Plenarprotokoll 17/34

Deutscher

Stenografischer Bericht

34. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Inhalt:

Wahl des Abgeordneten Klaus-Peter Willsch Michael Link (Heilbronn) (FDP) ...... 3109 C zum Mitglied des Kuratoriums des Wissen- Axel Schäfer () (SPD) ...... 3110 D schaftszentrums für Sozialfor- schung ...... 3091 A Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) ...... 3112 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 3091 A Dr. Eva Högl (SPD) ...... 3115 A Absetzung des Zusatztagesordnungspunktes 1 Michael Stübgen (CDU/CSU) ...... 3116 C sowie der Tagesordnungspunkte 23 c, 28 f (BÜNDNIS 90/ und 28 g ...... 3092 C DIE GRÜNEN) ...... 3117 A (DIE LINKE) ...... 3117 B Tagesordnungspunkt 3:

Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU Tagesordnungspunkt 5: und der FDP: Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages a) Antrag der Fraktion der SPD: Rettungs- (Drucksache 17/1160) ...... 3092 C schirm für Kommunen – Strategie für handlungsfähige Städte, Gemeinden und Landkreise Tagesordnungspunkt 4: (Drucksache 17/1152) ...... 3119 B Abgabe einer Regierungserklärung durch die b) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Bundeskanzlerin: zum Europäischen Rat Dr. , Harald Koch, weiterer am 25./26. März 2010 in Brüssel ...... 3093 D Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verbindliches Mitwirkungs- Dr. , recht für Kommunen bei der Erar- Bundeskanzlerin ...... 3094 A beitung von Gesetzentwürfen und Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) ...... 3098 A Verordnungen sowie im Gesetzge- bungsverfahren Birgit Homburger (FDP) ...... 3100 A (Drucksache 17/1142) ...... 3119 B Dr. (DIE LINKE) ...... 3101 C c) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, (CDU/CSU) ...... 3104 B Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) ...... 3106 B LINKE: Zukunft der Kommunalfinan- zen – Transparenz gewährleisten und Volker Kauder (CDU/CSU) ...... 3106 D Öffentlichkeit herstellen Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/1143) ...... 3119 C DIE GRÜNEN) ...... 3107 A d) – Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) ...... 3107 C Fraktion der SPD eingebrachten Ent- II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

wurfs eines … Gesetzes zur Ände- regenerativen Medizin voranbringen rung des Umsatzsteuergesetzes und Deutschlands Spitzenposition aus- (Drucksachen 17/520, 17/869) ...... 3119 C bauen (Drucksache 17/908) ...... 3144 A – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung c) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, (Drucksache 17/872) ...... 3119 C Bärbel Höhn, , weiterer e) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Abgeordneter und der Fraktion BÜND- nanzausschusses zu dem Antrag der Frak- NIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucher- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Um- freundliche kostenfreie Warteschleifen satzsteuerermäßigung für Hotellerie bei telefonischen Dienstleistungen einfüh- zurücknehmen ren (Drucksache 17/1029) ...... (Drucksachen 17/447, 17/869) ...... 3119 D 3144 B Bernd Scheelen (SPD) ...... 3120 A d) Antrag der Abgeordneten Dr. , , , (CDU/CSU) ...... 3122 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 3124 B DIE LINKE: Verhandlungen über die Aufnahme Islands in die Europäische Dr. Birgit Reinemund (FDP) ...... 3125 C Union eröffnen Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/1059) ...... 3144 B DIE GRÜNEN) ...... 3127 A e) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und (CDU/CSU) ...... 3129 A der FDP: Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung Dr. h. c. (CDU/CSU) . . . . . 3130 A zum Beitrittsantrag der Republik Sabine Bätzing (SPD) ...... 3131 C Island zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom Gisela Piltz (FDP) ...... 3133 C 24. Februar 2010 zur Aufnahme von Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Beitrittsverhandlungen DIE GRÜNEN) ...... 3135 C hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 Gisela Piltz (FDP) ...... 3135 D GG i. V. m. § 10 des Gesetzes über die (DIE LINKE) ...... 3136 B Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angele- Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister genheiten der Europäischen Union BMF ...... 3137 C (Drucksache 17/1190) ...... 3144 C Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3139 A h) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Übergangsmaßnahmen zur Bernhard Kaster (CDU/CSU) ...... 3139 D Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes nach dem Inkrafttreten Joachim Poß (SPD) ...... 3141 B des Vertrages von Lissabon Dr. (CDU/CSU) ...... 3142 B (Drucksache 17/1179) ...... 3144 D i) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Namentliche Abstimmung ...... 3143 C der FDP: Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland Ergebnis ...... 3148 D (Drucksache 17/1162) ...... 3144 D j) Antrag der Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner, Martin Dörmann, Tagesordnungspunkt 28: Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordne- a) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- ter und der Fraktion der SPD: Für eine schung und Technikfolgenabschätzung Kinodigitalisierung, die den Erhalt un- gemäß § 56 a der Geschäftsordnung: serer Kinolandschaft sichert Technikfolgenabschätzung (TA) (Drucksache 17/1156) ...... 3144 D Zukunftsreport – Ubiquitäres Computing (Drucksache 17/405) ...... 3144 A Zusatztagesordnungspunkt 3: b) Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. , Dr. Hans- a) Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und GRÜNEN: Partei-Sponsoring transpa- der Fraktion der SPD: Adulte Stammzell- renter gestalten forschung ausweiten, Forschung in der (Drucksache 17/1169) ...... 3145 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 III b) Antrag der Abgeordneten Halina Verordnung zur Änderung der Einfuhr- Wawzyniak, Ulrich Maurer, , liste – Anlage zum Außenwirtschaftsge- weiterer Abgeordneter und der Fraktion setz – DIE LINKE: Parteien-Sponsoring im (Drucksachen 17/443, 17/1136) ...... 3147 A Parteiengesetz regeln h) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 17/892) ...... 3145 A Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Um- Tagesordnungspunkt 29: setzung der Dienstleistungsrichtlinie a) Zweite und dritte Beratung des von der auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie Bundesregierung eingebrachten Entwurfs zur Änderung umweltrechtlicher Vor- eines Gesetzes zur Änderung des Ab- schriften kommens vom 15. Dezember 1950 über (Drucksachen 17/862, 17/940 Nr. 2, 17/1212) 3147 A die Gründung eines Rates für die Zu- sammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens Zusatztagesordnungspunkt 4: (Drucksachen 17/759, 17/1207) ...... 3145 C a) Beschlussempfehlung und Bericht des b) Zweite und dritte Beratung des von der Rechtsausschusses: zu dem Streitverfah- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ren vor dem Bundesverfassungsgericht eines Gesetzes zu den Änderungsurkun- 2 BvG 1/10 den vom 24. November 2006 zur Kon- (Drucksache 17/1192) ...... 3147 B stitution und zur Konvention der Inter- nationalen Fernmeldeunion vom 22. De- b)–k) zember 1992 Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- (Drucksachen 17/760, 17/1197) ...... 3145 D schusses: Sammelübersichten 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69 und 70 zu Petitionen c) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksachen 17/1180, 17/1181, 17/1182, Bundesregierung eingebrachten Entwurfs 17/1183, 17/1184, 17/1185, 17/1186, eines Achten Gesetzes zur Änderung 17/1187, 17/1188, 17/1189) ...... 3147 C des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Drucksachen 17/800, 17/1198) ...... 3146 A Zusatztagesordnungspunkt 5: d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion menarbeit und Entwicklung zu dem An- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konsequen- trag der Abgeordneten , Ute zen aus den zahlreichen bekannt geworde- Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordne- nen Fällen sexuellen Missbrauchs in kirch- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE lichen und weltlichen Einrichtungen . . . . . 3151 A GRÜNEN: Beschlagnahmung von Ge- Renate Künast (BÜNDNIS 90/ nerika in Europa stoppen – Versorgung DIE GRÜNEN) ...... von Entwicklungsländern mit Gene- 3151 A rika sichern Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin (Drucksachen 17/448, 17/871) ...... 3146 D BMFSFJ ...... 3152 B e) Beschlussempfehlung und Bericht des (SPD)...... 3153 C Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, gie zu der Verordnung der Bundesregie- Bundesministerin BMJ ...... 3154 D rung: Achtundachtzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschafts- Diana Golze (DIE LINKE) ...... 3156 B verordnung Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) ...... 3157 B (Drucksachen 17/441, 17/1136) ...... 3146 C Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . 3158 C f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- (FDP) ...... 3159 B gie zu der Verordnung der Bundesregie- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ rung: Neunundachtzigste Verordnung DIE GRÜNEN) ...... 3160 B zur Änderung der Außenwirtschafts- verordnung Dorothee Bär (CDU/CSU) ...... 3161 B (Drucksachen 17/442, 17/1136) ...... 3146 D (SPD) ...... 3162 C g) Beschlussempfehlung und Bericht des Elisabeth Winkelmeier-Becker Ausschusses für Wirtschaft und Techno- (CDU/CSU) ...... 3163 C logie zu der Verordnung der Bundesre- gierung: Einhundertneunundfünfzigste (CDU/CSU) ...... 3164 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Tagesordnungspunkt 6: Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3189 B a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Dr. (BÜNDNIS 90/ Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände- DIE GRÜNEN) ...... 3189 D rung des Erneuerbare-Energien-Geset- zes Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 3190 A (Drucksache 17/1147) ...... 3166 A () (SPD) ...... 3191 B b) Antrag der Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva Bulling-Schröter, , weiterer Abgeordneter und der Tagesordnungspunkt 8: Fraktion DIE LINKE: Solarstromförde- a) Antrag der Abgeordneten , rung wirksam ausgestalten Holger Haibach, , weiterer (Drucksache 17/1144) ...... 3166 A Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Dr. (CDU/CSU) ...... 3166 B CSU sowie der Abgeordneten Harald Leibrecht, Helga Daub, Joachim Günther (SPD) ...... 3167 B (Plauen), weiterer Abgeordneter und der (FDP) ...... 3168 D Fraktion der FDP: Haiti eine langfristige Wiederaufbauperspektive geben Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 3170 A (Drucksache 17/1157) ...... 3192 D Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ b) Beschlussempfehlung und Bericht des DIE GRÜNEN) ...... 3171 C Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 3172 A menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Dr. , Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister , Lothar Binding (Heidel- BMU ...... 3173 D berg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zukunft für Haiti – Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Nachhaltigen Wiederaufbau unterstüt- DIE GRÜNEN) ...... 3175 B zen Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 3176 A (Drucksachen 17/885, 17/1214) ...... 3192 D Horst Meierhofer (FDP) ...... 3177 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- Dr. (SPD) ...... 3178 D menarbeit und Entwicklung Horst Meierhofer (FDP) ...... 3179 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 3179 C Heike Hänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und (SPD) ...... 3180 A der Fraktion DIE LINKE: Nachhal- Dirk Becker (SPD) ...... 3180 D tige Hilfe für Haiti: Entschuldung jetzt – Süd-Süd-Kooperation stär- Thomas Bareiß (CDU/CSU) ...... 3181 C ken – zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 7: Thilo Hoppe, Tom Koenigs, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Alexander Ulrich, Dr. Barbara Höll, weiterer NEN: Haiti entschulden und lang- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: fristig beim Wiederaufbau unter- reformieren – Staatsbankrotte stützen verhindern (Drucksache 17/1058) ...... 3182 B (Drucksachen 17/774, 17/791, 17/1099) . 3193 A Michael Schlecht (DIE LINKE) ...... 3182 C Harald Leibrecht (FDP) ...... 3193 B (CDU/CSU) ...... 3183 C Dr. Sascha Raabe (SPD) ...... 3194 B Manfred Zöllmer (SPD) ...... 3184 C Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 3196 B Dr. (FDP) ...... 3185 D Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) ...... 3196 D Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3187 C Klaus Riegert (CDU/CSU) ...... 3198 A Leo Dautzenberg (CDU/CSU) ...... 3188 D Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 3199 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 V

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit DIE GRÜNEN) ...... 3200 D grüner Elektromobilität ins postfossile Zeitalter (CDU/CSU) ...... 3202 B (Drucksache 17/1164) ...... 3220 A Kirsten Lühmann (SPD) ...... 3220 A Tagesordnungspunkt 9: (CDU/CSU) ...... 3221 D Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Dr. Hermann Ott, Kerstin Andreae, weiterer (DIE LINKE) ...... 3223 B Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Werner Simmling (FDP) ...... 3224 C NIS 90/DIE GRÜNEN: Finanzmärkte öko- logisch, ethisch und sozial neu ausrichten Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/795) ...... 3203 D DIE GRÜNEN) ...... 3225 D Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 3226 D DIE GRÜNEN) ...... 3204 A

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 3204 D Tagesordnungspunkt 12: (SPD) ...... 3206 B a) Beschlussempfehlung und Bericht des Frank Schäffler (FDP) ...... 3207 D Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktio- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 3208 D nen der CDU/CSU und der FDP: Men- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ schenrechte weltweit schützen DIE GRÜNEN) ...... 3209 C (Drucksachen 17/257, 17/1135) ...... 3227 D (CDU/CSU) ...... 3210 C b) Antrag der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), Iris Dr. (SPD) ...... 3211 C Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Menschenrechtsver- teidiger brauchen den Schutz der Euro- Tagesordnungspunkt 10: päischen Union Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP (Drucksache 17/1048) ...... 3228 A und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Freie und c) Antrag der Abgeordneten faire Wahlen im sicherstellen, den (Köln), (), Viola Friedensprozess über das Referendum von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeord- 2011 hinaus begleiten sowie die humanitäre neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE und menschenrechtliche Situation verbes- GRÜNEN: Mehr Schutz für Menschen- sern rechtsverteidigerinnen und Menschen- (Drucksache 17/1158) ...... 3212 D rechtsverteidiger (CDU/CSU) ...... 3212 D (Drucksache 17/1165) ...... 3228 A Christoph Strässer (SPD) ...... 3214 A Serkan Tören (FDP) ...... 3228 B (FDP) ...... 3215 C Christoph Strässer (SPD) ...... 3229 D (DIE LINKE) ...... 3216 D (CDU/CSU) ...... 3231 C Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3217 D DIE GRÜNEN) ...... 3232 C Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . 3219 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3233 C Tagesordnungspunkt 11: Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 3234 A a) Antrag der Abgeordneten Uwe Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Beckmeyer, Sören Bartol, , DIE GRÜNEN) ...... 3235 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mobilität nachhaltig gestalten – Erfolgreichen Ansatz der integrierten Tagesordnungspunkt 17: Verkehrspolitik fortentwickeln a) Erste Beratung des von der Fraktion der (Drucksache 17/1060) ...... 3219 D SPD eingebrachten Entwurfs eines … Ge- b) Antrag der Abgeordneten Winfried setzes zur Änderung des Grundgesetzes Hermann, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef (Artikel 28 Absatz 1) Fell, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Drucksache 17/1047) ...... 3237 A VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Tagesordnungspunkt 13: Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Ingrid Antrag der Fraktion der SPD: Modernisie- Hönlinger, weiteren Abgeordneten und rungspartnerschaft mit Russland – Ge- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- meinsame Sicherheit in Europa durch stär- NEN eingebrachten Entwurfs eines … kere Kooperation und Verflechtung Gesetzes zur Änderung des Grundge- (Drucksache 17/1153) ...... 3246 B setzes (Artikel 28 Absatz 1 – Kommuna- les Ausländerwahlrecht) (Drucksache 17/1150) ...... 3237 A Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten , c) Antrag der Abgeordneten Sevim Dr. Gesine Lötzsch, Dr. , wei- Dağdelen, Katrin Kunert, Jan Korte, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Altschulden der ostdeutschen LINKE: Kommunales Wahlrecht für Wohnungsunternehmen streichen Drittstaatsangehörige einführen (Drucksache 17/1148) ...... (Drucksache 17/1146) ...... 3237 B 3246 C Rüdiger Veit (SPD) ...... 3237 C in Verbindung mit (CDU/CSU) ...... 3239 A Zusatztagesordnungspunkt 6: Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 3240 B Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, , wei- Serkan Tören (FDP) ...... 3241 B terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ Altschuldenentlastung für Wohnungsun- DIE GRÜNEN) ...... 3242 C ternehmen in den neuen Ländern (Drucksache 17/1154) ...... 3246 C (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 3243 B (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . 3246 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 3244 B Hans-Joachim Hacker (SPD) ...... 3247 B Petra Müller (Aachen) (FDP) ...... 3248 A Tagesordnungspunkt 14: Heidrun Bluhm (DIE LINKE) ...... 3248 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- DIE GRÜNEN) ...... 3249 C torsicherheit zu der Unterrichtung der Jan Mücke, Parl. Staatssekretär Bundesregierung: Vorschlag für eine Ver- BMVBS ...... 3250 A ordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Inverkehrbringen und die Verwendung von Biozidprodukten Zusatztagesordnungspunkt 7: (Text von Bedeutung für den EWR) (inkl. 11063/09 ADD 1 und 11063/09 ADD 2) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (ADD 1 in Englisch) schusses für Ernährung, Landwirtschaft und KOM(2009) 267 endg.; Ratsdok. 11063/09 Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- (Drucksachen 17/136 Nr. A.94, 17/1218) . . . 3245 C ordneten Undine Kurth (Quedlinburg), , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Tagesordnungspunkt 15: NIS 90/DIE GRÜNEN: Europäische Tier- Antrag der Abgeordneten Matthias W. versuchsrichtlinie muss ethischem Tier- Birkwald, , Heidrun Dittrich, wei- schutz Rechnung tragen – Stellungnahme terer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE: des Deutschen Bundestages gemäß Arti- Zur Stabilisierung des Rentenniveaus: kel 23 Absatz 3 Grundgesetz Riester-Faktor streichen – Keine nachho- (Drucksachen 17/792, 17/1208) ...... 3251 A lenden Rentendämpfungen vornehmen (Drucksache 17/1145) ...... 3246 A Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie Tagesordnungspunkt 16: Hein, , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Kooperationsverbot in der Bildung unver- Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abge- züglich aufheben ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (Drucksache 17/785) ...... 3251 C GRÜNEN: Anbau von gentechnisch verän- derter Kartoffel Amflora verhindern (CDU/CSU) ...... 3251 C (Drucksache 17/1028) ...... 3246 A (Schwandorf) (SPD) . . . . 3252 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 VII

Swen Schulz (Spandau) (SPD) ...... 3253 B (SPD) ...... 3268 B Patrick Meinhardt (FDP) ...... 3254 A Serkan Tören (FDP) ...... 3269 B Dr. (DIE LINKE) ...... 3254 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 3269 D Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3255 D DIE GRÜNEN) ...... 3271 D

Tagesordnungspunkt 20: Nächste Sitzung ...... 3272 C Antrag der Abgeordneten Dr. , Agnes Alpers, Dr. , weiterer Anlage 1 Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verpflichtung zur Registrierung aller klini- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 3273 A schen Studien und zur Veröffentlichung al- ler Studienergebnisse einführen Anlage 2 (Drucksache 17/893) ...... 3256 B Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- Dr. (CDU/CSU) ...... 3256 C schen Bundestages, die an der Wahl des René Röspel (SPD) ...... 3257 A Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages teilgenommen haben (Tagesordnungspunkt 3) 3273 B/D Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 3257 D Lars Lindemann (FDP) ...... 3258 D Anlage 3 Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 3259 C Mündliche Frage 87 (BÜNDNIS 90/ Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3260 D DIE GRÜNEN) Zusage für eine Exportbürgschaft zum Tagesordnungspunkt 21: Weiterbau des Atomkraftwerks Angra 3 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten durch Siemens in Brasilien Sabine Zimmermann, , Antwort Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär der Fraktion DIE LINKE eingebrachten BMWi Entwurfs eines Gesetzes zur Entfristung (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) ...... der freiwilligen Weiterversicherung in 3276 A der Arbeitslosenversicherung (Drucksache 17/1141) ...... 3261 D Anlage 4 b) Antrag der Abgeordneten Brigitte Mündliche Frage 91 Pothmer, , Katrin Göring- Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ Eckardt, weiterer Abgeordneter und der DIE GRÜNEN) Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Förderung des Exports deutscher Atom- Freiwillige Arbeitslosenversicherung technologie statt Technologien im Bereich für Selbständige entfristen und aus- erneuerbarer Energien nach Brasilien bauen (Drucksache 17/1166) ...... 3262 A Antwort (CDU/CSU) ...... 3262 A Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 3263 D (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) ...... 3276 B Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) ...... 3264 C Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 3265 C Anlage 5 Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Mündliche Frage 92 DIE GRÜNEN) ...... 3266 A Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 22: Polnische Pläne zum Bau von Atomkraft- Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, werken in Polen sowie Unterstützung Alexander Ulrich, Jan van Aken, weiterer Ab- durch deutsche oder europäische Finanz- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für hilfen die Demokratisierung des Gewerkschafts- Antwort rechts in der Türkei Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär (Drucksache 17/1101) ...... 3266 D BMWi Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) ...... 3266 D (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) ...... 3276 B VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Anlage 6 nachholenden Rentendämpfungen vornehmen (Tagesordnungspunkt 15) Mündliche Frage 114 (SPD) Peter Weiß () (CDU/CSU) . . . . 3284 A Konsequenzen einer Verlagerung der (CDU/CSU) ...... 3285 A Pflege in die Familien und Konzeption der Anton Schaaf (SPD) ...... 3285 D Pflegeteilzeit Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 3287 C Antwort Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) ...... 3288 B Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn BMFSFJ (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) ...... 3276 C 3289 A

Anlage 11 Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Erklärung der Abgeordneten Dr. Ursula von des Antrags: Anbau von gentechnisch verän- der Leyen (CDU/CSU) zur namentlichen Ab- derter Kartoffel Amflora verhindern stimmung über den Entwurf eines … Geset- (Tagesordnungspunkt 16) zes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 5 d) ...... 3277 A Carola Stauche (CDU/CSU) ...... 3289 C (CDU/CSU) ...... 3290 C Anlage 8 Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 3291 B Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 3292 A – Beschlussempfehlung und Bericht: Men- Dr. (DIE LINKE) ...... 3293 A schenrechte weltweit schützen Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ – Antrag: Menschenrechtsverteidiger brau- DIE GRÜNEN) ...... 3293 D chen den Schutz der Europäischen Union – Antrag: Mehr Schutz für Menschenrechts- Anlage 12 verteidigerinnen und Menschenrechtsver- Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung teidiger des Antrags: Modernisierungspartnerschaft (Tagesordnungspunkt 12 a bis c) mit Russland – Gemeinsame Sicherheit in Eu- Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) ...... 3277 A ropa durch stärkere Kooperation und Ver- flechtung (Tagesordnungspunkt 13) Anlage 9 Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) ...... 3294 D Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung Franz Thönnes (SPD) ...... 3296 D der Beschlussempfehlung und des Berichts: Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) ...... 3298 D Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- schen Parlaments und des Rates über das In- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 3299 D verkehrbringen und die Verwendung von Bio- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ zidprodukten (Text von Bedeutung für den DIE GRÜNEN) ...... 3300 C EWR) (inkl. 11063/09 ADD 1 und 11063/09 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) (Tagesord- nungspunkt 14) Anlage 13 (CDU/CSU) ...... 3277 D Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung Josef Göppel (CDU/CSU) ...... 3279 D der Beschlussempfehlung und des Berichts: Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi- Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 3280 B schem Tierschutz Rechnung tragen – Stel- Dr. Lutz Knopek (FDP) ...... 3282 A lungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz (Zu- Ralph Lenkert (DIE LINKE) ...... 3282 D satztagesordnungspunkt 7) Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 3301 C DIE GRÜNEN) ...... 3283 B Heinz Paula (SPD) ...... 3303 B Anlage 10 Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 3304 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Alexander Süßmair (DIE LINKE) ...... 3305 C des Antrags: Zur Stabilisierung des Renten- Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ niveaus: Riester-Faktor streichen – Keine DIE GRÜNEN) ...... 3306 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3091

(A) (C) Redetext

34. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Überweisungsvorschlag: Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll der Kollege ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- Klaus-Peter Willsch für eine weitere Amtszeit zum sprache Mitglied des Kuratoriums des Wissenschaftszen- Ergänzung zu TOP 29 trums Berlin für Sozialforschung gewählt werden. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? – Das ist richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) offenkundig der Fall. Damit ist der Kollege Willsch er- neut zum Mitglied dieses Kuratoriums gewählt. zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver- fassungsgericht 2 BvG 1/10 Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- – Drucksache 17/1192 – geführten Punkte zu erweitern: (B) Berichterstattung: (D) ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der Abgeordneter Siegfried Kauder SPD: (Villingen-Schwenningen) Haltung der Bundesregierung zur Ablehnung b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- des bayerischen Gesundheitsministers Markus ausschusses (2. Ausschuss) Söder, eine Kopfpauschale anstelle der bisheri- gen solidarischen Finanzierung der gesetzli- Sammelübersicht 61 zu Petitionen chen Krankenversicherung einzuführen – Drucksache 17/1180 – ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) zur Antwort der Bundesregierung auf die Frage 1 auf Drucksache 17/1107 Sammelübersicht 62 zu Petitionen (siehe 33. Sitzung) – Drucksache 17/1181 – ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ergänzung zu TOP 28 ausschusses (2. Ausschuss) a) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND- Sammelübersicht 63 zu Petitionen NIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/1182 – Partei-Sponsoring transparenter gestalten e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 17/1169 – ausschusses (2. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Sammelübersicht 64 zu Petitionen Rechtsausschuss – Drucksache 17/1183 – b) Beratung des Antrags der Abgeordneten , Ulrich Maurer, Jan Korte, weiterer f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE ausschusses (2. Ausschuss) Parteien-Sponsoring im Parteiengesetz regeln Sammelübersicht 65 zu Petitionen – Drucksache 17/892 – – Drucksache 17/1184 – 3092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- (C) ausschusses (2. Ausschuss) weit erforderlich, abgewichen werden. Sammelübersicht 66 zu Petitionen Die Tagesordnungspunkte 13 und 17 sollen getauscht – Drucksache 17/1185 – sowie die Tagesordnungspunkte 23 c, 28 f und 28 g ab- gesetzt werden. Darf ich auch hierfür Ihr Einvernehmen h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- feststellen? – Das ist offenkundig der Fall. ausschusses (2. Ausschuss) Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf: Sammelübersicht 67 zu Petitionen Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und – Drucksache 17/1186 – der FDP i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages Sammelübersicht 68 zu Petitionen – Drucksache 17/1160 – – Drucksache 17/1187 – Bevor ich etwas zum Ablauf der Wahl sage, möchte j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ich mich zunächst an unseren amtierenden Wehrbeauf- ausschusses (2. Ausschuss) tragten, Reinhold Robbe, wenden. Sammelübersicht 69 zu Petitionen Lieber Kollege Robbe, Sie blicken auf eine bald fünf- – Drucksache 17/1188 – jährige Amtszeit als Wehrbeauftragter des Bundestages k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- zurück, so wie es das Grundgesetz vorsieht. In Ihrer ausschusses (2. Ausschuss) Amtszeit haben Sie als Wehrbeauftragter im Auftrag des Bundestages einen wesentlichen Beitrag zur parlamenta- Sammelübersicht 70 zu Petitionen rischen Kontrolle der als Parlamentsheer – Drucksache 17/1189 – geleistet. Sie haben sich mit vielfältigen Aspekten der Bundeswehr befasst, den besonderen Bedingungen der ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Auslandseinsätze die angemessene Bedeutung bei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: gemessen und in Ihren Berichten erforderlichen Korrek- Konsequenzen aus den zahlreichen bekannt turbedarf bei von Ihnen festgestellten und monierten gewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs in Fehlentwicklungen verdeutlicht. kirchlichen und weltlichen Einrichtungen (B) Sie waren ein wichtiger Ansprechpartner für die Mit- (D) ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- glieder des Deutschen Bundestages, insbesondere des Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, Verteidigungsausschusses. Ansprechpartner waren Sie weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD aber auch und ganz besonders für die Soldatinnen und Altschuldenentlastung für Wohnungsunter- Soldaten. Diese konnten sich in den vergangenen fünf nehmen in den neuen Ländern Jahren darauf verlassen, dass ihre Sorgen und Nöte ernst genommen werden und der Wehrbeauftragte sich nicht – Drucksache 17/1154 – scheut, berechtigte Anliegen vorzubringen und auf Ver- Überweisungsvorschlag: besserungen zu drängen. Bei einem gemeinsamen Trup- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) penbesuch konnte ich selber einen Eindruck von dem Ausschuss für Wirtschaft und Technolgie Haushaltsausschuss hohen Ansehen gewinnen, das Sie sich bei den Soldatin- nen und Soldaten erworben haben. ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Robbe, im Namen schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu der Soldatinnen und Soldaten für Ihre Arbeit als Wehr- dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth beauftragter danken, ganz besonders aber auch im Na- (Quedlinburg), Cornelia Behm, Alexander men des ganzen Hauses, aller Mitglieder des Deutschen Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bundestages. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Anhaltender Beifall im ganzen Hause) Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi- schem Tierschutz Rechnung tragen – Stellung- Wir danken Ihnen für Ihre verdienstvolle Tätigkeit und nahme des Deutschen Bundestages gemäß Ar- wünschen Ihnen für den weiteren Lebensweg alles Gute! tikel 23 Absatz 3 Grundgesetz (Beifall im ganzen Hause) – Drucksachen 17/792, 17/1208 – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun Berichterstattung: zur Wahl. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP Abgeordnete Dieter Stier haben den Abgeordneten Hellmut Königshaus als Wehr- Heinz Paula beauftragten des Bundestages vorgeschlagen. Dr. Christel Happach-Kasan Alexander Süßmair Ich darf Sie um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hin- Undine Kurth (Quedlinburg) weise zum Wahlverfahren bitten: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3093

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Nach § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen das (C) des Deutschen Bundestages sind zur Wahl die Stimmen Ergebnis der Wahl des Wehrbeauftragten bekannt: ab- der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, das heißt gegebene Stimmen 579, ungültige Stimmen keine. Mit mindestens 312 Stimmen, erforderlich. Der Wehrbeauf- Ja haben gestimmt 375 Mitglieder des Bundestages, tragte wird mit verdeckten Stimmkarten, also geheim, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gewählt. Sie benötigen für die Wahl Ihren Wahlausweis, bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und den Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkar- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tenfach entnehmen können. Bitte kontrollieren Sie, ob der Wahlausweis Ihren Namen trägt. Die für die Wahl mit Nein gestimmt haben 163 Kolleginnen und Kolle- gültige Stimmkarte und den amtlichen Wahlumschlag gen, Enthaltungen gab es 41.1) erhalten Sie von den Schriftführerinnen und Schriftfüh- rern an den Ausgabetischen neben den Wahlkabinen. Gemäß § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages ist gewählt, wer die Stim- Um einen reibungslosen Ablauf der Wahl zu gewähr- men der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also leisten, bitte ich Sie, von Ihren Plätzen aus über die seit- 312 Stimmen, auf sich vereinigt. Ich stelle fest, dass der lichen Zugänge und nicht durch den Mittelgang zu den Abgeordnete Hellmut Königshaus mit der erforderlichen Ausgabetischen zu gehen. Nachdem Sie Ihre Stimmkarte Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Deutschen in der Wahlkabine gekennzeichnet und in den Wahlum- Bundestages zum Wehrbeauftragten gewählt worden ist. schlag gelegt haben, gehen Sie bitte zu den Wahlurnen (Beifall im ganzen Hause) vor dem Rednerpult. Ich frage Sie, Herr Kollege Königshaus: Nehmen Sie Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, dass Sie die Wahl an? Ihre Stimmkarte nur in der Wahlkabine ankreuzen dür- fen und die Stimmkarte ebenfalls noch in der Wahlka- bine in den Umschlag legen müssen. Die Schriftführe- Hellmut Königshaus (FDP): rinnen und Schriftführer sind verpflichtet, jeden, der Herr Präsident, ich nehme die Wahl gerne an und be- seine Stimmkarte außerhalb der Wahlkabine kennzeich- danke mich. net oder in den Umschlag legt, zurückzuweisen. Gegebe- (Beifall im ganzen Hause) nenfalls kann die Stimmabgabe vorschriftsmäßig wie- derholt werden. Präsident Dr. Norbert Lammert: Dass die Stimmkarten nur mit einem Kreuz bei „Ja“, Herr Abgeordneter Königshaus, ich gratuliere Ihnen „Nein“ oder „enthalte mich“ gültig sind, setze ich als all- persönlich und im Namen des ganzen Hauses zu dieser (B) gemein bekannt voraus, weise aber ausdrücklich noch Wahl und wünsche Ihnen Kraft, Erfolg und eine gute (D) einmal darauf hin. Ungültig sind Stimmen auf nicht amt- Hand bei der Führung Ihres Amtes. lichen Stimmkarten sowie Stimmkarten, die mehr als ein (Beifall im ganzen Hause – Abg. Hellmut Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten. Königshaus [FDP] nimmt Glückwünsche ent- Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen wer- gegen) fen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einem der Darf ich vorschlagen, dass wir im Interesse der zügi- Schriftführer an der Wahlurne. Der Nachweis der Teil- gen weiteren Behandlung unserer Tagesordnung zum nahme an der Wahl kann nur durch die Abgabe des nächsten wichtigen Punkt kommen? Herr Kollege Wahlausweises erbracht werden. Königshaus, könnten Sie freundlicherweise die bemer- Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, kenswerte Reihe der Gratulanten entweder vertrösten die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Das ist offenbar oder an den Rand des Plenums geleiten? der Fall. Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 4 auf: Ich bitte, zum Empfang der Stimmkarte zu den Aus- Abgabe einer Regierungserklärung durch die gabetischen zu gehen. Der Wahlgang ist eröffnet. Bundeskanzlerin Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mit- zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 glied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht in Brüssel abgegeben hat? – Das scheint nicht der Fall zu sein. Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion Dann schließe ich die Wahl und bitte die Schriftführerin- der SPD, zwei Entschließungsanträge der Fraktion Die nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Für die Auszählung unterbreche ich die Sitzung für Bündnis 90/Die Grünen vor. etwa 15 Minuten. Diese Debatte wird im Übrigen außer im Parlaments- (Unterbrechung von 9.31 bis 9.55 Uhr) fernsehen und in Phoenix auch im Hauptprogramm der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten übertragen, Präsident Dr. Norbert Lammert: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz (Beifall) zu nehmen. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröff- net. 1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2 3094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) was ich aus vielerlei Gründen ausdrücklich begrüße und Lissabon-Strategie zum Schluss sage und schreibe (C) mit Respekt registriere. 25 quantitative Ziele gezählt. Hinzu kommt eine noch wesentlich größere Zahl an qualitativen Zielen. Am Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ende sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- Genau das wollen wir ändern. rung 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Wider- spruch. Dann können wir so verfahren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Deutschland hat deshalb gefordert, für die neue EU- die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. 2020-Strategie den Zielkatalog deutlich zu reduzieren. Ich freue mich, dass Präsident Van Rompuy jetzt ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Konzept zur Reform der Lissabon-Strategie auf den Tisch gelegt hat, das genau diesen Gedanken aufgreift. Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Dennoch: Wir dürfen trotz aller Unzulänglichkeiten Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die eines nicht vergessen: Viele der Reformen, die die Mit- schlimmste Weltwirtschaftskrise seit den 30er-Jahren gliedstaaten in den Jahren vor der weltweiten Finanz- des letzten Jahrhunderts stellt die Europäische Union und Wirtschaftskrise zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfä- und ihre Mitgliedstaaten weiter vor außerordentliche He- higkeit durchgeführt haben, waren auch das Ergebnis ei- rausforderungen. Hinzu kommen für uns alle die Aufga- nes Voneinander-Lernens, das Ergebnis genau dieser ben, die durch die zunehmende Alterung unserer Bevöl- Lissabon-Strategie, die das Benchmarking eingeführt kerung, den drohenden Klimawandel und einen sich hatte und die uns immer wieder hat schauen lassen: Wie zulasten Europas verschärfenden internationalen Wett- machen es andere? bewerb entstehen. Es kann kein Zweifel bestehen: Eu- ropa und die 27 Mitgliedstaaten müssen ihre Anstren- Mit der neuen EU-2020-Strategie gehen wir zweierlei gungen weiter verstärken, um diese außerordentlich an: Einerseits übernehmen wir die Stärken der Lissabon- großen Herausforderungen meistern zu können. Es be- Strategie, und wir versuchen gleichzeitig, ihre Defizite steht aber auch kein Zweifel: Deutschland ist bereit zu beseitigen: dazu. Ich bin überzeugt: Deutschland ist in der Lage, sei- Erstens. Es werden nur noch einige wenige prioritäre nen Beitrag für ein erfolgreiches Europa zu leisten. Ziele gesetzt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweitens – das ist vielleicht noch wichtiger –: Diese Wir alle wissen: Kein Mitgliedstaat der Europäischen wenigen EU-Ziele sollen mit der Verbesserung der inter- (B) Union kann diese Aufgaben unserer Zeit im Alleingang nationalen Wettbewerbsfähigkeit Europas und der För- (D) bewältigen. Wir brauchen einander. Wer das nicht er- derung eines nachhaltigen Wachstums in direktem Zu- kennt, der hat die einzigartige Erfolgsgeschichte der eu- sammenhang stehen. Die Ziele sind also ausgerichtet auf ropäischen Einigungsidee nicht verstanden. Gemeinsam die Zielstellung der Strategie. sind wir stärker. Drittens. Für die Umsetzung dieser Ziele müssen die Deshalb begrüße ich die Bemühungen der Europäi- Staats- und Regierungschefs konkret die Verantwortung schen Präsidentschaft und der Europäischen Kommis- übernehmen. sion für eine neue europäische Wachstumsstrategie, die Meine Damen und Herren, mit der EU-2020-Strategie sogenannte Strategie EU 2020. Auf Eckpunkte dieser wollen und werden wir die Innovationsfähigkeit Euro- EU-2020-Strategie wollen wir uns heute und morgen in pas stärken. Man muss ganz nüchtern sagen: Der An- Brüssel einigen. Eine solche Strategie ist von großer Be- spruch der Lissabon-Strategie, dass wir der wettbe- deutung, weil im Binnenmarkt die europäischen Volks- werbsfähigste und innovativste Kontinent schon bis wirtschaften in einer unauflöslichen gegenseitigen Ab- 2010 sind, hat sich nicht erfüllt. Trotzdem bleibt das hängigkeitsbeziehung stehen. Wir erleben gerade in Thema Innovationsfähigkeit natürlich auf der Tagesord- diesen Tagen schmerzlich, dass Fehler in der Wirt- nung. schaftspolitik einzelner Staaten zu beträchtlichen ökono- mischen Verwerfungen insgesamt führen können. Um- Deshalb unterstütze ich ausdrücklich den Vorschlag gekehrt haben wir in der Geschichte der Europäischen von Präsident Barroso, 3 Prozent des europäischen Brut- Union auch immer wieder erlebt, dass Strukturreformen toinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aus- in einzelnen Mitgliedstaaten sich gegenseitig bereichern zugeben. In aller Bescheidenheit können wir hinzufü- können. Damit wirkt die Zusammenarbeit der Mitglied- gen: Deutschland ist wie schon in anderen Bereichen staaten zum Wohle aller in der ganzen Europäischen auch hier einer der Vorreiter in Europa. Wir werden auf Union. der Bundesseite das 3-Prozent-Ziel sehr schnell erfüllen. Wir werden auch gesamtstaatlich daran arbeiten und ha- Ich kenne die Einwände, die gegen die neue EU- ben uns vorgenommen, bis 2015 die Ausgaben für Bil- 2020-Strategie vorgebracht werden. Ich sage ausdrück- dung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlands- lich: Ich nehme diese Einwände ernst, und ich weiß auch produkts zu steigern. um die Defizite, die schon die sogenannte Lissabon- Strategie hatte. Vorneweg war eines dieser Defizite die Es reicht nicht aus, wenn sich die Europäische Union fehlende Prioritätensetzung und damit verbunden eine das Ziel einer Beschäftigungsquote von 75 Prozent mangelnde politische Verbindlichkeit. Wir haben in der setzt, wie das jetzt geplant ist. Es müssen dazu natürlich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3095

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) auch die richtigen Maßnahmen getroffen werden. Das lung der vom Europäischen Rat unter deutscher (C) heißt, das 75-Prozent-Ziel können wir teilen. Aber wir Präsidentschaft beschlossenen Energie- und Klimaziele müssen das Erreichte – Deutschland hat dieses Ziel im auch im Rahmen der EU-2020-Strategie zu verankern Wesentlichen erreicht – auch festigen und zukunftsfest und voranzubringen. machen. Deshalb geht es neben Forschung und Entwick- Ich füge allerdings hinzu: Da die Wahrheit oft im lung auch darum, bestehende Beschäftigungshemm- Kleingedruckten steckt, wird Deutschland ein waches nisse zu beseitigen, indem wir zum Beispiel die Auf- Auge auf die Diskussion haben, die in diesem Zusam- nahme einer regulären Arbeit für die Bezieher von menhang in der Europäischen Kommission im An- Arbeitslosengeld II attraktiver ausgestalten wollen. Wir schluss an den Europäischen Rat zum Thema Energie- werden das innenpolitisch anpacken und auch damit ei- effizienz geführt wird. Deutschland nimmt die nen Beitrag zur Stärkung Europas leisten. Verantwortung, die sich durch eine Vorreiterrolle für den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Klimaschutz in Europa ergibt, weiterhin konsequent wahr. Einen wichtigen Impuls für Fortschritte in den in- Damit verbunden ist aber natürlich auch, dass diese ternationalen Verhandlungen werden wir auch noch ein- Zielsetzungen – das zeigt sich an einem weiteren Ziel – mal mit der Ministerkonferenz des Bundesumweltminis- auf die innere und spezifische Situation der Mitglied- ters für den Klimaschutz vom 2. bis 4. Mai in staaten ausgerichtet sein müssen. Jeder weiß: Gute Bil- setzen. dung für alle, das ist die Voraussetzung für eine hohe Rate qualifizierter Beschäftigung. Aber die Gegebenhei- Allerdings müssen wir auch darauf achten, dass sich ten in den einzelnen Mitgliedstaaten sind unterschied- die vereinbarten Maßnahmen in der Europäischen Union lich. Ich kann und werde heute in Brüssel nicht einfach nicht gegenseitig widersprechen, sondern dass sie in sich ein pauschales EU-Ziel zur Quote der Hochschulabsol- konsistent sind. So kann man nach meiner Auffassung, venten unterstützen; denn wir müssen zum Beispiel da- wenn man sich zum Beispiel für den Zertifikatehandel rauf achten, dass die deutschen Berufsbildungsab- entscheidet, nicht gleichzeitig Steuern und Ähnliches schlüsse bestimmten Hochschulabschlüssen in anderen einführen. Das bringt kein konsistentes Bild in die ge- Mitgliedstaaten durchaus ebenbürtig sind. Das müssen samte Debatte. wir miteinander vergleichen und dafür auch werben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen nicht Deshalb teile ich an dieser Stelle ausdrücklich die Auf- verschweigen, dass es bei der Beratung der EU-2020- fassung der Ministerpräsidenten der Länder: Hier gibt es Strategie heute ein Thema geben wird, zu dem es von mir für ein quantitatives Ziel keine Unterstützung geben (B) noch Beratungsbedarf, und dafür werden wir (D) uns nehmen. wird. Ich meine die Bekämpfung der Armut in Europa. Natürlich: Alle wollen Armut bekämpfen, nie- Dennoch bin ich optimistisch, dass wir uns auf euro- mand von uns findet sich mit ihr ab. Wir als Bundesre- päischer Ebene auf ein vernünftiges Verfahren für ein gierung verfolgen das gemeinsam mit den die Regierung Bildungsziel verständigen können, und zwar unter einer tragenden Fraktionen ganz konsequent. Außerdem gilt: Voraussetzung: Es muss die spezifischen Gegebenheiten Soweit die Armutsbekämpfung über mehr Wachstum er- der einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigen. reicht werden kann, gehört sie in die neue europäische Meine Damen und Herren, ich habe es schon oft ge- Strategie 2020. Aber – darum geht es mir – Armutsbe- sagt und wiederhole es heute, weil man es nicht oft ge- kämpfung ist viel mehr als wirtschaftliches Wachstum. nug wiederholen kann: Niemals darf die große Heraus- Sie ist eine sozialpolitische Aufgabe. Diese ist – ich erin- forderung der Bewältigung der weltweiten Finanz- und nere an den Grundsatz der Subsidiarität – mit gutem Wirtschaftskrise gleichsam als Ausrede dafür herhalten, Grund Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Da sollten wir andere große Herausforderungen in den Hintergrund tre- sie auch belassen. ten zu lassen. Das muss auch für den heutigen EU-Rat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vermieden werden, weil etwa die Erfüllung der Klima- und Energieziele der Europäischen Union keinen Auf- Das ist ein klassisches Beispiel dafür, dass wir nicht schub duldet. mehr alle Ziele aufnehmen können, die man für gut und richtig hält, sondern dass man genau schauen muss: Wo (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind die Prioritäten? Wo muss man bestimmte Aufgaben an die Mitgliedstaaten verweisen? Der Strukturwandel in Richtung einer kohlenstoffar- men Wirtschaft muss konsequent vorangetrieben wer- Die Ziele der neuen EU-2020-Strategie werden heute den. Das hat dann natürlich auch einen ökonomischen und morgen im Rat beraten. Nach den Vorschriften des Mehrwert; denn wenn wir in Europa diesen Struktur- Vertrages von Lissabon sind sie für die Mitgliedstaaten wandel frühzeitig einleiten und umsetzen, wird dies zu zwar rechtlich nicht bindend, dennoch – davon bin ich erheblichen Wettbewerbsvorteilen für unsere Industrie überzeugt – werden sie eine nicht zu unterschätzende im globalen Wettbewerb führen. Wir müssen also – das politische Bindungswirkung entfalten. Denn in Zukunft muss uns leiten – unsere Chancen erkennen, und darüber kommt gerade dem Rat bei dem Beschluss solcher Ziele hinaus gilt: Wir müssen diese Chancen dann auch konse- eine ungleich größere Verantwortung als früher zu, weil quent gemeinsam nutzen. Deshalb unterstütze ich aus- wir auch für die Einhaltung dieser Ziele geradestehen drücklich den Vorschlag der EU-Kommission, die Erfül- müssen. Deshalb ist es wichtig, dass wir, wenn die Kom- 3096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) mission regelmäßig überprüfen will, ob wir diese Ziele lands erleben mussten, war und ist dieser Pakt nicht ein- (C) einhalten, auch zu Hause miteinander – das bedeutet die gestellt. Deshalb sage ich: Ein solches Unterlaufen muss Diskussion im Deutschen Bundestag, das bedeutet auch für die Zukunft unterbunden werden. Wir dürfen nicht die Diskussion mit dem Bundesrat – intensiver als früher mit Europas Zukunft spielen. diskutieren; denn nur wenn ein solches Ziel breit getra- gen wird von denen, die die parlamentarischen Entschei- Ich werde das heute und morgen in Brüssel unmiss- dungen in Deutschland fällen, kann ich das Ziel für verständlich deutlich machen. Deutschland ist sich hier Deutschland umsetzen. Nur dann können wir auch ak- seiner historischen Verantwortung bewusst. Die Wirt- zeptieren, dass die Kommission auf diese Einhaltung schafts- und Währungsunion wurde seinerzeit maßgeb- pocht. Das heißt also, wir vereinbaren Ziele nur dann, lich von der deutschen Bundesregierung geprägt. wenn wir gemeinsam, mehrheitlich in diesem Hause zu und haben für ein Regelwerk der Überzeugung kommen, dass es die richtigen und gekämpft, das die Stabilität des Euro dauerhaft garan- wichtige Ziele sind. tiert. Das hat sich ausgezahlt: Der Euro ist heute stabiler, als die D-Mark es je war. Der Euro hat uns gerade bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Bewältigung der internationalen Finanzkrise sehr ge- holfen. In der Debatte um die Strategie EU 2020 wurde in den vergangenen Wochen immer wieder die Verknüp- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fung des Stabilitätspaktes mit der neuen Wachstums- strategie gefordert. Ich habe mich immer wieder konse- Als man die vertraglichen Grundlagen für die Einfüh- quent, wie auch die ganze Bundesregierung dies getan rung des Euro geschaffen hat, hat man sich eine außerge- hat, dagegen gewendet. Ich hielte es für falsch, wenn wir wöhnliche Situation wie die schwerste Wirtschafts- und Wachstum gegen Stabilität ausspielen würden, wenn wir Finanzkrise seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufweichen würden. allerdings nicht vorgestellt. Ich füge hinzu: vielleicht hat Ich hielte es sogar für verhängnisvoll. man es sich auch nicht vorstellen können; denn wir alle sind mit Dingen konfrontiert worden, die außerhalb des- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen waren, was wir erwartet haben. Deshalb wurden in Deshalb bin ich froh, dass das verhindert werden den europäischen Verträgen keine Vorkehrungen getrof- konnte. Wir können uns eine Verwässerung des Stabili- fen, um eine solche Situation beherrschen zu können. tätspaktes nicht leisten. Mit der Bundesregierung – ich Würde ein Mitglied der Währungsunion in der gegen- glaube, dafür auch die Unterstützung des Parlaments zu wärtigen Situation zahlungsunfähig, bedeutete dies für haben – wird es sie nicht geben. Zur Rückkehr zu soli- uns alle in Europa gravierende Risiken, auch für (B) den Staatsfinanzen gibt es nämlich keine vernünftige Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas. Wie (D) Alternative. unkontrollierbare Kettenreaktionen entstehen und die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ganze Weltwirtschaft erschüttern können, haben wir im [SPD]: Fangen Sie in Deutsch- Herbst 2008, nach dem Zusammenbruch von Lehman land schon mal an!) Brothers, erlebt. Es ist also sowohl im europäischen als auch im wohlverstandenen deutschen Interesse, schwer- Hier darf nicht getrickst werden. Sie brauchen sich auch wiegende Störungen der Finanzstabilität in der Eurozone gar keine Sorgen machen, dass wir nicht anfangen. Al- oder der globalen Finanzmärkte zu vermeiden. lein das Grundgesetz zwingt uns dazu. So weit wollen und dürfen wir es nicht kommen las- (Sigmar Gabriel [SPD]: Weiß Herr sen. Deshalb haben die Staats- und Regierungschefs Westerwelle das auch?) beim letzten EU-Gipfel, am 11. Februar, klar vereinbart: Das ist der richtige Ort, an dem die Schuldenbremse ver- Wenn es notwendig sein sollte, sind die Euromitglieds- ankert ist. länder bereit, entschlossen und koordiniert zu handeln, um die Finanzstabilität in der Eurozone insgesamt zu si- Alle Mitgliedstaaten müssen diesen Weg gehen. Nur chern. mit der Rückführung der Defizite in jedem einzelnen Mitgliedstaat kann Europa das Vertrauen in seine wirt- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaftliche Stärke, seine gemeinsame Währung und NEN]: Nur über das Wie können sie sich nicht seine politische Handlungsfähigkeit sichern. Das ist un- einigen!) verzichtbar für die Zukunft Europas. Diese Vereinbarung – Sie erinnern sich – wurde ganz Aber wir spüren in diesen Wochen durchaus auch die wesentlich in einer Kooperation zwischen Deutschland Grenzen des Stabilitätspaktes. Er war und ist nicht da- und Frankreich erreicht. Sie hat sich schon jetzt bewährt. rauf ausgerichtet, strukturelle Fehlentwicklungen und Heute, sechs Wochen später, können wir eine erste Zwi- den damit verbundenen Aufbau von erheblichen Un- schenbilanz dieser Entscheidung ziehen. Wir stellen fest: gleichgewichten in der EU zu erkennen. Es ist noch kein Euro und kein Cent für die Unterstüt- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zung Griechenlands ausgegeben worden. Bislang ist NEN]: Aha!) Griechenland nicht zahlungsunfähig geworden. Auch sind düstere Vorhersagen über die Entwicklung in ande- Um es klipp und klar zu sagen: Auf ein bewusstes Unter- ren Mitgliedstaaten nicht Realität geworden. Stattdessen laufen seiner Kriterien, wie wir das im Falle Griechen- hat Griechenland ein ambitioniertes Sparprogramm be- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3097

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) schlossen und erfolgreich eine Anleihe an den Märkten mit sich eine solche Situation nicht wiederholen kann. (C) platziert. Wir haben gesehen, dass das aktuelle Instrumentarium der Währungsunion unzureichend ist. Wolfgang Ich glaube, sagen zu können, dass sich Europa am Schäuble hat darauf hingewiesen und weiterführende 11. Februar in einer Stunde der größten ökonomischen Maßnahmen vorgeschlagen, die ich ausdrücklich unter- und politischen Herausforderung als gleichermaßen ent- stütze. Wir beraten schon heute eine Verordnung, die schieden, aber auch besonnen gezeigt hat; das hat seine Eurostat das Recht gibt, kritische Fragen direkt vor Ort Effekte gezeitigt. Ich wiederhole: Deutschland und zu prüfen. Frankreich haben dabei sehr eng zusammengearbeitet. (Sigmar Gabriel [SPD]: Donnerwetter!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wissen: Jede weitere Entscheidung über die kurz- – Auch Sie waren daran beteiligt, als wir Eurostat das fristige Stabilisierung eines Mitgliedstaats der Europäi- verboten haben. schen Union muss im Einklang mit der langfristigen Sta- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bilität der Wirtschafts- und Währungsunion getroffen Sigmar Gabriel [SPD]. Herr Steinbrück hat Ih- werden. Ich bin mir als deutsche Bundeskanzlerin der nen doch gesagt, was Sie machen müssen!) außerordentlich großen Verantwortung in dieser Stunde bewusst. Denn das deutsche Volk hat im Vertrauen auf Tricksereien muss ein Riegel vorgeschoben werden. einen stabilen Euro seinerzeit die D-Mark aufgegeben. Aber mehr Eingriffsbefugnisse für Eurostat allein wer- Dieses Vertrauen – das eint die ganze Bundesregierung – den nicht ausreichen. Wir müssen mit Blick auf die Zu- darf unter keinen Umständen enttäuscht werden. kunft folgende Fragen beantworten: Was passiert, wenn trotz aller Vorkehrungen ein Eurostaat zahlungsunfähig (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wird? Welche Möglichkeiten gibt es, dies in ein geordne- Deshalb sage ich: Ein guter Europäer ist nicht unbe- tes Verfahren zu bringen, ohne dass die Stabilität der dingt der, der schnell hilft. Ein guter Europäer ist der, der Währungsunion erschüttert wird, sondern dass sie ge- die europäischen Verträge und das jeweilige nationale schützt wird? Recht achtet und so hilft, dass die Stabilität der Euro- Deshalb werde ich mich auch für erforderliche Ver- zone keinen Schaden nimmt. tragsänderungen einsetzen, damit Fehlentwicklungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durch geeignete Sanktionen früher und effektiver be- kämpft werden können. Hier steht insbesondere die Das war die Richtschnur des bisherigen Handelns des Stärkung des Defizitverfahrens auf der Agenda. Das Bundesfinanzministers, von mir und der gesamten Bun- ist eine Aufgabe, die weit über den heute beginnenden (B) desregierung. Das ist die Richtschnur aller Entscheidun- EU-Rat hinausreicht. Sie will wohl überlegt sein. Aber (D) gen heute und morgen auf dem Rat und auch in Zukunft. auf Dauer werden wir einer solchen Antwort nicht aus- Heute und morgen geht es darum, die Entscheidungen weichen können. des Rats vom 11. Februar zu spezifizieren, also darum, Eines möchte ich an dieser Stelle noch erwähnen, fortzuschreiben, wie wir im äußersten Notfall als Ultima wenn auch nur am Rande: Es ist geradezu absurd, Ratio – so haben wir es gesagt – agieren können, wenn Deutschland mit seiner wettbewerbsstarken Wirtschaft die Stabilität gefährdet ist, wenn ein Eurostaat keinen gleichsam zum Sündenbock für die Entwicklung zu ma- Zugang zu den internationalen Finanzmärkten mehr hat, chen, die wir jetzt zu bewältigen haben. wenn dieser Zugang also erschöpft ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Für einen solchen Notfall haben die Finanzminister bei Abgeordneten der SPD) Gemeinschaftshilfen ausgeschlossen und sich für bilate- rale Hilfen ausgesprochen. Unsere Kritiker in Europa verkennen, dass unsere Ex- portgewinne zum Teil in die Defizitländer zurückflie- Die Bundesregierung wird sich beim Rat heute und ßen und dass Deutschland auch das größte Importland morgen dafür einsetzen, dass im Notfall eine Kombina- Europas ist. Deutsche Unternehmen haben 500 Milliar- tion von Hilfen des IWF und gemeinsamen bilateralen den Euro in der EU investiert und beschäftigen dort Hilfen in der Eurozone gewährt werden müsste. Aber mehr als 2,7 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- dies ist – ich sage es noch einmal – die Ultima Ratio. Ich nehmer. Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zur werde entschieden dafür eintreten, dass eine solche Ent- Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas, auch auf scheidung – IWF plus bilaterale Hilfen – gelingt. Dabei den Weltmärkten. Darauf können wir zu Recht stolz werden wir wieder sehr eng mit Frankreich zusammen- sein. arbeiten. Ich wiederhole: Es geht nicht um konkrete Hil- fen, sondern um eine Spezifizierung und Fortschreibung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Entscheidung vom 11. Februar. bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, mit alldem dürfen wir un- Meine Damen und Herren, die Staats- und Regie- sere Arbeiten keinesfalls beenden; das würde nicht aus- rungschefs werden auf ihrem heute beginnenden Gipfel reichen. Denn eine Situation, wie wir sie nie vorausgese- ein neues und anspruchsvolles Kapitel der wirtschaftli- hen haben, kann nicht einfach übergangen werden, chen Zusammenarbeit Europas aufschlagen. Wir werden sondern Europa muss daraus die richtigen Lehren für die in Europa noch stärker zusammenrücken. Wir werden Zukunft ziehen. Wir müssen Vorkehrungen treffen, da- damit unsere Interessen in der Welt noch besser vertreten 3098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) können. Unsere politische Generation wird auch in unse- nen quantifizierten Zielen zustimmen können, deren Er- (C) rer Zeit der großen Verantwortung gerecht, die uns die füllung von der Kommission nicht belegt werden könne. Gründer der wunderbaren Idee der Einigung Europas vor (Joachim Poß [SPD]: Hört! Hört!) über 50 Jahren mit auf den Weg gegeben haben. Hier schleicht sich die Klimakanzlerin davon. Europa ist Friedensgemeinschaft, Europa ist Rechts- gemeinschaft, Europa ist Stabilitäts- und Wachstumsge- (Beifall bei der SPD) meinschaft, Europa ist unsere Zukunft. Diese Idee zu Genauso haben Sie im Haushalt nicht die Mittel zur Ver- schützen und zu wahren, das war und das ist jede Mühe fügung gestellt, die zur Erreichung des Klimaschutzes in und Anstrengung wert. Dafür setzt sich die Bundesregie- den Entwicklungsländern notwendig sind. rung und dafür setze ich mich in den nächsten beiden Ta- gen ganz persönlich ein. Frau Kanzlerin, das passt zu den verheerenden Signa- len, die Ihre Regierung in Deutschland selbst setzt: Die Herzlichen Dank. Förderung der erneuerbaren Energien wird von heute auf (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und morgen reduziert, und die Investoren werden damit ver- der FDP) unsichert. Die Markteinführungsprogramme für Effi- zienztechnologien und Wärmeerzeugung werden ge- kürzt und gesperrt. Die Wärmedämmung wird nur noch Präsident Dr. Norbert Lammert: halbherzig unterstützt. Wegen der anstehenden Entschei- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- dung über die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwer- nächst der Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren für die ken sind die Kraftwerkserneuerungsprogramme auf Eis SPD-Fraktion. gelegt. So kann schon Deutschland seine Klimaziele (Beifall bei der SPD) nicht erreichen. (Beifall bei der SPD) Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen uns, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Europa müsse noch stärker zusammenrücken. Wie soll Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr enttäuscht über das denn geschehen? Die Staats- und Regierungschefs Ihre Erklärung, Frau Bundeskanzlerin. – so darf ich Sie zitieren – müssten dafür geradestehen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die gemeinsam erarbeiteten Empfehlungen zu Hause der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE umzusetzen. – Wenn Sie sich nicht für eine stärkere GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – wirtschaftspolitische Koordinierung einsetzen, dann (B) Das ist aber schade! – Das war klar!) bleibt Ihr Verweis auf eine Wirtschaftsregierung nur ein (D) leeres Zugeständnis an Staatspräsident Sarkozy und eine Sie haben angekündigt, dass beim heute beginnenden Mogelpackung. Europäischen Rat ein neues und anspruchsvolles Kapitel der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa aufge- (Beifall bei der SPD) schlagen werden soll. Frau Kanzlerin, ich vermisse den Der Europäische Rat bereitet auch den G-20-Gipfel in anspruchsvollen und leidenschaftlichen Beitrag der Bun- Toronto vor. Das wichtigste Thema wird die Reform des desregierung zu dieser Strategie, die uns in den nächsten Finanzsektors sein. Eine international vereinbarte zehn Jahren zu wirtschaftlichem, sozialem und ökologi- Steuer auf den Handel von Finanzprodukten würde zu schem Erfolg führen soll. einer Entschleunigung des Finanzroulettes beitragen. (Beifall bei der SPD) Leider ist nicht klar, ob die Bundesregierung eine solche Steuer weiterhin unterstützt. Stattdessen, Frau Bundeskanzlerin, erklären Sie uns, welche von der Kommission vorgeschlagenen Ziele Sie (Beifall bei der SPD) zwar gut finden, aber doch bitte nicht so genau festge- Heute wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, den Deut- schrieben haben wollen. Man könnte die schwarz-gelbe schen Bundestag darüber zu informieren. Koalition sonst ja gegebenenfalls daran messen, ob sie tatsächlich Entscheidendes getan hat, um die Chancen- (Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr! Nirgendwo gleichheit in der Bildung herzustellen oder die Armut aufgestellt, diese Regierung!) abzubauen. Wo, sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, ist Wenn wir von Verantwortung sprechen, dann, Frau denn der kräftige Pinselstrich dieser Regierung im Hin- Bundeskanzlerin, muss ich Ihnen sagen: Sie sind Ihrer blick auf die Strategie EU 2020, der unsere europäischen Verantwortung in den letzten Wochen nicht gerecht ge- Gesellschaften wirklich mit Innovationen voranbringt? worden. ( [SPD]: Davon haben wir (Beifall bei der SPD) nichts gespürt!) In diesen Wochen, in denen sich viele Menschen Sorgen Sie sagen, Sie unterstützten die unter deutscher Präsi- um die Stabilität des Euro und um den Zusammenhalt dentschaft beschlossenen Energie- und Klimaziele der der Währungsunion machen, betreiben Sie und Ihre Re- Union. Aber Misstrauen ist angesagt. Denn gleichzeitig gierung eine unstete und unentschlossene Politik, eine haben Sie dem Rats- und dem Kommissionspräsidenten Politik der Unentschiedenheit und des Attentismus. Sie brieflich übermittelt, dass Sie auf dem März-Gipfel kei- sagen heute: Griechenland wird nicht geholfen. – Mor- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3099

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) gen verkündet der Finanzminister, er setze sich für einen Sie brechen mit der Tradition der deutschen Europa- (C) EWF ein. Und vom Außenminister ist dröhnendes politik all Ihrer Vorgänger. Sie isolieren Deutschland in Schweigen zu vernehmen. Das ist eine unehrliche und Europa. opportunistische Verhaltensweise. Dies alles, Frau Bundeskanzlerin, sind keineswegs (Beifall bei der SPD – Jürgen Trittin [BÜND- moralisierende Vorhaltungen. Ökonomischer Sachver- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für ein Außen- stand müsste Ihnen klarmachen, dass Sie mit Ihrem Hin minister?) und Her die Spekulationsjongleure stärken. Der Devi- Ja, Griechenland hat seine schwierige Lage überwie- senmarkt interpretiert die von Ihnen genährten Spekula- gend selbst verursacht. Während der frühere griechische tionen bereits als Schwäche des Euro. Wenn es so wei- Ministerpräsident Karamanlis mit Goldman Sachs ge- tergeht, wird bald nicht nur Griechenland Hilfe zockt hat, erweist sich der heutige Ministerpräsident benötigen. Papandreou aber als wahrer Patriot. Er – das sollten Sie (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Auch die zur Kenntnis nehmen – und die aktuelle Regierung ha- SPD!) ben mit der Politik der Vorgängerregierung gebrochen. Die jetzige Regierung bettelt nicht um Hilfe. Papandreou Auch Portugal ist bereits im Visier der Spekulanten. hat seiner Bevölkerung ein strenges Spar- und Reform- paket verordnet, das seinesgleichen sucht. Er nimmt ein Die Stabilität der Eurozone liegt im ureigenen deut- hohes persönliches, aber auch ökonomisches und sozia- schen Interesse. les Risiko für sein Land auf sich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Heute ist übrigens griechischer Nationalfeiertag. Wir Helmut Schmidt und Helmut Kohl wussten beide, dass wünschen der griechischen Bevölkerung von hier aus das Wohlergehen der Europäischen Union auch Wohl- Mut, Kraft und Erfolg bei den Reformbemühungen. stand für Deutschland bedeutet. Deutschlands Interessen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten können nicht gegen die Interessen der EU gestellt wer- der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- den. Die wiederholt vorgetragene Forderung der Bun- SES 90/DIE GRÜNEN) desregierung, ein Mitgliedsland gegebenenfalls aus der Der Ministerpräsident will, dass Griechenland die Eurozone auszuschließen, widerspricht dem EU-Vertrag. Krise aus eigener Kraft bewältigt. Aber Sie, Frau Die Diskussion über einen möglichen Rausschmiss muss Merkel, fallen ihm in den Rücken. so schnell wie möglich beendet werden, um Schlimme- res zu verhindern. (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (D) Jedes Mal, wenn Sie sich äußern und verkünden, nein, Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]) über Hilfsprogramme spreche man nicht, ja, Griechen- land müsse seine Probleme allein lösen, nein, es gebe Statt zu spalten, sollte die Bundesregierung konstruktive keinen Anlass, über Hilfen zu spekulieren, heizen Sie die Vorschläge machen, wie weiteren Wirtschafts- und Fi- Spekulationen an. nanzkrisen in der EU vorgebeugt werden kann und wie (Beifall bei der SPD) solche Krisen gegebenenfalls gemanagt werden sollen. Das Ziel muss sein, Heterogenität zu verringern, Innova- Jedes Mal, wenn Sie sprechen, fallen die Kurse für Grie- tionen voranzubringen, die Produktivität nachhaltig zu chenland, und der Spread steigt; das heißt, die Griechen steigern und die Kaufkraft zu stärken. Nur so können wir müssen mehr als doppelt so hohe Zinsen wie Deutsch- wirtschaftliche Ungleichgewichte verringern und ge- land für Anleihen bezahlen. meinsam stark sein. (Die Rednerin hält ein Schriftstück hoch) Frau Bundeskanzlerin, wir sollten uns nicht vom Au- Ich darf Ihnen hier ein unverdächtiges Blatt zeigen. ßenminister von Luxemburg sagen lassen müssen, dass Diese Grafik bildet die Kursschwankungen ab. Die die EU eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wer sollte dies Deutschland schreibt: Merkels riskantes besser wissen als wir Deutschen? Frau Merkel, greifen Spiel mit den Märkten. Offensichtlich, Frau Bundes- Sie die Initiative des Präsidenten des Europäischen Ra- kanzlerin, wollen Sie nach der Methode der Zeitung mit tes, Van Rompuy, des spanischen Ministerpräsidenten den vier großen Buchstaben das vermeintliche Bauchge- Zapatero und des Vorsitzenden der Eurogruppe, Juncker, fühl potenzieller Wähler in NRW ansprechen. auf und werden Sie Ihrer Verantwortung in und für Eu- ropa und Deutschland gerecht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Danke schön. Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr! – Thomas Oppermann [SPD]: Durchsichtig!) (Beifall bei der SPD) In Wahrheit verunsichern Sie die Bevölkerung. Sie be- schädigen Ihren Finanzminister. Sie verprellen die euro- Präsident Dr. Norbert Lammert: päischen Partner, indem Sie ihnen die kalte Schulter zei- Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger gen. Mit Ihrem Verhalten kündigen Sie die europäische für die FDP-Fraktion. Solidarität auf. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Zuruf von der CDU/CSU: Absurd!) der CDU/CSU) 3100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Birgit Homburger (FDP): Wir können es uns nicht erlauben, kreative Köpfe auf (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Bildungsweg zu verlieren. Deshalb setzen wir als der Diskussion über die Strategie Europa 2020 für Koalition diese Schwerpunkte, und sie sind richtig. Wachstum und Beschäftigung werden die Lehren aus der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gescheiterten Lissabon-Strategie gezogen. Das ist gut so. Bei der Lissabon-Strategie hatte man sich zu viel auf zu Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen: Frau vielen Gebieten vorgenommen, vor allen Dingen auf Ge- Bundeskanzlerin, Sie haben unsere volle Unterstützung, bieten, auf denen die EU keine eigene Kompetenz hat. wenn Sie nicht dafür eintreten, dass ein pauschales EU- Damit hat man der europäischen Integration keinen Ge- Ziel zur Quote von Hochschulabsolventen eingeführt fallen getan. wird. Ich sage das ganz ausdrücklich mit Blick beispiels- weise auf den sehr speziellen Studiengang der Berufs- Deshalb ist es gut, dass der Schwerpunkt jetzt auf akademien, der sehr praxisorientiert ist und eine exzel- Schlüsselbereiche gelegt wird, dass weniger Ziele, dafür lente Ausbildung darstellt. Das muss auch entsprechend aber erreichbare Ziele definiert werden. Es ist auch gut, gewertet werden. dass eine Koordinierung erfolgt. Genauso wichtig ist es aber, dass dort, wo die Mitgliedstaaten die Kompetenz In der bildungspolitischen Werteskala ist das deutsche und die Verantwortung haben, weiter die Mitgliedstaaten System der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Eu- handeln. ropa zu niedrig eingeordnet. Wir sind der Meinung, dass es eine Gleichwertigkeit der betrieblichen und der aka- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten demischen Ausbildung gibt. Wenn ich mir die hochwer- der CDU/CSU) tige Meisterausbildung in Deutschland anschaue, dann Mit Blick auf die Diskussion in den letzten Tagen ist wird klar, dass wir erwarten müssen, dass das auch in festzustellen, dass das Ziel nicht die Konvergenz der Europa den entsprechenden Respekt und die entspre- Mitgliedstaaten in Richtung des kleinsten gemeinsamen chende Beachtung findet. Nenners sein kann. Die europäischen Volkswirtschaften (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bilden kein nach außen abgeschlossenes Nullsummen- der CDU/CSU) spiel, wo sich die Besten nur zurücklehnen müssten, da- mit es allen anderen besser geht. Wir befinden uns in ei- Zur Energie- und Klimapolitik will ich hier nur eine nem internationalen Wettbewerb. Deshalb ist es wichtig, kurze Bemerkung machen. Es ist gut, dass das in der dass wir deutlich machen: Niemandem in Europa ist ge- Strategie EU 2020 erstmals aufgenommen worden ist holfen, wenn sich die Wettbewerbsfähigkeit Deutsch- und vorangetrieben werden soll. Wir haben uns hier in lands verschlechtert. Deutschland als Koalition sogar ehrgeizigere Ziele ge- (B) setzt, Frau Schwall-Düren, (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Eva Högl [SPD]: Oh ja!) Deshalb werden wir weiter daran arbeiten, die Wettbe- und wir werden die Erreichung dieser Ziele durch das werbsfähigkeit dieses Landes zu stärken. Energiekonzept und die Überprüfung des integrierten Energie- und Klimaprogramms in Deutschland entschie- Die Grundlage unseres Wohlstands sind gut ausgebil- den voranbringen. dete und motivierte Menschen, die Produkte und Dienst- leistungen in hoher Qualität erfinden und erzeugen bzw. Wir haben in den letzten Tagen eine zentrale Diskus- bereitstellen. sion über den Stabilitätspakt geführt; das ist jetzt auch in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu Unsere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Ländern au- Recht angesprochen worden. Es ist ja gefordert worden, ßerhalb der EU hängt wesentlich von Bildung, For- den Stabilitätspakt mit der EU-Strategie 2020 zu ver- schung und Innovation ab. Deshalb ist es gut, dass hier knüpfen. Wir sind froh, dass es gelungen ist, das zu ver- Ziele definiert werden, zum Beispiel, 3 Prozent des hindern. Der Stabilitätspakt darf nicht aufgeweicht wer- Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung den. aufzuwenden. Wir haben uns in Deutschland vorgenom- men, bis zum Jahr 2015 10 Prozent für Bildung und For- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schung auszugeben. Wir haben bei der Einführung des Euro für diesen Wir sind der Überzeugung, dass es mehr Investitionen Stabilitätspakt gekämpft, und wir werden ihn weiter mit in die Köpfe von Menschen bedarf. Das haben wir schon aller Macht verteidigen. Ich denke, dass es richtig ist, jetzt im Haushalt 2010 umgesetzt, indem wir 750 Millio- dass alle Mitgliedstaaten zunächst einmal ihre Hausauf- gaben machen müssen. Der Kern dabei sind solide nen Euro zusätzlich für Bildung und Forschung einge- Staatsfinanzen. Diese Koalition hat sich genau das auch stellt haben, und wir werden im Laufe dieser Legislatur- für Deutschland vorgenommen. periode 12 Milliarden Euro zusätzlich in diesen Bereich investieren, weil wir überzeugt sind, dass das ein Schlüs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten selbereich ist, und weil wir der Auffassung sind, dass wir der CDU/CSU) auf dem Weg zu Innovationen in der Bildung einen Schwerpunkt setzen müssen. Der Präsident der Europäischen Kommission, Barroso, hat geäußert: Ohne Solidarität gäbe es keine (Joachim Poß [SPD]: Trotzdem wollt ihr Stabilität. – In dieser Woche fand der Besuch des Präsi- Steuerkürzungen vornehmen!) denten des Europäischen Parlaments, Herrn Buzek, statt, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3101

Birgit Homburger (A) der in unserer Fraktion mit uns diskutiert und deutlich Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) gemacht hat, dass Solidarität Verantwortung erfordert. Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich: Wir Fraktion Die Linke. begrüßen die Schritte, die Griechenland jetzt eingeleitet hat. (Beifall bei der LINKEN) Ich sage aber auch sehr deutlich, dass es wichtig ist, dass Hilfen eben nicht „ins Schaufenster gestellt“ wor- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): den sind, sondern dass die Bundeskanzlerin und die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundesregierung in den Verhandlungen auf europäischer Homburger, an Ihnen schätze ich am meisten, dass die- Ebene deutlich gemacht haben, dass wir erwarten, dass ses Pult hochgefahren werden muss, wenn Sie vor mir Griechenland eigene Anstrengungen unternimmt. Diese gesprochen haben. Das ist bei mir so selten der Fall. Anstrengungen wollen wir unterstützen, und wir begrü- ßen sie auch. (Heiterkeit) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Präsident Dr. Norbert Lammert: der CDU/CSU) Herr Gysi, wenn wir Ihnen damit eine besondere Frau Schwall-Düren, entgegen Ihrer Analyse ist es Freude machen können, würde ich mich darum bemü- nämlich so, dass es durch die Art und Weise, in der die hen, dass wir das vor Beginn einer Rede von Ihnen prin- Bundesregierung agiert hat, wieder zu mehr Stabilität zipiell so einführen. gekommen ist. Die Bundesrepublik Deutschland spielt eine maßgebliche Rolle bei der Bewältigung der Krise. Das ist wichtig. Deshalb hat die Bundeskanzlerin bei Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): dieser Verhandlungsstrategie ganz ausdrücklich unsere Dann machen Sie das öfter. Unterstützung. Ich sage auch, Frau Bundeskanzlerin: (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Sollte am Ende ein Ergebnis stehen, bei dem der IWF LINKEN) und damit auch die spezifischen Kompetenzen und Fä- higkeiten des IWF mit ins Boot geholt werden, dann fin- Aber bitte ziehen Sie mir das nicht von der Redezeit ab. det das ausdrücklich die Unterstützung unserer Fraktion und – ich glaube – auch der gesamten Koalition. Ich habe gehört, Frau Bundeskanzlerin, dass beim EU-Gipfel die Verabschiedung eines Programms mit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dem Titel „Europa 2020 – eine Strategie für intelligen- Abschließend, meine sehr verehrten Damen und Her- tes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ vorgese- (B) (D) ren, möchte ich noch eine Bemerkung machen: Ich bin hen ist. Dann ist mir eingefallen, dass es seit dem davon überzeugt, dass über das hinaus, was jetzt bespro- Jahre 2000 schon eine Lissabon-Strategie gab. Laut Lis- chen worden ist, bei der Bewältigung der Finanz- und sabon-Strategie sollte die Europäische Union bis 2010 – Wirtschaftskrise auch europäisch gehandelt werden daran möchte ich erinnern – zum wettbewerbsfähigsten, muss. Wir als Koalition haben in dieser Woche eine be- dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der merkenswerte Initiative auf den Weg gebracht und deut- Welt werden. Nun hat auch die EU-Kommission festge- lich gemacht, dass diejenigen, die die Krise verursacht stellt, dass von diesen Zielen keines erreicht ist. Es wa- haben, auch dafür geradestehen und an den Kosten betei- ren mehr Arbeitsplätze und ein größerer sozialer Zusam- ligt werden müssen. menhalt versprochen. Davon kann keine Rede sein. Dieser Zehnjahresplan ist gescheitert. Wir sind der Auffassung, dass es weiterer Initiativen bedarf. Es muss auf europäischer Ebene auch über die (Zuruf von der CDU/CSU: Es klappt aber Frage der Produktaufsicht und Produktregulierung ge- nicht mit der Planwirtschaft!) sprochen werden. Da, wo wir europäisch handeln kön- nen, sollten wir das auch tun. Nun kennen wir beide ja auch die Fünfjahrespläne aus staatssozialistischen Ländern, die alle gescheitert sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel ist eine neue Verantwortungsethik in der Wirtschaft. Das wollen (Beifall bei Abgeordneten der FDP) wir. Denjenigen, die die Verantwortung tragen und die Entscheidungsmöglichkeiten haben, muss klar sein, dass Deshalb sage ich: Ihr Vorhaben, einen zweiten Zehnjah- sie auch das Risiko tragen und die Verantwortung über- resplan zu starten, wird ebenso scheitern. nehmen müssen. Das durchzusetzen, ist eine ganz we- (Beifall bei der LINKEN) sentliche Aufgabe, die sich diese Koalition vorgenom- men hat. Nun sind in dem Programm einige konkrete Ziele festgelegt – Sie haben sie genannt –: die Steigerung der (Widerspruch von der SPD) Ausgaben für Forschung und Entwicklung, mehr Ausga- Wir werden uns dabei nicht auf Deutschland beschrän- ben für Bildung, eine wirksamere Armutsbekämpfung, ken, sondern auch auf europäischer Ebene Initiativen er- eine Beschäftigungsquote von 75 Prozent – diese Quote greifen. liegt in Deutschland jetzt bei 69,4 Prozent, allerdings einschließlich der gesamten prekären Beschäftigung –, Vielen Dank. außerdem sind Energie- und Klimaprogramme vorgese- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hen. 3102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Gregor Gysi (A) Sie sagen jetzt aber, Frau Bundeskanzlerin: Deutsch- (Beifall bei der LINKEN) (C) land wird weder bei der Höhe der Bildungsausgaben Wir haben 16 Bundesländer und 16 verschiedene Schul- noch bei der Armutsbekämpfung konkrete Ziele verfol- systeme. Das finden Sie toll und nennen es Wettbewerb. gen. – Das lehnen Sie einfach ab. Gleichzeitig sagen Sie, Ich sage Ihnen: Das ist eine Benachteiligung von Kin- dass man sich auf Schwerpunkte konzentrieren muss. dern je nach dem zufälligen Geburtsort. Das ist nicht Darf ich das so verstehen, dass Armutsbekämpfung hinnehmbar. nicht Ihr Schwerpunkt ist? Es wird aber höchste Zeit, dass wir in Deutschland Armut sehr wirksam bekämp- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten fen. der SPD – Widerspruch bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) – Sie können noch so viel herumbrüllen. – Ich möchte im Unterschied zu Ihnen, dass wir endlich ein Top-Bil- Ich nenne Ihnen dazu einige Zahlen: In Deutschland dungssystem bekommen, und zwar von Mecklenburg- gibt es den größten Niedriglohnsektor aller Industrie- Vorpommern bis Bayern. Ich möchte, dass alle Kinder staaten: Er umfasst ein Viertel der Beschäftigten. Hinzu die gleiche Chance auf eine sehr gute Ausbildung haben, kommen die prekären Jobs: die 400-Euro-Jobs und an- auch das dritte Kind der alleinerziehenden Hartz-IV- dere Minijobs, befristete Arbeitsverhältnisse und die Empfängerin, das Sie ausgrenzen. Aufstockerinnen und Aufstocker, die eine Vollzeitbe- schäftigung haben, aber so wenig verdienen, dass sie (Beifall bei der LINKEN – Zustimmung der zum Sozialamt geschickt werden müssen. Es ist indisku- Abg. [SPD]) tabel, was wir diesbezüglich in Deutschland haben. Das ist der Punkt: Sie machen reine Elitebildung. (Beifall bei der LINKEN) Wir müssen die soziale Ausgrenzung in der Bildung Der Niedriglohnsektor umfasst, wie gesagt, ein Vier- überwinden. Insofern hätten Sie sich durchaus auf ein tel der Beschäftigten. Das betrifft 9 Millionen Menschen konkretes Ziel einlassen sollen. in Deutschland. Als prekär Beschäftigte haben wir Was ist wirtschaftspolitisch vorgesehen? Wirtschafts- 5 Millionen in Teilzeit, 2,6 Millionen in Minijobs und politisch ist vorgesehen, mit der Lissabon-Strategie wei- 500 000 in Leiharbeit. Das sind insgesamt fast 7,7 Mil- terzukommen: Flexibilisierung, Deregulierung, Privati- lionen Beschäftigte. 2,7 Millionen haben eine befristete sierung und Liberalisierung. Das alles hat uns in die Beschäftigung. 2 Millionen unserer Kinder leben in Ar- Krise geführt. mut. Und dann sagen Sie, Armutsbekämpfung sei nicht Ihr Schwerpunkt. Ich finde, das muss der Schwerpunkt (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ja!) (B) der Politik einer Bundesregierung werden. Sie ziehen daraus keine Schlussfolgerung, sondern ma- (D) (Beifall bei der LINKEN) chen einfach so weiter. Im Übrigen hat die Armut von heute später Folgen – Sie Spannend finde ich auch, wie Sie Wachstum errei- kennen doch die Studie –: Es ist festgestellt worden, dass chen wollen. Sie schlagen zwei Wege vor: erstens Aus- die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundeslän- stieg aus dem Konjunktur- und Wachstumsprogramm dern in wenigen Jahren im Durchschnitt unter dem und zweitens Schuldenabbau über strenges Sparen. Das Grundsicherungsniveau liegen werden, weil es jetzt so ist aufregend. Was passiert denn da? Wenn wir aus den viel prekäre Beschäftigung gibt. Konjunktur- und Wachstumsprogrammen aussteigen, gibt es keine staatlichen Investitionen. Wenn es keine Es ist festgestellt worden, dass wir in Deutschland im staatlichen Investitionen gibt, gibt es weniger Konjunk- Vergleich zu allen anderen Euro-Staaten die niedrigsten tur und weniger Wachstum. Wie Sie damit Wachstum Lohnstückkosten haben. Das wird durch Lohndumping beschleunigen wollen, ist ein Geheimnis, das Sie unserer erreicht, was übrigens auch den Handel der anderen Län- Bevölkerung noch verraten müssen. der deutlich erschwert. (Zuruf von der FDP: Was haben Sie denn vor?) Kommen wir zur Bildung. Im Vergleich zu den ande- ren EU-Ländern geben wir in diesem Bereich jährlich Wenn Sie bei den Renten, bei Hartz IV und den ande- 40 Milliarden Euro zu wenig aus, Frau Bundeskanzlerin. ren Sozialleistungen sparen wollen, dann reduzieren Sie Wieso wollen Sie sich hier nicht auf Zahlen festlegen? die Kaufkraft. Wenn Sie die Kaufkraft reduzieren, wird Wenn wir etwas brauchen, dann sind es höhere Ausga- weniger eingekauft, und es werden weniger Dienstleis- ben für Bildung, eine bessere Ausbildung und vor allen tungen in Anspruch genommen. Dann gehen kleine und Dingen endlich Chancengleichheit in der Bildung. Da- mittlere Unternehmen pleite, und die Zahl der Arbeitslo- von sind wir meilenweit entfernt. sen steigt. Dann haben Sie wieder höhere Ausgaben und außerdem viel weniger Steuereinnahmen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Unlogik ist nicht mehr zu bremsen. Losverfahren in Berlin! Das ist Chancen- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Hans-Peter gleichheit, Herr Gysi!) Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: So stellt sich Klein-Gysi die Welt vor!) Ich sage ganz deutlich, auch Ihnen von der FDP: Wir sind mit unserem Schulsystem im 19. Jahrhundert ste- Wenn Sie Wirtschaftswachstum wollen, dann brauchen cken geblieben. Sie Investitionen und mehr soziale Gerechtigkeit, also Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3103

Dr. Gregor Gysi (A) genau das Gegenteil davon. Die gegenteiligen Pro- zündet er es selber an und kriegt dafür 1 Million. Sagen (C) gramme sind schon alle gescheitert. Sie mal, wo leben wir denn hier eigentlich? (Lachen bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber der geht in den Knast, – Ja. – Ich sage Ihnen noch etwas: Die Reallöhne sind in Gysi! Der geht in den Knast dafür!) Deutschland – und zwar nur in Deutschland – im Ver- gleich zu allen anderen Industrieländern um 8 Prozent – Wenn wir Glück haben, kriegt er neben dem Geld auch gesunken. Glauben Sie, dass das unsere Wirtschaft vo- noch Knast; aber da müssen wir schon sehr viel Glück rangebracht hat? Überhaupt nicht. Im Gegenteil, es hat haben. Herr Kauder, nehmen Sie dazu doch einmal Stel- viele kleine und mittlere Unternehmen ruiniert. Sie ge- lung. hen einen völlig falschen Weg. Leerverkäufe sind nichts anderes als eine Wette. Ich Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, fordern wir eine sage: „Die Kurse fallen“, oder: „Die Kurse steigen“, und grundlegende Überarbeitung der Strategie Europa 2020. dann bekomme ich Geld, wenn ich recht hatte. Sie hatten Es muss um die Schwerpunkte Armutsbekämpfung, Bil- die Leerverkäufe verboten. Warum, Herr Schäuble, ha- dung, Beschäftigung und sozialer Ausgleich gehen. An ben Sie sie denn wieder erlaubt? Das war doch vernünf- diesen Zielen sollte Europa unbedingt festhalten und tig. Jetzt haben Sie angekündigt, sie wieder zu verbieten. endlich etwas in diese Richtung tun. Ja, wann denn? Machen Sie es doch endlich mal! Wir (Beifall bei der LINKEN) müssen raus aus der Spekulation, wenn wir aus den Kri- sen raus wollen. Jetzt komme ich zu Griechenland und damit auch zur Euro-Zone. Ich kann mich ja noch daran erinnern – Herr (Beifall bei der LINKEN) Bundestagspräsident, das wollte ich Ihnen auch gerne Wie könnte man Griechenland helfen? Sie verweigern einmal erzählen –, dass wir hier saßen und Schilder hat- sich ja der Hilfe für Griechenland, was ich für völlig ten – damals flogen wir aber noch nicht raus –, auf denen falsch halte, weil es auch Europa und uns mit nach unten „Euro – so nicht“ stand. „Euro – so nicht“ war eine kluge zieht. Es gibt folgenden Weg: Wir müssen Griechenland Formulierung; wir haben nämlich nicht „Euro – nein“ zinsgünstige Darlehen der EU anbieten. Machten wir gesagt, sondern wir haben gesagt: erst die politischen dies, wäre der Weg für die Spekulanten schon versperrt, und ökonomischen Voraussetzungen schaffen und dann weil dann deren hohe Zinsen nicht mehr aufgehen wür- den Euro einführen. – Aber alle anderen waren ja den. Dann müsste man einen Teil dieser Kredite auch gar schlauer, und jetzt haben wir mit Griechenland genau nicht mehr geben, weil die Spekulation beendet ist. So- das Beispiel, dass es so nicht geht und dass es nicht or- (B) weit man Kredite gibt, bekommt man das Geld mit Zin- (D) dentlich vereinbart war. sen wieder zurück. Was soll denn daran eine Katastrophe Ich habe ja nichts dagegen, dass Sie zu Recht darauf sein? Warum fällt es Ihnen so schwer, diesen Weg zu ge- hinweisen, dass die griechische Regierung eine Mitver- hen, um so schnell wie möglich aus dieser spezifischen antwortung trägt und dass sie in diesem Umfange selbst- Krise herauszukommen? verständlich auch verantwortlich gemacht werden muss. Dann haben Sie gesagt: Jetzt sollen endlich einmal Aber jetzt sage ich Ihnen: Die wirklichen Gewinner der die Verantwortlichen der Banken, die ja das Ganze ange- Krise um Griechenland sind wieder die Spekulanten. leiert haben, mit einer Bankenabgabe tatsächlich zur (Beifall bei der LINKEN) Verantwortung gezogen werden. – Wir haben Ihnen hier vorgeschlagen, den Weg von Obama zu gehen. Wenn Sie Hierzu würde ich gern erklären – das muss man auch den Weg von Obama gehen würden, hätten wir eine einmal den Leuten erklären –, was es mit einer Kredit- Mehreinnahme von 9 Milliarden Euro. Aber das trauen ausfallversicherung auf sich hat. Es gibt Leute, die einen Sie sich ja hinten und vorne nicht. Sie machen so ein Kredit gewähren und sich dann für den Fall versichern, kleines „Abgäbelchen“ und wollen gerade einmal dass sie den Kredit nicht zurückgezahlt bekommen; dann 1 Milliarde einnehmen. Hinzu kommt, dass Sie diese bekommen sie etwas von der Versicherung. Dies finde Abgabe auch noch von den Sparkassen und der genos- ich ja noch nachvollziehbar. Dann gibt es aber noch eine senschaftlichen Raiffeisenbank verlangen, was eine Un- zweite Gruppe – das muss man auch erklären –, die Fol- verschämtheit ist; sie haben weder direkt noch indirekt gendes macht: Die geben gar keinen Kredit, sondern irgendetwas vom Staat erhalten, sie sind auch gar nicht schließen mit der Versicherung eine Wette dergestalt ab, daran beteiligt. Nein, das müssen schon die Deutsche dass sie sagen: Ich glaube, der Kredit wird nicht zurück- Bank und die Commerzbank und die anderen Banken gezahlt. – Wenn sie mit ihrem Wettangebot recht haben, bezahlen. bekommen sie dafür Geld. Das ist die absurdeste Speku- lation, die man sich vorstellen kann: ohne jede Wirt- (Beifall bei der LINKEN) schaftsleistung, nichts steckt dahinter. Aber ich sage Ihnen noch einmal: Ihr Weg ist nicht ein- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- mal ein Neuntel dessen wert, was Obama diesbezüglich neten der SPD) vorgeschlagen hat. Dies wird jetzt forciert. Das wäre so, als könnte ein Die Obama-Regierung macht übrigens noch etwas Brandstifter bei einer Versicherung eine Wette abschlie- – das haut mich ja schon fast um –: Sie hat jetzt bei ßen, die besagt: Das Haus wird in Kürze brennen. Dann 119 Managern 3104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Gregor Gysi (A) (Zurufe von der FDP) die Mitverantwortung für eine der größten Unsinnigkei- (C) ten, für die Verlosung von Plätzen an den Gymnasien. – ja, hören Sie mal genau zu – vom Versicherungskon- zern AIG, von den Autobauern Chrysler und General (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Motors die Vergütungen, also die normalen Einkünfte, um 15 Prozent und die Sondervergütungen um ein Drit- Ich kann nur sagen: Wer das Schicksal von jungen Men- tel gesenkt. Sie hätten ja nicht einmal den Mumm, daran schen dem Los unterwirft, der hat jedes Recht verloren, zu denken, Ackermanns Vergütung zu kürzen; lieber la- von Chancengleichheit im Bildungswesen zu sprechen. den Sie ihn viermal zum ein. Aber ich sage Ihnen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Barbara Das andere ist der richtige Weg. Höll [DIE LINKE]: Blödsinn!) (Beifall bei der LINKEN) Ich bin der Bundeskanzlerin außerordentlich dankbar, Nun weiß ich ja, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie dass sie darauf hingewiesen hat, dass Europa nur dann keine linke Regierung führen. mit seinen Strategien vorankommt, wenn sich Europa – die Europäische Kommission und der Rat – auf zen- trale, wichtige Punkte konzentriert. Wir haben manch- Präsident Dr. Norbert Lammert: mal den Eindruck, dass sich Europa darin verliert, mi- Herr Kollege. krokosmisch kleine Detailfragen regeln zu wollen. Diese Fragen können wir schon selber regeln. Stattdessen Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): brauchen wir die große Linie, die große Ansage. Frau Ich muss zum Ende kommen. Das ist sehr bedauer- Bundeskanzlerin, deswegen ist es richtig, wenn Sie lich; ich mache es aber. heute im Rat dem Subsidiaritätsprinzip, auf das wir hier im Deutschen Bundestag großen Wert legen, zur Geltung Insofern sind Sie nur sehr begrenzt zu vernünftiger verhelfen. Politik fähig. Wenn wir Ihnen Obama-Politik vorschla- gen, dann gehen wir doch schon sehr weit; wir nehmen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schon Rücksicht auf Ihre Situation. Obama ist nämlich Ich unterstütze besonders, dass die Europäische vieles, aber kein Linker. Union neben der Bildung bei einem anderen Thema Füh- Machen Sie es endlich: Helfen Sie in dieser Krise rung zeigen will – es steht in den Papieren zur ganz anders! Denken Sie an die Bekämpfung von Ar- Agenda 2020 –: Wir müssen den Wettbewerb mit China mut! Denken Sie endlich einmal an die Chancengleich- und Japan vor allem um die Vorreiterrolle bei der Elek- heit im Bildungsbereich! Schaffen Sie mehr Beschäfti- tromobilität aufnehmen. (B) gung! Organisieren Sie nicht die Wiederholung der (D) Krise! Leider sind Sie dabei. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Danke. Der Automobilbereich wird auch in Zukunft eine (Anhaltender Beifall bei der LINKEN) Schlüsseltechnologie sein. Wir müssen doch wollen, dass das Auto der Zukunft, das modernste Auto der Präsident Dr. Norbert Lammert: Welt, dass die Elektromobilität aus Europa kommt, nicht Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/ aus Japan oder China. Deswegen ist es notwendig, dass CSU-Fraktion. wir alle Anstrengungen unternehmen, hier voranzukom- men. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein Blick in die Strategie Europa 2020 zeigt, dass Volker Kauder (CDU/CSU): dort der richtige Weg beschrieben wird. Der Rat wird Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und heute Abend den Vorschlag der Europäischen Kommis- Herren! Die Agenda 2020, die heute im Rat besprochen sion verabschieden: Um voranzukommen – genau das ist wird, ist eine wichtige Grundlage dafür, dass die euro- das Thema –, muss die Europäische Union nicht be- päischen Staaten im Wettbewerb mit anderen Ländern stimmte Antriebe und Technologien vorschreiben. Mir vorankommen. Dabei ist Bildung ein zentrales Thema. hat sehr gefallen, was im Text steht. Wir werden in Eu- Länder, die rohstoffarm sind – davon gibt es viele in Eu- ropa die gemeinsamen Standards für Elektromobilität ropa –, die keine Bodenschätze haben, müssen dafür sor- entwickeln und damit den Marktzugang in ganz Europa gen, dass vor allem junge Menschen etwas in den Köp- öffnen. Das ist der richtige Weg, den Europa beschreiten fen haben. Deshalb ist diese Strategie genau richtig. muss. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Gysi, ich weiß, dass Sie meinen, zu allem und zu Gerade das Festsetzen der Standards wird für die Zu- jedem einen Beitrag abliefern zu müssen. Das ist Ihr gu- kunft der Elektromobilität entscheidend sein. Wir müs- tes Recht. Sie sagen aber auch Dinge, die Sie entlarven, sen den Standard setzen; wir dürfen nicht zulassen, dass die nicht in Ordnung sind. Sie stellen sich hier an das er von anderen gesetzt wird. Wenn sich Europa auf Stan- Rednerpult und sagen, dass Sie für Chancengleichheit dards verständigt hat, muss es relativ schnell mit anderen im Bildungswesen sind; aber die Linke trägt in Berlin Ländern in der Welt, mit Japan und mit China, darüber Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3105

Volker Kauder (A) reden, wie einheitliche Standards erreicht werden kön- holen dürfen. Deshalb bin ich dankbar für die Aussagen (C) nen. Dafür hat Europa die Kompetenz. Ein einzelnes dieser Regierung. Es war nicht in Ordnung – und hat den Land kann das nicht erreichen. einen oder anderen in der Europäischen Union vielleicht dazu bewegt, Dinge zu machen, die nicht hätten gemacht Ein weiteres Thema, das in der EU-Strategie 2020 werden dürfen –, dass ausschließlich aufgrund einer sehr deutlich angesprochen wird, ist das Thema Energie. politischen Entscheidung der rot-grünen Regierung im Energiesicherheit und Energieversorgung zu akzepta- Jahr 2004 die instabilen Verhältnisse im deutschen Bun- blem Preis werden ganz entscheidend für das Wirt- deshaushalt nicht zu einer Rüge durch Europa geführt schaftswachstum sein, das dieses Papier als Ziel enthält. haben. Zum einen geht es um die Sicherheit, über die notwen- dige Energie verfügen zu können; zum anderen muss das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zu einem wettbewerbsfähigen Preis möglich sein. Was der FDP) wir uns in der Koalition vorgenommen haben, nämlich dieses Jahrzehnt zum Jahrzehnt der erneuerbaren Ener- Man hat mit einer politischen Entscheidung gesagt: Wir gien zu machen, wird auch in diesem Bericht zugrunde lassen uns von Europa in Sachen Stabilität nichts vor- gelegt. schreiben. – So etwas darf es nicht noch einmal geben. Aber es geht beim Thema Energie immer auch darum, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – klimapolitische Ziele zu erreichen. Deswegen kann ich Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Viel Er- nur sagen: Wir wollen den Bereich der erneuerbaren folg!) Energien ausbauen – das ist in dem Konzept richtig dar- Ich kann mich noch sehr genau an die Aussagen von gestellt –; wir wollen unsere Klimaziele erreichen – auch Herrn Eichel und dem damaligen Bundeskanzler das ist richtig –, und deswegen wird die Kernenergie Gerhard Schröder erinnern. Deswegen ist es richtig, dass noch eine Zeit lang als Brückentechnologie eingesetzt wir in Europa formulieren: Wir wollen eine unabhängige werden müssen. Zentralbank. Wir wollen die Stabilität des Euros. Wer in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fritz die Europäische Gemeinschaft und in die Euro-Zone Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oje!) aufgenommen werden will, muss die Voraussetzungen dafür zu 100 Prozent erfüllen. Wer den Menschen etwas anderes erzählt, sagt ihnen et- was Falsches. Jetzt zum Fall Griechenland. Allein die Tatsache, dass die Bundesregierung klar und deutlich gesagt hat, (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Griechenland müsse die Voraussetzungen dafür schaf- Das ist doch Kauderwelsch!) fen, dass es wieder zu einer wirtschaftlichen Gesundung (B) (D) Deswegen werden wir über dieses Thema in der Koali- kommt, hat dazu geführt, dass in Griechenland enorme tion sprechen. Sparanstrengungen unternommen wurden. Dies erken- nen wir ausdrücklich an. Selbstverständlich ist es ein Thema, dass wir in Eu- ropa Armut bekämpfen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Ja!) Dieser Weg muss weitergegangen werden. Wir unterstüt- zen es, dass, solange Griechenland nicht konkret nach fi- Ich bin der Meinung, dass das Aufgabe der Nationalstaa- nanzieller Unterstützung gefragt hat, auch keine Antwort ten ist. Was ich überhaupt nicht verstehe, Herr Kollege darauf gegeben werden muss. Wir sollten die Fragen be- Gysi, ist Folgendes: Wenn wir, Bund und Kommunen, in antworten, die gestellt werden, nicht die, die möglicher- diesem Land Jahr für Jahr für die Grundsicherung, für weise nie gestellt werden. Hartz IV über 50 Milliarden Euro einsetzen, dann ist dies Teil der Armutsbekämpfung. Deshalb kann es (Beifall bei Abgeordneten der FDP) doch nicht sein, dass wir, wenn wir Menschen finanziell Wenn Griechenland in eine besonders schwierige Lage unterstützen und sie dadurch aus der Armut herausholen, kommt, dann kann als Ultima Ratio mit dem Internatio- mit dem Satz konfrontiert werden: Je mehr Geld in So- nalen Währungsfonds und mit bilateralen Hilfen Unter- zialpolitik investiert wird, desto stärker steigt die stützung angeboten werden. So weit sind wir aber noch Armut. – Einen größeren Unsinn habe ich noch nie ge- gar nicht. Deswegen rate ich uns allen dringend, das hört, Herr Gysi, um das einmal klar und deutlich zu sa- Thema nicht jeden Tag in Interviews zu befeuern, so- gen. lange es nicht ansteht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Frau Bundeskanzlerin, wir unterstützen Sie auch – die Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollegin Homburger hat es gesagt – in Ihrem Bemühen, Das ist aber jetzt Kritik an der Kanzlerin!) die Stabilität in Europa zu bewahren. Von zentraler Be- Frau Bundeskanzlerin, Sie haben unsere volle Unterstüt- deutung ist, dass die Menschen in unserem Land sich da- zung. rauf verlassen können, dass das, was wir bei Einführung des Euro gesagt haben, auch heute noch gilt. Der Euro, Die Frage ist: Was soll in Zukunft für den Fall ge- war damals die Aussage, wird so stark und stabil sein schehen, dass Probleme auftauchen? Ich glaube, dass wir wie die D-Mark. Ich kann nur sagen: Wir haben in jüngs- hierüber sehr gewissenhaft nachdenken müssen. Es ist ter Zeit Entwicklungen erlebt, die sich so nicht wieder- sicher richtig, ein Instrument für die Probleme zu schaf- 3106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Volker Kauder (A) fen, die man beim Start der Euro-Gemeinschaft noch Berlin auch einen Platz an einem . Wir ha- (C) nicht gesehen hat, um in besonderen Fällen zu helfen. ben jedoch das Problem, dass bestimmte Schulen im Ge- Mit der Schaffung eines solchen Instruments sind wir gensatz zu anderen Schulen überlaufen sind. Deshalb einverstanden. Aber eines möchte ich ausdrücklich sa- können nicht alle Schülerinnen und Schüler das Gymna- gen, damit dies bedacht wird, wenn darüber diskutiert sium besuchen, das sie gern besuchen wollen. Der Senat wird: Wir möchten nicht, dass als Lösung solcher Pro- hat sich für ein Losverfahren entschieden und gesagt: bleme das Instrument eines Finanzausgleichs auf euro- Wir mischen uns nicht ein. Dann gibt es keine Beste- päischer Ebene geschaffen wird. Das wollen wir auf kei- chung. Dann gibt es keine Beziehungsfragen. – nen Fall. (Zurufe von der CDU/CSU – Birgit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Homburger [FDP]: Was sind denn das für Zu- stände! Bestechung?) Dies würde nicht zu einer Stärkung der Stabilität führen. Vielmehr würden alle nach dem Motto handeln: Wir – Vielleicht werden wir es korrigieren. Dann wird es können machen, was wir wollen. Einer wird uns schon aber schwieriger. helfen. – Mit diesen zentralen Fragen beschäftigen wir (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) uns heute. – Da gibt es gar keinen Grund, zu lachen. Hören Sie Ich komme zum Schluss. Frau Schwall-Düren, Sie doch erst einmal zu! haben gesagt – das unterstütze ich ausdrücklich –: Wir sehen in Europa eine Schicksalsgemeinschaft. Wir sehen Wenn ein Schüler Pech beim Losverfahren hat, dann in Europa unsere Zukunft. Wir wissen, dass Europa geht er selbstverständlich an ein anderes Gymnasium schon Großes geleistet hat. Allein die Tatsache, dass es und bekommt dort seine gymnasiale Ausbildung und auf europäischem Boden keinen Krieg mehr gibt, ist kann das Abitur machen. Das müssen Sie bitte immer schon einen Dank an dieses gemeinsame Europa wert. dazusagen. Das machen Sie aber nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt werden wir vielleicht wegen Ihrer Kritik einen anderen Weg gehen und Kommissionen bilden. Ich sage Jetzt geht es darum, diesem Europa die Kraft zu geben, Ihnen aber, dass dann die Leute kommen und sagen wer- in wirtschaftlicher, kultureller und auch sozialer Hinsicht den: Wieso ist gerade meine Tochter nicht dabei? Warum die notwendigen Veränderungen zu gestalten. Dabei die anderen? Nach welchen Kriterien sind Sie vorgegan- kommt es darauf an, dass zunächst einmal die National- gen? – Ich weiß gar nicht, ob das wirklich gerechter ist. staaten ihre Hausaufgaben machen und dass Europa die Bitte sagen Sie das aber beim nächsten Mal dazu und er- Dinge regelt, die ein Einzelner nicht leisten kann. (B) wecken Sie nicht den Eindruck, als ob Schülerinnen und (D) Wenn dieser Grundsatz – Europa ist für die großen Schüler, die für das Gymnasium geeignet sind, in Berlin Dinge zuständig, alle anderen Dinge bleiben in der Ver- keinen Platz an einem Gymnasium bekommen; denn das antwortung der Nationalstaaten – weiter Maßstab sein ist nicht der Fall. Das Los entscheidet nur, ob sie zu die- wird, dann hat dieses Europa eine gute Zukunft. ser Schule gehen oder eventuell zu einer anderen Schule gehen müssen. Das ist in Berlin durchaus machbar. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich wäre auch froh, wenn alle Schüler die Schule be- Vizepräsident Dr. h. c. : suchen könnten, die sie besuchen wollen. Sie wissen Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem aber, dass wir noch nicht so weit sind, weil Sie zu wenig Kollegen Gregor Gysi. Geld für Bildung zur Verfügung stellen. (Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ CSU: Das war ein Schuss in den Ofen!) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): – Was stöhnen Sie denn gleich? Sie wissen doch noch Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gar nicht, was ich sagen werde. Herr Kollege Kauder, bitte.

