es sich wenigstens um eine gute Verzinsung? Dritte Beratung Die Bundesregierung hat sich bis heute geweigert, Alter- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem nativangebote einzuholen. Es stellt sich die Frage, wa- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – rum die Bundesregierung nie versucht hat, ein besseres Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Angebot als das der KfW einzuholen. wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des Wir befinden uns in einer absurden Situation. Die ganzen Hauses angenommen. KfW soll unbedingt das ERP-Sondervermögen erhalten, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: obwohl die KfW immer behauptet hat, dass sie es nicht benötige und die Übertragung nicht ihre Idee sei. Die a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- Große Koalition zwingt den Bundestag dazu, sich selbst Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, zu entmachten, betreibt eine fragwürdige Wirtschaftspo- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des litik und provoziert dabei ohne Grund die USA. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ich möchte Ihnen, meine Damen und Herren, die Sie Sicherheit geht vor – Besonders terroranfäl- hier über Staatsvermögen in Milliardenhöhe entschei- lige Atomreaktoren abschalten den, noch Folgendes mitgeben: Kein vernünftiger Mensch gäbe sein Geld einer Bank, die das Geld für sich – Drucksache 16/3960 – behält, deren Zinsen zu niedrig sind, die überhaupt nur Überweisungsvorschlag: Zinsen zahlen will, wenn sie Gewinn erzielt, einer Bank, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss die nur zulässt, die Zinserträge innerhalb der Bank zu Ausschuss für Wirtschaft und Technologie verwenden, und dann noch vorgibt, wofür das Geld ver- (B) wendet werden darf. Mit der Übertragung des ERP-Son- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia (D) dervermögens auf die KfW verhält es sich aber genau so. Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Es kann doch nicht sein, dass sich das Parlament des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN freiwillig selbst entmachtet und die Kontrolle über das ERP-Sondervermögen aufgibt; Schnelle Einführung innovativer erneuerbarer Energien nur mit Atomausstieg – Ablehnung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Laufzeitverlängerung für Biblis A ein und bei der FDP) richtiger Schritt denn nach KfW-Gesetz hat nur die KfW die Verfügungs- – Drucksache 16/4770 – gewalt über das Eigenkapital, nicht das Parlament. Ein Parlamentsvorbehalt bei der Aufstellung des zukünftigen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Wirtschaftsplanes gibt es auch im Entwurf des ERP- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Neuordnungsgesetzes nicht. Somit ist der Entwurf Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten gleichbedeutend mit der Entmachtung des Parlamentes. erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist Wir werden dies nicht mittragen. das so beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- gin Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich schließe die Aussprache. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- gen! Lassen Sie uns über Atomkraft reden. Es ist not- wurfs auf Drucksache 16/4664 an die in der Tagesord- wendig, dass der Bundestag immer wieder einmal über nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Atomkraft redet, wenn ein Gesetz – das Atomausstiegs- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- gesetz, das von Regierung und Energiekonzernen ge- heit vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor- meinsam ausgehandelt wurde – von einer Seite der Ver- schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei- tragspartner immer wieder so ungeniert zu hintertreiben sung so beschlossen. versucht wird. Tagesordnungspunkt 8 b. Abstimmung über den von Ich meine, dass der Bundestag Umweltminister der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge- Gabriel Respekt erweisen sollte Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9219

Sylvia Kotting-Uhl (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ziehbar. Auf eine Anfrage hat uns die Bundesregierung (C) und bei der SPD) geantwortet: für die klare Ablehnung des Antrags auf Laufzeitverlän- Nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden des gerung für Biblis A. Eigentlich könnte man meinen, dass Bundes zum islamistischen Terrorismus ist seit den das Handeln nach Recht und Gesetz für einen Minister Anschlägen des 11. September 2001 davon auszu- nicht mehr und nicht weniger als eine Selbstverständ- gehen, dass Täter aus diesem Bereich nicht nur eine lichkeit ist. Aber als wie wenig selbstverständlich das symbolische Wirkung ihrer Taten anstreben, son- mancherorts angesehen wird, zeigt sich an der angekün- dern insbesondere versuchen, größtmögliche Perso- digten Klage von RWE gegen des Ministers Ablehnung. nenschäden zu erzielen. Ein Anschlag auf kerntech- nische Einrichtungen muss daher als mögliche Ich will nicht darüber räsonieren, mit welcher Ziel- Option angesehen und kann nicht völlig ausge- richtung RWE damals den Atomkonsens unterschrieben schlossen werden. hat. Aber ich frage mich schon, wie man zu einer sol- chen Dreistigkeit kommt, einen Reaktor, der bauliche Des Weiteren ist von katastrophalen Folgen eines erfolg- Defizite hat und dem die vorgeschriebene Notstands- reichen Angriffs die Rede. warte fehlt, der seit Monaten vom Netz und stattdessen Was sind nun die Fakten? Die GRS hat festgestellt, wegen seiner falsch montierten Dübel in den Medien ist, dass Atomkraftwerke grundsätzlich getroffen werden als genauso sicher wie die allerneuesten zu bezeichnen. können. Sie hat festgestellt, dass einige AKW nicht ein- Wenn das so wäre, dann wäre die logische Konsequenz, mal gegen den Absturz kleinerer Militärflugzeuge alle Reaktoren abzuschalten; ausgelegt sind. Als Schutzstrategie haben die AKW-Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treiber bis heute nichts anderes als ein Vernebelungs- sowie bei Abgeordneten der SPD) konzept vorgelegt, das darauf fußt, das bedrohte AKW so lange unsichtbar zu machen, bis Hilfe da ist. Das denn ein Ausstiegsgesetz bedeutet keinen Sicherheitsra- Bundesverfassungsgericht hat am 12. Februar 2006 be- batt für die Restlaufzeit. schieden, dass es nicht mit der Menschenwürde verein- Das nicht wegzuredende Risiko der Atomkraft hat bar ist, ein mit unbeteiligten Menschen besetztes Flug- die Bundesrepublik Deutschland zu dem Beschluss be- zeug abzuschießen. Damit ist das Schutzkonzept der wogen, aus der Atomkraft auszusteigen. Es ist ein Be- Vernebelung endgültig gescheitert. schluss, der gemeinsam mit dem EEG zum Boom der er- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie spielen mit der neuerbaren Energien geführt hat und anderen Ländern Angst!) den Weg zeigt, wie die Chancen einer zukünftigen Ener- (B) gieversorgung zu nutzen sind. Ich erspare mir an dieser Stelle die sich eigentlich (D) aufdrängenden Bemerkungen über die Vernebelungs- Kommen Sie jetzt nicht wieder mit der Mär von der idee, weil es uns um die ernste Seite der Sache geht. Wir Renaissance der Atomkraft in der Welt oder gar in fordern den Bundestag auf, von den Verantwortlichen Europa. Bei einer faktisch abnehmenden Zahl von AKW für die Atomkraftwerke wenigstens im Ansatz das einzu- müssten in den nächsten zehn Jahren 80, in dem darauf- fordern, was jedem Bürger angesichts der veränderten folgenden Jahrzehnt 200 AKW gebaut werden, nur um Sicherheitslage zugemutet wird. Wir fordern, mehr als den Stand zu halten. Die Fachzeitschrift „Nuclear fünf Jahre nach dem 11. September 2001 endlich ernst- Engineering International“ schreibt dazu, es werde prak- hafte Schutzmaßnahmen vorzulegen und die anfälligsten tisch unmöglich sein, die Zahl der Atomkraftwerke in AKW im Sinne des Atomkonsenses stillzulegen; den nächsten 20 Jahren zu halten. Also gibt es diese Re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) naissance nicht. Es gibt lediglich bei Ihnen auf der rech- ten Seite des Parlaments den Versuch einer Renaissance denn Strommengenübertragungen sind im Atomgesetz der Argumente. dazu gedacht, Sicherheit zu erhöhen und nicht, wie beim Antrag auf Laufzeitverlängerung von Biblis, Unsicher- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heit zu verlängern. An der Begründung des Atomausstiegs hat sich nichts Vielen Dank. geändert, am Risiko der Atomkraft hat sich nichts ver- ringert, ganz im Gegenteil. Der 11. September 2001 hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich als ein Datum, das die Welt verändert hat, einge- sowie bei Abgeordneten der SPD) prägt. Die Sicherheitskultur der westlichen Länder passt sich an eine neue, latente Bedrohung an. Wir spüren das Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: im Alltag an vielen Stellen: beim Pass, beim Daten- Ich gebe das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder, schutz, beim Einchecken am Flughafen. Das gefällt uns CDU/CSU-Fraktion. nicht immer, aber wir zahlen diesen Preis für eine verän- derte Bedrohungslage. Damit bin ich beim Kern unseres (Beifall bei der CDU/CSU) Antrags zu besonders terroranfälligen Atomkraftwerken. Für mich ist die Diskrepanz zwischen den tatkräftigen Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Anstrengungen, potenzielle Terroristen ausfindig zu ma- Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! chen, und der Laschheit beim Schutz potenzieller, be- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Klimawandel ge- sonders angriffsgefährdeter Terrorziele nicht nachvoll- hört sicherlich zu den zentralen Herausforderungen 9220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Philipp Mißfelder (A) unseres Jahrhunderts und ist deshalb als prioritär anzuse- Vor wenigen Wochen hat sich selbst das Öko-Institut, (C) hen. Ich glaube, auch heute wird niemand ernsthaft das wirklich dafür bekannt ist, gegen Kernkraft zu sein, bestreiten, dass die Erderwärmung im Wesentlichen vom dazu ganz deutlich geäußert und verschiedene Alterna- Menschen verursacht worden ist. Umso wichtiger ist es, tiven genannt. Der CO2-Ausstoß eines Kernkraftwerkes dem dringend notwendigen Handlungsbedarf gerecht zu liegt bei 32 Gramm pro Kilowattstunde Strom. Ich werden. Das tun wir, wie wir es hier in den vergangenen glaube, dass wirklich niemand in Abrede stellen kann, Wochen mit zahlreichen Debatten zum Thema Klima- dass Atomkraft klimafreundlicher ist als zum Beispiel wandel gezeigt haben. Kohlekraft. ( [SPD]: Debatte reicht nicht!) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie kommen aber noch zum Thema, – Herr Kollege Kelber, Sie und Ihre Fraktion wissen ge- oder?) nauso gut wie ich, dass wir schon mit dem, was wir auf der Konferenz der europäischen Staats- und Regierungs- – Ja, natürlich. Ich äußere mich zu dem, was in Ihrem chefs unter Führung unserer Bundeskanzlerin Angela Antrag steht. Merkel beschlossen haben, auf dem richtigen Weg sind. Es ist wichtig, die Frage der regenerativen Energie- Das reicht mit Sicherheit nicht aus, aber wir werden uns träger im Gesamtzusammenhang eines geschlossenen weiter anstrengen. Ich glaube, das war ein großer Erfolg, Energiekonzepts zu sehen. Nur regenerative Energieträ- auf den sowohl die SPD als auch die CDU/CSU zu ger zu fordern, ohne zu sagen, dass die Abschaltung der Recht stolz sein können. Kernkraftwerke ohne Ersatz letztendlich gar nicht mög- (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber lich sein wird, reicht aus meiner Sicht nicht aus. Würde [SPD]: Sie müssen es jetzt noch in Instrumente man Ihrem Vorschlag folgen, würde die Energieabhän- umsetzen!) gigkeit von anderen Ländern auf Dauer nämlich erhöht. Wir wollen weder wieder stärker von fossilen Energie- – Ja, das werden wir auch tun. Herr Kelber, nach zwei trägern abhängig werden, noch wollen wir stärker vom Minuten sind Sie schon auf zwei Zwischenrufe gekom- Ausland abhängig sein. Wenn Sie Vorschläge zur Ab- men. Die von Ihnen angekündigten elf werden Sie si- schaltung der Kernkraftwerke machen, müssen Sie sa- cherlich schaffen. gen, wie Sie die Kernenergie auf Dauer ersetzen wollen. Allerdings erwarte ich gerade von den Kolleginnen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Kollegen von den Grünen, sich mit dieser Frage in neten der FDP) ihren Anträgen mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie wir zu beschäftigen. Zu Ihren Anträgen möchte ich an dieser Wie wir sehen, weisen viele momentan getroffene (B) Stelle sagen: Beziehen Sie sich doch einfach einmal auf Unternehmensentscheidungen – auch auf Basis des Ko- (D) das, was die in Ihrer Regierungszeit von Ihnen benannten alitionsvertrages –, in absehbarer Zeit Kernkraftwerke Experten Ihnen gesagt haben – wir sollten einfach einmal abzuschalten, eher in eine andere Richtung als in die von zurückblicken –: Der Vorstandsvorsitzende des Windrad- Ihnen befürwortete, nämlich regenerative Energien aus- herstellers Repower Systems AG, Fritz Vahrenholt, hat zubauen. Überall, wo Atomkraft in Zukunft nicht mehr als Mitglied des Parlamentarischen Beirats für nachhal- verwendet werden soll, werden Unternehmensentschei- tige Entwicklung schon vor zwei Jahren gesagt, dass die dungen vorbereitet, die auf Kohlekraftwerke setzen. Das Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke sinn- hat mit Klimafreundlichkeit überhaupt nichts zu tun. voll ist. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist wahr!) NEN]: Natürlich! Es gibt auch bei Ihnen wel- Ich teile Ihre Kritik an der Industrie in vieler Hinsicht. che, die gegen Atomkraft sind!) Aber man muss doch sehen, wie sich die Entwicklung Ihre These, dass gerade die Laufzeitverlängerung dem vollzieht. Wenn man aus der Kernenergie aussteigt, dann Ausbau regenerativer Energieträger im Wege steht, ist kommt es doch nicht automatisch zu einem höheren An- einfach falsch. Das möchte ich gleich an mehreren Bei- teil der regenerativen Energien. Vielmehr wird dadurch spielen deutlich machen. Ich glaube, dass Sie sich mit der Anteil der fossilen Energieträger gestärkt, und das ist dieser Frage ernsthafter auseinandersetzen sollten, als es klimaunfreundlich. Das wollen wir hier in diesem Hause bisher der Fall war. nicht. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) NEN]: Sie als Klimaexperte werden das wis- Sie betreiben in Ihrem Antrag verschiedene Zahlen- sen!) spiele. Basis der Zahlenspielereien in Ihrem Antrag Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass – das hat ein- sollte aber die Realität sein. Ein Beispiel: In Ihrem An- fach physikalische Gründe – die Nutzung von Kernkraft trag schreiben Sie, dass die Kernkraft in Deutschland nur CO -Ausstoß vermeidet. 6 Prozent der gesamten Energieerzeugung abdecke. 2 Aussagekräftiger ist allerdings – das muss ich hier wirk- (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist falsch!) lich feststellen – der Anteil der Kernenergie an der Das räumen selbst erklärte Gegner der Atomenergie ein. Stromerzeugung: Daran hat die Kernenergie im Ver- gleich zu allen anderen Energieträgern mit 27 Prozent (Ulrich Kelber [SPD]: Nein!) den größten Anteil, und das ist der eigentliche Maßstab. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9221

Philipp Mißfelder (A) Würden Sie Ihren Ansatz auf die Fotovoltaik anwenden müssen fragen: Was ist realistisch? Wo können wir mehr (C) – dort legen Sie ganz andere Zahlen zugrunde –, dann für regenerative Energien tun? – Ich glaube, dass Geo- würden Sie bei Ergebnissen im Promillebereich landen. thermie, Wasserkraft, Biomasse in Zukunft eine viel grö- Deshalb sage ich Ihnen: Versuchen Sie nicht, die Debatte ßere Rolle spielen werden, als das momentan der Fall ist. durch unterschiedliche Berechnungen, wie Sie sie in Ih- rem Antrag angestellt haben, unnötig zu erschweren. Dazu hat die Union auch Vorschläge gemacht. Wir bieten ausdrücklich an: Wenn die Laufzeitverlängerung Ich glaube, dass Sie sich damit keinen Gefallen getan kommt, treffen wir mit der Industrie eine neue Vereinba- haben, weil Ihr Antrag in der Frage „Regenerative Ener- rung, und zwar dahin gehend, dass das, was an zusätzli- gien und Kernenergie“ nicht so konsistent ist wie Ihre chen Gewinnen dadurch zu erwarten ist, in die regenera- Argumentation vielleicht an anderen Stellen. tiven Energien investiert wird. (Marco Bülow [SPD]: Die wird dann wieder Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht eingehalten – wie diese!) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kotting-Uhl? Das Ganze ist letztlich eine Finanzierungsfrage. Die Fi- nanzmittel, die dafür notwendig sind, muss man mobili- sieren. Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Ja, sehr gern. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU]) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Davon sind Sie weit entfernt. Herr Mißfelder, Sie haben Ihren Beitrag mit einem ausführlichen Bezug auf den Klimawandel eingeleitet. (Ulrich Kelber [SPD]: Was Sie vorschlagen, Stimmen Sie mit mir darin überein, dass wir dann, wenn das nennt man im Kartellrecht Marktmacht- wir vom Klimawandel und von der Notwendigkeit spre- übertragung! Das ist eine Straftat!) chen, Energie einzusparen, nicht allein vom Strom reden Ich möchte mich auch Ihrem zweiten Antrag widmen. dürfen, sondern immer alle Bereiche, in denen wir Ener- Sie haben in Ihrem Antrag zur Sicherheit von Kraft- gie brauchen, betrachten müssen, dass insofern durchaus werken in Deutschland in Bezug auf terroristische An- auch relevant ist, was eine bestimmte Energieerzeu- schläge aus meiner Sicht ein falsches Zitat verwandt. gungsart für den gesamten Energieverbrauch bedeutet? Zunächst einmal muss ich sagen, dass Sie bei den Anfra- gen, die Sie zitieren, auch die Drucksachennummer an- (B) Philipp Mißfelder (CDU/CSU): geben sollten, damit man überprüfen kann, auf welche (D) Ja, da stimme ich mit Ihnen überein. Anfrage Sie sich letztlich beziehen. Es ist zwar eigent- lich kein Problem, das herauszufinden; trotzdem war es (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- an dieser Stelle besonders schwierig, weil Sie in der Tat NEN]: Danke!) nicht vollständig zitiert haben. Das habe ich aber auch gar nicht in Abrede gestellt. Ich In der Drucksache 16/1249 – das ist die Antwort auf bin nur der Meinung: Bei verschiedensten Gradmessern, die Kleine Anfrage der Abgeordneten Fell, Loske, die Sie zugrunde legen, und bei allen Formulierungen Kotting-Uhl und weiterer Abgeordneter – steht als Ant- sollten Sie darauf achten, dass Sie an die Kernenergie wort auf Ihre Frage 12 folgender Satz: letztlich den gleichen Maßstab anlegen wie an die Foto- voltaik oder andere regenerative Energieträger. Das ist Hinweise und Einschätzungen internationaler Orga- das, was ich Ihnen vorgeworfen habe. In der Sache nisationen werden bei der Gefährdungsbewertung stimme ich Ihnen da zu. Ich glaube, dass wir den Anteil der Situation Deutschlands berücksichtigt. Aktuell der regenerativen Energien auf Dauer erhöhen müssen; liegen aber keine Hinweise vor, aus denen sich eine das ist auch bei uns nicht umstritten. Trotzdem muss unmittelbare Gefährdung von Kernkraftwerken man realistisch bleiben. oder die beabsichtigte Verwendung einer schmutzi- gen Bombe in Deutschland herleiten ließen. Zu diesem Realismus gehört aus meiner Sicht: Wir müssen sehen, dass der technische Stand der regenerati- (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ ven Energien noch gar nicht so weit ist, wie Sie das in CSU] – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ Ihren Anträgen voraussetzen. Das Entscheidende beim DIE GRÜNEN]: Das relativiert doch nichts!) Ersatz der Kernenergie ist doch: Was ist überhaupt grundlastfähig? Darüber müssen wir reden. Ich schließe nicht aus, dass es zu solchen Bedrohun- gen kommt. Diese Antwort beruht aber doch offenbar Die Grundlastfähigkeit der regenerativen Energieträ- auf einer umfassenden Sicherheitsanalyse. Dann einfach ger ist eben nicht gegeben. Es grenzte an ein physikali- zu schreiben, dass diese realistische Bedrohung automa- sches Wunder, wenn man die Kernenergie, die grundlast- tisch vor der Tür stehen würde, halte ich dann doch fähig ist, ohne Weiteres durch regenerative Energieträger, schon für fahrlässig. Das muss ich Ihnen an dieser Stelle die eben nicht grundlastfähig sind, ersetzen könnte. Das vorwerfen. Stützen Sie sich doch auch auf die Sicher- setzen Sie aber voraus. Deshalb müssen wir bei der Ener- heitserkenntnisse, die vorhanden sind, die es weiterhin gieversorgung in Deutschland darauf achten, dass wir die gibt, und auf die Auskünfte an dieser Stelle, ohne Panik Debatte doch eher in einer anderen Richtung führen. Wir zu machen! 9222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Philipp Mißfelder (A) Abschließend: Sie haben den 11. September 2001 an- (Beifall bei der FDP – Sylvia Kotting-Uhl (C) gesprochen. Damals haben Sie regiert. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Verfas- sungsgericht hat letztes Jahr entschieden und (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE nicht vor fünf Jahren!) GRÜNEN]: Es ist ja ein Konzept eingefordert worden!) Sie wissen ganz genau, dass ein sofortiges Abschalten der Kernkraftwerke nicht machbar ist und auch gar Wenn die terroristische Gefahr so unmittelbar gewesen nichts für die Sicherheit der Bevölkerung bringen würde. wäre, dann hätten Sie auch damals schon reagieren kön- nen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Aha!) NEN]: Das ist ein billiges, albernes Argu- Das wäre auch rechtlich gar nicht möglich; auch das wis- ment!) sen Sie. Heute aus der Opposition heraus solche Anträge zu stel- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len, ist utopisch. Sehr viel Fantasie steckt dahinter, aber NEN]: Aha!) nun wirklich wenig Realitätssinn. Ich denke, es geht um etwas ganz anderes. Es geht um Vielen Dank. Ihre heilige Kuh. Es geht um den Ausstieg aus der Kern- (Beifall bei der CDU/CSU) energie. Sie verlieren da jedes Maß. Ihnen ist da jedes Mittel recht. Ich denke, Sie machen wider besseres Wis- sen ein politisches Geschäft mit der irrationalen Angst Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Menschen. Sie versuchen, die Menschen und ihre Das Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst, Ängste zu instrumentalisieren. Sie lenken die Ter- FDP-Fraktion. rorangst, die gegeben ist und die ich durchaus sehe, auf (Beifall bei der FDP) die Mühlen Ihrer Antikernkraftideologie. So ist das. Ich denke, das muss man hier einmal offen ansprechen. Angelika Brunkhorst (FDP): (Beifall bei der FDP) – Sylvia Kotting-Uhl Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, soll ja mit großen Worten sparsam umgehen. Aber, liebe wir hätten eine parlamentarische und keine Kollegen von den Grünen, mit dem, was Sie heute brin- psychologische Beratung! Wenn ich einen (B) gen, schießen Sie wirklich den Vogel ab. Psychiater brauche, komme ich zu Ihnen, Frau (D) Brunkhorst!) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Immer gern!) Sie haben recht: Terroristen wollen Anschläge auf Ziele verursachen, die möglichst viele Menschen treffen Wir lehnen Ihre Anträge nicht nur deshalb ab, weil sie und vielleicht sogar töten. Genau das haben uns ja die inhaltlich falsch sind und weil wir Ihre Ziele nicht teilen, Anschläge auf das World Trade Center sowie die An- sondern auch, weil sie offensichtlich falsch und wirklich schläge in London und auch in Madrid auf grausame unverantwortlich sind. Ich will Ihnen ganz klar sagen: Weise gezeigt. Aber warum haben Terroristen bislang Ich halte die beiden Anträge für einen moralischen Fehl- zum Beispiel, was Sie hier ja so hervorheben, Orte des tritt. öffentlichen Lebens gewählt und nicht Kernkraftwerke? (Beifall bei der FDP – Unruhe bei der SPD Ich will es Ihnen sagen – ich nehme da Bezug auf ein und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gutachten, aus dem ich gleich noch zitieren werde –: Kernkraftwerke sind zu gut geschützt. – Ich weiß, Sie lassen sich das nicht gerne sagen. Aber ich werde es begründen. Ihre Proteste prallen an mir ab. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aha!) Ich will Sie einmal fragen: Für wie doof halten Sie die Leute eigentlich? Sie stellen sich hier heute im Parla- Sie bieten eine schlechte Angriffsfläche. Sie haben keine ment hin, Frau Kotting-Uhl, und behaupten, einige gute Angriffsfläche; das wissen Sie. Kernkraftwerke müssten sofort abgeschaltet werden, weil sie ein sehr bedrohliches Ziel für Terroranschläge (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit großen Flugzeugen seien. Wenn das wirklich so ist, NEN]: Das widerspricht aber allem! – Gerold warum beantragen Sie dann heute im Parlament das, was Reichenbach [SPD]: Völliger Unsinn!) Sie damals hätten tun können? Der 11. September 2001 Ich erlaube mir, aus einem Gutachten der Schweizer fiel in Ihre Regierungszeit. Atomaufsicht, HSK, zu zitieren. In dem Gutachten wird (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als Resultat der Untersuchung festgestellt, dass NEN]: Das haben wir gerade schon gehört!) ein zielgenauer Anflug mit einem Großflugzeug auf Sie hatten danach noch vier volle Jahre Zeit. Da hätten die sicherheitsrelevanten Strukturen der Kernkraft- Sie einiges auf den Weg bringen können. Es ist doch werke aus fliegerischen, flugtechnischen und topo- wirklich scheinheilig, was Sie hier tun. graphischen Gründen … kaum machbar ist. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9223

Angelika Brunkhorst (A) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Marco Bülow (SPD): (C) NEN]: Die deutsche Regierung sieht das aber Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! anders!) Herr Mißfelder, es ist ein interessanter Gedanke, einen So ist es: Kernkraftwerke sind keine attraktiven Ziele neuen Vertrag mit der Atomenergie zu schließen, in den für terroristische Anschläge. – Wir werden Ihnen diese hineingeschrieben wird, dass wir ein bisschen für erneu- ideologische Süppchenkocherei nicht durchgehen las- erbare Energien ausgeben. sen. Abgesehen davon haben wir vollstes Vertrauen in (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Alles!) die Deutsche Flugsicherung. Sie verdient unser Ver- trauen, und sie genießt auch das Vertrauen; das denke ich Wenn wir wieder einen neuen Vertrag schließen, wer ga- schon. Wenn wir hier so offen über irgendwelche terror- rantiert uns, dass die Atomenergie ihn nicht wieder bre- anfälligen Kernkraftwerke reden, dann frage ich Sie: chen will? Jetzt ruft sie ja dazu auf, den Vertrag zu bre- Wollen wir denn noch Koordinaten liefern, oder wie soll chen. Also kann man sich auch nicht auf das verlassen, das in Zukunft gehen? was in neuen Verträgen stehen würde. Deshalb würde ich keine neuen Verträge eingehen. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie vertrauen doch der Deutschen Flug- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- sicherung! Haben Sie jetzt doch Befürchtun- ten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ gen? Es ist doch alles so sicher!) DIE GRÜNEN) Ich denke, im internationalen Vergleich steht Deutsch- Genauso interessant finde ich den Gedanken, von land in der Forschung zur Kernsicherheit und auch im Atomenergie nur noch als Übergangstechnologie zu Grundschutz von Kernkraftwerken gegen Flugzeugan- sprechen, weil wir die ganzen Probleme kennen. So griffe am besten da. sagte zum Beispiel Herr Kauch hier im Bundestag. Das gleichzeitige Argument, die erneuerbaren Energien (Gerold Reichenbach [SPD]: Was?) bräuchten noch Zeit, kann ich allerdings nicht mehr hö- – Ich weiß nicht, ob Sie dem widersprechen wollen. ren. Die erneuerbaren Energien brauchen deshalb noch Zeit, weil man seit mehreren Jahrzehnten sehr viel Geld (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in die falschen Energiestrukturen gesteckt hat. NEN]: Da gibt es viele Evaluierungsmöglich- keiten!) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will zum Schluss noch auf die Behauptung in Ih- rem Antrag kommen, das Konzept der Vernebelungs- Aber selbst auf dem heutigen Stand der Technik kön- (B) anlagen – ganz gleich, wie man dazu steht – sei generell nen wir den Bereich der erneuerbaren Energien ganz (D) gescheitert. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass das schnell ausbauen und die Effizienz so steigern, dass wir Kernkraftwerk Grohnde im Moment eine Pilotanlage im keine Atomenergie mehr brauchen und trotzdem die Bau hat 40 Prozent CO2 einsparen können, wenn wir bei den ein- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zelnen Beschlüssen zu KWK, Wärmegesetz usw. nur NEN]: Das ist der Beweis, dass es funktioniert? mutig genug sind. Wir laden die Union herzlich dazu Jetzt weiß ich endlich, wo Ihre Beweisführung ein, mit uns die geeigneten Beschlüsse zu finden. herkommt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und dass während einer Pilotphase keine anderen Anla- DIE GRÜNEN) gen gebaut werden. Jetzt zum Klimaschutz und zu dem angeblich so kli- Zuletzt möchte ich zusammenfassen: Angst ist ein maneutralen Instrument der Atomenergie. Wenn man schlechter Ratgeber, liebe Kolleginnen und Kollegen sich die Untersuchungen vom Öko-Institut anschaut, von den Grünen. stellt man fest, dass Atomkraftwerke so CO2-frei gar nicht sind: Uran wird gefördert, muss transportiert wer- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den, wird eingesetzt, die Atomanlagen werden gebaut NEN]: Ich habe höchstens Angst vor Ihrer Ar- usw. Dabei sind noch nicht einmal die Endlager aufge- gumentation!) führt. – Dann schauen wir uns einmal die Bilanz am Es gibt schon genug reale Bedrohungen, sodass wir nicht Ende an: Ein neues GuD-Heizkraftwerk ist schon ganz noch welche heraufbeschwören müssen, die es gar nicht nah an der CO2-Emission eines AKWs dran. Mit KWK gibt. Ihre Anträge sind aus Sicht der FDP eine Farce; tut gekoppelt ist es sogar deutlich darunter. Eine Biogasan- mir leid. lage gekoppelt mit KWK liegt deutlich unter dem, was Atomkraft zu bieten hat. Bei Wind ist es genauso. Da- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rüber sollten wir diskutieren, wenn wir über die Studie der CDU/CSU) und über Klimafreundlichkeit reden.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD], zu Das Wort hat der Kollege Marco Bülow, SPD-Frak- Abg. Philipp Mißfelder [CDU/CSU] gewandt: tion. Schon doof, wenn man die falschen Studien zi- (Beifall bei der SPD) tiert!) 9224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Marco Bülow (A) Das Gegenteil ist der Fall. Solange wir eine Technologie Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): (C) wie die Atomkraft in diesem Land aufrechterhalten, so Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lange verhindern wir die notwendigen Investitionen, die Ich kann mich noch genau daran erinnern, als Umwelt- wir brauchen, um eine wirklich nachhaltige, klima- minister Trittin von dieser Stelle aus über den sogenann- freundliche Energiepolitik zu produzieren. ten Atomkompromiss sprach. Er hat damals gesagt, der Atomausstieg müsse unumkehrbar sein. Ob er wirklich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unumkehrbar ist, wird sich noch zeigen; denn die Atom- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der lobby formiert sich. LINKEN) Wir können jeden Tag hören – darin sind wir uns in- Ein Satz zu den angeblich so klimafreundlichen zwischen einig –, dass es einen Klimawandel gibt. Vor AKW-Betreibern, die meinen, ihre Atomkraftwerke auf- einigen Jahren war das noch ganz anders. grund des Klimawandels doch ein bisschen länger offen- halten zu müssen. Wenn die gleichen Betreiber weiterhin (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Ja, bei Ihnen! so stark auf Braunkohle setzen und weiterhin so stark die Das stimmt!) erneuerbaren Energien bekämpfen, dann frage ich mich natürlich, ob das Argument ernst gemeint ist. Ich kann – Nein, bei Ihnen, bei den konservativen Parteien. – Jetzt jeden Betreiber verstehen, der weiter auf Atomenergie auf einmal sagt man, dass man aufgrund des Klimawan- setzt, weil er damit Geld verdient; aber dann soll er das dels die Atomkraft braucht. Ich denke, jeder, der eine bitte auch so sagen, statt zu behaupten, er mache das, nachhaltige Politik in diesem Land will, muss den Atom- weil er so klimafreundlich geworden sei. Das zumindest ausstieg forcieren und darf ihn nicht in die Länge ziehen. glaubt hier keiner mehr. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der An die Adresse der Bundesregierung sage ich: Wer LINKEN) meint, man könne marode Atommeiler mit Nebelbom- ben vor Terrorangriffen schützen, handelt naiv und ver- Im Zusammenhang mit der Wertschöpfungskette antwortungslos. – ich bin gerade schon kurz darauf eingegangen – möchte ich eine Zahl vorrechnen, die man meiner Meinung nach (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- berechnen muss. In dem Antrag finden sich auch ein paar NIS 90/DIE GRÜNEN) Zahlen wieder, die ich teilen kann. Es gibt 435 Atomkraft- werke auf der Welt. 16 Prozent des Stroms – ich erwähne Die Energiewirtschaft vernebelt die Wahrheit. Es gibt (B) extra den Strom – produzieren diese Anlagen; 3 Prozent keinen ausreichenden Schutz vor dem Absturz von Luft- (D) des gesamten Energiebedarfs auf der Welt werden damit fahrzeugen. Wer ein Flugzeug navigieren kann, findet gestillt. Ich weiß nicht, ob das so ein großer Beitrag zum sein Ziel auch mithilfe von Orientierungspunkten außer- Klimaschutz ist. Wenn wir nur 12 Prozent des Gesamt- halb möglicher Nebelschwaden. Das AKW Biblis zum energiebedarfs auf der Welt mit Atomenergie decken woll- Beispiel kann man bei Google Earth in Ruhe aus der ten, müssten wir 1 500 Atomkraftwerke bauen. Ich will Luftperspektive betrachten. Auf der Karte ist nichts ge- gar nicht davon reden, dass man dann auch die entspre- schwärzt. chenden Netze und Anlagen ausbauen müsste. – Ich Bei starkem Wind ist die Nebeltaktik sowieso hinfäl- möchte gerne wissen: Woher kommt das für den Bau wei- lig. Gefährlich wird es für die Bevölkerung, wenn Politi- terer Atomkraftwerke benötigte Uran? Wo in Deutschland kerinnen und Politiker derartigen Konzepten das Wort sollen diese Atomkraftwerke gebaut werden? Wenn wir reden. Es ist daher erschreckend, dass die Bundesregie- eine ehrliche Diskussion wollen, müssen die Standorte be- rung aufgefordert werden muss, sich von der Vernebe- nannt werden. Danach können wir darüber reden, ob Kli- lungsstrategie der Atomlobby zu distanzieren. Ich kann maschutz und Atomkraft auf irgendeine Weise zusam- nur an die Debatten in vergangenen Legislaturperioden menpassen. erinnern, als wir darüber diskutiert haben, ob um die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten AKWs herum Boden-Luft-Raketen stationiert werden der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ sollen. Einige der hier Anwesenden werden sich noch DIE GRÜNEN) daran erinnern. Das war Unfug hoch drei. Über all diese Punkte sollten wir demnächst nachden- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Peter ken. Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich komme nun zum ersten Antrag der Grünen. Ent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ scheidend ist nicht die Größe der Flugzeuge, die auf DIE GRÜNEN) Atomreaktoren stürzen könnten. Aufprallgeschwindig- keit und Masse der Flugzeuge sowie Drehzahl der Turbi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nen sind die entscheidenden Faktoren dafür, mit welcher Ich gebe das Wort der Kollegin Eva Bulling-Schröter, Energie die Flugzeuge aufprallen. Es ist also alles noch Fraktion Die Linke. viel schlimmer, als Sie es geschildert haben. Schnelle Privatjets und Militärmaschinen sind in keiner Weise un- (Beifall bei der LINKEN) gefährlicher als Passagierflieger. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9225

Eva Bulling-Schröter (A) Der zweite Antrag der Grünen weist im Titel darauf Gerold Reichenbach (SPD): (C) hin, dass erneuerbare Energien nur ohne Atomanlagen Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! durchzusetzen sind. Ich sage Ihnen: Sie haben recht. Der Atomausstieg ist der richtige Weg aus einer Techno- Nur: Wir hätten den Atomausstieg in der 13. Legislatur- logie mit immensen Risiken. An den Grundrisiken der periode wesentlich schneller haben können. Damals hät- Atomtechnologie hat sich nichts geändert. Die Entsor- ten Sie die Mehrheit für einen schnelleren Ausstieg ge- gungssicherheit ist nach wie vor ungeklärt. Die Gefahr habt; wir hätten Sie darin unterstützt. Schade, diese der Proliferation steigt nach Ende des Kalten Krieges Chance wurde vertan. Wir müssen nun gemeinsam wei- eher. Die Gefahr durch menschliches oder technisches ter daran arbeiten. Versagen besteht fort. Das Atomkraftwerk in Forsmark Noch eine Zahl. Wir reden über Klimaschutz und war erst vor kurzem ein beredtes Beispiel dafür, dass wir Atomkraft. Ab und zu sollte man auch über die Gewinne aufgrund des Versagens von zwei Systemen kurz vor der Energiekonzerne reden. Herr Mißfelder, Umweltver- dem GAU standen. bände haben errechnet, dass ein altes AKW, das abge- Der Hinweis übrigens, die deutschen Kraftwerke schrieben ist und noch ein Jahr länger läuft, einen Rein- seien sehr viel sicherer, da ständig Nachbesserungsmaß- gewinn von 1 Milliarde Euro bringt. nahmen vorgenommen würden – ich denke zum Beispiel (Beifall bei der LINKEN – Philipp Mißfelder an die falsch montierten Dübel im AKW Biblis –, erin- [CDU/CSU]: Dazu habe ich etwas gesagt!) nert mich ein bisschen an den Versuch eines Automobil- händlers, die Tatsache, dass es bei der von ihm vertrete- Das muss die Bevölkerung wissen, um verstehen zu kön- nen Marke ständig Rückrufaktionen gibt und Autos nen, warum es entsprechende Forderungen seitens der dieser Marke immer wieder zur Reparatur in die Auto- Energiewirtschaft gibt. werkstatt müssen, als besondere Qualität seiner Automo- bilmarke auszuweisen. Den würde jeder für verrückt er- Wir sind uns einig, dass wir erneuerbare Energien klären; aber bei den Atomkraftwerken versuchen es die brauchen. Wir brauchen KWK-Anlagen, Anlagen auf Betreiber. der Basis von Erdgas und Biogas. Überdenken Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Ih- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem ren Entschluss noch einmal. Er ist rückwärts gewandt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und zeugt von völliger Ignoranz. Zu diesen Grundrisiken ist ein neues hinzugetreten: (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Er ist innova- der internationale Terrorismus. Natürlich waren Kraft- tiv!) werke schon im Planungsvisier von Terroristen. Die Be- (B) Die Bevölkerung in diesem Land will keine Atomkraft hauptung, Atomkraft sei seit dem Unfall in Tschernobyl (D) mehr. sicherer geworden, ist falsch. Sie ist seit dem 11. Sep- tember 2001 unsicherer geworden. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Sie will regenerative Energien. LINKEN) Reden Sie nicht nur über Energieeffizienz. Tun Sie Gerade die älteren AKWs, über die wir diskutieren, wie endlich etwas! Im Rahmen der Diskussion über das Top- zum Beispiel bei mir in der Nachbarschaft Biblis A, sind Runner-Programm wird immer über Energieeffizienz ge- gegen den Absturz eines Passagierflugzeuges nicht gesi- sprochen. Setzen Sie endlich entsprechende Maßnahmen chert. Die Versuche, Atomkraftwerke vor einem Terror- um! Die Mehrheit in diesem Land will eine andere Poli- schlag aus der Luft zu schützen, sind gescheitert, und tik. Diese muss es endlich geben. zwar nicht nur juristisch; denn das Bundesverfassungs- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie wollen gericht hat den Abschuss unschuldiger Passagiere unter- doch 5 Euro für einen Liter Benzin!) sagt. Sie sind bereits in der Erprobungsphase technisch gescheitert; denn es ist richtig: Trotz Vernebelung kann Noch einmal zur FDP. Sie zweifeln die Terrorgefahr ein Pilot mithilfe von Navigationssystemen sein Ziel in Bezug auf AKWs an. Sie fragen: Was wäre gewesen, treffen. Diese können wir im Umkreis von AKWs nicht wenn Terroristen ein AKW angegriffen hätten? Niemand abschalten, gerade weil viele Atomanlagen in der Nähe in diesem Land wagt, überhaupt daran zu denken, was von Flughäfen liegen. dann passiert. Das wäre ein Super-GAU. Wir müssen die Bevölkerung schützen, und zwar wir alle miteinander. Das Gleiche gilt übrigens für den Abschuss von Flug- zeugen durch die Bundeswehr. Das Atomkraftwerk Bib- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem lis ist 14 Kilometer Luftlinie vom Frankfurter Flughafen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) entfernt, das Atomkraftwerk Neckarwestheim 40 Kilo- meter vom Stuttgarter und das Atomkraftwerk Brunsbüt- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tel 60 Kilometer vom Hamburger Flughafen. Alle liegen Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege viel zu nahe an einem Flughafen, sodass ein militäri- Gerold Reichenbach, SPD-Fraktion. sches Eingreifen nicht erfolgen kann. Die ganze Diskus- sion über den militärischen Abschuss dient einem einzi- (Beifall bei der SPD) gen Zweck: die falsche Vorstellung zu erwecken, wir 9226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Gerold Reichenbach (A) könnten Sicherheit herstellen, wenn wir nur wollten. Das Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) ist nicht so. Herr Meierhofer, bitte. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Horst Meierhofer (FDP): Nachdem ich auch in der Rede des Herrn Bülow nicht Terroranschläge aus der Luft sind übrigens nicht das gehört habe, wie Ihre Fraktion abstimmen will, frage ich: einzige Bedrohungsszenario. Die Ausschaltung der Sehe ich es richtig, dass die Gefahren, die Sie gerade ge- Strom- und Notstromversorgung, der Totalausfall der schildert haben, für Sie nur den Schluss zulassen, dem Steuerungstechnik, herbeigeführt durch Eingriffe von Antrag der Grünen zuzustimmen? außen, all das sind durchaus realistische Wege, einen GAU herbeizuführen. Gerold Reichenbach (SPD): Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundes- Ich antworte Ihnen gerne auf Ihre Frage. – Wenn man tages hat übrigens – Frau Kollegin Brunkhorst, Sie kön- weiß, wie verwundbar diese Anlagen sind, dann weiß nen in diesem Zusammenhang also mehrere Gutachten man auch, dass sich die Diskussion über die Laufzeitver- lesen – eine lange Liste von erfolgreichen möglichen längerung um nichts anderes dreht, als um die Maximie- Anschlagsszenarien auf Atomkraftwerke, die im Internet rung von Risiken in zeitlicher Hinsicht. Ich begrüße diese zur Verfügung stehen, zusammengestellt. Natürlich ste- Sicherheitsdebatte über die Anträge der Grünen – die hen die Sicherheitspolitiker immer vor dem Problem und SPD wird diese Debatte auch in Zukunft führen –, aber dem Dilemma, genau das nicht widerlegen zu können, mit Maximalforderungen führen wir die Debatte in die was Sie eben dargestellt haben. Ich könnte es tun. Ich Fatalität. schlage Ihnen vor: Gehen Sie in die Sicherheitsstelle und lesen Sie die entsprechenden Gutachten, die der Bundes- Ich sage: Der Ausstieg ist das Richtige. Wir setzen Ih- regierung vorliegen! Dann werden Sie merken, welchen rer Strategie der Maximierung von Sicherheitsrisiken Unsinn Sie hier verbreiten. Aber darüber kann natürlich aufgrund ökonomischer Interessen eine Schritt für Schritt nicht öffentlich diskutiert werden. Die Kraftwerkbetrei- erfolgende Minimierung der Sicherheitsrisiken bei einem ber wissen das. Sie nutzen nämlich die Tatsache, dass parallel erfolgenden Ausbau der regenerativen Energien wir über diese Szenarien nicht öffentlich diskutieren entgegen. können, weil wir natürlich nicht unfreiwillig Handlungs- Wenn Sie die Frage stellen, wie die Stromlücke gefüllt anleitungen für Terroranschläge bieten wollen. Sie insi- werden soll – ich habe das Beispiel Biblis genannt – – nuieren, es sei eine Sicherheit vorhanden. Diese ist aber auf keinen Fall vorhanden. (Horst Meierhofer [FDP]: Das war nicht meine (B) Frage!) (D) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dieses Ausblenden von Terrorgefahren bei der Dis- In der Tat war das nicht seine Frage, Herr Kollege. kussion um die Verlängerung der Laufzeit von Atom- kraftwerken entspricht übrigens einer gewissen Sicher- heitsbigotterie, die wir bei der inneren Sicherheit immer Gerold Reichenbach (SPD): wieder feststellen: Auf der einen Seite werden alle mög- Wenn Sie die Frage stellen, wie die Stromlücke ge- lichen Überwachungsmaßnahmen und Gesetzesver- füllt werden soll – – schärfungen gefordert, sinnvolle und teilweise auch un- (Horst Meierhofer [FDP]: Das habe ich aber sinnige – ich erinnere an die sogenannten Rail-Marshalls, nicht!) die in jedem Zug mitfahren sollten –, und auf der anderen Seite ist man, wenn wirtschaftliche Interessen, wenn – Es ist okay. Sie dürfen sich ja wieder setzen. Lobbyinteressen ins Spiel kommen, bereit, zusätzliche Wenn Sie die Frage stellen – sie ist gestellt worden –, Risiken in Kauf zu nehmen. Genau das ist hier der Fall. wie die Stromlücke gefüllt werden soll,

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!) Herr Kollege, darf ich Sie einmal unterbrechen? antworte ich: Die hessische SPD hat einen ambitionier- ten, aber realistischen Vorschlag gemacht, wie die Strom- Gerold Reichenbach (SPD): lücke gefüllt werden kann. Mit dem Vorantreiben regene- Ja. rativer Energien schaffen wir nicht nur Arbeitsplätze, sondern können den Atomstrom beispielsweise in Hessen ersetzen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der Kollege Meierhofer würde gerne eine Zwischen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten frage stellen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sowohl für den Klimaschutz als auch für die Sicher- Gerold Reichenbach (SPD): heit gilt gleichermaßen: Mit Laufzeitverlängerungen ma- Das ist gut, weil das die Redezeit verlängert. – Gerne, ximieren wir das Sicherheitsrisiko, mit dem Atomaus- Herr Kollege. stieg minimieren wir es. Die SPD wird sich an einer Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9227

Gerold Reichenbach (A) Sicherheitsbigotterie nicht beteiligen. Wir halten am Lutz Heilmann (C) Ausstieg fest. Undine Kurth (Quedlinburg) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ich schließe die Aussprache. Ernst Hinsken. Tagesordnungspunkt 9 a: Interfraktionell wird Über- weisung der Vorlage auf Drucksache 16/3960 an die in Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- für Tourismus: gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Dann ist die Überweisung so beschlossen. Kollegen! Wir beraten heute die Anträge der Koalitions- fraktionen und der Fraktion der Grünen zu den Nationa- Tagesordnungspunkt 9 b: Abstimmung über den An- len Naturlandschaften und Naturparks. Der Zeitpunkt trag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf hierfür könnte nicht besser gewählt sein. Denn nicht erst Drucksache 16/4770 mit dem Titel „Schnelle Einfüh- die Debatte über den Klimawandel zeigt: Natur und Tou- rung innovativer erneuerbarer Energien nur mit Atom- rismus sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Mit dem ausstieg – Ablehnung der Laufzeitverlängerung für Bewusstsein für die Gefährdung unserer natürlichen Biblis A ein richtiger Schritt“. Wer stimmt für diesen Grundlagen steigt deren Wertschätzung. Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP Weltweit gibt es laut UN-Angaben inzwischen mehr bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und als 100 000 Naturschutzgebiete, genau gesagt: 102 102. Linke abgelehnt. Sie nehmen mit knapp 19 Millionen Quadratkilometern 11,5 Prozent der Erdoberfläche ein, mehr als Indien und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: China zusammen. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Der Antrag der Koalitionsfraktionen betont deshalb richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus- zu Recht die große Bedeutung der Nationalen Naturland- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus schaften für den Tourismus. Seit einem halben Jahr ha- Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich ben wir mit den Nationalen Naturlandschaften eine neue (Hof), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dachmarke der Großschutzgebiete. Wir vereinen da- (B) der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette runter in Deutschland 14 Nationalparke, 14 Biosphären- (D) Faße, Reinhold Hemker, Renate Gradistanac, reservate und 95 Naturparke. Sie nehmen zusammen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD rund 25 Prozent der Landesfläche ein. Diese Landschaf- ten sind nicht nur ein nationales Naturerbe, sondern tra- Nationale Naturlandschaften – Chancen für gen auch wesentlich zur Attraktivität des Tourismus- Naturschutz, Tourismus, Umweltbildung und standortes Deutschland bei. nachhaltige Regionalentwicklung Allerdings ist mir wichtig, dass zum Beispiel bei Aus- – Drucksachen 16/3298, 16/4269 – weitungen von Nationalparken, wie aktuell im Bayeri- Berichterstattung: schen Wald, nicht über die Köpfe der einheimischen Be- Abgeordnete Klaus Brähmig völkerung entschieden wird, sondern Bedenken ernst Reinhold Hemker genommen und die Betroffenen, die dort wohnen, betei- Jens Ackermann ligt werden. Wenn sich die Menschen nicht mit den Dr. Ilja Seifert Schutzmaßnahmen identifizieren, werden sie keine gu- Undine Kurth (Quedlinburg) ten Gastgeber für die Nutzer der Naturangebote sein. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz neten der SPD) und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Urlaub in und mit der Natur ist ein Wachstumsmarkt. Antrag der Abgeordneten Undine Kurth (Qued- Wandern, Radfahren und Wassertourismus sind nur ei- linburg), Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer nige wenige Stichworte, die die Vielfalt, die wir hier ha- Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- ben, beschreiben. Jetzt gilt es, die gemeinsame Dach- SES 90/DIE GRÜNEN marke weiter zu vermarkten. Hierzu wurden im vorigen Naturparke – Chancen für Naturschutz und Jahr bereits wichtige Schritte getan. Durch Veranstaltun- Regionalentwicklung konsequent nutzen gen auf Bundes-, Länder- und Parkebene wurde für die Nationalen Naturlandschaften nachhaltig geworben. – Drucksachen 16/3095, 16/4278 – Nicht zu vergessen: Vor allen Dingen die politische Berichterstattung: Unterstützung hat sich deutlich verbessert. Es hat mich Abgeordnete Josef Göppel und sicherlich Sie alle sehr gefreut, dass der Bundesprä- Dirk Becker sident und die Ministerpräsidenten der Länder im ver- Angelika Brunkhorst gangenen Jahr die Schirmherrschaft für das Jahr der 9228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken (A) Naturparke übernommen haben. Es ist ein riesiger Er- Angebots und einer zielgruppenorientierten Ansprache (C) folg, dass sich von den 126 Großschutzgebieten bereits der Touristen reagieren. 123 an den gemeinsamen Auftritten beteiligen. Deshalb Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich baue darauf, ist es richtig, dass die Förderung der Dachmarke Natio- dass die Strategie zur Vermarktung der Nationalen Na- nale Naturlandschaften in den Jahren 2007 bis 2009 fort- turlandschaften hier ansetzt. Aber ich möchte bei dieser gesetzt werden soll. Gelegenheit auch darauf hinweisen, dass ich mich nicht Der Natururlaub ist ein fester Bestandteil des Touris- mit der Idee der Einführung sogenannter Naturtaxen musmarketing in Deutschland. Die Deutsche Zentrale anfreunden kann, die Sie, verehrte Kolleginnen und Kol- für Tourismus bewirbt zu Recht umfassend die Nationa- legen von den Grünen, eingebracht haben. Dabei geht es len Naturlandschaften. Sie bilden einen wichtigen Bau- letztlich darum, Eintrittsgelder für das Naturerlebnis zu stein des Basisthemas „Aktiv und Natur“. Dieses Thema verlangen. Das kann es wirklich nicht sein. Freuen wir wird auch im Rahmen des Internetauftritts der DZT auf- uns doch, dass wir schöne Naturschutzgebiete haben. gegriffen. Unter der Rubrik „Natur, Aktiv, Erholung“ Stellen wir diese auch der Bevölkerung zur Verfügung, gibt es interessante und umfangreiche Informationen damit sie sich regenerieren und sich insbesondere an den rund um die Themen Natur und Nationalparke. Auch bei Schönheiten in National- und Naturparken erbauen den weiteren Aktivitäten der DZT spielen die Nationalen kann. Naturlandschaften eine wichtige Rolle. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Zu Recht wird mit diesen Edelsteinen, die wir hier ha- Jens Ackermann [FDP]) ben, gewuchert. Die DZT wirbt weltweit mit ihnen, um Würde hier Eintritt verlangt, würde die Attraktivität der zu verkünden, dass einer der schönsten Natururlaube Naturparke sicherlich leiden. auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland ver- bracht werden kann. Dagegen begrüße ich die im Antrag der Koalitions- fraktionen enthaltenen Forderungen an die Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie rung. bei Abgeordneten der FDP) (Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] Ich begrüße deshalb, dass die DZT endlich mit den ver- [FDP]) schiedenen Verbänden des naturnahen Tourismus zu- sammenarbeitet. Hervorheben möchte ich insbesondere – Kollege Friedrich, wenn Sie, anstatt Zurufe zu ma- die Zusammenarbeit mit dem Verband Deutscher Natur- chen, lieber eine Zwischenfrage stellen wollen, wäre ich parke. selbstverständlich gerne bereit, diese zuzulassen und zu beantworten. – (B) Es gibt einen weiteren Aspekt, der eine wesentliche (D) Rolle spielt und der mit wichtig ist: Die Großschutzge- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nein! Das biete spielen gerade für die regionale Entwicklung in den würde ja nur Ihre Redezeit verlängern!) strukturschwachen, naturnahen Gebieten eine entschei- Sie dienen dem Ziel, die Nationalen Naturlandschaf- denden Rolle. So kennen wir die ökonomische Bedeu- ten auch weiterhin nachhaltig für den Tourismus zu nut- tung des Tourismus für die Naturparke Altmühltal und zen. Die Bundesregierung ist bereit – diese Bemerkung Hoher Fläming sowie für den Müritz-Nationalpark. Im richte ich insbesondere an die Opposition –, die genann- Naturpark Altmühltal zum Beispiel wurden im Jahre ten Maßnahmen zu prüfen und sie, sofern sie zweckmä- 2004 Bruttoumsätze von 20,7 Millionen Euro, im Natur- ßig erscheinen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten in die park Hoher Fläming von 6,2 Millionen Euro und im Mü- Tat umzusetzen. Das ist Aufgabe des Parlaments. ritz-Nationalpark von rund 13,4 Millionen Euro durch landschaftsbezogenen Tourismus erzielt. Damit war na- Die Bundesregierung wird sich diesem Problem ganz türlich auch die Schaffung von Arbeitsplätzen verbunden. besonders widmen und dafür Sorge tragen, dass sich un- sere Naturparke, Nationalparke und Biosphärenreservate Eines ist damit klar: Touristische Investitionen in im Rahmen solcher Maßnahmen und Vorgaben auch Großschutzgebiete rechnen sich. Aber es gilt, das über- weiterhin so großartig entwickeln können, wie es in der zubringen, das notwendige Verständnis zu entwickeln Vergangenheit der Fall war. und dafür seitens des Bundes sowie der einzelnen Län- der die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung Für Ihre Aufmerksamkeit darf ich mich herzlich be- zu stellen, damit sie sich weiterentwickeln können. Ich danken. bin davon überzeugt, dass das Potenzial des Naturtouris- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mus in unserem Land längst noch nicht ausgeschöpft ist. (Jens Ackermann [FDP]: Das stimmt!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Jens Ackermann, Jährliche Erhebungen der Forschungsgemeinschaft FDP-Fraktion. Urlaub und Reisen belegen: Das Naturerlebnis zählt seit Jahren zu den wichtigen Urlaubsmotiven. Für circa (Beifall bei der FDP) 40 Prozent der Befragten ist es besonders wichtig. Die- ser Prozentsatz ist – das ist sehr erfreulich – in den letz- Jens Ackermann (FDP): ten Jahren sogar gestiegen. Auf diese eindeutige Nach- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere frage müssen wir mit einer klaren Positionierung unseres Nationalen Naturlandschaften sind reizvolle Urlaubs- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9229

Jens Ackermann (A) ziele, und sie sind mehr als das: Sie sind für unsere Ge- eine zusätzliche Naturtaxe ist hier nicht zu rechtfertigen. (C) sundheit und für unser Wohlbefinden notwendig. Sie Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. stellen, besonders für strukturschwache Regionen, das Zukunftspotenzial dar. Hier wird deutlich, wie wichtig (Beifall bei der FDP) die Natur als Wirtschaftsfaktor ist. Mit ausreichender Naturschutz mit den Menschen, dies ist eine langjäh- Wertschätzung durchgeführt, entsteht eine Win-win-Si- rige Forderung der FDP. Auch die Initiative Nationale tuation für alle: für die Natur und für die Menschen. Naturlandschaft fördert das Miteinander von Mensch und Natur. Nur wer die Natur kennt, vermag ihren Wert (Beifall bei der FDP) richtig zu schätzen. Das fehlende Bewusstsein für den Das letzte Jahr war das Jahr der Naturparke und stand Wert des Naturerbes führt zu Missachtung und zu Zer- unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten. Im störung. Nur wer um den Wert der Natur weiß, kann ver- vorliegenden Antrag wird dies hervorgehoben. Lobende antwortlich handeln. Verbote und Regulierungen sind Worte für Horst Köhler aus den Reihen der Union – in lange nicht so effektiv und nachhaltig wie das Handeln letzter Zeit selten. Die FDP-Fraktion begrüßt dieses Lob auf der Grundlage von Vernunft und Eigenverantwor- und unterstützt den Antrag der Koalition. tung. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Otto Fricke [FDP]: Sehr gut!) Naturschutz und Tourismus sind zwei Seiten einer Me- Deutschland hat viel zu bieten und wird als Urlaubs- daille. land immer beliebter. (Beifall bei der FDP) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Insbeson- dere Bayern! Das muss man mal sagen!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Den gemeinsamen Dachverband Nationale Naturland- Ich gebe das Wort dem Kollegen Dirk Becker, SPD- schaften zu schaffen, war gut und richtig. Die gemein- Fraktion. same Präsentation von Naturparks, Biosphärenreserva- ten und Nationalparks ermöglicht eine effektive (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vermarktung. Die Vereinigten Staaten und Großbritan- nien waren hier Vorbilder. Ich würde mir wünschen, dass Dirk Becker (SPD): wir auch in anderen Politikfeldern öfter über den Teller- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen rand hinausschauen. und Kollegen! Beide Vorredner haben betont, dass Na- turschutz und Tourismus zwei Seiten derselben Medaille (B) (D) Dass wir eine schöne Heimat haben, ist der Gesell- sind. Die SPD praktiziert das: indem ein Naturschutzpo- schaft bewusst. Ein Beispiel möchte ich Ihnen nennen: litiker und ein Tourismuspolitiker zu diesem Thema re- den Harz, einen Nationalpark mitten in Deutschland, den werden. eine Naturlandschaft, die Niedersachsen und Sachsen- Anhalt miteinander verbindet. Im ehemaligen Todes- Im Jahr 1921 wurde in der Lüneburger Heide der streifen konnte sich eine ursprüngliche Tierwelt erhalten. erste Naturpark in Deutschland gegründet. Schon da- Die intakte Natur wird zu einem Hoffnungsträger für die mals, bei den ersten Gründungen, waren sowohl der Na- gesamte Region. turschutzgedanke als auch die Bewahrung von großräu- migen Landschaften für die Erholung der Menschen Ziel (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und Aufgabe. der CDU/CSU und der SPD) Wir haben von Herrn Hinsken bereits gehört, wie Von der Hauptstadt Berlin ist es nur ein Katzensprung in viele Naturparke, Nationalparke und Biosphärenreser- den Harz, und er ist sehr leicht mit der Bahn zu errei- vate es mittlerweile in Deutschland gibt, die sich nun- chen. Die Region Harz, aber auch die Region Fläming mehr unter der Dachmarke Nationale Naturlandschaften haben die Naturlandschaft als wichtigen Wirtschaftsfak- zusammengeschlossen haben und mit einheitlichem Er- tor erkannt. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass durch scheinungsbild sowie einheitlicher Kommunikation auf Tourismus in Großschutzgebieten willkommene Einnah- politischer Ebene und in der öffentlichen Darstellung men entstehen, die für die Region förderlich sind. Natur auftreten. Insgesamt umfassen sie rund ein Viertel der und Tourismus können davon profitieren. Daher unter- Fläche der Bundesrepublik Deutschland und sind stützen wir den Antrag der Koalitionsfraktionen. wesentlicher Bestandteil des Schutzgebietsnetzes „Natura 2000“ sowie, soweit es um die Biosphärenreser- Zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Auch in vate geht, des weltweiten Schutzgebietsnetzes der diesem Antrag steht Gutes und Richtiges. Es wird er- UNESCO. kannt, dass Naturschutzgebiete für die regionale Ent- wicklung Positives leisten können. Die Einführung von Jedes Schutzgebiet für sich ist ein einzigartiger Naturtaxen sollte jedoch nur dort in Erwägung gezogen Schauplatz der Natur und gewährt – das haben wir von werden, wo die wirtschaftlichen Verhältnisse keine an- Herrn Hinsken schon anschaulich gehört – faszinierende dere Möglichkeit lassen. In dem vorliegenden Fall ist so Einblicke in die Genialität, die Bedeutung, die Schön- etwas aber nicht notwendig. Außerdem sind öffentliche heit, den Erholungswert und sicherlich auch die Verletz- Wälder bereits von den Mitbürgerinnen und Mitbürgern lichkeit der Natur. Schutzgebiete bedeuten also nicht nur finanziert worden. Sie sind deshalb öffentlich zu halten; Naturschutz, sondern sie sind auch Erholungs- und 9230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Dirk Becker (A) Erlebnisraum für die Menschen sowie ein wesentlicher diversitätsstrategie unterstrichen, ein regionaler Ent- (C) Faktor der Regionalentwicklung, also der regionalen wicklungsanreiz für weitere Gebietsplanungen gesetzt Wertschöpfung. Diese Bedeutung nimmt ständig zu. und damit auch ein Bezug zum Nationalpark bzw. Bio- sphärenreservat Senne hergestellt. (Beifall bei der SPD) Dementsprechend darf ich Sie alle heute um Zustim- Das wird durch einige Zahlen, die auch im Antrag mung zum Antrag der Koalitionsfraktionen bitten. ausgeführt sind, deutlich. Ich will zwei Beispiele nen- nen: In der Müritz betrug der Bruttoumsatz durch Besu- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. chereinnahmen 13,4 Millionen Euro. 630 Arbeitsplätze (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wurden geschaffen. Im Altmühltal belief sich der Brut- toumsatz auf 20,7 Millionen Euro, 483 Arbeitsplätze waren zu verzeichnen. Das beweist: Naturschutz ist auch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: praktizierter Jobmotor und nicht Jobkiller. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert, Frak- tion Die Linke. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU] und der Abg. Sylvia (Beifall bei der LINKEN) Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Dies gilt jedoch nur so lange – das muss aus umwelt- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- politischer Sicht klar sein –, wie der Schutzaspekt der legen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf den Natur an erster Stelle steht. Negative Eingriffe in die Tribünen! Im vergangenen Jahr hatten wir das Jahr der Natur haben immer auch negative Auswirkungen auf ih- Naturparke, und fast niemand hat es gemerkt. Das ist ren touristischen Stellenwert. sehr bedauerlich. Aber immerhin: Zumindest heute be- Die Nationalen Naturlandschaften nehmen aber auch schäftigt sich der Bundestag einmal damit. eine besondere Bedeutung im Rahmen der nationalen Das haben wir Ihnen zu verdanken, liebe Kolleginnen Biodiversitätsstrategie ein. Das findet sich so auch im und Kollegen von den Bündnisgrünen. Sie haben den Koalitionsantrag wieder. Ich möchte beispielsweise das ersten Antrag eingebracht. Die Koalition hat ihren An- Wattenmeer erwähnen, das mit seinen 278 000 Hektar trag nachgereicht. nach dem tropischen Regenwald das zweitproduktivste Ökosystem der Welt und ein Feuchtgebiet von interna- (Annette Faße [SPD]: Aber er ist gut!) tionaler Bedeutung ist. Ich finde, dass beide Anträge sehr viel Positives enthal- (B) (Reinhold Hemker [SPD]: Sehr richtig!) ten. Wir werden ihnen übrigens zustimmen, liebe Kolle- (D) gin. Das ist keine Frage: Vernünftige Vorhaben können 4 000 Arten, die im Wattenmeer leben, hätten ohne den wir unterstützen. Ich muss sogar erstaunt feststellen, Schutz des Wattenmeeres keine Überlebenschance ge- dass der Antrag der Koalition besser ist als der der Grü- habt. Auf andere Bereiche könnte man ebenso zu spre- nen. chen kommen. Ich denke aber, auch hierdurch wird schon deutlich, welche Bedeutung die Nationalen Natur- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der landschaften für den Naturschutz insgesamt haben. CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich bedaure jedoch – damit muss ich etwas aus mei- ner Herkunftsregion plaudern –, dass die Bedeutung – Ehre, wem Ehre gebührt. Ihr habt ja auch ein bisschen noch nicht in allen Regionen hinreichend deutlich ge- abgeschrieben. worden ist. Aber lassen Sie uns darüber reden, was noch zu tun (Ulrich Kelber [SPD]: In den Regionen schon, ist. Naturparke sind gut. Das ist schon von vielen Seiten in manchen Landesregierungen nicht!) betont worden; ich will es nicht wiederholen. Reden wir lieber darüber, wie wir sie noch besser nutzen können. In der Diskussion über den Nationalpark Senne bzw. Ich mache drei Vorschläge. das Biosphärenreservat Senne haben wir leider immer wieder mit Widerständen zu kämpfen, zuletzt mit eini- Erstens wäre es sehr sinnvoll, wenn wir es erreichen gen Landräten, die die Bedeutung und die regionale Ent- würden, dass alle Schulklassen in allen Schulen mehr- wicklungschance immer noch nicht erkannt haben. Da- mals im Jahr Schülerinnen- und Schülerreisen unter- ran werden wir aber weiter arbeiten, um auch dort zu nehmen könnten. Dann würden Ausflüge in die Natur- größeren Erfolgen zu kommen. parke – das können auch Tagesreisen sein – zur Selbstverständlichkeit. Die Schülerinnen und Schüler (Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: insbesondere aus den Großstädten könnten sich daran Der Ministerpräsident hat es auch nicht er- gewöhnen, sich in den Naturparken zu bewegen, mit Na- kannt! – Reinhold Hemker [SPD]: Wir fahren tur nachhaltig umzugehen und Naturerlebnisse zu genie- da einmal hin!) ßen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch den Zweitens fällt in den Naturparken jede Menge Arbeit Antrag der Koalitionsfraktionen wird die nachhaltige an. Dort sind aber relativ wenig Menschen beschäftigt, Entwicklung bereits bestehender Gebiete gestärkt, die weil Naturparke nicht profitorientiert und damit zumin- Bedeutung und die Einbeziehung in die nationale Bio- dest aus betriebswirtschaftlicher Sicht kein Geschäft Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9231

Dr. Ilja Seifert (A) sind. Insofern ist dort sehr viel ehrenamtliches Engage- ist die Übernutzung der Kulturlandschaft. Ein gutes (C) ment gefragt. Das ist positiv, und viele Menschen wollen Instrument gegen diese Entwicklung ist, Landschaft in sich dort ehrenamtlich und unentgeltlich engagieren. verschiedener Form unter Schutz zu stellen, beispiels- Gleichzeitig bieten die Naturparke eine hervorragende weise als Naturparke. Deswegen ist das letzte Jahr zum Möglichkeit – eben weil sie nicht profitorientiert sind –, Jahr der Naturparke erklärt worden. Alle haben dies be- einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor zu reits gelobt; wir alle waren damit einverstanden und fan- schaffen und dort nachhaltig und langfristig Arbeits- den das richtig. plätze nach tariflichen Löhnen zu schaffen, von denen Es ist auch darauf hingewiesen worden, wie groß die die Menschen aus der Umgebung tatsächlich leben kön- Wechselbeziehung zwischen intakter Natur und der nen. Das wäre Wirtschaftsförderung für die gesamte Re- Möglichkeit, mit ihr im Tourismusbereich zu wirtschaf- gion in einem sehr positiven Sinn. ten, ist. Das ist auch völlig richtig, Herr Hinsken hat da- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) von berichtet. Man muss aber anmerken: Ihr Antrag trägt die Überschrift „Nationale Naturlandschaften – Chancen Lassen Sie uns darüber nachdenken, und legen Sie Ihre für Naturschutz, Tourismus, Umweltbildung und nach- Scheuklappen gegenüber einem öffentlich geförderten haltige Regionalentwicklung“. Das Spektrum ist also Sektor ab! schon etwas breiter. Drittens sind Naturparke von Natur aus nicht barrie- Es ist auch richtig, noch einmal auf Folgendes hinzu- refrei. Das hat Natur nun einmal an sich. Aber gerade des- weisen: Ein solches Jahr der Naturparke kann den Be- halb bieten sie hervorragende Möglichkeiten zu zeigen, kanntheitsgrad von Naturparken erhöhen und dafür sor- dass, gute und kluge Wege vorausgesetzt, Naturerlebnisse gen, dass mehr Aufmerksamkeit für die Potenziale, die für Menschen mit Behinderungen – für Blinde, Rollstuhl- darin stecken, erzeugt wird. Es kann auch dazu beitra- fahrerinnen und Rollstuhlfahrer und andere – geschaffen gen, das alte Vorurteil, Schutz hieße, man dürfe nicht werden können, die dann, wenn sie erst einmal installiert nutzen, abzubauen. Denn das ist völlig falsch. sind, wiederum allen nützen. Wenn beispielsweise eine Moorlandschaft mit Holzwegen begehbar bzw. berollbar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gemacht wird, dann sind diese Wege allen zugänglich. Deshalb haben wir einen Antrag gestellt, in dem nicht Mit dem Baumkronenpfad im Nationalpark Hainich nur steht, was klasse und schön ist, sondern der darauf in Thüringen zum Beispiel wurde etwas Tolles geschaf- abzielt zu prüfen, wie dieses Instrument der Naturparke fen. Bedauerlicherweise musste aber der Aufzug nach- – wenn es so gut ist – besser genutzt werden kann und träglich von den Behindertenverbänden erkämpft wer- welche Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Naturparken dienen. Das ist das Entscheidende. Wir (B) den. Das wurde extrem teuer und hat den Nachteil, dass (D) die behinderten Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer müssen prüfen, was wir unternehmen können, damit ein die Spitze des Turmes nicht erreichen können. Das ist gut eingeschlagener Weg noch besser wird. schade. Wenn der Fahrstuhl von Anfang an eingeplant Uns ist von Ihnen, von der Koalition, vorgeworfen worden wäre, dann wäre auch dies möglich gewesen. worden, dass sich unser Antrag nur mit dem Thema Na- Das zeigt, was möglich ist, wenn man vernünftig plant. turparke befasst. Wir glauben, dass es Naturparke durch- Folgen Sie diesen Vorschlägen! Lassen Sie uns das, aus verdient haben, einmal besonders herausgestellt wer- was wir heute beschließen, weiterführen. Die Nationale den, weil sie nämlich gerne übersehen werden, auch ihr Koordinierungsstelle Tourismus für Alle – NatKo – hat Potenzial für regionale Entwicklung. Deshalb meinen entsprechende Vorschläge unterbreitet und Publikatio- wir, dass es angemessen ist, sich mit diesem Thema zu nen herausgegeben, die ich Ihnen allen empfehlen kann. befassen. Ich kann uns allen nur empfehlen, die Naturparke zu be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) suchen. Wir wollen noch einmal darauf hinweisen, welchen star- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ken Beitrag Naturparke für die Regionalentwicklung, (Beifall bei der LINKEN, der SPD, der CDU/CSU für den Erhalt der Vielfalt in der Natur leisten. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir schon gegenseitig über unsere Anträge ur- teilen, dann wäre es wünschenswert, wenn wir sie auch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vorher gelesen hätten. Deshalb wundert es mich sehr, Ich gebe das Wort der Kollegin Undine Kurth, Bünd- dass Sie alle uns vorwerfen, wir wollten eine Taxe erhe- nis 90/Die Grünen. ben. In unserem Antrag steht nur, man möge bitte prü- fen, ob das Erheben einer Taxe ein richtiger Weg ist. Ich Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE meine, das ist ein ziemlich großer Unterschied. GRÜNEN): Es ist auch richtigerweise gesagt worden, dass es in Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen Regionen wie der Müritz ganz erhebliche Wirtschaftsef- und Kollegen! Liebe Gäste auf den Rängen! In einer fekte gibt, dass dort mit Tourismus relativ viel Geld ver- Pressekonferenz des Bundesumweltministers wurde ges- dient wird. Trotzdem berichtet der Nationalparkleiter, tern berichtet, wie stark gefährdet viele Biotope und dass für die Ranger keine Mittel mehr zur Verfügung ste- Landschaftsformen in Deutschland sind. Ein Problem ist hen. Vielleicht ist es also doch richtig zu überlegen, wie der zu hohe Flächenverbrauch. Ein weiteres Problem man all die Gäste daran beteiligen kann, diese gute und 9232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Undine Kurth (Quedlinburg) (A) intakte Natur zu erhalten. Ich kann nicht verstehen, dass sind, eine hohe Akzeptanz erreicht. Man hat Verträge (C) man schon die Prüfung der Einführung einer solchen mit Landwirten gemacht. Man hat es geschafft, dass sich Taxe ablehnt. ehrenamtlich tätige Naturschutzorganisationen wie BUND und NABU sowie Jäger und Pfleger, die in den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jagdgenossenschaften tätig sind – ich könnte noch viele Wie gesagt: Es gibt viele Möglichkeiten der Unter- andere nennen –, schon heute engagieren, wenn es um stützung. Wir müssen prüfen, wie man etwas für Natio- touristische Besucher in den betreffenden Regionen nalparke und ihre Entwicklung tun kann. Herr Hinsken, geht. So wurden zum Beispiel – das hat Ilja Seifert vor- Sie meinten, es gebe keinen besseren Zeitpunkt, um hin angedeutet – wunderbare Naturlehrpfade angelegt. diese Anträge zu diskutieren. Ich hätte schon einen bes- seren gefunden, nämlich das letzte Jahr, das Jahr der Na- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto turparke. Wir hängen mit der Diskussion ziemlich hin- Solms) terher. Übrigens, Ilja, ich lade dich herzlich ein, einmal mei- Es ist bereits gesagt worden: Wir haben zuerst einen nen Wahlkreis zu besuchen. Du hattest ja die in den Antrag zu diesem Thema eingebracht. Wir finden es völ- Mooren und Hochmooren angelegten Naturlehrpfade als lig in Ordnung, dass man in diesem Rahmen über ver- Beispiel genannt. Jeder von uns, der sich in diesem Be- schiedene Anträge diskutiert. Wir werden Ihrem Antrag reich engagiert, möchte so etwas Wunderschönes zeigen. zustimmen, weil nicht einzusehen ist, etwas nur aus Durch die genannten Maßnahmen nimmt die Akzep- Prinzip abzulehnen. Wenn ein Vorschlag vernünftig ist, tanz zu. Davon haben nicht nur die Menschen, die dort dann müssten wir doch in der Lage sein, gemeinsam leben, sondern auch die Menschen, die dorthin kommen, richtige Schritte zu gehen. Deshalb bin ich sehr ge- sowohl im ideellen als auch im immateriellen Bereich ei- spannt, Herr Hemker, wie Sie jetzt begründen werden, nen sehr großen Gewinn. In meinem Wahlkreis, der nahe dass man unserem Antrag nicht zustimmen kann, wo an der Grenze zu den Niederlanden liegt, sind das in doch in den Anträgen fast Identisches steht. Die Über- vielfältiger Hinsicht unsere Freunde und Gäste aus den prüfung der Einführung einer Taxe kann ja auch nicht Niederlanden. Bei uns im Teutoburger Wald, wo sich die das Problem sein. von mir genannten Gruppen engagieren, wurden sehr Ich kann nur sagen: Wir haben unseren Antrag deut- viele Angebote gemacht. – Lieber Daniel, du weißt als lich früher eingebracht als Sie. Deshalb möchte ich ab- Münsteraner natürlich, wie schön es bei uns ist. Genauso schließend Hans Kollhoff zitieren, einen unter Architek- gerne komme ich nach Münster, um die dortigen Ange- ten bekannten Mann, der immer gesagt hat: „Wer mich bote des Stadttourismus wahrzunehmen. kopiert, vermeidet das Schlimmste.“ (B) In den letzten Jahren gab es eine Fülle von Diplom- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) arbeiten zu diesem Thema nicht nur in den Fachabteilun- gen für Tourismus an den Universitäten. Inzwischen gibt Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: es viel Literatur darüber. Auf der diesjährigen ITB Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege wurde mir noch einmal deutlich, dass die drei Bereiche Reinhold Hemker von der SPD-Fraktion. – Natur, Tourismus und Menschen – erst zusammen zum Naturschutz führen. Wenn man Landschaften sich selbst überlässt und sie nicht als Kulturlandschaften begreift, Reinhold Hemker (SPD): egal ob es sich um Naturparke, Nationalparke oder Bio- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- sphärenreservate handelt, wenn man sie nicht erschließt gen! Liebe Undine Kurth, wir werden sicherlich in ab- – ich verstehe das als Antwort auf meinen lieben Kolle- sehbarer Zeit einen Bericht der Bundesregierung, vertre- gen Ilja Seifert –, wenn Natur und Naturlandschaften ten durch Ernst Hinsken, erhalten, in dessen Rahmen wir nicht zum Thema im Schulunterricht gemacht werden, noch einmal über das Thema Gebühren – ich strapaziere dann werden wir nicht weiterkommen, wenn es um die mal nicht den Begriff Naturtaxe – für die besondere Nut- Akzeptanz der Menschen geht, wie es der Beauftragte zung der drei Bereiche der Naturlandschaften diskutie- der Bundesregierung für Tourismus formuliert hat. ren müssen. Das ist überhaupt keine Frage. Es gibt im Übrigen einige Bundesländer bzw. Regionen, die für die Die Nähe zur Natur wird den Menschen nicht nur in Nutzung bestimmter naturnaher Gebiete schon solche Deutschland in der Freizeit bzw. in den Ferien vermittelt. Gebühren erheben. Wir werden also sicherlich über die- Es ist sehr wichtig, dass die Menschen, die nicht wie ich sen Punkt reden. das Glück haben, naturnah zu wohnen, sondern in den Ballungszentren leben, die Natur wieder neu begreifen. Ich will mich nicht darüber auslassen, wer anlässlich Das ist zum Beispiel im Urlaub auf einem Bauernhof, in des Jahres der Naturparke als Erster vorgeschlagen hat, der Nähe eines Naturschutzgebietes, auf einem Natur- darüber im Parlament zu diskutieren; das lohnt sich lehrpfad oder auf Fortbildungsveranstaltungen der eben nicht. Wir werden sicherlich deutlich machen, dass alle, von mir genannten Naturschutzverbände möglich. Wenn die sich auf den Weg gemacht haben, gute Beiträge zu wir das schaffen, dann werden wir in den nächsten Jah- dieser Diskussion geleistet haben. Das hat schon die ren den Standort Deutschland und insbesondere die länd- erste Beratung im Fachausschuss gezeigt. Mir geht es je- lichen Räume mit den genannten Gebieten bereichern. denfalls um das, was der Beauftragte der Bundesregie- rung für Tourismus, Ernst Hinsken, gesagt hat. Wir ha- Liebe Undine Kurth, ich freue mich darauf, dass wir ben überall dort, wo Naturschutzgebiete ausgewiesen in absehbarer Zeit im Fachausschuss auch über die The- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9233

Reinhold Hemker (A) men eures Antrags sprechen werden. Ich hätte mir für Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) heute einen fraktionsübergreifenden Antrag gewünscht. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Aber wie so oft haben wir es angesichts der Tagesord- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. nung, der Geschäftsordnung und unseres Umgangs mit- einander nicht geschafft, einen solchen Antrag vorzule- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- gen. Wir finden zudem oft nicht die Zeit, uns nerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin zusammenzusetzen und einen fraktionsübergreifenden Marion Caspers-Merk. Antrag zu erarbeiten. Ich freue mich aber, dass der Ko- alitionsantrag gleich wahrscheinlich einstimmig ange- Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der nommen wird. Es wäre sicherlich schön gewesen, den Bundesministerin für Gesundheit: Antrag der Grünen zu berücksichtigen. Aber, liebe Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Undine, wir werden euren Antrag mit Hinweis auf die beraten einen Antrag der FDP-Fraktion, die wünscht, Geschäftsordnung ablehnen. So ist nun einmal die „Klei- dass die 700 Millionen Euro, die wir als Zusatzinitiative derordnung“. zur Verfügung gestellt haben – wir und nicht Sie –, frü- her abgerufen werden können. Der Antrag hört sich zu- Herzlichen Dank. nächst einmal gut an, aber die Fragen sind doch erlaubt: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wird dieses Geld tatsächlich benötigt? Wurden diese der CDU/CSU) Mittel in der Vergangenheit abgerufen? Und vor allen Dingen: Ist das etwas, das die Krankenhäuser, die Pro- bleme mit modernen Arbeitszeitmodellen haben, wirk- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lich weiterbringt? Ich schließe die Aussprache. In der Anhörung mit Fachleuten, die wir zu diesem Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Thema durchgeführt hatten, wurde gesagt, dass im Jahr empfehlung des Ausschusses für Tourismus zu dem An- 2006 für jedes Krankenhaus in Deutschland durch- trag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD mit dem Ti- schnittlich 200 000 Euro für Personalmaßnahmen im tel „Nationale Naturlandschaften – Chancen für Zusammenhang mit der Einführung neuer Arbeitszeit- Naturschutz, Tourismus, Umweltbildung und nachhal- modelle zur Verfügung standen, diese Mittel aber über- tige Regionalentwicklung“. Der Ausschuss empfiehlt in haupt nicht ausgeschöpft wurden. Nur 79 Prozent dieser seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4269, Mittel wurden 2006 im Durchschnitt tatsächlich ausge- den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf schöpft; im Jahr 2007 waren es durchschnittlich Drucksache 16/3298 anzunehmen. Wer stimmt für diese 83 Prozent. Das heißt, Sie beantragen, die Bereitstellung (B) Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- dieser Mittel vorzuziehen – Sie tun also so, als sei Eile (D) gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- vonnöten – und noch etwas draufzulegen, obwohl dies nommen. bisher gar nicht nötig ist, weil die Mittel gar nicht ausge- Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- schöpft wurden. Dabei müssten wir uns doch erst einmal schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit fragen: Warum werden zur Verfügung gestellte Mittel zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit nicht ausgeschöpft, und was können wir hier tun? dem Titel „Naturparke – Chancen für Naturschutz und (Beifall bei der SPD) Regionalentwicklung konsequent nutzen“. Der Aus- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Schaut man genau hin, dann stellt man interessanter- Drucksache 16/4278, den Antrag der Fraktion weise fest, dass es Bundesländer gibt, in denen die Mittel Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3095 abzu- zu 90 Prozent in Anspruch genommen werden – zum lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Beispiel in , Bremen oder Mecklenburg- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Vorpommern –, dass es aber auch Länder gibt, in denen fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen die Inanspruchnahme unter 70 Prozent liegt – wie in und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Berlin mit 49 Prozent oder in Hamburg mit 53 Prozent. Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. In der Anhörung teilte der Verband der Angestellten- Krankenkassen zudem mit, dass nach seinen Erkenntnis- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: sen nur 72 Prozent der Krankenhäuser mit bis zu Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 200 Betten die Mittel tatsächlich in Anspruch nehmen. richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- Wenn wir es mit diesem Vorgang ernst meinen und schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Daniel den Krankenhäusern helfen wollen, moderne Arbeits- Bahr (Münster), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad zeitmodelle umzusetzen, dann müssen wir doch denjeni- Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gen helfen, die offensichtlich Schwierigkeiten haben, an der FDP diese Mittel heranzukommen. Ausgleich für neue Arbeitszeitmodelle in Deswegen geht der Antrag, zusätzliche Mittel vorzu- Krankenhäusern vorziehen sehen, obwohl die, die schon vorhanden sind, gar nicht – Drucksachen 16/670, 16/4596 – ausgegeben werden, völlig ins Leere. Ihr Antrag springt also zu kurz, er trifft die Falschen, und er löst die struk- Berichterstattung: turellen Probleme, die wir in den Krankenhäusern haben, Abgeordneter Frank Spieth nicht. Für uns ist der entscheidende Punkt, dass wir im 9234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk (A) Dialog mit den Ländern – Sie wissen, dass diese für den mittleren Krankenhäuser unterstützen können. Aller- (C) Bereich Krankenhäuser zuständig sind – dafür sorgen dings muss ich Ihnen von der schwarz-roten Bundesre- wollen, dass gerade in den kleineren Krankenhäusern gierung schon vorwerfen, dass Sie sich gar keine Gedan- diese Mittel noch stärker in Anspruch genommen wer- ken darüber machen, wie Sie die kleinen und mittleren den. Hier können wir helfen, Strukturen zu erhalten. Krankenhäuser unterstützen können. Hier können wir helfen, indem wir darauf hinweisen, (Heinz Lanfermann [FDP]: Die werden belas- dass diese Mittel vorhanden sind und fließen können. tet!) Hier können wir wirklich etwas tun, um moderne Ar- beitszeitmodelle umzusetzen. Im Gegenteil: Sie erhöhen die Lasten für die kleineren und mittleren Krankenhäuser. Ihr Antrag springt wie immer zu kurz, er ist populis- tisch, und vor allen Dingen sagen Sie nicht, wie das Vor- Wie sieht denn die Realität aus? Durch die ziehen des Finanzvolumens finanziert werden sollte. Die Gesundheitsreform 2007 sind die Lasten der Kranken- Antwort auf diese Frage bleiben Sie uns wie immer häuser gestiegen. Sie haben die Krankenhäuser nicht schuldig. Wir stehen dazu, dass den Krankenhäusern ge- etwa bei der Umsetzung dieser neuen Arbeitszeitmodelle holfen werden muss. Deswegen werden wir den kleinen unterstützt, sondern sie haben ihnen weitere Lasten auf- Krankenhäusern helfen, an die Mittel heranzukommen. erlegt. Es ist aber nicht notwendig, jetzt in Aktionismus zu ver- fallen, da ausreichend Mittel zur Verfügung stehen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE]) Vielen Dank. Ein Sparopfer von 250 Millionen Euro entzieht den (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Häusern wichtige finanzielle Mittel. Das belastet gerade die kleineren und mittleren Krankenhäuser und beein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: trächtigt die qualitativ hochwertige, flächendeckende Versorgung der Bevölkerung, da Finanzkürzungen Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der zwangsläufig mit Einsparungen im Leistungsbereich FDP-Fraktion. einhergehen. Dazu kommt die Mehrwertsteuererhöhung (Beifall bei der FDP) um 3 Prozentpunkte, die die Krankenhäuser in Deutsch- land insgesamt mit vermutlich etwa 500 Millionen Euro Daniel Bahr (Münster) (FDP): belastet, und die Anschubfinanzierung für die integrierte Finanzierung, die den Krankenhäusern zunächst finan- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- zielle Mittel entzieht. Es bleibt die Frage offen, ob sie im gen! Frau Staatssekretärin Caspers-Merk hat ausgeführt, (B) selben Umfang finanzielle Mittel zurückbekommen. (D) dass, obwohl seit 1. Januar dieses Jahres eine Regelung Nicht zuletzt sind die Tariferhöhungen zu erwähnen. Die in Kraft ist, dass Bereitschaftszeit als Arbeitszeit gilt, liegen nicht in Ihrer Verantwortung – das will ich nicht noch nicht alle Krankenhäuser diese Regelung umge- sagen –, dafür ist nicht die schwarz-rote Bundesregie- setzt haben. Selbst die Zahlen, mit denen Sie sich rüh- rung verantwortlich. Aber wir müssen doch ehrlicher- men, besagen, dass es immer noch eine stattliche Zahl weise die Situation der Krankenhäuser sehen. Wir haben von Krankenhäusern gibt, die eben nicht in der Lage doch alle gemeinsam ein Interesse daran, dass gerade die sind, neue Arbeitszeitmodelle umzusetzen. Die Bundes- kleineren und mittleren Krankenhäuser ihre Aufgabe der regierung hat mehrfach die Frist zur Umsetzung dieser flächendeckenden Versorgung bewältigen können. Nicht Regelung hinausgezögert. Aber seit dem 1. Januar 2007 zuletzt ist die Umstellung auf die neue Finanzierung mit hätten diese Arbeitszeitmodelle umgesetzt werden müs- dem Fallpauschalensystem – wir befinden uns bis 2009 sen. Es steht außer Frage, dass es noch nicht alle Kran- in der Konvergenzphase – zu erwähnen. Schließlich kenhäuser gemacht haben. Deshalb stellt sich die Frage, kommt die Umsetzung der Arbeitszeitmodelle hinzu. was die Politik tun kann, um die Krankenhäuser, die sich noch nicht in der Lage fühlen, das umzusetzen, zu unter- In diesem Umfeld belasten Sie die Krankenhäuser stützen. weiter und geben ihnen eben nicht die Unterstützung, die sie brauchen. Wir, alle Fraktionen hier im Deutschen Es sind gerade die kleineren und mittleren Kran- Bundestag, wollten gemeinschaftlich dafür sorgen, dass kenhäuser, wie wir in der Ausschussberatung und auch Zustände beendet werden, die dadurch gekennzeichnet in der Anhörung festgestellt haben, die nicht in der Lage sind, dass Ärzte nicht mehr mit voller Konzentration ar- sind, neue Arbeitszeitmodelle umzusetzen. Nach einer beiten können und überlastet sind. Ein übermüdeter Erhebung nannten 32 Prozent der Krankenhäuser als Arzt hat nach 24 Stunden Arbeit noch eine Reaktions- Grund, warum sie noch nicht eine neue Arbeitszeitrege- und Konzentrationsfähigkeit, als ob er ein Promille Al- lung umgesetzt haben, Finanzierungsprobleme. Auch kohol im Blut hätte. Er dürfte nicht mehr Auto fahren. geben schon heute 26 Prozent der Krankenhäuser an, die Wäre er der Fahrer, würden wir nicht in sein Auto ein- Modelle deswegen nicht umzusetzen, weil sie den Mehr- steigen; denn wir müssten Angst um unser Leben haben. bedarf an Ärzten nicht decken könnten. Frau Caspers- Die Situation in den Krankenhäusern ist so, dass Ärzte in Merk, Sie sagen jetzt – das ist etwas Erfreuliches; denn diesem Zustand noch operieren und versuchen, Leben zu es war bisher nicht zu hören, dass Sie daran arbeiten –, retten. dass Sie Modelle unterstützen bzw. sich überlegen wol- len, wie man kleinere Krankenhäuser unterstützt. Sie Ich kann den Frust vieler Ärzte verstehen. Wir spüren wollen eine Debatte darüber, wie wir die kleineren und diesen Frust. Gerade in den Krankenhäusern verschlech- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9235