Herr Kauder, zunächst einmal möchte ich Ihnen wi- Volker Kauder (CDU/CSU): dersprechen. Sie haben behauptet, den größten Unsinn in Herr Kollege Gysi, es ist bezeichnend für Ihre Einlas- Ihrem Leben hätten Sie von mir gehört. Das glaube ich sung zu diesem Thema, dass Sie nicht darüber sprechen, Ihnen nicht. Sie müssen in Ihrer Partei schon größeren was die Ursache für dieses nicht akzeptable Losverfah- Unsinn gehört haben. Darauf würde ich sogar eine Wette ren ist. Das ist nämlich eine Qualitätsfrage. Wenn die abschließen. Schulen in Berlin die Qualität hätten, die sie eigentlich (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie toppen das haben müssten, dann käme es überhaupt nicht zu diesem immer noch!) Ausleseverfahren. Darüber sollten Sie einmal reden. Jetzt zum Ernst. Sie haben etwas Falsches über die so- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) genannte Losentscheidung bei der Vergabe von Gym- Sie liefern die Qualität nicht ab. nasialplätzen in Berlin gesagt, das ich richtig stellen möchte. Die Situation ist eine völlig andere. Alle Schü- ( [DIE LINKE]: Sie erzählen den ler, die für das Gymnasium geeignet sind, bekommen in größten Unsinn, den ich je gehört habe!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3107

Volker Kauder (A) Herr Kollege Gysi, im Rahmen der Föderalismusre- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): (C) form I haben wir klare Verabredungen getroffen. Dabei Ich möchte Ihnen, Herr Trittin, bevor ich meine Frage ist gesagt worden: Der Bund soll sich nicht um die Bil- stelle, wirklich allerbeste Genesung wünschen. Wir alle dung kümmern. Das machen die Länder. – Deswegen haben Ihre Erkrankung mitbekommen, und ich glaube, haben die Länder diese Aufgabe zu erfüllen, Herr Kol- das wünschen Ihnen alle hier. lege Gysi. (Beifall im ganzen Hause – Volker Kauder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – [CDU/CSU]: Der ist doch gesund!) Dr. [DIE LINKE]: Das genau ist das Schlimme!) Sie sind jetzt zwar beim Thema Europa; aber ich habe mich schon zur Zwischenfrage gemeldet, als Sie beim Thema Bildung waren. Ich habe dazu eine Frage: Kön- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nen Sie Herrn Kauder vielleicht einmal erklären, wie Das Wort hat nun Kollege Jürgen Trittin für die Frak- groß der Anteil von Kindern, die ein Abitur machen, in tion Bündnis 90/Die Grünen. Berlin ist und wie groß der Anteil zum Beispiel in Bay- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ern und Baden-Württemberg ist? Vielleicht können Sie ihm noch erklären, warum der Anteil in Bayern und Ba- den-Württemberg so viel kleiner als in Berlin ist. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe jetzt gelernt, dass in Baden-Württemberg alle Schülerin- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nen und Schüler genau die Schule besuchen, die sie be- Lieber Herr Kollege Gysi, wir sind hier – das verstehe suchen wollen. ich durchaus als Antwort auf Ihre Frage – an einem der Punkte der Regierungserklärung von Frau Merkel. Was (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!) ist der Grund, warum Sie, Frau Merkel, es verweigern, sich zusammen mit den Ministerpräsidenten in Europa Ich habe ein Weiteres gelernt, lieber Herr Kauder. auf quantifizierte und überprüfbare Bildungsziele zu ei- Wenn Sie über die Föderalismusreform I reden, dann nigen? sollten Sie den Mut haben, zu sagen: Als wir damals das Kooperationsverbot bei der Bildung in das Grundgesetz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, geschrieben haben, haben wir einen großen Fehler ge- bei der SPD und der LINKEN – Volker macht. Das würden wir heute in dieser Form nicht wie- Kauder [CDU/CSU]: Sie weigert sich gar der machen. – Das wäre ehrlich. nicht!) (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Grund ist relativ einfach: weil Sie sich mit Ihrer auf und bei der SPD – Renate Künast [BÜND- Selektion, das heißt auf Ausschluss von Bildungschan- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die klatschen mit, cen beruhenden Bildungspolitik nicht dem europäischen Jürgen! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder Vergleich, zum Beispiel mit Finnland – da muss man gar [CDU/CSU]: Die waren doch dabei, die Sozis, nicht nach Berlin schauen – und anderen Ländern, stel- an vorderster Front!) len wollen. Das ist der Grund, warum Sie an dieser Stelle Frau Bundeskanzlerin, die Bild-Zeitung hat Sie in ih- die EU-Strategie 2020 blockieren. rer heutigen Ausgabe als Bismarck abgebildet. Nun kann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ich Sie nicht dafür in Haftung nehmen, wie andere Sie bei der SPD und der LINKEN) porträtieren. Sie haben aber mit Ihrer Regierungserklä- rung den ernsthaften Versuch unternommen, dieses Por- Das ist auch der Grund, warum die Bild-Zeitung zu trät argumentativ zu unterfüttern. Da sage ich Ihnen: Recht dieses Bismarck-Bild von Ihnen gezeichnet hat. Bismarck steht für den organisierten Nationalstaat. Das Es war jahrelang gute Tradition, dass die Bundesrepu- gemeinsame Europa war die Überwindung genau dieses blik Deutschland in Europa eine antreibende, eine ge- Gedankens des Nationalstaats Bismarck’scher Prägung. staltende, eine vorwärtstreibende, Europa stärkende Deswegen sollten Sie als Vorsitzende der Partei von Rolle spielte. Was tun Sie im Zusammenhang mit dieser und Helmut Kohl die Skizzierung als Ratssitzung? Sie sind es, die dafür gesorgt hat, dass bei- Bismarck als Kritik und nicht als Ansporn für Ihre Poli- spielsweise die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen tik nehmen. mit Island auf Eis gelegt wird. Warum eigentlich? Weil Island bilaterale Probleme mit den Niederlanden und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Großbritannien hat? sowie bei Abgeordneten der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das kann wohl für Europa und für Deutschland kein Ar- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des gument sein. Kollegen Gysi? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sind es, die quantifizierte Bildungsziele in dieser Bitte. Strategie verweigert. 3108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Jürgen Trittin (A) Sie haben hier explizit erklärt: Die Bundesrepublik doch Sylt und Helgoland verkaufen, um Ihre Steuerre- (C) Deutschland ist dagegen, das Ziel der Armutsbekämp- form zu finanzieren. Auf diesem Niveau lagen Ihre Vor- fung zum Bestandteil einer gemeinsamen europäischen schläge zur Behebung der Krise in Griechenland. Strategie zu machen. Ich sage Ihnen: Da kommen wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genau an den Punkt, warum dieses Europa zurzeit in ei- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ner existenziellen Krise ist, einer Krise, die weit über das LINKEN) hinausgeht, was wir im Zusammenhang mit der Aus- einandersetzung um den Verfassungsvertrag erlebt ha- Nun will ich gerne konzedieren, Frau Bundeskanzle- ben. Was passiert denn in Griechenland? Da verbrennen rin, dass Sie sich das nicht zu eigen gemacht haben. Leute, die sich gegen diese Sparpolitik wehren, inzwi- Aber auch Ihnen, Frau Merkel, kann ich den Vorwurf schen die europäische Fahne. Das ist ungerecht gegen- nicht ersparen, dass Sie die Stammtischmentalität, die über Europa; da sind wir wahrscheinlich einer Meinung. sich da ausgetobt hat, mit Ihren Äußerungen verstärkt Besser wäre es, wenn diejenigen die Fahne der griechi- und gestützt haben. schen Konservativen verbrennen würden, weil die der (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja griechischen Bevölkerung die Suppe eingebrockt haben. Quatsch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Schlimmer noch: Sie haben damit die Krise in Griechen- Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! Ge- land verschärft. schichtsklitterer!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Frech- – Der Ministerpräsident hieß Karamanlis. Er war Mit- heit!) glied Ihrer Schwesterpartei, Herr Kauder. Das müssen – Nein, das ist eine Tatsache. Es war die deutsche Bun- Sie schon aushalten. deskanzlerin, die vorgeschlagen hat, die EU-Verträge so (Volker Kauder [CDU/CSU]: Damit hat es zu ändern, dass man ein Land wie Griechenland auch hi- nicht begonnen!) nausschmeißen könnte. – Sie haben die Reaktion auf den internationalen Finanzmärkten sehen können: Während Aber dahinter steckt doch ein viel ernsteres Problem. Ein Deutschland für Anleihen heute nur eine Rendite von Europa, das nach außen und gegenüber den Menschen in 3 Prozent bieten muss, muss Griechenland 6,5 Prozent, Europa den Eindruck erweckt, man kümmere sich um al- also mehr als das Doppelte, zahlen. Ihre Äußerungen ha- les Mögliche, zum Beispiel um Stabilitätskriterien, aber ben den Kurs nach oben getrieben. nicht begreift, dass die Überwindung von Armut ein ge- (Widerspruch von der CDU/CSU) meinsames Ziel ist, muss sich doch nicht wundern, wenn (B) die Akzeptanz für dieses Europa mehr und mehr in den Jerzy Buzek hat in den Fraktionen gesagt, in Europa ge- (D) Keller geht. hörten Verantwortung und Solidarität zusammen. Dazu sage ich Ihnen: Mit vorsätzlichen, leichtfertigen Äuße- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rungen die Kreditbedingungen für Griechenland zu ver- sowie bei Abgeordneten der SPD) schlechtern, das ist weder verantwortlich noch soli- Bei dem, was in den letzten Wochen und Monaten aus darisch. Es ist das Gegenteil einer vernünftigen Ihren Reihen zur griechischen Krise zum Besten gege- europäischen Politik. ben worden ist, frage ich mich natürlich: Sind wir denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, eigentlich selber so weit von griechischen Verhältnis- bei der SPD und der LINKEN) sen entfernt? Ist es nicht so, dass die Bundesrepublik Deutschland zur Erreichung des Maastricht-Stabilitäts- Übrigens, niemand aus dem Oppositionslager hat ge- kriteriums ein Jahr länger Frist von der EU-Kommission fordert, Griechenland mit Steuergeldern zu unterstützen. bekommen hat als Griechenland? (Zurufe von der SPD: Richtig!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na, Herr Wir haben ausschließlich gesagt, man müsse Griechen- Trittin! Also jetzt! – Gegenruf der Abg. Renate land über Euro-Bonds die Möglichkeit geben, sich auf Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn dem Kreditmarkt mit dem notwendigen Geld zu versor- die Zahlen stimmen, stimmen sie!) gen. Ist es nicht so – ich schaue zu den Kolleginnen und Kol- (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: legen von den Liberalen –, dass zum Beispiel in Grie- Das ist ja unsäglich! Das ist ja schmerzhaft, chenland gut verdienende Ärzte gerade einmal was Sie da erzählen! – Weitere Zurufe von der 10 000 Euro versteuern, und das zu einem maximalen CDU/CSU) Steuersatz von 40 Prozent. Da muss Ihnen von der FDP Das tun wir übrigens gegenüber Osteuropa, gegenüber doch das Herz aufgehen. Lettland und Ungarn, genauso. Das ist nichts Neues. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was Sie getan haben, ist schlicht und ergreifend, sich der und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der selbstverständlichen Solidarität gegenüber Griechen- LINKEN) land zu entziehen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Sie fordern doch für Deutschland genau die Verhältnisse, DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN) die Sie in Griechenland kritisieren. Ich warte jetzt nur noch auf den Vorschlag aus Ihren Reihen, wir könnten Das ist kurzsichtig. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3109

Jürgen Trittin (A) Wir haben übrigens lange von den überschießenden Michael Link (Heilbronn) (FDP): (C) Binnenmarktentwicklungen in Spanien, Portugal und Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Man star- Griechenland profitiert. Auch das ist ein Teil der Wahr- tet mit der Regierungserklärung bei Europa und landet in heit. Wenn wir weiterhin in dieser Form exportieren wol- der Berliner Landespolitik. len, dann hat die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland ein massives Interesse daran, dass die Bin- (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ja! – nennachfrage im Süden der EU nicht völlig zusammen- Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das bricht. Es ist zwar falsch, uns unsere Exportstärke vorzu- eine hat mit dem anderen etwas zu tun!) werfen; da stimme ich der Kanzlerin zu. Aber es ist Daran wird zumindest eines deutlich: Die von der christ- genauso falsch, dazu beizutragen, die Märkte, auf die lich-liberalen Koalition getragene Bundesregierung be- wir exportieren können, mit dieser Form unsolidarischen treibt europäische Politik, insbesondere Währungspoli- Verhaltens zu ruinieren. Auch das ist ökonomisch kurz- tik, nicht als Roulette, Lotto oder andere Dinge. Wir sichtig. stellen fest: Sie brauchen, um Ihre Berliner Schulpro- bleme zu lösen – in Ihrer Kurzintervention haben Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN selbst entlarvend gesagt: um zum Beispiel Bestechung sowie bei Abgeordneten der SPD) zu verhindern –, Instrumente wie Lotto und Roulette. Es ist schon bezeichnend, dass der Einzige, der in die- Wir wollen bei der Währung ganz bewusst keine Risiken sem Kabinett noch den Mut hat, zu Europa zu stehen, eingehen, um nicht mit das Wichtigste, was wir durch der Bundesfinanzminister ist. Man kann über Wolfgang die europäische Einigung erreicht haben, nämlich einen Schäubles Vorschlag eines EWF lange streiten; aber ei- stabilen und harten Euro, zu gefährden. Deshalb unter- nes bleibt wahr und Herr Schäubles richtiger Gedanke, stützt die FDP-Fraktion den Kurs der Bundesregierung Frau Bundeskanzlerin, ist doch: Europa muss seine Pro- auf das Entschiedenste. bleme selber lösen. Europa kann sie nicht an Washington (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) oder an den IWF delegieren. Deswegen ist Ihr Vorschlag falsch. In unserer Generation wird entschieden, ob die Wirt- schafts- und Währungsunion ein Erfolg bleibt oder ob (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sie daran zugrunde geht, dass einige Staaten über einen sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- längeren Zeitraum weit über ihre Verhältnisse leben, in KEN) Bezug auf ihre Wirtschaftsleistung immer gewaltigere Dieser Tage wird Helmut Kohl 80. Wir alle wün- Defizite aufbauen und sich dann, wenn es nicht mehr schen ihm alles Gute. Die meiste Zeit meines Lebens weitergeht, hilfesuchend an Dritte wenden. Das kann so nicht funktionieren. Solidarität braucht und setzt Verant- (B) habe ich politisch in Opposition zu ihm gestanden, (D) wortung voraus. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist Es geht nicht darum: Wer ist der beste Europäer, berechtigt!) sprich: wer ist am solidarischsten, wer hilft am schnells- aber eines, meine Damen und Herren, würde ich Helmut ten? Das ist genau der falsche Reflex. Deshalb begrüßen Kohl immer bescheinigen: Helmut Kohl war ein großer wir auch in diesem Punkt das, was wir heute Morgen Europäer. Er hat selbst im Jubel der deutschen Einheit von der Bundeskanzlerin gehört haben. Aus unserer daran festgehalten, dass es Deutschland nur in einem Sicht waren das Worte, die genau in die richtige Rich- starken, gemeinsamen Europa geben kann. Das war der tung gehen, weil sie zeigen, dass wir sehr wohl im Ex- Grund, warum er gesagt hat: Wir müssen Deutschland in tremfall als Ultima Ratio über die erwähnten Instru- das gemeinsame Europa einbinden. Das Instrument da- mente – IWF und notfalls auch bilaterale Hilfen – helfen für war die Einführung des Euro. Das war für ihn – ich werden. Frau Kollegin Schwall-Düren, damit wollen wir zitiere – „eine Frage von Krieg und Frieden“. Er hatte Stabilität, Ruhe und Sicherheit in die Märkte hineinbrin- recht. Ich sage Ihnen: Zentrale Probleme dieses gemein- gen. Sie haben die Financial Times Deutschland hochge- samen Europas müssen künftig europäisch gelöst wer- halten. Wir haben Respekt vor der Pressefreiheit. Ich den. Das können Sie nicht an internationale Finanzinsti- kann nur sagen: Meines Erachtens ist der Kurs, den Sie tutionen delegieren. Wenn Sie das tun, liebe Frau vorschlagen, sowohl für den Euro als auch für die Merkel, dann tun Sie nur eins: sich aus Wahlkampfgrün- Märkte riskant. den einer richtigen, europäischen Lösung verschließen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Damit treten Sie das Erbe Helmut Kohls mit Füßen und schaden deutschen Interessen. Wir haben in der Regierungserklärung der Frau Bun- deskanzlerin gehört, dass wir darauf reagieren müssen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenn die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstums- sowie bei Abgeordneten der SPD) paktes unterlaufen werden. An unsere gemeinsamen Kriterien müssen wir in der Tat noch einmal heran. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wahrscheinlich wird es ohne eine Überarbeitung und Das Wort hat nun Kollege Michael Link für die FDP- Präzisierung unserer Kriterien nicht gehen. Bei diesem Fraktion. Prozess müssen wir aber aufpassen – Rainer Brüderle hat es gesagt –, dass wir nicht in einen europäischen Fi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nanzausgleich hineinkommen. Ein europäischer Finanz- der CDU/CSU) ausgleich wäre genau der falsche Weg. Wir brauchen 3110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Michael Link (Heilbronn) (A) stattdessen Wege, die den Ländern, die sich in einer pro- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) blematischen Situation befinden, helfen, ohne die Stabi- der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] lität der Währung aufzuweichen. Ich glaube, mit den [SPD]: Das ist aber ein schwaches Argument!) Vorschlägen, die jetzt gemacht worden sind, sind wir auf Für die FDP-Fraktion sind Verträge und Ver- einem guten Weg. tragstreue ein hohes Gut. Wenn wir allen Vorschlägen folgen würden, die Sie, ( [SPD]: Meinen Sie jetzt den Kollege Gysi, hier gemacht haben, die durch einige Aus- Koalitionsvertrag?) führungen des Kollegen Trittin ergänzt wurden, bei de- nen ich mich gefragt habe, ob er auch die Historie der Das gilt aus unserer Sicht für alle Bereiche der europäi- griechischen Kreditwürdigkeit studiert hat, dann kämen schen Politik. Das gilt für Beitrittsverhandlungen. Ich wir schnell in eine Situation, in der der Euro die Stabili- habe es erwähnt: Das gilt für Island, aber auch für alle tät hätte wie am Schluss die Ostmark. anderen Fälle. Für uns gilt: Pacta sunt servanda. Das gilt für den Verfassungsvertrag und die strikten Regeln des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Stabilitäts- und Wachstumspaktes, die wir, wo nötig, er- der CDU/CSU) gänzen und überarbeiten müssen. Das gilt für uns vor al- lem für den harten Euro. Deshalb gilt das auch für die Vom Kollegen Trittin ist Island angesprochen wor- Unterstützung des hier vorgestellten Kurses der Bundes- den. Ich vermute, dieses Thema wird auch später noch regierung beim Europäischen Rat. eine Rolle spielen; denn wir haben mehrere Anträge Kolleginnen und Kollegen, noch ein Wort an uns dazu vorliegen. Kollege Trittin, Sie haben gesagt, die selbst: Das gilt auch für die neue Begleitgesetzgebung. Kanzlerin würde sich wie Bismarck verhalten. Ich will Das, was wir in der nächsten Sitzungswoche, aber auch Ihre Aufmerksamkeit jetzt einmal ganz bewusst auf ei- schon heute aufgrund der Anträge der Kollegen von der nen anderen Aspekt lenken, weil Island ein sehr schönes Opposition bezogen auf Island machen, ist der erste Fall Beispiel ist. Im Fall Island handeln wir, wie ich finde, – das hört sich jetzt technisch an – einer Stellungnahme eben nicht genau wie Bismarck – nach dem Motto: Wir nach § 10 EUZBBG, dem Begleitgesetz, das die Zusam- entscheiden und alle anderen müssen folgen –, sondern menarbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung re- wir haben uns als Bundestag entschieden – auch im gelt. Das ist der erste Fall, und wir müssen uns sehr viel Lichte der neuen Begleitgesetze und der Entscheidung Zeit nehmen, um das genau durchzusprechen. Wir erin- Karlsruhes –, diesen Prozess in aller Ruhe durchzufüh- nern uns selbst, aber auch die Bundesregierung daran, ren. dass die Zeiten, in denen Europapolitik quasi an die Bundesregierung delegiert wurde, vorbei sind. Das (B) (Dietmar Nietan [SPD]: Damit sind Sie Ihrer (D) nimmt uns in die Pflicht und die Bundesregierung ge- Regierung in den Rücken gefallen! Die woll- nauso. ten das jetzt schon machen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Erweiterungen funktionieren für uns nicht auf Knopf- der CDU/CSU) druck. Erweiterung ist ein Prozess – die FDP-Fraktion steht zur Fortsetzung des Erweiterungsprozesses –, der Wir wissen aber auch – deshalb waren wir über die im Einzelfall kontrolliert, mit genauer Begleitung und klaren Worte in der heutigen Regierungserklärung froh –, vor allem unter parlamentarischer Kontrolle erfolgen dass die deutschen und die europäischen Interessen bei muss. Dies verbietet es, diesen Prozess übers Knie zu der Bundesregierung auf der Tagung des Europäischen brechen. Rates heute und morgen in guter Hand sind. Wir wün- schen erfolgreiche Verhandlungen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) NEN]: Sie tun das im Auftrag der Niederlande und der Briten! Das ist ganz einfach!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Deshalb werden wir Ihren Anträgen, die Sie heute Das Wort hat nun Axel Schäfer für die SPD-Fraktion. dazu vorgelegt haben, nicht zustimmen. Wir sind für das (Beifall bei der SPD) ganz normale parlamentarische Verfahren. Wir werden das noch einmal ausführlich im Bundestag behandeln. In der nächsten Sitzungswoche – wahrscheinlich sogar mit Axel Schäfer (Bochum) (SPD): einer großen Debatte während der Kernzeit – werden wir Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die uns des Themas Island noch einmal ganz besonders an- Regierungserklärung der Bundeskanzlerin und die nehmen. Im Übrigen steht dieses Thema nicht auf der Positionierung der Koalitionsfraktionen zu dieser so Tagesordnung des Europäischen Rates. Auch deshalb wichtigen europapolitischen Frage in dieser Stunde kann wäre es falsch, schon heute darüber abzustimmen. Bei man mit zwei Worten überschreiben: unberechenbar und unglaubwürdig. Erweiterungsfragen ist genauso wie bei Währungsfragen nicht die Schnelligkeit entscheidend. Nicht derjenige, „Unberechenbar“ ist in diesem Zusammenhang keine der schnell hilft, ist der beste Europäer. Gründlichkeit ist Erfindung der SPD, sondern das können Sie jeden Tag in aus unserer Sicht ganz wichtig, um den Prozess der Er- Ihnen nahestehenden Zeitungen lesen, von FA Z bis Fi- weiterung auch weiterhin rechtfertigen zu können. nancial Times, weil sich täglich die Position der Bundes- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3111

Axel Schäfer (Bochum) (A) regierung, der Kanzlerin zu zentralen europäischen Fra- Erstes Beispiel: europäische Bürgerinitiative. Es ist (C) gen, wie jetzt zur Hilfe für Griechenland, ändert. ein zentrales Anliegen Deutschlands und dieses Hauses Tagtäglich ändert sich das. insgesamt, es Bürgerinnen und Bürgern möglich zu ma- chen, sich durch Unterschriften für ein europäisches Pro- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der jekt zu engagieren. Das muss dann zu einem Gesetzes- LINKEN) akt, zu einem Vorschlag der Kommission führen. Dazu Das ist alles andere als eine verlässliche Europapoli- ist weder von der Bundesregierung noch von einer der tik. sie tragenden Fraktionen etwas gesagt worden, weder von CDU/CSU noch von FDP. Dort herrscht nur lautes (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben eine Schweigen zu Europa. Wahrnehmungslücke! – Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nein, er Zweites Beispiel: Europäischer Auswärtiger Dienst. liest Zeitung!) Dazu gibt es Vorschläge und Positionen der SPD, aber von Ihnen ist kein Vorschlag gemacht worden, wie die Mal gibt man Unterstützung, mal ist man dagegen. Man Bundesregierung positioniert werden soll. ist für einen europäischen Währungsfonds, aber eigent- lich doch nicht. Jetzt geht es um Maßnahmen über den Drittes Beispiel: Island. Dieses Beispiel ist besonders IWF. Wenn sich die Fraktionsvorsitzenden einmal an- schön; denn da wird die Arbeitsteilung der Verhinderung schauen, was gestern in dem Entwurf zur Regierungser- einer Positionierung deutlich. Die einen, nämlich die klärung stand und was heute erklärt worden ist, dann se- Bundesregierung, sagen, man müsse auf den Bundestag hen sie, dass es selbst da Unterschiede gibt. So schnell warten, und die anderen, die Koalitionsfraktionen im ändern sich Positionen. Bundestag, erweisen sich als unfähig, sich in ihren Ar- (Beifall bei der SPD) beitsgruppen abzustimmen, um rechtzeitig eine Positio- nierung zu Island zu erreichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre ja schon ge- nug, Sie für diese Europapolitik zu kritisieren. Es geht ( [CDU/CSU]: Warum die hier aber auch um die deutsche Rolle. Eile, Herr Kollege? – Bernhard Kaster [CDU/ CSU]: Die wird rechtzeitig da sein!) (Zuruf der Abg. Birgit Homburger [FDP]) Es wäre jetzt noch möglich, eine Positionierung rechtzei- Durch dieses Wackeln, Schweigen oder auch zum Teil tig zu erreichen. Bis zur letzten Woche war von der spani- Hinterherlaufen gibt es keine deutsche Führungsposition schen Ratspräsidentschaft angekündigt worden – der in Europa. Es gibt keine deutschen Vorstellungen, für die Brief vom 18. März liegt vor –, das zu machen. Das ist man wirbt, sondern man wartet, wechselt oder läuft Posi- (B) nicht gemacht worden. Wir sind jetzt in der Situation, (D) tionen hinterher. Genau das darf Deutschland als verant- dass wir nicht wissen, auf welchen Wegen bestimmte wortungsvolles Land in Europa nicht machen. Entscheidungen, Vorentscheidungen oder Abstimmun- (Beifall bei der SPD) gen getroffen werden, ohne dass der Bundestag durch eine Debatte und einen Beschluss Einvernehmen her- Warum ist das alles unglaubwürdig? Die Kanzlerin stellt. Wir wollten das mit gutem Willen machen. Dieser hat heute ermahnt – ich zitiere aus dem Gedächtnis, aber gute Wille hat bei Ihnen im Monat März gefehlt. Das fast wörtlich –, dass wir über die Themen, die auch beim muss hier offen kritisiert werden. Europäischen Rat anstehen, mehr diskutieren müssen. Was ist die Praxis? (Beifall bei der SPD) (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja, das sag einmal!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier geht es um die Wir haben gestern im Europaausschuss erlebt, dass ein Frage: Sind wir als Bundestag, selbstverpflichtend über zentrales Thema, nämlich die Strategie EU 2020, für das die Fraktions- und Parteigrenzen hinweg, willens und in die SPD Vorarbeiten geleistet hat und sich für die Dis- der Lage, tatsächlich europäische Politik zu gestalten? kussion positioniert hat, abgesetzt worden ist. Das heißt, Das, was ich zurzeit von den geschätzten Kolleginnen die Kanzlerin fährt jetzt zum Gipfel, ohne dass es eine und Kollegen der Regierungskoalition erlebe, ist mutlos. abgestimmte Position gibt, ohne dass der Bundestag Es ist auch manchmal ratlos. Aber am Ende kann es auch grundlegend darüber diskutiert hat. Das fehlt, und das dazu führen, dass man rückgratlos wird, wenn man all haben Sie verhindert. das, was man vorher zur Stärkung der parlamentarischen Rechte vereinbart hat, hier nicht wahrnimmt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir werden unsere Oppositionsrolle so wahrnehmen, dass wir Punkt für Punkt bei allen wichtigen europäi- Es geht noch weiter. Kollege Link hat natürlich völlig schen Fragen die Diskussion im EU-Ausschuss, mög- recht, lichst in allen Ausschüssen und im Plenum führen, damit (Zuruf von der FDP: Er hat immer recht!) die Europäisierung des Bundestages gelingt. Dafür braucht man nicht nur Überzeugung, sondern auch Ge- wenn er sagt, dass wir die Konsequenzen aus dem Lis- staltungswillen. Der Gestaltungswille fehlt auf der rech- sabon-Vertrag und dem Lissabon-Urteil ernst nehmen ten Seite dieses Hauses. müssen. Ich zeige Ihnen konkret, wie ernst sie genom- men werden. (Beifall bei der SPD) 3112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Axel Schäfer (Bochum) (A) Dass Sie anders können, liebe Kolleginnen und Kolle- sie sind die Spielregeln, die wir Europäer uns selbst ge- (C) gen, haben Sie an zwei Stellen gezeigt: geben haben und die eingehalten werden sollen. Sie haben den Mut gehabt – es gehört zu einer fairen Lieber Herr Kollege Schäfer, ich bin froh, dass wir und ehrlichen Debatte, auch das zu sagen –, dafür zu sor- nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages die Mög- gen, dass der Deutsche Bundestag – das wurde auf An- lichkeit haben, uns mehr als in der Vergangenheit und trag der SPD-Fraktion beschlossen und vom Bündnis 90/ bei noch größerer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit im Die Grünen, von der Linken, der FDP und der CDU/ deutschen Parlament mit europäischen Themen zu be- CSU unterstützt – den deutschen Kommissar Günther fassen. Ich bin der Meinung, dass diese wichtigen The- Oettinger nach seiner Benennung eingeladen hat und wir men nicht in irgendeinen nichtöffentlich tagenden Aus- ihn befragt haben. Das war ein historisches Novum für schuss gehören, sondern in das Parlament. Insofern sind das Parlament. Die Regierenden sollten sich schon ein- diese Regierungserklärung und die heutige Debatte mal Gedanken machen, ob sie auch Minister in Zukunft wichtig und, wie ich hoffe, der Anfang einer ausführli- vielleicht nicht nur ernennen, sondern ob sie solche An- chen europäischen Debatte, die wir gemeinsam führen lässe auch parlamentarisch nutzen. Minister könnten wollen. sich hier im Parlament den Fragen der Abgeordneten stellen und gewissermaßen auf den Prüfstand gestellt (Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE werden. Die Befragung des deutschen Kommissars GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- Oettinger haben wir im Bundestag, wie gesagt, gemein- frage) sam beschlossen. Das war ein guter Weg. Nur, ich halte es, auch wenn wir über die verschiede- Außerdem haben wir im Europaausschuss gemeinsam nen Fragen kontrovers diskutieren, für notwendig, dass vereinbart, bei unseren Debatten die Öffentlichkeit zuzu- wir dann, wenn es darum geht, deutsche Interessen lassen; auch das ist richtig. wahrzunehmen, der Regierung und insbesondere, wie in diesem Fall, der Bundeskanzlerin den Rücken stärken, Ich appelliere an Sie von CDU/CSU und FDP, der ge- zusammenstehen und sagen: Wenn es um unser gemein- meinsamen europäischen Verantwortung im Parlament sames deutsches Interesse geht, dann muss die Regie- nachzukommen und nicht nur zu fragen, was die Regie- rung von allen unterstützt werden. rung erlaubt. Die SPD wird sich nicht danach richten, was die Regierung ihr erlaubt, sondern wir werden un- (Beifall bei der CDU/CSU) sere Fragen stellen. Wir werden uns Punkt für Punkt an- schauen, wie Sie Europapolitik machen, und den Finger Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dort in die Wunde legen, wo Sie keine gestaltende deut- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (B) sche Europapolitik machen. Die brauchen wir nämlich. Kollegen Sarrazin? (D) Das ist eine gute Tradition. Für diese Tradition stehen Frank-Walter Steinmeier und die sozialdemokratische Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Bundestagsfraktion. Nein, danke. Jetzt keine Zwischenfragen. (Beifall bei der SPD) Griechenland hat über seine Verhältnisse gelebt; ich glaube, das bestreitet auch niemand. Das Ergebnis ist, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dass Griechenland heute eine Nettoneuverschuldung von Das Wort hat nun Hans-Peter Friedrich für die CDU/ 13 Prozent zu verzeichnen hat; ich wiederhole: 13 Pro- CSU-Fraktion zent. Das Ergebnis ist, dass die Schuldenstandsquote in (Beifall bei der CDU/CSU) Griechenland heute bei 120 Prozent liegt; das bedeutet, die Schulden betragen 120 Prozent dessen, was das Land in einem ganzen Jahr erwirtschaftet. Das ist eine unvor- Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): stellbare Summe. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn sich die Frau Bundeskanzlerin Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist deut- schon auf den Weg zum Europäischen Rat machen sches und europäisches Interesse, und zwar das Interesse musste, will ich mit einem großen Kompliment begin- aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass Grie- nen. Sie hat in den letzten Tagen und Wochen die Inte- chenland aus dieser instabilen, schwierigen Lage heraus- ressen Deutschlands, aber auch die Interessen Europas kommt. trotz der schwierigen Debattenlage auf europäischer (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ebene in hervorragender Weise vertreten, und zwar so- NEN]: Dann machen Sie doch etwas!) wohl im Hinblick auf die Schuldenkrise Griechenlands als auch hinsichtlich der EU-Strategie 2020. Das ist deswegen unser Interesse, weil wir eine gemein- same Währung haben und weil Europa, die EU eine (Beifall bei der CDU/CSU) Schicksalsgemeinschaft ist. Angela Merkel hat gezeigt, dass sie Hüterin der Ord- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ach!) nung in Europa ist, einer Ordnung, die sich Europa selbst gegeben hat und die von Begriffen wie Subsidiarität und Es ist auch unser Interesse, zu verhindern, dass an die Stabilität geprägt ist. Beide Begriffe dürfen nicht der Be- Bürgerinnen und Bürger Deutschlands und Europas die liebigkeit geopfert werden; dafür hat sie gesorgt. Denn Botschaft gesendet wird, dass derjenige, der sich an die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3113

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) Spielregeln hält und fleißig ist, am Ende der Dumme ist Euro und Europa bis jetzt so hervorragend aus dieser (C) und die Zeche zahlen muss. Auch dies ist notwendig. Wirtschaftskrise hervorgegangen sind. Ich glaube, dass es richtig war, von Anfang an klar und deutlich zu ma- (Beifall bei der CDU/CSU) chen: Es gibt keine Gemeinschaftshilfen. Es gibt keine Ich begrüße es außerordentlich, dass die Frau Bundes- gesamtschuldnerische Haftung aller Europäer für grie- kanzlerin heute gesagt hat: Alles, was wir uns an Hilfen chische Schulden. Das ginge nämlich gegen den Geist überlegen, ist Ultima Ratio, das allerletzte Mittel. – Da- und gegen die Buchstaben von Maastricht. Deswegen rum muss es gehen. Griechenland hat einen wichtigen möchte ich an dieser Stelle der Frau Bundeskanzlerin und einen richtigen Kurs eingeschlagen. Dass der Kurs herzlich dafür danken, dass sie dies von Anfang an klipp richtig ist, beweisen die Reaktionen der Finanzmärkte und klar gemacht hat. und die heutige Entscheidung der EZB, den Griechen ein Stück entgegenzukommen. Ich glaube, das ist ein glaub- Heute kommt die Idee, den IWF in die Verantwor- würdiger und richtiger Kurs. tung einzubeziehen, offiziell zum Tragen. Wer Mitglied der Europäischen Union und Mitglied der Europäischen Dieser Kurs kann nur gemeinsam mit der griechi- Währungsunion ist, scheidet nicht automatisch aus ande- schen Bevölkerung in Angriff genommen werden. Es ren Organisationen aus. Er scheidet nicht automatisch ist notwendig, dass die Menschen in Griechenland den aus anderen Instrumentarien, auf die er einen Anspruch Ernst der Lage ihres Landes erkennen. Sie müssen aber hat, aus, wenn es darum geht, ihm zu helfen. Weil die auch die Ursachen dafür erkennen. Deswegen ist es sehr Griechen gegenüber dem IWF einen Anspruch auf Hilfe ungünstig – ich drücke mich vorsichtig aus –, dass man haben, ist es richtig, den Weg der Einschaltung des IWF in Griechenland heute so tut, als seien die europäischen als Ultima Ratio in Erwägung zu ziehen. Partner nicht die Opfer der Tricks und Täuschungen, die frühere Regierungen vorgenommen haben, sondern die (Beifall bei der CDU/CSU) Täter; dies geht aus der veröffentlichten Meinung her- Dennoch zögert Griechenland, Hilfen von den euro- vor. Täter und Opfer auseinanderzuhalten, ist in dieser päischen Partnern oder vom IWF anzufordern. Grie- Frage sehr wichtig. chenland zögert zu Recht. Denn jeder, der Hilfen von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dritten anfordert, beraubt sich gleichzeitig eines Stückes neten der FDP – Manuel Sarrazin [BÜND- seiner Freiheiten und Möglichkeiten. Er muss akzeptie- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Zeitung ha- ren, dass an diese Hilfen und Forderungen Bedingungen ben Sie denn gelesen?) geknüpft sind. Deswegen zögert Griechenland zu Recht. Es geht um die Aufrechterhaltung seiner eigenen Souve- Herr Gysi, Sie haben letzte Woche – ich zitiere aus ränität. All diejenigen, die allzu schnell raten, den Grie- (B) dem Protokoll – in der Haushaltsdebatte gesagt: chen zur Seite zu stehen, haben oft überhaupt nicht das (D) Jetzt gehen die Menschen dort griechische Interesse im Blick, sondern eigene, vielleicht manchmal auch sehr durchsichtige Interessen. – also in Griechenland – Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frau auf die Straße, und zwar, wie ich finde, völlig zu Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung ge- Recht. … Da stehen wir an der Seite der Bevölke- sagt: Wir müssen vermeiden, dass die Stabilitätskrite- rung Griechenlands. rien in der Zukunft wieder unterlaufen werden können. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wenn Die Lehre, die aus der Krise zu ziehen ist, ist in allerers- es gegen den Sozialabbau geht, dann ja!) ter Linie, dass wir Transparenz herstellen: Transparenz in technischer Hinsicht dadurch, dass wir eine einheitli- Herr Gysi, Sie gehören zu denjenigen, die der griechi- che Datengrundlage für alle Länder zur Verfügung stel- schen Regierung in der Problematik, den Menschen den len, aber auch Transparenz in politischer Hinsicht – auch Ernst der Lage ihres Landes zu erklären, in den Rücken das ist heute angesprochen worden – dadurch, dass wir fallen. Darum geht es. europäischen Aufsichtsbehörden die Möglichkeit ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Dagmar ben, die Einhaltung der Stabilitätskriterien vor Ort zu Enkelmann [DIE LINKE]: So ein Quatsch! Sie überwachen. haben nicht richtig zugehört!) Mit der eindeutigen Haltung von Angela Merkel in all Deswegen gehören Sie auch zu denjenigen, die eine Mit- diesen Fragen ist etwas korrigiert worden, was zu Zeiten schuld daran tragen, dass stattfindet, wovon Herr Trittin der rot-grünen Regierung 2005 allzu leicht und allzu gesprochen hat: Es werden europäische Flaggen ver- leichtfertig über Bord geworfen worden ist. Damals brannt. Wir jedenfalls stehen an der Seite derjenigen, die wurde nach Europa ein falsches Signal gesandt, eine verantwortliche Politik für Europa machen wollen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) nämlich das Signal, man könne über die Stabilitätskrite- rien, die Theo Waigel seinerzeit eingeführt hat, noch ein- Meine Damen und Herren, die Einhaltung der Stabili- mal reden. Nein, man kann darüber nicht reden. Die Sta- tätskriterien und der Stabilitätsziele war eine wichtige bilitätskriterien gelten und müssen eingehalten werden Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit unserer Wäh- und werden eingehalten werden. Das hat Angela Merkel rung und eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der deutlich gemacht. 3114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mit Deutschland nicht gleichziehen konnten, warum es (C) neten der FDP) ihnen nicht gelungen ist, ebenfalls eine so gute Wettbe- werbsfähigkeit zu erreichen. Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat eine besondere Stabilitätsmentalität. Das liegt nicht nur Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Wett- an Traditionen, sondern auch an schlechten Erfahrungen, bewerbsfähigkeit ist uns nicht geschenkt worden. Ich er- die dieses Land, dieses Volk gemacht hat. Deswegen war innere daran, dass wir in den 90er-Jahren ein Leistungs- und ist es wichtig, das Vertrauen der Menschen in die bilanzdefizit hatten, nämlich als wir nach der neue Währung Euro zu erhalten. Ich bin der Frau Bun- Wiedervereinigung, Herr Gysi, die Trümmer des Kom- deskanzlerin und der Bundesregierung außerordentlich munismus auf deutschem Boden aufräumen mussten. dankbar, (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: So (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt be- war es! – [CDU/CSU]: So kommt sie das gar nicht mit!) ist es!) dass sie im Zusammenhang mit der EU-Strategie 2020 Dieses Land hat gelitten unter diesem Defizit. Es war deutlich gemacht haben, dass wir die Stabilitätskriterien nicht einfach, dieses Defizit zu überwinden. Ich erinnere nicht an politische, zweifelhafte Kriterien binden lassen. an die Konsolidierungsstrategie, die Mitte der 90er-Jahre Frau Merkel hat in einem Brief an Herrn Van Rompuy dafür gesorgt hat, dass die Produktivität in Deutschland deutlich gemacht, dass auch im Sinne der neuen Strate- gestiegen ist, aber auch an die Agenda 2010. Auch durch gie Europa 2020 ein Aufweichen der Stabilitätskriterien sie wurde den Menschen viel abverlangt, aber sie hat nicht infrage kommt. Ich bin froh, dass so etwas aus den dazu geführt, dass die Produktivität an jedem Arbeits- Vorschlägen, die die Europäische Union macht, inzwi- platz in Deutschland höher als bei den Wettbewerbern in schen verschwunden ist. der Welt ist. Das ist der Grund für die Wettbewerbsfähig- Theo Waigel hat gestern in einem Artikel in der FA Z keit und für die Leistungsfähigkeit, und dafür brauchen etwas gefordert, was, glaube ich, identisch ist mit dem, wir uns nicht zu schämen, sondern darauf kann dieses was die Bundeskanzlerin heute in ihrer Regierungserklä- Land stolz sein. rung gesagt hat. Theo Waigel hat gesagt: Wir brauchen (Beifall bei der CDU/CSU) eine neue Konsolidierungsstrategie für ganz Europa. – Ja. Und auch da ist Deutschland Vorreiter, und zwar weil Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass die eu- wir im vergangenen Jahr gemeinsam – SPD, FDP, CDU/ ropäische Leistungsbilanz insgesamt negativ wäre, CSU – eine Schuldenbremse ins Grundgesetz aufge- wenn es den Überschuss in der Leistungsbilanz der nommen haben. Deutschen nicht gäbe. Insofern leisten wir auch in die- (B) sem Punkt einen wichtigen Beitrag. (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Zur Lohnpolitik. Die zurückhaltende Lohnpolitik un- Und jetzt tretet ihr auf das Bremspedal!) serer Tarifpartner, die ich an dieser Stelle ausdrücklich loben möchte, hat dazu geführt, dass Deutschland hin- Das ist in Europa wie in der Welt ein bisher einmaliger sichtlich der Arbeitslosigkeit bis heute weit mehr Fort- Vorgang. Diese Schuldenbremse wird unseren Kollegen schritte als seine Partner gemacht hat. aus dem Haushaltsausschuss noch sehr viel Arbeit ma- chen und die Bundesregierung – ich sage das voraus – (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Keine noch viel Schweiß kosten, wenn es darum geht, den Binnennachfrage!) nächsten Haushalt und den übernächsten Haushalt auf- Wir liegen heute mit 7,5 Prozent um 2,5 Prozentpunkte zustellen. unter der Arbeitslosenquote in Europa. Wenn man das (Ulrike Flach [FDP]: Das kann man mit anderen Ländern vergleicht – 9 Prozent in Frank- wohl sagen!) reich, 13,8 Prozent in Irland –, dann kann man sehen, dass diese Lohnzurückhaltung, die unsere Tarifpartner Sie wird auch der deutschen Bevölkerung das eine oder an den Tag gelegt haben, der richtige Weg zu Beschäfti- andere abverlangen. Diese Schuldenbremse ist aber al- gung und Arbeit für die Menschen in Deutschland ist. ternativlos angesichts der Verantwortung, die wir für die Finanzen, aber auch für die Zukunft künftiger Generatio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen in diesem Land haben. Deswegen gibt es zu dieser Schließlich zur EU-Strategie 2020. Ich werfe einen Konsolidierungsstrategie in Deutschland, aber auch in Blick auf die Struktur Europas und der europäischen Europa keine Alternative. Partnerländer. Diese Struktur ist außerordentlich hetero- Es ist angesprochen worden, dass Deutschland von ei- gen. Wir haben im Grunde folgende Möglichkeiten: nigen europäischen Partnern wegen seiner Wettbe- Erstens. Wir, alle 27 Länder, einigen uns nur auf den werbsfähigkeit angegriffen wird. Mit der Lissabon- kleinsten gemeinsamen Nenner. Das wäre zu wenig für Strategie ist damals ausgerufen worden, Europa solle zur ein gemeinsames Europa. wettbewerbsfähigsten Region der Erde werden. Leider ist daraus nichts geworden; aber das Land, das dieses Zweitens. Wir zwängen diese 27 Länder auf einen ge- Ziel für sich erreicht hat, ist Deutschland. Deswegen ist meinsamen Kurs, durch den Kreativität verschwindet es falsch, gerade dieses Land an den Pranger zu stellen. und der letzten Endes auch hinsichtlich der Akzeptanz in Vielmehr sollten sich die anderen überlegen, warum sie der Bevölkerung schwierig ist. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3115

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) Drittens. Diesen Weg wollen und sollten wir gehen: Die EU-Kommission unter Barroso macht Vorschläge (C) den Weg der Vielfalt der Systeme, der Gestaltungsfrei- zu fünf Kernzielen; mehr sind es gar nicht. Ich muss die heit und des Gestaltungswettbewerbs. Dieses Prinzip hat EU-Kommission und ihren Präsidenten Barroso über- sich im deutschen Föderalismus hervorragend bewährt. haupt nicht verteidigen; denn das ist gar nicht meine Dieser Gestaltungswettbewerb muss auch in Europa Kommission, und sie ist, wie Sie wissen, auch nicht Platz greifen. Der Beste muss derjenige sein, der die mehrheitlich mit Sozialdemokratinnen und Sozialdemo- Marken setzt und das Vorbild für andere ist. kraten besetzt. Die EU-Kommission legt also eine Grundlage mit fünf Zielen. Zwei davon lehnen Sie ab. In diesem Sinne wird es gelingen, dass Deutschland Da fragen wir uns doch: Welche Strategie bleibt eigent- Vorbild in Europa ist und dass Europa insgesamt voran- lich noch für Europa? Wohin soll der Weg gehen? kommt. Wir wünschen der Bundeskanzlerin für ihre Ver- handlungen beim Europäischen Rat alles Gute. Dass Sie das Armutsziel ablehnen, halte ich für einen unglaublichen Vorgang. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der LINKEN) Beim Thema Armut dürfen wir uns nicht hinter Sonn- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: tagsreden und hinter halbherzigen Bekenntnissen ver- Das Wort hat nun Eva Högl für die SPD-Fraktion. schanzen. Dafür ist das Thema Armut zu wichtig; es muss auch auf der europäischen Ebene ausführlich dis- (Beifall bei der SPD) kutiert und engagiert angegangen werden.

Dr. Eva Högl (SPD): Wir erleben zurzeit die Bundesministerin von der Leyen – wortreich und durchaus mit Empathie – zum Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgren- sehe überhaupt keinen Anlass, der Bundeskanzlerin in zung. Aber auch sie lehnt das Ziel der Armutsbekämp- einer Rede fünf Komplimente zu machen und 28-mal zu fung in Europa ab. Dabei geht es nur um ein gemeinsa- danken, mes Ziel in Europa – nicht um mehr, aber auch nicht um (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das weniger. wäre aber angemessen!) Dieses gemeinsame Ziel wäre ein wichtiges Signal an weil ich die Regierungserklärung der Kanzlerin enttäu- die Menschen in Deutschland und in Europa, dass wir es schend und erschreckend ideenlos fand. ernst meinen mit der Bekämpfung von Armut, dass uns (B) ihre Sorgen ernsthaft interessieren und kümmern, dass (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir Maßnahmen ergreifen und nicht nur reden, sondern des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auch handeln. Wenn dieses Signal vom Europäischen Rat ausgehen würde, wäre das sehr, sehr wichtig für die Wir hätten hier im Bundestag gerne über ein Konzept Menschen in Europa. zu Europa 2020 diskutiert. Als Mitglied der SPD-Frak- tion und Opposition sage ich: Ich hätte mich gerne rich- (Beifall bei der SPD) tig kritisch mit den Vorstellungen und Ideen der Bun- Ich will auch etwas zum Thema Bildung sagen. desregierung auseinandergesetzt, aber ich habe keine Konzepte, keine Visionen und keine Strategie für Europa (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist im- gehört, mer gut!) (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Dann Man kann kritisch sein, und der Bundesrat hat zum Aus- bereichern Sie die Debatte doch mit Ihren druck gebracht, dass er für das Thema Bildung zuständig Konzepten!) ist. Aber ein gemeinsames Ziel in Europa, die Verständi- gung darauf, dass Bildung wichtig ist und wir in diesem sondern ich habe ganz viel dazu gehört, was Sie alles Bereich ambitioniert vorgehen müssen, stellt die Kom- nicht wollen. Das verstecken Sie hinter der Floskel petenz der Bundesländer überhaupt nicht infrage. Wenn „Vielfalt der Systeme“. Dabei bleiben Sie doch erschre- man will, dass in Europa Wachstum und Wettbewerbsfä- ckend vage und unverbindlich. higkeit großgeschrieben werden und wir gut aufgestellt (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Einfalt!) sind – das haben Sie betont –, dann müssen wir uns auch im Bereich der Bildung Ziele setzen. Dann geht es in Eu- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, die ropa gar nicht ohne Bildung. CDU war einmal europaengagiert. Ich müsste mich gar Aber die schwarz-gelbe Regierung bleibt die Antwort nicht um das europapolitische Profil der CDU sorgen, auf die Frage schuldig, wie das mit der Bildung denn ge- wenn es nicht um Deutschland und um die Zukunft Eu- hen soll. Denn Sie nehmen uns mit Ihrer Steuerpolitik je- ropas ginge. Das sorgt uns alle. Wir haben in Europa den Spielraum, um in Deutschland sinnvolle und gute nämlich zehn ganz entscheidende Jahre vor uns. Es geht Bildungspolitik zu machen. Ich würde mir wünschen, um die Stabilität und den Zusammenhalt Europas und dass die Bildungspolitik durch ein engagiertes Ziel auf um unsere Rolle in der Welt. Ich habe von der Bundesre- der europäischen Ebene befördert würde. gierung bisher nichts dazu gehört, wie es da weitergehen kann. (Beifall bei der SPD) 3116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Eva Högl (A) Zwei Ziele lehnen Sie ab – darauf habe ich hingewie- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) sen –, bei einem dritten Ziel sind Sie unengagiert, und Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem das ist die Beschäftigungsquote. Es geht um die Weiter- Kollegen Michael Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion entwicklung der Lissabon-Strategie. Wir dürfen das das Wort. Thema Beschäftigungsquote nicht nur auf die Floskel „Hauptsache Arbeit, egal was für eine“ reduzieren. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) brauchen bei der neuen Strategie klare Aussagen zur Qualität der Arbeit. Michael Stübgen (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Euro- Es geht nämlich darum, wie die Menschen in unserem päischen Rat, der in wenigen Stunden in Brüssel beginnt, Land arbeiten. Wir brauchen eine Lösung für das Pro- soll über die Ausgestaltung der sogenannten Europa- blem, dass immer mehr Menschen von Löhnen leben, 2020- oder Post-Lissabon-Strategie diskutiert werden. – von denen sie sich und ihre Familien nicht ernähren kön- Frau Högl, hören Sie einmal zu, was ich zu sagen habe. nen. (Dr. Eva Högl [SPD]: Ich höre Ihnen immer Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass wir die neue zu!) Strategie ganz klar formulieren, im Bereich der Beschäf- tigungspolitik um einen qualitativen Aspekt ergänzen Der neue Präsident Van Rompuy beabsichtigt, beim Eu- und feststellen: Wir sind gegen Ausbeutung. Wir sind für ropäischen Rat eine Grundverständigung über die Archi- gute Löhne auch auf der europäischen Ebene. – Ich hätte tektur der neuen Wachstumsstrategie zu erreichen. So mir auch gewünscht, dass wir uns ein engagiertes Ziel steht es auf der Einladung und in der Tagesordnung. Es mit Blick auf die gleiche Bezahlung von Männern und soll eine Aussprache geben, um dann zu Vorarbeiten und Frauen gesetzt hätten. Morgen findet der Equal Pay konkreten Beschlüssen zu kommen. Das passiert jetzt Day statt. In diesem Zusammenhang hätte man diese beim Europäischen Rat. Wenn Sie richtig zugehört ha- Strategie gut weiterentwickeln und ein gutes Ziel setzen ben, dann wissen Sie, dass der Präsident des Europäi- können. Das hätte dann den Namen „neue Strategie“ schen Parlaments, Herr Buzek, diese Woche mehrfach auch verdient. erklärt hat, dass der Europäische Rat frühestens am 17. Juni eine konkrete Strategie beschließen wird. (Beifall bei der SPD) Die Koalitionsfraktionen werden fundiert, und zwar Eine letzte Bemerkung zum Parlament – der Kollege durch Beratung in allen beteiligten Ausschüssen im Bun- Schäfer hat es schon angesprochen –: Wir haben eine destag, rechtzeitig zu diesem Termin eine detaillierte (D) (B) erste Debatte zum Thema Europa 2020 – und dabei geht Stellungnahme mit Bindewirkung für die Bundesregie- es nicht um mehr, aber auch nicht um weniger als um die rung vorlegen. Das geschieht dann, wenn es nötig ist, Zukunft der Europäischen Union – am 4. März um und dies ist für eine allgemeine Diskussion nicht der 21.30 Uhr für 30 Minuten geführt. Ansonsten ist das Fall. Wir beschließen doch im Bundestag keinen Sprech- Parlament nicht beteiligt worden. Heute hat es zum ers- zettel für die Kanzlerin, auf dem steht, was sie in der ten Mal die Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen, wel- Aussprache mit den Regierungschefs sagen darf. che Position die Kanzlerin bei diesem wichtigen Euro- päischen Rat vertreten wird. Ich finde, das ist eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gravierende Missachtung des Deutschen Bundestages. neten der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das finde ich enttäuschend. Ich hätte mir im Vorfeld die- Das weiß sie schon selber!) ses Europäischen Rates mehr gewünscht. In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf Island (Beifall bei der SPD) eingehen. Für jemanden, der das Thema nicht genau kennt, ist es nicht nachvollziehbar, worüber sich die SPD Das wäre insbesondere vor dem Hintergrund der Tat- und die Grünen beschweren. sache wichtig gewesen, dass mit dem Lissabon-Vertrag die Parlamente gestärkt wurden. Man hätte auch hier ein (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Wir auch!) deutliches Zeichen setzen können. Aber die Kanzlerin Wir haben von der Bundesregierung den Auftrag be- hat in ihrer Regierungserklärung die Parlamente nicht kommen, eine Stellungnahme zum Beschluss von Bei- ein einziges Mal erwähnt, weder den Deutschen Bundes- trittsverhandlungen mit Island zu erarbeiten. Zunächst tag noch das Europäische Parlament. war von der schwedischen und dann weiter verfolgt von Ich kann nur hoffen, dass sie sich mit ihrer Zögerlich- der spanischen Ratspräsidentschaft geplant, heute auf keit und Ideenlosigkeit im Europäischen Rat nicht dem Europäischen Rat über die Beitrittsverhandlungen durchsetzt und dass die anderen Kolleginnen und Kolle- abzustimmen. Es zeichnete sich seit Januar ab, dass die- gen ambitionierter sind und eine gute Strategie 2020 im ser Termin von den europäischen Institutionen nicht ge- Sinne der Zukunft Europas, im Sinne der Menschen in halten werden wird. Deutschland und Europa und auch im Sinne einer guten Wir haben im Bundestag mit unseren Anträgen dafür Positionierung Deutschlands formulieren. gesorgt, dass wir schon in der nächsten Sitzungswoche Herzlichen Dank. eine fundierte Stellungnahme vorlegen können, (Beifall bei der SPD) (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: 15. März!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3117

Michael Stübgen (A) die den Beginn von Beitrittsverhandlungen befürwortet, folge CDU/CSU und FDP auf der Bremse stehen, aber (C) was wir aber mit dem konkreten Hinweis verbunden ha- nicht Bündnis 90/Die Grünen, die Linke und die SPD? ben, dass dann ein entsprechender Beschluss gefasst werden soll. Wir werden am 22. April die zweite und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- dritte Lesung im Bundestag durchführen, rechtzeitig be- neten der SPD) vor irgendein Rat irgendetwas in dieser Angelegenheit entscheiden wird. Genau das fordert die Begleitgesetz- Michael Stübgen (CDU/CSU): gebung von uns. So werden wir das als Koalitionsfrak- Ich werde es im Protokoll nachlesen. Vielleicht ver- tionen auch weiter handhaben. stehe ich dann Ihre Frage. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: So schwer neten der FDP) war es nicht! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Kriegen wir dann eine schriftliche Antwort?) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Aber ich glaube, es war so ziemlich dieselbe Frage wie Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des die von Herrn Sarrazin. Kollegen Sarrazin? Es war ganz einfach so, dass nach der ursprünglichen Planung heute ein Beschluss gefasst werden sollte. Wir Michael Stübgen (CDU/CSU): haben uns im Ausschuss mit der Frage beschäftigt, wie Bitte. wir es schaffen können, heute zu beschließen. Dabei ist herausgekommen, dass wir es mit verkürzten Beratungs- Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zeiten der mitberatenden Ausschüsse, Fristverzicht und Herr Kollege Stübgen, Sie haben gesagt, Sie wüssten dergleichen gerade so hätten hinbekommen können. Als nicht, worüber wir uns beschweren. Sind Sie bereit, zur dann vor drei Wochen deutlich wurde, dass dieser Rat Kenntnis zu nehmen, dass sich die Fraktion Bündnis 90/ darüber nicht entscheiden kann, haben wir gesagt, dass Die Grünen darüber beschwert, dass die Koalition eine wir es auch mit den mitberatenden Ausschüssen ausführ- Chance vergibt, Island ein deutliches Signal zu geben, lich beraten werden, was übrigens unsere Verantwortung dass wir für einen Beitritt sind, dass wir zwar kritische als federführender Europaausschuss ist, um den Be- Fragen haben, aber in der Lage sind, schnell zu agieren, schluss dann zu fassen, wenn er notwendig ist. Dies wird um die Verhandlungen aufzunehmen? Das heißt, wir be- in der nächsten Sitzungswoche der Fall sein. schweren uns darüber, dass ein positives Signal ausge- Noch eines auf Ihre Frage, Herr Sarrazin: Die Frage, lassen wird. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu neh- wer hier Chancen für Island verbaut, können wir in der (B) men? (D) nächsten Woche noch einmal intensiv diskutieren; denn Sie als Grüne haben einen Antrag gestellt, in dem Sie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: von Island fordern, das angeblich absolute Walfangver- Herr Kollege, bevor Sie antworten: Der Kollege bot der Europäischen Union einzuhalten, bevor es Mit- Liebich will auch eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie glied in der Europäischen Union werden kann. Damit sie zulassen? Dann können Sie zusammenhängend Ihre fordern Sie von Island die Einhaltung von Regeln, die es Redezeit deutlich verlängern. in der Europäischen Union gar nicht gibt. Dort gibt es nämlich Ausnahmen für wissenschaftliche Zwecke und Michael Stübgen (CDU/CSU): zur Nutzung durch die indigene Bevölkerung. Wenn Sie Danke schön. also glauben, Sie setzten sich besonders für Island ein, dann schauen Sie sich doch erst einmal die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union an, anstatt von mit- Stefan Liebich (DIE LINKE): gliedswilligen Ländern Dinge zu fordern, die wir in der Herr Kollege, ich möchte mich der Beschwerde mei- Europäischen Union selber nicht erfüllen. – Danke nes Vorredners anschließen. Denn es gab Anträge von schön. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linksfraktion im Europaausschuss, die die CDU/CSU und die FDP nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beschließen wollten, in denen wir uns dafür ausgespro- In diesem Zusammenhang weise ich noch auf Folgen- chen haben, jetzt sehr frühzeitig das Signal auszusenden, des hin – das muss schon einmal gesagt werden –: Es ist dass sich die Bundesregierung für Verhandlungen mit Is- doch kein Zufall, dass wir in diesem Bundestag erst seit land einsetzt. Sind Sie auch bereit, zuzugestehen, dass 2006 überhaupt substanzielle Mitbestimmungsrechte Sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, dass das in europäischen Fragen haben. Ich kann Ihnen sagen, nicht auf der Tagesordnung steht? Der Staatssekretär hat warum das so ist: weil während der Regierungszeit von nämlich gesagt, dass es noch nicht auf der Tagesordnung Rot-Grün Schröder und Fischer kategorisch jede sub- steht bzw. dass man nicht wisse, ob es auf der Tagesord- stanzielle Mitberatungs- und Mitbestimmungsmöglich- nung stehen werde. keit des Bundestages verhindert haben. Ist es nicht vielmehr so, dass Sie dort gesagt haben, (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Was?) dass Sie, egal ob es auf der Tagesordnung steht oder nicht, nicht wollen, dass es auf die Tagesordnung Wenn Sie sich heute als Retter der Demokratie auf- kommt, weil Sie Beratungsbedarf haben, und demzu- spielen, dann sage ich Ihnen: Fassen Sie sich bitte an die 3118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Michael Stübgen (A) eigene Nase; denn wenn wir in der Großen Koalition fugnisse von Eurostat erheblich auszuweiten. Eurostat (C) nicht mit nachhaltigem Druck im Koalitionsvertrag soll künftig die Möglichkeit haben, direkt in den Län- durchgesetzt hätten, dass wir substanzielle Rechte für dern zu prüfen, ob die Zahlen, die sie öffentlich angeben den Bundestag bekommen, dann gäbe es sie erst jetzt, oder nach Brüssel weitergeben, stimmen. Ich weiß: Rot- weil wir nun eine vernünftige Koalition haben. Aber bis Grün hat das damals abgelehnt. Wir haben es damals, zum vorigen Jahr hätte es sie noch nicht gegeben. Bitte 2004, auch abgelehnt; das war ein Fehler. Jetzt ist es seien Sie etwas zurückhaltender mit Ihren Vorwürfen. wichtig, diesen Fehler so schnell wie möglich zu korri- gieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte noch eines sagen: Zukünftig können wir Ich muss noch ein Thema ansprechen; ohne es anzu- in den europäischen Verträgen, in der Euro-Gruppe nicht sprechen, kann man nicht über den Europäischen Rat mehr ausschließlich auf finanzielle Sanktionen setzen. sprechen. Es geht um die Finanzhilfen an Griechenland. Wenn ein Land nämlich erst einmal kurz vor der Zah- Ohne Zweifel befindet sich Griechenland in einer sehr lungsunfähigkeit steht, dann nützt es nicht mehr viel, schwierigen Haushaltssituation. Die Situation ist ernst Sanktionen in Form einer finanziellen Strafe zu erteilen. und wird im Übrigen von der griechischen Regierung Wir müssen uns da etwas Intelligenteres einfallen lassen. auch nicht beschönigt. Endlich, möchte ich sagen; denn Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die erwogen wer- leider mussten wir an der Verlässlichkeit griechischer den sollten. Zum einen könnte man im Rahmen eines Zahlen in den letzten Jahren zweifeln. Wir wissen heute, Vertragsverletzungsverfahrens wegen eines Verstoßes dass die Zahlen viele Jahre bewusst gefälscht wurden. gegen die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspak- tes die Stimmrechte eines Landes teilweise aussetzen. Das Reformprogramm der griechischen Regierung ist Darüber sollten wir nachdenken. Ich weiß, dass wir da- ambitioniert, aber nicht unerfüllbar. Darauf will ich auch für die Verträge ändern müssen. Wir sollten zum anderen einmal hinweisen. Wenn ich sehe, dass das Rentenein- aber das, was ansatzweise im Lissabon-Vertrag schon trittsalter in Griechenland auf 63 hochgesetzt worden angelegt ist, nämlich die Möglichkeit, Zahlungen – zum ist, dann ist das gut. Aber wir sind bei 67 Jahren. Dies Beispiel Agrarsubventionen oder Mittel aus den Struk- haben wir nicht gemacht, weil es uns Spaß macht, son- turfonds – einzufrieren, ausbauen. Im Übrigen können dern deswegen, weil wir sonst die Rentenstruktur nicht schon jetzt Mittel aus dem Kohäsionsfonds eingefroren hinbekämen. Griechenland erhöht die Mehrwertsteuer werden; das wurde aber noch nie gemacht. um 2 Prozentpunkte. Das ist wichtig, um die eigenen Eines möchte ich noch sagen: Ich finde es schon Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen. Wir haben die merkwürdig, dass Herr Barroso, der auch schon vor fünf Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht, um dies zu Jahren Kommissionspräsident war, jetzt in Interviews er- erreichen. Das hat auch keinen Spaß gemacht, war aber (B) klärt: Ich bin nicht schuld; ich konnte nichts machen, (D) notwendig. Griechenland hat das Ostergeld und das weil ich keine Möglichkeiten hatte. Weihnachtsgeld für die Angestellten im öffentlichen Dienst gestrichen. Die rot-grüne Bundesregierung hat (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Den ha- das sogenannte dreizehnte Monatsgehalt 2004 gestri- ben Sie doch haben wollen! – Axel Schäfer chen, übrigens ausnahmsweise ein richtiger Punkt. Wir [Bochum] [SPD]: Den hat Frau Merkel durch- sehen, die Reformen, die Griechenland in Angriff gesetzt! Ihr Präsident! Ihr Parteigänger!) nimmt, sind richtig; sie müssen umgesetzt werden, und Er sollte erklären, warum er die Möglichkeiten, die er Griechenland braucht unsere Unterstützung dafür. Aber hatte, nicht genutzt hat. es sind durchweg Reformen, die in diesem Land sehr spät in Gang gesetzt werden und bei uns in den letzten Das Thema Europa wird auch in Zukunft wichtig zehn Jahren schon umgesetzt wurden. Deshalb ist es sein. Wir sind da auf dem richtigen Weg. Ich wünsche wichtig, dass Griechenland diese Arbeit in erster Linie der Bundeskanzlerin für den Europäischen Rat alles alleine macht. Gute. (Beifall bei der CDU/CSU – Axel Schäfer Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. [Bochum] [SPD]: Das war Rot-Grün, sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wahr!) Ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen: Bei dem, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: was wir eben nicht nur in Griechenland, sondern auch in Ich schließe die Aussprache. Portugal und Spanien und anderen Mitgliedsländern se- Wir kommen zu den Entschließungsanträgen. hen, können wir, was den Stabilitäts- und Wachstums- pakt betrifft, nicht einfach weiter so machen, auch wenn Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf wir die kurzfristigen Probleme halbwegs gelöst haben. Drucksache 17/1191 soll überwiesen werden: zur feder- Es hat sich gezeigt, dass der Wachstums- und Stabilitäts- führenden Beratung an den Ausschuss für die Angele- pakt gerade dann nicht funktioniert, wenn eine Krise be- genheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung sonders schwer ist. Deshalb müssen wir uns Gedanken an den Auswärtigen Ausschuss, den Finanzausschuss darüber machen, wie wir den Stabilitäts- und Wachstums- und den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und pakt verändern und ihn krisenfester machen. Ich finde es Verbraucherschutz, den Ausschuss für Umwelt, Natur- zum Beispiel sehr richtig, dass der Europäische Rat schutz und Reaktorsicherheit und den Haushaltsaus- wahrscheinlich schon heute darüber redet – ein Fachmi- schuss. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. nisterrat wird das umsetzen –, endlich die Kontrollbe- Dann ist die Überweisung so beschlossen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3119

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin (C) Drucksache 17/1170 soll zur federführenden Beratung Kunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE schen Union und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie überwiesen werden. Sind Zukunft der Kommunalfinanzen – Transpa- Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die renz gewährleisten und Öffentlichkeit herstel- Überweisung so beschlossen. len Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf – Drucksache 17/1143 – Drucksache 17/1171 soll zur federführenden Beratung Überweisungsvorschlag: an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- Finanzausschuss (f) schen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Innenausschuss Ausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einver- d) – Zweite und dritte Beratung des von der Frak- standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines beschlossen. … Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteu- ergesetzes Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1172. Die – Drucksache 17/520 – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP Beratung der Beschlussempfehlung und des wünschen Überweisung, und zwar zur federführenden Berichts des Finanzausschusses (7. Aus- Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der schuss) Europäischen Union und zur Mitberatung an den Aus- – Drucksache 17/869 – wärtigen Ausschuss und den Finanzausschuss sowie an den Ernährungs- und den Umweltausschuss. Die Ab- Berichterstattung: stimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung Abgeordnete Peter Aumer geht nach ständiger Übung vor. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmt Dr. Thomas Gambke dagegen? – Enthaltungen? – Die Überweisung ist so be- schlossen, und zwar mit den Stimmen von CDU/CSU, – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- SPD, FDP und der Linken gegen die Stimmen der Grü- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung nen. Wir stimmen also heute nicht über den Entschlie- – Drucksache 17/872 – ßungsantrag ab. (B) Berichterstattung: (D) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf: Abgeordnete (Erfurt) a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Rettungsschirm für Kommunen – Strategie Dr. Gesine Lötzsch für handlungsfähige Städte, Gemeinden und Alexander Bonde Landkreise e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 17/1152 – richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) GRÜNEN Innenausschuss Sportausschuss Umsatzsteuerermäßigung für Hotellerie zu- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie rücknehmen Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksachen 17/447, 17/869 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Berichterstattung: Ausschuss für Bildung, Forschung und Abgeordnete Peter Aumer Technikfolgenabschätzung Martin Gerster Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Dr. Thomas Gambke b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Kunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer Änderung des Umsatzsteuergesetzes, Tagesordnungs- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE punkt 5 d, werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Verbindliches Mitwirkungsrecht für Kommu- nen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich und Verordnungen sowie im Gesetzgebungs- höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- verfahren sen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen – Drucksache 17/1142 – Bernd Scheelen für die SPD-Fraktion das Wort. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (Beifall bei der SPD) 3120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Bernd Scheelen (SPD): munen alles wegnimmt, was sie als Aufgaben sinnvol- (C) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- lerweise für die Bürger erledigen, und es den Privaten ren! Im Herbst 2008 haben wir in diesem Hohen Haus gibt, damit diese ihre Geschäfte machen können. den Rettungsschirm für Banken in einer sehr schnellen Das ist nicht das, was wir wollen. Aktion gemeinsam aufgespannt. Er war erfolgreich und verbunden mit dem Namen des damaligen Finanzminis- (Beifall bei der SPD) ters Peer Steinbrück. Wir haben danach gemeinsam in Sie wollen einen schwachen Staat. Wir wollen einen der Großen Koalition einen Rettungsschirm für Arbeits- leistungsfähigen Staat und starke Kommunen. Denn in plätze aufgespannt, der mit dem Namen Olaf Scholz eng den Kommunen entscheidet sich das Schicksal der Men- verbunden war. Darüber hinaus haben wir zu Zeiten der schen. Vor Ort wird gelebt, gearbeitet, Kultur erlebt, ge- Großen Koalition gemeinsam Ansätze eines Rettungs- meinsam etwas getan. Vor Ort wird auch Politik hautnah schirms für Kommunen beschlossen; ich erinnere an das erlebt, und vor Ort werden die Folgen von Politik unmit- Stichwort Konjunkturpaket II. Im Rahmen dieses Kon- telbar deutlich. junkturpaketes haben wir als Bund den Kommunen 10 Milliarden Euro gegeben, damit sie vor Ort Arbeits- Aber was macht Schwarz-Gelb? Was macht zum Bei- plätze sichern und die Wirtschaft am Laufen halten kön- spiel die CDU in Nordrhein-Westfalen? Am Wochen- nen. Das örtliche Handwerk wurde durch die Maßnah- ende gab es einen Parteitag in Münster. Da haben sich men, die wir zur energetischen Gebäudesanierung auf die Bundeskanzlerin und der Kollege Rüttgers für einen den Weg gebracht haben, gefördert. Satz feiern lassen, der sinngemäß lautete: Wir dürfen die Kommunen nicht ausbluten lassen, nur um Steuersen- Jetzt wäre es an der Zeit, über einen umfänglichen kungen durchführen zu können. – Ja, richtig! Rettungsschirm für die Kommunen nachzudenken. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Für diesen Satz sollen die beiden auf diesem Parteitag Eigentlich wäre es Aufgabe der Regierungskoalition, jubelnd gefeiert worden sein. Aufgabe von Schwarz-Gelb, das Thema hier aufzuset- zen. Aber wir, die SPD-Fraktion, haben es aufgesetzt, (Joachim Poß [SPD]: Im Fernsehen war es zu weil wir dieses Thema für besonders wichtig erachten. sehen!) Denn den Kommunen geht es schlecht. Da kann man sich nur fragen: Leiden die Delegierten Landauf, landab wird diskutiert, wo man in kommu- dort alle unter retrograder Amnesie? nalen Haushalten einsparen kann und wie man eventuell (Beifall bei Abgeordneten der SPD) an mehr Geld kommt. Es wird über die Schließung von (B) (D) Theatern, Museen, Schwimmbädern und Ähnlichem Haben sie zum Beispiel Ihren Koalitionsvertrag nicht ge- nachgedacht. Städte wie Köln denken darüber nach, ob lesen? Haben sie noch nicht mitbekommen, was Sie hier sie eine Bettensteuer einführen. bisher getan haben, was Sie an Gesetzen beschlossen ha- ben? Sie sind jetzt fünf Monate an der Regierung. Die (Gisela Piltz [FDP]: Haben sie schon einge- Bilanz ist: drei Gesetze. führt!) (Gisela Piltz [FDP]: Vorher elf Jahre gar nichts – Ein Akt der Notwehr, Frau Kollegin Piltz, gegen die für die Kommunen!) Maßnahmen, die Sie hier schon beschlossen haben. Das nennt man normalerweise Stillstand der Rechts- (Beifall bei der SPD) pflege. Es gibt Kommunen, Duisburg zum Beispiel, die da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rüber nachdenken, eine besondere Form der Gewerbe- steuer einzuführen: Sie wollen das älteste Gewerbe der Aber diese drei Gesetze gehen im Wesentlichen zulasten Welt besteuern. der Kommunen. Als Erstes haben Sie im vorigen Jahr die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unter- Das alles sind Akte der reinen Verzweiflung, weil es kunft abgesenkt. den Kommunen schlecht geht und sie den Eindruck ha- ben, dass sich Schwarz-Gelb auf Bundesebene nicht um (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie woll- sie kümmert. ten doch gar nichts bezahlen!) (Beifall bei der SPD) – Das ist doch völliger Unsinn, Herr Kollege; das wis- sen auch Sie. – Sie haben den Kommunen 3 Prozent- Die Kommunen leiden unter der Wirtschafts- und Fi- punkte – das sind 400 Millionen Euro – abgenommen, nanzkrise. Das gilt natürlich auch für Bund und Länder. und das in einer Situation, wo die Kosten der Unterkunft Die Kommunen leiden zudem aber unter Schwarz-Gelb. in den Kommunen steigen. (Beifall bei der SPD) Spätestens jetzt muss auch Ihnen klar werden, dass Sie leiden unter dem Katalog der Grausamkeiten, den der bestehende Abrechnungsmechanismus, so sinn- Sie Koalitionsvertrag nennen. Man bräuchte eine voll er im Einzelnen vielleicht sein mag, ein schwerwie- Stunde, um all das aufzuzählen, was Sie den Kommunen gendes Problem hat: Er kommt immer zwei Jahre zu antun wollen. „Privat vor Staat“ steht quasi über dem spät. Den Kommunen wird jetzt Geld erstattet auf der Koalitionsvertrag. Sie wollen, dass der Staat den Kom- Basis von vor zwei Jahren, als es den Kommunen gut Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3121

Bernd Scheelen (A) ging. Auf dieser Basis hatte man errechnet, sie bräuchten Heben Sie die Beteiligung des Bundes an den Kosten der (C) weniger. Jetzt geht es ihnen aber schlecht. Das heißt, zu- Unterkunft um 3 Prozentpunkte, um 400 Millionen mindest hier sollten Sie uns zustimmen, wenn wir sagen: Euro, an. Wir brauchen für die nächsten zwei Jahre eine Über- Ganz wichtig: Lassen Sie die Finger von der Gewer- brückung, damit die Kommunen nicht prozyklisch be- besteuer. straft werden. Das heißt, wenn es mit der Wirtschaft ab- wärtsgeht, bekommen sie weniger; wenn es mit der (Beifall bei der SPD) Wirtschaft wieder aufwärtsgeht, dann erhalten sie mehr. Was Sie da machen, ist doch hirnrissig. Da muss eine Das ist ein entscheidender Punkt. Überbrückung her. ( [CDU/CSU]: Sie haben nichts begriffen!) (Beifall bei der SPD – Ingbert Liebing [CDU/ CSU]: Scholz war doch Sozialminister, als das Die Gewerbesteuer ist kein Thema, mit dem man die beschlossen wurde! – Zuruf der Abg. Bettina Menschenmassen auf den Marktplätzen begeistern kann. Hagedorn [SPD]) Aber wenn man den Menschen sagt, dass die Einnahmen aus der Gewerbesteuer im Jahre 2008, als sie den höchs- – Die Kollegin Hagedorn weist zu Recht darauf hin, dass ten Stand in der Nachkriegsgeschichte erreicht hatte, die SPD-Fraktion einen entsprechenden Antrag in der 41 Milliarden Euro ausgemacht haben und die Sozial- vorigen Woche im Rahmen der Haushaltsberatungen ausgaben der Kommunen bei 40 Milliarden Euro liegen, eingebracht hat. dann wird ihnen klar, dass in vielen Kommunen das, was an Gewerbesteuereinnahmen hereinkommt, für soziale (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sie hatten elf Aufgaben benötigt wird. Lassen Sie deswegen die Fin- Jahre Zeit dazu!) ger von der Gewerbesteuer. Das ist die wichtigste Ein- Wir haben beantragt, den Kommunen 400 Millionen nahmequelle, die die Kommunen haben. Euro mehr für dieses und das nächste Jahr zur Verfügung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu stellen. Diesen Antrag haben Sie abgelehnt. Zu den des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schweinereien, die Sie hier veranstalten, sollten Sie auch stehen. Im Zug der Krise sind natürlich auch die Einnahmen aus der Gewerbesteuer eingebrochen, und zwar um etwa (Beifall bei der SPD – Dr. Mathias Middelberg 18 Prozent – das ist schlimm genug –; aber auch die Ein- [CDU/CSU]: Sie waren elf Jahre verantwort- nahmen aus der Einkommensteuer sind eingebrochen, lich!) um 8 Prozent. (B) (D) Die anderen beiden Gesetze, die Sie verabschiedet ha- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber kon- ben, haben Steuergeschenke an Privilegierte zum Inhalt: junkturell bedingt!) an Hoteliers, an reiche Erben und an Unternehmen, die – Natürlich konjunkturell bedingt. – Die Einnahmen aus ihre Gewinne lieber im Ausland versteuern. Sie haben der Körperschaftsteuer, die Sie teilweise als Ersatz an- ihnen das noch erleichtert. An den Verlusten, die als bieten, sind um 60 Prozent eingebrochen. Was ist das Folge dieser Gesetze entstehen, sind die Kommunen denn für die Kommunen für ein Ersatz, wenn sie die Ein- überproportional beteiligt: bei dem einen Gesetz mit nahmen aus einer Steuer, die leicht konjunkturreagibel 40 Prozent, bei dem anderen mit 20 Prozent, obwohl sie ist, gegen die Einnahmen aus einer anderen Steuer tau- an den Gesamteinnahmen des Staates auf der Steuer- schen, die schwer konjunkturreagibel ist? Was Sie da ebene mit nur 13 Prozent beteiligt sind. Das heißt: Sie machen wollen, ist doch hirnrissig. machen konkret eine Politik gegen die Kommunen. Die Kommunen leiden unter Ihnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Leo (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dautzenberg [CDU/CSU]: Warten Sie mal Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ ab!) DIE GRÜNEN]) Sie benutzen die Krise sozusagen als Alibi, um die Es muss Schluss sein mit Ihren weiteren Steuersen- Gewerbesteuer abzuschaffen. Insbesondere die FDP kungsplänen. Sie müssen das, was den Kommunen stellt sich hierhin und erklärt: Schaut doch einmal, die durch Ihre Beschlüsse an Verlusten – sie belaufen sich in Einnahmen aus der Gewerbesteuer sind eingebrochen. etwa auf 2,5 Milliarden Euro – entsteht, kompensieren. Eine solche Steuer muss abgeschafft werden; denn die Die Kommunen brauchen dieses Geld; sonst können sie Kommunen brauchen verlässliche Einnahmen. – Die ihre Aufgaben nicht erfüllen. Krise dient hier als reines Alibi. W (Beifall bei der SPD) as Sie als Ersatz anbieten, ist, die Einnahmen aus einer Steuer, die nur die Wirtschaft zahlt, durch die Ein- Sorgen Sie also für Kompensation für die Steuerausfälle. nahmen aus drei anderen Steuern zu ersetzen, von denen Hören Sie auf, Steuergeschenke zu verteilen. nur noch eine von der Wirtschaft gezahlt wird, nämlich die Körperschaftsteuer. Die Einnahmen aus dieser Steuer (Dr. Daniel Volk [FDP]: Steuergeschenk ist ein liegen manchmal bei null. Ich erinnere an das Jahr 2003: Widerspruch in sich!) Da gab es überhaupt keine Zahlungsverpflichtungen. 3122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Bernd Scheelen (A) Die anderen beiden Steuern werden von den Menschen ist ein unverzeihlicher Fehler, den wir jetzt korrigieren (C) gezahlt, nämlich die Mehrwertsteuer – von den Verbrau- sollten. Ich bitte also um Ihre Zustimmung für die Über- cherinnen und Verbrauchern – und die Einkommen- weisung des Antrags auch an den Haushaltsausschuss. – steuer, von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das ausdrücklich Das ist nicht unser Modell. Das werden wir auf keinen so beschlossen. Fall mitmachen. Nun erteile ich der Kollegin Antje Tillmann für die (Beifall bei der SPD) CDU/CSU-Fraktion das Wort. Ein weiterer Punkt. Klopfen Sie bitte Ihren Ländern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auf die Finger, (Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Vor allem Antje Tillmann (CDU/CSU): Rheinland-Pfalz!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit einiger Zeit diskutieren wir in jeder Plenarwoche min- damit sie das Geld, das der Bund ihnen für die Kommu- destens ein Mal über die Situation der Kommunen, heute nen zur Verfügung stellt, weitergeben. Stichwort „Be- sogar anhand von fünf verschiedenen Oppositionsanträ- treuung unter Dreijähriger“: Das Geld für die Kommu- gen. Das wäre gut und richtig, wenn wir mit dieser De- nen, das der Bund zur Verfügung stellt, versickert in den batte neue und problemlösende Ideen diskutierten; denn meisten Ländern mit einer CDU-geführten Regierung, die Situation der Kommunen ist ernst. Leider steht in bleibt also an den klebrigen Händen der dortigen Finanz- den Anträgen nichts, was nicht sowieso schon Gesetz ist minister hängen. oder durch Bundesfinanzminister Dr. Schäuble nicht be- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ihr habt da- reits auf den Weg gebracht worden ist. Lieber Kollege mals in Nordrhein-Westfalen gar nichts ge- Scheelen, in Ihrem Antrag steht nichts, was in irgend- macht! – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Vor al- einer Weise gegenfinanziert ist. lem in Rheinland-Pfalz!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ein letztes Wort, und zwar zu der Einigung von letzter der FDP) Nacht zu den Jobcentern. Hier haben wir gemeinsam eine gute Lösung gefunden. Aber diese hätten Sie schon Es ist kein Wunder, dass Sie Ihren Antrag genau in voriges Jahr haben können. Das hätten Sie mit uns ge- der Woche stellen, in der die Haushaltsberatungen vorbei meinsam in der Großen Koalition beschließen können. sind. Alles, was Sie fordern, ist überhaupt nicht gegenfi- Das haben Sie aus durchsichtigen Gründen nicht ge- nanziert. Bei den Haushaltsberatungen haben Sie ver- (B) wollt. säumt, entsprechende Anträge zu stellen. (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Joachim Poß [SPD]: Sie sind für unfinanzier- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bare Steuersenkungen! Was reden Sie denn da für einen Stuss?) Ganz im Gegenteil: Sie haben in den schwarz-gelben Koalitionsvertrag aufgenommen, dass Sie die bewährte Sie können das bei den nächsten Haushaltsberatungen Zusammenarbeit der Jobcenter mit der Bundesagentur nachholen. für Arbeit und den Kommunen beenden wollen. Sie wol- Ich zähle einzeln auf: Sie fordern 1,6 Milliarden Euro len alles wieder auseinanderreißen. Das steht so in Ihrem als Kompensation für die Kommunen. Sie fordern, die Koalitionsvertrag. Gott sei Dank sind Sie klüger gewor- Beteiligung des Bundes an den Unterkunftskosten um den. Ich unterstreiche ausdrücklich, dass ich das gut 3 Prozent anzuheben. Sie fordern, bewährte Programme finde; denn jetzt können Millionen Langzeitarbeitslose wie die Städtebauförderung zu verstärken. Sie fordern nach wie vor Leistungen aus einer Hand bekommen. Altschuldenhilfe für Wohnungsunternehmen in den (Beifall bei der SPD) neuen Ländern. Sie fordern die Erweiterung der kulturel- len Projektförderung und die Unterstützung der kulturel- Ich stelle fest, dass die Einigung im Wesentlichen len Infrastruktur und, und, und. Die Umsetzung dieser eine sozialdemokratische Handschrift trägt. Wir wissen, Forderungen macht ohne Weiteres bis zu 20 Milliarden wie man gute Politik macht. Wenn Sie gute Politik ma- Euro aus. Wo war Ihr entsprechender Antrag in den chen wollen, fragen Sie uns. Wir wissen, wie es geht, Sie Haushaltsberatungen? Fehlanzeige! Sie haben sich vor nicht. dieser Debatte bei den Haushaltsberatungen ganz be- wusst gedrückt, weil Sie nämlich nicht wussten, woher (Beifall bei der SPD) dieses Geld genommen werden soll.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Joachim Poß [SPD]: KdU haben Sie in den Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss auf den Haushaltsberatungen abgelehnt!) vorherigen Tagesordnungspunkt zurückkommen. Bei der – Herr Poß, ich freue mich immer, wenn Sie bei meiner Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Rede anwesend sind; denn dann wird es lebhaft. Grünen auf Drucksache 17/1172 habe ich bei der Verle- sung der vielen Ausschüsse, an die der Antrag überwie- (Bernd Scheelen [SPD]: Ansonsten geht es nur da- sen werden soll, den Haushaltsausschuss vergessen. Das rum, was Sie denen weggenommen haben!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3123