Daniel Bahr (Münster) (A) tern sich die Arbeitsbedingungen zusehends. Immer Nicht wir können moderne Arbeitszeitmodelle in den (C) mehr junge Menschen gehen nach Abschluss ihres Me- Krankenhäusern einführen; vielmehr müssen die Verbes- dizinstudiums in Deutschland ins Ausland, um dort als serungen in den Krankenhäusern geschehen, was nicht Arzt zu arbeiten. Ärztemangel wird die Folge sein, und der Fall ist. darunter werden die Patienten zu leiden haben. Also müssen wir uns doch Gedanken darüber machen, wie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wir die Arbeitsbedingungen verbessern können. der SPD) Die FDP hat nichts anderes als Sie vorgeschlagen: dass Ich wiederhole: In den Krankenhäusern muss das Ent- die zur Umsetzung solcher Arbeitszeitmodelle – Bereit- scheidende geschehen. In den Krankenhäusern müssen schaftszeit soll als Arbeitszeit gelten – zur Verfügung ge- die Dienste optimiert werden. In den Krankenhäusern stellten Mittel bis ins Jahr 2009 aufwachsen. Wir sind für muss die Einstellung weiterer Ärztinnen und Ärzte erfol- eine Vorziehung der Bereitstellung dieser Mittel. Sie soll- gen. Allein die Mittelbereitstellung hilft hier nicht. ten nicht erst im Jahr 2009 in vollem Umfang zur Verfü- (Heinz Lanfermann [FDP]: Die Mittelbereit- gung stehen, sondern jetzt. Das wäre gerade für die stellung hilft schon weiter!) Krankenhäuser ein Signal zur Umsetzung dieser Arbeits- zeitmodelle. Die heutige gesetzliche Regelung sieht vor, Kollege Lanfermann, gestatten Sie mir eine Zwi- dass die Krankenhäuser diese Arbeitszeitmodelle umset- schenbemerkung: Es war so schön, Sie im Gesundheits- zen. Ich wiederhole: Es bringt den Krankenhäusern ausschuss zu erleben. Als wir bei den Beratungen der nichts, dass diese Mittel erst im Jahr 2009 in vollem Um- Gesundheitsreform in dem einen oder anderen Bereich fang zur Verfügung stehen. zusätzliche Leistungen und zusätzliche Ausgaben veran- lasst haben, war es justament die FDP, die immer wieder (Heinz Lanfermann [FDP]: Gib sofort, und du gesagt hat: Das ist zu teuer, das ist zu viel, das ist unver- gibst doppelt!) tretbar. Jetzt, da die Reform verabschiedet ist, stellen Sie ausgabeträchtige Anträge und versuchen, uns sicherlich Stimmen Sie unserem Antrag also zu! Unterstützen noch ein Stück weit zu übertreffen. Das ist keine seriöse Sie die Krankenhäuser! Sorgen Sie dafür, dass diese Arbeit. Mittel schon ab diesem Jahr in vollem Umfang von 700 Millionen Euro abgerufen werden können, damit die (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Der Antrag ist Krankenhäuser diese Arbeitszeitmodelle schnellstmög- von Anfang 2006! Das wissen Sie auch! – lich umsetzen können! Heinz Lanfermann [FDP]: Sie versuchen nur, abzulenken!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (B) – Wenn Sie sich die Zahlen vor Augen halten, stellen Sie (D) (Beifall bei der FDP) fest, dass Sie es sind, die ablenken wollen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir haben im Jahr 2003 76,5 Prozent der bereitge- stellten Mittel benötigt. 2004 haben wir dann immerhin Das Wort hat jetzt der Kollege Willi Zylajew von der 79 Prozent der bereitgestellten Mittel benötigt. 2005 CDU/CSU-Fraktion. wurden 77 Prozent der bereitgestellten Mittel abgerufen. Rund 80 Millionen Euro wurden nicht abgerufen, ob- Willi Zylajew (CDU/CSU): wohl sie bereitgestellt waren. 2006 wurden 83 Prozent Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir – wahrscheinlich haben Ihre Mitarbeiter Ihnen diese Zahl haben vom Antragsteller erfahren, welche Intention hin- zur Vorbereitung auf diese Debatte genannt – der bereit- ter diesem Antrag steckt. Die Staatssekretärin hat auf das gestellten Mittel abgerufen. Diese Zahl verschweigen Zahlenwerk der letzten Jahre zurückgeschaut. Wir kön- Sie. Das heißt, im letzten Jahr wurden nur 83 Prozent der nen feststellen, dass die Mittel nicht ausgeschöpft wor- Mittel ausgeschöpft. den sind. (Heinz Lanfermann [FDP]: Aber es steigt doch (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie müssen nach dauernd! Je länger es dauert, desto mehr wer- vorne schauen, Herr Kollege!) den die Mittel benötigt, Herr Kollege!) – Herr Lanfermann, bleiben Sie ruhig! – Ich merke: Sie haben sich die Zahlen nicht gemerkt. Es waren 76 Prozent, 79 Prozent, 77 Prozent und 83 Pro- Wir haben im Jahre 2003 100 Millionen Euro bereit- zent. gestellt, im Jahre 2004 200 Millionen Euro, im Jahre 2005 300 Millionen Euro und in diesem Jahr 500 Millionen (Heinz Lanfermann [FDP]: Er hat die Syste- Euro. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass in diesem Jahr matik gar nicht verstanden!) 200 Millionen Euro mehr bereitgestellt werden. Das wä- Es geht rauf und runter. ren dann – wahrscheinlich haben Sie auch schon das nächste Jahr im Auge – insgesamt 300 Millionen Euro (Dr. Karl Addicks [FDP]: In der Tendenz nach mehr. Lieber Daniel Bahr, es wäre sinnvoll, diese Mittel oben! – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wenn im Gesundheitsbereich bereitzustellen, wenn sie abgeru- von 700 Millionen Euro 83 Prozent abgerufen fen würden. Da dies nicht geschieht, macht dieser An- würden, wäre das mehr als jetzt! Das ist Ma- trag keinen Sinn. thematik!) 9236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Willi Zylajew (A) – Wenn sie abgerufen würden! Sie werden aber nicht ab- Wir orientieren uns aber nicht an den Prozentzahlen, (C) gerufen. Die Summe steht zur Verfügung. Das ist nicht sondern an den abgerufenen Mitteln. Mathematik, das ist Rechnen. (Elke Ferner [SPD]: So ist das!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD – Zuruf von der FDP: Rechnen muss man kön- Das können Sie gern nachrechnen. Das stimmt. Auch nen!) ohne Rechenmaschine sage ich Ihnen: Das sind 16 Pro- zentpunkte weniger. – Das können wir, im Unterschied zu Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wer sich außerhalb des Plenarsaals umhört, der er- fährt, warum diese Mittel nicht abgerufen werden. Ich Ich bedanke mich ausdrücklich für die Zwischen- denke, auch Sie wissen das. frage, (Zuruf von der CDU/CSU: Beim „Schiffe ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: senken“ sagt man „Abgeschossen“! – Georg Herr Kollege Zylajew, erlauben Sie eine Zwischen- Schirmbeck [CDU/CSU]: Die Rheinländer frage des Kollegen Bahr? sind ganz schön helle! Ihr solltet euch vor Rheinländern fürchten!) Willi Zylajew (CDU/CSU): weil das die Chance gab, noch einmal zu sehen, wo bei Aber mit Vergnügen. Ihnen Gedankengänge falsch sind. Ich würde jetzt gern zum Thema zurückkommen. – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wer außerhalb des Plenarsaals mit Ärzten, Verwaltungs- Herr Bahr. leitern, Betriebs- und Personalräten spricht, der erfährt, dass es beispielsweise auch an der Akzeptanz fehlt. Sie Daniel Bahr (Münster) (FDP): zitieren gern das Deutsche Krankenhausinstitut. Das ha- Herr Kollege Zylajew, stimmen Sie mir zu, dass dann, ben Sie heute natürlich nicht gemacht. Das sagt nämlich: wenn jedes Jahr die zur Verfügung stehenden Mittel um Bei 40 Prozent der Ärzte ist keine Akzeptanz für die mo- 100 Millionen Euro steigen und der Anteil der abgerufe- dernen, neuen Arbeitszeitmodelle vorhanden. – Daran nen Mittel immer ungefähr drei Viertel beträgt – 75 Pro- müssen wir arbeiten. Darum haben wir uns gemeinsam zent, 77 Prozent; am Ende waren es 83 Prozent – und wirklich ernsthaft zu kümmern. Auch wir sind daran in- vor diesem Hintergrund statt 500 Millionen Euro in die- teressiert, dass 100 Prozent abgerufen werden, auch (B) sem Jahr 700 Millionen Euro zur Verfügung gestellt 100 Prozent von 700 Millionen Euro abgerufen werden. (D) würden, erwartungsgemäß die Quote erreicht würde, das heißt, dass dann nicht die vollen 700 Millionen Euro, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Es werden nie aber möglicherweise 620 Millionen Euro abgerufen wür- 100 Prozent abgerufen!) den Wir müssen an diesen Dingen ein Stück weit arbeiten. (Lachen bei der SPD und der CDU) Die breite Öffentlichkeit muss zur Kenntnis nehmen: und damit wesentlich mehr Krankenhäuser die Möglich- 2003, 2004, 2005, 2006 hat jedes, aber auch jedes Kran- keit hätten, Arbeitszeitmodelle umzusetzen? kenhaus die Mittel erhalten, die es angefordert hat, um moderne Arbeitszeitmodelle zu finanzieren. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: So eine Frage dürfen Sie gar nicht zulassen, Herr Präsident! – (Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz Zuruf von der CDU/CSU: Ernst bleiben!) [CDU/CSU]) Die Mittel sind ausgezahlt worden. Aus unserer Sicht ist Willi Zylajew (CDU/CSU): es relativ unwahrscheinlich, dass wir bei Bereitstellung Herr Bahr, ich stimme Ihnen insoweit zu, dass 83 Pro- einer höheren Summe zu deutlich besseren Ergebnissen zent von 700 Millionen Euro mehr wären als 83 Prozent kämen. Wir hoffen, dass die Mittel in diesem Jahr zu- von 500 Millionen Euro. mindest zu 90 Prozent ausgeschöpft werden. Wir stellen auch mehr Mittel bereit. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Vielen Dank! – Heinz Lanfermann [FDP]: Richtig! – Weitere Ich wiederhole: Kein Antrag auf zusätzlich 0,2 Pro- Zurufe – Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP] zent des Budgets wurde wegen fehlender Mittel abge- nimmt wieder Platz) lehnt. Insofern haben wir unseren Beitrag geleistet. Auch wir wollen keine 24-Stunden-Dienste. Wir wollen keine – Das war der erste Teil. Nun zum zweiten Teil der Ant- Ärzte, die ihren Dienst überlastet verrichten müssen. Wir wort; Herr Kollege, wenn Sie noch die Disziplin aufbrin- wollen die Mittel bereitstellen. Dies tun wir verlässlich. gen und sich auch das noch anhören würden! Dies tun wir auch 2007, 2008 und 2009, wie das verein- Wenn wir im letzten Jahr 100 Millionen Euro drauf- bart war. gelegt hätten, wären nicht 83 Prozent abgeflossen, son- dern 67 Prozent. Wir würden uns freuen, wenn Sie, anstatt solche po- pulistischen Anträge zu stellen, ein Stück weit gesell- (Elke Ferner [SPD]: Genau!) schaftlich mit darauf hinwirkten, dass Krankenhäuser, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9237

Willi Zylajew (A) Belegschaften neue Modelle entwickeln, fahren und um- chen Tarife sind erst Mitte des Jahres 2006 festgelegt (C) setzen. worden. Seitdem – so die Deutsche Krankenhausgesell- schaft – hat sich die Zahl der stationären Einrichtungen, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich habe noch die eine konforme Arbeitszeitregelung gefunden haben, keinen Vorschlag der Koalition dazu gehört, wesentlich erhöht. wie das besser werden soll!) Des Weiteren möchte ich die Bundesregierung daran Das tut den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den erinnern, dass sie selbst es war – Sie, meine Damen und Krankenhäusern, aber ganz besonders auch den Patien- Herren von der Großen Koalition –, die eine verzögerte ten gut. Umsetzung mit zu verantworten haben, da Sie die Frist Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. zur Umstellung der Arbeitszeitmodelle im vergangenen Jahr vom 1. Januar 2006 auf den 1. Januar 2007 verscho- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ben haben.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Zuruf von der SPD: Sie wissen doch, dass das gar nicht stimmt!) Das Wort hat der Kollege Frank Spieth von der Frak- tion Die Linke. Hätte man den Druck auf die Krankenhausbetreiber erhöht, statt ihn herauszunehmen, wären wir heute mit (Beifall bei der LINKEN) Sicherheit einen großen Schritt weiter.

Frank Spieth (DIE LINKE): Darüber hinaus sind die aufsichtsrechtlichen Bemü- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe hungen der Länder mangelhaft, sodass eine Überprü- Kolleginnen und Kollegen! An der Fantasie der Plan- fung der Arbeitszeiten in den Kliniken fast nie erfolgt erfüllungsdiskussion und dem, was da an Tonnenideolo- ist. Mit der im FDP-Antrag geforderten Aufstockung der gie verborgen worden ist, ist die Wirtschaft der DDR ge- Mittel würde die Umstellung der Arbeitszeitregelungen scheitert. beschleunigt. Ich frage mich, ob sich das Ministerium darüber klar ist, dass jedes Krankenhaus nur den Anteil (Zuruf von der FDP: Was ist denn das für eine seines Budgets für sich zusätzlich aushandeln kann. Die Diktion?) DKG beklagt seit langem, dass die Häuser mit einem zu- Ein Stück weit – so ist mein Eindruck nach Ihrem sätzlichen Bedarf dadurch ausgebremst und die bereit- Beitrag, Herr Zylajew – wird daran möglicherweise das stehenden Mittel nicht abgefordert werden. Bei diesen Unterfangen scheitern, moderne Arbeitszeiten in den rigiden Vorgaben ist es kein Wunder, dass nur rund 83 Prozent der Mittel zugeteilt worden sind. Anstatt die (B) Kliniken zu realisieren. (D) verbleibenden Mittel auf die antragstellenden Kliniken (Zuruf von der SPD: Das ist eine Diskriminie- zu verteilen, werden diese nicht verwandt. Es ist also rung der Arbeit in den Krankenhäusern!) sachlich falsch, zu behaupten, weil die Mittel nicht voll abgerufen worden sind, bestünde keine Not und keine Tatsache ist, dass die Kliniken in den zurückliegenden Notwendigkeit dazu. Das ist nach meiner Auffassung Jahren schon eine Menge gemacht haben, um die über formal und bürokratisch, vor allen Dingen aber praxis- die bereitgestellten Mittel möglichen Arbeitszeitregelun- fern. gen und -bedingungen zu verbessern; dies kann aber deutlich beschleunigt werden. Die bisherigen Anstren- (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE gungen reichen eindeutig nicht aus, um in den Kliniken LINKE]) tatsächlich humane Arbeitsbedingungen für das medi- zinische Personal zu schaffen. Deshalb müssen nach un- Wenn wir es ernst meinen mit der Verbesserung der serer Auffassung – das wird entsprechend dem FDP-An- Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern, ist das so- trag von der Fraktion der Linken voll unterstützt – sofort fortige Vorziehen der Bereitstellung der Mittel von ele- jährlich die vollen 700 Millionen Euro zur Verfügung mentarer Bedeutung. Wir wollen die qualitativ hochwer- gestellt werden, um allen Kliniken, auch den kleinen, die tige Versorgung in unseren Krankenhäusern erhalten. Chance einzuräumen, diese Regelung zu realisieren. Die Aufstockung des ärztlichen Personals darf dabei aber nicht weiter zulasten der Pflegekräfte gehen. So ist (Beifall bei der LINKEN) die Zahl der Pflegekräfte im stationären Bereich von 1995 bis 2005 um 14 Prozent gesunken. Das Bundesgesundheitsministerium vertritt die Auf- fassung, eine Erhöhung der Mittel sei überflüssig – sie (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Pfui!) wird darin von der Großen Koalition unterstützt –, weil die bisher bereitgestellten Mittel nicht abgerufen worden Ebenso wie die ärztliche Versorgung ist die verantwortli- seien. Damit aber liegen das Gesundheitsministerium che Pflege Bedingung für einen hohen Qualitätsstandard und Sie, meine Damen und Herren von der Großen Ko- und einen erfolgreichen Gesundungsprozess der Kran- alition, nach unserer Einschätzung absolut daneben. ken. Das Problem der überlangen Arbeitszeiten und der (Beifall bei der LINKEN und der FDP) Nichteinhaltung des Arbeitszeitgesetzes ist noch lange Ich meine, dass die Umsetzung des Arbeitszeitgeset- nicht gelöst. Die Gewerkschaften beklagen, dass selbst zes und der -regelungen ganz wesentlich von den Tarif- in den Kliniken, die gesetzeskonforme Arbeitszeitmo- abschlüssen des vergangenen Jahres abhängt. Die ärztli- delle eingeführt haben, Ärzte angehalten werden, län- 9238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Frank Spieth (A) gere Dienste zu leisten. Ihnen werden Ruhezeiten und bzw. machte, so sind etwa 10 Prozent zusätzliche Ärzte- (C) sonstiger Ausgleich verspätet oder gar nicht gewährt. und Ärztinnenstellen, die sich aus 700 Millionen Euro fi- Das hat etwas mit Finanzen zu tun. Diesem ausbeuteri- nanzieren lassen, ein Gutteil der Lösung. Man muss be- schen Treiben muss schnellstens ein Riegel vorgescho- tonen, dass es da auch um Personaleinstellungen geht. ben werden. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Ganz genau!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Wo liegt für Sie, meine Damen und Herren aus der Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Koalition, also das Problem, die, wie gesagt, plausibel NEN]) kalkulierten Mittel bereits 2007 einzustellen, wenn doch Diese Missstände können mit verschärften Kontrollen die Vollzugsfrist 2007 abgelaufen ist? Da wird argumen- der Aufsichtbehörden einerseits und der Bereitstellung tiert – wir haben ja eine sehr launige Rede von Herrn der Mittel andererseits bekämpft werden. Zylajew (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Eine rheini- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sche Rede! Rheinische Frohnatur!) Herr Kollege Spieth, kommen Sie bitte zum Schluss. und auch von der Staatssekretärin gehört –, die Mittel seien 2005 nur zu 77 Prozent ausgeschöpft worden. In Frank Spieth (DIE LINKE): diesem Zusammenhang drängt sich mir das Gefühl auf, Ich komme zum Schluss. dass – in Abwandlung des Sprichwortes „Papier ist ge- Mein Fazit: Kliniken unternehmen verstärkt Anstren- duldig“ – Zahlen durchaus geduldig sind. Ich kann mich gungen. Wir sollten sie dabei unterstützen und alles tun, jedenfalls gut daran erinnern, dass in der Anhörung ge- um das nicht auf dem Rücken des Personals zu betrei- sagt wurde, zwar habe ein höherer Prozentsatz von Kli- ben. Deshalb stimmen wir für den Antrag der FDP. niken versucht, das Arbeitszeitgesetz umzusetzen; aber nur 23 Prozent aller Ärztinnen und Ärzte seien erfasst. (Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr Mit den Zahlen ist das immer so eine Sache; es kommt [Münster] [FDP]: Das ist eine gute Entschei- immer darauf an, was man daraus lesen will. dung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Harald Terpe von KEN) Bündnis 90/Die Grünen. Man muss das vor allen Dingen vor dem Hintergrund sehen, dass das Gros der Krankenhäuser erst die letzten (B) (D) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Monate und Tage des Jahres 2006 genutzt hat, um über- Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen haupt an die Umsetzung zu denken bzw. eine Neustruk- und Kollegen! Die Entstehung und Umsetzung des Ar- turierung abzuschließen. Ein Teil – das betrifft vor allem beitszeitgesetzes für das ärztliche Personal im Kranken- die kleinen Krankenhäuser – hat das noch nicht gemacht. haussektor infolge der EU-Richtlinie ist eine Geschichte Wir werden darauf noch zurückkommen. aus Ignoranz, Verzögerung und Taktieren. Wurde zu- Ich möchte an dieser Stelle auch darauf hinweisen, nächst das Problem der Überstunden mit der Gefahr der dass es gerade die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Übermüdung ignoriert, gab es später mit exekutiver und den Krankenhäusern sind und nicht die Politik, die dan- legislativer Billigung eine wiederholte Verzögerung der kenswerterweise die innovativen Konzepte entwickeln Umsetzung. Ich habe das Gefühl, dass auch jetzt Taktie- und umsetzen, und das unter erheblichen finanziellen ren und Verzögerung die Spielregel ist; Belastungen. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ignorieren!) Zur Umsetzungsrealität gehört aber auch, dass der er- denn die geplante Gegenfinanzierung wird über den höhte Anforderungsdruck, nämlich in verkürzter Ar- Vollzugszeitpunkt des Arbeitszeitgesetzes, den 1. Januar beitszeit den gleichen Arbeitsumfang zu realisieren, zu 2007, hinaus gestreckt und verzögert. einer Veränderung, wenn nicht gar zu einer Verschlech- terung der Behandlungskontinuität für den Patienten Der Sachverhalt ist allgemein bekannt: Im Jahre 2003 führt. Arbeit von Ärztinnen und Ärzten beispielsweise wurde, durchaus plausibel – die Staatssekretärin hat ge- im Schichtsystem birgt das Risiko, dass das System von sagt, es waren wir und nicht die FDP; darauf will ich Patientenvisite, Diagnostik und Therapie aus einer Hand jetzt gar nicht eingehen –, davon ausgegangen, dass das verloren geht. Vertraute Bilateralität wird durch unper- Arbeitszeitgesetz einen zusätzlichen Personal- und da- sönliche Multilateralität potenziell verdrängt. Da stellt mit auch Finanzbedarf erfordert. sich die Frage der Betreuungsqualität. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da hat die Auch die Argumentation, mehr Mittel zur Lösung des FDP nie widersprochen!) Arbeitszeitproblems würden den Schuldenabbau behin- Deshalb wurden, ebenfalls plausibel, für das damals an- dern, ist meiner Ansicht nach eine unzulässige Problem- gestrebte Jahr der Umsetzung, nämlich 2009, 700 Millio- vermischung. Denn das wäre ein Art Quersubventionie- nen Euro kalkuliert. Stellt man in Rechnung, dass die rung. Natürlich sind auch wir der Meinung, dass die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes eine Reduzierung der Mittel zielgenau eingesetzt und die besonderen struktu- Arbeitszeit um 15 bis 20 Prozent erforderlich macht rellen Probleme kleinerer und mittlerer Krankenhäuser Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9239

Dr. Harald Terpe (A) berücksichtigt werden müssen. Aber, liebe Kolleginnen – Warten Sie es ab! Sonst stelle ich gleich genauso Rech- (C) und Kollegen aus der Koalition, dies halte ich eher für nungen an wie Herr Zylajew. einen wesentlichen Grund, die Mittel jetzt bereitzustel- Ein von der DKG in Auftrag gegebenes Gutachten hat len. gezeigt, dass Forderungen oft überzogen waren und etwa Nicht die billigste Umsetzungsvariante, sondern die die Verkürzung des Bereitschaftsdienstes und die Ein- mit dem besten Effekt hinsichtlich der Behandlungsqua- führung von zeitversetzten Diensten keine echten neuen lität sollte realisiert werden. Stimmen Sie deshalb mit Arbeitszeitmodelle darstellen. Auch das ist eine Zweck- uns Grünen für den Antrag der FDP! entfremdung des Mitteleinsatzes. Vielen Dank. Es gilt natürlich, Herr Bahr, bei der Verteilung von Geldern zukünftig mehr als bisher auf die Auswirkun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen auf größere und kleinere Kliniken zu achten und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!) der FDP) und damit auch auf die Sicherstellung der Versorgung im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ländlichen Raum im Vergleich zu den Ballungszentrum. Aber, Herr Bahr, zu glauben, dass dieses durch eine früh- Als letzter Redner hat der Kollege Eike Hovermann zeitige Vergabe von Mitteln für neue Arbeitszeitmodelle von der SPD-Fraktion das Wort. denn erreicht werden könnte, lässt die Augen vor den ei- genen strukturellen Problemen verschließen, die wir vor- Eike Hovermann (SPD): haben zu lösen. Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) glaube nicht, dass wir allein mit der Fokussierung auf das Thema „Beantragte und verausgabte Mittel“ das Pro- Im Übrigen ist auch der FDP-Fraktion im Zusammen- blem im Kern treffen. Ich werde darauf, soweit dies in hang mit der Situation der Krankenhäuser doch bekannt, fünf Minuten möglich ist, noch eingehen. dass es ein Wegbrechen der dualen Finanzierung und ei- nen Investitionsstau gibt. Diese Probleme werden nicht Ich darf zunächst einmal daran erinnern, dass Klagen durch vorzeitiges Ausschütten von Geldern für Arbeits- von spanischen und deutschen Ärzten den Europäi- zeitmodelle gelöst. Die Krankenhäuser haben auch schen Gerichtshof seinerzeit völlig zu Recht veranlasst Schwierigkeiten mit den Zusatzausgaben aufgrund der haben, den Bereitschaftsdienst komplett als Arbeitszeit Erhöhung der Mehrwertsteuer. Das ist natürlich keine anzuerkennen. Das ist der Ausgangspunkt und nichts an- Frage. Das hat aber mit dem, was Sie jetzt fordern, über- (D) (B) deres. Mit diesem Urteil hat der Gerichtshof seinen Bei- haupt nichts zu tun. trag dazu geleistet, unzumutbare Belastungen von Ärz- ten, die oft zulasten der Versorgungsqualität und damit (Beifall bei der SPD) natürlich auch zulasten der Lebensqualität der Patienten Ebenso ist sicherlich bekannt, dass die kommenden gegangen sind, zu beenden. Insofern war das Urteil gut Tarifabschlüsse zu Belastungen führen werden. Herr und richtig und auch sinnvoll hinsichtlich erster Schritte Spieth, zusätzliche Ausgaben müssen aber im System er- zum Abbau von Frustrationen bei vielen Ärzten und von wirtschaftet werden können. Man kann jetzt nicht sagen: oftmals teamfeindlichen hierarchischen Strukturen. Das Wenn wir die Vergabe der Gelder für die Arbeitszeitmo- war alles Gegenstand der Urteils und der Untersuchun- delle vorzögen, wäre das Problem sozusagen en passant gen des Europäischen Gerichtshofes. gelöst. Das glaube ich nicht; denn das entscheidende Problem – – Natürlich – jetzt komme ich zum Kern – bereitete und bereitet die Umsetzung des Urteils Schwierigkeiten. Die Kernprobleme waren überwiegend finanzieller Natur. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Hovermann, ich möchte Sie ungern un- Um die Umsetzung der europäischen Arbeitszeitvorga- terbrechen; aber der Kollege Terpe würde Ihnen gerne ben in den Krankenhäusern zu unterstützen, stellt die eine Zwischenfrage stellen. Bundesregierung, wie schon so oft gesagt, 700 Millionen Euro bis 2009 in jährlichen Tranchen zur Verfügung. Die Eike Hovermann (SPD): FDP will nun, dass diese Gelder vorzeitig ausgeschüttet Darf ich meinen Gedanken noch zu Ende führen? werden. Diese Zielvorstellung lehnen wir ab. Die Gründe für diese Ablehnung sind unter anderem folgende: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Anhörung zu unserem Arbeitszeitmodell – von Bitte schön. Ihnen beantragt; Sie erinnern sich – hat gezeigt, dass (Heiterkeit) auch unerwünschte Mitnahmeeffekte auftreten können, sprich: ein zweckentfremdeter Einsatz von Mitteln. Un- ter dem finanziellen Druck, unter dem viele Kliniken Eike Hovermann (SPD): stehen, ist das so. Neben den zu erwartenden Belastungen durch kom- mende Tarifabschlüsse ist vor allem das folgende ent- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Woher kommt scheidende Problem bekannt – Herr Spieth, die vorzei- der Druck?) tige Vergabe von Geldern hat nichts damit zu tun; sie löst 9240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Eike Hovermann (A) das Problem nicht –: die Schere zwischen dem Anstieg die kleinen und mittleren Krankenhäuser gar kein Geld (C) der Grundlohnsumme auf der einen Seite, der im Jahre anfordern: Sie hatten gar nicht die Möglichkeit, das mit 2007 wahrscheinlich bei 0,2 bis 0,3 Prozent liegen wird, ihrem Personal umzusetzen. und dem Anstieg der Kosten auf der anderen Seite, der bei 3 bis 3,5 Prozent liegen wird. Das ist die eigentliche (Dr. Karl Addicks [FDP]: Sehr gute Frage!) Problematik, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt bin ich auf die Eike Hovermann (SPD): Lösung gespannt, Herr Hovermann!) Zuerst möchte ich sagen: Ich bin kein Arzt; ich werde aber andauernd in diese Berufsgruppe eingeordnet bzw. angesichts deren die Umsetzung von Arbeitszeitmodellen promoviert. Mit der Zeit lernt man, damit umzugehen. natürlich Schwierigkeiten bereitet, insbesondere – das ist gar keine Frage – bei kleineren Krankenhäusern. Zu glau- Natürlich trifft die Erfahrung, die Sie gemacht haben, ben, diese strukturellen, finanziellen Probleme könnten zu. Wenn Sie generell von kleinen und mittleren Kran- gelöst werden, indem man jetzt abrupt Zahlungen vor- kenhäusern sprechen, stimmt das nicht ganz – da muss zieht – – man schon sehr genau hinschauen –; denn es gibt Spezialkrankenhäuser, die damit sehr gut zurechtkom- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Was ist Ihr Lö- men. Ich nehme aber Ihren Gedanken auf. Die Realität sungsvorschlag, Herr Hovermann?) bei der Versorgung sieht so aus, dass die kleineren Kran- – Sie können mir eine Zwischenfrage stellen; dann kann kenhäuser überwiegend entweder schließen oder fusio- ich darauf antworten. nieren. Es ist aber falsch, jetzt zu glauben, man könnte ihnen helfen, wenn man die Vergabe von Geldern abrupt (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) vorzieht. Vielleicht wird versucht, mithilfe der Anträge besser ins Gespräch zu kommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich habe keinen Herr Kollege Hovermann, der Kollege Terpe wollte Alternativvorschlag gehört, Herr Hovermann!) Ihnen ja eine Frage stellen. – Der Alternativvorschlag ist: Um Planungssicherheit zu erlangen, sollte man die in Tranchen zur Verfügung ge- Eike Hovermann (SPD): stellten Gelder in dem vereinbarten Zeitraum verausga- Das darf er jetzt auch. ben und dann schauen, wo in den Krankenhäusern damit neue Arbeitszeitmodelle umgesetzt worden sind und was (B) (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: davon übertragbar ist. Dies kann man eben nicht durch Bitte schön. abruptes Vorziehen erreichen. Wenn die Krankenhäuser jetzt nicht in der Lage sind, sind sie es auch in einem hal- ben Jahr nicht, wenn ein Sack Geld auf ihrem Tisch Eike Hovermann (SPD): liegt. Ich habe noch neun Sekunden, Herr Terpe. – Zum Abschluss wollte ich nur sagen: Qualität geht vor Vielen Dank. Schnelligkeit; die FDP will sehr schnell sein, wir wollen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der qualitätsbewusst arbeiten. CDU/CSU – Frank Spieth [DIE LINKE]: So (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sehr ich Sie schätze: Das ist falsch!) CDU/CSU – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das haben wir bei der Gesundheitsreform ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sehen!) Ich schließe die Aussprache.

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Ich weiß, dass nur der Präsident jetzt das Recht hätte, schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der zu sagen: Jetzt sind auch schon die neun Sekunden abge- FDP mit dem Titel „Ausgleich für neue Arbeitszeitmo- laufen. Ich möchte Ihnen, Herr Hovermann, trotzdem delle in Krankenhäusern vorziehen“. Der Ausschuss eine Frage stellen: Können Sie als Arzt meine Erfahrung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- bestätigen, dass die Umstellung von Arbeitszeitmodellen che 16/4596, den Antrag der Fraktion der FDP auf in kleineren und mittleren Krankenhäusern naturgemäß Drucksache 16/670 abzulehnen. Wer stimmt für diese schwieriger als in großen Krankenhäusern ist, die es ein- Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- facher haben, innovative Konzepte umzusetzen? gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Opposi- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Klar!) tionsfraktionen angenommen. Können Sie auch bestätigen, dass zur Umsetzung der Ar- Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: beitszeitgesetzgebung in kleinen und mittleren Kranken- häusern vor allen Dingen personalintensive Maßnahmen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ergriffen werden müssen? Aus diesem Grund konnten richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9241

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für dass Sie sich an dieser Debatte gleich zu Beginn durch (C) den Datenschutz Begeisterungsbekundungen beteiligen, Tätigkeitsbericht 2003 und 2004 des Bundes- (Jörg Tauss [SPD]: Sehen Sie! Wenn Sie so et- beauftragten für den Datenschutz was Vernünftiges sagen!) – 20. Tätigkeitsbericht – obwohl Sie sich in den letzten Wochen und Monaten rar- gemacht haben und an der gemeinsamen Entschließung – Drucksachen 15/5252, 16/4882 – überhaupt nicht beteiligt waren. Wir sind gespannt, wie Berichterstattung: Sie sich zu dieser Sache, an der Sie nicht beteiligt waren, Abgeordnete Beatrix Philipp gleich äußern werden. Wir sind, wie gesagt, ausgespro- Klaus Uwe Benneter chen positiv gestimmt. Gisela Piltz Ich möchte nicht versäumen, mich ausdrücklich bei Jan Korte den Berichterstatterinnen und Berichterstattern, bei den Silke Stokar von Neuforn Damen und Herren aus den diversen Ministerien, die bei Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der Formulierung sehr hilfreich waren, sowie bei dem Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Datenschutzbeauftragten und seinen, aber auch unseren keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die uns bei der Erstellung dieser gemeinsamen Erklärung hilfreich Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- zur Seite standen und die in der Vorbereitung sehr aktiv nerin der Kollegin Beatrix Philipp von der CDU/CSU- waren, zu bedanken. Fraktion das Wort. Im Vergleich mit den anderen Grundrechten ist der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schutz personenbezogener Daten als Recht auf infor- mationelle Selbstbestimmung mit seinen gut 24 Jahren Beatrix Philipp (CDU/CSU): ein relativ junges Grundrecht. Nicht erst seit den Terror- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Aus- angriffen vom 11. September 2001 ist der Datenschutz schuss habe ich gesagt, dass mancher Wein dadurch bes- stärker in das Bewusstsein und den Alltag der Bevölke- ser wird, dass man ihn liegen lässt. Auf einen Daten- rung gerückt. schutzbericht, der sich auf die Jahre 2003 und 2004 bezieht, trifft das allerdings überhaupt nicht zu. Ich Zahlreiche technologische Innovationen, zum Bei- möchte aber nicht verhehlen, dass unter dem Vorgänger spiel die Datenübertragung durch WLAN oder die zu- im Amt des Datenschutzbeauftragten, Herrn Dr. Jacob, kunftsträchtige RFID-Technologie, haben erheblich zur (B) sehr viel mehr Ruhe und Sachlichkeit geherrscht haben Sensibilisierung der Bevölkerung beigetragen. „Sensi- (D) und manche Auseinandersetzung, die heute stattfindet, bilisierung“ heißt: Sie sind im wahrsten Sinne des Wor- nicht stattgefunden hat. tes angerührt, von Beunruhigung bis hin zu Angst. An diesen neuen Technologien werden aber auch große Er- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE wartungen geknüpft. GRÜNEN]: Das spricht für Herrn Schaar!) Herr Bürsch, den wir freudig erregt in unserer Mitte Das ist ja auch in Ordnung. Ich kritisiere das gar nicht; begrüßen, der als Berichterstatter dabei war, lenkt Herrn ich stelle das nur fest. Tauss leider vom Zuhören ab. Darum werden wir gleich ein Problem haben, wenn Herr Tauss sich hier äußert. Bevor ich dennoch auf Herrn Schaar eingehe, möchte Das ist jedenfalls zu erwarten. ich ein Zitat vorbringen, von dem ich meine, dass es gut in diesen Zusammenhang passt: (Jörg Tauss [SPD]: Ich bin multitasking- fähig! – Gegenruf der Abg. Gisela Piltz [FDP]: Ein Kompromiss, das ist die Kunst, einen Kuchen Männer sind nicht multitaskingfähig!) so zu teilen, dass jeder meint, er habe das größte Stück bekommen. – Ich kann Frau Piltz nur zustimmen: Männer können nicht zwei Sachen gleichzeitig. Das wissen wir ja. Dieses Zitat wird Ludwig Erhard zugeschrieben. Ich weiß nicht ganz genau, ob er die Große Koalition damit (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gemeint hat. Er hätte damit aber auch die Ihnen vorlie- SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gisela gende gemeinsame Erklärung zum 20. Datenschutzbe- Piltz [FDP] – Jörg Tauss [SPD]: Ich bin durch- richt gemeint haben können. Es ist nämlich gute Tradi- gegendert bis auf die Knochen!) tion, dass sich alle Fraktionen dieses Hauses in diesem Da hier weniger Frauen als Männer vertreten sind, ist der Bereich, der eigentlich immer sehr kontrovers diskutiert Beifall reduziert. wird, auf etwas Gemeinsames einigen und das der stau- nenden Öffentlichkeit zur Kenntnis bringen. Aus der erhöhten Sensibilität ergeben sich Konse- quenzen: (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Jörg Tauss [SPD]: Lassen Sie mich einmal klat- Erstens besteht die Notwendigkeit, den Datenschutz schen! Die Stelle ist schon einen Beifall wert!) zu modernisieren. Wir haben am 5. März dieses Jahres gemeinsam eine richtig gute Anhörung durchgeführt. – Herr Tauss, ich kann nicht gerade behaupten, dass ich Sie die ganze Zeit vermisst hätte. Ich finde es aber toll, (Jörg Tauss [SPD]: Da war ich auch!) 9242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Beatrix Philipp (A) In dieser Anhörung wurden insbesondere die einge- tion und der der SPD. Wir sind uns über die exakte An- (C) schränkten Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen gegen wendung und Umsetzung noch nicht ganz einig. Aber das Datenschutzrecht, fehlendes Unrechtsbewusstsein wir sind auf einem guten Weg und geben auch da die bei vielen Unternehmen, aber auch Widersprüche hin- Hoffnung auf eine gemeinsame Lösung nicht auf. Das sichtlich bußgeldbewehrter Tatbestände als Hauptdefi- Pilotprojekt am Frankfurter Flughafen – ich erwähne es zite des geltenden Rechts benannt. So stellt zum Beispiel hier noch einmal – hat bei der Bevölkerung große Ak- die unzulässige Speicherung von Daten zwar eine Ord- zeptanz gefunden. Das darf man sicherlich sagen. nungswidrigkeit dar, das rechtswidrige Nutzen dieser Ich fasse zusammen: Die CDU/CSU-Fraktion steht Daten jedoch nicht. Deswegen fand ich es ausgespro- für einen aufgeklärten und vor allen Dingen pragmati- chen interessant – man muss der Sache sicherlich inten- schen Datenschutz, der nicht im luftleeren Raum steht, siver nachgehen –, dass der Sachverständige Professor sondern immer von Fall zu Fall hinter kollidierende Abel bei der Anhörung klar zum Ausdruck gebracht hat, Rechtsgüter zurückzutreten hat, und zwar dann, wenn dass eine Modernisierung des Datenschutzrechtes we- die Abwägung so ausgeht, wie ich es eben beschrieben der in einem großen Wurf noch durch eine Vielzahl ein- habe. Gerade heute in Anbetracht unseres sicherheitspo- zelfallbezogener Regelungen und Rechtsvorschriften ge- litischen Umfeldes, in dem zwischen innerer und äußerer lingen kann. Sicherheit nicht mehr eindeutig unterschieden werden Aber er sieht insbesondere im Bereich des Zivilrechtes kann, darf Datenschutz nicht dazu instrumentalisiert Verbesserungsmöglichkeiten, etwa durch die Konkreti- werden, sicherheitspolitisch notwendige Maßnahmen zu sierung des Wettbewerbsrechts. So hat er ausgeführt – ich blockieren. darf das in Erinnerung rufen –: Datenschutzrechtliche (Beifall bei der CDU/CSU) Verstöße und auch das Unterlassen datenschutzrechtlich erforderlicher Maßnahmen würden dann als unlauterer Wir nehmen die Sorgen der Menschen in unserem Vorsprung durch Rechtsbruch angesehen und mit dem Land ernst. Wir warnen aber davor, so wie es gestern der wettbewerbsrechtlichen Instrumentarium geahndet. Ich Berliner Datenschutzbeauftragte, Herr Dr. Dix, wieder glaube, dass diese Sichtweise sehr interessant ist. Wir einmal bei der Vorstellung seines Jahresberichts getan sollten etwas intensiver darüber nachdenken. hat, davon zu sprechen, dass wir vor einer Überwa- chungs- und Präventionsgesellschaft stehen. Das ist si- Zweitens. Eine weitere Forderung ist die nach einem cherlich nicht hilfreich, wenn man einen sinnvollen Da- Datenschutzaudit nach § 9 a des Bundesdatenschutzge- tenschutz will. setzes. Da stehen wir trotz heftiger Bedenken vor der Beschlussfassung. Natürlich folgen wir der guten parla- Ich hoffe für die Zukunft darauf, dass wir bei dem neuen, eigentlich schon auf dem Tisch liegenden Daten- (B) mentarischen Gepflogenheit, die Konsequenzen nach ei- (D) nem Beschluss mitzutragen. schutzbericht für die beiden folgenden Jahre ebenfalls zu einer sachlichen Diskussion über dieses Thema gelan- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] und der gen. Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Gisela Piltz [FDP]: Vielen Dank. Warum hat die SPD das in zwei Legislaturpe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rioden nicht hinbekommen?) neten der SPD und der Abg. Silke Stokar von Denn wir haben uns darauf geeinigt, dass es in jedem Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Fall freiwillig sein wird. Es soll auch unbürokratisch sein. Diese beiden Bedingungen waren für uns ausrei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chend, um dem Kompromiss zuzustimmen. Keinesfalls Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Piltz von der darf es zu einer indirekten Benachteiligung von kleinen FDP-Fraktion. und mittleren Unternehmen kommen. Natürlich darf es auch nicht von der Finanzkraft eines Unternehmens ab- Gisela Piltz (FDP): hängen. Hier wird es auf die Kreativität aller Beteiligten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Un- ankommen. gefähr alle zwei Jahre, wenn nicht gerade eine Neuwahl Drittens. Ein gemeinsamer Standpunkt zum Thema des Bundestages dazwischenkommt, befassen wir uns RFID. Hier gilt es, wie im Datenschutz insgesamt die hier fraktionsübergreifend mit dem Datenschutz. Ich Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Deswe- finde es gut, dass es auch in diesem Jahr zu einer Fortset- gen haben wir in die Ihnen vorliegende gemeinsame Ent- zung der schon von Frau Philipp angesprochenen Tradi- schließung einige Bedingungen geschrieben. tion gekommen ist: Wir haben eine fraktionsübergreifende Erklärung zum 20. Bericht des Datenschutzbeauftragten. Bei aller Gemeinsamkeit gibt es, wie bereits erwähnt, Ebenso wie Frau Philipp möchte ich mich zunächst nach wie vor gravierende Unterschiede beim Daten- bei meinen Kolleginnen und Kollegen bedanken, insbe- schutz, insbesondere in sicherheitspolitischen Fragen. sondere bei Ihnen, Herr Bürsch. Dass Sie heute nicht zu Ich nenne nur das Thema Biometrie. Diese Technologie diesem Thema sprechen, finde ich schade, weil Sie Teil hat bereits in Deutschland Einzug gehalten und Anwen- des Ganzen waren; dung gefunden. Ich denke zum Beispiel an Frankfurt, aber auch an heute Morgen und die zurückliegenden (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Da bin ich doch Diskussionen zwischen der CDU/CSU-Bundestagsfrak- großzügig!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9243

Gisela Piltz (A) auch das muss man einmal sagen. Ich möchte mich auch dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich kann mich erin- (C) bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie bei nern, dass das, als ich Anfang 2004 eine diesbezügliche denen der Ministerien bedanken, auch wenn sie man- Anfrage gestellt habe, noch ganz anders war. Daher ches, was wir gerne gehabt hätten, fleißig verhindert ha- möchte ich loben, dass bei Ihnen ein Erkenntnisgewinn ben. Ganz besonders bedanke ich mich beim Bundesbe- erfolgt ist. auftragten für den Datenschutz, Ich freue mich vor allem darüber, dass wir offensicht- (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN lich auf dem richtigen Weg sind, wenn es darum geht, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie den Datenschutz zu modernisieren. Aus meiner Sicht hat bei Abgeordneten der CDU/CSU) eine wirklich eindrucksvolle Anhörung stattgefunden, auf die Frau Kollegin Philipp bereits Bezug genommen der auf der Tribüne sitzt und uns zuhört, und bei seinen hat. Diese Anhörung hat gezeigt, dass wir von einem Mitarbeitern. Herzlichen Dank für Ihre Arbeit! maßnahmeorientierten zu einem zielorientierten Daten- Am vorliegenden Beschluss wird deutlich, dass der schutz kommen müssen. Das wird eine Aufgabe aller Datenschutz ein Thema ist, zu dem sich das Parlament Fraktionen sein. Ich nehme die Einladung, die Beatrix die Informationen, die es erhalten möchte, erkämpfen Philipp im Ausschuss geäußert hat, ideologiefrei über muss. Wenn wir nur darauf warten, dass uns die Regie- die Modernisierung des Datenschutzes zu diskutieren, rung etwas vorlegt, dauert das in der Regel lange. im Namen meiner Fraktion gerne an. Wir sind dazu in der Lage. Wenn es etwas nützt, helfen wir gerne. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Leider sehr richtig!) Leider gibt es aber auch Themen, die uns fehlen, zum Beispiel das bereits angesprochene Thema Biometrie. Es wurden eine Menge positiver Aspekte erwähnt. Wir wollten dafür sorgen, dass biometrische Daten nur Von Bedeutung sind aber auch die Forderungen nach ei- erhoben und verwendet werden, wenn dies erforderlich, nem Datenschutzaudit und einem Arbeitnehmerdaten- sinnvoll und verhältnismäßig ist und wenn Maßnahmen schutzgesetz, die leider schon zum wiederholten Male zum Schutz vor Missbrauch getroffen werden. Das ist von uns erhoben werden mussten. Herr Tauss, zu der Be- bei der Gesetzgebung eigentlich eine Selbstverständlich- merkung, die Sie eben gemacht haben, möchte ich Ihnen keit. Der Text, den wir zu diesem Zweck formuliert ha- sagen: Sie regieren jetzt schon in der dritten Legislatur- ben, war relativ harmlos. Da Sie – vor allen Dingen auf periode in Folge. Es ist wirklich ein Armutszeugnis, das Druck des BMI – nicht einmal wollten, dass dieser Text Sie das noch nicht hinbekommen haben; das habe ich in unserem Beschluss enthalten ist, habe ich die Be- auch schon im Ausschuss gesagt. Die Grünen haben das fürchtung, dass Sie, wenn es um die Einführung des Datenschutzauditgesetz bestimmt nicht verhindert. Ich elektronischen Personalausweises geht, hinter diesen (B) hoffe, dass Sie sich jetzt einmal an das halten, was Sie (D) Zielen zurückbleiben. Wir werden sehr genau verfolgen, hier großspurig verkünden. ob dem wirklich so ist. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Darüber hinaus fehlt uns eine gemeinsame Entschlie- GRÜNEN] – Jörg Tauss [SPD]: Ja, ja!) ßung zur Kontenabfrage. In der letzten Entschließung war dieses Thema noch enthalten. Es ist schade, dass wir Wir haben zu SWIFT, zur Übermittlung von Fluggast- uns hier nicht einigen konnten. Das ist für den Daten- daten, zur Genomanalyse und zur Gesundheitskarte eine schutz ein trauriges Kapitel. Position gefunden. Mehr wäre sicherlich gut gewesen. Aber das, was wir hier erreicht haben, ist für den Daten- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Völlig schutz besser als nichts. richtig!) Besonders hervorheben möchte ich folgende Punkte: Ursprünglich ging es einmal um Terrorbekämpfung. Wir fordern gemeinsam als Parlament, in der dritten Jetzt geht es darum, Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Säule der EU einen hohen und harmonisierten Daten- Mir wurde erzählt – daran kann ich mich noch sehr ge- schutzstandard zu verwirklichen. Darüber hinaus for- nau erinnern –, dass die jetzige Staatssekretärin im Bun- dert das Parlament die Bundesregierung auf, dieses desfinanzministerium, als es im Vermittlungsausschuss Thema noch während ihrer EU-Ratspräsidentschaft zu um das Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit ging, einem Ende zu bringen. Ich wünsche Ihnen viel Glück gesagt hat, dass die Abfrage der Kontenstammdaten ab dabei, über die – wie hieß es in einer Ihrer Vorlagen so dem Moment, in dem es eine Abgeltungsteuer gibt, ent- schön? – politische Orientierungsdebatte hinauszukom- fällt. Meine Damen und Herren, an dieses Versprechen men und einen Beschluss zu fassen, der uns allen etwas werden wir Sie immer wieder erinnern. Das ist das bringt. Schicksal, das viele Gesetze teilen: Sie werden für die Terrorabwehr gemacht und treffen schließlich jeden. Das (Beifall bei Abgeordneten der FDP) ist etwas, was wir als Datenschützer immer im Blick ha- Interessant ist auch, dass Sie es geschafft haben, die ben müssen. RFID-Technologie zu erwähnen. Sie stellt nämlich eine Es gibt beim Datenschutz noch viel zu tun. Wir wer- neue Dimension für den Datenschutz dar, weil sie es er- den uns daran beteiligen; denn der Datenschutz ist die möglicht, aus diesem Chip Daten zu lesen, ohne dass gemeinsame Aufgabe des Parlamentes. man davon etwas bemerkt. Es ist ein erfreulicher Fort- schritt, dass die Regierungsfraktionen erkannt haben, Herzlichen Dank. 9244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Gisela Piltz (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten wir in Fragen des Datenschutzes möglicherweise (C) der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- eine noch fortschrittlichere Situation im Lande. SES 90/DIE GRÜNEN) (Gisela Piltz [FDP]: Es gibt Farbenspiele, die mag ich mir gar nicht vorstellen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aber jetzt haben wir einen neuen, liebenswerten Koali- Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg Tauss von der tionspartner, mit dem wir uns auch bemühen, zu entspre- SPD-Fraktion. chenden Regelungen zu kommen.

Jörg Tauss (SPD): (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Koalitionskrise!) Herr Präsident! Hochverehrte Kollegin Philipp, man hat mir in unseren gemeinsamen Besprechungen immer – Ach was, überhaupt nicht. Die sind ganz happy, mit wieder signalisiert, es würde Sie eher irritieren, wenn ich uns zusammenarbeiten zu dürfen. Die Kollegin Philipp teilnähme. Dass Sie mich derart vermissen, hätte ich ist ja ein lebender Beweis dafür. Was haben wir uns frü- nicht gedacht. Aber ich freue mich sehr darüber. Ich her nicht immer gekabbelt! Heute klatsche ich für Sie werde das nächste Mal wieder verstärkt persönlich prä- schon als Erster, noch bevor ihre eigenen Fraktionskolle- sent sein und nicht nur in Gestalt meines Mitarbeiters da- ginnen und -kollegen klatschen. ran mitwirken. Also, ich bin zufrieden mit dieser Entschließung und Dem lieben Kollegen Bürsch, der die Hauptarbeit ge- bedanke mich bei allen, die an ihrer Erarbeitung beteiligt macht hat, möchte ich dafür recht herzlich danken. waren. (Ralf Göbel [CDU/CSU]: Er ist ja Berichter- Ich will für die SPD-Fraktion feststellen, dass Daten- statter!) schutz für uns unabdingbarer Grundrechtsschutz ist. Er ist im Zeitalter der Informationsgesellschaft eine unver- – Er ist hier Berichterstatter, selbstverständlich. zichtbare Bedingung für das Funktionieren jeglichen de- mokratischen Gemeinwesens. Er ist kein lästiges An- Ich koordiniere für meine Fraktion die unterschiedli- hängsel, er ist keine überflüssige Bürokratie, er ist chen Bereiche des Datenschutzes, übrigens auch den Ge- Voraussetzung dafür, dass auch in der Informationsgesell- sundheitsdatenschutz. Wir haben viele Themen, an de- schaft das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nen wir gemeinsam arbeiten. – ein Grundrecht, wie uns das Bundesverfassungsgericht (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE in vielen Entscheidungen immer wieder ausdrücklich be- stätigt hat; dafür sind wir an dieser Stelle außerordent- (B) GRÜNEN]: Tauss redet, Bürsch handelt (D) nicht!) lich dankbar – durchgesetzt werden kann. Frau Kollegin Piltz, Sie kritisieren, dass wir in der (Beifall des Abg. [Heidelberg] letzten Legislaturperiode und auch bis jetzt kein Daten- [SPD]) schutzauditgesetz vorgelegt haben. Kollegin Stokar Zu Recht hat Herr Schaar – Herr Schaar, ich freue und ich waren darüber nicht sehr glücklich. Doch wir mich, dass Sie hier sind – die Gefährdungspotenziale haben den Reformprozess auf drei Teile ausgelegt – in und Risiken, über die wir uns unterhalten müssen, kon- dieser Kontinuität stehen wir – und gesagt: Als Erstes kret benannt: Die RFIDs, die Funkchips, die an verschie- muss – das ist völlig klar – die Datenschutzrichtlinie denen Stellen zum Einsatz kommen, bieten natürlich umgesetzt werden. Da haben wir bewusst reingeschrie- neue Möglichkeiten zur Erstellung personenbezogener ben – übrigens auch gegen manchen Widerstand –, dass Verhaltens-, Nutzungs- oder gar Bewegungsprofile. Wir wir ein Datenschutzaudit wollen. Dann kam das Infor- können so etwas aber verhindern, wir können Technik mationsfreiheitsgesetz. Wir haben uns damit Zeit gelas- datenschutzrechtlich gestalten. Dafür brauchen wir aller- sen, und es ist ein gutes Gesetz, ein gründliches Gesetz dings gesellschaftspolitische Akzeptanz. geworden. Das deutsche Datenschutzrecht – das hat auch die An- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE hörung vor einigen Wochen deutlich gemacht – hat Vor- GRÜNEN]: Na ja, ich hätte das schneller ge- bildfunktion für viele Staaten der Welt. Aber es ist an konnt!) vielen Stellen in die Jahre gekommen: Wir kommen kaum hinterher, die technischen Entwicklungen gesetz- Die dritte Stufe kam dann nicht wegen der Bundestags- geberisch aufzugreifen. Diese zunehmende Konvergenz wahl. Ich freue mich sehr, dass wir uns nach dem, was der Technik auch im Datenschutz muss uns herausfor- die Kollegin Philipp hier vorgetragen hat, jetzt mit unse- dern. Wir müssen das Datenschutzrecht modernisieren rem neuen Koalitionspartner diesem Projekt zuwenden und fortentwickeln und hierbei – da stimme ich Ihnen, können. liebe Kollegin Philipp, völlig zu – zu unbürokratischen und effizienten Instrumenten kommen. Auch ich begrüße sehr, dass wir uns in 13 – nicht nur in wichtigen – Bereichen des Datenschutzes auf eine ge- Ein solches modernes und effizientes Datenschutz- meinsame Position einigen konnten. Kollegin Piltz, ich recht ist ein wirtschaftlicher Standortvorteil. Es geht hätte mir ebenfalls an anderer Stelle eine deutliche Posi- hier nicht nur darum, dem Datenschutz gegenüber den tionierung gewünscht. Sagen wir einmal so: Wenn Herr Bürgerinnen und Bürgern als Grundrecht zum Durch- Westerwelle Rot-Gelb-Grün nicht verhindert hätte, hät- bruch zu verhelfen, sondern es ist, wie gesagt, als Instru- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9245

Jörg Tauss (A) ment auch ein Standortvorteil. Das ziert Deutschland schen Untersuchungen für medizinische Zwecke im Ver- (C) übrigens. Wir kritisieren ja oft, dass der Sicher- sicherungsbereich und im Arbeitsleben, Frau Kollegin. heitsbegriff – Risikokapital und Ähnliches – bei uns et- was desavouiert ist. Die Sicherheit, die bei uns auch kul- Ich sage dies in aller Deutlichkeit: Ich war gegenüber turell verankert und ein Grundbedürfnis der Bevölke- einem Arbeitnehmerdatenschutzgesetz immer skep- rung ist, können wir auch zu einem Wettbewerbsvorteil tisch. Ich habe mir immer gewünscht, dass der Daten- machen, nämlich über die IT-Sicherheit als der anderen schutz nicht immer mehr in Sonderbereiche zersplittert. Seite der Medaille des Datenschutzes. Diese Chance Darüber kann man aber in der Tat reden. Richtig ist al- sollten wir auch ökonomisch nutzen. Ein Instrument da- lerdings die Feststellung, dass gerade genetische Unter- für kann ein Datenschutzaudit sein, wie es in § 9 a des suchungen für medizinische Zwecke zu erheblichen Pro- Bundesdatenschutzgesetzes vorgesehen ist. blemen führen können. Dieses Thema sollte uns beschäftigen. Wenn wir hier die Gemeinsamkeit so fin- Herr Staatssekretär, wir haben kürzlich in einer Be- den wie in dem anderen Bereich auch, finde ich das gut. sprechung eine erste Runde veranstaltet. Liebe Kollegin Piltz, insofern kann ich Sie beruhigen: Wir sind nicht nur Die biometrischen Verfahren sind angesprochen wor- untereinander im Gespräch. den. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass die Biometrie für mich keine Sache von Übel ist. Sie ist für mich aber (Gisela Piltz [FDP]: Sie können mich gar nicht auch nicht so, wie das gelegentlich dargestellt wird: beruhigen!) Wenn wir die Biometrie in allen möglichen Ausweisen – Ich kann Sie jederzeit beruhigen, überhaupt kein Pro- haben, bricht ein – was weiß ich – sicherheitspolitisches blem; fühlen Sie sich völlig entspannt. – Wir haben diese Paradies aus. Damit können auch erhebliche Probleme Frage in einer sehr entspannten Sitzung mit dem Herrn verbunden sein. Spätestens dann, wenn es um den Perso- Staatssekretär erörtert. In der Tat haben wir gesagt, dass nalausweis geht – ich glaube, auch beim Pass –, werden wir jetzt die Gespräche mit der Wirtschaft und den Wirt- wir darüber natürlich nochmals reden müssen. Die Bio- schaftsverbänden führen wollen, um auszuloten, wo de- metrie muss Sinn machen und natürlich muss dabei ren Interessen liegen. – wie bei anderen Dingen auch – der informationellen Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger Rech- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Intelli- nung getragen werden. genter Ansatz!) Das gilt übrigens auch für die Vorratsdatenspeiche- Es ist völlig klar – ich kann es nur noch einmal rung, der wir uns im Bundestag bereits mit einem An- betonen –: Wir wollen ein auf dem Prinzip der Freiwil- trag zugewandt haben. Ich nehme das, was die Daten- ligkeit beruhendes Datenschutzaudit. Sonst hätten wir ja schutzbeauftragten hier vorgetragen haben, sehr ernst. (B) auch keinen Wettbewerbsvorteil. Es würde keinen Sinn Es kommt natürlich darauf an, dass wir uns auch für die- (D) machen, wenn man das zu einer Zwangsmaßnahme ma- sen Bereich überlegen, wo möglicherweise ein zusätzli- chen würde. Wir wollen den Wettbewerb hier in den ches Risiko für den Datenschutz entstehen kann, dem Mittelpunkt stellen. kein Gewinn an innerer Sicherheit auch nur annähernd Dass es immer mehr Firmen gibt, die davon überzeugt entgegensteht. sind, zeigt das jüngste Beispiel, das mich sehr überrascht Wir als SPD-Bundestagsfraktion stellen uns selbst- hat. Ich habe hier oft genug auf Microsoft herumgehackt verständlich der Verantwortung für eine wirkungsvolle und sogar einmal gesagt, der Deutsche Bundestag solle Kriminalitätsbekämpfung. Das ist überhaupt gar keine eine Microsoft-freie Zone werden. Frage. Gerade auch hier im parlamentarischen Verfahren (Beifall bei der LINKEN) muss es aber zu einem sachgerechten Interessenaus- gleich zwischen den Freiheitsrechten der Bürgerinnen – Sie verwenden auch nicht in jedem Bezirk die richtige und Bürger und dem Interesse an einer effektiven Straf- Software; das ist jetzt aber nicht mein Punkt. – Ich be- verfolgung kommen. grüße es ausdrücklich, dass sich die Firma Microsoft – um einmal eine Firma zu nennen – diesem Auditierungsver- Datenschutz ist kein Thema, das unter ferner liefen zu fahren in Schleswig-Holstein unterzogen hat. Das ist eine behandeln ist. Er ist ein Bürgerrecht und stellt einen wirklich erfreuliche Entwicklung. Standortvorteil dar. Insofern sage ich denjenigen herzli- chen Dank, die am Datenschutzbericht und an der Ent- (Gisela Piltz [FDP]: Aber nicht das ganze Un- schließung dazu mitgewirkt haben. Ich bin sicher, dass ternehmen dort!) gemeinsam mit dem Datenschutzbeauftragten auch von Wie gesagt: Das ist eine Chance für den Datenschutz diesem Parlament weitere Impulse für den Datenschutz und für diese Fortentwicklung. in Deutschland ausgehen werden, Herr Schaar. Lassen Sie mich dies als Forschungspolitiker sagen: Wenn dies fraktionsübergreifend und mit der Zustim- Es gibt natürlich auch noch eine Reihe anderer Punkte mung der Kollegin Philipp, über die ich mich immer beim technologischen und wissenschaftlichen Fort- freue, erfolgt, dann werden wir auch für die Bürger- schritt, die wir betrachten müssen. Ich spreche jetzt die rechte in diesem Bereich etwas bewirken. molekulargenetische Forschung an, die ja auch im Be- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. richt des Datenschutzbeauftragten eine wichtige Rolle spielt. Hier gibt es Chancen, aber auch Möglichkeiten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Missbrauchs und Risiken, gerade auch bei geneti- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 9246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen nicht mehr souverän entscheiden. Das gefährdet die (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Jan Korte von der Substanz der Demokratie. Deswegen ist das ein wichtiges Fraktion Die Linke. Thema. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Winkelmeier [fraktionslos]) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Jan Korte (DIE LINKE): Jörg Tauss [SPD]: Vor allem gehen die Krimi- nellen woanders hin!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wir von der Linksfraktion danken Peter Schaar und – Dass die Kriminellen woanders hingehen – wie man in seinem Team für den vorgelegten Bericht. Großbritannien studieren kann –, kommt noch hinzu. Problematisch ist, dass unsere Diskussion zwei Jahre Viele Formulierungen in der Entschließung sind rela- zu spät kommt. Denn wenn wir zum Beispiel die Auslas- tiv vage gehalten. Dabei hat das BMI sehr großen Ein- sungen im Datenschutzbericht zum Thema Antiterrorda- fluss genommen; zwar nicht unbedingt zu ihrem Vorteil, tei und Trennung von Polizei und Geheimdiensten aber das ist nicht zu ändern. Trotzdem haben wir damit ausführlich gelesen und bestenfalls logische Schlussfol- eine tragfähige Basis. gerungen gezogen hätten, dann hätten wir das Anti-Ter- ror-Datei-Gesetz nicht in der geltenden Fassung verab- Die Union hätte es vielleicht in der Tradition des schiedet. Das muss in Zukunft schneller gehen. Merz’schen Steuerkonzepts lieber gesehen, das Vorha- ben auf Bierdeckelgröße einzudampfen. Aber wir haben (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert gut gestritten, und dabei ist ein guter Kompromiss he- Winkelmeier [fraktionslos]) rausgekommen. Trotzdem glaube ich, dass wir uns zur- Umso erfreulicher ist – darin schließe ich mich dem zeit in der gesellschaftlichen Situation befinden, dass der Dank und dem Lob an –, dass wir es geschafft haben, allwissende Staat langsam, aber sicher zur Realität wird heute mit allen Fraktionen gemeinsam eine Entschlie- und dass es ein völlig unhaltbares Sicherheitsverspre- ßung einzubringen, in der – das freut gerade die Links- chen vonseiten der Bundesregierung und des Innenmi- fraktion – an vorderer Stelle der Arbeitnehmerdaten- nisteriums gibt, das nicht zu rechtfertigen und im Übri- schutz eingefordert wird. Das ist gut und bedeutet vor gen auch nicht haltbar ist. allem die politische Unterstützung der Arbeit des Daten- schutzbeauftragten. Deshalb hält es meine Fraktion für Bei allen von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen gibt sinnvoll, diese Entschließung mitzutragen. es Begehrlichkeiten, die sich eben nicht nur gegen Terro- (B) rismus oder organisierte Kriminalität richten. Kulturpoli- (D) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie tiker der Union wollen mit der Vorratsdatenspeicherung des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Teenager beim Musik-Download stellen. Mautdaten sol- len für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten zweck- Spätestens seit dem Volkszählungsurteil ist das infor- entfremdet werden. Mit der Bankkontenauskunft werden mationelle Selbstbestimmungsrecht ein Grundrecht, nicht etwa mafiöse Strukturen bekämpft, wie sie zum Bei- auf das sich der Datenschutzbeauftragte und viele an- spiel derzeit bei Siemens sichtbar werden; vielmehr soll dere, auch zivilgesellschaftliche, Organisationen in die- damit Studenten nachspioniert werden, die vielleicht sem Bereich berufen. 27 Euro BAföG zu viel kassiert haben. Das ist der falsche Wir müssen uns in der heutigen Debatte auch fragen, Weg, und es macht die gesellschaftspolitische Dimension in welcher gesellschaftspolitischen Situation wir über das deutlich. Thema diskutieren. Wir haben fast wöchentlich darüber Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Der Daten- debattiert und können konstatieren, dass es offenbar einen schutz hat auch eine soziale Dimension. wachsenden Datenhunger von Staat und Wirtschaft gibt. Ich nenne nur die Stichworte Onlinedurchsuchungen, An- Denn wer von morgens bis abends damit beschäftigt titerrordatei und Vorratsdatenspeicherung. Der Daten- ist, über die Runden zu kommen, ist nicht mündig und schutz muss intensiver diskutiert werden. Er muss das souverän, ein Recht wie auf Datenschutz und informa- Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ver- tionelle Selbstbestimmtheit in Anspruch zu nehmen. teidigen und schützen. Deswegen hat das Thema Datenschutz auch eine soziale Lassen Sie mich mit einem konkreten Beispiel verdeut- Komponente. Wir wollen mündige Bürger, die einen lichen, was ich mit gesellschaftspolitischer Dimension aufrechten Gang gehen. meine. In Stade – auch dazu finden Sie im Tätigkeitsbericht Schönen Dank. des Datenschutzbeauftragten einiges – überwachen mitt- lerweile mehr als 300 Videokameras zwei Straßenzüge (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert und filmen mittlerweile bis in die Wohnzimmer hinein. Winkelmeier [fraktionslos]) Das hat auch etwas mit der Alltagsarbeit von Datenschüt- zern zu tun. Denn das hat auch Folgen für die Demokratie. Wo Menschen ständig flächendeckend überwacht werden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – sei es mit Videokameras oder Onlinedurchsuchungen, Das Wort hat jetzt der fraktionslose Kollege Gert was auch immer –, sind sie nicht mehr souverän und kön- Winkelmeier. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9247

(A) Gert Winkelmeier (fraktionslos): Eigentlich hatte das Bundesverfassungsgericht in sei- (C) Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es nem Volkszählungsurteil von 1983 die systematische, ist erfreulich, dass sich die Fraktionen zumindest in eini- maschinell gestützte Durchleuchtung der Bevölkerung gen Punkten auf gemeinsame Forderungen zum Daten- verboten. Nur will sich daran seit dem 11. Septem- schutz verständigen konnten. ber 2001 niemand mehr so recht erinnern. Im seither herrschenden Sicherheitswahn bleiben die Bürgerrechte (Jörg Tauss [SPD]: 13!) zunehmend auf der Strecke. Auch deshalb möchte ich Aber selbstverständlich kommt sofort die Frage auf, noch einmal an das erinnern, was Peter Schaar in einem in welchen Punkten die Differenzen zu finden sind. Wir Interview mit der „Berliner Zeitung“ im vergangenen haben hier in den letzten Monaten sehr oft über Themen Jahr prophezeite: im Datenschutz gestritten. Da ließen sich mehr Unter- Ich erkenne zwar keine bewusste Planung zur Ein- schiede als Gemeinsamkeiten entdecken. führung eines Überwachungsstaates. … Wir sind Ich erinnere an die Debatte zur Antiterrordatei, von aber auf dem Weg in eine Überwachungsgesell- der immer noch viele meinen, dass sie verfassungswid- schaft. rig ist. Vermutlich wird es dem Gesetz zur zentralen Und genau dies gilt es zu verhindern. Antiterrordatei genauso ergehen wie dem Gesetz zum großen Lauschangriff und dem Luftsicherheitsgesetz. Vielen Dank. Ich erinnere auch an die Debatte zu den biometri- (Beifall bei der LINKEN) schen Reisepässen. Obwohl Sicherheitsexperten, Com- puterfreaks und Bürgerrechtler schon im Vorfeld auf er- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hebliche Risiken hingewiesen hatten, wurden die ersten Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Pässe im November 2005 ausgegeben. Die Warnung des hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von Neuforn von der obersten Datenschützers dieses Landes, Peter Schaar, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort. der mahnte, Sorgfalt müsse vor Schnelligkeit gehen, wurde nicht gehört. Nun haben sich die RFID-Chips in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Pässen als keineswegs sicher erwiesen. Jetzt muss dieser Schnellschussschaden im Nachhinein behoben Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE werden. GRÜNEN): Um noch ein wenig bei der Biometrie zu bleiben: Im Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Mainzer Hauptbahnhof wurde im Herbst letzten Jahres (B) schön, dass sich alle Fraktionen erneut auf eine gemein- (D) ein Pilotprojekt zur Erprobung biometrischer Gesichts- same Entschließung zum Datenschutzbericht verständigt erkennung gestartet. Das sogenannte Mainzer Modell haben. Das ist gute Tradition des Parlaments. Ich be- ist noch ein Testversuch. Sollte es gelingen, dann werden danke mich bei allen, die daran mitgewirkt haben. Mein bald alle Personen, die sich in der Öffentlichkeit aufhal- besonderer Dank geht an Peter Schaar und sein Haus. ten, vollständig kontrolliert werden können. Dabei ist die Debatte über die Beschränkung von Biometrieeinsätzen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- noch nicht einmal ansatzweise geführt. SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN) (Jörg Tauss [SPD]: Wir haben hierzu sogar eine Technikfolgenabschätzung durchgeführt!) Ich finde es allerdings weniger erfreulich, dass die ge- meinsame Entschließung zum letzten Datenschutzbe- – Noch nicht einmal ansatzweise in der Öffentlich- richt, die wir mit einstimmigem Votum des Parlaments keit, Herr Tauss. verabschiedet haben, nahezu folgenlos blieb. Es wäre Vor kurzem ging es im Bundestag um die Weitergabe gut, wenn die Bundesregierung nicht nur auf ihrer Bank von Fluggastdaten. Morgen reden wir über die Telekom- säße und mitschriebe, sondern im Parlament einmal deutlich machte, warum einstimmig gefasste Beschlüsse munikationsüberwachung, und im Dezember haben wir über die Onlinedurchsuchungen debattiert. Zwar hat der missachtet werden. Ich mache mir die Arbeit mit dem Bundesgerichtshof inzwischen entschieden, dass diese Datenschutz doch nicht umsonst. Wir haben uns nach wochenlangen und intensiven Diskussionen auf Punkte mit der Strafprozessordnung nicht vereinbar sind. verständigt. Wir gehen davon aus, dass das, was wir an (Jörg Tauss [SPD]: Gute Entscheidung!) die Bundesregierung weitergeben, von ihr nicht nur ab- geheftet wird. Aber der Bundesinnenminister bastelt bereits halböf- fentlich an einer gesetzlichen Grundlage für seine Bun- (Jörg Tauss [SPD]: Sehen Sie, der Staatssekre- destrojaner. tär nickt begeistert!) Die Aufzählung der datenschutzrelevanten Debatten Wir müssen uns allerdings ein Stück weit an die ei- im Bundestag offenbart die stetig steigende staatliche gene Nase fassen. Wir, das Parlament, sind schließlich Datensammelwut. Der Drang zur Rundumbespitzelung der Gesetzgeber. Wir haben oft genug die Erfahrung ge- ist spürbar. Nur leider werden die Rufer in der Wüste macht, dass jede Regierung ein Hemmnis für die Moder- – wie es der Datenschutzbeauftragte der Bundesregie- nisierung des Datenschutzrechtes ist. Warum handeln rung ist – viel zu selten gehört. wir nicht? Die Antwort auf den passiven Widerstand der 9248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Silke Stokar von Neuforn (A) Regierung kann doch nur das aktive Handeln des Parla- sungsgericht kassiert werden. Irgendwann sollten wir (C) mentes sein. daraus die Konsequenzen ziehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir haben erfolgreich das Informationsfreiheitsgesetz Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin. gegen alle Widerstände aus den Ministerien auf den Weg gebracht. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam einen vernünf- tigen Entwurf eines Datenschutzauditgesetzes erarbeiten Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE und nicht länger darauf warten, dass irgendwann einmal GRÜNEN): ein Gesetzentwurf aus dem BMI kommt. Ich warte da- Unsere Aufgabe sind die Wahrung des Grundrechts- rauf bereits seit drei Jahren. Es ist genug Zeit vergangen. schutzes und die Achtung der Verfassung bei der Gesetz- gebung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Michael Bürsch [SPD]: So wenig?) Danke schön. Wir müssen allerdings erkennen, dass der Grund- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rechtsschutz im Parlament nicht immer in guten Händen ist. Wir haben in den vergangenen Jahren die Erfahrung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gemacht, dass es das Bundesverfassungsgericht ist, das Ich schließe die Aussprache. den Datenhunger der Innenministerien immer wieder stoppt und die Grenzen setzt, die erforderlich sind, um Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- den Kernbereich des Privaten zu schützen. Die Bürgerin- empfehlung des Innenausschusses zu dem Tätigkeits- nen und Bürger haben jedenfalls das Vertrauen verloren bericht 2003 und 2004 des Bundesbeauftragten für den und glauben nicht, dass die Vorratsdatenspeicherung Datenschutz. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- im Parlament gestoppt wird. 10 000 Bürgerinnen und schlussempfehlung auf Drucksache 16/4882, in Kennt- Bürger bereiten eine Sammelklage vor. Ich habe mich nis des genannten Berichts auf Drucksache 15/5252 eine dieser Sammelklage angeschlossen und rufe dazu auf, an Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- der Demonstration gegen die Vorratsdatenspeicherung schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – am 14. April in Frankfurt teilzunehmen. Wir haben hier Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. eine letzte Chance, deutlich zu machen, dass der Grund- Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: rechtsschutz vom Parlament ernst genommen wird. Wir sind diejenigen, die verhindern können, dass die Online- Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja (B) durchsuchung, das Eindringen des Staates in unsere pri- Kipping, Kornelia Möller, Dr. Barbara Höll, wei- (D) vaten Computer, das illegale Handeln der Geheimdienste terer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN heutzutage, im Nachhinein eine gesetzliche Grundlage findet. Innovative Arbeitsförderung ermöglichen – Projektförderung nach § 10 SGB III zulassen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) – Drucksache 16/3889 – Überweisungsvorschlag: Wir haben uns im Sicherheitsbereich nicht einigen Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) können. Mir geht die von Bundesinnenminister Schäuble Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vorgestellte Antiterrordatei zu weit. Wir, die Grünen, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die wollen verhindern, dass sich die Bürgerinnen und Bürger Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die daran gewöhnen, an allen möglichen Stellen ihren Fin- Fraktion der Linken fünf Minuten erhalten soll. Gibt es gerabdruck zu geben. Wir lehnen den Fingerabdruck Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. als weiteres biometrisches Merkmal in Pass und Aus- weis ab. Wir wollen zudem nicht, dass ein hoheitliches Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Ausweisdokument privatwirtschaftlich genutzt wird. Die nerin das Wort der Kollegin Katja Kipping von der Frak- Karte für alles ist in datenschutzrechtlicher Hinsicht tion Die Linke. nicht vertretbar. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) Katja Kipping (DIE LINKE): Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Arbeitslo- dass nicht alles, was technisch möglich ist, zur Video- sigkeit wider Willen ist für alle, die davon betroffen sind, überwachung eingesetzt werden darf. Die Videoüber- ein enormes Problem. Schon deswegen sind wir in der wachung darf im öffentlichen Raum nur zielgerichtet Pflicht, alles Sinnvolle zu unternehmen, um Arbeitslo- eingesetzt werden. Wir, die Grünen, bekennen uns dazu. sigkeit wider Willen abzubauen. Dazu gibt es nicht die Der Datenschutz setzt der inneren Sicherheit Grenzen. eine Maßnahme, die das Problem in Gänze löst. Es Es ist Aufgabe des Parlamentes, diese verfassungsrecht- bedarf vielmehr eines breiten Mixes verschiedener Maß- lichen Grenzen bei der Gesetzgebung zu beachten. Es nahmen. Das geht von Arbeitszeitverkürzung über öf- dürfen nicht ständig Gesetze, die mit großer Mehrheit fentliche Beschäftigung bis hin zu innovativen regiona- verabschiedet werden, anschließend vom Bundesverfas- len Projekten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9249

Katja Kipping (A) Ein solches Projekt hat es in Sachsen gegeben; die strumentarium wirksam ergänzen würden. Vor allen Din- (C) Rede ist von „Teilzeit plus“. „Teilzeit plus“ funktio- gen würden Projekte wie „Teilzeit plus“ so manche nierte wie folgt: Drohten einem Handwerksunternehmen drohende Arbeitslosigkeit verhindern und abwenden. wegen schlechter Auftragslage entweder Insolvenz oder (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Entlassungen, so konnte es die Teilnahme an „Teilzeit Winkelmeier [fraktionslos]) plus“ vereinbaren. Die Mitarbeiter gingen auf Teilzeit, bekamen aber trotzdem weiterhin 80 Prozent des Loh- Der § 10 Abs. 3 des SGB III, der Projektförderung er- nes. Das Unternehmen zahlte davon bloß 50 Prozent, die möglicht, besteht noch. Wir brauchten also noch nicht Differenz wurde von der Bundesagentur übernommen. einmal eine Gesetzesänderung, um Projektförderung In der freigestellten Zeit wurde sinnvolle, gesellschaft- wieder möglich zu machen. Das Einzige, was wir lich notwendige Arbeit bei gemeinnützigen Vereinen ge- brauchten, ist, dass eine unternehmensinterne Entschei- leistet. dung der Bundesagentur für Arbeit revidiert und richtig- gestellt wird. Wir, die Linke, meinen, es kann nicht Auf- Nach zwei Jahren „Teilzeit plus“ wurde eine klare Bi- gabe der Bundesregierung und der Bundesagentur für lanz gezogen: Dieses Projekt kennt nur Gewinner. Die Arbeit sein, dass man innovative Projekte, die Arbeitslo- Handwerksunternehmen waren froh, dass sie, wenn sie sigkeit verhindern, behindert. Im Gegenteil: Sie müssen in eine schwierige Lage gerieten, ihre Leute nicht entlas- solche Projekte unterstützen. Deswegen fordern wir Sie, sen mussten. Die Vereine profitierten davon, dass sie meine Damen und Herren von der Bundesregierung, auf: wirklich kompetente Leute bekamen. Den Mitarbeitern Nehmen Sie Ihren Einfluss auf die Bundesagentur für selber blieb die Arbeitslosigkeit erspart, und sie haben Arbeit wahr, und lassen Sie die Förderung von solchen bei den Vereinen interessante Kontakte knüpfen können, innovativen Arbeitsmarktprojekten wie „Teilzeit plus“, die sie später – etwa nach dem Eintritt in die Rente – die von allen Beteiligten als Gewinn wahrgenommen fortführen könnten. Die Bundesagentur zahlte den Zu- werden, wieder zu! schuss; aber dieser Zuschuss war für sie allemal preis- werter, als es die Finanzierung von Arbeitslosigkeit ge- Besten Dank. wesen wäre. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Als ich zum ersten Mal von diesem Projekt hörte, Winkelmeier [fraktionslos]) wollte ich selbst nicht so recht glauben, dass es wirklich ein Projekt gibt, aus dem alle Beteiligten als Gewinner Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hervorgehen. Deswegen habe ich gemeinsam mit der Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Rauen von der Kreishandwerkerschaft, mit den Vereinen und mit der CDU/CSU-Fraktion. sächsischen Bundesagentur für Arbeit einen internen (B) (D) Workshop durchgeführt. Ich war erstaunt: Die breite Zu- (Beifall bei der CDU/CSU) stimmung – gerade auch von den beteiligten Handwerks- unternehmen – war überwältigend. Selbst die sächsische Peter Rauen (CDU/CSU): Bundesagentur hat unterstrichen, dass sie dieses Projekt Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und sehr gerne gefördert hat. Herren! Frau Kipping hat eben das Projekt einer klassi- schen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme beschrieben, das Mich hat vor allem nachdenklich gestimmt, dass meh- in den Jahren 2002 bis 2004 in Dresden durchgeführt rere Handwerksunternehmen Mitarbeiter entlassen wurde. Solche Maßnahmen bezahlt die Bundesagentur mussten, nachdem dieses Projekt eingestellt werden für Arbeit heute Gott sei Dank nicht mehr. Wie richtig musste; denn leider hat es 2003 eine interne Entschei- das ist, beweist Ihre eigene Begründung in Ihrem An- dung der Bundesagentur für Arbeit gegeben, von nun an trag. Es heißt da – ich darf zitieren –: nur noch Einzelpersonen zu fördern und die Projektför- derung zukünftig zu unterlassen. Das muss man sich ein- Mit diesem Projekt wurden zwar keine neuen Ar- mal vorstellen: Ein Projekt, das von allen Beteiligten als beitsplätze geschaffen, aber immerhin die Beschäf- Gewinn angesehen wird und für das sogar das nötige tigten in Handwerksbetrieben vor dem Schicksal Geld vorhanden war, muss wegen bürokratischer Prinzi- der Arbeitslosigkeit bewahrt. pienreiterei eingestellt werden. Ich finde, das ist ein Skandal. Was wir brauchen, sind neue Arbeitsplätze und keine sinnlosen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, für die das (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Geld der Beitragszahler verpulvert wird. Winkelmeier [fraktionslos]) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Besonders bedauerlich finde ich, dass die Bundesre- NEN]: Herr Rauen, was reden Sie da?) gierung das bisherige Vorgehen der Bundesagentur teilt. Ich empfehle Ihnen, Frau Kipping, den Arbeits- Herr Andres, ich habe in einer Kleinen Anfrage nachge- marktreport des Bezirks Dresden von heute durchzu- fragt, und Sie haben sich in Ihrer Antwort die bisherige lesen. Dort heißt es: Position der Bundesagentur zu eigen gemacht. Sie sagen, der regionale Förderbedarf werde mit den bestehenden Die Nachfrage nach Arbeitskräften bewegte sich Instrumenten befriedigt und sei abgedeckt. Ich persön- weiterhin auf hohem Niveau. So wurden den Mitar- lich habe da einen anderen Eindruck gewinnen können. beitern des gemeinsamen Arbeitgeber-Services der Zum Beispiel für Sachsen weiß ich sehr genau, dass in- Agentur für Arbeit Dresden und der ARGE Dres- novative Projekte wie „Teilzeit plus“ das bestehende In- den im Berichtsmonat 1.183 Arbeitsstellen zur 9250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Peter Rauen (A) Besetzung auf dem 1. Arbeitsmarkt gemeldet … Die einzelnen Agenturen haben in kurzer Zeit erreicht, (C) Von Januar bis März dieses Jahres gab es 762 Stel- Arbeitslose schneller wieder in Beschäftigung zu bringen. lenmeldungen mehr als im gleichen Zeitraum des Beispielsweise lag die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld Jahres 2006. 2004 im Durchschnitt bei 167 Tagen; im Jahr 2006 waren es im Durchschnitt nur noch 153 Tage. Jetzt kommt es: Genau über diejenigen, die damals in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren, steht hier: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Eine besonders starke Nachfrage nach Arbeitskräf- Herr Kollege Rauen, erlauben Sie eine Zwischenfrage ten war vor allem aus dem verarbeitenden Ge- der Kollegin Kipping? werbe, dem Baugewerbe, dem Gastgewerbe und den unternehmensnahen Dienstleistungen festzu- Peter Rauen (CDU/CSU): stellen. Ja, bitte schön. Wenn man sich dies vor Augen hält, dann ist eines festzustellen: Am Arbeitsmarkt ist eine wichtige Trend- Katja Kipping (DIE LINKE): wende erfolgt. Wir haben im März dieses Jahres – ges- Sehr geehrter Kollege, Sie haben die in Dresden und tern wurde es gemeldet – 870 000 Arbeitslose weniger anderenorts durchgeführten Projekte als „Arbeitsbe- als im Vorjahresmonat. Viel wichtiger aber ist aus mei- schaffungsmaßnahme“ diffamiert. Vielleicht liegt dies ner Sicht die Entwicklung bei den sozialversicherungs- daran, dass Ihre ideologischen Scheuklappen Sie daran pflichtig Beschäftigten. Ich habe das einmal in einer gehindert haben, sich mit diesem Projekt zu beschäfti- Grafik dargestellt. Wir hatten von September 2000 bis gen. einschließlich März 2006, also über 65 Monate, im Ver- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Mit gleich zum jeweiligen Vorjahresmonat einen Rückgang Ideologie kennen Sie sich ja aus! – Dr. Ralf der Zahl der ordentlich Beschäftigten. Insgesamt waren Brauksiepe [CDU/CSU]: Das sagt die Rich- es 1,8 Millionen in diesen 65 Monaten. Wir haben im tige!) zurückliegenden Jahr, zum ersten Mal im April begin- nend, einen ständigen Aufwuchs bei den sozialversiche- Wie erklären Sie sich, dass bei einer anonymisierten rungspflichtig Beschäftigten, zuletzt im Januar – die Auswertung 100 Prozent der beteiligten Unternehmer Meldung kommt immer zwei Monate später als die der – sie stehen, was das Parteibuch angeht, Ihrer Partei Arbeitslosenzahlen – ein Plus von 624 000. wahrscheinlich näher als meiner – dieses Projekt als po- sitiv bis sehr positiv bewertet haben? (Beifall bei der CDU/CSU – Brigitte Pothmer (B) (D) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Peter Rauen (CDU/CSU): Sie uns damit sagen? Brauchen wir keine ak- Frau Kipping, wir reden über ein Projekt, das 2002 tive Beschäftigungspolitik mehr?) bis 2004 stattgefunden hat. Ich habe eben deutlich ge- macht, dass die Zahl der Beschäftigten in diesem Zeit- Das ist das, was wir brauchen. Wenn wir weiterhin raum kontinuierlich – von Monat zu Monat – zurückge- mehr ordentliche Beschäftigungsverhältnisse in Deutsch- gangen ist. Diesen Weg können wir nicht fortsetzen. Das land haben wollen, kommen wir an einer Voraussetzung waren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Arbeitsbe- nicht vorbei: Die Senkung der Lohnzusatzkosten muss wirtschaftung, was überhaupt nicht weiterführt. Deshalb weitergehen. Sie ist ohne Alternative. Arbeit muss wieder habe ich aus dem aktuellen Arbeitsmarktreport des Be- bezahlbar werden, und die Menschen, die arbeiten, müs- zirks Dresden zitiert. Daraus geht hervor, wie die Wirt- sen netto wieder mehr in der Tasche haben. schaft in ein und derselben Stadt wieder prosperiert. Die (Beifall bei der CDU/CSU) Nachfrage des ersten Arbeitsmarkts nach Arbeitskräften ist gestiegen. Nur wenn diese Nachfrage größer wird, be- Der Antrag der Linken aber zielt genau in die entge- steht die Möglichkeit, aus dem arbeitsmarktpolitischen gengesetzte Richtung. Vordergründig suggeriert er einen Dilemma herauszukommen. Das ewiggestrige Bewirt- Weg zum Erhalt von Arbeitsplätzen. Anhand der Umver- schaften von Arbeit macht keinen Sinn. teilung von Beitragsgeldern aus der Arbeitslosenversi- cherung sollen Arbeitsplätze flächendeckend subventio- (Beifall bei der CDU/CSU) niert werden. Wege zur Schaffung von Arbeitsplätzen aufzuzeigen, sieht der Antrag allerdings nicht vor. So Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wird das Dresdener Vorzeigeprojekt der Linken bloßge- Erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle- stellt. gin Kipping?