Antje Tillmann (A) Herr Kollege Scheelen, Ihre Forderung, unseren Län- Sowohl in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der (C) dern auf die Finger zu klopfen, sieht unsere Verfassung Bundesministerien als auch der Geschäftsordnung des aufgrund unseres föderalen Staatsaufbaus nicht vor. Deutschen Bundestags sind das Beratungsrecht und die Fragepflicht der Kommunen ausdrücklich vorgesehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich zitiere § 41 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien: Machen Sie doch bitte konkrete Vorschläge, wie wir den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern verändern Zur Vorbereitung von Gesetzesvorlagen, die Be- können. Zu dieser Debatte sind wir mit Sicherheit bereit. lange der Länder oder der Kommunen berühren, soll vor Abfassung eines Entwurfs die Auffassung Das von Ihnen gewählte Beispiel Jobcenter ist nun der Länder und der auf Bundesebene bestehenden wirklich das schlechteste Beispiel. Es geht überhaupt kommunalen Spitzenverbände eingeholt werden. nicht darum, den Kommunen über viele Einzelpro- gramme – wie Sie sie fordern – immer dann Mittel zur Was Sie fordern, ist also längst Tatsache. Das bewährt Verfügung zu stellen, wenn wir uns dazu zwar bereit er- sich in der Praxis. Ob Sie die Unternehmensteuerreform, klären, diese Mittel aber an eine Zweckbindung ge- das Zukunftsinvestitionsgesetz oder die Föderalismus- knüpft sind. Vielmehr geht es darum, dass die Kommu- kommission nehmen: Sie können selbstverständlich in nalparlamente freie Einnahmen brauchen, mit denen sie jedem Protokoll der Anhörungen sachkundige Äußerun- eigenverantwortlich Schwerpunkte in der jeweiligen gen der kommunalen Spitzenverbände lesen. In die Be- Kommune setzen können. schlüsse der Föderalismuskommission haben wir die Forderung der kommunalen Spitzenverbände, dass es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) künftig keine Bundesaufgabe mehr gibt, die den Kom- munen direkt übertragen wird, sogar eins zu eins aufge- Die Entscheidung für Jobcenter zeigt, worauf es Ih- nommen. Es gibt also unendlich viele Beispiele, die zei- nen ankommt: Ihnen geht es darum, die Kommunen so gen, dass diese Zusammenarbeit hervorragend ist. weit wie möglich zu gängeln. Warum sonst sollte es von einer Zweidrittelmehrheit im Kommunalparlament ab- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hängen, ob sich eine Kommune entscheidet, zu optieren der FDP) oder nicht? Wir haben Vertrauen in unsere kommunalpo- Ich bin sicher – das ist Auftrag der Regierungskom- litischen Kollegen. Wir glauben, dass die Kommunen ei- mission von Herrn Finanzminister Dr. Schäuble –, dass gene Einnahmequellen brauchen, damit sie besser Ent- diese Frage in der Kommission überprüft wird, dass scheidungen treffen können. noch einmal überlegt wird, wie man kommunale Ver- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bände noch besser in zusätzliche Entscheidungen einbe- (D) ziehen kann. Wir werden keineswegs die Finger davon lassen. In Nur eine Randbemerkung: Ihnen ist aufgefallen, dass der Kommission, die Finanzminister Schäuble einberu- in der Kommunalkommission der Bundesregierung die fen hat, werden wir selbstverständlich den Finger auf kommunalen Spitzenverbände mit Herrn Christian jede Wunde legen, und wir werden jede Chance erörtern, Schramm und Herrn Jörg Duppré vertreten sind, wir die es den Kommunen ermöglicht, zukünftig über eigene Bundestagsabgeordnete aber nicht. und sichere Einnahmequellen zu verfügen. Die Gewer- besteuer ist sehr konjunkturabhängig. Ich habe nicht ge- (Bernd Scheelen [SPD]: Die gehören doch hört, welche Einnahmequelle Sie den Kommunen anbie- beide Ihrer Partei an! Da haben Sie doch ten, die eine Alternative zu den Einnahmen aus der Drähte!) Gewerbesteuer ist – abgesehen von Einzelprogrammen, bei denen wir als Bundestagsabgeordnete mit darüber Ich sehe nicht, dass die kommunalen Spitzenverbände entscheiden, was die Kommunen mit ihren Mitteln ma- nicht in dem erforderlichen Umfang auch in diese Kom- chen. mission eingebunden sind, sodass ich glaube, dass dieser Antrag in dem Punkt völlig überflüssig ist. (Bernd Scheelen [SPD]: Gucken Sie in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Antrag! Da steht alles drin! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Gemeindewirtschaftsteuer!) Als reine Zeitverschwendung würde ich, liebe Kolle- gen von der Linken, Ihren Antrag „Zukunft der Kommu- – Sie können sich jetzt beruhigen! nalfinanzen – Transparenz gewährleisten und Öffentlich- keit herstellen“ bewerten. Sie fordern, eine breite und Neben den SPD-Anträgen gibt es auch Anträge der ergebnisoffene Debatte über Chancen der dauerhaft sta- Linken. Diese fordern zum Beispiel ein verbindliches bilen Einnahmesituation der Kommunen zu führen. Seit Mitwirkungsrecht der Kommunen. Sie kritisieren, dass 20 Jahren tun wir nichts anderes, als darüber zu diskutie- die institutionelle Garantie der Kommunen, verankert in ren, ob es richtig ist, den Kommunen eine Einnahme- Art. 28 des Grundgesetzes, nicht dazu führe, dass Kom- quelle neben der Gewerbesteuer und der Grundsteuer zu munen Debatten, die sie betreffen, mitgestalten dürften. ermöglichen. Diese Diskussion wird immer dann beson- Das ist völlig daneben. Selbstverständlich sieht dieser ders laut, wenn die Gewerbesteuer nicht so gut fließt wie Artikel vor, dass die Kommunen gefragt werden, wenn in guten Jahren, also wie es jetzt der Fall ist. es um ihre Einnahmesituation geht. Das ist übrigens eine ganz alte Tradition in diesem Haus. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) 3124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Antje Tillmann (A) Dass diese Diskussion ergebnisoffen geführt wird, kön- 5 Prozent steigen werden. Die Stadt Wuppertal denkt da- (C) nen Sie daran erkennen, dass wir in den letzten 20 Jahren rüber nach, das Schauspielhaus, Schulen und Bäder zu keine Lösung gefunden haben. schließen. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Weil der Herr (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Die Rede habe Koch sie im Vermittlungsausschuss wegdisku- ich schon mal gehört!) tiert hat!) Ich finde, das sind unhaltbare Zustände für eines der Deshalb wäre mir sehr viel lieber, wir führten sie ein bis- reichsten Länder der Erde. schen weniger ergebnisoffen und dafür ein bisschen er- (Beifall bei der LINKEN) gebnisorientierter. Das werden wir tun, und das wird auch die Gemeindefinanzkommission tun. Im Jahr 2009 fehlten den Kommunen 7,1 Milliarden Euro, und im Jahre 2010 werden es wohl 12 Milliarden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Euro sein. Die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, hat wie Sie fordern weiter, dass Vorschläge, die bisher von immer Verständnis für die Lage der Kommunen geäu- kommunalen Vertretungen, Wahlbeamten, Gewerkschaf- ßert. Verständnis ist immer gut. Doch woher soll das ten und Wissenschaftlern gemacht wurden, in die Dis- Geld für die Kommunen kommen? Diese Frage muss be- kussion dieser Kommission einfließen. Entschuldigung, antwortet werden. worum geht es denn sonst in dieser Kommission, außer Nun plant die Bundesregierung eine Bankenabgabe. über die Modelle, die auf dem Tisch liegen, zu diskutie- Das hört sich erst einmal gut an. Doch diese Bankenab- ren und gemeinsam mit den kommunalen Spitzenver- gabe soll lediglich 1 Milliarde Euro einbringen; das ist bänden eine Lösung zu suchen? lächerlich. Diese 1 Milliarde Euro ist nicht einmal für Sie fordern in demselben Antrag auch, dass die Re- die Kommunen gedacht. Sie, meine Damen und Herren gierungskommission regelmäßig über den Stand der Ar- von der Bundesregierung, wollen nur die Banken vor der beit öffentlich Bericht erstattet. Der federführende Aus- nächsten Krise schützen, nicht etwa die Kommunen und schuss ist gestern informiert worden, und ich bin sicher, die Bürgerinnen und Bürger. Für sie gibt es keinen dass er in den nächsten Monaten immer wieder infor- Schutz, weder in der jetzigen Krise noch vor zukünftigen miert wird. Wie die Kommission es schaffen sollte, völ- Krisen. Das müssen wir ändern. lig geheim die Gewerbesteuer abzuschaffen, auszuwei- (Beifall bei der LINKEN) ten oder eine sonstige Kommunalsteuer einzuführen, ist mir nicht klar. Also, die Öffentlichkeit wird selbstver- Schauen wir in die Zukunft. ständlich hergestellt. Ihres Antrags bedarf es deshalb (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Völker, hört (B) (D) nicht. die Signale!) Ich schlage vor, wir lassen die Kommission erst ein- Ab dem Jahr 2011 wird Finanzminister Schäuble das Vo- mal arbeiten. Dann hat sie auch etwas zu berichten. Ich lumen des Bundeshaushalts jedes Jahr um 10 Milliarden bin sicher, dass Finanzminister Schäuble seine Zusage, Euro kürzen müssen, um die Schuldenbremse, die im die er uns gegeben hat, nämlich über die Informationen Grundgesetz festgeschrieben wurde, einzuhalten. Wie er zeitnah mit uns zu diskutieren, einhalten wird. Wir wer- das machen will, hat er uns bisher nicht verraten. den gemeinsam mit den Städten und Gemeinden eine Lösung für das Problem der nicht vorhandenen Versteti- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Lassen Sie sich gung der Einnahmen finden. Selbstverständlich geht das doch überraschen, Frau Kollegin!) nicht gegen die kommunalen Verbände. Wir werden ge- Klar ist nur, dass angesichts der Schuldenbremse für die meinsam nach einer Lösung suchen, und die Kommunen Unterstützung der Kommunen kein Spielraum mehr sein werden eigenständig über eigene, konjunkturunabhän- wird. Im Gegenteil: Er wird die Kommunen mit den gige Einnahmen beraten. Zu der Diskussion darüber lade Auswirkungen der Gesetze allein lassen, wie es die ich Sie ein, und darauf freue ich mich. Kommunen seit Jahren erleben. Dieser Zustand muss Danke schön. endlich beendet werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: Deshalb geht es Berlin so gut, weil Sie in Ber- lin regieren!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Gesine Lötzsch für die Fraktion Die Aber das ist noch nicht alles. Die Koalition hat vor al- Linke. len Dingen auf Betreiben der FDP im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass weitere Steuersenkungen von (Beifall bei der LINKEN) 24 Milliarden Euro beschlossen werden sollen. Damit wollen Sie den Kommunen noch mehr Geld entziehen. Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): (Zuruf von der FDP: Nein, das wollen wir aus- Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten drücklich nicht!) Damen und Herren! Die schwäbische Stadt Nürtingen hat für dieses Jahr ihren Bürgern angekündigt, dass die Ich kann Ihnen nur sagen: Es war ein schwerer Fehler, Elternbeiträge für den Hort um 5 Prozent, für die Ferien- die Banken an der Finanzierung der Kosten, die im Rah- betreuung um 12 Prozent und für die Musikschulen um men der Krise angefallen sind, nicht zu beteiligen. Es Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3125

Dr. Gesine Lötzsch (A) war ein schwerer Fehler, Bund, Länder und Gemeinden nanzausstattung der Kommunen schaffen und diese (C) mit einer Schuldenbremse zu knebeln. Es war ein weite- langfristig sichern. Denn das Leben in den Kommunen rer schwerer Fehler, in dieser Situation weitere Steuerge- ist konkret: Es geht um Schulen, es geht um Schwimm- schenke zu versprechen. Das ist die falsche Politik. bäder, es geht um Bibliotheken, es geht um Theater. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass ein reiches Land (Beifall bei der LINKEN) wie Deutschland auf all dies verzichten bzw. die kultu- Eine Politik der Deregulierung der Märkte, der Privati- relle Landschaft ausdünnen will. sierung öffentlichen Eigentums und der Zerstörung des Meine Damen und Herren, der SPD-Antrag enthält Arbeitsmarktes blutet die Kommunen aus. viele Forderungen, die wir von der Linken mittragen Wenn ich die Anträge der anderen Fraktionen lese, können. Doch der Schirm, den Sie konzipiert haben, ist dann habe ich häufig den Eindruck, dass man dort denkt, leider ein bisschen zu klein. Wir brauchen einen wirklich die Finanz- und Wirtschaftskrise sei vom Himmel gefal- verlässlichen Rettungsschirm für die Kommunen. len bzw. habe uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel ge- Vielen Dank. troffen und die Welt sei vorher in Ordnung gewesen. Doch die Welt war auch vorher nicht in Ordnung. Die (Beifall bei der LINKEN) Regierungen Kohl, Schröder und Merkel haben dazu beigetragen, dass die Haushaltsnotlage der Kommunen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: immer größer wurde. Das Wort hat nun Birgit Reinemund für die FDP- Ich kann es Ihnen, meine Damen und Herren von der Fraktion. SPD, nicht ersparen: Ihr Antrag ist zwar gut gemeint; (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten doch es kommt nicht zum Ausdruck, wie Sie das struktu- der CDU/CSU) relle Defizit von 12 Milliarden Euro jährlich beseitigen wollen. In Ihrem Antrag wird das Problem nicht an der Wurzel gepackt. Das Problem ist die Agenda 2010, ins- Dr. Birgit Reinemund (FDP): besondere Hartz IV. Dies hat nämlich dazu geführt, dass Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen die Kommunen über 40 Milliarden Euro für soziale Sie mich nach diesem Rundumschlag über die allge- Leistungen aufbringen müssen. Das können die Kom- meine Steuer- und Verteilungspolitik zum Thema kom- munen nicht schultern; das wissen Sie genau. munale Finanzen zurückkehren. (Joachim Poß [SPD]: Unsinn en gros!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Dies war die falsche Entscheidung. Die Agenda 2010 (D) und Hartz IV müssen abgewickelt werden. Am Dienstag dieser Woche hat das Statistische Bundes- amt die aktuellen Zahlen zur Finanzsituation der Städte (Beifall bei der LINKEN – Joachim Poß und Gemeinden vorgelegt. Die Finanzlage der Kommu- [SPD]: Das hat doch mit der Agenda 2010 nen ist noch ernster als erwartet. Im Jahr 2009 klaffte in überhaupt nichts zu tun!) den Kassen der Kommunen ein Finanzloch in Höhe von 7,1 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Wenn das SPD-Präsidium nun vor der Wahl in Nord- Einnahmen im Krisenjahr um rund 2,7 Prozent eingebro- rhein-Westfalen einen Rettungsschirm für die Kommu- chen – die Konjunktur ist übrigens um 5 Prozent einge- nen beschließt, dann ist das gut. Aber Sie müssen natür- brochen –; die Ausgaben der Kommunen stiegen dage- lich ganz genau erklären, wie Sie ihn finanzieren wollen; gen um 6 Prozent. Das macht deutlich: Wir haben ein denn wir können nicht noch einmal einen Rettungs- Einnahmeproblem und ein noch wesentlich größeres schirm in Höhe von 480 Milliarden Euro aufspannen. So Ausgabenproblem. viel Geld ist wirklich nicht vorhanden. Wir können den Kommunen nur helfen, wenn die Kräfte der Vernunft in Verursacht wurde dieses Problem einerseits durch den diesem Haus bereit sind, über die Stabilisierung der Ein- Einbruch der Gewerbesteuer – bundesweit um 18,4 Pro- nahmen zu reden. Bundespräsident Horst Köhler haben zent, in einzelnen Kommunen um bis zu 40 Prozent – wir erfreulicherweise schon auf unserer Seite. Er hat und andererseits durch die Explosion der Sozialausga- nämlich erklärt, es gebe keinen Spielraum für Steuersen- ben. kungen. Ich finde, da Sie sich so gerne auf den Bundes- präsidenten berufen, sollten Sie diese Aussage von ihm (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Durch Steuer- ernst nehmen. senkungen! – Bernd Scheelen [SPD]: Das Ausgabenproblem ist durch die Gewerbesteuer (Beifall bei der LINKEN – Dr. Axel Troost verursacht? Was ist das für eine Logik? – Ge- [DIE LINKE]: Die Finanztransaktionsteuer genruf des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP]: Die will er auch haben!) Steuersenkungen werden erst 2010 wirksam!) Um die aktuellen und langfristigen Probleme in unse- Diese stiegen um 4,9 Prozent auf insgesamt 40,3 Milliar- rem Land zu lösen, müssen wir endlich diejenigen zur den Euro. Laufende Ausgaben müssen zunehmend über Kasse bitten, die uns die Krise eingebrockt haben, an der Kassenkredite finanziert werden. Es ist richtig: Dadurch Krise verdient haben und jetzt schon wieder im Kasino werden die notwendigen Gestaltungsspielräume der ver- zocken. Wir von der Linken wollen Mehreinnahmen. fassungsrechtlich geschützten kommunalen Selbstver- Mit diesen Mehreinnahmen wollen wir eine stabile Fi- waltung immer geringer. 3126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Birgit Reinemund (A) Lassen Sie mich von diesen pauschalen Zahlen abse- Die kurzfristigen Hauruck-Aktionen, die die SPD in (C) hen; denn die Lage der einzelnen Kommunen stellt sich ihrem Antrag vorschlägt, verpuffen, wenn die strukturel- recht unterschiedlich dar: Neben schuldenfreien Kom- len Defizite nicht behoben werden. Wie fair und solida- munen gibt es solche mit einer Pro-Kopf-Verschuldung risch ist es denn, schlecht wirtschaftenden Kommunen von über 2 000 Euro, und das über alle Gemeindetypen, finanziell unter die Arme zu greifen und die, die sich Gemeindegrößen und Regionen hinweg. Das heißt, man- schmerzhaft konsolidieren, links liegen zu lassen? che Kommune muss sich fragen lassen, inwieweit sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten konsequent Ausgaben- und Aufgabenkritik betreibt. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir werden die Grundstrukturen des Systems verbes- der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Also sern. Sie doktern an den Symptomen herum. sind die selbst schuld? Man merkt, dass die FDP in den Kommunalparlamenten wenig ver- (Sabine Bätzing [SPD]: Was?) treten ist!) Das ist populistisch und erzielt keine nachhaltige Wir- Gleichzeitig gibt es durchaus positive Beispiele: Kom- kung. Als kurzfristige Maßnahmen gab es die Konjunk- munen, die trotz aller Widrigkeiten ihren Haushalt kon- turpakete und die – seit langem höchsten – Zuweisungen solidieren konnten, zum Beispiel Dresden und Düssel- an Kommunen. Wie Sie selbst erkannt haben, basieren dorf. Die Analyse dieser Best-practice-Beispiele wäre die Finanzprobleme der Kommunen in erster Linie auf sicherlich lohnenswert. den strukturellen Fehlentwicklungen der letzten Jahre. Ich erinnere an dieser Stelle daran, dass es die SPD war, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die die letzten elf Jahre den Finanzminister gestellt hat Es besteht Konsens, dass die Kommunen eine solide, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten verlässlichere finanzielle Basis brauchen. Darunter ver- der CDU/CSU) stehen wir allerdings keine plakativen Worthülsen. Wir streben möglichst schnell eine nachhaltige und tragfä- und die Kommunen jahrelang im Regen stehen ließ. Die hige Lösung an. „Solide“ bedeutet: verlässlich, konjunk- Kommunen leiden nicht unter Schwarz-Gelb, sie leiden turunabhängig und weniger schwankungsanfällig auf der an den Folgen von Rot-Grün. Einnahmeseite. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- Genauso wichtig ist es, die Ausgabenseite zu betrach- derspruch bei der SPD) ten. In diesem Zusammenhang sollten wir überprüfen, Sie selbst beschreiben in Ihrem Antrag, und zwar ob die Zuweisungsschlüssel im Rahmen des kommuna- durchaus richtig, die strukturelle Unterfinanzierung der (B) len Finanzausgleichs die Veränderungen der Bevölke- (D) Kommunen und fordern, dass diese durch mittelfristige rungsstrukturen noch ausreichend abbilden. und langfristige Maßnahmen beseitigt werden. Da sind (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE wir ganz auf einer Linie. Dann stellen Sie fest, dass der GRÜNEN]: Sehr richtig!) Umfang der kommunalen Aufgaben und Ausgaben und die zur Verfügung stehenden Einnahmen in Einklang ge- Am 4. März hat die Regierungskommission, die sich bracht werden müssen. Auch das ist absolut richtig. mit diesen Themenkomplexen befasst, ihre Arbeit aufge- Doch ist der vorwurfsvolle Ton nicht ziemlich heuchle- nommen. Staatssekretär Koschyk hat diese Woche im Fi- risch? Es war schließlich die rot-grüne Regierung, die nanzausschuss bestätigt, dass alle Beteiligten zu einer den Kommunen mit der fortlaufenden Übertragung von vorurteilsfreien und zielorientierten Zusammenarbeit be- Aufgaben finanziell die Luft abgeschnürt hat, reit sind. Das ist schon einmal ein guter Ausgangspunkt. (Joachim Poß [SPD]: Was? – Bernd Scheelen (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ich werde aus [SPD]: Damit haben wir Geld geliefert!) dem Protokoll zitieren! – Bernd Scheelen [SPD]: Was sollen sie auch machen, wenn sie zum Beispiel mit dem Gesetz zum Krippenausbau ohne eingeladen sind? Dann müssen sie auch kom- gleichzeitige Kostenübernahme men!) (Bernd Scheelen [SPD]: Anders als Schwarz- Drei Arbeitsgruppen werden sich mit den Themen Gelb unter Kohl!) kommunale Steuern, Standards und Rechtsetzung be- und mit dem Gesetz zu den Kosten der Unterkunft für schäftigen. Damit sind die Weichen gestellt. Die von Hartz-IV-Empfänger. SPD und Linken geforderte Transparenz und Beteili- gung der Kommunen sind durch die Mitwirkung der (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: kommunalen Spitzenverbände seit Jahren längst gewähr- Lassen Sie sich nicht durcheinanderbringen! leistet. Die haben keine Ahnung da drüben! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das müssen Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten alles einmal nachlesen!) der CDU/CSU) – Das habe ich sehr wohl nachgelesen, Herr Binding. – Noch vor der Sommerpause wird es einen Zwischenbe- Soll Ihr gegenwärtiger Aktionismus eventuell die Fehler richt geben, und bis zum Herbst soll das Konzept stehen. Ihrer eigenen Regierungszeit kaschieren? Dieser Zeitplan ist sehr ambitioniert, realistisch und dringend notwendig. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3127

Dr. Birgit Reinemund (A) Das müssen Sie nicht tun. Wir gehen die Themen jetzt (Gisela Piltz [FDP]: Was ist denn unter Rot-Grün (C) an. für die Kommunen gemacht worden?) (Joachim Poß [SPD]: Die von der FDP erzäh- Genauso unangenehm fällt eine Bemerkung der len die ganze Zeit nur Unsinn!) Kanzlerin auf. In Wahlkampfreden sagt sie dauernd – in Nordrhein-Westfalen tritt sie zurzeit besonders häufig Strukturelle Probleme müssen mit Strukturreformen auf; gelöst werden. Ich lade Sie ein, konstruktiv, vorurteils- frei und offen mitzuarbeiten. Diskussionsgrundlage, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist doch auch der Kommission, ist die im Koalitionsvertrag ver- schön!) einbarte Strukturreform. Die in höchstem Maße kon- ob das hilft, sei einmal dahingestellt; der CDU geht es ja junkturabhängige Gewerbesteuer soll aufkommensneu- schlecht; tral ersetzt werden durch eine stabile, verlässlichere Einnahmequelle, durch einen höheren Anteil an der Um- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wieso das satzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die Ein- denn?) kommen- und Körperschaftsteuer mit einem eigenen He- das wissen die CDUler hier vorne selber –: Wir müssen besatzrecht für die Kommunen. Wir diskutieren jetzt etwas für die Kommunen tun. Letzte Woche sagte ergebnisoffen. sie noch, die Menschen müssten Spaß an Kommunalpo- Vielen Dank. litik haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ der CDU/CSU) CSU]) Wie wahr, Frau Merkel. Nur, dann muss man hier in Ber- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lin endlich einmal mit der kommunenfeindlichen Politik Das Wort hat nun Kollegin Britta Haßelmann für die aufhören. Herr Dautzenberg, das wissen Sie doch ganz Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. genau. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein LINKEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Gott, Frau Reinemund, um Ihre Vorstellung von der 2008 waren Überschüsse in den Haushalten! kommunalen Wirklichkeit sind Sie wirklich nicht zu be- Bis 2005 war es ein Minus!) neiden. Ich rate Ihnen: Fahren Sie einfach einmal nach (B) Nordrhein-Westfalen und unterhalten Sie sich mit den Frau Reinemund, auch wenn Sie erst seit Beginn die- (D) Menschen, die in den Kommunen Politik machen. ser Legislaturperiode dabei sind: Es ist eine Mär, dass die Situation, die heute in den Städten und Gemeinden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, herrscht, das Resultat von rot-grüner Politik ist. Wissen bei der SPD und der LINKEN) Sie eigentlich, wie lange hier schon eine andere Regie- In Ihrer Wirklichkeit kommt Kommunalpolitik nicht vor. rung existiert, wie lange in Nordrhein-Westfalen Schwarz-Gelb regiert und wie viele Klageverfahren die Ihre latente Botschaft war: Es gibt Kommunen, die Kommunen dort gerade gegen diese schwarz-gelbe Lan- haben es geschafft, die haben sich aus eigener Kraft sa- desregierung anstreben? niert, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Unter Rot-Grün (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Richtig!) war ein Minus in Nordrhein-Westfalen!) und es gibt welche, die haben das nicht getan, die haben Ich glaube, Sie wissen es nicht. Aber ich will mich nicht sich anscheinend nicht genug angestrengt. Meinen Sie, zu lange damit aufhalten. den Kommunen eine solche Botschaft übermitteln zu müssen? In den Kommunen gibt es 35 Milliarden Euro Vielleicht nenne ich Ihnen einfach einmal ein paar Kassenkredite. 15 Milliarden Euro davon gibt es allein Fakten. Mindereinnahmen für die Kommunen seit in Nordrhein-Westfalen. Ich rate wirklich niemandem in Ende 2008 durch Bundesbeschlüsse – – diesem Haus, eine Botschaft nach dem Motto: „Wisst (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Bis 2008, ihr, ihr habt einfach nur eine falsche Politik vor Ort ge- Frau Kollegin, waren Überschüsse in den macht, und daran liegt das Wohl und Wehe der Kommu- Haushalten! Bis 2005 gab es ein Minus! Unter nen“ zu propagieren. Rot-Grün! – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: (Gisela Piltz [FDP]: Nicht die, Sie haben die Ja! Und 2008 war das beste Jahr für die Kom- falsche Politik gemacht!) munen!) Ich finde das ungeheuerlich. – Seien Sie doch erst einmal ganz ruhig. Das waren Bun- desbeschlüsse. Da haben Sie von der CDU mitregiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Da können Sie nicht sagen: Rot-Grün war es! und bei der SPD) Mindereinnahmen für die Kommunen seit Ende Vermitteln Sie das einmal Leuten, die jeden Tag Kom- 2008 – da gab es noch Schwarz-Rot – durch Bundesbe- munalpolitik machen, und das auch noch ehrenamtlich. schlüsse: Die Mindereinnahmen durch die Konjunktur- 3128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Britta Haßelmann (A) pakete I und II – sie brachten 10 Milliarden Euro zusätz- ten. Geben Sie doch endlich einmal eine Garantie dafür (C) lich für die Kommunen für zwei Jahre; was haben wir ab, dass Sie davon absehen, Ihre Steuersenkungspläne uns alle auf die Schultern geklopft – betrugen 2,5 Mil- weiter zu verfolgen; denn Sie schaden den Kommunen. liarden Euro. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Widerspruch bei der CDU/CSU) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Bürgerentlastungsgesetz: 1,7 Milliarden Euro Minder- einnahmen. Erklären Sie den Menschen doch einmal, wie Sie die Gewerbesteuer ersetzen wollen. Die Einnahmen durch (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wollen Sie keine die Gewerbesteuer betragen 35 Milliarden Euro. Kindergelderhöhung, Frau Kollegin?) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: In der Spitze, Das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz: ja!) 1,6 Milliarden Euro Mindereinnahmen; dies wurde jetzt unter Schwarz-Gelb beschlossen. Über die Änderung – In der Spitze, Herr Dautzenberg, okay. Aber Sie spre- steuerlicher Regelungen bei Funktionsverlagerungen chen doch dauernd vom Wachstum und sagen, dass es wird ja Ende der Woche im Bundesrat entschieden. besser wird. Jürgen Rüttgers reißt gerade den Mund ganz weit auf (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Unter uns ist (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Braucht er das gewachsen, Frau Kollegin!) gar nicht, weil das sinnvoll ist!) Wenn Sie auf diese 35 Milliarden Euro verzichten nach dem Motto, er stimme keinem einzigen Gesetz wollen, mehr zu, das negative Auswirkungen, sprich Steuersen- kungen, für die Kommunen bedeutet. Am Freitag wer- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ersetzen!) den wir einmal sehen, wie Jürgen Rüttgers im Bundesrat was Sie ja anscheinend planen – die FDP erklärt doch abstimmt. dreimal pro Woche, sie wolle die Gewerbesteuer ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaffen –, und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Ersetzen!) LINKEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Er kann zustimmen!) dann sagen Sie doch einmal, wer diese 35 Milliarden Euro dann zahlen soll. (B) Besteuerung von Funktionsverlagerungen: 0,65 Milliar- (D) den Euro weniger für die Kommunen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/ (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Quatsch! – CSU]: Die Wirtschaft! – Dr. Axel Troost [DIE Gegenruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist nur eine Ausrede, um nächs- LINKE]: Das steht im Finanztableau!) tes Jahr die Mehrwertsteuer zu erhöhen!) Sie wissen das alles. Das ergibt unter dem Strich – ich Wenn die Kommunen dies über ihre Anteile an der Kör- sage das für die, die nicht so schnell mitgerechnet haben – perschaftsteuer, der Einkommensteuer, der Mehrwert- knapp 6,5 Milliarden Euro Mindereinnahmen seit Ende steuer und der Umsatzsteuer ausgleichen, bedeutet das, 2008 nur durch Bundesbeschlüsse. meine Damen und Herren – ich sage das auch an die Wie sollen die Städte und Gemeinden das verkraften? Menschen, die heute der Debatte zuhören –, dass nicht Erklären Sie uns das doch einmal! mehr die Unternehmen vor Ort durch die Gewerbesteuer in die Verantwortung genommen werden, (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das steht in der Antwort des Finanzministeriums!) (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das ist doch Blödsinn!) Denn zu diesen Steuerbeschlüssen kommen noch die wahnsinnigen Auswirkungen der Krise und der aktuellen um auch ihren Beitrag zur Daseinsvorsorge zu leisten, konjunkturellen Situation. Die aktuellen Zahlen liegen sondern dass die Bürgerinnen und Bürger in die Haftung vor: 14,8 Milliarden Euro weniger für die Kommunen; genommen werden. das ist Fakt. Wir haben bei den Gewerbesteuereinnah- men Einbrüche von 19,7 Prozent und bei den Steuern ein (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das ist Minus von 11,4 Prozent. auch Blödsinn!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wie viel Mi- Das ist Fakt, wenn wir uns von der Gewerbesteuer ver- nus hat der Bund, Frau Kollegin?) abschieden und eine Verlagerung in Richtung Einkom- mensteuer vornehmen. Körperschaftsteuer betrifft auch Kommen Sie doch hier nicht mit typischen Erklärungs- Unternehmen; darüber können wir gerne diskutieren. mustern wie „man werde schon helfen“ und „es werde Aber eine Verlagerung in Richtung Einkommensteuer- schon besser werden“, wenn die Kommunen Kritik an und Umsatzsteueranteile zahlen – das wissen Sie ganz der Aufgabenzuweisung äußern. Wir müssen hier im genau – am Ende die Bürgerinnen und Bürger. Deshalb Bundestag systematisch auf Steuersenkungen verzich- stehen Sie in der Frage schlecht da. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3129

(A) Vizepräsidentin : Vizepräsidentin Petra Pau: (C) Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine Zwischen- Ich muss korrigieren: Sie haben noch eine halbe Mi- frage des Kollegen Dautzenberg? nute, wie Ihnen auch angezeigt wird. (Vereinzelt Heiterkeit) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, natürlich, Herr Dautzenberg. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Okay, gut. Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Frau Kollegin Haßelmann, konstatieren Sie und stim- Wir werden die Debatte über die Gewerbesteuer fort- men Sie mir zu, dass die Gewerbesteuer durch einen be- setzen. trieblichen Teil der Einkommensteuer ersetzt wird und (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber nichts dass die Körperschaftsteuer der klassische Teil der Un- unterstellen!) ternehmensbesteuerung ist? – Nein. Wir wissen doch ganz genau, wovon die Rede Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist. Herr Dautzenberg, wir beide wissen sehr genau, wie (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja, eben!) die Gewerbesteuer funktioniert. Deshalb glaube ich auch, dass Sie wissen, dass die Pläne der FDP, die Ge- Sie arbeiten mit verteilten Rollen. Jürgen Rüttgers er- werbesteuer komplett abzuschaffen, problematisch sind. klärt überall in Nordrhein-Westfalen: Es gibt keine wei- teren Steuersenkungen zulasten der Kommunen, und die (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Ersetzen!) Gewerbesteuer bleibt bestehen. Ich weiß, dass Sie persönlich immer „ersetzen“ sagen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein! Das hat (Zuruf von der FDP: Ja, wir auch!) er so nicht gesagt! Zitieren Sie ihn bitte nicht falsch!) Aber Ihre Koalition sagt: Wir schaffen das Ganze ab. Da liegt der Unterschied. Wir beide wissen genau, wie es Gleichzeitig planen Sie hier etwas ganz anderes. Sie funktioniert. wollen die Gewerbesteuer abschaffen. Sie machen sich aber einen schlanken Fuß, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Soll ich die Frage noch einmal stellen?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (B) bei der SPD und der LINKEN) (D) Ich sage Ihnen: Sie dürfen die Unternehmen nicht aus der Verantwortung für die Daseinsvorsorge ihrer Stadt indem Sie die Diskussion in die Kommission verlagern. und Gemeinde – sie müssen hier Verantwortung zeigen – Sie wollen am liebsten außerhalb des Parlaments, näm- entlassen. lich in der Kommission, darüber diskutieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ach! Das ist bei der SPD und der LINKEN – Zuruf von der doch Quatsch!) FDP: Das hat niemand vor! – Abg. Leo Wir werden erst beteiligt, wenn das Ganze beschlossen Dautzenberg [CDU/CSU] meldet sich erneut ist. Dann darf auch das Parlament etwas dazu sagen. zu einer Zwischenfrage) Jetzt möchte ich noch einen Satz an die SPD richten. Vizepräsidentin Petra Pau: Ich freue mich, dass Sie, wie auch wir, eine Weiterent- wicklung der Gewerbesteuer wollen, zum Beispiel Herr Dautzenberg, möchten Sie eine zweite Frage durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. stellen? (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aha! Hin zur (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja!) Substanzbesteuerung, ja?) Lassen Sie, Frau Haßelmann, eine zweite Frage zu? An dieser Stelle sage ich Ihnen: Für einen Teil der Steu- erbeschlüsse tragen, wie ich gerade ausgeführt habe, Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch Sie Verantwortung. Ich glaube, ich habe auf Ihre Frage hinreichend geant- wortet. (Joachim Poß [SPD]: Für die Konjunkturpa- kete!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein! Das finde ich nicht!) Mich ärgert, dass Sie sich einen schlanken Fuß gemacht haben, als wir in der letzten Woche im Bundestag über Die Detailprobleme im Hinblick auf die Gewerbesteuer die Kosten der Unterkunft gestritten haben. werden wir in meinem Redebeitrag von noch einer Mi- nute nicht lösen. Vizepräsidentin Petra Pau: (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister: Deswe- Kollegin Haßelmann, das ist ein sehr langer letzter gen haben wir ja eine Kommission!) Satz. 3130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bundesregierung anzulasten, ist jedoch unglaubwürdig, (C) Ich komme zum Ende. – Wir haben ganz klar gesagt: sachlich falsch und nicht zielführend. Die Kosten der Unterkunft müssen sich an den tatsächli- chen Kosten orientieren; denn sonst zahlen die Städte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Gemeinden die Zeche. Wir haben einen entspre- neten der FDP) chenden Antrag eingebracht, den Sie abgelehnt haben. Ihre Polemik, meine Damen und Herren, hilft unseren Eine Erhöhung um 3 Prozentpunkte reicht an dieser Kommunen nicht. Nur Reformfähigkeit, Wirtschaftsför- Stelle nicht aus. derung und Entlastung helfen unseren Kommunen. Das ist der richtige Rettungsschirm, nicht aber Steuererhö- Vizepräsidentin Petra Pau: hungen, Mangelverwaltung und was Sie sonst noch auf Sie sprechen jetzt auf Kosten Ihrer Fraktion. Ihrer Agenda haben. Wir wollen unseren Kommunen konkret helfen, und zwar durch Finanzmarktstabilität, Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Konsolidierung und Wachstumsentwicklung. Das wissen Sie. (Joachim Poß [SPD]: Durch Ankündigungen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Sicherung der Kommunalfinanzen ist für uns ein wichtiges Anliegen. Die Bekämpfung der Auswirkungen Vizepräsidentin Petra Pau: der Wirtschaftskrise auf die Kommunen wird offensiv Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für angegangen. die Unionsfraktion. (Joachim Poß [SPD]: Was? Durch die Bildung (Beifall bei der CDU/CSU) einer Kommission!) Wir haben das Konjunkturpaket II geschnürt. Es ist Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): ein Erfolgsmodell. Maßnahmen im Umfang von 8,3 Mil- Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir liarden Euro wurden in die Wege geleitet. Ich verstehe mussten den größten Wirtschaftseinbruch seit den 30er- nicht, dass es Länder in dieser Republik gibt – insbeson- Jahren hinnehmen. 2009 sackte das Bruttoinlandspro- dere die, die von Ihnen regiert werden –, die das Zusätz- dukt in Deutschland um 5 Prozent ab. 2010 ist nur mit lichkeitskriterium im Zukunftsinvestitionsgesetz aufwei- einer leichten Erholung auf niedrigem Niveau zu rech- chen wollen. Das ist kontraproduktiv. Wir wollen keine nen. Die schwerste und gefährlichste Wirtschafts- und Förderung mit der Gießkanne, sondern das Gegenteil: Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg schlägt auf alle eine gezielte Förderung der Kommunen. (B) Gebietskörperschaften durch. Wir stehen vor einer Her- (D) kulesaufgabe. Die Folgen der Finanzmarkt- und Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schaftskrise, unter anderem die daraus resultierenden ge- Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das der Regie- waltigen Einnahmeeinbrüche der Kommunen, müssen rung! Das kommt doch aus Ihren Reihen! – wir möglichst schnell beseitigen. Bernd Scheelen [SPD]: Das hat die Kanzlerin doch versprochen!) Dazu gibt es, wie diese Debatte zeigt, unterschiedli- che Ansätze. Wir wollen Finanzmarktstabilität, Wachs- Wir haben die Einsetzung einer Gemeindefinanz- tum und Konsolidierung. Das ist unser Ziel. Wir müssen kommission beschlossen. natürlich zunächst einmal über die Ausgangslage reden: Wie sah die Ausgangslage aus? 2008 hatten wir noch (Joachim Poß [SPD]: Mensch, Herr Michelbach, hervorragende Verhältnisse. Die Kommunen verzeichne- lassen Sie sich aufklären!) ten einen Überschuss in Höhe von 7,7 Milliarden Euro; Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar, dass sie die (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) Umsetzung des Koalitionsvertrages jetzt schon konkret angegangen ist. Herr Bundesfinanzminister, die Einset- das ist eine Tatsache. zung einer Kommission zur Erarbeitung von Vorschlä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen zur Verbesserung der Gemeindefinanzen ist in der neten der FDP) jetzigen Zeit der richtige Weg. Dafür sind wir dankbar. Die Kommission wird auf der Basis einer Bestandsauf- 2009 sanken die Steuereinnahmen auf 62,4 Milliarden nahme Vorschläge zur Neuordnung der Gemeindefinan- Euro. Das war ein Rückgang gegenüber dem Vorjahres- zierung erarbeiten und bewerten. Im Rahmen dieser Be- betrag um 11,4 Prozent. Letzten Endes wurde durch standsaufnahme soll es auch um die Frage der diese Entwicklung, die eindeutig mit der Finanzmarkt- Gewerbesteuer sowie um die Frage der anderen Finanz- und Wirtschaftskrise zu tun hat, ein großes Loch in die beziehungen zwischen Wirtschaft und Kommunen ge- Haushalte der Kommunen gerissen. Heute beträgt das hen. Defizit 7,1 Milliarden Euro. Das ist die Ausgangslage, die den akuten Handlungsbedarf aufzeigt. (Bernd Scheelen [SPD]: Wir sprechen uns Ende des Jahres wieder!) Das kommunale Handeln ist aufgrund der Finanzkrise zweifellos stark eingeschränkt. Die Situation der Kom- Wir wollen ein stabiles Band zwischen Wirtschaft und munen muss stabilisiert werden. Der politisch motivierte Kommunen. Wir wollen dieses Wellental bei der Gewer- Versuch der Opposition, diese Probleme der heutigen besteuer nicht mehr. Wir wollen eine Verstetigung der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3131

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) Einnahmen der Kommunen. Das ist ein wesentlicher kontraproduktiv. Wir haben ein klares ökonomisches (C) Punkt. Konzept, wie wir in die Zukunft gehen wollen. Das wird den Kommunen letzten Endes helfen, so, wie es 2008 Wir wollen deutlich machen, dass in einer Finanzver- zum Erfolg geführt hat. fassung, wie wir sie haben, nicht nur im Falle von Steuer- mehreinnahmen, sondern auch im Falle von Steuermin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dereinnahmen alle Gebietskörperschaften beteiligt sind. der FDP) Anders geht es nicht. Wir können doch keinen Verschie- bebahnhof organisieren. Das wäre völlig falsch. Vizepräsidentin Petra Pau: (Bernd Scheelen [SPD]: Sie machen Steuerge- Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing für die schenke zulasten Dritter!) SPD-Fraktion. Wir betreiben in dieser Frage eine konsequente und (Beifall bei der SPD) fachlich klare Haushalts- und Steuerpolitik gemäß unse- rer Finanzverfassung. Wenn Sie die Einnahmeseite stär- Sabine Bätzing (SPD): ken wollen, dann müssen Sie Leistungsanreize setzen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Diese Anreize setzen wir durch unsere steuerpolitischen Kollegen! Wir diskutieren heute auch über die Mehr- Maßnahmen. Für die Kommunen bedeutet das zukünftig wertsteuerermäßigung für Hotelübernachtungen, die Mehreinnahmen. uns diese Koalition eingebrockt hat, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Otto Fricke [FDP]: Dieses Thema hatten wir Manfred Zöllmer [SPD]: Das glauben Sie ja schon lange nicht mehr!) doch selber nicht!) mit der sie den Hotels Millionen geschenkt und den Es handelt sich dabei nicht um Steuergeschenke. Sub- Kommunen Millionen genommen hat. stanzbesteuerung ist kontraproduktiv. Das, was wir im Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht haben, ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für die Kommunen hilfreich. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Bernd Scheelen [SPD]: Das sehe ich aber ganz anders!) Auch aus diesem Grund ist ein Rettungsschirm für Kom- munen notwendiger denn je. Wir haben zum Beispiel die Verlustnutzung bei Sanie- rungen von Betrieben zugunsten des Erhalts von Betrie- Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten (B) ben und Arbeitsplätzen erst wieder möglich gemacht. wir der Union und der FDP dankbar sein; denn der (D) Was nützt es unseren Kommunen, wenn die Betriebe vor schwarz-gelben Koalition ist etwas gelungen, was mit Ort vor die Hunde und Arbeitsplätze verloren gehen? Es Gesetzen nicht immer gelingt: Sie hat unser Leben tief darf keine Substanzbesteuerung geben. und nachhaltig beeinflusst. Den Beweis halte ich hier in meinen Händen. Ich darf aus einem Hinweis des Refera- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tes PM 2 der Verwaltung des Deutschen Bundestages zur Diese Korrektur war absolut zielführend für unsere Abrechnung von Reisekosten zitieren: Kommunen. Das gilt auch für die Zinsschrankenände- Die Kosten für das Frühstück können ab sofort nur rung und die Funktionsförderung in der Forschung. Das erstattet werden, wenn eine Arbeitgeberveranlas- alles sind ganz gezielte Maßnahmen, die uns in unserer sung vorliegt. Aufgabe, die Kommunen zu stabilisieren und zu stärken, voranbringen. Danke, liebe Regierungskoalition! Wenn wir Sie und Ihr Wachstumsbeschleunigungsgesetz nicht gehabt hätten, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hätten wir das nie erfahren. Ganz fatal ist es, wenn Sie ausgerechnet die Förde- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rung von Familien sowie Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmern, also das Kindergeld und die Tarifentlas- Sie werden mir verzeihen, wenn ich etwas sarkastisch tung, geißeln. Das ist doch eine verkehrte Welt. Auch bin; aber die Mehrwertsteuerermäßigung für Übernach- durch den Konsum entstehen Mehreinnahmen bei den tungen – wir wollen sie mit unserem Gesetzentwurf Kommunen. heute rückgängig machen – bietet sich geradezu dafür an, sarkastisch zu sein. Ich habe mir in der Vorbereitung (Manfred Zöllmer [SPD]: Wo denn?) auf die heutige Debatte noch einmal angeschaut, was Deswegen sage ich: Sie haben mit diesen Einnahmeaus- mein Kollege Martin Gerster am 9. Februar im Finanz- fällen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro für die Kommu- ausschuss gesagt hat. Mein Kollege hat einfach die Äu- nen aus dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz den Teu- ßerungen verschiedener Politiker zu diesem Thema auf- fel an die Wand gemalt. Die Tatsachen sehen nämlich gelistet. Ich sage Ihnen: Aus diesen Äußerungen könnte ganz anders aus. Wir haben ein klares Konzept für man ein ganzes Comedyprogramm gestalten. Kollegin- Wachstum, Finanzmarktstabilität, Entlastung und Förde- nen und Kollegen, we proudly present: Herr rung der Kommunen. Das sind die richtigen Rettungs- Dr. Pinkwart von der nordrhein-westfälischen FDP will schirme, und sie werden uns zum Erfolg führen. Deswe- das Gesetz aussetzen; man habe ein „bürokratisches gen sind Ihre Anträge für die Kommunen absolut Monster“ geschaffen. Herr Dr. Rüttgers findet das gut – 3132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Sabine Bätzing (A) nicht das mit dem bürokratischen Monster, sondern das, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) was Herr Dr. Pinkwart gesagt hat. Da frage ich mich: der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Wer hat dem Gesetzentwurf eigentlich im Bundesrat zu- GRÜNEN) gestimmt? Der Kollege von der CDU, Herr Kolbe, sagte am 25. Januar der Presse, dass die Mehrwertsteuerermä- Wir werden das Steuerrecht spürbar vereinfachen ßigung der Koalition den Start vermasselt habe. Auch und von unnötiger Bürokratie befreien. der Kollege Dr. Wissing von der FDP war mit dem Ent- Wissen Sie, wer das gesagt hat? – Das waren die Kolle- wurf und der Bevorzugung von Sondergruppen nicht zu- ginnen und Kollegen von Union und FDP in ihrem Ko- frieden. alitionsvertrag. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Hört! Hört! – (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die LINKEN) Schallplatte hat einen Sprung!) Aus diesem Grund wollen wir eine Kommission Da frage ich mich: Wer hat dem Gesetzentwurf eigent- einsetzen, die sich mit der Systemumstellung bei lich im Finanzausschuss zugestimmt? Unser Bundes- der Umsatzsteuer sowie dem Katalog der ermäßig- tagspräsident, Herr Dr. Lammert, hielt die Mehrwert- ten Mehrwertsteuersätze befasst. steuerermäßigung für eine „nicht vertretbare Regelung“. Da frage ich mich: Wer hat dem Gesetzentwurf eigent- Wissen Sie auch, wer das gesagt hat? – Genau: Auch das lich im Bundestag zugestimmt? steht in dem Koalitionsvertrag. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) reden ja wie eine Schallplatte!) Zeit wird es, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Es könnte trotzdem alles in Ordnung sein, wenn we- Koalitionsfraktionen; denn das Einzige, was Sie zwei nigstens die Hotelbetreiber dankbar und zufrieden wä- Monate nach Inkrafttreten Ihres Gesetzes haben sinken ren. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, die Hotels sehen, sind nicht die Hotelpreise, sondern Ihre Umfrage- haben plötzlich einen erhöhten Verwaltungsaufwand. werte. Genauso geht es den Reiseunternehmen, den Wirt- schaftsverbänden und den Finanzämtern. Wir halten also (Bernd Scheelen [SPD]: Das ist das Positive fest: Die Mehrwertsteuerermäßigung für Hotels ist Mist. an diesem Gesetz!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Hotelpreise sind im Gegensatz dazu gestiegen. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (B) (Beifall bei der SPD und der LINKEN) (D) GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Ich dachte, Opposition ist Mist! – Dr. h. c. Hans Ich frage mich: Was war denn eigentlich noch einmal Michelbach [CDU/CSU]: Opposition ist das Ziel, das mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz Mist!) verbunden war? Wachstum? Meinten Sie das Wachstum der Gewinnmarge der einzelnen Lobbygruppen oder das Immerhin können wir durch die Mehrwertsteuerermä- Wachstum der Branche durch mehr Übernachtungen? ßigung für Hotels viel Neues lernen: Tierpensionen sind keine Hotels; sie genießen keine Steuerermäßigung. Al- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie lerdings ist die Übernachtung des Tieres doch steuerer- haben das Thema verfehlt! – Gegenrufe von mäßigt, wenn es mit einem Menschen in einem Hotel der SPD: Oh!) übernachtet. Wenn Kabinen auf Schiffen der Beförde- rung dienen, sind sie nicht steuerermäßigt, wenn sie dem Ob und wie viel investiert worden ist, ist eine schöne Wohnaufenthalt dienen, schon. Der Handtuchwechsel im Frage, die wir uns aufheben, und Sie können sich sicher Hotel ist steuerermäßigt. Bahnfahrten im Schlafwagen sein, dass wir sie immer und immer wieder stellen wer- sind es nicht. Plätze zum Abstellen von Fahrzeugen sind, den, es sei denn, Sie machen heute dem Spuk ein Ende selbst wenn es sich bei diesen Fahrzeugen um Camping- mobile handelt, nicht steuerermäßigt – es sei denn, es (Otto Fricke [FDP]: Können Sie sich nicht we- handelt sich um Campingplätze. niger mit der Vergangenheit beschäftigen?) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der und stimmen unserem Gesetzentwurf heute zu, mit dem LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Sie das Thema ein für alle Mal vom Tisch hätten. Außer- GRÜNEN) dem hätten Sie den großen Vorteil, politische Größe ge- zeigt zu haben. Das wird aber wahrscheinlich nicht pas- Auch Tagungsräume und Stundenhotels sind nicht um- sieren. satzsteuerermäßigt – wenigstens etwas. (Bernd Scheelen [SPD]: Ist nicht zu erwarten!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Vergnü- gungsteuer, Frau Kollegin!) Warum nicht? – Das wird deshalb nicht geschehen, weil es Ihrem Plan für Deutschland widersprechen Was sagt die Finanzverwaltung dazu? Sie will bei der würde, wenn wir ein Land hätten, in dem die Politik Anwendung des Gesetzes kulant sein. Gott sei Dank, nicht durch die Interessen einzelner Wirtschaftsteilneh- was für eine Erleichterung für den Bürger! mer bestimmt wird, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3133

Sabine Bätzing (A) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Märchen ge- Sagen Sie ihnen, dass Sie auch weiterhin Gelder, die die (C) hen nicht in Erfüllung, Frau Kollegin! Das ist Kommunen wirklich brauchen, an Wirtschaftsunterneh- der Punkt!) men verteilen wollen? Sagen Sie ihnen das wirklich? und wenn wir ein Land hätten, in dem man einen Interes- Mein üblicher Schlusssatz: Schaffen Sie die Klientel- senausgleich sucht, statt nur die Interessen einer be- politik ab, stimmen Sie unserem Antrag zu, und küm- stimmten Klientel zu vertreten. Manchmal wird von der mern Sie sich endlich um die Probleme in diesem Land! FDP ja nicht nur das Interesse einer Branche, sondern sogar das Interesse eines einzelnen Wirtschaftsteilneh- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem mers höher als das Allgemeinwohl gewertet. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Westerwelle hat uns ja immer wieder gesagt, wie Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP- er sich seine Welt vorstellt, Fraktion. (Joachim Poß [SPD]: Ja, seine Welt!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) eine Welt mit Menschen, die ihren Lohn nicht mehr von Unternehmen, sondern als ergänzende Sozialleistung Gisela Piltz (FDP): vom Staat erhalten, eine Welt mit Unternehmen, die da- durch ihre Gewinne ins Unermessliche steigen lassen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! darauf aber möglichst keine Steuern zahlen müssen, Frau Bätzing, Sie haben sich heute hier eines ernsthaft erworben, nämlich den Titel der Märchenerzählerin des (Otto Fricke [FDP]: Wann hat er das denn Tages. gesagt?) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten eine Welt mit Kommunen, die nicht mehr für sich selber der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Die sorgen können und nach dem Willen der FDP dann wohl Rede war spitze! Voll super! – Weitere Zurufe auch abgeschafft werden müssen. von der SPD: Oh!) (Otto Fricke [FDP]: Wann hat er das denn ge- Sie haben dabei nur eines vergessen: dass nämlich ge- sagt? – Gegenruf des Abg. Joachim Poß rade Ihre SPD in Bayern die Mehrwertsteuersenkung für [SPD]: Das sagt er jeden Tag! Das ist die Hotels und Gastronomiebetriebe genauso gefordert hat. Übersetzung, Herr Kollege!) Weil an Ihrem Märchen etwas gefehlt hat, möchte ich (B) das ergänzen: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann (D) Gott sei Dank regiert die FDP aber nicht alleine; sie reden sie als SPD in Bayern noch immer in der Opposi- hat ja noch einen Koalitionspartner. Was macht der? – tion. – Daran sollten Sie immer denken. Nun, die CSU mosert zwar ständig gegen die FDP, (Beifall bei der FDP – Sabine Bätzing [SPD]: (Joachim Poß [SPD]: Mit Ausnahme von Schauen Sie sich einmal die aktuellen Umfra- Michelbach!) gen an!) macht aber nichts richtig Eigenes. Die CDU lässt jeweils Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aufgabenstel- eine Seite gewähren und versucht im Erfolgsfalle, das lung ist eindeutig: Der Schieflage in den kommunalen Ganze als ihre Idee hinzustellen. Das kennen wir aber Haushalten muss jetzt entgegengewirkt werden. Wir schon aus der Großen Koalition. müssen jetzt handeln, um die immer deutlicher werdende Ich und mit mir Hunderte von Kommunen in Misere – ich glaube, das sehen wir alle im Haus so – in Deutschland wollen endlich einmal eine Antwort auf die den Griff zu bekommen. So gesehen finde ich es gut, Frage bekommen, wie die Regierung die finanzielle Zu- wenn hier im Haus Konsens herrscht. Erstaunlich ist nur, kunft der Kommunen sieht. dass gerade die Kolleginnen und Kollegen von der SPD hier so auftrumpfen. Sie haben die Kommunen elf Jahre (Otto Fricke [FDP]: Nachdem Sie elf Jahre lang mit drei Finanzministern gequält. lang nichts unternommen haben!) (Bernd Scheelen [SPD]: Das war eine gute Die Antwort der Regierung lautet: Wir haben dafür eine Zeit für die Kommunen!) Kommission. Das waren Herr Lafontaine – daran erinnern Sie sich (Otto Fricke [FDP]: Ja! Was hattet ihr?) nicht so gerne –, Herr Eichel und Herr Steinbrück. Aber Meine Frage lautet: Was machen Sie denn inzwischen? keiner Ihrer Minister hat es geschafft, eine wirklich Was machen Sie bis zur NRW-Wahl? Nichts? grundlegende Lösung zu finden. Von daher müssen Sie sich erst einmal selbst fragen lassen, was Sie eigentlich Sagen Sie den Kommunen, dass Ihnen das Wahl- gemacht haben. ergebnis in NRW wichtiger ist, als es die Finanzen und damit auch die soziale und kulturelle Ausstattung der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kommunen sind? der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal, (Beifall bei der SPD) was Sie machen wollen!) 3134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Gisela Piltz (A) Wenn ich von Ihnen höre: „Wir brauchen eine kom- (Bernd Scheelen [SPD]: Da war zehn Jahre ein (C) munalfreundliche Politik“, dann sage ich Ihnen eines: CDU-Oberbürgermeister!) Das machen wir jetzt, weil Sie es nicht hinbekommen haben. Ich sage das nicht, weil ich Düsseldorferin bin. Ich leide wirklich mit Köln. Manchmal frage ich mich, ob wir als (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der Düsseldorfer nicht Entwicklungshilfe leisten müssten. CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das würde Köln nie akzeptieren!) Herr Scheelen, Frau Haßelmann, Sie erzählen hier ja immer von den Kommunen in Nordrhein-Westfalen. Daran sehen Sie, was eine Regierung unter Rot-Grün ka- Ich kann Ihnen dazu eine Geschichte erzählen. Ich darf puttmachen kann. Das sollten Sie sich einfach einmal sie erzählen, weil ich ja gelernt habe, wie man das klarmachen und nicht pauschal davon reden, dass die Si- macht. tuation in Nordrhein-Westfalen so schlimm ist. (Zuruf von der SPD: Märchen, Märchen, (Beifall bei der FDP) Märchen!) Frau Haßelmann, noch ein Wort zu Ihnen: Wenn Sie – Nein, das ist leider kein Märchen: Sie sind schuld da- sagen, dass die schwarz-gelbe Regierung in Düsseldorf ran, dass es Köln so schlecht geht. 1999 bei der Kom- die Kommunen kaputtgespart hat, dann sage ich Ihnen: munalwahl hat es in Köln und in Düsseldorf eine deutli- Das Land hat dieses Jahr trotz rückläufiger Steuerein- che Mehrheit für Schwarz-Gelb gegeben. Ich kann Ihnen nahmen den zweithöchsten Betrag aller Zeiten, nämlich sagen, was in Düsseldorf passiert ist: Wir haben dort 7,6 Milliarden Euro, an die Kommunen gegeben. Ich zehn Jahre lang die kommunalen Haushalte saniert. frage Sie: Was hat denn Rot-Grün in Nordrhein-Westfa- len gemacht, solange es regiert hat? – Gar nichts! Sie ha- (Zuruf von der LINKEN: Sie haben alles ver- ben uns verfassungswidrige Haushalte beschert, mehr kauft! – Bernd Scheelen [SPD]: Auf bester nicht! Grundlage: Landeshauptstadt, Rhein, Flugha- fen!) (Beifall bei der FDP – Bernd Scheelen [SPD]: Sie haben 3,1 Milliarden Euro weggenom- Wir sind seit Jahren schuldenfrei. Wir haben über men!) 100 Millionen Euro in die Schulen investiert und jede Steuer gesenkt. Den Unternehmen geht es gut und den Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir uns mit Bürgerinnen und Bürgern auch. der Verstetigung der Kommunalfinanzen beschäfti- (B) gen. Sie haben eigentlich genau das Gegenteil gemacht: (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie haben über die Substanzbesteuerung auch noch die der CDU/CSU) Liquidität der Unternehmen gefährdet. Das heißt, Sie ha- Was ist in Köln passiert? ben die Einnahmenseite nur begrenzt verbessert, die Fi- nanzsituation der Unternehmen geschwächt und damit die Vernichtung von Arbeitsplätzen bewirkt. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Piltz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Viel- Kollegin Haßelmann? leicht können Sie über die Steuersenkung für Unternehmen reden! Was erzählen Sie für ei- nen Unsinn! – Beate Müller-Gemmeke Gisela Piltz (FDP): [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erzählen Sie Nein, im Moment nicht. doch mal, was Sie machen wollen!) (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ich frage mich, ob es das ist, was Sie gewollt haben. Oh! Nicht mit Fakten kommen!) Ich frage mich auch noch etwas anderes, wenn Sie Sie kommt ja weder aus Köln noch aus Düsseldorf. Und hier immer wieder mit dem Thema Hotels anfangen: nach einer Kurzintervention, Frau Haßelmann, habe ich Herr Scheelen, wo waren Sie eigentlich, als die soge- drei Minuten Zeit zum Antworten; das ist noch schöner. nannte Große Koalition 5 Milliarden Euro per Feder- strich in die Autoindustrie gesteckt hat? Wo sind Sie Vizepräsidentin Petra Pau: denn da gewesen? Wo waren Sie denn, als die Kommu- Es gibt kein Grundrecht auf Kurzinterventionen. Inso- nalpolitiker der Grünen und insbesondere der SPD ge- fern ist noch nicht klar, ob Sie diese drei Minuten zur jault haben: Warum gebt ihr der Autoindustrie 5 Milliar- Antwort überhaupt erhalten. den Euro und gebt diese Mittel nicht an die Kommunen? (Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr, (Bernd Scheelen [SPD]: Hunderttausende von Frau Präsidentin!) Arbeitsplätzen!) Das habe ich bei Ihnen vermisst. Das ist unehrlich. Aber Gisela Piltz (FDP): das mag sicherlich daran liegen, dass Herr Gabriel und Also: In Köln hat es Rot-Grün geschafft, dass diese die SPD ordentlich Geld mit der Autoindustrie verdient Stadt wirklich am Ende ist. haben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3135

Gisela Piltz (A) (Beifall bei der FDP – Bernd Scheelen [SPD]: Vizepräsidentin Petra Pau: (C) Das ist ja unerhört! Das war zur Rettung von Zu einer Kurzintervention hat nun die Kollegin Arbeitsplätzen!) Haßelmann das Wort. Ich jedenfalls bin froh, Herr Schäuble – und deshalb mein Dank an Sie –, dass Sie sich der kommunalen Fi- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nanzen so schnell annehmen. Es ist mir auch wichtig, Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Frau Piltz, Sie dass wir nicht nur über die Einnahmenseite, sondern haben über NRW geredet und mich direkt angesprochen. auch über die Ausgabenseite sprechen. Ich hoffe, dass Ist Ihnen bewusst, dass die Stadt Düsseldorf in einer sol- chen Situation ist – das müsste Ihnen klar sein, weil Sie sich alle Mitglieder dieser Kommission – das gilt insbe- die Stadt gut kennen –, weil sie ihr gesamtes Tafelsilber sondere für die Opposition und die kommunalen Spit- verscheuert hat? zenverbände – endlich von dem Gedanken befreien, dass die Gewerbesteuer, so wie sie jetzt angelegt ist, die beste (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuer in diesem Zusammenhang ist. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Hört! Hört!) Düsseldorf hat sämtliche Beteiligungen verkauft und konnte damit seine massiven Haushaltsschulden sanie- Um es ganz klar zu sagen: Wir wollen das Gewerbe ren. Das kann man aber nur einmal tun. Das ist der erste nicht aus seiner steuerlichen Verantwortung entlassen. Punkt. Aber das muss nicht über die Gewerbesteuer erfolgen. Das müssen Sie irgendwann einmal zur Kenntnis neh- Der zweite Punkt ist: Sie suchen Beispiele für Ihre men. Wenn Sie das immer wieder falsch zitieren, bringt kommunenfreundliche Politik. Ich hoffe, Sie wissen, uns das auch nicht weiter. dass derzeit über 20 Kommunen vor dem Landesverfas- sungsgericht in Nordrhein-Westfalen gegen Sie, die (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo schwarz-gelbe Landesregierung, klagen, weil Sie syste- Dautzenberg [CDU/CSU] – Dr. Thomas matisch den Kommunen Geld entziehen und Aufgaben Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: von der Landesebene auf die kommunale Ebene delegie- Aber wie dann?) ren, ohne die Finanzierung dieser Aufgaben sicherzu- stellen. Über 20 Kommunen klagen gegen Sie. Zum Schluss noch einige Sätze zu dem Antrag der Linken: Recycling ist sicherlich in der Umweltpolitik Es gibt ein weiteres Beispiel für Ihre kommunen- schön und richtig, aber nicht bei Ihrem Antrag. Den ha- feindliche Politik. Sie haben unter großem Applaus Ihrer ben Sie schon in der letzten Legislaturperiode vorgelegt. selbst die Änderung der Gemeindeordnung in Nord- rhein-Westfalen gefeiert, in der Sie versucht haben, den (B) (Bernd Scheelen [SPD]: Das ist das Modell Kommunen die wirtschaftliche Betätigung völlig zu ent- (D) FDP! Das haben Sie früher auch immer ge- ziehen. macht!) (Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr!) – Nicht immer; nur dann, wenn es sinnvoll war. Aber zu Damit sind Sie jetzt absolut abgestürzt. Sie müssen die dem Thema dieses Antrags hat es eine Anhörung gege- Gesetzgebung korrigieren. Die Gemeindeordnung muss ben, aus der relativ deutlich geworden ist, dass das nicht geändert werden, weil die wirtschaftliche Betätigung, der richtige Weg ist. Ich zitiere: die unter Schwarz-Gelb beschlossen worden ist, den ge- Die Forderungen aus dem Antrag der Linken sind richtlichen Prüfungen nicht standgehalten hat. Das ist ein Beleg für kommunenfeindliche Politik im Land in der Sache bereits im geltenden Recht verankert. Nordrhein-Westfalen. Wir von der christlich-liberalen Koalition wollen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kommunen beteiligen. Auch das wird Thema der Kom- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der mission sein. Kommunen sind aber – das ist schon ange- LINKEN) sprochen worden – nicht Sache des Bundes, sondern der Länder. Ihr Antrag ist leider nicht klug und bringt uns nicht weiter. Vizepräsidentin Petra Pau: Bitte, Kollegin Piltz.

Vizepräsidentin Petra Pau: Gisela Piltz (FDP): Kollegin Piltz, kommen Sie bitte zum Schluss. Frau Haßelmann, ich will kurz antworten. Erstens. Ich war Fraktionsvorsitzende im Rat einer Stadt. Sie waren Gisela Piltz (FDP): Landtagsabgeordnete. Ich komme zum Schluss. – Wir glauben, dass die (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kommunen unsere Hilfe brauchen. Deshalb gibt es eine NEN]: Ich war keine Landtagsabgeordnete!) Kommission, die handelt, statt nur zu reden. Das haben wir elf Jahre und damit lange genug von Ihnen ertragen. Ihr Problem ist, dass Sie hier im Bundestag Landespoli- tik diskutieren wollen. Das ist durchsichtig, und ich Vielen Dank. finde, das gehört so nicht hierher. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP – Dr. Thomas Gambke der CDU/CSU) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn 3136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Gisela Piltz (A) von Düsseldorf geredet? – Joachim Poß Jahr wird – die Genossin Gesine hat es eben schon ge- (C) [SPD]: Sie haben doch von Düsseldorf und sagt – Köln gesprochen!) (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Zweitens. Wenn Sie davon sprechen, dass eine Stadt Otto Fricke [FDP]: „Genossin Gesine“? Sie ihr Tafelsilber verscheuert, dann muss ich Sie darauf meinen wohl die Bürgerin Lötzsch?) hinweisen, dass ich in Düsseldorf noch nie mit silbernem ein Rekorddefizit von 12 Milliarden Euro erwartet. Besteck gegessen habe. Für mein Bundesland NRW heißt dies ganz konkret, (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie wissen wohl gar dass sich die Haushaltspläne der Kommunen inzwischen nicht, dass das ein Terminus technicus ist!) zu reinen Sparlisten entwickelt haben, dass in und Ein weiterer Punkt ist, dass das, was Sie so bedauern, der Gesamtwert des städtischen Besitzes in- der Stadt Düsseldorf jedes Jahr 50 Millionen Euro zwischen geringer ist als ihre Verbindlichkeiten und in bringt, und zwar dauerhaft. Das, was Sie verscherbeln Städten wie Duisburg, anders als etwa eben in Düssel- nennen, halte ich für eine gute Anlage, weil wir durch dorf, die Entwicklung der Gewerbesteuer zur reinen den einmaligen Verkauf von Anteilen jedes Jahr über Glückssache geworden ist. Diese völlige Schieflage, ver- 50 Millionen Euro an Schuldentilgung sparen. Das ist ehrte Kolleginnen und Kollegen, ist aus Sicht der betrof- kluge Haushaltsführung und hat nichts mit dem zu tun, fenen Kommunen nicht haltbar. was Sie hier vorgetragen haben. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Ich komme zum Schluss. Wenn ich das richtig sehe, CDU/CSU: Warum wohl?) ist die Klage, die Sie meinen, in dieser Woche entschie- Aber erst jetzt, nachdem die Kommunen beginnen, den worden. Leider hat die Landesregierung gewonnen. sich öffentlich zu wehren, und angesichts der anstehen- Vielen Dank. den NRW-Landtagswahl sieht sich endlich auch unsere Bundesregierung gezwungen, sich in dieser Frage zu be- (Beifall bei der FDP) wegen. Dazu hat sie erst einmal eine Kommission zur Erarbeitung von Reformvorschlägen eingesetzt. Wie Vizepräsidentin Petra Pau: halbherzig dieser Ansatz ist, zeigt sich, anders als Kolle- Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin gin Tillmann es eben behauptet hat, darin, dass schon der Ingrid Remmers das Wort. Einsetzungsbeschluss der Bundesregierung keine Ände- rung der Finanzverteilung vorsieht. Dies führt doch, ver- (Beifall bei der LINKEN) ehrte Kolleginnen und Kollegen, die ganze Angelegen- (B) heit ad absurdum. (D) Ingrid Remmers (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Der Regionalverband Rhein-Ruhr hat am Montag Das bedeutet faktisch, dass eine echte Mitbestim- eine Resolution gegen die Überschuldung der Kommu- mung der einbezogenen kommunalen Spitzenverbände nen beschlossen. In dieser Sitzung sagte der CDU-Ober- genauso wenig vorgesehen ist wie etwa die weiterer bürgermeister aus Hamm: kommunaler Verbände, Gewerkschaften oder gar der Bürgerinnen und Bürger. Ich bin seit elf Jahren Oberbürgermeister, beschis- sen werden wir von beiden Landesregierungen. Auch der vorliegende Antrag der SPD geht hier völlig ins Leere. Ein verbindliches Mitspracherecht der Kom- – Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU munen taucht auch hier nicht auf. Sowohl Rot-Grün als und SPD, sollte Sie tief erschüttern. auch – – (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Nach Auffassung der Linken liegt die Hauptverant- Kollegin Remmers, gestatten Sie eine Zwischenfrage wortung für die chronische Unterfinanzierung der Kom- der Kollegin Tillmann? munen in der Gesetzgebung des Bundes. Hier müssen die notwendigen Weichenstellungen für die Anpassung an den Finanzbedarf der Kommunen erfolgen. Hatte Ingrid Remmers (DIE LINKE): aber bereits die rot-grüne Bundesregierung mit ihrer Ungern. Steuer- und Finanzmarktreform den Grundstein für die heutige Finanzmisere der Kommunen gelegt, sattelten Vizepräsidentin Petra Pau: und satteln die Große Koalition und die jetzige Bundes- Ja oder nein? regierung noch kräftig weitere Kosten für Städte und Ge- meinden obendrauf. Ingrid Remmers (DIE LINKE): Diese Entwicklung, noch einmal verschärft durch das Sowohl Rot-Grün als auch Schwarz-Rot krisenbedingte Wegbrechen der Gewerbesteuer, führte (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) im letzten Jahr dazu, dass die Städte und Gemeinden ins- gesamt 7,1 Milliarden Euro mehr ausgegeben haben, als waren in den vergangenen Jahren die Belange der Kom- sie im selben Zeitraum eingenommen haben. Für dieses munen augenscheinlich ziemlich egal. Die Linke fordert, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3137

Ingrid Remmers (A) die Kommunen endlich in die Entscheidungen über ihre Vizepräsidentin Petra Pau: (C) eigenen Angelegenheiten einzubeziehen und ihnen dabei Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, selbstverständlich reale Mitwirkungsrechte zuzugeste- Dr. Wolfgang Schäuble. hen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN)

Darüber hinaus fordern wir die Weiterentwicklung Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan- der Gewerbesteuer zur sogenannten Gemeindewirt- zen: schaftsteuer. Dazu gehören unter anderem die Einbezie- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die hung der freien Berufe; alle Schuldzinsen und Finanzie- Lage der kommunalen Finanzen, der Kommunen ist rungsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten und schwierig. Ich hatte bei manchen Beiträgen, die ich eben Lizenzgebühren sollen künftig in voller Höhe bei der Er- in dieser Debatte gehört habe, fast das Gefühl, dass es mittlung der Steuerbasis berücksichtigt werden und Ge- schon ein bisschen aus dem Blick geraten ist: Die Lage winne und Verluste dann steuerlich geltend gemacht ist wirklich ungewöhnlich ernst. Wahr ist auch: 2008 ha- werden, wenn sie tatsächlich anfallen, um hier Steuer- ben die kommunalen Gebietskörperschaften saldiert ei- schlupflöcher zu verhindern. Um kleinere Gewerbetrei- nen deutlichen Überschuss erzielt. bende nicht zu stark zu belasten, soll der Freibetrag für Freiberufler, kleine Unternehmen und Existenzgründer (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) von derzeit 24 500 Euro auf 30 000 Euro erhöht werden. Es ist also richtig, dass ein Teil der Probleme eine Folge Nicht zuletzt muss man nach unseren Vorstellungen der tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise ist, die nicht, wie es hier eben gesagt worden ist, die Gewerbe- uns in den letzten zwei Jahren ereilt hat. Wahr ist aber steuer abschaffen, sondern die Gewerbesteuerumlage der auch, dass wir bei den Kommunalfinanzen ein grund- Kommunen an den Bund und die Länder schrittweise, sätzliches Problem haben, das sich über eine viel längere aber schnell senken. Zeit hinweg entwickelt hat. Es kommen also beide (Beifall bei der LINKEN) Dinge zusammen. Diese Vorschläge, verehrte Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen, bieten einen praktikablen Weg, um die Eigenstän- Ich glaube, es ist unstreitig – deswegen ist es gut, dass digkeit der Kommunen endlich wieder herzustellen. wir diese Debatte führen –, dass die Lebensfähigkeit Da, wo die Kommunen einsparen müssen, braucht es und Leistungsfähigkeit der Kommunen die Grundlage meines Erachtens eine neue Debatte über die Frage, was für die Nachhaltigkeit und Stabilität unserer freiheitli- (B) in Zukunft eigentlich Pflichtaufgabe und was freiwillige (D) chen demokratischen Grundordnung bildet. Wir dürfen Leistung sein soll. das nicht aus dem Blick verlieren. Ich habe schon ein Zuletzt sage ich noch einmal klipp und klar, dass auch paar Mal an dieser Stelle gesagt: In einer Welt der Glo- der Ausverkauf öffentlichen Eigentums – Beispiel Düs- balisierungen, in einer Zeit, in der Bindungen aufgrund seldorf – die faktische Handlungsunfähigkeit der Kom- vielfältiger Entwicklungen eher schwächer werden und munen mitverursacht hat. es schwierig erscheint, die Menschen zu erreichen, ist es umso wichtiger, dass die kommunale Selbstverwaltung (Gisela Piltz [FDP]: Das ist doch Unsinn!) – die Bindung der Bürgerinnen und Bürger an die Ge- Man kann es nicht oft genug sagen: Der Verkauf von meinde, die Eigenverantwortung und die Gestaltungs- Wohnungen, Stadtwerken und Öffentlichem Personen- möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger in ihrer Ge- nahverkehr sowie die Einführung von Public-Private meinde – vital bleibt. Das ist die Grundlage für die Partnerships fanden aus akutem Geldmangel statt und Stabilität und Nachhaltigkeit unserer Freiheitsordnung. verschlechtern auch noch die langfristigen Aussichten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Damit wird nicht nur die politische Kontrolle über die Infrastruktur weitgehend ausgelagert; auch die mögli- Wir müssen diese Aufgabe in unserer föderalen Ord- chen Einnahmen öffentlicher Betriebe verschwinden nung erfüllen. Wir wissen spätestens seit den beiden Fö- völlig. Da drängt sich doch schon fast der Eindruck auf, deralismusreformen, dass diese Ordnung kompliziert ist. die gewollte Finanznot der Kommunen hätte Methode. Daraus ergeben sich praktische Konsequenzen. Ich be- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!) grüße sehr, dass wir uns bei der Frage der Jobcenter da- rauf verständigt haben, eine gute Grundlage zu schaffen. Die Linke hat mit ihren Anträgen, wie ich Ihnen ge- Wir sehen an jedem dieser Punkte, welche Rahmen- rade aufgezeigt habe, erfolgversprechende Vorschläge bedingungen unsere förderale Ordnung für die Lösung auf den Tisch gelegt. Wir fordern nun die Bundesregie- dieser Probleme setzt. Ich füge hinzu – das muss man rung auf, endlich dafür zu sorgen, dass die Kommunen gelegentlich den Kommunalvertretern sagen –: Unser wieder handlungsfähig werden, und dabei intelligente Bundesstaat, die Bundesrepublik Deutschland, besteht Vorschläge auch über Fraktionsgrenzen hinweg aufzu- aus den staatlichen Ebenen des Bundes und der Länder, nehmen. nicht aus drei Ebenen. Die kommunale Selbstverwaltung Vielen Dank. bildet eine wichtige Grundlage; aber sie ist etwas ande- res als eine dritte staatliche Ebene. Das muss man sich (Beifall bei der LINKEN) gelegentlich ins Bewusstsein rufen. 3138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) Ich finde es richtig – das muss ich entgegen manch scheidungsverantwortung geben. Diesen Aspekt dürfen (C) kritischem Einwand sagen –, dass wir uns dafür ent- wir nicht aus dem Auge verlieren. schieden haben, die Kommission, in der wir die Pro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bleme aufarbeiten und Lösungsvorschläge erarbeiten wollen – wir wollen und wir werden die Vorschläge noch Der zweite Punkt sind die kommunalen Finanzquel- in diesem Jahr dem Hohen Haus präsentieren –, mit Ver- len. Es ist ein altes Thema, dass die Gewerbesteuer eine tretern der Bundesländer und der Kommunen, der kom- besonders konjunkturanfällige Steuerquelle der Gemein- munalen Spitzenverbände, zu führen. Deswegen haben den ist. Das kann man nicht ernsthaft bestreiten. wir die Kommission so gebildet. Sie hat ihre Arbeit mit (Joachim Poß [SPD]: Aber wir haben sie ge- hoher Dringlichkeit aufgenommen. Daran liegt mir, weil meinschaftlich verbessert! – Gegenruf des das eine prioritäre Aufgabe ist, die wir erfüllen müssen. Abg. Otto Fricke [FDP]: Sie ist aber immer Ich will zwei Bemerkungen hinzufügen. Ich glaube, noch anfällig!) dass Ad-hoc-Zuweisungen an die Kommunen durch – Aber Sie wissen genau, Herr Kollege Poß: In dem den Bund, durch Programme des Bundes bis hin zu Ret- Maße, in dem Sie sie verbessern, gehen Sie im Zweifel tungsschirmen, wie man sie damals spannte – die aber stärker auch nicht lange halten; sonst hätten Sie nicht so viele Rettungsschirme aus der Vergangenheit erwähnen kön- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: In die nen, und die Probleme bestehen trotzdem weiterhin –, Substanz rein!) generell allenfalls die zweitbeste Lösung sind in Richtung Substanzbesteuerung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Otto (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) Fricke [FDP]: Wenn überhaupt!) Dadurch erreichen wir genau das Gegenteil. Wir haben – wenn überhaupt –, und zwar im Wesentlichen aus zwei im Zusammenhang mit dem Wachstumsbeschleuni- Gründen: Zum einen führen sie nicht gerade zur Stär- gungsgesetz darüber diskutiert. Ich halte die Entschei- kung der kommunalen Eigenverantwortung. Die Kom- dung nach wie vor für zwingend notwendig und richtig, munen können nicht selbst gestalten; denn auch der gol- dass wir bei der gegebenen Lage etwa des Einzelhandels dene Zügel ist ein Zügel. Zweitens befördern sie in Großstädten und Mittelstädten die begrenzten Korrek- natürlich nicht gerade die optimale Ressourcenalloka- turen im Wachstumsbeschleunigungsgesetz festgeschrie- tion. Denn wenn man Zuweisungen, Zuschüsse be- ben haben, die natürlich zulasten der Bemessungsgrund- kommt, wendet man in dem Bereich notfalls auch Eigen- lage für die Gewerbesteuer gehen. (B) mittel auf, auch wenn man das anderenfalls nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D) machen würde. Das ist wahr. Aber wenn die Unternehmen pleitegehen Deswegen ist es besser – und das ist unser grundsätz- würden, dann wäre die Bemessungsgrundlage null. Da- licher Ansatz –, die Grundlagen der kommunalen Fi- mit wäre auch nichts gewonnen. nanzen zu stärken, und zwar in zweierlei Hinsicht. Den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ersten Punkt habe ich in der bisherigen Debatte ein we- nig vermisst. Wir sollten gemeinsam mit den Ländern Das zeigt doch nur die Reformbedürftigkeit. und Gemeinden überlegen, ob wir den Kommunen bei Das kann also nicht falsch, sondern muss richtig sein. der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht größere Gestaltungs- Wir haben ja auch einen gewissen internationalen Ver- und Entscheidungsspielräume geben können. Das heißt, g wir müssen prüfen: Müssen in Bezug auf die Ausgaben- leich. Wir haben uns mit dem Dualismus in der Besteue- seite und die Leistungsstandards bundeseinheitliche Vor- rung in Deutschland lange beschäftigt, bis hin zur Anrech- gaben gemacht werden, oder können wir uns zu mehr Ei- nung im Rahmen der Einkommensteuer – auch darüber genverantwortung, zu Regionalisierung, Benchmarking, ist schon gesprochen worden –, um das Problem zu mi- Wettbewerb bekennen? Ich bin für das Zweite. Genau nimieren. Die Grundüberlegung, eine Verbreiterung der Finanzierungsgrundlage der Kommunen durch eine Ver- dafür muss diese Arbeitsgruppe Vorschläge machen. stetigung des Zuschlags – nicht nur durch die Beteili- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gung an der Einkommensteuer, sondern auch durch ein Zuschlagsrecht einschließlich Hebesatzrecht bei Ein- Wenn wir das Problem nicht von der Ausgabenseite, kommen- und Körperschaftsteuer – herbeizuführen, ist sondern nur von der Einnahmeseite her angehen, werden doch nichts Schlimmes, sondern dient im Ergebnis der wir es nicht zureichend lösen können. Im Übrigen beför- Verankerung der kommunalen Selbstverwaltung in der dern wir auf diese Weise langfristig die Entwicklung, Breite der Bevölkerung. dass viele, die sich in der kommunalen Selbstverwaltung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) heute dankenswerterweise noch engagieren, keine Lust mehr dazu haben, weil sie nichts mehr entscheiden kön- Ich weiß schon, dass die Interessenlage und die Be- nen. Das gilt übrigens auch im Zusammenhang mit der troffenheit der Kommunen unterschiedlich sind. Ich Auslagerung vieler Eigenbetriebe in manchen Kommu- weiß auch, dass das alles andere als einfach ist. Aber ge- nen; aber das ist ein anderes Thema. Wir werden diesen nau deswegen sagen wir: Wenn wir den Gesamtzusam- Trend nur stoppen, wenn wir der kommunalen Ebene menhang, Beteiligung an der Umsatzsteuer, Revitalisie- selbst wieder mehr Entscheidungsspielraum und Ent- rung der Grundsteuer – darüber ist noch gar nicht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3139

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) geredet worden –, Zuschlagsrecht auf Einkommen- und Würden Sie dem zustimmen? Das hat Kollege Wissing (C) Körperschaftsteuer, sehen, dann hätten wir eine Chance, 2008 in der Diskussion zu einem Antrag gesagt, der den die Einnahmebasis der Kommunen im Sinne einer Stär- Umsatzsteuersatz für Produkte und Dienstleistungen für kung der kommunalen Selbstverwaltung zu festigen. Kinder beinhaltete. Herr Wissing, Glückwunsch zu die- Das ist des Schweißes aller Beteiligten wert. In genau ser Bemerkung und zu dieser klaren ordnungspolitischen diese Richtung wollen wir arbeiten. Aussage. Aber dann machen Sie doch das, was Sie ge- sagt haben. Handeln Sie so, wie Sie sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch Herr Kolbe von der CDU hat im Übrigen durch Wenn wir dies mit mehr Entscheidungsspielräumen sein Abstimmungsverhalten beim Wachstumsbeschleu- für die Kommunen bei den Ausgaben verbinden, dann nigungsgesetz eine klare Aussage getroffen. Dabei ist erfüllen wir unsere Aufgabe, nämlich die Stärkung der Herr Kolbe kein Geringerer als derjenige, der bei Ihnen kommunalen Selbstverwaltung. Dafür bitte ich um Ihre für die Umsatzsteuer verantwortlich ist. Beide Kollegen Mitwirkung. wissen nämlich, dass die Umsatzsteuer eben kein Steue- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rungsinstrument ist. Sie eignet sich dafür nicht. Sie wis- sen auch, dass es jetzt umso schwieriger sein wird, diese Sündenfälle zu stoppen. Was 2008 die Schweineohren Vizepräsidentin Petra Pau: waren, sind jetzt die Hoteliers. Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Na, na, na!) Kehren Sie auf den Pfad der Ordnungspolitik zurück. Sie Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wollen eine Kommission zur Reform der Umsatzsteuer NEN): einsetzen. Sie verlieren doch hier Ihre Glaubwürdigkeit, wenn Sie dieses Gesetz zur Umsatzsteuerermäßigung Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe nicht sofort stoppen. Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, ich kann es Ihnen nicht ersparen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Otto Fricke [FDP]: Auch Sie haben keine an- dere Idee, als dasselbe wie die anderen zu sa- Sie müssen doch die grundsätzlichen Probleme der gen!) Umsatzsteuerermäßigung anerkennen. Sie wirkt nicht zielgenau. Sie weist hohe Mitnahmeeffekte auf. Sie hat Das Thema ist die Umsatzsteuer. Ich weiß, Sie können es kaum eine Verteilungswirkung, weil Einkommensmillio- (B) nicht mehr hören; denn die guten Argumente sind viel- näre genauso wie Hartz-IV-Empfänger betroffen sind. In (D) fach genannt vielen Fällen kommt sie gar nicht beim Verbraucher an. (Otto Fricke [FDP]: Nur nicht von Ihnen!) Gehen Sie einmal zu McDonald’s. Kaufen Sie einen Hamburger zum Mitnehmen, dann zahlen Sie 7 Prozent und von Ihnen, wie ich immer wieder merke, gehört, von Mehrwertsteuer. Kaufen Sie einen zum Verzehr vor Ort, vielen auch verstanden und – das lese ich zwischen den dann sind es 19 Prozent Mehrwertsteuer. Wer profitiert Zeilen – für richtig befunden. Nehmen Sie sich doch mal von dieser Differenz von 12 Prozentpunkten? Nicht der zusammen. Der doch sehr lebendige Vortrag von Kolle- Verbraucher, sondern McDonald’s. So ist die Wirklich- gin Bätzing hat es vielleicht ein bisschen in den Hinter- keit. Die Einnahmeausfälle für den Fiskus sind enorm. grund gerückt: Wenn Sie etwas für eine nachhaltige Entwicklung tun (Otto Fricke [FDP]: Das ist aber sehr freund- wollen, dann investieren Sie bitte in den Klimaschutz, lich formuliert! – Dr. h. c. Hans Michelbach dann investieren Sie bitte in Bildung, aber bitte geben [CDU/CSU]: Das war eine Märchenstunde!) Sie das Geld nicht einfach so den Hoteliers. Wir reden immerhin von 1 Milliarde Euro, die dem Staat Danke schön. nicht mehr zur Verfügung stehen, weil Sie dieses Geld durch die Umsatzsteuerermäßigung für Hoteliers wegge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben. Erkennen Sie dies als Fehler an und nehmen Ihr Ge- setz zurück. Stimmen Sie dem Antrag von Bündnis 90/ Vizepräsidentin Petra Pau: Die Grünen zu! Das Wort hat der Kollege Bernhard Kaster für die Unionsfraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Lassen Sie mich in der knappen Redezeit, die ich habe, eine grundsätzliche Bemerkung machen. Ich will mit einem Zitat anfangen: Bernhard Kaster (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, Lobby- Die finanzielle Situation der Gemeinden und Städte ist gruppen zu vertreten. Aufgabe der Bundesregierung schlecht, sie ist dramatisch schlecht. Die Wirtschafts- ist vielmehr, ein Steuerrecht zu schaffen, das den krise – das haben wir in der Debatte schon mehrfach ge- berechtigten Belangen der Gesellschaft … gerecht hört – ist auf der Ebene angekommen, auf der das reale wird. Leben vor Ort stattfindet, nämlich bei unseren Kommu- 3140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Bernhard Kaster (A) nen. Die Wirtschaftskrise hat dazu geführt, dass das schen Streitkräfte konnten wir uns damals als Stadträte (C) Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr um 90 Mil- die französischen Schulen und die französischen Kinder- liarden Euro, also um 5 Prozent gesunken ist. gärten ansehen. Wir haben gesehen, wie wohl sich die Kinder dort gefühlt haben. Was ist nun zu tun? Die SPD beantragt einen Ret- tungsschirm. Ich sage: Nein, wir brauchen keinen Als wir diese Schulen und Kindergärten jedoch über- Schirm. Wir brauchen für die Kommunen dauerhaft und nommen haben, waren plötzlich Millioneninvestitionen nachhaltig gutes Wetter. notwendig, weil es hieß, die Scheiben seien zu dünn, der Boden sei zu hart, die Fliesen seien zu glatt usw. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – brauchen also mehr Flexibilität. Bernd Scheelen [SPD]: Sie lassen sie im Re- gen stehen!) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist schon et- was dreist, wer sich heute hier als der Retter der Kom- Sie fordern eine kurzfristige Stabilisierung, Herr munen aufspielen will. Das muss in dieser Debatte ein- Scheelen. Sie wollen auf zwei Jahre befristete Hilfen bei mal gesagt werden. den Kosten der Unterkunft. So steht es in Ihrem Antrag. Das heißt nichts anders als: Schirm auf, Schirm zu. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für uns, für die Union als Kommunalpartei ist die Die Wirtschaftskrise – daran gibt es nichts herumzu- politische und finanzielle Handlungsfähigkeit unserer deuteln – hat die Kommunen in große finanzielle Gemeinden und Städte niemals Thema für populistische Schwierigkeiten gebracht. In den rot-grünen Jahren von Anträge. 1998 bis 2005 hat es einer solchen Wirtschaftskrise aber nicht bedurft, um die Gemeinden finanziell abstürzen zu (Beifall bei der CDU/CSU) lassen. Das hat Rot-Grün damals ganz allein geschafft. Die kommunale Ebene, die kommunale Selbstverwal- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf tungsgarantie und die Subsidiarität sind bei uns politi- von der CDU/CSU: Das ist die Wahrheit!) sches Fundament. Deshalb werden wir diese Legislatur- periode nutzen, um die politische und finanzielle 5 Milliarden Euro Minus im Schnitt in dieser Zeit. Das Handlungsfähigkeit unserer Kommunen nachhaltig zu war damals so gewesen. Ich könnte mehrere Beispiele sichern. nennen, wie die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage usw. Die eingesetzte Regierungskommission unter Lei- tung von Finanzminister Dr. Schäuble und unter Beteili- Lassen Sie mich noch etwas als Rheinland-Pfälzer sa- gung unseres Innenministers de Maizière hat drei große gen. Ich finde es schon gewagt, dass Sie in Ihrem Antrag (B) Aufgabenstellungen: erstens die notwendige Versteti- Vergleiche zu Rheinland-Pfalz anstellen. Ich bitte Sie! (D) gung der Einnahmeseite, zweitens die Begrenzung der (Bernd Scheelen [SPD]: Die kümmern sich um Ausgaben und Standards sowie die Schaffung von mehr die Kommunen!) Flexibilität und drittens die stärkere Beteiligung der Kommunen bei den sie betreffenden politischen Ent- – Herr Scheelen, Rheinland-Pfalz kümmert sich um die scheidungsprozessen. Kommunen in der Weise, dass in Rheinland-Pfalz die Pro-Kopf-Verschuldung der Kommunen aufgrund eines Auch auf der Einnahmeseite gehen wir im Hinblick ganz miesen Finanzausgleichs um 30 Prozent höher ist auf nachhaltige Finanzstrukturen ohne Tabus an dieses als in allen anderen westlichen Flächenländern. Ich will Thema heran. Das heißt, wir reden über die Ausgestal- gar nicht davon sprechen, wofür in Rheinland-Pfalz tung der Gewerbesteuer und auch über Alternativen, sonst noch Geld ausgegeben wird. Nürburgring lässt über den Anteil am Umsatzsteueraufkommen und über grüßen. den Anteil am Einkommensteueraufkommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Als ehemaliger Bürgermeister sage ich Ihnen, dass es neten der FDP) mir wichtig ist, bei der Gestaltung der kommunalen Fi- nanzen weiterhin an drei wichtigen Beziehungen, an Ein Finanzminister ist schon zurückgetreten. Ich sage drei wichtigen Bezugspunkten festzuhalten. Dies sind aber auch: In dieser Gemeindefinanzkommission wird der Bezugspunkt Gemeinde und Bürger, der Bezugs- auch Rheinland-Pfalz vertreten sein. Der Finanzminister punkt Gemeinde und Grund und Boden sowie der Be- wird, solange er im Amt ist, zugspunkt Gemeinde und Wirtschaft. Bei der Ausgestal- (Otto Fricke [FDP]: Das ist aber nicht sehr tung des dritten Bezugspunkts, bei der Ausgestaltung lange!) einer wirtschaftsbezogenen Steuer, müssen wir uns Ge- danken machen. auch da mitwirken können. Aber auch auf der Ausgabenseite müssen wir zwin- Noch ein Wort zu Ihrer doch sehr populistischen und gend über Standards nachdenken. Dies betrifft viele Be- falschen Steuerdiskussion. Dass wir zum 1. Januar das reiche und erfordert mehr Flexibilität. Kindergeld, die Kinderfreibeträge und den Grundfreibe- trag erhöht und den Steuertarif um 330 Euro nach rechts Dazu fällt mir ein Beispiel aus meiner Heimatstadt verschoben haben, das war richtig. Trier ein. Über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg befan- den sich dort französische Streitkräfte und deren franzö- (Beifall des Abg. Ingbert Liebing [CDU/ sische Familien. Noch kurz vor dem Abzug der französi- CSU]) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3141

Bernhard Kaster (A) Es war deswegen richtig, weil es nicht sein kann, dass und zwar nicht, um abstrakt Kommunen zu helfen, son- (C) die Finanzmisere, in der sich Bund, Länder und Kommu- dern um den wirklich Betroffenen, den Kindern und Ju- nen befinden, ausgerechnet von den Bürgern mit mittle- gendlichen in den Kommunen, zu helfen. Das ist die ren und kleineren Einkommen bezahlt werden soll, die Aufgabe. Das müssen Sie doch erkennen. über Jahre Steuern zahlen. Es kann nicht sein, dass sie still und heimlich über die Jahre inflationsbedingt in hö- Diese Feststellung wird nicht einmal mit einem Vor- here Steuersätze hineinrutschen und wir einfach zu- wurf garniert. Wir alle fühlen uns doch zu Recht nicht schauen. Das ist unfair gegenüber den Bürgern. Das schuldig wegen der Krise. Wir haben nicht die schwerste muss man korrigieren, und das haben wir gemacht. Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir bisher in der Nach- kriegszeit erlebt haben, herbeigeführt, und zwar keiner (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von uns. Wir müssen uns nur der Realität stellen. Sie ha- neten der FDP) ben einen Koalitionsvertrag gemacht, der die Realität leugnet. Das ist doch das Problem. Deswegen kommen Wir brauchen Fairness gegenüber den Bürgern und Sie im Moment mit der Realität nicht klar. Fairness gegenüber den Kommunen. Die Koalition und die Union als Kommunalpartei (Beifall bei der SPD) (Lachen bei der SPD und der LINKEN) Das dürfen nicht die Kommunen ausbaden, weil Sie Schwierigkeiten haben, irgendetwas von Ihrem „Kolli- werden auch in schwieriger Zeit diese Fairness gewähr- sionsvertrag“, wie meine Kollegin gesagt hat, überhaupt leisten; denn unser Grundsatz gilt: Geht es den Gemein- umzusetzen, was kein Wunder ist. Alles, was Sie bisher den gut, geht es dem ganzen Land gut. Deswegen wie- durchgesetzt haben, wirkte krisenverschärfend für die derhole ich: Wir brauchen keinen Schirm, sondern Kommunen. Das ist die Wahrheit. Da helfen die schönen dauerhaft gutes Wetter für unsere Kommunen. Reden von Frau Merkel auf dem CDU-Landesparteitag (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in Münster oder die von Herrn Rüttgers, der die Gemein- neten der FDP) den beschwört, nichts. In der Realität machen Sie das Gegenteil von dem, worüber Sie reden. Bei Ihnen klaf- fen Reden und Handeln notorisch auseinander. Das geht Vizepräsidentin Petra Pau: zulasten der Kommunen. Das zu ändern, ist die Aufgabe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem Kol- legen Poß das Wort gebe, sei mir der Hinweis gestattet, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass wir noch zwei Redner in dieser Debatte haben und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) beiden ermöglichen sollten, hier zu reden. Allen, die im Sie, Herr Bundesfinanzminister, beginnen jetzt von (B) Saale sind, sollten wir ermöglichen, sie zu hören und zu (D) neuem, das durchzubuchstabieren, was schon 2003 in ei- verstehen. Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kolle- ner großen Kommission unter Beteiligung aller Ebenen gen, die zur namentlichen Abstimmung schon herbeige- erörtert wurde, nämlich alle Modelle der letzten eilt sind, Platz zu nehmen, sodass wir die Debatte zu 30 Jahre, die Sie so gut wie ich kennen. Die Wahrheit ist: Ende führen können. Damals, im Jahr 2003, hat die rot-grüne Koalition – ich Das Wort hat der Kollege Joachim Poß für die SPD- war der Verhandlungsführer der SPD im Vermittlungs- Fraktion. ausschuss – im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, die Gewerbesteuer gerettet; denn starke Kräfte in der (Beifall bei der SPD) Union – ich erinnere an den Leipziger Parteitag – woll- ten die Gewerbesteuer abschaffen. Das ist die historische Joachim Poß (SPD): Wahrheit und nicht das, was Sie gesagt haben. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollege Kaster, die Kommunen brauchen jetzt keinen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schönwetterredner, sondern sie brauchen eine sofortige Hilfe, Es waren die Sozialdemokraten, die in der Großen Koalition in der Koch-Steinbrück-Arbeitsgruppe dafür (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesorgt haben, dass die Gewerbesteuer gefestigt wurde. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Das ist die historische Wahrheit. Das war nicht die GRÜNEN – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Union; von der FDP rede ich erst gar nicht. Eine dauerhafte Hilfe!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) weil sie mit den Folgen der Krise nicht mehr klarkom- men, weil sie die Einrichtungen der sozialen Infrastruk- Wenn es also eine Kommunalpartei in Deutschland gibt, tur wie Kindertagesstätten nicht mehr aufrechterhalten dann können die Sozialdemokraten das für sich in An- können. Die haben nichts von Ihren Sprüchen und von spruch nehmen und niemand anderes. Das muss klarge- den Ankündigungen von Herrn Schäuble, die er hier ge- stellt werden. macht hat. Denen muss jetzt und wirksam geholfen wer- den, (Beifall bei der SPD – [CDU/CSU]: Die Lage der Kommunen ist de- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten saströs! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU der LINKEN) und der FDP) 3142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Joachim Poß (A) Herr Schäuble, zu unserer gemeinsamen Vergangen- Deutschland gestellt? Wer war denn elf Jahre verant- (C) heit gehört, dass Sie als Fraktionsvorsitzender der CDU/ wortlich in diesem wesentlichen Ressort? CSU Mitte der 90er-Jahre die Aushöhlung der Gewerbe- steuer als Ihr wichtigstes Anliegen begriffen hatten. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sind nämlich damals vehement für die Abschaffung der Joachim Poß [SPD]: Wer hatte die Mehrheit Gewerbekapitalsteuer eingetreten. im Bundesrat?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diese Regierung ist jetzt seit fünf Monaten im Amt. Sie wollen sie für das derzeitige Szenario in den Kommunen Sie haben damals gesagt, dies führe zu einem enormen verantwortlich machen. Das ist schon ziemlich daneben. Aufwuchs an Arbeitskräften. Die Gewerbekapitalsteuer wurde abgeschafft. Die Gewerbesteuer wurde dadurch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und instabiler und konjunkturanfälliger. Ein Aufwuchs an der FDP) Arbeitskräften ist nicht eingetreten. Daraus sollten Sie, Die Kommunen befinden sich aus zwei Gründen – Bun- was Ihre Einschätzungsfähigkeit angeht, lernen, Herr desminister Schäuble hat sie eben deutlich gemacht – in Schäuble. einer ernsthaften finanziellen Situation. Ein wesentlicher (Beifall bei der SPD) Gesichtspunkt ist der starke Zusammenbruch bei der Ge- werbesteuer. Das ist auch logisch; denn die Gewerbe- Sie sollten den Einbruch der Wirtschaftskraft um steuer ist vor allen Dingen eine sehr wirtschaftsnahe und 5 Prozent im vergangenen Jahr nicht als Alibi nutzen, um unternehmensnahe Steuer. Wir sehen bei den Bundes- die wichtigste Einnahmequelle der Kommunen – diese steuern, auch bei der Körperschaftsteuer, mit einem haben wir damals in Verhandlungen mit Ihnen in Art. 28 Rückgang des Aufkommens von über 50 Prozent die des Grundgesetzes gefestigt – zu beschädigen. Die FDP stärksten Einbrüche. sagt es im Klartext: Wir wollen die Gewerbesteuer end- lich weghaben. – Das ist die schwarz-gelbe Zukunft für Das deutet das Dilemma der Kommunen an. Wir die Gemeinden. Da können die Gemeinden nur noch müssen die Finanzierung der Kommunen auf stabilere schwarzsehen. Es muss, auch nach dem 9. Mai – denn Standbeine stellen als bisher. Das heißt, dass es eine Mo- Herr Rüttgers macht, was Politik für die Gemeinden be- difikation bei der Gewerbesteuer geben muss. Deshalb trifft, nur Sprüche –, eine stärkere Sozialdemokratie her, ist es richtig, diese Kommission, in die die Länder und um das zu verhindern. In Nordrhein-Westfalen geht es auch die kommunalen Spitzenverbände einbezogen sind, am 9. Mai auch um die Zukunft der Gemeinden. jetzt einzusetzen. (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) [CDU/CSU]: Der letzte Mohikaner der Sub- (D) stanzbesteuerung!) Das ist jedenfalls weitaus intelligenter als die Schnell- schüsse, die Sie uns heute per Antrag vorlegen. Sie sind Vizepräsidentin Petra Pau: kein ernsthafter Beitrag zur Lösung. Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für Ich persönlich bin allerdings auch der Ansicht: Wir die Unionsfraktion. brauchen eine kommunale Steuer, die einen Bezug zur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wirtschaftlichen Entwicklung in den Kommunen hat. Ich denke, das sollte uns klar sein; denn sonst würden wir all die Kommunen bestrafen, die sich in den letzten Jahren Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): und Jahrzehnten für die Ansiedlung von Unternehmen Werter Herr Kollege Poß, wir hatten im Mittelteil un- und damit für Arbeitsplätze engagiert haben. Das wollen serer Debatte eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung wir nicht tun. Das wäre der falsche Anreiz. über die sehr ernsthafte finanzielle Lage der Kommunen. Insbesondere als unser Minister Dr. Schäuble dazu ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sprochen hat, konnten Sie feststellen, wie ernsthaft wir neten der FDP) uns mit diesem Thema auseinandersetzen. Wir debattie- ren nicht nur darüber, sondern wir handeln. Wir setzen Ich komme zum Thema Wachstumsbeschleunigungs- konkret diese Kommission mit speziellen Untergruppen gesetz. Es ist Ihre Lieblingsbeschäftigung, das zu kriti- ein. Wir veranstalten keine Wahlkampfshow, wie Sie das sieren. Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetz genau das in Ihrem Beitrag versucht haben. Richtige gemacht haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]) Uns geht es nämlich nicht um Wahlkampf, sondern uns geht es wirklich darum, ein schwieriges Thema in den Für die jetzige Situation kann es nicht verantwortlich Griff zu bekommen. sein; denn es gilt erst seit drei Monaten. Wir haben in der Tat auch bei der Besteuerung der Leasingunternehmen (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ und bei der Frage der Funktionsverlagerung, die wir an- CSU]) ders geklärt haben, richtig gehandelt. Das stärkt auf Es ist schon verwunderlich und ziemlich scheinheilig, Dauer unseren Investitionsstandort und auch die steuerli- wie Sie sich hier aufgeführt haben. Wer hat denn elf che Basis. Das wird auf mittlere und längere Sicht die Jahre lang den Finanzminister in der Bundesrepublik Einnahmesituation der Kommunen verbessern. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3143