Der Antrag der Linken fordert die Bundesregierung Peter Rauen (CDU/CSU): vielmehr auf, die Bundesagentur für Arbeit zu einer Än- Ja, bitte schön. derung ihrer Geschäftspolitik zu bewegen. Dabei handelt es sich im Übrigen um eine Geschäftspolitik, die allein mit Blick auf die Bilanzen und Vermittlungsquoten nur Katja Kipping (DIE LINKE): als äußerst erfolgreich bezeichnet werden kann. Besten Dank, Herr Kollege. – Das Resümee Ihrer Ar- gumentation wäre, sich klar gegen öffentliche Beschäfti- (Beifall bei der CDU/CSU) gung auszusprechen. Wie ist Ihr eindeutiges Plädoyer ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9251

Katja Kipping (A) gen öffentliche Beschäftigung vereinbar mit dem – auch – also Belastungen des ersten Arbeitsmarkts – (C) aus den Reihen Ihrer Fraktion – immer wiederholten Lob für Projekte wie die in Bad Schmiedeberg? zu vermeiden. Die BA hat vor allem deswegen absolut richtig ge- Peter Rauen (CDU/CSU): handelt, weil sie verhindert hat, dass die Mitgliedsbei- träge der einzelnen sozialversicherungspflichtig Be- Frau Kipping, Sie haben doch mitbekommen, dass schäftigten für eine dauerhafte und zugleich unsinnige wir die individuelle Förderung vorangetrieben haben, Wirtschaftsförderung missbraucht werden. Wir wissen und zwar mit großem Erfolg. es aus leidvoller Erfahrung: Arbeitsplätze, die am Tropf (Katja Kipping [DIE LINKE]: Sie haben sich fremder Gelder hängen, sind weder sicher noch dauer- gerade gegen öffentliche Beschäftigung ausge- haft. Sie gaukeln Wirtschaft lediglich vor; eine solche sprochen!) Wirtschaft existiert aber nicht. Sie sind vor allem eines: Sie sind nicht finanzierbar. Für Beschäftigung können Unternehmer sorgen und nicht der Staat. Sämtliche Arbeitsplätze, die am Tropf (Katja Kipping [DIE LINKE]: Jetzt finanziert des Staates hängen, sind unsicher. Sie werden irgend- die sächsische BA die Arbeitslosigkeit!) wann nicht mehr da sein. Es wird so getan, als seien sie Um eine erhöhte Kaufkraft der Arbeitnehmer zu er- wirtschaftlich. Es handelt sich aber um eine reine Ar- reichen, ohne dabei Arbeitsplätze zu gefährden, müssen beitsbewirtschaftung, die nicht zielführend ist. Einer der zuerst die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Genau größten Irrglauben der letzten Zeit war es, zu glauben, dafür hat die Bundesagentur für Arbeit gesorgt, indem die Arbeitslosigkeit mit immer mehr Arbeitsbewirtschaf- sie mit den anvertrauten Beiträgen sparsam umgegangen tung abbauen zu können. Dieser Irrglaube ist einfach ist und durch den erwirtschafteten Überschuss die Sen- nicht zielführend. Auch wenn Sie diesem Irrglauben kung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung noch anhängen, ist er für uns nicht zukunftsweisend. um 2,3 Prozentpunkte ermöglichte. Schließlich bringt 1 Prozent Beitragssatzsenkung beim lohnsteuerzahlen- (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Kipping [DIE den Arbeitnehmer genauso viel an Kaufkraftzuwachs LINKE]: Wir werden Sie zitieren!) wie eine 3-prozentige Lohnerhöhung. Durch die Hintertür der Projektförderung im Rahmen (Zustimmung der Abg. der freien Förderung nach § 10 SGB III – ich wieder- [CDU/CSU]) hole, was Sie eben gesagt haben – soll nach Auffassung der Linken die Arbeitslosigkeit auf regionaler Ebene be- Da durch den Anstieg der Zahl der Beschäftigten of- (B) kämpft werden. Im Jahr 2003 hat die Bundesagentur für fenbar weitere Überschüsse bei der Bundesagentur für (D) Arbeit jedoch die Möglichkeit zu ebendieser Projektför- Arbeit auflaufen, müssen diese ausschließlich zur weite- derung ausgesetzt. Nach Auskunft der Bundesagentur ren Beitragssatzsenkung verwandt werden. erfolgte die Aussetzung der freien Förderung vor dem Hintergrund, dass im Rahmen der Maßnahmen Hartz I (Beifall bei der CDU/CSU) bis Hartz III bereits zahlreiche neue Förderinstrumente Alles andere wäre für den sich erholenden Arbeitsmarkt in das SGB III eingeführt wurden, die zuvor im Rahmen kontraproduktiv. der freien Förderung finanziert worden waren, zum Bei- spiel Eingliederungszuschüsse und die Förderung älterer Schauen wir auf die aktuellen Zahlen des Arbeits- Arbeitnehmer. markts, so stellen wir fest: Es gibt wenig Grund zum Un- mut. Wir haben bei Umfragen in letzter Zeit gehört, dass Darüber hinaus ist die Projektförderung mit Blick auf 60 Prozent der Firmen ihre Lage positiv beurteilen und die zu erstellenden Förder- und Finanzpläne sowie die dass über 45 Prozent, vor allen Dingen im Mittelstand, Verwendungsnachweisprüfung sehr komplex. Zudem daran denken, wieder neu einzustellen. hat es in der Vergangenheit durch die interne Revision der BA und durch den Bundesrechnungshof massive Be- Nutzen wir jetzt also die geradezu historische Chance anstandungen bei der freien Förderung gegeben. des derzeitigen Aufschwungs, um zuerst die Lohnneben- kosten zu reduzieren, anstatt durch erneute Arbeits- Ich möchte es noch einmal betonen: Die Bundesagen- marktprogramme den noch zarten Aufschwung am Ar- tur für Arbeit hat richtig und sinnvoll gehandelt. Sie hat beitsmarkt wieder zu ersticken! durch die Aussetzung der Projektförderung dem Miss- (Beifall bei der CDU/CSU) brauch bei Eingliederungsgeldern einen Riegel vorge- schoben. Zum einen sind diese Eingliederungsmittel vor Es ist durchaus möglich, glaube ich, dass in absehba- allen Dingen für die Individualförderung vorgesehen. rer Zeit die Zahl der ordentlich Beschäftigten monatlich Das heißt, persönliche Hemmnisse, die einer beruflichen stärker zunimmt, als die Arbeitslosigkeit abnimmt. Eingliederung im Weg stehen, also ganz individueller Wenn wir das erreicht haben, haben wir einen wichtigen Art sind, dürfen auch mit unkonventionellen Mitteln be- Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt erzielt. Ich halte ihn seitigt werden. Zum anderen sieht der § 10 SGB III in al- für möglich – aber nicht mit den Konzepten von gestern, ler Deutlichkeit vor: sondern mit den modernen Konzepten der heutigen Ko- alitionsregierung. Bei Leistungen an Arbeitgeber ist darauf zu achten, Wettbewerbsverfälschungen (Beifall bei der CDU/CSU) 9252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen und Mitarbeiter in Nürnberg, bei den Landesarbeits- (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz-Peter Haustein ämtern und in den Arbeitsämtern vor Ort machen eine von der FDP-Fraktion. gute Arbeit. Aber der Ansatz ist falsch. Das System stimmt so nicht. Gestalten Sie es föderalistisch! Geben (Beifall bei der FDP) Sie den Ländern und Kommunen die Arbeitsvermittlung an die Hand! Heinz-Peter Haustein (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/ Herren! Der Antrag der Linken, um den es hier geht, ent- CSU: Die wollen das doch gar nicht!) hält viele schöne Formulierungen. Das ist der eine Punkt. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das Der andere Punkt ist viel wichtiger. Wir wollen, dass war schon alles!) Arbeit vermittelt wird. Wir reden von Arbeitsvermitt- Da ist die Rede von innovativen, von regional veranker- lung, von Förderprogrammen, von SGB II, SGB III und ten und von dezentralen Ansätzen. Das alles sind Voka- sonst was. Wir müssen aber auch Arbeitsplätze schaffen. beln, die einem Liberalen wie mir gefallen. Das kann die Arbeitsagentur nicht. Wir als Politiker ha- ben die Rahmenbedingungen richtig zu gestalten. Auch der Gedanke der Projektförderung nach § 10 SGB III ist richtig. Die Vorstellung, dass Erwerbslose (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das oder von Arbeitslosigkeit Bedrohte in Zusammenarbeit machen wir doch!) mit dem staatlichen Träger Projekte entwickeln, ent- Die Rahmenbedingungen sind eben nicht sehr optimal, spricht der meinen. Es ist richtig, den Menschen die auch wenn die Große Koalition sich daran erfreut – auch Möglichkeit an die Hand zu geben, sich eigenverant- ich freue mich darüber –, dass es mehr Arbeitsplätze wortlich und unter Bezug auf die lokalen Verhältnisse ih- gibt. rer Situation anzunehmen. Wir machen aber einen grundlegenden Fehler: Wir In dem Antrag heißt es aber auch: führen die Reformen, die erforderlich sind, um Nach- Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- haltigkeit zu erreichen, nicht durch. Wir geben uns damit rung auf, die Bundesagentur für Arbeit zu einer zufrieden, dass mehr Arbeitsplätze, vor allem mehr ver- Änderung ihrer Geschäftspolitik zu bewegen, um sicherungspflichtige Arbeitsplätze, entstehen. Aber das zukünftig wieder Projektförderungen nach § 10 reicht nicht aus. Den Herausforderungen, die bei uns im SGB III zu ermöglichen. Lande durch die Globalisierung und durch Umstruktu- (B) rierungen entstehen, müssen wir mit richtigen Reformen (D) Die FDP hat besondere Probleme damit, überflüssiger begegnen. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die so Bürokratie sowie unnützen Vorschriften und Regelungen gestaltet sind, dass nachhaltige Arbeitsplätze geschaffen zuzustimmen. Wir wollten schon immer eine schlanke werden. Wir brauchen auch keinen dritten und vierten Verwaltung. Arbeitsmarkt, sondern gestärkte Firmen. Dazu gehören (Beifall bei der FDP) Bürokratieabbau und eine richtige Unternehmensteuer- reform. Dazu gehört auch, dass man die Rahmenbedin- Da werden Sie sicherlich verstehen, dass wir Ihren An- gungen so gestaltet, dass gerne eingestellt wird. Auch trag nicht unterstützen können, sondern uns der Stimme der Kündigungsschutz ist in seiner jetzigen Form nicht enthalten. optimal; das muss man einfach so sagen. Im Ernst: Der Gedanke Ihres Antrages, wie ich ihn (Beifall bei der FDP – Dr. [CDU/ wiedergegeben habe, ist richtig. Es ist richtig, auf die lo- CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) kalen Kräfte, auf die Arbeitsagenturen vor Ort zu setzen. Wenn die FDP immer wieder sagt – das muss sie auch Erst wenn wir das alles bewerkstelligen, wird es auch tun –: „Die Bundesagentur für Arbeit muss aufgelöst mit den Arbeitsplätzen langfristig aufwärtsgehen; das werden“, dann heißt das nicht, dass sie abgeschafft ge- muss doch unser Ziel sein. Es werden genug Ausbil- hört. dungsplätze da sein. Es gibt die Lissabonstrategie. Wir müssen sie nur mit Leben erfüllen und dafür kämpfen, (Beifall bei der FDP – Irmingard Schewe- dass in diesem Lande wieder Vollbeschäftigung einzieht, Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was dass jeder, der arbeiten möchte und kann, einen Arbeits- sagt denn Herr Niebel dazu?) platz hat. Spätestens dann, wenn jeder einen Arbeitsplatz Sie hat ihre Berechtigung. Wir wollen aber eine dezen- hat, brauchen wir – das werden Sie mir zugestehen – trale Arbeitsvermittlung. Die Landkreise und Kommu- keine Arbeitsvermittlung mehr. Dann brauchen wir nen vor Ort können das besser. Das genau ist unser An- keine Arbeitsagentur in Nürnberg mehr. Das ist das rich- satzpunkt. tige Ziel. Wir brauchen so viele Arbeitsplätze, dass es keiner Arbeitslosenvermittlung mehr bedarf. (Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sag doch mal deine ehrliche (Beifall bei der FDP) Meinung!) Ich denke, dies ist möglich und machbar. Dieses Ziel Der Überbau der Verwaltung in Nürnberg ist nicht das muss man sich aber auch setzen, anstatt, wie es derzeit Ideale. Dabei sage ich ausdrücklich: Die Mitarbeiterin- geschieht, jede Woche über irgendein Problem der Ar- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9253

Heinz-Peter Haustein (A) beitslosigkeit zu sprechen und viel zu wenig über die Er hat sogar die Streichung der Projektförderung gefor- (C) Förderung von Unternehmen. Die Gängelung von Unter- dert. nehmen durch Statistik, Bürokratie und Bestimmungen, die wir den Unternehmen auferlegen, muss aufhören. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wenn es uns gelingt, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, NEN]: Hat er nicht!) dann brauchen wir auch keine Arbeitsagentur mehr. Das – Hat er doch; aber Sie werden sicher darauf eingehen, muss der Kerngedanke sein. Frau Pothmer. Nicht immer haben Sie recht. In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erz- (, Parl. Staatssekretär: Frau gebirge. Pothmer weiß das immer besser! – Gegenruf (Beifall bei der FDP) der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich höre Ihnen immer aufmerk- sam zu, Herr Andres!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller Zweitens betreffen die ab 2003 neu eingeführten In- von der SPD-Fraktion. strumente in erheblichem Umfang das Einsatzfeld der freien Förderung. Von daher hat sich der Bedarf an Pro- (Beifall bei der SPD) jektförderung deutlich reduziert. Auf das Projekt in Dresden gehe ich gleich noch ein. Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Meine Damen und Herren, eigentlich wissen wir das Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns liegt alles schon. Liest man Ihren Antrag, könnte man aller- ein Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel vor: dings auf die Idee kommen, nur die Mittel nach § 10 „Innovative Arbeitsförderung ermöglichen – Projektför- SGB III dürften für innovative, regional verankerte und derung nach § 10 SGB III zulassen“. Wer – frage ich Sie – dezentrale Ansätze genutzt werden. Man bekommt den kann schon gegen innovative Arbeitsförderung sein? Eindruck, nur in 10 Prozent der Fälle dürfe die Agentur Wahrscheinlich haben auch Sie sich gesagt, dass das im überhaupt auf diese Weise tätig werden; bei den übrigen Prinzip gar nicht geht. Aber dieser Antrag macht es 90 Prozent sei es verboten, innovativ zu sein, regional möglich, dass man sich auch dagegen ausspricht. Warum verankerte Maßnahmen zu treffen oder gar dezentrale ist das so? Ansätze zu befördern. Die SPD-Fraktion, für die ich hier spreche, braucht Gerade Sie nehmen doch bei den Debatten im Fach- diesen Antrag in der Tat nicht, ausschuss und im Plenum immer wieder für sich in An- (D) (B) (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Die spruch, dass Sie ganz besonders, mehr als alle anderen CDU/CSU auch nicht!) Abgeordneten, die Arbeit der Agenturen vor Ort kennen. Wenn das auch nur zur Hälfte zuträfe, dann wüssten Sie, zumal er wenig innovativ ist; denn die Bundestagsdruck- wie viel innovative und regional verankerte Arbeit in sachen 16/2349 und 16/2406 aus dem August 2006 ent- den Agenturen geleistet wird. halten in der Tat alles, was zum heutigen Tagesord- nungspunkt zu sagen ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Fragte die Linke doch vor einem Dreivierteljahr nach, Aber wer halb leere Gläser sehen will, der blickt eben warum das Projekt „Teilzeit plus“, gefördert nach eben- nicht auf den vorhandenen guten Inhalt – schade eigent- diesem Paragrafen, 2004 eingestellt wurde und wer dies lich. entschieden habe; Frau Kipping, Sie haben das heute Vielleicht geht es ja auch um etwas ganz anderes. Abend freundlicherweise erneut vorgetragen. Die Ant- wort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben (Katja Kipping [DIE LINKE]: Es spricht doch des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum nichts dagegen, aufzufüllen!) 15. August übermittelt. – Wenn Sie mir zuhören würden, Frau Kipping, könnten (Katja Kipping [DIE LINKE]: Meinen Sie, Sie gegebenenfalls etwas lernen; aber passen Sie auf, das dass das Parlament nichts mehr zu sagen hat, könnte gefährlich sein. – Denn wenn man die Begrün- nachdem die Regierung das beantwortet hat?) dung Ihres Antrages liest, wird deutlich, worum es geht. Sie haben hier noch einmal ein Projekt dargelegt, das Aber offenkundig haben Sie sich mit den ausführlichen meines Erachtens ein durchaus gutes war, allerdings ein Antworten nicht hinreichend auseinandergesetzt; sonst begrenztes und zeitlich befristetes, und zwar aus einem wäre es wohl gar nicht zu dem Antrag gekommen. guten Grund: Es sollte in einer konjunkturschwachen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Phase helfen, Beschäftigte in Handwerksbetrieben zu halten. Die Bundesagentur hat neben diesem Projekt al- Deshalb noch einmal zum Mithören für Sie und für lerdings auch viele andere verschiedene innovative In- uns alle zum Verstehen die zwei wirklich ausschlagge- strumente entwickelt und genutzt. Was die Bundesagen- benden Gründe, warum das Instrument nur noch sehr tur allerdings nicht in ihrem Aufgabenkatalog hat, ist das eingeschränkt angewandt wird. Herr Rauen hat einen Instrument der Wirtschaftsförderung. Wenn Sie jetzt wesentlichen Punkt schon genannt: Der Bundesrech- möchten, dass im Prinzip eine Entfristung solcher Pro- nungshof hat wiederholt die Handhabung beanstandet. jekte stattfindet, ist das kein Arbeitsmarktinstrument 9254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Gabriele Lösekrug-Möller (A) mehr, sondern eine gezielte Maßnahme für sich beteili- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sie müs- (C) gende Betriebe. sen einmal zuhören!) Die brauchen wir aber nicht. Denn es hat eine andere Ich will Ihnen, Herr Rauen, aber sagen, dass wir nach – sehr erfreuliche – Entwicklung gegeben, von der ich wie vor einen sehr gespaltenen Arbeitsmarkt haben. berichten will; vielleicht hören Sie mir ja diesmal zu. Nach wie vor profitieren von diesem Aufschwung im Wir haben mit milliardenschweren Investitionen Wesentlichen die Kurzzeitarbeitslosen und die qualifi- Schwung in den Arbeitsmarkt bringen können. Wir ha- zierten Arbeitslosen. Alle Arbeitsmarktexperten warnen ben mit Reformen einen erfreulichen Rückgang der Zahl uns davor, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, der Arbeitslosen in unserem Land befördert. Wir haben dass es seit vielen Jahren eine hohe Sockelarbeitslosig- – ich will nur diese Beispiele nennen – durch energeti- keit in Deutschland gibt. Wir müssen diesen Auf- sche Gebäudesanierung und die Absetzbarkeit von schwung jetzt nutzen, um mit einer aktiven Arbeits- Handwerkerleistungen für jede Menge Innovation ge- marktpolitik auch diesen Menschen eine Chance zu sorgt. Das Resultat ist eine solide Perspektive des Auf- geben. schwungs. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Peter Rauen [CDU/CSU]: Reine Bewirtschaf- CDU/CSU) tung!) Deshalb sind die Auftragsbücher im Handwerk voll. Die Projektförderung kann tatsächlich ein geeignetes Ich habe gerade in dieser Woche bei den Berliner Wirt- Instrument sein – ich betone: ein Instrument –, um einen schaftsgesprächen hören können, wie der Präsident der Beitrag dazu zu leisten, diesen Menschen zu helfen. Berliner Handwerkskammer genau diese Maßnahmen Denn die Problemstellungen auf dem Arbeitsmarkt sind lobte und sagte, dass er das höchst angenehme Problem in der Tat regional sehr unterschiedlich. Es kann absolut habe, dass er gar nicht alle Aufträge prompt erledigen sinnvoll sein – auch mit finanzieller Unterstützung der könne. Das hat mir als Rückmeldung gut gefallen. Arbeitsagenturen –, Projekte zu entwickeln und aufzu- bauen, die präventiv wirken und damit einen Beitrag Ich fasse also zusammen: Wir haben Grund, uns zu dazu leisten, dass Arbeitslosigkeit gar nicht erst entsteht. freuen über eine kraftvolle wirtschaftliche Entwicklung, (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang über einen Arbeitsmarkt, der davon profitiert, und über Thierse) eine Agentur für Arbeit, die in der Lage ist, auch ohne das von Ihnen Beantragte gute Arbeit zu leisten. Aber Frau Lösekrug-Möller, dieses Instrument hat Rot- auch da würden Sie wieder sagen, dass das Glas halb Grün auf den Weg gebracht. Wir fanden es damals rich- (B) leer ist. tig. Angesichts von über 4 Millionen Arbeitslosen, da- (D) runter 2 Millionen Langzeitarbeitslose, kann man nicht Ich habe eingangs auf zwei Drucksachen verwiesen. sagen, man brauche solche Instrumente nicht. Es geht Aus der Anfrage wurde ein Antrag. Die Methode ist be- nicht um ein einzelnes Projekt. Es geht vielmehr darum, kannt; innovativ ist das nicht. Aber seien wir ehrlich: ob das Instrument Projektförderung sinnvoll ist oder Haben wir das wirklich erwartet? nicht. Ich sage Ihnen: Es ist ein sinnvolles Instrument. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Insgesamt muss gelten: Der Vielfalt der Problemlagen arbeitsloser Menschen muss eine ebenso große Vielfalt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: von Angeboten an Förderinstrumenten entgegengestellt werden. Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer vom Bündnis 90/Die Grünen. (Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Morgen sa- gen Sie, dass es zu viele Instrumente sind!) (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Jetzt bin ich aber gespannt!) Lassen Sie uns dieses Instrument doch vor Ort anbieten! Keine Agentur wird gezwungen, dieses Instrument in Anspruch zu nehmen. Nur diejenigen Agenturen werden Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): es in Anspruch nehmen, denen ein entsprechendes An- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr gebot fehlt. Geben wir ihnen doch in Gottes Namen die Rauen, wenn man das, was Sie hier vorgetragen haben, Möglichkeit, dieses Angebot zu entwickeln. einmal konsequent zu Ende denkt, dann hieße das, dass das Bundesministerium für Arbeit alle Maßnahmen im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik einstellt. und bei der LINKEN) (Peter Rauen [CDU/CSU]: Davon habe ich Es stimmt doch gar nicht, dass der Bundesrech- kein Wort gesagt!) nungshof gesagt hat, die Projektförderung an und für sich sei schlecht und dürfe es auf keinen Fall mehr ge- – Sie haben hier vorgetragen: Es gibt einen Aufschwung, ben. Der Bundesrechnungshof hat die Bundesagentur für soundso viele Arbeitsplätze sind in dieser Zeit entstan- Arbeit vielmehr dafür kritisiert, dass sie keine verbindli- den; deswegen brauchen wir das alles gar nicht mehr. chen Rahmenbedingungen für diese Projektförderung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9255

Brigitte Pothmer (A) entwickelt hat. Er hat gesagt, dass die Bundesagentur für führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (C) Arbeit ihre Hausaufgaben machen muss, wenn sie dieses verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Instrument weiter einsetzen möchte. Das hat die Bun- so beschlossen. desagentur aber nicht gemacht. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Genau!) gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Die Bundesagentur hat dieses Instrument kurzerhand ge- zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und strichen. Da können wir als Parlamentarier, die wir die- des Holzabsatzfondsgesetzes ses Instrument ausdrücklich wollen, doch nicht jubeln. – Drucksache 16/4692 – Wir müssen vielmehr verlangen, dass dieses Instrument weiterhin zur Verfügung gestellt wird. – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- nen der CDU/CSU und SPD eingebrachten (Peter Rauen [CDU/CSU]: Das war richtig! Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ab- Das waren nur Drehtüreffekte! Verpulverung satzfondsgesetzes und des Holzabsatzfondsge- der Beiträge von Arbeitnehmern!) setzes – Nein, Herr Rauen, es geht hier nicht um mehr Geld. – Drucksache 16/4149 – (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Doch! Ge- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- nauso ist es!) ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Es geht darum, den Instrumentenkasten weiterhin viel- cherschutz (10. Ausschuss) fältig zu gestalten. – Drucksache 16/4876 – (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da kennt Berichterstattung: sich heute schon niemand mehr aus!) Abgeordnete Marlene Mortler Wir sind dafür. Es ist sinnvoll, dieses Instrument weiter Gustav Herzog zur Verfügung zu stellen. Hans-Michael Goldmann Dr. Kirsten Tackmann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ulrike Höfken und bei der LINKEN) Die Reden der Kollegen Mortler, Herzog, Goldmann, Die Tatsache, dass hier ein innovatives Instrument ge- Tackmann und Höfken sind zu Protokoll gegeben.1) (B) strichen wurde, ist aus meiner Sicht Ausdruck einer (D) Misstrauenskultur. Damit kann ich die Aussprache schließen. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das sagt Wir kommen zur Abstimmung über den von der die Richtige!) Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und des Holzab- Es gibt eine Misstrauenskultur der Bundesagentur für satzfondsgesetzes. Der Ausschuss für Ernährung, Land- Arbeit, in Teilen der Bundesregierung aber auch den Ak- wirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Nr. 1 teuren vor Ort gegenüber. seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4876, Ich werbe dafür, diese Misstrauenskultur schleunigst den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck- abzubauen; sache 16/4692 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- SES 90/DIE GRÜNEN) wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von denn wenn wir so weitermachen, dann ersticken wir die CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Frak- Motivation und die Innovationsbereitschaft, die es in den tion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion des Bünd- Argen nach wie vor gibt. Wenn wir eine individuelle nisses 90/Die Grünen angenommen. Förderung tatsächlich wollen – das wollen wir doch, das Dritte Beratung ist doch unser Versprechen –, dann müssen wir die Durchführung und Gestaltung auf regionaler Ebene er- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem möglichen und müssen wir die Handlungsfreiheit der Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Argen stärken; darum bitte ich Sie. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- entwurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. angenommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sache 16/4876 empfiehlt der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den von den Vizepräsident Dr. h. c. : Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ich schließe die Aussprache. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Absatzfonds- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3889 an die in der Tagesordnung aufge- 1) Anlage 3 9256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) gesetzes und des Holzabsatzfondsgesetzes auf Druck- Antrags wurde die Bundesregierung aufgefordert, die (C) sache 16/4149 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für ILO-Konvention Nr. 169 mit dem Ziel der Stärkung der diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – indigenen Völker zu ratifizieren. Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim- Die ILO ist eine Organisation im System der Vereinten mig angenommen. Nationen. Diese Konvention wurde bereits 1989 verab- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: schiedet. In Deutschland wirbt ein großes Bündnis aus Franziskanern, Amnesty International, Gesellschaft für Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- bedrohte Völker, verschiedenen kirchlichen Hilfswerken richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- und vielen anderen Organisationen dafür, dass auch sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) Deutschland diese Konvention ratifiziert. zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion des Offiziell prüft die Bundesregierung seit 1989. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Indigene Völker – Ratifizierung des Überein- Viel zu lange!) kommens der Internationalen Arbeitsorgani- Die Regierung Kohl und die Regierung Schröder haben sation (IAO) Nr. 169 über Indigene und in geprüft, auch die Regierung Merkel prüft. Vielleicht war Stämmen lebende Völker in unabhängigen es naiv von mir, zu glauben, dass mit dem Beschluss des Staaten Deutschen Bundestages vom Dezember 2002 der Durch- – Drucksachen 16/1971, 16/4838 – bruch erzielt worden sei. Berichterstattung: (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wer hat Abgeordnete Dr. Wolf Bauer denn damals regiert? Da hat doch Frau Pothmer regiert! – Gegenruf der Abg. Brigitte Dr. Karl Addicks Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hüseyin-Kenan Aydin Dann wären die längst ratifiziert! Das wäre gut Thilo Hoppe gewesen!) Die Reden folgender Kollegen sind zu Protokoll ge- In verschiedenen Fachgesprächen ist mir klar geworden, geben: Kollege Bauer, Kollegin Riemann-Hanewinckel, dass die einzelnen Ressorts in verschiedene Richtungen Kollege Addicks, Kollege Aydin und Kollege Hoppe.1) drängen: Vom Auswärtigen Amt und vom Entwick- lungshilfeministerium wurde stets eine Zustimmung zu (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einer Ratifizierung signalisiert, was wir sehr begrüßt haben. (B) (D) NEN – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Das Verteidigungsministerium hat zunächst Bedenken DIE GRÜNEN]: Nein! Herr Kollege Hoppe geäußert, weil man Angst um ein Tiefflugübungsgebiet spricht!) in Kanada hatte. Nachdem dieses Tieffluggebiet ge- – Entschuldigung. schlossen wurde, wurden diese Bedenken aber zurück- gestellt. Auf der Bremse standen damals wie heute Ich erteile Kollegen Hoppe das Wort. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Frau (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Pothmer!) der Wirtschaftsminister und der Innenminister mit teils Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): absurden bis bizarren Argumenten. Zum Beispiel wurde Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein das Argument vorgebracht, dass Minderheiten in Deutsch- letzter Mohikaner ist in dieser Debatte übrig geblieben. land, zum Beispiel die Roma – später wurden sogar die Ich möchte Ihnen zunächst erklären, warum ich darauf Friesen genannt –, bestanden habe, heute meine Rede zu dem Thema „Rechte der indigenen Völker“ zu halten. Das liegt zum (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ einen an der langen Vorgeschichte dieses Sachverhalts, DIE GRÜNEN]: Friesen sind eine Minderheit zum anderen an einem hohen Besucher, der heute extra im Deutschen Bundestag!) wegen dieser Debatte in den Deutschen Bundestag ge- auf die Idee kommen könnten, sich als indigenes und in kommen ist – ich möchte ihn herzlich begrüßen –: Herrn Stämmen lebendes Volk zu outen und auf Minderheiten- Rodolfo Stavenhagen aus Mexiko, UNO-Sonder- rechte zu pochen. Da ich aus dem Wahlkreis Aurich- berichterstatter für die Rechte der indigenen Völker. Emden komme, hätte ich das mit großer Heiterkeit auf- Herzlich willkommen! genommen, wenn es nicht so traurig wäre. (Beifall) Diese Argumente sind natürlich vorgeschoben. Was steht dahinter? Bei der ILO-Konvention 169 geht es darum, Nun zu der langen Vorgeschichte dieses Antrags. die Rechte von indigenen Völkern, zum Beispiel der Bereits im Dezember 2002 wurde hier in diesem Hause Yanomami-Indianer in Brasilien, zu stärken. Diese ein großer Antrag zur Umsetzung der Menschenrechte Rechte geraten immer dann unter Druck, wenn man in verabschiedet. Unter einem der vielen Spiegelstriche des den Stammesgebieten dieser Indianergemeinschaften Bodenschätze entdeckt. Dann rücken die Bulldozer sehr 1) Anlage 4 schnell heran. Dann kommen Investoren und halten den Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9257

Thilo Hoppe (A) Eingeborenen gekaufte, teilweise über Korruption erhaltene Petitionsausschuss (C) Landtitel unter die Nase. Dann kommt es zur Vertrei- Innenausschuss Finanzausschuss bung, zum Verlust des traditionellen Siedlungsgebietes. Ausschuss für Arbeit und Soziales Hätte Deutschland die ILO-Konvention 169 ratifiziert, Ausschuss für Gesundheit wären Geschäfte wie das der Westdeutschen Landes- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung bank, die Finanzierung einer Pipeline in Ecuador, die mit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe starken Beeinträchtigungen für Indigene in Ecuador ver- Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO bunden ist, zumindest erschwert worden. b) Erste Beratung des von Abgeordneten Volker Die Vereinten Nationen bitten uns um die Ratifizie- Schneider (Saarbrücken), Petra Pau, Dr. Gesine rung dieser Konvention. Lötzsch und der Fraktion der LINKEN einge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur und bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vor- Winkelmeier [fraktionslos] – Ute Koczy schriften für politisch Verfolgte im Beitritts- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Recht!) gebiet und zur Einführung einer Opferrente (Opferrentengesetz) Das gilt auch für die kirchlichen Hilfswerke und das große Bündnis der NGOs. – Drucksache 16/4846 – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) und bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Petitionsausschuss Winkelmeier [fraktionslos]) Innenausschuss Finanzausschuss Auch Länder, die auf ihrem eigenen Territorium keine Ausschuss für Arbeit und Soziales Indigenen haben, wie die Niederlande und Spanien, haben Ausschuss für Gesundheit diese Konvention ratifiziert. Es ist nun wirklich an der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Zeit, dass Deutschland sich einen Ruck gibt und eben- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Kultur und Medien falls der Ratifizierung zustimmt. Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Ich bitte Sie, das Votum der Menschenrechtsorganisa- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die tionen, der Kirchen und der Vereinten Nationen zu hören Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre und deshalb unserem Antrag zuzustimmen. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen (B) und bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Carl-Christian Dressel, SPD-Fraktion, das Wort. (D) Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegen- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- stand unserer Debatte ist der Entwurf eines Dritten SED- wicklung zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ Unrechtsbereinigungsgesetzes. Ich denke, wir sind uns alle Die Grünen mit dem Titel „Indigene Völker – Ratifizierung einig, wenn ich zu Beginn feststelle: Wiedergutmachen des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorgani- lassen sich die Verbrechen, die von der SED-Diktatur, sation (IAO) Nr. 169 über Indigene und in Stämmen le- die von Partei und Staat in der DDR begangen wurden, bende Völker in unabhängigen Staaten“. Der Ausschuss durch eine finanzielle Regelung sicher nicht. empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Drucksache 16/4838, den Antrag der Fraktion des der CDU/CSU) Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1971 ab- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Daher erscheint es mir wichtig, diesen Diskurs ohne Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- populistische Anbiederungen zu führen. Denn gerade empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD dieses Thema sollte nicht missbraucht werden, um billigen und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke Beifall zu erheischen. Wir sind es den Opfern schuldig, und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. diese Diskussion mit Ernst und größtem Respekt zu führen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: Vor fast vier Wochen haben wir diese Debatte an dieser Stelle schon einmal geführt, als wir am 1. März a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ die Eckpunkte verabschiedet haben. Ich verstehe bei CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines bestem Willen nicht, dass die PDS jetzt kurzfristig einen Dritten Gesetzes zur Verbesserung rehabilitie- Gesetzesentwurf vorlegt. rungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR (Zuruf von der LINKEN: Wir heißen Die Linke!) – Drucksache 16/4842 – Überweisungsvorschlag: – Ja, hätten Sie doch bei der letzten Diskussion Herrn Rechtsausschuss (f) Wieland zugehört. Er hat gesagt: Heute nennen Sie sich 9258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Dr. Carl-Christian Dressel (A) Linkspartei; morgen können Sie sich anders nennen. Bis Debatte anführen, das halte ich für eine Würdelosigkeit, (C) vor kurzem hießen Sie noch SED/PDS; davor hießen Sie die ihresgleichen sucht. SED. Vergessen wir das nicht. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE DIE GRÜNEN) GRÜNEN – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir erkennen sie immer, egal Zur Sache. Am 31. Dezember 2007 laufen die An- wie sie heißen!) tragsfristen in den drei Rehabilitierungsgesetzen aus. Obwohl diese Fristen bereits mehrfach verlängert wor- Ich empfinde es hier als Hohn, wenn Sie sich als die den sind, ist festzustellen, dass die Zahl der Anträge Opfervertreter, als Anwalt der Opfer darstellen, wenn seit der letzten Fristverlängerung nicht wesentlich zu- Sie hier so tun, als seien Sie die weißesten aller weißen rückgegangen ist. Viele potenziell Berechtigte haben bis Schafe. Aber Ihr Weißwaschungsprogramm unterstütze jetzt noch keinen Antrag auf Rehabilitierung gestellt. ich von dieser Stelle aus nicht. Sie sind die Partei der Diejenigen, die ihre Ansprüche erst jetzt geltend ma- Wölfe, egal ob sie nun Mischa heißen oder nicht. Das ist chen, sollen diese Möglichkeit auch weiterhin haben. mir letzte Woche erst wieder klargeworden, als Sie, Dafür sorgen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, Kollegin Jelpke, oder die Kollegin Lötzsch die schönen der drei Ansatzpunkte umfasst: Zustände und die schöne Sportförderung in der DDR wieder bis in den Himmel gelobt haben. Da fehlen mir Erstens. Der Gesetzentwurf sieht die Einführung einer schlichtweg die Worte. Davon kann einem nur schlecht Opferpension für die Menschen vor, die sechs Monate werden. und länger in Haft saßen und wirtschaftlich bedürftig sind. Von der Summe in Höhe von 250 Euro pro Monat (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem werden nach unseren Berechnungen etwa 16 000 Men- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch schen profitieren. Die Einführung einer Bedürftigkeits- bei der LINKEN) grenze, die freilich diskutabel ist, erscheint notwendig, Statt sich hier konstruktiv in den Prozess und die Dis- um ein einheitliches System der Entschädigung der Op- kussion einzubringen, fer der Diktaturen in Deutschland zu schaffen. (Zurufe von der LINKEN) Zweitens. Die Antragsfristen werden, wie von mir be- reits angesprochen, verlängert. Bis zum Ablauf der Fris- legen Sie wieder einmal einen populistischen Gesetz- ten können die Ansprüche weiterhin geltend gemacht entwurf mit vielen schönen Formulierungen vor. Viele werden. Ich hoffe, dass zahlreiche Opfer diese Möglich- (B) Vorschläge sind ja durchaus bedenkenswert; man weiß keit noch wahrnehmen werden. Es ist klar, dass jemand, (D) ja, dass sie nicht von Ihnen stammen. Hören Sie auf, der aufgrund von Verfolgung traumatisiert ist, nicht so- ungedeckte Schecks auszustellen. Kollege Wieland von fort „Hier!“ schreit, weil er dazu einfach nicht in der den Grünen hat Ihnen das letzte Mal zu Recht empfohlen: Lage ist. Darauf muss jetzt jeder Betroffene aufmerksam Suchen Sie das, was Ihre Vorgänger rechtzeitig auf die gemacht werden, um seine Rechte auch nach langer Seite geschafft haben, nämlich das SED-Parteivermögen. Überlegung noch wahrnehmen zu können. Damit ließe sich sehr viel für viele Opfergruppen tun, zum Beispiel für die Zwangsausgesiedelten, die auf bru- Drittens. Die Mittel für die Stiftung für ehemalige po- talste Weise von Haus und Hof vertrieben wurden, nur litische Häftlinge werden von 1,6 Millionen Euro auf weil sie in der Sperrzone wohnten, oder für die Schüler, 3 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt. denen die Zukunftsaussichten verbaut wurden. Ihr Der Gesetzentwurf liegt nun vor. Im Rahmen unserer Gesetzentwurf ist und bleibt ein starkes Stück. Diskussion müssen wir Änderungswünsche, die es mit (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Sicherheit gibt, mit der erforderlichen Sorgfalt und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Ernsthaftigkeit prüfen und dabei auch den Opfern und geordneten der FDP) ihren Verbänden sowie den Sachverständigen Gelegen- heit zur Stellungnahme geben. Wir in diesem Hohen Hause haben seit 1990 einiges zur Verbesserung der Situation der Opfer auf den Weg Ich möchte Sie alle bitten, das Ihrige zu tun, damit wir gebracht. Insgesamt betrachtet sind die derzeitigen zu einer raschen Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes Regelungen für die Opfer freilich unbefriedigend. Viele kommen. Täter befinden sich jetzt im Alter in einer guten Situa- (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: tion, während die Opfer häufig noch traumatisiert und Hartz IV lässt grüßen!) materiell schlecht gestellt sind. Wir haben jetzt die Mög- lichkeit, einen großen Schritt zu tun, um die Situation Viele der Adressaten sind alt. Sie haben 17 Jahre nach vieler Betroffener nachhaltig zu verbessern, der Wiederherstellung der deutschen Einheit einen An- (Zuruf von der LINKEN) spruch darauf, nicht noch länger warten zu müssen. Alle im Bundestag vertretenen Fraktionen sollten dazu ihren so wie wir es bereits im Koalitionsvertrag vereinbart und Beitrag leisten. Eine besondere Verantwortung könnte am 1. März hier im Deutschen Bundestag beschlossen die PDS übernehmen, wenn sie sich dieser Verantwor- haben. Dass Sie Ihre Textbausteine, die Sie in jeder Dis- tung stellen und dieses Thema nicht nur für billigen Kla- kussion gebetsmühlenartig wiederholen, auch in dieser mauk missbrauchen würde. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9259

Dr. Carl-Christian Dressel (A) (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: wieder auf den Prüfstand zu stellen. Die hier in Rede ste- (C) Wir stellen uns der Verantwortung! Im Gegen- henden Opfer der SED-Diktatur waren die Ersten, die satz zu Ihnen!) der zweiten Diktatur auf deutschem Boden den Gehor- sam verweigerten und für demokratische Rechte einge- Ich danke Ihnen. treten sind. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Carl-Christian Dressel [SPD] und des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: NEN]) Als Nächste hat das Wort Kollegin Andrea Voßhoff, CDU/CSU-Fraktion. Es sind die Menschen, die sich in der DDR für Freiheit und gegen die Diktatur eingesetzt haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Umgang mit diesen Opfern ist immer auch ein Gradmesser für den Zustand der Menschlichkeit und des Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): demokratischen Grundverständnisses in unserer Gesell- Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! schaft. Wir wissen, dass viele Betroffene Jahre gebraucht Wenn zwei Mitglieder der beiden Regierungsfraktionen haben – manche noch Jahre brauchen werden; der Kol- gleich hintereinander reden, kann es sein, dass sich die lege Dressel erwähnte es –, bis sie über das erlittene eine oder andere Aussage wiederholt; wir werden es se- Schicksal sprechen können und ihre daraus resultieren- hen. den Rechte in Anspruch nehmen. Die immer noch hohe Der Kollege Dressel sagte bereits – wir wissen das –: jährliche Zahl der Menschen, die Leistungen nach den Am 1. März dieses Jahres haben wir in diesem Hause zu- Rehabilitierungsgesetzen beantragen, zeigt, dass dieses letzt über Änderungen des SED-Unrechtsbereinigungs- Kapitel des Rehabilitierungsrechtes noch nicht geschlos- gesetzes diskutiert. Anlass war das von CDU/CSU und sen werden darf. Wenn wir mit unserem Gesetzentwurf SPD eingebrachte Eckpunktepapier für die Erarbeitung die Ausschlussfristen für die Antragstellung erneut ver- des Entwurfs eines Dritten SED-Unrechtsbereinigungs- längern wollen, ist dies daher nur konsequent. gesetzes. Heute, vier Wochen später, liegt der Gesetzent- Zum anderen haben wir uns immer wieder die Frage wurf vor. Es ist gut und zu begrüßen, dass dieser Gesetz- zu stellen, ob wir mit den Rehabilitierungsgesetzen und entwurf den am 1. März dieses Jahres vorgestellten den in den Folgejahren vorgenommenen Änderungen Eckpunkten zügig gefolgt ist. nach unserem heutigen Kenntnisstand über Wirkungen (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. und Ergebnisse der bestehenden Entschädigungsregelun- (D) Dr. Carl-Christian Dressel [SPD] und des Abg. gen das getan haben, was notwendig, geboten und dem Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schicksal der Opfer angemessen ist. Dabei haben wir NEN]) Entwicklungen der Rechtsprechung zu berücksichtigen, die die bisherigen Regelungen in neuem Licht erschei- Ich darf an dieser Stelle dem Justizministerium für die nen lassen und die Notwendigkeit zur Folge haben, Leis- Hilfestellung bei der Formulierung ganz herzlich dan- tungen zu verbessern und zielgenauer auszugestalten. ken. In diesem Zusammenhang will ich die Auswirkungen Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, bevor der Entscheidungen, die das Bundesverfassungsgericht ich auf die Inhalte des Gesetzentwurfes eingehe, eine in den vergangenen Jahren gefällt hat, ansprechen: Das grundsätzliche Vorbemerkung: 17 Jahre nach dem Fall Bundesverfassungsgericht hat die Kappung der Renten der Mauer diskutieren wir erneut, wie schon häufig, über der privilegierten, staatsnahen Personenkreise, die Änderungen und damit Verbesserungen des SED-Un- der Gesetzgeber vorgenommen hatte, aufgehoben. Dies rechtsbereinigungsgesetzes. Ist das nach so langer Zeit führte für die genannten Personen zu erheblichen Ver- noch notwendig? Ich sage ein klares Ja. Lassen Sie mich besserungen im Versorgungs- und Rentenrecht. Für die dazu zwei Bemerkungen machen: Zum einen ist es not- SED-Opfer stellt sich zwangsläufig die Frage – auch wir wendig und richtig, die angemessene Würdigung der haben sie uns zu stellen –, wie wir mit der dadurch ent- Opfer der SED-Diktatur immer wieder auf die politi- standenen, immer wieder konstatierten moralischen Ge- sche Tagesordnung zu setzen. rechtigkeitslücke umgehen. Die Opfer fragen konkret: (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wie geht der Rechtsstaat mit denen um, die im Dienste Dr. Carl-Christian Dressel [SPD] und des Abg. des Unrechtsapparates SED wirkten, und wie behandelt Hans-Michael Goldmann [FDP]) er die, die durch ihre Zivilcourage Opfer ebendieses Un- rechtsapparates wurden? In den 17 Jahren, die seit der Wiedervereinigung vergan- gen sind, gab es immer wieder ein Fortschreiten des Pro- Es ist heute schon gesagt worden: Wiedergutmachen zesses der Erkenntnis und der Aufarbeitung der SED- lässt sich das, was die Opfer der SED-Diktatur erfahren Diktatur und ihrer Folgen und damit auch genauere haben, nicht. Kenntnisse über Umfang und Ausmaß des Unrechts, das (Beifall bei der CDU/CSU) so viele Betroffene erlitten haben. Aus diesem Erkennt- nisprozess heraus haben wir die bestehenden Regelun- Der Gesetzgeber hat mit den Rehabilitierungsgesetzen gen auch 17 Jahre nach der Wiedervereinigung immer seit der Wiedervereinigung nur versuchen können, die 9260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Andrea Astrid Voßhoff (A) Folgen für die Betroffenen abzumildern. So unbefriedi- reichen konnten, dass das Einkommen des Ehegatten (C) gend die Debatten im Bundestag und vor allem ihre Er- oder eines Partners, mit dem der Betroffene in einer Le- gebnisse für die Opfer waren und vielleicht auch noch bensgemeinschaft lebt, bei der Ermittlung der Einkom- sind, weil sie aus ihrer Sicht nicht weit genug gehen – sie mensgrenze außen vor bleiben soll. waren immer ein Zeichen. Ich denke, ich spreche für die Fraktionen, die, in unterschiedlicher Kombination, seit (Beifall bei der CDU/CSU) der Wiedervereinigung die Bundesregierung gestellt ha- Es kommt somit nur auf das Einkommen des Betroffe- ben, wenn ich sage: Wir waren stets um einen gangbaren nen an. Weg bemüht, wir haben stets gerungen, wie wir mit den speziellen Fragen der Entschädigung der SED-Opfer Ich habe sehr viel Verständnis für die Kritik, die an umzugehen haben und was wir tun können. Die mehrfa- dieser Bedürftigkeitsregelung geübt wird, und ich nehme chen Änderungen der Rehabilitierungsgesetze haben im sie auch sehr ernst. Gleichwohl müssen wir die Ausge- Ergebnis immer dazu geführt, dass die Situation der Op- staltung der Entschädigungen der Opfer nach 1945 auch fer, wenn auch manchmal in kleinen Schritten, verbes- unter der Prämisse der Orientierung an den Entschädi- sert wurde. gungen für die Opfer von vor 1945 betrachten. Dies ha- ben wir getan. Die Beratungen werden zeigen – darauf Ich sage auch selbstkritisch dazu, dass die Debatten, hoffe ich –, ob und welche Spielräume es unter Berück- die in diesem Hause darüber stattgefunden haben, sichtigung der vorgenannten Prämissen gibt. Ich denke, manchmal von gegenseitigen Vorhaltungen begleitet wa- in einer Anhörung, die wir dazu durchführen sollten, ren, je nachdem, wer in der Regierungsverantwortung wird es Gelegenheit geben, dies auch entsprechend zu war – sei es Schwarz-Gelb oder Rot-Grün – und nach untersuchen. Trotz aller Kritik: Mit diesem Gesetzent- Meinung der Opposition mehr hätte tun können. Auch wurf von CDU/CSU und SPD wird eine Opferpension heute diskutieren wir wieder, welche Verbesserungen für den betroffenen Personenkreis erstmals Realität. Das wir im Bereich der SED-Unrechtsbereinigung auf den ist eine wichtige und notwendige Botschaft an die be- Weg bringen können und wollen. Zum Kerngehalt dieses troffenen Opfer. Gesetzentwurfes gehört – das ist schon angesprochen worden – die Schaffung einer Opferrente von monatlich (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie 250 Euro für diejenigen, die unter der Diktatur der SED des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ besonders schwer gelitten haben: die ehemaligen politi- DIE GRÜNEN]) schen Häftlinge. Wir von der CDU/CSU haben uns in Ich sagte es bereits: Weitere Inhalte des Gesetzent- den vergangenen Jahren nachhaltig für eine Entschädi- wurfs sind im Kern die Verlängerung der Antragsfristen gung in Form einer Opferpension, also einen weiteren hinsichtlich der Ansprüche nach den Rehabilitierungsge- (D) (B) Ausgleich für das Unrecht, das die betroffenen Personen setzen sowie die geplante Aufstockung der Mittel für die erlitten haben, eingesetzt. Stiftung für ehemalige politische Häftlinge. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich denke, wir sollten bei den anstehenden Beratun- neten der SPD) gen intensiv dazu übergehen und die Zeit nutzen, die Die SPD hat dankenswerterweise mitgezogen; wir konn- Kritik der Opferverbände an einzelnen Punkten des Ge- ten es im Koalitionsvertrag vereinbaren. Heute debattie- setzes sehr sorgsam zu prüfen sowie die Praktikabilität ren wir unter anderem über die inhaltliche Ausgestaltung einzelner Umsetzungsregelungen auch noch einmal zu ebendieser Opferpension. Damit setzt die Große Koali- hinterfragen. Wir sind den SED-Opfern in besonderer tion ein notwendiges Zeichen dafür, dass die Opfer der Weise verpflichtet. Das sollten wir auch zur Grundlage SED-Diktatur eine weitere sichtbare und angemessene unserer Beratungen machen. Würdigung erfahren sollen und auch müssen. Mir sei noch eine abschließende Bemerkung zum Ja, ich räume ein: Der Erhalt der Opferrente ist an Be- heute auch vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktion Die dingungen geknüpft, die nicht frei von Kritik sind. Ich Linke erlaubt. Ich habe Ihren Antrag aufmerksam gele- nenne insbesondere die Voraussetzungen zum Erhalt der sen. Neben Ihren inhaltlichen Forderungen ist mir vor al- Renten, und zwar die Mindesthaftzeit und die wirt- lem Ihre Wortwahl aufgefallen – nicht in dem von Ihnen schaftliche Bedürftigkeit der Antragsteller. vorgeschlagenen Gesetzestext, aber in dem Vorspann und in der Begründung Ihres Entwurfs. Sie sprechen im- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mer nur von den – ich zitiere – „politisch Verfolgten im NEN]: Ja!) Beitrittsgebiet“. Sie schreiben – ich zitiere –: Ich weiß, dass viele Betroffene ihr erlittenes Schick- Die betroffenen Personen aus dem Beitrittsgebiet sal durch die jetzt vorgelegte und damit geplante Ausge- nahmen persönliche und soziale Nachteile hin, um staltung der Opferpension nicht in ausreichendem Maße Gesellschaftskritik zu üben. gewürdigt sehen. Ich kenne die Argumentation der Kriti- ker dieses Entwurfs – insbesondere gegen diese Voraus- Was Sie mit „persönlichen und sozialen Nachteilen“ setzung der wirtschaftlichen Bedürftigkeit. Sie argumen- umschreiben, meine Damen und Herren von der Frak- tieren damit, dass die materielle Anerkennung eines tion Die Linke, erlittenen Unrechts nicht an die Einkommenssituation (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Stasiknast!) des Opfers gekoppelt werden darf. Ich begrüße es daher auch, dass wir bei der Erstellung des Gesetzentwurfs er- war oftmals Stasihaft mit psychischer Folter. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9261

Andrea Astrid Voßhoff (A) (Beifall des Abg. Dr. Carl-Christian Dressel Dann erklären Sie uns doch, Herr Kollege Vaatz, wa- (C) [SPD]) rum Sie diese Erklärung nach dem vorliegenden Gesetz- entwurf gleich zweimal im Jahr einsehen wollen. Wel- Was Sie mit „Gesellschaftskritik“ umschreiben, waren chen Grund gibt es, diese Prozedur alle sechs Monate zu das mutige Eintreten von Menschen für Demokratie und wiederholen? Freiheit und der ebenso mutige Widerstand gegen die SED-Diktatur, den es anzuerkennen und zu würdigen (Iris Gleicke [SPD]: Wenn Sie das SGB XII gilt. kennen würden, würde sich das von selbst er- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP schließen!) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich wiederhole, was ich in der letzten Debatte zu die- Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Sie dies in sem Thema gesagt habe: Wenn Sie wirklich eine Aner- Ihrem Gesetzentwurf auch klar zum Ausdruck gebracht kennung durchlittenen Unrechts anstreben, dann können hätten. Vor allem hätte ich mir aber gewünscht, dass Sie Sie eine monatliche Zuwendung, wie Sie es nennen, bei der Begründung Ihres Gesetzentwurfs einmal auch nicht vom Einkommensniveau der Bezugsberechtigten konkret die genannt hätten, die für das Schicksal der abhängig machen. meisten Opfer verantwortlich sind, nämlich die SED. Opfer wird man nicht dadurch, dass man heute be- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP dürftig ist. Wenn Sie wirklich „die gesellschaftliche Be- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) deutung des mutigen Einsatzes für eine rechtsstaatliche und freiheitliche Ordnung als beispielgebend herausstel- Für die Glaubwürdigkeit Ihres Gesetzentwurfs wäre dies len“ wollen, wie es der Bundesrat 2004 formulierte, ist sehr förderlich gewesen. auch eine Beschränkung der Bezugsberechtigten auf Vielen Dank. Haftopfer mit einer mindestens sechsmonatigen Haft- dauer nicht nachvollziehbar. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Meine Fraktion fordert deshalb die Einbeziehung al- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ler Verfolgtengruppen, die bisher von den gesetzlichen Ich erteile Kollegen Volker Schneider, Fraktion Die Regelungen ausgeschlossen oder durch diese benachtei- Linke, das Wort. ligt wurden, wie Zivildeportierte, verfolgte Schülerinnen (Beifall bei der LINKEN) und Schüler und Opfer von Zersetzungsmaßnahmen. Nun (B) sind – damit haben Sie völlig recht, Kollege Dressel – na- (D) hezu alle von uns vorgelegten Vorschläge nicht neu. Sie Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): sind bereits von einigen anwesenden Kolleginnen und Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Kollegen vorgebracht und von den hier vertretenen Par- ren! Bereits anlässlich der Beratung der von der Regie- teien behandelt worden. Aber immer wieder ist die Um- rungskoalition eingebrachten Eckpunkte für ein Drittes setzung solcher Vorschläge an finanzpolitischen Erwä- SED-Unrechtsbereinigungsgesetz habe ich für meine gungen gescheitert. Das galt bereits für das von der Fraktion festgestellt, dass die Koalition die selbst gesetz- demokratisch gewählten zehnten der DDR ten Ziele mit ihren Vorschlägen deutlich verfehlt. Leider 1990 einstimmig mit den Stimmen der PDS verabschie- muss ich heute feststellen, dass Sie mit dem vorliegen- dete Rehabilitierungsgesetz. den Gesetzentwurf noch hinter den Ankündigungen Ih- rer Eckpunkte zurückbleiben. Nun sprechen Sie mit großer Leidenschaft – das war bei Herrn Dressel der Fall, und auch seine Nachfolgerin Am 1. März 2007 strich Kollege Scholz heraus, dass hat sich ähnlich geäußert – und heftigen Emotionen mei- die Mittel für die Häftlingshilfestiftung aufgestockt wer- ner Fraktion das moralische Recht ab, uns an der Debatte den. Die Umsetzung dieses Vorschlags hätte meine Frak- zu beteiligen. Kollege Wieland hatte in der letzten De- tion begrüßt. In Ihrem Gesetzentwurf ist davon keine batte diesen Part übernommen. Damals hat er behauptet Rede mehr. – Kollege Dressel hat es heute wiederholt –, die PDS (Iris Gleicke [SPD]: Man muss besonders we- habe systematisch Parteivermögen ins Ausland transfe- nig belesen sein, um einen solchen Satz zu sa- riert, statt sie für einen Täter-Opfer-Ausgleich zu ver- gen!) wenden. Kollege Vaatz unterstellte der Kollegin Leutheusser- (Zuruf von der CDU/CSU: Recht hat er!) Schnarrenberger, dass sie bezüglich der Bedürftigkeits- prüfung einen falschen Zungenschlag in die Debatte ge- Das ist falsch. bracht hätte. (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der Ich darf Sie zitieren, Kollege Vaatz: SPD) Nach meiner Auffassung kommt es dabei auf die Kollege Wieland weiß das nur allzu genau. Ich darf letzte Einkommensteuererklärung an. Das ist inso- den ehemaligen CDU-Abgeordneten Dr. von fern ein völlig normaler technischer Vorgang, den Hammerstein, der von 1998 bis 2006 Vorsitzender der man nicht zu hoch bewerten sollte. Unabhängigen Kommission Parteivermögen war und be- 9262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) stimmt unverdächtig ist, PDS-freundlich eingestellt zu falsch zitieren! – Weitere Zurufe von der (C) sein, zitieren, CDU/CSU) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Er hat es nicht gefunden!) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Wenn Sie sich wieder beruhigt haben, dann beant- der in einem Interview mit der „Südthüringer Zeitung“ worte ich gerne Ihre Frage. Natürlich ist mir auch dieser in Bezug auf solche Spekulationen erklärt hat: Teil des Interviews bekannt, wie Ihnen wahrscheinlich 1995 hat die Partei einen Vergleich mit uns ge- ein weiterer Teil des Interviews bekannt ist, in dem da- schlossen und notariell versichert, dass sie alles von die Rede ist, welche Gelder tatsächlich ins Ausland mitgeteilt hätte, was sie wüsste. Und sie haben das transferiert wurden und dass es sich dabei wohl um Gel- verbunden mit einer Vertragsstrafe. Das hieß: Hät- der gehandelt hat, die aus der Abteilung von Schalck- ten wir noch etwas gefunden und nachweisen kön- Golodkowski und der transferiert wurden. nen, dass die PDS-Führung von den Geldern ge- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist doch wusst hat, dann hätte sie noch mal das Doppelte an eine Unverschämtheit! – Weitere Zurufe von Vertragsstrafe zahlen müssen. der CDU/CSU und der SPD) Jetzt wird es interessant. Auf die Nachfrage „Kam es – Wenn Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen beruhigen dazu?“ erklärte er weiter: können, dann kann ich auch Ihre Frage beantworten. Nein. Wir haben das der Partei nie nachweisen kön- nen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie haben doch eine laute Stimme. ( [CDU/CSU]: Ja, nachweisen!) Und die Parteiführung – das waren damals Gysi, Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Bisky und Bartsch – konnte sich auf so eine Ver- Soll ich noch lauter reden? Gut. tragsstrafe eigentlich nur eingelassen haben, wenn sie uns die Wahrheit gesagt haben. Deshalb möchte Weiter ist Ihnen bekannt – auch das geht aus dem In- ich ihr da nichts unterstellen. terview hervor –, dass die PDS an die Unabhängige Kommission 1,6 Milliarden Euro abgeführt hat und dass Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen. diese vorwiegend für gemeinnützige Zwecke im Osten (Beifall bei der LINKEN) zur Verfügung gestellt wurden, insbesondere zum Bei- spiel auch für die Stiftung zur Aufarbeitung der SED- (B) Diktatur. Ist das richtig oder nicht? (D) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Ihre Redezeit ist beendet. Wenn Sie sie (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Frage verlängern wollen, können Sie eine Zwischenfrage zu- beantworten!) lassen. Herr Präsident, ich möchte noch einen letzten Satz sa- gen. Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): (Zuruf von der LINKEN – Gegenruf von der Herr Kollege Schneider, Sie zitieren aus einem Inter- SPD: Möchten Sie etwas zur Aufklärung bei- view mit Herrn von Hammerstein. Darf ich Sie fragen, tragen, Frau Kollegin?) ob Sie auch den Passus in dem Artikel kennen, der mit folgender Frage an Herrn von Hammerstein beginnt: „Was war die spektakulärste Entdeckung“? Ich zitiere Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: die Antwort von Herrn von Hammerstein: Sagen Sie doch Ihren letzten Satz! Vielleicht der Fall Putnik im Spätherbst 1990. Es ging um eine Moskauer Firma namens Putnik, die Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Konten im Ausland hatte, vor allem in Norwegen. Das ist nicht ganz so einfach, Herr Präsident. Auf diese Konten hat die Partei Millionenbeträge Wir haben konsequent an der Aufarbeitung unserer überwiesen. Damit habe sie Forderungen erfüllt, die Vergangenheit gearbeitet und werden das auch in der Putnik gegen die SED hätte, hieß es bei der Partei. neuen Partei tun. Genau deshalb streiten wir hier auch Aber wir haben nachgebohrt. Gysi ist sogar nach im Bewusstsein unserer besonderen Verantwortung da- Moskau geflogen. Doch in Moskau war man nicht für, dass die Opfer politischer Verfolgung eine Würdi- bereit, diese Legende aufrechtzuerhalten. Gysi gung und Wertschätzung erfahren, die ihrer historischen musste den Schwindel einräumen und die Partei die Rolle entspricht. Gelder herausgeben. Das war schon ziemlich spek- takulär. (Beifall bei der LINKEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Unglaublich!) Ist Ihnen dieser Passus auch bekannt? (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ein dreistes Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Stück ist das! Typisch Saarländer! – Jochen- Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Wieland Konrad Fromme [CDU/CSU]: Auch noch von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9263

(A) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Zurufe von der LINKEN) (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich Soweit waren wir eigentlich schon am 1. März, aber dachte, dass wir unsere Reden zu Protokoll geben kön- Sie wollten und mussten es offenbar noch einmal hören. nen, aber nach dem, was Sie, Kollege Schneider, eben gesagt haben, bin ich wirklich froh, noch etwas sagen zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, können. bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Wenn Sie wirklich, so, wie Sie behaupten, Ihre Gelder Das wurde hier deutlich gesagt. Sie haben es ange- zur Verfügung gestellt hätten, dann hätten wir diese kündigt, es gibt Kritik daran, es gibt Kritik von den Be- Kommission gar nicht gebraucht, troffenen. Wir alle haben sie gehört. Ich habe es eben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sehr gerne gehört, dass Sie gesagt haben: Wir wollen bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) noch Spielraum in der Beratung schaffen. die in ihrem Schlussbericht bedauert, dass sie – trotz (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Einsatz von Detektiven, die weltweit gefahndet haben – DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD) nur einen Bruchteil erreicht hat. Jahrelang wurde prozes- Ich habe es gerne gehört, und das ist auch nötig. siert, zum Beispiel vor dem Verwaltungsgericht und vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin, Stichwort Rote Fini Nach wie vor ist für uns der Hauptkritikpunkt, dass Österreich, weil Sie eben nichts herausgeben wollten, Dinge wie Zersetzungsmaßnahmen auch gegenüber Schülerinnen und Schülern ausgeblendet werden und ge- (Zuruf von der LINKEN) sagt wird: Eine Verfolgung beginnt erst ab einem halben weil man Sie zwingen musste. Es hat zur Wendezeit Jahr DDR-Haft. Das wird nicht gehen. rechtskräftige Verurteilungen Ihrer Kassenwarte ge- Ich habe zur Höhe der Summe schon beim letzten geben. Sie sind rechtskräftig dafür verurteilt worden. Mal gesagt: Gerade Sie, die CDU, haben in der letzten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Legislaturperiode eine Summe von 500 Euro in die An- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) träge geschrieben. Sie haben diese Summe sozusagen in die Welt gesetzt. Von daher ist es kein Wunder, dass Nun machen Sie hier Geschichtsrevision und erklären viele schockiert sind, dass es jetzt nur noch die Hälfte gleichzeitig: Wir arbeiten unsere Vergangenheit auf. – sein soll, und dass das von vielen für unzureichend ge- Das tun Sie, indem Sie sie verfälschen, indem Sie lügen. halten wird. Auch darüber muss noch einmal gesprochen Das ist Ihre Art der Aufarbeitung. werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Es ist unlogisch, dass man einerseits von einer Aner- (B) bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – kennungs- und Ehrenpension spricht und andererseits (D) Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist ein dreis- bestimmt, diese Anerkennung und Ehrung bekommt nur tes Stück!) derjenige, der bedürftig ist. Die zweite Masche ist: Sie schreiben einen Gesetzent- (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler wurf, als schrieben Sie über fremde Personen, als ginge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) das SED-Unrecht – und darum geht es, um Ihr Unrecht – Sie gar nichts an. Sind denn die anderen nicht zu ehren? Das ist doch ein eklatanter Widerspruch. Dabei darf es meines Erachtens (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nicht bleiben. Diese unsägliche Bedürftigkeitsklausel bei der CDU/CSU und der SPD) muss fallen. Sonst haben wir im Ergebnis – es tut mir Sie stellen sich aber hier hin und fordern für Ihre Frak- leid, das sagen zu müssen – Opfer erster und zweiter tion, dass die Mittel erhöht werden müssen. Die Steuer- Klasse. zahler zahlen schon jetzt 1,6 Milliarden Euro Zusatz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN renten für Ihre Nomenklatur, die sich im Rentenalter sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gut versorgen lässt. Das zahlen die Steuerzahler in Ost SPD und der FDP) und West. Die Fristen werden nun verlängert. Aber man sollte ein- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- mal darüber nachdenken, ob eine völlige Entfristung SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und nicht ein Weg in die Zukunft ist. der SPD) Abschließend: hat im Zusammen- Wenn sie jetzt auch noch – und sie werden es tun – hang mit dieser Debatte daran erinnert, dass derjenige, Ehrenpensionen zahlen, dann sind Sie die allerletzten, der zehn Jahre im Zuchthaus Bautzen als Wärter Dienst die etwas zur Höhe der Beträge zu sagen haben. Das sei tat, heute mehr bekommt als derjenige, der dort 20 Jahre einmal ganz deutlich vorneweggestellt. in Haft saß. Das müssen wir ändern. Solange dies nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, so befriedigend geregelt ist, dass auch die Opfer damit bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) leben können, so lange ist die innere Einheit unseres Landes noch nicht hergestellt. Deswegen bleibe ich dabei: Sie sollten in dieser De- batte vom moralischen und politischen Standpunkt aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betrachtet schweigen. Rechtlich gesehen können Sie hier sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der vortragen, das ist Ihr Recht. SPD und der FDP) 9264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: (C) Ich schließe die Aussprache.1) Beratung des Antrags der Abgeordneten Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), würfe auf den Drucksachen 16/4842 und 16/4846 an die Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen schlossen. – Drucksache 16/4852 – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Überweisungsvorschlag Auswärtiger Ausschuss (f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Bahr (Münster), Paul K. Friedhoff, Heinz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Entwicklung Fraktion der FDP Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Umlageverfahren U1 zur Entgeltfortzahlung Die Kollegen Manfred Grund, Johannes Pflug, Harald im Krankheitsfall auf freiwillige Basis stellen Leibrecht, Hakki Keskin und die Kollegin Marieluise Beck sowie Staatsminister Gernot Erler haben ihre Re- – Drucksache 16/2674 – den zu Protokoll gegeben.4) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 16/4852 zur federführenden Beratung an Ausschuss für Arbeit und Soziales den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gege- den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ben: Max Straubinger, Jella Teuchner, Heinz Lanfermann, Entwicklung sowie den Ausschuss für Angelegenheiten Frank Spieth und Birgitt Bender.2) der Europäischen Union zu überweisen. Gibt es ander- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Drucksache 16/2674 an die in der Tagesordnung aufge- Überweisung so beschlossen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: (B) so beschlossen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun (D) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Bluhm, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, weite- Öffentlichen Verkehr in den neuen Bundeslän- rer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN dern nicht gefährden – Verkehrsflächenberei- nigungsgesetz verlängern Gesetz zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile vorlegen (Nachteilsausgleichsgesetz – – Drucksache 16/4856 – NAG) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) – Drucksache 16/3698 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Die Kollegen Marco Wanderwitz, Peter Danckert und Rechtsausschuss Peter Hettlich sowie die Kolleginnen Sabine Finanzausschuss Leutheusser-Schnarrenberger und Heidrun Bluhm haben Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 5) Ausschuss für Gesundheit ihre Reden zu Protokoll gegeben. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Die Kollegen Hubert Hüppe, Jörg Rohde, Ilja Seifert Drucksache 16/4856 zur federführenden Beratung an und Markus Kurth sowie die Kollegin Silvia Schmidt ha- den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Aus- ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu über- weisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Drucksache 16/3698 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf: verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid Nouripour, Dr. Gerhard Schick, Silke Stokar von 1) Anlage 5 2) Anlage 6 4) Anlage 8 3) Anlage 7 5) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9265

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Neuforn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Richtlinie 2001/83/EG und der Verordnung (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (EG) Nr. 726/2004 (inkl. 15023/05) ADD 1 SWIFT-Fall aufklären – Datenschutz im inter- KOM (2005) 567 endg.; Ratsdok. 15023/05 nationalen Zahlungsverkehr wieder herstellen – Drucksachen 16/419 Nr. 2.7, 16/2182 – – Drucksache 16/4066 – Berichterstattung: Überweisungsvorschlag: Abgeordneter Jens Ackermann Finanzausschuss (f) Innenausschuss Die Kollegen Hubert Hüppe, Dr. Marlies Volkmer, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Michael Kauch, Frank Spieth und Dr. Harald Terpe haben Ausschuss für Kultur und Medien ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Piltz, Dr. Volker Wissing, Jens Ackermann, wei- Drucksache 16/4853 zur federführenden Beratung an terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an Deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen – Zu- den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- griff US-amerikanischer Stellen auf SWIFT- genabschätzung sowie an den Ausschuss für die Angele- Daten unverzüglich stoppen und Vorgang um- genheiten der Europäischen Union zu überweisen. Gibt fassend aufklären es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. – Drucksache 16/4184 – Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesund- Überweisungsvorschlag: heit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzausschuss (f) über einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- Innenausschuss schen Parlaments und des Rates über Arzneimittel für Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien neuartige Therapien. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2182, in Kennt- Die Kollegen Georg Fahrenschon, Lothar Binding, nis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Gisela Piltz, Dr. Axel Troost und Omid Nouripour haben Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf und Grünen bei Enthaltung von FDP und Linken ange- (B) (D) den Drucksachen 16/4066 und 16/4184 an die in der Tages- nommen. ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: die Überweisungen so beschlossen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: Kotting-Uhl, Renate Künast, Fritz Kuhn und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, Für eine Schließung des Forschungsendlagers weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Asse II unter Atomrecht und eine schnelle BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Rückholung der Abfälle Bioethische Grundsätze auch bei Arzneimitteln – Drucksache 16/4771 – für neuartige Therapien sicherstellen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) – Drucksache 16/4853 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit (f) Federführung strittig Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- das so beschlossen. schuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- nen, das Wort. schen Parlaments und des Rates über Arzneimit- tel für neuartige Therapien und zur Änderung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

1) Anlage 10 2) Anlage 11 9266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Jörg Tauss [SPD]: Besser, als wenn sie es (C) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! auch noch wegwerfen würden! Das würde ich Meine Fraktion fordert mit dem vorliegenden Antrag die ihnen auch noch zutrauen!) Rückholung von Atommüll aus einem Endlager, in das – Herr Tauss, das Ganze ist tatsächlich zu makaber für seit 20 Jahren Wasser eindringt, und die Unterstellung Zynismus und auch für Ihren Spaß. – So kann es doch dieses Atommülllagers unter das Atomrecht. wohl nicht gehen. Das Atommülllager, für das wir unglaublicherweise (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diese beiden Forderungen überhaupt stellen müssen, ist Wir diskutieren hier öfter in aller Ernsthaftigkeit, welche die sogenannte Asse II bei Wolfenbüttel, vor 40 Jahren Bedingungen ein Standort für die Endlagerung von als Forschungsendlager konzipiert. Die ersten Atom- Atommüll erfüllen muss. Wir haben da durchaus di- müllfässer wurden dort 1967 eingelagert; das war vergierende Vorstellungen, aber unser gemeinsames 20 Jahre vor Tschernobyl, und mit Atomkraft und mit niedrigstes Level liegt doch wohl deutlich höher als das, ihrem Müll ging man damals offenbar relativ lax um. was der Bevölkerung um Wolfenbüttel hier zugemutet wird. Glücklicherweise steht das Bergamt Clausthal- Die ersten Fässer wurden noch ordentlich gestapelt, Zellerfeld hier nicht an der Seite der GSF und hat den dann ging man aus Zeitgründen dazu über, die Fässer zu Antrag zur Flutung und zur Schließung der Asse jetzt verstürzen. Heute liegt der Großteil der 125 000 Fässer erst einmal abgelehnt, und zwar wegen des fehlenden kreuz und quer, beschädigt und mit Salzgranulat ver- Sicherheitsnachweises. Das stärkt meinen Glauben an mischt in den Kammern des Salzstocks. Diese relativ deutsche Behörden. wilde Einlagerung ist die Ursache für die immense Höhe der berechneten Kosten einer Rückholung und der Trotz dieses richtigen Entscheides ist das Bergamt Hauptgrund, warum eine Rückholung von den Verant- letztlich aber die falsche genehmigende Behörde. Der wortlichen als nicht machbar betrachtet wird. Formal Umgang mit dem Atommüll, die Frage, was dort wie zu sind es technische und sicherheitsrelevante Aspekte, die tun ist, um nicht nur die zukünftigen Generationen, sondern gegen eine Rückholung des Mülls sprechen. auch die jetzt dort lebende vor Schäden, zum Beispiel vor kontaminiertem Trinkwasser, zu schützen, und auch Die Betreibergesellschaft GSF hat sich ein Gutachten der richtige Umgang mit den Ängsten und Sorgen der erstellen lassen, in dem davon ausgegangen wird, dass Bevölkerung ist nur unter Atomrecht leistbar. Das ein- das Grubengebäude nur bis etwa 2014 stabil genug für klagbare Recht beispielsweise zur Einsicht in Unterlagen die Durchführung von Untertagearbeiten sein wird, die ist etwas völlig anderes als von der Betreibergesellschaft gefilterte freiwillige Informationen. (B) Rückholung aber 25 Jahre dauern würde. Statt den Müll (D) rückzuholen, soll die Grube also stabilisiert und berg- Das niedersächsische Umweltministerium hat zwi- rechtsgemäß sicher abgeschlossen werden. Was aber schenzeitlich Bundesminister Gabriel zugesichert, ihn über kann „sicher“ denn heißen bei einem Grubengebäude, den Stand der Prüfung der eingereichten Schließungs- das in einem Berg liegt, der sich bewegt – konvergiert –, unterlagen auf dem Laufenden zu halten. Damit – so der dessen Deckgebirge bereits verstürzt, also eingebrochen dortige Landrat Röhmann – sei sichergestellt, dass in allen ist, das einen beständigen Wasserzufluss hat, von dem Phasen des Verfahrens atomrechtliche Fragestellungen man nicht weiß, woher er kommt, und das in direkter und Prüfkriterien einbezogen und berücksichtigt werden Verbindung mit dem Trinkwasserzufluss einer nahe ge- können. Schön, aber warum nur die Möglichkeit eröffnen, legenen Stadt steht? warum atomrechtliche Fragestellungen und Prüfkriterien nicht zur Grundbedingung machen? Worum geht es hier Sicher abschließen unter Bergrecht heißt, das Gru- denn? Um Atommüll, meine Damen und Herren. Unsere bengebäude mit Magnesiumchlorid zu stabilisieren, den eindeutige Forderung ist, alle weiteren Maßnahmen nach Zutritt der Flüssigkeit in die mit Atommüll gefüllten Atomrecht durchzuführen. Kammern mit Betonbarrieren zu verhindern zu versuchen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und dann die beiden Schächte zu schließen. Wir haben es hier schon lange nicht mehr mit einem Das Bundesministerium für Bildung und Forschung Forschungsstandort zu tun, sondern mit einem handfesten hat uns auf unsere Kleine Anfrage am 16. Oktober letzten geologischen Endlagerproblem. Die Rückholung der Jahres unter anderem geantwortet: „Der Zustand der ein- atomaren Abfälle aus dem unsicheren Endlager stellt gelagerten Fässer wird nicht überwacht.“ Ich zitiere aus sich uns derzeit als einzig realistische Option für einen der Broschüre der GSF „Asse – ein Bergwerk wird ge- angemessenen Umgang mit dem Atommüll und für den schlossen“: Schutz der Bevölkerung dar. Sollten sich andere Verfah- rensweisen in einem transparenten Vergleich mit einem Nachdem die Schachtanlage Asse einmal wie vorge- nicht höheren Gefahrenpotenzial als die Rückholung sehen gefüllt und abgedichtet ist, werden die Doku- darstellen, dann können wir über Alternativen reden. mente in mehrfacher Ausfertigung bei den zuständi- Bisher sehen wir keine. gen Genehmigungsbehörden hinterlegt, um sie für künftige Generationen zu bewahren. Das Forschungsziel der Asse II war übrigens, sichere Endlagertechniken zu entwickeln. Dieses Ziel ist ganz Es reizt mich, an dieser Stelle zu sagen: Dann kann den offensichtlich grandios verfehlt worden. Das tatsächliche zukünftigen Generationen nichts mehr passieren. Forschungsergebnis ist die größtmögliche Unsicherheit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9267

Sylvia Kotting-Uhl (A) eines Endlagers. Auch wer Atomkraft befürwortet, In Deutschland haben wir dank der Endlager und der (C) müsste von daher größtes Interesse daran haben, dieses Sicherheitsforschung wertvolle Erkenntnisse und einen Forschungsergebnis so nicht stehen zu lassen. hohen Wissensstand, was die Einlagerung von radio- aktiven Abfällen angeht. Das gilt nicht nur für Karlsruhe, Ich danke Ihnen. sondern auch für viele andere Forschungseinrichtungen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lieber Kollege Tauss. Hier spielt die Schachtanlage Asse eine wichtige, hervorgehobene Rolle. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Zuruf der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜND- Ich erteile das Wort Kollegen , CDU/ NIS 90/DIE GRÜNEN]) CSU-Fraktion. – Da stimmen Sie zu. Es freut mich sehr, dass vonseiten (Beifall bei der CDU/CSU) der Grünen Zustimmung kommt. Ich bitte, das im Proto- koll entsprechend zu vermerken. Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dort wurden über Jahrzehnte die Entwicklung und die Meine Damen und Herren! Weltweit sind mehr als Erprobung von Methoden zur Einlagerung von wärme- 440 Kernkraftwerke in Betrieb. erzeugenden, vor allem von hochradioaktiven Abfällen erfolgreich erforscht und damit zusammenhängende sicher- (Ulrich Kelber [SPD]: Nein, nur noch 434! Es heitstechnische Fragen bearbeitet. Die Einlagerung der sind sechs stillgelegt worden!) Fässer mit leicht- und mittelradioaktiven Abfällen bis 1979, die Sie auch in Ihrem Antrag benennen, diente In den nächsten zehn Jahren werden 120 bis 140 neue dazu, unterschiedliche Einlagerungstechniken zu unter- Kernkraftwerkprojekte realisiert. suchen. Art, Menge und Zusammensetzung der Abfälle (Ulrich Kelber [SPD]: Und 150 abgeschaltet!) sind aus dieser Zeit bekannt. Wir haben Einlagerungen in der Salzformation. Das Salzgestein wurde mit dem Die Uranvorräte reichen für mehr als 1 000 Jahre, auch Ziel einer Abschirmung gegen die Biosphäre beobachtet. wenn Sie das in Zwischenrufen bezweifeln mögen. Der Es kam zu einem dauerhaften Einschluss und zur Erpro- Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung beträgt bung verschiedener Einlagerungstechniken. derzeit weltweit 16 Prozent. Als am 30. Juni 1995 das dortige Forschungsinstitut (Ulrich Kelber [SPD]: Und sinkt!) nach 30 Jahren erfolgreicher Arbeit aufgelöst wurde, China will in großem Stil fossile Brennstoffe durch begann eine neue Ära. Seither bereitet die GSF die Kernenergie ersetzen und plant 30 neue Kernkraftwerke. Schließung der Anlage nach Bundesberggesetz vor. (B) (D) (Ulrich Kelber [SPD]: Und noch mehr erneu- (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist die Leugnung erbare Energien! Schauen Sie sich die chinesi- von Realität!) schen Programme an!) Asse ist das erste Bergwerk mit radioaktiven Abfällen, Auch wenn Ihnen das nicht gefallen mag: Finnland baut das geschlossen wird. derzeit sein fünftes Kernkraftwerk – auch mit deutscher Technik, ein Glück; wir sind immer noch vorne mit da- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei – und plant schon das nächste. Schweden ist 1997 NEN]: Das ist das einzige Bergwerk!) – nach dem Ausstieg – wieder in die Kernkraft eingestiegen Das ist ebenso wie die vormalige Erforschung der End- und hat unbefristete Betriebsgenehmigungen für seine lagerung radioaktiver Abfälle eine Pionieraufgabe, der Kernkraftwerke erteilt. wir uns als Mitglieder einer zukunftsoffenen und inno- (Ulrich Kelber [SPD]: Stimmt nicht!) vativen Gesellschaft gerne stellen. Dass im Fall der Schließung dieses Bergwerks sichergestellt werden wird, – Das stimmt sehr wohl, Herr Kollege. dass den Vorschriften nach Bergrecht, Atomrecht und (Ulrich Kelber [SPD]: Die meisten stehen aber Wasserrecht Genüge getan wird, das ist für mich, für gerade still!) meine Fraktion und, wie ich denke, auch für die Koali- tion eine Selbstverständlichkeit. Warum erzähle ich das, (Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: (Manfred Grund [CDU/CSU]: Damit es Tauss Das klingt so, als wüssten Sie gar nicht, was Sie begreift!) da vortragen! – Ulrich Kelber [SPD]: Ich obwohl wir heute über einen Antrag zur Schließung der möchte einmal wissen, wer Ihnen das aufge- Schachtanlage Asse debattieren? Der Grund ist einfach; schrieben hat! Sie leugnen die Realität!) vielleicht werden auch Sie ihn nach meinen Ausführungen – Ich bin etwas überrascht, dass es bei der SPD-Fraktion verstehen. Auch wenn der Atomausstieg Deutschlands an Unterstützung für diese Aussagen fehlt. Die Dinge, besiegelt sein sollte, brauchen nicht nur wir, sondern die ich angesprochen habe, müssten in der Koalition auch andere Länder Endlager. Der Kollege Krummacher wohl unstrittig sein. hat völlig recht – er betont es auch im Ausschuss immer wieder –: Endlager sollen die letzte Ruhestätte für die radio- (Marco Bülow [SPD]: Der Atomausstieg müsste aktiven Rückstände sein, die einer weiteren Verwertung auch unstrittig sein! Steht im Koalitionsvertrag! nicht mehr zugeführt werden können. Das ist gar keine Frage!) 9268 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (A) So ist es auch vorgesehen, wenn ich mich nicht irre. Wir Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten im Rahmen (C) wollen die eingelagerten radioaktiven Abfälle gefahrlos der Endlagerforschung, die sich mit Wassereinbrüchen von der Biosphäre fernhalten bzw. abschließen. Auch in Salzgestein beschäftigen, kommen zu Ergebnissen, das müsste von der SPD-Fraktion eigentlich mitgetragen die Ihren Behauptungen diametral gegenüberstehen. Es werden. Das unterscheidet uns von den Grünen. ist vielerorts gute bergbauliche Praxis, Probleme mit wasserdurchlässigem Salzgestein auf diese Weise zu lö- Wenn ich den Antrag der Grünen richtig gelesen sen. habe, dann wollen Sie die radioaktiven Abfälle jetzt zu- rückholen, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ NEN]: Richtig, aber ohne Atommüll im Berg- DIE GRÜNEN]: Richtig!) bau!) umkonditionieren und dann wieder zwischenlagern, das Ob dies in Asse geht, wird derzeit, wenn ich mich nicht heißt zurückholen in die Biosphäre. irre, amtlich geprüft. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN]: Richtig!) GRÜNEN]: Ist schon abgelehnt!) Dies soll geschehen, ohne überhaupt geprüft zu haben, – Sie bestätigen das. – Über die Ergebnisse dieser Prü- ob das derzeitige Schließungskonzept der Schachtanlage fung sollten wir uns dann unterhalten, wenn die Informa- geeignet ist. tionen vorliegen. Ich habe Ihren Antrag gut studiert: Sie behaupten zwar (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. gleich im ersten Absatz, die Sicherheit des Endlagers sei Hans-Michael Goldmann [FDP]) „nicht mehr gewährleistet“, im Weiteren bleiben Sie jedoch den Nachweis für Ihre Behauptung schuldig. Trotz der Als ich in Ihrem Antrag weiter unten von der Suche fast drei Seiten Text gehen Sie nur äußerst oberflächlich nach dem bestmöglichen Standort gelesen habe, konnte und auch einseitig auf das vorliegende Schließungskonzept ich mich des Eindrucks nicht erwehren, Ihr Antrag ziele ein. Es geht bei weitem nicht nur um die Einbringung eines weniger auf die Schachtanlage Asse als vielmehr auf den Schutzfluids, das deutlich schwerer als Salzwasser ist, Schacht Konrad. sodass selbst bei Transportprozessen etwaige gelöste radio- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) aktive Stoffe im Fluid unterhalb des Salzwassers Rich- tung Erdmitte verbleiben. Sie fordern in Ihrem Antrag Was Sie hier vorschlagen, ist – Sie müssen entschul- die Bundesregierung auf, alle notwendigen Schritte ein- digen – wirklich grotesk. Wir haben mit Asse eine (B) zuleiten, um das Grubengelände zu stabilisieren. Gleich- Schachtanlage mit radioaktiven Abfällen, deren Eignung (D) zeitig unterschlagen Sie aber, im Hinblick auf die endgültige Schließung derzeit ge- prüft wird. Im Erfolgsfall wäre die Schachtanlage 2013 (Jörg Tauss [SPD]: Was?) geschlossen, die Abfälle wären dauerhaft entsorgt; sozu- dass die Einleitung des Schutzfluids genau die von Ihnen sagen: Klappe zu, Affe tot. geforderte Wirkung hat. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – NEN]: Aber hallo! Da ist mehr als der Affe Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tot!) NEN]: Und was ist mit dem Wasserzulauf? – Ulrich Kelber [SPD]: Wissen Sie, dass das phy- Ich bin der Überzeugung, dass wir ein solches sicheres sikalisch zu 100 Prozent gar nicht möglich ist?) Endlager brauchen, um radioaktive Abfälle dauerhaft sicher zu entsorgen. Wenn Asse sicher sein sollte, wenn Sie unterschlagen auch, dass vielfältige weitere techni- Asse geeignet ist, dann besteht aus meiner Sicht auch sche Maßnahmen vorgesehen sind, um die radioaktiven kein vernünftiger Grund mehr, weitere Mittel und Ener- Abfälle sicher zu lagern. gie aufzuwenden, um unter Umständen weitere Stand- (Ulrich Kelber [SPD]: Eine Vorlesung in orte zu finden, die gegebenenfalls auch geeignet oder Fischer-Technik!) eventuell noch besser geeignet sind. Dazu gehören zum Beispiel die Verfüllung von Rest- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hohlräumen mit Salz, der Einbau von Magnesiumdepots NEN]: Oder genauso gut geeignet!) und der Bau von Strömungsbarrieren im Bereich der Einlagerungskammern. Eine solche Vorgehensweise mag vielleicht bei Paa- rungswettbewerben pubertierender Teenager weit ver- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- breitet sein; NEN]: Schmeißen wir den restlichen Abfall doch auch noch da rein!) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sind wir aber beide nicht mehr!) Hier sollten Sie offen und ehrlich argumentieren und nicht durch Verschweigen und mit Berufung auf Dritte für die Auswahl von Endlagern halte ich diese für frag- unnötig Ängste und Schrecken erzeugen. würdig. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Ulrich Kelber [SPD]: Das fordern Sie aber NEN]: Fragen Sie mal die Bevölkerung dort!) von der Schweiz!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9269

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (A) Ein Beispiel mag das deutlich machen: Eine Lande- ein Gewicht von 1,2 Gramm und eine Flügelfläche von (C) bahn muss das Gewicht des landenden Flugzeugs aus- 0,75 Quadratzentimetern. Nach allen Regeln der Flug- halten. Wenn die Prüfung dann ergibt: „Jawohl, die kunst – Frau Kollegin Aigner kann das bestätigen – kann Tragfähigkeit reicht aus“, dann muss man doch nicht dieses Vieh nicht fliegen, und es fliegt trotzdem. nach einer anderen Landebahn Ausschau halten, die noch schwerere Flugzeuge aufnehmen kann. Das ist wi- Frau Kotting-Uhl, mir ist wirklich nicht nach Spaß dersinnig; das macht keinen Sinn. zumute. Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Annahme ge- kommen sind. Wir sollten hier und heute Abend seriös (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) darüber diskutieren. Es gibt besorgniserregende Zu- stände im sogenannten Forschungsendlager Asse. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Bundesregierung, das Bundesministerium für Bil- Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. dung und Forschung und das Bundesministerium für (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Umwelt und Naturschutz, auch die örtlichen Behörden NEN]: Schluss mit dem Paarungsverhalten!) müssen dieses Thema selbstverständlich ernst nehmen. Sie nehmen es auch ernst; das ist doch überhaupt keine Frage. Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Herr Präsident, das werde ich nach Ihrer Ermunterung Wir wollen in der Tat sehr sorgfältig prüfen, ob diese gern tun. Frage nach Atomrecht und nicht nach Bergrecht geklärt werden muss. Eines aber muss auch klar sein: Es hilft (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nichts, wenn wir für die Klärung dieser Frage Jahre NEN]: Was wollten Sie jetzt sagen?) bräuchten, während die Ängste der Menschen in dieser 2014 wäre voraussichtlich der früheste Zeitpunkt, an Zeit zunehmen und wir weiterhin Probleme in diesem dem die Vorbereitungen abgeschlossen werden könnten, Bereich haben. um die Abfälle überhaupt wieder an die Oberfläche zu Herr Kollege Fischer, Sie haben die Kernkraft und de- holen. Das kann man keinesfalls übers Knie brechen, ren positives Wirken angesprochen. Am liebsten hätte und das geht deshalb nicht von heute auf morgen. ich Ihnen empfohlen: Gehen Sie einmal hin und baden Was wollen wir gemeinsam machen? Es macht Sinn, Sie darin! Ihren Antrag im Ausschuss zu diskutieren. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: In der (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ Kernkraft oder in der Asse?) DIE GRÜNEN]: Gut!) (B) Lieber Koalitionspartner, wir wissen ja, dass wir da un- (D) Das wäre der richtige Weg. Deswegen schlage ich vor, terschiedliche Auffassungen haben. Aber wenn es noch diesen Antrag an den Ausschuss für Bildung, Forschung eines Beweises bedurft hätte, wie fahrlässig – übrigens und Technikfolgenabschätzung zur federführenden Be- auch heute noch – in weiten Teilen der Welt mit radioak- ratung zu überweisen. tivem Müll, mit Kernkraft umgegangen wird, dann ist Asse II ein zentraler Beleg für den sorglosen Umgang Danke schön. mit den Risiken der Atomenergie. Da gibt es auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nichts zu beschönigen. Hans-Michael Goldmann [FDP] – Horst (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das wird er auto- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Axel E. matisch!) Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Dann informieren Sie sich einmal richtig über das Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Thema, bevor Sie hier solch einen Käse erzäh- Die Kollegin Angelika Brunkhorst, FDP, hat ihre len! Das ist ja peinlich!) Rede zu Protokoll gegeben.1) – Natürlich informiere ich mich über das Thema; sonst (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- würde ich, Kollege Fischer, diese Rede gar nicht halten NEN]: Das war nach der letzten Rede heute können. Voraussetzung dafür, eine Rede halten zu kön- auch genug!) nen, ist bei uns, dass man sich vorher informiert. Das ist ein Grundsatz. Deswegen erteile ich jetzt Kollegen Jörg Tauss, SPD- Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD – Axel E. Fischer [Karls- (Beifall bei der SPD) ruhe-Land] [CDU/CSU]: Ist ja peinlich, was Sie hier abliefern! Lesen Sie das doch noch mal nach!) Jörg Tauss (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Wir haben 125 000 Fässer. Herren! Kollege Fischer, bei der Flugzeuggeschichte ist (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ mir gerade das Beispiel der Hummel eingefallen. Die hat CSU]: Wer war denn damals in der Regierung? Meine Güte! Das darf doch wohl nicht wahr 1) Anlage 12 sein!) 9270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Jörg Tauss (A) – Stellen Sie doch einmal eine Zwischenfrage. – Damals, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Kollege Fischer, gab es die feste Überzeugung, dass Tro- NEN]: Wenn das besser ist, ist es okay!) ckenheit und Standortsicherheit gewährleistet sind. und nach einem entsprechenden Verfahren zu suchen. (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ Das sind in der Tat Punkte, über die man – auch wissen- CSU]: Jetzt hören Sie endlich mal auf!) schaftlich – sprechen muss; denn auch das Öko-Institut und andere haben durchaus Bedenken, den Abfall he- – Ich weiß gar nicht, warum mein Wahlkreiskollege, rauszuholen. mein lieber Koalitionspartner, so herumrandaliert. Last, but not least, auch wenn wir alle uns über die (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ Asse und das, was dort passiert, zu Recht aufregen: Die CSU]: Könnt ihr nicht einen anderen Redner Geschichte ist eine Lehre für den Umgang mit riskanten nehmen als diesen hier! Das ist ja unglaub- Technologien. Sie beweist, dass Kernkraft nicht verant- lich!) wortbar ist, auch nicht in naher Zukunft. Aus diesem Grunde sollten wir an der Koalitionsvereinbarung, die – Das ist ja richtig gut heute Abend. einen Ausstieg aus dieser riskanten, nicht zu verantwor- Seit Ende der 80er-Jahre, Kollege Fischer, haben wir tenden Technologie vorsieht, wie es auch mit der Kanz- einen permanenten Laugenzutritt von 12,5 Kubikmetern lerin vereinbart ist, festhalten und im Übrigen nicht wei- Salzlösung pro Tag. Dieser Laugenzutritt verschärft das ter Millionen von für diesen alten Unfug Problem. Das ist der Punkt. ausgeben. In Karlsruhe haben wir auch einen Beweis. Gerade brauchen wir wieder 50 Millionen für den Ab- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ bruch unserer Wiederaufarbeitungsanlage. Nein, es ist CSU]: Der muss doch von Wissenschaft ein verantwortungslos. Die Zukunft liegt woanders. Trotz- bisschen Ahnung haben!) dem muss man sich selbstverständlich um die Asse küm- mern und die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen. Aus diesem Grunde muss man sagen, dass die anste- hende Schließung des Bergwerkes und die Zukunft der Herzlichen Dank. dort lagernden Abfälle mit großer Aufmerksamkeit be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ trachtet werden müssen. DIE GRÜNEN – Axel E. Fischer [Karlsruhe- (Beifall bei der SPD) Land] [CDU/CSU]: Bravo! Super!) Kollege Fischer, da Sie das alles besser wissen, rege – Jetzt haben Sie etwas gelernt; hervorragend. ich an: Stellen Sie doch einmal einen Antrag im Aus- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ (B) schuss, dass das Bundesministerium für Bildung und CSU]: Endlich habe ich Sie auf meiner Linie! (D) Forschung die Finanzierung der Forschungsarbeiten in Genau das habe ich auch gesagt! Spitze! Sie diesem Bereich einstellen möge. Dass wir daran for- sind lernfähig, Herr Tauss!) schen, zeigt, dass wir die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen, anstatt einen solchen Unfug zu erzählen, wie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sie es heute Abend tun. Lassen Sie mich das einmal in Ich bin gespannt, ob es so temperamentvoll weiter- dieser Deutlichkeit sagen. geht. Deswegen erteile ich Kollegin Dorothée Menzner, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Fraktion Die Linke, das Wort. GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) – Liebe Kolleginnen und Kollegen, so geht es bei uns im Wahlkreis immer zu. Wir sind ein munteres Völkchen da Dorothée Menzner (DIE LINKE): in Baden. Aber deswegen brauchen sich die anderen dort Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit hinten nicht auch noch aufzuregen. 20 Jahren bin ich Niedersächsin. Aufgewachsen bin ich in Südhessen, in Sichtweite des AKW Biblis. Mich be- Wir müssen also gucken, wie der materiell-inhaltliche gleitet die Atomenergie also schon ein Leben lang. Unterschied zwischen einem Verfahren nach Atomrecht und einem Verfahren nach Bergrecht ist und ob es dadurch Gerade in Niedersachsen kommen wir um die Frage zu Verzögerungen kommt, das heißt, ob eine sorgfältige des Zwischenlagers und Endlagers nicht herum. Selbst Prüfung die Maßnahmen zur Sicherung des Forschungs- wenn wir sofort aus der Atomenergie aussteigen würden: bergwerks Asse II möglicherweise eher verzögert denn Wir haben riesige Mengen atomaren Mülls, und noch ist fördert. Wenn sich das nicht verzögert, würde ich sagen, nicht klar, wie wir diese sicher für Jahrtausende lagern dass man darüber reden kann. können. Nur, um einmal eine Vorstellung davon zu be- kommen: Es ist gerade einmal 7 000 Jahre her, da liefen Ich habe das Forschungsprojekt angesprochen. unsere Vorfahren noch keulenschwingend durch die Schwerpunkt ist bei uns selbstverständlich die Prüfung, Wälder. wie das Grubengebäude gesichert werden kann; das ist völlig klar. Wir müssen uns angucken, wie die 100 000 (Lachen bei der FDP – Sylvia Kotting-Uhl Kubikmeter radioaktive Abfälle – das ist mein Dissens [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Manche tun es immer noch!)) möglicherweise auch zu den Grünen – herausgeholt wer- den können oder ob es nicht tatsächlich besser wäre, sie Asse II als einziges atomares Endlager der Bundesre- unten zu lassen publik macht das ganze Dilemma deutlich. Es wurde an- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9271

Dorothée Menzner (A) gesprochen: 125 000 Fass schwachradioaktiver Müll sind (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (C) eingelagert, 1 300 Fass mittelradioaktiver, das Ganze als NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert Forschungsbergwerk deklariert, niemals atomrechtlich Winkelmeier [fraktionslos]) genehmigt. Als Fazit bleibt mir nur zu sagen: Wir als Linke plä- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ dieren für die Schließung der Asse nach Atomrecht und DIE GRÜNEN]: Richtig!) nicht nach Bergrecht. Dabei muss nach wissenschaftli- chen Kriterien entschieden werden, was zu tun ist und Auch für die Schließung wurde kein atomrechtliches wie mit dem Atommüll umzugehen ist. Da muss ich lei- Verfahren eingeleitet, obwohl der Niedersächsische der in Richtung der Grünen sagen: Die Forderung nach 2006 die Notwendigkeit eines solchen Verfah- einer sofortigen Rückholung ohne genaue vorherige Prü- rens festgestellt hat. Weder – auch das muss ich jetzt ein- fung kommt mir sehr wie Aktionismus vor. mal sagen – Herr Gabriel noch Herr Trittin hat sich da in der Vergangenheit mit Ruhm bekleckert. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das steht so nicht drin! Noch mal le- Was wir derzeit in Asse II erleben, ist der GAU eines sen!) Atommülllagers. Es gab in Asse immer Probleme durch Wasserzutritt; aber seit 1988 sind sie akut. Seitdem tritt Dies würde abermals bedeuten, das Thema Atom als kontinuierlich Lauge aus. Zeugen, die im Bergwerk wa- Glaubensfrage zu behandeln. Ich möchte, dass wir auf- ren und sich das angesehen haben, sagen: Da tropft es grund konkreter wissenschaftlicher Untersuchungen ge- nicht, sondern da rauscht das Wasser aus dem Berg. – meinsam entscheiden, was das Sicherste und Unschäd- Die Austrittsstelle nähert sich immer mehr den Lager- lichste ist. kammern an. Danke. Zwar hat der Betreiber beteuert, das Lager sei sicher. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Aber jetzt muss er zugeben: So ganz sicher ist es wohl neten der SPD und des Abg. Gert Winkelmeier nicht. Das, was uns immer als Langzeitsicherheit ver- [fraktionslos]) sprochen wurde, hat nicht einmal 20 Jahre gehalten. Da stellt sich für mich schon die Frage, wie es mit der viel- beschworenen Langzeitsicherheit von Schacht Konrad Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und Gorleben aussieht. Als letzter Redner hat Kollege Christoph Pries, SPD- Fraktion, das Wort. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen das (Beifall bei der SPD) Thema Atomkraft, egal wie wir zur derzeitigen Nutzung (B) (D) stehen, nicht weiter als Glaubensfrage betrachten. Wir müssen gemeinsam erreichen, dass die Forderungen des Christoph Pries (SPD): AK End umgesetzt werden und dass die sicherste Lö- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sung Realität wird. Kollegen! Die sogenannte Einrichtung zur Versuchsend- lagerung im ehemaligen Salzbergwerk Asse II ist ein (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Problem. Im Versuchsendlager Asse II wurden zwischen NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- 1967 und 1978 durch die Betreibergesellschaft GSF rund ten der SPD und des Abg. Gert Winkelmeier 125 000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktiven Ab- [fraktionslos]) fällen eingelagert. Zum Zeitpunkt der Einlagerung hatte Maßgebend müssen wissenschaftliche Kriterien sein und die Betreibergesellschaft öffentlich erklärt, dass das For- nicht die Frage der Kosten, der Durchsetzbarkeit oder ob schungsbergwerk sowohl langfristig trocken als auch es der Atomlobby gefällt. In diesem Atommonopoly gilt standsicher sei. Diese Aussagen haben sich inzwischen jetzt: Zurück auf Los, Kernkraft zügig abschalten – mir als falsch erwiesen. wäre lieber, wenn das schneller geschehen würde, als es (Jörg Tauss [SPD]: Leider!) bisher vereinbart ist – und vor allem nach wissenschaft- lichen Kriterien die geeignetste Lagerstätte für die Ab- Seit 1988 gibt es in der Asse einen Salzlaugenzufluss fälle, die nun einmal da sind, finden. von 12,5 Kubikmetern pro Tag. Dies stellt nach Auffas- sung der Betreibergesellschaft ein unkalkulierbares Ri- Dies bedeutet ganz konkret für Asse II: Erstens. Ob siko für die Stabilität des Grubengebäudes dar. Mit Blick Rückholung, teilweise Rückholung oder Verbleib des auf die Geschichte der Asse und die Fehlprognosen der Mülls, es muss schnellstens untersucht werden, wie die vergangenen 40 Jahre ist sehr gut nachvollziehbar, dass Strahlenlast für die Bevölkerung, für die Anwohner die Bevölkerung der umliegenden Gemeinden die möglichst gering gehalten werden kann. Zweitens. Es Schließung des Bergwerkes mit großer Aufmerksamkeit dürfen keine Fakten geschaffen werden, die eine Rück- und Sorge verfolgt. holung perspektivisch unmöglich machen. Drittens. Es müssen zügig weitere Maßnahmen zur Stabilisierung des (Beifall bei der SPD) rutschenden Berges ergriffen werden; auch das wurde Die SPD-Bundestagsfraktion nimmt diese Sorgen und hier sehr anschaulich gezeigt. Viertens. Es muss endlich Nöte der Bevölkerung sehr ernst. – und vor allem schnell – ein atomrechtliches Planfest- stellungsverfahren zur Schließung von Asse II eingelei- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ tet werden. CSU]: Nicht nur die SPD!) 9272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

Christoph Pries (A) Wir sind deshalb der Auffassung, dass unter den gegebe- Abschließend möchte ich feststellen, dass uns gerade (C) nen schwierigen Bedingungen die beste Lösung zum die Probleme, die wir mit dem sogenannten Versuchs- Wohle der betroffenen Menschen gefunden werden endlager Asse II haben, eine Mahnung sein sollen, eine muss. Mahnung, dass es bei der Endlagerung aller radioaktiven Abfälle nicht in erster Linie um Schnelligkeit geht. Es (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kommt vielmehr auf die richtige Auswahl an. Diese beste Lösung beinhaltet auch, dass die Prakti- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. kabilität einer Rückholung unter sicherheits- und strahlenschutztechnischen Aspekten kritisch geprüft (Beifall bei der SPD) werden muss. Zentrale Fragen, die in diesem Zusam- menhang beantwortet werden müssen, sind: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Erstens. Wie ist die Standsicherheit des Grubengebäu- Ich schließe die Aussprache. des zu beurteilen? Zweitens. Gibt es Möglichkeiten, die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Stabilität des Grubengebäudes zu erhöhen, um Zeit für Drucksache 16/4771 an die in der Tagesordnung aufge- eine mögliche Rückholung der radioaktiven Abfälle zu führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist gewinnen? Drittens. Wie hoch ist die Gefahr, dass ohne jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der eine sofortige Schließung des Grubengebäudes eine Ver- SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Bil- füllung und ordnungsgemäße Schließung durch stei- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung; die gende Laugenzuflüsse verhindert wird? Viertens. In wel- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wünscht Feder- cher Relation steht dieses Gefahrenpotenzial im führung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Vergleich zu den Langzeitrisiken der vorgesehenen Reaktorsicherheit. Schließung ohne Rückholung der Abfälle? Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Das Bundesministerium für Bildung und Forschung Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abstimmen. Wer finanziert im Rahmen der Projektbegleitung eine Ausar- stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer beitung zur Rückholbarkeit der eingelagerten radioakti- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs- ven Abfälle. Es erfüllt damit eine langjährige Forderung vorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD der betroffenen Bevölkerung. Die Bundestagsfraktion gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. der SPD begrüßt dies ausdrücklich. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der (Beifall bei der SPD) Fraktionen der CDU/CSU und der SPD – also über eine Die Betreibergesellschaft hat inzwischen ein Lang- Überweisung an den Forschungsausschuss – abstimmen. (B) (D) zeitsicherheitskonzept für die Schließung des Bergwer- Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer kes Asse II erstellt und den zuständigen Behörden zur stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs- Prüfung zugeleitet. Unabhängig von der Frage, ob vorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD Atomrecht oder Bergrecht gilt, dürfen die Prüfungsmaß- gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom- stäbe des vorgesehenen bergrechtlichen Verfahrens nicht men. hinter den atomrechtlichen zurückbleiben. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: (Jörg Tauss [SPD]: Richtig!) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gleiches gilt für die Transparenz des Verfahrens. Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN) Politische Lösungen sind Voraussetzung für Dazu zählt meiner Meinung nach auch, dass nach der Frieden in Somalia vorgesehenen Schließung des Bergwerkes ohne Rückho- lung der eingelagerten Abfälle in jedem Fall eine regel- – Drucksache 16/4759 – mäßige Umgebungsüberwachung erfolgen muss. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das Verteidigungsausschuss hat doch das BMBF zugesagt!) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Mögliche Gefahren für die Bevölkerung müssen Entwicklung rechtzeitig erkannt werden. Hierzu hat mir die Bundes- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ministerin für Bildung und Forschung im Juli 2006 Fol- Die Kollegen Anke Eymer (Lübeck), Brunhilde Irber, gendes mitgeteilt: Die Betreibergesellschaft wird ge- Marina Schuster, Norman Paech und Uschi Eid haben meinsam mit dem Bundesamt für Strahlenschutz die ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Thematik der Umgebungsüberwachung erörtern. Ziel ist es, ein einheitliches Vorgehen bei der Schließung der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Schachtanlage Asse und des Endlagers Morsleben abzu- Drucksache 16/4759 an die in der Tagesordnung aufge- stimmen. Das begrüße ich ausdrücklich. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. [CDU/CSU]) 1) Anlage 13 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9273

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des (C) so beschlossen. Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 16/4630. Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 25: Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/4630 die Ableh- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) sache 16/3668 mit dem Titel „Kein Bau einer festen Feh- – zu dem Antrag der Abgeordneten Lutz marnbelt-Querung – Fährkonzept verbessern“. Wer Heilmann, Dorothée Menzner, Heidrun Bluhm, stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt weiterer Abgeordneter und der Fraktion der dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung LINKEN ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der FDP gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Frak- Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Que- tion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. rung – Fährkonzept verbessern Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder sache 16/4630 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Frak- auf Drucksache 16/3798 mit dem Titel „Statt fester Feh- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN marnbelt-Querung – Für ein ökologisch und finanziell Statt fester Fehmarnbelt-Querung – Für ein nachhaltiges Verkehrskonzept“. Wer stimmt für diese ökologisch und finanziell nachhaltiges Ver- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- kehrskonzept haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit der glei- chen Mehrheit wie zuvor angenommen. – Drucksachen 16/3668, 16/3798, 16/4630 – Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Berichterstattung: ordnung. Abgeordneter Gero Storjohann Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Die Kollegen Gero Storjohann, Hans-Joachim destages ein auf morgen, Freitag, den 30. März, 9 Uhr. Hacker, Patrick Döring, Lutz Heilmann und Rainder Steenblock haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine ruhige Nacht. (B) 1) Anlage 14 (Schluss: 22.22 Uhr) (D)

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(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Patientenverfügungen (Tages- ordnungspunkt 3) entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ Die von Bismarck, CDU/CSU 29.03.2007 Frage des Psalmisten, was den Menschen – und damit Carl-Eduard auch seinen Willen – denn ausmacht, ist Ausgangspunkt meiner Überlegungen und meiner Zweifel an der Sinn- Bulmahn, Edelgard SPD 29.03.2007 haftigkeit einer neuen gesetzlichen Regelung für die Wirksamkeit und Reichweite einer Patientenverfügung. Burchardt, Ulla SPD 29.03.2007 Die Frage ist: Sind wir immer derselbe Mensch? Oder ist nicht vielmehr richtig, dass die Welt sich ändert und wir Dreibus, Werner DIE LINKE 29.03.2007 uns in ihr?

Ernstberger, Petra SPD 29.03.2007 Meine Erfahrung aus über sechs Jahren Tätigkeit in der Altenpflege ist, dass Menschen aus Angst vor Friedhoff, Paul K. FDP 29.03.2007 Krankheit und Behinderung den Wunsch äußern, für den Fall einer bestimmten Einschränkung ihrer Gesundheit Gabriel, Sigmar SPD 29.03.2007 sterben zu wollen. Als manche dieser Menschen tatsäch- lich in die Situation kamen, dass ihre Gesundheit so ein- Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 29.03.2007 geschränkt war, äußerten sie auf einmal einen aktuellen Willen zum Leben. Sie konnten ihrem Leben mit all sei- Griefahn, Monika SPD 29.03.2007 nen Einschränkungen genügend abgewinnen, was sie sich noch als Gesunde nicht vorstellen konnten. Hilsberg, Stephan SPD 29.03.2007 (B) Vor diesem Hintergrund bin ich von der Notwendig- (D) Kolbe, Manfred CDU/CSU 29.03.2007 keit eines neuen Gesetzes noch nicht überzeugt. Jede Anordnung oder Unterlassung einer medizinischen Be- Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 29.03.2007 handlung muss sich am aktuellen Willen des Patienten orientieren. Alles andere ist mindestens eine Körperver- Dr. Lötzsch, Gesine DIE LINKE 29.03.2007 letzung. Auf jeden Fall darf eine Regelung nicht einen vergan- Lopez, Helga SPD 29.03.2007 genen Willen eins zu eins für den aktuellen Willen hal- ten. Man würde sich sonst über einen zentralen Gesichts- Merten, Ulrike SPD 29.03.2007 punkt des Menschseins hinwegsetzen. Raidel, Hans CDU/CSU 29.03.2007 Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Bei der De- Roth (Esslingen), Karin SPD 29.03.2007 batte um Patientenverfügungen sollten wir uns von zwei ganz grundlegenden Werten leiten lassen: von der Runde, Ortwin SPD 29.03.2007 Selbstbestimmung und von der Würde des Menschen. Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, in jeder Si- Schily, Otto SPD 29.03.2007 tuation möglichst selbstbestimmt zu handeln. Das zum einen. Zum anderen sollte jeder Mensch in jeder Situa- Seehofer, Horst CDU/CSU 29.03.2007 tion, also auch bei Krankheit – egal, wie lebensbedroh- lich diese ist –, seine Würde bewahren dürfen. Diesen Thiele, Carl-Ludwig FDP 29.03.2007 Maßstab setzt allein schon das Grundgesetz in seinem Art. 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Thönnes, Franz SPD 29.03.2007 Diese beiden Aspekte gehören für mich untrennbar zu- sammen. Weisskirchen SPD 29.03.2007 (Wiesloch), Gert Was hat es für einen Sinn, in einer Patientenverfü- gung selbstbestimmt und rechtlich klar festzulegen, dass Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 29.03.2007 man beispielsweise bei unheilbarer Krankheit in Würde sterben will, wenn diese Verfügung keine bindende Wir- Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 29.03.2007 kung entfaltet? Oder wenn sie eingeschränkt ist auf so- Margareta DIE GRÜNEN genannte irreversible tödliche Krankheiten? Was nützt 9276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) eine Verfügung, wenn der Arzt den klaren Willen des Pa- higkeit beraubt werden können, ihren Willen gegenüber (C) tienten mehr als eine Kann-Bestimmung betrachtet? den Ärzten klar zu äußern. Das betrifft beispielsweise Oder wenn die Verwandtschaft über ein Vormund- Wachkomapatienten oder psychisch Erkrankte. schaftsgericht den Willen des Patienten leicht aushebeln kann? Der Umgang mit Patientenverfügungen ist ein sensib- les Thema. Wir sollten gemeinsam sorgsam damit umge- Bei der Frage, wie verbindlich eine Patientenverfü- hen. gung sein soll, gibt es meiner Ansicht nach einen Rege- lungsbedarf. Hier ist der Gesetzgeber gefordert. Es geht Otto Fricke (FDP): Alles hat seine Zeit. Reden hat nicht darum, dass sich Politiker „in jede Sterbesituation“ seine Zeit, Schweigen hat seine Zeit. Debattieren hat einmischen wollen, wie mancher Verbandsvertreter wet- seine Zeit, Beschließen hat seine Zeit. Lieben hat seine tert – nein, es geht darum, einen rechtlichen Rahmen zu Zeit, Geliebt werden hat seine Zeit. Verantwortung über- setzen, der einen selbstbestimmten und würdevollen nehmen hat seine Zeit, Loslassen hat seine Zeit. Gebo- Umgang der Betroffenen mit ihrem eigenen Schicksal renwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit. ermöglicht. Das schafft nicht nur für die Patienten Klar- heit, sondern auch für Ärztinnen und Ärzte. Auch diese Die Lebenserwartung von uns Menschen ist in den brauchen Rechtssicherheit. letzten Jahrzehnten drastisch gestiegen – dennoch ist sie endlich, und auch das Sterben hat stets seine Zeit. Doch Man sollte hier allerdings nicht zu viel vom Gesetzge- wie erkennen wir für uns, für unsere Angehörigen, für ber erwarten. Krankheit und Sterben sind sehr individu- unsere Patienten, wann es an der Zeit ist, zu sterben, den elle Vorgänge. Auch gesetzlich geregelte Patientenverfü- Tod zu erwarten und ihm nichts mehr entgegenzusetzen? gungen werden nicht alle Wechselfälle des Lebens Der vorsorglich dokumentierte Wille des Betroffenen, in voraussehen und erfassen können. Gerade auf diesem so Form einer Patientenverfügung, ist dabei sehr hilfreich. sensiblen Feld menschlichen Lebens brauchen wir einen Deswegen ist mir dieses Thema wichtig, und ich mache humanen Umgang mit Kranken und Sterbenden. Dazu mich seit langem für eine möglichst klare und möglichst gehört, deren Wille zu respektieren. Und wenn ich mir verlässliche, gesetzliche Regelung stark. Doch sollte die- hier eine persönliche Bemerkung erlauben darf: Ich zum ser hinterlegte Wille, der in einer Situation erklärt Beispiel will nicht bis an mein Lebensende an Apparaten wurde, die der Betroffene mit all seinen Umständen dahinvegetieren. noch gar nicht kannte, die einzige und alleinige Ent- Natürlich kann es passieren – und es passiert sicher scheidungsgrundlage sein? jeden Tag –, dass Kranke sich schon aufgegeben haben Es ist nicht an mir, mich heute zu offenbaren. Ich und das Weiterleben für sinnlos halten. Dabei bestünde habe mich längst positioniert: Welcher Position ich zu- (B) ärztlicherseits durchaus noch die Chance zu einer Ver- neige, können Sie aus dem Rubrum eines Antrages erse- (D) besserung ihrer Lage. In diesem Punkt halte ich – bevor hen, der ihnen vorliegt. Das mindert die Überraschung eine Patientenverfügung verfasst wird – die ausführliche und räumt mir doch gleichsam ein Privileg ein: Ich habe Beratung durch den behandelnden Arzt oder den Arzt Ihnen heute nicht zu erklären, was ich denke, sondern, des Vertrauens für wichtig. Damit diese Beratung nicht warum ich es denke. Das will ich tun. an finanziellen Problemen scheitert, ist es unter Umstän- den überlegenswert, diese über die Krankenkassen abre- Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich werbe in dieser chenbar zu gestalten. Debatte für die Selbstbestimmung des Menschen und rede nicht gegen sie. Ich werbe für sie als Abgeordneter, Ergänzend zur Patientenverfügung sollte weiterhin als Familienvater, als Liberaler und – ich sage das be- die Möglichkeit zu einer Vorsorgevollmacht bestehen. wusst – als Christ. Doch ich werbe auch dafür, dass wir Diese sollte aber nicht so gestaltet sein, dass der in der Selbstbestimmung nicht reduzieren auf das, was ein Patientenverfügung niedergelegte Wille des Patienten Mensch in einem Moment will, und nicht schon darin se- letztlich ausgehebelt werden kann. hen, was ein Mensch in einem Moment einmal schrift- lich niedergelegt hat. Zu achten ist meiner Ansicht nach auch auf gewisse zeitliche Nähe. Heutzutage werden schon in jungen Jah- Die Frage, um die es heute geht, ist zu schwierig, als ren Patientenverfügungen verfasst, die festlegen, was dass sie einfache Rechnungen erlaubte. Die einfachste möglicherweise erst ab jenseits des 50. Lebensjahres Rechnung ist diese: Je weiter Patientenverfügungen zu- eintritt. Eine Notwendigkeit, vorsorgliche Patientenver- gelassen werden und je unbedingter sie Beachtung fin- fügungen beispielsweise alle zehn Jahre zu erneuern, den, umso mehr ist dem Selbstbestimmungsrecht Ge- schützt Menschen, die ihre Meinung im Laufe des Le- nüge getan. In diesem Freiheitsverständnis liegt ein bens ändern, vor unbeabsichtigten Folgen. Fehlschluss. Die Einschränkung der Patientenverfügung auf irre- Meine Überzeugung ist: Es ist gerade das Selbstbe- versible Leiden, die mit an Sicherheit grenzender Wahr- stimmungsrecht, das dazu mahnt, sorgsam mit Verfügun- scheinlichkeit zum Tode führen, ist unlogisch und unak- gen umzugehen, ihre Reichweite bedacht zu begrenzen zeptabel. Die Maßstäbe dessen, was irreversibel ist, und ihre Verbindlichkeit verständig zu deuten. Das mag können sich schon morgen ändern, dann ist auch die Pa- paradox erscheinen: Da redet einer für eine Begrenzung tientenverfügung hinfällig. Die Einschränkung über- der äußeren Selbstbestimmung im Namen der inneren sieht darüber hinaus, dass Menschen auch aus anderen Selbstbestimmung. Da spricht einer für Grenzen im Na- Gründen als unheilbar tödlichen Krankheiten ihrer Fä- men der Freiheit. Da wirbt einer für eine Haltung, die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9277

(A) von Verantwortung gefüttert ist. Ich will darstellen, was seiner Pflichten, im Leben oder durch den erwählten (C) mich dahin leitet und warum die vermeintlichen Para- Tod, übt er zwar einen Akt der Selbstbestimmung über doxa nur scheinbare sind. das eigene, aber noch mehr einen der Fremdbestimmung über anderer Leben, das seiner Familie, aus. Die selbst Ich bin selbst Familienvater. Mit meiner Frau habe ich bestimmte Entscheidung jetzt hat gegenüber der selbst drei Kinder. Wie wir es mit der Familie und den Kindern bestimmten Bindung früher ein geringeres Gewicht. Es halten, ist für mich eine Gretchenfrage, an der sich eine ist deshalb kein Akt der Fremdbestimmung, sondern die ethische Entscheidung wesentlich zu messen hat. Verwirklichung fortwirkender Selbstbestimmung, dem Wie aber könnte ein Fall aussehen: Da hat ein Vater Familienvater oder der Mutter – den eigenen Tode nicht keine rechte Lust mehr auf das Leben und trifft eine Pa- zu gewähren. tientenverfügung, im Falle eines Unfalls keine Bluttrans- Freiheit in Verantwortung setzt dem eigenen Willen fusionen zuzulassen. Da geschieht dieser Unfall; verliert Grenzen. Auch für die Patientenverfügung gelten diese er Blut, ist er auf Transfusionen sofort angewiesen. Soll Grenzen. Es ist daher richtig, Patientenverfügungen in dann tatsächlich diese Verfügung maßgeblich sein? Soll der Reichweite zu begrenzen: Nicht jeder Anlass genügt. dem Vater die mögliche und zumutbare Transfusion Erst der unumkehrbar tödlich verlaufende Krankheits- nicht angehen dürfen, weil er das so will und obwohl er prozess vermag die Grenzen der eigenen Selbstbestim- so viele hinterlässt? Reicht es, zu sagen: „Er will das mung aufzuheben. Erst er erlaubt die Verfügung; denn doch so“, um das Unglück der Frau und Kinder zu recht- dann ist es die Frage, wann die Zeit zum Sterben kom- fertigen? men soll, nicht, ob. „Er will das doch so“ – das könnte reichen, wenn man Eine zweite Frage ist zu stellen: Ist eigentlich eine Pa- Selbstbestimmung bloß als die prinzipiell unbegrenzbare tientenverfügung Ausdruck der Selbstbestimmung, und Möglichkeit der Entscheidung eines Subjektes über all wann kann sie es sein? Wie verlässlich spiegelt der nie- seine eigenen Angelegenheiten versteht. „Er will das dergelegte den tatsächlichen Willen wider? Wie sehr doch so“ – ist das aber nicht vielleicht zu wenig? Ist das vermag sie den eigentlichen Willen des Verfügenden zu Individuum, das sonst so in Beziehungen so sehr einge- treffen, der die Worte seiner Verfügung umsetzt? Ich will bunden ist, in diesen Einschränkungen plötzlich wieder vor zu viel Optimismus warnen. so unbegrenzt? Das Individuum als Autokrat über sich selbst – kann das die Selbstbestimmung sein, die wir Der Moment der Entscheidung über das eigene Leben meinen und wollen? ist kaum einmal in idealer Weise frei: Verfügen wir früh, dann liegt der „Schleier des Nichtwissens“ über uns. Die Frage zu stellen, heißt, sie zu verneinen. Kein Denn wir verfügen über eine Situation, die wir vielleicht (B) Mensch steht für sich allein. Der Mensch schmiedet (D) nicht einmal ahnen, für einen Menschen, der wir noch nicht an seinem Glück allein, sondern an dem vieler an- nicht sind. Wer weiß heute, wie er morgen denkt? Wer derer – mehr oder minder – mit. Selbstbestimmung fin- soll heute wissen, wie er morgen fühlt und was er mor- det im Egoismus nicht ihren Grund, sondern ihre gen will? Der Wille von gestern wird nicht heute wahr, Grenze. nur deshalb, weil er schriftlich niedergelegt ist. Verfügen Uns allen gebührt Freiheit. Wie aber unsere Freiheit wir erst spät, wenn die Situation schon da ist und der beschaffen ist, bestimmen wir selbst. Das ist das Wun- Grund unserer Verfügung bereits besteht, dann mag es derbare an der Freiheit: dass sie nicht rasch verwelkt und Furcht sein und Sorge, Schmerz und Verzweiflung, die gleich vergeht, sondern dass sie Früchte trägt, die von uns die Hand leiten. Dann betrifft der Schleier vielleicht Dauer sind. Die reichste Frucht der Freiheit sind die Bin- nicht mehr unser Wissen, aber unser Wollen doch. dungen, die wir frei eingehen, und die Verantwortung, die wir frei übernehmen – die festen Räume der Entfal- Der Respekt vor der Entscheidung des Nächsten ge- tung, die wir uns frei schaffen, und der befreiende Aus- bietet auch die Akzeptanz der Umstände, unter denen er bruch aus der Enge der isolierten eigenen Existenz. Frei- sie trifft, und der Möglichkeiten, die er hat. Ich warne heit verwirklicht sich in der Verantwortung, die wir davor, diese schriftliche Verfügungen als Dogma zu se- herstellen können. Aber Verantwortung prägt auch Frei- hen, das schon deshalb gültig ist, weil es geschrieben heit. Sie erhebt die Verwirklichung der Freiheit vom wurde. Selbst beim Testament, bei dem es „nur“ um den Ausdruck in einem bestimmten Moment zur Entfaltung Nachlass und nicht mehr um das Leben geht, ziehen wir in der Zeit. uns nicht auf den bloßen Wortlaut zurück, sondern heben den mutmaßlichen Willen des Erblassers aus Sorge, sei- Die selbst bestimmte Verantwortung ist daher nicht nen tatsächlichen Willen zu verfehlen, als Auslegungs- von jetzt auf gleich ohne Belang, nur weil wir das nicht grundlage über den bloßen Text. mehr wollen, was wir frei gewählt haben. Für Juristen ist das selbstverständlich: Pflichten, die man übernimmt, Wo wie hier die Entscheidung für oder gegen das Le- beschränken die spätere Deutungshoheit über die eigene ben zu fallen hat, sorge ich mich umso mehr darum, dass Autonomie. Nicht jedes juristische Ergebnis ist gleich wir allein dem frühen Wort vertrauen und nicht dem spä- ethisch richtig. teren Ausdruck des Augenblicks: der Mimik und der Gestik. Ich werbe dafür, dass wir auf den ganzen Men- Ich komme zurück zu dem Familienvater: Wer eine schen hören, wenn er uns Zeichen sendet, dass er leben Familie gründet und Kinder in die Welt setzt, dessen will. Was auf Papier steht, ist nicht bereits in Stein ge- Freiheit ist durch Verantwortung geprägt. Begibt er sich meißelt. 9278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Patientenverfügungen sind notwendig – ein Zweifel treffen, die, die wir lieben, die, die uns nahe stehen, die, (C) daran besteht nicht. Doch sind sie zugleich in hohem für die wir hoffen und oft auch beten. Wenn das Be- Maße unsicher und zweifelbehaftet, weil aktueller und wusstsein dieser Verantwortung unsere Beratungen trägt, antizipierter Wille nicht gleich, teilweise nicht einmal wird manche Debatte kontrovers und pointiert, aber das ähnlich sind. Das spricht dafür, sie auf die notwendigen Ergebnis ein differenziertes sein. Fälle zu reduzieren – den unumkehrbar tödlichen Krank- heitsverlauf und das Wachkoma. Und wenn allein schon unsere ernsthafte Debatte dazu führt, dass mehr Menschen auf das Instrument der Ein dritter Grund leitet mich: die Sorge um die Huma- Verfügung aufmerksam werden, sich informieren und nität der Pflege. Es mag Sie verwundern, dies von einem von ihm Gebrauch machen, dann hat sie mehr bewirkt Liberalen zu hören, und deshalb sage ich es bewusst, als viele Gesetze an Folgen erbringen. aber mit großem Bedacht: Ich habe Sorge vor einem Ein Letztes: Ich habe den Eindruck, dass unsere Ge- Markt, in dem das Leben handelbar wird. Ich habe Sorge sellschaft immer mehr nach Sinn, Zweck und Ziel unse- davor, dass auf dem Markt der Pflege und der Betreu- res Lebens sucht und deshalb die Auseinandersetzung ung, wo die Ressourcen immer knapper, die Bedürfnisse mit dem Ende des Lebens verdrängt, wo immer sie kann. jedoch immer größer werden, die Patientenverfügungen Die Auseinandersetzung mit dem Tod macht uns unsere zu einem knappen, marktgängigen Gut werden. Die Vor- Endlichkeit bewusst, sie zeigt aber zugleich deutlich, stellung, dass ein Seniorenheim die Aufnahme von Pfle- wie sehr wir uns mit dem Jetzt und dem Hier auseinan- genden implizit oder explizit von einer „großzügigen Pa- dersetzen müssen. So paradox es auch klingen mag: Das tientenverfügung“ abhängig machen könnte – ich habe Bewusstsein vom Tode schärft die Bewusstheit des Le- oft versucht, sie als unvernünftige, als unwahrscheinli- bens. Nur wer weiß, dass alle Entwicklung ein Ende hat, che, als abwegige Vorstellung abzutun. Es gelingt mir kann seine eigene Entwicklung gestalten. Nur wer nicht nicht. Ich bin daher davon überzeugt: Wenn Patienten- übersieht, wie knapp die Zeit auf Erden ist, wird jene verfügungen Humanität vermehren sollen und nicht ver- Zeit, die ihm gegeben ist, nutzen. mindern, dann muss ihre Ausgestaltung von Vorsicht und Bedacht getragen sein. Die am meisten humanisti- Unsere Konfrontation mit dem Ende des Lebens, die sche ist nicht stets die humanste Lösung. manches Mal nahezu ein Tabu in unserer Gesellschaft ist, finden wir in den Bereichen Organspende, Testament Die Beratung heute im Plenum ist nicht der Schluss- und eben der Patientenverfügung am deutlichsten. Eine punkt der Debatte, sondern – zumindest formal – ihr An- moderne Gesellschaft muss aber die Auseinandersetzung fang. Ich hoffe, dass am Ende der Beratung ein Ergebnis mit dem Thema suchen. Alleine deshalb ist die parla- stehen wird, das möglichst viele Kolleginnen und Kolle- mentarische Debatte über die beste Lösung schon ein (B) gen mit ihrem Gewissen, mit ihren ethischen Prinzipien Teil derselben. Denn Glück ist kein Ziel des Lebens, (D) und eventuell ihren religiösen Überzeugungen vereinba- sondern ein wesentlicher Teil desselben. ren können werden. Die Fragen, die wir hier behandeln, sind letzte Fragen. Aber eine letzte Antwort auf sie gibt es nicht. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, am Ende Norbert Geis (CDU/CSU): Die Patientenverfügung eine Antwort zu versuchen, die man eine möglichst ge- stellt eine Möglichkeit dar, die Selbstbestimmung fort- meinsame nennen können wird und die einen ethischen gelten zu lassen, wenn die aktuelle Entscheidungsfähig- Grundkonsens des Parlaments zu einem Rechtstext ver- keit verloren gegangen ist. fasst. Die Zahl der im Umlauf befindlichen Formulare für Entscheidend für das Ziel, das man erreicht, ist aber eine Patientenverfügung beträgt weit über hundert. Die der Weg, den man geht, und damit der Punkt, von dem Gründe für das Interesse sind unterschiedlich. Eine aus man ihn beginnt. Beide Ausgangspunkte, die uns ge- große Rolle spielt die Angst vieler alleinlebender alter genwärtig zur Wahl stehen, sind nicht vollends die mei- Menschen. Sie spüren von Tag zu Tag mehr, wie die Le- nen. Der von mir unterstützte Gesetzentwurf aber benskräfte schwinden und sie mehr und mehr auf andere kommt der Regelung, die ich mir vorstelle, weit näher. Menschen angewiesen sind. Sie wollen nicht, dass sie Die ethischen Linien, die ihn leiten, teile ich, auch wenn dann, wenn sie sich selbst nicht mehr bestimmen kön- ich ihnen nicht in die Verästelung jedes Einzelergebnis- nen, von den Entscheidungen fremder Menschen abhän- ses – etwa die Maßgeblichkeit „guter Sitten“ für die gig und ihnen hilflos ausgeliefert sind. Wirksamkeit einer Verfügung – folge. Ich habe mich Hinzu kommen die Forschritte in der Medizin, die deshalb entschieden, den Gesetzentwurf mitzustellen. Zweifel aufkommen lassen, ob alles, was die Medizin Ich sage nicht: Was hier vorliegt, ist mein Endergebnis. machen kann, auch wirklich dem Wohlergehen und den Doch es ist mein Ausgangspunkt, ein guter Ausgangs- Wünschen der Menschen entspricht. punkt. Zweifellos spielt auch ein überzogenes Verständnis Ich habe eben von der Verantwortung gesprochen, die der eigenen Fähigkeit zur Autonomie eine Rolle. Mit der mit Freiheit einhergeht. Sie trifft auch uns. Mit der Frei- stärker werdenden Individualisierung tritt seit den 60er- heit des Abgeordneten, die bei einer Gewissensentschei- Jahren die Selbstbestimmung der Menschen in den Vor- dung wie dieser – jedenfalls in meiner Fraktion – zu ih- dergrund. Damit setzt auch ein Wandel vom Verständnis rem vollen Recht findet, verbindet sich unsere der Würde des Menschen ein. Es herrscht die Vorstel- Verantwortung für die Entscheidung, die wir in voller lung, dass nicht das Leben, nicht die Tatsache, dass der Freiheit treffen können. Sie wird vielleicht uns selbst be- Mensch als Mensch geboren wird, ihm Würde verleiht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9279

(A) Vielmehr, so die vorherrschende Einstellung, ist die Willen vor dem Eintritt der Entscheidungsunfähigkeit (C) Würde des Menschen allein abhängig von seiner Fähig- gleichgesetzt werden. Eine Patientenverfügung kann un- keit, über sich selbst zu bestimmen und Fremdbestim- möglich den konkreten Einzelfall genau erfassen, „Denn mung abzuwehren. Dieses selbstbestimmte Leben soll eine Patientenverfügung ist immer eine Willensäußerung bis zum Tod möglich sein. Dann, wenn der Mensch die zu einem vorangegangenen Zeitpunkt in Unkenntnis der eigene Entscheidungsfähigkeit durch Krankheit verliert, konkreten Umständen eines späteren Krankheitsfalles. Wir soll die Patientenverfügung helfen, den eigenen Willen können im Vorhinein zwar vermuten, aber nicht unumstöß- gegen die eigenen Verwandten, gegen das Pflegeperso- lich wissen, was wir in einem solchen Krankheitsfall wirk- nal, gegen die Ärzte durchzusetzen. lich wollen“, schreibt Bosbach in seinem Entwurf – Begründung E, Seite 11. Das ärztliche und pflegerische Ethos der Fürsorge wird dabei pauschal als Fremdbestimmung angesehen. Deshalb sieht der Bosbach-Entwurf vor, dass zumin- Deshalb ist für die Medizin mehr und mehr nicht mehr dest die Basisversorgung, was als Nahrungszufuhr und das Wohlergehen des Patienten oberster Grundsatz ärzt- als sonstige pflegerische Maßnahmen zu verstehen ist, licher und pflegerischer Behandlung. Der Wille des Pa- auch gegen den in der Patientenverfügung ausgesproche- tienten steht im Vordergrund und ist auch dann zu befol- nen Willen dem entscheidungsunfähigen Patienten zu- gen, wenn der Mensch sich dadurch vermeidbaren kommen muss. Diese Basisversorgung richtet sich auf Schaden zufügt. die Erhaltung des Lebens und ist nicht lediglich, wie beim sterbenden Patienten, Linderung der Schmerzen. Die Rechtsprechung ist dieser Entwicklung gefolgt und hat den Patientenwillen in den Vordergrund gestellt. Diese Beschränkung der Reichweite durch die so de- Dabei trat immer mehr in den Hintergrund, dass Ärzte finierte Basisversorgung ist zweifellos eine richtige Ent- und Pflegepersonal aus eigener Verantwortung handeln scheidung. Es kann von den behandelnden Ärzten und und nicht nur Erfüllungsgehilfen des Patienten sind. von dem Pflegepersonal nicht verlangt werden, dass sie Wohl gilt für beide Entwürfe, die inzwischen vorge- durch Unterlassung eine Tötung des Patienten herbeifüh- legt wurden, der Grundsatz, dass die völlig freie Reich- ren. Anders verhält es sich beim aktuellen Willen. Dieser weite der Patientenverfügung dann keine Geltung haben ist zu beachten. Niemand kann gegen seinen Willen be- kann, wenn der Patient von den behandelnden Ärzten handelt werden. Der Wille, der in der Patientenverfü- und dem Pflegepersonal die aktive Sterbehilfe verlangt. gung niedergelegt ist, kann dem aktuellen Willen nicht Tötung auf Verlangen wird auch im Stünker-Entwurf ab- gleichgesetzt werden. Die Patientenverfügung kann bei gelehnt. Doch stellt sich schon jetzt die Frage, wie lange ihrer Abfassung gar nicht vorausbestimmen, wie sich der noch. Beide Entwürfe stimmen darin überein, dass in Betroffene im konkreten Fall bei voller Entscheidungs- (B) den Fällen, in denen das Grundleiden einen irreversiblen fähigkeit entscheiden würde. Sie stellt daher nur eine (D) Verlauf genommen hat und der Tod in kurzer Zeit eintre- Vermutung dar. Daher sind die Ärzte und ist das Pflege- ten wird, der Wille des Patienten volle Geltung haben personal nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Im Wi- soll. derspruch dazu aber soll der in der Verfügung zum Aus- druck gekommene Wille des Patienten dennoch dann Insoweit folgen beide Entwürfe dem Gebot, dass der Geltung haben, wenn es um die Verabreichung von Me- Patient ein Recht darauf hat, dass sein Tod nicht hinaus- dikamenten geht. Hunger und Durst dürfen entgegen der gezögert, der Sterbevorgang nicht künstlich verlängert Patientenverfügung gestillt werden. Die Basisversor- wird, sondern dass er in Würde dem Tod entgegengehen gung darf vorgenommen werden, nicht aber die Medika- kann. Dann, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht, darf mentierung. Dies ist ein Widerspruch. also die ärztliche Behandlung abgebrochen werden, darf auch die künstliche Beatmung beendet werden, dürfen Deshalb darf nach meiner Auffassung für solche Fälle auch Schmerzmittel verabreicht werden, auch wenn da- nicht die unmittelbare rechtliche Bindungswirkung der durch das Leben verkürzt wird, weil diese Behandlung Patientenverfügung gesetzlich festgelegt werden. Für die der Linderung der Schmerzen dient, nicht aber der Tö- Fälle, in welchen der Patient trotz schwerer Krankheit tung des Patienten. In all diesen Handlungen und Unter- gute Aussicht hat, sein Leben fortzusetzen, darf die Ver- lassungen liegt keine aktive Sterbehilfe, sondern allen- fügung nicht so behandelt werden, wie der aktuell geäu- falls eine passive, nicht strafbare, sondern im konkreten ßerte Wille. Es ist nicht erkennbar, ob der Patient, der im Fall sogar gebotene Sterbehilfe vor. Koma liegt, tatsächlich noch an seinem Willen, den er in der Patientenverfügung geäußert hat, festhalten will. Wir Die Entwürfe gehen aber in den Fällen auseinander, wissen nichts über die inneren Vorgänge, die sich im in denen eine schwere Krankheit vorliegt, die aber nicht Koma abspielen. Hier bleibt nur die Vermutung. Deshalb unmittelbar zum Tod führt. Es handelt sich um Fälle des ist es nicht zu rechtfertigen, in diesen Fällen durch Un- Wachkomas oder der schwersten Demenz. In diesen Fäl- terlassen den Tod eines Menschen herbeizuführen. len will der Entwurf des Abgeordneten Stünker die Patientenverfügung bedingungslos gelten lassen. Der Bosbach-Entwurf sieht eine Beschränkung der Reich- Heinz-Peter Haustein (FDP): Wir reden hier heute weite der Patientenverfügung vor. über die Patientenverfügung, ein Thema, das uns alle an- geht, es betrifft jeden Menschen. Auch ist es kein neues Die unbedingte Geltung der Patientenverfügung ent- Problem. Die hier in Rede stehenden Fragen sind so alt spricht nicht dem realen Leben. Ein in einer Patientenver- wie die Menschheit. Und doch gab es bislang weder die fügung festgelegter Wille kann nicht mit dem aktuellen richtige Aufklärung darüber, noch herrscht – auch nur 9280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) ansatzweise – Klarheit über diese zum Teil komplexen spielsweise der Palliativmedizin oder der technischen (C) rechtlichen Fragen. Die 200 existierenden Ratgeber und Möglichkeiten der Lebensverlängerung. Leitfäden sind für dieses Durcheinander ebenso ein Be- leg, wie die teilweise kuriosen Antworten, die man er- Wir müssen die Menschen in die Lage versetzen, ei- hält, wenn man Menschen einmal nach der Thematik Pa- genverantwortlich über ihr Lebensende zu entscheiden. tientenverfügung befragt. Die Tatsache, dass lediglich Wenn die Menschen umfassend informiert sind, sind sie 8 bis 14 Prozent der Menschen überhaupt eine Patienten- auch imstande, von ihrem Recht auf Selbstbestimmung verfügung verfasst haben, zeigt die Notwendigkeit, auf Gebrauch zu machen. Und sie werden dieses Recht auch diesem Feld aktiv zu werden. nutzen. Ich bitte, den Antrag der FDP zu unterstützen. Lassen Für einen überzeugten Liberalen gibt es kaum eine Sie uns die Patientenverfügung regeln, damit die Men- zentralere Frage als die nach der eigenverantwortlichen schen in die Lage versetzt werden können, selbstbe- und selbstbestimmten Lebensführung. Nichts liegt ei- stimmt zu leben. nem Liberalen mehr am Herzen als das Selbstbestim- mungsrecht als Kern der Würde des Menschen – und diese ist, wie es im Grundgesetz steht, unantastbar. Fritz Rudolf Körper (SPD): In der Koalitionsverein- barung haben die Koalitionsparteien beschlossen, „in der Von daher kann nach meiner tiefen Überzeugung am neuen Legislaturperiode die Diskussion über eine ge- Ende dieser Diskussion nur ein Ergebnis feststehen: die setzliche Absicherung der Patientenverfügung fortzufüh- Gültigkeit der Verfügung eines Menschen, die er im ren und abzuschließen“. Diese Vereinbarung geht zu Vollbesitz seiner geistigen Kräfte einmal für das Eintre- Recht davon aus, dass wir eine umfassende Diskussion ten bestimmter Umstände getroffen hat. Jedes Pferd, benötigen. Die Patientenverfügung und ihre gesetzliche wenn es todkrank oder tödlich verletzt ist, bekommt den Absicherung betrifft die existenziellen Belange der Men- Gnadenschuss. Einem Mensch, kann man das Recht, schen. Sie betrifft ihre Ängste vor einer Zwangsbehand- sich selbst in bestimmten Lebensphasen und Lebenssi- lung, aber auch vor einem vorzeitigen Ende, sie betrifft tuationen gegen lebensverlängernde Maßnahmen zu ent- ethische und verfassungsrechtliche Fragen. Ich begrüße scheiden, nicht verwehren. Es muss nur endlich klar ge- es daher sehr, dass wir uns die Zeit für eine Diskussion regelt werden. nehmen, bevor die im Raum stehenden Gruppenanträge eingebracht werden. Auch Bundespräsident Köhler hat sich 2005 dafür ausgesprochen, dass jeder Mensch in jeder Lebensphase Die Vereinbarung, die Diskussion über die Patienten- selbst entscheiden kann, ob und welchen lebensverlän- verfügung „abzuschließen“, bedeutet, dass wir zu einem gernden Maßnahmen er sich unterziehen möchte. Ergebnis kommen wollen, das dem Bedürfnis großer (B) Ebenso hat der Nationale Ethikrat 2005 in überwiegen- Teile der Bevölkerung nach Rechtssicherheit Rechnung (D) der Zahl seiner Mitglieder festgestellt, dass sowohl die trägt. Ich möchte zur Veranschaulichung dieses Bedürf- Reichweite als auch die Verbindlichkeit der Verfügung nisses aus zwei der überaus zahlreichen Briefen zu die- nicht auf bestimmte Lebensphasen beschränkt werden sem Thema zitieren, die an das Bundesministerium der sollen. Natürlich muss all das auf Freiwilligkeit beruhen. Justiz gerichtet wurden: Niemand darf zur Verfassung einer Patientenverfügung gedrängt werden. „Ich bin 82 Jahre alt und auf eine wirksame Patienten- verfügung angewiesen. Völlig verunsichert durch eine Die Diskussion um die schwierige Frage, ob der vor- Information eines Rechtsanwalts wende ich mich an Sie mals geäußerte Wille des Betroffenen auch noch dem mit der Bitte um Hilfe. Der Anwalt sagt, eine Patienten- tatsächlichen Willen in der aktuellen Situation entspre- verfügung sei nur wirksam, wenn sie komplett von Hand che, was insbesondere bei Demenz zum Problem wird, geschrieben und notariell beglaubigt sei. Außerdem ist ernst zu nehmen. Sie ist jedoch dadurch weitestge- müsse sie durch Zeugen bestätigt werden. Ist meine Ver- hend auszuschließen, dass man die Praxis der Verfügung fügung jetzt unwirksam?“ entsprechend gestaltet und regelt. Je konkreter, präziser, Eine 85-Jährige: „Ich habe eine Patientenverfügung umfassender und aktueller die Patientenverfügung ver- gemacht, die ich ständig bei mir trage. Mein 90-jähriger fasst ist, umso weniger Raum bleibt für Interpretationen Bekannter kam in das Krankenhaus. Die Kinder haben über den erklärten und den tatsächlichen Willen des Be- alle Papiere mitgebracht. Sie haben ihn jahrelang ge- troffenen. Daher muss es hier eigentlich die dringlichste pflegt und wollten, dass er nun ohne Schmerzen den Tod Aufgabe sein, das Verfassen der Patientenverfügung zu erdulden kann. Aber alle Vorsorge war umsonst. Der regeln. Anstatt über die Interpretation von Willensbe- Mann wurde trotz Koma mit Operationen aller Art ge- kundungen zu reden, muss das Ziel sein, einen einheitli- quält. Kann man nicht endlich der Patientenverfügung chen Ratgeber und entsprechende Formulare und Vor- eine gesetzliche Grundlage geben?“ drucke zu entwickeln, die möglichst wenig Spielraum zulassen. Das Beachten der Ziele der größtmöglichen Nach Schätzung der deutschen Hospizstiftung gibt es Konkretisierung, Detailliertheit und besonders der Aktua- bereits jetzt über 7 Millionen Patientenverfügungen. lität kann viel dazu beitragen, Interpretationsspielräume Diese Menschen – von denen ich gerade zwei zitiert zu minimieren. Dazu bedarf es stärkerer Aufklärung der habe – befürchten, schwersten ärztlichen Eingriffen in Menschen zu den Möglichkeiten der Patientenverfü- ihre körperliche Integrität nur deswegen ausgeliefert zu gung, den rechtlichen Konsequenzen, die daraus folgen, sein, weil sie eines Tages nicht mehr zur Äußerung ihres sowie den neusten medizinischen Entwicklungen, bei- Willens in der Lage sind. Sie verlangen das Recht, auch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9281

(A) für diesen Fall im Wege der Patientenverfügung selbst Entwurf eines Gruppenantrags der Kollegen Bosbach, (C) eine Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidung be- Röspel, Winkler und Fricke vorgesehen ist. Reichwei- trifft im Kern die Frage, ob und unter welchen Umstän- tenbegrenzung bedeutet: eine Patientenverfügung ist den der Lauf der Dinge als Schicksal hingenommen wer- grundsätzlich unbeachtlich, wenn sie die Nichtvornahme den soll oder ob dieser Lauf durch ärztliche Eingriffe oder den Abbruch lebenserhaltender medizinischer Maß- unter allen Umständen aufgehalten werden soll, auch ge- nahmen anordnet. Eine Ausnahme gilt – abgesehen vom gen den zuvor erklärten Willen des Betroffenen. Fall des Wachkoma – nur dann, wenn das Grundleiden nach ärztlicher Überzeugung unumkehrbar einen tödli- Nicht nur die Betroffenen, auch die Angehörigen, die chen Verlauf angenommen hat. In dem unscheinbaren Ärzte, die Pfleger und die rechtlichen Vertreter des Ster- Wörtchen „unumkehrbar“ ist versteckt, dass sämtliche benden haben einen Anspruch auf einen klaren rechtli- ärztliche Maßnahmen auch gegen den Willen des Betrof- chen Rahmen, der die Verbindlichkeit der Patientenver- fenen erlaubt sein sollen, die den tödlichen Verlauf mög- fügung für alle Beteiligten klarstellt. licherweise „umkehren“ können, was immer das heißen Der BGH hat zwar mit Beschluss vom 17. März 2003 soll. Der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Jörg- die Bindungswirkung der Patientenverfügung grundsätz- Dietrich Hoppe, sagt hierzu im „Spiegel“ dieser Woche: lich anerkannt, gleichzeitig aber eine gesetzliche Rege- „Die Reichweitenbeschränkung führt praktisch zu einer lung angemahnt. In der Tat besteht ein dringender Klä- Lebensverlängerung um jeden Preis. Das lehnt die Ärz- rungsbedarf im Hinblick auf die Reichweite einer teschaft klar ab.“ Patientenverfügung, im Hinblick auf die formellen Vo- Dem kann ich nur zustimmen. Im gleichen „Spiegel“- raussetzungen einer wirksamen Patientenverfügung und Gespräch wird eine der Folgen einer Reichweitenbe- im Hinblick auf die Einschaltung des Vormundschafts- schränkung beschrieben: Ein 98-jähriger Greis müsste gerichts. – entgegen seinem eindeutigen Willen – nach einem Die Patientenverfügung ist ein Instrument der Vor- Herzstillstand auch dann reanimiert werden, wenn er da- sorge. Mit ihrer Hilfe können die Bürgerinnen und Bürger nach mit schwersten Hirnschäden künstlich ernährt wer- vorsorgend darüber entscheiden, ob im Fall ihrer späteren den müsste. Und warum? Nur deshalb, weil dies eben Entscheidungsunfähigkeit unter bestimmten Umständen technisch machbar ist. Genau dies wollen all die Millio- ärztliche Eingriffe vorgenommen werden dürfen oder nen Bürgerinnen und Bürger verhindern, die eine Patien- aber nicht. Letzteres läuft im Grenzfall auf die Anwei- tenverfügung abgefasst haben. sung des Betroffenen hinaus, das Sterben geschehen zu Selbstverständlich kann nur ein Arzt aufgrund seiner lassen und auf ärztliche Gegenmaßnahmen zu verzichten. fachlichen Kenntnisse die Prognose stellen, ob eine me- (B) Vor einer Auseinandersetzung mit den Einzelheiten dizinische Maßnahme – möglicherweise – das Leben ret- (D) der vorliegenden Gesetzesvorschläge sollten wir uns mit ten oder auch nur verlängern kann. Das steht außer einer Grundsatzfrage auseinandersetzen. Sie betrifft un- Frage. Die Befürworter einer Reichweitenbeschränkung ser eigenes Selbstverständnis als Gesetzgeber und unser machen von dieser, Prognose allerdings eine entschei- Verständnis von der Kompetenz der Bürgerinnen und dende rechtliche Folge abhängig: Nur wenn der Arzt die Bürger, selbstverantwortlich ihre eigene Entscheidung Chance einer Rettung oder Lebensverlängerung aus- zu treffen: Wollen wir dem Wunsch der Bürgerinnen und schließt, soll der Patientenwille in den fraglichen Fällen Bürger nach mehr Eigenverantwortlichkeit entsprechen, rechtlich verbindlich sein. Dies bedeutet, dass nicht nur oder wollen wir die Entscheidungsfreiheit der Bürgerin- ein sicherer sondern auch ein unsicherer, sogar ein äu- nen und Bürger aufgrund der Schwierigkeiten, die unbe- ßerst unsicherer, ein nur theoretisch möglicher Heilungs- stritten mit einer zeitlich vorgelagerten Entscheidung erfolg dazu zwingt, ärztliche Maßnahmen durchzufüh- verbunden sind, per Gesetz einschränken? ren. Mit einem derartigen Gesetz würden wir, die Abgeordneten, über den Willen unserer Mitbürgerinnen Das Thema „Patientenverfügung“ weckt die verschie- und -bürger hinweggehen. Wir, nicht die Ärzte, würden densten Ängste, auch bei uns Abgeordneten. Es geht um ihren Willen für unbeachtlich erklären. eine Problematik, die mit dem Lebensende, mit einem Leben mit Behinderungen, mit schwersten Eingriffen Eine Prognose ist gerade bei den hier infrage stehen- und letztlich mit dem Tod verbunden ist. Wer eine Pa- den schweren Gesundheitsschäden naturgemäß immer tientenverfügung verfasst hat, kennt das Zögern vor ei- unsicher. So ist beispielsweise der Erfolg einer Chemo- ner Festlegung. Aber wir müssen hier ganz klar zweier- therapie nur begrenzt vorhersehbar. Also müsste eine lei auseinanderhalten: Die Schwierigkeiten und Ängste, Chemotherapie aufgrund der gesetzlichen Vorgaben die mit einer Festlegung für jeden von uns verbunden auch gegen den erklärten Willen des Patienten durchge- sind, mögen ein guter Grund dafür sein, selbst von einer führt werden, falls dieser sich nicht mehr aktuell gegen Patientenverfügung abzusehen. Aber sind sie kein Grund diesen Eingriff wehren kann. dafür, anderen Menschen die Option einer selbstverant- wortlichen Selbstbestimmung zu nehmen! Damit wür- Wir, die Befürworter einer unbegrenzt verbindlichen den wir als Gesetzgeber unsere persönliche Entschei- Patientenverfügung, sehen uns hingegen moralisch und dung als Abgeordnete an die Stelle der Entscheidung verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, die Entscheidung durch die Betroffenen setzen. über einen personalen Kernbereich, dem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, demjenigen zu ermöglichen, Damit bin ich bei dem Hauptstreitpunkt angelangt, der die Folgen dieser Entscheidung zu tragen hat. Wir der sogenannten Reichweitenbegrenzung, wie sie in dem sind der Ansicht, dass den Betroffenen auch dann ein 9282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Recht auf Entscheidung über ärztliche Eingriffe zu- kann. Das bestreitet niemand. Es bestreitet auch nie- (C) kommt, wenn diese Entscheidung zwangsläufig nur im mand, dass das Leben mit amputierten Beinen oder quer- Vorfeld der kritischen Situation getroffen werden kann. schnittsgelähmt oder in einem sogenannten vegetativen Status für einen gesunden Menschen nur schwer vor- Die Patientenverfügung ist eine Option. Das heißt, es stellbar ist. Doch was folgt daraus? Dass andere darüber steht den Bürgerinnen und Bürgern frei, ob sie überhaupt entscheiden sollen? eine derartige Entscheidung treffen wollen, ob und unter welchen Bedingungen sie mit einer Patientenverfügung Zunächst einmal ist dies nicht grundsätzlich ein Pro- ärztliche Maßnahmen einschränken, oder ob sie im Ge- blem nur der Patientenverfügung. Auch ein Patient, der genteil eine möglichst umfassende ärztliche Versorgung über eine unmittelbar anstehende Amputation selbst be- verfügen wollen. wusst entscheiden kann, kann sich die Folgen der Opera- tion nur vorstellen. Die Folgen sind immer zukünftig Die Befürworter einer Einschränkung der Verfügungs- und werden erst später erlebt und durchlitten. Ist dies macht des Patienten argumentieren mit einem angebli- etwa ein Argument gegen die Selbstbestimmung auch chen Spannungsverhältnis zwischen der freien Entschei- des aktuell einwilligungsfähigen Patienten? dung des Bürgers und seinem – angeblich – objektiv bestimmbaren Wohl. Oder sie berufen sich auf eine Dann müssen wir klar sehen, dass der Ausgangspunkt Pflicht des Staates zum Lebensschutz. Ich möchte hier unserer Überlegungen zur Patientenverfügung darin nicht diskutieren, ob der Staat im Wege des Gesetzes ge- liegt, dass eine Entscheidung des Patienten zum Zeit- gen den freien Willen des Betroffenen körperliche Ein- punkt des Eingriffs nicht möglich ist. Nicht die Patien- griffe mit dem Ziel des Lebensschutzes ermöglichen tenverfügung, sondern die Wege des Schicksals schaffen darf. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zu einer dieses Problem. Die Patientenverfügung ist der einzige derartigen Vorgabe besteht mit Sicherheit nicht. Weg, um dieses Problem im Wege der Selbstbestim- mung dennoch zu entscheiden. Eine vorgezogene Ent- Also müssen wir das Ergebnis dieser Meinung poli- scheidung ist der einzige Weg, wenn aktuell nicht ent- tisch bewerten: Diejenigen, die sich selbst zum Schützer schieden werden kann. Wer dies als nur „vermeintliche fremden Lebens ernannt haben, kommen im Ergebnis Selbstbestimmung“ kritisiert, stellt die Selbstbestim- dazu, die Freiheit der Bürger aus Fürsorgegründen in ei- mung insgesamt infrage. Die Alternative heißt schlicht nem zentralen Kernbereich der Selbstbestimmung einzu- Fremdbestimmung; Fremdbestimmung, in der das „ob- schränken. Sie begründen dies mit dem angeblich „ob- jektive Wohl“ des Patienten gegen seinen Willen und da- jektiv“ bestimmbaren Wohl der Betroffenen. Ich weiß mit gegen ihn selbst ausgespielt wird. nicht, woher sie den Maßstab dieses „objektiven“ Wohls hernehmen wollen. Das menschliche „Wohl“ ist aus mei- Die Problematik einer vorsorgenden Entscheidung (B) ner Sicht im Gegenteil eine sehr subjektive Angelegen- kann daher aus meiner Sicht nur folgende Konsequenzen (D) heit. Die angebliche „Objektivität“ des Wohls wird da- haben: Jeder, der eine Patientenverfügung verfassen durch erzeugt, dass der Maßstab des Betroffenen durch will, sollte sich im eigenen Interesse so umfassend und den eigenen Maßstab ersetzt wird. Ich halte dies für mit dem gleichen Ernst informieren, als ob die Entschei- nicht verantwortbar. Wir Abgeordneten des Deutschen dung unmittelbar anstünde. Der Gesetzgeber sollte den Bundestages sollten uns im Gegenteil damit bescheiden, Menschen empfehlen, sich vor Abfassung einer Patien- den Bürgerinnen und Bürgern den Rahmen für eine tenverfügung von einem Arzt, einem Rechtsanwalt, von – mögliche – Entscheidung zur Verfügung zu stellen. Wir den Beratungsstellen der Kirchen oder anderer Verbände können und sollten nicht anstelle der Bürger entscheiden ausführlich beraten zu lassen. wollen. Denn hinter dem Arzt können wir uns nicht ver- stecken: Es ist nicht der Arzt, der über die Durchführung Die Patientenverfügung ist eine Option, mehr nicht. einer Maßnahme entscheidet. Der Arzt gibt lediglich Sie soll dazu dienen, den Menschen aus der Logik des eine Prognose über den Erfolg möglicher medizinischer medizinisch Machbaren zu befreien, da diese Logik die Maßnahmen ab. Es wäre der Gesetzgeber, der im Wege existenzielle Dimension des Schicksals nicht kennt. Die einer Reichweitenbegrenzung an die ärztliche Prognose Patientenverfügung soll dazu dienen, den Respekt vor die gesetzliche Folge knüpft, dass die mögliche ärztliche der Würde des Menschen mit dem Respekt vor seinen Maßnahme auch gegen den Willen des Betroffenen Entscheidungen zu verbinden, da die Nichtbeachtung durchzuführen ist. Diese Entscheidung hätte allein der seines Willens die Nichtbeachtung seiner Würde nach Gesetzgeber zu verantworten. Der Arzt wäre nur das sich zieht. Werkzeug, und der Patient das Objekt einer gesetzlichen Niemand wird gezwungen, sich durch eine Patienten- Entscheidung. Ich halte eine derartige Anmaßung des verfügung festzulegen. Der Entwurf des Kollegen Gesetzgebers für unverantwortlich. Joachim Stünker gibt nur die Freiheit, dies jederzeit und Die Argumente derjenigen, die eine derartige Rege- jederzeit widerrufbar zu tun. Eine nur eingeschränkt ver- lung befürworten, überzeugen nicht. Selbstverständlich bindliche Patientenverfügung unterwirft hingegen den ist die Patientenverfügung eine Anweisung für eine Patienten dem Regime des medizinisch Machbaren. künftige Entscheidungssituation. Die Patientenverfü- gung wird zu einem Zeitpunkt verfasst, in der die fragli- Dorothée Menzner (DIE LINKE): Vo r m e in e m Stu - che Situation nur vorgestellt, möglicherweise bei ande- dium habe ich ein Jahr in einer kirchlichen Einrichtung ren Menschen oder mithilfe der Medien miterlebt, aber für geistig und mehrfach Behinderte gearbeitet. Diese eben nicht unmittelbar am eigenen Leib erfahren werden Erfahrung hat mich sehr geprägt, sie ist für mich ein Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9283

(A) wichtiger Grund, bei der anstehenden gesetzlichen Re- gen erstellen, in denen sie alle möglichen Behandlungen (C) gelung der Patientenverfügungen nur einer solchen Fas- ablehnen, um lieber zu sterben, als dies zu erleiden, ist sung zuzustimmen, die das Recht auf Selbstbestimmung die Sicherung ihres formalen Rechtes auf Selbstbestim- in keiner Weise einschränkt. mung nur die eine Seite der Medaille. Die andere aber müsste darin bestehen, dass die Gesellschaft ihre Res- Neben den gesetzlichen Grundlagen, die nun von uns sourcen zielgerichtet einsetzt, um diesen durchaus nicht auf den Weg gebracht werden müssen, fragen wir aber unberechtigten Ängsten den Boden zu entziehen. Ich bin meiner Meinung nach viel zu wenig nach den gesell- besorgt darüber, dass dieses Problem in der bisherigen schaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen Men- Debatte kaum thematisiert wurde, denn es rührt an ver- schen in unserem Land Alter und Krankheit, Pflegebe- fassungsmäßig verbriefte Grundrechte, die zu schützen dürftigkeit und schließlich den Prozess des Sterbens wir alle aufgerufen sind. durchmachen. Die Verantwortung der Politik für diese Bedingungen ist aber genauso groß, wenn nicht noch größer als die dafür, einzelne Fragen gesetzlich zu re- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geln. Der Deutsche Bundestag hat heute eine Debatte über die mögliche gesetzliche Regelung für Patientenverfügun- Ärzte und Patienten begegnen sich nicht in einem idea- gen begonnen. Diese Debatte sehr intensiv, offen und len Raum, sondern unter konkreten gesellschaftlichen sachlich zu führen, ist angesichts der ethischen und fak- Bedingungen. Von unserem Gesundheitswesen wurde in tischen Bedeutung des Themas und möglicher Folgen ei- den letzten Jahren vor allem eines verlangt: Kostensen- ner gesetzlichen Regelung besonders wichtig und rich- kung, Wenn in einem System nicht genug Geld vorhan- tig. In kaum einer anderen Debatte gibt es eine so große den ist, geht dies immer zulasten seines schwächsten Notwendigkeit der freien Gewissensentscheidung der Gliedes, und das ist eindeutig der Patient. Das von der Abgeordneten sowie des tiefen gegenseitigen Respekts Bundesärztekammer beschworene Vertrauensverhältnis vor dem Abstimmungsverhalten der Kolleginnen und zwischen Ärzten und Patienten basiert auf der Vorausset- Kollegen, unabhängig von deren Ausrichtung. zung, dass der Arzt alles in seinen Möglichkeiten Ste- hende tun wird, die Leiden des Patienten zu lindern. Neben den aktuell in Erarbeitung befindlichen Ge- Wenn den Medizinern allerdings immer engere ökono- setzentwürfen wird in der öffentlichen Debatte zum mische Grenzen gesetzt werden, beeinflussen diese, be- Thema von vielen Seiten zu bedenken geben, dass die wusst und unbewusst, ihre ärztlichen Entscheidungen. aktuelle Rechtslage ausreicht und weitergehende gesetz- Das wissen wir nicht erst seit der Einführung der Arznei- liche Regelungen neue Probleme und Konflikte bringen mittelbudgetierung. können. Bei detaillierter Betrachtung der derzeit vorlie- genden Entwürfe teile ich diese Bedenken. (B) Freunde, die hier in Berlin seit Jahren eine ambulante (D) Bereits heute gibt es Möglichkeiten einer weit rei- Hauskrankenpflege betreiben, berichteten mir über fol- chenden und verbindlichen Patientenverfügung. Über gende Erfahrungen: Häufiger als früher treffen heute deren Möglichkeiten sollte besser aufgeklärt werden. hoch betagte, multimorbide Patienten, die aufgrund aku- Doch die Debatte gilt es aus meiner Sicht breiter zu füh- ter Beschwerden ins Krankenhaus eingeliefert werden, ren: Wir brauchen eine neue, palliative Kultur im Zu- auf Ärzte, deren Entscheidung lautet: „Da machen wir sammenhang mit schwerer Krankheit und Sterben. nichts mehr.“ Gegebenenfalls könnte das Leben dieser Patienten durch therapeutische Maßnahmen – ich rede Leben verläuft in sich wandelnden Phasen. Es ist aus hier bewusst noch nicht einmal von intensivmedizini- meiner Sicht nur schwer möglich, in einer Phase zu wis- scher Behandlung – verlängert werden. Doch nicht im- sen, wie man in der nächsten Phase Veränderungen und mer werden Patienten und Angehörige überhaupt über auch Krankheit bewertet, und zu wissen, wie man dann diese Möglichkeiten aufgeklärt. Ebenso ist zu erleben, leben will. Der Wille des Menschen kann sich ändern, in dass Entscheidungen zum Beginn kostenintensiver The- Fragen des Lebens allemal. Es gibt zahlreiche Beispiele rapien bei chronischen Erkrankungen, etwa von Dialyse- von vermeintlich unheilbar Kranken oder Komapatien- behandlungen, zu Ungunsten der Patienten zeitlich so ten, die entgegen der ärztlichen Prognosen eine qualita- weit wie möglich nach hinten verschoben werden. Es tiv positive Entwicklung in ihrem Krankheitsverlauf er- gibt offenbar bereits jetzt eine Art Aufwand-Nutzen-Ab- fahren konnten. Eine verbindliche gesetzliche Regelung wägung, die nicht zuerst nach dem Wohl und auch nicht zu Patientenverfügungen begrenzt eine individuelle, nach dem Willen des Patienten fragt. Dagegen dürften fachlich fundierte und trotzdem ethisch orientierte Bera- auch Patientenverfügung machtlos sein. Oder sollte man tung und Begleitung von Schwerkranken. Sie kann so zu für solche Fälle das bisher Selbstverständliche verfügen: neuen Problemen und Gewissenskonflikten für Ärzte, Ich wünsche ausdrücklich, dass bei mir alle vorhandenen Betreuungspersonal und Angehörige führen. medizinischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung angewandt werden? Die medizinische Forschung bringt Die Diskussion um die Rechtsverbindlichkeit von Pa- immer neue, aber auch immer teurere Therapien hervor. tientenverfügungen ist auch eine Debatte um gesell- Für wen werden sie infrage kommen? Und bei wem wird schaftliche Werte. Das grundsätzliche Recht auf Leben die Entscheidung darüber liegen? Beim Arzt, bei der für jeden Menschen darf nicht zur Disposition stehen. Es Krankenkasse oder bei der Hausbank? ist Aufgabe des Gesetzgebers, das irreversible Lebens- recht unbedingt zu schützen. Es gilt daher eine Entwick- Wenn Menschen aus Angst davor, hilflos, abhängig lung zu verhindern, bei der bestimmte Krankheitsbilder und ihrer Würde beraubt zu werden, Patientenverfügun- mit Vorstellungen eines lebensunwerten Lebens verbun- 9284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) den werden. Es darf außerdem keinesfalls geschehen, Wer den Schwerstkranken, den Sterbenden ihre (C) dass in unserer Gesellschaft Druck auf ältere und chro- Würde bewahren will, muss Beistand und Hilfe leisten. nisch kranke Menschen entsteht, durch Vorsorge und Gerade dies ist Ausdruck menschlicher Freiheit. Wer am entsprechende Verfügungen dafür zu sorgen, dass sie der Ende seines Lebensweges angekommen ist, hat An- Gesellschaft im Krankheitsfall nicht „zur Last“ fallen. spruch auf Fürsorge und Betreuung. Sterbende sollen Die Begleitung und Pflege kranker und sterbender Men- weitestgehend schmerzfrei dem Tod entgegengehen. Für schen ist eine moralische Verpflichtung und ein besonde- die Angehörigen ist dies oftmals mit einer ungeheuren rer gesellschaftlicher Wert. Es muss stets klar sein, dass Belastung und Zumutung verbunden, physisch wie psy- sich unsere Gesellschaft dieser Verantwortung bewusst chisch. Jeder von uns, der sich in einer solchen Situation ist und kranke, behinderte und auch sterbende Menschen befunden hat, wird dies sicher bestätigen können. solidarisch trägt und unterstützt. Aber in „Zumutung“ steckt „Mut“: Es erfordert Mut, sich auf einen Sterbenskranken einzulassen. Aus der Michael Roth (Heringen) (SPD): Die Würde des Barmherzigkeit, die man selbst aufzubringen bereit und Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen in der Lage ist, erwächst auch Hoffnung, dass einem ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Dies gilt im selbst Barmherzigkeit zuteil werden kann. Angehörige Leben wie im Sterben. Menschen sollen in Würde ster- brauchen dabei alle Unterstützung: organisatorisch, zeit- ben. Nicht wenige zweifeln, ob das gelingt. Wir leben in lich, finanziell. Und immer dann, wenn Sterbebegleitung einer Zeit, die uns immer wieder suggeriert, alles sei durch Freunde und Familie nicht zu gewährleisten ist, möglich, beherrsch- und gestaltbar. Oftmals setzen wir sind Hospize sinnvolle Alternativen. das im Hinblick auf unsere persönliche Lebensführung mit vermeintlicher Autonomie gleich. Aber haben wir Es gilt, denen zu danken, die sich dieser Aufgabe mit uns nicht doch eher den Verwertungsprinzipien des Mut, Ausdauer und Kraft widmen. Das ist gelebte Soli- Marktes allzu sehr unterworfen? Wir sehen nicht allein darität, ja Liebe zum Nächsten. in Dingen, sondern auch im eigenen Leben oft nicht Im Rahmen der Reform der Pflegeversicherung ist mehr den Wert, sondern nur noch den Preis. Der Wert dem angemessen Rechnung zu tragen. Das kostet viel des Lebens, seine Unveräußerlichkeit, seine Einzigartig- Geld. Aber es wird dringend gebraucht – der Menschen- keit geraten öfter in den Hintergrund. Individuelle würde wegen. Ebenso sind die Förderung und der ver- Schwächen sind auszumerzen, der Mensch soll stets und stärkte Einsatz der Palliativmedizin nachdrücklich vo- überall funktionieren. ranzutreiben. Wir brauchen ein flächendeckendes, Dass auch das Sterben seine Zeit hat, ist uns fremd integriertes Angebot von Schmerztherapiebehandlun- geworden. Wir schweigen uns dazu aus. Aus dem gen, Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen sowie Hospi- (B) (D) Schweigen erwächst Angst, Angst vor Krankheit, vor zen. Hier sehe ich maßgeblich die Politik, insbesondere Schmerz, dem Alleinsein. Während noch vor wenigen uns als Gesetzgeber, in der Pflicht. Jahrzehnten die Angst vor mangelnder medizinischer Im Mittelpunkt unseres Handelns hat die Fürsorge für Versorgung im Vordergrund stand, wird unser Denken den Patienten zu stehen. Wenn es medizinisch möglich heute bestimmt von der Angst vor medizinischer „Über- ist, muss dem Patienten eine neue Lebensperspektive er- versorgung“. Niemand will der sogenannten Apparate- öffnet werden. Die medizinische Entwicklung schreitet medizin hilflos ausgeliefert sein. Wir behaupten, keine weiter rasant voran mit vielen neuen Chancen, trotz Angst vor dem Tod, nur vor dem Sterben zu haben. So schwerster Krankheit menschenwürdig weiterleben zu wie wir unser gesamtes Leben in Beziehung zu Anderen können. setzen, zu Familie und Freunden, so gilt dies auch für das Sterben. Unser ganzes Leben ist davon geprägt, Ver- Dem muss auch die Patientenverfügung Rechnung antwortung für sich und andere zu übernehmen. Dies tragen. Sie ist daher zwangsläufig zu begrenzen. Dies schließt Abhängigkeit voneinander ein und fordert ge- kann mit dem garantierten Recht auf Selbstbestimmung genseitige Hilfeleistung. Warum sollten diese Beziehun- kollidieren. Aber es ist schon abstrus, wie die Befürwor- gen in Phasen schwerster Erkrankung, des Sterbens nicht ter einer schrankenlosen Geltung der Patientenverfügung mehr belastbar sein? Darf man seinen Angehörigen in mit extremen Einzelfällen die Debatte in ihrem Sinne zu der letzten Lebensphase nicht mehr zur Last fallen? Ist beeinflussen trachten. Die rechtliche und moralische Un- es gerechtfertigt, das Warten auf den Tod zwanghaft zu sicherheit, selbst bei detailliert formulierten Verfügun- verkürzen, um Schmerzen und Hinfälligkeit zu entge- gen, bleibt doch bestehen. Machen sich Ärzte und Ange- hen? hörige allein dadurch schuldig, dass sie den vermeintlichen oder tatsächlichen Willen des Patienten All dies verstört uns und kulminiert in einer emotio- nicht konsequent umsetzen? Oder macht sich nicht auch nal geführten Debatte um Patientenverfügungen. Nicht derjenige zumindest moralisch schuldig, der Lebens- wenige meinen ernsthaft, sich selbst und ihren Angehö- chancen, mögen sie auch gering sein, bewusst ignoriert? rigen durch schriftliche Verfügungen solche Zumutun- gen ersparen zu können. Selbstverständlich haben die Unabhängig von der Abfassung von Patientenverfü- Patientenverfügungen ihren Wert, sind Hilfe für Familie, gungen besteht stets Interpretationsbedarf. Endgültige Pflegende und Ärzteschaft, geben Orientierung in Pha- Klarheit vermag kein noch so detailgenaues Gesetz zu sen der Unsicherheit und des Zweifels. Aber sie sind schaffen. Es kann nur im Sinne des Schwerstkranken kein taugliches Instrument zur Erleichterung des Ster- sein, wenn Angehörige, Pflegende und Ärzte möglichst bens, dürfen es auch nicht sein. eng und vertrauensvoll zusammenwirken, um eine dem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9285