Dr. Mathias Middelberg (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Weiter heißt es: (C) neten der FDP) Das sei auch eine Frage von sozialer Gerechtigkeit Sie reden sich ein, Sie hätten durch allerlei Hinzu- gegenüber Menschen, die mit ihren Steuern das So- rechnungen die Gewerbesteuer und damit die Einnahme- zialsystem finanzieren. situation der Kommunen stabilisiert. Gerade die derzei- tige Krisensituation zeigt, dass das völliger Unsinn ist; Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat recht. (Joachim Poß [SPD]: Das zeigt sie eben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht!) neten der FDP) denn Sie besteuern damit die Substanz von Unterneh- Ich darf mit folgender Feststellung schließen. Sie – das men, denen das Wasser ohnehin schon bis zum Hals machen Ihre Anträge deutlich – entfernen sich immer steht. Sie würden in dieser Situation die Unternehmen weiter von der Realität. Uns geht es nicht um Tamtam, und damit die Arbeitsplätze wegsteuern sondern um einen ernsthaften Beitrag zur Lösung des Problems. Deswegen empfehle ich, dass wir Ihre An- (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Genau!) träge ablehnen. und die steuerliche Basis vieler Kommunen vernichten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben dem Mittelstand Luft verschafft. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich schließe die Aussprache. neten der FDP) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Er braucht nämlich vor allen Dingen eines: Liquidität. den Drucksachen 17/1152, 17/1142 und 17/1143 an die Sie beschwören immer wieder die Kreditklemme. Indem an der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- wir Liquidität für den Mittelstand geschaffen haben, sind schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der wir dieses Problem angegangen. Wir geben den mittel- Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. ständischen Unternehmen mehr Möglichkeiten, über Ka- pital frei zu verfügen. Wir kommen nun zur namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- des Umsatzsteuergesetzes. Der Finanzausschuss emp- neten der FDP) fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Interessanterweise hat die SPD im Kreistag des Land- Drucksache 17/869, den Gesetzentwurf der Fraktion der (B) kreises Emsland eine Resolution gegen das Wachstums- SPD auf Drucksache 17/520 abzulehnen. Wir stimmen (D) beschleunigungsgesetz einbringen wollen. Der dortige nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion Landrat hat sich dezidiert mit einzelnen Punkten dieses der SPD namentlich ab. Vorher möchte ich noch darauf Gesetzes auseinandergesetzt und sehr fundiert dargelegt, hinweisen, dass wir im Anschluss daran noch eine einfa- warum es für den Mittelstand in den Gemeinden im che Abstimmung durchführen werden. Landkreis Emsland nützlich ist. Letztendlich ist es näm- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die lich ein kommunalfreundliches Gesetz. Sie werden la- vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze be- chen: Noch bevor es zur Debatte über diese Resolution setzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. kam, hat die dortige SPD-Kreistagsfraktion ihren Reso- lutionsantrag zurückgezogen. So empfehlen wir Ihnen Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine das mit Ihrem vorliegenden Antrag auch. Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingo Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- Wellenreuther [CDU/CSU]: Das setzt Einsicht führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu voraus!) beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) An uns – das unterscheidet uns von Ihnen – haben die Kommunen noch Erwartungen. Von Ihnen erwartet man Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu bei diesem Thema nichts mehr. Das drückt sich auch in nehmen, damit wir die Abstimmungen zur Beschlussemp- der Presseinformation des Deutschen Städte- und Ge- fehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/869 meindebundes aus, die Ende vergangener Woche heraus- fortsetzen können. gegeben wurde. Es ging um das Thema Hartz-IV-Ge- Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner setze. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der ausgeführt, dass Ihre Korrekturvorschläge zum Thema Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/447 Hartz IV unbezahlbar seien. Es gelte, die Eigenverant- mit dem Titel „Umsatzsteuerermäßigung für Hotellerie wortung der Bürger zu stärken, statt immer wieder den zurücknehmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Eindruck zu vermitteln, der Staat könne weiterhin ein lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Rundum-sorglos-Paket finanzieren. Konkret heißt es: Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions- Wer aus eigener Arbeitskraft oder mit eigenem Ver- fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der mögen seinen Unterhalt bestreiten kann, darf nicht noch zusätzliche Transferleistungen erhalten … 1) Ergebnis Seite 3148 D 3144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Vizepräsidentin Petra Pau (A) SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Verhandlungen über die Aufnahme Islands in (C) Bündnis 90/Die Grünen angenommen. die Europäische Union eröffnen Ich rufe die Tagesordnungspunkt 28 a bis 28 e und – Drucksache 17/1059 – 28 h bis 28 j sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf: Überweisungsvorschlag: 28 a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- nung e) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP Technikfolgenabschätzung (TA) Einvernehmensherstellung von Bundestag und Zukunftsreport – Ubiquitäres Computing Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Re- – Drucksache 17/405 – publik Island zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom 24. Fe- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) bruar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsver- Auswärtiger Ausschuss handlungen Innenausschuss Rechtsausschuss hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ges nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Bundesregierung und Deutschem Bundestag Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 17/1190 – Technikfolgenabschätzung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auswärtiger Ausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten René Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Verbraucherschutz Fraktion der SPD Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss (B) Adulte Stammzellforschung ausweiten, For- (D) schung in der regenerativen Medizin voran- h) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ bringen und Deutschlands Spitzenposition CSU und der FDP ausbauen Übergangsmaßnahmen zur Zusammensetzung – Drucksache 17/908 – des Europäischen Parlamentes nach dem In- Überweisungsvorschlag: krafttreten des Vertrages von Lissabon Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) – Drucksache 17/1179 – Innenausschuss Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit Rechtsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole i) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer CSU und der FDP Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbah- nen in Deutschland Verbraucherfreundliche kostenfreie Warte- schleifen bei telefonischen Dienstleistungen – Drucksache 17/1162 – einführen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) – Drucksache 17/1029 – Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Federführung strittig Ausschuss für Tourismus d) Beratung des Antrags der Abgeordneten j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Angelika Krüger-Leißner, Martin Dörmann, Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und DIE LINKE der Fraktion der SPD Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3145

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Für eine Kinodigitalisierung, die den Erhalt Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. (C) unserer Kinolandschaft sichert Die Vorlage auf Drucksache 17/1059, Tagesordnungs- punkt 28 d, soll abweichend von der Tagesordnung nicht – Drucksache 17/1156 – an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie Überweisungsvorschlag: damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungen so beschlossen. Haushaltsausschuss Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 h sowie ZP 3 a) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND- die Zusatzpunkte 4 a bis 4 k auf. Es handelt sich um die NIS 90/DIE GRÜNEN Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus- sprache vorgesehen ist. Partei-Sponsoring transparenter gestalten Tagesordnungspunkt 29 a: – Drucksache 17/1169 – Überweisungsvorschlag: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Innenausschuss (f) gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Rechtsausschuss zur Änderung des Abkommens vom b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina 15. Dezember 1950 über die Gründung eines Wawzyniak, Ulrich Maurer, Jan Korte, weiterer Rates für die Zusammenarbeit auf dem Ge- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE biete des Zollwesens Parteien-Sponsoring im Parteiengesetz regeln – Drucksache 17/759 – – Drucksache 17/892 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Überweisungsvorschlag: richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Innenausschuss (f) Rechtsausschuss – Drucksache 17/1207 – Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Berichterstattung: ten Verfahren ohne Debatte. Abgeordnete Nicolette Kressl Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der Dr. Birgit Reinemund die Federführung strittig ist. Richard Pitterle Tagesordnungspunkt 28 c. Interfraktionell wird Über- (B) weisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- (D) Grünen auf Drucksache 17/1029 mit dem Titel „Ver- empfehlung auf Drucksache 17/1207, den Gesetzent- braucherfreundliche kostenfreie Warteschleifen bei tele- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/759 anzu- fonischen Dienstleistungen einführen“ an die in der nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Fe- dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno- damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. logie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt- Dritte Beratung schaft und Verbraucherschutz. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Feder- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- führung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft entwurf ist einstimmig angenommen. und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überwei- sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Tagesordnungspunkt 29 b: sich? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe- zu den Änderungsurkunden vom 24. Novem- derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno- ber 2006 zur Konstitution und zur Konvention logie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – der Internationalen Fernmeldeunion vom Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Über- 22. Dezember 1992 weisungsvorschlag ist gegen die Stimmen der Fraktion – Drucksache 17/760 – Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke an- genommen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Wir kommen jetzt zu den unstrittigen Überweisun- nologie (9. Ausschuss) gen. – Drucksache 17/1197 – Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b, 28 d und 28 e, 28 h bis 28 j sowie Zusatzpunkte 3 a und 3 b. Interfrak- Berichterstattung: tionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Abgeordneter Andreas G. Lämmel 3146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter (C) in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1197, und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache Beschlagnahmung von Generika in Europa 17/760 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- stoppen – Versorgung von Entwicklungslän- setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – dern mit Generika sichern Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen – Drucksachen 17/448, 17/871 – der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion Berichterstattung: und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung Abgeordnete Sabine Weiss (Wesel I) der Fraktion Die Linke angenommen. Karin Roth (Esslingen) Dritte Beratung Helga Daub Niema Movassat und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Uwe Kekeritz Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- entwurf ist angenommen. lung auf Drucksache 17/871, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/448 abzuleh- Tagesordnungspunkt 29 c: nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immis- der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die sionsschutzgesetzes Grünen angenommen. – Drucksache 17/800 – Tagesordnungspunkt 29 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der – Drucksache 17/1198 – Bundesregierung Berichterstattung: Achtundachtzigste Verordnung zur Änderung Abgeordnete Dr. Michael Paul der Außenwirtschaftsverordnung (B) – Drucksachen 17/441, 17/1136 – (D) Dr. Lutz Knopek Ralph Lenkert Berichterstattung: Dorothea Steiner Abgeordneter Paul K. Friedhoff Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 17/1136, die Aufhebung der Verord- sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf nung auf Drucksache 17/441 nicht zu verlangen. Wer Drucksache 17/1198, den Gesetzentwurf der Bundesre- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt gierung auf Drucksache 17/800 in der Ausschussfassung dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD- wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/ das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange- sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung nommen. mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Frak- tion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Tagesordnungspunkt 29 f: Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- genommen. richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Dritte Beratung nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Neunundachtzigste Verordnung zur Änderung Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- der Außenwirtschaftsverordnung entwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen der – Drucksachen 17/442, 17/1136 – Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stim- men der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Berichterstattung: Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Abgeordneter Paul K. Friedhoff Tagesordnungspunkt 29 d: Der Ausschuss empfiehlt weiterhin in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/1136, die Aufhe- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- bung der Verordnung auf Drucksache 17/442 nicht zu ver- richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- langen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3147

Vizepräsidentin Petra Pau (A) tion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Frak- Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem Streitverfah- (C) tion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der ren Stellung zu nehmen und den Präsidenten zu bitten, Fraktion Die Linke angenommen. Herrn Professor Dr. Christian Seiler als Prozessbevoll- Tagesordnungspunkt 29 g: mächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- empfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- angenommen. nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- titionsausschusses. Einhundertneunundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste Zusatzpunkt 4 b: – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksachen 17/443, 17/1136 – ausschusses (2. Ausschuss) Berichterstattung: Sammelübersicht 61 zu Petitionen Abgeordneter Paul K. Friedhoff – Drucksache 17/1180 – Auch hier empfiehlt der Ausschuss in seiner Be- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- schlussempfehlung auf Drucksache 17/1136, die Aufhe- hält sich? – Die Sammelübersicht 61 ist einstimmig an- bung der Verordnung auf Drucksache 17/443 nicht zu ver- genommen. langen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- Zusatzpunkt 4 c: schlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 29 h: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Sammelübersicht 62 zu Petitionen richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz – Drucksache 17/1181 – und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregierung Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Die Sammelübersicht 62 ist mit den Stim- Verordnung zur Umsetzung der Dienstleis- men der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD- tungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umwelt- Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei rechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher (B) Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- (D) Vorschriften nommen. – Drucksachen 17/862, 17/940 Nr. 2, 17/1212 – Zusatzpunkt 4 d: Berichterstattung: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Abgeordnete Dr. ausschusses (2. Ausschuss) Dr. Sammelübersicht 63 zu Petitionen Ralph Lenkert Dorothea Steiner – Drucksache 17/1182 – Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- lung auf Drucksache 17/1212, der Verordnung auf hält sich? – Die Sammelübersicht 63 ist einstimmig an- Drucksache 17/862 zuzustimmen. Wer stimmt für diese genommen. Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer Zusatzpunkt 4 e: enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung ausschusses (2. Ausschuss) der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Sammelübersicht 64 zu Petitionen nen angenommen. – Drucksache 17/1183 – Zusatzpunkt 4 a: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- hält sich? – Die Sammelübersicht 64 ist gegen die Stim- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver- Zusatzpunkt 4 f: fassungsgericht 2 BvG 1/10 Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 17/1192 – ausschusses (2. Ausschuss) Berichterstattung: Sammelübersicht 65 zu Petitionen Abgeordneter Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) – Drucksache 17/1184 – 3148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Zusatzpunkt 4 j: (C) hält sich? – Die Sammelübersicht 65 ist bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Zusatzpunkt 4 g: Sammelübersicht 69 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 17/1188 – Sammelübersicht 66 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- – Drucksache 17/1185 – hält sich? – Die Sammelübersicht 69 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd- hält sich? – Die Sammelübersicht 66 ist mit den Stim- nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP- angenommen. Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 4 k: Zusatzpunkt 4 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 70 zu Petitionen Sammelübersicht 67 zu Petitionen – Drucksache 17/1189 – – Drucksache 17/1186 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Die Sammelübersicht 67 ist gegen die Stim- hält sich? – Die Sammelübersicht 70 ist mit den Stim- men der Fraktion der SPD angenommen. men der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und Zusatzpunkt 4 i: der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen nun ausschusses (2. Ausschuss) das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit- Sammelübersicht 68 zu Petitionen telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über (B) den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD „Entwurf eines (D) – Drucksache 17/1187 – … Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes“, Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Drucksachen 17/520 und 17/869, bekannt: abgegebene hält sich? – Die Sammelübersicht 68 ist gegen die Stim- Stimmen 557. Mit Ja haben 248 Kolleginnen und Kolle- men der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die gen gestimmt, mit Nein haben 309 Kolleginnen und Kol- Grünen bei Zustimmung der übrigen Fraktionen ange- legen gestimmt. Es gab keine Enthaltungen. Der Gesetz- nommen. entwurf ist damit abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis Lothar Binding (Heidelberg) Abgegebene Stimmen: 556; Martin Gerster Johannes Kahrs davon Klaus Brandner Iris Gleicke Dr. h. c. Susanne Kastner Günter Gloser Ulrich Kelber ja: 248 Angelika Graf (Rosenheim) nein: 308 (Hildesheim) Michael Groschek Hans-Ulrich Klose Michael Groß Dr. Bärbel Kofler Ja Marco Bülow Wolfgang Gunkel () Petra Crone Hans-Joachim Hacker Fritz Rudolf Körper SPD Martin Dörmann Bettina Hagedorn Elvira Drobinski-Weiß Klaus Hagemann Nicolette Kressl Ingrid Arndt-Brauer Michael Hartmann Angelika Krüger-Leißner Siegmund Ehrmann (Wackernheim) Ute Kumpf Dr. h. c. Dr. Barbara Hendricks Dr. Hans-Peter Bartels Petra Ernstberger Christian Lange (Backnang) Klaus Barthel Karin Evers-Meyer Gabriele Hiller-Ohm Dr. Sören Bartol Elke Ferner (Essen) Steffen-Claudio Lemme Bärbel Bas Frank Hofmann (Volkach) Sabine Bätzing Dr. Dr. Eva Högl Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Becker Christel Humme Kirsten Lühmann Uwe Beckmeyer Peter Friedrich Caren Marks Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3149

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Heidrun Bluhm Dr. Thomas Gambke (C) Dr. Petra Merkel (Berlin) Katrin Göring-Eckardt Ullrich Meßmer Eva Bulling-Schröter Britta Haßelmann Steffen Bilger Dr. Matthias Miersch Dr. Martina Bunge Dr. Rolf Mützenich Sevim Dağdelen Priska Hinz (Herborn) Dr. Maria Böhmer Dietmar Nietan Dr. Diether Dehm Ulrike Höfken Wolfgang Börnsen Manfred Nink Heidrun Dittrich Ingrid Hönlinger (Bönstrup) Thomas Oppermann Dr. Dagmar Enkelmann Thilo Hoppe Aydan Özoğuz Wolfgang Gehrcke Uwe Kekeritz Heinz Paula Nicole Gohlke Memet Kilic Klaus Brähmig Joachim Poß Diana Golze Sven-Christian Kindler Michael Brand Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Gregor Gysi Maria Anna Klein-Schmeink Dr. Dr. Sascha Raabe Heike Hänsel Ute Koczy Dr. Rosemarie Hein Tom Koenigs Dr. Gerold Reichenbach Inge Höger Sylvia Kotting-Uhl Dr. Dr. Dr. Barbara Höll Stephan Kühn Sönke Rix Andrej Konstantin Hunko Renate Künast Ralph Brinkhaus René Röspel Markus Kurth Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Lukrezia Jochimsen Undine Kurth (Quedlinburg) Leo Dautzenberg Michael Roth (Heringen) Alexander Dobrindt Marlene Rupprecht Harald Koch Nicole Maisch Thomas Dörflinger (Tuchenbach) Jan Korte Agnes Malczak Marie-Luise Dött Anton Schaaf Jutta Krellmann Jerzy Montag Dr. Axel Schäfer (Bochum) Kerstin Müller (Köln) Bernd Scheelen Ralph Lenkert Beate Müller-Gemmeke Ingrid Fischbach Dr. Hermann Scheer Hartwig Fischer (Göttingen) Marianne Schieder Stefan Liebich Dr. Dirk Fischer () (Schwandorf) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Werner Schieder (Weiden) Ulrich Maurer Land) (Aachen) Dorothée Menzner Dr. Hermann Ott Dr. Maria Flachsbarth Silvia Schmidt (Eisleben) Cornelia Möhring Lisa Paus Klaus-Peter Flosbach Olaf Scholz Niema Movassat Brigitte Pothmer Dr. Hans-Peter Friedrich (B) Wolfgang Nešković Tabea Rößner (Hof) (D) (Spandau) Thomas Nord Claudia Roth (Augsburg) Petra Pau Erich G. Fritz Jens Petermann Manuel Sarrazin Hans-Joachim Fuchtel Dr. Angelica Schwall-Düren Elisabeth Scharfenberg Alexander Funk Dr. Martin Schwanholz Paul Schäfer (Köln) Christine Scheel Ingo Gädechens Michael Schlecht Dr. Gerhard Schick Dr. Thomas Gebhart Dr. Carsten Sieling Dr. Ilja Seifert Dr. Sonja Steffen Kathrin Senger-Schäfer Dorothea Steiner Peer Steinbrück Raju Sharma Dr. Wolfgang Strengmann- Dr. Frank-Walter Steinmeier Dr. Petra Sitte Kuhn Christoph Strässer Hans-Christian Ströbele Josef Göppel Kerstin Tack Sabine Stüber Dr. Harald Terpe Dr. Wolfgang Götzer Dr. h. c. Wolfgang Thierse Alexander Süßmair Franz Thönnes Dr. Kirsten Tackmann Jürgen Trittin Reinhard Grindel Dr. Axel Troost Hermann Gröhe Rüdiger Veit Wolfgang Wieland Michael Grosse-Brömer Dr. Marlies Volkmer Dr. Valerie Wilms Astrid Grotelüschen Andrea Wicklein Halina Wawzyniak Markus Grübel Heidemarie Wieczorek-Zeul Jörn Wunderlich Waltraud Wolff Nein Monika Grütters (Wolmirstedt) BÜNDNIS 90/ CDU/CSU Uta Zapf DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Holger Haibach Manfred Zöllmer Marieluise Beck (Bremen) Peter Altmaier Dr. Volker Beck (Köln) Peter Aumer Jürgen Hardt Cornelia Behm Dorothee Bär DIE LINKE Birgitt Bender Thomas Bareiß Dr. Jan van Aken Alexander Bonde Norbert Barthle Dr. Dietmar Bartsch Viola von Cramon-Taubadel Günter Baumann Ursula Heinen-Esser Herbert Behrens Ekin Deligöz Ernst-Reinhard Beck Frank Heinrich Katja Dörner (Reutlingen) Matthias W. Birkwald Hans-Josef Fell (Börde) 3150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Jürgen Herrmann Stefan Müller (Erlangen) (C) Nadine Müller (St. Wendel) Max Straubinger Birgit Homburger Ernst Hinsken Dr. Dr. (Bremen) (Heilbronn) Heiner Kamp Robert Hochbaum Michaela Noll Lena Strothmann Michael Kauch Franz-Josef Holzenkamp Dr. Georg Nüßlein Michael Stübgen Dr. Lutz Knopek Joachim Hörster Franz Obermeier Dr. Anette Hübinger Antje Tillmann Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Hans-Peter Uhl Hellmut Königshaus Dr. Dieter Jasper Dr. Michael Paul Gudrun Kopp Dr. Rita Pawelski Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sebastian Körber (Konstanz) Ulrich Petzold Stefanie Vogelsang Patrick Kurth (Kyffhäuser) Dr. Egon Jüttner Dr. Andrea Astrid Voßhoff Heinz Lanfermann Steffen Kampeter Sibylle Pfeiffer Dr. Harald Leibrecht Bernhard Kaster Sabine Leutheusser- Volker Kauder Christoph (Hamburg) Schnarrenberger Siegfried Kauder (Villingen- Peter Weiß (Emmendingen) Lars Lindemann Schwenningen) Lucia Puttrich Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Stefan Kaufmann Daniela Raab Ingo Wellenreuther Dr. Martin Lindner (Berlin) Karl-Georg Wellmann Michael Link (Heilbronn) Peter Wichtel Dr. Erwin Lotter Volkm ar K le in (Potsdam) Annette Widmann-Mauz Jürgen Klimke Klaus-Peter Willsch Horst Meierhofer Josef Rief Elisabeth Winkelmeier- Patrick Meinhardt Klaus Riegert Becker Gabriele Molitor Dr. Rolf Koschorrek Dr. Dagmar Wöhrl Jan Mücke Hartmut Koschyk Johannes Röring Dr. Petra Müller (Aachen) Thomas Kossendey Dr. Norbert Röttgen Wolfgang Zöller Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Christian Ruck Willi Zylajew Dr. Erwin Rüddel (Lausitz) Dr. Günter Krings (Weiden) FDP Rüdiger Kruse Anita Schäfer (Saalstadt) Hans-Joachim Otto Dr. Wolfgang Schäuble () (B) Dr. Hermann Kues Dr. Christian Ahrendt (D) Günter Lach Dr. Christine Aschenberg- Gisela Piltz Dr. Karl A. Lamers Dugnus Dr. Birgit Reinemund (Heidelberg) Norbert Schindler (Münster) Dr. Peter Röhlinger Andreas G. Lämmel Tankred Schipanski Sebastian Blumenthal Dr. Dr. Norbert Lammert Georg Schirmbeck Claudia Bögel Björn Sänger Christian Schmidt (Fürth) Nicole Bracht-Bendt Frank Schäffler Ulrich Lange Klaus Breil Christoph Schnurr Paul Lehrieder Dr. Ingbert Liebing Dr. Ole Schröder Marina Schuster Matthias Lietz Dr. Kristina Schröder Dr. Erik Schweickert Dr. (Wiesbaden) Sylvia Canel Werner Simmling Patricia Lips Bernhard Schulte-Drüggelte Helga Daub Judith Skudelny Dr. Jan-Marco Luczak Reiner Deutschmann Joachim Spatz Dr. Michael Luther (Weil am Dr. Bijan Djir-Sarai Dr. Rhein) Patrick Döring Torsten Heiko Staffeldt Dr. Thomas de Maizière Jörg van Essen Dr. Rainer Stinner Hans-Georg von der Marwitz Johannes Selle Ulrike Flach Carl-Ludwig Thiele Andreas Mattfeldt Otto Fricke Stephan Mayer (Altötting) Dr. Paul K. Friedhoff Dr. Thomas Silberhorn Dr. Serkan Tören Hans-Michael Goldmann Johannes Vogel Dr. h. c. Hans Michelbach Heinz Golombeck (Lüdenscheid) Dr. Mathias Middelberg Carola Stauche Miriam Gruß Dr. Daniel Volk Philipp Mißfelder Erika Steinbach Joachim Günther (Plauen) Dr. Christian Freiherr von Stetten Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Claudia Winterstein Dieter Stier Heinz-Peter Haustein Dr. Volker Wissing Dr. Gerd Müller Gero Storjohann Manuel Höferlin Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3151

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: dem Bundesland, in jedem Regierungsbezirk – Anlauf- (C) stellen eingerichtet werden, zum Beispiel dass es im Aktuelle Stunde Jugendamt eine Person gibt mit getrennter Aktenführung auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE und Schweigepflicht, an die sich Kinder, Jugendliche, GRÜNEN Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiter sofort wenden können. Das muss man jetzt für alle Fälle, die noch pas- Konsequenzen aus den zahlreichen bekannt sieren können – und das wissen wir –, einrichten. Statt- gewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs in dessen diskutieren Sie das an einem runden Tisch. kirchlichen und weltlichen Einrichtungen Ich sage Ihnen eines ganz klar: Bei solchen Straftaten Ich eröffne die Aussprache. – den vergangenen und auch denen in der Zukunft – gibt Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die es überhaupt keinen Grund, an einem runden Tisch zu Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. diskutieren, weil es dort nichts zu erörtern gibt. Es gibt die moralische Pflicht, innerhalb einer Schule über Ge- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rüchte des sexuellen Missbrauchs nicht zu diskutieren, sondern den Kindern sofort zu helfen. Ich muss sagen: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist An der Stelle scheinen Sie mir überfordert. gut, dass das Thema Kindesmissbrauch den Deutschen Bundestag endlich im Rahmen eines ordentlichen Tages- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ordnungspunktes beschäftigt. Es ist schlecht, dass, ob- sowie bei Abgeordneten der SPD) wohl wir seit Ende Januar massiv von neuen Fällen hö- ren, die Bundesregierung sich bis heute an dieser Stelle Wollen Sie beispielsweise mit einem Vertreter der ka- nicht erklärt hat. Ich hätte erwartet, dass die zuständige tholischen Kirche, sozusagen dem Arbeitgeber eines Pa- Bundesministerin längst eine Regierungserklärung abge- ters, der sexuellen Missbrauch betrieben hat, an einem geben und uns dargelegt hätte, welche Maßnahmen er- runden Tisch diskutieren, wie die Meldepflichten sind? griffen werden müssen, um die Vorfälle aufzuarbeiten Das geht gar nicht. und Kinder in Zukunft zu schützen. (Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär: Darum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geht es doch gar nicht!) sowie bei Abgeordneten der SPD) – Doch, auch darum geht es bei diesem runden Tisch, Welche Maßnahmen müssen jetzt ergriffen werden, und wenn es darum nicht geht, dann muss die Bundes- das ist die Frage. Stattdessen bietet uns diese Regierung ministerin die Vertreter der Länder und Institutionen einen runden Tisch. Da gab es einen Vorschlag von Frau jetzt vorladen und ganz klar sagen, was sie will. (B) (D) Leutheusser-Schnarrenberger, dem die anderen nicht fol- An dieser Stelle sage ich: Die Ministerin ist überfor- gen wollten. Dann hat Frau Schavan – bis vor kurzem dert, und Frau Merkel hat zugelassen, dass hier am Ende Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken – mehr Rücksicht auf die Institutionen genommen wurde, erklärt, sie wolle auch einen runden Tisch. Da waren es als dass man tatsächlich etwas getan hat. schon zwei. Die Bundesministerin, die eigentlich zustän- dig ist, kam auch irgendwann. Noch ein runder Tisch. Am (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das stimmt gar Ende wurde ein runder Tisch mit zwei Untergruppen und nicht!) einer Beauftragten eingerichtet. Seit Ende Januar ist das – Doch, das stimmt. – Es gab an dieser Stelle keinerlei sozusagen die erste Aussage der Bundesregierung. Das Grund, irgendjemanden für seine Aufklärungsarbeit zu hilft den Kindern nicht. loben, und schon gar nicht den Papst. Lesen Sie einmal, Meine Damen und Herren, ich erwarte, dass die für wie viele neue Fälle bei uns bekannt geworden sind. Familie und Kinder zuständige Ministerin jeden Tag (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber Leute vorlädt – ob aus dem Bereich Schule, ob aus dem nicht nur in der Kirche!) Bereich Heimaufsicht, ob aus dem Bereich der Träger dieser Internate oder Freizeiteinrichtungen –, nach Ber- Wenn Sie die internationale Presse lesen, zum Beispiel lin einlädt und von ihnen jetzt und hier ganz konkrete die New York Times, dann sehen Sie, welche Probleme Schritte fordert, zum Beispiel die klare Aussage: Ab so- auch die Kirche aufzuarbeiten hat. fort wird bei jedem Gerücht und jedem Verdachtsfall das Ich sage an dieser Stelle: Ich will, dass wir wirklich an unabhängige Dritte gegeben, und das geht auch sofort ganz klare Linien ziehen. Wenn es um den aktuellen an Polizei und Staatsanwaltschaft. – Republikweit so et- Schutz geht, dann gibt es nichts zu diskutieren. Sie kön- was zu organisieren, Frau Schröder, wäre Ihre Pflicht ge- nen an einem runden Tisch oder in einem anderen Gre- wesen als Reaktion auf die Hunderte von Vorfällen, die mium über einen Entschädigungsfonds und über die wir sehen und die wahrscheinlich nur die Spitze des Eis- Veränderung der Verjährungsfristen zum Beispiel im Zi- berges darstellen. Stattdessen wollen Sie es am runden vilrecht reden, aber Sie sind jetzt, nachdem Wochen ver- Tisch diskutieren. strichen sind, verpflichtet, endlich dafür Sorge zu tragen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass das falsche Verhalten, diese Wagenburgmentalität sowie bei Abgeordneten der SPD) und dieses Bestreben, die Institutionen zu schützen – egal ob katholische Kirche oder Reformpädagogik –, Ihre Aufgabe wäre gewesen, Vertreter der Länder vor- zuladen und dafür Sorge zu tragen, dass überall – in je- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aha!) 3152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Renate Künast (A) endlich ein Ende findet. Fakten klar und schonungslos zu benennen, über die viel (C) zu lange geschwiegen wurde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wissen eines: Der Bundestag muss Position be- Der nüchterne Begriff des sexuellen Kindesmiss- ziehen, und die Bundesregierung muss Position bezie- brauchs bringt nur vage auf den Punkt, worüber wir hier hen. Die Kinder und nicht der Papst oder andere öffentli- reden: In kirchlichen und weltlichen Einrichtungen sind che Institutionen brauchen unseren Schutz und unsere Kinder und Jugendliche über Jahre hinweg vergewaltigt, Unterstützung. Die Kinder brauchen einen Anwalt. misshandelt und gedemütigt worden. Diese Verbrechen haben Menschen begangen, denen die Kinder vertrauten, Die Opfer, die es schon gibt und die noch heute als die sie respektierten und gern hatten und von denen sie Erwachsene leiden, brauchen einen öffentlichen Bericht, sich Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung er- in dem ganz deutlich gesagt wird, was war. In den Fäl- hofften. Zu den Tätern gehörten Priester, Lehrer und Er- len, in denen Verjährung eingetreten ist, erleben die Opfer zieher. Zu den Verantwortlichen gehörten aber auch die- nicht mehr, dass sich eines Tages ein Richter erhebt und jenigen, die die Mauern des Schweigens aufgebaut und sagt: Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil. – Un- aufrechterhalten haben: durch Wegsehen, durch Vertu- sere Verpflichtung ist es, gegenüber diesen Opfern klar- schen, durch Banalisieren, aber auch zum Beispiel durch zumachen, dass es einen öffentlichen Bericht geben die Versetzung von Tätern in die nächste Schule, in die wird, in dem steht, was dort passiert ist, sodass die ge- nächste Gemeinde, in den nächsten Verein, wo sie es samte Gesellschaft dies aufnimmt. Sie haben das Recht, wieder mit Kindern zu tun hatten. dass sich solche Dinge ab heute nicht wiederholen kön- nen. Es gab aber auch couragierte Frauen und Männer, die ihre Verantwortung ernst nahmen. Stellvertretend für Ich bitte Sie inständig: Regeln Sie die Dinge, die viele nenne ich zum einen Pater Klaus Mertes, den Rek- heute zu regeln sind, und verschieben Sie sie nicht an ir- tor des Berliner Jesuiten-Gymnasiums Canisius-Kolleg. gendeinen runden Tisch oder an eine Kinderschutzbe- Er hat im Januar Berichte über sexuelle Übergriffe auftragte! Heute brauchen viele Kinder in diesem Land zweier Patres in den 70er- und 80er-Jahren öffentlich ge- unseren Schutz und unsere schützende Hand. Dies ist macht und damit die aktuelle Debatte erst ausgelöst. kein Delikt der Vergangenheit, sondern ein Delikt, das noch heute an Kindern begangen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich sage: Frau Ministerin, walten Sie endlich einmal Zum anderen nenne ich Margarita Kaufmann, die Di- Ihres Amtes, statt sich nur zu verstecken! (B) rektorin der Odenwaldschule in Hessen. Auch sie hat die (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorwürfe ehemaliger Schüler öffentlich gemacht und und bei der SPD) sich von Anfang an um Aufklärung und Aufarbeitung bemüht. Allen, die sich wie diese beiden in kirchlichen und weltlichen Einrichtungen um Wahrheit und Wahr- Vizepräsidentin Petra Pau: haftigkeit bemühen, gebührt unser Respekt, meine Da- Das Wort hat die Bundesministerin für Familie, Senio- men und Herren. ren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami- Jetzt geht es darum, so wie Margarita Kaufmann und lie, Senioren, Frauen und Jugend: Klaus Mertes Verantwortung zu übernehmen für das, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! was geschehen ist. Das sind wir den Opfern schuldig. Schockierendes war in den letzten Wochen über sexuel- Und es geht darum, alles in unseren Möglichkeiten Ste- len Missbrauch an Mädchen und Jungen in kirchlichen, hende zu tun, um sexuellen Missbrauch in Zukunft zu in weltlichen und in pädagogischen Einrichtungen zu le- verhindern. Das sind wir den Kindern schuldig, das sind sen und zu hören. Nicht weniger schockierend ist das wir aber auch den Eltern schuldig. Denn jede Mutter, je- Schweigen, das diese Verbrechen über viele Jahrzehnte der Vater wird sich doch jetzt fragen: Wie kann ich begleitet hat; denn durch dieses Schweigen wurden meine Kinder vor solchen Erfahrungen schützen? Die Mauern zementiert, hinter denen viele Kinder und Ju- aufrichtige Antwort muss lauten: Einen hundertprozenti- gendliche Pädophilen hilflos ausgeliefert waren und hin- gen Schutz gibt es nicht. Aber es gab in kirchlichen und ter denen manche der Betroffenen auch heute noch ge- weltlichen Einrichtungen offenbar Schutzräume für Pä- fangen sind. dophile, in denen Kindesmissbrauch lange unbemerkt Ich glaube, dass wir uns nicht im Geringsten vorstel- und ungestraft bleiben konnte. Solche Schutzräume dür- len können, welche Verletzungen Missbrauchserleb- fen wir nicht länger zulassen. nisse Kinderseelen zufügen und wie tief diese Narben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind, die ein Leben lang bleiben. Deshalb hat das Kabinett gestern die Einrichtung ei- Verantwortung zu übernehmen, bedeutet deshalb zu- nes runden Tisches beschlossen, der sich mit sexuellem nächst einmal, den Opfern Gehör zu schenken und die Missbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3153

Bundesministerin Dr. Kristina Schröder (A) befassen wird – auch in Familien. Wir wollen unserer bessere Zusammenarbeit zwischen Kinderärzten und Ju- (C) doppelten Verantwortung für Aufarbeitung und wirksa- gendämtern zu ermöglichen. men Kinderschutz gerecht werden: zum einen durch die Anerkennung des Leidens der Opfer und möglicher- Die Debatte über sexuellen Missbrauch, die wir hier weise notwendige rechtspolitische Folgerungen, zum an- führen, ist eine wichtige gesellschaftliche Debatte. Wir deren aber auch durch präventive Maßnahmen und ef- sollten diese Debatte – darum bitte ich Sie – immer auf fektive Interventionsmöglichkeiten. eine Art und Weise führen, die der Perspektive der Opfer gerecht wird. Dazu gehört auch, dass wir uns bei allen Diese Aufgaben kann kein Ressort alleine bewältigen. Meinungsunterschieden über den richtigen Weg gegen- Deshalb danke ich meinen Kolleginnen Frau Schavan seitig ein aufrichtiges Interesse an Aufarbeitung, Aufklä- und Frau Leutheusser-Schnarrenberger herzlich für die rung und Kinderschutz unterstellen. Dafür bitte ich Sie gute und enge Zusammenarbeit. Gemeinsam haben wir um Ihre Unterstützung. Umsetzungsvorschläge erarbeitet, die wir am runden Tisch unter Beteiligung aller relevanten gesellschaftli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie chen Institutionen und mit Unterstützung von Kinder- bei Abgeordneten der SPD) schutz- und Opferorganisationen zur Diskussion stellen und konkretisieren wollen. Vizepräsidentin Petra Pau: Zur Prävention schlagen wir unter anderem vor: Maß- Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz für die SPD- nahmen zur behutsamen Sensibilisierung und zur Stär- Fraktion. kung von Jungen und Mädchen – sie sollen Missbrauch erkennen und klar benennen können –, Maßnahmen zur (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sensibilisierung und Weiterbildung von Fachkräften und Eltern – sie sollen Indizien sexualisierter Gewalt erken- Olaf Scholz (SPD): nen und intervenieren können –, strukturelle Maßnah- Meine Damen und Herren! Mir geht es wie Ihnen und men wie die Überprüfung von Aus- und Fortbildungen, vielen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland: Wir aber auch Zulassungsbedingungen für pädagogisch täti- verfolgen atemlos, was alles an neuen Berichten bekannt ges Personal. wird. Jeden Tag, wenn man die Zeitung aufschlägt, Wir müssen aber auch direkt bei den Neigungen pä- Nachrichten hört oder im Fernsehen sieht, was berichtet dophiler Männer ansetzen. Vorbildlich sind hier die Pro- wird, denkt man: Das kann und darf in unserem Land jekte der Charité im Rahmen der Kampagne „Kein Täter doch nicht sein. – Aber es ist so. werden.“, die in den letzten Jahren – gemeinsam geför- (B) Deshalb gehört, finde ich, zu den Feststellungen, die (D) dert von Bundesjustizministerium und Bundesfamilien- uns leiten sollten, eine klare Aussage: Niemand darf des- ministerium – entwickelt wurden. Hier können sich halb, weil wir über lange zurückliegende Vorfälle disku- Männer konkret beraten und therapieren lassen, bevor tieren, den Eindruck haben, es handele sich um ein Pro- aus ihren pädophilen Fantasien pädophile Handlungen blem der Vergangenheit. Sexueller Missbrauch von werden. Kindern in Schulen und Einrichtungen kirchlicher oder Über diese präventiven Maßnahmen hinaus müssen weltlicher Art findet auch heute statt, und wahrschein- wir aber auch zusätzlich zum Strafrecht wirksame Inter- lich in viel größerem Umfang, als jeder von uns es wahr- ventionsstrategien erarbeiten. Dazu gehören zum Bei- haben will. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns um diese spiel klare Verhaltensregeln, die wir in Form von Selbst- Frage kümmern, und zwar nicht nur um gute Aufklärung verpflichtungserklärungen festlegen wollen. All das der Vergangenheit, sondern auch um Handlungsstrate- betrifft den künftigen Schutz von Kindern und Jugendli- gien, die jetzt notwendig sind. Ich glaube, wir sollten chen. das, was jetzt neu herauskommt, zum Anlass nehmen, dafür zu sorgen, dass die Dunkelfeldforschung in Diejenigen aber, die in den letzten Jahren und Jahr- Deutschland mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet wird, zehnten Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind, und zu versuchen, herauszufinden, wie groß das Ausmaß haben einen Anspruch auf umfassende Anerkennung ih- des Missbrauchs ist, über das wir nichts wissen, weil nie- res Leids. Deshalb freue ich mich, dass wir mit Frau mand darüber redet. Das muss jetzt dringend geschehen. Dr. Christine Bergmann eine erfahrene Fachfrau als un- abhängige Beauftragte gewinnen konnten. Sie bringt die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der für dieses sensible Thema richtige Mischung aus Finger- CDU/CSU) spitzengefühl und Durchsetzungsvermögen mit. Da- durch kann sie zum einen Ansprechpartnerin für die Op- Ich finde es gut, dass nach dem vielen Hin und Her, fer sexuellen Missbrauchs sein. Sie kann zum anderen von dem wir gehört haben, jetzt in der Regierung Einig- aber auch Vorschläge erarbeiten, wie Opfern materiell keit über die Bildung eines gemeinsamen runden Tisches und immateriell umfassend geholfen werden kann. besteht. Dabei muss eines klar sein – darin bin ich mir mit der Kollegin Künast einig –: Ein runder Tisch ist Einen Beitrag zur Prävention wird schließlich auch kein Ersatz für eigenes Handeln und eigene Politik. Die die geplante Reform des Kinderschutzgesetzes leisten, Regierung ist jetzt nicht suspendiert und darf warten, auf die ich hier nur am Rande eingehen kann. Unter an- was der runde Tisch macht; vielmehr muss sie jeden Tag derem geht es dabei um die Neuregelung der Befugnis- handeln. Denn die Probleme sind drängend und können norm für Berufsgeheimnisträger, um zum Beispiel eine nicht auf spätere Zeiten vertagt werden. 3154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Olaf Scholz (A) Selbstverständlich ist es richtig, dass man versucht, Handlungsinstrumente brauchen, die gerade für diese (C) möglichst viele einzubeziehen. Dass Sie die frühere Mi- Straftaten eine andere Form von Verjährung möglich nisterin Bergmann als Beauftragte für diesen Prozess mit machen, als das heute schon der Fall ist. einbezogen haben, ist ein guter Schritt, und zwar des- halb, weil sie eine gute Ministerin war, von der wir alle Deshalb sollte bei dem, was wir jetzt diskutieren, ge- wissen, dass sie gerade auf dem Feld der Bekämpfung schaut werden, ob wir – das wäre ein gewisser System- des sexuellen Missbrauchs viele gesetzliche und staatli- bruch zu dem Prinzip der Verjährung – in diesem Zu- che Initiativen auf den Weg gebracht hat. sammenhang eine regelhafte zwanzigjährige Verjährung auch für solche Straftaten möglich machen, die eigent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich schneller verjähren. Denn es muss möglich sein, der FDP) dass sich jemand später noch ein Herz fasst und sagt: Ich will, dass das jetzt diskutiert wird. – Auch muss für die Ich glaube aber, dass man dabei nicht stehen bleiben Täter klar sein, dass sie nicht nur kurze Zeit abwarten sollte, und habe mir nun sehr sorgfältig angehört, was müssen, bis Dinge nicht mehr verfolgt werden, die sie bei Ihren verschiedenen Bemühungen, miteinander klar- für harmlos halten, die für die Betroffenen aber eine zukommen, herausgekommen ist. Eine Frage scheint mir schwere Demütigung darstellen, die sie möglicherweise darüber aber vergessen worden sein, und deshalb stelle ein ganzes Leben lang nicht vergessen. Deshalb sollten ich sie hier: Haben Sie auch an das Parlament gedacht? wir auch darüber diskutieren, speziell im Zusammen- Selbstverständlich muss in diesem Kommunikationspro- hang mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern und zess nicht nur die Regierung mit irgendwem in der Welt Schutzbefohlenen, eine zwanzigjährige Verjährung re- reden, sondern eben auch mit dem Parlament. Deshalb gelhaft zu machen, die sicherstellt, dass alle Straftaten fordere ich Sie an dieser Stelle auf: Sorgen Sie dafür, möglichst ans Tageslicht kommen und immer wieder dass auch Abgeordnete des Deutschen Bundestages – al- neue Wellen dieses Prozesses dazu führen können, dass ler Fraktionen in diesem Parlament – an diesem runden eines Tages die Dunkelziffer bei diesem Problem kleiner Tischen teilnehmen können! geworden und nicht mehr so groß ist wie heute. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schönen Dank. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe gesagt: Wir müssen heute handeln. – Dies können und müssen wir durchaus in einer Kontinuität Vizepräsidentin Petra Pau: von Gesetzgebung und Problembewältigung tun, die in (B) Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Sabine (D) den letzten Jahren, gerade in den Regierungen von Rot- Leutheusser-Schnarrenberger. Grün und der Großen Koalition, stattgefunden haben. Deshalb noch einmal zur Erinnerung: Da ist ganz schön (Beifall bei der FDP) viel passiert. Das Strafmaß ist massiv heraufgesetzt wor- den. Viele, die früher ganz harmlos davongekommen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- sind, können dies heute nicht mehr, weil sich eben der ministerin der Justiz: Strafrahmen verändert hat. Wir haben auch dafür ge- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- sorgt, dass diese Taten nicht mehr so einfach verjähren legen! Mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs in können, wie es in der Vergangenheit der Fall war, indem Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in Institutionen wir sowohl die zivilrechtliche als auch, was noch wichti- privater und kirchlicher Art sowie im familiären Umfeld ger ist, die strafrechtliche Verjährung erst zu einem Zeit- muss man nicht nur sehr verantwortungsbewusst, son- punkt beginnen lassen, an dem ein erwachsener Mensch dern auch sorgfältig und ernst umgehen. Da helfen keine darüber entscheiden kann, was er mit den schrecklichen vordergründigen Vorschläge, dass jetzt die Bundesregie- Erlebnissen seiner Jugend in dieser Hinsicht machen rung anfangen solle, dass halbe Land vorzuladen und will. zum Rapport zu bitten. Aber wir lernen ja auch aus den jetzigen Berichten. Ich denke, Frau Künast, in Hamburg werden Sie sich Wir lernen, dass es sehr lange dauert, bis manche Debat- dafür eingesetzt haben, dass entsprechende Angebote ten und manche Ereignisse öffentlich und breit diskutiert gemacht werden, wie es gerade auch in Bayern, in der werden. Das ist in einer bestimmten Hinsicht sehr be- Bayerischen Staatsregierung geschieht. Es ist wichtig, merkenswert; denn es hat ja in großen Wellen immer dass nicht nur die Bundesregierung ihrer Verantwortung wieder neue Diskussionen über sexuellen Missbrauch gerecht wird. gegeben, die auch zu Konsequenzen sowie dazu geführt haben, dass sich flächendeckend viele melden und sa- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen: Ich bin ein Opfer dieser Taten gewesen und will, NEN]: Die Hamburger haben es schon ge- dass das jetzt endlich in Ordnung gebracht wird. – Aber macht! Danke für den Hinweis!) immer wieder gibt es neue Wellen. Deshalb glaube ich, – Dann hätten Sie einmal von den guten Beispielen be- dass dies ein fortschreitender Prozess von Aufklärung, richten können. von Problembewusstsein ist, der in der Gesellschaft stattfindet, dass dieser Prozess aber bestimmt noch lange (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht abgeschlossen ist, und ich glaube auch, dass wir NEN]: Die Zeit war zu kurz!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3155

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Wir sind froh über alle Anregungen und greifen sie Lage sind, Debatten zu diesem Thema führen; denn wir (C) gerne auf. wollen, dass gerade durch die Diskussion eine öffentli- che Debatte erzeugt wird, die dazu führt, dass in den In- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – stitutionen selbst für Änderungen gesorgt wird. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie habe ich gar nicht angegriffen! Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sind gar nicht das Problem!) der CDU/CSU) Eines ist doch auch selbstverständlich, liebe Kollegin- Um an dieser Stelle die katholische Kirche anzuspre- nen und Kollegen: Der runde Tisch – es gibt ja gute Vor- chen: Hier geht es auch um interne Richtlinien, die bis- bilder für die Wirkungskraft runder Tische; ich erinnere her nicht so klare Anweisungen enthalten haben; Vertre- in diesem Zusammenhang an die deutsche Einheit – ist ter der katholischen Kirche, gerade auch aus Bayern, die Möglichkeit, gesellschaftlich relevante Kräfte zu- haben jetzt aber Änderungen gefordert. Der runde Tisch sammenzubringen, um über zwei wichtige Bereiche zu kann hier Unterstützung geben und diesen Prozess beför- reden dern. Weder der runde Tisch noch das Parlament können (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aber die notwendigen Entscheidungen ersetzen, die von NEN]: Wir sind doch kein Land in Auflö- den Verantwortlichen in den Institutionen getroffen wer- sung!) den müssen. und dort zu Empfehlungen und Vorschlägen zu kommen. Wir können einen Beitrag leisten, indem wir Vor- Nie und nimmer kann dies aber die Arbeit der Regierung schläge unterbreiten, wie Strukturen so verbessert wer- und die wichtige Aufgabe des Parlaments ersetzen. den können, dass sich Kinder und Jugendliche, die sich in Abhängigkeitssituationen befinden, trauen, zu den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ansprechpartnern und Anlaufstellen zu gehen. In welch Die Diskussion unter den Beteiligten kann aber wichtige einer fürchterlichen Situation befinden sich diese jungen Anstöße geben. Man wird von den Vertretern der betrof- Menschen! Sie haben vielleicht Angst, sich an ihre El- fenen Institutionen fordern, nicht nur alles zu tun, damit tern zu wenden, weil sie befürchten, dort nicht ernst ge- weiter aufgeklärt wird, sondern auch eine Untersuchung nommen zu werden. Sie trauen sich nicht, sich an einen der Strukturen in den jeweiligen Einrichtungen vorzu- Lehrer zu wenden, weil sie nicht wissen, wie das in der nehmen, damit es zu Verbesserungen kommt, damit frü- jeweiligen Einrichtung – in der Schule, im Internat, im her aufgeklärt wird und Informationen früher an die Kloster, wo auch immer – behandelt wird. Sie brauchen Staatsanwaltschaft vor Ort weitergegeben werden. Wenn also externe Ansprechpartner. Wir benötigen also ver- die Informationen möglichst früh – sobald man Anhalts- trauensbildende Maßnahmen dieser Institutionen, damit (B) (D) punkte hat – weitergegeben werden, wenn nicht interne die jungen Menschen sehen: Wenn es hier zu sexuellem Untersuchungen eine frühe Weitergabe verhindern, dann Missbrauch kommt – er kann in unterschiedlichen For- haben wir die Chance, die Verantwortlichen wirklich zur men und mit unterschiedlicher Intensität stattfinden –, Rechenschaft zu ziehen. Es muss ein Ergebnis des run- gibt es, wenn sich die Betroffenen nicht trauen, sich den Tisches sein, zu entsprechenden Veränderungen bei gleich an die Polizei oder an die Staatsanwaltschaft zu den jeweiligen internen Strukturen zu kommen. wenden, vertrauliche Ansprechpartner und -partnerin- nen, die mit den Informationen so umgehen, wie es der (Beifall der Abg. Hans-Michael Goldmann Situation angemessen ist. – [FDP] und Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]) (Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP]) Herr Scholz, Sie haben die Frage angesprochen: Was Hier eine Struktur aufzubrechen, die das bisher nicht er- ist mit dem Parlament? Natürlich muss auch das Parla- möglicht hat, ist ein ganz wichtiges Anliegen des runden ment am runden Tisch vertreten sein. Die Parlamentarier Tisches. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir damit wirk- ergänzen die Vertreter von Organisationen und gesell- lich etwas bewegen können. schaftlich relevanten Einrichtungen, die eingeladen wer- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den. Meine Kollegin, Frau Schröder, hat schon eine ent- der CDU/CSU) sprechende Liste vorgelegt und den 23. April als Termin festgelegt; eine Einladung ist bereits herausgegangen. Wir werden natürlich Debatten führen, die schon in der Wir drei Ministerinnen, jeweils für einen Bereich zustän- Vergangenheit geführt worden sind. Ich war Anfang der dig, werden jetzt, nach dem Kabinettsbeschluss, den 90er-Jahre Justizministerin, als wir im Parlament die Re- Teilnehmerkreis des runden Tisches erweitern, weil der gelung verabschiedet haben, dass die Verjährungsfrist runde Tisch mehr Aufgaben bekommen hat. Er wird bei sexuellem Missbrauch erst mit dem 18. Lebensjahr über die Aufarbeitung der Vergangenheit – ein wichtiges des Opfers beginnt und abgestuft nach der Höhe der zweites Standbein –, die Durchsetzung des staatlichen Strafandrohung 10 und 20 Jahre beträgt. Strafanspruchs, rechtspolitische Folgerungen und mögli- Ich habe in den letzten Tagen viele Gespräche ge- che Rechtsänderungen debattieren. Selbstverständlich führt, sowohl mit Beauftragten von betroffenen Institu- muss auch das Parlament bei diesem runden Tisch ver- tionen, zum Beispiel des Jesuitenordens, als auch mit treten sein. Beauftragten und Verantwortlichen außerhalb dieser In- Wir werden hier unabhängig von dem, was der runde stitutionen, die sich schon jetzt mit diesem Thema befas- Tisch und die unabhängige Beauftragte zu leisten in der sen. In diesen Gesprächen kam immer wieder zum Aus- 3156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) druck, dass es für das Opfer am allerschlimmsten ist, chen Verfahren stellt und dass Kindern und Jugendlichen (C) wenn nach 20 oder 30 Jahren Informationen an die die Möglichkeit gegeben wird, diesen Weg zu wählen. Staatsanwaltschaft gehen, der mögliche Täter die Tat (Beifall bei der LINKEN) nicht zugibt, es zu einem Gerichtsverfahren und zur Be- weisaufnahme kommt, man sich auf konkrete Daten Ich möchte, ebenso wie es die Frau Ministerin getan nicht mehr einlassen kann, weil die Erinnerung einfach hat, meine Achtung vor den Menschen ausdrücken, die nicht mehr da ist, und dann der Sachverhalt nicht mehr ein Tabu gebrochen haben, indem sie dieses Thema an aufklärbar ist. Denn was bleibt dann? Es bleibt ein Op- die Öffentlichkeit gebracht und die ganze Gesellschaft fer, das zum zweiten Mal zum Opfer geworden ist, weil zum Hinschauen und hoffentlich auch zum Handeln ge- es das Gefühl hat, dass ihm trotz eines Gerichtsverfah- zwungen haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie rens keine Gerechtigkeit widerfährt. Das muss bei der viel Überwindung so etwas gekostet haben muss, wenn Debatte über die Länge und den Beginn von Verjäh- bisher die oberste Priorität der Schutz der Institutionen rungsfristen im strafrechtlichen Bereich immer mit be- war. Jetzt endlich setzt ein Umdenken ein und der Schutz rücksichtigt werden. Deshalb bin ich hier so zurückhal- der Kinder und Jugendlichen wird zur obersten Priorität. tend. Ich glaube, wir müssen vor allem alles daransetzen, Ich möchte diesen Menschen dafür meinen ausdrückli- dass frühzeitiger aufgeklärt werden kann. chen Dank aussprechen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- der CDU/CSU) neten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber es geht um sehr viel mehr. Es geht auch um die Frage: Wie gehen wir mit den Taten um, die verjährt Ich möchte aber nicht nur über die Kirche und die sind? Was können wir noch für die Opfer tun, wenn zi- jetzt zutage getretenen Fälle sprechen; denn sexuelle Ge- vilrechtliche Ansprüche verjährt sind? Eine vertrauens- walt an Kindern ist ein gesamtgesellschaftliches Pro- bildende Maßnahme könnte sein, dass die Verantwortli- blem. Die jüngst bekannt gewordenen Fälle machen chen laut und deutlich sagen, dass sie das Eintreten der deutlich: Es sind Vergehen von Erziehenden gegenüber Verjährung außer Acht lassen. Das könnte schon ein Kindern und Jugendlichen, die mit einem Missbrauch wichtiger Schritt sein. Aber natürlich sind weitere von Macht einhergehen. Hier werden Hierarchien und Schritte notwendig. Diese müssen zusammen mit den In- Strukturen genutzt, um diejenigen zu Opfern zu machen, stitutionen und den Verantwortlichen erörtert werden. die in einem Abhängigkeitsverhältnis, in einem Vertrau- Das kann einen Weg weisen und eine Perspektive eröff- ensverhältnis gestanden haben und die sich aus diesen nen. Strukturen nicht befreien konnten. Je hierarchischer und autoritärer eine solche Struktur aufgebaut ist, umso (B) Ich bin fest davon überzeugt, dass mit dem runden (D) leichter fällt es den Tätern, Opfer zu finden und diese zu Tisch und der Berufung einer unabhängigen Beauftrag- jahrelangem Schweigen zu bringen; denn hier ist die ten zwei gute Entscheidungen im Kabinett getroffen Macht ganz klar verteilt. Die Kinder sind die Ohnmäch- worden sind. Wenn wir hier ein gemeinsames Ziel ver- tigen. Sie haben in diesem Machtverhältnis die gerings- folgen, dann sollten wir uns darüber unterhalten, welche ten Möglichkeiten, sich zu wehren. Maßnahmen im Einzelnen getroffen werden müssen, aber nicht darüber streiten, ob ein runder Tisch richtig ist Ich spreche ganz bewusst nicht vom „Missbrauch von oder nicht. Kindern“, sondern von Machtmissbrauch; denn der Wort- Vielen Dank. gebrauch „Missbrauch von Kindern“ legt nahe, es gäbe einen richtigen „Gebrauch“ von Kindern. Das macht Kin- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der wieder nur zu Objekten. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Für die Fraktion Die Linke hat Diana Golze das Wort. Deshalb bitte ich gerade die Grünen, die die Aktuelle (Beifall bei der LINKEN) Stunde mit diesem Titel beantragt haben, diesen Sprach- gebrauch zu ändern. Es geht nicht um den sexuellen Diana Golze (DIE LINKE): Missbrauch von Kindern, sondern es geht um Macht- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- missbrauch und um Opfer. Mit einer solchen Formulie- nen und Kollegen! Gewalt an Kindern, auch und gerade rung werden Kinder wie Objekte behandelt, obwohl sie sexuelle Gewalt, ist ein Straftatbestand, der nicht zu ent- Subjekte sind. Das müssen wir als Gesetzgeber unter- schuldigen ist und der weder vertuscht noch verharmlost streichen. Ich fordere an dieser Stelle noch einmal die werden darf. Es hat mich wütend gemacht, wenn ich in Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. Wir den letzten Tagen gehört habe, dass die Kirche nur bei ei- müssen die Machtverhältnisse zugunsten der Kinder ver- nem erhärteten Verdacht einen Staatsanwalt eingeschaltet ändern. oder irgendwie auf den Rechtsstaat zurückgegriffen hat. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Das kann nicht sein. Ich sehe es so: Die Kirche ist Teil der neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Gesellschaft; sie will Teil der Gesellschaft sein. Dann GRÜNEN) müssen aber auch für ihre Mitglieder, für ihre Angestell- ten und für ihre Mitarbeiter dieselben Regeln gelten wie Kinder und Erwachsene müssen sich auf Augenhöhe für alle anderen. Dazu zählt, dass man sich rechtsstaatli- und dürfen sich nicht hierarchisiert begegnen. Kinder und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3157

Diana Golze (A) Jugendliche müssen dann aber auch ihre Rechte kennen. Ich finde, die Bundesregierung hat zügig gehandelt. (C) Das ist schon gesagt worden; ich möchte es aber noch ein- Die erste Konsequenz ist dieser runde Tisch. Man kann mal unterstreichen. Sie müssen ihre eigenen Grenzen und das kritisch sehen; man kann runde Tische im Allgemei- ihre Rechte kennen. Sie müssen damit umgehen lernen. nen für unzureichend halten. In diesem speziellen Fall Sie müssen wissen und darauf vertrauen können: Wann – das haben die Beiträge vorhin gezeigt – gibt es aber darf und muss ich Nein sagen, wenn meine Grenzen über- schon viele Vorschläge und viele Überlegungen, die im schritten werden? Das muss diesen Kindern klar werden. Vorfeld eingebracht wurden. Ich halte es sogar für eine Ganz egal, ob in der Familie, in der Schule oder im Sport- kluge Entscheidung, dass wir uns angesichts der Ernst- verein – wir hören regelmäßig von Vorfällen, in denen haftigkeit dieses Themas ganz bewusst auf eine andere Trainer übergriffig werden –: Kinder müssen ihre Rechte Art, als es sonst in Gesetzgebungsverfahren üblich ist, und ihre Grenzen kennen. auf einen runden Tisch mit verschiedenen Arbeitsgrup- pen eingelassen haben, um so zu versuchen, Lösungs- Um sich für ihre Rechte einzusetzen, brauchen sie vorschläge oder -ansätze dazu zu finden. schnell erreichbare Hilfen: Notrufnummern, möglichst bundesweit einheitlich, die überall bekannt sind und Es beschäftigen sich vier starke Frauen mit diesem überall veröffentlicht sind, wo am anderen Ende der Lei- Thema, drei amtierende Ministerinnen und eine ehema- tung gut geschultes Personal ist, wo man schnell Hilfe be- lige Ministerin. Ich glaube, dass die Chance groß ist, kommt. Dabei geht es auch um von den Institutionen un- dass in den Arbeitsgruppen, die vorwärtsgewandt straf- abhängige Hilfen. Natürlich spreche ich mich für den rechtliche Aspekte, aber auch rückwärtsgewandt As- verstärkten Einsatz von Schulsozialarbeitern aus. Aber pekte der Wiedergutmachung im Blick haben, gute Vor- wir brauchen auch Hilfe, die unabhängig von diesen In- schläge erarbeitet werden. Herr Kollege Scholz, stitutionen existiert. Stellen Sie sich folgende Situation natürlich bin auch ich der Auffassung, dass das Parla- vor: Das Kind sieht auf dem Schulhof den Lehrer, von ment dem nicht zusehen kann. Spätestens dann, wenn es dem es sich angefasst gefühlt hat, mit dem Schulsozialpä- darum geht, Ergebnisse bzw. Vorschläge in Gesetzes- dagogen sprechen. Diesen Schulsozialpädagogen spricht form zu gießen, muss das Parlament beteiligt werden. es doch nicht an, um ihn um Hilfe zu bitten. – Es muss also auch außerhalb der Institutionen verlässliche und be- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kannte Hilfe für die Kinder und Jugendlichen geben. NEN]: Was heißt „Beteiligung“? Hier wird es entschieden!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE – Wir werden es natürlich entscheiden. Wir werden uns GRÜNEN) sinnvollerweise auch im Vorfeld an der Diskussion be- (B) teiligen. (D) Klar ist: Für das gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und ihren bestmöglichen Schutz müs- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sen wir Ressourcen zur Verfügung stellen. Jugendämter NEN]: Wir beteiligen Sie auch!) – ich will es nur schlagwortartig ansprechen – dürfen nicht mehr nur als Feuerwehr fungieren, sondern müssen Die Rechtspolitiker der CDU/CSU und der FDP haben wieder agieren können. Sie brauchen Personal. Wir brau- sich schon den einen oder anderen Gedanken gemacht. chen Jugendeinrichtungen mit geschultem pädagogi- Ich glaube, wir sind auf einem sehr guten Weg, uns zu schen Personal. Wir brauchen Beratungsstellen, die nicht einigen und uns auch daran zu beteiligen. dem kommunalen Sparzwang unterliegen. Wir brauchen schlicht und ergreifend eine Gesellschaft, die ihre Verant- Die Bedeutsamkeit und die schwerwiegenden Fälle wortung übernimmt – auf allen Ebenen und vor allem von Kindesmissbrauch muss man nicht besonders er- dort, wo die Kinder sind. wähnen. Kindesmissbrauch findet überall statt, vorwie- gend im privaten Bereich. Es ist widerlich, was Kindern Vielen Dank. teilweise angetan wird. Selbst im sogenannten Arbeiter- und Bauernparadies – so schreibt Die Welt am 21. März – (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- hat es allein in Thüringen über 160 ehemalige Insassen neten der SPD) von sogenannten Jugendwerkhöfen gegeben, die sich wegen sexueller Übergriffe zu ihren Lasten gemeldet ha- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ben. Wir sehen also: Diese Taten finden überall und im- Das Wort hat der Kollege Michael Grosse-Brömer für mer statt. Deswegen ist es richtig, zu versuchen, deren die CDU/CSU-Fraktion. Zahl zu minimieren, sie frühzeitig aufzudecken und eine langfristige Belastung der Opfer zu vermeiden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Es wurden schon gute Projekte genannt, zum Beispiel das Projekt „Kein Täter werden“ der Charité. Meines Er- achtens würde es sehr viel Sinn machen, dass sich nicht Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): nur Berlin mit solchen Projekten beschäftigt, sondern Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Aktuelle Stunde, auch Hamburg, Frankfurt, Köln und München. Es ist ein beantragt von den Grünen, behandelt die Konsequenzen richtiger Ansatz, zu sagen: Wenn man Missbrauch ver- aus den zahlreich bekannt gewordenen Fällen sexuellen meiden kann, muss man sich gar nicht erst über Bestra- Missbrauchs. fung und Opferentschädigung unterhalten. 3158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Michael Grosse-Brömer (A) Das muss man aber gleichwohl tun, wenn Missbrauch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) stattgefunden hat. Deswegen sind wir der Auffassung Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. – das ist mittlerweile unstreitig –, dass es sinnvoll ist, die zivilrechtliche Verjährungsfrist zu verlängern. Es ist Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): nicht nur sinnvoll zu wissen, dass der Täter bestraft wird, sondern es ist auch sinnvoll zu wissen, dass man eine Das war in diesem Fall sicherlich sehr sinnvoll. Viel- Entschädigung für das erlittene Leid bekommt. So be- leicht können wir uns darauf verständigen, dass wir uns kommt man vielleicht die Kosten der Therapie erstattet auch diesmal annähern und für die Opfer gute Lösungen oder – was meines Erachtens noch wichtiger ist – sogar finden. In diesem Fall freue ich mich auf die Zusammen- Schmerzensgeld aufgrund dieser massiven Eingriffe in arbeit. die körperliche und seelische Integrität. Herzlichen Dank. Die CDU/CSU-Fraktion ist der Auffassung, dass man (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Täter in genügendem Maße abschrecken muss. An- gesichts dieser abscheulichen Form der Kriminalität hal- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ten wir es zudem für sinnvoll, diese Form des Miss- brauchs endlich als das zu bewerten, was es ist, nämlich Nächste Rednerin ist Marlene Rupprecht für die SPD- als ein Verbrechen. Das ist ein Teil der Gesamtstrategie; Fraktion. aber auch über den strafrechtlichen Aspekt der Abschre- (Beifall bei der SPD) ckung sollte nachgedacht werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): der FDP) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema „sexu- Aus meiner Sicht muss man über eine Verlängerung eller Missbrauch“ oder „sexualisierte Gewalt gegen Kin- von Fristen auch im strafrechtlichen Bereich nachden- der“ eignet sich wirklich nicht für Parteipolitik, nicht für ken; Herr Kollege Scholz hat das auch angesprochen. Populismus und auch nicht für kurzfristige Schlagzeilen. Dabei gibt es eine gewisse Diskrepanz, vielleicht auch Das Thema bedarf ganz großer Ernsthaftigkeit und Hart- eine gewisse Problematik, die darin besteht, dass sich näckigkeit; denn es geht um die Zerstörung von Kindern – manche nicht offenbaren können. Strafrechtlich gesehen ihrer Körper, ihrer Seelen und ihres ganzen Lebens. Da- gibt es das Problem der Aufklärung nach langer Zeit. rum geht es. Deshalb erwarte ich große Ernsthaftigkeit. Persönlich beim Opfer besteht das Problem, dass man (B) nicht sofort in der Lage ist, sich zu offenbaren, erst recht Die Menschenrechte gelten überall – so sind sie fest- (D) nicht, wenn man noch ein Kind ist und missbraucht gelegt – und für jeden Menschen, auch für unsere Kin- wurde. der. Niemand auf dieser Welt – das muss man sich täg- lich sagen – hat das Recht, die Rechte eines Kindes zu Da wir in der vergangenen Woche auch über dieses missachten. Weder in Familien noch im Bekanntenkreis, Thema diskutiert haben und die Grünen Antragsteller in Vereinen oder in irgendeiner Institution duldet die De- dieser Aktuellen Stunde sind, möchte ich abschließend mokratie Menschenrechtsverletzungen, weder in Kir- Folgendes sagen: Herr Kollege Montag hat erwähnt, chen und kirchlichen Einrichtungen noch in Reform- dass Rot-Grün nach dem Regierungswechsel 1998 nichts pädagogikschulen oder sonst irgendwo. Die Straftaten, Eiligeres zu tun gehabt habe, als ein veraltetes und täter- über die wir derzeit öffentlich reden, wurden in Institu- freundliches Sexualstrafrecht zu verschärfen. Im An- tionen begangen, in Schulen und Internaten. Diese bilde- schluss an die vergangene Sitzung habe ich mich schlau- ten mit ihrem geschlossenen System den Schutzraum gemacht: In Wahrheit war es so, dass die Reform erst und den Nährboden für die Täter, die hier ihren Neigun- einmal gar nicht stattfand, sondern fünf Jahre nach dem gen nachgehen und diese ausleben konnten, ohne Konse- Regierungswechsel, nämlich im Jahr 2003, und zwar quenzen befürchten zu müssen. Das ist das System, nach auch deshalb, weil der Bundesrat und die CDU/CSU- innen abgeschottet. Fraktion über Jahre hinweg eigene, zum Teil wesentlich Wir alle können hier nicht versprechen, dass es nie schärfere Gesetzentwürfe vorgelegt haben, die zum Bei- mehr Kinderschänder geben wird. – Ich benutze bewusst spiel von den Grünen abgelehnt wurden. Ich zitiere ab- dieses Wort und nicht ein griechisches oder ein sonstiges schließend aus der Beschlussempfehlung des Rechtsaus- Fremdwort, weil ich denke, dass es eindeutig und klar schusses dazu: ist. Das sind Kinderschänder, und da gibt es kein Pardon. – Was wir aber versprechen müssen, ist, dass wir alles tun Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hob hervor, werden, um den Tätern den Schutzraum zu nehmen, da- dass die parlamentarischen Debatten um die Re- mit sie nicht unentdeckt bleiben. form des Sexualstrafrechts als ein offener Dialog geführt worden seien. Es stimme, dass sich die Ko- Was muss also getan werden? Wir fangen bei der Be- alition in einigen Punkten nach der Anhörung und kämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuali- der notwendigen Abwägung der juristischen … Ar- sierten Gewalt nicht bei null an. Das sollten wir sehen. gumente der Position der Union angenähert habe. Wir haben Aktionspläne geschrieben; wir haben eine Im Laufe dieser Diskussion habe es auch Positionen Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet, die immer gegeben, die man nicht mehr vertrete. noch existiert und in der Vertreter des Bundes, der Län- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3159

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) der und von Nichtregierungsorganisationen sind. Wir Thema sehr ernsthaft zu nähern, und dass das in dieser (C) brauchen eine rückhaltlose Aufklärung aller Fälle. Aktuellen Stunde gut gelungen ist. Sie weisen zu Recht darauf hin, dass dieses Thema parteiübergreifend ange- Ich erwarte von den Tätern und den Institutionen, gangen werden muss und dass es für dieses Thema keine dass sie sich klar und eindeutig zu ihrer Schuld bekennen schnellen Lösungen gibt. und dass sie sich für dieses Unrecht entschuldigen. In der Bibel heißt es: Als ich mich gestern Nachmittag auf diese Aktuelle Eure Rede aber sei: ja ja; nein nein. Was darüber ist, Stunde vorbereitet habe, ist mir eine dpa-Meldung in die das ist von Übel. Hände gekommen, aus der ich kurz zitieren will: Diese Klarheit erwarte ich von den Institutionen, egal Die Mutter der Mädchen hatte ihren Bekannten öf- von welcher. Ich erwarte auch, dass sie alles unterneh- ter auf die Kinder aufpassen lassen. Als sie den men, die geschlossenen Systeme aufzubrechen, um die Missbrauch bemerkte, ließ sie den Mann nicht mehr ihnen anvertrauten Kinder vor Gewalt zu schützen. Und: in die Wohnung, zeigte ihn aber nicht an. Alle Opfer brauchen die notwendige Unterstützung, um ihre Traumatisierungen zu verarbeiten. Das gilt auch für Das ist die Situation. – Wenn wir versuchen, nach Ant- diejenigen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen. Auch worten zu suchen, dann kommt es darauf an, dass wir diese Opfer haben ein Recht darauf. uns die richtigen Fragen stellen. Diese Fragen müssen uns auch im Zusammenhang mit der katholischen Kirche Wir müssen die seit Jahren begonnene Arbeit zum beschäftigen. Sie erschrecken uns. Die Fragen lauten: Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung und Miss- Wie lange dauert es, bis ein Opfer den Weg nach drau- brauch fortsetzen. Hier ist wirklich viel getan worden. ßen findet? Warum liegen die Fälle des Missbrauchs 10, Dabei geht es nicht um Parteipolitik, nicht darum, wer 20 und mehr Jahre zurück, bevor die Opfer den Mut fin- was mehr gemacht hat. Das Thema ist schon lange in der den, sich zu öffnen und die Tat, die an ihnen verübt wor- Politik angekommen. Wir haben sowohl im Strafrecht den ist, bekannt zu machen? und im Jugendhilferecht als auch in der Öffentlichkeit sehr viel dafür getan. Wenn der runde Tisch dazu bei- Wenn man sich die Fragen so stellt, wird man eine trägt, die Aufgaben der Aufarbeitung und der Hilfe für Antwort in erster Linie im Bereich der Prävention su- die Opfer, soweit möglich, zu erfüllen – wir können die chen müssen. Das Projekt „Kein Täter werden“ der Cha- Taten nicht ungeschehen machen –, wenn wir für die Zu- rité in Berlin ist schon angesprochen worden. Es gibt ein kunft lernen, dann hat der runde Tisch einen Sinn, aber vergleichbares Projekt an der Universität Kiel und ein nur dann. ähnliches an der Universität . Die Projekte wenden sich an potenzielle Täter, also an Pädophile, die (B) Was wir nicht machen dürfen, sind leere Versprechun- (D) gen und großes Getöse. Ich verspreche, mich im parla- noch keine Tat verübt haben, um sie zu therapieren. Ich mentarischen Raum und außerhalb im Sinne der Betrof- halte es deswegen für wichtig, dass sich der runde Tisch fenen und aller Kinder ernsthaft, ehrlich und offen dafür mit der Frage beschäftigt, wie wir dieses Projekt auch an einzusetzen, dass wir an diesem Thema arbeiten und ih- anderen Universitäten, die ähnliche Lehrstühle haben, nen Schutz gewähren. Das erwarte ich übrigens vom etablieren können, um ein Angebot zu schaffen; denn ganzen Haus. Das erwarte ich von jedem Mitglied dieser das Besondere an dem Angebot ist die Anonymität. Gesellschaft. Wenn wir sehen, dass ein Kind von Gewalt Wenn wir in diese Richtung denken, dann müssen wir betroffen bzw. Gewalt ausgesetzt ist, dann müssen wir auch in Richtung der Opfer denken. Wir müssen – das ist – ich, Sie, wir alle – hinsehen, handeln und helfen. So eine Aufgabe, die wir als Parlament an den runden Tisch – „Hinsehen. Handeln. Helfen!“ – hieß übrigens im bringen müssen – uns die Frage stellen, ob wir nicht April 2004 die erste Kampagne in diesem Bereich. Mil- auch ein Projekt mit der Überschrift „Kein Opfer wer- lionen Menschen haben sie mitbekommen. Ich hoffe, den“ brauchen. Das ist sicherlich etwas unglücklich for- dass wir sie fortsetzen können. Ich mache mich dafür muliert; denn wenn ein Mensch, ob Junge oder Mäd- stark. chen, in die Situation kommt, missbraucht zu werden, Wenn Sie in diesem Sinne handeln, dann haben Sie dann ist er schon ein Opfer. Aber die Opfer müssen ei- mich, sehr verehrte Ministerinnen, an Ihrer Seite. Ich nen Ausgang finden, weil sie sich in der Situation befin- kämpfe gern dafür, dass wir einen Riesenschritt im Sinne den – das wurde bereits angesprochen –, dass der Täter der Kinder und der Betroffenen vorwärts machen. aus demselben sozialen Netzwerk kommt: Er kommt aus der Familie, er ist, wie ich es eben vorgelesen habe, der Danke schön. Bekannte der Mutter, er ist der Lehrer, in der Kirche der (Beifall im ganzen Hause) Priester oder möglicherweise auch der Lehrer. Tatsache ist auch, dass Dritte, die diese Taten be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: obachten, nicht unmittelbar die Kraft und den Mut fin- Christian Ahrendt hat das Wort für die FDP-Fraktion. den, sich dieser Situation zu stellen. Deswegen müssen wir nach geeigneten Stellen suchen – ähnlich wie bei den Christian Ahrendt (FDP): Projekten der Charité, in Kiel oder in Regensburg –, an Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten die sie sich wenden können, um ihre Beobachtungen Kolleginnen und Kollegen! Frau Rupprecht, ich glaube, oder möglicherweise ihren eigenen Missbrauch vortra- dass wir alle in dieser Stunde versuchen, uns diesem gen zu können, um Hilfe und Beratung zu erhalten. Da- 3160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Christian Ahrendt (A) mit öffnen wir eine Tür, damit die Menschen aus diesem schonungslos aufzuklären, haben uns die Medien ein (C) Problembereich herauskommen. Schauspiel von drei Ministerinnen, von drei – Zitat – „starken Frauen“ geliefert. Das war ein Schauspiel, in Wir müssen uns auch die Frage stellen: Was müssen dem sie sich gezankt haben, in dem sie Zwistigkeiten wir im Strafrecht tun, um die vorhandenen Instrumente hatten und in dem nicht klar war, wer welche Kompeten- stärker auf Prävention auszurichten? Es kann doch nicht zen hat. Sie haben Parteipolitik gemacht. Sie haben Res- sein, dass jemand, der zum ersten Mal mit 1,6 Promille sortinteressen vertreten. Sie haben einzelne Interessen- im Verkehr unterwegs ist, nach einem Jahr seinen Füh- gruppen geschützt und gedeckt. Sie haben uns ein rerschein nicht wiederbekommt, ohne eine sogenannte Schauspiel geliefert, und Sie haben sich nicht den drän- MPU, eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung, genden Fragen gestellt. Das müssen Sie sich vorwerfen gemacht zu haben, während wir im Strafrecht die Situa- lassen. tion haben, dass – wenn niedrige Freiheitsstrafen, nied- rige Geldstrafen, überhaupt Strafen unter zwei Jahren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verhängt werden – die Maßregeln, die wir im Strafrecht zur Verfügung haben, um den Täter zu einer Therapie zu Frau Leutheusser-Schnarrenberger, vieles von dem, bewegen, nicht genügend angewendet werden. Das was Sie gesagt haben, habe ich sehr geschätzt. Aber Strafrecht bietet gerade bei Tätern, die im Bereich der wenn Sie sich heute hier hinstellen und sagen: „Wir ho- Kinderpornografie ihre „Täterkarriere“ beginnen, einen len uns Anregungen vom runden Tisch“, dann sage ich durchaus sinnvollen Ansatz – eine Ordnung in der Struk- Ihnen: Sie waren doch schon einmal viel weiter. Sie wa- tur in der Maßregel, was eine therapeutische Behandlung ren auch bei Ihren Forderungen schon viel weiter. Wa- als Auflage in einem Urteil angeht –, um zu Ergebnissen rum stehen Sie nicht dazu? Sie haben doch schon einmal zu kommen und weiterhin einen präventiven Schutz zu genau das Richtige gefordert. Sie haben gesagt: Wir gewährleisten. brauchen eine Aufarbeitung der Verbrechen. Das brau- chen wir. Dafür reicht ein runder Tisch aber nicht aus. Ausgehend von der Frage, die ich aufgeworfen habe, Wir brauchen unabhängige Stellen. Auch das haben Sie sind das mögliche Antworten. Viele andere Ansätze sind einmal gefordert. Stehen Sie doch dazu. Das ist richtig. heute genannt worden. Es liegt eine Diskussion vor uns, Wie soll denn der runde Tisch funktionieren? An einem die von den Ergebnissen des runden Tisches wesentlich runden Tisch, ohne klare Kompetenzen, sollen sich die beeinflusst werden wird. Ich glaube, wir alle haben die Betroffenen selbst analysieren und sich selbst kritisie- Ernsthaftigkeit, um am Ende die richtigen Entscheidun- ren? Sie sollen selbst schauen, was bei ihnen in die Brü- gen zu treffen, um auf die Frage, wie wir den Miss- che gegangen ist, was bei ihnen falschgelaufen ist? Das brauch von Kindern erfolgreich bekämpfen, eine gute wissen Sie doch. Sie waren doch schon viel weiter. Set- Antwort zu geben. (B) zen Sie sich doch durch. Lassen Sie sich doch nicht ein- (D) Danke schön. lullen von Ihren Kollegen, und lassen Sie sich auch nicht einreden, ein runder Tisch sei der richtige Ort, um so et- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie was aufzuarbeiten. bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir brauchen diese Anregungen nicht. Wir brauchen Ekin Deligöz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü- eine schonungslose Aufklärung. Wir müssen herausbe- nen. kommen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass so etwas passiert ist, welche Umstände dazu geführt ha- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben, welche Rahmenbedingungen das ermöglicht haben Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und was wir tun können, damit so etwas in Zukunft in Der Missbrauch von Kindern, insbesondere in Institutio- dieser Form nicht wieder vorkommt; denn wir brauchen nen, ist ein abscheuliches Verbrechen. Darin sind wir uns mehr als Aufklärung. einig. Wir dürfen das nicht bagatellisieren. Wir dürfen das nicht verharmlosen, indem wir sagen: Das gab es Es ist immer noch nicht ganz klar, was Sie mit dem schon immer und wird es auch immer geben. Ich glaube, runden Tisch erreichen wollen. Einen Rechercheauftrag auch darin sind wir einer Meinung. Das Parlament steht gibt es nicht. Einen Analyseauftrag, einen Ermittlungs- in der Mitverantwortung, wenn es darum geht, Kinder zu auftrag gibt es nicht. Es ist überhaupt nicht klar, wer was schützen. Auch darin wäre ich gerne mit Ihnen einer wie veröffentlichen soll oder wird. Meinung. Noch eines ist anzumerken, wenn man nach vorne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaut – das sage ich gerade der CDU/CSU-Fraktion, die sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- immer gesagt hat: „Kinderrechte sind in der Verfassung KEN) schon verankert. Deshalb brauchen wir sie nicht noch einmal aufzunehmen“ –: Nehmen Sie diesen Auftrag Wenn man in den vergangenen Tagen und Wochen die ernst, und sagen Sie, dass es hier auch um Kinderrechte Berichterstattung der Medien verfolgt hat, konnte man geht, dass wir das in den Vordergrund stellen. das nicht wirklich herauslesen. Was haben die zuständi- gen Ministerinnen dazu beigetragen? An dem Punkt, an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem man geradezu erpicht darauf war, zu handeln, die sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dinge beim Namen zu nennen, nichts zu vertuschen und Diana Golze [DIE LINKE]) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3161

Ekin Deligöz (A) Dann agieren Sie doch auch so. Nehmen Sie sich selbst mit allen Fraktionen im Bundestag an einem Strang zie- (C) beim Wort. Davon ist leider nichts, aber auch gar nichts hen würden. zu spüren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Schröder, Sie sagen, dass es keine Schutzräume für Pädophile geben soll. Konkretisieren Sie das: Was Seitdem der Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin an meinen Sie damit? Wie soll das aussehen? Wie wollen die Öffentlichkeit gegangen ist – das ist auch von Minis- Sie das verhindern? Was sind Ihre Antworten? Sagen Sie terin Schröder angesprochen worden –, vergeht kein uns nicht Sachen, die sowieso jeder weiß und jeder Tag, an dem nicht weitere Fälle bekannt werden, in de- kennt. Sagen Sie uns, wie Ihre Vorstellung aussieht, wie nen Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Es Sie handeln wollen. Wir wollen Sie handeln sehen. Wir ist wichtig, in dieser Debatte anzusprechen, dass nicht wollen Sie nicht nur reden hören. Wir wollen auch nicht, eine einzelne Gruppierung dafür verantwortlich ist. dass Sie lavieren. An diesem Punkt haben wir die Ver- Diese Misshandlungen, dieser Missbrauch, diese unter- antwortung, im Parlament und in der Regierung. lassene Hilfe für die Opfer findet nicht nur in kirchlichen Einrichtungen statt, sondern auch in weltlichen, in Inter- Wir lassen viele Opferverbände alleine. Wir können naten, in Schulen, in Sportvereinen, und leider Gottes nicht nur die Charité unterstützen, sondern müssen auch eben auch in Familien. Wildwasser und Zartbitter unterstützen. Das sind viele Frauen, die Tag für Tag mit den Opfern arbeiten. Auch Es ist auch angesprochen worden, dass diese Taten, sie kommen in unseren Debatten nicht vor. die hier jetzt ans Tageslicht kommen, schon sehr viele Jahre zurückliegen, weil die meisten Opfer aus Scham (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: geschwiegen haben. Diejenigen, die gesprochen haben, Kinderschutzbund!) haben oft sehr schnell wieder geschwiegen, weil ihnen in Auch Kinderschutzbund und Kinderschutzhäuser müs- vielen Fällen nicht geglaubt wurde. Durch dieses sen Sie einbeziehen. Sie fühlen sich im Moment allein- Schweigen und Wegsehen wurde großes menschliches gelassen. Sie fühlen sich im Stich gelassen. Leid verursacht. Aus falsch verstandener Sorge um den Ruf der Schule, des Vereins, der Kirche, aber auch aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Angst vor Skandalen hat man die Opfer alleingelassen. Unser Auftrag lautet: schonungslose Aufklärung und konsequenter Schutz von Kindern, und das ohne Wenn Ich bin sehr dankbar, dass das Verschweigen und und Aber, ohne Lavieren, nicht mit unverbindlichen run- Wegsehen ein Ende hat und dass eine Enttabuisierung den Tischen, sondern mit einem klaren Handlungsauf- stattfindet, und zwar so, dass sich jedes Opfer melden trag. Das fordern wir von Ihnen ein. und sagen kann, dass es ihm passiert ist, ohne damit (B) rechnen zu müssen, in eine Ecke gestellt und mit komi- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen Begriffen tituliert zu werden, leider Gottes auch sowie bei Abgeordneten der SPD) vor Gericht. Diese Enttabuisierung findet endlich statt. Frau Künast, wenn Sie die Ministerin kritisieren und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sagen, sie hätte hier eine eigene Regierungserklärung ab- Die Kollegin Dorothee Bär hat jetzt das Wort für die geben müssen, dann müssen Sie doch feststellen, dass Unionsfraktion. sogar die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auf das Thema Bezug genommen und zum Thema Miss- brauch Stellung genommen hat. Ich denke, höher ange- siedelt als bei der Bundeskanzlerin ist das in diesem Dorothee Bär (CDU/CSU): Land nicht möglich. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben heute (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine Aktuelle Stunde, der es meines Erachtens nicht an neten der FDP – Renate Künast [BÜND- Ernsthaftigkeit gefehlt hat – egal wer ans Rednerpult ge- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Etwas tun! Nicht nur treten ist, ob Herr Scholz, Frau Golze oder Frau einen Satz sagen, der Papst sei gut!) Rupprecht. Auch die Beiträge der Kolleginnen und Kol- legen von den Oppositionsfraktionen waren sehr kon- Die Bundeskanzlerin hat gesagt – ich zitiere –: Klarheit struktiv. und Wahrheit sind das, was die Opfer, aber auch die Ge- sellschaft als Ganzes brauchen. – Nur so können Über- Deswegen verstehe ich ehrlich gesagt nicht, warum griffe in der Zukunft verhindert werden. Sie, Frau Künast und Frau Deligöz, so viel Redezeit da- für verwenden, zu sagen, was Sie alles nicht in Ordnung Wir alle wissen, dass es besonders perfide ist, dass es finden, warum Sie meinen, die Ministerinnen an dieser in der Regel Vertraute sind, die die Opfer angreifen. Es Stelle vorführen zu müssen. sind Lehrer, es sind Sporttrainer, es sind Chorleiter, nahe Verwandte und Bekannte. Mit dieser Tat werden nicht (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nur die Körper zerstört, sondern auch das Vertrauen, die NEN]: Weil es einen Anlass dafür gibt! Ma- Unbeschwertheit, die Unbefangenheit und das ganze Le- chen Sie es besser!) ben dieser Kinder. Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt Die Debatte ist dafür viel zu ernst. Ich würde mich diese Transparenz und Offenheit haben. Die Idee der freuen, wenn die Grünen bei diesem Thema gemeinsam Bundesregierung – die drei Ministerinnen wurden ange- 3162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dorothee Bär (A) sprochen –, einen runden Tisch zu installieren, ist gut. Kindheit preiszugeben. Oft kommt der Missbrauch erst (C) Ich begrüße das sehr. wesentlich später als nach 20 Jahren heraus. Ich habe in meinem eigenen Wahlkreis erlebt, dass manche Opfer Wir müssen den Opfern natürlich auch materiell hel- erst nach 30 Jahren in der Lage sind, – fen – Schmerzensgeld ist angesprochen worden –, aber Geld ist nicht das Einzige, und mit Geld kann kein Leid aufgewogen werden. Aber oft ist es so – auch das muss Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: man hier feststellen –, dass die Berufsbiografien von Op- Frau Kollegin! fern, die sich nach Jahren oder Jahrzehnten melden, so zerstört sind, dass Geld wichtig ist, damit sie sich bei- Dorothee Bär (CDU/CSU): spielsweise durch Fortbildungen oder Weiterbildungen – über den Missbrauch zu sprechen. Ich finde es gut, die Möglichkeit schaffen können, eine neue berufliche dass wir alle Fraktionen an unserer Seite haben, wenn Existenz aufzubauen. Das erleben wir sehr oft. wir uns dieses Themas annehmen. Wir müssen natürlich die Kinder sehr starkmachen; Danke schön. das ist klar. Die Verbesserung der Möglichkeiten für Op- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fer, sich jemandem anzuvertrauen, ist angesprochen worden. An dieser Stelle muss eine stärkere Sensibilisie- rung stattfinden, sodass hauptamtliche und ehrenamtli- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: che Mitarbeiter fortgebildet werden und dass über Stra- Die Kollegin Sonja Amalie Steffen hat jetzt das Wort tegien gesprochen wird. Wir brauchen natürlich auch für die SPD-Fraktion. Rahmenbedingungen, die es den Tätern erschweren, (Beifall bei der SPD) neue Opfer zu finden. Deswegen müssen zunächst die Berufe, aber auch die Ehrenämter identifiziert werden, Sonja Steffen (SPD): bei denen potenzielle Täter sehr nah an Opfer herankom- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und men. Wir haben schon über das erweiterte Führungs- Kollegen! Meine Damen und Herren! Eine ungeheure, ja zeugnis für den Bereich Jugend- und Bildungsarbeit ge- eine ungeheuerliche Zahl von Missbrauchsfällen in ka- sprochen, das künftig zur Pflicht werden soll, damit ein tholischen Einrichtungen, Klöstern, Schulen, Chören ist auffällig gewordener Lehrer, Übungsleiter oder Trainer bekannt geworden, der Strom der schlechten Nachrich- keine weitere Anstellung bekommt, bei der er mit Kin- ten reißt nicht ab, und auch ehemalige Schüler einer re- dern und Jugendlichen arbeitet. formpädagogischen Schule sind betroffen. Dass die Taten jetzt öffentlich werden, hat den positi- Hinter den nun aufgedeckten Missbrauchsfällen ste- (B) ven Nebeneffekt, dass jetzt mehr Opfer den Mut fassen (D) hen Einzelschicksale, die alle eines gemeinsam haben – deswegen werden jetzt jeden Tag neue Fälle bekannt –, – das ist vorhin schon angesprochen worden –: Alle Tä- sich zu melden. Alle haben realisiert, dass es sich nicht ter kamen über die Strenge und die Autorität zu ihren Ta- um Einzelfälle handelt, sondern um ein Kartell des Weg- ten. Zuerst wurde die hierarchische Stellung benutzt, um schauens, des Schweigens und des Bagatellisierens, das die Integrität der Kinderkörper durch Schlagen und diesen Missbrauch über viele Jahre erst ermöglicht hat. Züchtigen zu verletzen, dann durch sexuellen Miss- Der runde Tisch ist wichtig und richtig, auch auf- brauch. Die Hand, die schlug, wurde zur Hand, die strei- grund der aktuellen Debatte. Meiner Kollegin Miriam chelte, wo sie wollte, und sich griff, was ihr beliebte. Gruß und mir ist es auch ganz wichtig – an dieser Stelle Schließlich wurde sie zur Hand, die Jahre, oft sogar Jahr- sind wir Koalitionsfraktionen uns einig –, dass wir paral- zehnte Vorwürfe abwehrte. lel dazu weiter mit Hochdruck, wie versprochen, am In der Vergangenheit haben wir gerade im Sexual- Kinderschutzgesetz arbeiten. Auch das ist zum Teil der strafrecht bedeutende Erfolge erzielt. Diese Erfolge sind aktuellen Debatte geschuldet. Nichts darf unversucht zum größten Teil der rot-grünen Regierung zu verdan- bleiben, um im Vorfeld präventiv so tätig zu sein, dass ken. Mit der 2004 in Kraft getretenen Gesetzesnovelle wir in Zukunft nicht mehr so viel mit Aufarbeitung zu wurden bereits erhebliche Strafverschärfungen im Be- tun haben werden. Wir wollen verhindern, dass so viele reich der sexuellen Gewalt gegen Kinder und gegen wi- Fälle überhaupt stattfinden können. Das ist ein ganz derstandsunfähige Personen beschlossen. wichtiger Schritt. Aus der Praxis wissen wir jedoch, dass es oft sehr Herr Scholz hat bereits das Thema Verjährungsfristen lange dauert, bis Missbrauchsopfer in der Lage sind, die angesprochen. Straftat anzuzeigen; die aktuellen Fälle machen dies er- neut auf schockierende Art und Weise deutlich. Erst Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wenn die Opfer über das Geschehene reden, in Therapie Frau Kollegin. gehen und verdrängte Bilder zulassen, kommen viele zu dem Schluss, dass der Missbrauch geahndet werden Dorothee Bär (CDU/CSU): muss. Ich weiß; das ist der letzte Satz. – Herr Scholz, über In Ländern wie Kanada oder Großbritannien müssen die Verjährungsfristen sollten wir uns wirklich in Ruhe Sexualstraftäter mit lebenslanger Strafverfolgung rech- unterhalten, weil bei vielen Betroffenen oft noch nach nen. Rechtsanwälte und Opferschutzorganisationen in 20 Jahren keine Bereitschaft besteht, etwas aus ihrer diesen Ländern stellen eine erhebliche Verbesserung der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3163