(A) Kranken gerecht werdende und verantwortbare Ent- die Voraussetzungen für den Absatz von Produkten aller (C) scheidung zu treffen. Unternehmen der deutschen Land- und Ernährungswirt- schaft zu schaffen. Patientenverfügungen können ein Mittel sein, die Be- dingungen des Sterbens humaner zu gestalten. Der maß- Auf diesen Absatzförderungsmaßnahmen können die geblich vom Kollegen Rene Röspel erarbeitete Gesetz- Unternehmen individuell aufbauen und sie gegebenen- entwurf trägt meinen persönlichen Erwartungen und falls ergänzen. Anforderungen am ehesten Rechnung. Es ist für mich Das Absatzfondsgesetz ist mit dem Verfassungs- und akzeptabel, dass bei unwiederbringlichem Bewusstseins- Europarecht vereinbar; ebenso wird die Finanzierungsart verlust lebenserhaltende Maßnahmen auf ausdrücklichen als Sonderabgabe als weiterhin erforderlich angesehen. Wunsch des Patienten beendet werden. Es handelt sich hierbei zumeist um Schwerstkranke, nicht Sterbende. Ich Zwar wird die künftige Rahmenregelung der EU die begrüße daher den Vorschlag, dass hier das Vormund- Grenzen für erlaubte Werbebeihilfen etwas enger ziehen; schaftsgericht die letzte Entscheidung zu treffen hat. Hinweise auf die Herkunft von Erzeugnissen werden aber im Rahmen nationaler oder regionaler Gütezeichen Dass wir darüber streiten, ist mehr als selbstverständ- zulässig sein. Damit wird auch die künftige Regelung lich. Aus meiner Arbeit in der Kammer für öffentliche genügend Spielraum für Maßnahmen bieten, die den Verantwortung der EKD weiß ich, dass Für und Wider Sinn und Zweck des Absatzfondsgesetzes erfüllen. über Die kontinuierliche Herausstellung des Nutzens einer Verbindlichkeit und Reichweite, über Voraussetzun- nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft mit ihren gen und Gültigkeit von Patientenverfügungen mitunter hochwertigen Produkten bewirkt, dass die Werthaltigkeit hart aufeinanderstoßen, ein Konsens auch innerhalb ei- von Nahrungsmitteln stärker ins Bewusstsein der Ver- ner Gruppe evangelischer Christinnen und Christen nur braucher dringt und ihre Kaufentscheidung beeinflusst. schwer herstellbar ist. Umso schwieriger dürfte uns dies Dieses ist vor allem angesichts der Ausgaben der Ver- hier im Deutschen Bundestag fallen. braucher für das immer breiter werdende Angebot an Entscheidungen entlang parteipolitischer Überzeu- Waren und Dienstleistungen erforderlich, mit denen die gungen sind für mich undenkbar. Jeder von uns ist auf- Ausgaben für Nahrungsmittel konkurrieren müssen. Es gerufen, im Hinblick auf die zu treffende Entscheidung geht letztlich darum, dem Thema „Essen und Trinken“ sein Gewissen sorgsam zu prüfen. Gegenseitiger Res- durch eine positive Darstellung heimischer Agrarpro- pekt und fairer Umgang sind dabei eine Grundvorausset- dukte insgesamt einen deutlich höheren Stellenwert zu zung. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen geben. (B) – im Leben und Sterben – ist zu achten und zu schützen. Leider ist der Kontakt zum Landwirt für die Mehrheit (D) Um nicht weniger geht es. der Bevölkerung nicht mehr selbstverständlich. So pro- duzieren deutsche Bäuerinnen und Bauern heute in ei- nem gesellschaftlichen Umfeld, das sich immer weiter Anlage 3 von der Landwirtschaft entfernt. Zu Protokoll gegebene Reden Gerade die aktuellen Widersprüche gegen die Abgabe treffen genau hier ins Mark. Die Folgen durch die er- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur zwungenen Mittelkürzungen sind bereits jetzt gravie- Änderung des Absatzfondsgesetzes und des rend. Die tiefen Einschnitte, zum Beispiel beim zentral- Holzabsatzfondsgesetzes (Tagesordnungspunkt 14) regionalen Marketing im Inland, werden die Kluft zwi- schen Stadt und Land noch vertiefen. Marlene Mortler (CDU/CSU): Die Stellungnahmen in der Ausschussanhörung waren eindeutig: Keiner der Letztendlich geht es bei der Arbeit der zentralen Ab- Sachverständigen stellte das Absatzfondsgesetz infrage. satzförderung auch darum, die Wertigkeit und Wert- In Detailfragen wird zwar Bedarf für Anpassungen gese- schätzung heimischer Nahrungsmittel stärker in den Fo- hen; diese sind aber nicht Gegenstand der Gesetzesno- kus der Verbraucherinnen und Verbraucher zu rücken. velle. Ich bin mir bewusst, dass das Absatzfondsgesetz in Vor allem aus Sicht der Molkereiwirtschaft hat sich Grundrechte der Abgabenbelasteten eingreift und daher das System der zentralen Absatzförderung in vollem verfassungsrechtlich beurteilt werden muss. Angezwei- Umfang bewährt. Sie ist die größte Gruppe von Bei- felt werden verschiedentlich die verfassungsrechtlichen tragszahlern. Voraussetzungen der Homogenität sowie der Gruppen- nützigkeit. Hierzu gibt es die eindeutigen Ausführungen Zweck des Absatzfondsgesetzes ist die Sicherung der von Dr. Cornils. Sie verdeutlichen, dass am Vorliegen Marktstellung und damit der Wettbewerbsfähigkeit der der Voraussetzungen zur Homogenität der durch die Ab- deutschen Land- und Ernährungswirtschaft. Diese Auf- gabe betroffenen Gruppe im Ergebnis kein Zweifel be- gabenstellung ist trotz des gemeinsamen Binnenmarktes steht und die verfassungsrechtliche Voraussetzung der nicht überholt, sondern durch die Folgen der Reform der gruppennützigen Verwendung des Abgabenaufkommens gemeinsamen Agrarpolitik notwendiger denn je. weiterhin gegeben ist. Die Wirtschaft sieht die Aufgabe der CMA im We- Ich bin überzeugt, dass die Unternehmen der deut- sentlichen darin, durch gezielte Marketingmaßnahmen schen Land- und Ernährungswirtschaft, die den Absatz- 9286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) fonds finanzieren, deswegen eine homogene Gruppe bil- Deutschland zählt nach wie vor zu den größten Agrar- (C) den, weil sie weiterhin durch eine gemeinsame exporteuren der Welt. Im letzten Jahr wurden Agrargüter Interessenlage verbunden sind. Ihr gemeinsames Inte- im Wert von rund 40,8 Milliarden Euro exportiert. 1970 resse ist, ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem inländi- waren es erst 1,3 Milliarden Euro. Diese Spitzenposition schen, dem europäischen und dem Weltmarkt zu bündeln möchten, wollen und müssen wir behalten! und zu stärken. Zusammen mit den Auslandsbüros der CMA erschlie- Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1990 das ßen deutsche Unternehmen Exportmärkte. Hierzu wären Absatzfondsgesetz verfassungsrechtlich überprüft und zahlreiche Unternehmen, allein kaum in der Lage. Auch die Verfassungmäßigkeit bestätigt. Auch 17 Jahre später andere Länder außerhalb und innerhalb der EU haben hat sich daran nichts geändert, weil die Anforderungen den Stellenwert von Inlands- und Auslandswerbemaß- an Homogenität und Gruppennützigkeit auch weiterhin nahmen zwischenzeitlich erkannt. Viele haben ver- erfüllt sind. gleichbare Organisationen aufgebaut, um den Absatz ih- Die Verfassungskonformität belegt auch ein aktueller rer Produkte im Binnen- und Weltmarkt zu fördern. Beschluss des Verwaltungsgerichts München. In diesem Beihilferechtliche Genehmigungen von Maßnahmen der Beschluss kommt das VG München zu dem Ergebnis, österreichischen AMA und der britischen staatlichen In- dass keine schwerwiegenden Zweifel an der Vereinbar- stitutionen „Food from Britain“ und „English Beef and keit des Absatzfondsgesetzes mit dem Grundgesetz be- Lamb Executive“ durch die EU-Kommission belegen stehen. dies. Beide Organisationen vergeben ebenfalls Qualitäts- siegel für landwirtschaftliche Produkte, deren Herkunft Zur gruppennützigen Verwendung des Abgabenauf- und Qualität sie überprüft haben. Auch in Frankreich kommens sei gesagt, dass es nach der Rechtsprechung und in den Niederlanden sind die Aufwendungen pro- des Bundesverfassungsgerichts nur darauf ankommt, zentual wesentlich höher als in Deutschland. dass die Verwendung im überwiegenden Interesse der Gesamtgruppe erfolgt. Urproduzenten, Verwerter und Die CMA hat hier für die deutsche Agrarwirtschaft in Vermarkter bilden dabei die Gesamtgruppe. den vergangenen Jahren wertvolle Arbeit geleistet und ist ebenso unverzichtbar wie die ZMP, die mit ihrer Dies gilt auch für die homogene Gruppe der Forst- Preisberichterstattung und ihren Marktanalysen zur und Holzwirtschaft. Aufgrund der kleinteiligen Struktur Transparenz der Märkte beiträgt. mit viel Privatwaldbesitz in Deutschland wird die ge- meinschaftliche Holzwerbung von der Branche sehr po- Stichwort Transparenz: Von Gegnern des Absatzfonds sitiv gesehen. Zwar ist aufgrund der europäischen Rah- wird Transparenz bei der Mittelvergabe immer wieder (B) menregelung für staatliche Beihilfen nur eine eingefordert; zuletzt in der Ausschussanhörung Anfang (D) Holzwerbung ohne Herkunftsangabe gestattet, dennoch März. Allerdings nimmt man es selber nicht so genau. wird der Holzabsatzfonds begrüßt. Anders als beim Ab- Einen der fordernden Experten bat ich um die Zahlen, satzfonds gibt es keine nennenswerten Einsprüche gegen wie viel Projektmittel sie von der CMA in den letzten die Abgabe. Jahren erhalten haben. Bis heute habe ich keine Antwort. Die vorgesehenen Änderungen werden positiv als Bü- Als deutsche Agrarpolitikerin stehen die Interessen rokratieabbau aufgenommen. Ohne den Holzabsatzfonds unserer heimischen Land- und Forstwirtschaft für mich müssten sich die vielen Besitzer bzw. Betriebe zusam- im Vordergrund. Sie stehen für heimische Wirtschafts- menschließen, um eine gemeinsame holzabsatzför- kraft und Arbeitsplätze, die nicht exportiert werden kön- dernde Werbung finanzieren zu können. Auch deshalb nen. Dies sind wichtige gesamtwirtschaftliche Aspekte. ist der Holzabsatzfonds in der Branche unumstritten. Die Wir sind stolz auf die Produkte und Leistungen der hei- klaren Aussagen der Experten bestätigen die Haltung der mischen Erzeuger. Union und sorgen für geordnete Verhältnisse. Wir beschließen Änderungen, um ein zukunftsfähiges In Bezug auf die europarechtliche Vereinbarkeit des Absatzfondsgesetz zu schaffen. Mit diesem Änderungs- Absatzfondsgesetzes möchte ich hervorheben, dass sich gesetz möchten wir erstens die aufgabenbezogene Ver- der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil aus dem teilung der Ausgabenlast neu regeln, zweitens die im Jahr 2002 lediglich zur Öffnung des CMA-Gütezeichens Absatzfondsgesetz verankerte gegenseitige personelle geäußert hat. Er hat sich nicht zum Absatzfondsgesetz Verzahnung aufheben und drittens die Zahl der Mitglie- geäußert und somit die zentrale Absatzförderung nicht der des Verwaltungsrates des Absatzfonds erhöhen und infrage gestellt. Erst 2004 hat die EU-Kommission das seine Zusammensetzung zugunsten der Landwirtschaft Absatzfondsgesetz beihilferechtlich erneut genehmigt. ändern. Im aktuellen Gemeinschaftsrahmen ist nunmehr wie- der Werbung für Gütezeichen mit sekundärer Ursprungs- Die Politik hat die Wichtigkeit des Absatzfonds er- bezeichnung möglich. Auch ist Werbung für Produkte kannt und schnell gehandelt. Es bleibt aber auch noch mit geschützter Ursprungsbezeichnung möglich. Diese eine ganze Menge zu tun. Die Ausgestaltung der Maß- wird sogar mit EU-Mitteln kofinanziert. nahmen ist allerdings nicht Sache des Parlamentes. Es ist Aufgabe der Wirtschaft, die Unterstützung und Akzep- Zu einer zentralen Absatzförderung gibt es keine Al- tanz in ihren jeweiligen Bereichen herzustellen. Ich bin ternative. Diese Maßnahmen sind immens wichtig für überzeugt, dass die Wirtschaft ihren Teil zum Gelingen die Sicherung und Erschließung neuer Exportmärkte. des Gesetzes beitragen wird und muss. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9287

(A) Gustav Herzog (SPD): Wir beraten heute abschlie- Rechtfertigung zu liefern, das Absatzfondsgesetz im (C) ßend die Änderung des Absatzfondsgesetzes und des Grundsatz als verfassungsgemäß einzustufen. Ob dieser Holzabsatzfondsgesetzes und setzen damit längst über- Weg erfolgversprechend ist, bleibt abzuwarten. Die An- fällige Forderungen, unter anderem vom Rechnungshof, hörung im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und um. Verbraucherschutz hat aber deutlich zutage gefördert, dass wir dringend eine Grundsatzdebatte über die Zu- Das Absatzfondsgesetz – genauer gesagt: das Gesetz kunft des Absatzfondsgesetzes benötigen. über die Errichtung eines zentralen Fonds zur Absatzför- derung der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft – Seit 1969 wird von den Produzenten des grünen Be- ist seit dem 26. Juni 1969 in Kraft, ins Leben gerufen reichs eine Zwangsabgabe erhoben, um mit zentralen von einer Großen Koalition. Das Gesetz wurde verschie- Marketingstrategien den Absatz und Export landwirt- dene Male geändert, zuletzt von der rot-grünen Mehrheit schaftlicher Produkte zu fördern. Doch Werbung, die im Jahr 2002. Damals haben wir insbesondere die Be- speziell auf die deutsche Herkunft landwirtschaftlicher lange des Verbraucher-, Umwelt- und Tierschutzes mit Produkte abstellt, ist seit einem Urteil des EuGH verbo- aufgenommen und die personelle Besetzung des Verwal- ten. Die Unzufriedenheit unter den Bauern über die Effi- tungsrates entsprechend der neuen Zielsetzungen ange- zienz der CMA ist hoch. Viele fühlen sich durch die passt. Diese Änderungen wurden von der EU-Kommis- Werbung schlicht nicht vertreten, müssen aber trotzdem sion umfangreich geprüft und notifiziert. Eine weitere, die Abgabe zahlen und andere bezweifeln, dass die Wer- bereits 2004 intensiv beratene und mit der heute debat- bung der CMA für sie irgendwelche Vorteile bietet. Die tierten in vielen Punkten übereinstimmenden Gesetzes- Frage, welchen Nutzen ganz allgemeine Werbung für änderung ist zu meinem Bedauern im Vermittlungsaus- Milch oder Blumen oder Ähnliches für die Landwirte schuss der letzten, verkürzten Legislatur gestrandet. hat, wurde nicht nur nicht zufriedenstellend beantwortet, sondern die Stellungnahme von Herrn Professor Becker Ich möchte in dieser Debatte für meine Fraktion Fol- hat ja sehr eindrucksvoll aufgezeigt, wie sinnlos solche gendes deutlich machen. Die deutsche Land- und Ernäh- Werbung ist. rungswirtschaft ist leistungs- und wettbewerbsfähig. Da- mit sie erfolgreich bleibt, sind ihre Märkte im Inland, Zwangssysteme unterliegen in einer rechtsstaatlichen innerhalb der Gemeinschaft und in der ganzen Welt zu Demokratie immer einem besonderen Rechtfertigungs- pflegen und weiter zu erschließen. Hierzu ist der ein- druck. Der Nutzen für die zwanghaft Beglückten muss of- zelne Erzeuger nicht umfassend in der Lage und dafür fensichtlich sein. Als Liberaler bevorzuge ich grundsätz- gibt es den Absatzfonds und seine Ausführungsgesell- lich freiwillige Systeme. Doch wenn es ein Zwangssystem schaften. Sie sind die Werkzeuge, die wir brauchen und gibt, muss die Gruppennützlichkeit Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit des jeweiligen Zwangssystems (B) für die es sich zu werben und zu streiten lohnt. (D) sein. Auch wenn einige Experten in der Anhörung diese Dabei stehen sie nicht außerhalb von Kritik, nein – Gruppennützligkeit als gegeben ansahen, meine Zweifel aber wer das zentrale Agrarmarketing erhalten möchte, sind geblieben. Ich denke wir kommen an einer grundle- muss bereit sein zu Reformen. Wir wollen diese Verän- genden Reform des Absatzfonds und der CMA nicht vor- derungen! Wir wollen das zentrale Agrarmarketing er- bei. Immer wieder wird insbesondere auf den Nutzen der halten, die daran geübte Kritik aufgreifen, breit diskutie- Exportförderung abgestellt. Doch die Landwirte profitie- ren und strukturelle Änderungen durchsetzen. Ob dafür, ren doch nur höchstens indirekt hiervon, weil vor allem jenseits dieser kleinen Novelle, gesetzliche Maßnahmen die Ernährungswirtschaft Träger des Exports ist. Die Aus- notwendig sind oder die Arbeit alleine über die Verwal- landsmessenbetreuung wird vor allem von der Ernäh- tungs- und Aufsichtsgremien geleistet werden kann, rungswirtschaft genutzt, also zum Beispiel von Lidl und wird die Diskussion in den nächsten Monaten zeigen. Aldi. Welcher landwirtschaftliche Produzent setzt denn Und wir wollen diese Diskussionen! Wir wollen auch seine Produkte tatsächlich über Auslandsmessen direkt im damit deutlich machen, dass dieses Gesetz der Verfas- Ausland ab? Der Hähnchenmäster beliefert Wiesenhof, sung entspricht und EU-konform ist. der Fleischproduzent Tönnies, der Obst- und Gemüse- Die vorliegende Gesetzesnovelle ist in der Experten- bauer Krefeld und so weiter. Wie profitieren diese Land- anhörung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- wirte denn von der Exportförderung oder der Absatz- schaft und Verbraucherschutz von allen Sachverständi- förderung allgemein? Ich finde es seltsam, dass die gen befürwortet worden. Ich werbe auch deshalb um Landwirte ihre Exportförderung selber bezahlen, wäh- Ihre Zustimmung. Eine weitergehende Kritik an der Ab- rend das Bundeswirtschaftsministerium 180 Millionen satzförderung ist für mich keine vernünftige Begrün- Euro Steuermittel für die gesamte Außenwirtschaftsför- dung, sich der Stimme zu enthalten oder dagegen zu derung des nicht grünen Bereichs einsetzt und allein stimmen. Wer die zentrale Absatzförderung reformieren 36 Millionen Euro für die Auslandsmessenbetreuung. will, muss sie zunächst erhalten. Warum müssen Bauern dies aus eigener Tasche bezahlen und für den nicht grünen Bereich bezahlt dies der Steuer- zahler? Diese Fragen wurden auch in den Ausschussbe- Hans-Michael Goldmann (FDP): Die FDP wird der ratungen nicht zufriedenstellend geklärt. kleinen Novelle zum Absatzfondsgesetz zustimmen. Die kleine Novelle kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Insbesondere die sogenannten Flaschenhalsbetriebe sie am Kernproblem vorbeigeht. Ein Blick in die Be- wenden sich immer wieder gegen den Absatzfonds und gründung offenbart uns, worum es bei dieser Novelle bestreiten den Sinn und Zweck des zentralen Absatzmar- wirklich geht: dem Bundesverfassungsgericht eine ketings. Angesichts dessen, dass die meisten landwirt- 9288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) schaftlichen Betriebe doch nur noch beim regionalen wohl der schon eine halbe Ewigkeit existiert, hat sich ge- (C) Marketing einen direkten Kontakt zum Endverbraucher rade für diese Erzeugergruppe die Lage eher verschlech- haben, stellt sich auch mir die Frage, worin der Sinn tert. Selbst im Jahr 2002, als die Milchpreise aufgrund liegt, in allgemeiner Werbung zum Beispiel Milch anzu- der BSE-Krise kurzfristig einen Spitzenwert von 32 Cent preisen? erreichten, entsprach das Preisniveau gerade einmal dem von 1987. Seither sind die Preise wieder um mehr als Der Bauernverband spricht davon, dass die CMA- Werbung ganz allgemein dem Verbraucher die Werthal- 10 Prozent auf durchschnittlich 28 Cent gesunken. Das tigkeit landwirtschaftlicher Produkte vermitteln soll. liegt unter dem Erzeugerkostenniveau. Viele Betriebe Aber glaubt denn wirklich jemand, dass die CMA Ein- werden das auf Dauer nicht überstehen. In ihrer verzwei- fluss auf die Verbraucherentscheidung nehmen könnte, felten Lage werden sogar Lieferboykotts angedroht. Was lieber ein Buch, einen CD-Player, Designkleidung oder hat also der Absatzfond den Milcherzeugern gebracht? ein Stück Qualitätsfleisch zu kaufen? Der Rechtferti- Sind Milchverbrauch und Absatz von Molkereiproduk- gungsdruck unter dem der Absatzonds steht, hat durch ten gestiegen? Haben sich die Verbraucherpreise durch das aktuelle Gesetzgebungsverfahren nicht nachgelas- erfolgreiches Marketing stabilisiert? Nichts davon ist sen. eingetreten und die Frage danach muss erlaubt sein: Welche Leistung gibt es für den Zwangsbeitrag? Das im Liebe Kollegen von der Großen Koalition, mit eurer Ausschuss ausgerechnet die CDU beim Absatzfond das kleinen Novelle habt ihr es euch zu leicht gemacht. Das Solidarprinzip einfordert, ist nach der Gesundheits„re- Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird nicht vor form“ zynisch. Ich stelle dagegen die Frage: Wer profi- 2009 erwartet. Wir hätten die Zeit für eine umfassende tiert denn eigentlich wirklich vom Absatzfonds? Reform nutzen sollen. Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand, deshalb ist es sehr fraglich, darauf Zweitens: Mangel an Transparenz, Ineffizienz und zu vertrauen, dass das BVerfG schon nicht das Absatz- Kontrolle. Diese Frage führt zwangsläufig zum zweiten fondsgesetz für verfassungswidrig erklären wird. Selbst zentralen Kritikpunkt: Viele der derzeitigen Maßnahmen von denen, die grundsätzlich für den Erhalt des Absatz- des Absatzfonds sind nicht transparent, ineffizient und fonds eintreten, gibt es eine Reihe von grundlegenden entziehen sich jeglicher Kontrolle. Diese Kritik war auch Reformforderungen, um die Effizienz der CMA zu erhö- in der Ausschussanhörung deutlich vernehmbar. So ist hen. Diese Diskussion bis nach einem Urteil zu verschie- zum Beispiel unbekannt, wie viel Aufwand für den Ab- ben halte ich für falsch. satz und das Marketing in Drittländern außerhalb der EU getätigt wird. Seitens der EU-Absatzförderung werden Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.): Über den solche Maßnahmen unterstützt. Laut Kommissionsbe- (B) nun zur Abstimmung vorgelegten Gesetzentwurf der richt vom Anfang dieses Jahres ist es nicht gelungen, die (D) Koalition zum Absatzfondsgesetz wurde sehr intensiv von der Kommission eingestellten Mittel auszunutzen. diskutiert. Und das, obwohl die vorgeschlagenen Ände- Die mangelnde Transparenz der Absatzfondsausgaben rungen und die auch im Gesetz geregelte Zentrale lässt eine genauere Bewertung der Aktivitäten leider of- Markt- und Preisberichtsstelle, ZMP, kaum strittig sind. fensichtlich nicht zu. Natürlich betreiben andere Länder, Aber es wird eben auch der dringende Regelungsbedarf insbesondere die USA und Kanada, aufwendige Absatz- bei der CMA nicht aufgegriffen, und das, obwohl er in förderung. Aber zumeist in einer völlig anderen Struktur der Gesetzesbegründung dargelegt wird. Der Gesetzent- und mit dem Anspruch einer ordentlichen Evaluierung wurf trägt damit nicht zur Lösung der eigentlichen Pro- der Maßnahmen. Ich halte das für so selbstverständlich, bleme des Absatzfonds bei. dass ich sehr erstaunt bin. Schon der in der Ausschussan- Es bleibt bei der Intransparenz, es bleibt bei der gerin- hörung von Professor Becker geäußerte Verdacht auf gen Wirksamkeit, es bleibt bei dem zu geringen Nutzen einen solchen Mangel beim Absatzfonds hätte zum Han- für die Beitragszahlerinnen und -zahler, es bleibt bei den deln zwingen müssen. Das kann doch nicht geduldet rechtlichen und inhaltlichen Bedenken. Aus diesem werden. Grund lehnen wir diese Mini-Novelle ab. Drittens: Rechtliche Zulässigkeit und Produkt- Dass eine Absatzförderung sinnvoll ist, bestreitet ja kannibalismus. Die EU-Zulässigkeit des Absatzfonds niemand. Die Frage ist aber: Wie wird gefördert, und wird sehr unterschiedlich bewertet. Die EU-Richtlinien wer bezahlt das? zur Absatzförderung schreiben eine produktbezogene Förderung vor. Warum aber soll ein Brandenburger Lassen Sie mich nun zu einigen konkreten Kritik- Landwirt die Werbung für französischen Käse finanzie- punkten kommen: ren? Ich kann nachvollziehen, dass sich ihm das kaum Erstens: Finanzierungssystematik. Der Absatzfond fi- erschließt. Durch die allgemeine Marktsättigung im Le- nanziert sich über Zwangsabgaben. Das halten wir für bensmittelbereich kommt es zudem zum Produktkaniba- antiquiert, möglicherweise ist es nach aktueller Rechts- lismus, das heißt, Werbeerfolge für die eine Produktgat- lage auf EU- und Bundesebene sogar rechtswidrig. tung verdrängt Verbrauchs- und Marktanteile anderer Hinzu kommt, dass eine wachsende Zahl der unfreiwilli- Gattungen. Die innereuropäische Verflechtung der gen Beitragszahlerinnen und -zahler keinen Nutzen se- Märkte führt dazu, dass eine Absatzförderung für eine hen. Genau hier setzen die Klagen betroffener Milchbau- Produktgattung zwangsläufig auch die ausländische ern an. Sie finanzieren mit knapp 38 Prozent der Konkurrenz fördert. Hier zahlen die deutschen Erzeuge- Beiträge einen Löwenanteil des Absatzfonds. Aber ob- rinnen und Erzeuger über eine gesetzlich geregelte Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9289

(A) Zwangsabgabe die Absatzförderung der innereuropäi- Die Legitimationskrise des Absatzfonds hat sich (C) schen Mitbewerber mit – übrigens ohne Gegenleistung. durch die sich aus EU-Recht ergebenden Einschränkun- gen der herkunftsbezogenen Werbung und die vom Ver- Viele Landwirtinnen und Landwirte zahlen deshalb – zu- waltungsgericht Köln geäußerten Zweifel an der Verfas- sätzlich zu den Zwangsabgaben des Absatzfonds – völlig sungskonformität dramatisch verschärft. Der Kölner freiwillig für das Marketing eigener Produkte mit beson- Beschluss ist dabei der Auslöser der Klage- und Wider- derer Qualität oder Regionalität. Die Integration solcher spruchswelle, aber die Ursache ist mangelnde Rücken- erfolgreicher Marketingaktivitäten in die Absatzförde- deckung und Akzeptanz. Die ablehnende Haltung ist si- rung würde Akzeptanz und Effizienz deutlich verbessern. cher durch die nicht vorhandene Bereitschaft bei den Verantwortlichen verstärkt worden, auf die seit Jahren Viertens: Verfassungsmäßigkeit der Zwangsbeiträge. vorgebrachte Kritik angemessen zu reagieren. In der Anhörung am 7. März wurden zur Verfassungs- mäßigkeit sehr unterschiedliche Positionen durch die Allerdings wäre ein ersatzloser Wegfall eines Ge- Experten vertreten. Die Entscheidung des Bundesverfas- meinschaftsmarketings und der unabhängigen Markt- sungsgerichts wird Ende des nächsten Jahres erwartet. und Preisberichtserstattung für die Land- und Ernäh- Aber die Argumentation des Verwaltungsgerichts Köln rungswirtschaft in Deutschland durchaus ein Verlust und liegt vor. Es hat die Zwangsabgabe aus nachvollziehba- ein Wettbewerbsnachteil gegenüber der Land- und Er- ren Gründen abgelehnt. nährungswirtschaft innerhalb der Europäischen Gemein- schaft, da es in anderen Mitgliedstaaten vergleichbare Was, liebe Kolleginnen und Kollegen, hindert uns als Instrumente gibt. Das Marketing im Lebensmittelbereich Gesetzgeber eigentlich daran, unabhängig von noch aus- gänzlich der Lebensmittelindustrie zu überlassen, wäre stehenden gerichtlichen Entscheidungen ein zukunfts- dem Ziel der Förderung eines gesundheitsbewussten Er- fähigeres und breiter akzeptiertes System der Absatzför- nährungsverhaltens nicht dienlich und nicht im Sinne derung zu gestalten? Selbst die Vertreter der Koalition des Verbraucherschutzes. Um dem Gemeinschaftsmar- haben im Ausschuss betont, dass eine umfassende Re- keting eine Zukunft zu geben und die Kritik aufzuneh- form des Absatzfondsgesetzes erforderlich ist. Warum men, brauchen wir mehr als diese formale Novelle. tun sie es dann nicht? Die Abgaben zum Absatzfonds haben quasi fiskali- Vielleicht liegt das Hauptproblem darin, alte Zöpfe schen Charakter. Eine Geheimhaltung widerspricht de- abzuschneiden, um sich dann unvoreingenommen nach mokratischen Prinzipien. Eine Berichtspflicht zur Offen- neuen Systemen der Absatzförderung umzusehen, übri- legung der Einnahmen und Ausgaben sollte im gens ausdrücklich auch im Interesse der Beschäftigten Absatzfondsgesetz verankert werden. der CMA und ZMP. (B) Ebenso müssen die landwirtschaftlichen Erzeuger in (D) ihrer Bandbreite angemessen in den Gremien vertreten Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Bes- sein. Das wird weder durch das bestehende Gesetz noch tenfalls unwirksam“ – so betitelte die Zeitschrift „Wer- durch die vorgesehene Änderung gewährleistet. Dem ben und Verkaufen“ in ihrer Ausgabe vom 15. März die- Zentralausschuss der Deutschen Landwirtschaft werden ses Jahres ihren Artikel über unsere Anhörung im die Vorschlagsrechte für sämtliche landwirtschaftlichen Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Vertreter im Verwaltungsrat des Absatzfonds einge- cherschutz zur Novelle des Absatzfondsgesetzes. Ein räumt. Der Zentralausschuss ist aber lediglich ein Zu- hartes Urteil über die CMA bei einem Jahresetat von sammenschluss von vier Verbänden der deutschen 100 Millionen Euro, gespeist aus den Zwangsbeiträgen Agrarwirtschaft. Er stellt keine offizielle Interessenver- der landwirtschaftlichen Erzeuger! tretung der deutschen Landwirtschaft dar. Er verfügt über keine Organe und keine demokratisch legitimierten Dieses Pauschalurteil ist sicherlich überzogen und so Strukturen. Daher ist es nicht nachvollziehbar, warum nicht zutreffend. Allerdings besteht die Kritik am Ab- diese Einrichtung zusätzlich zu den sieben bisherigen satzfonds zu Recht, und das zur Debatte stehende Ab- Vertretern auch noch das Vorschlagsrecht für die fünf satzfondsgesetz gehört auch nach der heutigen Abstim- neu zu vergebenden Sitze erhält. Insbesondere die Land- mung grundsätzlich auf den Prüfstand. Das wurde durch wirtschaft aus den neuen Bundesländern, die Nebener- die Anhörung am 7. März eindeutig bestätigt. Professor werbslandwirte und die in der Arbeitsgemeinschaft bäu- Tilman Becker von der Universität Hohenheim bei- erliche Landwirtschaft organisierten Betriebe werden spielsweise schätzt die Effizienz der generischen Wer- durch den Zentralausschuss nur unzureichend vertreten. bung als sehr gering ein. Er verweist in seiner Stellung- nahme auf eine Reihe weiterer Wissenschaftler, die zu Die generische Werbung wird ganz überwiegend von ähnlichen Einschätzungen kommen. Die Werbemaßnah- den Experten als wirkungslos oder doch weitgehend wir- men der CMA seien überwiegend auf das Ziel ausgerich- kungslos eingeschätzt. Für Ärger sorgten in der Vergan- tet, den Namen der CMA positiv aufzuladen. Damit genheit auch einige der gewählten Werbemaßnahmen, würde die ganze Angelegenheit zum Selbstzweck. die von einigen als sexistisch wahrgenommen wurden. Andere Vorwürfe von Verbraucherseite lauten, es sei un- Deutlich wurde aber auch, dass sich die Kritik an der zulässige Werbung mit nicht wissenschaftlich abgesi- Arbeit der CMA entzündet und die Sinnhaftigkeit und cherten gesundheitsbezogenen Aussagen betrieben wor- Qualität der Arbeit der Zentralen Markt- und Preisbe- den, und es seien Produkte aus tierquälerischen richtsstelle – ZMP – allgemein anerkannt wird. Haltungsformen beworben worden. 9290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Um der Kritik gerecht zu werden und Klarheit hin- ihre Situation verbessern würde? Die Antwort kann nur (C) sichtlich der Aufgaben und Schwerpunktsetzung zu sein, dass eine Anwendung auf die in Deutschland le- schaffen, muss dieses im Gesetz verankert werden. Pro- benden nationalen Minderheiten wie Friesen, Dänen und duktdifferenzierung, Förderung von Wertschöpfungsket- Sorben nicht zielführend ist, da diese Volksgruppen weit ten, Regionalität, Qualität und Lebensmittelsicherheit, reichende Rechte genießen und auch in Anspruch neh- Produkt- und Technologieinnovation, Wertschätzung ge- men. Dies wird auch von allen Seiten anerkannt und ge- sunder Lebensmittel sind die Bereiche, die dabei ge- fördert. stärkt werden müssen. Das zentral-regionale Marketing Viel entscheidender für die Beantwortung der Frage wird übrigens meist positiv beurteilt; auch das ist durch sind für mich entsprechende Aussagen aus den Bundes- die Anhörung sehr deutlich geworden. Leider sind trotz ministerien für Wirtschaft und Inneres, aus denen her- öffentlicher Bekundungen seitens des Vorsitzenden des vorgeht, dass es in diesen Häusern wohl die Befürchtung Verwaltungsrates und Präsident des Deutschen Bauern- gibt, dass eine Ratifizierung des Übereinkommens nicht verbandes, Gerd Sonnleitner, beim Absatzfonds keiner- im Einklang mit nationalem Recht steht. Die Ministerien lei Ansätze für eine Neuorientierung erkennbar. Bei den verweisen auf mögliche Verzögerung von Projekten der Sparmaßnahmen im Haushalt 2007 wurden alle Kürzun- Außenwirtschaftsförderung und neue rechtliche Rah- gen nach der Rasenmähermethode vorgenommen. menbedingungen für bestimmte Indigene Volksgruppen Die CMA führt statt nachprüfbarer Erfolgskontrollen in Deutschland, die daraus möglicherweise bestimmte umfangreiche Untersuchungen zur Überprüfung ihres ei- Sonderrechte für sich ableiten könnten. Solange diese genen Bekanntheitsgrades durch. Es muss daher eine un- rechtlichen Fragen für Deutschland nicht abschließend abhängige Evaluierung der Maßnahmen gewährleistet geklärt sind, können wir als CDU/CSU-Bundestagsfrak- werden. Auch das sollte im Gesetz verankert werden. tion dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht zu- stimmen. Die Monopolstellung der CMA ist nicht zeitgemäß und trägt wesentlich zur Ineffizienz der Maßnahmen bei. Trotz dieser „nationalen“ Einwände möchte ich hier Daher muss das Gesetz die Aufgabenbereiche klar defi- aber klarstellen, dass sich viele richtige und wichtige nieren. Durch Ausschreibungs- und Vergabeverfahren Aussagen im vorgelegten Antrag finden, die wir als muss – wie in anderen Bereichen auch – mehr Wettbe- CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich unterstüt- werb und Dynamik in das System hinein. zen. Dabei möchte ich vor allem die Analyse der Situa- tion von indigenen Völkern besonders in Lateinamerika Diese kleine Novelle des Absatzfondsgesetzes trägt sowie daraus resultierende Folgerungen für die deutsche insgesamt nicht zur Lösung der anstehenden Probleme Entwicklungszusammenarbeit herausstellen. bei. Den Einwendungen des Verwaltungsgerichts Köln (B) wird sie ebenfalls nicht gerecht. Sie ist nicht geeignet, Wenn man sich einmal vergegenwärtigt, dass allein in (D) die Akzeptanz der Absatzförderung bei Beitragszahlern Bolivien 62 Prozent der Bevölkerung indigenen Völkern oder in der Öffentlichkeit zu verbessern. Wir werden da- angehören und dem gegenüberstellt, dass vom indigenen her dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen. Teil der Bevölkerung 52 Prozent in extremer Armut le- ben, vom übrigen Teil der Bevölkerung aber nur 27 Pro- zent – dann stimmen sie mir sicherlich zu, dass wir uns Anlage 4 bemühen müssen, die Lebenssituation für Angehörige der Indigenen Völker dort zu verbessern. Dabei ist Boli- Zu Protokoll gegebene Reden vien kein Einzelfall – ähnliche Zahlen gibt es auch bei- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des spielsweise zu Ecuador, Peru oder Guatemala. Dies hat Berichts zu dem Antrag: Indigene Völker – Ra- viele Ursachen, die ich hier nicht alle nennen kann – es tifizierung des Übereinkommens der Internatio- liegt oftmals an der Diskriminierung beim Zugang zu Fi- nalen Arbeitsorganisation (IAO) Nr. 169 über nanzdienstleistungen oder Ausbildung, an Rechtsun- Indigene und in Stämmen lebende Völker in un- sicherheit oder an Konflikten im Bereich der Raumord- abhängigen Staaten (Tagesordnungspunkt 15) nung oder des Landrechts. Doch diese prekäre Situation ist der Bundesregierung Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Wir stehen heute vor bekannt und sie hat entsprechende Schritte eingeleitet, dem Problem, über einen Antrag zu beraten, dem wir ei- um sie zu bessern. So hat sie eigens zu diesem Themen- gentlich in weiten Teilen zustimmen können und wollen, komplex ein Konzept mit dem Titel „Entwicklungszu- ihn aber doch aus bestimmten Gründen ablehnen müs- sammenarbeit mit indigenen Völkern in Lateinamerika sen. Der Teil des Antrags, dem wir zustimmen können, und der Karibik“ erarbeitet. Hiermit soll der besonderen befasst sich mit der Situation indigener Völker in Ent- Bedeutung der Indigenen Völker für die Entwicklung wicklungsländern und wie wir deren Situation verbes- der Länder, in denen sie leben, Rechnung getragen wer- sern können. Aber der Antrag beinhaltet auch die Forde- den. In diesem Konzept werden Maßnahmen genannt, rung, das IAO-Übereinkommen über Indigene Völker in die im vorgelegten Antrag gefordert werden – insofern Deutschland zu ratifizieren und damit hier bei uns zu fasse ich viele Passagen des Antrags auch als Unterstüt- geltendem Recht zu machen. zung für die bisherige Politik der Bundesregierung auf. Und daher stellt sich zunächst die Frage, wie sich die Die Entwicklung Lateinamerikas und anderer Länder Situation der in Deutschland lebenden indigenen Völker ist nur dann nachhaltig, wenn auch die indigenen Völker darstellt und ob eine Ratifizierung des Übereinkommens eingebunden und gefördert werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9291

(A) Dabei müssen wir uns zum Ziel setzen, nicht nur die Dies sind alles ermutigende und viel versprechende (C) Lebensbedingungen der Indigenen Völker im engeren Signale, auch wenn sie insgesamt noch nicht ausreichen. Sinne zu verbessern, sondern auch ihre politische Orga- Wir müssen die indigenen Völker und die Länder, in de- nisations- und Partizipationsfähigkeit zu fördern. Ich nen sie leben, weiter in ihren Bemühungen unterstützen. möchte an dieser Stelle folgendes Zitat wiedergeben: „In Und – ich betone nochmals – der Antrag enthält in sei- der Geschichte Guatemalas haben wir Mayas immer nur nem entwicklungspolitischem Teil richtige und wichtige unser Recht ausgeübt, zu wählen, nicht aber gewählt zu Vorschläge dazu. Insgesamt müssen wir den Antrag aber werden.“ Dies sagte jüngst Rigoberta Menchú bei ihrer aus den genannten Gründen ablehnen, auch wenn ich Ankündigung, für das Präsidentenamt in Guatemala zu gleichwohl hoffe, dass wir Mittel und Wege finden, die kandidieren. Sie gehört wie 40 Prozent ihrer Landsleute angesprochenen Probleme zu überwinden, um das Über- zur Volksgruppe der Maya und hat für ihr bisheriges Ein- einkommen Nr. 169 über indigene Völker auch in treten für die Rechte der Indios 1992 den Friedensnobel- Deutschland ratifizieren zu können. preis erhalten.

Wir dürfen aber auch die Rolle der Indigenen Völker Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): Stellen Sie in anderen Entwicklungsfeldern nicht vergessen: Indi- sich vor, wir hier in Deutschland wären Angehörige ei- gene Völker leisten dort, wo sie noch in unmittelbarer nes indigenen Volkes und andere Gesellschaften oder Nähe zu natürlichen Ressourcen und biologischer Viel- große Wirtschaftsunternehmen kämen hierher und wür- falt leben und wirtschaften, einen unschätzbaren Beitrag den unseren Lebensraum zerstören, unsere natürlichen zur Erhaltung der Biodiversität. Hinzu kommt ihre Rolle Ressourcen ausbeuten, uns demokratische Beteiligung als Teil des Weltkulturerbes. Erwähnenswert ist auch ihr vorenthalten und uns elementare politische Rechte ver- Potenzial zur Entwicklung ihrer Staaten und Gesell- weigern. Wir würden diskriminiert und ausgegrenzt, wir schaften. hätten keine Rechtssicherheit, keinen Zugang zu Schul- Diese Analyse wird auch von der internationalen bildung, zu medizinischer Grundversorgung und zu Fi- Staatengemeinschaft geteilt und entsprechend umge- nanzdienstleistungen. Kurz: Wir wären in Europa weit- setzt. So gibt es im Rahmen des UN-Systems zahlreiche gehend vom politischen, wirtschaftlichen, sozialen und Gremien und Resolutionen, die sich mit der Verbesse- kulturellen Leben ausgeschlossen. Jetzt frage ich Sie: rung der Situation von Indigenen Völkern befassen. Dies Würden Sie sich für oder gegen die Ratifizierung der geschieht auf vielfältigste Art und Weise – beispiels- ILO-Konvention 169 entscheiden? weise durch die Unterstützung regionaler Dachverbände Indigener Völker und ihrer Vertreter bei der Wahrneh- Die ILO-Konvention 169 ist seit 1989 das bisher ein- mung ihrer Interessen gegenüber den Regierungen und zige internationale Vertragswerk mit völkerrechtlichem (B) (D) auf internationaler Ebene. Status, das die Rechte indigener oder in Stammesgesell- schaften lebender Bevölkerungsgruppen schützt. Von Gerade dieses Instrumentarium hat sich bewährt und ist auch ein Element der deutschen Entwicklungszusam- den insgesamt 177 Mitgliedstaaten der Vereinten Natio- menarbeit. So kooperiert das BMZ mit der COICA (Co- nen haben nur 18 Länder dieses Vertragswerk ratifiziert. ordinadora de las Organizaciones Indigenas de la Das ist eine enttäuschende Bilanz. In Europa sind Nor- Cuenca Amazónica), die die Interessen der indigenen wegen, die Niederlande, Dänemark und zuletzt Spanien Amazonasvölker vertritt, oder dem Zentralamerikani- mit gutem Beispiel vorangegangen. Die Vereinten Natio- schen Rat Indigener Völker, kurz CICA. Ebenfalls wer- nen schätzen, dass weltweit zwischen 300 und den Vertreter indigener Völker bei der Planung und 400 Millionen Menschen Angehörige indigener Bevöl- Durchführung der deutschen Entwicklungszusammenar- kerungsgruppen sind. Sie leben in mehr als beit einbezogen und bringen so ihre Erfahrungen und 5 000 Gemeinschaften und in mehr als 70 Ländern die- Ideen in die Projekte ein. ser Erde. Zusammen bilden sie fast 5 Prozent der Welt- bevölkerung. Denn nur gemeinsam mit dem Wissen und Erfah- rungsschatz der Indigenen Völker können Projekte Aus- Die ILO-Konvention 169 erkennt indigene Gemein- sicht auf Erfolg haben und eine nachhaltige Wirkung er- schaften als „Völker“ an, wenngleich auch ohne staatli- zielen. che Souveränität, aber als kollektive Besitzer eines Ter- Nun wird das alles auch im entwicklungspolitischen ritoriums und als Gemeinschaften mit eigenen Teil des vorliegenden Antrags gefordert und ich betone traditionellen Selbstverwaltungsorganen. Die Konven- ausdrücklich, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion tion hat zum Ziel, Schutz und Anspruch auf eine Viel- dies unterstützt. Auch wird gelegentlich eine Solidarrati- zahl von Grundrechten für die Angehörigen indigener fikation gefordert. Meines Erachtens nach greift dieses Gruppen rechtsverbindlich zu regeln. Dies betrifft unter Argument zumindest für Lateinamerika nicht, denn ab- anderem das Recht auf ihre eigene Lebensweise, Spra- gesehen von ganz wenigen Ausnahmen haben alle che und Kultur, das Recht auf traditionelles Land oder lateinamerikanischen Länder das Übereinkommen ratifi- Territorium sowie die Nutzung der dort vorhandenen ziert. Die meisten Verfassungen lateinamerikanischer Ressourcen, das Recht auf Selbstverwaltung und das Länder erkennen die nationale Gesellschaft mittlerweile Recht auf spezielle Konsultations- und Partizipations- als multiethnisch oder multikulturell an und sprechen verfahren bei allen Vorhaben, die Einfluss auf das Terri- den indigenen Bevölkerungsgruppen entsprechende torium oder die Lebensweise von indigenen Gruppen ha- Rechte zu. ben. 9292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Im Jahr 2002 hat der Deutsche Bundestag die Bun- „Zweiten Internationalen Dekade der indigenen Völker (C) desregierung aufgefordert, die ILO-Konvention 169 zu der Welt“ auf. ratifizieren. Dieser Aufforderung ist die Bundesregie- rung bis heute nicht nachgekommen. Nicht nur die Frak- Indigene Völker sind unverhältnismäßig stark von tion des Bündnisses 90/Die Grünen, sondern auch die Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit, unzureichender Bil- Menschenrechts- und die Entwicklungspolitiker und -po- dung und Kindersterblichkeit betroffen. Die Millenni- litikerinnen der SPD-Bundestagsfraktion halten die For- umsziele greifen insgesamt diese Themen auf. Es ist aber notwendig, die spezielle Situation indigener Völker derung nach einer Ratifikation für notwendig und wich- bei der Verwirklichung der Millenniumsentwicklungs- tig. Wir müssen uns aber eingestehen, dass es uns auch ziele zu berücksichtigen. unter Rot-Grün nicht gelungen ist, unsere Fraktionskol- leginnen und -kollegen – vor allem aus der Innenpolitik, Multilaterale und bilaterale Geber haben spezielle der Verteidigungs- und der auswärtigen Politik, aber Strategien und Leitlinien für die Zusammenarbeit mit in- auch die Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern – digenen Völkern entwickelt: Die Weltbank hat einen zu dieser wichtigen Entscheidung zu bewegen. umfangreichen Konsultationsprozess geführt, und die in- teramerikanische Entwicklungsbank verabschiedete In den Debatten der vergangenen Jahre wurde viel- überarbeitete Leitlinien. Beide haben sich für die ver- fach das Argument zitiert, Deutschland müsse die ILO- bindliche Vorgabe entschieden, dass indigene Völker an Konvention 169 nicht zeichnen, da sie für den Geltungs- Projekten, die sie direkt oder indirekt betreffen, zu betei- bereich des Grundgesetzes rechtlich ohne Konsequenzen ligen sind. Auch der Rat der europäischen Union hat sich wäre. Diese Auffassung wird der Rolle Deutschlands in 1998 für die grundsätzliche Berücksichtigung der Rechte der Welt nicht gerecht. Das Bundesministerium für wirt- und Anliegen der indigenen Völker als Querschnittsauf- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung plädiert gabe ausgesprochen. Er hat Kriterien definiert, die in der schon seit 1996 unter unterschiedlichen Ministerinnen bilateralen EZ der EU-Mitgliedsländer zum Ausdruck und Ministern dafür, die ILO-Konvention 169 nicht nur kommen sollen. in der Entwicklungspolitik, sondern auch in der Außen- und Wirtschaftspolitik zu einem übergreifenden Bezugs- Das Europaparlament hat alle Mitgliedstaaten aufge- rahmen für bilaterale Beziehungen zu anderen Ländern rufen, die ILO-Konvention 169 über „Indigene und in zu machen. Stämmen lebende Völker“ zu ratifizieren. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die deutsche Erst Ende 2006 hat Bundesministerin Heidi Bundesregierung den Wünschen der Ministerin für wirt- Wieczorek-Zeul ein neues Konzept vorgelegt. Die schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und Tei- Grundlage für dieses neue Konzept sind die Evaluierung len des Parlaments folgen wird. des ersten BMZ-Konzeptes von 1996 und die Ergebnisse (B) von Konsultationsprozessen mit Vertreterinnen und Ver- (D) tretern indigener und internationaler Organisationen. Dr. Karl Addicks (FDP): Die Achtung und der Schutz indigener Völker sind in den letzten Jahren mehr Ich nenne ein paar der wichtigsten Empfehlungen: und mehr beachtet worden. Dies befürworten wir Libe- erstens bessere Verankerung der Belange indigener Völ- rale ausdrücklich! Die in Stämmen lebenden Völker leis- ker in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit, vor ten einen besonderen Beitrag zur kulturellen Vielfalt. allem, wenn es um Vorhaben der guten Regierungsfüh- Dabei gilt es besonders, sowohl den Erfahrungsschatz rung geht, zweitens Einbeziehung indigener Völker und als auch das naturspezifische Wissen dieser Völker als Organisationen als zentrale Akteure in jegliche Planung Fundus für den Schutz der Biodiversität zu erhalten und und Umsetzung, drittens Verbindung der Demokratieför- zu nutzen. In der Entwicklungszusammenarbeit, aber derung mit interkulturellem Dialog und viertens Berück- auch in der Umweltpolitik gilt es, dieses Wissen zu nut- sichtigung und Unterstützung des Themas in Krisenprä- zen und zu berücksichtigen. Ich denke, in diesen Punk- vention und Konfliktbearbeitung. Eine wichtige ten sind wir uns alle einig. Forderung der indigenen Vertreterinnen und Vertreter ist für mich die Forderung nach mehr Beteiligung bei bila- Viele nationale und internationale Initiativen und Or- teralen und regionalen Vorhaben mit staatlichen Institu- ganisationen haben dies erkannt und sich den Schutz der tionen und insgesamt ein größeres Maß an direkter Zu- indigenen Bevölkerung auf die Fahnen geschrieben. sammenarbeit. Dies ist zu begrüßen. Zu nennen sind zum Beispiel die Arbeitsgruppe über indigene Bevölkerungen, das Stän- 1995 proklamierten die Vereinten Nationen die inter- dige Forum über indigene Angelegenheiten sowie der nationale Dekade der „Indigenen Bevölkerungen“, von Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte und 1994 bis 2004. Das Motto hieß „Indigene Völker – Part- grundlegenden Freiheiten indigener Völker. Dies sind nerschaft in Aktion“. In den Bereichen Menschenrechte, nur einige Beispiele, die aber verdeutlichen, dass dieses Umwelt, Gesundheit und Bildung sollte die internatio- Thema erkannt und diskutiert wird. Die FDP sieht zu- nale Zusammenarbeit ausgebaut werden. Erfolge dieser dem keinen Bedarf an einer zusätzlichen Initiative. Sie Dekade waren die Berufung eines VN-Sonderberichter- selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, statters und die Gründung des ständigen Forums für indi- sagen dies auch in Ihrem Antrag. Der Schutz indigener gene Fragen im Rahmen des Wirtschafts- und Sozialra- Völker sei bereits in zahlreichen internationalen Abkom- tes Ecosoc. Trotzdem ist das Fazit deprimierend: Die men aufgegriffen worden. Sowohl auf europäischer Dekade trug nicht dazu bei, die allgemeine Lebenssitua- Ebene als auch bei den Vereinten Nationen sind bereits tion der Indigenen zu verbessern. Deshalb rief die VN- zahlreiche Bestrebungen zum Schutz indigener Völker Generalversammlung im Dezember 2004 zu einer erfolgreich zum Abschluss gekommen. Warum also ein Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9293

(A) weiteres Abkommen, das meines Erachtens keinen zu- fenden Völker aus dem von ihnen besiedelten Land nicht (C) sätzlichen Nutzen enthält? ausgesiedelt werden dürfen.“ Und noch eines finde ich sehr merkwürdig. Liebe Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie selbst Regierungsparteien einer Ratifizierung dieses Überein- haben es in Ihrer rot-grünen Regierungskoalition in der kommens zustimmen. Doch trotz der intensiven Bemü- Hand gehabt, die IAO Nr. 169 zu ratifizieren. Warum ha- hungen meines Kollegen Hoppe, der nun schon seit 2002 ben Sie das nicht getan? Wo sie doch Regierungsverant- eine Vielzahl von Gesprächen mit Vertretern der zustän- wortung und die nötige Mehrheit im Plenum hatten. Es digen Ministerien geführt hat, stemmen sich SPD und wäre also – wenn sie es gewollt hätten – ein Leichtes ge- Union mit aller Macht dagegen. Federführend ist hier wesen, diese Ratifikation vorzunehmen. Da kann ich Ih- das Wirtschaftsministerium. Offenkundig will Herr ren jetzigen Vorstoß nicht ganz ernst nehmen. Glos, dass deutsche Firmen auch in Zukunft überall auf der Welt ungeachtet der Menschenrechte indigener Völ- Doch nicht nur die Frage nach dem zusätzlichen Nut- ker ihre Geschäftsinteressen wahren können. zen stellt sich für uns Liberale. Auch sehen wir in der IAO Nr. 169 das Problem der Unterscheidung zwischen Ich nenne an dieser Stelle nur die 2003 fertig gestellte indigener und nichtindigener Bevölkerung. Wir Liberale Ölpipeline in Ecuador, die von der West LB finanziert glauben an die Universalität der Menschenrechte. Eine wurde. Für dieses Projekt wurden die in der Region hei- Unterscheidung zwischen indigenen und nichtindigenen mischen Indianer mit Waffengewalt vertrieben. Individuen sollte es für uns nicht geben. Diese Art der Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass das IAO-Über- Positivauslesen lehnen wir ebenso ab wie auch jede an- einkommen 169 allein keine Gewähr für die Durchset- dere Form der Diskriminierung. Das ist auch der Haupt- zung der Rechte der Indigenen bietet. Denn Ecuador hat grund, warum wir diesem Antrag nicht zustimmen kön- das Übereinkommen ratifiziert. Doch die Ratifizierung nen. durch die Bundesrepublik würde unweigerlich die Frage aufwerfen, ob die Rechte der Indigenen nicht auch in den Eine weitere Forderung in Ihrem Antrag besteht in ei- Vergaberichtlinien etwa bei der Erteilung von Hermes- ner stärkeren Berücksichtigung indigener Völker in der Bürgschaften eine Rolle spielen sollten oder bei der Kre- Entwicklungszusammenarbeit sowie auch als Dialog- ditvergabe einer landeseigenen Bank wie der West LB. partner. Dies ist in vielen Fällen bereits vorhanden, und da stellt sich für mich ebenso die Frage: Warum muss Wir, Die Linke, unterstützen deshalb den Antrag der hier eine Unterscheidung erfolgen? Diese Art von Dis- Grünen ohne Wenn und Aber. Dies ist auch ein Signal kriminierung können wir Liberale nicht unterstützen. der Solidarität gegenüber den Aktivisten der indigenen Für uns haben alle Menschen die gleichen Rechte. Unser Völker, die aktuell in Guatemala ihren dritten amerikani- (B) Ziel muss es vielmehr sein, dass die Menschenrechte schen Kontinentalgipfel abhalten. (D) weltweit geschützt, geachtet und eingefordert werden. Das muss unser aller Ziel sein. Dass ihr Widerstand Erfolg haben kann, bewiesen die San im afrikanischen Botswana. Deren jahrelanger Wir Liberale lehnen aus diesen Gründen den Antrag Kampf hat dazu geführt, dass ein Gericht nun ihre Ver- der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zur Ratifika- treibung aus der Kalahari für illegal erklärt hat! tion der IAO Nr. 169 ab. Lassen Sie mich noch eines anfügen. Das Verhalten der großen Kolonialmächte gegenüber den indigenen Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Zu den indi- Völkern war schon immer besonders schändlich. Um nur genen Völkern zählen weltweit rund 300 Millionen ein Beispiel zu nennen, das noch immer aktuell ist: Nach Menschen. Sie gehören in vielen Ländern zu denjenigen, dem Erwerb der Insel Diego Garcia im Indischen Ozean die am meisten unter Unterdrückung und Ausgrenzung in den 60-Jahren hat Großbritannien das dort lebende zu leiden haben. Im Zentrum der Konflikte mit Regie- Volk zwangsdeportiert, nicht im Interesse von Öl-Multis, rungen und internationalen Unternehmen steht das Recht sondern um die Insel dem US-amerikanischen Militär zu der Indigenen auf ihr eigenes Land. verpachten. So konnten von dort aus 1991 und 2003 die Bomber starten, um Hunderttausende im Irak zu morden. In Sibirien werden Rentierhirten von Ölfirmen aus ih- rem Land vertrieben. In Botswana sollte das Buschvolk Die einstigen Inselbewohner sind heute Bürger der der San aus der Zentralkalahari verschwinden, damit für EU. Doch ihr Zwangsexil dauert an. Es stünde der deut- die Tourismusindustrie ein Naturreservat ohne Men- schen Ratspräsidentschaft gut zu Gesicht, ihr Schicksal schen entstehen kann. endlich zu einem Thema in der EU zu erklären. Der zuständige UN-Sonderberichterstatter Stavenha- gen merkte dazu heute in einer Pressekonferenz bitter Anlage 5 an, dass „in manchen Ländern Wildtiere mehr Rechte genießen als die dort lebenden indigenen Völker.“ Zu Protokoll gegebene Rede Zur Beratung: Das 1989 beschlossene Übereinkommen 169 der IAO über die Rechte der Indigenen legt deshalb in Art. 15 – Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Verbesse- fest, dass die betreffenden Völker an der Nutzung, Be- rung rehabilitierungsrechtlicher Vorschrif- wirtschaftung und Erhaltung der natürlichen Ressourcen ten für Opfer der politischen Verfolgung in zu beteiligen sind. In Art. 16 heißt es, dass „die betref- der ehemaligen DDR 9294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) – Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Verbesse- Die FDP-Bundestagsfraktion hat heute davon abgese- (C) rung rehabilitierungsrechtlicher Vorschrif- hen, einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen, obwohl es ten für politisch Verfolgte im Beitrittsgebiet uns ein Leichtes gewesen wäre, den Entwurf aus der und zur Einführung einer Opferrente (Op- letzten Wahlperiode erneut einzubringen. Wir erneuern ferrentengesetz) an dieser Stelle vielmehr unser Angebot, an der Lösung der Fragen, die uns heute beschäftigen, konstruktiv mit- (Tagesordnungspunkt 16a und b) zuwirken. Am Ende dieses Prozesses sollte eine würdige und dem Einsatz der Betroffenen für Freiheit, Demokra- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): tie und Rechtsstaatlichkeit angemessene Lösung stehen. Auch wenn die letzte Debatte zum Thema erst wenige Ohne substanzielle Änderungen an dem Gesetzentwurf Wochen zurückliegt, scheint es mir erforderlich, dass wir wird es hierzu nicht kommen. Sollte der Gesetzentwurf uns hierüber heute noch einmal austauschen. Denn der hingegen Ihr letztes Wort sein, werden Sie auf unsere Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, nimmt leider Unterstützung nicht bauen können. Einer Lösung auf fis- nichts von dem auf, was in der letzten Debatte, aber auch kalisch niedrigstem Niveau können und werden wir un- außerparlamentarisch, an Kritik geäußert worden ist. Die sere Hand nicht reichen. FDP ist davon überzeugt, dass es nach der massiven Kri- tik, die bei weitem nicht nur parteipolitisch motiviert war, geboten ist, die rechtspolitischen und vor allem fis- Anlage 6 kalischen Spielräume neu auszuloten. Sie hingegen ver- fahren nach dem Prinzip „Augen zu und durch“. Das Zu Protokoll gegebene Reden wird der Bedeutung des Gesetzgebungsvorhabens nicht Zur Beratung des Antrags: Umlageverfahren gerecht. U1 zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf freiwillige Basis stellen (Tagesordnungs- Das, wie Sie es nennen, Dritte Gesetz zur Verbesse- punkt 17) rung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften wird eine Art Schlussgesetz sein. Machen wir uns doch nichts vor, ein Viertes oder gar Fünftes Gesetz wird es nicht mehr Max Straubinger (CDU/CSU): Wir diskutieren geben. Das wäre den Betroffenen auch nicht zumutbar. heute einen Antrag der FDP-Fraktion, in dem diese das Viele stehen in ihrem achten oder neunten Lebensjahr- Umlageverfahren U1 zur Entgeltfortzahlung im Krank- zehnt. Deshalb müssen wir uns bei diesem Gesetz sicher heitsfall auf freiwillige Basis zu stellen und somit die sein können, dass keine Opfer, die billigerweise einen Abschaffung der gegenwärtigen Regelung fordert. Anspruch haben sollten, vergessen werden. Nach dem, (B) was bisher vorliegt, bin ich mir da aber nicht so sicher. Lassen Sie uns die Begründung der FDP-Fraktion (D) Sie selbst gehen von rund 80 000 ehemaligen politischen einmal betrachten: Grundsätzlich trägt der Arbeitgeber Häftlingen mit einer Haftdauer von mindestens sechs das Risiko der Lohnfortzahlung. Somit stellt sich die Monaten aus. Davon sollen knapp 16 000 in den Genuss Frage, wie der einzelne Betrieb dieses Risikos schultern einer monatlichen Zahlung von 250 Euro kommen. Wird will, ob er das Krankheitsrisiko seiner Mitarbeiter indi- dies wirklich dem Anspruch gerecht, allen Bürgerinnen viduell oder kollektiv tragen möchte. Aus guten Grün- und Bürgern, deren fundamentale Menschenrechte von den hat man sich für die Kollektivierung entschieden, Staat und Partei schwerwiegend verletzt wurden, Ge- was meines Erachtens auch von der Mehrzahl der klei- rechtigkeit und Anerkennung widerfahren zu lassen? nen und mittleren Betriebe nicht nur akzeptiert, sondern Was ist mit Schülern, die aus politischen Gründen die auch gewünscht wird. Schule beenden mussten? Was ist mit Opfern von Zer- Mit der Neugestaltung des Lohnfortzahlungsgesetzes setzungsmaßnahmen der Stasi, eindrucksvoll nachzule- ist die Bundesregierung, dem Urteil des Bundesverfas- sen in einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom sungsgerichts vom 18. November 2003 nachgekommen. 23. März? Der Gesetzentwurf gibt darauf keine Antwort. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass der Sie sagen nur, sie kämen um die Bedürftigkeitsprüfung Arbeitgeberzuschuss zum Mutterschaftsgeld nach § 14 nicht umhin. Alles andere liefe auf eine Besserstellung Mutterschutzgesetz jedenfalls dann nicht mehr verfas- der Opfer des SED-Regimes gegenüber anderen Opfern, sungsmäßig ist, wenn im Rahmen des Umlageverfahren insbesondere solchen des NS-Terrors, hinaus. Der Ge- nach dem Lohnfortzahlungsgesetz diese Kosten nur setzentwurf enthält hierzu eine Reihe von Behauptun- Kleinbetrieben von bis zu 20 Arbeitnehmern erstattet gen. Eine vertiefte Auseinandersetzung hingegen fehlt. werden. Da mittlere und größere Unternehmen mit bis zu Ich behalte mir daher ausdrücklich vor, hierzu eine 30 Beschäftigten nicht an diesem Verfahren teilnahmen, bestand nach den Feststellungen des Bundesverfassungs- Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des gerichts die Möglichkeit, dass die Frauen bei der Einstel- Deutschen Bundestages einzuholen. Solange diese Frage lung benachteiligt werden. Hierin lag ein Verstoß gegen nicht abschließend geklärt ist, muss ich mit vielen Be- das Gleichberechtigungsgebot aus Art. 3 Abs. 2 des troffenen und ihren Verbänden unverändert davon ausge- Grundgesetzes. hen, dass der eng gezogene Kreis der Anspruchsberech- tigten und die geringe Höhe der Opferpension allein Mit dem Gesetz wurde die festgestellte Verfassungs- fiskalpolitisch motiviert sind, muss ich davon ausgehen, widrigkeit beseitigt. Das Umlageverfahren, was sie hier dass Ihnen der Finanzminister bei diesem Gesetzentwurf kritisieren, wurde den aktuellen Strukturen in der Sozial- die Feder geführt hat. versicherung angeglichen und weiterentwickelt, sodass Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9295

(A) insgesamt eine gerechtere Verteilung der Belastung er- tem festzuhalten. Deswegen wird die CDU/CSU-Frak- (C) reicht wurde. Im Antrag wird auch dem Umlageverfah- tion ihren Antrag ablehnen. ren U1 zu große Bürokratie unterstellt. In das Umlageverfahren U1 wurden nun erstmalig Jella Teuchner (SPD): Im November 2005 hat der auch Angestellte miteinbezogen, denn bis dahin war die Bundestag das zurzeit gültige Umlageverfahren bei der Erstattung nur für Arbeiter und Auszubildende vorgese- Lohnfortzahlung im Krankheitsfall beschlossen. Zuge- hen. Damit wurde die Unterscheidung zwischen Arbei- stimmt haben fast alle Fraktionen. Nur die Kolleginnen tern und Angestellten aufgehoben. Mit dem Wegfall der und Kollegen von der FDP haben sich damals enthalten. Unterscheidung wurde das Urnlageverfahren vereinfacht Mit dem Gesetz über den Ausgleich von Arbeitgeberauf- und trägt zum Abbau der Bürokratie bei. Zudem leistet wendungen haben wir damals genau das beschlossen, auch die Erweiterung des Umlageverfahrens auf die Er- was die FDP heute wieder abschaffen will: Mit der Um- satz- und Betriebskassen einen zusätzlichen Beitrag zum lage wurden unkalkulierbare Risiken für Unternehmen Bürokratieabbau. mit bis zu 30 Mitarbeitern kalkulierbar gemacht. Des Weiteren kann die Durchführung des Umlagever- Mit dem Antrag der FDP soll das Umlageverfahren fahrens auch auf eine andere Kasse oder einen Landes- U1 zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf freiwil- oder Bundesverband übertragen werden. Bislang sahen lige Basis gestellt werden. Das bedeutet im Klartext: Sie die Regelungen des Lohnfortzahlungsgesetzes vor, dass fordert die Abschaffung des Umlageverfahrens U1, also jede Krankenkasse das Umlageverfahren eigenverant- die Abschaffung des Ausgleichsverfahrens der Kleinun- wortlich durchführt. ternehmen bei Entgeltfortzahlung eines Arbeitnehmers im Krankheitsfall. Auch den Vorwurf, dass das Umlageverfahren U1 zu zeitaufwendig ist und hohe Verwaltungskosten mit sich Die FDP hat recht: Die Lohnfortzahlung im Krank- bringt, kann ich nicht nachvollziehen. Deshalb ist der heitsfall ist ein unternehmerisches Risiko. Sie möchte es Vorwurf des Bürokratieaufwandes nicht gerechtfertigt. am liebsten durch eine Absenkung der Lohnfortzahlung verringern. Die FDP weiß, dass sie damit aber nicht Die Arbeitgeber haben weiterhin die Möglichkeit, durchkommen wird. kostengünstige Angebote der Krankenkassen auszusu- chen. Auch die Wählbarkeit des Erstattungssatzes im Die Begründung des Antrages ist dann auch nur die Lohnfortzahlungsfall zwischen 40 und 80 Prozent nimmt Wiederholung des ewigen Mantras: zu bürokratisch, mit auf betriebsindividuelle Bedürfnisse und finanzielle Be- zu vielen Kosten verbunden, zu ineffizient und mit der lastungen Rücksicht. Gefahr des Trittbrettfahrertums behaftet. Das ist alles nichts Neues. Neu ist auch nicht, dass die Begründung (B) Gegenwärtig wählen nach Aussage meiner örtlichen durch nichts belegt ist. Hauptsache, die Ideologie passt! (D) AOK die allermeisten Betriebe den höheren Erstattungs- satz von 80 Prozent. Damit wird deutlich, dass die Be- Die FDP macht mit diesem Antrag wieder einmal triebe an einem höheren Erstattungsbetrag interessiert deutlich, was sie eigentlich haben will: Sie will kollek- sind. Mit dieser Entscheidung dokumentieren die Be- tive Risiken privatisieren, die solidarische Krankenversi- triebe selbst die Akzeptanz einer kollektiven Lösung cherung aushöhlen, die solidarische Pflegeversicherung über das Umlageverfahren U1. Damit auch weiterhin aushöhlen und auch das Umlageverfahren zur Lohnfort- stabile Beitragssätze, wie sie derzeit festzustellen sind, zahlung aushöhlen. gewährleistet werden können, ist es notwendig, am kol- Die Umlage der Arbeitgeber bei der Lohnfortzahlung lektiven System festzuhalten. wurde geschaffen, um wirtschaftliche Härten für Klein- Eine freiwillige Wahlmöglichkeit, ob man am Umla- betriebe durch krankheitsbedingten Ausfall von Mitar- geverfahren teilnimmt oder nicht, würde nur eine Entmi- beitern zu vermeiden. Durch eine Freiwilligkeit, wie im schung der Risiken bedeuten. Büroberufe mit vermeint- Antrag gefordert, würden die wirtschaftlichen Härten für lich niedrigem Krankheits- und Unfallrisiko würden sich diese Kleinbetriebe eben nicht vermieden. Die Umset- dann möglicherweise aus dem kollektiven System verab- zung würde ein Problem für die kleineren Betriebe schieden. Damit müssten Berufe mit höherem Risiko hö- schaffen, das bisher gut gelöst ist. Sicher kann der Aus- here Beitragssätze schultern. fall eines Mitarbeiters oft kompensiert werden. Das ist ja auch nicht der Härtefall. Was aber, wenn durch eine Auch kann ich ihre Vermutung, dass Arbeitgeber auf- Grippewelle in einem Betrieb nicht nur eine oder zwei grund des Umlagesystems U1 keine gesundheitsfördern- Personen, sondern vielleicht zehn fehlen? Dann kann die den Arbeitsbedingungen schaffen wollen, die zu einem anfallende Arbeit nicht mehr durch andere Mitarbeiter niedrigen Krankheitsstand führen, nicht nachvollziehen. dieses Betriebes mit erledigt werden. Jeder Arbeitgeber hat ein Interesse, dass jeder seiner Ar- beitnehmer pünktlich und gesund zur Arbeit erscheint, Die FDP erkennt in ihren Antrag doch selbst an, dass damit die anfallenden Aufträge und Arbeiten zeitgerecht diese Umlage sinnvoll ist. Sie will nur eine andere Lö- und für die Kunden zufriedenstellend erledigt werden sung. Sie sagt, es sollte jedem Arbeitgeber freigestellt können. sein, ob er das Krankheitsrisiko seiner Mitarbeiter indi- viduell tragen will oder ob er hierfür eine Versicherung Es kann festgestellt werden, dass die Betriebe eine abschließen möchte. Das heißt: Die FDP will letztend- hohe Akzeptanz dem Umlageverfahren U l entgegen- lich die Umlage in die private Versicherungswirtschaft bringen und deshalb ist es geboten, am bewährten Sys- auslagern und ihr so ein neues Geschäftsfeld erschlie- 9296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) ßen. Das hat sicherlich mit dem System, das wir im Mo- ben in einem solidarischen System. Dies ist sinnvoll und (C) ment haben und das es zu erhalten gilt, überhaupt nichts das wollen wir nicht ändern. zu tun. Privatisierte Krankenversicherung, möglichst eine Heinz Lanfermann (FDP): Weil damals die Zeit we- privatisierte Rentenversicherung, individuelle Versiche- gen früherer Versäumnisse drängte, hat die Große Koali- rungen statt der Umlagen: Das hat System. Die ständige tion im Dezember 2005 in einer Art Eilverfahren eine Begründung: Das ist effizienter, das ist kostengünstiger, Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Mut- das ist viel besser. Den Glauben der FDP möchte ich terschaftsgeld umgesetzt und die Gelegenheit genutzt, haben! im selben Atemzug die Voraussetzungen für die soge- nannte U1-Umlage zu ändern, ohne dass hierfür eine Vielleicht sollte die FDP ihre Politik nicht an dem rechtliche oder tatsächliche Notwendigkeit bestanden ausrichten, was sie glaubt, sondern an dem, was wir alle hätte. wissen. Mit der U1-Umlage sind Arbeitgeber mit bis zu Im Antrag heißt es, die Umlage würde den Anreiz 30 Beschäftigten zu einer Zwangsabgabe verpflichtet. Sie vermindern, gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen müssen an die jeweilige gesetzliche Krankenkasse ihrer zu schaffen. Die FDP weiß doch ganz genau, dass das Arbeiter und Angestellten einen Umlagebetrag dafür zah- nicht stimmt: Die Arbeitgeber können Erstattungssätze len, dass sie im Krankheitsfall der Beschäftigten einen wählen, die ihren unterschiedlich gelagerten Interessen Teil der Aufwendungen, die aufgrund der Entgeltfortzah- entsprechen. Es stimmt also nicht, wenn sie schreibt, lung entstehen, erstattet bekommen; in der Regel dass solche Anreize bisher vermindert werden. Bei- 80 Prozent. Das klingt zunächst gut gemeint, ist aber das spielsweise kann ein Arbeitgeber, der selbst Anstrengun- Gegenteil von richtig. In Wirklichkeit kommt hier das gen zur Schaffung eines gesunden Betriebsklimas unter- insbesondere von der SPD favorisierte „Vorsorge-Gieß- nommen hat, Kosten sparen, indem er sich für eine kannenprinzip“ zum Tragen: Eine einzige Pflanze könnte geringe Erstattungshöhe und so für einen niedrigeren mal in Zukunft Wasser benötigen, wir gießen jetzt vor- Umlagesatz entscheidet. Das erlaubt die derzeit gültige sichtshalber alle, notfalls bis zum Ertrinken. – Der „vor- Ausgestaltung der U1; das will die FDP anscheinend sorgende Sozialstaat“ treibt schon Blüten. nicht wahrhaben. Es hilft nichts: Sie kann die Realität nicht an ihre Konzepte anpassen; auch ihre Konzepte Tatsächlich gehört die Krankheit eines Beschäftigten müssen zur Realität passen. zum originären Risiko eines Unternehmens und muss nicht zwangsweise abgesichert werden. Vor allem aber Wir führen diese Auseinandersetzung ja nicht zum ist das U1-Verfahren bürokratisch, zeitaufwendig und (B) ersten Mal. Das Prinzip, das wir in der solidarischen mit hohen Verwaltungskosten sowohl aufseiten der Be- (D) Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversi- triebe als auch aufseiten der Krankenkassen verbunden. cherung haben, das Prinzip der Solidarität, wird und Im Extremfall muss die Umlage für jeden Mitarbeiter an muss auch in Zukunft tragen. Wie soll das anders funk- eine andere Krankenkasse mit anderen Umlagesätzen tionieren und finanziert werden in Zukunft, wenn nicht abgeführt und mit anderen Erstattungssätzen abgerech- die finanziell Stärkeren für die finanziell Schwächeren net werden. Viele mittelständische Betriebe wären dank- einstehen? Wir sind der Meinung: Das muss so bleiben! bar, mit dieser für die allermeisten von ihnen überflüssi- Wir haben im November auch die U2 – Aufwendungen gen Risikodämpfung nicht mehr belastet zu werden. für den Mutterschutz – geändert. Auch das ist ein unter- nehmerisches Risiko. Das Bundesverfassungsgericht hat Mit der U1-Umlage verringert sich außerdem der An- zu Recht festgestellt, dass Frauen durch das Lohnfort- reiz, für seine Mitarbeiter eigenverantwortlich zu sorgen. zahlungsgesetz bei der Einstellung benachteiligt werden Dabei kann der Arbeitgeber in hohem Maße durch die können. Diese Benachteiligung kann durch eine Umlage Gestaltung der Arbeitsbedingungen Einfluss auf den ausgeglichen werden. Krankenstand im Unternehmen nehmen. Mit den Um- verteilungsmechanismen werden zudem Fehlanreize ge- Die FDP geht in ihrem Antrag nicht auf die Umlage setzt, die Kosten auf andere Unternehmen abzuwälzen. zum Mutterschutz ein. Sie weiß, dass sie das in noch Im schlimmsten Falle werden Mitarbeiter bei einer ge- größere Erklärungsnöte bringen würde. Dennoch will ringen Auslastung des Betriebs dazu angeregt, in den ich daran noch mal erinnern: Es geht bei diesen Umlagen Krankenstand zu gehen, sodass die Umverteilungsme- nicht nur um Geldumverteilung, es geht auch darum, chanismen greifen. Leider handelt es sich um ein Bei- dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht be- spiel aus dem wahren Leben. Mit dem U1-Verfahren nachteiligt werden. Das taucht bei der FDP nicht auf, das werden Betriebe mit niedrigem Krankenstand und gutem scheint sie nicht zu interessieren. Betriebsklima benachteiligt. Mit ihrem Antrag macht sie sich zum Mündel der pri- Kleine und mittelständische Unternehmen brauchen vaten Versicherungswirtschaft; der will sie ein neues Ge- das U1-Verfahren nicht – und sie wollen es auch nicht. schäftsfeld erschließen. Da machen wir nicht mit. Es wird Eine kollektive Risikoabsicherung ist nicht erforderlich; auch weiterhin das gelten, was wir im November 2005 „Rund-um-sorglos-Pakete“ des Staates sind nicht ge- beschlossen haben: Mit der Ausweitung des U1-Umlage- fragt. Denn es ist für jedes Unternehmen, das dies verfahrens auf die Betriebe bis 30 Beschäftigte ist die wünscht, ohne Weiteres möglich, sich freiwillig gegen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für 90 Prozent aller das Krankheitsrisiko seiner Mitarbeiter zu versichern. Unternehmen umlagefinanziert; diese Unternehmen blei- Deshalb gilt hier erst recht der Grundsatz, dass der Staat Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9297

(A) sich nicht in Bereiche einmischen soll, die der originären Das Umlageverfahren U1, um das es heute geht, ist (C) Verantwortung des Unternehmens obliegen. Anstelle mit eine Versicherung, die kleine Arbeitgeber mit weniger immer neuen Regelungen zu Umverteilungsverfahren als 30 Beschäftigten abschließen müssen. Diese Arbeit- konfrontiert zu werden, brauchen gerade klein- und mit- geber zahlen einen Beitrag und sind im Krankheitsfall telständische Unternehmen dringend eine Senkung der ihrer Mitarbeiter versichert: im Regelfall zahlt die Umla- Lohnnebenkosten und eine stabile Ordnungspolitik, auf gekasse 80 Prozent der Lohnfortzahlung; 20 Prozent die Verlass ist. Stattdessen werden sie mit Mehrwertsteu- muss also der Arbeitgeber dann noch selbst leisten. Es ererhöhung, steigenden Krankenkassenbeiträgen und gibt aber auch Unternehmer, die diese Versicherung immer neuen bürokratischen Erfordernissen weiter be- nicht wollen und sich gegenüber anderen Betrieben mit lastet. Die Große Koalition vergisst zu gern, dass der höherem Krankenstand nicht solidarisch erweisen wol- Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist len. Diese hatten bis ins Jahr 2006 hinein bei einigen und dass eine verlässliche Mittelstandspolitik nicht zu- Krankenkassen die Möglichkeit, Billigtarife mit nur letzt eine gute Arbeitsmarktpolitik ist. Anstelle den Mit- 10 Prozent Umlage zu wählen; 90 Prozent waren im telstand mit immer neuen Belastungen zu belegen, muss Krankheitsfall aus eigener Tasche zu zahlen. Für diese er gestärkt werden. Drei Viertel aller sozialversiche- Tarife waren entsprechend niedrige Beiträge zu entrich- rungspflichtigen Arbeitsplätze und über 80 Prozent der ten. Dies kam de facto einer Aushebelung des U1-Ver- fahrens gleich; die Arbeitgeber konnten sich je nach Ausbildungsplätze stellt der Mittelstand. Krankenstand aussuchen, ob sie die Versicherung wollen Die FDP fordert daher, die U1-Umlage im Arbeitge- oder nicht. berausgleichsgesetz abzuschaffen, das Umlageverfahren Das Bundessozialgericht hatte entschieden, dass diese auf freiwillige Basis zu stellen und damit einen sinnvol- Praxis so nicht in Ordnung ist. Mindestens zu 50 Prozent len Beitrag zum Bürokratieabbau zu leisten. Wie über- muss ein Arbeitgeber sich absichern, so urteilte das Ge- flüssig und absurd die U1-Umlage ist, zeigt ein Beispiel richt. aus dem eigenen Hause. Auch Bundestagsabgeordnete als private Arbeitgeber im Sinne des Arbeitgeberaus- Die Koalition ist hinter dieses Urteil zurückgegangen gleichsgesetzes müssen am Umlageverfahren teilneh- und hat den Mindestumlagesatz im Zuge des „Gesund- men. Zwar besteht für den einzelnen Abgeordneten in heitsreform“ genannten GKV-Wettbewerbsstärkungsge- keiner Weise ein wirtschaftliches Risiko, weil er ja nur setzes erst kürzlich von 50 Prozent auf 40 Prozent ge- als formaler Arbeitgeber fungiert und die Gehaltskosten senkt. Aber immerhin: Die Koalition hat sich dazu für die Mitarbeiter direkt aus dem Bundeshaushalt be- entschließen können, eine Mindestgrenze gesetzlich zahlt werden. Gleichwohl fällt er per Definition auf- festzuschreiben. (B) grund der geringen Anzahl seiner Beschäftigten und sei- Ich will mich auch nicht um 10 Prozent streiten; was (D) ner rechtlichen Eigenschaft als privater Arbeitgeber in aber auffallend ist: Im Juli 2006 gibt es besagtes Urteil, die Zwangsversicherung. Ohne dass der Sinn dieser Um- welches die bestehende Gesetzeslücke schließt und so lageregelung überhaupt erreicht werden kann, werden die Arbeitgeber zu Solidarität untereinander verpflichtet; hier Mehrkosten für das Jahr 2007 von 1 462 000 Euro gerade einmal zwei Monate und einen Tag später bringt erzeugt. Es zeigt sich wieder einmal, dass Umverteilung die FDP den heute zu beratenden Antrag als Drucksache kein Wert an sich ist, sondern vielfach nur zu Mehrkos- ins Parlament ein, der zum Ziel hat, dies rückgängig zu ten ohne Mehrwert führt. machen. Dies ist keine am Allgemeinwohl orientierte Politik, sondern Klientelpolitik in Reinkultur. Frank Spieth (DIE LINKE): Der Antrag der FDP ist Der FDP-Antrag ist widersinnig: Wenn man den Ar- unnötig und überflüssig wie ein Kropf. Die FDP gibt beitgebern freistellt, sich an der Solidarität zu beteiligen vor, Bürokratie abbauen zu wollen, um so angeblich un- oder auch nicht, werden sich diejenigen Unternehmen sinnige Verwaltungskosten einzusparen. Dies ist ein vor- aus der Solidarität verabschieden, die einen niedrigen geschobenes Argument; tatsächlich sollen Arbeitgeber Krankenstand haben, die etwas größer sind und die Ar- von Beitragszahlungen befreit werden. Aber stimmt das beitskräfte leichter umdisponieren können. Nach der und ist das wirklich von Vorteil für die Arbeitgeber? FDP-Methode steigen die Arbeitgeber mit geringerem Risiko aus, und es bleiben die Arbeitgeber mit hohem In den ersten sechs Wochen einer Krankschreibung Risiko. Dies hat zur Folge, dass die verbleibenden Ar- muss der Arbeitgeber dem Beschäftigten seinen Lohn beitgeber, die weiterhin an der U1-Umlage teilnehmen, weiterzahlen. Erst ab der siebten Woche setzt das Kran- einen immer höheren Beitrag aufbringen müssen. Au- kengeld ein, das von der Krankenkasse getragen wird. ßerdem würden bei dann sinkenden Fallzahlen auch die Ein großer Arbeitgeber kann die Kosten der Lohnfort- Verwaltungskosten pro Fall steigen, die sich derzeit auf zahlung kalkulieren und Ausfälle kompensieren. Arbeit- einem moderaten Niveau befinden. geber mit wenigen Beschäftigten und Umsatz trifft die Die FDP gaukelt hier Freiwilligkeit vor und weiß ge- Erkrankung ihrer Mitarbeiter jedoch heftiger, da sie die nau, dass die Einführung von Freiwilligkeit in solidari- plötzlich fehlende Arbeitskraft schlechter ersetzen kön- schen Systemen diese Systeme selbst zerstört. Grenzen- nen. Für einen Betrieb mit vier Mitarbeitern ist es eine lose Freiheit hat mit Sozialstaatlichkeit nichts zu tun. große Belastung, wenn zwei Mitarbeiter gleichzeitig fehlen und durch eine neu eingestellte Kraft ersetzt wer- Es muss eine Mindestgrenze geben, wie auch vom den müssen. Bundessozialgericht festgestellt wurde. Die Fraktion Die 9298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Linke würde sich wünschen, dieser Mindestsatz läge hö- Diese Vereinheitlichungen sind eine notwendige Vo- (C) her als die von der Koalition beschlossenen 40 Prozent; raussetzung dafür, dass Krankenkassen diese Aufgabe die 0 Prozent der FDP sind aber definitiv nicht akzepta- zukünftig an eine kassenübergreifende Stelle übertragen bel und würden das Verfahren ad absurdum führen und können. Diese Chance sollte von den gesetzlichen Kran- an die Wand fahren. kenkassen genutzt werden. Dies würde zu weiteren Ver- einfachungen für die Betriebe führen. Die Praxis, dass die Arbeitgeber sich bei einer Kasse zwischen mehreren Tarifen entscheiden können, wurde Nun zu dem Argument, dass durch diese Regelung vom Bundessozialgericht verboten, von der Koalition in Wirtschaftlichkeitsanreize fehlten und Trittbrettfahrer- der Gesundheitsdeform zum 1. April wieder legalisiert. verhalten auftreten könne. Ein echtes Trittbrettfahrerver- Wir lehnen eine solche Rosinenpickerei, die es einigen halten setzt voraus, dass der Output, den die Mitarbeite- Arbeitgebern ermöglicht, zulasten anderer Arbeitgeber rin bzw. der Mitarbeiter erzielt, geringer wäre als ihr den eigenen Umlagesatz zu reduzieren, ab und fordern Gehalt plus der Umlage – ein Geschäftsverhalten, das einen einzigen Umlagesatz für alle Betriebe. auf Dauer nicht durchzuhalten wäre und ein schnelles Ende des Unternehmens zur Konsequenz hätte. Es ist Die FDP führt als ein weiteres Argument gegen das schon fast absurd anzunehmen, dass Arbeitgeber ihre U1-Verfahren an, dass sich im Einzelfall Arbeitnehmer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lieber krank als und Arbeitgeber in Zeiten mit schlechtem Auftragsstand an ihrem Arbeitsplatz sehen würden. zusammentun könnten und sich der Arbeitnehmer auf Kosten der anderen Arbeitgeber krankschreiben lässt. Demgegenüber stehen die positiven Effekte und die Dies ist nicht falsch; ein solcher Missbrauch findet ver- Grundidee des Umlageverfahrens. Kleine Unternehmen einzelt sicherlich statt. Es gibt aber noch eine weitere werden davor geschützt, alleine durch die Krankheit von Methode, wie Arbeitgeber sich um die Löhne Ihrer Mit- einem oder mehreren Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern arbeiter drücken können, die, falls der FDP-Antrag er- ins wirtschaftliche Aus katapultiert zu werden. Dies ist folgreich wäre, sicherlich stärker genutzt würde: Ein Ar- Förderung des Klein- und Mittelstandes im besten Sinn. beitgeber kann bei wirtschaftlichen Problemen seine Denn gerade Kleinstunternehmen, die in derartige Situa- Arbeitnehmer auch entlassen, mit dem Versprechen, sie tionen kommen können, stricken ihre Budgets oft sehr in besseren Zeiten wieder einzustellen. Dann würden eng. Kurzfristig würden sie auf notwendige Rücklagen aber – nicht wie im U1-Verfahren nur die Arbeitgeber, für solche Fälle verzichten – das hätte im Fall der Fälle sondern auch die Arbeitnehmer die Kosten tragen, und dann extreme Auswirkungen auf sie und ihre Beschäftig- zwar die Hälfte, über die Arbeitslosenversicherung. ten. Dem gilt es vorzubeugen und die gesetzlich vorge- schriebene Umlage beizubehalten. Dieser Antrag ist keine Initiative gegen unnötige (B) Bürokratie und unnötige Kosten, wie es die FDP vorgau- Beobachten sollten wir in jedem Fall, ob kassenüber- (D) kelt, sondern ein Antrag, der die Interessen der größeren greifende Stellen entstehen. Diskussionswürdig ist, ob Arbeitgeber gegen die Interessen der kleinen und mittel- dieser Prozess durch die Einführung der Wahlmöglich- ständischen Betriebe und gegen die Interessen der dort keit von Betrieben, alle Beschäftigten bei einer Kranken- beschäftigten Arbeitnehmer durchzusetzen versucht. Die versicherung zu versichern, beschleunigt werden kann Fraktion Die Linke, lehnt das Ansinnen der FDP deshalb bzw. soll. Denn dies hätte für die Verwaltung der Umlage ab. und die Betriebe Synergieeffekte. Damit würden aber auch die sehr unterschiedlichen Beitragssätze – Beiträge Birgit Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich zwischen 0,1 Prozent und drei Prozent des rentenversi- bin verwundert, dass die FDP mit der Einbringung die- cherungspflichtigen Einkommens sind mir bekannt – auf- ses Antrags neun Monate nach der Verabschiedung des grund der differierenden Versichertenstruktur nivelliert. Aufwendungsausgleichsgesetzes die faktische Abschaf- Über Vereinfachungen im Sinne einer zentralen Stelle fung des Umlageverfahrens zur Entgeltfortzahlung im können wir diskutieren. Ebenso fordere ich die Kranken- Krankheitsfalle für Unternehmen mit bis zu 30 Beschäf- kassen auf, wie vom BDA vorgeschlagen, für einheitliche tigten fordert. Sowohl in den Ausschussberatungen als Antrags- und Erstattungsformulare sowie deren elektro- auch im Plenum war Ende 2005 von der FDP keinerlei nische Übermittlung Sorge zu tragen. Kritik an diesem Verfahren geäußert worden.