Sonja Steffen (A) Strafverfolgung fest, auch deshalb, weil der Zeitdruck Es ist unsere Aufgabe, unsere Kinder stark zu machen. (C) bei der Beweisbeschaffung wegfällt. Wir müssen alles dafür tun, dass dieses Engagement auf eine breite gesellschaftliche Basis gestellt wird. Denn es Auch im deutschen Strafrecht ist eine Korrektur der ist zu bedenken: Die Opfer sexueller Gewalt bekommen regelmäßigen Verjährungsfrist bei sexuellem Miss- immer lebenslänglich. brauch geboten. Nach unserem gegenwärtigen Recht ruht die Verjährung bei Sexualstraftaten, bis das Opfer Vielen Dank. 18 Jahre alt geworden ist; das ist, wie ich denke, eine Reform, die wirklich sehr gut war. Jedoch ist die Zeit, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die dem Opfer dann bleibt, um die Straftat zur Anzeige der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE zu bringen, zu kurz; das haben wir in den aktuellen Fäl- GRÜNEN) len erneut feststellen müssen. Sie beträgt bei Missbrauch von Jugendlichen nur fünf Jahre und bei Missbrauch von Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kindern unter 14 Jahren zehn Jahre. Das bedeutet, dass Frau Steffen, für Sie war das die erste Rede hier im die jugendlichen Opfer mit ihrer Anzeige schon im Alter Plenum. Dazu gratulieren wir Ihnen alle ganz herzlich von 24 Jahren zu spät kommen, die Opfer, die als Kinder und wünschen viel Erfolg für die weitere Arbeit. missbraucht wurden, bereits mit 29 Jahren. Hier ist eine Verlängerung der Verjährungsfrist angezeigt. (Beifall) Jedoch ist dieser Schritt allein nicht ausreichend. Be- Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für sonders wichtig ist es, den Opfern professionelle Hilfe die CDU/CSU-Fraktion. an die Hand zu geben, wenn sie sich nach Jahren der (Beifall bei der CDU/CSU) Verzweiflung und des Verdrängens zur Anzeige ent- schließen. Für zahlreiche Missbrauchsopfer werden die Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): langwierigen Verfahren mit Vernehmungen bei Gerich- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ten, bei der Polizei und bei der Staatsanwaltschaft und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Taten, mit Glaubwürdigkeitsgutachten zur Tortur. Den Opfern über die wir heute sprechen, sind wirklich erschütternd. muss eine juristische und vor allem eine intensive psy- Die Fallzahlen, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, chologische Unterstützung gewährt werden. machen uns sehr betroffen. Solche Taten verletzen die Der runde Tisch, der am 23. April seine Arbeit auf- Würde, die Integrität, die körperliche und seelische Ge- nehmen wird, ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Auf- sundheit der Opfer. Sie bekommen in der Tat lebensläng- deckung von sexuellem Missbrauch und zur Verstärkung lich. Die Verarbeitung solcher Taten dauert Jahre, und der Präventionsmaßnahmen. Es wird sich jedoch nicht (B) oft hört das Leid, das dadurch verursacht wurde, niemals (D) am runden Tisch allein entscheiden, wie Deutschland auf. künftig mit Missbrauch umgeht. Die Tische, auf die es ankommt, sind eckig. Sie stehen in Schulen, in Vereins- Deshalb müssen wir uns hier die Frage stellen, wie büros, in Jugendklubs, in Esszimmern, in Küchen und in wir damit umgehen und welche Konsequenzen wir zie- Kneipen. Wie oft an diesen Tischen den Kindern zuge- hen. Mir ist wichtig, an den Anfang zu stellen, dass bei hört und den Tätern Nein gesagt wird, davon hängt alles der Erarbeitung möglicher Konsequenzen die Perspek- ab. Dass die Dunkelziffer bei Taten, die sich zu tive der Opfer in den Vordergrund gestellt werden muss. 90 Prozent im sozialen Nahbereich der Opfer abspielen, Die möglichen Konsequenzen müssen außerdem auf ihre besonders hoch ist, verwundert nicht; das wissen wir Wirksamkeit geprüft werden. Es geht nicht vorrangig da- alle. rum, Täter zu schützen und sie zu therapieren. Man muss die Sicht der Opfer berücksichtigen, wenn es darum Die Hamburger Initiative gegen sexuelle Gewalt an geht, herauszufinden, was nötig ist. Kindern hat ermittelt, dass ein Kind bis zu sieben Perso- nen ansprechen muss, bevor ihm geholfen wird. Es muss Es geht um Aufarbeitung, um Aufklärung, um Bestra- daher auch darüber nachgedacht werden, ob die Mittä- fung der Täter. Es geht aber auch um Schadensersatz terschaft derjenigen, die wissen, schweigen und die Tä- nach dem Zivilrecht. Einerseits geht es um Geld, das hel- ter oftmals sogar noch decken, nicht stärker unter den fen kann, Therapien zu finanzieren. Andererseits ist da- strafrechtlichen Fokus genommen werden soll. mit auch eine Genugtuungswirkung verbunden, da der Täter an dieser Stelle noch einmal zur Verantwortung ge- Im Kampf gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch zogen wird. Wir brauchen darüber hinaus Veränderun- von Kindern und Jugendlichen kommt es darüber hinaus gen in den Einrichtungen, bei den Trägern. Wir brauchen entscheidend darauf an, den Kindern auf breiter Ebene Hilfe für Menschen mit pädophilen Neigungen; das ist neutrale Vertrauenspersonen in den Schulen, Internaten hier bereits erwähnt worden. Wir müssen bei den Kin- und Vereinen, aber auch als neutrale Anlaufstelle außer- dern ansetzen, sie sensibilisieren und sie starkmachen, halb dieser Einrichtungen zur Seite zu stellen, die ihre sodass sie sich trauen, Nein zu sagen, und sich wehren Sprache sprechen, ihnen zuhören und helfen. können, aber auch sich äußern können, wenn etwas pas- Besonders begrüße ich an dieser Stelle, dass mit siert ist, und sich gegen weitere Übergriffe wehren kön- Christine Bergmann eine im Kampf gegen den Miss- nen. brauch sehr erfahrene Sozialdemokratin von der Bundes- Ich empfehle, bei den Dingen anzusetzen, die in unse- regierung zur Missbrauchsbeauftragten bestimmt wurde. rem Handlungsbereich liegen. Bereits angesprochen (Beifall bei der SPD) wurden die Änderungen im strafrechtlichen Bereich. 3164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) Sinnvoll ist zum Beispiel die Verlängerung der Verjäh- dass in ihren Einrichtungen Taten begangen worden (C) rungsfrist; denn eine dreijährige Verjährung ab dem sind, die Missbrauch darstellen. 21. Geburtstag bei zivilrechtlichen Ansprüchen ist zu Ich schließe mich hier Heiner Geißler an, der mit sei- kurz. Wir erleben aufgrund der bekannt gewordenen ner Kritik an den Strukturen ja nicht gerade zimperlich Fälle gerade jetzt, dass das Bewusstsein, dass einem ist. Er hat aber auch ganz klar gesagt: Aus seiner Erfah- massives Unrecht angetan worden ist, und die Fähigkeit, rung als Jesuitenschüler sind die Vorfälle in den Orden darüber zu reden, manchmal erst später eintreten. Die keine typischen Vorfälle. Die kirchliche Botschaft besagt Opfer können meist erst in einem fortgeschritteneren Al- ganz klar: Wer einem Kind etwas antut, der wäre besser ter darüber sprechen, da die Verletzung so tief liegt. Dies mit einem Mühlstein um den Hals im Meer versenkt soll nicht den Täter vor Strafe oder vor zivilrechtlicher worden. Verfolgung schützen. Wir brauchen vielmehr einen Schutzraum für die Opfer. Deshalb müssen wir prüfen, Deshalb glaube ich der Kirche und nehme es ernst, was wir in Bezug auf die Verjährungsfristen tun können. wenn sie jetzt sagt, dass sie neue Leitlinien entwickeln will, die verhindern, dass es zu Missbrauch kommt, die Auch hinsichtlich der Straftatbestände gibt es Wer- verhindern, dass verdeckt wird, die verhindern, dass der tungswidersprüche. Selbst wenn man das flüchtige Be- Täter geschützt wird. Genau das ist der Sinn des runden rühren über der Kleidung nicht dramatisieren muss, kann Tisches. man Wertungswidersprüche nicht stehen lassen. Sexu- elle Nötigung bei Erwachsenen stellt ein Verbrechen dar. Eine vergleichbare Tat kann im Grundtatbestand bei Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kindern nicht nur als Vergehen bewertet werden. Frau Kollegin. Wir müssen näher an die Kinder herankommen. Wir müssen ihnen Ansprechpartner in ihrem Umfeld zur Ver- Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): fügung stellen, zu denen sie Vertrauen aufbauen können. Ich wünsche den drei Ministerinnen viel Glück. Ich Das geht aber natürlich nicht per Dekret. Gerade dies ist denke, dieser runde Tisch ist der richtige Rahmen, um Aufgabe des runden Tisches. Er ist unter anderem sinn- darüber zu sprechen, wie man die inneren Strukturen so voll, weil man dort mit den betroffenen Institutionen da- verändern kann, dass man den Kindern tatsächlich hel- rüber sprechen kann, welche strukturellen Veränderun- fen kann. gen helfen, damit Kinder genau dieses Angebot Vielen Dank. vorfinden können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Meine Damen und Herren, es sind schon viele As- neten der FDP) (B) pekte angesprochen worden. Ich möchte nicht alles wie- (D) derholen, aber noch einmal darauf eingehen, welche Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Strukturen wir vielleicht verändern müssen, wie wir da herangehen müssen, und da beginnen mit einer Einschät- Die Kollegin Michaela Noll hat jetzt das Wort für die zung von Zartbitter Köln, nämlich dass es tatsächlich ei- Unionsfraktion. nen Zusammenhang gibt zwischen der Häufigkeit von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sexuellem Missbrauch und der Struktur einer Organisa- tion. Michaela Noll (CDU/CSU): Offene, klar organisierte Strukturen, ein Mitsprache- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und recht, Möglichkeiten, sich zu beschweren, helfen gegen Herren! Liebe Kollegen! Die Kollegin Künast ist gegan- Missbrauchsanfälligkeit. Wenn die Persönlichkeit des gen, und das ist auch nicht schlimm; man hat sie entspre- Kindes ernst genommen wird, wenn – das ist nicht wirk- chend entschuldigt. Ich will dennoch sagen, dass ich ih- lich überraschend – nicht zu viel Autorität herrscht, aber ren Vorwurf, wir reagierten mit Schnellschüssen, nicht auch kein diffuses Laisser-faire – damit zitiere ich die angebracht fand. Leiterin von Zartbitter Köln –, wird Missbrauch nicht Ich bin sehr dankbar, dass wir heute diese Debatte begünstigt. In beiden Extremen ist den Kindern nicht ge- führen. Ich mache den Grünen an dieser Stelle aber den holfen. Demokratische, offene, klare Strukturen sind Vorwurf, dass sie das Thema einengen auf sexuellen das, was hilft. Das muss der Maßstab sein für alle Struk- Missbrauch in kirchlichen und weltlichen Einrichtungen. turveränderungen, die in Institutionen diskutiert und in Es ist zwar richtig, dass gerade vermehrt Fälle von Miss- Angriff genommen werden. brauch in solchen Einrichtungen ans Licht kommen; Erschreckend ist, dass anscheinend auch ein hoher aber es gibt jährlich circa 20 000 Fälle von Missbrauch. moralischer Anspruch nicht davor schützt, dass Miss- Missbrauch findet überall statt. brauch passiert, sondern ihn sogar noch schlimmer ma- Was glauben Sie, was Opfer von sexuellem Miss- chen kann. Ich möchte aber auch betonen, dass es bei brauch denken, die diese Aktuelle Stunde verfolgen? dem moralischen Anspruch, mit dem die Institutionen Viele Opfer werden sich fragen: Warum wird nicht auch – die Reformpädagogen, aber auch die Kirchen – wir- über Opfer von sexuellem Missbrauch in der Familie ge- ken, gerade darum geht, das Wohl des Menschen, das sprochen? Wohl des Kindes in den Mittelpunkt zu rücken. Die An- liegen dieser Institutionen, auch die Glaubensbotschaft, Ich finde es wichtig, zu betonen, dass es uns darum dürfen nicht insgesamt dadurch diskreditiert werden, gehen muss, sexuellen Missbrauch zu verhindern. Wir Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3165

Michaela Noll (A) haben auch im Familienausschuss darüber gesprochen: eine Therapiepflicht von Sexualverbrechern nachden- (C) 94 Prozent der Täter kommen aus dem unmittelbaren so- ken. Auch das halte ich für wichtig. zialen Nahfeld, das heißt, aus dem Familien-, Bekann- Jetzt muss ich aber leider einmal mit den Grünen ab- ten-, Verwandtenkreis. Nur 6 Prozent der Täter sind rechnen. Fremde. Ich glaube, es wäre hilfreicher gewesen, wenn Sie das Thema weitergefasst hätten. (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie haben gar keine Zeit mehr dazu! – Wir müssen Lösungen finden, um Missbrauch zu ver- Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hindern, egal wann und wo er stattfindet. Meiner Mei- Die Zeit ist schon um!) nung nach wäre es wichtig, die Opfer in den Fokus zu nehmen. Deswegen bin ich den Ministerinnen dankbar, – Nein, die habe ich schon, nämlich 1 Minute und dass sie diesen runden Tisch eingerichtet haben. Das 17 Sekunden. – Kollegin Künast sprach: Die Kinder zeigt, dass sie einen breiten Lösungsansatz suchen. brauchen Schutz, aber nicht der Papst. Frau Künast appellierte an die moralische Pflicht. Sie sagte auch Viele Kollegen haben schon von Veränderungen im noch – – Strafrecht gesprochen. Dafür werden wir sorgen. Es müssen aber vielleicht auch die zivilrechtlichen Vor- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schriften geändert werden. Ich bin hier relativ nah auch – Vielleicht sollten Sie sich ein bisschen verstecken; bei Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger; denn wir denn ich hatte das Glück, vor zwei Tagen das Morgen- haben doch eben davon gesprochen: Opfer schaffen es magazin zu sehen. Ihre Kollegin war dort zu Gast und oft nicht, ihr Schweigen zu brechen. Sie brauchen Jahre, wurde auf den Programmparteitag 1985 angesprochen. um sich zu öffnen und zu sagen, was passiert ist. Die Das machte mich neugierig. Also habe ich angefangen Verjährungsfrist beträgt aber nur drei Jahre. zu forschen. Es gibt Momente, in denen man sich freut, wenn man Jetzt kurz zur Erinnerung: Die Grünen sagten damals, morgens die Zeitung liest. Der Fuldaer Bischof hat ge- Sex mit Kindern sei für beide Teile – so wörtlich – ange- sagt, er rege an, dass die Kirche über eine freiwillige nehm, produktiv, entwicklungsfördernd, kurz: positiv. Entschädigung nachdenkt. Ich glaube, das wäre wirklich einmal eine vertrauensbildende Maßnahme für die Kin- (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der, die in den Einrichtungen zu Schaden gekommen NEN]: Das ist doch nicht das Thema! – sind. Ich würde das begrüßen. Christine Lambrecht [SPD]: Das ist doch zu billig für so ein Thema!) (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Es sei nicht hinzunehmen, dass Erwachsene, die sexuelle (D) Genauso sollten wir darüber nachdenken, wie wir das Wünsche von Kindern und Jugendlichen ernst nehmen Schweigen der Täter und der Opfer durchbrechen kön- und liebevolle Beziehungen zu ihnen unterhalten, mit nen. Es ist hier mittlerweile meine dritte Legislaturperi- Gefängnis von bis zu zehn Jahren bedroht werden. ode. Schon in der ersten habe ich mich vehement für „Opferschutz vor Täterschutz“ eingesetzt und von dem (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mainzer Modell gesprochen. Das Mainzer Modell be- NEN]: Das ist doch niveaulos! – Dr. Hermann sagt, dass ein Kind dann, wenn es zum Strafprozess Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Propa- kommt, dem Täter im Verfahren nicht noch einmal ge- ganda!) genübersitzen muss, sondern über eine Videokamera – Nein, das hat nichts mit Propaganda zu tun. Ich finde vernommen werden kann. Dadurch wird das Kind ent- einfach nur im Ganzen, Sie hätten das gar nicht themati- lastet, und das Kind wird nicht erneut zum Opfer. sieren müssen. Sie haben das damals unter Rot-Grün zulasten der (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kinder aber abgelehnt. Das fand ich bitter. In der Großen NEN]: Wir haben 2010!) Koalition haben wir die Videovernehmung dann zuge- lassen und das 2. Opferrechtsreformgesetz auf den Weg Sie werfen uns vor, dass wir keine Schnellschüsse gebracht. Ich glaube, das war ein ausgesprochen wichti- machen. Ich bitte Sie um eines: Bevor Sie uns und die ger Schritt. Regierung auffordern, aufzuklären, klären Sie die Wäh- ler in NRW darüber auf, was Sie tatsächlich wollen. Wir müssen – vor allem als Familienpolitiker – die Kinder starkmachen, sodass die Kinder selbstbewusst Vielen Dank. sind; denn die Täter suchen keine Gegner, die Täter su- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Iris chen Opfer. Wir müssen das Selbstbewusstsein der Kin- Gleicke [SPD]: Dieser Beitrag spricht für der dahin gehend stärken, dass sie vielleicht auch bei ih- sich! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE ren eigenen Eltern „nein“ sagen. GRÜNEN]: Bodenlos! – Dr. Hermann Ott Ich nenne auch das Projekt, das der Kollege Ahrendt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie vorgeschlagen hat, „Kein Opfer werden“. Genauso ha- sich einmal kundig!) ben Sie auch in der Presse angesprochen, dass die Thera- pieplätze in der Charité weiter ausgebaut werden müs- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sen. Hier bin ich ganz bei Ihnen. Das halte ich für Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich schließe die Aus- ausgesprochen wichtig. Man sollte vielleicht auch über sprache. 3166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b nicht nur eine Frage des Klimaschutzes, sondern er bie- (C) auf: tet vielmehr gewaltige Potenziale für Innovation, Wachs- tum und Beschäftigung beim Umbau unseres Energie- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ systems. CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare- Ich begrüße, dass die Bundesregierung nun Aufträge Energien-Gesetzes erteilt hat, die Grundlagen für das Energiekonzept durch Forschungsinstitute errechnen zu lassen, damit wir eine – Drucksache 17/1147 – Grundlage für die politische Entscheidung haben, wie Überweisungsvorschlag: der dynamische Energiemix der Zukunft aussehen soll, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) in dem die konventionellen Energieträger mehr und Finanzausschuss mehr durch regenerative Energien ersetzt werden sollen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Im Energiemix der Zukunft wird Fotovoltaik eine Verbraucherschutz sehr, sehr wichtige Rolle spielen. Wir wollen Fotovoltaik Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO weiter ausbauen. Das zeigt sich auch daran, dass wir den Zielkorridor für den jährlichen Zuwachs nahezu verdop- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten pelt haben, nämlich auf 3 000 Megawatt im Jahr. Das ist Dorothée Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph ein echtes Wort. Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Aber jetzt ist es wichtig, die Akzeptanz für die Foto- voltaik in der Bevölkerung auf dem hohen Niveau zu er- Solarstromförderung wirksam ausgestalten halten, auf dem sie schon jetzt besteht. – Drucksache 17/1144 – (Beifall bei der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Denn von nichts kommt nichts: Natürlich fallen Kos- Finanzausschuss ten für den Ausbau der Erneuerbaren an. 2009 betrugen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und sie 1,1 Cent pro Kilowattstunde. In 2010, in diesem Jahr, Verbraucherschutz werden sie vermutlich 2 Cent pro Kilowattstunde errei- Haushaltsausschuss chen. Das sind immerhin 6 Euro pro Monat für einen Hierzu ist verabredet, eine Stunde zu debattieren. – Durchschnittshaushalt – ein Betrag, dessen Höhe ohne Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be- Zweifel erträglich ist, der aber erklärt werden muss. Und es ist schwierig zu erklären, dass im Jahr 2008 der Strom (B) schlossen. – Vielleicht kann die Fortsetzung der vorheri- (D) gen Debatte woanders stattfinden. aus Fotovoltaik, deren Anteil am Stromverbrauch 5 Prozent beträgt, letztendlich 45 Prozent der Umlage Ich eröffne die Aussprache und gebe der Kollegin verursacht hat. Zweistellige Renditeerwartungen müssen Dr. Maria Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion das zumindest erklärt werden. Deshalb musste die Bundesre- Wort. gierung und muss dieses Haus auf den Umstand reagie- ren, dass in 2009 die Systempreise – das heißt, die Preise (Beifall bei der CDU/CSU) für die Module plus Installationskosten – insgesamt durchschnittlich um 30 Prozent gesunken sind. Für die- Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): ses Jahr erwartet man noch einmal einen Preisrückgang Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! von 10 Prozent. Das liegt daran, dass der spanische Bundesumweltminister Röttgen hat gestern neue Zahlen Markt nahezu zusammengebrochen ist. Das liegt auch über die Entwicklung der erneuerbaren Energien vorge- daran, dass es einen gewaltigen Zubau an Produktions- legt. 2009 machten die Erneuerbaren 10 Prozent des Ge- kapazitäten gegeben hat. Deshalb müssen wir jetzt mo- samtenergieverbrauchs aus. Der Anteil am Stromver- derat umsteuern. Genau das wollen wir mit der Novelle brauch steigerte sich auf 16 Prozent, und es ließ sich ein tun. deutlicher Zuwachs des Zubaus im Bereich Biogas-, Fo- tovoltaik- und Windenergieanlagen verzeichnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ulrich Kelber [SPD]: Das war die Vor- Wir wollen die Vergütung der Preisentwicklung anpas- Röttgen-Zeit!) sen, und zwar durch zusätzliche Degressionsschritte zwischen 11 und 16 Prozent. Die Investitionssumme ist auf insgesamt 17,7 Milliarden Euro angestiegen. Die Zahl der Beschäftigten stieg auf In der Fotovoltaiknovelle wollen wir einen weiteren 300 000 an. Das sind 8 Prozent mehr als im Vorjahr. Komplex angehen, und zwar das Thema der Flächen- Man kann tatsächlich zu Recht sagen: Die Erneuerbaren konkurrenz. Darüber haben wir schon in ganz anderen haben sich als der Stabilitätsanker in Zeiten der Krise er- Zusammenhängen gesprochen, zum Beispiel im Zusam- wiesen. menhang mit Biokraftstoffen. Flächen, gerade Ackerflä- chen, werden zur Produktion von Nahrungsmitteln und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Futtermitteln, aber eben auch von Rohstoffen zur ener- der FDP) getischen oder stofflichen Nutzung gebraucht. Wenn Damit ist das, was im Koalitionsvertrag beschrieben dazu noch eine Nutzung durch Fotovoltaik kommt wird, nämlich der Weg in das regenerative Zeitalter, – dazu ist es im letzten Jahr vermehrt gekommen –, dann Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3167

Dr. Maria Flachsbarth (A) haben wir tatsächlich ein Problem, zu erklären, wie wir Einen Punkt will ich für die SPD-Fraktion ganz deut- (C) diese unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten unter lich machen: Wir haben zu jeder Zeit gesagt, dass wir ein Dach bekommen und dazu noch den Flächenver- auch die Akzeptanz dieses Gesetzes im Blick haben brauch, der im Moment bei 100 Hektar pro Tag liegt, müssen. Überförderungen dürfen nicht eintreten. Wir realistisch und schnell zurückfahren wollen. Deshalb müssen auf Überförderungen reagieren. wollen wir die Nutzung auf Ackerflächen einschränken Wir haben 2009 – Frau Dr. Flachsbarth hat das ange- und stattdessen viel stärker als bislang noch Konver- sprochen – die Marktdynamik gerade beim Thema Foto- sionsflächen in den Mittelpunkt der Nutzung durch Foto- voltaik aufgegriffen. In der Begründung zum Gesetz voltaik stellen. heißt es, dass mit sinkenden Produktions- und Stromge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stehungskosten zu rechnen ist. Deshalb wurden sowohl die Degressionsschritte erhöht als auch der flexible Kor- Ein dritter Punkt ist uns ganz wichtig, nämlich die ridor oder atmende Deckel, wie er auch genannt wird, Förderung des Eigenverbrauchs: Wie bekommen wir es eingeführt. hin, die Nachfrage dem volatilen Angebot anzupassen? Das ist durch intelligente Haushaltsgeräte möglich, zum Das zeigt, dass wir schon darauf achten, wie sich der Beispiel durch eine Waschmaschine oder Kühltruhe, die Markt entwickelt. An der Marktentwicklung machen wir zu laufen beginnen, wenn der Fotovoltaikstrom entspre- fest, ob weitere Kürzungsschritte nötig sind oder ob die chend produziert wird. Kürzungen geringer ausfallen können. Wir hoffen aber auch, dadurch, dass wir den Eigen- Entscheidend ist für mich eine einzige Frage: Wie er- verbrauch so viel besserstellen als die Einspeisung ins mittelt man verlässlich, was im Markt geht, und wie be- Netz, einen besonderen Anreiz für Innovationen im Be- gründet man das? An diese Frage will ich anknüpfen; reich der Speichertechnologie zu schaffen und damit das denn es ist der Hauptpunkt unserer Kritik. Die Vergü- EEG nicht nur quantitativ auszubauen, sondern letztend- tungssätze werden immer wieder mit der schlechten lich auch qualitativ zu verändern. Ich glaube, dass wir Preisentwicklung in Verbindung gebracht. Doch ange- damit einen sehr interessanten und ausgesprochen not- sichts der Preisentwicklung muss man zur Kenntnis neh- wendigen Weg einschlagen. men, dass Preisentwicklungen nicht nur von Kostensen- kungspotenzialen abhängen, sondern dass insbesondere (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) im letzten Jahr auch der Zusammenbruch des spanischen Wir werden im Rahmen der Diskussionen im Aus- Marktes und die Wirtschaftskrise zu einem Absinken der schuss insbesondere darauf Wert legen, Planungssicher- Modulpreise geführt haben. Das hing nicht nur mit dem heit zu gewährleisten, und zwar für die Investoren, die Kostensenkungspotenzial zusammen. (B) (D) bereits investiert haben und auf der Grundlage der beste- Wenn man das weiß und zur Kenntnis nimmt, dann henden gesetzlichen Regelung in finanzielle Vorleistung muss man sehr sorgfältig analysieren, wie viel künftig gegangen sind, gerade wenn sie sich in längeren Pla- im Markt möglich ist. An dieser Stelle gehen die Mei- nungsphasen befinden, weil für die Realisierung ihres nungen weit auseinander. Sie, die Regierungsfraktionen, Projektes zum Beispiel Bebauungspläne erforderlich schlagen uns 16 Prozent vor. Der Fachverband hat 5 Pro- sind. Das wird ein Hauptteil unserer Arbeit sein und si- zent genannt. cherlich auch im Rahmen der Anhörung eine Rolle spie- len. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Und die Verbraucherschützer?) Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen Sie mit auf den Weg, das EEG qualitativ weiterzuentwickeln! Die SPD hat bisher bewusst noch keine Zahl in die Welt Ich freue mich auf unsere Diskussionen im Ausschuss. gesetzt, weil es uns wichtig ist, dass die Höhe nicht nach Gemüt oder nach Stimmung, sondern so sachverständig Herzlichen Dank. wie möglich ermittelt wird. Deshalb haben wir eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sachverständigenanhörung gefordert und werden nach neten der FDP) der Sachverständigenanhörung einen Vorschlag unter- breiten, was geht. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich sage nur eine Hausnummer: Die Landesbank Ba- Der Kollege Dirk Becker hat das Wort für die SPD- den-Württemberg, die nicht im Verdacht steht, der SPD Fraktion. nahezustehen, hat gesagt, dass sie alles über 10 Prozent als gefährlich für die Branche ansieht, was den deut- (Beifall bei der SPD) schen Markt angeht. Wir haben versucht, beim Bundesminister in Erfah- Dirk Becker (SPD): rung zu bringen, auf welcher Grundlage diese 16 Prozent Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! entstehen. Wir haben, wie gesagt, die Sachverständigen- Meine Damen und Herren! Das alles heute als qualita- anhörung beantragt. Mittlerweile hat der Kollege Kelber tive Weiterentwicklung zu verkaufen, ist ein netter Ver- nach mehrfacher Rückfrage ein Gutachten bekommen, such. Für die qualitative Weiterentwicklung des EEG ist das an mehreren Punkten bemerkenswert ist. zwar einiges zu tun, was Sie auch erwähnt haben, was aber nicht Gegenstand der von Ihnen vorgesehenen Ge- Erstens. Bisher haben Sie argumentiert, sie wollten setzesänderung ist, um die es heute geht. Preisentwicklungen der Vergangenheit aufnehmen, um 3168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dirk Becker (A) dann zu einer einmaligen zusätzlichen Absenkung zu Technologieführer sichern muss, indem sie an der Spitze (C) kommen. Das Zitat in dem Gutachten sagt etwas ande- der Bewegung steht. Das heißt technologischer Fort- res. Da geht man davon aus, dass Erhebungen zufolge schritt made in als besonderes Aushänge- für 2010 Preissenkungen von 10 bis 15 Prozent zu er- schild, was zugleich einen Wettbewerbsvorteil bedeutet. warten sind. Dass man aufgrund einer Prognose für das Nur sage ich noch einmal: Dazu braucht es Zeit. Das laufende Jahr bereits in das Gesetz eingreifen will, wi- geht nicht in einem solchen Hauruckverfahren mit derar- derspricht dem bisherigen Grundsatz der Degression, tigen Kürzungen innerhalb eines Jahres. wie wir ihn im Gesetz verankert haben. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal auf die Regie- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem rung des Freistaates Bayern Bezug nehmen muss. Ich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mache dies aber gerne. Zweitens. Entscheidend ist aber auch die Frage, wo- (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Gott sei her diese 10 bis 15 Prozent kommen. Da unterstellt man, Dank!) dass in einer so wichtigen Frage Wissenschaftler, Wirt- – „Gott sei Dank“, sagt Herr Kauch. schaftsinstitute und wer auch immer gefragt wurden. Wenn man dann liest, woher das kommt, staunt man: Es (Michael Kauch [FDP]: Ich habe gar nichts ge- ist eine Umfrage einer Zeitung. Auf der Grundlage von sagt! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Daten einer Zeitung kommt diese Regierung zu diesen Nehmen Sie mal Thüringen!) 16 Prozent. Es kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein, in ei- – Ach so, dann kam es aus Thüringen. Es heißt hier ganz ner so wichtigen Frage Ihre Entscheidung von Mei- klar: Die kurzfristige Umsetzung dieser Pläne überfor- nungsumfragen einer Zeitung abhängig zu machen. dert die Anpassungsfähigkeit der deutschen Solarwirt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaft. Eine zu abrupte und drastische Kürzung birgt die DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Patrick Kurth Gefahr schwerer Marktverwerfungen und bedeutet den [Kyffhäuser] [FDP]: Welche Zeitung war das Verlust wertvoller Arbeitsplätze in einer hochmodernen denn?) Branche. – Photon. – Wir erwarten einfach, dass in diesen Fragen, (Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE bei denen es auch um 50 000 Arbeitsplätze in diesem LINKE]) Land geht, in der Tat eine breite wissenschaftliche Basis Ich habe gehört, dass sich Frau Gönner in einem heute Gegenstand der Kürzungsschritte ist. erschienenen Interview ähnlich geäußert hat und sich Drittens. Diese Studie arbeitet, wie ich finde, nicht dieser Auffassung anschließt. (D) (B) ganz fair mit anderen Studien. Man sucht ganz geschickt Ich habe nur die Bitte: Seien Sie so fair, offen in diese aus verschiedensten Studien Zahlen zusammen und ver- Anhörung zu gehen, sodass wir mit einem gemeinsamen mengt sie ein wenig, um dann zu dem Ergebnis zu kom- Ergebnis herausgehen! Beteiligen Sie die Branche in men, das man – das behaupte ich – erreichen wollte. So Gänze! Verwenden Sie nicht nur die Meinungsumfrage wird die BP-Studie zitiert. Man greift Modulkosten aus eines Magazins als Entscheidungsgrundlage! Das Thema dieser BP-Studie auf, argumentiert dann aber nicht im ist dafür zu wichtig, sowohl im Hinblick auf den Ausbau Sinne dieser Studie zu Ende. Man sagt nur: BP sagt; der erneuerbaren Energien als auch die vielen Arbeits- 1 600 Euro bis 1 700 Euro sind zu erwarten; davon ge- plätze in unserem Land. hen wir jetzt einmal aus. Unter dem Strich heißt das, dass wir um 16 Prozent kürzen können. BP kommt zu ei- nem ganz anderen Ende. BP sagt, wie ich vorhin ausge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: führt habe, dass die Preissenkungen des vergangenen Herr Kollege. Jahres noch nicht durch Maßnahmen in den Unterneh- men in dem Sinne umgesetzt werden konnten, dass sie Dirk Becker (SPD): auch zu Kostensenkungen wurden, und kommt zu dem Herr Bundesminister, ich habe die herzliche Bitte: Ergebnis, dass eine Kürzung über 10 Prozent den deut- Werden Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst und gehen schen Markt nachhaltig beeinflussen würde. Das heißt, Sie auf unsere Argumente ein! dass deutsche Unternehmen massenhaft große Probleme Vielen Dank. bekommen und wahrscheinlich sogar nicht mehr im Weltmarkt konkurrenzfähig sind. Meine Damen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herren, ich habe einfach die Bitte: Wenn Sie solche Gut- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der achten vorlegen, dann zitieren Sie fair und gehen Sie LINKEN) auch auf die Ergebnisse und Argumente der anderen Stu- dien ein. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion. der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Das wird (Beifall bei der FDP) Thema der Anhörung!) Ich will noch kurz auf Folgendes eingehen: Das Wirt- Michael Kauch (FDP): schaftsministerium hat zu Recht festgestellt, dass die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Branche, also die PV-Industrie, ihre Rolle als weltweiter Becker hat einen richtigen Punkt angesprochen: Es ist Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3169

Michael Kauch (A) für die Politik sehr schwer, im Bereich des EEG die rich- Der Solarkompromiss gefährdet nicht das Wachstum (C) tigen Preise zu finden. Man stellt sich nur die Frage, wa- im Bereich der Solarenergie. Wir senken zwar die Vergü- rum es die SPD in elf Jahren Regierungszeit, davon zehn tungen ab; aber wir erweitern den Ausbaukorridor. Zu- nach Verabschiedung des EEG, nicht geschafft hat, eine gleich hat die FDP in den Verhandlungen erreicht, dass staatliche, unabhängige Marktbeobachtungsstelle an die Degression im Jahr 2011 im Vergleich zum BMU- eine der vorhandenen Behörden anzuhängen. Vorschlag abgemildert wurde. Ich glaube, wir müssen uns auf diesen Punkt konzentrieren. (Ulrich Kelber [SPD]: Eine neue Behörde!) Jetzt geht es darum, die Kostensenkungen der vergan- Wir sind in dieser Diskussion immer wieder auf inte- genen Jahre nachzuvollziehen. Aber es geht in der Ent- ressengeleitete Informationen angewiesen. Man muss wicklung der Branche auch darum, was nach dem Jahr sich auch bei einer Bank wie der LBBW fragen: Was ha- ben die in ihren Investmentportfolios? Dass uns die 2010 geschieht. Ein Punkt in der Anhörung, auf den wir Branche andere Zahlen nennt als die Verbraucherschüt- noch etwas Sachverstand verwenden sollten, wird sein: zer, ist möglicherweise auch nicht überraschend. Ich Was ist für die Zukunft das richtige Maß, und vor allen ziehe eine erste Lehre aus diesem Gesetzgebungsverfah- Dingen was ist der richtige Beobachtungszeitraum für ren – erstmals nicht in der Opposition, sondern als Ver- unsere Berechnungen in Bezug auf das nächste Jahr? treter einer Regierungsfraktion –: Wir müssen uns bei Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein den Beratungen zum Haushalt 2011 darüber unterhalten, Thema ansprechen, das für die FDP von herausragender ob wir hier nicht eine unabhängige staatliche Beobach- Bedeutung war und ist, nämlich das Thema Vertrauens- tung der Marktentwicklung einführen sollten. schutz. Wir haben erreicht, auch vor dem Hintergrund (Ulrich Kelber [SPD]: Eine neue Behörde? Da des harten vergangenen Winters, dass die Fristen bei den können auch Fehler eingestellt werden!) Dachanlagen verschoben wurden und dass die Degres- sion nicht zum 1. April, sondern erst zum 1. Juli wirk- – Das sind Fehler, die Sie gemacht haben. Das FDP-ge- sam wird. führte Wirtschaftsministerium hat die einzige unabhän- gige Studie, das Prognos-Gutachten, eingeholt, die die- (Beifall bei der FDP) sen Beratungen zugrunde liegt. Wir sind noch hinter den Unser Anliegen ist auch, dass Investoren, die im Ver- Vorschlägen geblieben, die dieses Gutachten zur Degres- trauen auf das EEG schon deutlich vor der Bundestags- sion macht. wahl in Freiflächenanlagen investiert haben, nicht plötz- Lassen Sie mich, um dieses Thema abzuschließen, et- lich vor den Trümmern ihrer Investitionsentscheidung was aus dem Bauernblatt-Sonderdruck zitieren. Dort stehen. Auch hier haben wir Verbesserungen erreicht. schreibt der Bundesverband Solarwirtschaft, vertreten Aber wir müssen in der Anhörung herausfinden, ob das (B) durch Kai Lippert: in allen Fällen ausreichenden Vertrauensschutz bietet. (D) Das ist die Offenheit, mit der wir in die Anhörung gehen. Selbst nach einer zusätzlichen Kürzung der Ein- speisevergütung zum Halbjahreswechsel werden Offen sind wir beispielsweise auch in der Frage des Photovoltaikanlagen weiterhin eine attraktive und Eigenverbrauchs. Auf die Frage, inwieweit der Eigen- überdurchschnittlich rentable Geldanlage für Haus- verbrauch vorangebracht werden kann, ohne dass es zu besitzer und sicherheitsorientierte Investoren sein. Mitnahmeeffekten kommt, wird die Anhörung ebenfalls eine Antwort bringen müssen. Die Diskussion darüber Was gilt denn nun? Einerseits sagt der BSW, dass eine müssen wir ergebnisoffen führen. Degression um mehr als 5 Prozent die Branche ruiniert; andererseits empfiehlt er im Bauernblatt-Sonderdruck, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten in die Solarenergie zu investieren, weil dies eine „über- der CDU/CSU) durchschnittlich rentable Geldanlage“ sei. Nur eines Eine Frage, die wir bereits in den vergangenen Wo- kann richtig sein. Man muss das im Lichte dessen beur- chen intensiv diskutiert haben und bei der die Emotionen teilen. sehr stark sind, ist mir noch wichtig: Sollen Solaranlagen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auf Äckern installiert werden oder nicht? Es kann aus unserer Sicht keine sinnvolle Lösung sein, wenn man Die FDP will, dass wir den Weg in das regenerative großflächig auf besten Böden Solaranlagen installiert. Zeitalter beschreiten. Die Solarbranche ist eine Zu- Aber wir haben in der Koalition einen Kompromiss kunftsbranche, die wir am Standort Deutschland aus- schließen müssen, zu dem wir auch stehen. Die FDP hat bauen wollen. Klar ist aber auch: Die ganze Förderung erreicht, dass im Gegenzug zum Ausschluss der Äcker wird am Schluss von den Verbraucherinnen und Ver- die Konversionsflächen in ihrer wirtschaftlichen Nut- brauchern bezahlt. Wir haben als Gesetzgeber eine Ver- zung deutlich ausgeweitet wurden. Aber sollte die CSU antwortung gegenüber den Bürgern, die die Rechnung ihre Position jetzt ändern, wie es der bayerische Minis- zahlen. Wir sind dafür, eine Förderung zu betreiben, um terpräsident angedeutet hat, dann wird dies an der FDP die Solarenergie auszubauen, wir erhöhen sogar die Aus- nicht scheitern. Auch das werden wir in den nächsten bauziele; aber es kann doch nicht sein, dass Anleger auf Wochen miteinander diskutieren müssen, um bei den Kosten der Stromverbraucher Traumrenditen erwirt- Freiflächenanlagen, die der Billigmacher der Solarbran- schaften. Familien mit Kindern müssen hier die größte che sind, zu einem guten Ergebnis zu kommen. Zeche zahlen. Die SPD redet hier einer Umverteilung von unten nach oben das Wort. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 3170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zumindest – so schätzen wir das ein – besteht die große (C) Ich erteile das Wort der Kollegin Eva Bulling- Gefahr. Eigentlich könnte es uns, den Linken, egal sein, Schröter für die Fraktion Die Linke. wenn Schwarz-Gelb wieder einmal Fehler macht und sich ein ums andere Mal als verlängerter Arm der Kon- (Beifall bei der LINKEN) zerne profiliert. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Um Gottes Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): willen!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die Bundesregierung seit Monaten mit Ver- – Hören Sie doch zu! – Es ist uns aber nicht egal, wenn lautbarungen Unruhe, Ängste und Chaos in der Branche Sie Tausende Arbeitsplätze in Gefahr bringen und zu- der erneuerbaren Energien schürt und wöchentlich eine gleich energie- und klimapolitisch zur Rolle rückwärts neue energiepolitische Sau durchs Dorf treibt, liegt nun ansetzen. Wir halten Ihren Gesetzesentwurf für kontra- ein Gesetzentwurf der Koalition dazu vor. Ich halte ihn produktiv. Ich sage es noch einmal: Seine Verabschie- für einen Salto rückwärts. Der Antrag, den wir vorgelegt dung gefährdet viele heimische Produzenten. Bereits haben, will da einiges ausbügeln. jetzt mussten einige Kommunen und Privatanleger ihre Solarprojekte auf Eis legen oder absagen, weil sie die Deutschland steht vor einer Systementscheidung. Der Kostenfrage nicht mehr klären können. notwendige Ausbau der erneuerbaren Energien ist mit einer Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Welche?) und dem Neubau von Kernkraftwerken nicht vereinbar. Von der Koalition kamen im Januar nebulöse Ankün- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem digungen. Zuerst hieß es, dass zum 1. April gekürzt wer- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den soll. Jetzt soll die Kürzung zum 1. Juli erfolgen. Je- des Mal stehen andere Zahlen im Raum. Jede Woche Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundes- gibt es einen anderen Sachverhalt. Niemand weiß mehr, regierung spricht von einem grundlegenden Systemkon- wie es eigentlich weitergehen soll. Das ist unverantwort- flikt zwischen einem hohen Anteil von Strom aus lich gegenüber der ganzen Branche. Grundlastkraftwerken auf der Basis von Kohle und Uran und einem weiteren Ausbau erneuerbarer Energien. Das (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sind klare Worte. Ich frage mich: Warum ignorieren Sie neten der SPD) eine solche Aussage? Wenn Sie die Aussagen des Sach- Sie kommen mit Entwürfen, die sämtlichen Solar- verständigenrates immer ignorieren, bräuchten Sie sich unternehmen die Haare zu Berge stehen lassen und den eigentlich keinen zu leisten. (B) Beschäftigten den Angstschweiß auf die Stirn treiben. (D) (Beifall bei der LINKEN) Sie sind in diesen Fragen ziemlich beratungsresistent. Sie agieren in Rambo-Manier und gefährden – ich sage Seit Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes es noch einmal – Tausende Arbeitsplätze, insbesondere ist – das wurde schon dargelegt – der Anteil der erneuer- an Solarstandorten mit vielen kleineren Unternehmen in baren Energien an der Stromversorgung auf über den strukturschwachen Regionen Sachsen, Sachsen-An- 16 Prozent angestiegen. Bei jährlichen Minderungen von halt und Thüringen. gegenwärtig etwa 110 Millionen Tonnen Kohlendioxid leisten erneuerbare Energien damit einen wichtigen (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Lassen Sie Beitrag zum Klimaschutz. Also müssen sie ausgebaut Thüringen mal aus dem Spiel!) werden. Wesentliche Ursache dieser dynamischen Ent- Aber auch in Bayern gibt es Widerstand. Auch Herr wicklung ist die durch das EEG garantierte Einspeise- Seehofer hat sich dazu geäußert. Mich würde interessie- vergütung für Strom aus erneuerbaren Energien. Die ren, ob er die Sonderausgabe des Bauernblatts gelesen ebenfalls dort verankerte jährliche Absenkung der Ein- hat. Sie zerstören auch international Vertrauen in die speisevergütung – das ist die Degression – hat sich als Verlässlichkeit deutscher Umwelt- und Energiepolitik – Anreiz für technische Innovationen und die Optimierung mit unabsehbaren Folgen. in der Anlagenproduktion bewährt. Nur noch einmal als Merkposten: 300 000 Menschen Für Investoren und auch für die produzierenden Un- arbeiten hierzulande in der Branche der erneuerbaren ternehmen brauchen wir Planungssicherheit durch mit- Energien – Tendenz stark steigend. Das sind zehnmal so telfristig festgelegte Vergütungssätze und Degressions- viele wie in der konventionellen Energieerzeugung. Al- schritte. Das ist von zentraler Bedeutung. lein 60 000 Beschäftigte entfallen auf die Fotovoltaik- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- branche, vor allem im produzierenden Gewerbe und im neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Handwerk. GRÜNEN) Jetzt behauptet die Regierungskoalition, die konkre- Unter dem Motto „Wenn es am schönsten ist, soll ten Zahlen und Vorhaben in engem Kontakt mit Solar- man aufhören“ legt uns die Koalition einen Gesetzesent- wirtschaft und Interessenverbänden abgesprochen zu ha- wurf auf den Tisch, der die positive Entwicklung im Be- ben. Ich weiß nicht, mit wem Sie da gesprochen haben. reich Solarstrom beenden soll; Wir haben viele Mails und Briefe erhalten. Wir haben auch mit dem Bundesverband Erneuerbare Energie ge- (Horst Meierhofer [FDP]: So ein Quatsch!) sprochen. Da sind uns andere Zahlen vorgelegt worden; Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3171

Eva Bulling-Schröter (A) das wurde vorher schon angedeutet. Ich meine, dass wir Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) das in der Anhörung sehr intensiv diskutieren müssen. Frau Kollegin! Wir fordern einen Austausch mit den Betroffenen al- ler Ebenen. Den werden wir führen. Wir fordern in unse- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): rem Antrag, die Einspeisevergütung Die großen Konzerne hingegen fassen Sie nicht an. Mit denen gehen Sie – wie es Gregor Gysi heute Vormit- (Horst Meierhofer [FDP]: 10 Euro!) tag schon gesagt hat – lieber zum Essen. im einstelligen Prozentbereich zu kürzen, keine Decke- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- lung des jährlichen Leistungsausbaus vorzunehmen und neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN vor allem keinen Axthieb auszuführen, sondern eine und der SPD – Zuruf von der SPD: Aber die schrittweise Anpassung vorzusehen. zahlen das auch!) (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sowohl die Branche als auch die Verbraucher müssen sich so auf die Anpassung einstellen können. Dazu benö- Hans-Josef Fell hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü- tigt man natürlich auch Zeit. Unser Antrag wird dieser nen. Tatsache gerecht. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die von der Koalition vorgesehene flexible Markt- Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- anpassung der Einspeisevergütung, nach der die Degres- legen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Gestern hat Umwelt- sion um weitere 3 Prozentpunkte angehoben wird, wenn minister Röttgen die aktuelle Erfolgsbilanz der erneuer- zu viele Solaranlagen gebaut werden, widerspricht unse- baren Energien vorgestellt: Gegen den Trend der rer Meinung nach dem eigentlichen Förderzweck des Wirtschaftskrise sind sie – Frau Kollegin Flachsbarth hat EEG. Marktwachstum ist kein Maß für die Kostenent- schon darauf hingewiesen – weiter gewachsen. Die In- wicklung bei der Herstellung von Solarmodulen. vestitionen in dieser Branche sind im vergangenen Jahr auf knapp 18 Milliarden Euro gestiegen. Sie bieten be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: reits 300 000 Arbeitsplätze, allein 60 000 davon in der Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solarwirtschaft. Kein anderer Industriezweig in Deutsch- Hinsken zulassen? land hatte in den letzten zehn Jahren eine solche Bilanz vorzuweisen. Das ist eine hervorragende rot-grüne Er- folgsgeschichte, die von Union und FDP nicht initiiert, (B) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): (D) sondern anfänglich sogar bekämpft wurde. Nein, will ich nicht. – Im Übrigen verschweigt die Koalition elegant, dass zur Einmalabsenkung mit dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jahreswechsel 2011 noch eine Sonderabsenkung um und bei der SPD) 2 Prozent dazukommt. Sehr geehrter Herr Röttgen, Sie reden viel von erneu- Bereits in Ihrem eigenen Gesetzentwurf wird davon erbaren Energien. Wir glauben Ihren schönen Worten ausgegangen. Sie versuchen, als Leistung zu verkaufen, aber nicht mehr, weil Sie mit Ihren Handlungen offen- dass die Zielmarke des Solarausbaus hochgesetzt wird. sichtlich auf die Beendigung dieser Erfolgsgeschichte Ich frage Sie: Was ist das für eine Zielmarke, von der Sie abzielen. Ihr Plan einer achtjährigen Laufzeitverlänge- bereits jetzt wissen, dass sie überschritten wird? Das ist rung und Ihre Unterstützung für den Neubau von Kohle- keine Zielmarke, sondern eine Schranke. kraftwerken werden eine massive Mauer gegen den Aus- bau der erneuerbaren Energien aufbauen. Wem nützt es letztendlich, wenn der Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien gebremst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird? Das nützt denjenigen, die aus abgeschriebenen sowie des Abg. Dirk Becker [SPD]) Kernkraftwerken Milliardenprofite machen, und den politischen Akteuren, die als Lobbyisten der Energie- Gleichzeitig greifen Sie heute mit der Vorlage der No- konzerne auftreten und sich für Laufzeitverlängerungen velle zum Erneuerbare-Energien-Gesetz massiv in die starkmachen. Erfolgsgeschichte der Solarwirtschaft ein. Sie wollen nach der zum Jahreswechsel erfolgten Senkung der So- (Michael Kauch [FDP]: Den Hartz-IV-Emp- larvergütung um etwa 10 Prozent nun zum Juli erneut fängern nützt Ihre Position nichts!) um bis zu 16 Prozent senken und zu Beginn des nächsten Jahres noch einmal um circa 10 Prozent zulangen. Ein- – Sie haben über Profite gesprochen, die abgeschöpft nahmeverluste von mehr als 30 Prozent innerhalb eines werden. Dabei haben Sie uns an Ihrer Seite. In den ver- Jahres kann keine Branche schadlos überstehen. gangenen Jahren haben wir dafür gekämpft, die Profite der großen Konzerne abzuschöpfen, um endlich Mittel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für die Menschen zu haben, die weniger Geld verdienen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Das haben Sie aber nicht getan. Zusätzlich wollen Sie mit den besonders kostengünsti- Sie verfolgen Ihre Ziele jetzt in der Solarbranche, die gen Freiflächen auf den Äckern sogar ein ganzes Markt- schwach ist. segment völlig zum Erliegen bringen. 3172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Hans-Josef Fell (A) Alle diese Vorschläge sind hochgefährlich für die dann ehrlich miteinander, wenn Sie endlich auch die (C) deutsche Solarwirtschaft. Das sieht neben den Minister- überzogenen, weitaus höheren Milliardengewinne der präsidenten der Ostbundesländer nun sogar die baden- Unternehmen, die mit konventionellen, klimaschädli- württembergische Umweltministerin Gönner so. chen Technologien produzieren, kritisieren. Genau das habe ich von Ihnen aber noch nie gehört. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Fell, Herr Kollege Hinsken würde Ihnen gern sowie bei Abgeordneten der SPD – Ernst eine Zwischenfrage stellen. Hinsken [CDU/CSU]: Das heißt, Äpfel mit Birnen zu vergleichen!) Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Viele der jungen deutschen Solarfabriken haben be- Gerne, Herr Hinsken. reits 2009 rote Zahlen geschrieben. Vielfältige Ursachen stehen hinter dem Preisverfall. Der politisch verordnete Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zusammenbruch des spanischen Marktes, die massive Herr Hinsken, bitte schön. Unterstützung Chinas für den Aufbau neuer Solarfabri- ken, die Probleme mit einem unterbewerteten Yuan, all Ernst Hinsken (CDU/CSU): das sind Randbedingungen, die die deutschen Solarfabri- Herr Kollege Fell, zunächst einmal herzlichen Dank, ken aus eigener Kraft nicht ändern können. Was die Un- dass Sie meine Frage zulassen. ternehmen hier brauchen, ist eine klare Innovationsun- terstützung. Aber auch hier machen Sie von der Union Vorweg möchte ich bemerken, dass ich grundsätzlich das glatte Gegenteil, indem Sie, statt die Fotovoltaikfor- für Solarenergie bin. Ich sage das, damit hier kein fal- schungsmittel im Haushalt zu erhöhen, diese sogar noch scher Eindruck entsteht. um 4 Millionen Euro kürzen. Viele Experten befürchten, (Ulrich Kelber [SPD]: Aber?) dass mit Ihren Vorschlägen zur Solarvergütung und zur Kürzung der Fotovoltaikforschungsmittel Zehntausende Halten Sie es für gerechtfertigt, dass jemand im son- Jobs in den deutschen Solarfabriken gefährdet sind. nigen Regierungsbezirk Niederbayern mit 100 000 Euro Symbolische Werksschließungen und Protestkundge- Bargeld in der Tasche zu einer Bank gehen und einen bungen der Belegschaften lassen Sie einfach kalt. Kredit in Höhe von 15 Millionen Euro beantragen kann, um sich 10 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche zu Als Jobverluste in der Automobilwirtschaft drohten, kaufen und darauf eine Solaranlage zu errichten? Das haben Sie von der Union zusammen mit den Sozialde- heißt, es wäre möglich, mit einem Einsatz von 0,6 Pro- mokraten über die Abwrackprämie gleich 6 Milliarden (B) (D) zent Eigenkapital 15 Millionen Euro zu investieren und Euro neue Schulden gemacht, um den Kauf von sprit- so in den folgenden 20 Jahren letztlich Millionen heraus- fressenden Autos zu unterstützen, die sogar das Klima zuholen. Ist das nicht ein bisschen überzogen? Ist das schädigen. Doch in der Branche mit der Klimaschutz- noch nachvollziehbar? Ist das gerechtfertigt? Sind Sie technologie Fotovoltaik produzieren Sie Arbeitslose. nicht ebenfalls der Meinung, dass diese Förderung voll- Wie passt das zusammen? Es gelten bei Ihnen offen- kommen überzogen ist und dass deshalb dringend Kor- sichtlich unterschiedliche Gesetze. rekturen erforderlich sind? Sie folgen aufgebauschten, überzogen hochgerechne- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten Belastungsszenarien, die vor allem von Atom- und Kohlekonzernen vorgelegt werden oder in von ihnen fi- nanzierten wissenschaftlichen Studien erscheinen. Sie Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fürchten Dutzende Milliarden Euro Markteinführungs- Herr Kollege Hinsken, ich würde Ihr Bekenntnis zur hilfen für die Fotovoltaik in den nächsten 20 Jahren. Ge- Solarenergie ernster nehmen, wenn Sie dieselben Maß- flissentlich verschweigen Sie in der Debatte, dass die stäbe, die Sie hier in Bezug auf die hohen Renditen an Atomwirtschaft in Deutschland rund 165 Milliarden die Solarwirtschaft anlegen, auch an die Atomwirtschaft Euro staatliche Förderung erhalten hat, weit mehr, als und die Kohlewirtschaft, die überzogene Gewinne erzie- die Fotovoltaik jemals benötigen wird. Sie verschweigen len, anlegen würden. Ich habe noch nie gehört, dass Sie auch die Folgekosten der Atomwirtschaft: Mindestens diese kritisiert haben. 40 Milliarden Euro kostet den Steuerzahler die Entsor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gung der Atomforschungseinrichtungen. Niemals wird und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten die Fotovoltaik solche Schäden verursachen können. der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es sind Milliardengewinne, die in Unternehmen dieser und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Branche durch Strompreiserhöhungen, die unsere Kun- LINKEN) den immer mehr belasten, erwirtschaftet werden; ich Sie verschweigen auch, dass für die Atomkraft da- werde in dieser Rede noch darauf eingehen. Diese Ge- mals der Strompreis massiv erhöht wurde. Sie ver- winne thematisieren Sie nicht. schweigen zudem, dass die Steinkohlewirtschaft rund In der Tat bin ich in einem Punkt ganz bei Ihnen: 180 Milliarden Euro an Beihilfen erhalten hat und dass Auch überzogene Gewinne der Solarwirtschaft müssen sogar im schwarz-gelben Haushalt wieder 2 Milliarden gecancelt werden; dazu stehen wir. Wir reden aber erst Euro für Kohlesubventionen bereitgestellt werden. Wo Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3173

Hans-Josef Fell (A) ist die Gleichwertigkeit der Betrachtung, wenn Sie die innerhalb der CSU endlich beendet werden. In Bayern (C) überzogenen Kosten für die Fotovoltaik thematisieren? lacht man Sie doch inzwischen aus. Nur eine Stunde Ich höre nichts davon, dass Sie selber konventionelle nach der Kabinettsentscheidung in Berlin hat Minis- Technologien immer noch zu stark unterstützen. Klima- terpräsident Seehofer die CSU-Minister Guttenberg, schutz und Zukunftsinvestitionen sehen wahrhaftig an- Aigner und Ramsauer heftig kritisiert, indem er sagte, ders aus. Sie von der Union und der FDP beklagen sich dieser Beschluss sei das Ende der bayerischen Solarwirt- auch über die angeblich hohe Belastung durch die schaft. Herr Seehofer hat recht. Nur, warum hat er seine Strompreise und verschweigen, dass die erneuerbaren Minister nicht vorher zurückgepfiffen? Energien schon heute zur Senkung der Strompreise über den sogenannten Merit-Order-Effekt beitragen. Scham- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: los streichen die Stromkonzerne die darüber erzielbaren Gewinne ein und erhöhen mit ihrer Monopolmacht die Herr Kollege Fell, Sie müssen zum Schluss kommen. Strompreise. Allein 6 Milliarden Euro haben die Kon- zerne im letzten Jahr den Stromverbrauchern zusätzlich Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): abgeknöpft, ohne dass irgendeine Gegenleistung er- Das Spiel wird immer klarer. Sie reden zwar viel von bracht wurde. Der Gipfel der Frechheit ist, dass sie diese erneuerbaren Energien; in Wirklichkeit geht es Ihnen Strompreiserhöhungen mit den Mehrkosten für erneuer- aber um den Schutz der Atom- und Kohlekonzerne. bare Energien begründen. Herr Kauch, auch Sie haben die hohen Strompreise kritisiert. Ich habe von Ihnen bis- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Ach, her nichts über diese überzogenen Milliardengewinne Herr Fell!) der Konzerne gehört. Mit dem Kampf dagegen können Sie greifen so massiv ein, um den Ausbau erneuerbarer Sie Verbraucherschutz praktizieren und nicht mit der Energien auszubremsen. Kürzung der Solarvergütung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. bei der SPD und der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie von Union und FDP verschweigen zudem wich- und bei der SPD) tige positive volkswirtschaftliche Effekte, die die Strom- preiserhöhungen sogar überkompensieren. Obwohl die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Fotovoltaik erst in den Anfängen steckt, wurden durch Das Wort hat der Bundesminister Dr. Norbert sie 2009 bereits 3,6 Millionen Tonnen CO2 eingespart. Röttgen. (B) Steuereinnahmen in Höhe von über 3 Milliarden Euro (D) wurden in der Solarstrombranche erwirtschaftet, und (Beifall bei der CDU/CSU) Kosten in Höhe von rund 400 Millionen Euro für Ener- gieimporte, vor allem von Kohle und Erdgas, wurden Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, durch die Fotovoltaik letztes Jahr vermieden. Naturschutz und Reaktorsicherheit: All diese ökologischen und volkswirtschaftlichen Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Vorteile spielen für Sie aber keine Rolle. Sie wollen die legen! Nach den relativ aufgeregten Reden der Opposi- wichtigste Energiequelle der Zukunft, mit der die Bürge- tion will ich mich dem Versuch zuwenden, die Debatte rinnen und Bürger bald kostengünstig selbst Strom er- auf ihren Kern zurückzuführen, in dem wir in diesem zeugen können, zum Schutz der Atom- und Kohlekon- Hause, so glaube ich, weitgehend übereinstimmen. Ich zerne ausbremsen. möchte die Frage stellen: Was folgt aus der Übereinstim- mung in diesem Haus für die Förderung der Fotovoltaik, Längst haben wir Grüne vielfältige Vorschläge ge- der Solarenergie? macht, wie die Balance zwischen Vermeidung überzoge- ner Gewinne und einem weiteren Ausbau der Fotovol- Die Erfolgsgeschichte der erneuerbaren Energien taik gelingen kann. Wir haben Ihnen aufgezeigt, dass die – auch die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte: 300 000 Ar- Vergütung in diesem Jahr in drei gestaffelten Schritten beitsplätze – um jeweils 3 Prozent gesenkt werden kann. Dies vermei- det überhöhte Gewinne und gleichzeitig abrupte Markt- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verwerfungen. Lösen Sie doch einfach den Konflikt um NEN]: Späte Erkenntnis!) die Ackerflächen, indem Sie eine agrarische Nutzung ist geschildert worden. Sie ist nicht nur schön, sondern der Freiflächen zulassen. Es wird keinen Konflikt zwi- sie ist auch notwendig als energiepolitische Schlussfol- schen Lebensmittelerzeugung und Solarstrom geben, da gerung: Es bedarf eines Strukturwandels, den der Bun- selbst bei einer Vollversorgung mit erneuerbaren Ener- despräsident in dieser Woche beschrieben hat. Ich bin gien nicht mehr als 0,5 Prozent der deutschen Ackerflä- außerordentlich dankbar dafür und nutze diese Debatte chen für Freiflächenanlagen gebraucht würden. bewusst, um das entscheidende und aus meiner Sicht (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ wichtigste Zitat aus einem Interview des Bundespräsi- DIE GRÜNEN und der SPD) denten in diese Debatte einzuführen, weil das der Ge- samtkontext der Strategie zur Förderung der erneuerba- Mit dem Aufgreifen der grünen Vorschläge im parla- ren Energien ist. Ich zitiere aus einem Interview des mentarischen Verfahren würde auch der skurrile Streit Bundespräsidenten von dieser Woche: 3174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen (A) Wir müssen jetzt den Paradigmenwechsel hin zu ei- Die Frage ist: Was ist die Philosophie des Erneuer- (C) ner Wirtschaftsweise einleiten, die unser Planet ver- bare-Energien-Gesetzes? Messen wir die Qualität dieses kraftet und die letztlich auch mehr Sinn stiftet. Gesetzes daran, dass Subventionen, die die Stromkunden finanzieren, möglichst lange und in möglichst großem (Marco Bülow [SPD]: Genau! Deshalb verlän- Umfang fließen? Oder ist die Philosophie des Erneuer- gern Sie die Atomlaufzeiten und kürzen bei bare-Energien-Gesetzes die eines Gesetzes zur Markt- der Solarenergie!) einführung erneuerbarer Energien, zur Technologieför- Der Befund ist doch eindeutig: Die Rohstoffe wer- derung, die umso erfolgreicher ist, je früher und je den knapper, die Energie wird knapper, die Um- schneller sie nicht mehr der Subventionierung bedarf? weltschäden werden größer. Für mich gibt es kei- Denn die erneuerbaren Energien werden entweder auf nen Zweifel: Die Nation, die sich am schnellsten, dem Markt erfolgreich sein, oder sie werden gar nicht er- am intelligentesten auf diese Situation einstellt, folgreich sein. wird Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Genau so ist es. Ich finde, wir können dem Bundespräsi- NEN]: Natürlich! Keine Frage!) denten dankbar sein, dass er das in dieser Klarheit for- muliert hat. Das darf eine Würdigung in diesem Hause Nebenbei bemerkt: Das ist eine Investition in die er- finden. neuerbaren Energien. Aber das betrifft nur ein Bruchteil der Strompreiserhöhungen, die in den letzten Jahren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stattgefunden haben. neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Das war eine Ermahnung an Sie, Herr Röttgen!) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) – Ich weiß nicht, warum Sie sich selbst dann empören, wenn der Bundespräsident etwas Richtiges sagt, von Es ist wissenschaftlich völlig unbestritten, dass die dem ich unterstelle, dass auch Sie es für richtig halten. – Strompreiserhöhungen der letzten Jahre auf den fehlen- den Wettbewerb auf dem Strommarkt zurückzuführen (Ulrich Kelber [SPD]: An Ihre Adresse hat er sind. Es ist die oligopolistische Struktur dieses Marktes, es gesagt! Sie sollen das endlich mal tun, nicht die Wettbewerb verhindert. nur reden!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Daran sollten wir uns orientieren. Der Bundespräsident neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE hat die entscheidende Orientierung gesetzt. GRÜNEN) (B) (D) Die erneuerbaren Energien sind die Strategie im Kon- Auch in diesem Zusammenhang sind die erneuerbaren text des allgemeinen wirtschaftlichen Strukturwandels, Energien von strategischer Bedeutung, weil sie Wettbe- den wir angehen müssen. Darum setzen wir auf die er- werb in diesen Markt bringen, der in Wahrheit noch viel neuerbaren Energien, übrigens auch als Teil eines globa- zu wenig ein Markt ist. len Trends. Heute kam die Meldung, dass China erstmals (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weltweit an der Spitze der Länder liegt, die am meisten NEN]: Warum wollen Sie dann die Monopol- in die erneuerbaren Energien investieren. macht mit Laufzeitverlängerungen unterstüt- Das zeigt: Wir befinden uns auf einem globalen Markt, zen?) der rund 5 000 Milliarden Dollar umfasst, und in einem Weil das so ist, wollen und werden wir die Solarener- globalen Wettbewerb. gie ausbauen. Auch das ist mit dem vorliegenden Ge- (Ulrich Kelber [SPD]: Ja! – Hans-Josef Fell setzentwurf beabsichtigt. Die Solarenergie hat bislang [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das! – eine Nischenfunktion. Ich weise darauf hin: Die Koali- Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tion wird durch Verabschiedung des vorliegenden Ge- NEN]: Dann müssen Sie das unterstützen!) setzentwurfs die Solarenergie aus ihrer Nische heraus- holen und für einen relevanten Anteil der Solarenergie Es geht um die Frage, welche Strategie wir verfolgen, an der Stromversorgung sorgen. Das ist eine zentrale um die Nutzung der erneuerbaren Energien voranzutrei- Aussage, die mit diesem Gesetz verbunden ist. ben. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein erfolgrei- Wenn in den letzten Jahren die Systempreise, von de- ches Instrument. Ich habe übrigens keine Schwierigkei- nen hier gesprochen worden ist, im Verhältnis zu dem ten damit, zu erkennen, dass gelegentlich auch andere Zeitpunkt, als die staatliche Vergütung festgesetzt wurde, etwas richtig machen. um 30 Prozent gesunken sind und wenn wir nun für die- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ses Jahr erneut mit einem Preisrückgang von 10 bis zeichnet Sie aus!) 15 Prozent rechnen, also am Ende des Jahres einen Preisrückgang von 40 bis 45 Prozent im Vergleich zu Vielleicht könnten Sie sich in dieser Hinsicht etwas fort- dem haben, was die Stromkunden derzeit zahlen müssen, entwickeln. dann muss der Gesetzgeber reagieren, (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Dann machen Sie etwas!) NEN]: Aber nicht überreagieren!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3175

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen (A) wenn es bei der Markteinführung bleiben und nicht zu klar bestätigt, dass die Mittel in diesem Haushalt für die (C) einer Subventionierung von Investmentfonds kommen Fotovoltaikforschung von 32,9 Millionen Euro auf soll. 28 Millionen Euro gesenkt werden. Wer hat nun recht? Ist die Antwort der Bundesregierung an mich richtig (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) oder Ihre Aussage, die Mittel würden erhöht werden? Das ist nicht das Ziel, das wir verfolgen. Wir wollen die Markteinführung. Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, Nebenbei bemerkt: Auf den Preiswettbewerb zwi- Naturschutz und Reaktorsicherheit: schen den Herstellern von Modulen – ob es sich um ei- Ich habe gesagt, dass wir in diesem Haushalt die Mit- nen deutschen oder um einen chinesischen Hersteller tel für die Förderung der erneuerbaren Energien von handelt – hat die Einspeisevergütung von vornherein 110 Millionen Euro auf 120 Millionen Euro gesteigert keine Auswirkungen. Sie wirkt sich darauf schlicht und haben. ergreifend nicht aus. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: (Beifall bei der CDU/CSU) Forschung!) Ihr Argument ist in ökonomischer Hinsicht definitiv – Wir haben die Forschungsmittel für den Bereich der falsch. Wir haben diesen Preiswettbewerb übrigens erneuerbaren Energien von 110 Millionen Euro auf schon bei der heutigen Vergütung. Die Einspeisevergü- 120 Millionen Euro erhöht. Damit setzen wir auf For- tung hat dabei keinerlei Auswirkungen. schung. Das war meine Aussage. So einfach ist das. Herr Kollege Fell, bei aller Wertschätzung: Auch die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Aussage, dass wir nicht auf Forschung setzen, ist falsch. der FDP – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE In diesem Haushalt setzen wir vermehrt auf Forschung. GRÜNEN]: Und bei Fotovoltaik werden sie Mit diesem Haushalt, der ein Spar- und Konsolidie- gesenkt! Das war meine Aussage!) rungshaushalt ist, werden gegen die Notwendigkeit, zu Ich komme zu einem weiteren Element – ich will das sparen, zusätzlich 10 Millionen Euro in die Forschung in aller Kürze vortragen –, das diese Novelle prägt. Was investiert. Natürlich setzen wir auf die Forschung, weil wir tun, ist mehr als eine Reaktion auf den Preisrück- es um die Zukunft geht. gang; an einer Stelle fördern wir sogar stärker als bisher. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber Es geht um den Bereich, in dem die Solarenergie nicht [SPD]: Bei der Solarförderung?) eingespeist, sondern vom Haushalt selber genutzt wird. Das ist in hohem Maße sinnvoll, weil wir damit einen (B) Wir führen ein System ein, das Verlässlichkeit in die Anreiz für Verhaltensänderungen bieten. Wir geben ei- (D) Finanzierung bringt. nen wirtschaftlichen Anreiz, den Verbrauch nach der Er- zeugung auszurichten. Wir geben einen Anreiz für Ent- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ach!) wicklungen im Bereich Batterietechnologie. Es soll sich Wir schaffen dadurch Verlässlichkeit, dass wir in Zu- lohnen, diese Installationen im Privathaushalt vorzuneh- kunft die Vergütung an die Marktentwicklung koppeln. men. Außerdem ist das ein Angebot an die Bürger, mit- Im Gesetzentwurf ist keine fixe Vergütung vorgesehen, zumachen. Sie haben die Chance, sich selber zu versor- die immer wieder angepasst werden muss, je nachdem, gen. Das ist ein Anreiz, davon Gebrauch zu machen. wie sich der Markt entwickelt. Wir führen vielmehr ei- Eine letzte Bemerkung: Es geht bei diesem Vorschlag nen flexiblen Vergütungsmechanismus ein, der an die auch um die Kürzung von Subventionen. Was ist der Marktentwicklung gekoppelt wird und Verlässlichkeit Kern? Es geht um Geld und um Interessen. Ich finde, für Finanzierung und Planung bringt. Damit vermitteln dass das nicht die Orientierung dieser Debatte und dieser wir Investitionssicherheit. Gesetzgebung sein darf. Ich meine, wir müssen uns an dem strategischen Ziel orientieren, die Nutzung der er- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: neuerbaren Energien durch eine verlässliche Rahmenset- Herr Minister, möchten Sie eine Zwischenfrage des zung zu fördern, damit der in unserem Land eingeschla- Kollegen Fell zulassen? gene Weg der Energiegewinnung erfolgreich wird. Die einen sagen: Es ist viel zu viel gekürzt worden. Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt, Die anderen sagen: Es ist noch viel zu wenig gekürzt Naturschutz und Reaktorsicherheit: worden. Ich glaube, dass wir mit Augenmaß und einer Ja. konzeptionellen Klugheit einen Rahmen setzen, was dazu führen wird, dass die erneuerbaren Energien und Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): speziell die Solarenergie in Deutschland weiter eine Er- Herr Minister Röttgen, wenn ich Sie richtig verstan- folgsgeschichte schreiben. Unser Gesetz ist nicht nur gut den habe, haben Sie gerade behauptet, die Mittel für die gemeint, sondern auch richtig gut gemacht. Die Solar- Fotovoltaikforschung würden in diesem Bundeshaushalt energie erhält somit eine wirkliche Förderung. gegenüber dem letzten Haushalt erhöht. Ich habe gesagt Danke sehr. – das war meine Kritik –, dass das nicht richtig ist, dass die Mittel vielmehr gesenkt werden. Die heutige Ant- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk wort der Bundesregierung auf eine Anfrage von mir hat Becker [SPD]: Aber nicht die deutsche Solar- 3176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen (A) industrie! Ein chinesisches Wachstumsbe- wenn es zum Beispiel um Milliarden für die Betreiber (C) schleunigungsgesetz, was Sie machen!) von Atomkraftwerken geht und wenn es um Zusatzbei- träge bei der Krankenversicherung geht? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Iris Gleicke [SPD]: So ist es!) Waltraud Wolff hat das Wort für die SPD-Fraktion. Ganz einfach – ich kann Ihnen die Frage beantworten –: (Beifall bei der SPD) Es geht Ihnen nicht um die kleinen Leute. Ihnen geht es nur um billige Begründungen und um nichts anderes. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Kollegen! Meine Damen und Herren! Erneuerbare Ener- GRÜNEN) gien über den grünen Klee loben, Anerkennung für 300 000 Arbeitsplätze zollen, Visionen für die Zukunft Fakt ist: Die Strompreise werden immer mehr zur Be- der erneuerbaren Energien haben und die Zukunft schön lastung. Aber: Während die durchschnittlichen Strom- ausmalen, das ist das eine, Herr Minister Röttgen. Aber preise für Haushalte in den letzten zehn Jahren um gleichzeitig verlängern Sie die Laufzeit der Atomkraft- 9,3 Cent auf 23,2 Cent pro Kilowattstunde gestiegen werke um acht Jahre. Das nenne ich wirklich konse- sind, hat sich der Anteil der EEG-Umlage im gleichen quent! Zeitraum lediglich von 0,2 auf 1,1 Cent pro Kilowatt- stunde erhöht; In der letzten Woche, in der Haushaltsdebatte, habe ich von einem CDU-Kollegen zum Haushalt eine Frage (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Genau!) gestellt bekommen, nämlich: Ist es gerecht und richtig, dass die kleinen Stromkunden jemanden für seine Foto- einer von fünfzehn durch das EEG. Geht es der Regie- voltaikanlage 10 Prozent Rendite zahlen sollen? Ich will rungskoalition wirklich um die Verbraucherinnen und heute noch einmal Bezug auf diese Frage nehmen und Verbraucher, mit einer Gegenfrage antworten: Ist es eigentlich okay, (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Ja, dass Union und FDP genau diesen Stromkunden mehr natürlich!) als 46 Milliarden Euro Zusatzgewinne für die Atom- kraftbetreiber abverlangen? geht es der Regierungskoalition um eine Senkung von (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Was?) Kosten? Nein, die Regierungskoalition setzt auf Dino- sauriertechnologie statt auf Zukunft. Sie wissen doch (B) 2009 betrugen die Kosten für Strom aus erneuerbaren ganz genau, dass die Investitionen in die erneuerbaren (D) Energien 4,6 Milliarden Euro. Energien heute für bezahlbare Strompreise morgen sor- gen. (Michael Kauch [FDP]: Sie haben das nicht so ganz verstanden!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Auf mindestens 46 Milliarden Euro beziffert eine Studie des Öko-Instituts vom Oktober letzten Jahres die Ge- Sie wissen auch ganz genau, dass sinkende Preise nur winnmitnahme der Betreiber von Atomkraftwerken bei durch einen funktionierenden Wettbewerb erreichbar einer zusätzlichen Laufzeit von acht Jahren – 46 Milliar- sind. Das alles wissen Sie. Also hören Sie doch auf, hier den Euro zusätzliche Gewinne, die Union und FDP aus- Nebelkerzen zu werfen. lösen wollen. (Michael Kauch [FDP]: Können von der SPD (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mal die Fachleute reden? – Gegenruf des Abg. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind auch keiner!) Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist doch Unfug! Auf welcher Grundlage denn?) Im Oktober letzten Jahres hat der damalige Kartell- amtspräsident Bernhard Heitzer auf einen wichtigen Es ist richtig: Weder Verbraucher noch Steuerzahler Punkt hingewiesen – ich zitiere –: sollen die Melkkuh der Nation sein. Wenn die Laufzeiten verlängert werden, wird die (Beifall des Abg. Horst Meierhofer [FDP]) hohe Verdichtung der Erzeugungskapazitäten ze- Aber können Sie mir bitte schön erklären, wie es kommt, mentiert … dass die kleinen Leute bei Ihren Entscheidungen über- Gemeint sind die vier Energieriesen in Deutschland. haupt keine Rolle spielen, (Horst Meierhofer [FDP]: Wer hat die denn ge- (Michael Kauch [FDP]: Das ist eine schaffen, Frau Kollegin? Wo kommen die Frechheit!) denn her?) wenn es zum Beispiel um Milliarden für Hotelbesitzer geht, Auf dem Strommarkt – das wissen wir alle – herrscht kein Wettbewerb. Wir müssen die Strukturen ändern, (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Eigenheim- wenn wir Wettbewerb wollen. Laufzeitverlängerungen zulage!) bewirken das Gegenteil. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3177

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie mit! Lehnen Sie die strengen Kürzungen, die vorge- (C) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE nommen werden sollen, gemeinsam mit der Opposition GRÜNEN) ab! Sie zementieren die Strukturen, die seit Jahren private Vielen Dank. und gewerbliche Energiekunden mehr und mehr Geld (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kosten. Sie verhindern, dass in Zukunftstechnologien in- der LINKEN und des Abg. Hans-Josef Fell vestiert wird. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Maria Ein großes Problem – darauf haben andere schon hin- Flachsbarth [CDU/CSU]: Strenge kann gewiesen – ist, dass Sie die Fotovoltaik auf Ackerflä- manchmal auch Wirtschaftlichkeit sein!) chen beenden wollen. Wieder ist Ihre Argumentation einfach nur unehrlich. Richtig ist: Es gibt Flächenkon- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: kurrenz. Richtig ist auch: Der Ackerboden ist begrenzt. Nächster Redner ist der Kollege Horst Meierhofer für Aber ich frage mich: Warum gehen Sie hier wieder auf die FDP-Fraktion. den kleinsten Mitspieler los? Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat zu Ihrer Biomassestrategie festge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stellt, dass bei der Biomasse die Nutzungskonkurrenzen nicht ausreichend berücksichtigt sind. Die Produktion Horst Meierhofer (FDP): von Biomasse – das wissen wir alle; ich komme aus dem Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Landwirtschaftsbereich und beschäftige mich hiermit Ich habe wirklich ein Problem mit dem Politikverständ- schon seit zwölf Jahren – hat auf Ackerflächen eine we- nis, das der eine oder andere hier hat. sentlich größere Bedeutung als Fotovoltaik. Das heißt, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Biomasse zur Energieerzeugung hat einen vielfach grö- CDU/CSU) ßeren Flächenbedarf als Fotovoltaik. Herr Fell kommt auf die Idee, zu sagen: Die Kohle Zusammengefasst: Auch hier stimmen Ihre Begrün- wurde im Laufe der Jahre zu stark subventioniert. Des- dungen vorne und hinten nicht. Im Übrigen ist die SPD wegen dürfen wir jetzt keine Übersubventionierungen explizit der Meinung, dass wir nicht in die Hoheitsrechte bei der Fotovoltaik verhindern. – Welche Logik liegt der kommunalen Verwaltungen eingreifen sollten. Die dem zugrunde? Kommunen haben selber genug Sachverstand, um zu entscheiden, ob sie auf ihren Äckern Fotovoltaikanlagen (Michael Kauch [FDP]: Das frage ich mich installieren lassen oder nicht. Das können Sie denen zu- allerdings auch!) (B) (D) trauen. Weil das eine gewollt und das andere ungewollt ist? (Beifall bei der SPD) (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Am 12. März 2010 hat Ministerpräsident Seehofer NEN]: Ach! Hören Sie doch endlich mit der verlauten lassen: „Die von der Bundesregierung ange- Kohlesubventionierung statt mit der Solarför- strebten Senkungen der Solarförderung sind zu hoch.“ derung auf!) Ihre eigenen Ministerpräsidenten – hier sind schon an- Es geht nicht darum, dass wir in diesem Bereich Arbeits- dere angeführt worden – haben die wesentlichen Pro- plätze schaffen oder gefährden wollen, sondern es geht bleme schon benannt und Vorschläge gemacht. Hören um nicht mehr und nicht weniger als darum, dass staat- Sie doch wenigstens denen zu! Der Ministerpräsident lich garantierte Traumrenditen nicht auf Kosten des klei- meines Bundeslandes Sachsen-Anhalt, Herr Professor nen Mannes finanziert werden sollen; Böhmer, ist sicherlich kein Ministerpräsident der lauten Worte. Aber selbst er hat Sie aufgefordert, „die Folgen (Elke Ferner [SPD]: Genau dafür sorgen Sie der beschlossenen Kürzung zu überdenken.“ doch!) (Elke Ferner [SPD]: Unser Umweltminister das ist das Entscheidende. hat das auch getan!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich glaube, dass er nur aus Gründen der Parteiräson nicht Frau Wolff, es ist eine absurde Vorstellung, zu glau- die Rücknahme Ihrer Vorschläge, sondern lediglich Er- ben, dass, wenn wir die Förderung pro Kilowattstunde satzlösungen durch eine stärkere Unterstützung der So- für die Fotovoltaikindustrie in Deutschland nicht kürzen larzellenhersteller gefordert hat. Es geht um Arbeits- würden, Arbeitsplätze gerettet würden. Ganz im Gegen- plätze, nur falls es Sie interessiert. teil, das würde nämlich den Wettbewerb im Ausland ver- schärfen. Dort profitiert man von unserer Unterstützung Meine Damen und Herren, das Erneuerbare-Ener- nämlich genauso wie in Deutschland. Wir müssen dafür gien-Gesetz – Kollege Fell hat das vorhin deutlich ge- sorgen, dass unsere Industrie wettbewerbsfähig bleibt, macht – ist eine Erfolgsgeschichte. Diese Erfolgsge- dass sie forscht und selbst in Forschung investiert. Dann schichte erkennen auch Sie an. Die Fotovoltaik ist ein ist sie anderen einen Schritt voraus, nicht dann, wenn sie sehr wichtiger Teil der Zukunft unserer Energieversor- viel Unterstützung bekommt. gung. Dafür steht die SPD. Ich fordere allerdings auch die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sich als Freunde der Sonnenenergie betiteln, auf: Helfen der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wol- 3178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Horst Meierhofer (A) mirstedt] [SPD]: Ach was! Das ist doch nicht nur die Rahmenbedingungen schaffen, und das passiert (C) das, was Sie machen! Sie holen doch sogar gerade. noch Kohle aus China hierher!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ein solches Verständnis führt mit Sicherheit nicht dazu, Ein Thema möchte ich noch ganz kurz ansprechen. dass in Deutschland mehr Arbeitsplätze entstehen. Diese Heute haben wir den vorliegenden Gesetzentwurf einge- Arbeitsplätze werden in China entstehen. bracht. Nun folgt ein offenes parlamentarisches Verfah- Es gibt ein grundsätzliches Verständnisproblem. Wer ren. Wir werden zu diesem Thema auch eine Anhörung glaubt, dass es ökologisch ist, Investoren möglichst hohe durchführen. Ich bin überzeugt, dass es noch die eine Renditen zu versprechen, der denkt überhaupt nicht lo- oder andere Änderung geben kann. Frau Dr. Flachsbarth gisch, ökologisch schon gar nicht. Der denkt nur im Inte- hat bereits darauf hingewiesen, dass die Vergütung für resse derer, die es sich leisten können und genug Geld Anlagen auf Ackerflächen eingeschränkt werden muss. haben, um in großem Umfang zu investieren. Der denkt Hier sind wir uns absolut einig, und das ist auch vernünf- aber nicht im Interesse des kleinen Mannes. tig. Über die Frage, ob ein Förderstopp für Anlagen auf Ackerflächen vernünftig ist, kann man durchaus disku- (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ tieren, weil Fotovoltaik dort natürlich deutlich günstiger CSU]) ist als auf dem Dach. Mir ist vollkommen unverständlich, wie es sein kann, (Dirk Becker [SPD]: Wenigstens ein dass gerade die Linkspartei auf die Idee kommt, zu sa- richtiger Satz!) gen: Wer bei der Fotovoltaik kürzt, denkt nicht an den kleinen Mann. – Das genaue Gegenteil ist der Fall. Gleichzeitig müssen aber die Bedürfnisse der Land- wirtschaft befriedigt werden, indem man sagt: Wir wol- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – len keine riesigen Parks. Wir wollen keine Investoren- Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- modelle, die von auswärts oder sonst woher kommen. NEN]: Es geht darum, dass Sie zu viel kürzen, Das ist klar. Die Größen zu begrenzen oder nach Boden- nicht darum, dass Sie überhaupt kürzen!) punkten des Werbers zu gehen, könnte beispielsweise ein Kompromiss sein. Für dieses Jahr werden Ausbauziele von 4 bis 6 Gigawatt erwartet. Das ist toll und erfreulich. Das (Beifall bei der FDP – Waltraud Wolff [Wol- heißt, dass die Fotovoltaikbranche auf einem sehr guten mirstedt] [SPD]: Dafür haben die Kommunen Weg ist. Das heißt aber auch, dass sie die Kürzungen, die den Sachverstand!) vorgesehen sind, gut verkraften kann. Das Gleiche gilt für den Eigenverbraucher. Wir müs- (B) (D) Sie haben davon gesprochen, dass der eine oder an- sen aufpassen, dass wir keinen zusätzlichen Subven- dere Vertreter eines Verbandes der Fotovoltaik- oder So- tionstatbestand schaffen. Wenn uns das gelingt, wird es larwirtschaft gesagt hat, die Förderung sei zu hoch. Viel- im Rahmen des Verfahrens zu einer für alle befriedigen- leicht wollen Sie ja, gerade wenn Ihnen der kleine Mann den Lösung kommen. Die Fotovoltaikindustrie wird so wichtig ist, auch hören, was der Chef des Verbrau- weiterhin wachsen. Erneuerbare Energien sind die Zu- cherzentrale Bundesverbandes gesagt hat. Er sagte: kunft. Wenn die Absenkung nicht noch deutlich höher erfolgen Vielen Dank. wird, werden die Kosten in Zukunft in nicht tragbare Di- mensionen vorstoßen. – Vielleicht sollten Sie sich auch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) diese Aussage einmal zu Herzen nehmen. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Was sa- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gen denn Ihre Ministerpräsidenten dazu? – Ge- Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen genruf des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/ Scheer das Wort. CSU]: Die haben doch gar keine! Das sind al- (Zuruf von der FDP: Jetzt kommt die Lobby!) les unsere!) Das ist nämlich das Entscheidende. Darüber müssen wir Dr. Hermann Scheer (SPD): uns Gedanken machen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eben gehört, dass auch seitens der Koalitions- (Beifall bei der FDP) fraktionen und der Regierung noch Überlegungsspiel- Ich meine, dass wir damit begonnen haben, einen raum vorhanden sein soll. Außerdem wird es ein Hea- wirklich guten Weg einzuschlagen. ring geben. (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt! Und das ist Am Schluss der Debatte möchte ich aber eine Sache auch gut so, könnte man hinzufügen!) zu bedenken geben: Wir haben erst vor kurzem eine De- batte anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Erneuer- Ich bin mir sicher, dass wir in die richtige Richtung ge- bare-Energien-Gesetzes geführt. Im Rahmen dieser hen. Diejenigen Unternehmen, die aufgrund dieser Kür- Debatte ist gelegentlich zitiert worden, welche schwer- zung nicht wettbewerbsfähig sind, müssen sich in Zu- wiegenden Bedenken und Warnungen es vor diesem Ge- kunft besonders anstrengen; das ist das Entscheidende. setz vonseiten der CDU/CSU und der FDP gegeben hat. Wir können keinen Arbeitsplatz garantieren. Wir können All diese negativen Voraussagen sind nicht eingetreten, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3179

Dr. Hermann Scheer (A) und all die positiven Voraussagen bezüglich der Wirkung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) des Gesetzes sind eingetreten und werden heute bestä- Nun hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/ tigt. Deswegen wundert mich die Selbstsicherheit, mit CSU-Fraktion das Wort. der all diejenigen, die sich nachweislich geirrt haben – das haben sie selbst zugegeben –, jetzt meinen, dass ihr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ansatz, wie es mit dieser Schlüsseltechnologie weiterge- neten der FDP) hen soll, richtig ist. Ich möchte Sie bitten, bei der jetzt anstehenden De- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): batte und dem Hearing das eigene Wort ernst zu nehmen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir füh- Schauen Sie sich die Dinge ganz genau an, damit im ren diese Debatte über Fotovoltaik nun seit Wochen, Hinblick auf diese Frage kein wesentlicher Fehler pas- wenn nicht seit Monaten, mit einer Emotionalität, wie siert. Was von Deutschland aus aufgebaut worden ist, bis ich sie in diesem Bundestag noch nie erlebt habe. hin zu den Produktionen in China, ist eine Weltindustrie (Zurufe von der SPD: Oh!) für Fotovoltaik, die es ohne das Erneuerbare-Energien- Gesetz so nicht gäbe. Ein wesentlicher Fehler wäre also, Die SPD hat heute die bayerische Staatsregierung zi- wenn ausgerechnet Deutschland auf einmal einen sol- tiert. Die FDP hat das Bauernblatt zitiert. Dies zeigt, wie chen Einbruch erleidet, dass das, was wir angestoßen ha- schwierig die Gefechtslage an dieser Stelle ist. Deshalb ben, am Ende von anderen gemacht wird. Das kann doch will ich einleitend versuchen, zwei grundsätzliche Dinge wohl nicht in unserem Interesse liegen. festzuhalten, über die es in diesem Hause einen Konsens geben sollte: Erstens. Wir wollen mit dem EEG Techno- Danke schön. logien fördern und nicht Investmentfonds. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) neten der FDP) Zweitens. Die Fotovoltaikbranche hat eine besondere Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Verantwortung für das EEG. 45, wenn nicht 50 Prozent Herr Kollege Meierhofer, bitte schön. der Differenzkosten gehen zulasten der Fotovoltaik. Die Fotovoltaik produziert aber nur gut 6 Prozent des aus er- Horst Meierhofer (FDP): neuerbaren Energien erzeugten Stromes. Wir haben da also noch immer ein großes Missverhältnis. Nun ist das Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Scheer, die (B) erklärbar, weil es sich bei der Fotovoltaik um eine junge (D) Angst kann ich Ihnen nehmen. Für die Anhörung wur- Technologie handelt, die man in den Markt einführen den Experten geladen. Das haben übrigens auch der Herr möchte. Aber es muss doch unser gemeinsames Anlie- Minister und die FDP-Fraktion getan. Es werden die un- gen sein, meine Damen und Herren, das möglichst rasch terschiedlichsten Interessenvertreter gehört, mit denen zu tun, um nicht Kritiker auf den Plan zu rufen, die am dann besprochen wird, worum es geht. Beispiel der Fotovoltaikförderung das EEG insgesamt Das Wichtigste an dieser Novellierung ist, dass man diskreditieren. Dieses Potenzial bietet die Fotovoltaik- die Zukunft der erneuerbaren Energien nicht gefährdet. förderung, weil sie sehr hoch ausfällt. Wir haben vorher gehört, welche Verwicklungen es bei- Der Meilenstein, den wir erreichen müssen, ist, dass spielsweise in Spanien gegeben hat. Dort war man ir- der Strom, der vom Dach kommt, vergütet wird wie der gendwann nicht mehr bereit, die Subventionen zu redu- Strom, der aus der Steckdose kommt. Da sind wir auf ei- zieren, obwohl man rechtzeitig gemerkt hat, dass nem guten Weg. Eigentlich sollte die Branche die Vor- entsprechend große Profite gemacht werden, sodass zu- schläge von Minister Röttgen aufgreifen, ihn unterstüt- sätzliche Unterstützung gar nicht nötig war, um die Wirt- zen und sagen: Yes, we can; wir können das. Das wäre schaft anzutreiben. Irgendwann kommen dann Politiker ein Ansatzpunkt, der die entsprechende Begeisterung für und sagen: Um Himmels willen, so viele Milliarden die erneuerbaren Energien unterstreichen würde. Euro, wie ihr sie hier an Steuergeldern ausgebt, können und wollen wir uns nicht mehr leisten. Deswegen ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und jetzt Schluss mit diesem Wahnsinn. der FDP) Genau das wollen wir verhindern. Genau das werden Wir sind dabei, die entsprechenden Konsequenzen zu wir dadurch verhindern, dass wir vernünftige Kürzungen ziehen mit Sonderabschlägen, über die man natürlich vornehmen, die die Branche nicht gefährden, die aber diskutieren muss. Wir führen eine Anhörung dazu durch, dafür sorgen, dass es für den Verbraucher bezahlbar die ergebnisoffen sein wird, aber natürlich das Ziel hat, bleibt. Wir werden damit den Ausbaupfad der erneuerba- das, was bei der Fotovoltaik zu viel gefördert wird, abzu- ren Energien, insbesondere der Fotovoltaik, immer wei- schöpfen. Wer wie Herr Becker von der enormen Preis- ter vorantreiben. Sie ist zwar im Moment noch teuer, hat entwicklung spricht, die sich deutlich abzeichnet, der aber das Potenzial, günstig zu werden. Dann wird sie oh- muss dafür sein, übermäßige Förderung abzuschöpfen. nehin nicht mehr aufzuhalten sein. Wie der Minister es richtig ausgeführt hat: Es hilft doch der Branche nicht, wenn man das nicht tut. Am Ende (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) blieben nur überhöhte Renditen stehen. 3180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Ulrich Kelber [SPD]: Konkret!) (C) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des – Da Sie es konkret haben wollen, nenne ich Ihnen die Kollegen Kelber? Abschläge, um die es hier geht: 15 Prozent bei Freiflä- chen, 16 Prozent bei Dachflächen und 11 Prozent bei Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Konversionsflächen, also entsprechend weniger, sind die Angesichts meiner kurzen Redezeit gern. Vorschläge, die wir an dieser Stelle jetzt gemacht haben, über die wir in der Anhörung aber durchaus noch disku- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tieren werden. Ich gehöre zu denen, die nicht sagen: Bitte sehr. „Das ist zementiert, das ist betoniert“, sondern wir wol- len das auch dort noch einmal verifiziert bekommen. Ulrich Kelber (SPD): (Ulrich Kelber [SPD]: Nennen Sie doch Die Absicht meiner Fragestellung, Herr Kollege einmal einen Eurobetrag!) Nüßlein, war auch, Ihnen mehr Redezeit zu verschaffen; Sie sind ja der vorletzte Redner insgesamt und auch Ihrer Das Umweltministerium hat eine Rechnung vorge- Fraktion. legt, die ich für plausibel halte, und diese Rechnung wird man im Rahmen der Anhörung dann auch weiter verifi- Wären Sie bereit, die zusätzliche Redezeit zu nutzen, zieren. um nicht mehr abstrakt über die Frage der Vergütung zu sprechen? Die Koalitionsfraktionen haben einen konkre- (Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind nicht in der ten Gesetzentwurf eingebracht, mit dem sie die Förde- Lage, einen Eurobetrag zu nennen!) rung der Fotovoltaik kürzen wollen. Legen Sie einmal dar, wie ein Qualitätsprodukt wie Solarmodule unter die- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sen Bedingungen noch in Deutschland produziert wer- Herr Kollege, es gibt noch einen Kollegen, nämlich den und seinen Markt finden kann. Nutzen Sie die zwei den Herrn Becker, der Ihnen die Redezeit verlängern Minuten, die Ihnen die Präsidentin bestimmt dafür ein- möchte. räumen wird. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Das kann der Kollege Becker auch noch tun. Ich nutze die Gelegenheit, das im Rahmen der Beant- wortung Ihrer Frage außerhalb meiner Redezeit zu dis- (Ulrich Kelber [SPD]: Aber bitte einmal die (B) kutieren. Frage beantworten!) (D) Ich möchte noch einmal unterstreichen, was Minister – Sie können doch 15 Prozent von der Einspeisevergü- Röttgen vorhin ökonomisch präzise analysiert hat: Die tung berechnen. Ich erwarte, dass Sie das können. Das Einspeisevergütung hat mit der Entwicklung der Modul- traue ich Ihnen zu. preise nichts zu tun. (Ulrich Kelber [SPD]: Euro! Das sind nur vier (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Buchstaben!) Natürlich hat sie damit etwas zu tun!) Am Markt spielt die entscheidende Rolle nicht die Kos- Dirk Becker (SPD): tensituation der Unternehmen, sondern der Preis. Wenn, Herr Kollege Nüßlein, ich habe nur eine ganz kurze obwohl die Preise sinken, die Einspeisevergütung gleich Nachfrage. hoch bleibt, wem wird die Differenz zugutekommen? Müssen wir nicht davon ausgehen, dass der Investor Sie haben ja gerade ausgeführt, dass Sie den Berech- seine Rendite maximieren will? nungen des Bundesumweltministers vollumfänglich fol- gen können. Sie haben auch seine wirtschafts- und (Ulrich Kelber [SPD]: Sagen Sie es doch marktpolitische Logik herausgestellt und ihm in dem, einmal in Euro und Cent!) was er vorgelegt hat, recht gegeben. Er wird die hohe Einspeisevergütung gerne kassieren, Da Sie ja derselben Partei wie der bayerische Minis- den Strom aber trotzdem mit asiatischen Modulen erzeu- terpräsident angehören, heißt das für mich, dass Herr gen, weil so seine Gewinnspanne am höchsten ausfällt. Seehofer diese Voraussetzung logischerweise nicht er- füllt, weil er etwas anderes fordert. Stimmen Sie mir in Das ist ein Problem, das wir mit dem EEG nicht lösen dieser Deutung zu? können. Insofern haben all diejenigen Kolleginnen und Kollegen recht, die sagen: Das EEG ist kein Instrument zur Subventionierung, das heißt, kein Instrument dazu, Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): zielorientiert bestimmte Unternehmen der deutschen Das ist eine wunderschöne Frage. Wir können bei Be- Wirtschaft zu fördern. Jemand hat vorhin gesagt, es gehe wertungen natürlich durchaus zu anderen Ergebnissen um den Weltmarkt. Meine Damen und Herren, glauben kommen, weil insbesondere die Branche, die bestimmte Sie denn ernsthaft, dass wir über das EEG den Welt- Interessen verfolgt, etwas anderes behauptet. Der Minis- markt beeinflussen können? Das glauben Sie doch sicher ter steht zwischen dem Verbraucherschutz auf der einen auch nicht, sehr geehrter Herr Kollege. Seite und den Brancheninteressen auf der anderen Seite. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3181

Dr. Georg Nüßlein (A) Ich habe nicht gesagt, dass das, was der Minister hier Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) vorschlägt, bereits der endgültige Vorschlag ist, sondern Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege ich habe gesagt: Wir haben jetzt einen Vorschlag auf Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion. dem Tisch, der im Rahmen dieser Anhörung, zu der auch entsprechende Experten geladen werden, noch einmal (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verifiziert wird und von dem wir aber glauben, dass wir damit grundsätzlich richtig liegen. Wenn wir zu einem Thomas Bareiß (CDU/CSU): anderen Ergebnis kommen, dann bitte gern, aber das Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und muss an der Stelle dann auch entsprechend fundamen- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den tiert erfolgen. Horrorszenarien, die gerade von der Opposition gezeich- net wurden, möchte ich die Diskussion noch einmal et- (Dirk Becker [SPD]: Danke für das entschie- was versachlichen und betonen, dass das Gegenteil von dene Sowohl-als-auch!) dem der Fall ist, was Sie derzeit behaupten: Wir werden Was für mich an diesem Punkt ganz wesentlich und in den Bereich der Fotovoltaik nach wie vor enorm viel wichtig ist, ist das Thema Vertrauensschutz. Das ist nicht investieren; die Förderung wird enorm hoch sein. Kein ein Anliegen der FDP allein. Wir werden uns noch ein- Träger erneuerbarer Energien wird in den nächsten Jah- mal gemeinsam darüber unterhalten, ob das, was jetzt im ren so stark gefördert wie die Fotovoltaik. Vorschlag steht, ausreicht. Das ist das eine. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Da hat er recht! – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE Das andere ist das Thema Ackerland. Hier muss ich GRÜNEN]: Darum geht es doch gar nicht! Es die Kollegen von der FDP nun auch klar enttäuschen. geht um ausreichende Förderung!) Die Ackerlandauflage macht keinen Sinn. Sie hat schon zu rot-grüner Zeit keinen Sinn gemacht. Wie erklären Ich glaube, das wird in den nächsten Jahren auch zu ei- Sie denn, dass es die Fotovoltaik auf Ackerland geben nem enormen Ausbau in diesem Bereich führen. Die soll – neben Konversionsflächen und vorbelasteten Flä- Zahlen zeigen ganz deutlich, dass es in diesem Jahr eine chen? Damit hat sich Rot-Grün damals vor der Verant- Steigerung um 3 000 bis 5 000 Megawatt geben wird. wortung gegenüber dem Natur- und Landschaftsschutz Das heißt, allein in diesem Jahr gibt es einen Aufwuchs drücken wollen. Ich nehme an, dass Sie das deshalb ge- um 30 bis 50 Prozent. Der deutsche Anteil am Welt- macht haben. Das muss gestrichen werden, weil es nicht markt in diesem Bereich wird nach wie vor 50 Prozent konsequent und nicht sinnvoll ist. betragen, obwohl der deutsche Markt nicht gerade der Markt ist, auf dem die Sonne am meisten scheint. Auch (Horst Meierhofer [FDP]: Grünland!) (B) das muss man sicherlich in der Diskussion berücksichti- (D) gen. Wir werden dann auch noch einmal darüber diskutieren, ob die Alternativen, die Flächen, die jetzt im Gesetzent- Herr Kauch hat mir ein Zitat vorweggenommen, aber wurf vorgeschlagen sind, ausreichen, um das ganze ich muss das doch noch einmal sagen, weil ich glaube, Thema entsprechend voranzubringen. dass es in dieser Debatte enorm wichtig ist, die Positio- nen klarzustellen. Der Bundesverband Solarwirtschaft Ich möchte auch noch einmal betonen: Ich hätte mir hat vor wenigen Tagen ganz klar gesagt: Bei einer ge- gewünscht, dass auch der Kollege Fell die flexible Ver- zielten Eigennutzung des erzeugten Stroms besteht ab gütung – das, was Minister Röttgen mit Blick auf die 2010 durchaus Potenzial, die Vorjahresrendite noch ein- Verlässlichkeit gesagt hat – in ganz besonderer Weise mal zu übertreffen. – Meine Damen und Herren, allein gewürdigt hätte. Lieber Kollege Fell, wenn ich mich diese Aussage sagt doch alles. Ich glaube, sie zeigt, dass recht entsinne, war das nämlich bei der letzten EEG-No- eine Anpassung dringend notwendig ist. vellierung ein Vorschlag der Grünen. Ich würde mir wünschen, auch einmal ein bisschen für das gewürdigt Ich meine, wir sollten in dieser Debatte unsere Ziele zu werden, was wir hier an der Stelle umsetzen. Das noch einmal in den Mittelpunkt stellen. macht mehr Sinn als der Versuch, das Ganze politisch zu (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das ist es!) instrumentalisieren, die alte Leier „Kernenergie gegen erneuerbare Energien“ zu spielen und so zu tun, als ob es Das erste Ziel ist, die Träger erneuerbarer Energien da eine Konkurrenz gibt. Diese gibt es nicht. schrittweise auszubauen, wo es nur geht. Dann müssen wir prüfen, an welchen Stellen wir das tun. Wir werden (Beifall des Abg. Horst Meierhofer [FDP]) das im Bereich der Fotovoltaik massiv tun, aber wir müssen die Diskussion auch ehrlich führen und anerken- Wir stehen für den Einspeisevorrang erneuerbarer nen, dass wir im Bereich der Fotovoltaik und Solarener- Energien. Deshalb hat die Laufzeitverlängerung für gie nur ein begrenztes Potenzial haben. Selbst die größ- Atomkraftwerke nichts, aber auch gar nichts mit dem ten Optimisten sagen, dass wir in den nächsten Jahren Thema erneuerbare Energien und Fotovoltaik und deren nur 5, 6, 7 oder 8 Prozent der Stromerzeugung durch Fo- Ausbau zu tun. tovoltaik erzielen können. Vielen herzlichen Dank. (Ulrich Kelber [SPD]: Bis wann?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Trotzdem werden wir in den nächsten zehn Jahren neten der FDP) 80 Milliarden Euro in diesen Bereich investieren. Ich 3182 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Thomas Bareiß (A) glaube, es ist richtig, dass wir das tun. Denn die Exper- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) ten sagen uns, dass es in den nächsten zwei bis drei Jah- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich ren gerade in diesem Bereich noch Technologiesprünge sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann können geben wird. Ich glaube deshalb, es ist richtig, in die Fo- wir so verfahren. tovoltaik zu investieren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Aber wir müssen auch das zweite Ziel verfolgen – das Kollege Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke das wurde schon angesprochen –, nämlich die Solarbranche Wort. wettbewerbsfähig zu machen, damit sie auf dem interna- tionalen Markt bestehen kann. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Michael Schlecht (DIE LINKE): Denn nur so können langfristig sichere Arbeitsplätze Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! entstehen; und nur so können wir eine Branche auf- Griechenland ist durch massiven Druck aus Brüssel bzw. bauen, die zukunftssicher ist. aus der EU mitten in der Wirtschaftskrise gedrängt und Bei aller Diskussion dürfen wir nicht vergessen – es verpflichtet worden, ein massives Sparprogramm aufzu- ist mir wichtig, das noch zu erwähnen –, dass wir mit legen, zum Beispiel durch Lohnkürzungen und Einspa- gleichem Druck dafür sorgen müssen, die Energie, die rungen im öffentlichen Dienst, eine Mehrwertsteuer- wir durch Fotovoltaik erzeugen, auch speichern zu kön- erhöhung und dergleichen mehr. Das wird das Problem nen. Die ganz große Herausforderung für die nächsten in Griechenland nicht lösen. Im Gegenteil: Diese von au- Jahre ist, Speichertechnologien zu entwickeln. Ich ßen aufgezwungene Politik des Sparens wird die Wirt- glaube, neben dem Netzausbau wird die große Heraus- schaftskrise in Griechenland nur noch weiter verschärfen forderung im Bereich der erneuerbaren Energien sein, und letzten Endes die Staatsverschuldung tendenziell Speichertechnologien zu entwickeln, um die Solarbran- weiter erhöhen. che zu unterstützen. In diesem Zusammenhang ist, glaube ich, der Ansatz richtig, die Eigenförderung erheb- Der britische Schatzkanzler hat zu Recht darauf hin- lich auszubauen und zu versuchen, neue Innovationen zu gewiesen, dass dies eine Verrücktheit ist. Ich sage deut- ermöglichen. lich: Für Verrücktheiten steht die Linke nicht zur Verfü- gung. Das lehnen wir ab. Meine Damen und Herren, ich meine, durch die An- passung, die wir jetzt vornehmen – und es ist eine An- (Beifall bei der LINKEN) passung und keine Kürzung –, werden wir der wettbe- Die Verrücktheit wird sich möglicherweise noch stei- werbsfähigen Solarbranche eher den Rücken stärken, als (B) gern, wenn auf Intervention der deutschen Regierung der (D) dass wir sie abwürgen. In diesem Sinne freue ich mich IWF auf Griechenland losgelassen wird. Was für verhee- auf die kommende Anhörung und die kommenden Bera- rende Folgen die IWF-Politik für die Binnenstruktur von tungen in den Ausschüssen. Ich glaube, wir sind in die- Ländern hat, konnte man in den letzten Jahrzehnten in sem Bereich auf dem richtigen Weg. diversen Ländern der Dritten Welt verfolgen. Herzlichen Dank. (Manfred Zöllmer [SPD]: Sie haben doch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) keine Ahnung!) Das griechische Volk wehrt sich zu Recht gegen die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: massiven Verschlechterungen. Es bleibt aus unserer Ich schließe die Aussprache. Sicht nur zu hoffen, dass sich das griechische Volk mög- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den lichst erfolgreich gegen diese Verschlechterungen wehrt; Drucksachen 17/1147 und 17/1144 an die in der Tagesord- denn es ist im Interesse des Landes und letztlich auch im nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Interesse Europas, dass diese Politik nicht aufgeht. Es ist Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei- deswegen völlig klar, dass die Linke diese Auseinander- sungen so beschlossen. setzung unterstützt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: (Beifall bei der LINKEN) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Überhaupt ist festzuhalten, dass andere Bereiche, in Schlecht, Alexander Ulrich, Dr. Barbara Höll, denen man in der Tat einsparen könnte, bisher nicht ins weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Blickfeld geraten sind. Die Militärausgaben zum Bei- LINKE spiel belaufen sich in Griechenland auf mehr als 4 Pro- Eurozone reformieren – Staatsbankrotte ver- zent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist ungefähr dreimal hindern so viel wie in Deutschland. Es ist mir jedenfalls bisher aber nicht bekannt, dass ein einziger Politiker der deut- – Drucksache 17/1058 – schen Bundesregierung den Griechen vorgeschlagen hat, Überweisungsvorschlag: ihren Rüstungshaushalt herunterzufahren. Nein, man muss Finanzausschuss (f) im Gegenteil immer wieder feststellen, dass gerade auch Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) deutsche Minister eher darauf hinwirken, die Griechen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss zur Steigerung der Rüstungsausgaben zu animieren und Federführung strittig sich zu Lobbyisten deutscher Rüstungsunternehmen zu Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3183

Michael Schlecht (A) machen. Auch das geht im Grunde nicht so weiter. Wir Peter Aumer (CDU/CSU): (C) sind ganz klar dagegen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag, den die Fraktion Die Linke heute hier ein- (Beifall bei der LINKEN) bringt, trägt die falsche Überschrift. Nicht „Euro-Zone Man sieht an diesem Beispiel, dass das eigentliche reformieren – Staatsbankrotte verhindern“ ist das Ziel Problem in Griechenland auch sehr viel mit Deutschland dieses Antrags, sondern damit soll der Weg zu einer so- zu tun hat. Das eigentliche Problem ist die Entwicklung zialistischen Staatswirtschaft in Europa geöffnet werden. der deutschen Wirtschaftspolitik, und zwar die Politik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des deutschen Lohndumpings in Europa und in der Welt. Dieser Antrag, meine sehr geehrten Damen und Her- Die Lohnstückkosten sind in den letzten zehn Jahren ren der Linken, ist wohl Ausfluss des in dieser Woche in der Eurozone um 27 Prozent und in Griechenland um vorgestellten Entwurfs Ihres neuen Parteiprogramms. 28 Prozent angestiegen. Nur in Deutschland sind sie um Die Financial Times Deutschland bewertet die dort auf- gerade einmal 7 Prozent angestiegen. Dahinter steht, geführten Ziele als naive Utopien. Wenn man diesen An- dass Deutschland das einzige Land ist, in dem die Real- trag liest, dann kommt es einem zum Teil so vor, als löhne in den letzten zehn Jahren gesunken sind. wollten Sie die Kräfte des Marktes außer Kraft setzen, als hätte die Utopie wieder einmal Einzug in die Real- Insofern kann man der französischen Finanzministe- politik gehalten. rin Lagarde nur zustimmen, die letzte Woche das deut- sche Lohndumping sehr stark kritisiert hat. Mir ist nach (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wie vor völlig unverständlich, weshalb in diesem Hause Weiter schreibt die Financial Times Deutschland: auch von Vertretern der Bundesregierung diese Kritik re- lativ läppisch abgetan worden ist, ohne sich damit aus- Die Linke denkt nur in Schwarz-Weiß. einanderzusetzen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein, in Rot- Deutschland hat von 2000 bis 2008 einen Außenhan- Rot! – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der delsüberschuss von 1,3 Billionen Euro erzielt. Interessan- FDP) terweise deckt sich das Defizit der Euro-Südländer genau mit dieser Zahl. Die Euro-Südländer haben in diesen acht Für sie gibt es nur die da unten und die da oben, die Jahren ein Defizit von 1,3 Billionen Euro aufgehäuft. Die- Linkspartei und alle anderen. ser Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit in – Welch treffende Einschätzung, wenn man den vorlie- den Euro-Südländern ist auch der entscheidende Grund (B) genden Antrag liest! (D) für das Desaster ihrer Staatshaushalte. Wer ist schuld an der Krise Griechenlands? Da holen Wenn es nicht gelingt, diese Politik umzukehren – si- Sie zum Rundumschlag aus, wie wir gerade gehört haben: cherlich neben einer Reihe von Hausaufgaben, die in den natürlich die EU und der Internationale Währungsfonds, Ländern selbst zu erledigen sein wird – und in Deutsch- weil sie von Griechenland Lohnkürzungen im öffentli- land eine andere Politik durchzusetzen, die viel stärker chen Dienst und Sozialabbau verlangen, Deutschland, auf die Kräftigung und den Ausbau des Binnenmarktes weil wir für das Leistungsbilanzdefizit von Mitgliedstaa- setzt und dadurch zu fairen Außenhandelsbeziehungen ten der Euro-Zone verantwortlich sind und Steuerdum- führt, dann werden diese Probleme in Europa nicht gelöst ping bei Unternehmensteuern betreiben, die Ratingagen- werden. Dann werden nach Griechenland noch Spanien, turen und wahrscheinlich viele andere mehr. Portugal und weitere Länder folgen. Ich sage voraus: Dann ist die Gefahr, dass der Euro auseinanderfliegt, ex- Meine sehr geehrten Damen und Herren Antragstel- trem groß, und dann könnten die Erfolge von 60 Jahren ler, hätten Sie doch einmal in die Stellungnahme des Ra- europäischer Integration am Ende in hohem Maße gefähr- tes zum aktualisierten Stabilitätsprogramm Griechen- det sein. lands für 2010 bis 2013 geschaut, die uns in der letzten Sitzung des Finanzausschusses vorgelegen hat. Ein paar (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ein sehr ein- Zitate daraus zeigen, wie falsch Sie in Ihrer Einschät- faches Weltbild, das muss man mal sagen!) zung liegen: deutlich über dem Produktionswachstum liegender Anstieg der Reallöhne, Abkopplung der Löhne Außerdem besteht die Gefahr, dass wir in Europa wieder von Arbeitsmarktbedingungen und Produktivitätsent- zu einer verhängnisvollen Entwicklung gelangen. wicklung. Die Kerninflation wird den Prognosen zufolge rascher zunehmen als im Durchschnitt des Euro-Raums. Ich danke Ihnen. Die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands muss auch im (Beifall bei der LINKEN) nichtpreislichen Bereich verbessert werden; Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen müssen gefördert wer- den. Außerdem werden die Reform der öffentlichen Ver- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: waltung, Qualität der Bildung und Reformen bei den Nächster Redner ist der Kollege Peter Aumer für die Renten gefordert. All diese Dinge haben Sie in Ihrem CDU/CSU-Fraktion. Antrag ganz verquer dargestellt. Ich kann nicht nach- vollziehen, wie Sie auf diese Einschätzung gekommen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind. 3184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Peter Aumer (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie tern und zu überlegen, was hier der richtige Weg ist. Die (C) bei Abgeordneten der SPD) Wirtschaftsweise Weder di Mauro sagte: „Wir müssen dem Stabilitätspakt Zähne geben.“ Mit Ihrem Antrag, meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, würden Sie die Krise in Griechen- Ich komme zum Schluss. Der ehemalige Finanzminis- land verschärfen. Sie vergeben die Chance, die in dieser ter Waigel hat im vorhin angesprochenen Artikel ein Ge- Krise steckt, eine zukunftsfähige Entscheidung für den dicht von Reiner Kunze zitiert: Stabilitäts- und Wachstumspakt zu treffen. Wort ist Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister währung haben in dieser außerordentlich schwierigen Situation Je wahrer, das einzig Richtige getan. Sie haben durch ihre konse- desto härter quente Politik dazu beigetragen, dass Griechenland in kurzer Zeit ein ambitioniertes Sparprogramm vorgelegt Das ist richtig. Die Worte Ihres Antrags sind nicht unter- hat. Das ist der einzige Weg von Griechenland aus der stützenswert. Krise und in eine stabile Zukunft. Danke. Die Krise in Griechenland ist keine Krise des Euros, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wie gestern der frühere Bundesfinanzminister Theo Waigel in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung feststellte; vielmehr habe die nationale Finanz-, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wirtschafts- und Lohnpolitik einiger Mitgliedstaaten diese Manfred Zöllmer ist der nächste Redner für die SPD- Probleme geschaffen. Aus diesem Grund ist der deutsche Fraktion. Weg, der Weg von Bundeskanzlerin Merkel, der einzig (Beifall bei der SPD) richtige. Der nötige Reformdruck auf Griechenland muss aufrechterhalten werden. Hier passt sehr gut der Satz: Hilf dir selbst, dann ist dir geholfen! Manfred Zöllmer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Wirtschafts- und Währungsunion hat viele Väter: Erst wenn es gar nicht mehr anders geht – das hat die Giscard d'Estaing, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Bundeskanzlerin heute dargestellt –, muss man helfen, François Mitterrand, um nur einige zu nennen. Sie hat muss die Bundesrepublik Deutschland als Ultima Ratio die Idee verbunden, die wirtschaftliche Integration in gemeinsam mit anderen Mitgliedsländern der Europäi- Europa mit einem einheitlichen Währungsraum zu voll- (B) schen Union und dem Internationalen Währungsfonds enden. Dahinter stand die Vision einer politischen (D) eingreifen und so ihrer Verantwortung gerecht werden. Union, einer gemeinsamen Währung als Ausdruck einer kollektiven europäischen Identität. Die währungspoliti- In der ganzen Debatte dürfen wir nicht vergessen, sche Integration in Europa ist Schritt für Schritt vorange- dass Deutschland den höchsten Nettobeitrag zum Haus- kommen. Die Einführung des Euro war ein Glücksfall, halt der EU leistet auch für Deutschland; (Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ DIE GRÜNEN]: Bayern auch!) CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE – Bayern selbstverständlich auch – und somit den Auf- GRÜNEN) hol- und Transformationsprozess jüngerer EU-Mitglied- denn der Euro war und ist ein Hort der Stabilität. Ohne staaten fördert. ihn müssten wir jetzt über völlig andere Krisenszenarien Ein zentraler Punkt bei der Bekämpfung der aktuellen in Europa sprechen, als wir es jetzt tun. All dies – Inte- Krise in Griechenland ist es, die Kontrolle der Staaten gration, Einführung des Euro – ist von den Linken, da- auszubauen und den Stabilitäts- und Wachstumspakt mit mals noch PDS, konsequent bekämpft und abgelehnt Nachdruck durchzusetzen. Die Pflicht aller Euro-Staaten worden. Gilt das jetzt eigentlich noch? Sie formulieren zur Einhaltung dieses Paktes muss oberstes Gebot blei- in Ihrem Antrag: „Die Europäische Währungsunion ist ben. Es ist wichtig, in Zukunft Tricksereien in der Haus- bedroht.“ Jetzt wollen Sie offenkundig das, was Sie vor- haltspolitik, wie sie in Griechenland stattgefunden ha- her vehement bekämpft haben, retten, nach dem Motto: ben, zu unterbinden, Wir wissen nicht, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kontrollen zu verstärken und wirkungsvolle Instrumente der Prävention und Sanktion zu schaffen. Griechenland hat über einen sehr langen Zeitraum massiv über seine Verhältnisse gelebt. Es gibt eine große (Beifall des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP]) Wettbewerbsschwäche des Landes. Griechenland steht Die von den Linken eingebrachten Vorschläge sind nicht vor dem Problem, sein exorbitantes Haushaltsdefizit zu zielführend. finanzieren. Griechenland hat ein fiskalisches Problem. Lieber Kollege Schlecht, es ist im Übrigen wirklich Es ist wichtig und richtig – Minister Schäuble hat es aberwitzig, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit auf dem gesagt –, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu erwei- Weltmarkt als Ursache dieser Probleme zu bezeichnen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3185

Manfred Zöllmer (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der – Nein, das ist völlig richtig. – Uns wurde ein besonde- (C) FDP) res Schauspiel der Regierungskunst vorgeführt. Es kam der Vorschlag der Kanzlerin, man möge unbotmäßige Liest man den Antrag der Linken, so findet man über- Mitglieder der Währungsunion einfach hinauswerfen. haupt nichts zu der Verantwortung Griechenlands, seine Probleme zuerst selbst zu lösen. In Ihrem Antrag fordern (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer sagt Sie des Weiteren, die EZB, also die Europäische Zentral- das?) bank, solle Staatsschuldtitel entsprechend der Praxis in Gut, darüber kann man nachdenken, aber nicht laut, den USA erwerben dürfen, um damit Haushaltsfinanzie- wenn man deutsche Bundeskanzlerin ist. Mit wem ist rung zu betreiben. Ich sage Ihnen ganz klar: Das geht gar dieser Vorschlag eigentlich abgestimmt worden? Wie nicht. soll das durchgesetzt werden? Welche Verbündeten gibt (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Richtig!) es? Viele Fragen, auf die die Regierung keine Antwort hatte. In der Süddeutschen Zeitung hieß es nur: „Abfuhr Wir wollen aus der Stabilitäts- keine Inflationsunion ma- für Merkel“. Jean-Claude Trichet von der EZB sagte, er chen. werde solche „absurden Hypothesen“ nicht kommentie- ren. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Dann gab es den nächsten Akt, den man überschrei- ben kann mit „Schäuble gegen Merkel“ oder „Merkel Wir müssen Defizite abbauen – das sage ich auch in gegen Schäuble“, wie auch immer. Der Bundesfinanz- Richtung CDU/CSU und FDP –, im Übrigen auch in minister hielt es für „blamabel“, wenn der Eindruck ent- Deutschland. Schauen Sie sich das einfach einmal an. stünde, die EU könne sich nicht selbst helfen. Er war der Die griechische Krise zeigt, dass das System des Meinung, der IWF sei zu stark amerikanisch dominiert Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes über- und bei Hilfe durch den IWF könnten die Amerikaner in prüft werden muss. Was ist zu tun? Griechenland hat ei- die Haushaltspolitik der EU-Länder eingreifen. Dann nen glaubwürdigen Haushaltsplan vorgelegt, der schnell gab es die Befürchtung, dass die Unabhängigkeit der umgesetzt werden muss. Griechenland braucht dringend EZB möglicherweise beeinträchtigt sei. Das waren sub- ein funktionierendes und gerechteres Steuersystem, stanzielle, fundamentale Bedenken, und der Bundes- finanzminister hatte deshalb einen anderen Vorschlag (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gemacht, nämlich den eines EWF. ein System, das sicherstellt, dass auch die Besserverdie- Auf einmal kam die Kehrtwende um 180 Grad, nenden sich an der Finanzierung des Gemeinwesens be- Motto: Was kümmert mich mein Geschwätz von ges- (B) teiligen. tern? Nun soll es doch der IWF sein. Ich sage sehr deut- (D) lich: Das wäre eine Möglichkeit; denn der IWF hat in Griechenland braucht dringend entschiedene Maß- Lettland, Ungarn und anderen Ländern bereits geholfen. nahmen gegen die grassierende Korruption. Wir brau- Lieber Kollege Schlecht, die Linke lebt ja größtenteils in chen Wahrheit und Klarheit über die Zahlen. Es darf den 80er-Jahren – auch Sie; das haben Sie hier deutlich nicht wieder passieren, dass Eurostat sozusagen herein- gemacht –; aber Sie müssen einfach einmal zur Kenntnis gelegt wird, dass Entscheidungen auf einer völlig fal- nehmen, dass sich der IWF unter Strauss-Kahn deutlich schen Datengrundlage getroffen werden. Wir brauchen verändert hat. Er ist nicht mehr der neoliberale Teufel, darüber hinaus ein entschiedenes Vorgehen gegen die der er früher in der Tat einmal war. Spekulanten, die in dieser Situation Griechenland und auch andere Länder weiter destabilisieren wollen. Liebe Bundesregierung, was war das für ein blamab- les Schauspiel, das insgesamt hier gegeben wurde! Wir brauchen im Euro-Raum eine stärkere Koordina- „Merkel brüskiert EU-Partner“, titelte die Financial tion der Wirtschaftspolitiken; denn eine nationale Zins- Times Deutschland. Dieses Agieren der Bundesregie- und Wechselkurspolitik steht nicht mehr zur Verfügung. rung ist der Situation nicht angemessen, passt aber naht- Wir müssen aber auch darüber nachdenken, wie wir los in die bisherige Performance, die die Bundesregie- ein System der Bereitstellung von Notfallliquidität rung hier abgegeben hat. schaffen, das den strikten Grundsatz des No-bail-out Vielen Dank. – Artikel 125 des EU-Vertrages – nicht außer Kraft setzt, sondern durch ein Notfallsystem ergänzt wird. Das ist (Beifall bei der SPD) entscheidend. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der SPD) Nun hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP- Nun schauen wir uns einmal an, wie die Bundesregie- Fraktion das Wort. rung in dieser Situation agiert hat. Statt beruhigend zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wirken, wurde Öl ins Feuer gegossen. der CDU/CSU) (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Jetzt wird es falsch! – Dr. Volker Wissing Dr. Volker Wissing (FDP): [FDP]: Bis dahin war es richtig! So hätte es Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- weitergehen können!) nen und Kollegen! Herr Kollege Zöllmer, Sie haben viel 3186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Volker Wissing (A) Richtiges gesagt. Sie haben am Ende krampfhaft ver- dürfe nicht immer nur um Stabilität gehen. Das war die (C) sucht, noch Schuldzuweisungen gegenüber der Bundes- Begründung, mit der Gerhard Schröder damals mit Un- regierung zu tätigen. terstützung der Sozialdemokraten eine Aufweichung der Maastricht-Kriterien betrieben hat. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das gehört zur Wahrheit dazu!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So war das!) Das sei Ihnen als Opposition zugestanden. Wer heute die Wir haben Ihnen damals gesagt, dass es falsch ist, und Regierungserklärung verfolgt hat, hat aber eine Regie- heute werden wir darin bestätigt. Das war ein histori- rungschefin erlebt, die sich mit einem hohen Maß an scher Fehler sozialdemokratischer Finanzpolitik. Verantwortungsbewusstsein dieser großen Aufgabe (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stellt, Lassen Sie mich auf die Situation Griechenlands zu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rückkommen. Wir wollen das im Geiste einer Partner- die einen ganz klaren Blick hat für die Verantwortung für schaft und im Miteinander regeln. Wir wollen keine Bes- die Gelder der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuer- serwisserei gegenüber Griechenland betreiben. Arroganz zahler, aber auch für unsere gemeinsame europäische und Überheblichkeit, wie sie in dem Antrag der Linken Währung, für die Stabilität dieser europäischen Wäh- zum Ausdruck kommen, sind schwer erträglich und soll- rung. Diese Entschlossenheit, die heute in diesem Hohen ten in diesem Haus keine Mehrheit finden. Hause zum Ausdruck gekommen ist, ist ein wichtiges (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Signal gewesen. Dafür sind wir der Bundeskanzlerin der CDU/CSU) sehr dankbar. Die Griechen haben Probleme. Die Linken kennen die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ursache. Sie kennen die Problemlösung. Sie wissen al- Der Euro erlebt eine historische Bewährungsprobe. les. Sie wissen, dass Steuerhinterziehung an der Situa- Es gibt zahlreiche Mitgliedsländer, die vor gewaltigen tion schuld ist, dass Steuerdumping daran schuld ist, wirtschafts- und finanzpolitischen Herausforderungen dass eine ungenügende Besteuerung von Kapital für die stehen. Das ist wahrhaftig keine einfache Stunde. Wir Lage verantwortlich ist. All das wissen die Linken. Man sind gut beraten – das will ich der Linken sagen –, in die- fragt sich manchmal, warum sich der griechische Minis- ser Situation nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, terpräsident nicht mit Gregor Gysi, sondern mit der Bun- sondern die europäischen Länder als Partner zu sehen. deskanzlerin trifft. Wir haben ein gemeinsames Ziel, ein gemeinsames Inte- In Wahrheit ist es eben die Bundeskanzlerin, die den (B) resse, und deswegen müssen wir auch gemeinsam nach Ausweg aufzeigt und die in Partnerschaft eine Lösung (D) Lösungen suchen. für Griechenlands Probleme sucht. Sie hat klar erkannt – sie hat das auch zum Ausdruck gebracht –, dass Hilfe (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zur Selbsthilfe das Gebot der Stunde ist. Das unterschei- der CDU/CSU) det die Bundesregierung von der Opposition: Die einen Der Euro ist nicht nur eine Währungsgemeinschaft; er suchen nach einem Weg, wie man Hilfe zur Selbsthilfe ist auch eine Schicksalsgemeinschaft für uns Europäer. leisten kann, und die anderen – Sie nämlich – zeigen mit Derzeit wird viel über griechische Probleme geredet. Sie dem Finger auf andere. tun das in Ihrem Antrag. Sie machen Schuldzuweisun- Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister gen. Sie zeigen mit dem Finger auf andere und sagen, haben es von Anfang an abgelehnt, Griechenland mit was die alles falsch machen und wie schlimm da alles deutschen Steuergeldern zu helfen, und sie haben gut da- ist. Ich will einmal daran erinnern, dass es nicht die ran getan. Es war ein wichtiges Zeichen, dass deutlich Griechen waren, die eine Aufweichung des Stabilitäts- gemacht wurde: Griechische Schulden müssen griechi- und Wachstumspaktes betrieben haben. sche Schulden bleiben. – Deutschland kann vieles leisten (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: – wir sind eine große Volkswirtschaft –, aber es gibt Rot-Grün!) auch für uns Grenzen. Man kann den Euro nicht stärken, indem man die stärksten Volkswirtschaften des Euro- Es waren nämlich der deutsche Bundeskanzler Gerhard Raums schwächt. Schröder (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Die Probleme Griechenlands haben ihren Ursprung in Griechenland. Sie haben eine nationale Ursache, und und sein Finanzminister , die das getan ha- deswegen können sie nachhaltig auch nur auf nationaler ben. Ebene gelöst werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Deutschland ist sicher ein wirtschaftlich starkes Land, der CDU/CSU) aber auch starke Länder können sich übernehmen. Des- wegen finde ich es verantwortungslos, wie bereitwillig Herr Kollege Zöllmer, ich erinnere mich noch gut an Sie das Geld der deutschen Steuerzahlerinnen und Steu- die scheinheilige Begründung der Sozialdemokraten. erzahler europaweit zur Verfügung stellen wollen. Damals haben sie gesagt, Maastricht sei nicht nur ein Stabilitäts-, sondern auch ein Wachstumspakt, und es (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3187

Dr. Volker Wissing (A) Die Vorschläge in Ihrem Antrag sind nicht Ausdruck Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE (C) europäischer Solidarität; sie sind Ausdruck nationaler GRÜNEN): Verantwortungslosigkeit. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, Herr Wissing hat recht. Der Euro befindet Nehmen Sie nur Ihre Forderung nach einer Euro-An- sich in einer historischen Bewährungsprobe. Die Quali- leihe. Allein das zeigt doch, wie wenig Sie die Probleme tät von Bündnissen zeigt sich aber in Krisen. In Krisen- des eigenen Landes im Blick haben. Wenn Sie eine situationen wird deutlich, ob sich nur Vorteilssucher Euro-Anleihe fordern, sollten Sie auch dazu sagen, dass zusammengefunden haben oder ob man gewillt ist, ge- das mit einer jährlichen Mehrbelastung in Milliarden- meinsam Probleme zu lösen. höhe für die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzah- ler verbunden wäre. Deutschland müsste höhere Zinsen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ bezahlen, wenn wir uns auf so etwas einlassen würden. DIE GRÜNEN) Damit führen Sie die Opfer, die die Bürgerinnen und Ein weiteres Merkmal von Krisensituationen ist sicher- Bürger bei uns erbracht haben, ad absurdum. Deutsch- lich der Auftritt ungewöhnlicher Ratgeber. Wenn eine land ist deshalb kreditwürdiger als andere Länder, weil europaskeptische Partei wie Die Linke sich plötzlich um Deutschland bereit ist, sich ernsthaft der Konsolidie- die EU sorgt, dann stellt sich die Frage: Sind die Linken rungsaufgabe zu stellen. Deutschland profitiert aufgrund klüger geworden, oder ist die Lage in Europa bedrohli- der Sparopfer der Bürgerinnen und Bürger von günstige- cher geworden? ren Kreditkonditionen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Sie wollen diese Früchte nationaler Anstrengung zu- DIE GRÜNEN und der SPD) gunsten einer Euro-Anleihe opfern. Ihre Idee ist nicht Den zweiten Teil der Frage beantworte ich mit einem europäisch, sie ist entsetzlich, meine Damen und Herren. eindeutigen Ja. Allerdings – und das muss im Zentrum (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dieser Auseinandersetzung stehen – hat die Politik der Bundesregierung erheblich dazu beigetragen, dass wir Ihre Forderungen führen nicht etwa zu einer verant- uns in einer derart schwierigen Situation in Europa be- wortungsbewussteren Haushalts- und Finanzpolitik in finden. Europa, nein, Sie zementieren Verantwortungslosigkeit mit Ihren Vorschlägen. Sie fordern tatsächlich einen Es ist doch offensichtlich: Wer auch immer in der aktu- Fonds, um längerfristige Defizite der Mitgliedstaaten zu ellen Europadebatte das Sagen hat – der Finanzminister, finanzieren. die Kanzlerin oder sogar einmal der Außenminister –, sie reden über Europa, aber sie denken an den Wahlkampf in (B) Das wäre ein Blankoscheck für unsolide Haushalts- Nordrhein-Westfalen. (D) und Finanzpolitik nach dem Motto: Die Staaten ver- schulden sich, und wenn die Schulden hoch genug sind, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ dann werden sie aus einem großen Topf beglichen. DIE GRÜNEN und der SPD) Meine Damen und Herren, das funktioniert in keiner Ich hoffe, dass diese durchsichtigen Manöver irgend- Familie, das funktioniert in keinem kleinen und in kei- wann einmal aufhören; denn das hat Europa nicht ver- nem großen Unternehmen, und das funktioniert schon dient. gar nicht in Europa. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN und der SPD) der CDU/CSU) Wir brauchen jetzt eine starke Europapolitik. Diejeni- gen, die von einem gemeinsamen Europa und insbeson- Sie verlieren auch kein Wort darüber, wer diesen dere von der Währungsunion stark profitieren – und da- Wunderfonds bestücken soll, wer die Zeche bezahlen bei ist Deutschland nun einmal die Nummer 1 –, müssen soll. Sie tun immer so, als seien Sie diejenigen, die die auch die größte Solidarität zeigen. Solidarität heißt aber Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht Blindheit. Gute Partner müssen es ertragen, dass wahrnehmen. Tatsächlich wollen Sie aber die Menschen man sich kritisch über bestimmte Verhaltensweisen aus- zur Kasse bitten für Ihren europäischen Fonds. Wir ma- lässt. chen Ihre Idee des Schuldentransfers auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch- Die Regierung Griechenlands und die Bevölkerung land aber nicht mit. Wir werden die Interessen der Ar- Griechenlands haben sicher schon erkannt: Jahrzehnte- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahrnehmen, indem lange Klientelpolitik, mangelhafte Bekämpfung von wir Ihren wirklich nicht zu verantwortenden Antrag ab- Korruption, eine weit verbreitete laxe Steuermoral und lehnen. ein überdimensionierter öffentlicher Sektor, eine solche Politik hält kein Staatshaushalt der Welt lange aus. Herzlichen Dank. Allerdings hat die Welt, haben insbesondere die Part- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ner in der EU viel zu lange tatenlos zugeschaut. Grie- chenland hat bereits am 21. Oktober des vergangenen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Jahres sein Haushaltsdefizit von 12,7 Prozent offiziell Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die bekannt gegeben. Damit hätte die Bundesregierung ge- Kollegin Viola von Cramon-Taubadel das Wort. nügend Zeit gehabt, um ein Konzept mit den Partnern in 3188 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Viola von Cramon-Taubadel (A) der Euro-Zone abzustimmen und die Währungsunion Bundesregierung einer verbesserten wirtschaftspoliti- (C) mit neuen Instrumenten für die Zukunft zu stärken. Weg- schen Koordination in der Euro-Zone und in der Euro- schauen ist keine kluge Politik. Die Bedienung nationa- päischen Union nicht weiter im Wege stehen. ler Ressentiments ist sogar eine sehr dumme Politik. Die EU, aber auch die Mitgliedstaaten der Euro-Zone Aber genau so handelt diese Bundesregierung. müssen diese Krise nutzen, um die jetzt offen zutage ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tretenen fundamentalen Schwächen zu beseitigen. Dafür muss der Stabilitätspakt weiterentwickelt und auch das Was die Euro-Zone und Griechenland betrifft, muss außenwirtschaftliche Gleichgewicht als Ziel mit aufge- genau hingeschaut werden. Dort hat die Regierung ein nommen werden. Anders als im vorliegenden Antrag der ambitioniertes Sparpaket vorgelegt. Das sollte man aner- Linken müssen neben den Mitgliedstaaten mit hohen kennen. Genau hinschauen muss man aber auch auf die Überschüssen, wie Deutschland, auch jene mit hohen Rüstungsausgaben des Landes. Den Griechen sollte klar Defiziten verbindliche Empfehlungen zur Reduktion von sein: Der vermeintlichen finanziellen Bedrohung, der sie Ungleichgewichten bekommen. Hier brauchen wir si- ausgesetzt sind, kann man nicht mit Waffen begegnen. cherlich mehr Kontrolle durch die EU-Kommission oder Sie müssen alle Möglichkeiten nutzen, ihren Militär- in diesem Fall Eurostat. haushalt zu reduzieren. Wir brauchen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr Gemeinsamkeit. Bei der Herstellung der Gemein- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) samkeit hat diese Bundesregierung bisher versagt, zum Dabei dürfen wir nicht übersehen: 35 Prozent der Rüs- Schaden für die EU, für die Währungsunion und letztlich tungsgüter Griechenlands werden aus Deutschland impor- auch für unser Land. tiert. Dennoch konnte es Außenminister Westerwelle bei Vielen Dank. seinem Staatsbesuch am 3. Februar nicht unterlassen, für die deutsche Rüstungsindustrie zu werben. Der Außen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN minister hilft bei Exporten, und die Bundeskanzlerin sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker denkt offen über einen Ausschluss aus der Währungsu- Wissing [FDP]: Na ja!) nion nach und blockiert anschließend auf dem Frühjahrs- gipfel auch noch den dringend erforderlichen Hilfsme- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: chanismus zur Unterstützung Griechenlands. Das ist Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem eine kalte Verweigerungshaltung, das ist unsolidarisch, Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und wünsche Ih- das ist im Kern antieuropäisch. Es ist antieuropäisch, nen weiterhin viel Erfolg und Freude bei der Arbeit. (B) weil nicht auf eine europäische Lösung gesetzt wird. (D) (Beifall) Natürlich heißt europäische Solidarität nicht, Geld nach Athen zu tragen. Nun hat der Kollege Leo Dautzenberg für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Eulen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich habe in Griechenland mit Vertretern des Parlaments, Leo Dautzenberg (CDU/CSU): der Gewerkschaften und der Zentralbank gesprochen. Dabei hat mich überrascht, dort nicht eine einzige Forde- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe rung nach Finanztransfers erhalten zu haben. Die Grie- Kolleginnen und Kollegen! Wenn man einige der Forde- chen erwarten lediglich ein Bekenntnis der Bundesregie- rungen aus dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem rung zu einer europäischen Solidarität. Titel „Euro-Zone reformieren – Staatsbankrotte verhin- dern“ liest und die Überschrift wirken lässt, könnte man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagen: Euro-Zone reformieren – Staatsbankrotte herbei- sowie bei Abgeordneten der SPD) führen. Damit haben Sie ja in der Vergangenheit durch- aus Erfahrungen gemacht. Nein, es geht wirklich darum, Griechenland nicht dem Spiel der Spekulanten zu überlassen. Der Haushalt (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und muss konsolidiert werden, aber die Zinsen dürfen auf- der FDP) grund von Spekulationen an den Finanzmärkten nicht Ich möchte mich auf einige Punkte konzentrieren und weiter hochgetrieben werden. Deshalb brauchen wir darstellen, was die Regierung gerade in Bezug auf Grie- – das sehen Sie anders; das weiß ich – eine europäische chenland getan hat. Ich nehme an, dass Sie Ihren Antrag Anleihe, die Griechenland einen niedrigen, einen tragba- nicht nur aufgrund des Tatbestandes Griechenland einge- ren Zinssatz ermöglicht. bracht haben, sondern dass sich Ihr Antrag auch auf eine (Zuruf von der FDP: Auf wessen Kosten?) allgemeine Reform der Euro-Zone bezieht. Es ist festzu- stellen, dass diese Bundesregierung handlungsfähig ist, Die Krise muss und sie kann auch nur innerhalb der dass sie auf europäischer Ebene Verantwortung für die Europäischen Währungsunion gelöst werden. Sie kann Stabilität des Euros übernommen hat und den Nachweis aber nur gelöst werden, wenn sich die Bundesregierung dafür bisher immer wieder erbracht hat. Es wäre näm- konstruktiv verhält. Schon jetzt sollte man die richtigen lich, noch in der letzten Woche, ein Leichtes gewesen, Lehren aus dieser Krise ziehen: Auch langfristig darf die auf den Vorschlag des Kommissionspräsidenten Barroso Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3189

Leo Dautzenberg (A) positiv einzugehen, der dazu geführt hätte, dass wir mit Leo Dautzenberg (CDU/CSU): (C) Hilfen für Griechenland den Euro geschwächt und nicht Welcher Außenminister? gestärkt hätten. Dass das nicht so gekommen ist, wurde durch den Einsatz unserer Regierung, der Kanzlerin Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Merkel und des Finanzministers, auf europäischer Ebene – Außenminister Westerwelle –, wie von der Kollegin gewährleistet. von Cramon-Taubadel dargestellt, nach Griechenland (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und fährt und dafür sorgen will, dass dort eine unglaublich der FDP) hohe Rüstungsquote durch den Export von Rüstungsgü- tern durch deutsche Unternehmen aufrechterhalten wird, Man muss natürlich auch feststellen, dass die Hand- anstatt dafür zu sorgen, dass im Interesse des Euros ge- lungsanweisungen, die wir teilweise von der europäi- spart wird? Halten nicht auch Sie das für eine schlechte, schen Ebene bzw. von europäischen Partnern aus der von rein nationalen Interessen getragene Politik? Euro-Zone bekommen, nicht nur Beiträge zur Stabilisie- rung des Euros und des Euro-Verbundes, unseres Wäh- rungssystems auf europäischer Ebene, sind, sondern Leo Dautzenberg (CDU/CSU): auch eine interessengeleitete Politik darstellen. Wenn Ich glaube, jedes Land in Europa sollte so souverän man sich manche Vorstellungen unserer Freunde in sein, im Rahmen seiner Sicherheitspolitik seine Interes- Frankreich und in anderen Ländern vor Augen führt, sen wahrzunehmen und seinen Teil zur Sicherheit beizu- dann kommt man zu dem Ergebnis, dass sie teilweise da- tragen. Da sollten wir auch unserem Partner Griechen- nach ausgerichtet sind, wie sehr man in diesen Ländern land keine Vorschriften machen und sollten keine in der griechischen Wirtschaft, zum Beispiel bei Banken, Ratschläge erteilen, sondern wir sollten, wenn unsere engagiert ist. Das spiegelt sich in manchen französischen Wirtschaft Chancen hat, dort Produkte abzusetzen, diese Vorschlägen wider. auch nutzen. Da brauchen wir uns nichts vorhalten zu lassen. Wenn Sie das aus einer Ideologie der Abrüstung Wenn man darüber hinaus den südeuropäischen Be- heraus zum Nachteil unserer Wirtschaft interpretieren, reich betrachtet, sieht man, dass man sich dort anders ist das Ihre Sache. Meine Fraktion und ich sehen das an- verhält und sich für Hilfen einsetzt und sogar danach ders. Man sollte das politische Selbstbestimmungsrecht schreit. Dies entspricht zum Teil durchaus auch dem In- der jeweiligen Länder akzeptieren und sie nicht bevor- teresse des Kommissionspräsidenten Barroso. Das munden, weil das in die falsche Richtung führt. würde nichts anderes bewirken, als dass weitere Länder Hilfen beanspruchen würden und damit innerhalb des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Euro-Verbundes ein Trend hervorgerufen würde, den wir (B) nicht verantworten können. Denn die Bundesrepublik Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D) Deutschland wäre bei diesen vorschnellen Hilfen der Herr Kollege Dautzenberg, gestatten Sie eine Zwi- Hauptzahler. schenfrage des Kollegen Schick? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Aber in den jeweiligen Ländern würden in der Zwi- Wenn es der Sache dient, ja. schenzeit nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen, sich selber zu helfen und auf den Weg der Stabilität zu- rückzukehren. Auch das gehört zur jüngsten Geschichte Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: bei der Betrachtung von Stabilisierungsmaßnahmen auf Das wird sich zeigen. europäischer Ebene. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Haben die Grünen zu wenig Redezeit bekom- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: men?) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sarrazin? Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Nein, nicht zu wenig Redezeit, aber es gibt einen An- Gerne. lass, noch eine weitere Frage zu stellen. – Sie sprechen sich dafür aus, dass wir es den griechischen Politikern und Politikerinnen überlassen sollten, die Probleme in Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ihrem Land selbst zu lösen, und dass wir uns nicht be- Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben von den Inte- vormundend einmischen sollten. Wie bewerten Sie dann ressen gesprochen, die hinter manchen Vorschlägen, die Stellungnahmen aus Ihrer Fraktion, dass man viel- manchen Aktivitäten stecken. Ich bin weit davon ent- leicht auch griechische Inseln verkaufen könnte? Es gibt fernt, beispielsweise der konservativen französischen noch weitere wohlgemeinte Vorschläge, die gerade das Regierung nicht unterstellen zu wollen, dass auch sie In- sind: Sie sind bevormundend und tragen massiv zu einer teressen hat, die sie zum Teil in ihren Vorschlägen unter- Verschlechterung der Beziehungen bei. gebracht hat. Aber ich finde, es gehört zur Ehrlichkeit, dass Sie eine Antwort auf folgende Frage geben: Ist es (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- eine nicht interessengeleitete Politik, wenn der Außen- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LIN- minister – KEN – Zurufe von der CDU/CSU: Wer denn?) 3190 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Gerhard Schick (A) – Es waren Herr Schlarmann und Herr Wanderwitz, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) wenn Sie es genau wissen wollen. der FDP – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als Privatperson!) Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Es wurde bereits richtigerweise angesprochen, dass Sehr geehrter Herr Kollege Schick, wir sind hier im wir uns als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland Parlament, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass nicht dazu aufschwingen sollten – ich sage salopp: die ein Kollege aus der CDU/CSU-Fraktion einen solchen Backen dick aufzublasen –, Griechenland zu erzählen, Vorschlag unterbreitet hat. wie es sich verhalten solle. Dass wir erwarten, dass sie (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Richtig!) die angekündigten Reformmaßnahmen im eigenen Land durchsetzen, ist völlig klar. Darauf setzen wir. Griechen- Ich glaube, dass auch Sie genauso wenig die Verantwor- land ist am besten zu helfen, indem man hilft, dass es tung für eine Aussage eines Mitglieds der Grünen über- sich selber helfen kann. Aber wir sollten uns nicht – das nehmen können wie ich für ein Mitglied meiner Partei. klang schon an – aufspielen, sondern daran erinnern, Vielmehr geht es darum, was von den Abgeordneten im dass von Herrn Schröder und von Herrn Eichel als ver- Plenum gesagt wird. Das sollte man ernst nehmen und antwortlichem Finanzminister in der Zeit der rot-grünen nicht das, was Sie zitieren. Koalition das 3-Prozent-Kriterium des Stabilitätspaktes nicht eingehalten werden konnte. Gegen uns wurde ein (Beifall bei der CDU/CSU) Verfahren eröffnet, das zwischenzeitlich aufgeweicht worden ist. Da muss man sich nicht wundern, wenn die- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ses Handeln Schule macht und andere Länder für sich in Herr Kollege Dautzenberg, ich muss Sie noch einmal Anspruch nehmen, ähnlich zu verfahren. unterbrechen. Auch die Frau Kollegin Hendricks möchte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit Ihnen diskutieren. der FDP)

Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Man sollte behutsam mit diesem Thema umgehen und Ja. den Griechen klarmachen, dass wir erwarten, dass sie ihre Maßnahmen fortsetzen. Wir haben keine aktuelle Äußerung des griechischen Ministerpräsidenten vorlie- Dr. Barbara Hendricks (SPD): gen, die besagt, dass er finanzielle Hilfe in Anspruch Herr Kollege Dautzenberg, ich wollte im Prinzip die- nehmen will. Die Griechen werden auch dieses Jahr gut selbe Frage stellen wie Herr Kollege Schick. Herr ihre Schwierigkeiten meistern, wenn sie ihre Refinanzie- (B) Schlarmann ist der Vorsitzende des Wirtschaftsrates der rungen für die fälligen Anleihen im April und im Mai tä- (D) CDU. tigen. Wir sollten Griechenland dahin gehend unterstüt- zen, dass diese Leistungen am Finanzmarkt möglich Leo Dautzenberg (CDU/CSU): werden. Nein, er ist Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung. Wenn man die Forderungen der Linken sieht, muss man fragen: Wollen Sie das Verbot von Bail-out aufhe- Dr. Barbara Hendricks (SPD): ben? Wollen Sie im Grunde Finanzierungshilfen der Na- Ja gut, dann eben der Mittelstandsvereinigung. – Sie tionalstaaten für den Haushalt Griechenlands? Wollen sind stolz darauf, dass mehr Mitglieder von Ihnen in der Sie vielleicht sogar Anleihen auf europäischer Ebene Mittelstandsvereinigung sind, als wir Mitglieder in der auflegen, um damit Griechenland zu helfen? Wo wollen ganzen Fraktion haben. Demnach müssten auch Sie alle Sie die Einnahmen generieren, um die Anleihen bedie- in der Mittelstandsvereinigung sein. Das nehmen wir zur nen zu können, wenn sie fällig werden? Wer soll das Kenntnis. Außerdem ist Herr Kollege Wanderwitz auch übernehmen? Die Partner, die an der Finanzierung des Mitglied Ihrer Fraktion. Zu erwähnen ist auch der Kol- europäischen Haushalts beteiligt sind? Ich wünsche Ih- lege Schäffler aus der FDP-Fraktion, der besonders nen viel Erfolg bei Ihrem Versuch, den deutschen Steu- sachkundig ist. erzahler dazu zu bringen, dass er Ihre Auffassung teilt, dass dies ein Weg ist, um Griechenland in dieser akuten Ich habe diesbezüglich eine Frage an die Bundesre- Situation zu helfen. gierung gestellt. Die Bundesregierung hat immerhin da- rauf geantwortet, dass sie sich diese Vorschläge nicht zu Was noch wichtiger ist: Sie wollen das zur Grundlage eigen macht. Aber dass Bevormundung enthalten war, einer Reform der Euro-Zone machen. Wir brauchen aber wollen Sie doch nicht in Abrede stellen? genau das Gegenteil. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sag: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nein!) Aufgrund der Erfahrungen, die wir bei den jetzigen Vor- gängen gemacht haben, wissen wir das. Man sollte den Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Schöpfern des Euros nicht vorhalten, dass sie das 1998/ Wieso ist das eine Bevormundung? Aus Ihrer Tätig- 1999 und bei den Maastrichter Verträgen nicht berück- keit als Parlamentarische Staatssekretärin im Finanz- sichtigt haben; denn es war damals nicht erkennbar, dass ministerium wissen Sie, dass jeder für seine Aussage Euro-Länder in eine Situation kommen können, in der verantwortlich ist. Dabei sollten wir es auch belassen. sie die Vorgaben der Stabilitätskriterien nicht einhalten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3191

Leo Dautzenberg (A) können. Aber die Lehre daraus muss sein, dass wir diese – Das macht es nicht besser, erklärt aber ein bisschen, (C) Verträge weiterentwickeln. Bevor wir sie öffnen, müssen dass es eine eingeschränkte Sicht ist, wenn man ein Land wir aber sicher sein, dass wir mit den Staaten, die das be- hervorhebt. Nur Finnland, Luxemburg und Zypern sind trifft, eine Reform durchbringen können, die dafür sorgt, bisher nicht davon betroffen. dass am Ende engere Maßstäbe hinsichtlich des Stabili- Herr Aumer hat vorhin einen wichtigen Satz gesagt: tätskriteriums angelegt werden. Bevor man beginnt, da- „Sparen ist für die Griechen der einzig richtige Weg.“ rüber zu diskutieren, bevor man dieses Fass aufmacht, Das zeigt einen falschen Denkansatz. Es gibt nicht den muss man sicher sein, dass es nicht dazu kommt, dass einzig richtigen Weg. Es gibt nicht den einen Parameter, andere Länder in genau die andere Richtung gehen. Des- den man nur ändern muss, und dann wird alles gut. halb sollte man sich genau überlegen, wann man damit Manfred Zöllmer hat einen ganzen Strauß von notwendi- beginnt. Es darf keine weitere Aufweichung stattfinden, gen Dingen aufgezählt, über die Griechenland selbst sondern es müssen Kriterien entwickelt werden, die dazu nachdenkt und möglicherweise anstoßen will. Vielleicht beitragen, dass der Euro stabilisiert, dass diese Währung könnte Griechenland auch wieder auf Vertrauen setzen, im Grunde weiterentwickelt wird. vertrauensbildende Maßnahmen durchführen, um zum Eines ist doch wohl klar: Wenn wir die Währung Euro Beispiel den – verglichen mit deutschen Staatsanleihen – nicht seit 1998 – in physischer Ausführung seit 2001 – hohen Spread zu vermindern, um so die eigene Situation hätten, dann hätten wir all die Krisen, die wir seitdem er- zu verbessern. lebt haben – angefangen mit 9/11 – so nicht überstanden, Kollege Wissing hat vorhin ein Wort genannt; das habe ich nicht verstanden. Er hat von Konsolidierungs- (Beifall des Abg. Peter Aumer [CDU/CSU]) anstrengungen in Deutschland gesprochen. Diese müss- ten ja irgendwo zu finden sein. Im Moment sind sie aber dann wäre in Europa gegen jede einzelne Währung spe- nirgends zu finden. Die Staatsverschuldung ging viel kuliert worden, auch gegen die dominierende Währung stärker als nötig in die Höhe. in Europa, die D-Mark. Mit dem Euro haben wir schon viele Krisen überstanden. Es wäre fatal, wenn wir diese (Dr. Volker Wissing [FDP]: Wir haben weni- Währung jetzt nicht weiterentwickeln würden, sondern ger Schulden gemacht, als Sie machen woll- Elemente zulassen würden, die ein Aushöhlen möglich ten!) machen. Damit würden wir das Gegenteil von dem errei- Es gab eine Reihe von Klientelgesetzen, die nicht dem chen, was wir eigentlich erreichen wollen. Sparen geschuldet waren, sondern anderen Zielen. Es ist Deshalb ist das, was bisher vonseiten der Regierung erschreckend, wie wenig eine Regierung in fünf Mona- ten hinsichtlich der Konsolidierung schaffen kann. (B) auch auf europäischer Ebene unternommen worden ist, (D) richtig. Der Beitrag unseres Finanzministers Wolfgang (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Schäuble war so zu verstehen, dass auch er einen Instru- Dr. Volker Wissing [FDP]: Obwohl sie mehr mentenkasten haben will, um die Stabilität des Euros geschafft hat als Sie!) weiter festigen zu können. Ihm geht es nicht darum, un- ter dem Stichwort „Europäischer Währungsfonds“ einen Es gibt keine Perspektive für die Kommunen, keine Zahlungsausgleich, im Grunde ein Funding für schwä- Perspektive für die Länder, es gibt auch keine Perspek- chere Länder, in Europa zu entwickeln. Diesen Ansatz tive für den Bundeshaushalt, geschweige denn eine Per- sollten wir als Grundlage nehmen und uns nicht die spektive für Europa. Ich glaube, es gibt außer dem „Kol- Empfehlungen der Fraktion Die Linke zu eigen machen; lisionsvertrag“, wie wir heute von Sabine Bätzing denn dann würden wir in der Tat beim Staatsbankrott gelernt haben, jetzt auch Kommissionen; diese sind aber landen. nicht zielführend. Vielen Dank. Ähnlich reduziert ist dieser Antrag zu betrachten. Er fängt mächtig an. Die Überschrift lautet: „Euro-Zone re- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) formieren – Staatsbankrotte verhindern“. Dann kommen zwei magere Seiten, die viele Denkfehler und Oberfläch- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: lichkeiten enthalten und dieser Überschrift überhaupt Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege nicht gerecht werden. Der mächtigste Satz steht gleich Lothar Binding für die SPD-Fraktion. am Anfang: Die Europäische Währungsunion ist bedroht. (Beifall bei der SPD) Einmal angenommen, der Bundestag würde so etwas Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): beschließen – manche Länder sind ja besonders be- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! droht –: Was ist eigentlich wichtig, wenn man eine Boni- Sehr verehrte Damen und Herren! Leo Dautzenberg hat tätseinschätzung eines Landes vornimmt, Fundamentalda- eben Hans Eichel ins Gespräch gebracht. Ich will an et- ten oder auch die Stimmung? Die subjektive Erwartung was erinnern: Wir denken bei 13 Ländern an ein Defizit- und die Stimmung sind extrem wichtig. Wenn wir das ma- verfahren, 13 von 16 Ländern in der Euro-Zone. chen würden, was Sie jetzt vorschlagen, könnte es zum Beispiel sein, dass der Preis für CDS, Credit Default (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das macht es Swaps, Kreditausfallversicherungen, plötzlich ansteigt. doch nicht besser, Herr Kollege!) Das Maß der Wahrscheinlichkeit einer Zahlungsunfähig- 3192 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Lothar Binding (Heidelberg) (A) keit von Griechenland würde ansteigen. Was würde das Man muss darauf hinweisen, dass Griechenland – das (C) bedeuten? Der Preis für die CDS würde ansteigen. Was weiß es natürlich selbst am Besten – sehr viel mehr über würde das wiederum bedeuten? Die Wahrscheinlichkeit, die Lösung der eigenen Probleme nachdenken muss, als dass Griechenland schlecht eingestuft wird, würde stei- es bisher der Fall war. gen. Was würde das bedeuten? In der Erwartung der stei- genden Kosten für CDS würden viele gekauft, und wenn Ich will noch einen Satz sagen zur Idee gemeinsamer viele gekauft würden, würden die Kosten für die CDS Euro-Anleihen und der Idee, einen EWF einzurichten. weiter ansteigen. Was würde dann mit Griechenland pas- Man muss sich darüber im Klaren sein, dass solche Maß- sieren? Es würde in gigantische Probleme geraten. Des- nahmen – wenn man nur wenig neben dem liegt, was halb ist diese Art von Sätzen extrem gefährlich. man machen müsste; Ihrem Antrag kann man allerdings nicht entnehmen, was genau das sein könnte – auch In- Aber wie einfältig – so will ich es nennen – dieser strumente sein können, um Schulden zu verteilen. Das Antrag vorgeht, erkennt man an einem weiteren Satz: kann auch dazu führen, dass Verantwortung sinkt. Wa- rum gilt das dann nicht auch für andere Länder? Man Die Probleme Spaniens … gehen auf unzurei- muss sich überlegen, was man damit erzeugt. Man min- chende Steuereinnahmen sowie die staatlichen Ret- dert die Eigenverantwortung, und letztendlich werden tungsmaßnahmen für Banken zurück. die Schulden in allen Ländern steigen. In der Vergangen- Als ob es in Spanien keine anderen Probleme gegeben heit hat sich gezeigt, dass es so ist. hat! Ich will nur eines nennen: Wer sich den Bauboom – Die Summe der Argumente macht es notwendig, dass er ist künstlich erzeugt – und den Wohnungsmarkt in wir Ihren Antrag ablehnen müssen. Spanien ansieht, der bekommt eine Ahnung davon, dass es möglicherweise noch andere Ursachen gibt als die, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die in diesem so mächtig daherkommenden Antrag ge- der FDP) nannt werden. In dem Antrag steht auch: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Deutschland betreibt … Steuerdumping bei den Unternehmensteuern. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1058 an die in der Tagesordnung aufge- Jetzt frage ich mich: Warum haben wir uns eigentlich so führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist angestrengt, die Gewinnverlagerung zu verhindern? Das jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der haben Unternehmen in einem Steuerdumpingland doch FDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss, die (B) gar nicht nötig. Warum sollten sie Gewinne verlagern, Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Aus- (D) wenn es ihnen hier so gut geht? Das alles hat keinen schuss für Wirtschaft und Technologie. Sinn. Das zeigt, warum wir diesem Antrag nicht folgen können. Ich lasse nun zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen, das heißt Federfüh- Ich will noch eine monokausale Ableitung, die der rung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Antrag nahelegt, ansprechen. Es ist richtig: Die Real- Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer löhne in Deutschland sollten steigen. Aber folgende ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor- Maßnahmen sind eine zu einfache Ableitung: Reallöhne schlag ist abgelehnt. erhöhen, Exportüberschuss senken, Leistungsbilanzdefi- zit in Griechenland ausgleichen, Verschuldung in Grie- Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der chenland senken, Wohlstand in Griechenland steigern Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, das und mit den Reallöhnen auch den Wohlstand in Deutsch- heißt Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt land steigern. Dies soll nach Ihrer Vorstellung einen für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? Wundereffekt bewirken, durch den es Europa plötzlich – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist ange- besser geht. nommen. Das heißt, die Federführung liegt beim Finanz- ausschuss. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: – So einfach ist es leider nicht. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Dabei wird vergessen, was die anderen Staaten ma- Riegert, Holger Haibach, Peter Altmaier, weiterer chen. Was machen eigentlich Unternehmen? Saniert Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- Griechenland? Sparen die Deutschen oder investieren wie der Abgeordneten Harald Leibrecht, Helga sie? Daub, Joachim Günther (Plauen), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP (Zuruf von der LINKEN: Jetzt hat er es kapiert!) Haiti eine langfristige Wiederaufbauperspek- tive geben – Ihr habt es leider nicht kapiert, sonst hättet ihr euch gar nicht getraut, den Antrag vorzulegen. – Drucksache 17/1157 – (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- FDP) richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3193

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) Wir müssen die Menschen und das Land jetzt so un- (C) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Sascha terstützen, dass ein neuer, moderner und vor allem de- Raabe, Klaus Barthel, Lothar Binding (Heidel- mokratisch fester Staat entstehen kann, ein Staat, der die berg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Menschenrechte und den Rechtsstaat achtet, der aber der SPD auch auf wirtschaftlich festen Beinen steht und seine Zu- kunft wieder selbst in die Hand nehmen kann. Zukunft für Haiti – Nachhaltigen Wiederauf- bau unterstützen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Drucksachen 17/885, 17/1214 – Es ist wichtig, dass sich die vielen Hilfsorganisatio- Berichterstattung: nen und vor allem die Geber auf der Wiederaufbaukon- Abgeordnete Klaus Riegert ferenz in New York bei ihren Hilfsmaßnahmen eng ab- Dr. Sascha Raabe stimmen, damit der bestmögliche Effekt und somit die Harald Leibrecht größtmögliche Hilfe für die Menschen in Haiti erzielt Heike Hänsel werden. Deutschland und seine europäischen Partner Thilo Hoppe müssen auf der Konferenz geschlossen auftreten, und die EU muss mit einer Stimme sprechen. c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Meine Damen und Herren, wir debattieren heute drei sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) Anträge, in denen es um die Frage geht, wie die deutsche Hilfe für Haiti aussehen sollte. Die Linken meinen lei- – zu dem Antrag der Abgeordneten Heike der, das Schicksal Haitis dafür nutzen zu müssen, um Hänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weite- einmal mehr antiamerikanische Ressentiments zu schü- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE ren und dieses Thema damit unnötigerweise zu ideologi- Nachhaltige Hilfe für Haiti: Entschuldung sieren. Der Antrag der Linken impliziert, dass es sich jetzt – Süd-Süd-Kooperation stärken beim amerikanischen Engagement um eine Besatzung Haitis handelt. Dabei war es die Regierung von Haiti – zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, selbst, die nach dem Beben die USA um Hilfe gebeten Tom Koenigs, Ute Koczy, weiterer Abgeordne- hat. Wir Liberale jedenfalls begrüßen das Engagement ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der USA in Haiti, ohne das die umfangreiche humanitäre NEN Hilfe und die Sicherheit im Land nicht so schnell hätten gewährleistet werden können. Haiti entschulden und langfristig beim Wie- (B) deraufbau unterstützen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D) – Drucksachen 17/774, 17/791, 17/1099 – Ein Land, das schätzungsweise 300 000 Tote zu be- Berichterstattung: klagen hat, braucht dringend Hilfe und keinen ideologi- Abgeordnete Klaus Riegert schen Streit. Haiti braucht jetzt eine langfristige Wieder- Dr. Sascha Raabe aufbauperspektive. Hilfe für die Betroffenen kommt Harald Leibrecht derzeit nur von außen und kann auch nur von außen lo- Heike Hänsel gistisch koordiniert werden. Daher begrüßen wir auch Thilo Hoppe das Engagement der Vereinten Nationen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Im gestrigen Expertengespräch im Ausschuss wurden Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich von allen Fachleuten zwei Punkte besonders unterstri- sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann können chen: erstens die Notwendigkeit einer langfristigen Un- wir so verfahren. terstützung für Haiti und zweitens die Zusammenarbeit mit der Regierung bei gleichzeitiger Einbeziehung der Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Zivilgesellschaft. Wenn die Hilfe von außen nicht im In- ner dem Kollegen Harald Leibrecht für die FDP-Frak- neren des Staates und in seiner Gesellschaft verankert tion das Wort. wird, schaffen wir nur neue Abhängigkeiten und nicht (Beifall bei der FDP) den so dringend benötigen Neuaufbau. Die Bundesregierung hat nach der Katastrophe Harald Leibrecht (FDP): schnell gehandelt und zunächst 17 Millionen Euro für Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Maßnahmen der humanitären Hilfe bereitgestellt. Unter und Kollegen! Für jedes Land wäre ein Erdbeben in dem anderem setzte die GTZ mit diesem Geld den Bau von Ausmaß, wie es in Haiti geschehen ist, verheerend. Für 1 400 Einfachhäusern für etwa 7 000 Menschen um. Ins- ein Land, das zum Zeitpunkt des Erdbebens bereits ein gesamt unterstützt Deutschland die Maßnahmen zur un- sogenannter Failed State, also ein gescheiterter Staat, mittelbaren Nothilfe und zum Wiederaufbau mit insge- war und das bereits vor der Katastrophe zu 60 Prozent samt 179 Millionen Euro. Das ist sehr viel Geld. Auch die auf Nahrungsmittelimporte angewiesen war, gilt das na- Menschen hierzulande haben mit ihrer Hilfsbereitschaft türlich in ganz besonderem Maße. Es hat die Ärmsten Fantastisches geleistet und annähernd 200 Millionen Euro der Armen getroffen. Darum müssen wir dem Wieder- gespendet. Das ist das höchste Spendenvolumen in ganz aufbau des Landes eine Chance geben. Europa. Hierfür danke ich meinen Landsleuten. 3194 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Harald Leibrecht (A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie 300 000 Tote. Das sind 3 Prozent der Bevölkerung. Auf (C) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Deutschland umgerechnet wären das 2,4 Millionen Tote. GRÜNEN) Das ist ein unfassbares Leid und eine Tragödie, die wir uns kaum vorstellen können, und das in einem der ärms- Wichtig ist jetzt, in Haiti kein Vakuum zwischen der ten Länder der Erde. Deswegen geht in der heutigen De- humanitären Soforthilfe, der Nothilfe, dem Wiederauf- batte das Mitgefühl aller Fraktionen an die Angehörigen bau und der nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit der Opfer. entstehen zu lassen. Einige wichtige Aspekte müssen beim Wiederaufbau des Landes beachtet werden. Diese (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE möchte ich hier kurz unterstreichen: Das Wichtigste ist, LINKE]) die Infrastruktur wiederherzustellen. Dazu zählen die Häfen, die Flughäfen, die Hauptstraßen und die Wasser- Ich glaube, dass sich die Entwicklungspolitiker aller versorgung. Außerdem muss die Basis für ein funktio- Parteien in diesem Haus einig in der Feststellung sind, nierendes Staatswesen gelegt werden. Dazu gehören eine dass das eine Tragödie ist. Normalerweise eignet sich ein gute Regierungsführung, Eigenverantwortung und die solches Unglück auch nicht für eine parteipolitische Stärkung der Zivilgesellschaft. Auseinandersetzung. Aber der Bundestag ist kein Kir- chentag, und es reicht auch nicht aus, wenn wir uns in Zu den wichtigen Aspekten gehört aber auch, Haiti zu diesem Hohen Hause gegenseitig unserer Betroffenheit entschulden. Deutschland hat es bereits getan. Zusam- versichern – wir müssen handeln. men mit den G-7-Staaten muss sich die Bundesregierung bemühen, so schnell wie möglich eine Lösung zum Er- Ich habe persönlich lange gezögert mit Kritik an der lass der noch ausstehenden Schulden beim Internationa- Bundesregierung, weil ich mir gewünscht hätte, dass ich len Währungsfonds, bei der Weltbank und bei der Inter- als Oppositionspolitiker gemeinsam mit den Politikern amerikanischen Entwicklungsbank zu finden. der anderen Parteien ein Lob hätte aussprechen können, wie es Politiker aller Parteien gemacht haben in einer Ich bin überzeugt, dass wir mit den soeben genannten vergleichbaren Situation: als 2004 bei dem Tsunami in Schritten den richtigen Weg einschlagen hin zu einem Südostasien 220 000 Menschen ums Leben gekommen nachhaltigen Wiederaufbau Haitis, zu einem Haiti, das waren. Da hat die rot-grüne Bundesregierung 500 Mil- in die Weltgemeinschaft zurückfindet, zu einem Land, in liarden Euro zugesagt. dem die Menschen wieder Perspektiven haben und von ihrer Not befreit werden. Hierzu können Deutschland (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und Europa einen ganz wichtigen Beitrag leisten. Die Du meinst sicherlich Millionen! – Heike Bundesregierung ist bereit, diesen Beitrag zu leisten, und Hänsel [DIE LINKE]: Das andere sind die (B) hat bereits erste Schritte in diese Richtung unternom- Banken!) (D) men. Dafür möchte ich mich bei dieser Gelegenheit be- – 500 Millionen Euro. danken. Nach dem Erdbeben auf Haiti waren es zunächst (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 7 Millionen Euro, dann 9 Millionen Euro, dann 17 Mil- Derzeit hören wir immer wieder von illegalen Adop- lionen Euro. Das sind lediglich 3,4 Prozent des Geldes, tionen in Haiti. Das ist ein sehr dunkles Thema, das ge- das damals bei einer vergleichbaren Katastrophe zuge- rade in schwierigen Zeiten, in Zeiten der Not immer wie- sagt wurde. Auch wenn zu den genannten 17 Millionen der aktuell wird. Ich möchte an dieser Stelle die Euro noch deutsche Anteile aus multilateralen Beiträgen Bundesregierung auffordern, in diesem Punkt gemein- wie der EU-Soforthilfe kommen, ist das angesichts des sam mit Hilfsorganisationen tätig zu werden und nicht Ausmaßes der Katastrophe viel zu wenig. Bei der Anhö- zuzusehen, wie Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld he- rung im Ausschuss, die am Mittwoch stattfand, haben rausgerissen werden, was oft auf falsch verstandenen gu- die Vertreter der zivilen Hilfsorganisationen dies kriti- ten Willen und falsch verstandene Hilfsbereitschaft zu- siert und gesagt, dass die Bundesregierung auf diesen rückzuführen ist. Wenn wir hier eine Milderung oder Beitrag nicht stolz sein kann. vielleicht sogar den Stopp dieser illegalen Adoptionen (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: erreichen könnten, wäre viel getan. Allerdings!) Ich danke Ihnen. Stolz sein können wir hingegen auf unsere Bürgerin- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen und Bürger, auf die Kinder, auf die Schülerinnen und Schüler, die insgesamt 200 Millionen Euro gespen- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: det haben. Dieses Geld haben die Menschen von ihrem Nächster Redner ist der Kollege Dr. Sascha Raabe für zum Teil kleinen Einkommen abgezwackt. Darauf kön- die SPD-Fraktion. nen wir stolz sein, meine sehr verehrten Damen und Her- ren. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Sascha Raabe (SPD): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Wenn man das vergleicht, sieht man, wie gering das legen! In Haiti, einem Land mit einer Bevölkerung von Engagement der Bundesregierung ist. Darauf können 10 Millionen Menschen, gab es 230 000, vielleicht sogar wir leider – ich sage wirklich: leider – nicht stolz sein. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3195

Dr. Sascha Raabe (A) Die SPD-Bundestagsfraktion hat bei den Haushalts- wären diese nicht mehr zusätzlich – das hätten wir nur im (C) beratungen einen Sonderfonds für den Wiederaufbau Rahmen der Haushaltsberatungen erreichen können –, Haitis beantragt mit Barmitteln in Höhe von 150 Millio- sondern gingen zulasten der Zusagen gegenüber anderen nen Euro und Verpflichtungsermächtigungen in Höhe Staaten, zum Beispiel afrikanischen Staaten. Wir dürfen von 130 Millionen Euro. Leider wurde dieser Sonder- die Ärmsten der Armen nicht gegeneinander ausspielen, fonds von der Regierungskoalition, von CDU/CSU und meine lieben Kolleginnen und Kollegen. FDP, abgelehnt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nachdem wir diesen Antrag gestellt hatten, hat Ent- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE wicklungsminister Niebel selbst erkannt, dass die bisher GRÜNEN) zur Verfügung gestellten Mittel nicht ausreichen. Er hat in einem Brief an die Haushälter der Fraktionen um die Jeden Tag sterben 24 000 Menschen, vor allem Kin- Einrichtung eines Sonderfonds, wie wir ihn gefordert ha- der, an den Folgen von Hunger und Armut. Das ist alle ben, gebeten, wenngleich nur ausgestattet mit Barmitteln zehn Tage ein stiller Tsunami oder ein Erdbeben vom in Höhe von 25 Millionen Euro und Verpflichtungser- Ausmaß des Erdbebens auf Haiti. mächtigungen in Höhe von 91 Millionen Euro – aber im- merhin. Ich zitiere aus dem Brief von Minister Dirk Um diesen Menschen ein selbstbestimmtes Leben Niebel: ohne Hunger und Armut zu ermöglichen, müssen wir insgesamt mehr Mittel und Hilfe geben. Die Kanzlerin Mit möglicherweise bis zu 300 000 Toten, hatte sich ja auch dazu verpflichtet, 0,51 Prozent des 250 000 Verletzten und rd. 1,2 Mio. Obdachlosen Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammen- haben die Folgen dieses Erdbebens das Ausmaß der arbeit zur Verfügung zu stellen. Ich mache gerne einen Tsunamikatastrophe des Jahres 2004 erreicht. Werbeblock für die Regierung in dem Sinne, dass ich Deutschlands internationale Glaubwürdigkeit und aus einer Rede der Kanzlerin zitiere. In der Regierungs- Hilfsbereitschaft werden an unserer Reaktion auf erklärung 2005 sagte die Kanzlerin: dieses Unglück gemessen werden. Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet, … bis Weiter heißt es: 2010 mindestens 0,51 Prozent … des Brutto- Um sich angemessen an der internationalen Hilfe für inlandsprodukts für die öffentliche Entwicklungs- Haiti beteiligen zu können, ist die Ausbringung zu- zusammenarbeit aufzubringen. Ich weiß, was ich da sätzlicher Verpflichtungsermächtigungen in Höhe sage. von 91 Mio. € sowie die Erhöhung der Baransätze Das hat sie damals gesagt. Offensichtlich wusste sie um 24 Mio. € erforderlich. (B) nicht, was sie sagt; denn sie hat ihr Versprechen bei den (D) Minister Niebel schließt mit den Worten: diesjährigen Haushaltsberatungen eiskalt gebrochen. Wir werden mit 0,4 Prozent weit unter dem Ziel liegen. Um die notwendige Flexibilität im Rahmen des Die Steigerungen sind geringer, nämlich nur ein Viertel noch laufenden Abstimmungsprozesses in der EU dessen, was in den Jahren zuvor unter unserer Ministerin und im sonstigen internationalen Geberkreis zu si- zur Verfügung gestellt worden ist, und das in einem Jahr, chern und entsprechend der sehr guten Erfahrungen in dem die ärmsten Länder besonders hart von der Wirt- mit dem „Tsunami-Titel“ empfiehlt sich die Schaf- schafts- und Finanzkrise getroffen sind. Selbst das un- fung eines eigenen „Haiti-Wiederaufbautitels“. fassbare Unglück in Haiti hat die Kanzlerin nicht zur Richtig, Herr Minister. Einhaltung ihres Versprechens bewegen können. Was muss denn noch passieren? Doch was ist mit Ihrem Antrag passiert? Die Kolle- gen von FDP und CDU/CSU haben ihn abgelehnt. Sie Dazu, dass man so kaltblütig ein Versprechen bricht, sind mit Ihrem guten Vorhaben kläglich gescheitert. Ich sage ich: Ich bin enttäuscht von Frau Merkel. Gemessen sage an die Kollegen von CDU/CSU und FDP gerichtet: an der Zahl der ärmsten Menschen, denen sie das Ver- Damit haben Sie nicht nur Ihrem Minister einen Bären- sprechen gegeben hat, nämlich 1 Milliarde hungernder dienst erwiesen, da haben Sie auch den Ärmsten der Ar- Menschen, ist das für mich persönlich der größte Wort- men in Haiti einen Bärendienst erwiesen. Das war falsch bruch einer Kanzlerin, den es je gegeben hat. und schändlich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Was wollten Sie denn in Ihrem Haushalt errei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) chen?) Ich frage mich auch: Wo war die Kanzlerin? Immer Herr Fischer, es hat konkrete Auswirkungen, dass wieder hat sie sich bei Fernseh-Spendengalas für Haiti diese Mittel fehlen. Das gilt nicht nur bezogen auf die feiern lassen, schon immer hat sie auf Kirchentagen oder Nothilfe, sondern auch bezogen auf die Zukunft Haitis; bei anderen Anlässen betont, wie wichtig ihr die Ärms- denn wir reden hier nicht nur von irgendwelchen Zahlen. ten der Armen seien. Aber wenn es darauf ankommt, zu Vielmehr hat uns im Ausschuss auch der Vertreter der handeln, dann taucht sie ab. KfW-Entwicklungsbank gesagt, dass aufgrund der Tatsa- Selbst wenn die Bundesregierung auf der internatio- che, dass die Regierung nur so klägliche Mittel zur Ver- nalen Geberkonferenz Ende des Monats neue Zusagen fügung stellt – zum Beispiel für die Zukunft Haitis –, für den internationalen Hilfsfonds für Haiti geben sollte, Aufforstungsprogramme, die man geplant hat, jetzt ge- 3196 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Sascha Raabe (A) stoppt wurden, weil man das Geld für die Nothilfe ge- chen nach so einer Katastrophe mehrere Jahre, um die (C) braucht hat. Region wieder aufzubauen. Deswegen haben wir als SPD-Fraktion gesagt – da- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rum geht es mir mit Blick auf die Mittel, die fehlen –, Herr Kollege. dass wir für die nächsten Jahre einen ähnlich hohen Be- trag zur Verfügung stellen müssen. Das hat ja sogar auch Dr. Sascha Raabe (SPD): Ihr Minister erkannt. Jetzt widersprechen Sie ihm; Sie Wer sich Haiti von oben angeguckt hat, der wird fest- fallen ihm in den Rücken. Er hat ja selbst gesagt: Es ist gestellt haben, dass in Haiti alles abgeforstet ist. Nur zu wenig Geld für die nächsten Jahre zugesagt worden. noch 1 Prozent des Landes ist Wald, während in der Do- Herr Kollege, wir müssen doch jetzt die Weichen für minikanischen Republik noch viele Wälder sind. Dort ist die Zukunft stellen, und wir müssen gerade jetzt dafür quasi fast eine Mondlandschaft. Deswegen wäre es ganz sorgen, dass zum Beispiel wieder Bäume gepflanzt wer- wichtig, dass wir den Menschen vor Ort auch mit deut- den, weil wir so etwas gegen die Erosion tun können, schen Hilfsmitteln – zum Beispiel mit „Cash for Work“ – weil Häuser ansonsten wegrutschen und weil auch die die Möglichkeit geben, dort Aufforstung zu betreiben. Auswirkungen eines Sturmes anderenfalls viel größer Dann würden sie – bei 80 Prozent Arbeitslosigkeit in sind. diesem Land – auch ein Einkommen haben, und wir würden einen Beitrag für die Zukunft leisten. Deswegen brauchen wir jetzt auch für die gute Regie- rungsführung, die Sie angesprochen haben, Mittel, damit Deswegen sage ich: Wir müssen hier endlich mehr man einen Rechtsstaat aufbauen kann, damit Flächen in tun; wir müssen vorangehen. ein Kataster aufgenommen werden können, damit es Landtitel gibt und damit wir auch die Zivilgesellschaft Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und die Kommunen dort mit Dezentralisierungsprojek- Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Herr ten einbinden können. Dafür brauchen wir einen lang- Günther möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. fristigen Plan und langfristige Mittel. Darum geht es mir hier. Dr. Sascha Raabe (SPD): Auch Ihr Minister sagt: Da hat die Bundesregierung Gerne. zu wenig getan. – Hier stimme ich ihm ausnahmsweise zu. Das heißt aber nicht, dass sich die Regierung aus der Joachim Günther (Plauen) (FDP): Verantwortung dafür stehlen kann, dass sie hier bisher so (B) Herr Kollege Raabe, Sie hinterlassen hier den Ein- kläglich versagt hat. (D) druck, Deutschland stelle zu wenig Mittel zur Verfü- gung. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Raabe, gestatten Sie eine weitere Zwi- (Andrej Konstantin Hunko [DIE LINKE]: Al- schenfrage, dieses Mal vom Kollegen Fischer? lerdings! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ge- nau!) Dr. Sascha Raabe (SPD): Ich muss Sie fragen: Waren Sie nicht in der Aus- Gerne. schusssitzung dabei, in der alle Fachexperten erklärt ha- ben, dass, international gesehen, genügend Mittel für Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Haiti zur Verfügung stehen, dass es dort eine korrupte Herr Kollege Raabe, Sie haben darauf hingewiesen, Regierung gibt, dass deshalb versucht werden sollte, wie sich die entwicklungspolitische Situation in Haiti diese Mittel effektiv einzusetzen, und dass in dieser bereits vor dem Erdbeben dargestellt hat und dass bereits Phase mit Sicherheit dann auch von Deutschland die zu diesem Zeitpunkt zu wenig getan worden ist. Können Chance wahrgenommen wird, wenn es notwendig ist, Sie mir erklären, warum Sie in der Großen Koalition weitere Mittel bereitzustellen? nicht den Antrag gestellt haben, Haiti in die Länderliste Etwas anderes stand nie zur Debatte, und ich glaube, des BMZ aufzunehmen, damit dort ganz spezielle Pro- dass die Mittel, die Deutschland zur Verfügung gestellt gramme aufgelegt werden können? hat, in der jetzigen Situation völlig ausreichend sind. Dr. Sascha Raabe (SPD): Dr. Sascha Raabe (SPD): Herr Fischer, das erkläre ich Ihnen gerne. Ich möchte Herr Kollege, es tut mir leid, dass ich Ihnen sagen Sie auch daran erinnern, muss – Sie sind ja von der FDP –, dass Ihr Minister Ih- (Ute Kumpf [SPD]: Dass Sie auch in der Gro- nen da weit voraus ist. Ihr Minister hat das genauso wie ßen Koalition waren!) wir erkannt. Es geht nicht in erster Linie um die Mittel der Nothilfe. Es geht darum, dass wir für den langfristi- dass es Ihre Fraktion war, die bei der Aushandlung des gen Wiederaufbau Mittel brauchen. Deswegen haben wir Koalitionsvertrags darauf gedrungen hat, die Liste der damals nach dem Tsunami ja auch nicht gesagt, dass wir Partnerländer stark zu verkleinern und in diesem Zusam- 500 Millionen Euro in zwei Monaten irgendwo „verbra- menhang immer darauf zu achten, dass eine gute Regie- ten“ wollen, sondern wir haben damals gesagt: Wir brau- rungsführung gegeben ist. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3197

Dr. Sascha Raabe (A) (Ute Kumpf [SPD]: Der Kollege Fischer hat (Anette Hübinger [CDU/CSU]: Da können wir (C) eine kleine Amnesie!) aber noch ein bisschen warten!) Im Fall Haiti war der Staat in den Jahren vor dem In diesem Sinne legt unser Antrag sehr viel Wert auf Erdbeben leider unstrittig fragil; es gab kaum funktionie- Dezentralisierung, Demokratisierung und den Aufbau rende Verwaltungsstrukturen. Wir hatten auch keine An- rechtsstaatlicher Strukturen. Wir fordern ganz ausdrück- sprechpartner, um eine normale staatliche Entwicklungs- lich, dass die Zivilgesellschaft an der Verteilung der Mit- zusammenarbeit durchzuführen. Deswegen haben wir tel, die der Internationale Währungsfonds verwalten uns dort über die zivilen Organisationen und im Rahmen wird, beteiligt wird. Nicht nur die haitianische Regie- unserer multilateralen Beteiligung weiter engagiert. rung und die Geberländer sollen beteiligt werden, son- Aber wir haben immer gesagt: Wenn eine Regierung ge- dern die Zivilgesellschaft sollte diese Mittel mitverwal- bildet wird, der wir vertrauen können, ten und in einem Beirat oder anderen Gremium mitbestimmen können, wohin die Mittel fließen. Das ist (Harald Leibrecht [FDP]: Es ist immer noch ein sehr wichtiger Punkt unseres Antrags. die gleiche Regierung!) bei der wir das Gefühl haben, dass sie die Mittel für die Wir fordern eine langfristige Perspektive. Dazu ge- Menschen einsetzt, dann werden wir die entsprechenden hört es übrigens auch, die Landwirtschaft in Haiti zu för- Mittel auch zur Verfügung stellen. dern, sodass die Menschen von ihren eigenen Agrarpro- dukten leben können. Wie war denn die Situation in Herr Kollege Fischer, Sie sind ja auch ein langjähri- Haiti? – Vor noch ungefähr 20 Jahren hat sich Haiti mit ger Experte, Sie erinnern sich sicherlich: Nach dem Tsu- Lebensmitteln vollständig selbst versorgt. Dann kamen nami gab es in Indonesien zum Beispiel in der Region hochsubventionierte Importe aus den USA, und der Banda Aceh große Konflikte zwischen verschiedenen Reisanbau und die Hühnerzucht sind zusammengebro- Bevölkerungsgruppen. Diese Katastrophe damals hat chen. Es kam zu Abrodungen, sodass die landwirtschaft- aber auch die Chance eröffnet, die Konfliktparteien wie- lichen Flächen schlechter geworden sind. der ein Stück weit zu versöhnen. Zumindest in dieser Region wurde ein positiver Versöhnungsprozess einge- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist aber leitet. Ich wünsche mir, dass wir es gemeinsam schaffen, antiamerikanisch!) Herr Kollege, die Regierung in Haiti vor dem Hinter- Diese beiden Faktoren haben dazu geführt, dass Haiti grund der Katastrophe zu der Einsicht zu bewegen, dass zurzeit von Lebensmittelimporten abhängig ist, obwohl sie mehr für die Menschen tun muss. Ich wünsche mir, es von den klimatischen Verhältnissen her durchaus dass wir es schaffen, eine Zivilgesellschaft mit einer Op- möglich wäre, alle Menschen mit dort angebauten Le- position aufzubauen, sodass nach freien Wahlen eine (B) bensmitteln zu versorgen. (D) bessere Regierungsführung möglich ist. Deswegen sage ich – auch an die Bundesregierung Deswegen widerspreche ich ausdrücklich der Aus- gerichtet –: Wir brauchen eine kohärente Entwicklungs- sage des Entwicklungsministers, der in seinem Brief politik. Das bedeutet, dass mit den Agrarexportsubven- schreibt, Haiti solle kein Partnerland mehr werden. Wir tionen und den internen handelsverzerrenden Unterstüt- wollen, dass die Liste unserer Partnerländer alle zwei bis zungen Schluss sein muss. Wenn ich daran denke, dass drei Jahre überprüft wird. Da wir uns nach der Katastro- die Landwirtschaftsministerin Aigner im letzten Jahr phe in Haiti dort mindestens vier bis fünf Jahre engagie- Agrarexportsubventionen bei Milchpulver zugestimmt ren müssen, Herr Kollege Fischer, müssen wir Haiti hat auch wieder als Partnerland aufnehmen. Wir müssen da- für sorgen, dass dort in Zukunft demokratische Struktu- (Zuruf von der FDP: Aus Haiti? Das hat doch ren vorherrschen. damit nichts zu tun!) (Harald Leibrecht [FDP]: Die Regierung ist und wir die gleichen Fehler, die in Haiti gemacht wur- noch die gleiche!) den, in anderen Ländern dieser Welt wiederholen, muss ich sagen: Es muss Schluss sein mit Agrarexportdum- Zu der alten Regierung, Herr Fischer, muss man sa- ping. Wir brauchen endlich faire Handelsbedingungen gen: Der Präsident ist nach dem Erdbeben erst einmal für für Haiti und alle Entwicklungsländer. zwei bis drei Monate abgetaucht. (Beifall bei der SPD) (Anette Hübinger [CDU/CSU]: Und jetzt ist er wieder da!) Ich möchte abschließend festhalten, dass wir aus mei- ner Sicht zum einen eine schlechte Regierungsführung in Einer solchen Regierung sollten wir als Partnerland Haiti genauso wie in Afrika nicht zum Vorwand nehmen keine staatlichen Mittel zur Verfügung stellen. Deswe- dürfen, keine Mittel zu vergeben, zum anderen aber auch gen müssen wir jetzt gemeinsam versuchen, die Ziele zu – das sage ich mit Blick auf die Anträge der anderen Par- erreichen. Denn wir wollen ja nicht einer Regierung hel- teien – Anreize setzen müssen, dass dort Demokratie fen, sondern den Menschen. Deswegen glaube ich, Herr und Rechtsstaatlichkeit Einzug halten. Kollege, dass wir Haiti in Zukunft wieder als Partner- land in die Liste aufnehmen sollten – allerdings nur unter Ich glaube, wir haben einen umfassenden Antrag vor- der Bedingung, dass dort faire und demokratische Ver- gelegt, der sehr stark auf Demokratisierung und Dezen- hältnisse vorherrschen und unsere Mittel auch bei den tralisierung, aber auch auf einen langfristigen Wieder- Ärmsten der Armen ankommen. aufbau setzt, damit künftig Katastrophen wie in Haiti 3198 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Sascha Raabe (A) kein so schlimmes Ausmaß mehr annehmen können. Wir zu schaffen, damit eine Bevölkerung von 10 Millio- (C) werden Erdbeben nicht verhindern können, aber dass in nen Überlebenskünstlern, Haitis einzige Ressource, Chile ein vergleichbar starkes Erdbeben ein paar Hun- sich möglichst schnell selbst helfen kann. dert Todesopfer gefordert hat, während es in Haiti zu 300 000 Toten geführt hat, zeigt, dass ein Großteil der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Katastrophe von Menschen gemacht ist. Wir alle in die- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE sem Hause sollten ein gemeinsames Interesse daran ha- GRÜNEN) ben, dass das in Zukunft verhindert wird. Ich lade Sie So weit das Zitat aus der Zeit. alle dazu ein, dass wir gemeinsam daran mitwirken, die Zukunft Haitis in eine gute Richtung zu lenken. Die Bundesregierung hat mit 17 Millionen Euro für humanitäre Soforthilfe schnell geholfen. Ich bin schon Vielen Dank. etwas enttäuscht, lieber Kollege Raabe, dass Sie die mit- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tel- und langfristigen EU-Zusagen in Höhe von 84 Mil- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lionen Euro, die wir gegeben haben, nicht erwähnt ha- ben, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Doch, doch, ich Klaus Riegert von der CDU/CSU-Fraktion ist nun der habe gesagt: Das kommt hinzu! Trotzdem ist nächste Redner. das viel zu wenig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sondern mit Blick auf die 17 Millionen Euro so getan ha- ben, als hätten wir nichts gegeben. Wir sind auch für die private Hilfe in Höhe von fast 200 Millionen Euro dank- Klaus Riegert (CDU/CSU): bar. Das wurde schon erwähnt; für dieses Engagement Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Haiti kann man unseren Bürgern nur herzlich danken. wurde einmal die „Perle der Karibik“ genannt. Im 18. Jahrhundert hat Haiti 60 Prozent des Kaffees und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 40 Prozent des Zuckers für Europa angebaut und gelie- Ebenso vorbildlich haben wir die Entschuldung vo- fert. Allerdings haben einige wenige Weiße die Schwar- rangetrieben. Bilateral hat Deutschland die Schulden er- zen versklavt. Die Lebenserwartung der versklavten Be- lassen. Wir fordern die anderen Länder auf, es uns völkerung betrug im Durchschnitt etwa 21 Jahre. gleichzutun, und wir sind der Meinung, dass der Interna- Zwischen 1825 und 1947 wurden Haiti von der Kolo- tionale Währungsfonds, die Interamerikanische Ent- (B) nialmacht Frankreich Entschädigungszahlungen im Wert wicklungsbank und die Weltbank ebenfalls über entspre- (D) von umgerechnet 22 Milliarden Dollar aufgezwungen. chende Schuldenerlasse nachdenken sollten. Zwischen 1957 und 1986 haben die Duvaliers, bekannt Wie sieht jetzt die Zukunftsperspektive aus? Ich als „Papa Doc“ und „Baby Doc“, ihr Unwesen getrieben denke, mit „build back better“ ist gut beschrieben, wie und das Land geknechtet und unterdrückt. Danach ka- vorher der Zustand war und vor welcher riesigen Auf- men Wirren, Putsche, blutige Unruhen, das militärische gabe wir hier stehen. Dies bedeutet zum einen eine Ko- Eingreifen der USA und regelmäßig Naturkatastrophen ordinierung der Hilfen. Deswegen setzen wir auf die wie Wirbelstürme und Überschwemmungen hinzu. Wiederaufbaukonferenz am 31. März in New York. Wir Dieses Land wurde im Januar von einem schrecklichen wollen, dass verlässliche Strukturen geschaffen werden. Erdbeben mit bis zu 300 000 Toten heimgesucht – die ge- Auf der anderen Seite muss der Demokratisierungspro- naue Zahl der Toten konnte nicht festgestellt werden –, zess mit den Menschen und der dortigen Regierung vo- mit über 310 000 Verletzten und 1 Million Obdachlosen. rangebracht werden. An dieser Stelle war Ihre Rede reichlich naiv, lieber Kollege Raabe, weil es im Hinblick Wir stehen in der Tat in dem Zielkonflikt, dass es in auf ein Land, das bisher Unterdrückung und Diktatur er- Haiti auf der einen Seite nur eine schwache bis gar nicht lebt hat, naiv ist, zu glauben, aus den Trümmern entstehe vorhandene Regierung und keine Zivilgesellschaft in un- plötzlich eine demokratische Kultur. Auch da werden serem Sinne gibt, aber auf der anderen Seite die Geber- wir langen Atem brauchen. gemeinschaft nicht gegen die Interessen der Menschen handeln soll. Damit haben wir ein riesengroßes Problem, (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Das Ziel muss es das man sicherlich nur behutsam angehen kann. Das sein, Herr Kollege! Langfristig!) braucht seine Zeit. – Das Ziel habe ich gerade so formuliert; da sind wir uns Der Wiederaufbauplan, der erstellt worden ist, bezif- dann wieder einig. fert die Kosten in den nächsten drei Jahren mit 8,3 Mil- liarden Euro. Ich zitiere aus der Zeit vom 21. Januar: Initiativen wie „Cash for Work“, Mikrokreditpro- gramme und Investitionen, auch private, brauchen wir in Staatsaufbau heißt nicht, einem schwer traumati- Haiti. Außerdem sollten wir schon klar sagen, dass wir sierten Land innerhalb kurzer Zeit ein Mehrpartei- die Chancen ergreifen müssen, und zwar vom Tourismus ensystem samt parlamentarischer Geschäftsord- bis zum UNO-Sonderbeauftragten Bill Clinton. Es gibt, nung hinzustellen. Staatsaufbau bedeutet, Straßen glaube ich, keine professionelleren Spendensammler als und Krankenhäuser zu bauen, Polizisten und Rich- ehemalige amerikanische Präsidenten. Da sollten wir die ter auszubilden. Also ein Minimum an Sicherheit Chancen ergreifen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3199