Sie begründen die Abschaffung mit dem bürokrati- Anlage 7 schen und zeitaufwendigen Verfahren. Dabei wurde das Verfahren deutlich vereinfacht und damit bisherige Bü- Zu Protokoll gegebene Reden rokratie abgebaut: Die Ungleichbehandlung von Arbei- tern und Arbeiterinnen und von Angestellten wurde ab- Zur Beratung des Antrags: Gesetz zum Aus- geschafft. Es gelten einheitliche – und nicht jeweils gleich behinderungsbedingter Nachteile vorle- krankenkassenspezifische – Regelungen im Bereich Er- gen (Nachteilsausgleichsgesetz – NAG) (Tages- stattungssätze. Ebenso ist die Frage, welche Unterneh- ordnungspunkt 18) men sich an dieser Umlage beteiligen, nun einheitlich geregelt. Unternehmen mit 20 bis 30 Beschäftigten müs- Hubert Hüppe (CDU/CSU): Der zur Debatte ste- sen nicht überprüfen, ob bzw. für welchen Arbeitnehmer hende Antrag der Fraktion Die Linke fordert die Bundes- bzw. welche Arbeitnehmerin überhaupt eine Umlage zu regierung dazu auf, ein Nachteilsausgleichgesetz für zahlen ist. Menschen mit Behinderung vorzulegen. Auf den ersten Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9299

(A) Blick enthält dieser Antrag all das, was sich behinderten- Bundesland das Behindertengleichstellungsgesetz einge- (C) politische Sprecher so wünschen: einen bedarfsdecken- führt. Auch die Beteiligung des Landes am Persönlichen den Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile, eine Budget fiel dürftig aus. Ich finde es nicht in Ordnung, Stärkung der selbstbestimmten Teilhabe von Menschen wenn Die Linke auf Bundesebene alles Erdenkliche for- mit Behinderung, eine Vereinheitlichung des Behinder- dert und dort, wo sie selbst regiert, bei den Menschen tenrechts. mit Behinderung spart. Jeder Politiker, der sich mit dieser Thematik beschäf- Die Große Koalition hingegen hat in den vergangenen tigt, weiß, wie schwer es ist, nur eines der genannten Monaten bereits eine Menge auf den Weg gebracht. Ziele zu erreichen. Das Wissen um diese Schwierigkei- Durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz dürfen ten ist wohl auch ein Grund dafür, warum die Fraktion private Versicherungsträger niemanden mehr zurückwei- Die Linke keinen Gesetzentwurf vorlegt, sondern die sen, weil er behindert ist. Zudem ist es Hotels und Gast- Bundesregierung lediglich aufgefordert werden soll, ein stätten nunmehr untersagt, Menschen mit Behinderung solches Gesetz vorzulegen. Ein weiterer Grund, warum den Zutritt zu verwehren. Im Zuge der Gesundheits- Die Linke keinen Gesetzentwurf vorlegt, könnte wohl reform wurde der Anspruch auf Rehabilitation einge- die Bezifferung der Kosten sein, die bei Vorlage benannt führt. Des Weiteren kann ein Anspruch auf häusliche werden müssen. Hierzu schweigt sich der Antrag aus. Krankenpflege in Wohneinrichtungen geltend gemacht werden. Schwerbehinderte Arbeitslose, die besonders Soll der Bund nun grundsätzlich die Eingliederungs- schwer vermittelbar sind, haben in Zukunft mehr Chan- hilfe übernehmen oder nur die Mehrkosten, die der Vor- cen auf dem Arbeitsmarkt. Unternehmer, die diese schlag mit sich bringt? Welcher Anteil soll auf die Pfle- schwerbehinderten Menschen einstellen, werden bei geversicherung entfallen, für die im Übrigen der Grad der Rückzahlung von Eingliederungszuschüssen entlas- der Behinderung von mindestens 50 zunächst einmal tet. Einstellungsanreize werden künftig steigen. keine Rolle spielt? Wie errechnen sich die einzelnen An- sprüche aus den verschiedenen anderen Sozialversiche- Richtig ist, dass Menschen mit Behinderung häufig rungen sowie aus Eingliederungshilfe oder Jugendhilfe? nicht zu ihrem Recht kommen. Sie werden von der einen Alles Fragen, auf die im Antrag keine Antworten zu fin- Stelle zur nächsten geschickt. Einige geben dann früh- den sind. zeitig auf oder erhalten die beantragte Hilfe erst sehr spät. Bei aller Kritik nennt der Antrag einige Probleme, die in Angriff genommen werden müssten: Der Behörden- Vieles von den Forderungen im Antrag ist im SGB IX dschungel, den jeder Antragsteller zu überwinden hat, geregelt. Werden beispielsweise Leistungen zur Teilhabe muss gelichtet werden. Die Zuständigkeitsklärung stellt beantragt, müssen die Rehaträger innerhalb von zwei (B) sich oft als schwierig dar und endet für manche Men- Wochen feststellen, ob sie zuständig sind. Wenn dies (D) schen in einem Behördenmarathon. Die von der Fraktion nicht so ist, dann müssen sie den Antrag unverzüglich an Die Linke geforderte Stelle, die vieles klären soll und die – nach ihrer Meinung zuständige Stelle – weiterlei- den schon erwähnten Behördenmarathon eindämmen ten. Ebenso gibt es Fristen für die Bearbeitung von An- könnte, gibt es bereits. Dies ist die Aufgabe der soge- trägen. Innerhalb von drei Wochen nach Eingang des nannten Gemeinsamen Servicestellen. Sie sollen Men- Antrags muss über den Antrag entschieden werden. schen mit Behinderungen im Regel- und Antragsgewirr Aber leider ist auch hier die Praxis nicht selten eine an- Hilfe leisten und unterstützen. Allerdings kennt kaum je- dere. Hier muss nicht das Gesetz geändert werden, hier mand die Gemeinsamen Servicestellen, und manchmal muss einfach das Gesetz eingehalten werden. habe ich das Gefühl, das ist manchen Stellen auch ganz recht. Hier muss dringend etwas geschehen. Den Vor- Zum Schluss noch einige Anmerkungen zum Persön- schlag, die persönliche Assistenz in den Berufsstand zu lichen Budget. Dem Persönlichen Budget kommt in der heben, halte ich für gut und richtig. Mir ist zum Beispiel Tat eine bedeutende Rolle für eine moderne Behinder- ein Fall bekannt, in dem eine Frau mit Lernschwierigkei- tenpolitik zu. Die Selbstbestimmung der Betroffenen ten die Assistenz für einen körperlich Behinderten über- wird hierdurch gestärkt. Obwohl es auch beim Persön- nommen hat. Somit hat diese Frau – die ansonsten kaum lichen Budget noch viele Ängste, Ungereimtheiten und Möglichkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt hätte – eine wieder einmal Zuständigkeitsrangeleien gibt, müssen sinnvolle und bezahlte Tätigkeit. wir hier über Parteigrenzen hinweg für dieses Instrument werben. Notfalls muss gesetzgeberisch eingegriffen wer- Die genannten Probleme müssen gelöst werden. Der den, um die Probleme zu lösen. vorliegende Antrag ist zur Problemlösung allerdings un- geeignet. Ihm liegt ein Widerspruch zugrunde, den ich Wir alle wissen: Es gibt viel Handlungsbedarf im Be- nicht verschweigen möchte, nämlich: Dort, wo Die reich der Politik für Menschen mit Behinderung. Große Linke mit in der Regierungsverantwortung steht, wird Reformen wie bei der Pflegeversicherung und die gerne mal an Leistungen gespart und gekürzt. So ist in Eingliederungshilfe stehen uns bevor. Zur Lösung der Berlin unter einer rot-roten Koalition nicht nur das Probleme der Betroffenen hilft der vorliegende Antrag Blindengeld gekürzt worden, sondern es wurden darüber leider nicht weiter. hinaus Einsparungen im Bereich der Behindertenfahr- dienste, Mobilitätshilfen und Wohlfahrtsverbände vor- Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Der Antrag der genommen. Mecklenburg-Vorpommern – bis 2006 re- Linksfraktion, ein „Nachteilsausgleichgesetz“ vorzule- giert durch eine rot-rote Koalition – hat als vorletztes gen, benennt viele Probleme und Aspekte, die mir als 9300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Behindertenbeauftragte meiner Fraktion bestens bekannt die Probleme klar zu benennen, zu lösen und durch posi- (C) sind. Wir wollen, dass alle Menschen die einen individu- tive Beispiele einen Schub für die Akzeptanz zu schaf- ellen Bedarf haben, diesen auch erhalten. Wir wollen Fa- fen. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich gemeinsam milien unterstützen und ambulante Leistungen stärken. mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Mit der Reform der Pflegeversicherung werden wir das der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange weiterführen. Die Vorschläge von Karin Evers-Meyer von Menschen mit Behinderung, Karin Evers-Meyer, für und der Verbände zu einer teilhabeorientierten Pflege das Persönliche Budget einsetzen. sind hier Leitlinie. Der Antrag fordert zahlreiche Veränderungen, die auf Im Jahr 2001 haben wir das SGB IX eingeführt. Das die „personale Assistenz“ ausgerichtet sind. Schon heute SGB IX hat wesentliche Teile des Rechts für Menschen kann auch jeder schwerbehinderte Mensch mittels einer mit Behinderung zusammengeführt. Zuerst einmal ha- Servicestelle in seiner Nähe, Leistungen aus einer Hand ben wir mit den Betroffenen ein gutes Gesetz gemacht, erhalten. Diese soll ihm dabei – so sagt der § 22 SGB IX –, das weit über einfache Änderungen an den Leistungen Beratung und Unterstützung hinsichtlich des Rehabilita- der Rehabilitation und der Teilhabe hinausgeht. Das ha- tionsbedarfs und der Antragstellung geben. Nun wissen ben auch die Experten auf der gestrigen Tagung der wir, dass nicht überall im Bundesgebiet der Idealzustand Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaf- des § 22 vorzufinden ist. Es gibt Probleme in der Umset- ten bestätigt. Das SGB IX wurde mit Instrumenten ver- zung der geforderten Beratung und Unterstützung. Wir sehen, die behinderungsbedingten Bedarfen zur medizi- wollen das verbessern, anstatt neue Stellen zu schaffen. nischen Rehabilitation, zur Selbstbestimmung und zur Die geforderte Verlagerung auf die Versorgungsämter ist Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und am Arbeits- nicht sinnvoll. leben Rechnung tragen. Der gesetzliche Anspruch ist klar. Wir arbeiten nun Wir haben uns ganz bewusst daran orientiert, welche daran, diesen Anspruch mit Leben zu füllen. Hier bedarf besonderen Bedürfnisse zur gleichberechtigten und es des verstärkten Engagements der Verbände und Be- selbstbestimmten Teilhabe für Menschen mit Behinde- troffenen. Es gibt Verbände und Menschen, die sich sehr rungen bestehen und wie diese so schnell und bedarfs- effektiv und energisch für ihre Rechte einsetzen. gerecht wie möglich zum Antragsteller gelangen. Die selbstbestimmte Teilhabe wird im SGB IX durch das Frau Elke Bartz vom Forum selbstbestimmte Assis- Wunsch- und Wahlrecht des § 9 ausgedrückt. Dies stellt tenz, ForseA, hat zum Beispiel für einen Betroffenen ei- sicher, dass die zu erbringenden Leistungen nicht nur am nen persönlichen Anspruch auf Assistenz- und Rehabili- objektiv zu ermittelnden Bedarf, sondern auch an den tationsleistungen eingefordert und diese im Rahmen (B) subjektiven Bedürfnissen des Alters, der Familie, des eines persönlichen Budgets von 10 000 Euro auch (D) Geschlechts sowie der persönlichen Lebenssituation der durchgesetzt. Ich kenne Rehaträger, Unfallkassen, aber Menschen mit Behinderung auszurichten sind. auch einige Sozialhilfeträger, die sich auf die Anforde- rungen des SGB IX umstellen. Es gibt einen hohen Auf- Hierfür ist das Persönliche Budget zentral. 2008 ist klärungs- und Schulungsbedarf auf dieser Seite. Hier der Rechtsanspruch auf das Persönliche Budget zu erfül- werden wir ansetzen, um das zu verbessern, was wir ge- len. Die Modellphase ist dann beendet. Nach dem Be- meinsam mit den Betroffenen auf den Weg gebracht richt der Bundesregierung zur Situation des Persönlichen haben. Budgets bin ich insgesamt zuversichtlich, dass wir die bestehenden Herausforderungen der Leistungserbrin- Deswegen ist es außerordentlich wichtig, die gemein- gung und auch der Zuständigkeiten lösen können. Be- samen Servicestellen weiter bekannt machen, sie zu un- sonders Kostenträger wie die Renten- und Unfallversi- terstützen, aber auch stetig auf die Verwirklichung der cherung sind stärker an der Finanzierung zu beteiligen. gesetzlichen Ansprüche hinzuwirken. Im Übrigen: Ob Das Persönliche Budget ist eine neue Leistungsform, die die Versorgungsämter den Anspruch der Betroffenen so es ermöglicht, den individuellen Bedarf im Rahmen zu erfüllen würden, wie sie sich das vorstellen, bleibt frag- ermitteln und in einer Koordinierung der Rehabilitati- lich. onsträger als Komplexleistung zu erbringen. Menschen mit Behinderungen haben bereits einen Daher ist hier eine Novellierung im Sinne ihres An- persönlichen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz ge- trags auch nicht erforderlich. Die Ausweitung des Per- mäß § 102 SGB IX und § 270 a SGB III. Damit besteht sönlichen Budgets, wie sie es vorschlagen, ist nicht ziel- bereits die Möglichkeit einer regelmäßigen Unterstüt- führend. Bereits jetzt werden bedarfsgerechte, am zung am Arbeitsplatz – unabhängig von Art und Wunsch- und Wahlrecht orientierte Leistungen aus den Schwere der Behinderung und finanziert aus der Aus- Leistungsgesetzen über das Persönliche Budget erbracht. gleichsabgabe. Arbeitsassistenz ist ein entscheidender Behinderte Menschen können mit dem Persönlichen Baustein der beruflichen Rehabilitation und Integration Budget nach § 17 SGB IX als Auftraggeber und Exper- Schwerbehinderter und von großer Bedeutung beim ten in eigener Sache selbst bestimmen, welche Leistun- Übergang behinderter Menschen in den allgemeinen Ar- gen zur Teilhabe sie nach Maßgabe der Bedarfsermitt- beitsmarkt. Auch die Assistenzleistungen der Eingliede- lung benötigen und vor allem, wer sie erbringen soll. rungshilfe stehen den Menschen mit Behinderungen nach Maßgabe des individuellen Bedarfs zur Verfügung. Die Werbung für das Persönliche Budget wird fortge- Ich sehe hier ein Umsetzungsproblem und keinen gesetz- setzt und in diesem Jahr noch einmal verstärkt. Es gilt, geberischen Handlungsbedarf. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9301

(A) Weiterhin gibt es viele offene Fragen in dem Antrag. Hier möchte ich auf den Vorschlag der Bündelung (C) Offen gesagt, mehr Fragen als Antworten: Sie verlieren von Leistungen bei den Versorgungsämtern eingehen: zum Beispiel leider wenig Worte darüber, wie diese Diese sind je nach Bundesland völlig unterschiedlich Leistungsausweitung – und darauf läuft es hinaus – ef- strukturiert. Nach der Föderalismusreform hat der Bund fektiv finanziert werden soll. Wo nehmen Sie zum Bei- auch keinen Einfluss mehr auf die Behördenorganisa- spiel die erwähnten Steuermittel her? Ich bitte, auch zu tion. Zudem wären die eher kleinen Ämter mit den bedenken, dass wir steigende Kosten in der Eingliede- Lasten dieser Leistungsverwaltung völlig überlastet. rungshilfe haben, unter denen schon jetzt Länder und Versorgungsämter haben ganz andere Aufgaben, als Kommunen stöhnen. Teilhabeleistungen auf der Grundlage des SGB IX zu verwalten. Ein langer Prozess mit vielen Übergangspro- Ihr Vorschlag führt zu einer massiven und unabsehba- blemen würde herbeigeführt, und das zulasten der Men- ren Leistungsausweitung für circa 6,7 Millionen schwer- schen. Lassen Sie uns doch die Servicestellen vor Ort behinderte Menschen in Deutschland. Es ist ganz klar: weiterentwickeln und auf dem aufbauen, was schon er- der Gedanke, Hilfe aus einer Hand für die Betroffenen reicht worden ist. zu organisieren, ist ein lohnenswertes Ziel. Das wollen wir gemeinsam erreichen. Aber ich bin anderer Auffas- Es gibt im SGB III und auch im SGB XII bereits den sung, wie das gehen kann. Fordern allein genügt nicht. Anspruch auf bedarfsgerechte Assistenzleistungen. Im Die Realität heißt auch hier: „Föderalismus“! Ich könnte Rahmen eines Persönlichen Budgets können diese ab mir die Finanzierung aller Rehaleistungen ähnlich einer 2008 bundesweit rechtsverbindlich eingefordert wer- wie im Gesundheitsfonds durchaus vorstellen. den. Insofern erledigt sich die Forderung nach, wie es im Antrag heißt, „personaler Assistenz“. Auch die Forde- Es ist aber meines Erachtens mit geltendem Recht rung nach Mehrbedarfen für Reisekosten ist unsinnig. nicht vereinbar, Gelder der unterschiedlichsten gesetzli- Der von mir erwähnte schwerbehinderte Mensch hat in chen Versorgungssysteme sowie der privaten Versiche- seinem Budget einen Anteil für Reisekosten bewilligt rungen zur Finanzierung von Teilhabeleistungen zu ver- bekommen. So verhält es sich auch bei anderen Leistun- wenden. Es ist auch fraglich, ob eine solche Regelung gen. Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht hätte. Die gesetzliche Unfallversicherung orientiert sich nämlich Wir haben mit dem SGB IX ein Gesetz gemacht, das am Kausalitätsprinzip sowie an der Naturalrestitution behinderte Menschen aktiv beteiligt, ihre Teilhabe und des BGB. Das heißt: der eingetretene Schaden soll mög- Selbstbestimmung fördert und die Leistungsgewährung lichst vollständig ausgeglichen werden. Er wird aber nur koordiniert. Die Vereinfachung der Leistungsgewäh- dann ausgeglichen, wenn und soweit ein Schadensfall rung ist bereits auf den Weg gebracht. Arbeiten Sie daran (B) eintritt, und nicht pauschal als finanzieller Ausgleich mit, dass das Persönliche Budget zum Erfolg wird und (D) jeglicher Behinderung. erkennen Sie, dass das SGB IX Realität ist und keine ge- setzlichen Ergänzungen dieser Art braucht. Hier gibt es also eine Diskrepanz zwischen dem Zweck der Leistungen, die gebündelt werden sollen, und Was es wirklich braucht, ist unser aller Engagement der vorgesehenen Verwendung. Es handelt sich hier um für die Umsetzung! Die Lebenssituation der Betroffenen zweckbestimmte Mittel. Diese können nicht so einfach wird eher verbessert, wenn wir uns diesem Ziel konzen- als Leistungen zur Teilhabe für alle zweckentfremdet triert widmen, als ständig neue Anlaufstellen und Ge- werden. Mit einem Federstrich soll eine Struktur unter- setze zu erfinden. Ich denke daher, dass wir hier durch- schiedlicher Träger für Teilhabeleistungen geändert wer- aus ausreichende Regelungen getroffen haben. Es den, die sich in Jahrzehnten entwickelt hat. Das ist alles kommt – wie gesagt – auf die Umsetzung der eingeführ- sehr realitätsfern. ten Instrumente an. Dabei sind aber nicht nur die Rehabi- litationsträger sondern auch die Menschen selbst gefragt. Die geforderte Einkommens- und vermögensunab- hängige Leistungserbringung ist nicht nur nicht realisier- Der Antrag ist abzulehnen, weil er Regelungen for- bar, sondern auch mit den beschriebenen Mitteln nicht dert, die es effektiv schon gibt und weil er in der Konse- zu finanzieren. Leistungen zur Assistenz zu bündeln, ist quenz Leistungen ausweitet – ohne eine Finanzierung si- ein guter Gedanke. Ich bin dafür, dass der Betroffene cherzustellen; von der Frage der Verfassungsmäßigkeit seine Leistungen aus einer Hand bekommt. Genau das einmal ganz zu schweigen. ist Ziel des SGB IX. Seit 2001 haben wir die Servicestel- len; hier kommt die Dienstleistung zu den Menschen. Jörg Rohde (FDP): Ich begrüße es ausdrücklich, Aber: Assistenzleistungen können nur in dem Rahmen dass die Fraktion der Linken mit dem vorgelegten An- gewährt werden, in dem die Leistungen gesetzlich fest- trag die Diskussion um die Organisation und Finanzie- gelegt sind. Die Hilfe zur Pflege als eine Möglichkeit, rung von Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinde- Assistenzleistungen zu finanzieren, ist beispielsweise rung anstößt. Die Oppositionsfraktionen sind hier einkommens- und vermögensabhängig ausgestaltet. Die gefordert, denn die Bundesregierung praktiziert seit lan- Pflegeversicherungsleistungen sind gedeckelt. Aus dem gem das Prinzip der drei Affen: Nichts sehen, nichts hö- Antrag geht nicht hervor, wie sie das unter einen Hut be- ren, nichts sagen. kommen wollen. Deswegen: Lassen Sie uns das SGB IX umsetzen. Lassen Sie uns die sehr guten Ansätze weiter Der demografische Wandel hat unsere Gesellschaft verfolgen und nicht einen ziellosen Systemwechsel pro- fest im Griff: Immer mehr Menschen werden immer äl- pagieren. ter. Dies gilt in besonderem Maße auch für Menschen 9302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) mit Behinderung. Hier verschärfen sich die Probleme berechtigten des SGB IX …, die in dieser Form bis- (C) der Pflege und Betreuung überproportional, weil ältere lang für kein Sozialgesetz besteht. Diese Menschen mit Behinderung oftmals keine Angehörigen Internetseite ist somit Teil eines Prozesses der „ler- mehr haben, die für sie da sind und große Teile der nenden Gesetzgebung“. Pflege und Betreuung leisten könnten. Was für ein schöner Traum. Die Realität sieht leider Nicht nur deshalb ist in der Sozialpolitik die Einglie- anders aus: Der letzte Bericht über die Situation behin- derungshilfe für die Kommunen das größte Sorgenkind. derter Menschen auf www.sgb-IX-umsetzen.de datiert Die Kosten der Eingliederungshilfe für Menschen mit aus dem Jahr 2004. Anhörungen und Werkstattgespräche Behinderung sind in den letzten 15 Jahren kontinuierlich wurden ebenfalls nur bis 2004 dokumentiert, gleiches angestiegen. Nach Informationen des Deutschen Städte- gilt für Stellungnahmen. Die letzten Reden und Presse- und Gemeindebundes stiegen die Leistungen für behin- mitteilungen sind aus dem Jahr 2005. Und auch die Rub- derte Menschen zwischen 1991 und 2005 jährlich um rik „Politische Diskussion“ endet 2005. 8,5 Prozent von vier Milliarden Euro auf 11,8 Milliarden Euro an. Bald 50 Prozent aller kommunalen Sozialhilfe- Leider endete 2005 nicht nur das Projekt „SGB-IX- leistungen werden heute für behinderte Menschen aufge- Umsetzen“, sondern auch die Politik der Bundesregie- wendet. rung für Menschen mit Behinderung. Die Bundesregie- rung verschließt die Augen vor den Umsetzungsproble- Es steht zu befürchten, dass angesichts der schwieri- men des SGB IX genauso wie vor dem stetig gen Haushaltslage der Kommunen in Deutschland das wachsenden Kostendruck auf die Sozialhilfeträger. Bei- Hilfesystem für Menschen mit Behinderung in der der- des erfolgt zulasten behinderter Menschen: Verunsiche- zeitigen Form nicht mehr lange zu finanzieren ist. Je rungen und Zukunftsängste sind die Folge. stärker aber die Kommunen gezwungenermaßen auf die Kostenbremse treten müssen, desto mehr wird die Be- Man kann darüber streiten, ob der von der Linksfrak- hindertenpolitik zum finanziellen Verschiebebahnhof. tion vorgelegte Vorschlag für ein Nachteilsausgleichsge- Der im vergangenen Jahr gerade noch abgewendete Vor- setz die richtige Lösung ist. Manchen Aspekten kann ich stoß, das Bruttoprinzip in der Eingliederungshilfe abzu- nur widersprechen, so zum Beispiel der unverrückbaren schaffen, zeigt, in welche Richtung falsche Reformvor- Festlegung, dass unterschiedliche regionale Preisniveaus schläge gehen können. keine Auswirkung auf die Bedarfsfestsetzung haben sol- len. Hier wünsche ich mir mehr Flexibilität und Gerech- Die Bundesregierung sieht die Probleme der Einglie- tigkeit. Der Antrag kann aber der Einstieg in eine derungshilfe durchaus, sieht sich aber nicht in der Ver- Diskussion über die zukünftige Finanzierung von Teilha- antwortung, hier aktiv zu werden. Der Bund sieht allein beleistungen sein. Allerdings ist es dazu notwendig, dass (B) die Länder in der Verantwortung. Dies hat die Bundesre- die Regierungsfraktionen dieses Diskussionsangebot an- (D) gierung auf Anfrage der FDP mehrfach bekräftigt. nehmen. Eine Anhörung im Bundestagsausschuss für Vertreter der Bundesregierung haben in diesem Jahr Arbeit und Soziales sollte der erste Schritt in dieser Dis- bereits mehrfach außerhalb des Parlamentes angekün- kussion sein. digt, dass noch in diesem Jahr die Bundesregierung die Die FDP hat sich seit jeher dafür eingesetzt, den Ge- Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in Angriff setzes- und Vorschriftendschungel zu lichten. Dies gilt in nehmen will. Das begrüße ich. Ich bin allerdings ge- besonderem Maß für die ausufernde Gesetzeslage in der spannt, wohin diese Weiterentwicklung führen soll, Behindertenpolitik. Es hilft niemandem, erst recht nicht wenn der Bund bereits im Vorfeld ausschließt, selbst den Hilfesuchenden, wenn nur schwer nachvollziehbar mehr Verantwortung zu übernehmen. und nicht eindeutig ist, von wem welche Hilfestellungen Erst gestern hat mir Staatssekretär Thönnes auf meine zu erwarten sind. Das Ziel eines eigenen Leistungsgeset- Frage zur Stagnation in der Frühförderung mitgeteilt, die zes für behinderte Menschen muss deshalb sein, die bis- Bundesregierung sehe keine Veranlassung zu gesetzge- her bestehenden Regelungen zusammenzufassen, zu ver- berischen Korrekturen am SGB IX. Apropos SGB IX: einfachen und somit transparenter und effektiver zu 2001 wurde mit diesem Gesetzeswerk ein Meilenstein machen. für die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Men- Auch eine im Umfang begrenzte Beteiligung des schen gesetzt. Bewusst wurden vom Gesetzgeber viele Bundes an den Leistungen zur Rehabilitation und Teil- Regelungen offen formuliert, um den Sozialhilfeträgern habe von Menschen mit Behinderung muss diskutiert Spielräume bei der Umsetzung und der Anpassung an werden. Die Kommunen dürfen mit den Kosten der Ein- funktionierende Strukturen zu gewähren. gliederungsleistungen nicht alleingelassen werden, so- Schon bald erkannte man jedoch, dass sich die Um- lange sie nicht im Rahmen des föderalen Finanzaus- setzung des SGB IX nicht so leicht und zügig entwi- gleichs bessergestellt werden. ckelte wie zunächst erhofft. Also wurde 2003 von der Die FDP spricht sich für die Einführung eines Bürger- Bundesregierung eine Homepage mit dem programmati- geldes aus. Das Bürgergeld bündelt eine Fülle von steu- schen Namen www.sgb-IX-umsetzen.de online gestellt. erfinanzierten Sozialleistungen, die von den verschie- Der damalige Behindertenbeauftragte Karl Hermann densten Stellen ausbezahlt werden. Ziel ist es, sowohl Haack erklärte den Zweck der Homepage so: diese Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II, Sozial- Dadurch wird eine einzigartige, lebendige Informa- hilfe – ohne Sozialhilfe in besonderen Lebenslagen –, tionsplattform für die Anwender und die Leistungs- Grundsicherung, Wohngeld und BAföG, als auch das Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9303

(A) Kindergeld und die mit dem liberalen Reformkonzept Schaffung von Barrierefreiheit, gemeinsame Schulbil- (C) für die Kranken- und Pflegeversicherung verbundene dung und Schutz vor Diskriminierung umfassende Teil- steuerfinanzierte Unterstützungsleistung für Kinder und habe zu ermöglichen. für Personen mit unzureichendem Einkommen im Bür- gergeld zusammenzufassen. Das Bürgergeld wird so zu Was aber nützen politische Willenserklärungen und einem Universaltransfer, der mit der Einkommensbe- schöne Worte auf Wahlkampfveranstaltungen oder zu steuerung zu einem Steuertransfersystem aus einem Benefiz-Gala-Dinners, wenn sie nicht durch praktisches Guss verbunden wird. Handeln untersetzt werden? Für Menschen mit Behinderungen bzw. deren Ange- Nach wie vor unterliegen die realen Teilhabemöglich- hörige schlagen wir im Rahmen des Bürgergeldkonzepts keiten von Menschen mit Behinderungen und/oder chro- einen zusätzlichen Bürgergeldanspruch vor. Für die Be- nischen und seelischen Erkrankungen größeren Er- messung des zusätzlichen Leistungsanspruchs sind Art schwernissen als bei anderen Menschen. Das betrifft und Schwere der Behinderung und der individuelle Pfle- sowohl die Alltagsbewältigung und Arbeitsplatzsuche gebedarf maßgebend. Zusätzlich müssen der Förderbe- als auch die Nutzung von Kultur- und Freizeitaktivitä- darf und gegebenenfalls der Beaufsichtigungsbedarf be- ten. Barrieren in baulicher wie kommunikativer Hinsicht rücksichtigt werden. Ein Mindestbetrag wird bei sind trotz BGG und Verordnungen zur Barrierefreiheit Vorliegen einer Behinderung grundsätzlich gewährt. noch vielerorts anzutreffen. Dadurch ist auch die Persön- lichkeitsentfaltung der Betroffenen beeinträchtigt. Wer Dieser Bürgergeldanspruch soll auch die Familien dem Sinn von Art. 3 Satz l Grundgesetz „Alle Menschen entlasten, die den größten Teil an Förderung und Pflege sind vor dem Gesetz gleich“ wirklich Rechnung tragen übernehmen. Die FDP möchte dies ausdrücklich aner- will, muss, den real existierenden ungleichen Vorausset- kennen. Außerdem werden die bisher gewährten Nach- zungen folgend, ungleiche Maßnahmen treffen. Konkret teilsausgleiche durch das unbürokratische Bürgergeld er- gesagt: behinderungsbedingte Nachteile müssen ausge- setzt. Schwerbehinderte Menschen erhalten mit dem glichen werden. Bürgergeld eine Art Budget, über das sie selbst entschei- den können. Dies soll die Position der behinderten Men- Nur so können Chancengleichheit und Chancengerech- schen zum Beispiel gegenüber den Einrichtungen der tigkeit hergestellt werden. Die bestehenden gesetzlichen Behindertenhilfe stärken. Aber auch die Entscheidungs- Regelungen sind dafür unzureichend. Sie setzen in vielen spielräume, wo und wie sie leben, werden vergrößert. Bereichen auf das ehrenamtliche Engagement der behin- derten Menschen sowie ihrer Freunde und Angehörigen. Auch der Deutsche Verein hat schon vor längerem ei- Permanente Überforderung wird dabei billigend in Kauf (B) nen Vorschlag für ein Bundesteilhabegeld vorgelegt, der (D) bislang von der Bundesregierung ohne jede Diskussion genommen. Die dadurch entstehenden finanziellen, kör- abgelehnt wird. Mehrere Landschaftsverbände, die Bun- perlichen und seelischen Zusatzbelastungen dieser Perso- desarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträ- nen werden von der Gesellschaft bisher weitgehend igno- ger und viele Sozialverbände sprechen sich gleichfalls riert. für ein Bundesteilhabegesetz aus. Wenn der Bund sich Um einer besseren Teilhabeermöglichung behinderter einer solchen Lösung verweigert, muss er dies begrün- Menschen näher zu kommen und Chancengerechtigkeit den und erklären, wovon die Kommunen mittel- und herzustellen, legt Die Linke den Antrag für ein „Gesetz langfristig die steigenden Kosten durch Eingliederungs- zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile“, NAG, leistungen bestreiten sollen. vor. Ich freue mich auf eine ausführliche Diskussion des Sein grundlegendes Prinzip soll sein: Gleiche Leis- Antrages der Linksfraktion im Ausschuss und hoffe, tung bei vergleichbarer Beeinträchtigung. Bisher werden dass wir gemeinsam eine Anhörung beschließen. unterschiedliche Leistungen nach verschiedenen Geset- zen und Kriterien erbracht, je nachdem, ob die Behinde- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Wir befinden uns im rung von Geburt an besteht oder durch einen Unfall oder „Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle“. Wir Krankheit und „Verschleiß“ erworben wurde. schauen in wenigen Wochen auf fünf Jahre Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen, BGG. Morgen, Schwerpunkt der Nachteilsausgleichsleistungen soll am 30. März 2007, beginnt am Sitz der UNO in New personale Assistenz in vielfältigen Erscheinungsformen York die Unterzeichnung der im Dezember 2006 be- sein. Dabei richtet sich der Umfang personaler Assistenz schlossenen „Konvention zur Förderung und zum Schutz am individuellen Bedarf des behinderten Menschen aus. der Rechte und Würde behinderter Menschen“. Ich freue Das neue Persönliche Budget soll durch einmalige und/ mich, dass Deutschland durch die Behindertenbeauf- oder regelmäßige Leistungen erweitert werden können, tragte, unsere Kollegin Karin Evers-Meyer, dieses wenn der behinderte Mensch im Einzelfall plausible Dokument als eines der ersten Länder offiziell unter- Mehrbedarfe hat; insbesondere bei Kindererziehung und zeichnet. Die, auch von den Betroffenen selbst, hart er- Elternassistenz, Kleiderkosten, Reisekosten, auch für kämpfte Konvention konkretisiert die Menschenrechte Assistentinnen und Assistenten, Reinigungskosten, Kos- von weltweit rund 650 Millionen behinderten Menschen. ten für Wohnraum, Wärme, Heil- und Hilfsmittel, behin- Die Konvention verpflichtet die 192 UN-Mitgliedstaaten derungsadäquater Größe und Ausstattung von Personen- unter anderem, Menschen mit Behinderungen durch fahrzeugen etc. 9304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Wir wollen das Finalitätsprinzip konsequent umset- Ansprechpartner für die Berechtigten, die dadurch wirk- (C) zen. Demnach richten sich Leistungsansprüche nicht lich alle Leistungen aus einer Hand bekommen. mehr nach der Ursache der Beeinträchtigung, Kausali- tätsprinzip. Deshalb fordern wir die Bundesregierung Fünftens werden die Leistungen aus Zahlungsver- auf, noch im Jahre 2007 ein Gesetz zum Ausgleich be- pflichtungen – von Versicherungen, Berufsgenossen- hinderungsbedingter Nachteile vorzulegen, dass dem schaften, Schadensverursachern usw. – sowie aus Steu- Ziel der Stärkung der selbstbestimmten Teilhabe behin- ereinnahmen des Bundes finanziert. Dazu werden die derter Menschen am Gemeinschaftsleben gerecht wird, bereits jetzt über die verschiedenen Leistungsgesetze dass dem Ziel eines bedarfsdeckenden Ausgleichs behin- und vertraglichen Regelungen vorhandenen Mittel bei derungsbedingter Nachteile gerecht wird und dass dem den Versorgungsämtern gebündelt. Ziel der Vereinheitlichung des Behindertenrechts und Das Konzept ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Dis- der gesetzlichen Gleichstellung aller behinderten Men- kussionen innerhalb der emanzipatorischen Behinderten- schen untereinander und mit nichtbehinderten Menschen bewegung. Wie Sie wissen, empfinde ich mich als festen gerecht wird. Teil dieser Bewegung. Es freut mich also, nunmehr An- regungen aus der Debatte der Betroffenen in die unmit- Gleiche, vergleichbare und oder ähnliche Leistungen, telbare parlamentarische Beratung überführen helfen zu die zurzeit nach verschiedenen Gesetzen und Verordnun- können. Ich freue mich auf engagierte Beratungen in den gen sowie Anspruchsvoraussetzungen erbracht werden, Ausschüssen und gehe davon aus, dass in einer großen werden zusammengezogen und, wo erforderlich, den ge- Anhörung sachkundige Betroffene von allen Fraktionen genwärtigen Bedürfnissen und neuen technischen Mög- eingeladen werden, um dieses Konzept mit ihren Anre- lichkeiten angepasst. gungen und Erfahrungen anzureichern. Teilhabe und Persönlichkeitsentfaltung umfassen alle Lebensbereiche: von der Intimsphäre über Wohnen, Ler- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Men- nen, Arbeiten, Alltagsbewältigung, Kultur, Sport, Ur- schen mit Behinderungen bewegen sich in einem schwer laub, Freizeitgestaltung bis zu bürgerschaftlichem Enga- überschaubaren Dschungel unterschiedlicher Leistungs- gement, religiöser und politischer Betätigung usw. systeme und Institutionen. Es gibt Systeme, die das Prin- zip des Schadensausgleichs verfolgen – etwa die Unfall- Die Linksfraktion legt mit diesem Antrag ein Konzept versicherung. Daneben stehen Systeme der sozialen vor, dass über die bereits genannten Punkte hinaus fol- Vorsorge, die dem Versicherungsprinzip und dem Äqui- gende wesentliche Inhalte in einem Gesetz festschreiben valenzprinzip folgen – so zum Beispiel die Pflegeversi- will: cherung oder die Arbeitslosenversicherung. Und es gibt (B) Erstens sollen mit dem NAG behinderungsbedingte das System der sozialen Hilfen, das dem Prinzip der (D) Nachteile in allen gesellschaftlichen Bereichen für jede Subsidiarität folgt – zuvörderst die Sozialhilfe. Es gibt, Behinderungsart ab einem Grad der Behinderung von darauf aufbauend, unterschiedliche Leistungsträger, von- 50 Prozent unter Zugrundelegung einheitlicher Maß- einander abweichende Leistungsvoraussetzungen sowie stäbe ausgeglichen werden. konkurrierende Zuständigkeiten. Alles in allem führt diese Zersplitterung des Hilfesystems in der Praxis häu- Zweitens können Leistungen nur zweckgebunden fig zu fehlender Bedarfsorientierung und falscher Be- verwendet werden. Bei der Inanspruchnahme von Leis- darfssteuerung. In der Tat wäre eine Vereinheitlichung tungen im Rahmen des neuen Persönlichen Budgets sind des Leistungsrechts für Menschen mit Behinderungen diese an die Person der bzw. des Anspruchsberechtigten sinnvoll. Der Antrag des Kollegen Ilja Seifert beschreibt gebunden. Sie stehen ihr bzw. ihm unabhängig von ihrer insofern ein anzustrebendes Ziel. bzw. seiner Wohnform, dem Familienstand und der Ar- beitsweise bzw. Ausbildungsform zu. Sollten Verände- In den vergangenen Jahren hat sich allerdings bereits rungen den Budgetbedarf – Assistenzbedarf in Stunden – der Versuch, mehr Konvergenz in der Leistungserbrin- verändern, ist die Leistung zum Zeitpunkt des Beginns gung und mehr Kooperation zwischen den Leistungsträ- dieser Veränderung anzupassen. Das Verhältnis zwi- gern herbeizuführen, als außerordentlich schwierig er- schen den Anspruchsberechtigten und deren Assistenten wiesen. Umso unrealistischer erscheint der Versuch, in bzw. Trägereinrichtungen bleibt vertraglichen Regelun- einem Zug die verschiedenen staatlichen Ebenen und die gen vorbehalten. Assistenten können auch Ehe- oder Le- verschiedenen Zweige der Sozialversicherung zusam- benspartner sein. menzuführen. Sinnvoller wäre es, in einem ersten kon- kreten Schritt abgestuft im Rahmen der bestehenden Drittens sind NAG-Leistungen als einkommens- und Systeme die Voraussetzungen für eine einheitliche Leis- vermögensunabhängige Ansprüche auszugestalten. tungserbringung zu schaffen. Das dürfte bereits schwie- NAG-Leistungen sind im Sinne des Steuerrechts kein rig genug sein. Einkommen der Anspruchsberechtigten. Denn über eins sind wir uns wohl alle im Klaren: Wir Viertens soll die Höhe der konkret zu gewährenden haben es mit enormen Beharrungstendenzen der Kosten- Leistungen grundsätzlich nach bundeseinheitlich festge- und Leistungsträger zu tun. Insbesondere im System der legten Maßstäben bestimmt werden. Die Ausführung des Eingliederungshilfe ist es bislang nur unzureichend ge- NAG wird den Versorgungsämtern übertragen. Ihnen lungen, den Bedürfnissen nach mehr Selbstständigkeit wird auch die mit dem Gesetz in Zusammenhang ste- und Selbstbestimmung nachzukommen. Das System der hende Mittelverwaltung anvertraut. Sie sind der alleinige Hilfen in seiner jetzigen Form wird den Lebenswirklich- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9305

(A) keiten längst nicht mehr gerecht und schöpft die zur Ver- Zudem scheint es angebracht, die bisher geleisteten (C) fügung stehenden Möglichkeiten zur Verwirklichung ei- finanziellen Nachteilsausgleiche zusammenzufassen und nes eigenständigen Lebens nicht aus. Daher setzt die einheitlich als Leistung des Bundes zu zahlen. Dabei ist Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ihren Schwerpunkt auf zu überlegen, einige spezifische Nachteilsausgleiche wie die Reform dieses Bereichs, ohne das Gesamtbild aus die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr, Freibe- dem Blick zu verlieren. träge bei Wohngeld und Wohnungsbauförderung von der Zusammenführung auszunehmen. Die zusammengefass- Wie stellt sich die Lage im Bereich der Eingliede- ten Leistungen stünden den Menschen mit Behinderun- rungshilfe dar? Die institutionelle Struktur im System gen, die selbstständig leben, direkt ohne Anrechnung der Eingliederungshilfe ist in weiten Teilen ineffizient von Vermögen und Einkommen zur Verfügung, auch und nicht in der Lage, bedarfsgerechte Leistungserbrin- dann, wenn sie eine Werkstatt für behinderte Menschen gung zu organisieren. Ein viel zu großer Teil der Sozial- besuchen. hilfeträger ist ausschließlich kurzfristigen Kosten- Nutzen-Kalkülen zugewandt und zugleich innovations- Außerdem muss das Potenzial des von Ihnen ange- feindlich. Bis zum heutigen Tage versäumt es die Mehr- sprochenen und von der rot-grünen Vorgängerregierung heit der Sozialhilfeträger, den Bedürfnissen und Wün- eingeführten Persönlichen Budgets als Alternative zur schen nach ambulanten Leistungen im notwendigen stationären Unterbringung weiter gestärkt werden. Die Umfang nachzukommen. bisherigen Erfahrungen aus den Modellregionen zeigen, dass die „erforderliche Beratung und Unterstützung“, die In einigen Bundesländern gibt es immer noch die ge- sogenannte Budgetassistenz, gewährleistet und finan- trennte Zuständigkeit örtlicher und überörtlicher Sozial- ziert werden muss. Zur verbesserten Inanspruchnahme hilfeträger, die sich für die Steuerung der Eingliede- ist künftig auf eine „Deckelung“ zu verzichten. Der ge- rungshilfe als äußerst ineffizient erwiesen hat. Andere währte Budgetbeitrag muss die Kosten der bisher ge- Bundesländer wie Baden-Württemberg haben die über- währten Sachleistungen für ambulante oder stationäre örtlichen Sozialhilfeträger abgeschafft und allein den Hilfen überschreiten dürfen. Wir gehen davon aus, dass Städten und Kreisen die Eingliederungshilfe übertragen. dies ohnehin nur in wenigen Fällen tatsächlich eintreten Ein einheitliches System der Leistungserbringung mit wird. gemeinsamen Qualitätsstandards und gemeinsamen Kri- terien ist dadurch zusätzlich erschwert worden. Willkür- Ich denke, die von mir umrissenen Themen bieten liches Handeln der Sozialhilfeträger wurde hingegen er- eine gute Grundlage, die Schwachpunkte des bisherigen leichtert. Systems der Eingliederungshilfe zielgenau und innova- tiv anzugehen. Eine Reform muss aber auch die gegebe- (B) Angesichts dieser strukturellen Defizite aufseiten der nen Umstände und Konstellationen berücksichtigen. (D) Kommunen bedarf es notwendig einer fachlichen Wei- Eine umfassende und bedingungslose Zusammenfassung terentwicklung, bevor es hinreichend zu einer Kostenbe- aller Leistungen scheitert zum jetzigen Zeitpunkt an der teiligung des Bundes kommt. Solange es keine Verände- Realität und wird schnell in der Bedeutungslosigkeit ver- rung der Mehrheit der Sozialhilfeträger im Sinne der schwinden. eingangs aufgeführten Grundsätze der Leistungserbrin- gung in der Sozialhilfe kommt, wäre eine finanzielle Be- Am morgigen Freitag wird die Bundesregierung die teiligung des Bundes an einem ohnehin unzulänglichen UN-Konvention zur Förderung und zum Schutz der System sogar schädlich. Rechte und Würde behinderter Menschen in New York offiziell unterzeichnen. Das Jahr 2007 ist das Europäi- Vor diesem Hintergrund sind meine Fraktion und ich sche Jahr der Chancengleichheit für alle. Lassen Sie uns gerade dabei, passgenaue und zielführende Lösungsvor- unter diesen günstigen Vorzeichen gemeinsam nach kon- schläge im Rahmen der Reform zur Eingliederungshilfe kreten Vorschlägen suchen, die volle Teilhabe und das zu erarbeiten. Wir schlagen vor, den Schritt von Men- selbstbestimmte Leben von Menschen mit Behinderun- schen mit Behinderungen in die eigene Häuslichkeit gen zu verwirklichen. deutlich stärker als bisher zu fördern und zu unterstüt- zen. Es müssen leistungsrechtlich verursachte Blocka- den abgeschafft und positive Anreize gesetzt werden, Anlage 8 um den selbstbestimmten Wechsel von stationärer zu ambulanter Wohnform zu ermöglichen. Nur die konse- Zu Protokoll gegeben Reden quente Verfolgung dieses Zieles führt zu einer Stärkung zur Beratung des Antrags: Die EU-Zentral- der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. asienstrategie mit Leben füllen (Tagesordnungs- Hierfür halte ich es für notwendig, die ambulanten punkt 19) Leistungen der Eingliederungshilfe – SGB XII/Sozial- hilfe – als bedarfsgerechte, einkommens- und vermögens- Manfred Grund (CDU/CSU): Der Zeitpunkt für die unabhängige, budgetfähige Leistungen zur Verfügung zu Zentralasiendebatte ist gut gewählt – der deutsche Au- stellen. Ein flächendeckender Aufbau von Koordinie- ßenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier ist am Dienstag rungshilfen und Beratungsangeboten könnte insbeson- an der Spitze einer EU-Delegation in Zentralasien einge- dere Menschen mit sogenannten geistigen Behinderun- troffen. In der kasachischen Hauptstadt Astana wird er gen auf ein selbstständiges Leben vorbereiten und im mit seinen Amtskollegen aus allen fünf Staaten zusam- Bedarfsfall eine Unterstützung anbieten. menkommen. 9306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Damit ist der deutsche Außenminister nach seiner Die Länder Zentralasiens gewinnen auch für die (C) Reise von Ende Oktober/Anfang November des letzten Energiesicherheit Deutschlands und der EU immer mehr Jahres innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Male in dieser an Bedeutung. Im kaspischen Raum und in Zentralasien Region. Allein dies ist eine begrüßenswerte Akzentuie- sind etwa 4 Prozent aller Weltenergiereserven nachge- rung der deutschen Außenpolitik. wiesen. Im Sinne einer notwendigen Diversifizierung unserer Energieversorgung erhalten diese Vorkommen Zentralasien – das klingt für viele noch nach Seiden- eine wachsende strategische Bedeutung. Die EU will straße, orientalischer Prachtentfaltung und gleichzeitig neue Energiequellen für sich erschließen, während die nach Rückständigkeit. Bei Zentralasien, bestehend aus zentralasiatischen Staaten nach neuen Exportwegen au- Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan ßerhalb Russlands suchen. und Usbekistan, handelt es sich um ein Gebiet so groß wie Europa, in dem aber lediglich 60 Millionen Men- Um die Gas- und Ölvorkommen in Kasachstan, Turk- schen leben. menistan und Usbekistan ist aber auch ein regelrechter Wettlauf von Russland, China, den USA und Großbri- Das deutsche und das europäische Engagement in tannien zu beobachten. Da kommt Deutschland spät, Zentralasien mögen für die Mehrheit der Deutschen wenn nicht zu spät. Das mag daran liegen, dass wir in nicht sofort einleuchtend sein. Denn Zentralasien liegt Deutschland kein namhaftes, weltweit operierendes nicht im Blickpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit Energieunternehmen haben, aber auch daran, dass diese und produziert kaum aufregende Schlagzeilen. Dabei ha- Region jahrelang im Wahrnehmungsschatten einer stark ben die Staaten Zentralasiens ab 2001 ihren Luftraum für russland- und chinaorientierten deutschen Außenpolitik die Einheiten der Antiterrorkoalition geöffnet, und Usbe- lag. kistan und Kirgisistan ermöglichen die Nutzung ihres Luftwaffenraums im Kampf gegen den Talibanterror in Wie dem auch sei – Russland benötigt seinerseits zen- . tralasiatisches Gas für seine Lieferverpflichtungen und den immensen Eigenverbrauch; China hat die ersten Aber schon die Meldungen über den Umsturz in Kir- langfristigen Abkommen und Zukäufe getätigt. Und: gisistan im März 2005, über die Revolte in Andischan in Russland und China stehen außerdem jederzeit für eine Usbekistan im Mai 2005 oder der überraschende Tod des Vertiefung der nachbarschaftlichen Beziehungen bereit, turkmenischen Diktators Saparmurat Nijasow am ohne dazu aus Sicht der jeweiligen Staatsführungen läs- 21. Dezember letzten Jahres fanden kaum öffentliche tige Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte Aufmerksamkeit. und mehr Demokratie zu stellen. Und doch hat die Europäische Union Deutschland be- Was muss eine EU-Zentralasienstrategie neben dem (B) auftragt, eine Strategie für Zentralasien auszuarbeiten. Aspekt der Energieversorgung beinhalten? (D) sagte nach dem EU-Gipfel vom Dezem- ber 2006, es liege im Interesse der Union, sich um diese Übergeordnetes Ziel ist die Förderung von Sicherheit Weltgegend zu kümmern und sie nicht Russland oder und Stabilität in der Region. Dies kann nur schrittweise China zu überlassen. über Rechtsstaatlichkeit, Förderung demokratischer und pluraler Strukturen sowie die Gewährleistung der Men- Es gibt mindestens drei gute Gründe dafür: schenrechte erreicht werden. Weiterhin werden europäi- Erstens: Zentralasien befindet sich nördlich des aus sches Wissen und Investitionen für die wirtschaftliche Pakistan, Afghanistan und dem Iran bestehenden Krisen- Entwicklung und die Armutsbekämpfung benötigt sowie gebietes, unternimmt aber Anstrengungen, nicht in die für Jugend und Bildung, Energie und Umwelt. Bei Aus- Konflikte und Krisen hineingezogen zu werden. bildung und Studium wäre es wünschenswert, könnten europäische Hochschulen und Universitäten stärker für Zweitens: Die Region muss sich vor Fundamentalis- Studenten aus Zentralasien geöffnet werden. Mit Sorge ten schützen. ist zu beobachten, dass islamische Länder Studenten aus Zentralasien auch mittels Stipendien einladen und dann Dritens: Die Region ist wichtig, weil reich an Roh- eine fundamentalistische Ausbildung offerieren. stoffen, vor allem reich an Energiequellen. Es ist sehr zu begrüßen, dass die EU bis 2013 etwa Es geht also um eine geopolitische und um eine ener- 750 Millionen Euro an Projektmitteln zur Verfügung giepolitische Bedeutung Zentralasiens. Sicherheit und stellen will. Schwerpunkte der neuen Konzepte sind Ar- Stabilität in Zentralasien sind sowohl für jedes der fünf mutsbekämpfung, Straßenbau – auch Ansätze einer Länder wichtig als auch für uns Europäer. Denn die Re- neuen Seidenstraße –, neue Öl- und Gasleitungen, die gion grenzt an die Kaukasusregion und damit ans Ausbildung von Sicherheitskräften sowie die Eindäm- Schwarze Meer. Mit Rumänien, Bulgarien und Grie- mung des Drogentransits nach Europa. Wichtig sind chenland ist die EU über das Schwarze Meer und die auch die Verbesserung der Umweltsituation und die Be- Kaukasusregion quasi Nachbar Zentralasiens. Die Län- kämpfung der Wasserknappheit. der Zentralasiens werden leider als Transitstrecke für Drogen, organisierte Kriminalität und internationalen Der heute zur Debatte stehende Antrag von Terrorismus aus Afghanistan auf dem Weg nach Mittel- Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die EU-Zen- europa genutzt. Ohne Stabilität in Zentralasien wird eine tralasienstrategie mit Leben füllen“ nimmt sehr ausführ- Befriedung Afghanistans, dessen nördlicher Teil Zen- lich auf die Problemlage Bezug und erwartet, dass die tralasien zuzurechen ist, nicht gelingen. EU in den vorgenannten Politikfeldern tätig wird. Dies Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9307

(A) ist zu begrüßen. Auch zu begrüßen ist die im Antrag ge- zu besuchen. Fünf Staaten in fünf Tagen – an Leben hat (C) forderte Vertiefung der Zusammenarbeit der zentralasia- es dieser Reise sicher nicht gemangelt. Ich habe mir in tischen Länder untereinander und die Heraushebung der diesen Tagen aber vor allem ein Bild von der Region Bedeutung der OSZE in der zentralasiatischen Region. selbst machen können. Deshalb stimme ich mit dem ana- lytischen Teil dieses Antrags weitgehend überein und Die länderübergreifende Zusammenarbeit ist tatsäch- teile dessen Grundtenor: Die strategische Bedeutung von lich beklagenswert. Die Länder Zentralasiens, insbeson- Zentralasien wächst. dere Kasachstan und Usbekistan, sehen sich eher in regionaler Konkurrenz zueinander. Grenz- und Zusam- Zentralasien ist die Schnittstelle zwischen russischem, menarbeitshindernisse werden eher auf- als abgebaut. chinesischem und amerikanischem Einfluss und steht da- mit im Brennglas globaler Sicherheitspolitik. Die direkte Kasachstan bewirbt sich für 2009 um den OSZE-Vor- Nachbarschaft der Region wirkt zunehmend als Kata- sitz. Die Bundesregierung hat klargestellt, diese Bewer- lysator für den Bedeutungszuwachs, Zentralasien wird bung zu unterstützen. Das ist ein begrüßungswerter An- immer mehr zur Transitregion für Opium aus Afghanis- satz, weil damit stärker auf die Umsetzung der OSZE- tan und andere Drogen. Die Durchfuhr von Schmuggel- Prinzipien eingewirkt werden kann. Andere OSZE-Län- waren, Menschenhandel und organisierte Kriminalität der wie Großbritannien und die USA haben dazu noch sind an der Tagesordnung. Aber die zentralasiatischen eine andere Auffassung. Staaten sind eben auch Importländer für islamistische Zur Situation der Menschenrechte, die in der Tat in al- Ideen aus Saudi-Arabien, Pakistan und anderen Ländern. len Ländern Zentralasiens beklagenswert ist, hat sich der Diese Probleme sind heute schon deutlich sichtbar. Das Deutsche Bundestag mehrfach geäußert. Wir sind der macht Zentralasien zum Spielfeld im Kampf gegen den Meinung, dass der Kampf gegen nationalen und interna- Terror, den internationalen Drogentransit und Menschen- tionalen Terrorismus kein Freifahrtschein für die Ein- handel. schränkung von Menschrechten sein darf, wobei auch Ein entscheidender Faktor ist bislang noch unsichtbar eine zu schnelle Festlegung und quasi eine Vorverurtei- unter der Erde: Die Region hat die größten Energiereser- lung wie nach den Ereignissen in Andischan dem Men- ven weltweit. Dieser Aspekt verdeutlicht den Bedeu- schenrechtsdialog eher schädlich denn förderlich ist. tungszuwachs vielleicht am besten: Während wir uns in Auch hier können mehr Ausgewogenheit und der Dialog Europa und Deutschland um unsere Energieversorgung mit den Staatsregierungen zielführender sein. sorgen, schlummern unter der Erde von Zentralasien Zielführend ist auch die Zusammenarbeit mit der nicht nur Öl und Gas, sondern auch viele andere wich- Shanghai Cooperation Organisation. Diese vereint die tige Bodenschätze, insbesondere in Kasachstan. (B) asiatischen Akteure wie China, Russland und die zen- Doch wir werden dieser wachsenden geopolitischen (D) tralasiatischen Staaten. Die SCO durchläuft eine Ent- und wirtschaftlichen Bedeutung nicht dadurch gerecht, wicklung von einem Sicherheitsforum zu einer Plattform dass wir den Ländern dieser Region unsere Wertvorstel- umfassender sicherheitspolitischer und wirtschaftspoliti- lungen und Demokratiewünsche präsentieren und dafür scher Kooperationen. Länder wie Kasachstan haben da- strategische und wirtschaftliche Zusammenarbeit anbie- bei durchaus Gewicht. ten. Leider tut Bündnis 90/Die Grünen das mit seinem Kasachstan sollte aus mehreren Gründen stärker ins Antrag zu sehr. Blickfeld deutscher und europäischer Außenpolitik ge- Die EU hat eine sehr lebendige Zentralasienstrategie, nommen werden. Das Land ist Brücke und Mittler zwi- die einen Teil der von Bündnis 90/Die Grünen aufge- schen Europa und Asien. Es hat eine bemerkenswerte stellten Forderungen bereits aufgreift. Diese Strategie wirtschaftliche Entwicklung genommen, bei vergleichs- hat sowohl einen integrativen wie einen bilateralen Teil. weise guter innerer und äußerer Stabilität. Bei Gesprä- chen in Astana findet man in den Ministerien und ande- Beim integrativen Ansatz setzt die EU zwei Schwer- ren Schaltstellen gut ausgebildete junge Leute, die punkte. Zum einen wollen wir eine Sicherheitspartner- aufgeschlossen und kooperativ sind. schaft, die alle fünf zentralasiatischen Staaten ein- schließt. Mit dieser Partnerschaft sollen Terrorgefahr, Einen solchen Generationenwechsel und Eliteaufbau organisierte Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel mit zu befördern, wäre neben wirtschafts- und sicher- eingedämmt werden. Zum anderen fokussiert dieser An- heitspolitischer Zusammenarbeit ein lohnendes Ziel der satz auf die Infrastruktur der Region zur Versorgung der zukünftigen EU-Zentralasienstrategie. Menschen mit Energie, Wasser und Gesundheit. Hierbei gilt es zu beachten, dass so gut wie keine Kooperation Johannes Pflug (SPD): „Die EU-Zentralasienstrate- zwischen den einzelnen Staaten besteht. Die Konflikte gie mit Leben füllen“ – das ist Titel des Antrags des zwischen den Öl- und Gasstaaten einerseits und den Bündnisses 90/Die Grünen, und ich frage mich: Mit wie wasserbesitzenden andererseits nehmen zu. Ein stabiles viel Leben darf man eine Strategie entwickeln, ohne sie Zentralasien hätte einen großen Effekt auf ganz Asien. zu überfrachten? Hier kann die EU eine wichtige Moderatoren- und Part- nerrolle übernehmen. Vom 30. Oktober bis 4. November vergangenen Jah- res hatte ich Gelegenheit mit einigen Kolleginnen und Der bilaterale Teil basiert auf einer zentralen Erkennt- Kollegen als Begleitung von Bundesaußenminister nis der EU selbst: So wie Europa aus Ländern mit unter- Frank-Walter Steinmeier die fünf Staaten Zentralasiens schiedlichem kulturellen und historischen Hintergrund 9308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) besteht, müssen wir auch in Zentralasien die jeweiligen Harald Leibrecht (FDP): Wir Liberale begrüßen (C) Eigenarten der fünf Teilrepubliken erkennen. Um nur ei- grundsätzlich, dass Zentralasien oben auf die Agenda nen Gegensatz an zwei Beispielen zu verdeutlichen: der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gesetzt wurde. Während sich Turkmenistan nach dem Tod von Staats- Ich denke, wir sind uns einig, dass die Sichtbarkeit präsident Nijasow gerade neu ordnet, strebt Kasachstan der EU in der Region momentan unzureichend ist. Die den OSZE-Vorsitz 2009 an. Diese Tendenz halte ich für Problemfelder, die es anzugehen gilt, sind dagegen be- richtig. Kasachstan kann aber nur auf unsere Unterstüt- kannt und zahlreich: die eklatante Menschenrechtslage, zung hoffen, wenn es gleichzeitig den Acquis der OSZE die fehlende Rechtsstaatlichkeit, Drogen- und Men- uneingeschränkt übernimmt. schenhandel, Kriminalität, Armut, mangelnde regionale Der vorliegende Antrag trägt diesen Punkten Rech- Kooperation, Probleme des Grenzmanagements, Um- nung und ich stimme mit Bündnis 90/Die Grünen über- weltprobleme – um nur einige zu nennen. ein – so wie ich diesem Antrag in vielen Punkten meine Es ist in unserem eigenen Interesse, die fünf zentral- Zustimmung geben würde. Es gibt nur leider einen zen- asiatischen Staaten bei der Bewältigung dieser Probleme tralen Unterschied zwischen dem, was man fordern will, zu unterstützen. Denn nur in einer stabilen zentralasiati- und dem, was man fordern kann. Wer diesen Unter- schen Region wird es uns möglich sein, gute, belastbare schied ignoriert, handelt kontraproduktiv. Nehmen wir politische und wirtschaftliche Beziehungen zu dieser für nur die Menschenrechtspolitik als Beispiel: In der Tat uns immer wichtiger werdenden Region aufzubauen. fehlt es den zentralasiatischen Ländern immer noch an Auch muss unser Engagement in Afghanistan in diesem grundsätzlicher Stabilität, an demokratischen Grundwer- Zusammenhang gesehen werden. Ein Überschwappen ten und an dem, was wir Zivilgesellschaft nennen. Des- religiösen Fundamentalismus und Terrorismus hätte ver- halb verweist Bündnis 90/Die Grünen auch zu Recht in heerende Auswirkungen. fünf seiner 24 Forderungen auf die Menschenrechte. Doch bei unserer Reise habe ich natürlich auch erkannt, Gleichzeitig stehen wir in Zentralasien vor einer pro- dass die Mächtigen der zentralasiatischen Länder nur wi- blematischen Lage: Auf der einen Seite haben wir in die- derwillig bereit zu Gesprächen über das Thema Men- ser Region ganz konkrete sicherheitspolitische und ener- schenrechte sind. giepolitische Interessen. Auf der anderen Seite haben wir es mit zum Teil totalitären politischen Systemen und Unsere Forderungen müssen im richtigen Verhältnis einer desaströsen Menschenrechtslage zu tun. zu unseren Angeboten stehen. Um es ganz deutlich zu Der Grünen-Antrag gibt auf diese Problematik leider sagen: Die EU bleibt mit ihrer finanziellen Unterstüt- keine Antwort, sondern bleibt unkonkret. Er enthält ge- zung weit hinter dem zurück, was die USA, China, Japan wiss viele wichtige Aspekte – jedoch auch nichts Neues. (B) und andere zahlen. Deshalb bitte ich eines zu bedenken: (D) Er unterscheidet sich in diesem Sinne kaum von den Wir können nicht auf offene Ohren hoffen, wenn wir mit Vorstellungen der Bundesregierung. fast leeren Händen kommen. Ich teile die Mehrheit der Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen. Nicht von un- Die fünf zentralasiatische Staaten – Kasachstan, Turk- gefähr sind viele dieser Forderungen bereits in der EU- menistan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan – Strategie enthalten – die wesentlichen Inhalte in kompri- teilen zwar das postsowjetische Erbe, unterscheiden mierter Form. Natürlich sollten wir den Menschen- sich, aber ansonsten erheblich. Unterschiedliche Länder rechtsschutz auch in fünf verschiedenen Forderungen an verlangen natürlich auch nach unterschiedlichen Ansät- die Region Zentralasien herantragen und damit seine Re- zen. Daher darf es auch nicht ausschließlich bei dem re- levanz betonen. Die Frage ist aber: Wollen wir nur For- gionalen Ansatz bleiben, den die EU in der Vergangen- derungen erheben, oder wollen wir diese auch durchset- heit verfolgt hat. zen? Wer hier zu viel fordert, dem wird die Haustür Kasachstan und Turkmenistan verzeichnen erhebliche zugeschlagen, bevor er das Wohnzimmer überhaupt se- Einnahmen aufgrund ihres Reichtums an Energieroh- hen kann. stoffen. Kasachstan ist gerade dabei, sich der Baku-Tbi- Wir als EU können als Partner für die Region und lisi-Ceyhan-Pipeline anzuschließen, durch die Öl aus Moderator zwischen den Staaten agieren. Und wir kön- dem kaspischen Raum über den Kaukasus an das türki- nen versuchen, unser europäisches Modell in all seinen sche Mittelmeer transportiert wird. Das Land erhofft Farben und Formen zu präsentieren und als Vorbild an- sich, die Gesamtproduktion bis 2015 auf 150 Millionen zubieten. Wir müssen allerdings versuchen, zwischen Tonnen zu erhöhen und damit zu den weltweit führenden Werten und Interessen zu balancieren. Nur dann werden Ölproduzenten aufzusteigen. Die Signifikanz Kasach- wir ernst genommen werden. stans und auch Turkmenistans mit seinen enormen Gas- vorkommen ist so für die künftige europäische Energie- Die Grünen wollen mit ihrem Antrag „die EU-Zen- politik und -sicherheit nicht zu unterschätzen. tralasienstrategie mit Leben füllen“. Ich möchte das Nichtsdestotrotz darf der regionale Ansatz nicht gänz- auch. Deshalb sollten wir diesen Antrag in den Aus- lich aufgegeben werden. Viele der Probleme in der Re- schüssen beraten, aber wir sollten einen zentralen Fehler gion können nur in Zusammenarbeit mit allen Staaten nicht machen: Sie überfrachten den Antrag so weit mit gelöst werden. Forderungen, dass er zu platzen droht. Dann wäre nie- mandem mit einer EU-Strategie geholfen: Europa nicht Leider war in den letzten Jahren die Bereitschaft der und den Menschen in Zentralasien schon gar nicht. zentralasiatischen Staaten zu regionaler Kooperation Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9309

(A) sehr eingeschränkt. Es gibt derzeit keine auf die fünf Welt und auch in unseren Nachbarschaftsregionen. Dies (C) zentralasiatischen Staaten beschränkte Regionalorgani- war und ist der Grund für die Attraktivität der Europäi- sation mehr. Es ist zu hoffen, dass die Isolationspolitik schen Union und den enormen Fortschritt, der sich mit Turkmenistans nach dem Tod des Turkmenbaschi ein ihr verknüpft. Ende hat. Usbekistans Zollbarrieren und Verminung der Grenzabschnitte zu seinen Nachbarn sind auch nicht das, Die ökonomischen Beziehungen, welche die zentral- was man als vertrauensbildende Maßnahmen bezeichnen asiatischen Staaten und die EU verbinden, sollten ebenso würde. Hinzu kommen insgesamt stark personalisierte vertieft werden wie die politischen und kulturellen. Machtstrukturen, die ein Hemmschuh für regionale Inte- Es wird sich jedoch im Rahmen eines solchen, gut gration sind. freundschaftlich geführten Dialogs nicht vermeiden las- Einige der EU-Projekte sind in der Vergangenheit in sen, auf gewisse Probleme zu sprechen zu kommen. Die der Region durchaus positiv aufgenommen worden, wie Europäische Union und die Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel die kürzlich zusammengelegten Pro- treten nach innen wie nach außen strikt für die Einhal- gramme für Grenzmanagement und Bekämpfung von tung der Menschenrechte ein. Vor diesem Hintergrund Drogentransit durch Zentralasien. können und dürfen wir nicht die Augen verschließen vor der Lage der Menschenrechte in Zentralasien. Persönli- Deutschland und Europa müssen diese regionalen che Freiheiten und die Pressefreiheit sind in diesen Län- Projekte weiter fördern und auch Kooperationen wie die dern nach wie vor nicht ausreichend gesichert. Die Lage Shanghai Organisation für Zusammenarbeit, SCO, neu etwa in den usbekischen Gefängnissen ist inakzeptabel, bewerten. Nicht zu Unrecht hatte der Westen die SCO in und eine Aufklärung der Ereignisse in Andischan ist er- der Vergangenheit als inhaltslose Integrationsblase be- forderlich. trachtet. Europa darf die Entwicklungen der letzten Jahre aber nicht verschlafen und Zentralasien nicht Russland Staatliche Folter und Repression dürfen in keinem und China überlassen, die jetzt schon in den Bereichen Staat der Welt Normalität sein. Diese ist unsere feste Energie und Sicherheit enger zusammenarbeiten. Überzeugung. Deshalb ist die Lage der Menschenrechte in Usbekistan eine, die wir als die Linke und als Demo- Einen letzten Aspekt möchte ich nennen, der mir so- kraten so nicht hinnehmen können und nicht hinnehmen wohl bei den Grünen als auch bei der Bundesregierung wollen. Ich durfte mir im Oktober des vergangenen Jah- fehlt: die wichtige Rolle, die die auswärtige Kultur- und res im Rahmen einer Reise des Menschenrechtsaus- Bildungspolitik bei der europäischen Zentralasienstrate- schusses nach Usbekistan selbst ein Bild von der dorti- gie spielen kann. Gerade auf zivilgesellschaftlicher gen Situation machen. Und in der Tat: Die Verhältnisse Ebene, gerade im Umgang mit Ländern, wo sich die Be- scheinen von unserer Warte der erlebten 50 Jahre in Frie- (B) ziehungen auf staatlicher Ebene nicht gerade problemlos den und Demokratie sehr bedenklich. Wenn wir mit den (D) und durch offene Kommunikation auszeichnen, ist das Ländern der Region einen Dialog auf gleicher Augen- Instrument der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik höhe führen wollen, müssen wir jedoch zwei sehr ent- von unschätzbarem Wert. scheidende Aspekte beachten. Auf meiner Reise durch Zentralasien vergangenen Egal ob Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Turkme- November habe ich in den Gesprächen, gerade in Turk- nistan oder Tadschikistan: Es handelt sich um sehr junge menistan, erlebt, wie groß das Misstrauen und wie klein Staaten, die allesamt in einer schwierigen ökonomischen die Bereitschaft des Entgegenkommens ist. Auswärtige und weltpolitischen Zeit, zu Beginn der 1990er-Jahre, Kultur- und Bildungspolitik kann hier ein guter Zugang ihre Souveränität erlangten. Auch wenn uns viele Zu- sein und muss in der Tat als eine der tragenden Säulen stände besorgen: Das Erlernen demokratischen Mitei- der deutschen Außenpolitik gesehen werden. nanders braucht Zeit, und diese Zeit sollte man den Län- dern Zentralasiens – bei aller Kritik – auch zugestehen. Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): Wie die Antragstel- Ein zweiter Punkt, den man von dieser deutschen und ler begrüße ich die Initiativen der EU unter der deut- europäischen Warte nicht sehen will oder kann, ist die schen Ratspräsidentschaft, die Beziehungen zu den fünf Angst der dortigen laizistischen Gesellschaften vor dem Staaten der zentralasiatischen Region zu intensivieren. politischen Islam. Die Gefahr, die vom Islamismus aus- Dies ist eine Chance, zur Förderung von Frieden und geht, hat in dieser Nachbarregion zu Afghanistan und Stabilität beizutragen. Pakistan eine wesentlich andere Qualität. Der Islamis- Wir werden immer wieder daran erinnert, wie bedeut- mus ist in der Region eine reale Gefahr und keine bloß sam heute die Sicherung unserer Energieversorgung in virtuelle, wie die Antragsteller unterstellen. Auch wenn Europa geworden ist. Die zentralasiatische Region spielt wir mit den Maßnahmen, die gegen die Islamisten ergrif- hierbei eine hervorragende Rolle. Allein dieser Sachver- fen werden, natürlich nicht immer einverstanden sein halt macht uns zu Partnern, und diese Partnerschaft soll- können, sollten wir bedenken, dass es gerade diese säku- ten wir pflegen. Ich möchte betonen, dass unsere Bezie- laren Staaten mit muslimischer Bevölkerung sind, die hungen sich keinesfalls auf wirtschaftliche Interessen für uns als Partner immer wichtiger werden! reduzieren lassen dürfen und dass sie sich auf einem ab- solut partnerschaftlichen Niveau abzuspielen haben! Bei allem Respekt voreinander und bei allen Bemü- hungen, keinem Staat und keinem Volk unsere Lebens- Frieden und Wohlstand, Sicherheit und Freiheit sollen weise aufzuzwingen, bin ich der festen Überzeugung, nicht lediglich in Europa gelten, sondern überall in der dass auch Usbekistan und die anderen Länder Zentral- 9310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) asiens von den Erfahrungen profitieren können, die wir Menschenrechtslage betrifft insbesondere den Schutz vor (C) in Europa in den letzten fünf Jahrzehnten gemacht ha- Misshandlungen und Folter, das Justizwesen, die Mei- ben. Diese Erfahrung lautet, dass Wohlstand und Freiheit nungs- und Pressefreiheit und das Versammlungs- und immer nur gemeinsam zu haben sind. Unfreiheit und Vereinigungsrecht. Die Todesstrafe ist noch nicht in allen Unterdrückung sind nicht lediglich gesellschaftliche Ländern vollständig abgeschafft. Nichtregierungsorgani- Missstände, sondern sie führen immer auch zu wirt- sationen sowie Menschenrechtsverteidigerinnen und -ver- schaftlicher Stagnation. Korruption und Armut sind ihre teidiger sind harschen Restriktionen und Verfolgung aus- Folgen. Der Appell an die dortigen Regierungen, diesen gesetzt. Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialog sind Zusammenhang zu erkennen, ist, davon bin ich fest somit ein wesentlicher Bestandteil einer auf wirtschaftli- überzeugt, mindestens so wichtig wie die schnell in Be- che Entwicklung und Stabilität angelegten Strategie. vormundung resultierenden Kontroll- und Sanktionsme- Nach wie vor existiert keine umfassende Zusammen- chanismen, die Sie in Ihrem Antrag vorschlagen. arbeit zwischen den fünf Staaten. Jedes Land verfolgt in erster Linie seine eigenen Interessen. Die Vertiefung der Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- regionalen Zusammenarbeit kann nach Erkenntnissen NEN): Bündnis 90/Die Grünen begrüßt die Aufmerk- des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen ei- samkeit, die der Region Zentralasiens in der letzen Zeit nen großen Beitrag zur politischen und wirtschaftlichen und insbesondere unter der EU-Ratspräsidentschaft zu- Entwicklung der Region leisten. Daher sollte regionale teil wird. Bündnis 90/Die Grünen begrüßt auch und ins- Kooperation vonseiten der EU gefördert werden; denn besondere die Pläne der Bundesregierung unter der EU- die zentralen Herausforderungen in den Bereichen Was- Ratspräsidentschaft eine eigenständige Strategie für die serverteilung, Drogenbekämpfung, Umweltschutz, Ge- Region zu entwickeln. Meine Fraktion hat sich seit län- sundheitswesen und Transport lassen sich nur regional gerem und sehr intensiv mit der aufstrebenden Region in lösen. Daneben sollte die EU jedoch auch gezielte Pro- Asien befasst. Heute liegt Ihnen unsere Strategie dazu jekte, bezogen auf die einzelnen Länder, entwickeln, die vor. ihren jeweiligen Besonderheiten und politischen Struk- Fünf Staaten Zentralasiens, Kasachstan, Kirgisistan, turen gerecht werden. Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan, sind in Nichtsdestotrotz muss sich die EU auch darüber be- letzten Jahren stärker in den Fokus der Weltöffentlich- wusst sein, wie instabil die einzelnen Länder und wie au- keit gerückt. Mit einem Wirtschaftswachstum von 10 Pro- toritär die Regime geführt sind. Das Verhältnis zwischen zent jährlich entwickelt sich die Region dynamisch. Die der EU und den einzelnen Staaten kann so immer wieder Europäische Union, insbesondere Deutschland, ist ein fundamental belastet werden. Im Falle Usbekistans be- wichtiger Handelspartner der Länder Zentralasiens. Die kam das unlängst Außenminister Frank-Walter Steinmeier (B) (D) Bedeutung Zentralasiens als Beschaffungsmarkt für bei seiner Reise zu spüren. Energieträger und mineralische Rohstoffe wird für die Versorgungssicherheit Deutschlands und der EU weiter Dazu möchte ich nur sagen, dass auch Usbekistan an wachsen. die Charta der Vereinten Nationen gebunden ist und Ver- stöße gegen die Menschenrechte von der internationalen Dazu kommt ein Verbrauchermarkt mit circa Gemeinschaft nicht toleriert werden. Usbekistan ist Ver- 56 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, der ins- tragspartei des Internationalen Paktes für bürgerliche besondere an deutschen Produkten ein ausgeprägtes In- und politische Rechte. Im Einklang damit stand auch das teresse hat. Kasachstan stellt derzeit für die EU den Verhalten der Menschenrechtsverteidigerin Umida wichtigsten Handelspartner unter den fünf zentralasia- Niazowa, Mutter eines zweijährigen Sohnes, die nun in tischen Staaten dar. Untersuchungshaft sitzt. Neben einer Ausrichtung auf die EU pflegen alle fünf Die Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwi- Staaten enge bilaterale Handelsbeziehungen zu Russ- schen der EU und allen fünf zentralasiatischen Staaten land. Zudem wächst die Bedeutung anderer Partner wie – die Ratifizierungen Tadschikistans und Turkmenistans China, USA, Japan und Iran. In der Region nimmt die Er- stehen noch aus – beinhalten die Möglichkeit, zu den kenntnis zu, dass regionale Kooperation von Bedeutung Kooperationsräten Unterausschüsse für Menschenrechte ist. Von besonderem Gewicht sind hier die Eurasische zu bilden. Dies sollte für alle fünf zentralasiatischen Wirtschaftsgemeinschaft und die Shanghai Cooperation Staaten geprüft und im Rahmen der Zentralasienstrategie Organisation, SCO, in der neben den zentralasiatischen umgesetzt werden. Staaten auch Russland und China vertreten sind. Die EU darf hier nicht im Abseits stehen, sondern sollte Wege Im Bereich der Rechtsstaatsförderung sollte die EU ausloten, um sich aktiv in die Kooperationen einzubrin- die Zusammenarbeit mit den VN, dem Europarat und der gen und auch direkten Kontakt zu Russland und China OSZE vertiefen. Gerade die OSZE, der alle Staaten Zen- über Fragen von europäischen Interessen in Zentralasien tralasiens angehören, hat eine wichtige Verbindungs- zu suchen. funktion zwischen der EU und Zentralasien. Dieses Po- tenzial wird aber nicht ausgeschöpft. Das OSZE- Die wesentlichsten Entwicklungshemmnisse für die Zentrum in Aschgabat ist seit Jahren kaum mehr arbeits- Wirtschaft und für ausländische Investitionen sind je- fähig. Das OSZE-Zentrum in Taschkent wurde auf doch die politische Instabilität, die mangelnde Rechts- Druck der usbekischen Regierung reduziert auf einen staatlichkeit und die insgesamt besorgniserregende Men- Projektkoordinator. Das Mandat des OSZE-Zentrums in schenrechtslage in der Region. Die gravierend schlechte Kasachstan wurde von der Regierung in Almaty zu- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9311

(A) nächst nur bis Mitte 2007 verlängert. Kirgisistan hat be- mit Zentralasien und damit zur Ausarbeitung einer EU- (C) reits angekündigt, die Frage der Verlängerung eines um- Zentralasien-Strategie getan. fassenden Mandats des Zentrums erneut prüfen zu wollen. Im „Astana-Appell von GUS-Staaten an OSZE- Wie Sie wissen, hat der Europäische Rat im Dezem- Partner“ haben Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan ber 2006 die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beauf- und Usbekistan sich unter anderem gegen den Fortbe- tragt, bis zum Juni dieses Jahres Leitlinien für eine Zu- stand unabhängiger OSZE-Wahlbeobachtung gestellt. sammenarbeit der EU mit Zentralasien vorzulegen. Bei der gestrigen Aussprache in der kasachischen Hauptstadt Die EU sollte sich in ihrer Politik gegenüber den zen- wurde erneut deutlich, dass dies auch auf großes Inte- tralasiatischen Staaten deutlich für unabhängige Wahlbe- resse und Unterstützung in Zentralasien selber stößt. obachtung und unabhängige institutionelle Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen in der Region einset- Dieser Aspekt ist der Bundesregierung besonders zen. Kasachstan bewirbt sich um den OSZE-Vorsitz für wichtig. Die EU-Zentralasien-Strategie soll nicht über das Jahr 2009. Der OSZE-Vorsitz ist eine Führungsrolle die Köpfe der Staaten hinweg formuliert werden. im Rahmen der Organisation mit Verantwortung und Gleichwohl muss die EU darauf achten, den Willen der Autorität. Das Land, das den Vorsitz innehat, sollte die zentralasiatischen Staaten zu bilateraler Kooperation mit Werte und Verpflichtungen der OSZE repräsentieren. der EU auch in Ansätze zum Ausbau der regionalen Zu- Kasachstan muss jetzt zeigen, dass es zur Übernahme sammenarbeit umzumünzen. Es geht darum, Zentral- solcher Verantwortung bereit und in der Lage ist. Neben asien in eine vertiefte Partnerschaft mit der EU einzubin- sichtbaren nationalen Fortschritten in der Umsetzung der den. Unser Ziel ist der Aufbau stabiler, offener und OSZE-Standards müsste Kasachstan auch zeigen, dass gerechter Gesellschaften auf der Basis anerkannter inter- es bereit und in der Lage ist, in der OSZE eine aktive nationaler Werte und Normen. Rolle zur Beförderung des wertvollen OSZE-Acquis zu Deshalb wird die EU den Bereichen gute Regierungs- spielen. führung, Rechtsstaat, Menschenrechte und Demokrati- Ein weiterer Bestandteil der EU-Zentralasienstrate- sierung wie auch dem Bildungs- und Ausbildungsbe- gie muss eine klare sicherheitspolitische Zielsetzung reich besondere Bedeutung beimessen. Sie ist bereit, ihre sein. Diktatorische Regime sind sicherheitspolitische Ri- Erfahrungen und Kenntnisse in diesem Bereich in Zen- sikofallen. Ein Stabilitätsaufbau in Afghanistan kann tralasien einzubringen. nicht ohne Stabilität in Zentralasien gelingen. Dazu gehört auch verstärkte Zusammenarbeit bei glo- Ein großes Problem, das in der Zentralasienstrategie balisierten Herausforderungen wie dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen und den internationalen Ter- (B) aufgegriffen werden muss, ist der Drogen- und Menschen- (D) handel und eine wachsende organisierte Kriminalität. Da- rorismus sowie Drogen-, Menschen- und Waffenhandel. rüber hinaus sollte sich die Politik der EU gegenüber Zen- Hier wird die Etablierung moderner, offener und gleich- tralasien mit der Bildung islamistischer Gruppierungen, zeitig sicherer Grenzen in Zentralasien ein zentrales An- insbesondere mit der politischen Instrumentalisierung liegen der EU mit großer wirtschaftlicher Bedeutung dieses Feindbildes in der Region auseinandersetzen. Ein sein. gravierendes Sicherheitsproblem zum Beispiel im usbe- Auf dieser Grundlage haben wir im Gespräch mit den kischen Ferghanatal, Andijan, ist, dass wirtschaftlich-so- zentralasiatischen Staaten folgende Bereiche identifi- ziale Not in der Bevölkerung als Ursache für gesellschaft- ziert, in denen wir besonders großes Potenzial für eine liche Unruhe nicht angegangen wird. Statt grundlegende intensivere Zusammenarbeit sehen: erstens gute Regie- Reformen anzugehen, werden islamistische Feindbilder rungsführung, Rechtsstaat und Menschenrechte, zwei- aufgebaut und Reformkräfte in der Zivilgesellschaft poli- tens wirtschaftliche Entwicklung, Freihandel und Inves- tisch verfolgt. Dies schafft einen Nährboden für radikale titionen, drittens Bildung und Ausbildung, viertens Kräfte. Grenzmanagement, Kampf gegen die organisierte Kri- Ziel der EU-Zentralasienstrategie sollte deshalb auch minalität, internationalen Terrorismus, Drogen-, Waffen- sein, die Einbindung moderater islamischer Akteure zu und Menschenhandel und fünftens Energie. Auf beson- fördern, die großes Ansehen genießen, und eine wichtige deres Interesse der zentralasiatischen Staaten würde eine Mittlerfunktion wahrzunehmen. Neben Wirtschafts- und Bildungs- und Ausbildungsinitiative der EU für Zen- Sozialreformen kommt es auch darauf an, ein Angebot tralasien stoßen. Sie würde der jungen Generation neue öffentlicher Grundbildung für die breite Bevölkerung zu Perspektiven bieten. sichern. Zentralasien ist zu Recht in den europäischen Im Bereich Menschenrechte zeichnet sich ebenfalls Fokus gerückt. Jetzt kommt es darauf an, die Potenziale eine vertiefte Zusammenarbeit ab. Die EU beabsichtigt, der Region zu nutzen. Menschenrechtspolitik sollte da- mit jedem der zentralasiatischen Staaten einen regel- bei endlich als europäische Interessenpolitik gesehen mäßigen, strukturierten und ergebnisorientierten Men- werden. schenrechtsdialog einzurichten. Anderen Bereichen wie der Unterstützung wirtschaftlicher und sozialer Entwick- Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: lung in Zentralasien, Fragen des Grenzmanagements und Die EU hat gestern beim Treffen der EU-Außenminister- der Energie- und Umweltkooperation wird die EU auf Troika mit den fünf zentralasiatischen Staaten in Astana der Grundlage bestehender EU-Programme künftig mehr einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Kooperation Aufmerksamkeit widmen. 9312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Neben mehr Geberkoordinierung wollen wir die Zu- sonders günstigen Konditionen, die erheblich unterhalb (C) sammenarbeit mit der OSZE und anderen multilateralen des Verkehrswerts liegen, haben. Bei Verkehrsflächen Organisationen und Foren wie den IFIs intensivieren. beträgt der Kaufpreis 20 Prozent des Bodenpreises eines Dazu gehört unter anderem auch die Shanghai Organisa- in gleicher Lage gelegenen unbebauten Grundstücks. Bis tion. Durch die Stärkung dieser Strukturen wollen wir re- zur Bereinigung der Rechtsverhältnisse entweder durch gionale Kooperation in Zentralasien fördern. Nutzungsaufgabe der öffentlichen Hand oder Ankauf bei Weiternutzung für öffentliche Zwecke steht dem priva- Dies alles geschieht in dem Verständnis, dass wir nur ten Eigentümer lediglich die Zahlung eines Nutzungs- mit einem ausgewogenen, partnerschaftlichen Ansatz Si- entgeltes zu, das ebenfalls erheblich unter marktüblichen cherheit, Stabilität und Prosperität in Zentralasien in un- Konditionen liegt, da zur Berechnung der nach dem Ge- serem und im dortigen Interesse fördern können. Dieser setz sich ergebende niedrige potenzielle Kaufpreis zu- Ansatz muss die spezifischen Anliegen der zentralasiati- grunde gelegt wird. schen Staaten ernst nehmen. Und er muss die regionalen Herausforderungen in den Blick nehmen. Ausgewogen- Mit dieser Übergangslösung bis zur endgültigen Be- heit heißt schließlich auch, die Beziehungen zu den zen- reinigung der Rechtsverhältnisse sollte vermieden wer- tralasiatischen Staaten in ihrer gesamten Breite voranzu- den, dass die Kommunen in den neuen Ländern mit An- bringen. Das schließt nach unserem Verständnis auch kaufsforderungen durch private Grundstückseigentümer substanzielle Fortschritte in den Bereichen Rechtsstaat- überfordert werden. Durch die langfristige Übergangsre- lichkeit und Menschenrechtsschutz ein. Dies alles muss gelung wurde den Kommunen bis zum 30. Juni 2007 die transparent gestaltet werden, um Vertrauen in Zentral- Möglichkeit eingeräumt, zunächst zu überprüfen, welche asien, aber auch bei anderen internationalen Akteuren in Grundstücke im Privateigentum dauerhaft weiter für öf- der Region zu schaffen. fentliche Zwecke benötigt werden, und in der Folge ent- sprechend die zum verbilligten Erwerb dieser Liegen- schaften notwendigen Haushaltsmittel über mehrere Anlage 9 Jahre in die jeweiligen Planungen einzustellen. Zu Protokoll gegebene Reden Entscheidender Punkt ist nun, dass, falls der öffentli- che Nutzer sein Ankaufsrecht bis zum 30. Juni 2007 zur Beratung des Antrags: Öffentlichen Ver- nicht ausgeübt hat, der privater Eigentümer ab diesem kehr in den neuen Bundesländern nicht gefähr- Zeitpunkt den Ankauf seines Grundstücks zum Ver- den – Verkehrsflächenbereinigungsgesetz ver- kehrswert verlangen oder ein marktgerechtes Nutzungs- längern entgelt für die Eintragung einer Dienstbarkeit fordern kann. Mit Ablauf der Übergangsfrist wird demnach in (B) (Tagesordnungspunkt 20) (D) der Folgezeit die endgültige Klärung der Rechtsverhält- nisse an den Grundstücken herbeigeführt, die zu diesem Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Dem vorliegenden Zeitpunkt trotz fortdauernder öffentlicher Nutzung noch Antrag der Fraktion Die Linke, die Übergangsregelung immer im Privateigentum sind. des Verkehrsflächenbereinigungsgesetzes über den Frist- ablauf zum 30. Juni 2007 hinaus zu verlängern, wird die Anders als nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zustimmen. unterliegt der private Eigentümer nach dem Verkehrsflä- chenbereinigungsgesetz nämlich einem Kontrahierungs- Zur Erläuterung möchte ich zunächst den historischen zwang. Die von der PDS nun geforderte Fristverlänge- Hintergrund der betreffenden Regelung aufzeigen. Eine rung würde bedeuten, dass private Eigentümer weiterhin Vielzahl von Grundstücken privater Eigentümer wurde stillhalten und sich mit dem geringen Nutzungsentgelt zu Zeiten der ehemaligen DDR für öffentliche Zwecke oder dem abgesenkten Kaufpreis, wenn es der Kommu- in Anspruch genommen, ohne dass ihre förmliche Über- nen recht ist, begnügen müssten. Dies ist mit unserem führung in sogenanntes Volkseigentum oder eine recht- Verständnis des Eigentumsschutzes im Jahre 17 der lich verbindliche Regelung der Nutzungsverhältnisse er- deutschen Einheit unvereinbar. folgt ist. Trotz dieses durchaus zweifelhaften Besitzanspruches der öffentlichen Hand wurde durch Das unbefriedigende Rechtsverhältnis für den privaten den bundesdeutschen Gesetzgeber eine befristete Über- Eigentümer würde weiterhin aufrechterhalten, obgleich gangslösung zugunsten der weiteren Nutzung bzw. des gerade die Übergangsfrist im Verkehrsflächenbereini- Erwerbs solcher Grundstücke durch die öffentliche Hand gungsgesetz das Ergebnis eines ausführlich diskutierten im Verkehrsflächenbereinigungsgesetz geschaffen. Die- Kompromisses von Beratungen einer Bund-Länder- ses Gesetz löste die am 30. September 2001 ausgelau- Gruppe war, der den Interessen beider Seiten ausreichend fene Regelung in Art. 233 § 2 a IX EGBGB ab. Das Ge- Rechnung getragen hat. Uns ist kein Grund ersichtlich, setz gilt für die von Art. 3 des Einigungsvertrages warum sich diese Ausgangslage grundlegend verändert erfassten Grundstücke privater Eigentümer, sofern sie haben soll, warum die Verlängerung der Übergangslö- frühestens seit dem 9. Mai 1945 und vor dem 3. Oktober sung zulasten der privaten Eigentümer gerechtfertigt 1990 für die Erfüllung einer Verwaltungsaufgabe in An- wäre. spruch genommen wurden. Mit einer Fristverlängerung würde das Vertrauen der Das Gesetz sieht vor, dass die öffentlichen Nutzer für Betroffenen nachhaltig enttäuscht, die möglicherweise weiterhin zu öffentlichen Zwecken benötigte Flächen ein auch schon Dispositionen hinsichtlich ihrer Grundstücke bis zum 30. Juni 2007 befristetes Ankaufsrecht zu be- für die Zeit nach dem 30. Juni 2007 getroffen haben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9313

(A) Rechtssicherheit ist ein hohes Gut. Eine ständige sach- Übergangsfrist nunmehr höchste Zeit, dass die allgemei- (C) grundlose Verlängerung von mit Sachgrund versehenen nen Regelungen in ganz Deutschland Anwendung fin- Übergangsfristen darf nicht der Regelfall werden. den. Es darf nicht länger Grundeigentum erster und zweiter Klasse geben. Es ist nur sehr schwer nachvollziehbar, warum über Einzelfälle hinaus nach weit mehr als zehn Jahren immer Etwas anderes könnte nur gelten, wenn substantiiert noch keine Klärung auf diesem Gebiet seitens der Kom- vorgetragen würde, dass die Kommunen in den neuen munen erfolgen konnte. Dabei ist insbesondere zu be- Ländern systematisch an einer vernünftigen Rechtsberei- rücksichtigen, dass das Gesetz während der Übergangs- nigung nach den Übergangsbedingungen des Verkehrs- frist ja einen Erwerb der weiterhin für öffentliche flächenbereinigungsgesetzes gehindert gewesen wären. Zwecke beanspruchten Grundstücke zu einem erheblich Stichhaltige Gründe hierfür kann ich dem Antrag der unter dem Verkehrswert liegenden Preis zugunsten der PDS nicht entnehmen. Hätte aus Sicht der Bundesländer Kommunen ermöglicht hat. Handlungsbedarf bestanden, wären die kommunalen In- teressen in Verhandlungen mit der Bundesregierung oder Der Antrag der Fraktion Die Linke stützt seine Be- im Wege einer Bundesratsinitiative eingebracht worden. gründung darauf, dass sich gezeigt hat, dass eine Viel- Das ist alles nicht der Fall. zahl von betroffenen Kommunen ihr notarielles Kauf- vertragsangebot nicht bis zum vorgesehenen Stichtag Ich bin selbst Stadtrat meiner Heimatstadt Hohen- abgeben könne. Große Erbengemeinschaften oder die stein-Ernstthal und kommunalpolitisch engagiert. Auch späte Erkenntnis, dass man während schon begonnener aus meiner diesbezüglichen Praxis kann ich Ihnen nur Baumaßnahmen in privates Eigentum eingreife, werden sagen, dass Sie Scheindebatten vom Zaun brechen wol- als Gründe angeführt. Nach Auffassung der Fraktion Die len. Wir werden diese nicht führen. Linke solle mit einer Fristverlängerung dem drohenden baldigen Erlöschen des im Gesetz geregelten Ankaufs- Dr. Peter Danckert (SPD): Den Kollegen von der rechts und der danach vermeintlich entstehenden Rechts- Fraktion Die Linke verdanken wir heute den Umstand, unsicherheit abgeholfen werden. dass wir noch zu so später Stunde hier an dieser Stelle Hierzu ist zu sagen, dass es einer Verlängerung nicht eine Thematik behandeln, für die es aus meiner Sicht bedarf, da selbstverständlich auch nach Ablauf der Frist – und der des federführenden Bundesministeriums der am 30. Juni 2007 eine Rechtsbereinigung möglich sein Justiz – keinen Handlungsbedarf gibt. Die Linke fordert wird. Nur mit dem Unterschied, dass dann endlich „nor- in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, das „Gesetz male“ Rechtspositionen gelten werden. Der Unterschied zur Bereinigung der Rechtsverhältnisse an Verkehrs- wird nämlich der sein, dass nun nach langen Jahren der flächen und anderen öffentlich genutzten privaten (B) Rechtsunsicherheit endlich dem Eigentümer das Recht Grundstücken“, kurz Verkehrsflächenbereinigungsge- (D) zugestanden wird, selbst eine Klärung der Rechtsposi- setz (VerkFlBerG), über die gegenwärtig geltende Frist tion an seinem Grundstück herbeizuführen. Er kann nun bis 30. Juni 2007 hinaus um drei weitere Jahre zu verlän- endgültig einseitig bestimmen, wie er die Eigentumslage gern. seines Grundstücks behandelt wissen möchte. Das be- Das Verkehrsflächenbereinigungsgesetz vom 26. Ok- deutet, er kann ab diesem Zeitpunkt die Kommune ver- tober 2001 regelt die Rechtsverhältnisse an Grund- pflichten, sein von ihr für öffentliche Zwecke genutztes stücken in den neuen Bundesländern, die im Privateigen- Eigentum zum Verkehrswert anzukaufen oder eine ent- tum stehen, aber zu öffentlichen Zwecken genutzt geltliche Dienstbarkeit daran bestellen lassen, die eine werden. Die gesetzliche Neuregelung erfolgte seinerzeit marktüblichen Nutzungsvergütung vorsieht, und er ist aufgrund einer Initiative der neuen Länder. Vor dem nicht länger zum Ausharren verpflichtet. Hintergrund von Art. 14 GG war eine nicht einfache Ab- Die weiter angeführte Problematik vermeintlich zu wägung zwischen dem Eigentum und dem Wohle der spät erkannter privater Eigentumsrechte während laufen- Allgemeinheit vorzunehmen (Art. 14 Abs. 3 GG). der Bauarbeiten kann wohl kaum eine ernstgemeinte Un- Dieses Gesetz räumt dem öffentlichen Nutzer unter be- termauerung der Forderung der Fristverlängerung sein. stimmten Voraussetzungen ein Erwerbsrecht an Ver- Die verspätete Erkenntnis, dass beim Bau zum Beispiel kehrsflächen gegenüber dem Grundstückseigentümer einer öffentlichen Straße Privateigentum überbaut wird ein. Dies betrifft in erster Linie Verkehrsflächen, aber – schlimm genug, wenn dies so stattfindet – kann wohl auch zum Beispiel für Verwaltungszwecke genutzte Flä- kaum dem privaten Eigentümer zur Last gelegt werden. chen und Gebäude. Unabhängig hiervon ist auch nach dem Ablauf der Handlungsbedarf ergab sich aus dem Umstand, dass Frist die Rechtsbereinigung zugunsten der öffentlichen in der DDR oftmals private Grundstücke für öffentliche Hand möglich. Bei Vorliegen der entsprechenden spe- Zwecke in Anspruch genommen worden sind, ohne dass zialgesetzlichen Voraussetzungen ist eine Enteignung für eine förmliche Überführung des Grundstücks in Volks- öffentliche Zwecke nicht ausgeschlossen. Allerdings eigentum stattgefunden hätte oder die Nutzung des wäre dann entsprechend der grundgesetzlichen Eigen- Grundstücks gegenüber dem Eigentümer sonst auf eine tumsgarantie der volle Verkehrswert als Ausgleich zu rechtliche Grundlage gestellt worden wäre. Diese zahlen. Und gerade dieser Punkt ist entscheidend für die Grundstücke blieben in Privateigentum und sind es auch Erkenntnis, worum es hier tatsächlich geht. Wir stehen heute noch. Das Gesetz ermöglichte den Kommunen, unverrückbar zur Eigentumsgarantie als zentralem Punkt vom Eigentümer bis zum 30. Juni 2007 den Verkauf des des Grundgesetzes. Daher ist es nach Ablauf der langen Grundstücks zu stark abgesenkten Preisen (§§ 5 und 6) 9314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) zu verlangen. Der Gesetzgeber hat seinerzeit ganz be- und der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Die erheb- (C) wusst in § 8 eine Abschlussfrist normiert, um, wie es in liche Belastung der Grundstückseigentümer, die über der Begründung hieß, „den baldigen Ankauf der für öf- einen langen Zeitraum zur Passivität gezwungen sind, fentliche Zwecke genutzten Grundstücke zu bewirken“ und die Tatsache, dass den öffentlichen Nutzern der Ab- und damit auch eine „zügige Bereinigung“ zu realisie- lauf der Abschlussfrist frühzeitig bekannt war, begründen ren. Diese Regelung entspricht dem sich aus Art. 14 GG ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken gegen die ergebenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Verlängerung der Frist. Letztlich bleibt es den neuen heißt konkret eine Abwägung zwischen dem grundge- Bundesländern unbenommen, ihre Interessen im Wege setzlichen Schutz des Eigentums und dem Wohl der All- einer Bundesratsinitiative wahrzunehmen. Vor dem Hin- gemeinheit. Nach Ablauf der Abschlussfrist verbleiben tergrund erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken einige „unbereinigte Fälle“, in denen der Grundstücksei- kann ich den Ländern allerdings nicht zu diesem Schritt gentümer die Wahl hat, ob er von der Gemeinde den An- raten. kauf verlangt oder aber ein Nutzungsentgelt fordert, das so lange zu zahlen wäre, wie die öffentliche Nutzung Wir sehen der Ausschussberatung entgegen, und ich fortbesteht. denke, ich kann heute schon ankündigen, dass wir den vorliegenden Antrag ablehnen werden. Die Linke ist der Ansicht, dass eine Vielzahl der be- troffenen Kommunen nicht in der Lage sein wird, den Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Grundstückseigentümern bis zu diesem Stichtag ihr no- Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte das Verkehrs- tarielles Kaufvertragsangebot zu übermitteln, und strebt flächenbereinigungsgesetz von 2001 die Rechtsverhält- deshalb eine Fristverlängerung an. Gestatten Sie mir nisse an seit DDR-Zeiten öffentlich genutzten Privat- hierzu folgende Anmerkungen: Das Gesetz mit der kon- grundstücken endgültig regeln – so nachzulesen in der kreten Abschlussfrist ist das Ergebnis von Beratungen Beschlussempfehlung und dem Bericht des Rechtsaus- einer auf Initiative der Ost-Justizministerkonferenz 1999 schusses vom 25. September 2001. Schenkt man dem gebildeten Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Diese Ab- Antrag der Fraktion Die Linke Glauben, ist dieses Ziel schlussfrist nach § 8, die man auch als eine Ausschluss- nicht erreicht worden, denn anderenfalls gäbe es keine frist werten kann, war ein Kompromiss zwischen den Notwendigkeit, die vorgesehenen Fristen um weitere widerstreitenden Interessen der Beteiligten. Zu beden- drei Jahre bis zum 30. Juni 2010 zu verlängern. ken war, dass die Grundstückseigentümer bei Ablauf der Frist über einen Zeitraum von fast 17 Jahren nach der Die Frage, die sich stellt, ist: Woran liegt das? Laut Wiedervereinigung keinen Zugriff auf das Grundeigen- Antrag gibt es Schwierigkeiten bei den Recherchen zu tum hatten. Zugleich war den öffentlichen Nutzern den betroffenen Grundstücken. Dies sei dem Umstand (B) bereits bei der Erarbeitung des Gesetzes das Problem der geschuldet, dass es sich bei den Grundstückseigentü- (D) noch ausstehenden sachenrechtlichen Bereinigung seit mern oft um große Erbengemeinschaften handele bzw. langem bekannt. Zur Durchführung der notwendigen dass sich erst im Rahmen von Baumaßnahmen heraus- vorbereitenden Maßnahmen (Vermessungsarbeiten, stelle, dass zum Beispiel öffentliche Straßen zum Teil Feststellung der Eigentumsverhältnisse) zur rechtlichen über private Grundstücke verlaufen. Die Richtigkeit die- Bereinigung stand ausreichend Zeit – nämlich sechs ses Tatsachenvortrags unterstellt, fragt sich, wer diese Jahre – zur Verfügung. Darüber hinaus impliziert der Schwierigkeiten zu vertreten hat, der private Grund- Ablauf der Frist nicht die Notwendigkeit, alle Verträge stückseigentümer oder die öffentliche Hand. bis zum Stichtag fertig abzuwickeln. Auch nach Frist- Schon im Gesetzgebungsverfahren hat die Fraktion ablauf ist die Rechtsbereinigung möglich, wenn auch der der FDP kritisiert, dass vonseiten der Länder und Kom- Grundstückseigentümer damit einverstanden ist. Nach munen nicht aufgezeigt worden sei, welche Grundstücke Ablauf der Abschlussfrist kann allerdings der Grund- in welchem Umfang und zu welchen Werten betroffen stückseigentümer alleine darüber entscheiden, ob er die seien. Die Fraktion der PDS äußerte sich ähnlich. Sie Fläche an den öffentlichen Nutzer verkauft oder die Zah- kritisierte, dass keine Angaben über die Zahl der betrof- lung eines Nutzungsentgeltes fordert oder schlicht nichts fenen Grundstücke vorlägen. unternimmt. Wenn der öffentliche Nutzer an der Erlan- gung des Eigentums am Grundstück gegen den Willen Seit dieser Kritik sind weitere fünfeinhalb Jahre ins des Grundstückseigentümers interessiert ist, kommt ge- Land gegangen. Warum diese Zeit nicht ausgereicht ha- gebenenfalls eine Enteignung nach den jeweiligen Spe- ben soll, die Grundstücks- und Eigentumsverhältnisse zialvorschriften (unter anderem den Straßengesetzen der endgültig zu klären, leuchtet mir nicht ein. Jedenfalls rei- Länder) – allerdings gegen Entschädigung in Höhe des chen mir die hierzu vorgetragenen Tatsachen nicht aus. Verkehrswertes – in Betracht. Hier wäre eine Einschätzung der Bundesregierung hilf- reich. Denn eins steht fest: Eine Fristverlängerung „auf Einer Fristverlängerung stehen – und dies ist nicht Zuruf“ kann und darf es nicht geben. Diese ginge einsei- ganz unerheblich – verfassungsrechtliche Bedenken ent- tig zulasten der Grundstückseigentümer, obwohl vieles gegen: Die trotz der öffentlich-rechtlichen Nutzung der dafür spricht, dass diese die behaupteten Schwierigkei- Grundstücke bestehenden (eingeschränkten) Eigentums- ten nicht zu vertreten haben. Dann wäre es aber nicht ak- rechte der Grundstückseigentümer fallen unter den zeptabel, dass Eigentümer für weitere drei Jahre der Ge- Schutz von Art. 14 Abs. l Satz l GG. Jede Änderung der fahr ausgesetzt werden, ihr Grundstück zwangsweise Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse muss sich daher verkaufen zu müssen, und dies möglicherweise zu einem insbesondere an den Grundsätzen des Vertrauensschutzes Preis, bei dem sie noch draufzahlen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9315

(A) Wie Sie wissen, begegnete die Kaufpreisregelung be- Die vorgesehene Ausschlussfrist sollte dem zügigen (C) reits im Gesetzgebungsverfahren verfassungsrechtli- Ankauf und damit dem Ziel einer zügigen Bereinigung chen Bedenken. Insbesondere für Eigentümer, deren dienen. Aufgrund der Vielzahl der bisher bekannt ge- Grundstücke mit alten, in der Höhe über den gesetzli- wordenen Fälle sowie der Schwierigkeiten bei den Re- chen Kaufpreisanspruch hinausgehenden Grundpfand- cherchen zu den betroffenen Grundstücken hat sich ge- rechten belastet waren, wurde die Gefahr einer „zweiten zeigt, dass eine Vielzahl der betroffenen Kommunen ihr Enteignung“ gesehen. notarielles Kaufvertragsangebot nicht bis zu dem vorge- sehenen Stichtag an die Grundstückseigentümer über- Für die FDP darf das Auseinanderfallen von Grund- mitteln kann. Dies ist unter anderem dem Umstand ge- stückseigentum und Grundstücksnutzung abseits von schuldet, dass es sich bei den Grundstückseigentümern Miet- und Pachtverhältnissen nicht zu einem Dauerzu- oft um große Erbengemeinschaften handelt, noch nicht stand werden. Sollte man zu dem Ergebnis kommen, vollständig aktualisierte Grundstückskataster in den Ge- dass eine Fristverlängerung unumgänglich ist, wären meinden vorliegen oder noch strittige Rückübertra- deshalb flankierende Maßnahmen vorzusehen, um die gungsansprüche vorliegen bzw. sich erst im Rahmen von Beendigung dieses Zustandes, der im deutschen Recht Baumaßnahmen herausstellt, dass zum Beispiel öffentli- ein Fremdkörper ist, zu beschleunigen. che Straßen zum Teil über private Grundstücke verlau- fen. Außerdem kann der Übergang des Rechts auf Ver- langen zur Flächenbereinigung auf den oder die Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Die Erfüllung öffent- Grundstückseigentümer durchaus als Investitionshemm- licher Aufgaben erfolgt in den neuen Bundesländern in nis und entgegen dem öffentlichen Interesse wirken, da einer Vielzahl von Fällen auf privaten Grundstücken. die Kommune ihr Initiativrecht verliert. Die erforderliche Rechtsgrundlage dafür schafft das Sa- chenrechtsbereinigungsgesetz und in Ergänzung seit Die begrüßenswerten Ziele des Gesetzes, nämlich 2001 das Verkehrsflächenbereinigungsgesetz. Das Ge- Rechtssicherheit für Nutzer und Eigentümer zu schaffen, setz ermöglicht den Kommunen in den neuen Bundes- Eigentümer angemessen zu entschädigen sowie Grund- ländern den Erwerb von Privatgrundstücken zu einem stücksnutzung und Grundstückseigentum für die öffent- ermäßigten Preis, wenn die betreffenden Grundstücke liche Hand zusammenzuführen, ist unter den gegebenen zwischen dem 9. Mai 1945 und dem 3. Oktober 1990 für Bedingungen und der gesetzten Frist nicht erreichbar. die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben oder als Ver- Durchschnittlich fehlen noch 30 bis 40 Prozent der not- kehrsflächen tatsächlich in Anspruch genommen wurden wendigen Vertragsabwicklungen. Dies ist regional unter- und auch zukünftig für diese Zwecke benötigt werden. schiedlich. Dazu zählen insbesondere Verkehrsflächen im engeren (B) Sinne, das heißt öffentliche Straßen auf privaten Flä- Sollte eine Fristverlängerung nicht erreicht werden, (D) chen, Park- und Grünanlagen. bleibt den Gemeinden nur die Möglichkeit des ordentli- chen Ankaufs der Grundstücke zum Verkehrswert, was Daneben existiert auch die Möglichkeit des Zukaufs die öffentlichen Haushalte weiter belasten würde, und von privaten Grundstücken, die zur Erfüllung einer sons- das Risiko birgt, dass der private Grundstückseigentü- tigen Verwaltungsaufgabe mit einem Gebäude, zum Bei- mer sich einem Verkauf auch verweigern kann. Damit ist spiel Kindergärten, Schulen, Rathäuser oder sonstiger die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben auf den baulicher Anlagen wie zum Beispiel Spielplätzen und betroffenen Grundstücken zukünftig in Gefahr. Aus den Sportanlagen bebaut worden waren und weiterhin benö- genannten Gründen ist eine Fristverlängerung des Geset- tigt werden. Ausnahmsweise kann die Bestellung des zes dringend geboten. milderen Mittels einer persönlich beschränkten Dienst- barkeit ausreichen, wenn der Eigentumserwerb zur Si- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe cherung der öffentlichen Nutzung den Eigentümer durch Kollegin Heidrun Bluhm, bei allem Respekt, aber der den Eigentumsverlust unverhältnismäßig belasten Antrag Ihrer Fraktion ist ebenso wie die heutige Debatte würde. Dies kann etwa bei einer Untertunnelung des überflüssig. Ich frage mich, ob wir wirklich nichts Bes- Grundstücks oder bei einem Brückenpfeiler auf einem seres zu tun haben, als uns heute und auf diese Weise mit ansonsten landwirtschaftlich genutzten Grundstück der dem Verkehrsflächenbereinigungsgesetz zu beschäfti- Fall sein. gen. Und ich sage Ihnen an dieser Stelle auch deutlich: Es ärgert mich, dass es im legitimen Wettbewerb der Der Nutzer hat das Recht auf Durchführung einer Be- Fraktionen offensichtlich nur noch um Quantität und reinigung der Rechtsverhältnisse an für öffentliche Zwe- nicht mehr um Qualität bei den Anträgen geht. Aber cke genutzten Flächen. § 8 Abs. 1 sieht vor, dass der öf- dazu später mehr. fentliche Nutzer bis zum Ablauf des 30. Juni 2007 das Erwerbsrecht nach § 3 Abs. 1 Satz 1 durch Abgabe eines Erinnern Sie sich noch, wie wir kürzlich gemeinsam notariell beurkundeten Angebots zum Abschluss eines über die Große Koalition und ihren kurzfristig aufgesetz- Kaufvertrages ausgeübt haben muss. Nach Ablauf dieser ten Antrag zum Bericht zur Situation der Wohnungs- Frist soll der öffentliche Nutzer nun keine Möglichkeit und Immobilienwirtschaft gelästert haben? Jetzt kom- mehr haben, seinerseits die Rechtsbereinigung einzulei- men Sie selber mit einem Antrag aus der Tiefe des Rau- ten. Sein Recht, den Vertragsabschluss zu verlangen, er- mes. Dankenswerterweise wurde der Text uns vorab von lischt. Dieses Recht geht dann auf den oder die Grund- Ihrem Büro zu Verfügung gestellt, sodass wir wenigstens stückseigentümer über. gestern wussten, über was wir heute diskutieren sollen. 9316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Heute habe ich sogar noch die Drucksachennummer er- bracht haben. Jetzt ist es an Ihnen, das Gegenteil zu bele- (C) fahren, als ich Ihren Antrag in der Hauspost vorfand. gen. Darauf bin ich sehr gespannt. Der Ausgangspunkt scheint ja offensichtlich ein Rundschreiben des Gemeinde- und Städtebundes Thü- Anlage 10 ringen vom 9. Februar 2007 an alle thüringischen Bun- destagsabgeordneten gewesen zu sein. Auf den ersten Zu Protokoll gegebene Reden Blick scheint wie immer dringender Handlungsbedarf gegeben zu sein. Aber anstatt den Sachverhalt erst ein- zur Beratung der Anträge: mal zu überprüfen, haben Sie einfach den Brieftext wort- – SWIFT-Fall aufklären – Datenschutz im in- wörtlich in Ihren Antrag übernommen. Was sollte das ei- ternationalen Zahlungsverkehr wieder her- gentlich? Wollen Sie damit dem Gemeinde- und stellen Städtebund Thüringen signalisieren, dass Sie die Einzi- gen sind, die sich des Themas annehmen? – Deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen – Zugriff US-amerikanischer Stellen auf Ich habe gestern den Kollegen Ernst Kranz von der SWIFT-Daten unverzüglich stoppen und SPD gefragt, wie er denn mit diesem Brief umgegangen Vorgang umfassend aufklären sei, und er teilte mir mit, dass er zunächst einmal die Kommunen in seinem Wahlkreis um Stellungnahme ge- (Tagesordnungspunkt 21 a und b) beten hätte. Der Rücklauf hätte keine Erkenntnis gebracht, dass in Thüringen noch Handlungsbedarf bestünde. Der Georg Fahrenschon (CDU/CSU): In der grundsätz- Kollege Uwe Barth von der FDP hat den Weg der Frage- lichen Einschätzung der Sachlage sind wir uns sicherlich stunde am gestrigen Tage beschritten. Das ist aus meiner einig: Die Bedingungen, unter denen SWIFT in der Ver- Sicht die zunächst gebotene und seriöse Vorgehensweise gangenheit gearbeitet hat, müssen gründlich aufgeklärt bei so einem Sachverhalt. Sie wissen genauso gut wie die werden. Dabei kommt auf die Bundesregierung eine Kolleginnen und Kollegen, dass Ihnen auch noch andere besondere Verantwortung zu; denn Ziel der EU und der Instrumente wie zum Beispiel eine schriftliche Frage oder deutschen Ratspräsidentschaft muss es sein, eine Lösung eine Kleine Anfrage zur Verfügung gestanden hätten. zu erreichen, die einerseits dem Erfordernis einer effekti- Die Antwort der Bundesregierung durch den Parla- ven Bekämpfung des Terrorismus und andererseits den mentarischen Staatssekretär Hartenbach spricht Bände, Vorgaben europäischen Datenschutzrechtes sowie einem und ich empfehle Ihnen das gründliche Studium; denn reibungslosen Zahlungsverkehr gerecht wird. eigentlich hat sich mit dieser Antwort Ihr Antrag erle- Schon 1973 war es das Ziel, ein sicheres internationales (B) digt: Nachrichtenübermittlungssystem für Finanztransaktionen (D) Erstens. Es war den öffentlichen Nutzern seit dem Er- zu schaffen. Damals wurde die SWIFT, Society für lass des Gesetzes bekannt, dass sie das Problem der sa- Worldwide Interbank Financial Telecommunication, als chenrechtlichen Bereinigung anzugehen hatten und dies Genossenschaft belgischen Rechts von der internationalen keine unbillige Härte für sie darstellen würde. Daher Kreditwirtschaft gegründet. SWIFT verfügt über einen wurde ja das Gesetz auch ausdrücklich befristet. SWIFT-Server in Belgien und einen in den USA, auf dem eine Datenspiegelung erfolgt. Zweitens. Die Rechtsverhältnisse können auch nach dem Fristablauf immer noch rechtsbereinigt werden. Das Wie nach Presseberichten in den USA im Sommer bedeutet, dass dann eine einvernehmliche Regelung mit 2006 bekannt wurde, haben US-Behörden nach dem dem Grundstückseigentümer über die Nutzung des 11. September 2001 vor dem Hintergrund einer behörd- Grundstücks und einen eventuellen Kauf oder ein Nut- lichen Beschlagnahmeordnung mehrfach Transaktions- zungsentgelt herbeigeführt werden muss. daten von SWIFT angefordert. Wie wir heute wissen, hat SWIFT diese Daten auf Anfrage herausgegeben und den Drittens. Die verfassungsrechtlichen Bedenken sind US-Behörden zur Auswertung für die Zwecke der Terro- erheblich. Im Art. 14 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes rismusbekämpfung überlassen. Inzwischen ist weiterhin heißt es: „Das Eigentum und das Erbrecht werden ge- auch geklärt, dass es hierbei weder zu einer Vollstreckung währleistet.“ Eine Fristverlängerung verstößt sowohl ge- der Beschlagnahmeordnung noch zu einer richterlichen gen den Vertrauensschutz als auch gegen die Verhältnis- Überprüfung oder einer nachträglichen Information der mäßigkeit. Ich kann nicht erkennen, welche triftigen SWIFT-Nutzer gekommen ist. Gründe dafür sprechen, dass es hier über 17 Jahre nach der Vereinigung immer noch ein Sonderrecht Ost geben Aufgrund der Komplexität des Sachverhalts, seiner muss? internationalen Dimension und seiner juristischen Würdigung sowohl in Deutschland wie auch in anderen Viertens. Last, but not least weist Herr Hartenbach europäischen Ländern sind die Ermittlungen jedoch darauf hin, dass es den Bundesländern unbenommen noch nicht abgeschlossen. bleibt, eine eigene Bundesratsinitiative zu starten. Dem muss ich nichts hinzufügen. Ob und inwieweit SWIFT gegen seine vertraglichen Pflichten gegenüber seinen Nutzern verstoßen hat bzw. Diese Antworten und die Rechercheergebnisse mei- ein Verstoß der Nutzer gegenüber Verschwiegenheits- ner Kollegen aus Thüringen lassen deutlich erkennen, pflichten gegenüber ihren Kunden vorliegt, wird derzeit dass Ihr Antrag schon überholt war, bevor Sie ihn einge- intensiv geprüft und zwischen den Datenschutzaufsichts- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9317

(A) behörden, den Datenschutzbeauftragten des Bundes und First Amendment to the United States Constitution als (C) der Länder und dem ZKA diskutiert. Teil der United States Bill of Rights hinsichtlich des Umgangs mit Gewaltdarstellungen, rechtsradikalen In- Des Weiteren hat die deutsche Ratspräsidentschaft formationen, pornografischen Darstellungen etc. fest- gemeinsam mit der KOM die Gespräche mit dem US- stellen lassen, müssen wir solche Vorgänge, die sich zwi- Treasury aufgenommen. Ziel dieser Gespräche ist eine schen den USA und Europa bzw. Deutschland abspielen, breite Sachverhaltsaufklärung sowie die Auslotung der besonders sensibel wahrnehmen und gegebenenfalls un- Verhandlungsbereitschaft der USA. Denn darüber müssen terbinden. Die Auffassungsunterschiede zwischen den wir uns hier einig sein: Wir können nur gemeinsam mit USA und europäischen Staaten, was offen gehandelt EU und den USA zu einer Lösung kommen. Dies setzt oder verboten werden sollte und welche Daten schüt- jedoch eine enge und vertrauensvolle transatlantische zenswert sind und welche nicht, sind offensichtlich recht Zusammenarbeit voraus. groß – oder genauer: Die Auffassungsunterschiede der Vor diesem Hintergrund ist für CDU und CSU klar: jeweiligen Administrationen sind groß. Die gemeinsame Nutzung von Daten und Informationen ist ein wertvolles Instrument zur Bekämpfung des interna- Bei SWIFT handelt es sich um die Betreibergesell- tionalen Terrorismus und der damit zusammenhängenden schaft eines Telekommunikationsnetzwerkes zum auto- Verbrechen. Sie muss aber auf einer tragfähigen Rechts- matisierten Austausch von standardisierten Zahlungs- grundlage erfolgen. In diesem Sinne ist zunächst eine verkehrsnachrichten zwischen Kreditinstituten im vollständige und gründliche Aufklärung des Sachverhalts internationalen Zahlungsverkehr. Die Gesellschaft hat notwendig. Auf Basis der dadurch erlangten Erkenntnisse ihren Sitz in Belgien, ihre Aufgabe ist die Schaffung ei- kann dann über weitere Schritte nachgedacht werden. nes modernen und sicheren internationalen Nachrichten- übermittlungssystems für internationale Finanztransak- Vorschnelle Schlüsse – wie sie in Ihren beiden Anträgen tionen. Daneben wird SWIFT in Deutschland bereits formuliert werden – sind hier jedoch wenig förderlich. heute in begrenztem Umfang auch im Zusammenhang mit nationalen Zahlungsverkehrsaufträgen genutzt, vor Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wenn wir kul- allem bei Bank-zu-Bank-Großbetragszahlungen und Eil- turelle Grundüberzeugungen aufgeben oder in Zweifel zahlungen. Die praktische Bedeutung von SWIFT für ziehen lassen, weil es Terrorismus in der Welt gibt, ha- den nationalen Zahlungsverkehr dürfte mit der Einfüh- ben wir gegen den Terrorismus schon verloren, lange be- rung von SEPA zunehmen. Andere Anbieter, die diesen vor wir begonnen haben, ihn zu bekämpfen. Service weltweit anbieten, gibt es derzeit nicht. Umso wichtiger ist die grenzüberschreitende Kontrolle dieser Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus monopolartigen Strukturen durch den demokratischen (B) werden leider immer wieder auch Grundpfeiler unseres Rechtsstaat. (D) westlichen, freiheitlichen Rechts- und Demokratiever- ständnisses zur Disposition gestellt. Dazu gehören das Die Ermittlungen zur Aufklärung des grenzüber- Recht auf informationelle Selbstbestimmung und der schreitenden Sachverhaltes der Übermittlung personen- Schutz personenbezogener Daten. bezogener Daten durch SWIFT an US-Behörden gestal- ten sich aufgrund der rechtlichen Komplexität, der Der freiheitliche Rechtsstaat hat sich darauf ver- widerstreitenden juristischen Bewertung der Legitima- pflichtet, diese Rechte zu schützen und zu verteidigen – tion der Datenanforderung und der zögerlichen Informa- auch und gerade vor dem Zugriff der eigenen Behörden tionspolitik der US-amerikanischen Regierungsstellen und Dienststellen. Diese Rechtsauffassung gehört zu den äußerst schwierig und langwierig. Die Bundesregierung international akzeptierten Standards des Verfassungs- hat sich allerdings dankenswerterweise schon seit Be- rechts. Welcher Wert dieser Norm gerade auch in den kanntwerden der Vorwürfe der Datenweitergabe von Außenbeziehungen demokratisch verfasster Staaten bei- SWIFT an US-Behörden intensiv für eine Lösung und gemessen und mit welchem Eifer sie verteidigt wird, Aufklärung dieses Sachverhaltes eingesetzt. zeigt sich besonders dann, wenn sie in Konflikt mit an- deren politischen Zielsetzungen und Strategien – wie Nach Auskunft des US-Finanzministeriums erfolgte beispielsweise dem „Kampf gegen den internationalen die Anforderung von Transaktionsdaten an SWIFT zum Terrorismus“ – gerät und die Exekutive in ihren Zu- Zweck der Terrorismusbekämpfung auf Grundlage von griffsrechten und ihrer Alleinentscheidungskompetenz „administrative subpoenas“. Die administrativen Be- beschneidet. schlagnahmeanordnungen wurden unter Bezugnahme auf den International Economic Powers Act aus dem Im konkreten Fall zielt meine Kritik auf die Übermitt- Jahr 1977 gerechtfertigt. lung personenbezogener Daten über den internationalen Zahlungsverkehr durch die Society For Worldwide Inter- SWIFT, die über einen Server in den USA verfügt, bank Financial Telecommunication, kurz: SWIFT, an hat die angeforderten Datensätze den US-Behörden US-amerikanische Geheimdienstbehörden seit 2001 überlassen, ohne dass die Beschlagnahmeanordnungen ohne Klärung der Rechtsgrundlage. Die EU-Daten- vollstreckt, die Datenübergabe richterlich überprüft oder schutzbeauftragten teilen diese Rechtsauffassung und die betroffenen SWIFT-Nutzer informiert wurden. Der kritisieren das Verhalten von SWIFT und den ange- Vorstand von SWIFT vertritt die Rechtsauffassung, die schlossenen Banken als Verstoß gegen die europäische Datenweitergabe sei rechtmäßig und erforderlich gewe- Datenschutzrichtlinie. Mit Blick auf die fundamentalen sen, um nicht gegen amerikanisches Recht zu verstoßen kulturellen Unterschiede, die sich schon aufgrund des und somit Sanktionen zu vermeiden. Es existiert eine 9318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Rahmenvereinbarung zwischen SWIFT und den ameri- eine besondere Rolle zu. Hierbei werden auch Fragen (C) kanischen Behörden, die sicherstellen soll, dass die Da- der Aufbewahrzeit der Daten, des Datenzugangs und tenmenge möglichst gering gehalten wird; auch nach Be- Aufsichtsfragen zu klären sein. Die Bundesregierung hat kanntwerden des Sachverhaltes im Jahre 2006 werden angekündigt – mit Blick auf die vorstehenden Anträge –, allerdings weiterhin Daten mit personenbezogenen In- den Deutschen Bundestag über den Fortgang und die auf formationen übertragen. europäischer Ebene zu erzielende Lösung zu unterrich- ten. Die Mitteilung der US-Behörden, wonach das Pro- gramm zur Aufdeckung von Finanzströmen immer nur Gemeinsames Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft dann eingesetzt worden sei, wenn konkrete Anhalts- und der Europäischen Kommission ist es, eine Lösung punkte auf terroristische Aktivitäten von Personen oder zu erreichen, die einerseits dem Erfordernis einer effek- Organisationen vorgelegen hätten, und es sich daher um tiven Bekämpfung des Terrorismus, einschließlich der eine zielgenaue, anlassbezogene Suche nach abgrenzba- Terrorismusfinanzierung, und gleichzeitig den Vorgaben ren Datenmengen gehandelt habe, kann nach unserer des europäischen Datenschutzrechtes, insbesondere der geltenden Rechtsauffassung nicht befriedigen. Zentrale EG-Datenschutzrichtlinie 95/46/EG, sowie einem rei- Informationen, die für eine rechtsstaatliche Kontrolle der bungslosen Zahlungsverkehr Rechnung trägt. Vorgänge unabdingbar sind, stehen weder der Bundesre- gierung noch dem Bundestag zur Verfügung. Dazu gehö- Ich fasse zusammen: Sicher sind wir uns fraktions- ren Auskünfte über: die verwendeten Methoden der übergreifend einig, dass der Datenschutz auch im inter- Datenauswertung, den Umfang der von SWIFT übermit- nationalen Zahlungsverkehr wieder herzustellen ist und telten Daten, die Kenntnis und Beteiligung deutscher dass der Datenschutz sowohl die nationalstaatlichen Banken an der Datenübergabe – grundsätzlich ist Ban- Grenzen überwinden muss, als auch nicht vor den Türen ken die Übermittlung personenbezogener Daten an unserer Verbündeten Halt machen darf. Ich bin froh, dass SWIFT innerhalb der Europäischen Union und in einem sich unserer Regierung unmittelbar nach Bekanntwerden Drittstaat erlaubt, wenn diese im Rahmen der Ausfüh- der Weitergabe von SWIFT-Daten an US-Behörden ers- rung eines Zahlungsauftrages des Kunden erfolgt; kri- tens um Aufklärung kümmert, zweitens aber auch an Lö- tisch zu bewerten ist meines Erachtens allerdings die sungen für diesen komplexen Sachverhalt arbeitet. An Rechtmäßigkeit der Übermittlung von personenbezoge- dieser Stelle habe ich den Applaus des ganzes Hauses nen Daten an Dritte, die als Verstoß gegen die Ver- eingeplant. schwiegenheitspflicht gegenüber dem Auftrag gebenden Kunden und damit als Verletzung der bankvertraglichen Gisela Piltz (FDP): Die Frage, die wir uns immer Nebenpflicht zu bewerten ist –, die Betroffenheit deut- wieder stellen müssen, ist: Wie viele Einschränkungen (B) scher Bankkunden, die Weiterverwendung der Daten. Im um der Sicherheit willen vertragen die Bürgerrechte, ver- (D) Raum steht der Vorwurf, durch die Einsichtnahme US- trägt die Freiheit, die unsere Gesellschaft, unseren Staat, amerikanischer Behörden in zum Teil betriebswirtschaft- unser Grundgesetz ausmacht? Die Annahme, von der die lich sensible Informationen entstünden ausländischen US-amerikanische Administration seit dem 11. Septem- Unternehmen Wettbewerbsnachteile. Das Europäische ber 2001 ausgeht, ist aber umgekehrt: Freiheit gefährdet Parlament hat dazu am 6. Juli 2006 den Entschließungs- die Sicherheit. Von genau diesem Gedanken sind Aktio- antrag B6 – 0391/06 an SWIFT, Banken, die Europäi- nen wie der Zugriff auf die SWIFT-Daten durch die CIA sche Zentralbank, die Kommission und die Ratspräsi- getragen. dentschaft verabschiedet, in dem die Datenherausgabe und -auswertung verurteilt und die Anschuldigung der Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass wir den Wirtschafts- und Industriespionage erhoben werden. Er- Terrorismus mit aller Kraft bekämpfen müssen. Aber wir mittlungen des belgischen Justizministeriums und der dürfen doch dabei nie aus den Augen verlieren, dass der belgischen Financial Intelligence Unit, die aufgrund der Kampf gegen den Terrorismus zugleich auch ein Kampf Organisation der SWIFT nach belgischem Genossen- für die Freiheit ist. Denn es gilt doch gerade, die Frei- schaftsrecht die Zuständigkeit für sich in Anspruch neh- heit, die Bürgerrechte zu bewahren, die uns die Terroris- men, sind noch nicht abgeschlossen. ten wegbomben wollen. Deshalb muss jede Maßnahme, die geeignet erscheint, gegen Terroristen vorzugehen, Das Ziel muss bei der Datenübermittlung an ausländi- genau abgewogen werden gegen die Freiheiten, die da- sche Behörden zur Terrorbekämpfung daher lauten, die für eingeschränkt oder infrage gestellt werden. Grundsätze des Datenschutzes nach den entsprechenden Vorschriften der Europäischen Union, das Bankgeheim- Natürlich ist die Kenntnis der Finanzierung des Terro- nis und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung rismus sehr wichtig, um den Bin Ladens und anderen die privater und gewerblicher Bankkunden im Zusammen- Grundlage ihres verbrecherischen Handelns zu entziehen. wirken mit der Bundesregierung und unseren Partnern in Aber die großangelegte Überwachung des internationalen der Europäischen Union zu wahren. Zahlungsverkehrs durch Zugriff auf die SWIFT-Daten fördert vor allem eines zutage: Millionen von personen- Im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft hat die Bun- bezogenen Daten von unbescholtenen Bürgern, Millionen desregierung mit Unterstützung der Kommission am von unternehmensbezogenen Daten, die unter den Schutz 27. Februar 2007 Sondierungsgespräche mit der US- von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen fallen. Treasury geführt. Für die weitere Diskussion ist die Ver- handlungsbereitschaft der USA von zentraler Bedeu- Es ist ja nicht so, dass Otto Normalbürger heutzutage tung. Weiteren Gesprächen mit den USA kommt daher nicht am internationalen Zahlungsverkehr teilnimmt. Da Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9319

(A) kauft Lieschen Müller Sammlertassen bei ebay in den auch noch das ein oder andere Wertvolle finden, was ei- (C) USA und Hänschen Meier bestellt in Australien ein coo- gentlich gar nicht vom eigentlichen Ziel gedeckt war. les Surfboard. Die Durchführung von internationalen Fi- Denn das Ziel ist laut Auskunft der Amerikaner, Terro- nanztransaktionen ist kein Grund, jemanden per se für risten zu finden und ihnen den Geldhahn zuzudrehen, in- verdächtig zu halten. Dementsprechend gibt es über- dem internationale Finanzströme überwacht werden. haupt keine Begründung, alle SWIFT-Daten im Zugriff Über den Erfolg der ganzen Aktion ist im Übrigen nichts zu haben. Denn damit erhält man zwangsläufig ver- bekannt geworden – wie überhaupt die SWIFT-Überwa- dachtsunabhängig Zugriff auf unendlich viele Daten un- chung insgesamt von verdächtiger Geheimniskrämerei endlich vieler Bürgerinnen und Bürger sowie Unterneh- begleitet wurde. Die Aussagen des US-amerikanischen men. Präsidenten, George W. Bush, es handele sich um Lan- desverrat, über die Angelegenheit öffentlich zu berich- Das steht eklatant im Widerspruch zu den Grundsät- ten, sind in diesem Zusammenhang bezeichnend. Umso zen des deutschen und europäischen Datenschutzrechts. schlimmer ist es, dass sich die Bundesregierung an die- Über die Einhaltung dieser Grundsätze zu wachen, wäre ser Vertuschung beteiligt und nicht schon beim Bekannt- Aufgabe der Bundesregierung gewesen – spätestens mit werden erster Hinweise interveniert hat. Zumindest er- der Information des Innenministeriums und des Finanz- staunlich ist auch, dass die Bundesbank bereits seit 2002 ministeriums durch die US-Botschaft am Vorabend der über den Zugriff auf die SWIFT-Daten informiert war, Berichterstattung in der „New York Times“ im Juni ver- gangenen Jahres hätte die Bundesregierung das Problem wie die Staatssekretärin Barbara Hendricks auf meine angehen müssen. Es ist ein Unding, dass die Bundesre- parlamentarischen Fragen ausführt, aber die Bundes- gierung es nicht für nötig erachtete, unverzüglich das regierung angeblich davon vor dem 22. Juni 2006 nichts Parlament in Kenntnis zu setzen, um den Vorgang aufzu- wusste. Das sollte nach meiner Auffassung auch die klären und den Missstand zu beheben. Die Bundesregie- Bundesregierung bedenklich stimmen, dass Daten deut- rung hat es sträflich vernachlässigt, die personenbezoge- scher Bürgerinnen und Bürger in großem Stil an ihr vor- nen Daten ihrer Bürgerinnen und Bürger insbesondere bei und ohne Einhaltung rechtsstaatlicher Regularien im besonders sensiblen Feld der Finanztransfers zu von einem ausländischen Staat gesammelt und in wel- schützen. Der Schutz der Bankdaten ist Conditio sine cher Art und Weise auch immer verwertet wurden und qua non für das Vertrauen der Menschen in den Finanz- werden. An dem gesamten Fall wird vor diesem Hinter- verkehr. Wenn wir die Lissabonstrategie ernst nehmen grund eine Geringschätzung und Missachtung der Bür- und Europa zum dynamischsten Wirtschaftsraum der gerrechte überdeutlich, die die Politik der Bundesregie- Welt machen wollen, dann werden internationale Trans- rung leider ohnehin prägt, insbesondere wenn es um eine aktionen zunehmen, weil sich Bürgerinnen und Bürger vermeintliche oder tatsächliche Steigerung der inneren (B) ebenso wie Unternehmen verstärkt über nationale Gren- Sicherheit geht. (D) zen hinweg wirtschaftlich betätigen. Wenn aber zugleich Die Bundesregierung ist in der Pflicht, insbesondere die Menschen und Unternehmen befürchten müssen, da Deutschland derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne- dass ihr internationales Engagement zu Bespitzelung hat, gegenüber den Vereinigten Staaten keinen Zweifel führt, noch dazu in einer Weise, bei der die Betroffenen daran zu lassen, dass die Überwachung der SWIFT-Da- keine Auskunftsansprüche und keine Löschungs- oder ten nicht gebilligt wird, und sich zügig und nachdrück- Berichtigungsansprüche haben, dann kommt die Dyna- lich dafür einzusetzen, dass der Zugriff durch amerikani- mik zum Erliegen. sche Sicherheitsbehörden umgehend beendet wird und Es geht dabei einmal um den Schutz der personenbe- dass bereits vorhandene Daten gelöscht werden. zogenen Daten, zum anderen aber auch um den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Eine Über- Um derartige Vorfälle für die Zukunft zu unterbinden, wachung des internationalen Finanzverkehrs öffnet der müssen Lösungen auf internationaler Ebene gefunden Industrie- und Wirtschaftsspionage Tür und Tor. US- werden, um den Schutz der Bürgerrechte, zu denen auch amerikanische Behörden erhalten Zugriff auf die Identi- die informationelle Selbstbestimmung gehört, zu gewähr- tät des Überweisenden, des Empfängers, des Verwen- leisten. Nach den Flugpassagierdaten und der Auswertung dungszwecks sowie der Summe der Überweisung. Da- der Telekommunikationsverbindungsdaten durch US- raus lassen sich ganz erhebliche Rückschlüsse auf amerikanische Behörden zeigt auch der Fall der SWIFT- Wirtschaftsunternehmen und deren Geschäftspartner zie- Daten, dass dringender Handlungsbedarf besteht, damit hen. Machen wir uns doch nichts vor: Nicht erst, seit der nicht durch die internationale Zusammenarbeit zur Be- Generaldirektor für Justiz und Inneres der EU-Kommis- kämpfung des Terrorismus die Bürgerrechte in Europa sion, Jonathan Faull, erklärte, dass es den USA nicht nur nach und nach ausgehöhlt werden. Dass dabei der We- um Terrorismusbekämpfung geht, ahnen wir, dass hier sentlichkeitsgrundsatz, wonach über schwerwiegende auch ganz handfeste wirtschaftliche Interessen eine Grundrechtseingriffe jedenfalls immer das Parlament zu Rolle spielen. entscheiden hat, auch von der Bundesregierung missach- tet wird, da nicht einmal eine Information von sich aus Auch, wenn Jonathan Faull ebenfalls erklärte, es gehe erfolgte, ist dabei besonders zu kritisieren. auch der EU nicht nur um den Datenschutz, so ist das doch der Aspekt, der ganz zentral ist. Der Zugriff auf die Die Bundesregierung muss weiterhin die EU-Ratsprä- SWIFT-Daten gleicht einer Schleppnetzfahndung: Alles, sidentschaft nutzen, um im Bereich der innergemein- was zufällig des Weges kommt, landet erst einmal im schaftlichen Strafverfolgung klare Regeln für den Daten- Netz. Und beim Aussortieren kann man ja vielleicht schutz aufzustellen. 9320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Datenschutz und Ban- führt wird. Dazu müssen wir eng mit unseren Verbünde- (C) ken, für Die Linke ist das ein Bereich, den wir sehr differen- ten zusammenarbeiten. Vor allem die transatlantische ziert betrachten. Sie wissen: Wir sehen einerseits das so- Zusammenarbeit mit unseren US-amerikanischen Freun- genannte „Bankgeheimnis“ sehr kritisch. Ich spreche den spielt hier eine zentrale Rolle. Die Kooperation mit hier vom „sogenannten Bankgeheimnis“, weil wir alle wis- den Vereinigten Staaten von Amerika ist unverzichtbar. sen: Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht gibt es kein allgemeines gesetzliches Bankgeheimnis. Es ist – sieht Doch ist der Kampf gegen den Terror nur dann glaub- man von § 30 a Abgabenordnung ab, dessen Reichweite würdig, wenn die europäischen Staaten ebenso wie unser sehr umstritten ist – nicht viel mehr, aber auch nicht viel Partner, die USA, hierbei rechtsstaatliche Prinzipien weniger als die Zusage der Bank an den Kunden: Ja- achten. Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Bürger- wohl, ich gehe mit deinen Daten vertraulich um. und Freiheitsrechte sind der Maßstab unseres Handelns – und sie müssen es bleiben. Wenn wir die Bürger- und Während wir uns da grundsätzlich durchaus vorstellen Persönlichkeitsrechte der Menschen einschränken, dann könnten, einiges zu ändern, sagen wir im konkreten Fall: spielen wir den Feinden der freien Welt in die Hände. Hier muss bestehenden Datenschutzregeln eindeutig zur Durchsetzung verholfen werden. Was wir hier beobachtet Um die Persönlichkeitsrechte zu sichern, ist ein effek- haben, hat nichts zu tun mit unserer wohlbegründeten tiver Datenschutz unerlässlich. Der Datenschutz darf Position, dass in anderen Bereichen das „Bankgeheimnis“ also im Zuge der Terrorismusbekämpfung nicht miss- durchaus zu relativieren ist. Hier wurden ohne Wissen achtet oder sogar außer Kraft gesetzt wird. Leider hat es der Bankkundinnen und -kunden in umfangreichem in letzter Zeit Fälle gegeben, in denen die Datenschutz- Ausmaß sensible Daten weitergegeben. Hier wurde gegen standards der Bürger und Bürgerinnen der EU ausge- Datenschutzrecht verstoßen. Das kann nicht toleriert höhlt wurden. Einer dieser Fälle ist die sogenannte werden. Hier haben Aufsichtsbehörden beide Augen zu- SWIFT-Affäre, auf die sich die vorliegenden Anträge gedrückt – auch das kritisiert Die Linke. beziehen. Das alles hat nichts mit einer – steuerpolitisch fundier- Die Society for Worldwide Interbank Financial Tele- ten und datenschutzrechtlich abgesicherten – Relativierung communication, SWIFT, ist ein privates Unternehmen in des sogenannten „Bankgeheimnisses“ zu tun, wie wir sie Bankenbesitz. Ende Juni 2006 wurde bekannt, dass US- gleichzeitig fordern. Daher sagen wir klar: Auch wir sehen amerikanische Behörden, darunter auch die Geheim- hier Handlungsbedarf. Besonders bedenklich ist für uns dienste, seit Jahren Transaktionsdaten der SWIFT be- dabei, dass die zuständigen Aufsichtsbehörden in der schlagnahmen. Es heißt, diese hochsensiblen Daten die- Bundesrepublik wie auch auf EU-Ebene für dieses nen zur Recherche nach geheimen Finanzquellen von Thema nicht hinreichend sensibilisiert zu sein scheinen. Terroristen. Dadurch geraten die Gesetzgebung unserer (B) amerikanischen Partner und ihre Mittel zur Terrorismus- (D) Genau in diesem Punkt sehen wir auch bei den Anträgen bekämpfung in Konflikt mit unseren europäischen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Rechtsstandards. FDP Diskussionsbedarf: Die Bankenaufsicht wird in der EWU schwerpunktmäßig von den nationalen Finanzauf- SWIFT mit Sitz im belgischen La Hulpe unterliegt sichtsbehörden durchgeführt, nicht von den Zentralbanken. belgischen und damit – in Umsetzung der EU-Daten- Die Finanzaufsichtsbehörden haben – das wissen wir schutzrichtlinie – europäischen Rechtsstandards. Das ist alle – den entscheidenden Vorteil, dass sie im Gegensatz Fakt. Offensichtlich sind im Vorfeld der Datentransfers zu den Zentralbanken vom Einfluss demokratischer notwendige rechtliche Prüfungen nicht unternommen Kontrolle eben nicht systematisch abgeschottet sind. Er- worden. Dies führte dazu, dass im Fall SWIFT eine lauben Sie mir den Gedanken: Vielleicht ist es gerade Missachtung europäischer Datenschutzvorschriften diese Ausrichtung der Zentralbanken – Unabhängigkeit möglich wurde. Auch deutsche Nutzerbanken sind hier und Fixierung auf das Ziel der Geldwertstabilität –, die involviert. Die Deutsche Bank und die Hypo-Vereins- sie, zum Beispiel für Datenschutzfragen, so unsensibel bank sind im SWIFT-Vorstand vertreten. Sie hätten dafür haben werden lassen. Sorge tragen müssen, dass deutsche und die europäische Datenschutzstandards gegenüber den USA eingehalten Natürlich, es sind die Zentralbanken, denen die EU- werden. Das haben sie aber nicht getan. Datenschutzbeauftragten eine präziser definierte Rolle bei der Datenschutzkontrolle zugewiesen haben. Und na- Anscheinend fehlt es sowohl bei SWIFT als auch bei türlich, die europäischen Zentralbanken sind bereits heute den Nutzer- und den Zentralbanken an der notwendigen mit einem Sitz im SWIFT-Aufsichtsgremium vertreten. Sensibilität, wenn es um den Schutz der Daten ihrer Vor dem Hintergrund meiner Bedenken rege ich an: Wir Kunden geht. Es besteht ein enormes Aufsichtsproblem sollten in den kommenden Diskussionen noch einmal innerhalb von SWIFT, welches dazu führte, dass die Da- darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoller sein könnte, ten der Kunden ungeschützt weitergegeben wurden. Bis auf die nationalen Bankaufseher – also hier die BaFin – heute ist unklar, welche und wie viele Daten übermittelt zu setzen, anstelle die Diskussion von vorneherein aus- wurden. Ebenso ist unklar, wie die US-Behörden die ge- schließlich auf die Zentralbanken zu begrenzen. sammelten Daten eingesetzt haben. So verspielt man Vertrauen, das für den Finanzstandort Deutschland bzw. Europa unerlässlich ist. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Kampf gegen die weltweiten Netzwerke des Terro- Die Bundesregierung muss daher dringend handeln. rismus ist nur dann effektiv, wenn er international ge- Im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft muss sie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9321

(A) gemeinsam mit den anderen EU-Mitgliedstaaten dafür Anlage 11 (C) sorgen, dass die bisherige Praxis des Datentransfers von SWIFT an die Vereinigten Staaten schnellstmöglich ein- Zu Protokoll gegebene Reden gestellt wird. zur Beratung Von der US-Regierung erwarten wir eine umfassende – Antrag: Bioethische Grundsätze auch bei Aufklärung der SWIFT-Affäre. Aufklärung erwarten wir Arzneimitteln für neuartige Therapien si- konkret zur ausgewerteten Datenmenge, zu den Verar- cherstellen beitungsmethoden, zur Speicherdauer und zur Löschung von Daten. Der genaue Inhalt der Übereinkunft zum – Beschlussempfehlung und Bericht zu der Datenschutz, die zwischen dem US-Finanzministerium Unterrichtung: Vorschlag für eine Verord- und SWIFT getroffen wurde, muss endlich offengelegt nung des Europäischen Parlaments und des werden. Rates über Arzneimittel für neuartige The- rapien und zur Änderung der Richtlinie Außerdem fordern wir die Bundesregierung auf, die 2001/83/EG und der Verordnung (EG) Zuständigkeiten und Aufsichtspflichten auf europäischer Nr. 726/2004 (inkl. 15023/05) ADD 1 und nationaler Ebene bei SWIFT und den beteiligten Banken konsequent zu klären. Welcher Aufsichtsrat, (Tagesordnungspunkt 22 a und b) welcher Vorstand würde denn so billig davonkommen, wenn er illegale Aktivitäten seiner Gesellschaft nicht an- Hubert Hüppe (CDU/CSU): Wir verzeichnen wis- prangert? senschaftliche Fortschritte bei neuartigen Therapieme- Schließlich muss dringend untersucht werden, ob bei thoden, vor allem bei Gewebezüchtungen, dem soge- den Transfers auch gezielt Daten zum Zweck der Wirt- nannten Tissue-Engineering, und Zelltherapien. Aber schaftsspionage ausgewertet wurden. Auch dieser Punkt auch die Gentherapie könnte nach den Rückschlägen der ist von größter Bedeutung für den Schutz europäischer Vergangenheit wieder mehr Bedeutung erlangen. Bei- Unternehmen vor illegalen Konkurrenzaktivitäten. Die- spielsweise lässt sich aus adulten Stammzellen der Haar- ser Schutz ist ein integraler Bestandteil der Rechtssicher- wurzel eines Patienten Haut züchten, die erfolgreich heit, die wir unserer Wirtschaft schuldig sind. Wunden verschließt. Es können Verbrennungen durch sogenannte allogene Zelltherapie mit aufbereiteten Haut- Die EU-Datenschutzbeauftragten schlagen im Zusam- zellen eines Zellspenders behandelt werden. Es gibt viel- menhang mit der SWIFT-Affäre vor, die Aufsichtspflicht versprechende klinische Studien zur Behandlung von der Zentralbanken – also der Bundesbank und der Euro- Herzinfarkten mit adulten Stammzellen aus dem Kno- päischen Zentralbank – auch bei den datenschutzrecht- (B) chenmark des Patienten. (D) lichen Belangen klar zu definieren und sie explizit zu verpflichten, die Datenschutzbehörden rechtzeitig zu in- Es ist gut, dass es solche Fortschritte gibt. Allerdings formieren. Wir unterstützen diese Vorschläge ausdrück- fehlt bisher für diese neuartigen Therapien ein geeigne- lich. Wenn diese Vorschläge umgesetzt werden, können ter gesetzlicher Rahmen in der Europäischen Union. We- wir eine Transparenz erreichen, die einen Fall wie die der Arzneimittel- noch Medizinprodukterecht bieten SWIFT-Affäre künftig verhindern würde. eine zufriedenstellende Regelung. Der Verordnungsvor- schlag der Europäischen Kommission wird intensiv in SWIFT ist leider nur ein Beispiel dafür, dass in der den Ausschüssen des Europäischen Parlaments beraten, Kooperation zwischen der EU und den USA noch viel er ist auch Grundlage der vorliegenden Beschlussemp- Klärungs- und Regelungsbedarf besteht. Ein anderes fehlung des Gesundheitsausschusses. Beispiel ist die Weitergabe von Fluggastdaten. Hier wird nach der Intervention des Europäischen Gerichtshofes Die Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschus- derzeit ein neues Abkommen zwischen der EU und den ses und der vorliegende Antrag der Grünen spiegeln eine USA verhandelt. Auch hier muss dem Datenschutz Ge- Diskussion im Gesundheitsausschuss wider, in der wir nüge getan werden. keinen unüberwindlichen Dissens haben. Im Gegenteil: Bereits im Ausschuss haben wir Einigkeit festgestellt Es ist dringend notwendig, dass wir in der Koopera- hinsichtlich der Intention unserer Forderung, dass die in tion mit Drittstaaten europäische Datenschutzstandards Deutschland bestehenden ethisch begründeten Regelun- sichern. Die EU und die USA müssen schnellstmöglich gen durch die Verordnung nicht relativiert oder gar un- einen Weg finden, effektiv zu kooperieren, ohne dabei terlaufen werden. Diese Formulierung wurde letztlich rechtsstaatliche Prinzipien auszuhöhlen. Nur so können auch von den Grünen unterstützt. wir den Terror rechtsstaatlich und glaubwürdig bekämp- fen. Die umgehende Aufklärung der SWIFT-Affäre ist Wir haben damit gemeinsam eine Position umschrie- ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Auch im Inte- ben, die der Antrag der Grünen heute in einigen, das resse der Bürgerinnen und Bürger muss der Datenschutz räume ich gerne ein, bedeutenden Punkten noch einmal im internationalen Zahlungsverkehr wiederhergestellt ausbuchstabiert. werden. Wir stimmen darin überein, dass embryonale Stamm- Vertrauen zu schaffen, das ist zwingend erforderlich zellen aus dem Geltungsbereich der Verordnung ausge- für den Erhalt einer guten internationalen Zusammenar- schlossen werden sollten. Denn hier gilt es, den unter- beit und für den Erhalt eines attraktiven Finanzstandorts schiedlichen Sichtweisen der Mitgliedstaaten in diesem Europa. Bereich Rechung zu tragen und die Rechte der nationa- 9322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) len Gesetzgeber zu wahren. Lassen Sie mich anfügen: niemand abschätzen kann. Unter neuartigen Therapien (C) Therapeutika auf Basis embryonaler Stammzellen sind werden zumeist verstanden: die Zelltherapie, bei der nicht einmal am Horizont zu erkennen, und nach allem, Zellen außerhalb des menschlichen Körpers präpariert was derzeit absehbar ist, sind sie sehr unwahrscheinlich, und in erkrankte Organe eines Patienten zurückver- auch angesichts des stetig wachsenden therapeutischen pflanzt werden; die Gentherapie, also das Einfügen von Einsatzes adulter Stammzellen. Es ist aber dennoch rich- Genen in die Zellen eines Patienten zur Behandlung von tig, dass wir unsere auch ethisch begründete Position Erbkrankheiten sowie das Tissue Engineering. Beim zum Ausdruck bringen. Letztgenannten werden Gewebe kultiviert, um sie dann einem Patienten zu implantieren. Wir wollen weiterhin, dass Produkte, die auf Eingrif- fen in die menschliche Keimbahn beruhen, nicht zuge- Bisher gibt es allerdings noch kein marktfähiges Arz- lassen werden. Denn eine solche Zulassung würde dem neimittel für eine solche neuartige Therapie. Das wird europaweiten Konsens gegen Eingriffe in die menschli- sich aber ändern! Es gibt bereits zahlreiche Forschungs- che Keimbahn widersprechen. Gleichermaßen müssen projekte und klinische Studien zu neuartigen Therapien, Produkte, die auf Zellen und Geweben von Mensch- und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Zu- Tier-Hybriden oder Chimären beruhen, von der Zulas- lassungsstellen mit konkreten Anträgen auseinanderset- sung ausgeschlossen werden. zen müssen. Bis dahin müssen wir eine vernünftige Das Prinzip der Nichtkommerzialisierung des Rechtsgrundlage geschaffen haben, und zwar auf euro- menschlichen Körpers ist nicht nur ein ethischer Grund- päischer Ebene. Denn bisher herrscht in Europa wahrlich satz, sondern dient insbesondere auch dem Schutz poten- ein heilloses Durcheinander: In einigen Mitgliedstaaten zieller Spender. Wir wollen daher, dass es auch in der unterliegen neuartige Therapien dem Arzneimittelrecht, derzeit diskutierten EU-Verordnung umfassend gewähr- in anderen dem Medizinprodukterecht oder dem Trans- leistet ist und lediglich eine Kostenerstattung bei der plantationsrecht. Nur eines ist den unterschiedlichen Zell- und Gewebespende zugelassen wird. Rechtsgrundlagen gemein: Sie sind nicht in der Lage, die Arzneimittel für neuartige Therapien adäquat zu er- Unsere Haltung findet eine wichtige Stütze in dem fassen. Beschluss des Rechtsausschusses des Europäischen Par- laments vom Juli vergangenen Jahres, den auch die Kol- Diese Situation ist nicht nur für die Hersteller von leginnen und Kollegen der EVP/ED-Fraktion und viele Nachteil, die mit einem schier unüberwindbaren Büro- andere im Europäischen Parlament fraktionsübergrei- kratieaufwand konfrontiert sind, sondern auch für die fend unterstützt haben. Patientinnen und Patienten, denen auf diesem Weg die Möglichkeiten modernster Heilmethoden vorenthalten (B) Es ist bedauerlich, dass heute die Verhandlungen in werden. Aus diesem Grund brauchen wir eine einheitli- (D) Brüssel vorläufig gescheitert sind, weil der Minsterrat che europäische Regelung. Zulassungen für neuartige sich geweigert hat, über die Position des Rechtsaus- Medikamente sollen in Zukunft überall in der EU nach schusses des Europäischen Parlaments zu sprechen. einheitlichen Standards ablaufen. Deswegen brauchen wir eine europäische Verordnung zu diesem Thema, und Wir wissen und begrüßen, dass die Bundesregierung ich hoffe inständig, dass die Kollegen im Europäischen im EU-Gesundheitsministerrat zielstrebig auf die Verab- Parlament sich auf einen tragbaren Kompromiss einigen schiedung des Verordnungsvorschlages hinarbeitet und werden und der Rat genauso wie die Kommission kon- unter deutscher Präsidentschaft eine Einigung anstrebt. struktiv an einer Lösung mitarbeitet. Ich bin mir sicher, Die Bundesregierung hat dabei auch die Probleme des dass die deutsche Ratspräsidentschaft ihren Teil zu einer Mittelstandes im Auge, und auch im Interesse kleiner einvernehmlichen Regelung beitragen wird. und mittlerer Unternehmen unterstützen wir die Bemü- hungen der Bundesregierung zugunsten der Option einer Aus Sicht der SPD muss im Mittelpunkt allen gesetz- nationalen Zulassung, insbesondere für autologe Präpa- geberischen Handelns immer die Sicherheit und Qualität rate. der Arzneimittel für neuartige Therapien stehen. Genauso Die Bundesregierung kann sich darüber hinaus auch wie bei herkömmlichen Arzneimitteln muss der Nutzen im Umgang mit den ethisch sensiblen Fragen und bei der für die Patientinnen und Patienten eindeutig nachgewie- Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips unseres Rückhalts sen, und müssen die Nebenwirkungen bekannt sein. Ge- sicher sein. Der Antrag der Grünen dokumentiert, dass rade beim bereits erwähnten Tissue Engineering ist im dieser Rückhalt nicht an Fraktionsgrenzen gebunden ist. Sinne der Patientensicherheit eminent wichtig, dass das Gewebe bis zum ursprünglichen Spender nahtlos zurück- verfolgt werden kann. Andernfalls kann weder Sicherheit Dr. Marlies Volkmer (SPD): Auch wenn Arzneimit- noch Qualität konsequent gewährleistet werden. Zudem tel für neuartige Therapien bisher in der Öffentlichkeit würde das Fehlen von Transparenz dem kommerziellen noch weitgehend unbekannt sind, so wecken sie dennoch Missbrauch Tür und Tor öffnen. große Hoffnungen – aber auch erhebliche ethische Be- denken. Einerseits erhoffen wir uns, mithilfe der Bio- Neben der Gewährleistung von Qualität und Sicher- technologie neue Antworten auf viele bisher unheilbare heit spielen die ethischen Grenzen aus unserer Sicht eine Krankheiten wie Parkinson zu finden, andererseits entscheidende Rolle. Es gibt gerade in der Biotechnolo- schrecken wir zum Beispiel davor zurück, Eingriffe in gie Grenzen, die wir niemals überschreiten dürfen. den genetischen Code vorzunehmen, die nicht wieder Glücklicherweise herrscht zumindest in Europa weitest- rückgängig gemacht werden können und deren Folgen gehend Konsens darüber, was nicht erlaubt sein sollte. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9323