Klaus Riegert (A) Den Dank an die UNO hat der Kollege Leibrecht 31. März die Wiederaufbaukonferenz haben werden. Da (C) schon ausgesprochen. Die UNO-Hilfsmission wurde bei wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass die dem Erdbeben stark betroffen und hat deswegen einige EU mit einer Stimme spricht. Wir werden im Rahmen Tage gebraucht, um die Lage in den Griff zu bekommen. der internationalen Gemeinschaft unseren Beitrag leisten Deshalb gilt der UNO erst recht der Dank für die Hilfe, und die auf uns entfallenden Mittel zusätzlich zu den bis die dort geleistet wird. jetzt zugesagten Mitteln bereitstellen. Ich zitiere noch einmal die Zeit vom 28. Januar: Ich verstehe nicht, dass wir uns bei einer solch wichti- gen Sache immer wieder auseinandersetzen, obwohl wir Haiti könnte als positives Beispiel für Staatsaufbau gemeinsam der Meinung sind, dass man bei einem ge- in die Geschichte eingehen, wenn die Lehren aus beutelten Land wie Haiti einen langen Atem haben muss vergangenen Fehlern beherzigt werden. Zu den und man die Menschen dort nicht vergessen darf, wenn wichtigsten gehören: Kurzfristige Nothilfe und das Fernsehen, die Medien nach vier Wochen nicht mehr langfristiger Wiederaufbau müssen gemeinsam ge- hinschauen. Sie können das aber noch heute heilen, in- plant werden. Und: Nichts geht ohne die Bevölke- dem Sie unserem guten Antrag zustimmen. Dazu darf rung … ich Sie herzlich auffordern. Wenn die Zusammenarbeit zwischen Geberländern, In diesem Sinne danke ich. Hilfsorganisationen, Staat und Zivilgesellschaft nicht funktioniert, dann zementiert internationale (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hilfe ebenjene soziale Ungleichheit, die schon vor Dr. Sascha Raabe [SPD]: Sie müssen unserem der Naturkatastrophe herrschte. Antrag zustimmen! Dann ist alles gut!) Viel Spielraum für Irrtümer bleibt nicht – auch nicht bei der Nothilfe. Im Mai beginnt die Hurri- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kan-Saison. Für die Fraktion Die Linke hat Heike Hänsel das Wort. So weit die Zeit. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb sind wir froh, dass es einen Wiederaufbau- plan gibt, den 150 haitianische Regierungsbeamte und Heike Hänsel (DIE LINKE): 90 internationale Experten gemeinsam entworfen haben. Er stellt eine gute Arbeitsgrundlage dar. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei dem schweren Erdbeben in Haiti am 12. Januar sind So grundlegend wie jetzt in Haiti ist ein Staatsaufbau wahrscheinlich bis zu 300 000 Menschen ums Leben ge- (B) noch nie versucht worden. Aber er kann gelingen, wenn kommen; meine Vorredner haben das erwähnt. Das ist (D) die internationale Gemeinschaft genügend langen Atem eine unvorstellbare Zahl; damit ist unvorstellbares Leid beweist. Hierzu wollen wir die Bundesregierung mit un- verbunden. Mehr als 350 000 Menschen wurden zum serem Antrag ermuntern. Teil schwer verletzt. Große Teile der Infrastruktur des Karibik-Staats wurden durch die Erdstöße zerstört. Lieber Sascha Raabe, wenn das keine parteipolitische Rede war, die Sie gerade gehalten haben, dann bin ich Mittlerweile sind die meisten Journalisten wieder weg gespannt, wie es sein wird, wenn Sie hier einmal eine und die Kameras abgeschaltet, doch in Haiti beginnt ein parteipolitische Rede halten. neuer Albtraum: die Regenzeit. Ganze Landstriche ha- ben sich bereits in Teiche verwandelt, andere Regionen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sind mit aufgeweichter Erde überzogen, Erdrutsche dro- Dr. Sascha Raabe [SPD]: Ich habe doch er- hen. Auch ohne Kameras und Berichterstattung steht klärt, warum das notwendig war, Herr Kol- fest: Die Menschen in Haiti brauchen noch für lange Zeit lege! Wir sind hier nicht in der Kirche, son- unsere Solidarität. dern wir wollen den Menschen helfen und handeln!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD]) – Ja, Sie sind nicht in der Kirche; aber wir haben vier Anträge vorliegen. Ich habe im Ausschuss schon gesagt, Herr Kollege Riegert, hier unterscheiden sich unsere An- dass ich es nicht verstehe, dass es uns bei den geringfü- träge: Wir fordern mehr Geld für Haiti und einen Son- gigen Unterschieden, um die es da geht – sie machen dertitel, um eine langfristige Hilfe zu gewähren. Das sich nur an einem Sondertitel fest; ansonsten muss man steht in Ihrem Antrag eben nicht. die Unterschiede ja krampfhaft suchen –, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Zwischen 17 und Klaus Riegert [CDU/CSU]: Dann müssen Sie 115 Millionen ist schon ein Unterschied!) ihn richtig lesen!) nicht gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag vorzule- Experten schätzen die Schäden auf bis zu 14 Milliar- gen, zumal wir auf der einen Seite in der letzten Woche den Dollar. Die Bundesregierung hat bisher die Bereit- beim Haushalt über 80 Milliarden Euro Neuverschul- stellung von 17 Millionen Euro für Haiti beschlossen. dung diskutiert haben – das haben Sie in der General- Zudem gibt es im gerade verabschiedeten Haushalt kei- debatte kritisiert und trotzdem für jeden Einzelhaushalt nen Sondertitel, um eine mittel- und langfristige Hilfe neue Mittel gefordert – und auf der anderen Seite am für Haiti zu gewährleisten. Herr Niebel, ich muss es wie- 3200 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Heike Hänsel (A) derholen: Das ist ein Armutszeugnis für diese Regie- Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel; sie alle (C) rung. wenden sich gegen die Militarisierung der Aufbauhilfe. Für uns ist ganz klar die Armut das Hauptproblem Haitis (Beifall bei der LINKEN) und nicht die Sicherheit. Deshalb braucht Haiti nicht Geld gäbe es genug; die Linke hat viele Vorschläge für mehr Soldaten, sondern mehr Ärztinnen und Ärzte und mögliche Einsparungen gemacht. Allein der Afghanis- mehr Lehrerinnen und Lehrer. tan-Einsatz der Bundeswehr kostet mittlerweile mehr als 1 Milliarde Euro pro Jahr. Damit könnte man in Haiti (Beifall bei der LINKEN) mehr als 2 000 Schulen und 250 000 Lehrer und Lehre- Die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi rinnen finanzieren. Am kommenden Mittwoch findet in Klein bringt es auf den Punkt: Haiti ist eigentlich kein New York eine internationale Geberkonferenz für Haiti Schuldnerland, sondern ein Gläubigerland. Wir müssen statt. Herr Niebel, ich frage mich natürlich, welche kon- hier endlich einmal über Wiedergutmachung für Haiti krete, langfristige Hilfe Sie dort eigentlich im Namen sprechen, Wiedergutmachung für die verheerenden Fol- der Bundesregierung anbieten wollen. Ich sehe nichts gen von Sklaverei, US-Besatzung, von außen unterstütz- davon. ter blutiger Diktatur, von aufgezwungenem Freihandel, Für die Fraktion Die Linke ist auch entscheidend – das Schuldendienst und jetzt des Klimawandels. – Haiti ge- haben wir in unserem Antrag formuliert –, dass der Auf- hört zu den am meisten vom Klimawandel betroffenen bau Haitis in den Händen der haitianischen Regierung Ländern, obwohl es ihn nicht verursacht hat. Neue ver- und der haitianischen Zivilgesellschaft liegt. heerende Hurrikans werden in diesem Jahr erwartet. Da- für sind wir in den Industriestaaten verantwortlich, und (Beifall bei der LINKEN) deshalb hat Haiti einen Anspruch auf unsere Unterstüt- Es gibt dort viele demokratische Initiativen, selbstorga- zung. nisierte Basisgruppen, Frauengruppen und Nachbar- (Beifall bei der LINKEN) schaftshilfe, über die hier nicht berichtet wird, die aber maßgeblich zur stabilen Sicherheitslage in Haiti beitra- Das ist keine Frage von Goodwill. gen. Ein Protektorat Haiti, wie es sich manche vorstel- len, lehnen wir ab. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der LINKEN) Frau Kollegin! Wir setzen uns auch für die Stärkung der Süd-Süd- Kooperation ein. Es gibt nämlich bereits eine langjäh- Heike Hänsel (DIE LINKE): (B) rige, vorbildliche Entwicklungszusammenarbeit vieler Vielmehr besteht ein Anspruch auf diese Unterstüt- (D) lateinamerikanischer Staaten. Ich nenne als Beispiel zung. Dafür setzen wir uns ein. Kuba: Mehr als 400 kubanische Ärzte und Ärztinnen ar- (Beifall bei der LINKEN) beiten seit Jahren vor allem in ländlichen Regionen Haitis; jetzt sind über 200 Ärzte hinzugekommen. – Diese Erfahrungen und die bereits bestehende Infra- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: struktur wären gute Voraussetzungen für eine trilaterale Der Kollege Thilo Hoppe hat das Wort für Bünd- Zusammenarbeit zwischen Kuba, Haiti und Deutschland nis 90/Die Grünen. oder auch der EU. Folgen Sie deshalb, Herr Niebel, dem Beispiel der norwegischen Regierung, die ein solches Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Abkommen mit Kuba nach dem Erdbeben unterzeichnet Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hat. Viele haben, als sie die Nachricht gehört haben, dass (Beifall bei der LINKEN) Haiti von einem verheerenden Erdbeben erschüttert wor- den ist, gestöhnt und gefragt: Warum wieder Haiti, aus- Während das Geld für den zivilen Aufbau bei weitem gerechnet Haiti, ein Land, das vom Schicksal schwer ge- nicht ausreicht, wird allerdings sehr viel Geld für die prüft ist? Klaus Riegert und Heike Hänsel haben schon Präsenz von Militär in dem kleinen Land ausgegeben. einiges zur Geschichte Haitis gesagt. Die US-Regierung hatte mehr als 20 000 Soldaten statio- niert. Jetzt werden einige abgezogen; aber nach wie vor Ich stelle fest: In dieser Debatte gibt es einerseits sehr plant die US-Regierung, langfristig ein Kontingent von viele Gemeinsamkeiten. Wir alle sind tief betroffen von mehreren Tausend Soldaten in Haiti zu halten. Auch die dem schrecklichen Leid, das den Menschen in Haiti UN-Mission MINUSTAH wurde auf jetzt über 9 000 Sol- widerfahren ist. Wir haben in vielen Reden gehört, wie daten aufgestockt. Sie kostet über 400 Millionen Euro schlimm die Verhältnisse sind und wie groß die Heraus- im Jahr. Wir lehnen diese Militarisierung von Aufbau- forderung ist. In der Tat könnte man fragen: Können wir hilfe ab, die in unseren Augen einer neuen Besatzung uns nicht auf einen gemeinsamen, fraktionsübergreifen- Haitis gleichkommt. Wir fordern den Abzug aller Trup- den Antrag einigen? pen und eine rein zivile Aufbaumission. Aber leider gibt es bei all den Gemeinsamkeiten doch (Beifall bei der LINKEN) auch Unterschiede, die nicht so klein sind. Das fordern auch über 100 Organisationen weltweit, un- (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ter anderem La Via Campesina, oder der argentinische Genau!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3201

Thilo Hoppe (A) Der Streit fängt meistens dann an, wenn es ums Geld fen, um Menschenleben zu retten. Aber jetzt geht es um (C) geht. Viele Experten haben gestern in der Anhörung ge- den Aufbau, und da muss ein schwieriger Prozess orga- sagt, dass es bei solchen Katastrophen oft Wellenbewe- nisiert werden: mit der Regierung in Haiti, so schwer es gungen gibt. Wenn die Fernsehbilder, schreckliche, auch ist. Wir haben gestern gehört, dass die Regierung furchtbare Bilder, um die Welt gehen, dann ist die Spen- das Vertrauen eigentlich verspielt hat. Trotzdem führt denbereitschaft groß. Alle möglichen Hilfsorganisatio- kein Weg daran vorbei, auch dort Bildungsprogramme, nen und Hilfswerke werden mobilisiert. Manchmal Capacity-Building zu machen, damit man zumindest schwappt sogar so viel Geld ins Land, dass es gar nicht mittelfristig auch zu tragfähigen staatlichen Strukturen sofort sinnvoll eingesetzt werden kann. Aber wenn die kommt. Die Bevölkerung muss einbezogen werden. Es Scheinwerfer wieder ausgeschaltet sind, geht die Hilfs- gibt sehr aktive Nachbarschaftskomitees und eine sehr bereitschaft massiv zurück. Diese Wellenbewegungen aktive Zivilgesellschaft. Gebergemeinschaft, Regierung sind – das haben uns viele Experten gesagt – sehr und Zivilgesellschaft müssen zusammenkommen. schlecht für eine nachhaltige Entwicklung, für den Auf- bau von Institutionen und Strukturen, die auch über die Dann ist ein zweiter Aspekt ganz wichtig – neben der Krisenzeit hinaus tragfähig sind. Entschuldung; darüber sind wir uns, glaube ich, alle ei- nig –, nämlich dass der ländliche Raum endlich in den Gerade aus diesem Grund ist es so wichtig, langfris- Fokus gerückt werden muss. tig, mit sehr langem Atem, zu helfen und einen Sonder- titel einzustellen, wie ihn die drei Oppositionsfraktionen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gefordert haben. Auch der Entwicklungsminister hat sowie bei Abgeordneten der SPD und der dies gefordert – einige Redner haben es schon gesagt –, FDP) ebenso, wie ich glaube, die meisten Kollegen aus dem Sascha Raabe hat es gesagt: Haiti ist ein Land, das sich Entwicklungsausschuss. Dennoch ist der Sondertitel lei- früher selbst versorgen konnte, das Lebensmittel sogar der nicht durchgekommen. Er ist an den Haushältern von exportieren konnte, und zwar nicht nur in der Zeit der CDU/CSU und FDP gescheitert. Da besteht die größte Sklaverei. Es ist in den 80er-Jahren durch IWF und Welt- Differenz. Ich glaube, im Entwicklungsausschuss hätten bank gezwungen worden – das ist kein Geheimnis –, wir größere Chancen, zu einem gemeinsamen Antrag zu Strukturanpassungsmaßnahmen durchzuführen und den kommen. Außenschutz abzubauen. Daraufhin ist es von hochsub- Ich denke, einiges kann aber noch geheilt werden. ventioniertem Reis und anderen Agrarprodukten aus den Wir wünschen uns sehr, dass die Bundesregierung die USA überschwemmt worden. Die Landwirtschaft ist Knauserei endlich ablegt, ermutigt durch die Debatte zu durch diese verfehlte Handelspolitik und durch diese auch verfehlte Liberalisierungspolitik völlig zerstört wor- (B) der Wiederaufbaukonferenz nach New York fährt, dort (D) deutlich mehr Geld in die Hand nimmt und sich dabei den. wirklich eher an dem orientiert, was Deutschland nach Auch dabei muss es jetzt zwei Stufen geben: Sofort- der Tsunami-Katastrophe geleistet hat. Eines ist nämlich hilfe in Form von Nahrungsmittelhilfe, dann aber unbe- schon klar: Die Zahl der Opfer ist höher als damals, und dingt Saatguthilfe, damit die Regenzeit für die Aussaat auch die Schäden sind größer; sie übersteigen bei wei- genutzt werden kann. Wir brauchen eine Unterstützung tem das, was die verheerende Tsunami-Katastrophe an- für den ländlichen Raum in Haiti, damit vor allem die gerichtet hat. Also muss die Antwort entsprechend sein. Kleinbauern in die Lage versetzt werden, die eigene Ich hoffe, dass es einen gemeinsamen Appell an die Bevölkerung auf nachhaltige Weise zu ernähren. Mittel- Bundesregierung gibt, dort wirklich mehr zu leisten und fristig muss dann auch an einen besseren Außenschutz ambitionierter aufzutreten. gedacht werden, also an eine Rücknahme von Liberali- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sierungsschritten. Vielleicht kann sogar noch im nächsten Haushalt ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sondertitel eingerichtet werden. Wir haben jetzt über vier Anträge abzustimmen, die Bei der Aufbauhilfe – das Wort „Wiederaufbau“ passt viele Gemeinsamkeiten haben. eigentlich nicht, weil man zu einem neuen Status kom- men muss; man soll nicht den Status wiederherstellen, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den es vor dem Erdbeben gegeben hat – sind drei As- Herr Kollege, ich glaube, Sie können jetzt nicht mehr pekte wichtig, die hier auch schon benannt worden sind. über alle vier Anträge sprechen. Zwei möchte ich ganz dick unterstreichen. Erstens: keine Entwicklung an den Menschen in Haiti Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vorbei! Dann sage ich das jetzt ganz schnell. – Wir haben den wirklich umfassenden Antrag vorgelegt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: ordneten der CDU/CSU und der FDP) Aber wir haben den realistischen!) Die Aufbaupläne dürfen nicht am Reißbrett von Ent- in dem auch der größte Sondertitel gefordert wird. Es wicklungsagenturen entstehen. Wir haben da einen ge- wäre natürlich ein tolles Zeichen, wenn jetzt alle dem wissen Zielkonflikt. Humanitäre Hilfe muss sofort grei- Grünen-Antrag zustimmen würden. 3202 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Thilo Hoppe (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vorruft, und zwar das Bild von Deutschland, wie es rea- (C) giert hat, wie die Bürger in Deutschland reagiert haben. Wir werden auch dem SPD-Antrag zustimmen. Darin Vor vier Jahren standen wenige Hundert Meter von hier steht nichts Falsches, aber er bleibt ziemlich vage. entfernt unsere Kicker – wir haben den dritten Platz be- legt – und haben ein T-Shirt mit der Aufschrift getragen: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Danke, Deutschland. – Ich möchte hier anknüpfen und Herr Kollege! „Danke, Deutschland“ sagen, und zwar gerichtet an un- sere Bürgerinnen und Bürger sowie an die Helferinnen Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und Helfer, die sich aufgemacht haben, um in die Tat Beim Antrag der Linken kann ich eines nicht verste- umzusetzen, was viele nur bei Worten belassen haben. hen, nämlich dass die Sicherheitsfrage völlig außer Acht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gelassen wird. Dafür, dass Sie Skepsis gegenüber den amerikanischen Truppen haben, habe ich ein bisschen Die Klage, wie wenig wir aufgebracht hätten, hört Verständnis. sich manchmal wie eine Leier an. Dabei haben Sie viel- leicht mehr die Regierung in den Fokus genommen. Ich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: danke aber auch der Bundesregierung. Ich danke auch Nein. den Vertretern des Auswärtigen Amtes, die koordiniert haben. Ich habe selbst an solchen Sitzungen teilgenom- men und weiß, wie gut die Zusammenarbeit zwischen Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Technischem Hilfswerk, Welternährungsprogramm, der Aber dass selbst das UN-Mandat abgelehnt wird, kön- GTZ usw. war. Ich war begeistert, dabei sein zu können, nen wir nicht mittragen. Deshalb leider eine Ablehnung. wie das entwickelt wurde. Die gute Zusammenarbeit und Der Koalitionsantrag – die Hilfe sind einen großen Dank wert. Das heißt aber nicht – die Gefahr wurde hier realis- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tisch festgestellt –, dass jetzt aufgehört werden darf. Das Herr Kollege! machen wir auch nicht. Vieles war gut, und vieles kann (Heiterkeit) man vielleicht noch besser machen. Wir dürfen aber nicht aufhören. Wir dürfen uns jetzt nicht aus der Affäre stehlen. Das machen wir auch nicht. Das haben wir im Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Übrigen mit allen Anträgen auf unterschiedliche Weise – enthält nur Allgemeinplätze. bewiesen. Auch den Bürgern rufe ich zu, jetzt bitte nicht (B) aufzuhören, sondern bei den Organisationen, bei denen (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sie gespendet haben, nachzuhaken: Seid ihr noch dort? Das wird nicht funktionieren, weil mein Verständnis Seid ihr noch dran? Braucht ihr noch weitere Hilfe? – So jetzt ganz am Ende ist. können wir beweisen, dass wir nicht nur kurzfristig, son- dern langfristig Herz haben. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb bestenfalls eine Enthaltung. In der heutigen Debatte geht es darum, Haiti eine Danke. langfristige Wiederaufbauperspektive zu geben. Für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mich als Novize in diesem Haus ist es schön, zu erleben, dass unsere Grundsätze und auch unsere Anträge in die- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sem Haus eine große Schnittmenge aufweisen. Das ist nicht in allen Politikbereichen der Fall. Manchmal wäre Der Kollege Frank Heinrich hat das Wort für die es wünschenswert, wenn sich das übertragen wurde. CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schon vor dem Erdbeben war Haiti eines der ärmsten neten der FDP) Länder, das ärmste Land Lateinamerikas. Nach dem Erdbeben, das nach dem Tsunami die größte Katastrophe dieses Jahrhunderts ist, haben wir jetzt die Chance – un- Frank Heinrich (CDU/CSU): abhängig davon, ob die Medien davon berichten –, das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Thema nach einigen Wochen noch einmal aufzugreifen. Kollegen! Jetzt noch etwas Neues zu sagen, wäre eine Noch nimmt die Weltöffentlichkeit Haiti wahr. Teilweise sehr große Herausforderung. Das maße ich mir nicht un- nimmt die Weltöffentlichkeit Haiti deshalb noch wahr, bedingt an. Ich möchte noch einmal die Bilder in Erinne- weil sich Amerika in diesem Prozess so stark engagiert rung rufen, die dem einen oder anderen vielleicht mehr hat. präsent sind. Ich selbst habe Freunde, die davon direkt betroffen sind, und auch Freunde in NGOs. Wir alle ha- Die Hilfe ist aber auch mit einem politischen Auftrag ben aber noch die Bilder aus den Medien vor Augen. Ich verbunden. Dem kommen wir heute ein Stück weit nach. habe aber nicht nur dieses Bild des Leides in Erinnerung. Wir wollen – das steht auch in unserem Antrag – neue Ich habe auch das Bild in Erinnerung, das Herr Leibrecht Strukturen schaffen, und zwar sowohl im politischen Be- ganz am Anfang aufgezeigt hat, das Dank bei mir her- reich als auch in den Bereichen der Gerichte, der Polizei Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3203

Frank Heinrich (A) und im militärischen Bereich, aber auch in anderen Be- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der (C) reichen der Gesellschaft bis hin zur Infrastruktur. Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Druck- sache 17/1157 mit dem Titel „Haiti eine langfristige Ich denke, politische Fehler und gegenseitige Vor- Wiederaufbauperspektive geben“. Wer stimmt für diesen würfe sind genügend ausgetauscht worden. Die vier Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – politischen Notwendigkeiten, die wir auch in unserem Damit ist der Antrag bei Zustimmung der Koalitions- Antrag beschrieben haben, betreffen unter anderem die fraktionen angenommen. Dagegen haben die SPD und Koordinierung des Wiederaufbaus. Deshalb verstehe ich die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Fraktion Bünd- nicht, weshalb Sie unsere Forderung hinsichtlich der nis 90/Die Grünen hat sich enthalten. UNO ablehnen. Wir wollen abwarten – deshalb gibt es diesen Titel bei uns noch nicht explizit –, was zum Bei- Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt- spiel die Geberkonferenz beschließt und was die Recher- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem chen ergeben, die dann zusammenfließen. Wir wollen Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Zukunft für auch abwarten, welchen Bedarf die Geberkonferenz im Haiti – Nachhaltigen Wiederaufbau unterstützen“. Der Juni zusammenträgt. Jetzt Schnellschüsse zu machen, ist Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf die Sache meines Erachtens nicht wert. Dafür ist das Drucksache 17/1214, den Antrag der Fraktion der SPD Problem zu groß. auf Drucksache 17/885 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustim- Das wäre jetzt kein Schnellschuss!) mung durch die Koalitionsfraktionen und die Linke an- Die Entschuldung ist vergessen worden. Deutschland genommen. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben hat im vergangenen Jahr entschuldet. In unserem Antrag dagegen gestimmt. Enthaltungen gab es keine. haben wir die Forderung aufgenommen, andere aufzu- Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- fordern – insbesondere die Inter-American Development schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Bank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und wicklung auf Drucksache 17/1099. Der Ausschuss emp- Entwicklung –, diesem Beispiel zu folgen. Das wäre der fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die zweite Bereich. Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Der dritte Bereich bezieht sich auf den Finanzbedarf, Drucksache 17/774 mit dem Titel „Nachhaltige Hilfe für bei dem wir uns noch nicht hundertprozentig festlegen, Haiti: Entschuldung jetzt – Süd-Süd-Kooperation stär- wie viel das am Schluss sein wird. Da kursieren viele ken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Zahlen. Wir sind uns einig, dass es sich um viel Geld genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- (B) und um eine langfristige Investition über mehrere Jahre lung ist bei Ablehnung durch die Fraktion Die Linke (D) handelt. angenommen. Zugestimmt haben alle anderen Fraktio- nen. Der vierte Bereich betrifft den Aufbau eines Rechts- staates. Die Verwaltung soll bei der UNO bleiben. Die Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- Sofortmaßnahmen zu Beginn waren positiv. Die Neu- lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- ausrichtung der Mission MINUSTAH ist ebenfalls posi- nen auf Drucksache 17/791 mit dem Titel „Haiti ent- tiv. Es soll innerhalb der EU konzertiert gearbeitet wer- schulden und langfristig beim Wiederaufbau den. Die NGOs sollen selbstverständlich wie auch die unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- vor Ort arbeitenden Bürgerbewegungen – das geschah lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit schon bei der Soforthilfe – einbezogen werden. Natür- ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die lich sollen auch die Wahlen, die Ende des Jahres stattfin- Koalitionsfraktionen und die Linke angenommen. Dage- den sollen und ganz entscheidend sein werden, begleitet gen hat das Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Frak- und kontrolliert werden. tion der SPD hat sich enthalten. Maßnahmen gegen Kinderhandel und illegale Adop- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf: tion habe ich in dem einen oder anderen Antrag ver- Beratung des Antrags der Abgeordneten misst. Ich denke, es steht uns an, darauf ein Auge zu Dr. Gerhard Schick, Dr. Hermann Ott, Kerstin werfen. Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Lassen Sie uns die Medien und die Bürger auffordern, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weiterhin den Fokus auf Haiti zu richten. Stimmen Sie Finanzmärkte ökologisch, ethisch und sozial auch für den Antrag der CDU/CSU und der FDP, damit neu ausrichten das Signal, das mehrfach angesprochen wurde, ausge- sendet werden kann. – Drucksache 17/795 – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ich schließe die Aussprache. Entwicklung 3204 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

(A) Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. – in welcher Höhe sie CO2-Emissionen ausstoßen und wie (C) Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist sie in Bezug auf den Klimawandel dastehen. Das Projekt das so beschlossen. krankt daran, dass es keine vergleichbaren standardisier- ten Informationen aus den Unternehmen gibt. Wir müs- Das Wort als erster Redner hat der Kollege sen jetzt die gesetzliche Grundlage dafür schaffen, dass Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen. Investoren, die Klimarisiken berücksichtigen wollen, dies auch tun können. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel nennen. Die in dem Antrag, den wir vorlegen, um ein Thema, das mir evangelische Kirche hat ein Projekt gestartet, das ich persönlich sehr wichtig ist, weil ich davon überzeugt bin, sehr gut finde. Man hat gesagt: Wir legen unsere Gelder dass Menschen nicht nur nach ihrem wirtschaftlichen zusammen und werden in Zukunft schauen, dass die Kri- Vorteil streben, sondern durchaus bereit sind, auch öko- terien, die wir auch sonst anlegen, nämlich ethische und logische, soziale und ethische Erwägungen zu berück- soziale Aspekte, auch bei unseren Investitionen berück- sichtigen, und wir deswegen unser Finanzwesen nicht sichtigt werden. Wir werden unsere Stimmrechte bün- nur auf die Rendite ausrichten dürfen. deln und als aktive Aktionäre dafür sorgen, dass sich in den Unternehmen etwas ändert. – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wie haben sie Wenn man von diesem Menschenbild ausgeht, dann sich dann bei der Mikrofinanzierung verhal- sieht man, dass in der bisherigen Diskussion darüber, ten? Abgelehnt!) was an den Finanzmärkten neu gemacht und verändert werden muss, eine Dimension völlig fehlt. Das ist die Die katholische Kirche will sich dem anschließen. Der Dimension: Wie schaffen wir es, dass die Menschen Ver- Vorsitzende der Bischofskonferenz sagt, es sei für Anle- antwortung für das übernehmen können, was mit ihrem ger außerordentlich schwierig, erfolgreiche und ethisch Geld geschieht? Wir sollten nicht nur die Frage beant- zuverlässige Unternehmen von anderen mit zweifelhaf- worten, warum Banken pleitegegangen sind und Anleger tem Ruf zu unterscheiden. Es ist daher die Aufgabe des viel Geld verloren haben, sondern auch die Frage: Wa- Gesetzgebers, dafür zu sorgen, dass die Menschen, die rum fließt so viel Geld in Investitionen, die volkswirt- ethisch handeln wollen, dies auch tun können und die schaftlich wertlos oder sogar schädlich sind? Denken Sie dafür notwendigen Informationsgrundlagen haben. nur an die vielen Gelder, die zur Zerstörung des Regen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) waldes beitragen, oder an andere umweltschädliche In- (D) vestitionen. Deutsche Anleger haben über Fonds – in Ein letztes Beispiel, das zeigt, dass es nicht darum dem Film Let’s make Money ist deutlich geworden, dass geht, etwas völlig Neues zu machen, sondern dass wir die Anleger nicht wissen, wohin ihr Geld fließt – völlig als Gesetzgeber im Rückstand sind und aufholen müs- sinnlose Immobilienprojekte in Spanien mitfinanziert, sen: Die Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und die dort auch noch in Umweltschutzgebieten gesetzes- Asset Management, DVFA, sagt, dass es notwendig ist, widrig durchgeführt worden sind. Wir wollen eine Neu- dass der Gesetzgeber Standardisierungen im Bereich der ausrichtung an den Finanzmärkten. Die Menschen und nichtfinanziellen Indikatoren der Unternehmensleistung die Märkte sind weiter als der Gesetzgeber. Deswegen vornimmt. Auch das sollten wir aufgreifen. müssen wir nachlegen. Dies fordern wir in unserem An- trag. Meine Bitte ist: Greifen Sie dieses Anliegen, diese fehlende Dimension in unserer bisherigen Finanzmarkt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diskussion, auf. Lassen Sie uns die gesetzlichen Voraus- Nach einer Studie der DZ Bank vom Herbst 2009 sa- setzungen dafür schaffen, dass Menschen in dieser Hin- gen 55 Prozent der Menschen, dass sie bei ihrer Anlage- sicht Verantwortung übernehmen können, zumindest entscheidung ökologische Aspekte berücksichtigen wol- diejenigen, die das schon heute wollen. Da sind wir als len, das sei ein wichtiges Kriterium. 74 Prozent der Gesetzgeber in der Pflicht. Menschen sagen, es gebe zu wenige Informationen, vie- Danke schön. les sei intransparent. Es ist ja auch wenig erklärlich, wa- rum in Großbritannien bei über 20 Prozent der Anlage- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gelder solche Kriterien mitberücksichtigt werden und darüber informiert wird, in Deutschland aber nur bei ei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nem Prozent der Anlagegelder. Ich glaube nicht, dass die Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Deutschen weniger ethisch denken als die Briten, son- Klaus-Peter Flosbach. dern ich glaube, dass es hier einen Mangel in der deut- schen Gesetzgebung gibt, den wir korrigieren müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Nehmen Sie ein weiteres Beispiel, das Carbon Disclo- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sure Project. An diesem Projekt sind 475 institutionelle Kollegen! Die Nachfrage nach Geldanlagen, die ethi- Investoren beteiligt. Sie fragen bei den Unternehmen ab, sche, soziale und ökologische Dimensionen berücksich- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3205

Klaus-Peter Flosbach (A) tigen, nimmt zu. Das begrüßen und unterstützen wir aus- waren Sie 2003 bei der Deregulierung der Finanzmärkte (C) drücklich. dabei. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ach!) der FDP) Jetzt suchen Sie den Platz an der Sonne und sind für al- Herr Schick, ich frage Sie: Warum werben Sie nicht stär- les Nachhaltige, aber nicht, weil Sie für Windkraftanla- ker für nachhaltige Anlagen und legen uns stattdessen gen sind, sondern weil Sie Ihr Fähnchen nach dem Wind diesen unausgereiften Antrag vor? richten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) der FDP) Ihr Antrag schießt weit über das Ziel hinaus. Er ist ein Wir begrüßen es, dass sich das Angebot an nachhalti- Sammelsurium von Vorschriften und Berichtspflichten, gen Anlageformen erweitert. In Deutschland gab es das nicht das Bewusstsein für nachhaltige Anlagen 2008 76 Publikumsfonds, deren Anlagepolitik dem Prin- schärft, sondern eine Bürokratie ungeahnten Ausmaßes zip der Nachhaltigkeit verpflichtet ist. Allerdings sank verursacht. das Volumen von 6,6 Milliarden Euro in 2007 mit dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ausbruch der Finanzkrise und dem Einbruch der Wert- der FDP – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ein papierbörsen auf 3,9 Milliarden Euro. Viele Anlagen „typischer Schick“!) sind also nicht unabhängig von den sonstigen Marktent- wicklungen. Lassen Sie mich verschiedene Punkte ansprechen. Zweitens. Es ist sehr problematisch, wenn Sie bei Ka- Erstens. Sie fordern, dass bei allen Altersvorsorgepro- pitallebensversicherungen oder Rentenversicherungen dukten und Investmentfonds – ich bitte, zuzuhören – Ihren Blick einseitig auf die Verwendung der Versiche- jährlich von allen Aktien, Unternehmensanteilen, Unter- rungsbeiträge unter ökologischen, sozialen und ethi- nehmensfinanzierungen und Unternehmensanleihen die schen Gesichtspunkten richten. Die aufsichtsrechtlichen direkten Treibhausemissionen im Verhältnis zum Port- Ziele lauten: Sicherheit, Rendite, Liquidität und Streu- foliowert ausgewiesen werden müssen. ung. Selbstverständlich kann die Nachhaltigkeit ein wei- (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) teres Kriterium sein, aber es darf nicht im Widerspruch zu den anderen Zielen stehen. In diesem Zusammenhang Wer macht das? Mit welchem Aufwand? Mit welchen sollten wir uns die Riester-Rente noch einmal genauer Kosten? Mit welchem Effekt? Wo ist die Bemessungs- anschauen. Es gibt bereits Berichtspflichten, aber sie (B) grundlage? Wie kann man dieses wichtige Thema der sind in der jetzigen Form wirkungslos, wie Sie selbst in (D) nachhaltigen Geldanlage so ins Abseits führen? der Begründung Ihres Antrages schreiben. Sie könnten (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die Grü- Ihre Auffassung zu diesem Thema noch einmal überden- nen machen sich lächerlich!) ken; denn wer fördert, kann auch Auflagen machen. Meine Damen und Herren, die Konsequenz wäre eine Drittens. Sie wollen die Vertriebsvorschriften für alle Bürokratie ungeahnten Ausmaßes. Bei der letzten großen Finanzdienstleistungsprodukte so ändern, dass nicht nur Debatte zum Investmentänderungsgesetz am 13. Juni schriftlich auf die ethische Dimension der Kapitalanlage 2007 sagte Herr Kollege Dr. Schick im Deutschen Bun- hingewiesen wird; vielmehr soll in jedem Beratungsge- destag – ich zitiere –: spräch auch die sozial-ökologische Interessenlage des Kunden abgefragt werden. Meine Güte! Offensichtlich Wenn also durch den Gesetzentwurf bürokratische halten Sie die Bürgerinnen und Bürger für unmündig. Ihr Hemmnisse abgebaut werden und die Investment- Antrag entfacht in der Tat eine wahre Regulierungswut branche dadurch entlastet sowie im Wettbewerb ge- und bevormundet den Bürger in seiner freien Entschei- stärkt wird, dann ist dies auch ein Anliegen der dung, wie er sein Geld anlegen will. Das machen wir Grünen. nicht mit. Warum halten Sie sich nicht daran? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Versuchen Sie nicht, mit der Keule nachhaltige Geld- Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- anlagen unters Volk zu bringen. Die Nachfrage und das NEN]: Das ist halt kein Selbstzweck, Herr Bewusstsein für solche Geldanlagen steigen, und das Flosbach!) sollten wir unterstützen. Herr Kollege Schick, Die Wirtschaftswoche schrieb (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE am 24. Juli 2009 zu Ihrem achtseitigen Wahlkampf- GRÜNEN]: Das ist es doch genau! Wie wollen papier, das nahezu identisch mit dem vorliegenden An- Sie es denn machen?) trag ist: Herr Dr. Schick, entscheidend ist doch, dass ausreichend (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Produkte zum Verkauf und zum Kauf zur Verfügung ste- NEN]: Das war kein Wahlkampfpapier!) hen. Ihr Hinweis auf Großbritannien ist nicht in Ord- „Die Grünen entdecken die Finanzkrise“ und setzen „die nung, Herr Dr. Schick. Bei den 20 Prozent handelt es sich ordnungspolitischen Daumenschrauben an“. – In der Tat ausschließlich um institutionelle Anleger bei Pensions- 3206 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Klaus-Peter Flosbach (A) fonds. Das sind nicht private Anleger. Da sollten Sie Wenn es um Nachhaltigkeit auf den Finanzmärkten (C) noch einmal genau nachsehen. geht, dann geht es nicht nur um die ökologische, ethische und soziale Ausrichtung von Produkten, sondern es geht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – insbesondere auch um die Frage, welchen Schutz wir Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verbraucherinnen und Verbrauchern auf dem Finanz- NEN]: Aber es geht in unserem Antrag auch markt bieten. Auch das ist ein Aspekt von Nachhaltig- um die institutionellen!) keit und Teil einer nachhaltigen Strategie und muss be- In 2007 haben wir das Investmentgesetz geändert und rücksichtigt werden, wenn wir über Auswirkungen auf unter dem Begriff „sonstige Sondervermögen“ die Mög- den Finanzmarkt reden wollen. lichkeit eröffnet, in Deutschland Mikrofinanzfonds auf- (Beifall bei der SPD) zulegen; Im Juli des letzten Jahres wurde im Deutschen Bun- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) destag ein umfangreicher Katalog mit Maßnahmen vor- darüber wurde auch in der vorangegangenen Debatte gelegt. Die CDU/CSU, die damals gemeinsam mit der diskutiert. Wir können also auch in Deutschland Mikro- SPD Antragsteller war, will heute kaum bis gar nicht finanzfonds auflegen, Fonds für Kleinkredite zur Be- mehr wissen, welchen Antrag sie damals beschlossen kämpfung weltweiter Armut. Ein Hinweis: Herr hat. Deshalb will ich darauf hinweisen, dass diese Bun- Dr. Schick und die Grünen haben das abgelehnt, als wir desregierung die Umsetzung einiger bereits beschlosse- das vor drei Jahren hier vorgeschlagen haben. ner Maßnahmen noch schuldig ist. Das ist selbstver- ständlich nachzuholen; denn es geht explizit um die (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist die Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn wir über die ethische Norm! – Zuruf von der FDP: Unfass- Frage reden, welche Form an Beratung und welche An- bar!) gebotspalette ihnen in Zukunft zur Verfügung stehen Leider wurden die Bedingungen im Gesetz durch un- werden. seren damaligen Koalitionspartner, die SPD, so einge- Welche Vorlagen erwarten wir also? Welche Lehren schränkt, dass in Deutschland nicht ein einziger Fonds sollen bezüglich des Schutzes von Verbraucherinnen und aufgelegt wurde und das Geld nach wie vor ganz offi- Verbrauchern aus der Krise gezogen werden? Alles ziell nach Luxemburg und in die Schweiz fließt, Frau wurde beschlossen von der Großen Koalition – die FDP Dr. Hendricks. hat sich damals enthalten –: (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Erstens. Die Bundesregierung wollte und will sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass Regelungen im (B) Diese Anlagen waren übrigens, sofern sie im Ausland (D) Finanzmarktbereich getroffen werden, die eine deutlich waren, nicht von der Finanzkrise betroffen. stärkere Regulierung zur Folge haben. Wo stehen wir Ich fordere Sie auf – die Grünen, aber auch die SPD –: heute? Nichts ist passiert. Unterstützen Sie uns, wenn wir im Sommer vor dem (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Doch! Haben Hintergrund der Erfahrungen im Bereich Entwicklungs- Sie das mit den Ratingagenturen zur Kenntnis hilfe und der Erfahrungen der kirchlichen Banken und genommen?) Investmentgesellschaften – um die geht es vor allem – einen neuen Vorschlag zum Thema Mikrofinanzfonds Zweitens. Nationale Maßnahmen sind zu ergreifen, vorlegen. um alle Finanzprodukte einer Regelung und einer Kon- trolle zu unterziehen, was selbstverständlich auch für die Die Bereitschaft der Anleger, hier Geld zu investie- Finanzberaterinnen und -berater gilt. Was ist geschehen? ren, ist da. Versuchen Sie es ganz einfach einmal mit so- Nichts. zialer Marktwirtschaft. Das ist und bleibt unser Erfolgs- rezept. Ihr Antrag ist vielleicht gut gemeint, aber sehr (Beifall bei der SPD) schlecht gemacht. Das Eckpunktepapier von Herrn Schäuble ist in diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Punkt völlig unzureichend. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Na, haben Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: es gelesen, Frau Kollegin?) Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Kerstin Tack Drittens: Mindeststandards für alle Finanzvermittler das Wort. und Finanzvermittlerinnen sowie Finanzberater und Fi- (Beifall bei der SPD) nanzberaterinnen. Es geht dabei um Berufsqualifikation, um Weiterbildung, um Registrierung und um die Frage Kerstin Tack (SPD): einer Berufshaftpflicht. Was ist bis heute passiert? Nichts. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Finanzmärkte nachhaltig auszurichten, ist unser Viertens. Es geht um die Unabhängigkeit von Bera- aller Anliegen; das ist ganz selbstverständlich. Die heu- tung für Verbraucherinnen und Verbraucher, und zwar tige Debatte bietet aber auch die Chance, noch einmal auch zu alternativen Produkten und deren Wirkungsgrad. insgesamt über nachhaltige Maßnahmen infolge der Fi- Damals ist beschlossen worden, dass man den Verbrau- nanzkrise zu reden. cherzentrale Bundesverband personell und finanziell Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3207

Kerstin Tack (A) ausbaut und verstärkt und dass man die Verbraucherzen- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Machen wir (C) tralen der Länder beim Ausbau unterstützt. Eine Finan- auch!) zierung über vier Jahre wollte man ihnen zubilligen. Was ist passiert? Nichts. Kein einziger Cent ist geflossen. Sorgen Sie dafür, dass die Verbraucherverbände eine Be- Verbraucherschutzministerin Aigner hatte vor Weih- schwerdemöglichkeit erhalten und Musterklagen durch- nachten großspurig angekündigt, man wolle im Verbrau- führen können. cherschutz Kartellstrafen einführen. Sie ist erbärmlich (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und gescheitert. Nichts ist passiert. Die Verbraucherzentralen was machen Sie?) gucken weiter in die Röhre. Das wäre eine Maßnahme gewesen, um auch Finanzprodukte nachhaltig in die Be- Sorgen Sie dafür, dass die Verbraucherinnen und Ver- ratung aufzunehmen. braucher Zugang zu einer unabhängigen Beratung ha- ben, zu Menschen, die beraten und nicht verkaufen wol- (Beifall bei der SPD) len. Sorgen Sie dafür, dass die beschlossenen Fünftens. Eine Aufklärungskampagne für die Ver- Produktinformationsblätter einheitlich und insbesondere braucherinnen und Verbraucher sollte es geben. Was ist verständlich sind. geschehen? Nichts. (Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/ (Zuruf von der FDP: Ja, ehrenamtlich muss CSU]: Auf das Produkt bezogen!) man das machen!) Sorgen Sie dafür, dass auch in Europa einheitliche Fi- – Ehrenamtlich muss man das machen? Also wirklich! nanzregeln gelten. Sorgen Sie dafür, dass Leerverkäufe verboten werden. Für diese nachhaltigen Maßnahmen (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) haben Sie alle Zeit der Welt gehabt. Legen Sie endlich los! Sechstens. Zusammen mit den Ländern, mit Verbän- den und Organisationen sollte ein Forum initiiert werden, Herzlichen Dank. um gemeinsam Konzepte und Maßnahmen zur Verbesse- rung der ökonomischen Bildung und der Finanzkompe- (Beifall bei der SPD) tenz zu erarbeiten. Diverse Regierungskommissionen sind eingerichtet worden, damit die Koalition darüber re- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den kann, was sie überhaupt will. Aber dieses Forum Frau Tack, das war Ihre erste Rede hier im Haus. konnte bisher nicht eingerichtet werden. Das Thema war Dazu gratulieren wir Ihnen und wünschen alles Gute. anscheinend nicht wichtig genug. Nichts ist passiert. (B) (Beifall) (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Frank Schäffler [FDP]: Das ist Für die FDP hat der Kollege Frank Schäffler das aber ein bisschen hart!) Wort. Zusammenfassend lässt sich die Tätigkeit der Bun- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten desregierung bei der Nachhaltigkeit und der Regulierung der CDU/CSU) der Finanzmärkte folgendermaßen beschreiben: nichts, nichts und noch mal nichts. Frank Schäffler (FDP): (Zuruf von der SPD: Gar nichts!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Schick, Sie haben hier einen Stattdessen soll es eine Bankenabgabe geben, wodurch Schönwetterantrag vorgelegt. Er passt zum heutigen letztendlich die Verbraucherinnen und Verbraucher in Wetter, aber er löst nicht die Probleme, die wir auf den die Pflicht genommen werden. Das kann es nicht sein. Finanzmärkten und bei der Vermittlung von Finanzpro- dukten in Deutschland haben. Vielmehr bedient er grüne Deswegen sagen wir: Ziehen Sie die richtigen Konse- Klientel. Das mag auch der aktuellen Situation geschul- quenzen. Sorgen Sie dafür, dass eine Aufsicht für alle Fi- det sein; aber ich glaube, wirkliche Probleme löst Ihr nanzprodukte gewährleistet wird. Sorgen Sie dafür, dass Antrag nicht. Vermittlerinnen und Vermittler erstens eine vernünftige Berufsqualifikation haben Was ist in Deutschland wie in allen modernen Volks- wirtschaften das Problem bei der Altersvorsorge und der (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Geldanlage? und zweitens eine Berufshaftpflicht. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Dass es kein (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ solidarisches System ist!) CSU]) Das Problem ist, dass es immer mehr ältere Menschen Sorgen Sie dafür, dass Kostentransparenz für alle Berei- gibt – glücklicherweise werden wir immer älter – und che besteht dass es immer weniger junge Menschen gibt. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Machen wir!) (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch jetzt nicht das und den Verbrauchern deutlich signalisiert werden kann. Thema!) 3208 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Frank Schäffler (A) Das heißt, der Altersquotient, also das Verhältnis der Entscheidend ist, dass wir auf die Altersvorsorge set- (C) über 65-Jährigen zu Personen im erwerbsfähigen Alter, zen und Anreize schaffen, damit die Menschen für ihre wird in den nächsten 25 Jahren von 35 Prozent auf Altersvorsorge sparen. Dafür brauchen wir eine nachhal- 65 Prozent ansteigen. tige wirtschaftliche Dynamik. Sie ist die Grundvoraus- setzung dafür, dass die Menschen in die Lage versetzt (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE werden, für ihre Altersvorsorge zu sparen. GRÜNEN]: Das ist ein anderes Thema! Fal- sche Rede!) Die Steuerreform ist für die christlich-liberale Koali- tion die Mutter ihrer Reformen. Wir haben uns die Ziele Deshalb müssen wir uns Gedanken über die Frage ma- Steuersenkung und Steuervereinfachung auf die Fahnen chen: Wie kann man die junge Generation in die Lage geschrieben. versetzen, sich eine eigene Altersvorsorge aufzubauen? (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Es wäre gut, wenn Sie sich einmal angeschaut hätten, GRÜNEN]: Das hat nichts mit dem Thema zu was Sie selbst in der Vergangenheit, nämlich in der rot- tun! Das ist alles nicht zum Thema!) grünen Koalition, auf diesem Gebiet getan haben. Da- mals war – das muss man sagen – nicht alles schlecht. Es ist zu einfach, wenn Sie auf der letzten Seite Ihres Das, was Sie mit der Riester-Rente geschaffen haben, Antrags schreiben – das passt allerdings zu diesem An- war sicherlich ein Paradigmenwechsel in Deutschland. trag –: Es wäre gut, wenn Sie auf diese Grundlage zurückkeh- Grüne Rhetorik allein wird den Klimawandel nicht ren würden. Diesen Bereich müssen wir weiter aus- aufhalten können. bauen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜND- der CDU/CSU) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! Wir brau- chen Regulierung und Taten!) Das wollen wir tun. Beispielsweise wollen wir Riester- Verträge auch für Selbstständige öffnen. Sie sollten sich, statt solche Anträge in den Bundestag einzubringen, um die wirklichen Probleme in diesem (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Land kümmern. GRÜNEN]: Auch das ist ein anderes Thema!) (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Denn auch die Altersarmut von Selbstständigen ist ein GRÜNEN]: Sie können unserem Antrag ja zu- Thema, mit dem wir uns beschäftigen müssen. stimmen!) (B) (D) Außerdem wollen wir zum Bürokratieabbau beitra- Die Menschen müssen wieder mehr Geld in der Tasche gen; auch dies ist ein zentrales Thema. Die Durchfüh- haben, um für ihre Altersvorsorge sparen zu können. Der rungswege im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge Staat darf ihnen nicht immer mehr Geld aus der Tasche sind sehr undurchsichtig. Sie müssen entschlackt und ziehen. vereinfacht werden, damit sie für Arbeitnehmer und Ar- beitgeber verständlicher werden. Vielen Dank. Auch die Regelungen der sogenannten Rürup-Rente (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) müssen flexibilisiert werden. Unter anderem muss das wichtige Thema Berufsunfähigkeit im Rahmen von Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Rürup- und Riester-Rente stärker berücksichtigt werden. Barbara Höll hat für die Fraktion Die Linke das Wort. Ich glaube, dass der Antrag, den Sie vorgelegt haben, (Beifall bei der LINKEN) zwar gut gemeint ist, dass er unter dem Strich aber nicht hilft. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Die Praxis, die Sie beschreiben, macht deutlich, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und welch „nachhaltige“ Wirkung Ihre Konzepte haben. Sie Kollegen! Was sagt Ihr Antrag aus? Sie wollen durch weisen in Ihrem Antrag darauf hin, dass bei Riester-Ren- mehr Berichte und klare Kriterien Klarheit in die Finanz- ten eine Prüfung sozialer, ethischer und ökologischer märkte bringen. Sie wollen nicht mehr und nicht weni- Gesichtspunkte erfolgt. Gleichzeitig stellen Sie fest, dass ger, als sie neu auszurichten. Herr Schick, Ihr Anliegen nur 1 Prozent der Riester-Verträge tatsächlich nach so- in allen Ehren. Aber glauben Sie allen Ernstes, dass zialen, ethischen oder ökologischen Gesichtspunkten ab- durch veränderte Kriterien in alten Strukturen ein erneu- geschlossen wird. Man muss sich fragen: Wenn das am tes Marktversagen verhindert werden kann? Ich sage Ih- Markt nicht nachgefragt wird, wieso sollte man es er- nen ganz klar: Sie setzen an der falschen Stelle an. Sie zwingen? Wer soll am Ende die Kriterien festlegen: ein behalten Ihre Marktgläubigkeit bei und handeln nach paritätisch besetzter Beirat aus Arbeitnehmervertretern, dem Motto: Der Markt wird es schon richten. also Gewerkschaften, und Arbeitgebervertretern? Ein Beamter im Ministerium oder bei der BaFin? Wer soll Der Markt macht, was er will. Das Profitstreben steht das letztlich machen? über allem anderen. Dass Sie in Ihrem Antrag Schwe- den, Frankreich und Großbritannien als Beispiel für Län- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Herr Schick der nennen, in denen entsprechende Maßnahmen bereits macht das!) funktionieren, spricht eine beredte Sprache. Denn diese Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3209

Dr. Barbara Höll (A) Länder sind genauso von der Finanzkrise betroffen wie Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) wir. NEN): Frau Höll, damit wir nicht in die Gefahr kommen, an- Wir müssen endlich die Spielregeln auf den Finanz- einander vorbeizureden, wäre es vielleicht gut – daher märkten ändern. Die Finanzmärkte tatsächlich neu aus- meine Nachfrage –, wenn Sie Folgendes zur Kenntnis zurichten, bedeutet nach Meinung der Linken unter an- nähmen: Wir Grünen sind für eine Finanzumsatzsteuer, derem die natürlich auch eine Volumenreduktion beinhaltet. (Zuruf von der FDP: Abschaffen!) (Frank Schäffler [FDP]: Wir nicht!) eine Stärkung ihrer Funktion, Wir haben in den letzten Debatten zahlreiche Beiträge (Beifall bei der LINKEN) geliefert. Wir haben auch Anträge vorgelegt, in denen wir uns für eine Regulierung aussprechen, damit die Fi- die Absicherung der unternehmerischen Tätigkeit, die nanzmärkte stabiler werden. Absicherung von Krediten und ihren Risiken, Anlage- funktionen für Sparerinnen und Sparer sowie die Absi- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Alles cherung des Zahlungsverkehrs. Das sind die entschei- kumulativ!) denden und eigentlichen Funktionen der Finanzmärkte. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es hier Die Märkte sind nur Mittel zum Zweck. um eine andere Dimension geht, die wir in dieser De- (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg batte zusätzlich brauchen? Der vorliegende Antrag sagt [CDU/CSU]: Und das in einem Fünfjahres- also nicht aus, dass wir die gesamte Regulierungsdiskus- plan!) sion ersetzen wollen. Wir wollen vielmehr eine zusätzli- che Dimension schaffen. Wenn man in seinem Men- Wenn die Mittel nicht dem öffentlichen Interesse, schenbild den Menschen als ethisches und soziales sondern den Interessen Einzelner dienen, und zwar auf Wesen wahrnimmt, muss man an den Finanzmärkten die Kosten der Mehrheit, muss die Politik eingreifen und re- entsprechenden Voraussetzungen für Wahlmöglichkeiten gulieren. Das könnten Sie endlich einmal tun. schaffen. Denn viele Menschen interessieren sich nicht (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg nur für die Rendite; das geht aus Umfragen hervor. Sie [CDU/CSU]: Und dann eine Mauer drum- wollen auch anderes berücksichtigen. Sie bekommen herum bauen!) aber die dafür notwendigen Informationen nicht. Darum geht es in dem Antrag. Er soll nicht anstelle einer Wir fordern deshalb ein Verbot von Spekulationen. Finanzumsatzsteuer oder anderer regulatorischer Maß- (B) nahmen treten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das (D) (Beifall bei der LINKEN) klarstellen könnten. Wir fordern zum Beispiel ein Verbot der Leerverkäufe. Wir fordern die Einführung einer Finanztransak- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): tionsteuer. Diese Maßnahmen würden nämlich dafür sor- Herr Schick, ich danke Ihnen für die Frage. Ich hoffe, gen, die Märkte zu entschleunigen und tatsächlich regu- dass wir im Bundestag gemeinsam – sogar gemeinsam lierend einzugreifen. mit der SPD – Vorschläge für die Regulierung der Fi- (Beifall bei der LINKEN) nanzmärkte erarbeiten werden. Meine Damen und Herren von den Grünen, ich ver- (Frank Schäffler [FDP]: Gott bewahre!) misse bei Ihrem Anliegen leider einen wichtigen Punkt: Ich finde es schade, dass sich die Koalitionsfraktionen Es muss doch darum gehen, die Finanzmärkte in ihrem weigern, zeitnah darüber zu diskutieren, wie wir künftig Volumen zu verringern. Denn die Masse frei schweben- mit der Frage der Besteuerung des Kapitalverkehrs um- den Kapitals auf den Finanzmärkten führt automatisch gehen. zu Spekulationsblasen. Es gab bereits eine Dotcom- Blase. Damals suchten zahlreiche Anleger nach Rendite- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir wollen möglichkeiten. Wir erinnern uns noch daran, dass An- die Kleinsparer nicht belasten!) fang dieses Jahrtausends die Technologieblase geplatzt Das ist diese Woche nämlich passiert: Sie von der CDU/ ist. CSU haben eine zeitnahe Anhörung zur Transak- tionsteuer abgelehnt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Da sind wir uns einig. So, wie Ihr Antrag formuliert Frau Höll, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kolle- ist, erwecken Sie aber den Anschein – das steht auf gen Schick zu? Seite 1 Ihres Antrages –, die Finanzmärkte könnten der zentrale Hebel für eine Neuausrichtung werden. Das ist Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Marktgläubigkeit, die Bände spricht. Die Kriterien, die Ja. Sie formuliert haben, sind gut, und wir werden uns si- cherlich an etlichen Stellen einigen können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Grundproblem – dass die Finanzmärkte diesen Bitte schön. enormen Umfang haben – haben Sie jedoch nicht er- 3210 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Barbara Höll (A) kannt. Das liegt natürlich auch ein bisschen an den poli- Ich hoffe, dass sich das im Plenum auf andere Fraktio- (C) tischen Entscheidungen, die Sie in der rot-grünen Regie- nen ausweitet. rung getroffen haben. Danke. Die Grünen haben gemeinsam mit der SPD eine abso- (Beifall bei der LINKEN) lute Ausweitung der privaten Altersvorsorge verabschie- det. Das steht in einem scharfen Gegensatz dazu, dass das Umlageverfahren gestärkt werden müsste. Wenn das Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Geld, das heute eingezahlt wird, gleich morgen ausgege- Der Kollege Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für ben wird – die Rücklage ist ja sehr gering –, dann muss die Unionsfraktion. gar nicht erst nach Anlagemöglichkeiten gesucht wer- den. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Die ganzen Alterssicherungsfonds weltweit sind ein wesentlicher Motor des Aufblähens der Finanzmärkte Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): gewesen, weil natürlich all diese Fonds mit möglichst Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hohen Renditen geworben haben. Deshalb ist es eine möchte zur Abwechslung zum Thema, nämlich zu dem entscheidende Frage, wie man es erreicht, dass das Kapi- Antrag, reden. talvolumen insgesamt wieder geringer wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das bedeutet für die Linke – wir haben die Auswei- der SPD) tung der privaten Altersvorsorge von Anfang an abge- lehnt –: Wir müssen das solidarische Rentensystem stär- Ich halte diesen Antrag für wichtig, Herr Dr. Schick. ken, indem wir zurückkommen zu einer tatsächlich Der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, der Er- paritätischen Finanzierung, zu einem System, in das alle halt unserer Umwelt ist ohne Zweifel die große Heraus- einzahlen und bei dem die Beitragsbemessungsgrenze forderung unserer politischen Generation. Umso bedau- aufgehoben wird. erlicher ist es, dass diese Frage anscheinend in den (Frank Schäffler [FDP]: Haben wir schon: Hintergrund gerückt ist. Wir reden sehr viel über die Be- 80 Milliarden Euro Steuerzuschuss!) wältigung der Finanzkrise und über Arbeitsplätze, aber zu wenig über die Umwelt und über ethische Fragen. In- Dann hätten die wirklich Vermögenden in diesem Lande sofern ist es richtig, wenn wir gerade jetzt prüfen, wie wesentlich weniger Geld, für das sie nach ökologisch, wir an die großen ökologischen Herausforderungen he- ethisch und sozial sauberen Anlagemöglichkeiten su- (B) rangehen. Genau in diesem Kontext sehe ich Ihren An- (D) chen könnten. trag und nehme ihn durchaus ernst. Wenn Sie für niedrige Steuersätze kämpfen – der Trotzdem hatte ich beim Lesen dieses Antrags ein Spitzensteuersatz soll, wenn es nach Ihnen geht, ganz Störgefühl. Ich musste lange überlegen, warum ich die- weit unten liegen –, führt das dazu, dass Spitzenverdie- ses Störgefühl hatte. Eine erste schnelle Antwort war: ner nach Anlagemöglichkeiten suchen. Jemand, der über Die Grundidee ist gut; aber muss es dieses riesige büro- ein sehr hohes Einkommen verfügt, kann dann für ein kratische Paket von zwölf Maßnahmen, Regulierungen ruhiges Gewissen leicht auf 1 oder 2 Prozent Rendite und Bestimmungen sein? Das hat mich an unser Steuer- verzichten. Wir fordern – Sie wissen das – einen wesent- system erinnert: Genau durch eine solche Regelungswut lich höheren Spitzensteuersatz. 53 Prozent halten wir für haben wir unser Steuersystem nachhaltig verwüstet und angemessen. dadurch bei den Bürgerinnen und Bürgern diskreditiert. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Früher Das hat mein Unbehagen aber noch nicht ganz erklärt. waren es 90 Prozent!) Ich habe mich dann gefragt: Wer soll eigentlich festle- Wir halten es auch für angemessen, dass bei der Renten- gen, was ökologisch, ethisch oder sozial richtig und was versicherung die Beitragsbemessungsgrenze aufgehoben falsch ist? Ich denke, bei der Produktion von Landminen wird. sind wir uns schnell einig. Bei der Kernkraft – Sie sehen das an den Diskussionen in der einen oder anderen (Beifall bei der LINKEN) Partei – wird das schon schwieriger. Bei Mindestlöhnen wird es recht kontrovers. Ich will damit sagen, dass die Dann hätten die Millionäre wesentlich weniger Geld, für Bewertungen, die Sie fordern, immer subjektiv sind, von das sie nach sauberen Anlagemöglichkeiten suchen den Kriterien des jeweiligen Bewertenden abhängen. Ich könnten. halte es für sehr gefährlich, ein Unternehmen, das sich Wenn ich den Antrag der Grünen im Gesamtzusam- im Rahmen der geltenden Gesetze bewegt, nach den menhang betrachte, muss ich angesichts des Anspruchs, subjektiven moralischen Vorstellungen derjenigen, die der ausgedrückt wird, leider sagen: Das ist ein Tarnmän- aktuell über die politische Deutungshoheit verfügen, in telchen. Der Antrag ist nett und unschädlich; aber er gut und schlecht einzuteilen. wird das Grundproblem nicht ändern. Bei den einzelnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Punkten werden wir mit Ihnen gemeinsam schauen, auf welche Kriterien wir uns einigen können. Das Grundpro- Aber das war es ehrlich gesagt auch noch nicht, was blem wird nicht geändert; da müssen wir noch streiten. mich an Ihrem Antrag letztlich besonders irritiert hat. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3211

Ralph Brinkhaus (A) Ich glaube, das war vielmehr der Geist, den ich hinter Ih- ser Dinge würden nicht passieren, wenn sich nicht je- (C) ren Formulierungen vermute, mand finden würde, der das finanziert. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Geist?) Insofern bin ich Ihnen grundsätzlich sehr dankbar, dass Sie das Thema der ökologischen und ethischen ein Geist, der geprägt ist von mangelndem Zutrauen in Ausrichtung der Finanzmärkte auf die Agenda gesetzt die Urteilsfähigkeit der Menschen in diesem Land, ein haben. Wir haben vielleicht unterschiedliche Ansätze, Geist – und dies ist jetzt bei allem Respekt vor Ihrem aber wir sollten gerade in dieser Zeit gemeinsam weiter Antrag meine subjektive Deutung – der Bevormundung. an diesem Projekt arbeiten. Ich möchte das auch erläutern. Wir haben in Deutsch- Danke schön. land eine Bevölkerung, die für ökologische und ethische Fragen hochsensibel ist – niemand trennt so viel Müll (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wie wir Deutschen, und es gab, das haben wir gerade in neten der FDP) der Diskussion vorher gehört, eine unglaubliche Spen- denbereitschaft für Haiti –, eine Bevölkerung, der ich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: also sehr wohl zutraue, die Entscheidung zu treffen, Für die SPD hat der Kollege Dr. Carsten Sieling das mehr in nachhaltige Finanzprodukte zu investieren. Die Wort. Wachstumszahlen bei derartigen Produkten zeigen dies auch. (Beifall bei der SPD) Wir sollten diese Menschen für die ethische und vor Dr. Carsten Sieling (SPD): allem ökologische Weiterentwicklung unserer Gesell- schaft gewinnen und vielleicht sogar begeistern. Begeis- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tern, Herr Schick, funktioniert aber weder durch ein Pa- In dem letzten Beitrag ist in der Tat ein bisschen stärker ket aus zwölf neuen Vorschriften noch durch jährliche auf den Geist und die Grundidee, die hinter diesem An- schriftliche Berichte und auch nicht durch Stimmrechts- trag stehen, eingegangen worden. Dass wir im Rahmen übertragungen bei Hauptversammlungen. unserer vielen Diskussionen über die notwendige Regu- lierung der Finanzmärkte, über viele Bestimmungen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- über quantitative Steuerungen reden müssen, ist die eine neten der FDP) Sache. Ich glaube, das ist auch das Vorrangige. Das ist es, was mich an der Vorlage wirklich stört: Es Ich finde es aber ganz angenehm – das muss ich wirk- ist neben der Kleinteiligkeit der ein bisschen über allem lich sagen –, hier auch einmal eine Debatte zu führen, schwebende erhobene Zeigefinger. Wir sollten uns wirk- (B) die sich auch darum rankt, wie die qualitativen Orientie- (D) lich überlegen, ob das der richtige Weg ist, um für die rungen und Prozesse eigentlich gesteuert werden können Menschen in Deutschland, die an den von Ihnen aufge- und wohin wir mit unserer Gesellschaft gehen wollen. worfenen Fragen, glaube ich, wirklich interessiert sind, Das ist doch ein klarer Punkt. eine innovative, motivierende Politik zu machen, eine Politik, die dazu führt, dass die Verbraucher aus eigener Ich teile natürlich die Auffassung, dass wir einen Entscheidung und aus eigener Überzeugung mehr ökolo- überschäumenden Reichtum auch durch Besteuerung gische und ethische Produkte nachfragen. und andere Dinge sicherlich in stärkerer Weise als bisher gemeinwohlorientierten Finanzierungen zuführen müs- Wir haben hier im Übrigen nicht nur im Finanz- sen. Wir müssen aber auch immer im Kopf haben – das bereich einen erheblichen Nachholbedarf. In unserer so- habe ich in dem Redebeitrag von Frau Höll von den Lin- zialen Marktwirtschaft hat es eigentlich immer ganz gut ken nicht verstanden –, dass wir Gott sei Dank ein wohl- geklappt, durch Nachfrage, also durch den Verbraucher- habendes Land sind und dass wir natürlich dafür sorgen willen, auch das entsprechende Angebot zu generieren. müssen, dass in dieser sozialen Marktwirtschaft, die na- Warum soll das also nicht auch bei nachhaltigen Finanz- türlich ökologische und ethische Komponenten braucht produkten funktionieren? und auch hat, auch das Nachfrageverhalten entsprechend gesteuert wird, sodass nachhaltige, vertretbare und gut (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gestaltbare Produkte und Anlageformen nachgefragt der FDP) werden. Begeisterung und den Willen, etwas zu ändern, kön- Das ist das, was der Antrag thematisiert und was so- nen wir aber nur befördern, wenn wir als Politiker die zusagen als Idee dahintersteht. Ich wäre froh, wenn wir Dinge beim Namen nennen und die Menschen für unsere alle sagen würden: In diese Richtung müssen wir weiter- Ideen gewinnen. Genau das ist unsere Aufgabe. Insofern denken. ist Ihr Antrag nicht ganz falsch; denn ausbeuterische Kinderarbeit ist genauso ein Skandal wie die Produktion (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von Streumunition. DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/ Nachhaltigkeit ist eine Aufgabe, der wir uns in Deutsch- CSU]) land stellen müssen. Den Raubbau an unseren Ressourcen und den Klima- An dieser Stelle möchte ich sagen: Die Finanzkrise ist wandel dürfen wir nicht mit einem Achselzucken zur entstanden, weil kurzfristiges Denken und profitorien- Kenntnis nehmen. Herr Schick, es ist richtig: Viele die- tiertes Handeln im Vordergrund standen. Ich kann nie- 3212 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Carsten Sieling (A) manden verstehen, der sagt – Kollege Flosbach und Kol- Dr. Carsten Sieling (SPD): (C) lege Schäffler haben das gemacht –: Es gibt zu viele Ich komme zum Ende. – 100 Milliarden Euro für die Regularien, hier werden zu viele Leitplanken gezogen. HRE, 18 Milliarden Euro allein für die Commerzbank – und Sie kommen mit einer Abgabe, die 1 Milliarde Euro (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Es müs- erbringen soll. sen die richtigen Regularien sein!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das eine war eine Wir brauchen eine langfristige Orientierung, eine Bürgschaft, das andere eine Garantie!) langfristige Ausrichtung, eine langfristige Politik. Das hat viel mit Nachhaltigkeit zu tun. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das hat Herr Kollege, Sie müssen dringend zum Ende kom- nur mit Nachhaltigkeit zu tun!) men.

Diese Kriterien gehen dann auch in den sozialen, ökolo- Dr. Carsten Sieling (SPD): gischen und ethischen Bereich hinein. Dabei gibt es Ver- Das ist Symbolik, das ist wirkungslos. Wir brauchen bindungen, die auch unterstützt werden müssen. erheblich weiter reichende Maßnahmen. Ich finde, der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Antrag spricht diese Punkte an.

Ich weiß ja, warum sich die Regierungskoalition im- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mer so aufregt. Herr Kollege! (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wir regen uns doch nicht auf!) Dr. Carsten Sieling (SPD): Ich teile nicht alle Aspekte des Antrags, halte das aber Denn wenn man den Nachhaltigkeitstest einmal bei den für eine unterstützenswerte und richtige Diskussion. Ich Maßnahmen, die Sie in den Raum stellen, durchführt, bedanke mich bei der Präsidentin für ihre Geduld und dann wird man feststellen, wie wenig davon vorhanden bei Ihnen, meine Damen und Herren, fürs Zuhören. ist. Herzlichen Dank. (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Elf Jahre SPD als Fazit!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir haben in diesem Hause viel darüber diskutiert (B) – auch die Regierung hat lange darüber geredet –, dass Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D) die Verbraucherseite durch Produktinformationen, Ver- Ich schließe die Aussprache. triebsvorschriften und viele andere wichtige Dinge, die Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlage in dem Antrag auch genannt werden, gestärkt werden auf Drucksache 17/795 an die Ausschüsse zu überwei- muss. Aber außer Papier kommt nichts dabei heraus; es sen, die in der Tagesordnung vorgeschlagen sind. – Da- folgt kein Handeln. Dazu kann ich nur sagen: beim mit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so Nachhaltigkeitstest durchgefallen. beschlossen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, CSU]: Das ist doch Quatsch!) SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ebenso sind doch die Maßnahmen zur Regulierung Freie und faire Wahlen im Sudan sicherstellen, – wir haben es jüngst diskutiert – von Ratingagenturen, den Friedensprozess über das Referendum Hedgefonds und anderen Dingen nicht auf Nachhaltig- 2011 hinaus begleiten sowie die humanitäre keit und Langfristigkeit ausgerichtet. und menschenrechtliche Situation verbessern (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dann über- – Drucksache 17/1158 – zeugen Sie doch Gordon Brown, dass er zu- stimmt, Herr Kollege!) Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat- tieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Genau das, Herr Dautzenberg, brauchen wir aber. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Zum Schluss möchte ich gerne sagen: Ihr Paradepferd Johannes Selle für die CDU/CSU-Fraktion. ist ja ganz plötzlich die Bankenabgabe. Auch dabei muss (Beifall bei der CDU/CSU) man vielleicht einmal den Nachhaltigkeitstest machen. Man muss sich einmal fragen, ob die Bankenabgabe ei- gentlich geeignet ist, die gewaltige Belastung der öffent- Johannes Selle (CDU/CSU): lichen Haushalte und der Steuerzahler zu mindern. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diesen interfraktionellen Antrag zum Sudan gibt es, weil dieses Land vor einer historischen Chance steht. Nach über Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zwei Millionen Toten und vier Millionen Vertriebenen Herr Kollege! im Süden des Sudan – der Sudan hat insgesamt Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3213

Johannes Selle (A) 38 Millionen Einwohner – und einem mühevollen Pro- die Konflikte wieder aufflammen lassen und wahr- (C) zess von 2002 bis 2005 in Naivasha überwanden die scheinlich ganz Afrika destabilisieren. Bürgerkriegsparteien Feindseligkeit und Misstrauen und schlossen einen Friedensvertrag: das Comprehensive Es ist großartig, dass dieser Vertrag geschlossen wer- Peace Agreement. den konnte, und es ist großartig, dass er bis heute gehal- ten hat. Mit dem CPA wird aber nur ein Konflikt ange- Dieser Vertrag hat es in sich; denn es geht um verab- sprochen. Ungelöst sind die Krisenherde in Darfur und redete Machtteilung, um Ressourcenteilung, um Grenz- im Ostsudan. Mit unserem Antrag wollen wir einfordern, ziehung in ölreichen Gebieten, um Entmilitarisierung dass eine gesamtsudanesische Strategie notwendig ist. und gesetzliche Grundlagen zur Vorbereitung der Wah- Das CPA könnte dabei das Modell werden, wie es auch len. Dabei waren circa 40 Kommissionen und Überwa- Mohamed Adam, der Generalsekretär der Übergangsbe- chungsgremien zu bilden. hörde in Darfur, vorschlägt. Nach der kurzen Übergangszeit von fünf Jahren fin- Ziel dieses Antrags ist außerdem, die Beachtung der den im April dieses Jahres Wahlen auf allen parlamenta- Menschenrechte im Sudan zu fördern. Insbesondere Or- rischen Ebenen statt. Das sind acht Wahlvorgänge in ei- ganisationen, deren Ziel es ist, eine Verbesserung der Le- nem Jahr. In unserem Superwahljahr 2009 hatten wir bensbedingungen von Minderheiten und die Einhaltung vier Wahlen zu drei Terminen. von Menschenrechten in Darfur, aber auch im Südsudan zu bewirken, erhalten unsere volle Unterstützung. Die Menschen stehen vor einer großen Herausforde- rung, und die Analphabetenquote ist hoch. Es wird zu Es gilt, gemeinsam mit unseren EU-Partnern ein ko- Recht hinterfragt, ob die Vorbereitungen umfassend und härentes Konzept für den Umgang mit dem Sudan zu ausreichend sind. Aber ich kann Ihnen aus eigener An- entwickeln, das die unterschiedlichen Rollen und Inte- schauung versichern, dass die erste Wahl nach 20 Jahren ressen der Nachbarländer Sudans beachtet und die De- Aufbruchstimmung erzeugt. Die Parteien wollen jetzt mokratiedefizite sowie die schwachen staatlichen Struk- die Erfahrung einer freien Wahl machen, auch wenn die turen im Sudan selbst berücksichtigt. regierenden Parteien ungleich mehr finanzielle und pu- Der Sudan ist eigentlich reich. Das größte Land Afri- blizistische Vorteile haben. kas ist neunmal so groß wie die Bundesrepublik. Es gibt Wasser, Sonne, Bodenschätze und Öl. Die Chinesen ha- Unser Antrag richtet sich an die Bundesregierung mit ben das erkannt. Sie sind präsent und nutzen die Res- dem Ansinnen, in dieser entscheidenden Phase zusam- sourcen des Landes. Am 1. März übergaben sie men mit der internationalen Gemeinschaft alles zu tun, 1 Million von insgesamt 10 Millionen Dollar für demo- dass diese Wahlen frei von Gewalt, unter Wahrung der (B) kratische Wahlen. Der chinesische Beauftragte für den (D) Versammlungs- und Pressefreiheit und mit entsprechen- Sudan erklärte, dass China mit zehn Wahlbeobachtern der logistischer Unterstützung stattfinden können und und weiterer technischer Hilfe die Wahlen unterstützen das Ergebnis von den Parteien akzeptiert wird. Denn wird. schon in einem Jahr soll in einem Referendum darüber entschieden werden, ob sich Südsudan abtrennt und aus Deutschland und Europa sollten sich in Sachen De- dem Sudan zwei Staaten entstehen. mokratie nicht von China übertreffen lassen. Das wichtigste Überwachungsgremium ist die As- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sessment and Evaluation Commission. Die Kommission neten der FDP und des Abg. Christoph ist aus Vertretern der beiden Konfliktparteien, der Unter- Strässer [SPD]) zeichnerstaaten und weiteren internationalen Vertretern Deutschland sollte auch die Chancen einer wirtschaftli- zusammengesetzt. Sie soll die Implementierung überwa- chen Zusammenarbeit in den Blick nehmen. Deutsch- chen und nach der Hälfte der Interimsperiode den Pro- land wird zugetraut, den Aufbau fair, partnerschaftlich zess evaluieren. und ökologisch zu unterstützen. Die Kommission hat sich entschieden, entsprechend Hilfsorganisationen tragen seit Jahren dafür Sorge, der Bedeutung der Situation im Januar dieses Jahres eine dass diese für den Sudan historische Situation erfolg- ausführliche Bewertung des CPA-Prozesses durchzufüh- reich bewältigt wird. Ich erinnere an den Appell vom ren. Der Bericht zeigt auf, was alles erreicht wurde – der Juni letzten Jahres. Im Januar 2010 hatten Amnesty In- Frieden hat gehalten –, aber auch, welche Mängel beste- ternational, World Vision, das Bonn International Center hen. for Conversion, die Gesellschaft für bedrohte Völker, Sorgen machen die nicht abgeschlossene Grenzzie- Media in Cooperation and Transition und Oxfam zu ei- hung, die fehlende Friedensdividende für den kleinen ner Podiumsdiskussion zum fünften Jahrestag des CPA Mann, die Vervollständigung der Entmilitarisierung, die eingeladen. Dafür möchte ich danken. Denn der vorlie- Vorbereitung des Referendums und der Maßnahmeplan gende gemeinsame Antrag ist auch ein Ergebnis dieser für die Zeit nach dem Referendum. Veranstaltung. Die Fraktionen haben lange daran gefeilt und Gedanken ausgetauscht. Trotz allem macht der Bericht der Kommission Hoff- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) nung, und er macht deutlich, dass die Zeit knapp und die internationale Gemeinschaft gefordert ist. Auch deshalb Ein gemeinsamer Antrag ist der sudanesischen Situa- haben wir diesen Antrag vorgelegt. Ein Scheitern würde tion angemessen. Wir haben das gemeinsame Ziel eines 3214 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Johannes Selle (A) dauerhaften Friedens im Blick, und das erwarten wir Deshalb ist in dieser fragilen Situation natürlich auch (C) auch von den Konfliktparteien. die Frage zu stellen, ob es gut und richtig ist, Wahlen an- zuberaumen. Das ist aber auch die Wahrheit, die hinter Man kann den Fortschritten misstrauen; man kann die diesem Wahlprozess steht: Wir haben über das CPA, zweifellos vorhandenen Gefahren immer wieder vor- über das Friedensabkommen zwischen Nord und Süd, schieben. Ich plädiere dafür, die Parteien beim Wort zu gesprochen, und wir haben auch festzustellen, dass die nehmen und zu den noch fehlenden Vertragselementen Wahlen und das anschließende Referendum im Jahr zu ermutigen. 2011 tragende Elemente und wichtige Pfeiler dieses (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Friedensabkommens sind. Deshalb müssen wir trotz der FDP) schwierigen Situation in den Krisenherden in Darfur, im Osten des Sudans und insbesondere im Süden klarma- Wir sollten das tatkräftig unterstützen, was wir gewollt chen, dass wir, der Westen, die Staatengemeinschaft, die haben. Heute brauchen Afrika und der Sudan unsere Un- Afrikanische Union und alle anderen, hinter diesem Pro- terstützung. Bei all den globalen Problemen, vor denen zess stehen. Wir müssen die Menschen ermutigen und wir stehen, werden wir ziemlich bald Afrika und den Su- dürfen sie nicht erneut enttäuschen und ihnen die Frie- dan brauchen. densdividende, die sie erwarten, nicht länger vorenthal- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP ten. Das ist, glaube ich, die Kernbotschaft unseres heuti- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen Antrages. Ich bin wirklich der Meinung, dass dieser Antrag eine breite Unterstützung in diesem Hohen Hause verdient hätte. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die SPD spricht der Kollege Christoph Strässer. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Christoph Strässer (SPD): Wir wissen auch, wenn wir über Friedensdividende Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe reden, was im Land wirklich los ist. In den letzten fünf Kolleginnen und Kollegen! Zunächst schließe ich mich Jahren bin ich sechsmal im Südsudan gewesen. Wir ha- dem Dank an, den der Kollege Selle zum Ausdruck ge- ben einfach festzustellen: Der Fortschritt ist dort langsa- bracht hat. Ich glaube, die Initialzündung für diesen An- mer als eine Schnecke. Wir wissen, dass fast jeder trag ist der Arbeit vieler Nichtregierungsorganisationen zweite Mensch im Südsudan keinen Zugang zu Wasser zu verdanken. Dass vier Fraktionen es hingekriegt ha- hat. Es gibt dort keine funktionierende Infrastruktur. ben, sich fraktionsübergreifend zu verständigen, ist auch Hunger, Elend und Gewalt bestimmen nach wie vor den ein gutes Signal. Deshalb beginne ich meine Rede auch (B) Alltag. Deshalb mehren sich ja nun auch die Stimmen, (D) mit einem Zitat aus einer Schrift von zehn Nichtregie- die die Frage stellen, ob es unter diesen Umständen rungsorganisationen aus dem Januar: wirklich sinnvoll ist und einen Fortschritt bedeutet, hier Die nächsten zwölf Monate werden für die Zukunft Wahlen abzuhalten. des Sudans entscheidend sein. Während das Land den fünften Jahrestag der Unterzeichnung des Ich habe es eben schon gesagt: Eine Botschaft von Nord-Süd-Friedensabkommens von 2005 begeht, hier, von den Vereinten Nationen und anderen Institutio- das einen mörderischen Bürgerkrieg beendete, hat nen, diese Wahl jetzt, wenige Wochen, bevor sie stattfin- im Südsudan die Gewalt erheblich zugenommen. den soll, abzubrechen, wäre trotz all der Schwierigkeiten Im Jahr 2009 wurden rund 2 500 Menschen getötet, das absolut falsche Signal. Es gibt dort viele Menschen, und 350 000 mussten fliehen. Bevorstehende histo- gerade junge Leute, die noch nie in ihrem Leben wählen rische Wahlen und ein späteres Referendum werden konnten, die noch nie über ihre eigene Zukunft mitbe- das brüchige Friedensabkommen auf eine harte stimmen konnten. Sagten wir ihnen, weil es schwierig Probe stellen. Es ist zu befürchten, dass die Gewalt ist, helfen wir euch nicht, enttäuschten wir diese jungen eskaliert – es sei denn, die dringend benötigte inter- Leute und verspielten ihre Zukunft. Das kann und darf nationale Unterstützung wird gewährt. an dieser Stelle nicht sein. Wegen des letzten Satzes habe ich dieses Zitat vorge- Wir haben – das ist der einzige Punkt, bei dem ich lesen; denn wir alle wissen, dass die Lage im Sudan auch etwas größere Kritik an den Formulierungen im – nicht nur im Sudan, sondern in der kompletten Region – Antrag habe – mittlerweile gehört, dass der amtierende außerordentlich fragil ist. Es gibt die eine oder andere Präsident des Sudans, Herr Baschir, Wahlbeobachtern positive Nachricht, beispielsweise über eine angebliche die Einreise verweigern und sie des Landes verweisen Annährung zwischen der Zentralregierung des Sudans will. Das muss man hier zur Kenntnis nehmen. Ich bin und dem Tschad. Es gibt Meldungen über Friedensab- definitiv der Meinung – ich kritisiere die Nachgiebigkeit kommen, die in Darfur, einer der großen Krisenregionen, an diesem Punkt –, dass die internationale Staatenge- zwischen der größten Rebellenorganisation und der Re- meinschaft, die im Weltsicherheitsrat den Auftrag erteilt gierung geschlossen worden sind. Aber all dies ist mit hat, zum Haftbefehl des Internationalen Strafgerichts- Vorsicht zu genießen; das wissen wir. Meldungen über hofs gegen Herrn Baschir stehen muss. Friedensabkommen aus dieser Region haben selten die Zeit überlebt, in der man in diesem Hohen Hause über- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haupt darüber diskutieren konnte. DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3215

Christoph Strässer (A) So schwierig das außenpolitisch ist – ich weiß, dass die Ich schließe mit einem Zitat derselben Nichtregie- (C) Gespräche sehr schwierig sind –: Es kann nicht sein, rungsorganisation, die ich schon zu Beginn meiner Rede dass Herr Baschir – er leugnet alles, weist alles von sich zitiert habe: und schiebt anderen die Schuld zu – bei der ersten Be- Die Bevölkerung im Südsudan hat außergewöhnli- währungsprobe des Internationalen Strafgerichtshofes – che Ausdauer bewiesen, als es darum ging, nach zum ersten Mal gibt es einen Haftbefehl gegen einen am- den Kriegsjahrzehnten neu anzufangen. Wenn die tierenden Staatspräsidenten – ungeschoren davonkommt. Menschen Hoffnung auf eine Zukunft haben sollen, Das wäre eine Niederlage für den internationalen benötigen sie dringend spürbare Entwicklungsfort- Rechtsschutz; das kann sich die internationale Staaten- schritte und Schutz vor Gewalt. Der Sudan steht vor gemeinschaft nicht leisten. Deshalb geht es darum, wei- vielen miteinander verknüpften Herausforderungen, terhin den Wahlprozess zu forcieren, aber auch alle Mit- die jedoch gemeistert werden können, wenn die in- tel und Instrumente zur Verfügung zu stellen, damit das ternationale Gemeinschaft jetzt handelt. internationale Recht bei Herrn Baschir angewendet wer- den kann. Ich hoffe und wünsche, dass heute vom Bundestag für diese Handlungsfähigkeit ein deutliches Signal ausgeht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Marina Herzlichen Dank. Schuster [FDP]) (Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Wir sollten an dieser Stelle der Auseinandersetzung geordneten der CDU/CSU) auf das CPA zurückkommen, das Abkommen, das die- sen Konflikt regelt. Viele von uns – Kollege Fischer war auch dabei – waren im Jahr 2004 im Sudan. Damals wa- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ren wir der Meinung, in jenem Jahr würde in Naivasha Marina Schuster hat das Wort für die FDP-Fraktion. der Prozess beendet und das Abkommen unterschrieben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir waren bereit, einen Bus zu chartern und dorthin zu fahren, um das zu feiern und die Menschen zu beglück- Marina Schuster (FDP): wünschen. 2004 hat es nicht geklappt; aber das macht nichts. 2005 ist es dann zum Abschluss des Vertrages ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und kommen. Kollegen! Zunächst einmal möchte auch ich einen Dank vorausschicken. Ich denke, wir haben sehr konstruktive Man sollte zwei Feststellungen machen: Antragsberatungen erlebt. Dafür gilt mein Dank den be- (B) teiligten Fraktionen. Ich danke aber auch den NGOs (D) Erstens. CPA, das umfassende Friedensabkommen, – manche sind heute auf der Tribüne vertreten –, die sich hat seine Mängel. Es hat strukturelle Mängel: Beispiels- so engagiert beteiligt haben und wichtige Informations- weise haben nur zwei große Konfliktparteien verhandelt, geber waren. auf der einen Seite die herrschende Partei NCP im Nor- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie den, auf der anderen Seite die Befreiungsbewegung des bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Südens. Viele kleinere Gruppen, zivile Gruppen, waren GRÜNEN) nicht daran beteiligt. Außerdem freue ich mich, dass ich gestern im Aus- Zweitens. In der Konsequenz handelte es sich nur um wärtigen Ausschuss vernommen habe: Auch die Bun- eine Befriedung des Nord-Süd-Konflikts; der Konflikt in desregierung begrüßt diesen Antrag vollumfänglich. Ich Darfur wurde nicht geregelt, nicht gelöst, der Zustand im freue mich noch mehr, wenn ich sehen kann, dass unsere Osten ist sehr fragil. Bundesregierung die Forderungen dieses Antrages Schritt für Schritt umsetzt. Da setze ich große Hoffnun- Man muss also bei der Bewertung dieses Friedensab- gen auf Staatsministerin Cornelia Pieper, Dirk Niebel kommens vorsichtig sein. Viele Menschen, die dort und natürlich auch den Außenminister. arbeiten, vertrauen aber auf die Wirkung dieses Vertrags- werkes. Ich möchte etwas überspitzt zum Friedenspro- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) zess im Sudan, insbesondere zum Konflikt zwischen Süd Mit dem interfraktionellen Antrag senden wir ein sehr und Nord, sagen – in Abänderung eines Zitats von Willy starkes Signal, was die Wahlen betrifft; das ist heute Brandt; irgendwie finde ich den Vergleich zutreffend –: schon angesprochen worden. Es geht darum, dass freie Dieser Friedensschluss, dieses umfassende Friedensab- und faire Wahlen stattfinden. Diesbezüglich haben wir in kommen ist nicht alles; aber ohne diesen Friedenschluss unseren Antrag verschiedene Forderungen aufgenom- wäre alles nichts. Das sollten wir bedenken. Wir müssen men: Es muss Wahlbeobachter geben. Bei der Vorberei- die Sudanesen unterstützen, damit der Friedensprozess tung der Wahlen ist logistische Unterstützung erforder- gelingt. Ich finde es ganz wichtig, dass sich die interna- lich. Wichtig ist auch, dass sowohl die Konfliktparteien tionale Staatengemeinschaft einmischt, dass sie insbe- als auch die politischen Parteien alles in ihrer Macht Ste- sondere – das hat in einem Interview in hende tun, vor Ort für gewaltfreie und faire Wahlen zu der heutigen Financial Times Deutschland bekräftigt – sorgen. die Forderung nach einer UN-Konferenz zum Sudan endlich umsetzt, um einen umfassenden Friedensprozess Der Antrag legt den Fokus aber auch auf die kritische zu gewährleisten. Phase danach und auf die Abstimmungen, die 2011 beim 3216 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Marina Schuster (A) Referendum stattfinden werden. Das ist sozusagen das und deswegen unterstützen wir die Haftbefehle gegen (C) Herzstück des Antrages. Wir wissen nicht, wie das Refe- Baschir, Kony und Weitere, die angeklagt sind. rendum ausgehen wird, wie sich die Bürgerinnen und (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Bürger entscheiden werden. Aber eines ist klar: Die und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Konfliktparteien müssen mit Unterstützung der interna- tionalen Gemeinschaft dafür Sorge tragen, dass es nicht Baschir hat in einem Interview im Spiegel erklärt, zu einem neuen Krieg kommt. Das heißt, es muss klare dass der Haftbefehl seine Popularität gesteigert habe. Vorgaben für den Fall geben, dass sich der Südsudan für Diese persönliche Schlussfolgerung darf uns nicht be- eine Abspaltung entscheidet. Es muss geregelt werden, irren. wie es dann in Bezug auf die Staatsangehörigkeit und die Aufteilung der Öleinnahmen weitergeht. Ich denke, es (Christoph Strässer [SPD]: Das stimmt auch ist eine ganz, ganz wichtige Forderung, dass das im Rah- nicht!) men der Konferenz umgesetzt wird. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Internationale Straf- gerichtshof belächelt oder seine Autorität untergraben Der Antrag nimmt sich aber nicht nur des Konfliktes wird. Es ist an uns, geschlossen gegen Kriegsverbrechen zwischen Nord und Süd an, sondern auch der anderen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzutreten Regionen. Denn vieles ist miteinander verwoben und und die Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. hängt voneinander ab. Die entscheidende Frage ist: Sind die jeweiligen Regionen und die jeweiligen Stämme ge- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD nügend eingebunden? Haben sie ihren Anteil an der poli- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tischen Mitwirkung und an der Wirtschaftsentwicklung? Ich komme zum Schluss. Mit dem Antrag, der heute Ohne die Einbindung der Zivilgesellschaft vor Ort ist vorliegt, halten wir Wort. Wir haben bei der Podiumsdis- kein tragfähiger Frieden möglich. kussion am 7. Januar das Versprechen gegeben, uns zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einem interfraktionellen Antrag zusammenzufinden, und der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- wir haben unser Versprechen gehalten. Wir tun mit die- SES 90/DIE GRÜNEN) sem Antrag aber noch viel mehr: Wir beweisen den hoff- nungsvollen Menschen im Sudan, dass wir ihre Unter- Auch dürfen wir nicht die unterschiedlichen Rollen stützer sind auf einem Weg zu einem Leben in Frieden, der Nachbarstaaten außer Acht lassen, die mit sehr ver- Freiheit und Menschenwürde. schiedenen Agenden ihre eigenen Interessen in den Vor- dergrund stellen. Nach wie vor sehe ich die Gefahr eines Vielen Dank. Flächenbrandes. Deshalb ist auch die Berücksichtigung (B) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD (D) der Interessen der Nachbarländer als Forderung in unse- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rem Antrag enthalten. Denn man kann den Sudan nicht losgelöst von den Problemen der Nachbarn sehen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zwei Punkte möchte ich noch erwähnen. Wir werden Der Kollege Niema Movassat hat jetzt das Wort für natürlich Debatten zu den Mandaten UNAMID und die Fraktion Die Linke. UNMIS führen; sie werden im Sommer kommen. Ich (Beifall bei der LINKEN) habe bei der ersten Mandatierung von UNAMID schon davor gewarnt, die Gegebenheiten vor Ort falsch einzu- schätzen. Erst wurde laut nach dem UN-Hybrid-Mandat Niema Movassat (DIE LINKE): gerufen, und dann standen die Truppen auf verlorenem Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Posten, ohne volle Truppenstärke und ohne ausreichende Es ist heute schon deutlich geworden: Bei dem Sudan Transportkapazitäten. Ich denke, wir tun gut daran, wenn handelt es sich um eines der ärmsten Länder der Erde. wir uns im Rahmen der Vereinten Nationen wirklich für Laut einem Bericht von Nichtregierungsorganisationen eine Anpassung der Mandate an die Gegebenheiten vor hat im Südsudan weniger als die Hälfte der Bevölkerung Ort einsetzen. Zugang zu Trinkwasser; jedes siebte Kind stirbt vor dem sechsten Lebensjahr. Es ist also dringend notwendig, in (Beifall des Abg. Christoph Strässer [SPD]) Gesundheit, in Bildung und in den Zugang zu sauberem Wasser zu investieren, Das Gleiche betrifft das UNMIS-Mandat. Wir legen den Fokus auf die Konfliktprävention. Ein Schlüssel (Beifall bei der LINKEN) dazu ist die Polizeiausbildung im Rahmen des Mandates, die wir verstärken möchten. und zwar nachhaltig; denn die häufig geleistete Nothilfe ist selten entwicklungsorientiert. Sie trägt vielmehr dazu Ich komme zum letzten Punkt des Antrages, zu den bei, die lokale Selbstversorgung zu behindern. Menschenrechten. In einer wegweisenden Entscheidung Allerdings ist die Art, wie man sich hierzulande mit hat der UN-Sicherheitsrat den Internationalen Strafge- dem Sudan beschäftigt, höchst bedenklich; denn dabei richtshof mandatiert, Kriegsverbrechen im Sudan zu ver- geht es weniger um die Herstellung von sozialer Sicher- folgen. Für mich ist vollkommen klar, dass es – das ha- heit als vielmehr um die Vorbereitung auf die Abspal- ben wir auch im Koalitionsvertrag niedergeschrieben – tung des ölreichen Südsudan vom Norden. keine Kultur der Straflosigkeit geben darf. Die massiven Menschenrechtsverletzungen müssen geahndet werden, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3217