(A) Dazu zählen insbesondere Eingriffe in die menschliche ner EU-Verordnung über Arzneimittel für neuartige The- (C) Keimbahn, das Verbot sogenannter Chimären oder Hy- rapien beteiligt. Nach dem Vorschlag der Europäischen bride – also Mischlebewesen zwischen Mensch und Tier – Kommission handelt es sich dabei um die Gentherapie, sowie die Kommerzialisierung des menschlichen Kör- die Zelltherapie und das sogenannte Tissue-Engineering, pers und seiner Bestandteile. Ich würde es begrüßen, also die Herstellung von Produkten zur Gewebeersatz- wenn diese Verbote nicht den Mitgliedstaaten überlassen therapie. Diese neuartigen Therapien sind zurzeit weder werden, sondern EU-weit ausgesprochen werden. Denn durch das Arzneimittelrecht noch durch das Medizinpro- schließlich ist die Europäische Union ja eine Gemein- dukterecht zufriedenstellend geregelt und gefördert. schaft mit gemeinsamen Werten. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, dass künftig die Die Grünen plädieren in ihrem Antrag zu den Arznei- Zulassung von Arzneimitteln für neuartige Therapien mitteln für neuartige Therapien dafür, dass embryonale sowie die Kriterien für die Sicherheit solcher Produkte Stammzellen aus dem Geltungsbereich der Verordnung europaweit einheitlich geregelt werden sollen. Dies ist ausgeschlossen werden. Das deutsche Embryonen- für einen funktionierenden Binnenmarkt mit sicheren schutzgesetz verbietet die Herstellung und die Zerstö- Arzneimitteln sehr wichtig. rung von menschlichen Embryonen zu Forschungszwe- Gleichzeitig müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit cken. In anderen europäischen Ländern wird die kleiner und mittlerer Unternehmen im Blick haben, die Forschung mit embryonalen Stammzellen hingegen libe- gerade in Deutschland in diesem Bereich tätig sind. Des- raler gehandhabt. halb setzen wir uns auch für die Möglichkeit einer natio- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von nalen Zulassung für neuartige Therapien ein; denn ge- Bündnis 90/Die Grünen, was würden Sie denn mit einem rade für kleine und mittelständische Unternehmen ist zu Ausschluss aus dem Geltungsbereich der Verordnung er- erwarten, dass ein zentrales Zulassungsverfahren zu auf- reichen? Ist es nicht besser, wenn die europaweit hohen wendig und zu teuer ist. Wir wollen aber die Marktchan- Sicherheits- und Qualitätsstandards dieser Verordnung cen dieser Unternehmen sichern. Denn sie sind ein be- auch für Forschung an embryonalen Stammzellen gel- sonderer Innovationsmotor – auch dafür, dass Patienten ten? Auch wenn die Mehrheit dieses Hauses die For- eine optimale Therapie bekommen können. Hier sind schung aus ethischen Gründen ablehnt, so kann doch wir also auf der Seite der Bundesregierung. nicht verhindert werden, dass einige EU-Staaten eine an- Wir sind auch auf Ihrer Seite, wenn es darum geht, dere Position vertreten. Wenn dies so ist, dann sollten dass für Krankenhäuser und Unternehmen Erleichterun- wir uns doch zumindest im Sinne des Patientenschutzes gen bei der Herstellung von Medikamenten für individu- für hohe Standards in diesen Ländern einsetzen. Unter elle Patienten gelten sollen, also im Bereich autologer (B) anderem aus diesem Grund werden wir Ihren Antrag ab- oder gerichteter Gewebespenden. (D) lehnen. Aber genug des Lobes; denn leider gibt es auch Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich einen Schattenseiten. So wollen Sie Arzneimittel in Deutsch- weiteren Aspekt der EU-Verordnung ansprechen, der ge- land nicht zulassen, weil sie nicht der hiesigen Ethik ent- rade für mich als Parlamentarierin aus den neuen Bun- sprechen, will heißen: der Ethik der Mehrheit dieses Par- desländern von besonderer Bedeutung ist. Es wurde in laments. Wieder einmal geht es wohl insbesondere um den letzten Jahren viel Geld in die Förderung kleiner, in- embryonale Stammzellen. Wir streiten nunmehr seit Jah- novativer Unternehmen investiert. Nicht nur in den ren darum, in welchem Umfang in Deutschland die For- neuen Bundesländern, die sich nach wie vor in einer sehr schung an embryonalen Stammzellen ermöglicht werden schwierigen Situation befinden, setzen solche Start-ups soll. Wie Sie wissen, sehen wir Liberale langfristig in und kleine und mittelständische Unternehmen wichtige der Stammzellenforschung eine erhebliche Chance der Impulse für die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische medizinischen Forschung, heute unheilbare Krankhei- Entwicklung einer Region. Viele dieser kleinen innovati- ten wie Diabetes, Parkinson oder Mukoviszidose in ven Firmen arbeiten im Bereich der Biotechnologie, mit ihren Ursachen zu erforschen und neue Therapien zu Spezialisierung auf den Bereich Gewebe. Wenn diese entwickeln. Aber auch für die Gewinnung von Organ- Unternehmen in Zukunft nur noch europäische Zulas- gewebe und Organen kann die Stammzellenforschung sungen bekommen können, stellt das für sie einen erheb- eine große Hilfe sein. lichen Mehraufwand dar. Denn meist erstreckt sich das Arbeitsgebiet der Firmen nur auf die Region, in der sie Auf Dauer werden wir auch in Deutschland um ein ansässig sind. Zulassungen nur für Deutschland, wie es klares Ja oder Nein zur Stammzelltechnologie nicht he- bisher gehandhabt wird, reichen diesen Unternehmen rumkommen. Es ist wenig glaubwürdig, uns moralisch vollkommen aus. Es ist wirtschafts- und standortpoli- bedenklich erscheinende Forschungsarbeiten im Aus- tisch völlig inakzeptabel, wenn den Firmen das Leben land durchführen zu lassen. Jetzt wollen Sie auch noch unnötig schwer gemacht wird. Ich plädiere deshalb da- für die Anwendungsergebnisse moderner Medizinfor- für, das Gebot der Subsidiarität zu berücksichtigen und schung eine Mauer an der deutschen Grenze aufbauen. die Möglichkeit der nationalen Zulassung aufrechtzuer- Nur so kann man die Beschlussempfehlung in Ihrem halten. letzten Punkt verstehen. Ich frage Sie: Wollen Sie deutschen Patientinnen und Michael Kauch (FDP): Es ist gut, dass der Deutsche Patienten tatsächlich zumuten, für eine aussichtsreiche Bundestag sich aktiv am Prozess zur Verabschiedung ei- Therapie, die das deutsche Zulassungsverfahren wegen 9324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Ihrer Ethik nicht bestanden hat, ins Ausland zu reisen? sam machen, dass besonders innovative Arzneimittel, (C) Wollen Sie wirklich schwerkranken Menschen eine in zum Beispiel Gentherapeutika, somatische Zelltherapeu- anderen EU-Ländern zugelassene Therapie verwehren, tika und Produkte aus Gewebezüchtungen, damit ge- die die einzige Aussicht auf Linderung oder gar Heilung meint werden. Und spätestens dann wird man hellhörig. ihrer Leiden ist? Ich frage das insbesondere Sie, werte Denn dazu zählen biotechnologische Anwendungen auf Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen; menschliches Gewebe unterschiedlichster Art. denn die Forderungen in Ihrem Antrag bedeuten genau Die Forschung erzielt in diesem Bereich revolutionie- das – nur auf einem anderen Weg –, da Sie Stammzell- rende Fortschritte, für viele Erkrankungen und Leiden produkte gleich ganz aus dem europäischen Verfahren kann dies eine ungeahnte gesundheitliche Verbesserung ausschließen wollen. bedeuten. Darum sollten wir gerade die in Deutschland Ein deutscher Sonderweg ist keine Lösung. Wenn uns sehr aktiven und innovationsfreudigen kleinen und mitt- daran gelegen ist, EU-weit ausgewogene ethische Krite- leren Unternehmen fördern und sie nicht durch bürokra- rien durchzusetzen, dann wäre es ein Irrweg, sich aus der tische Auflagen in EU-Verordnungen behindern. Diskussion zu verabschieden und sich darauf zurückzu- Andererseits darf man aber nicht aus den Augen ver- ziehen, dass wir unsere ethischen Vorstellungen in einem lieren, dass diese biotechnologische Forschung mit nationalen Reservat pflegen und vor der „bösen“ weiten menschlichem Gewebe auch Ausmaße annehmen kann, Welt da draußen unsere Augen schließen. Solch ein die ethisch höchst bedenklich sind. Rückfall in die Kleinstaaterei ist nicht im Interesse der Patienten, dient nicht dazu, einen vernünftigen ethischen Wir tragen als Parlamentarier Verantwortung dafür, Kompromiss zu finden. Er vereitelt wichtige medizini- Regelungen für die Züchtung menschlichen Gewebes sche Innovationen für die Patienten und sorgt höchstens vorwegnehmend einzuführen, ohne konkret zu wissen, dafür, dass der Technologiestandort Deutschland voll- welche Entwicklungen da auf uns zu kommen. Denn die ends ins Hintertreffen gerät. Biotechnologie könnte durchaus nicht nur mit Haut, Knorpel oder Knochen hantieren, sondern in nicht ferner Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf einen ideo- Zukunft auch künstliche menschliche Organe, Mensch- logischen Reflex des Grünen-Antrags eingehen: auf das Tier-Hybride oder andere Mischwesen erzeugen. Durch Thema „Anonymität der Gewebespende“. Diese ist den biotechnologischen Fortschritt kann in Zukunft auch ethisch ja nur relevant bei der Lebendspende, und hier Frankenstein machbar werden, und das dürfen wir nicht muss man stärker differenzieren, als es die Grünen in ih- zulassen. rem Antrag tun. Vor allem kann man die Grundsatzfrage von Geweberichtlinie und Gewebegesetz nicht en pas- Die Fraktion Die Linke begrüßt es, dass die Koali- (B) sant durch diese Richtlinie, in der es nur um einen Teil- tionsfraktionen in der geplanten EU-Verordnung nicht (D) bereich des Gewebes geht, regeln. Die Anhörung zum nur Segen für Patientinnen und Patienten vermuten, son- Gewebegesetz hat gezeigt, dass Anonymität bei der dern die bio-ethischen Probleme mitbedenken. Die Knochenmarkspende kontraproduktiv ist und in der Re- vorgelegte Entschließung und die darin enthaltenen Auf- produktionsmedizin gegen die Rechte der aus der forderungen an die Bundesregierung gehen im Kern Spende hervorgehenden Kinder verstieße. All das ist durchaus in die richtige Richtung. Wir erwarten aber in noch ein Grund, den Antrag vom Bündnis 90/Die Grü- einigen Punkten eine deutlichere und verbindlichere nen abzulehnen. Positionierung. Damit Forschung und Herstellung dieser speziellen Arzneimittel für neuartige Therapien nicht in Frank Spieth (DIE LINKE): Es ist sehr bedauerlich, die falsche Richtung gelenkt und technologische Heils- dass die Beschlussempfehlung zum Thema: „Verord- versprechen vorwärts getrieben werden, muss die Bun- nung des Europäischen Parlaments und des Rates über desregierung vom deutschen Parlament beauftragt wer- Arzneimittel für neuartige Therapien“ nur am Rande be- den, sich in Brüssel für Folgendes stark zu machen: In handelt und abgestimmt wird. Dies ist deshalb bedauer- den Ländern, in denen es aus ethischen Gründen engere lich, weil Brüssel in Zukunft die Verantwortung für bio- gesetzliche Regelungen gibt, müssen diese auch zukünf- ethisch höchst brisante Sachverhalte übertragen bekom- tig weiter gelten dürfen! Produkte, die durch Eingriffe in men soll. Die nationalstaatliche Politik hat dann bei der die menschliche Keimbahn erzeugt werden, dürfen nicht Zulassung dieser Mittel nichts mehr zu regeln. Damit be- am Markt zugelassen werden! Züchtungen, die halb aus steht die Gefahr, dass die in den einzelnen Staaten sehr Mensch und halb aus Tier bestehen, dürfen nicht in Ver- unterschiedlichen ethischen Grundhaltungen obsolet kehr gebracht werden! Dies sollte die Bundesregierung werden. in Brüssel durchsetzen oder es zumindest intensiv versu- chen. Darum müssen wir als Abgeordnete, als Bundestag, der Bundesregierung eines in aller Deutlichkeit mit auf Vor allem sollte sich die Bundesregierung dafür ein- den Weg nach Brüssel geben, nämlich alles zu unterneh- setzen, dass über diese Verordnung für ganz Europa ver- men, um zu verhindern, dass die bei uns geltenden ethi- bindlich geregelt wird, dass die Spende von Gewebe und schen Werte durch Europa nicht verändert beziehungs- Zellen nur absolut freiwillig und unbezahlt erfolgen weise umgekrempelt werden können. darf! Der Handel mit Geweben und Zellen unter Ausnut- zung von Armut und mit dem einzigen Ziel der Profiter- Ich bin sicher nicht der Einzige, der mit dem Titel zielung muss verhindert werden! Doch wenn man den „Arzneimittel für neuartige Therapien“ nicht sofort et- Entwurf für ein Gewebegesetz, den die Bundesregierung was anfangen kann. Deshalb muss man darauf aufmerk- gerade vorgelegt hat, anschaut, dann kann man nur be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9325

(A) dingt optimistisch sein. Die Koalition hat zwar die wei- umstrittenen, hinsichtlich der Stammzellen sogar gesetz- (C) tere Beratung dieses Gesetzentwurfs ausgesetzt, nach- lich verbotenen Therapien in Deutschland zugelassen. dem von allen Seiten massive Kritik geäußert wurde; die geänderte Fassung werden wir entsprechend kritisch be- Die Bundesregierung hat diese Gefahr bisher unver- gleiten. ständlicherweise verharmlost und lediglich gebetsmüh- lenartig auf die Ausnahmeregelung im Entwurf verwie- Wir müssen aufmerksam verfolgen, ob und wie sich sen. Das ist verantwortungslos. Man kann von der die Bundesregierung in Brüssel für den Erhalt der ethi- Bundesregierung erwarten, dass sie sich dafür einsetzt, schen Grundsätze einsetzen wird. Obwohl wir diesen dass die ethischen Maßstäbe insbesondere des Stamm- Entschließungsantrag grundsätzlich unterstützen, hat die zellgesetzes nicht unterlaufen werden. Man kann von ihr Fraktion Die Linke gerade vor dem Hintergrund der auch erwarten, dass sie die Beachtung von ethischen Debatte um das Gewebegesetzes, aber auch einiger in Grundsätzen nicht – wie dies auch beim Entwurf zum der Entschließung fehlender wesentlicher Punkte vor, Gewebegesetz zu beobachten war – mit einem pauscha- sich zu enthalten. len Verweis auf Sicherheitsstandards aushebelt. Wir fordern die Bundesregierung auf: Nehmen Sie die Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Empfehlungen des Rechtsausschusses des Europaparla- Europaparlament wird im April 2007 über eine Verord- ments ernst! Setzen Sie sich bei den anstehenden Ver- nung entschieden, mit der die Zulassung von neuartigen handlungen im Rat dafür ein, dass embryonale Stamm- Gen-, Zell- und Gewebetherapeutika europaweit einheit- zellen aus dem Geltungsbereich der Verordnung lich geregelt werden soll. Die Verordnung wird – wenn herausgenommen werden! Setzen Sie sich dafür ein, sie eines Tages in Kraft tritt – auch in Deutschland direkt dass Produkte, die auf Mensch-Tier-Hybriden oder auf und unmittelbar gelten. Eingriffen in die menschliche Keimbahn beruhen, von Ein hoher Sicherheitsstandard gerade bei neuartigen der Zulassung ausgeschlossen werden! Setzen Sie sich Therapien, bei denen bislang zwangsläufig noch nicht so ferner dafür ein, dass die freiwillige und unbezahlte viele Erfahrungen gesammelt werden konnten wie bei Spende von Geweben und Zellen verbindlich festge- „klassischen“ Arzneimitteln, ist durchaus zu begrüßen. schrieben wird und ihre Beschaffung nicht gewinnorien- Der Verordnungsentwurf hat allerdings ein Problem: Er tiert erfolgt! unterscheidet nicht nach Art der Therapie. Er erfasst da- mit auch solche aus embryonalen Stammzellen, aus Mensch-Tier-Hybriden und solche, die auf Eingriffen in Anlage 12 die menschliche Keimbahn beruhen. Wir halten diese Zu Protokoll gegebene Rede (B) Therapeutika für ethisch nicht zu rechtfertigen und leh- (D) nen es ab, dass sie via Verordnung in Deutschland zuge- zur Beratung des Antrags: Für eine Schließung lassen sind und gehandelt oder angewendet werden dür- des Forschungsendlagers Asse II unter Atom- fen. recht und eine schnelle Rückholung der Abfälle Die Bundesregierung hat hier anscheinend weniger (Tagesordnungspunkt 23) Bedenken. In ihrem Bericht vom 27. Februar dieses Jah- res erklärt sie: Angelika Brunkhorst (FDP): Dem Erkundungsberg- werk Asse ist es zu verdanken, dass wir heute fundierte Alle Arzneimittel für neuartige Therapien sollen zu- Kenntnisse über die Möglichkeiten einer sicheren Endlage- nächst einmal den hohen Sicherheitsstandards, die mit rung von schwach- und mittelradioaktiven Abfällen in der Verordnung festgelegt werden, entsprechen und das Salzstöcken haben. aufwendige zentrale Zulassungsverfahren durchlaufen. Die Mitgliedstaaten selbst sollten dann auf der Basis Nach der Einstellung des Gewinnbergbaus in der eines nationalen ethischen Konsenses in der Lage sein zu Asse im Jahr 1964 waren Hohlräume von insgesamt entscheiden, welche Produkte in ihrem nationalen Be- circa 5 Millionen Kubikmeter aufgefahren, von denen reich angewendet werden. heute noch circa 500 000 Kubikmeter unverfüllt sind. Im So schön wie das klingt – das wird nur leider rechtlich Jahre 1965 wurde die Schachtanlage durch das GSF- nicht möglich sein, solange die Verordnung in der beste- Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit im henden Fassung verabschiedet wird. Auftrag des Bundes erworben, um Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf dem Gebiet der Tiefenlagerung Verordnungen sollen die rechtlichen Regelungen im radioaktiver Abfälle durchzuführen. Im Rahmen dieser Binnenmarkt vereinheitlichen und lassen es aus diesem Arbeiten wurden zur Erprobung von Einlagerungstechni- Grund nur sehr begrenzt zu, dass Mitgliedstaaten kon- ken in der Zeit von 1967 bis 1978 circa 125 000 Gebinde kurrierende eigene nationale Gesetze beibehalten. Vor mit schwachradioaktiven Abfällen und circa 1 300 Gebinde diesem Hintergrund ist bekanntermaßen äußerst umstrit- mit mittelradioaktiven Abfällen eingelagert. Nach 1979 ten, ob Art. 28 des Verordnungsentwurfs, der die Mög- wurden nur noch Forschungs- und Entwicklungsarbeiten lichkeit einer nationalen gesetzlichen Ausnahmerege- ohne radioaktive Abfälle durchgeführt. Ab 1993 wurde lung eröffnen soll, überhaupt rechtlich zulässig ist. Sollte die Projektmittelförderung des Bundes für die seit langer dieser umstrittene Artikel nach Inkrafttreten der Verord- Zeit im Forschungsbergwerk Asse laufenden Großversu- nung vom Europäischen Gerichtshof für unzulässig er- che eingestellt, sodass für das Bergwerk keine Verwen- klärt werden, wären damit auch die genannten ethisch dung bestand. Seit dieser Zeit sind die Arbeiten zur 9326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) Schließung der Schachtanlage aufgenommen und bis heute Ein grundlegendes Prinzip des Endlagerbergbaus sind (C) fortgeführt worden. große Sicherheitsabstände der Grubenbaue zum Nachbar- gebirge am Salzstockrand, während im Gewinnungs- Die Arbeiten in der Schachtanlage unterliegen dem Bun- bergbau die kostengünstige Förderung von Salzen unter desberggesetz und werden von der niedersächsischen Berg- Inkaufnahme von Risiken im Vordergrund steht. behörde genehmigt und überwacht. Durch die Bergaufsicht des Landesamtes für Bergbau, Energie und Geologie Bundesumweltminister , der auch (LBEG) war und ist die niedersächsische Landesregierung versucht, aus der Problematik der Laugenzutritte in der in der Vergangenheit bis heute über alle Ereignisse, Schachtanlage Asse politisches Kapital zu schlagen, verliert Vorgänge und Arbeiten in der Schachtanlage Asse bestens jedwede Glaubwürdigkeit vor dem Hintergrund, dass informiert und an den Entscheidungsfindungen beteiligt. So diese Problematik der niedersächsischen Landesregierung ist das LBEG als Aufsichtsbehörde auch über die Laugen- durch Information der niedersächsischen Bergbehörde zutritte seit 1988 voll informiert. seit 1988 im Detail bekannt war. In der Zeit der von der SPD geführten Landesregierung von Juni 1990 bis Fe- Das Problem des Laugenzutritts ist auf die damalige bruar 2003 hätten also genügend Gelegenheiten für Durchführung des Gewinnungsbergbaus zurückzuführen, Maßnahmen zur Gefahrenabwehr bestanden, sofern da der Salzabbau zu nahe am Salzsattelrand erfolgte. Die denn die Situation auf der Asse von der niedersächsischen leergeförderten Hohlräume aus dem Salzabbau blieben Bergbehörde als ernsthafte Gefährdung angesehen wor- unverfüllt stehen, was zu einer Auflockerung des anstehen- den wäre. den Salzgesteins im Salzsattelrandbereich führte. Sowohl gegen den schon skrupellos zu nennenden Den Lösungszutritten in der Asse II hat man seit 1988 leichtfertigen Umgang mit den Ängsten der Bevölkerung entgegengewirkt, indem man mit Bergwerksresten aus dem als auch gegen den fachlich völlig falschen Bezug zum Kalibergwerk Ronnenberg die Südwestflanke verfüllt Standort Gorleben durch den Umweltminister ist einzu- hat. Die täglich anfallende Lauge – Natriumchlorid – wirken, damit dieser zu einer seriösen und fachlich fun- von circa 12 Kubikmeter hat man bis zum Jahr 2003 dierten Politik zurückkehrt. dem Haldenmaterial aus Ronnenberg zugesetzt, um den Staub zu binden. Die GSF – das Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit – hat am 29. Januar 2007 ihren Abschluss- Im Gesteinsversatz, dem Übergang von Salzgestein betriebsplan, bestehend aus 34 Unterlagen, mit einer ins angrenzende Carnallitgestein, rechnet man mit circa Kurzfassung des Sicherheitsberichts vorgelegt. Diese 40 Prozent Porosität. Um hier Nachlösungsprozesse im Kurzfassung ist eine Populärfassung und wurde voreilig (B) Bergwerk zu vermeiden, wird in den Poren des Versatzes als der eigentliche Sicherheitsbericht angesehen – dies (D) Magnesiumchlorid versetzt. Magnesiumchlorid bewirkt ist aber nicht so. nach Bewertung von Experten ein Gleichgewicht im Gestein. Es greift nicht an, wie Sie, werte Kollegen von Es ist seit 1997 nach IAEA und OECD ein ganzheit- den Grünen, unterstellen. licher Sicherheitsnachweis zu führen, das heißt aber auch zu erörtern, was in der Phase nach der Verfüllung des Im Rahmen der laufenden Stilllegungsarbeiten bzw. Forschungsbergwerks passiert. Der umfassende Sicher- der bergmännischen Verwahrung der Schachtanlage Asse heitsbericht wird noch von einem Expertengremium ist vorgesehen, alle verbleibenden aufgefahrenen Hohl- geprüft. Danach tritt ein komplexes Verfahren ein. Im räume zu verfüllen und Strömungsbarrieren einzubauen, ersten Quartal 2008 tritt man in die öffentliche Erörterung um eine Migration der NaCl-Laugenzuflüsse zu verhindern. ein. Die Unterlagen werden ausgelegt und betroffene Letztendlich, wenn alle geplanten bergbaulichen Maß- Kommunen und Bürger können ihre Einwände vorbringen. nahmen beendet sind, wird die Asse II mit Magnesium- Damit ist die Gleichwertigkeit in der Informationsweise chlorid – in einer Verdünnung – geflutet. Bergrecht/Atomrecht gegeben. Liebe Kollegen von den Grünen, Ihre Forderung nach einer Auslagerung der Abfälle würde nach einer aktuell angefertigten ingenieurtechnischen Untersuchung einen Anlage 13 Zeitraum von 25 Jahren in Anspruch nehmen. Diese Zu Protokoll gegebene Reden 25 Jahre wären mit einer anhaltenden geotechnischen Auflockerung des Salzstockes verbunden. Daraus entsteht Zur Beratung des Antrags: Politische Lösungen das Risiko eines möglichen Verbruchs im Bergwerk oder sind Voraussetzungen für Frieden in Somalia einer drastischen Erhöhung des Salzlösungszutritts. Und (Tagesordnungspunkt 24) all das während der laufenden Untersuchungen. Wollen Sie dieses Risiko wirklich eingehen? Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): Die aktuellen Auch dem Versuch, aus den Erkenntnissen aus dem Geschehnisse in Somalia seit letztem Jahr, die Macht- Forschungsbergwerk Asse II auf Gorleben zu schließen, übernahme durch die Islamischen Gerichte, UIC – Union trete ich entschieden entgegen. Bei der Einrichtung eines Of Islamic Courts – und ihre Vertreibung auch durch äthio- Endlagers werden in einem jungfräulichen Salzstock wie pische Truppen, der Anstieg von Gewalt trotz der ange- Gorleben nur Bruchteile des Asse’schen Hohlraums auf- laufenen Mission der Afrikanischen Union – AMISOM, gefahren. African Union Mission to Somalia – sind erschreckend. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9327

(A) Dass die internationale Gemeinschaft darauf reagiert Somalia niemals ohne oder gegen die islamischen Ge- (C) hat und auch weiter versucht, im Sinne einer friedlichen richte geben können. – Deutlicher kann auch die Rats- Lösung Einfluss zu nehmen, ist richtig und notwendig. präsidentschaft dies nicht ausdrücken, wenn sie zusagt, Ich begrüße die Resolution der Vereinten Nationen 1744 den Prozess politisch und finanziell zu unterstützen, und die Bereitschaft der Afrikanischen Union, sich hier wenn alle wichtigen Beteiligten in vollem Umfang ein- zu engagieren. Dabei verkenne ich nicht die problemati- gebunden werden, darunter die Clan-Ältesten, islami- sche Lage, in der die Mission der AU aktuell ist. Von sche Führer, Vertreter der Wirtschaft, der Zivilgesell- einer Sollstärke von 8 000 Mann kann nur geträumt schaft und Frauen. werden. Diesen letzten Punkt, die „Beteiligung der Frauen“, Die Beteiligung afrikanischer Länder beschränkt sich der in der Erklärung der Präsidentschaft der EU zur Lage im Wesentlichen auf Uganda, und auch hier sind erst in Somalia extra mit aufgeführt ist, begrüße ich aus- 1 300 Mann im Einsatz. Man muss keine Kassandra drücklich. Die nicht gleichberechtigte Lage der Frauen sein, um hier an einem schnellen Erfolg zu zweifeln. in vielen Gebieten in Afrika ist schon oft in anderen Umso mehr ist es wichtig, in aller Konsequenz und ge- Debatten genannt worden. Auch bei der Lösung dieses botenen Eile Schritte hin zu einer politischen Lösung zu Konfliktes ist dies ein wichtiges Element, nicht nur um suchen und zu gehen. in den neu aufzubauenden Strukturen in Somalia Men- Der vorliegende Antrag unterstreicht zu Recht die be- schenrechtsverletzungen und Frauendiskriminierung von sondere Verantwortung Deutschlands. In diesen Mona- Beginn an zu bekämpfen. Es geht auch darum, dass es ten unserer EU-Ratspräsidentschaft können wir wichtige einen Dialog zwischen beteiligten Religionsführern in Weichen stellen, und das geschieht auch. dieser Richtung gibt. Das ist auch ein wichtiges Zeichen für uns im Westen, um zu begreifen, dass das Wort von Die EU hat jüngst wieder ihre Bereitschaft bekräftigt, der „Sharia“ und ihren Vertretern auch in einem kon- sich für einen Prozess der Aussöhnung als Vorausset- struktiven Aussöhnungsprozess seinen Platz haben kann. zung für einen Wiederaufbau staatlicher Strukturen im Lande einzusetzen. Dabei nimmt der „Dialog zur Ver- Der notwendige Dialog der Versöhnung braucht nicht söhnung“ eine Schlüsselrolle ein. Es ist unverzichtbar nur die Beteiligung aller, er braucht auch die Bereit- und richtig, dass die EU in Aussicht gestellte Gelder schaft der internationalen Partner, den Islam und seine wesentlich an die Durchführung dieses Prozesses der Vertreter differenziert wahrzunehmen. Eines der Argu- Aussöhnung bindet. Am Gelingen dieses notwendigen mente islamistischer Demagogen ist, dem Westen eine ersten Schritts ist die EU – sind wir aus Deutschland – aggressive, undifferenzierte Islamphobie vorzuwerfen. aktiv beteiligt. Auch hier in Somalia, wo der Kontakt zwischen west- (B) (D) Die EU und Deutschland im Besonderen gehören zu licher Welt und dem Islam ein besonderes Potenzial hat, jenen – und ich möchte betonen: zu den wenigen – inter- haben wir die Chance, zu zeigen, dass dies nicht stimmt. nationalen Gesprächspartnern, die von den Beteiligten Auf der Grundlage der Menschenrechte – und die Rechte nicht einseitig einer Partei zugeordnet werden und damit der Frauen gehören dazu – gibt es keine Religion, die ihre Fähigkeit zu moderieren und zu unterstützen verlo- unsere Politik bevorzugt oder benachteiligt. ren hätten. Um die politischen Voraussetzungen für das Gelingen eines Aussöhnungsprozesses zu finden, muss Die islamischen Gerichte haben im Augenblick auch nach internationalen Akteuren gesucht werden, die scheinbar auch die beste Chance, mäßigend auf extre- bei den Beteiligten akzeptiert werden. Auch Mitgliedern mistische Tendenzen im Land einzuwirken – ein Grund der Islamischen Liga, zu der auch Somalia gehört, mehr, die moderaten Mitglieder der UIC in den Prozess könnte und sollte hier eine wichtige Rolle zukommen. einzubinden. Die Bereitschaft der Übergangsregierung zu einem solchen Dialog wäre auch ein wichtiges Ele- Aber auch Deutschland ist ein wohl akzeptierter Ge- ment, ihr in der Bevölkerung mehr Rückhalt zu ver- sprächspartner, und ich bin froh, dass unsere Bundes- schaffen. Das Einwirken der EU und der Bundesregie- regierung dementsprechend schon tätig ist. Wir nutzen rung auf Präsident Yussuf ist hier unverzichtbar. Dass dieses gute Ansehen Deutschlands aktuell auch, um die die Versöhnungskonferenz auf Ende April verschoben Bereitschaft für diesen Versöhnungsprozess nachzufra- werden musste, darf nicht den Eindruck erwecken, sie gen und aufzubauen. Daher ist die Bundesregierung seit sei verzichtbar. Dabei knüpfen Vertreter der UIC ihre Wochen in Gesprächen in der Region und in den Nach- Teilnahme auch bei einer Konferenz in Somalia an eine barländern wie zum Beispiel mit der Regierung des Sicherheitsgarantie. Diese Garantie kann im Augenblick Jemen. von der Übergangsregierung realistisch nicht erwartet Das sind aber auch Gespräche mit Vertretern der isla- werden. Das macht noch einmal deutlich, dass in dieser mischen Gerichte. Von den ungefähr elf islamischen Ge- Übergangsphase, an deren Ende eine durch demokrati- richtshöfen werden von Experten zwei als explizit extre- sche Wahlen legitimierte Regierung für ganz Somalia mistisch eingestuft. Die große Mehrheit ist moderat. stehen muss, im Augenblick nur die internationale Ge- Traditionell gehören die Somalis einem gemäßigten sun- meinschaft, die AU, soweit überhaupt möglich, Garant nitischen Islam an. für Sicherheit sein kann. Auf dem Nationalen Forum der Muslimischen Führer Ich halte es auch für richtig, dass die Bundesregierung in Kenia am 26. November 2006 wurde ausdrücklich un- in ihren Bemühungen den Ansatz der Parallelität weiter terstrichen: Es wird eine dauerhafte Lösung der Krise in verfolgt, das heißt: sowohl die Unterstützung des Ver- 9328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) söhnungsprozesses weiter unterstützt als auch auf die Da die Probleme letztlich nur durch den innersomali- (C) Schaffung von Sicherheit durch AMISOM setzt. schen Dialog nachhaltig gelöst werden können, muss al- les unternommen werden, die Versöhnungskonferenz zu Einen weiteren wichtigen Punkt sehe ich darin, dass einem Erfolg zu führen. So ist es auch in der Sicherheits- eine Lösung nur auf regionaler Ebene zu erreichen ist. ratsresolution 1744 vom 20. Februar 2007 festgehalten. Die Situation der Somalis ist nicht zuletzt deshalb so Darin heißt es: komplex, weil wir auch hier wieder vor einem Scherben- haufen der Geschichte stehen: angefangen bei der will- „… ersucht den Generalsekretär. Den Übergangs- kürlichen Grenzziehung in der Kolonialzeit bis hin zu Bundesinstitutionen bei der Durchführung des Kon- Entscheidungen im 20. Jahrhundert, die für die Somalis, gresses der nationalen Aussöhnung sowie darüber aber nicht mit ihnen getroffen wurden. Wir müssen als hinaus in Zusammenarbeit mit der Afrikanischen internationale Akteure begreifen, bei Konflikten dieser Union, der Liga der arabischen Staaten und der Art den Partner zu sehen und nicht ganze Länder oder Zwischenstaatlichen Behörde für Entwicklung bei Völker zu instrumentalisieren. der Förderung eines fortdauernden, alle Seiten ein- schließenden politischen Prozesses behilflich zu Das Rad der Geschichte aber lässt sich nicht zurück- sein. drehen. Die UN-Resolution weist darauf hin, dass es um Derzeit sieht es allerdings nicht danach aus. Denn den Aufbau staatlicher Strukturen in den Grenzen des auch heute wird in Mogadischu geschossen. Mindestens heute bestehenden Somalia geht. Diese Sicherheit muss 15 Menschen kamen bei Hubschrauberangriffen der garantiert bleiben – auch für jene Nachbarn, in deren äthiopischen Armee auf islamische Milizionäre ums Le- Staatsgebiet große somalische Minderheiten leben. Den- ben. 130 Menschen sollen verletzt worden sein. noch ist es richtig, dass es keine dauerhafte und friedli- che Lösung geben kann, wenn Interessen oder Konflikte Die Bundesregierung bemüht sich, den Versöhnungs- aus Nachbarstaaten in Somalia ausgetragen werden. prozess zu unterstützen. Derzeit sind unter deutscher Fe- derführung diplomatische Aktivitäten der Europäischen Um den deutschen Beitrag zu einer friedlichen und Union im Gange. Sie zielen darauf ab, die Einbindung dauerhaften Lösung in Somalia zu unterstützen, würde aller relevanten politischen Kräfte in den Dialog zu er- ich mir wünschen, dass wir mit allen Fraktionen guten reichen. willens hier im Hause zu einem gemeinsamen Antrag finden können. Dies gilt selbstverständlich auch für den Dialog mit den moderaten Führern der islamischen Gerichtshöfe. Im vorliegenden Antrag ist davon die Rede, dass die EU Brunhilde Irber (SPD): Das Scheitern der trotz entsprechender Bemühungen dieser Gruppierung (B) UNOSOM-II-Mission Mitte der 1990er-Jahre ist uns al- auf Gesprächswünsche nicht reagiert hätte. Ich habe mir (D) len noch in schmerzlicher Erinnerung. Eine furchtbare bestätigen lassen, dass das Gegenteil der Fall ist. Anfang Hungersnot kostete circa 300 000 Menschen das Leben. März 2007 hat es solche Gespräche gegeben. Bei der Dennoch kamen die Bürgerkriegsparteien nicht zur Be- Fülle von Akteuren ist es natürlich möglich, dass nicht sinnung und verwickelten die UN-Soldaten in die Ausei- immer alle und sofort erreicht werden können. Tatsache nandersetzungen der rivalisierenden Clans. ist jedoch, dass sich die Bundesregierung in diesem Sinne konstruktiv einbringt. Dies gilt im Übrigen auch Seitdem hat es drei Versöhnungskonferenzen gege- für die Unterstützung des Verfassungsprozesses. Hier ben, die Arta-Konferenz im August 2000, die von Kenia gibt es bereits konkrete Überlegungen. ausgerichtete Versöhnungskonferenz im Oktober 2002 und die Friedens- und Versöhnungskonferenz für Soma- Zentral ist in der Tat die Effektivität der durch die AU lia im Jahr 2004, die ebenfalls in Kenia stattfand. beschlossenen Friedensmission AMISOM. Dazu gehört das Erreichen der Sollstärke ebenso wie eine entspre- Der Übergangsregierung ist es aber nicht gelungen, chende finanzielle Ausstattung. Wie problematisch sich für Stabilität im Land zu sorgen. Seit Dezember 2006 hat eine Unterfinanzierung auswirken kann, haben wir in sich die Situation erheblich verschärft. Trotz der Resolu- Darfur gesehen. Für die Unterstützung von AMISOM tion 1725 des VN-Sicherheitsrates ist es nicht gelungen, gibt es Bewegung, zum Beispiel was die Auszahlung ein Waffenembargo wirksam umzusetzen. Was bisher von Geldern für die Afrikanische Friedensfazilität anbe- bleibt, ist der auf Papier geschriebene Appell an alle langt. Konfliktparteien, sich an bereits getroffene Absprachen zu halten. Das ist zu wenig, um eine Zukunftsstrategie zu Schließlich muss es uns – wie heute schon während entwickeln, wie die in diesen Tagen wieder aufgeflamm- der Simbabwedebatte erwähnt – um die flankierende ten Gefechte in Mogadischu zeigen. Unterstützung beim Wiederaufbau des Landes gehen. Dafür werden unter anderem die EU-Mittel aus dem Eu- Mit dem Beschluss des Friedens- und Sicherheitsrates ropäischen Entwicklungsfonds aufgestockt. der Afrikanischen Union vom 19. Januar 2007 für eine Krieg ist bekanntlich die schlimmste und unsinnigste AU-Friedensmission sind Hoffnungen verbunden, den Version der Kapitalvernichtung. Denn in Bürgerkriegen innersomalischen Friedensdialog wieder in Gang zu zerstören die Kämpfer sozusagen ihre eigenen künftigen bringen. Am 16. April soll eine zweimonatige Versöh- Lebensgrundlagen. nungskonferenz beginnen, an der die politischen Führer, die Clanführer und die Vertreter der Zivilgesellschaft be- Alle afrikanischen Konfliktherde bergen das Risiko, teiligt werden sollen. sich zu Flächenbränden auszuweiten. Dies gilt in beson- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9329

(A) derer Weise für das Horn von Afrika. Für die in den letz- wie diese von der Bevölkerung in Somalia akzeptiert (C) ten Jahren deutlich erkennbaren Fortschritte einer pan- werden. Externe Akteure wie Äthiopien, die USA und afrikanischen Entwicklung käme dies einer Katastrophe die Arabische Liga gelten vor Ort als diskreditiert. gleich. Die Afrikanische Union braucht jede Unterstüt- zung, um den afrikanischen Stabilitätsprozess weiter vo- Dennoch kann es für Somalia nur eine politische Lösung ranzutreiben. auf dem Weg zum Frieden geben. Militärische Maßnah- men sind dabei lediglich das Mittel, nicht der Zweck. Die Europäische Union und die G-8-Staaten haben Daher begrüße ich den Tenor des Antrages der Kollegin sich mit ihrer Afrikastrategie und dem Afrika-Aktions- Uschi Eid ausdrücklich. Dieser innenpolitische Friedens- plan die Unterstützung der AU auf die Fahnen geschrie- prozess aus dem Land heraus ist aber leider nicht in ben. Dass dies nicht nur in Verbalnoten, sondern auch in Sicht. praktischer Weise geschieht, zeigt sich gerade in Soma- lia. Der Versöhnungsprozess selbst muss aber von der Die höchste Glaubwürdigkeit genießt offenbar zurzeit somalischen Bevölkerung getragen werden. Deshalb ap- die Somaliakontaktgruppe. Daher ruhen verständlicher- pelliere ich an die Akteure vor Ort, sich an die Vereinba- weise auch viele Hoffnungen auf der Ratspräsidentschaft rungen für einen Versöhnungsprozess zu halten und die der EU. Für den 16. April hat der somalische Übergangs- Kampfhandlungen einzustellen. präsident Yusuf eine zweimonatige Versöhnungskonferenz einberufen. Ich appelliere an die Bundesregierung, ihren Einfluss im Rahmen der gegenwärtigen Doppelpräsi- Marina Schuster (FDP): Die Uhrzeit unserer Debatte dentschaft geltend zu machen, diese Konferenz und die entspricht leider in keiner Weise der Aktualität und weitere innersomalische Entwicklung konstruktiv zu Bedeutung des Themas. Ich verbinde meine Rede hier unterstützen. mit der Hoffnung und dem ausdrücklichen Wunsch, über die Situation in Somalia in Zukunft zu einer deutlich Denn es gibt noch zahlreiche offene Fragen: Wie können früheren Tageszeit zu debattieren. Denn die Lage vor beispielsweise alle Clans in der politischen Entwicklung Ort in Somalia ist nach wie vor äußerst angespannt. Somalias angemessen berücksichtigt werden? Welche Nachdem das große Medieninteresse mit Beendigung völkerrechtliche Perspektive kann es für die Region der Kriegshandlungen Anfang des Jahres kontinuierlich Somaliland geben, und wie wirkt sich dies wiederum auf nachließ, ist das Land keineswegs zur Ruhe gekommen. die politische Einheit des Landes aus? Wie können Denken wir nur an den tragischen Vorfall vom vergangenen künftig moderate Mitglieder der islamischen Gerichts- Samstag: Beim Abschuss eines Flugzeugs der afrikanischen höfe politisch eingebunden werden? Friedensmission in Somalia sind elf Menschen an Bord Gerade zur letzten Frage müssen wir Folgendes kon- (B) ums Leben gekommen. Die Opfer, Besatzung und Inge- statieren: Die Union der Islamischen Gerichtshöfe hat (D) nieure, sollten nach Angaben eines Sprechers der somali- in der somalischen Bevölkerung durchaus Sympathien schen Übergangsregierung ein anderes Flugzeug der genossen, und zwar zum einen als Gegengewicht zu den AU-Mission reparieren. Nach Augenzeugenberichten korrupten Warlords und Clanführern und zum anderen, wurde die Maschine kurz nach dem Start von einer Ra- weil sie eine vergleichbar hohe Stabilität in den von ihnen kete getroffen. Sie ging in Flammen auf und schlug in verwalteten Gebieten gewährleistet haben. Es wäre daher einem Außenbezirk Mogadischus auf. Dies bedeutet ei- ein großer Fehler, die UIC en bloc als islamistische oder nen herben Rückschlag für die Friedensbemühungen der gar terroristische Vereinigung zu verurteilen. Essenziell AU. ist, dass im Land selbst das Gespräch der TGF (Übergangs- Am Wochenende scheiterten zudem die Friedensver- regierung) mit moderaten Kräften der UIC gesucht werden handlungen zwischen Vertretern des Hawiye-Clans und muss. Wenn es tatsächlich zutrifft, dass Gesprächswünsche den äthiopischen Truppen, die weitere Militäraktionen gemäßigter UIC-Angehöriger von der EU grundsätzlich gegen die Aufständischen angekündigt hatten, hinter denen ausgeschlagen wurden, müssen wir uns fragen, ob hier sie Anhänger der islamischen Milizen vermutet. Hunderte nicht ein wichtiges Fenster für die weitere Entwicklung Somalier flohen in Bussen und mit Eselskarren aus der Somalias fahrlässig geschlossen wurde. Hierzu erwarte Hauptstadt Mogadischu. Wegen der anhaltenden Unsicher- ich von der Bundesregierung Aufklärung. heit blieben alle Schulen in Mogadischu geschlossen. Bei den mehrtägigen Kämpfen in der vergangenen Woche Weiterhin habe ich den Eindruck, dass nach wie vor wurden mindestens 300 Verletzte in Krankenhäusern zu wenig über den erforderlichen regionalen Ansatz disku- behandelt. Über die genaue Zahl der Toten kann nur tiert wird. Mit einem rein einzelstaatlichen Ansatz wird spekuliert werden. Das sind äußerst beunruhigende Ent- kein dauerhafter Frieden einkehren. Denn die Lage in wicklungen. Somalia können wir letztendlich nur beurteilen, wenn wir die Interessen von Staaten wie Äthiopien, Eritrea Hier sind wir auch schon beim Kern des Problems: und Kenia, aber auch weiterer Staaten wie beispiels- Solange die in der Bevölkerung vor Ort als Besatzer weise Syrien und Saudi-Arabien kennen. Gerade der wahrgenommenen äthiopischen Truppen im Land sind Grenzkonflikt zwischen Eritrea und Äthiopien ist doch und die AU-Mission AMISOM ihr Mandat noch nicht in eine der Ursachen für die Instabilität am Horn von Afrika. vollem Umfang ausüben kann, wird sich die Sicherheits- Solange dieser Konflikt nicht gelöst ist, werden sich die lage nicht deutlich entspannen. Es ist nach wie vor unklar, Beziehungen zwischen Eritrea und Äthiopien nie norma- welche Staaten Truppenkontingente stellen – Uganda lisieren. Es ist daher wichtig, diese Staaten in künftige möchte ich hier als positives Beispiel ausnehmen – und Lösungsansätze einzubeziehen, sie gleichzeitig aber 9330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) auch in die Pflicht zu nehmen. Dazu gehört auch die schweige denn, ihre Arbeit aufgenommen haben. Die (C) Frage der strittigen Grenzziehung. Mission wird auf breiten Widerstand in der Bevölkerung und bei der UIC stoßen, da sie eine Regierung stärken Wir müssen uns von deutscher, europäischer und inter- soll, die in der Bevölkerung weitgehend abgelehnt wird. nationaler Seite massiv für einen Interessenausgleich Dies wird sich mit der geplanten Überführung in eine zwischen den innersomalischen Parteien und den Regional- UN-Mission nicht ändern. Weder die AMISOM noch mächten einsetzen, damit die AMISOM-Mission auf der eine UN-Mission werden die Probleme lösen. Denn eine Grundlage einer allgemeinen Akzeptanz endlich ihre Ar- militärische Präsenz in Somalia, unter welcher Führung beit aufnehmen kann und damit der politische Friedens- auch immer, wird allen Dialogbemühungen entgegen- prozess in Gang kommt. wirken. Dies lehren uns die beiden anderen Fronten des Ich wiederhole meine Forderung aus vorhergehenden Antiterrorkampfes, Afghanistan und Irak. Afrikadebatten: Eine bessere Zusammenarbeit und Un- Letztendlich wird nur eine demokratisch gewählte terstützung der AU – sei es personell, zum Beispiel bei Regierung eine nachhaltige Stabilisierung des Landes der Schulung, finanziell und organisatorisch beim Aufbau bewirken können. Hierzu muss es dringend zu Verhand- der Strukturen – ist unerlässlich. Wenn wir es mit der lungsgesprächen zwischen der Übergangsregierung und „african ownership“ ernst meinen, dürfen wir die AU der UIC kommen. Darin stimmen wir dem Antrag von nicht im Regen stehen lassen. Bündnis 90/Die Grünen zu. An einem solchen Dialog sollten auch die Länder des afrikanischen und arabischen Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Seit dem Sturz Raums unbedingt teilnehmen, die nicht in den Konflikt des Diktators Siad Barre 1991 ist Somalia faktisch ohne involviert sind. Regierung und zerrissen von Kämpfen rivalisierender Gruppen. Es ist das immer wieder zitierte Beispiel eines Wir fordern die Bundesregierung auf, mit ihren Ver- Failed State, eines gescheiterten Staates. Das vollstän- mittlungsdiensten diesen Prozess zu unterstützen. Um dige Fehlen öffentlicher Infrastruktur und die desolate jedoch einen solchen Dialog überhaupt zu ermöglichen, Sicherheitssituation machen Somalia vor allem anfällig muss sich die äthiopische Armee vollständig aus Soma- für die Einmischung durch benachbarte Staaten. lia zurückziehen und das Waffenembargo durchgesetzt werden, müssen die USA ihre Luftangriffe einstellen So tragen Äthiopien und Eritrea ihre Grenzkonflikte und die Nachbarstaaten dazu gebracht werden, ihre Un- über die Unterstützung der rivalisierenden Kräfte in So- terstützung der Konfliktparteien aufzugeben. malia aus. Äthiopien wollte mit seinem Einmarsch in Somalia vor allem die Union der Islamischen Gerichte Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aktu- – UIC – verjagen, der es immerhin gelungen war, nach ell spitz sich der Somaliakonflikt deutlich zu. Die (B) knapp fünfzehn Jahren Chaos eine gewisse Sicherheit im (D) Kämpfe und Anschläge in Mogadischu intensivieren und Lande wiederherzustellen. häufen sich und veranlassen Zehntausende zur Flucht. Wir sollten allerdings nicht übersehen, dass auch an- Die humanitäre Lage spitzt sich zu. dere Staaten und vor allem die USA in dem Konflikt ihre Die Bundesregierung steht derzeit als Ratspräsidentin Interessen verfolgen. Derzeit verdächtigen die USA die der EU in besonderer Verantwortung dafür, Frieden und UIC, mit al-Qaida zu kooperieren und begründen ihre die Wiederherstellung staatlicher Strukturen in Somalia Luftangriffe mit ihrem „weltweiten Krieg gegen den zu fördern. Dies kann nur gelingen, wenn die internatio- Terror“. Das Horn von Afrika ist aber nicht nur wegen nale Gemeinschaft gleichzeitig der inneren und der seiner beträchtlichen Öl- und Gasvorräte, sondern auch regionalen Komplexität des Konflikts gerecht wird. Sie wegen seiner strategischen Position gegenüber der arabi- muss rational mit den politischen islamischen Bewegun- schen Halbinsel, der ölreichsten Region der Erde, von gen umgehen und den Konflikt nicht vorwiegend als Teil erheblicher strategischer Bedeutung. So wenig hiervon des Kampfes gegen den islamistischen Terrorismus be- zurzeit in den Medien die Rede ist: Diese Vorräte sind greifen. nicht verschwunden und werden mit der Sicherung und Stabilisierung Somalias wieder in den Vordergrund der Nur zu gerne würde ich den Optimismus internationa- Interessen treten. ler Erklärungen teilen, die davon ausgehen, dass sich Die USA haben auch Äthiopien beim Einmarsch in nach dem äthiopischen Einmarsch vom Jahresende 2006 Somalia unterstützt. Seitdem hat sich die Situation wie- eine neue Friedenschance aufgetan hat. Doch die aktu- der drastisch verschlechtert. Die Übergangsregierung ist elle Eskalation belegt, dass in Somalia eine neue Kräfte- zwar formal wieder an der Macht, hat aber bei der Be- konstellation entstanden ist, die konfliktträchtiger ist als völkerung kaum Zustimmung. Denn sie hat die alten zuvor. Mit der Union der Islamischen Gerichtshöfe hat Warlords, die Korruption und die alte Unsicherheit wie- Äthiopien – ermutigt durch die USA – einen handlungs- der mitgebracht. fähigen Akteur zerschlagen, der sich trotz einiger Men- schenrechtsverletzungen die Anerkennung weiter Teile In dieser Situation beschloss der Friedens- und Si- der Bevölkerung erworben hat. Erstmals seit langen Jah- cherheitsrat der AU am 19. Januar 2007 die Entsendung ren verbesserten die Gerichtshöfe im letzten Jahr nicht einer Friedensmission nach Somalia, der sogenannten nur die öffentliche Sicherheit deutlich, sondern auch die AMISOM. Dass diese Mission scheitern wird, ist allzu Möglichkeiten, Handel zu treiben. Der Einmarsch offensichtlich: Sie ist auf sechs Monate begrenzt und stärkte dagegen die nicht repräsentative somalische wird sich in dieser Zeit nicht einmal installiert, ge- Übergangsregierung, die eine Mehrheit der Somalis als Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9331

(A) völlig illegitim betrachtet – auch weil sie von dem als anzuerkennen. Was hat das mit Somalia zu tun? Nicht (C) Gegner empfundenen Nachbarstaat Äthiopien gestützt nur in Somalia tragen beide Länder ihren bilateralen wird. Selbst Diplomaten beschreiben sie mehr oder min- Konflikt stellvertretend an anderen Orten aus nach dem der offen als inkompetent und intransigent. Motto: Der Freund meines Feindes ist mein Feind. Ob- wohl Eritrea ein säkularer Staat ist, unterstützt es aus der Aufgabe der Friedenstruppe der Afrikanischen Union, Gegnerschaft zu Äthiopien heraus die Islamischen Ge- der AMISOM, ist es nun unter anderem, diese Über- richtshöfe. Aus deren Reihen wurden immer wieder An- gangsregierung zu unterstützen. Dazu hat der UN-Si- sprüche auf den von Somalis bewohnten äthiopischen cherheitsrat ihr im Februar das Mandat erteilt. Doch Ogaden erhoben und zum „Dschihad“ gegen Äthiopien AMISOM kann Frieden nicht militärisch herbeizwingen. aufgerufen. Äthiopien hingegen stützt die somalische Erfolgreich sein wird sie nur, wenn sie eine politische Übergangsregierung. Es waren nicht zuletzt die Drohun- Einigung zwischen den Somalis absichert und die Bevöl- gen der Gerichtshöfe und die amerikanischen Interessen kerung AMISOM nicht als Konfliktpartei betrachtet. im Antiterrorkampf, die Äthiopien zum Einmarsch in Am Anfang und im Mittelpunkt aller Friedensbemühun- Somalia bewogen. gen müssen auch bei der Bundesregierung ernsthafte, aktive und international abgestimmte Initiativen für eine Ich fordere die Bundesregierung auf, sich aktiv an in- innersomalische Einigung stehen. Daher muss die Über- ternationalen Initiativen, vor allem der Norwegens, zu be- gangsregierung dazu bewegt werden, alle relevanten Ak- teiligen, den Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea ei- teure in einen politischen Dialog und in die Mitte April ner dauerhaften friedlichen Lösung zuzuführen. Zweitens beginnende nationale Versöhnungskonferenz einzube- sollte sie sich um einen umfassenden regionalen Dialog ziehen. Dies betrifft alle Clans, besonders die Hawiye, zwischen Nachbarstaaten und Regionalmächten bemühen, aber auch all jene islamistischen Kräfte, die ihre Ver- in dem ein fairer Ausgleich der Sicherheitsinteressen aller pflichtung erneuern und einhalten, den Terrorismus zu Staaten gelingen kann. Drittens muss die regionale EU- verurteilen und die territoriale Integrität der Nachbar- Partnerschaft mit dem Horn von Afrika aktiv unterstützt staaten zu respektieren. Ziel der politischen Gespräche werden. Schließlich soll die Bundesregierung Initiativen muss es auch sein, die somalische Regierung so umzu- dafür ergreifen, dass das UN-Waffenembargo nicht mehr bilden, dass sie deutlich repräsentativer wird. von verschiedenen Seiten unterlaufen werden kann. Ist eine politische Übereinkunft der Somalis erreicht, Die Bundesregierung ist als EU-Ratspräsidentin auf- fordere ich die Bundesregierung dazu auf, dazu beizutra- gerufen, aktiv und initiativ an einer internationalen Frie- gen, dass AMISOM vollständig entsandt, adäquat finan- densstrategie mitzuwirken, die alle relevanten Aspekte ziert und ausgerüstet wird und so zusammengesetzt ist, des Konflikts anspricht. An ihr sollen sowohl die EU als dass sie als unparteiisch wahrgenommen wird. Sie soll auch die Afrikanische Union und die arabisch-islami- (B) (D) die Initiative dafür ergreifen, dass ein konfliktsensibler schen Staaten beteiligt sein. internationaler Wiederaufbauplan aufgelegt wird, der aber keine Strukturen schafft, die anfällig sind für Kor- ruption und Machtabsicherung. Darin sollen die Bele- Anlage 14 bung der Wirtschaft, aber auch die freiwillige Entwaff- nung und die Demobilisierung und Reintegration von Zu Protokoll gegebene Reden Soldaten im Vordergrund stehen. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Aktuell ist besonders darauf zu achten, dass die Stabi- Berichts zu den Anträgen: lität des demokratischen Somalilands nicht gefährdet – Kein Bau einer festen Fehmarnbelt-Que- wird, das sich 1991 für unabhängig erklärt hat. Zugleich rung – Fährkonzepte verbessern sollte die Bundesregierung sorgfältig prüfen, ob derzeit Initiativen friedenspolitisch sinnvoll sind, die den lau- – Statt fester Fehmarnbelt-Querung für ein fenden Klärungsprozess fördern, ob die Unabhängigkeit ökologisch und finanziell nachhaltiges Ver- Somalilands international anerkannt wird. kehrskonzept Es kann aber gar nicht genug betont werden, dass ein (Tagesordnungspunkt 25) Frieden in Somalia – und schon gar keiner, der über Jahre hinweg trägt – nicht erreicht werden kann, ohne Gero Storjohann (CDU/CSU): Am vergangenen dass die regionalen Verflechtungen aktiv angegangen Wochenende haben wir hier in Berlin den 50. Jahrestag werden, die für den Konflikt in Somalia überaus ent- der Unterzeichnung der Römischen Verträge gefeiert. scheidend sind. Denn die Konflikte am Horn von Afrika Diese Verträge, zu deren Unterzeichnern im Jahre 1957 und die oft widerstreitenden Interessen zahlreicher Staa- die Bundesrepublik Deutschland gehörte, waren die ten der Region erschweren politische Lösungen ent- Grundlage für das Zusammenwachsen Europas. Sie wa- scheidend und fachen die Auseinandersetzungen inner- ren Grundlage für die Gründung der Europäischen Ge- halb Somalias teils wesentlich an. meinschaft und der jetzigen Europäischen Union. Von herausragender Bedeutung ist dabei der Grenz- Das Königreich Dänemark ist der EG im Jahre 1973 konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea. Äthiopien wei- beigetreten. Es hat nicht nur dadurch, sondern auch gert sich noch immer, die Grenzziehung anzuerkennen – durch eine wichtige europäische Infrastrukturmaßnahme entgegen seiner Zusage und Pflicht aus dem Friedensab- einen erheblichen Beitrag zum Zusammenwachsen kommen von 2000, einen internationalen Schiedsspruch Europas geleistet: Ich spreche vom Bau der Öresund- 9332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) brücke zwischen Kopenhagen in Dänemark und Malmö derart erfolgreich, dass der Mautpreis seit Inbetrieb- (C) in Schweden. Diese Brücke hat zur guten Nachbarschaft nahme dieses Bauwerks schon zweimal abgesenkt und zur Stärkung der Wirtschaft im Großraum Kopen- werden konnte. Das für das Jahr 2015 prognostizierte hagen/Malmö einen wichtigen Beitrag geleistet. Heute Verkehrsaufkommen für den Fehmarnbelt von bis zu kommt es nicht mehr darauf an, ob man in Schweden 8 000 Personenkraftwagen und bis zu 1 300 Last- lebt und in Kopenhagen arbeitet oder umgekehrt – die kraftwagen täglich lässt hier einen ähnlichen Erfolg er- Öresundbrücke verbindet Menschen, sie verbindet zwei warten – nicht zu vergessen die Mauteinahmen durch EU-Staaten im nördlichen Europa. Lassen Sie mich an den bereits erwähnten Bahnverkehr, die über den Fahr- dieser Stelle dem Königreich Dänemark Dank sagen für preis abgerechnet werden. das unbeirrte Eintreten und für den Bau dieser Brücke: Mange tak, Danmark! Zahlreiche Gespräche, die ich in den vergangenen Wochen mit Vertretern von dänischer Politik und Wirt- Die Erfolgsgeschichte der Öresundbrücke sollte uns schaft geführt habe, haben eines ganz deutlich gezeigt: allen Ansporn sein, kraftvoll für ein weiteres wichtiges Die Beziehungen zwischen Deutschland und Dänemark Verkehrsprojekt in Europa einzutreten: den Bau der fes- sind hervorragend. Immer wieder wird betont, dass die ten Fehmarnbelt-Querung zwischen Deutschland und praktizierte Bereitschaft der Bundesregierung, im Rah- Dänemark. Was jedoch machen die Fraktionen von men der europäischen Zusammenarbeit kleine und große Bündnis 90/Die Grünen und von den Linken? Anstatt Nachbarstaaten gleichermaßen ernst zu nehmen, bei- sich vom Wagemut unserer dänischen Nachbarn beim spielhaft ist. Berlin nimmt eine zunehmend zentrale Brückenbau anstecken zu lassen, legen uns die Kollegin- Rolle im Konzert der 27 Nationen ein, loben die Dänen – nen und Kollegen Anträge vor, die dem Zusammen- und dies unabhängig von unserer augenblicklichen EU- wachsen Europas alles andere als dienlich sind. Auch Ratspräsidentschaft. Großes Unverständnis wird in deshalb werden wir sie ablehnen. Dänemark daher über die rückwärtsgewandten Anträge Wir brauchen diese Brücke, weil die feste Querung der Oppositionsfraktionen der Linken und des Bündnis- des Fehmarnbelts das letzte Glied in einer wirtschaftli- ses 90/Die Grünen zur festen Fehmarnbelt-Querung ge- chen Kette zwischen Nord- und Mitteleuropa ist. Dieses äußert. Ihre Einstellung zum Projekt „Feste Fehmarn- „missing link“ in Europa fehlt noch, diese Verbindung belt-Querung“ ruft in Kopenhagen nur Kopfschütteln muss endlich hergestellt werden. Das gilt gerade und be- hervor. Dabei zeigen uns doch gerade die Dänen, wie er- sonders für den Schienenverkehr. Durch den Ausbau der folgreich Brückenbauprojekte sein können! Schienenwege über die feste Fehmarnbelt-Querung kann Größter Handelspartner Dänemarks in Deutschland der Containerverkehr zwischen Deutschland und Skan- ist Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Schleswig-Hol- dinavien effektiv und schnell abgewickelt werden. Wir (B) stein, Niedersachsen, Bayern und Hamburg. Das sind die (D) brauchen mehr Verkehr auf der Schiene, und das geht Fakten. Wir sollten dem Königreich Dänemark daher nur über eine feste Verbindung. Die Verkehrsprognosen einen regen und reibungslosen Warenaustausch mit die- sprechen hier für sich: Aktuell überqueren sieben Perso- sen Bundesländern über die feste Fehmarnbelt-Querung nenzüge und kein einziger Güterzug mit den dortigen gewährleisten. Das kommt nicht nur Dänemark zugute, Fähren den Fehmarnbelt. Im Jahre 2015, zur erwarteten sondern auch uns in Deutschland. Die feste Fehmarn- Fertigstellung der Brücke, werden es 40 Personenzüge belt-Querung ist daher nicht irgendeine Brücke. Die und 43 bis 61 Güterzüge pro Tag sein, die dann die feste feste Fehmarnbelt-Querung wird erheblich zu wirt- Fehmarnbelt-Querung nutzen werden. 40 Personenzüge, schaftlichem Wohlstand beitragen. Nicht nur im Groß- das entspricht 4 000 Bahnreisenden pro Tag. Ohne feste raum Hamburg–Kopenhagen, sondern eben auch an Fehmarnbelt-Querung müsste die bestehende Schienen- Rhein, Donau und Isar. verbindung über –Neumünster verkehrstech- nisch überholt werden. Dafür stehen auf absehbare Zeit Lassen Sie uns daher Zukunft machen! Lassen Sie keine Finanzmittel zur Verfügung, denn das kann nicht uns den Brückenschlag über den Fehmarnbelt realisie- über eine Maut gegenfinanziert werden, wie es bei der ren, um Skandinavien und Deutschland in Europa wirt- festen Fehmarnbelt-Querung vorgesehen ist. Als Alter- schaftlich noch enger miteinander zu verflechten! Die native würde dann verstärkt das Flugzeug zur Verkür- CDU/CSU-Fraktion wird der Beschlussempfehlung des zung der Reisezeit genutzt werden. Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen Bundestages daher zustimmen und die An- Wie Sie sicherlich wissen, verkehren die Fähren über träge der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die den Fehmarnbelt zwischen Puttgarden und Rødby mehr- Grünen damit ablehnen. wertsteuerfrei. Das bedeutet, dass die Reederei Scand- lines ihre Gewinne auf dieser Route mehrwertsteuerfrei erwirtschaftet. Die Erhebung einer Maut für die Benut- Hans-Joachim Hacker (SPD): Der sachliche Gegen- zung von Brücken ist jedoch mehrwertsteuerpflichtig. stand der beiden Anträge war in erster Lesung bereits am Dies ist ein Aspekt, den man bei der Beurteilung der 14. Dezember 2006 auf der Tagesordnung des Deutschen Kosten für den Bau der festen Fehmarnbelt-Querung be- Bundestages. Wer sich das Protokoll der Beratung ansieht, rücksichtigen muss. Der Verkehr auf der Öresundbrücke wird feststellen, dass die Reden zu Protokoll gegeben zwischen Kopenhagen und Malmö ist inzwischen so wurden. Unabhängig davon ist den schriftlichen Diskus- stark angewachsen, dass Vielfahrern auf dieser Brücke sionsbeiträgen zu entnehmen, dass sich die Berichterstatter inzwischen Rabatte gewährt werden. Auch die andere ausführlich mit dem Themenkomplex, der die Fragen einer Brücke in Dänemark, diejenige über den Großen Belt, ist möglichen festen Fehmarnbelt-Querung beinhalten, befasst Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9333

(A) haben. Ich könnte insofern auf die damalige Argumentation im Antrag der PDS-Fraktion. Dem ist weiter nichts hin- (C) verweisen. Das würde dem Thema jedoch nicht gerecht zuzufügen. werden, denn in die heutige Debatte sollte eine Wertung Auf zwei weitere Punkte im Antrag der Fraktion des der Beratung im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadt- Bündnisses 90/Die Grünen will ich an dieser Stelle jedoch entwicklung einfließen. Zugleich ist über den Stand der näher eingehen: Der Antrag auf Drucksache 16/3798 weiteren Gespräche auf Regierungsebene eine Bewertung enthält unter den Ziffern 4 und 5 Forderungen nach Ausbau vorzunehmen. des Nordostseekanals und nach Elektrifizierung der Bahn- Beide vorliegenden Anträge beinhalten die Ablehnung strecke Hamburg–Lübeck. Ich halte diese Forderungen des Baus einer festen Fehmarnbelt-Querung. Sie sind nach prioritärer Behandlung dieser Infrastrukturmaßnah- jedoch nicht deckungsgleich. Der PDS-Antrag enthält eine men in der Sache für richtig. Es bedarf aber keines An- Entschließung gegen den Bau einer festen Fehmarnbelt- trages, um der Umsetzung dieser Forderungen Gewicht Querung und fordert stattdessen eine Verbesserung zu verleihen. Wie ist der Stand der Dinge bei diesen Bau- des Fährkonzeptes. Für den von der PDS geforderten maßnahmen? Planungsstopp gibt es keine sachliche Grundlage; denn Erstens. Der Ausbau des Nordostseekanals ist im Planungen finden derzeit nicht statt, und eine Einordnung Bundeshaushalt mit insgesamt 130 Millionen Euro in nationale Verkehrsplanungsdokumente hat bislang veranschlagt. Für das laufende Jahr ist die Ausreichung nicht stattgefunden. Richtig ist, und das weiß jeder, der sich einer ersten Ratenzahlung vorgesehen. Das Bundes- mit der Thematik beschäftigt hat, dass in der Koalitions- ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vereinbarung vom 11. November 2005 die Prüfung der prüft derzeit, ob ein Antrag auf Planfeststellung für den Fehmarnbelt-Querung als internationales PPP-Referenz- Ausbau der Oststrecke des Nordostseekanals auf das vorhaben festgeschrieben wurde. Wir befinden uns derzeit Jahr 2008 vorgezogen werden kann. Der Bund wird in in einer Phase, in der die Realisierungsmöglichkeiten Brunsbüttel eine neue Schleusenkammer finanzieren. untersucht werden. Der PDS-Antrag überspringt diese Die dies betreffenden Teilplanungen sind in Auftrag Phase und nimmt das Ergebnis der Prüfung vorweg. Einer gegeben worden. Von der Baumaßnahme werden der solchen Betrachtungsweise kann man sich nicht an- Neubau einer dritten Schleusenkammer und die anschlie- schließen, denn sie ist nicht sachgerecht. ßende Instandsetzung der beiden alten großen Kammern Die Forderung im PDS-Antrag an die Bundesregierung, erfasst. darauf hinzuwirken, dass die bestehende Fährverbindung Zweitens. Die Elektrifizierung der Eisenbahnstrecke optimiert wird, ist nicht umsetzbar. Völlig verkannt Hamburg–Lübeck und der zweigleisige Ausbau des Teil- wird, dass das Fährkonzept von der Betreiberreederei, abschnitts Schwartau–Waldhalle–Lübeck–Kücknitz sind (B) der Scandlines AG, aufgestellt wird, auf die die Bundes- bereits Bestandteil des „Zwei-Milliarden-Euro-Verkehrs- (D) regierung in betriebswirtschaftlichen Fragen keinen programms-Teilschiene“. Die Finanzierungsvereinbarung Einfluss ausüben kann. Wir haben diese Frage in der wurde am 15. September 2005 unterzeichnet. Die Gesamt- Beratung im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent- kosten der Maßnahme betragen 149,1 Millionen Euro, wicklung ausführlich diskutiert, aber scheinbar haben wovon der Bund finanzielle Mittel in Höhe von 135 Mil- die Fakten, dass der Vorstand eines Unternehmens die lionen Euro bereitstellt. Das Gesamtvorhaben soll nach betriebswirtschaftlichen Entscheidungen in eigener den derzeitigen Planungen der DB-Netz AG im Laufe Verantwortung trägt, bei der PDS keine Überzeugungs- des Jahres 2009 fertig werden. kraft entwickelt. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bünd- Im PDS-Antrag leuchtet wieder die alte Idee der nis 90/Die Grünen, die Bundesregierung und die Koalition Staatswirtschaft durch. Das kommt auch in einem weiteren sind bei wichtigen Infrastrukturmaßnahmen in der Region Punkt zum Ausdruck, der die Aufforderung an die zwischen Hamburg und der Ostsee am Ball. Die Idee eines Bundesregierung enthält, mit der dänischen Regierung Metroexpress von Kiel nach Hamburg ist jedoch aus und der Landesregierung Schleswig-Holstein das Ziel zu Wirtschaftlichkeitsgründen nicht zu vertreten. Die Landes- verfolgen, gemeinsam mit dem Kreis Ostholstein und regierung Schleswig-Holstein sieht hierfür keine reale dem dänischen Amt Storstroms Konzepte zur Stärkung Chance. der wirtschaftlichen Situation dieser Regionen zu erarbeiten und diese finanziell zu unterstützen. Um es klar zu sagen: Ich komme zurück zum Kernthema der beiden Op- Hierfür ist die Bundesregierung nicht zuständig. Die positionsanträge, den Bau einer festen Fehmarnbelt- regionale Wirtschaftsentwicklung ist nicht Bundesauf- Querung, und stelle die Frage: Können wir heute eine gabe, insofern geht diese Forderung völlig ins Leere. Entscheidung für oder gegen den Bau treffen? Die Antwort lautet eindeutig Nein. Es gibt heute keinen Entschei- Der Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- dungsbedarf, weil die Grundlagen für eine derartige nen, der auf ein ökologisch und finanziell nachhaltiges Entscheidung nicht bestehen. Und im Übrigen an die Verkehrskonzept abstellt, enthält wie der PDS-Antrag Adresse der PDS-Abgeordneten im Verkehrsausschuss: die Forderung nach Aufgabe der Pläne zum Bau einer Entgegen Ihrer öffentlichen Darstellung hat der Verkehrs- festen Fehmarnbelt-Querung und der Pläne zur Finan- ausschuss des Deutschen Bundestages mit der Ablehnung zierung durch öffentliche Gelder wie auch die Forderung der beiden Anträge kein Votum für den Bau der festen nach Optimierung des Fährkonzepts der Reederei Scand- Fehmarnbelt-Querung abgegeben. Die Koalition hat lines. Was diesen Forderungskatalog angeht, verweise Prüf- und Beratungsbedarf für das Gesamtkonzept und ich auf meine Bewertung der gleichlautenden Forderungen alle damit in Verbindung stehenden Fragen. Die beiden 9334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) vorliegenden Anträge wollen jedoch eine Entscheidung Verdienst der linken und linkeren Oppositionsfraktionen (C) vorwegnehmen, ohne eine Abwägung der Argumente in diesem Haus – dieser fragwürdige Lorbeer gebührt Pro und Contra vorgenommen zu haben. vielmehr der SPD-Fraktion, die in dieser Sache sogar den eigenen Minister düpiert. Die sozialdemokratischen Gerade einer solchen Verfahrensweise kann sich die Abgeordneten der fünf Küstenländer haben jedenfalls SPD-Bundestagsfraktion nicht anschließen. Für uns durch lautstarke Äußerungen über die Medien deutlich steht fest – das hatte ich in meiner Rede am gemacht, dass das Geld für die Querung und die notwen- 14. Dezember 2006 bereits ausgeführt – dass wir uns digen Hinterlandanbindungen erst in zehn oder 15 Jah- nicht auf ein finanzielles Risiko zulasten der öffentlichen ren verfügbar ist. Ehrlicher wäre es gewesen, gleich die Hand einlassen werden. Ich finde, der Bundesverkehrs- Einstellung des Projektes zu fordern; denn das wäre die minister hat in den letzten Monaten Konsequenz. Für den Fall hätte sich der Herr Minister das Thema sehr verantwortungsbewusst behandelt. In auch die Konferenzen mit dem dänischen Kollegen spa- Gesprächen mit der dänischen Regierung und der Landes- ren können. regierung Schleswig-Holstein sind die Rahmenbedin- gungen für ein PPP-Projekt Feste Fehmarnbelt-Querung Natürlich ist es richtig, die Frage zu stellen, ob das untersucht worden. Hierbei sind natürlich auch die Fragen Projekt richtig kalkuliert ist und sich rechnen wird. Aber eines tragfähigen Finanzierungskonzeptes und möglicher das ist eben eine Frage; eine abschließende Antwort ken- Staatsgarantiezusagen erörtert worden. Dieser Fragen- nen wir noch nicht. Die FDP hat sich deshalb immer da- komplex befindet sich nach wie vor in der Verhand- für ausgesprochen, das Vorhaben unaufgeregt, unvorein- lungsphase. Kein ernsthafter Verhandlungspartner kann genommen und ergebnisoffen zu prüfen. Wenn ein Einzelheiten der Gespräche auf den Markt tragen. Ich Investor mit Land, Bund und Dänemark einig wird, muss bin sicher, dass der Bundesverkehrsminister in den der Bundestag seinen Anteil festlegen. Bis dahin gilt, nächsten Wochen das Ergebnis seiner intensiven Bemü- dass die feste Querung des Fehmarnbelt ein wünschens- hungen dem Bundestagsausschuss für Verkehr, Bau und werter Beitrag für die Entwicklung des transeuro- Stadtentwicklung vorstellen wird. päischen Verkehrsnetzes wäre. Die Sozialdemokraten Für mich ist auch klar, dass bei einer ernsthaften Er- haben sich hingegen nun auch in das Lager derjenigen wägung des Baus einer festen Fehmarnbelt-Querung geschlagen, die offenbar durch einen Blick in die Kris- eine Reihe von umweltrelevanten und verkehrstechnischen tallkugel schon jetzt die Antworten auf alle Fragen ken- Fragestellungen einer ausführlichen Prüfung zu unterziehen nen. sind. Im Oktober 2006 sind die Ergebnisse eines infor- Dieses Verfahren wird unsere dänischen Freunde sehr mellen Konsultationsverfahrens vorgestellt worden, an verwundern, die deutlich gemacht haben, dass sie auch (B) dem die Öffentlichkeit, Verbände und Behörden beteiligt eine stärkere finanzielle Beteiligung in Betracht zögen. (D) waren. Klar ist, dass dieses Umweltkonsultationsverfahren Vor allem aber wird damit die ohnehin schon schwache nicht die notwendigen Umweltverträglichkeitsprüfungen Position von Minister Tiefensee durch das unverantwort- und die gesetzlich vorgeschriebenen Öffentlichkeits- liche Verhalten seiner eigenen Fraktion weiter untermi- beteiligungen ersetzen kann. Erst, wenn alle damit in niert. Es ist in der Tat ein trauriges Schauspiel, das wir Verbindung stehenden Fragen bewertet und beantwortet dieser Tage erleben: die endgültige Entzauberung eines worden sind, ist die Grundlage für die Entscheidung Wunderkindes. In war Wolfgang Tiefensee noch über den Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung ge- ein kleiner König. In Berlin ist er nur noch Überbringer schaffen worden. netter Grußworte. Die Liste seiner Fehler und Niederla- Wenn die SPD-Bundestagsfraktion zusammen mit gen ist lang. Bei der Bahnreform lässt Minister Tiefensee dem Koalitionspartner und vermutlich der FDP die beiden sich von Mehdorn vorführen. Von einem tragfähigen Ge- Anträge ablehnen wird, geschieht dies auch aus dem setzentwurf sind wir weiter entfernt denn je. Besonders Grund, dass wir uns die Option für einen sachlich not- peinlich beim Thema Bahn: Des Ministers vollkommene wendigen Abwägungsprozess offen halten wollen. Eine Ahnungslosigkeit über den desaströsen Zustand des Entscheidung zum Bau der festen Fehmarnbelt-Querung Schienennetzes. ist weder in der Verkehrsausschussberatung am 28. Februar 2007 getroffen worden, noch erfolgt diese Beim Rat der EU-Verkehrsminister wurde dann auch mit der Ablehnung der beiden Anträge. Wir haben gute noch die Verkehrsagenda der deutschen Ratspräsident- Gründe, die beiden Anträge abzulehnen, weil die Koalition schaft vor die Wand gefahren. Das europäische Prestige- eine Entscheidung erst dann treffen wird, wenn alle Fakten programm Galileo und das Luftverkehrsabkommen mit auf dem Tisch liegen. Dies ist heute nicht der Fall, daher den USA stehen auf der Kippe. ist die Ablehnung der beiden Anträge logisch. Jetzt, nachdem die Union dem Minister bei der Bahn- reform schon nicht mehr folgt, fängt auch noch die SPD- Patrick Döring (FDP): Wir reden heute Abend zu Bundestagsfraktion an, seine Autorität in der Fehmarn- später Stunde über zwei Anträge, die zwar vermutlich belt-Frage zu untergraben. Das ist keine Erosion mehr, mit der großen Mehrheit des Hauses – auch von uns – das ist bald ein ausgemachter machtpolitischer Erd- abgelehnt werden. Die Entwicklung der letzten Wochen rutsch. Ich frage mich ernsthaft, wie ein Minister, der lässt aber vermuten, dass Linke und Grüne leider trotz- nicht einmal in dieser Frage auf die Unterstützung seiner dem bekommen, was sie wollen: ein schnelles Ende des Partei zählen kann, sich zum Beispiel in der noch viel Projektes Fehmarnbelt-Querung. Das ist freilich kein schwierigeren Bahnfrage oder bei den komplizierten Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007 9335

(A) Verhandlungen mit dem Galileo-Konsortium behaupten und folglich eine neue Autobahn gebraucht wird, so (C) will. schwelgen einige Politiker aus dem Norden und Nord- westen in Brückenphantasien. Aber während die kindli- Da können Sie, mit Verlaub Frau Dr. Wetzel, in den chen Weihnachtswunschlisten meist finanziell im Rah- Medien noch so oft erklären, dass Sie und Ihre Mitstreiter men bleiben, soll ihr Traum, für mich ist es ein dem Minister den Rücken stärken. Tatsächlich läuft es Albtraum, 5,5 Milliarden Euro kosten. doch darauf hinaus, dass Sie ihn in dieser Frage im Regen stehen lassen. Denn anders als Sie es zum Beispiel im Die bestehende Fährverbindung ist gut und effektiv. „Hamburger Abendblatt“ darstellen, hat die Frage der Fi- Sie kann bei Bedarf weiter verbessert werden – zu einem nanzierung von Hinterlandanbindungen nun rein gar Bruchteil der Kosten der Brücke. Außerdem sichert al- nichts mit dem finanziellen Anteil der Dänen an diesem lein diese Fährverbindung über tausend Arbeitsplätze – Projekt zu tun, ganz zu schweigen davon, dass ich auch bei der Brücke wird es nur ein Bruchteil davon sein. nicht gehört habe, dass Sie Ihre Position geändert hätten, Auch durch die Brücke selber werden kaum neue Ar- nachdem die Dänen sich in dieser Frage kompromissbe- beitsplätze entstehen. Schließlich werden hier nicht zwei reit gezeigt haben. Natürlich müssen – wenn die Ent- Städte, sondern nur Rapsfelder miteinander verbunden. scheidungen für die Fehmarnbelt-Querung gefällt wird – Ich war persönlich bei der Vorstellung des Gutachtens zu auch entsprechende Hinterlandanbindungen vorhanden den regionalen wirtschaftlichen Effekten der Brücke – sein. Das ist eine conditio sine qua non, um überhaupt die und war sehr enttäuscht. Denn dieses Gutachten zeigt Tragfähigkeit des Projektes zu gewährleisten. Aber wenn keine konkreten Perspektiven auf, sondern stützt sich – ich betone: wenn – wir feststellen, dass die Fehmarn- nur auf vage Vermutungen. belt-Querung ein lohnendes Projekt ist und gebaut wer- Die Ansicht, dass die Brücke wirtschaftlich unnötig den soll, dann erhalten die dafür notwendigen Neu- und ist, vertritt übrigens auch das Kieler Institut für Weltwirt- Ausbauten zur Hinterlandanbindung natürlich eine ganz schaft, dem wohl niemand unterstellen wird, es sei ein andere Priorität. Denn in diesem Fall würde sich natür- Hort von linker oder ökologisch motivierter Politik. lich die Auslastung dieser Verkehrswege ganz anders ge- stalten, als bei den ursprünglichen Prognosen des Bun- Während also die erhofften positiven wirtschaftlichen desverkehrswegeplans angenommen wurde. Ihrer Logik Effekte mehr als fragwürdig sind, liegen die negativen folgend, sollen wir zunächst die Hinterlandanbindung Folgen klar auf der Hand: bauen, bevor die Querung entschieden würde; das kann Erstens der Verlust von Arbeitsplätzen bei den Fähren es doch wohl nicht sein. und Häfen, nicht nur auf Fehmarn, sondern auch in Wenn Sie die Fehmarnbelt-Querung partout nicht Mecklenburg-Vorpommern. Zweitens eine massive Be- einträchtigung der Meeresökologie und eine erhebliche (B) wollen, Frau Wetzel, dann sagen Sie das auch. Dann (D) stimmen sie heute für die vorliegenden Anträge der Grü- Gefährdung der Zugvögel. Und drittens der Verlust der nen und der Linksfraktion. Das wäre wenigstens ehrlich, touristischen Attraktivität von Fehmarn, wenn diese zur und dann wüssten auch Minister Tiefensee und die Lan- Transitstrecke ausgebaut wird und die Brücke die Land- desregierung in Schleswig-Holstein – an der sie ja betei- schaft verschandelt. ligt sind – endlich, woran sie wären. Aber ich weiß na- Deshalb fordere ich Sie dazu auf: Lassen Sie uns jetzt türlich, dass das nicht passieren wird. hier und heute endlich einen Schlussstrich unter diese unsinnige Planung setzen. Und Kollege Hacker, Ihnen Wir können leider nicht anders, als diesen Vorgang mit möchte ich noch sagen: Wir können eben nicht weitere Besorgnis zur Kenntnis zu nehmen. Ein schwacher Minis- Prüfungsergebnisse abwarten. Denn wenn die Bundesre- ter mag dem Oppositionspolitiker eine Freude sein – sel- gierung erst einmal eine Vereinbarung mit Dänemark ge- ten war Kritik an einem Verkehrsminister so einfach und troffen hat, dann sind Sie bestimmt der letzte, der den so berechtigt. Doch zugleich muss ein solcher Zustand Mut hat, dies im Bundestag wieder zu revidieren. jedem verantwortungsbewussten Volksvertreter, ob in der Opposition oder in der Regierung, zuwider sein. Auch das Bundesverkehrsministerium sieht die Feh- Denn den Schaden hat das Land. Ich kann sie, verehrte marnbelt-Querung erfreulicherweise nicht als vordring- Damen und Herren von der SPD, daher nur dazu auffor- lich an. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das nur dern, sich heute klar zu einer ergebnisoffenen Prüfung eine taktische Aussage war, damit die Dänen die volle fi- der Fehmarnbelt-Querung zu bekennen und jeder vorei- nanzielle Last und das gesamte Risiko übernehmen. ligen Entscheidung entschieden entgegenzutreten. Mit Wenn es aber der Versuch war, dass Projekt zu beerdi- ihrer Haltung schaden sie dem Ansehen Deutschlands gen, ohne dafür die politische Verantwortung überneh- und der Regierung – nicht nur bei der Fehmarnbelt- men zu müssen, so war die Strategie bislang sogar teil- Frage. weise erfolgreich. Jedenfalls mehrt sich auch in Dänemark die Einsicht, dass die von Deutschland vorge- schlagene Lastenverteilung nicht gerade gerecht ist. Lutz Heilmann (DIE LINKE): Wir befinden uns in der letzten Sitzungswoche vor Ostern. Nicht Weihnach- Als Bundespolitiker könnte man sich natürlich zu- ten. Die feste Fehmarnbelt-Querung erinnert aber an rücklehnen, wenn Deutschland praktisch nichts für die kindliche Weihnachtswünsche. Mit realistischer Politik Brücke bezahlt, weil Dänemark fast alles übernehmen hat sie nichts zu tun. So wie vielen sogenannten Ver- muss. Ich bin aber Abgeordneter aus Schleswig-Holstein kehrsexperten ein Blick auf die Straßenkarte genügt, um und als solcher liegen mir die von der Landesregierung festzustellen, dass sich darauf ein großes Loch befindet zugesagten 60 Millionen Euro schwer im Magen. Ange- 9336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 91. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. März 2007

(A) sichts der Gesamtkosten klingt das natürlich wenig. An- weit geringer ausfallen als ursprünglich angenommen. (C) gesichts der Mittelkürzungen in der letzten Zeit ist das Die privaten Geldgeber bestehen darauf, dass die Bun- aber sehr viel. So hat Schleswig-Holstein bei den Schü- desregierung die Refinanzierung über Mautgebühren mit lerverkehren, dem Urlaubs- und Weihnachtsgeld für Be- Staatsgarantien absichert. Decken die Einnahmen aus amte und dem Kommunalen Finanzausgleich erheblich den Mautgebühren die Kredite nicht, müssen die Steuer- gekürzt. Und einer mit dem Bundespreis für Effizienz gelder die Lücken füllen. ausgezeichneten Alphabetisierungskampagne der Volks- hochschulen wurde das Budget gestrichen: Einsparung Bundeskanzlerin Angela Merkel und Verkehrsminister ganze 100 000 Euro. 60 Millionen Euro sind also eine Wolfgang Tiefensee haben jedoch schon vor Wochen ganze Menge Geld für ein armes Bundesland wie deutlich gemacht, dass sich die Bundesregierung nicht im Schleswig-Holstein, die für wesentlich wichtigere Auf- erhofften Umfang an den Kosten für den Bau der Brücke gaben als eine überflüssige Brücke gebraucht werden! beteiligen wird. Die Kosten für die Hinterlandanbindung sind nicht im Bundesverkehrswegeplan eingestellt. Es ist Auf wie wackligen Beinen das ganze Projekt steht inzwischen mehr als unwahrscheinlich, dass sie im zwei- zeigt auch, dass großzügig 1,5 Milliarden Euro Zuschuss ten Investitionsrahmenplan 2011 bis 2015 bereitgestellt aus TEN-Mitteln eingeplant werden. Das ist nicht nur werden. unrealistisch, sondern auch unredlich. Die EU wurde ge- rade auf 27 Mitglieder erweitert. Meinen Sie nicht, dass Die schleswig-holsteinische Landesregierung hält an Europa keine dringlicheren Aufgaben hat als zwei alten, ihrer Traumtänzerei fest. Ministerpräsident Peter Harry reichen Mitgliedstaaten eine Brücke zu spendieren? Carstensen und Verkehrsminister erklären wiederholend, die Zuschüsse der EU seien in Aus den gut 8 Milliarden Euro TEN-Mitteln, die bis trockenen Tüchern. Diese Hoffnungen haben sich als 2013 zur Verfügung stehen, sollen 30 Projekte mit ge- Luftschlösser erwiesen. schätzten Kosten von insgesamt 600 Milliarden Euro fi- nanziert werden. Glauben Sie im Ernst, die EU bewilligt Dieses Ergebnis ist ein Erfolg. Bekanntlich hat die – wenn Sie überhaupt etwas bewilligt – den Höchstsatz Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen dieses ökolo- von 30 Prozent? Und beanspruchen Sie damit nicht gisch und ökonomisch unsinnige Projekt von Anfang an Geld, das viel dringender für den Ausbau der Verkehrs- abgelehnt. Das Projekt ist ein ökologisches Abenteuer, wege in die ost- und mitteleuropäischen Staaten ge- finanziell unvertretbar, kostet Arbeitsplätze und gefähr- braucht wird? Angela Merkels Rede zu 50 Jahren EU be- det die bestehende Fährlinie. jubeln, um bei der nächsten Gelegenheit den nationalen Egoismus bis zum Exzess auszuleben, das passt nicht Wir freuen uns, wenn diese unsinnigen Pläne endlich begraben werden. Weniger erfreulich ist, dass die Bezie- (B) zusammen, meine Damen und Herren von der Großen (D) Koalition. hungen zur dänischen Seite Schaden genommen haben. Die dänische Regierung fühlt sich von der Regierung Schon seit 45 Jahren wird der Bau einer festen Que- Schleswig-Holsteins hingehalten, mit Recht. Die schles- rung über den Fehmarnbelt zwischen Deutschland und wig-holsteinische Landesregierung hat Versprechungen Dänemark diskutiert. Lassen Sie uns diesen Albtraum gemacht, denen offensichtlich jede Grundlage fehlte. jetzt beenden, damit wir in einigen Jahren nicht das 50- jährige Jubiläum der gescheiterten Brückenträume feiern Der neueste Vorstoß der schleswig-holsteinischen müssen. Landesregierung musste das Fass zum Überlaufen brin- gen: Die Dänen sollten die Finanzlücke schließen und statt der Hälfte bis zu 80 Prozent zuschießen und damit Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nahezu das komplette finanzielle Risiko alleine schul- NEN): Noch ist es nicht offiziell, doch die Spatzen pfei- tern. Das Hin und Her der Deutschen hat auf dänischer fen es von Dächern: Die Pläne für den Bau einer festen Seite für Ärger gesorgt und das Interesse schwinden las- Fehmarnbelt-Querung sind so gut wie vom Tisch. sen. In der aktuellen Debatte bezweifeln dänische Wis- Für die Europäische Union hat das Projekt keine Prio- senschaftler und Verkehrspolitiker den Nutzen des Pro- rität. Wie neuerdings auch aus dem Bundesverkehrsmi- jekts. Sie fordern stattdessen eine innerdänische nisterium zu hören ist, misst die EU der festen Brücke Verbindung zwischen Jütland und Seeland. vom deutschen Puttgarden zum dänischen Rodby keine europäische Bedeutung bei. Das ist richtig so. Das Pro- Nun ist Schadensbegrenzung im deutsch-dänischen jekt ist ein regionales Infrastrukturprojekt. Ohne die Fi- Verhältnis gefragt. Die Bundesregierung wäre gut bera- nanzspritze der EU ist das Projekt nicht zu realisieren. ten, Einfluss auf die Kieler Landesregierung zu nehmen Allein für den Bau der Brücke werden rund vier Milliar- und intellektuelle Überzeugungsarbeit zu leisten. Dabei den Euro veranschlagt. Dazu kommen rund eineinhalb sollte die Berliner Große Koalition der Großen Koalition Milliarden Euro, um die Brücke an die bestehenden Ver- in Kiel klare inhaltliche Vorgaben machen. Der erste kehrsnetze anzubinden. Schritt wären offene Worte der schleswig-holsteinischen Landesregierung. Sie sollte ehrlich sein und sich ein für Private Investoren sind abgesprungen, nachdem be- alle Mal von ihrem Prestigeprojekt verabschieden. Der kannt wurde, dass voraussichtlich nicht annähernd so zweite Schritt wäre, zukunftsfähige Infrastrukturmaß- viele Autofahrer die feste Beltquerung nutzen würden, nahmen nicht länger zu blockieren und in nachhaltigen wie von der schleswig-holsteinischen Landesregierung Tourismus und den Ausbau der Fährverbindung nach behauptet. So werden wohl auch die Mauteinnahmen Dänemark zu investieren.

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