Niema Movassat (A) Das Friedensabkommen sieht zwar ein Referendum über dem Friedensabkommen widerspricht und obwohl – oder (C) die Frage „Abtrennung oder Autonomie?“ vor, betont gerade weil – Äthiopien wichtigster Partner Deutschlands aber ausdrücklich, dass die Einheit des Sudan attraktiv in der Region ist. gemacht werden soll, auch weil eine Abtrennung die Ge- fahr eines neuen Krieges um die Ölressourcen birgt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: In dieser Hinsicht ist in den letzten Jahren nichts ge- Herr Movassat, möchten Sie eine Zwischenfrage der schehen. Im Gegenteil: Wenn die GTZ im Südsudan ein Kollegin Schuster zulassen? Programm zum Staatsaufbau durchführt, wenn sie Stra- ßen baut, die den Südsudan vor allem mit Kenia anstatt Niema Movassat (DIE LINKE): mit der Hauptstadt Khartoum verbindet, und wenn Nein, ich möchte meine Rede gern zu Ende führen. gleichzeitig der Nordsudan in der Entwicklungszusam- menarbeit vernachlässigt wird, dann trägt Deutschland (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr sympathisch!) dazu bei, dass die Abspaltung vorangetrieben wird. Ein letzter Punkt. Im Rahmen von UNMIS wollen Sie (Beifall bei der LINKEN) die Polizeiausbildung personell und materiell intensivie- ren. Sie waren doch bei dem Treffen mit den Nichtregie- Wozu das alles? Damit Deutschland und die EU beste rungsorganisationen hier im Bundestag und haben ihre Kontakte zur zukünftigen südsudanesischen Regierung Kritik an diesem Programm gehört: Die Polizeiausbil- aufbauen und damit das notwendige Klima dafür ge- dung stärkt vor allem eine bestimmte Bevölkerungs- schaffen wird, dass deutsche und europäische Firmen gruppe im Südsudan und stellt somit ein Potenzial für beim künftigen Poker um Aufbauverträge und Erdöl auf zukünftige Spannungen dar. Die Mehrzahl der Polizisten der Gewinnerseite stehen. in spe kann außerdem weder lesen noch schreiben. Hier muss man ansetzen; sonst hat man schlechte Vorausset- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) zungen für eine an Rechtsstaatlichkeit gebundene Poli- So hat heute in Berlin ein Planspiel des Afrika-Vereins zei. der deutschen Wirtschaft stattgefunden – und zwar in ei- (Beifall bei der LINKEN – Christoph Strässer ner Einrichtung des Verteidigungsministeriums –, Titel: [SPD]: Bis dahin schaffen wir die Polizei ab, „The Day After – Planspiel für Unternehmer in Konflikt- oder was?) regionen“. Ziel des Planspiels ist es, am Beispiel des – Sie ahnen es – Südsudan die Handlungsmöglichkeiten Alles in allem haben wir es mit einem Antrag zu tun, deutscher Unternehmen bei kriegerischen Auseinander- der wieder einmal vorgibt, Frieden und Entwicklung setzungen zu diskutieren. durch Militärmissionen zu erreichen, und durch den der (B) deutsche Einfluss im Südsudan sichergestellt werden (D) (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Pfui!) soll. So einem Antrag wird die Linke auf keinen Fall zu- Deutschland trägt also zur Abtrennung bei und plant stimmen. schon jetzt die Beteiligung deutscher Firmen an sich er- Danke für die Aufmerksamkeit. gebenden zukünftigen Geschäftsmöglichkeiten. (Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth (Beifall bei der LINKEN) [Kyffhäuser] [FDP]: Das kann nicht wahr sein, Das ist geschmacklos und kommt Naomi Kleins Schock- was man hier ertragen muss! – Weitere Zurufe strategie gefährlich nahe. von der FDP: Das kann nicht wahr sein!) (Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die Rede ist geschmack- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: los! Jetzt ist aber langsam gut! Was soll das?) Das Wort hat Kerstin Müller für Bündnis 90/Die Grü- nen. Diese neokolonialistische Herangehensweise schlägt sich auch in Ihrem Antrag nieder; Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN) NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! denn Sie schreiben, dass im Rahmen einer Sudan-Konfe- Auch ich will zunächst einmal sagen, dass ich es sehr be- renz ein größtmöglicher Konsens zwischen der EU, den grüße und mich freue, dass es gelungen ist, einen inter- USA, der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga und fraktionellen Antrag einzubringen; denn dieses Thema China über die zentralen politischen Ziele hergestellt ist wichtig. Dieser Antrag beinhaltet einen klaren Ar- werden soll. Dreimal dürfen Sie raten, wer bei dieser beitsauftrag an die Bundesregierung. Die Sudankrise ist Aufzählung fehlt: Die dann neugewählte sudanesische nicht irgendeine Krise; ihre Überwindung stellt eine der Regierung und damit die sudanesische Bevölkerung. größten außenpolitischen und menschenrechtlichen He- Wie wäre es, sie zu fragen, was ihre zentralen politi- rausforderungen dar. Das muss in der künftigen Außen- schen Ziele sind? politik stärker deutlich werden. (Beifall bei der LINKEN) Ich finde es bedauerlich, dass die Linke nicht einge- Ich finde in Ihrem Antrag auch keinerlei Kritik an der bunden war. Ich fände es gut, wenn die Union ihre Posi- Aufrüstung und Ausbildung südsudanesischer Milizen tion an dieser Stelle überdenken würde. So vorzugehen, durch Kenia und Äthiopien, obwohl diese Aufrüstung wie sie es tut, ist politisch einfach nicht klug. 3218 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Kerstin Müller (Köln) (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dum bevor. Es wird wahrscheinlich zum ersten Mal pas- (C) sieren, dass sich die postkolonialen Grenzen durch Herr Kollege Movassat, anhand Ihres Beitrags und Abstimmung verändern. Die Frage ist, ob das die Ge- auch im Ausschuss durch Herrn van Aken ist klar ge- burtsstunde eines neuen Failing State ist, und zwar mit worden, dass Sie an einer bestimmten Stelle ausgestie- dramatischen Folgen, oder ob es die Chance auf eine gen wären, nicht zuletzt wegen UNMIS und UNAMID. friedliche Abspaltung gibt. Das, was Sie hier deutlich gemacht haben, zeigt, dass Ihre Position zu den Mandaten außenpolitisch schlicht- Ich glaube, nichts wird gut sein im Sudan, wenn wir weg abenteuerlich ist. uns jetzt nicht intensiv engagieren, wenn es nicht eine große internationale Kraftanstrengung gibt. Genau des- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halb fordern wir eine UNO-Konferenz zum Thema Su- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der dan, bei der alle an einem Strang ziehen. Die Europäi- SPD und der FDP) sche Union, die UNO, China, aber auch die Arabische Liga und die AU müssen eingebunden werden; das ist Wenn Sie einen Einsatz, der nachweislich zur Stabili- die Lehre aus dem CPA. Das CPA kam nach mehr als sierung der Lage im Südsudan entscheidend beigetragen 25 Jahren Bürgerkrieg zustande, weil alle an einem hat und zu dem Deutschland Beobachter und zivile Mit- Strang gezogen haben, weil man Druck auf die Konflikt- arbeiter, die unter größten Anstrengungen ihren Beitrag parteien ausgeübt hat. Es müssen jetzt genauso große leisten, entsendet, als Kampfeinsatz bezeichnen, dann ist Anstrengungen unternommen werden, eine Sudan-Kon- das einfach nur abenteuerlich und außenpolitisch nicht ferenz durchzuführen, damit dort ein Fahrplan zur Bear- seriös. Sie stellen sich damit ins Abseits. Ich glaube, die beitung der strittigen Fragen ausgearbeitet werden kann, Klugen bei Ihnen wissen das. Sie werden da sicherlich und zwar für die Zeit vor und nach dem Referendum. zu einer Veränderung ihrer Position kommen; denn sonst Wenn diese Konferenz nicht zustande kommt, dann be- brauchen Sie sich an dieser Stelle gar nicht mehr einzu- steht die große Gefahr, dass ein Krieg ausbricht, und den mischen. müssen wir unbedingt verhindern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Gerade jetzt, im letzten Jahr der Umsetzung des CPA, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: muss deutlich werden, dass wir es ernst meinen mit der Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende bitte. Krisenprävention und der internationalen Schutzverant- wortung, der R2P, gegenüber den Menschen im Sudan. (B) Ein solches Signal ist bitter nötig; denn der Sudan steht Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) am Scheideweg, zum einen wegen der Wahlen im April, NEN): zum anderen wegen des Referendums im nächsten Jahr. Ich komme zum Schluss. – Bei der Sudan-Krise reicht Der Friedensprozess ist ins Stocken geraten. Wenn das es nicht aus, bloß mitzuschwimmen, sondern wir müssen CPA auf den letzten Metern scheitert, dann könnte der zeigen, dass wir es mit der Krisenprävention ernst mei- Sudan erneut zum größten Katastrophenfall Afrikas wer- nen. Das ist der wichtige Arbeitsauftrag an die Bundes- den, und zwar mit einem neuen Krieg, der das gesamte regierung. Sie können sicher sein, dass wir Sie an diesem Horn von Afrika mit in den Abgrund zieht und der Fol- Auftrag messen und dieses Thema immer wieder auf die gen für Europa und Deutschland hätte. Tagesordnung setzen werden. Die Wahlen im April sind in Gefahr, weil die al-Ba- schir-Partei durch Tricksereien, falsche Wahlregister und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: repressive Sicherheitsgesetze keinen fairen Wahlkampf Frau Kollegin. und keine freie Wahlen zulässt. Wer diese Probleme beim Namen nennt, dem droht al-Baschir mit Raus- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schmiss. Sie haben alle das Zitat gelesen: „Wenn sich NEN): andere in unsere Angelegenheiten einmischen, dann werden wir ihnen die Finger abschneiden und sie unter Wir haben ein großes außenpolitisches Interesse da- unseren Schuhen zerquetschen.“ Das ist eine unakzep- ran, einen neuen Krieg im Sudan zu verhindern. table Äußerung des Präsidenten al-Baschir. Wir werden Vielen Dank. nicht zulassen, dass die Wahlen eine Wahlshow für al- Baschir werden, aus der er wieder Legitimation ziehen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will. Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichts- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der hofs gegen ihn bleibt bestehen. Er muss sich Den Haag SPD und der FDP) stellen. Das machen wir alle gemeinsam mit diesem An- trag noch einmal deutlich. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Hartwig Fischer hat das Wort für die CDU/CSU-Frak- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) tion. Die Wahlen sind aber nur der Auftakt. Die eigentliche (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zäsur, und zwar für ganz Afrika, steht mit dem Referen- neten der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3219

(A) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Herr Movassat, dass wir den Aufbau nicht nur über Ent- (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wicklungszusammenarbeit organisieren; vielmehr müs- Ein herzliches Dankeschön an alle, die durch die Mitar- sen wir als Deutsche ein Interesse daran haben, dass es beit an diesem Antrag gezeigt haben, dass sie es mit dem Unternehmen gibt, die bereit sind, dort partnerschaftlich Frieden für den Sudan ernst meinen. aufzubauen. Man muss diesem Land beim Übergang vom informellen zum formellen Sektor helfen, um den (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem Menschen im Sudan eine nachhaltige Teilhabe zu er- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) möglichen. Wir haben eine Chance. Ob diese Chance aber Reali- (Beifall bei der CDU/CSU) tät wird, hängt auch davon ab, wie man sich als Parla- ment international präsentiert, ob man diese Chance Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Menschen im ernst nehmen will und was man aus dieser Chance Südsudan, in Darfur oder in anderen Regionen handelt. macht. Die Menschen dort sind geschunden. Ich kann Der nächste Schritt wird dann sein, dass sich dieses nur sagen: Herr Movassat, was Sie hier gesagt haben, Volk eigenständig auf der Grundlage von Regeln, die grenzt an Realitätsverweigerung. Hier sind Kollegen, man getroffen hat, entscheidet, ob es sich teilt oder ob es auch aus Ihrer Fraktion, die Menschen haben sterben se- sich nicht teilt. Diese Entscheidung wird nicht in interna- hen. Herr Leutert war mit in Darfur und hat miterlebt, tionalen Gremien getroffen, was dort mit den Menschen vorgeht. Herr Leutert aus Ih- rer Fraktion weiß, dass die Helfer ohne UNAMID und (Marina Schuster [FDP]: So ist es!) ohne UNMIS überhaupt keine Chance hätten, den Men- sondern durch ein Referendum. Wenn diese Entschei- schen dort zu helfen. Ich finde es deprimierend, wenn dung getroffen ist, geht es darum, entweder einem oder dennoch von Neokolonialismus gesprochen wird. zwei sudanesischen Staaten eine Friedensdividende zu (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP geben. In diesem Sinne bitte ich Sie alle – ich fordere die und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Linke auf, dem Appell von Herrn Movassat nicht zu fol- gen –, für Frieden und Gerechtigkeit im Sudan zu stim- Sie zeigen hier auf, dass die Hälfte der Menschen im men. Südsudan keinen Zugang zu Wasser hat, verweigern sich aber der Realität, dass über 400 000 südsudanesische (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Flüchtlinge in den vergangenen anderthalb Jahren aus bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Kenia und aus in den Südsudan zurückgekehrt NISSES 90/DIE GRÜNEN) sind. Unter anderem hat dies die GTZ möglich gemacht, weil sie eine Infrastruktur für diese Rückkehrer aufgebaut Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) hat, weil sie Wasserlöcher gebohrt und den Menschen Ich beende die Aussprache. (D) eine Chance gegeben hat, aus den Flüchtlingslagern in ihre Heimatgebiete zurückzukehren. Auch das wäre ohne Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der eine entsprechende Hilfestellung der UN nicht möglich Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die gewesen. Grünen auf Drucksache 17/1158 mit dem Titel „Freie und faire Wahlen im Sudan sicherstellen, den Friedens- Auch bei dem Wahlprozess stehen wir in der Verant- prozess über das Referendum 2011 hinaus begleiten so- wortung, auch wenn wir das in den Antrag nicht expres- wie die humanitäre und menschenrechtliche Situation sis verbis aufgenommen haben; denn es muss auch di- verbessern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegen- plomatische Auseinandersetzungen geben. Al-Baschir stimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Antrag ange- ist ein Straftäter, auf den ein internationaler Haftbefehl nommen bei Zustimmung durch die einbringenden Frak- ausgestellt ist. Dies muss man in einer Debatte offen sa- tionen. Die Fraktion Die Linke hat dagegengestimmt. gen. Das muss auch für die Zukunft gelten; sonst glau- Enthaltungen gab es keine. ben Machthaber, einen Freibrief für Völkermord zu ha- ben, wie wir ihn an vielen Stellen auf dieser Erde immer Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a und b wieder erlebt haben. auf: Wenn wir diesen Friedensprozess und auch den Wahl- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe prozess im Sudan vorantreiben wollen, dann dürfen wir, Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite- die Weltgemeinschaft, nicht zulassen, dass Wahlbeob- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD achter aus diesem Land vertrieben werden. Wir wissen, Mobilität nachhaltig gestalten – Erfolgreichen dass die Wahlvorbereitungen einigermaßen anständig Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fort- abgelaufen sind. Aber die letzten Tage müssen genutzt entwickeln werden, um die deutliche Aufbruchstimmung, die es in der Bevölkerung gibt, zu unterstützen und dafür zu sor- – Drucksache 17/1060 – gen, dass die Menschen über diese Wahlen eine Chance Überweisungsvorschlag: bekommen. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss Unser Außenministerium und unser Entwicklungs- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ministerium müssen sich darauf vorbereiten, dass wir, Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wenn dieser Wahlprozess in einer vernünftigen Form ab- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit läuft und sich dann eine Regierung bildet, dazu beitra- Ausschuss für Tourismus gen, dass dort in Zukunft ein Aufbau erfolgt. Das heißt, Haushaltsausschuss 3220 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried (Beifall bei der SPD) (C) Hermann, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen ha- weiterer Abgeordneter und der Fraktion ben dies bereits früh erkannt und haben schon im Jahr BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1999 im SPD-geführten Bundesministerium für Verkehr, Mit grüner Elektromobilität ins postfossile Bau und Wohnungswesen eine Arbeitsgruppe „Inte- Zeitalter grierte Verkehrspolitik“ einberufen, die das damals noch neuartige Konzept in einem breiten Dialog weiterentwi- Drucksache 17/1164 – ckeln sollte. Im Verkehrsbericht 2000 und im Rahmen Überweisungsvorschlag: der Mobilitätsoffensive des damaligen Bundeskanzlers Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Gerhard Schröder im Jahr 2002 wurde diese Integra- Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie tionsidee aufgegriffen und zur Grundlage unseres Regie- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit rungsarbeitens in den vergangenen Jahren gemacht. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Die zentrale Aufgabe einer nachhaltigen, integrierten Ausschuss für Tourismus Verkehrspolitik ist es, die gesellschaftlich notwendige Mobilität möglichst umweltverträglich zu gestalten. Die- Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine halbe ser Ansatz hat nicht nur eine bessere Vernetzung der ein- Stunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen zelnen Verkehrsträger zum Ziel, sondern muss auch die Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. städtebauliche Entwicklung berücksichtigen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Meine Herren und Damen von der Regierungs- gin Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion. koalition, Sie können froh sein, dass Sie mit der (Beifall bei der SPD) nationalen Stadtentwicklungspolitik, dem Programm der Städtebauförderung, dem Investitionspaket und dem Programm zur energetischen Gebäudesanierung wir- Kirsten Lühmann (SPD): kungsvolle Instrumentarien zur Gestaltung der Zukunfts- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe aufgaben in unseren Städten und Gemeinden von Ihrem Kolleginnen! Sehr geehrte Herren und Damen! Bald ist Vorgänger übernehmen konnten. es so weit: Die Osterferien kommen auch für uns näher und mit ihnen zahlreiche Staus auf unseren Straßen. Ki- (Beifall bei der SPD) lometerlang rollen gewaltige Blechlawinen – meist gen Ich hoffe, Sie wissen dies auch zu schätzen. Zumindest Süden –, und so mancher Urlaub beginnt mit Stress. Von haben Sie den Haushaltsentwurf von Herrn Tiefensee bei (B) der erhofften Erholung sind die, die im Stau stehen, im der Städtebauförderung fast – aber leider eben nur fast – (D) wahrsten Sinne des Wortes kilometerweit entfernt. unverändert übernommen. Was wir wollen, ist, schnell, bequem und sicher sowie Dennoch frage ich mich: Wo sind Ihre neuen Im- preisgünstig von A nach B zu kommen. Unsere Wirt- pulse? Sie schreiben in Ihrem Koalitionsvertrag, dass die schaft braucht für eine immer spezialisiertere, hoch- Hinterlassenschaften von Rot-Grün in der Verkehrspoli- arbeitsteilige Produktion Rohstoffe und Fertigteile just tik endgültig der Vergangenheit angehören. in time in ganz Europa. Eine gut ausgebaute Infrastruk- tur ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine (Beifall des Abg. Gero Storjohann funktionierende Wirtschaft. [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD) Wie sieht Ihre neue Verkehrspolitik aus? Das würde ich gerne wissen. Ein planvolles Handeln kann ich nicht er- Die Globalisierung hat die Fahrstrecken verlängert. kennen. Diese von uns allen gewollte Mobilität aber hat ihren Preis, nicht nur in Form von Tarifen und Treibstoffkos- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten, sondern auch in Form von Verkehrslärm, Luftver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schmutzung, Flächenverbrauch und Zerschneidung von Wir fordern Sie auf, endlich ein Gesamtkonzept vor- Städten und Landschaften. Der Energieverbrauch, der zulegen. Wie zum Beispiel wollen Sie die Herausforde- mit der Verkehrsleistung verbunden ist, verursacht er- rungen eines wachsenden Güterverkehrs bewältigen? hebliche Umweltbelastungen. So geht ein Fünftel aller Wir hören immer, dass Sie die Verlagerung auf die CO2-Emissionen auf das Konto des Verkehrs. Schiene wollen. Aber wie? Indem Sie die Bahn aushun- Wir stehen vor der Herausforderung, Mobilität zu er- gern? Um die Maßnahmen umzusetzen, die bereits im möglichen, gleichzeitig aber die Belastung für Men- vordringlichen Bedarf stehen, werden jährlich 1,8 Mil- schen und Umwelt zu senken. Die Bewältigung der liarden Euro benötigt. Tatsächlich stehen der Bahn nach künftig noch wachsenden Verkehrsprobleme setzt eine den Planungen des Bundesverkehrsministers in den integrierte Verkehrspolitik voraus. kommenden Jahren jährlich 600 Millionen Euro weniger zur Verfügung. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Sehr richtig!) Der Bahnchef persönlich ist mit Mitgliedern des Ver- Teillösungen und das Fokussieren auf einzelne Verkehrs- kehrsausschusses die sogenannte Streichliste durchge- träger sind der falsche Weg. Nötig ist eine zukunftsfä- gangen und hat erklärt, was kommt, was vielleicht hige Verkehrspolitik aus einem Guss. kommt und was mit der Politik der schwarz-gelben Bun- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3221

Kirsten Lühmann (A) desregierung gar nicht kommen kann. Dabei konnte man Mobilität muss bezahlbar bleiben, auch im ländlichen (C) feststellen, dass zum Beispiel die Y-Trasse nicht finan- Raum. Nur auf diese Weise können sich Menschen wirk- ziert ist und bei den geplanten Transaktionsvolumina lich an der Arbeitswelt, an Bildung und Kultur sowie am auch nicht finanzierbar ist. Wie soll da der Güterverkehr Gesellschaftsleben insgesamt beteiligen. Wir fordern auf die Schiene gebracht werden? Das müssen Sie mir dazu auch barrierefreie Mobilität. Bedürfnisse von be- bitte erklären. hinderten Menschen, von Familien und von älteren Bür- gern und Bürgerinnen müssen Bestandteil der Stadtent- (Beifall bei der SPD) wicklung und der Verkehrspolitik sein. Gleichzeitig kürzen Sie die Mittel für den kombinier- Wir wollen ein Konzept für die aussterbenden Städte ten Verkehr um 64 Millionen Euro. Das bedeutet, dass in im Osten wie im Westen. Der demografische Wandel diesem Bereich mehr als die Hälfte der Zuschüsse für In- sitzt uns im Nacken, und alles, was Sie machen, ist ab- vestitionen privater Unternehmen gestrichen wird, und warten und an den falschen Stellen sparen. dies in einem Jahr, in dem die Branche nach der Wirt- schaftskrise wieder Fuß fassen will. Damit lassen Sie (Beifall bei der SPD) Unternehmen mit ihren Logistikproblemen im Stich. Sie enthalten der Bahn wichtige Neukunden für den Güter- Sie machen Klientelpolitik zulasten der Menschen, verkehr vor. zulasten einer zukunftsorientierten Mobilität, zulasten von Umwelt und Natur und zulasten von Arbeitnehmen- Ihr Vorhaben, verkehrsträgerbezogene Finanzkreis- den in wichtigen Bereichen von Transport und Logistik. läufe zu stärken, bedeutet konkret, dass die Lkw-Maut Das lehnen wir ab. Ich hoffe, dass Sie in den Beratungen nur noch in den Erhalt und den Ausbau der Straße flie- des Antrages den nötigen Mut aufbringen und sich unse- ßen soll und dass damit die Weiterentwicklung der ren Vorschlägen anschließen, damit Mobilität in Schienen- und Wasserwege geschwächt wird. Das heißt Deutschland nachhaltig gestaltet wird und der erforderli- doch, dass Sie vorne Löcher stopfen, indem Sie hinten che Ansatz der integrierten Verkehrspolitik weiterentwi- neue, größere Löcher aufreißen. Meine Frage ist: Wo ckelt werden kann. bleibt der Blick auf das Ganze? Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Gustav Herzog [SPD]: So ist es! – Uwe Beckmeyer (Beifall bei der SPD) [SPD]: Recht hat sie!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wir möchten, dass der unter der rot-grünen Bundesre- gierung angestoßene Prozess zur Entwicklung eines Ge- Frau Lühmann, hier im Haus war das Ihre erste Rede. (B) samtkonzepts für eine integrierte Verkehrspolitik konse- Dazu gratulieren wir Ihnen alle herzlich und wünschen (D) quent fortgeführt und weiterentwickelt wird. für Ihre Arbeit Erfolg. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (Beifall) Abg. Dr. [BÜNDNIS 90/DIE Der nächste Redner ist der Kollege Gero Storjohann GRÜNEN]) für die CDU/CSU-Fraktion. Nur damit werden wir einem zukunftsfähigen Verkehrs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- system gerecht. Damit befasst sich unser Antrag, in dem neten der FDP) wir unsere Forderungen an die Bundesregierung in elf Punkten zusammengefasst haben. Gero Storjohann (CDU/CSU): Wir fordern Sie auf, der zentralen Rolle des Ausbaus Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und und der Optimierung des umweltfreundlichen Verkehrs- Herren! Die Sozialdemokraten vollführen mit ihrem An- trägers Schiene gerecht zu werden. Dazu bedarf es eines trag heute einen verkehrspolitischen Rundumschlag. umfassenden, transparenten und langfristig stabilen Fi- nanzierungskonzeptes. Außerdem beantragen wir, dass (Sören Bartol [SPD]: Habt ihr auch verdient!) Sie für die ehemalige Gemeindeverkehrsfinanzierung Bei der Lektüre stößt man auf viele schöne Worte und ein Konzept für die Förderung des ÖPNV vorlegen. eine Vielzahl von Allgemeinplätzen. In Ihrer Koalitionsvereinbarung bekennen Sie sich (Gustav Herzog [SPD]: Und viele gute Gedan- zum öffentlichen Personennahverkehr als unverzichtba- ken!) rem Bestandteil der Daseinsvorsorge auch in der Fläche. Dann sagen Sie aber bitte auch, was Sie dafür tun wol- Zur Verdeutlichung möchte ich gerne einiges zitieren: len. Ihr Bekenntnis wird zur leeren Sprechblase, wenn „Mobilität … hat einen sehr hohen Stellenwert in unse- Sie zugleich ankündigen, dass Sie den kommerziellen rer Gesellschaft“, heißt es dort. Dem stimmen wir alle Verkehr vorrangig bedienen wollen. Sorgen Sie dafür, hier sicherlich uneingeschränkt zu. Sie machen weiter- dass die Wettbewerbsbedingungen im öffentlichen Nah- hin aufmerksam auf negative Folgewirkungen des Ver- verkehr und vor allem die Gestaltungsspielräume der kehrs: auf Lärm, Luftverschmutzung, Benzinkosten für Kommunen so ausgestaltet werden, dass sich Mobilität den Einzelnen, Flächenverbrauch. nicht zu einem Exklusivprodukt entwickelt. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Warum lehnen (Beifall bei der SPD) Sie das dann ab?) 3222 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Gero Storjohann (A) Auch hier sind wir Verkehrspolitiker uns eigentlich alle Der Mief der sozialdemokratischen Führung im Ver- (C) einig. kehrsministerium ist jetzt weg. Wir können nach vorne schauen. (Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Was regen Sie sich dann auf?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uwe Schließlich leiten Sie daraus eine Schlussfolgerung ab: Beckmeyer [SPD]: Ist das eine Spaßdebatte heute?) Die strategische Ausrichtung einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik muss „aus einem Guss“ erfolgen. CDU/CSU und FDP haben die angesprochenen Handlungsfelder selbstverständlich angenommen. Wir Das nennen Sie dann integrierte Verkehrspolitik. entwickeln eine zukunftsfähige, ökologische und sozial Wir brauchen in der Tat ein verbessertes Gesamtver- ausgewogene Verkehrspolitik. Für uns in der CDU/CSU- kehrssystem. Dafür zu sorgen, ist die ständige Aufgabe Fraktion gilt: Mobilität besitzt eine Schlüsselfunktion in von uns Verkehrspolitikern und der Politik allgemein. unserer Gesellschaft. Mobilität schafft die Voraussetzun- Ich nehme stark an, dass darüber in allen Fraktionen Ei- gen für Beschäftigung, Wohlstand und persönliche Frei- nigkeit besteht. Was soll mit diesem Antrag also erreicht heit. Wir wollen mit einer effizienten Verkehrspolitik die werden? Sie bleiben im Allgemeinen; Sie verweisen Mobilität für die Zukunft sichern. Das ist unser eigenes wiederholt auf längst bekannte Handlungsfelder; Sie bie- vitales Interesse. Unsere Verkehrspolitik wird den An- ten nicht unbedingt Lösungen an, sondern fordern die forderungen des Klima-, Umwelt- und Lärmschutzes ge- Regierung auf, Lösungen zu bieten. Nichts an Ihrem An- recht. trag ist wirklich neu, nichts ist innovativ. Schon der Titel Aus diesem Grund hat der Bundesminister in seinem entlarvt Sie: Haus eine eigene umweltpolitische Abteilung geschaf- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie sind rückwärts- fen. Es geht darum, zwei Bedürfnisse der Bürgerinnen gewandt! Das ist das Problem!) und Bürger in Einklang zu bringen: auf der einen Seite das Bedürfnis nach Mobilität und Verkehr – die Men- Den „… Erfolgreichen Ansatz der integrierten Verkehrs- schen wollen mobil sein –, auf der anderen Seite das Be- politik fortentwickeln“. Das machen wir doch. Verlassen dürfnis nach Klimaschutz, nach Lärmschutz und nach Sie sich darauf! verantwortungsvoller Verkehrspolitik mit Blick auf die (Lachen des Abg. Uwe Beckmeyer [SPD]) nachfolgenden Generationen. Die Abteilung für Um- weltfragen bringt diese Bedürfnisse in Einklang. Es war Dazu hätte es dieses Antrages der SPD nicht bedurft. keine rot-grüne Bundesregierung, kein sozialdemokrati- (Beifall bei der CDU/CSU) scher Bundesverkehrsminister, der diese Abteilung ein- (B) gerichtet hat. Das heißt, Umweltfragen haben ihren fes- (D) Eines ist ganz klar: Dieser Antrag kommt viel zu spät. ten Platz in unserem Bundesverkehrsministerium. Das Sozialdemokratische Verkehrspolitiker hatten elf Jahre ist schön, und das können Sie nur begrüßen. Zeit, all das umzusetzen, was Sie hier aufgeschrieben ha- ben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Uwe Beckmeyer [SPD]: Eine (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Luftnummer!) Richtig!) Ein weiterer Punkt Ihres Antrages betrifft die soziale In Oppositionszeiten formulieren Sie schöne Anträge. Ausgestaltung der Bundesverkehrspolitik. Mobilität soll Sie hätten handeln und agieren können. Dieser Antrag ein Gemeingut bleiben. Sie fordern die besondere Be- überrascht mich doch sehr. rücksichtigung der Interessen von Menschen mit Behin- (Beifall bei der CDU/CSU – Uwe Beckmeyer derung, von Familien und älteren Bürgerinnen und Bür- [SPD]: Sie ruhen sich doch auf den Leistungen gern. Auch hier rennen Sie bei uns offene Türen ein; das von Tiefensee aus!) wissen Sie. Wir sagen: Mobilität sichert die Teilhabe des Einzelnen am gesellschaftlichen Leben. Deshalb muss es Ihr Antrag kommt also zu spät. unser Ziel sein, Mobilität für alle Bevölkerungsgruppen Die Verkehrspolitik der christlich-liberalen Koalition zu garantieren. enteilt Ihnen. Um dieses Ziel zu erreichen, orientieren wir uns an (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE folgenden Grundsätzen: Mobilität muss bezahlbar sein, GRÜNEN]: Das glaube ich jetzt wirklich sie muss vielfältig angeboten werden, und sie muss flä- nicht!) chendeckend angeboten werden. Wir bekennen uns zum öffentlichen Personennahverkehr. Der ÖPNV ist ein fes- Union, FDP und der neue Bundesverkehrsminister, Peter ter Bestandteil der Daseinsvorsorge. Ramsauer, haben für eine neue Dynamik und Vitalität in der Bundesverkehrspolitik gesorgt. (Beifall bei der CDU/CSU – Kirsten Lühmann [SPD]: Den Sie gerade zerstören!) (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir setzen uns für die Verbesserung des ÖPNV ein. Das ist eine Daueraufgabe. Wenn der ÖPNV attraktiv ist und – Es ist erstaunlich, dass Sie das noch nicht merken. – eine durchgängige Reisekette möglich ist, wird er auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vermehrt von den Bürgerinnen und Bürgern angenom- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3223

Gero Storjohann (A) men. Hierdurch wird die soziale Aufgabe von Verkehrs- und zweitens, dass man ihn wirklich fortsetzen will. Bei- (C) politik gewahrt. Wir leisten auch einen Beitrag zum Kli- des kann ich im Unterschied zu Ihnen, Frau Lühmann, so maschutz, wenn immer mehr Bürgerinnen und Bürger nicht erkennen. die Vorteile des ÖPNV für sich persönlich erkennen. Sie haben eben dargestellt, welche konkreten Aussa- Mobilität in Deutschland wird immer vielfältiger. gen dieser Antrag beinhaltet. Ich erkenne diese inhaltli- Dies hat auch die Bundesregierung erkannt. Wie Sie in chen Forderungen nicht. Ihrem Antrag richtig festgestellt haben – jetzt kommt ein (Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie sind mit Ihrer Lob –, ändert sich das Mobilitätsverhalten der Bürgerin- Politik ja auch überhaupt nicht konsistent! Sie nen und Bürger. Um auf diese Entwicklung zu reagieren, haben ja bis heute noch keine gemacht! Das ist setzen wir in einem vernetzten Verkehrssystem auf die doch das Problem!) spezifischen Stärken eines jeden einzelnen Verkehrsträ- gers. Ich finde vielmehr, Herr Beckmeyer, Ihr Antrag ist eine Ansammlung von verkehrspolitischen Phrasen und Wi- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Und führen die Pkw- dersprüchen. Maut ein!) (Beifall bei der LINKEN) Die Vielfalt der Mobilität ist unser Leitprinzip. Zur Viel- Sie schreiben, die CO falt der Mobilität gehört, dass wir innovative Verkehrs- 2-Belastung habe, bedingt durch konzepte fördern und neue Mobilitätsoptionen schaffen. den Autoverkehr, seit 1990 zugenommen. Hier von er- folgreicher Verkehrspolitik zu sprechen, das geht nun (Gustav Herzog [SPD]: Da sind wir gespannt!) wirklich nicht. Elektrofahrzeuge, Carsharing und öffentliche Fahrrad- Mobilität habe ihren Preis, heißt es an anderer Stelle verleihsysteme sind die Stichworte, mit denen wir uns in Ihrem Antrag. Dazu gehöre Verkehrslärm, Luftver- jetzt beschäftigen. Das wollen wir voranbringen. schmutzung und Flächenverbrauch. Sie führen aber auch an, dass im Straßenverkehr in Deutschland jährlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 4 000 Menschen getötet und 70 000 schwer verletzt wer- neten der FDP und der SPD) den. Das ist eine Bilanz. Das ist aber keine Bilanz einer erfolgreichen Verkehrspolitik, sondern, im Gegenteil, In vielfältigen Initiativen wie dem Nationalen Ent- die Bilanz einer erfolglosen und kontraproduktiven Ver- wicklungsplan Elektromobilität oder dem Nationalen In- kehrspolitik. novationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellen- technologie wirkt die Bundesregierung aktiv an der (Beifall bei der LINKEN – Uwe Beckmeyer (B) (D) zukünftigen Verkehrsgestaltung mit. Die Verkehrspolitik [SPD]: Da merkt man wieder, dass Sie sich mit der Koalition ist modern, nachhaltig, vielfältig und diesem Thema noch nicht intensiv beschäftigt orientiert sich an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und haben!) Bürger. Wir arbeiten mit aller Kraft daran, die Verkehrs- Das ist auf jeden Fall kein erfolgreicher Ansatz. politik für Deutschland und Europa optimal zu gestalten. Sie sind aufgefordert, sich aktiv daran zu beteiligen. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist ja Hohn, was Sie erzählen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) – Wenn Sie sagen, dass das Hohn ist, sollten Sie Ihren eigenen Antrag lesen. Das steht nämlich so in diesem Antrag drin. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie wissen doch, von Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege welchen Zahlen bei den Verkehrstoten wir Herbert Behrens. kommen? Das ist unglaublich!) (Beifall bei der LINKEN) Sie machen in Ihrem Antrag Ausführungen zur sozia- len Dimension der Verkehrspolitik. Doch auch hier ma- Herbert Behrens (DIE LINKE): chen Sie keine konkreten Lösungsvorschläge. Sie blei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ben bei der Beschreibung und vermeiden beispielsweise Wir hörten eben einen Bericht der Großen Koalition, die die Aussage, dass ärmere Menschen durch Fahrpreiser- ihre vierjährige gemeinsame Verkehrspolitik kurz hat höhungen beim ÖPNV ausgeschlossen werden. Sie kön- Revue passieren lassen. Ich meine, diese müsste man nen nicht spontan eine Fahrt unternehmen und haben noch ein bisschen genauer unter die Lupe nehmen. In Schwierigkeiten, mit dem öffentlichen Personennahver- dem Antrag der SPD geht es darum, dass der erfolgrei- kehr zu ihrer schlecht bezahlten Arbeitsstelle zu kom- che Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fortentwi- men. Wenn Sie das jetzt so sehen, frage ich mich: Wa- ckelt werden soll. Das setzt erstens voraus, dass es die- rum haben Sie unseren Anträgen, beispielsweise zur sen erfolgreichen Ansatz gibt, Einführung einer Sozial-Bahncard, nicht zugestimmt? (Beifall bei der LINKEN) (Beifall des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Gustav Herzog Sie haben es auch abgelehnt, Sozialticketinitiativen vor [SPD]: Den hat es gegeben!) Ort zu unterstützen. Immer dann, wenn es konkret wird, 3224 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Herbert Behrens (A) entziehen Sie sich der Verantwortung. Das werden wir Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) nicht akzeptieren. Nächster Redner ist der Kollege Werner Simmling für (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist alles Schwät- die FDP-Fraktion. zerei, was Sie erzählen!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Herr Kollege Beckmeyer, da Sie gerade „Schwätzerei“ gesagt haben, Werner Simmling (FDP): (Uwe Beckmeyer [SPD]: Ja! Mehr kann ich Verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen dazu nicht sagen!) und Kollegen! In den vorliegenden Anträgen geht es da- rum, wie ein Industrieland wie Deutschland seine wirt- nenne ich Ihnen einige Beispiele. Ein Vorschlag, den wir schaftliche und gesellschaftspolitische Zukunft im Be- eingebracht haben, um für mehr Verkehrssicherheit zu reich der integrierten Mobilität gestalten kann: mit sorgen und den CO2-Ausstoß zu reduzieren, ist die Ein- Friktionen oder ohne Friktionen. Auf die vielen Selbst- führung eines Tempolimits von 130 Stundenkilometern verständlichkeiten, die Sie in den vorliegenden Anträgen auf deutschen Autobahnen. formuliert haben, möchte ich jetzt gar nicht eingehen. Diesen Antrag haben wir vor zweieinhalb Jahren ein- Mobilität hat in unserer Gesellschaft eine Schlüsselfunk- gebracht. Sie haben ihn abgelehnt, obwohl der Parteitag tion – das wurde vorhin schon gesagt –: Sie schafft die der SPD nur zwei Wochen zuvor festgestellt hat: Wir Voraussetzungen für Beschäftigung, Wohlstand und per- brauchen ein Tempolimit, und die Bundestagsfraktion sönliche Freiheit. soll diese Forderung aufgreifen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie waren noch nie der CDU/CSU) in einer Koalition! Ich merke schon: Politisch Das soll nach unserem Willen auch in Zukunft so sein. erfahren sind Sie nicht!) Uns geht es darum, langfristig für jedermann – das be- Ein weiteres Beispiel ist die Umstellung der Kfz- tone ich ausdrücklich – eine umweltfreundliche und inte- Steuer hin zu einer Bemessung nach dem CO2-Ausstoß. grierte Mobilität zu ermöglichen. Auch diese Forderung haben Sie nicht vernünftig umge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) setzt. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Ja, ja! Reden Sie Wo es sinnvoll ist, wollen wir die Verlagerung von nur!) der Straße auf die Schiene fördern. (B) Im Gegenteil, Ihr damaliger Umweltminister Sigmar (Uwe Beckmeyer [SPD]: Da bin ich mal ge- (D) Gabriel hat diese Umstellung blockiert. Umweltver- spannt!) bände haben ihn deshalb schon damals als Autominister Gleichzeitig müssen wir den Verkehrssektor auf den Ab- bezeichnet; ich meine, zu Recht. schied vom Zeitalter der fossilen Energien vorbereiten. (Beifall bei der LINKEN – Uwe Beckmeyer Zur kurzfristigen Verbesserung der Klimabilanz werden [SPD]: Arbeiten Sie sich nur weiter an den So- wir die Optimierung von fossilen Antriebstechnologien zialdemokraten ab! Dann haben Sie Ihren ge- verstärken. An dieser Stelle können wir noch sehr sellschaftlichen Auftrag erfüllt! Machen Sie schnell Einsparungen von bis zu 30 Prozent realisieren, nur weiter so!) und zwar ohne Einbußen bei Komfort, Sicherheit und Benutzerfreundlichkeit. Es wurde schon erwähnt: Sie hatten als Regierungs- partei elf Jahre Zeit, vier davon in der Großen Koalition. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie haben es aber nicht geschafft, die Konzepte, die Sie der CDU/CSU) heute fordern, umzusetzen. Parallel dazu wollen wir hin zur Elektromobilität. Die (Beifall bei der LINKEN) Weichen für diesen Strategiewechsel stellen wir jetzt. Jetzt wollen Sie Ihre Versäumnisse erneut auf die Ta- Wir wollen Deutschland zu einem Leitmarkt und Leitan- gesordnung setzen. Sie bringen einen Antrag ein, in dem bieter für Elektromobilität machen. Bis zum Jahr 2020 Sie formulieren, was Sie in den vergangenen elf Jahren wollen wir 1 Million Elektrofahrzeuge auf die Straßen nicht durchsetzen konnten. So darf man mit innovativen bringen. Das ist eine Anstrengung bzw. ein Versuch – je Verkehrskonzepten nicht umgehen. Ich denke, mit die- nachdem, wie Sie wollen – in einer Größenordnung, die sem Antrag tun Sie sich selbst keinen Gefallen. es in Deutschland bisher noch nicht gegeben hat. (Gustav Herzog [SPD]: Mit dieser Rede tun Wir handeln schnell. Sie der Sache keinen Gefallen!) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Was?) Sie müssen konkreter werden. Denn integrierte Ver- Aber wir werden uns trotzdem die nötige Zeit nehmen, kehrspolitik ist eigentlich intelligente Verkehrspolitik, um diesen Paradigmenwechsel einzuleiten. und die erwarten wir von Ihnen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Vielen Dank. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Immer al- (Beifall bei der LINKEN) les auf einmal: schnell und langsam!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3225

Werner Simmling (A) Dieser Strategiewechsel hat Konsequenzen. Er bedeu- Die hier zur Debatte stehenden Anträge vom Bünd- (C) tet nicht nur völlig neuartige Mobilitätssysteme, sondern nis 90/Die Grünen und von der SPD beinhalten leider auch eine vollkommen neue Wirtschaftsstruktur, und Eingriffe in den Markt und setzen nicht nur Rahmenda- zwar weltweit; das muss Ihnen einmal klar werden. Die- ten. Sie geben keine zukunftsfähigen Antworten im Hin- ser Systemwechsel muss zukunftsfest sein. Die Stabilität blick auf die vor uns liegenden Herausforderungen, unserer Wirtschaft darf dabei zu keinem Zeitpunkt in (Gustav Herzog [SPD]: Sie haben die Anträge Gefahr geraten. doch gar nicht gelesen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sondern wiederholen nur Altbekanntes. Es wurde vorher der CDU/CSU) bereits auf Verkehrstote und anderes eingegangen. Das Wenn er zum Erfolg führen soll, müssen wir in die- wissen wir alles. Heute schon über finanzielle Anreize sem Prozess alle Beteiligten rechtzeitig mitnehmen, um beim Kauf oder die Größe von Kraftfahrzeugen zu spe- die Zukunft verantwortungsvoll gestalten zu können. kulieren, ist absolut verfrüht. Dabei sollen aber nicht ein Strukturbruch in Wirtschaft Der Elektrogipfel am 3. Mai 2010 wird ein wichtiger und Gesellschaft mit vielen Tausenden Arbeitslosen oder Meilenstein ein Zusammenbruch von unzähligen mittelständischen Unternehmen riskiert werden. Das gilt besonders für die (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ein Automobilindustrie und die Zulieferer, die derzeit Kurzschluss! Sind Sie sicher, dass das ein 750 000 Menschen einen Arbeitsplatz bieten. Es gilt, Elektrogipfel ist?) diese Arbeitsplätze zu erhalten und sogar noch auszu- bauen. unserer durchdachten, verantwortungsvollen und damit überzeugenden Strategie auf dem Weg zur Zukunft der Unter Berücksichtigung des eben Gesagten ist die Elektromobilität sein. Sie können sich gerne daran betei- Strategie der christlich-liberalen Koalition nur folgerich- ligen und den Erfolg dann mit uns gemeinsam feiern. tig. In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerk- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Schwarz-Gelb heißt samkeit. das!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Am 3. Mai 2010 wird im Kanzleramt ein Elektrogipfel Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war stattfinden, der gleichzeitig den Startschuss für die natio- jetzt ein Kurzschluss!) nale Plattform zukünftiger Elektromobilität darstellt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (D) Christian Lange [Backnang] [SPD]: Einen Das Wort hat die Kollegin Dr. Valerie Wilms für die Elektrogipfel haben Sie! Auch nicht schlecht! – Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gustav Herzog [SPD]: Passen Sie lieber auf, dass es keinen Kurzschluss gibt!) Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Elektromobilität ist für uns das Zukunftsthema. Es ist Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- eine nationale Herausforderung. Wir brauchen dazu un- gen! Zu dem Antrag der SPD ist fast alles gesagt wor- sere besten Wissenschaftler und Forscher. Wir brauchen den; dem brauche ich eigentlich nichts hinzuzufügen. ein enges Zusammenspiel zwischen Wirtschaft, Wissen- Von einer Partei, die elf Jahre die für die Verkehrspolitik schaft und Politik. Unser Ziel muss es sein, unseren Bür- verantwortlichen Minister gestellt hat, muss mehr kom- gerinnen und Bürgern in der Zukunft ein integriertes men, als nach dem großen Gesamtentwurf zu verlangen. Mobilitätsangebot zu unterbreiten, welches ihren Anfor- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- derungen und Wünschen gerecht wird und ihnen die SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der freie Entscheidung lässt. FDP und der LINKEN – Uwe Beckmeyer (Kirsten Lühmann [SPD]: Das steht in unse- [SPD]: Haben Sie sonst noch etwas zu bieten?) rem Antrag!) Die Menschen in unserem Land wollen Antworten, sie wollen von uns ganz konkret wissen, mit welchen Das zukünftige Mobilitätsangebot muss mehr bieten. Vorschlägen wir unser Land voranbringen wollen, zum Es muss umweltfreundlicher, sicherer und komfortabler Beispiel bei dem wichtigen Zukunftsthema Elektromobi- sein als heutige Lösungen. Dabei muss es für alle be- lität. zahlbar und jederzeit verfügbar sein. (Gustav Herzog [SPD]: Da bin ich gespannt!) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Richtig! Das haben Sie gut abgelesen!) Noch enttäuschender als der Antrag der SPD ist nur die Regierung: Sie macht ihre Arbeit schlecht. – Schön, dass Sie mir da zustimmen. – Der Fortschritt muss sichtbar werden. Nur dann werden wir weltweit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – weiter an der Spitze bleiben und den gewünschten Erfolg Zuruf von der FDP: Sie haben so gut angefan- haben. Ein führendes Industrieland wie Deutschland lebt gen!) eben nun einmal von seinen technischen Innovationen. Erinnert sei nur an das Gutachten der Expertenkommis- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Richtig!) sion „Forschung und Innovation“. Es besagt ganz deut- 3226 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Valerie Wilms (A) lich: Deutschland ist kein Leitmarkt für Elektromobilität. Auf eines will ich explizit hinweisen: Das alles ist nur (C) Jetzt bestätigt Ihnen auch noch der Bundesrechnungshof sinnvoll, wenn erneuerbare Energien zum Einsatz kom- – Sie bekommen es schriftlich –: Die vorhandenen Mit- men. tel für Elektromobilität werden „zu langsam, zu bürokra- tisch und zu unkoordiniert“ eingesetzt. Das kennen wir Unser Antrag zeigt deutlich, an welchen Stellschrau- schon von der Hotelbesteuerung: Eine schlechte Idee ben wir drehen müssen, um einer Zukunftstechnologie wurde auch noch bürokratisch umgesetzt. zum Durchbruch zu verhelfen. Hier werden nicht – wie bei der Abwrackprämie – für veraltete und umwelt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schädliche Ideen Milliarden verplempert, sondern Öko- nomie und Ökologie sinnvoll verbunden. Die Bundesre- Ist das der Maßstab der neuen Regierung? gierung hat eine nationale Plattform für Elektromobilität bisher nur angekündigt. Geschehen ist nichts. Wir for- Wir Grüne halten dagegen: Mit unserem Antrag zur dern Sie auf, endlich zu handeln und breite gesellschaft- Elektromobilität zeigen wir, dass Politik aus einem Guss liche Gruppen einzubeziehen; möglich ist. Vier Punkte sind für uns entscheidend: Ers- tens sorgen wir langfristig dafür, dass der CO2-Ausstoß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Verkehrs endlich reduziert wird. Bislang kennt der der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) Verkehr nur eine Steigerung des Ausstoßes klimaschäd- licher Gase. Zweitens können wir Deutschland auf ei- denn eines ist doch klar: Nur mit einem breiten Bündnis nem wichtigen Zukunftsmarkt nach vorne bringen und ist der Rückstand aufzuholen, und die Zukunft des Ver- dafür sorgen, dass wir bei Forschung und Entwicklung kehrs ist grün. nicht den Anschluss verlieren. Mit einem umfassenden Vielen Dank. Forschungs- und Entwicklungsprogramm wollen wir den technologischen Rückstand aufholen. Drittens (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – schaffen wir die Voraussetzungen für eine neue Mobili- Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt ist tät, die unabhängig von den zur Neige gehenden fossilen die Ampel aber auf Rot geschaltet!) Ressourcen ist. Viertens können wir mit intelligenten Systemen zur Stabilität des Stromnetzes beitragen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Steffen Bilger für die CDU/CSU-Fraktion. SES 90/DIE GRÜNEN – Uwe Beckmeyer [SPD]: Was ist daran neu?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (B) Klar ist jedoch: Von allein wird hier wenig passieren. (D) Wenn wir jetzt untätig bleiben, werden Elektrofahrzeuge in Deutschland wie in den letzten 20 Jahren neugierig Steffen Bilger (CDU/CSU): bestaunte Prototypen auf Automobilmessen bleiben. Es Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wäre der absolut falsche Weg, wenn wir bei dieser An- Die Antriebsart für den motorisierten Individualverkehr kündigungspolitik blieben. Die Menschen würden sich der Zukunft ist der Elektromotor. In dieser Form der von der Politik immer mehr abwenden, und die Arbeits- Fortbewegung stecken viele Chancen für die Lebensqua- plätze würden dorthin abwandern, wo heute Milliarden lität der Bevölkerung, für die deutsche Wirtschaft und in die Elektromobilität fließen: nach China, Korea und insbesondere auch für die Umwelt. Japan. Das kann nicht in unserem Interesse sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit der Nutzung von erneuerbaren Energien für die sowie bei Abgeordneten der SPD) Elektromobilität – und hierfür stehen wir als Union – werden Luftverschmutzung, Lärmbelastung, CO2-Emis- Deswegen müssen wir heute investieren. Mit einem sionen, Treibstoffkosten und die Abhängigkeit vom Öl Marktanreizprogramm wollen wir besonders saubere verringert. Fahrzeuge wie Elektromobile oder Plug-in-Hybride mit einer Barprämie von 5 000 Euro fördern, und zwar kos- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tenneutral; wir müssen nur die Kfz-Steuer endlich refor- mieren und zu einem Bonus-Malus-System umgestalten. Das Thema Elektromobilität ist eines der großen Zu- kunftsthemen, wie auch heute Morgen im Plenum in Be- Werte Kolleginnen und Kollegen, im postfossilen zug auf die europäische Agenda 2020 noch einmal ver- Zeitalter wird sich unsere Mobilität ändern. Es wird da- deutlicht wurde. Weil die Elektromobilität so viele rauf ankommen, die Stärken der einzelnen Verkehrsträ- Chancen bietet, dürfen wir dieses Thema nicht verschla- ger aufeinander abzustimmen. Elektromobilität bedeutet fen, und das tun wir auch nicht. nicht einfach ein paar neue Autos mit anderem Antrieb, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Elektromobilität muss in ein umfassendes grünes Mobi- litätskonzept integriert sein. Müssen wir denn immer alle Die Bundesregierung hat mit ihrem Nationalen Ent- Strecken mit dem eigenen Auto fahren? Die junge Gene- wicklungsplan Elektromobilität und mit ihrem klaren ration macht es uns vor, Sie ist nicht mehr so autofixiert: Bekenntnis im Koalitionsvertrag die Weichen gestellt. Die Bahn für die Langstrecke, ÖPNV oder Carsharing Kollege Simmling hat darauf hingewiesen: Deutschland vor Ort. soll Leitmarkt für Elektromobilität werden. – Es ist rich- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3227

Steffen Bilger (A) tig, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Elektromo- (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) bilität zur Chefsache erklärt hat. NEN]: Aber die Abwrackprämie war es!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zumal derzeit nicht erkennbar ist, dass die Prämie den deutschen Unternehmen zugutekommen würde. Viel Dass im Grünen-Antrag ausdrücklich ein Programm sinnvoller wäre beispielsweise eine direkte Förderung „Anwendbare nächste Generation von Energiespeichern bei Taxis, Fahrzeugen des öffentlichen Personennahver- und Leistungselektronik in Automobilen“ – kurz: kehrs, Carsharing-Wagen, öffentlichen Fuhrparks oder ANGELA – gefordert wird, habe ich durchaus erfreut bei Kurierdiensten im Innenstadtbereich, zur Kenntnis genommen. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sehr guter Vorschlag!) Dadurch wird doch unterstrichen, dass auch die Grünen sobald eben die nötigen Kapazitäten vorhanden sind. das Engagement der Bundeskanzlerin anerkennen. Am 3. Mai 2010 findet jedenfalls der Kanzlergipfel zur Elek- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tromobilität statt. Wir begrüßen diese Initiative der Bun- desregierung ausdrücklich. Investiertes Geld ist besser in Forschung und Ent- wicklung angelegt. Hier gilt es, besonders die Spei- Wenn ich mir den SPD-Antrag anschaue, dann muss ich chertechnologie und Batterieproduktion weiter voran- schon sagen: Die Bedeutung des Themas Elektromobili- zutreiben. Wir müssen hier an die Weltmarktspitze tät ist zwar unbestritten – alle reden davon –, nichtsdes- aufschließen. totrotz kommt die Elektromobilität in Ihrem Antrag we- Jetzt aber bereiten wir uns auf den Kanzlergipfel am der inhaltlich noch vom Wort her vor; Frau Dr. Wilms 3. Mai vor und warten seine Ergebnisse ab. Nach dem hat bereits darauf hingewiesen. Gipfel müssen und werden wir die Diskussion im Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie kehrsausschuss und im Parlament weiterführen. des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE] – Uwe Vielen Dank. Beckmeyer [SPD]: Wir haben gestern eine Pressekonferenz dazu durchgeführt, Herr Kol- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lege!) Dabei geht es Ihnen doch angeblich um nachhaltige Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (B) (D) Mobilität. Dass Nachhaltigkeit gerade bei der Mobilität Herr Kollege Bilger, das war Ihre erste Rede im Deut- wichtig ist, wird hier im Hause wahrscheinlich keiner schen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und bestreiten. Wer von Nachhaltigkeit in der Verkehrspoli- wünsche Ihnen weiterhin viel Freude und Erfolg. tik spricht, der darf die Elektromobilität nicht verschwei- gen. Wir als Union reden über beides und handeln auch. (Beifall) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich schließe die Aussprache. Weil wir nachhaltige Mobilität wollen, haben wir im Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Koalitionsvertrag mit der FDP festgelegt, ein umfassen- den Drucksachen 17/1060 und 17/1164 an die in der Ta- des Entwicklungsprogramm aufzustellen. Außerdem gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. haben wir das Ziel, bis zum Jahr 2020 1 Million Elektro- Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der fahrzeuge auf die Straßen zu bringen. Ein zukunftswei- Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. sendes, ganzheitliches Verkehrskonzept steht ebenfalls Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf dem Programm, von der Weiterentwicklung der auf: Brennstoffzelle und der Wasserstofftechnologie und vom Aufbau eines Ladestellennetzes für Elektrofahrzeuge in a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ballungsräumen ganz zu schweigen. richts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP neten der FDP) Menschenrechte weltweit schützen Dabei ist unser Ziel von 1 Million Elektrofahrzeugen auf deutschen Straßen bis 2020 bereits ambitioniert. – Drucksachen 17/257, 17/1135 – Eine glatte Verdopplung auf 2 Millionen, wie es die Grü- nen in ihrem Antrag fordern, ist nach allem, was uns Ex- Berichterstattung: perten sagen, unrealistisch und lehnen wir daher ab. Abgeordnete Ute Granold Christoph Strässer Auch die Grünen-Forderung der direkten Marktan- Marina Schuster reize durch eine 5 000-Euro-Barprämie beim Kauf eines Elektroautos ist für uns nicht tragbar, Volker Beck (Köln) 3228 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kommen wir nun zu den Anträgen. Zur Bewertung (C) Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), der Anträge der Opposition ist zu sagen, dass der EU- Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ministerrat Leitlinien zum Schutz von Menschenrechts- tion der SPD verteidigern verabschiedet hat, um das langfristige Han- deln der EU gegenüber Drittstaaten zu verbessern. Die Menschenrechtsverteidiger brauchen den von Deutschland nachdrücklich unterstützten Leitlinien Schutz der Europäischen Union sehen zum Beispiel den Aufbau und die Pflege systema- – Drucksache 17/1048 – tischer Kontakte zu Menschenrechtsverteidigern durch Überweisungsvorschlag: die EU-Auslandsvertretungen vor. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Deutschland setzte sich während der Dauer der deut- Innenausschuss schen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und für die konsequente Umsetzung der Leitlinien zu Men- Entwicklung schenrechtsverteidigern ein und ergriff die Initiative zur Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union weltweiten Erarbeitung lokaler Implementierungsstrate- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker gien der EU. Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter Die derzeitige Bundesregierung fördert die Arbeit und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Menschenrechtsverteidigern weltweit nach Kräften. Sie setzt sich insbesondere für ihren verbesserten Schutz Mehr Schutz für Menschenrechtsverteidige- und die umfassende Anerkennung ihrer Tätigkeit im rinnen und Menschenrechtsverteidiger menschenrechtlichen Sinne ein. Die christlich-liberale – Drucksache 17/1165 – Koalition ist sich dessen bewusst, dass ohne das mutige Wirken von Menschenrechtsverteidigern die weltweite Überweisungsvorschlag: konsequente Durchsetzung der Menschenrechte undenk- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss bar wäre. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag Die Unterstützung der Arbeit von Menschenrechtsvertei- der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP liegen sechs digern stellt daher auch einen Schwerpunkt der Projekt- Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen förderung des Auswärtigen Amtes im Bereich der Men- vor. schenrechte dar. (B) (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Insgesamt ist zu konstatieren, dass die meisten Forde- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, rungen in dem SPD-Antrag als überflüssig gelten kön- auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so nen, da sie bereits Bestandteil der Leitlinien der aktuel- verfahren. len Bundesregierung sind und, insbesondere was die Forderung in Punkt 7 des SPD-Antrages angeht, durch Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- unseren Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“ ab- ner dem Kollegen Serkan Tören für die Fraktion der gedeckt werden. FDP das Wort. (Christoph Strässer [SPD]: Eben nicht!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir lehnen daher die Anträge der Opposition ab. Serkan Tören (FDP): Ich bitte hier im Hohen Hause um Zustimmung zu un- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und serem Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“. Die Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, wie christlich-liberale Koalition hat einen sehr ausgewoge- sehr ich mich über die Ernennung von Markus Löning nen und in sich stimmigen Antrag eingebracht. Punkt für zum neuen Beauftragten der Bundesregierung für Men- Punkt werden in diesem Antrag Vorgaben aus dem Ko- schenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe freue. Gerade alitionsvertrag umgesetzt. Für uns als FDP ist klar, dass für meine Kollegen war Markus Löning immer ein sehr alle Menschen schon allein aufgrund ihres „Mensch- geschätzter Parlamentarier in persönlicher wie fachlicher seins“ die gleichen universellen, unveräußerlichen und Hinsicht. unteilbaren Grundrechte besitzen. Nicht zuletzt steht die (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zuruf Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik Deutschland in di- von der FDP: Eine sehr gute Wahl ist das! – rektem Zusammenhang mit dem konsequenten Eintreten Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für die Menschenrechte in der Innen- und Außenpolitik. NEN]: Wieso ist er eigentlich kein Bundes- tagsabgeordneter geworden?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Deshalb habe ich auch „war“ gesagt, Herr Beck. Kon- Auch setzen wir uns für die weltweite Abschaffung zentrieren Sie sich doch bitte! der Todesstrafe sowie für das absolute Folterverbot ein. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Genau das hat er gemacht!) NEN]: Das ist jetzt aber mutig!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3229

Serkan Tören (A) Regime, die ihre Bürger steinigen und ihren Kindern den Maßnahmen und fordern die rückhaltlose Aufklä- (C) Bildung verweigern, die das Internet zensieren und Jour- rung der Geschehnisse um den tragischen Tod. nalisten ermorden lassen und die Glaubensfreiheit mit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Füßen treten, müssen unseren Druck spüren. All dies ist der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) in unserem Antrag eindrucksvoll dargelegt und wird das Fundament unserer Menschenrechtspolitik für die nächs- – Dass Sie das stört, ist mir klar. ten vier Jahre sein. Ferner sind wir tief besorgt über den körperlichen Lassen Sie mich abschließend auf zwei konkrete Bei- Zustand des unabhängigen kubanischen Journalisten spiele eingehen, die die Wichtigkeit unseres Antrages Guillermo Fariñas, den wir als FDP in seiner Forderung, „Menschenrechte weltweit schützen“ noch einmal doku- alle kranken politischen Häftlinge aus kubanischen Ge- mentieren, nämlich zum einen die Menschenrechtslage fängnissen freizulassen, ausdrücklich unterstützen. Wir im und zum anderen die Menschenrechtslage in gehen sogar noch einen Schritt weiter und fordern von Kuba. Deutschland und seine Partner stehen hinsichtlich der Republik Kuba, alle politischen Gefangenen unver- des Irans vor der doppelten Herausforderung, einerseits züglich und bedingungslos freizulassen. eine konstruktive Lösung im Streit um das iranische Nu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten klearprogramm zu finden und gleichzeitig einen Beitrag der CDU/CSU) zur Verbesserung der Menschenrechtslage im Iran zu leisten. Ich möchte die kubanische Regierung mit Nachdruck da- ran erinnern, dass die Inhaftierung von politischen Geg- Mit wachsender Sorge verfolgen wir als FDP die Ent- nern sowie die Vorenthaltung von deren medizinischer wicklungen der letzten Wochen und Monate im Iran. Ich Versorgung schwerwiegende Menschenrechtsverstöße möchte ausdrücklich die schweren Menschenrechtsver- sind, die die politische Glaubwürdigkeit der Republik letzungen im Iran scharf verurteilen. Die blutige Nieder- Kuba schwer erschüttern. schlagung von Demonstrationen, die Unterdrückung von Meinungen und die unerträgliche Missachtung weiterer Lassen Sie Fariñas nicht dasselbe Schicksal erleiden elementarer Menschenrechte können und dürfen wir wie Tamayo und beenden Sie die menschenrechtswid- nicht ignorieren. rige Inhaftierung von politischen Oppositionellen! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Auch vor dem Hintergrund des iranischen Nuklear- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (B) programms muss die internationale Gemeinschaft ein Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer (D) deutliches Signal an Teheran senden. Dabei wird ent- für die SPD-Fraktion. scheidend sein, dass sich Sanktionen nicht gegen die Be- (Beifall bei der SPD) völkerung, sondern gezielt gegen die das Regime tragen- den Kräfte richten. Christoph Strässer (SPD): (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! GRÜNEN]: Was ist mit den Außenwirtschafts- An einer Stelle schließe ich mich Ihren Ausführungen beziehungen zum Iran?) an, Herr Tören. Es bleibt zu hoffen, dass die iranische Regierung bald (Zuruf von der FDP: Sie können sich ganz an- erkennt, dass sie durch ihre provokative Außenpolitik schließen! – Erika Steinbach [CDU/CSU]: Nur nicht von ihrer Unfähigkeit, die materiellen und freiheit- an einer Stelle?) lichen Bedürfnisse ihrer Bevölkerung zu befriedigen, ab- – Ja, schon das ist eigentlich übertrieben, aber ich mache lenken kann. Der Mut der Opposition in den Monaten es trotzdem. – Dem Glückwunsch an den neuen Men- seit der Präsidentschaftswahl hat gezeigt, dass der Wille schenrechtsbeauftragten schließe ich mich ausdrücklich zur Veränderung ungebrochen ist. Die Menschen im Iran an. Ich weiß zwar noch nicht, welche Politik er in die- sollten wissen: Wir sind fest an ihrer Seite. sem Bereich verfolgen wird, weil ich bisher noch nichts Auch in Kuba ist die Menschenrechtslage mehr als von ihm dazu gehört habe, aber das muss nicht schlecht prekär. Als FDP-Bundestagsfraktion möchten wir unsere sein. Wir würden uns jedenfalls freuen, wenn es zu einer Bestürzung über die Nachricht vom Tod des kubanischen guten und konstruktiven Zusammenarbeit kommen Menschenrechtsaktivisten Orlando Zapata Tamayo zum würde. Ausdruck bringen. Als Mitglied der Oppositionsgruppe (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Republikanische Alternative starb Zapata Tamayo nach SES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU – 85-tägiger Leidenszeit aufgrund eines Hungerstreiks in Dr. Rainer Stinner [FDP]: Und Kuba?) einem kubanischen Gefängnis. Allem anderen, was Sie gesagt haben, Herr Kollege, Die Vorstellung, dass Herrn Tamayo vorsätzlich zu muss ich ernsthaft widersprechen, zumindest Ihrer Aus- lange ärztliche Hilfe vorenthalten wurde, ist unerträg- sage, Sie hätten einen guten Menschenrechtsantrag vor- lich. Als FDP protestieren wir ausdrücklich gegen diese gelegt, mit dem Sie etwas umgesetzt hätten, das Sie ir- menschenverachtende Unterlassung von lebenserhalten- gendwo anders niedergeschrieben haben. 3230 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Christoph Strässer (A) Das, was ich in Ihrem Antrag lese, ähnelt Ihrem Ko- kation mit einem ausländischen Staat zur Anstachelung (C) alitionsvertrag: erstens nichts Neues, zweitens alte Ka- eines Angriffs auf Syrien“ und wegen Verleumdung ei- mellen, und drittens wird nichts umgesetzt. nes Staatsoberhauptes verurteilt. Herr Labwani sitzt seit 2005 im Adra-Gefängnis in Damaskus im Flügel Nr. 5; (Beifall bei der SPD und der LINKEN) auch er ist unter Menschenrechtlern bekannt, weil dort Umgesetzt wird gar nichts. Er enthält eine Reihe von die Gewaltkriminellen sitzen, weil dort gefoltert wird massiven Ankündigungen, aber damit ist es auch gut. Ich und weil dort medizinische Behandlung für die Gefan- werde noch auf einzelne Punkte eingehen. Denn in Ihrer gen nicht stattfindet. Überschrift über diesem Antrag fehlt ein entscheidender Ich nenne Anwar el-Bunni; ihn kennen Sie wahr- Satz. Der Titel lautet „Menschenrechte weltweit schüt- scheinlich auch. Er hat im Dezember 2009 den Men- zen“, und wenn man Ihren Antrag weiterliest, dann wird schenrechtspreis des Deutschen Richterbundes verliehen klar: aber nicht in Deutschland. bekommen. Er ist seit 2007 inhaftiert. Der Vorwurf: Ver- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Serkan breitung staatsgefährdender Falschinformationen. Seine Tören [FDP]: Da sind wir gespannt!) Tat: Anprangerung systematischer Folter in syrischen Gefängnissen. – Ja, darauf können Sie gespannt sein. Das ist jetzt der Übergang zu dem, was aus meiner Auch wir haben einen Antrag vorgelegt. Sie haben Sicht in Ihrem Antrag fehlt: die komplette innenpoliti- völlig recht. Der Antrag ist gut, und er ist richtig. Wir ha- schen Dimension der Menschenrechtsfrage. Deshalb ben ihn deshalb formuliert, weil Sie bei Ihren Ausfüh- habe ich Syrien genannt. Wir haben ja nun mit großer rungen etwas vergessen haben, nämlich dass es eine spa- Verbitterung und Empörung vernommen, dass das, was nische EU-Ratspräsidentschaft gibt, die festgestellt hat, Ihre Bundesregierung im Dezember noch für richtig be- dass das, was die EU-Richtlinie zu diesem Thema um- funden hat, nämlich die Aussetzung des Rückführungs- fasst, nicht ausreicht. Sie hat dafür eine Kommission ein- abkommens mit Syrien, jetzt wieder eingeführt worden gesetzt. COHOM hat die Arbeit bereits aufgenommen. ist. Meine Damen und Herren, ich kenne die Argumente Die aktuellen Schlussfolgerungen des Rates zur Än- mit Einzelfallprüfung und allem, was damit zusammen- derung der EU-Richtlinie über Menschenrechtsverteidi- hängt. Aber wenn selbst die Bundesregierung, wenn ger enthalten 64 Empfehlungen. Die Schlüsselrolle bei selbst der Innenminister, wenn ein Völkerrechtler wie diesen Empfehlungen spielen Punkte, die gerade auch in Herr Tomuschat bei der Verleihung des Preises an Herrn Deutschland in den Umsetzungsrichtlinien noch nicht al-Bunni sagt, Syrien sei ein Folterstaat, dann kann ich ausreichend verwirklicht worden sind. Sie enthalten zum doch bitte schön nur darauf hinweisen, dass es der Men- Beispiel so etwas wie Koordinierungsstellen oder Kon- schenwürde widerspricht, wenn man in einen solchen (B) (D) taktstellen in allen EU-Botschaften, in den Botschaften Staat, in dem systematisch gefoltert wird, Menschen zu- aller Länder. Da geht es nicht, wie Sie es ganz verschämt rückführt. in Punkt 17 Ihres Antrags schreiben, darum, dass es da (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gute Beziehungen gibt, dass man das unterschreibt und DIE GRÜNEN) gegebenenfalls unter den Bedingungen des Ausländer- rechtes auch bedrohten Menschenrechtsverteidigern Zu- Das heißt aus meiner Sicht völlig klar und eindeutig: In gang zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland diesem Fall geht es nicht um Einzelfallprüfung, sondern gewährt. Dies, meine Damen und Herren, liebe Kolle- in diesem Fall geht es um das Verbot der Rückführung in ginnen und Kollegen, ist pure Ankündigungspolitik. Das einen solchen Staat. – Das ist ein Punkt, um den wir uns hat noch nicht einmal etwas mit den Richtlinien der zu kümmern haben. OSZE zu tun, sondern das ist schlicht und ergreifend viel Ein zweiter Punkt ist dann, wie ich finde, schon eine zu wenig und entspricht nicht dem Stand in vielen ande- sehr bemerkenswerte Geschichte: An keiner Stelle des ren EU-Ländern, die uns in diesem Bereich etwas vor- Antrags „Menschenrechte weltweit schützen“ befassen machen. Sie sich mit der Situation von Flüchtlingen, an keiner (Beifall bei der SPD) Stelle! Ich kann Ihnen nur sagen – wir haben das in unse- rem Ausschuss und in anderen Ausschüssen massiv dis- Noch zwei Anmerkungen zu den Menschenrechtsver- kutiert –: Was an den Grenzen der Europäischen Union teidigern, die mir wichtig sind und die mich dann auch mit Unterstützung der Bundesregierung abläuft, ist ein dazu bringen, noch einmal zu Ihrem Antrag Stellung zu menschenrechtlicher Skandal. Diesen Skandal in einem nehmen: Ich will jetzt gar nicht abstrakt darüber reden, solchen Antrag nicht zu benennen, ist ein weiterer Skan- was in den entsprechenden Beschlüssen der VN-Gene- dal. Diesen Skandal werden wir auch immer und immer ralversammlung von 1998 steht, sondern nur einmal wieder benennen. zwei Namen nennen, die Menschenrechtsverteidiger im Moment aktuell betreffen und auch bei uns diskutiert (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden. DIE GRÜNEN – Serkan Tören [FDP]: Das hat Steinmeier alles ausgehandelt! Das müssen Sie Der eine ist Kamal al-Labwani; er wird Ihnen wahr- Steinmeier sagen!) scheinlich aus den menschenrechtlichen Debatten be- kannt sein. Herr Labwani ist 53 Jahre alt, er ist Arzt und – Da können Sie empört sein, wie Sie wollen, da können Künstler, er ist mehrfacher Familienvater. Er ist wegen Sie auch sagen, wer das früher alles gemacht hat. Sie be- „Schwächung des Nationalgefühls“, wegen „Kommuni- haupten in diesem Antrag, Sie machten eine konse- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3231

Christoph Strässer (A) quente und kohärente Menschenrechtspolitik. Aber Sie Erika Steinbach (CDU/CSU): (C) tun es an dieser Stelle nicht nur nicht, sondern machen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen sogar noch das genaue Gegenteil. Dafür werden wir Sie und Kollegen! Menschenrechte sind universell, unteilbar auch in allen öffentlichen Diskussionen stellen; das ist und unveräußerlich. völlig klar. (Christoph Strässer [SPD]: Das gilt für alle (Beifall bei der SPD – Serkan Tören [FDP]: gleich, oder?) Was sagt dazu Herr Schily?) Herr Strässer, für Sie mögen das olle Kamellen sein; aber man kann das nicht oft genug wiederholen. Nur ste- Es gibt noch eine andere Geschichte, die aus meiner ter Tropfen höhlt den Stein; das möchte ich deutlich hin- Sicht sehr wichtig ist: Sie fordern in Ihrem Antrag – wie zufügen. ich finde: zu Recht – die Einhaltung, die Umsetzung und die Ratifizierung völkerrechtlicher Abkommen durch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) andere Staaten, die dies noch nicht getan haben. Auf der Ich möchte etwas zu Ihren Ausführungen sagen. Ich anderen Seite tun Sie aber so, als hätten wir das alles war doch schon ein wenig verblüfft: schon erledigt. Ich frage Sie: Wo sind denn die Feststel- lungen zum Beispiel zum Zusatzprotokoll zum WSK- (Christoph Strässer [SPD]: Das glaube ich!) Abkommen? Wenn es darum geht, einmal exakt zu sa- Bis vor kurzem haben Sie all das, was zu den EU-Au- gen, dass es in diesem Bereich ein Beschwerderecht gibt, ßengrenzen geregelt wurde, als Regierungsfraktion mit- kneifen Sie. Nichts kommt, nichts steht in Ihrem Antrag. getragen. Ich halte dies für ein eklatantes Versagen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Gespräche, in denen Sie anderen (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) Ländern vorhalten, etwas zu tun oder zu unterlassen. Sie Heute, ein paar Monate später, stellen Sie das an den selber tun nichts, und das ist Doppelstandard in der Men- Pranger und klagen es an. Da ist irgendwo etwas Schizo- schenrechtspolitik. Das ist gefährlich, und das halten uns phrenie im Spiel. Sie sind da zu sich selber nicht ganz andere Länder zu Recht vor. ehrlich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – DIE GRÜNEN) Manfred Grund [CDU/CSU]: Das Sein be- stimmt das Bewusstsein! – Gegenruf des Abg. Aber es gibt nicht nur diesen Part. Es geht auch noch Christoph Strässer [SPD]: Ja, da liegen Sie bei um ein paar andere Dinge. Ich will darauf hinweisen, wo Frau Steinbach richtig!) (B) in Ihrem Antrag nach meiner Meinung ebenfalls ein (D) Doppelstandard zum Ausdruck kommt – Frau Steinbach, Die Menschenrechte sind leider in vielen Teilen der Welt nicht einmal ansatzweise Realität. Wir können das Sie werden das wahrscheinlich relativieren –: bei der Re- beklagen, wir wollen das beklagen. ligionsfreiheit. Ich kann nur sagen: Jeder Satz zur welt- weiten, universellen Religionsfreiheit ist richtig. Herr (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Tören, Sie haben gerade die Situation im Iran angespro- GRÜNEN]: Sie müssen etwas tun, nicht nur chen. klagen!) (Erika Steinbach [CDU/CSU]: Die Bahai!) Wir müssen alles tun, damit es sich bessert. In einigen Regionen befinden sich Menschenrechte sogar auf dem Die am meisten gefährdeten Menschen im Iran sind we- Rückzug; das kann man leider nicht verkennen. Die Ein- gen ihrer Glaubenszugehörigkeit angeklagt und von der forderung des besonderen Schutzes von Minderheiten Todesstrafe bedroht: die Bahai. Jetzt sagen Sie einmal und der Einsatz gegen jegliche Benachteiligung auf- den Bahai: Die Menschenrechtspolitik in Deutschland ist grund von Religion und ethnischer Herkunft sind aktuel- darauf ausgerichtet, die Religionsfreiheit unter besonde- ler denn je. Herr Strässer, da haben Sie recht: Im Iran rer Berücksichtigung des Christentums durchzusetzen. sind die Bahai die am intensivsten verfolgte Religions- Das ist ein doppelter Standard; das geht nicht. Die Reli- gruppe. Wir haben erst vor wenigen Tagen mit dem Vor- gionsfreiheit muss für alle Religionen auf dieser Welt sitzenden der Bahai hier in Deutschland gesprochen; das gleichermaßen gelten, nicht besonders für bestimmte wissen Sie genauso gut wie ich. Natürlich gehört es bei Religionen. Wenn Sie das nicht vertreten, verabschieden der Religionsfreiheit dazu, dass wir uns hinter die Bahai Sie sich von einer glaubwürdigen Menschenrechtspoli- stellen; das ist doch selbstverständlich. tik. Deshalb können wir Ihrem Antrag auf keinen Fall (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christoph zustimmen. Strässer [SPD]: Nein, eben nicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In der vergangenen Woche drohte der türkische Mi- DIE GRÜNEN) nisterpräsident Erdoğan, bis zu 100 000 im Lande le- bende Armenier auszuweisen. Das sind Drohgebärden, die den Umgang der Türkei mit ihren christlichen Min- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: derheiten schlaglichtartig und massiv erhellen. Sie be- Erika Steinbach ist nun die nächste Rednerin für die wirken noch etwas anderes: Sie erinnern beklemmend CDU/CSU-Fraktion. an den Genozid des Osmanischen Reiches an den Ar- 3232 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Erika Steinbach (A) meniern und den anderen Christen damals in den Jahren dosexualität als nächsten Schritt nach der Mobilisierung (C) 1915 und 1916. So nimmt es auch nicht Wunder, dass der Schwulenbewegung einforderte. der türkische Staat bis zum heutigen Tage nicht bereit ist, diese traurige Erblast auch nur ansatzweise aufzuarbei- (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ten. Das halte ich bei einem Land, das Mitglied der Eu- Das haben Sie doch schon einmal gebracht ropäischen Union werden will, schon für einen Skandal. und eine Antwort bekommen!)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: neten der FDP) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Es ist gut und richtig, dass sich der Deutsche Bundes- Kollegen Beck? tag für Menschenrechte weltweit einsetzt. Ich halte es für genauso unverzichtbar, dass wir – Herr Kollege Erika Steinbach (CDU/CSU): Strässer, da gebe ich Ihnen recht – auch vor unserer eige- Ich will den Gedanken nur zu Ende führen; dann kann nen Tür kehren, dass wir uns mit Defiziten im eigenen er gerne eine Frage stellen. – Lande auseinandersetzen. Da muss ich schon sagen: Die bundesweiten Berichte der letzten Wochen und Monate (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: über sexuellen Missbrauch von Kindern schrecken zu- Das ist eine furchtbare Unterstellung, Frau tiefst auf. Es ist gut, dass seitens der Bundesregierung in- Steinbach!) tensiv über weitergehende Prävention nachgedacht wird. Es ist gut, dass dabei alle gesellschaftlichen Gruppen Ihre strategischen Überlegungen, Herr Beck, sind nach- eingebunden werden sollen. lesbar als Beitrag in dem Buch „Der pädosexuelle Kom- plex“, das übrigens bis zur Stunde in der Bundestags- Allerdings registriere ich in den Debatten der letzten bibliothek vorhanden und ausleihbar ist. Es ist gut, Herr Wochen über die Vergehen mit tiefem Befremden eine Beck, dass Sie sich inzwischen davon distanziert haben. Fokussierung auf die katholische Kirche. Hier ist die Ge- Vielleicht erübrigt sich damit Ihre Frage. wichtung, bezogen auf die Anzahl der Täter, inzwischen schlicht und ergreifend vollständig verschoben. Auch in Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): katholischen Einrichtungen hat es Missbrauchsfälle ge- geben. Auch dort sind nicht in jedem Einzelfall die rich- Ich mache mir große Sorgen um Ihr Erinnerungsver- tigen Maßnahmen getroffen worden. Aber der katholi- mögen, schen Kirche den Willen zur Aufklärung und das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mitgefühl für die Opfer abzusprechen, das halte ich für (B) sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE (D) schlichtweg infam. Dahinter steckt Methode. Als Nicht- LINKE]) katholikin sage ich das in aller Deutlichkeit. da Sie die gleiche Schote schon in der letzten Menschen- (Beifall bei der CDU/CSU) rechtsdebatte gebracht haben. Da habe ich Ihnen erklärt, Tatsache ist: Die überwiegende Zahl, nämlich rund dass das damals ein verfälschter, nichtautorisierter Arti- 99 Prozent dieser scheußlichen Vergehen spielen sich in kel von einem unter Pseudonym veröffentlichten He- anderen gesellschaftlichen Bereichen ab. Der prozen- rausgeber war. Angelika Graf hat unseren Schlagab- tuale Anteil aus dem Bereich katholischer Einrichtungen tausch damals korrekt bewertet. Hätten Sie Anstand, liegt bei nicht einmal einem Prozent. würden Sie sich für Ihre Äußerung entschuldigen. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das macht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Vorfälle aber nicht besser!) bei der SPD und der LINKEN) Wenn ich nun die Stimmen aus dem Bereich der Grü- Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass we- nen in Richtung katholische Kirche vernehme, so erin- der ein Verband der Bundespartei der Grünen noch die nert mich das sehr drastisch an den Täter, der anderen in Bundespartei der Grünen sich jemals die Forderung, die die Hosentasche greift und ruft: „Haltet den Dieb!“ Die Sie gerade zitiert haben, zu eigen gemacht hat? Wären Äußerungen der Grünen sind pures Ablenkungsmanöver Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass auf mei- von sich selbst. nen Antrag hin der Bundeshauptausschuss, meiner Erin- nerung nach im Jahre 1986, die Nichtanerkennung dieser (Christoph Strässer [SPD]: Hört! Hört!) Bundesarbeitsgemeinschaft beschlossen hat und darauf- Es waren Grüne in der Bundesarbeitsgemeinschaft hin eine neue Arbeitsgemeinschaft gegründet wurde? „Schwule und Päderasten“ – so hieß diese Bundes- Wenn Sie aus Ihren Political-incorrect-Seiten hier solche arbeitsgemeinschaft –, die 1985 den Schutz Minderjähri- Falschbehauptungen zusammenkramen, finde ich das ger, den Schutz von Kindern, vor sexuellem Missbrauch wirklich unanständig, und wenn Sie es zum zweiten Mal insgesamt aufheben wollten. tun, dann zeigt das, dass Sie nicht bereit sind, dazuzuler- nen. Das ist nicht mehr Kollegialität unter Demokraten, (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau dasselbe und das ist Ihrer nicht würdig, Frau Kollegin. haben Sie doch schon mal erzählt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Es ist eine Menschenrechtsfrage. – Es waren Sie, Herr und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Kollege Beck, der 1988 eine Entkriminalisierung der Pä- LINKEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3233

Volker Beck (Köln) (A) Sie sollten sich vielleicht einmal mit der Vergangen- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) heit Ihres Verbandes auseinandersetzen, wenn Sie schon Frau Kollegin, der Herr Montag würde gern eine Zwi- meinen, für die katholische Kirche hier Entlastungsvor- schenfrage stellen. würfe vorbringen zu müssen. Ich habe das Gefühl, die Deutsche Bischofskonferenz ist da wesentlich weiter als Erika Steinbach (CDU/CSU): Sie. Sie setzt sich nämlich an die Aufarbeitung, und das ist auch gut so, wenn auch nicht alle Bischöfe gleicher- Ja, aber gern. maßen die richtige Tonlage gefunden haben. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erika Steinbach (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Kollegin, wenn Sie schon zitieren, wozu Sie offensichtlich nicht in der Lage sind, – Herr Beck, ich habe eben gesagt, es ist gut, dass Sie sich von diesem Beitrag distanziert haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Letztes Mal haben Sie das auch gesagt!) Erika Steinbach (CDU/CSU): Allerdings muss ich hinzufügen: Wie ich Sie kenne, Herr Aber selbstverständlich! Beck – Sie sind ein guter Jurist –, (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Na ja!) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – dann benennen Sie bitte die Fundstelle und zitieren hätten Sie, wenn Sie die Möglichkeit gehabt hätten, die- Sie richtig und vollständig. ses Buch längst verboten, wenn es so gewesen wäre, wie Sie hier behaupten. Ich habe mich in dem in der Zeitung veröffentlichten Artikel ganz konkret und sachlich mit der Frage ausei- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE nandergesetzt, was für und was gegen die Verlängerung GRÜNEN]: Ich würde doch keine Bücher ver- von Verjährungsfristen in bestimmten Bereichen des Zi- bieten!) vilrechts und des Strafrechts spricht. Dabei habe ich auch ausgeführt, was nach meiner Überzeugung hinter Ich glaube, es ist nötig, zu schauen: Wer hat damals bestimmten Forderungen steht. Dazu stehe ich und sage die grüne Bundesarbeitsgemeinschaft „Schwule und Pä- es heute noch einmal: Hinter dem, der die Forderung derasten“, Schwup, mitgetragen und ist heute noch bei aufstellt, für bestimmte Straftaten – außer Völkermord (B) den Grünen aktiv? Den Vorstellungen auch Grüner ent- und Mord – jegliche Verjährungsfristen aufzuheben, ver- (D) sprach doch das pädosexuelle Binnenleben in der Re- mute ich tatsächlich statt einer rationalen Kriminalitäts- formschule im Odenwald. Dieses Eldorado für Kinder- politik eine Strafsucht, die in einem demokratischen schänder unter dem Deckmantel von Fortschritt und Rechtsstaat nichts zu suchen hat. moderner Erziehung galt doch als erstrebenswertes Mo- dell. Benennen Sie also bitte die Fundstelle genau und zi- tieren Sie mich richtig, statt hier solche Verfälschungen (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vorzutragen! Das ist Unsinn, was Sie da erzählen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es ist heute nötig, dass die Grünen einmal in sich ge- und bei der SPD) hen, in ihren eigenen Reihen forschen und ihre eigene Vergangenheit aufarbeiten, ehe sie mit dem Finger auf Erika Steinbach (CDU/CSU): andere zeigen. Ich habe die jüngsten Presseerklärungen Aber Herr Montag, Sie haben das doch im Grunde ge- gelesen, die vonseiten Ihrer Fraktion dazu abgegeben nommen gerade bestätigt. Ich bin der festen Überzeu- worden sind. Aber bei der Vergangenheitsbewältigung, gung, dass Kinder über Vorfälle gerade in diesem Be- so scheint mir, ist Ihnen wohl ein bisschen mulmig zu- reich häufig nicht reden können, sondern erst darüber mute. reden können, wenn sie erwachsen sind. Deshalb braucht (Frank Schwabe [SPD]: Das müssen Sie man eine längere Spanne. gerade sagen!) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Anders kann ich die Äußerungen Ihres Kollegen Jerzy GRÜNEN]: Darum beginnt die Verjährung Montag, der gerade eingetroffen ist, auch erst später!) Das als eine bestimmte Art zu qualifizieren, macht schon (Zuruf von der SPD: Er ist schon die ganze deutlich, dass man das eigentlich wegschieben möchte. Zeit da!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht interpretieren. Herr Montag, Sie haben zur Frage NEN]: Die Fundstelle kennen Sie also offen- der Verlängerung der strafrechtlichen Verjährung gesagt, sichtlich nicht!) das sei fundamentalistische Rachsucht. Das kann ich nun wirklich nicht nachvollziehen. Fundamentalistische – Das habe ich gerade heute in der Hand gehabt; das war Rachsucht ist das mit Sicherheit nicht. in einem Bericht. 3234 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Erika Steinbach (A) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE man bei Menschenrechten aber nur dann, wenn man bei (C) GRÜNEN]: Ja, ja, die Mitarbeiter haben es he- sich selbst beginnt. rausgesucht!) (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Wenn die Grünen sich seinerzeit mit dem durchge- FDP: Kuba!) setzt hätten, was sie im Bereich Pädophilie angedacht haben – in Teilen, natürlich nicht alle –, dann hätten wir Beim Rüstungsexport haben Sie eine Politik zu ver- heute diese Debatte nicht, weil all das, was wir heute de- antworten, die Sie unglaubwürdig macht. Wie sonst er- battieren, überwiegend straffrei gewesen wäre – zulasten klären Sie es sich, staatlich finanzierte Ausstattungshilfe von Kindern. Das, meine Damen und Herren, ist massiv für die Armeen in Georgien, in Nigeria, im Jemen und in gegen Menschenrechte gerichtet. Marokko zu leisten? Wie sonst ist zu erklären, dass die deutsche Rüstungsindustrie mittlerweile im internationa- Ich bedanke mich. len Vergleich auf Platz drei liegt und das weltweite Ge- schäft mit dem Tod in Deutschland derart boomt? Wie (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag sonst ist es zu erklären, dass Sie zu der monarchistischen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich, Diktatur in Saudi-Arabien einfach immer nur schweigen, was Sie da erzählen!) aber exzellente Handelsbeziehungen zu ihr pflegen?

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der LINKEN) Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen Wie ist die Partnerschaft mit Marokko menschen- für die Fraktion Die Linke. rechtlich für Sie vereinbar, zumal die Westsahara weiter- (Beifall bei der LINKEN) hin völkerrechtswidrig besetzt ist und ständig Men- schenrechte der Saharauis verletzt werden, wie jüngst die Verhaftung von sieben Menschenrechtsaktivisten, Sevim Dağdelen (DIE LINKE): die im Hungerstreik sind? Wie sieht es mit Ihrer Men- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Selten schenrechtspolitik hinsichtlich der Menschenrechtsver- hat man solch unseriöse Reden hier gehört, Frau teidiger aus Honduras aus? Jesús Garza und Bertha Steinbach. Oliva waren hier im Bundestag und haben über die Men- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem schenrechtssituation in Honduras gesprochen. Der Leiter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Serkan Tören der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung denunziert [FDP]: Doch, von Ihnen haben wir schon ge- diese Menschen in der honduranischen Zeitung und nug gehört!) nennt sie Spalter. Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren. (B) Dabei haben Sie auch noch auf falschen Behauptungen (D) beharrt, etwa bezüglich Herrn Beck. Er ist ein guter und (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der engagierter Abgeordneter. Das sage ich, auch wenn ich FDP: Jetzt reden wir aber über Kuba!) politisch nicht alle seine Positionen teile. Er ist kein Ju- Ist es mit Menschenrechten vereinbar, dass deutsche rist. Das muss man schon sehen. Konzerne wie ThyssenKrupp – unterstützt durch Zu- Selten ist mehr Heuchelei im Deutschen Bundestag schüsse und Steuererleichterungen durch die Regierung – zu hören als dann, wenn es um das Thema Menschen- Milizen als Werkschutz anheuern, die mit Morddrohun- rechte geht. Die kurzfristig zeitweilige Aufnahme von gen gegen protestierende Fischer vorgehen? Menschenrechtsverteidigern ziehen Sie aus der Koali- Warum schweigen Sie dazu, dass alle fünf Sekunden tion in Ihrem Antrag unter den entsprechenden Vor- in der Welt ein Kind unter zehn Jahren verhungert, schriften des geltenden Ausländerrechts gegebenenfalls 50 000 Menschen täglich an Hunger sterben in Erwägung. Angesichts der Tatsache, dass das Auslän- derrecht kaum noch Schutz für politisch Verfolgte bietet, (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: ist das eigentlich zynisch. Wer schweigt dazu?) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) und eine Milliarde Menschen permanent unterernährt ist, während Nahrungsmittel zur Gewinnung von Treibstof- Jahr für Jahr erreichen weniger Flüchtlinge überhaupt fen für Industrieländer verbrannt werden? Was sagen Sie den Geltungsbereich dieses Ausländerrechts, weil sie dazu, dass Ende 2008 allein in Europa in wenigen Tagen von der Europäischen Union und auch von der Bundes- 1,7 Billionen Euro für Banken und Konzerne bereitge- regierung mit martialischen Mitteln wie der Grenz- stellt wurden und gleichzeitig das Welternährungspro- schutzagentur FRONTEX an der Flucht und an der Ein- gramm von 6 Milliarden auf 3,8 Milliarden Euro redu- reise gehindert werden und im Mittelmeer sterben ziert wurde, weil Industriestaaten die Mittel für müssen. Ein wertvoller Beitrag zum Schutz der Men- humanitäre Soforthilfe gekürzt haben? schenrechte ist für die Linke ein freier Zugang für Flüchtlinge und ein umfassendes Asylrecht. Das hat nichts mehr mit Menschenrechten zu tun. Wer Menschenrechte sagt und Rohstoffe wie im Südsudan (Beifall bei der LINKEN) meint, wer politische Rechte für Bürger in anderen Staa- Doch davon ist in den vorliegenden Anträgen natür- ten einfordert und Menschen in Länder abschiebt, in de- lich keine Rede; denn Menschenrechtsverletzungen fin- nen ihnen Folter droht, wer Meinungsfreiheit anderswo det man leider immer nur bei anderen. Glaubwürdig ist einklagt und mit Lügen Angriffskriege führt oder vorbe- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3235

Sevim DaDaðdelenğdelen (A) reitet, wer öffentliche Dienstleistungen, das Rentensys- ren würde, würden Sie sich das zu Recht verbitten. Also (C) tem und die Gesundheitsvorsorge privatisiert, der bitte, lassen Sie die Kirche im Dorf. verwandelt den Kampf um Menschenrechte in ein In- strument von Sozialraub, Krieg und imperialer Politik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der LINKEN) LINKEN) Wir, die Linke, verstehen Menschenrechte als Wider- Ich möchte jetzt zu den Menschenrechten sprechen standsrechte gegen Neoliberalismus, entfesselten Kapi- und mich nicht von Ihren Nebenkriegsschauplätzen ab- talismus und Krieg. lenken lassen. Es liegen Anträge vor, die die spanische (Zuruf von der FDP: Nennen Sie bitte noch die Ratspräsidentschaft unterstützen und das Ziel haben, Hotelnummer!) Menschenrechtsverteidigern besser zu helfen. Die spani- sche Präsidentschaft schlägt vor, einen Liaison-Offizier, – Es ist klar, dass das von der FDP kommt. also einen Verbindungsbeamten, für die Menschen- Menschenrechte sind nur dann von Dauer, wenn sie rechtsverteidiger einzusetzen, wie ihn die Spanier bereits auf einer Wirtschafts- und Sozialordnung beruhen, die haben. In Spanien ist es Praxis, dass gefährdete Men- die strukturellen Ursachen der andauernden Menschen- schenrechtsverteidiger von Spanien, ohne dass ein Asyl- rechtsverletzungen beseitigt. antrag gestellt werden muss, für zwölf Monate aufge- nommen und anständig mit 1 200 Euro im Monat finanziell unterstützt werden. Wer es mit der Unterstüt- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zung von Menschenrechten und Menschenrechtsvertei- Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss. digern im Ausland ernst meint, muss Konsequenzen zie- hen und ihnen Schutz gewähren, wenn sie ernsthaft Sevim Dağdelen (DIE LINKE): gefährdet sind. Deshalb treten wir für eine neue, für eine gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung ein. Deshalb setzen wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns für ein Exportverbot von Rüstungsgütern ein. und bei der SPD) Vielen Dank. Dazu steht in Ihrem Antrag kein Sterbenswörtchen. Wenn Sie jetzt schon wissen, dass Sie das alles ablehnen, (Beifall bei der LINKEN) und wenn Sie sich gegen die Ratspräsidentschaft wen- den, dann ist das europapolitisch und außenpolitisch ein Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Armutszeugnis. (B) Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck für die (D) Lassen Sie mich zu Ihrem Antrag kommen. Wir ha- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ben uns zum Erstaunen der SPD ernsthaft Mühe gemacht und gedacht, dass wir, auch wenn die Themenzusam- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): menstellung ein bisschen nach „copy and paste“ aus- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe sieht, versuchen sollten, das Beste daraus zu machen; Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wenn Sie denn am Ende wird es womöglich beschlossen. Aber mit in der Menschenrechtsdebatte in diesem Hohen Haus dem Antrag verhält es sich wie mit dem Anfang Ihrer noch einmal ernst genommen werden wollen, dann zie- Rede: allgemeine Worte, ein Blick ins Ausland; aber hen Sie bitte nach dem heutigen Auftritt die menschen- Konsequenzen sucht man in diesem Antrag bei jedem rechtspolitische Sprecherin Steinbach aus dem Aus- Punkt vergebens. Bei Ihnen ist es wie im Kino: Je weiter schuss zurück. die Menschenrechtsverletzungen weg sind, desto besser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sehen Sie sie. Wenn sie direkt vor Ihnen stattfinden oder bei der SPD und der LINKEN) da, wo man etwas tun könnte, dann können Sie sie nicht mehr erkennen. Diese Art, mit Falschbehauptungen die Menschen- rechtsdebatte zu bestreiten, obwohl man es besser weiß, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist angesichts der Vorlagen, die hier auf dem Tisch lie- und bei der SPD – Erika Steinbach [CDU/ gen, unglaublich. CSU]: Das war ja nun wirklich daneben!) Wir haben uns um sexuellen Missbrauch von Kindern Stichwort Guantánamo. Wer Guantánamo kritisiert schon 1984 mit einer Großen Anfrage hier im Bundestag und auflösen will, muss dazu bereit sein, auch hier Men- gekümmert. Damals waren wir erst ein Jahr im Parla- schen aufzunehmen, die offensichtlich unschuldig sind. ment. Wir brauchen uns bei diesem Thema nichts vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werfen zu lassen. Dass es bestimmte Diskussionen gab, und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der die abwegig waren, sei dahingestellt. Das war nie Be- LINKEN) schlusslage. (Zurufe von der CDU/CSU) Wenn Sie den uigurischen Gefangenen sagen, sie sollten nach Amerika gehen, in das Land, das sie zu Unrecht ge- – Sie hatten Diskussionen mit Leuten, die Sie ausge- fangen gehalten hat, dann ist das genauso, als wenn wir schlossen hatten. Das waren jede Menge Personen. 1945 zu den deutschen Vertriebenen gesagt hätten, sie Wenn ich Sie mit den Positionen dieser Leute identifizie- sollten sich in Sibirien ansiedeln. Das ist einfach eine 3236 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Volker Beck (Köln) (A) Unverschämtheit. So kann mit Menschen in Not nicht (Manfred Grund [CDU/CSU]: Dankenswerter- (C) umgehen. weise!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Damit schließe ich die Aussprache. und bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Nicht alles, was hinkt, ist ein Ver- Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen. gleich!) Zunächst zum Tagesordnungspunkt 12 a. Beschlussemp- Wenn Sie über Menschenhandel schimpfen und Frauen- fehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- handel kritisieren, dann müssen Sie schauen, wie es manitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ funktioniert. Wir stellen hier einen Antrag, dass Sie CSU und FDP mit dem Titel „Menschenrechte weltweit Konsequenzen aus Ihren großen Worten ziehen. Diese schützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Opfer brauchen ein Bleiberecht. empfehlung auf Drucksache 17/1135, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache (Zuruf des Abg. Reinhard Grindel [CDU/ 17/ 257 in der Ausschussfassung anzunehmen. CSU]) – Herr Grindel, Sie müssen ertragen, dass im Moment (Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP]) überwiegend ich das Wort habe. – Den Opfern des Men- schenhandels kann man nur dadurch helfen, dass sie, Nun liegen dazu sechs Änderungsanträge der Frak- wenn sie in Deutschland zur Polizei gehen, aussagen und tion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst ab- Strafanzeige erstatten, nicht in das Land abgeschoben stimmen. Zunächst zum Änderungsantrag auf werden, in dem die Banden sitzen, die sie verschleppt Drucksache 17/1227. Wer stimmt dafür? – Wer ist dage- haben. Jeder, der hier aussagt und nach dem Prozess zu- gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist damit rück muss, muss um Leib und Leben fürchten; er muss abgelehnt. – Besteht Einverständnis darüber, dass wir ab nicht den Staat fürchten, sondern die kriminellen Ban- 22 Uhr bei den Änderungsanträgen pauschal Ablehnung den, die so etwas machen. und Zustimmung signalisieren, oder möchten Sie im Protokoll die genauen Abstimmungsvoten der Fraktio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen haben? und bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Nennen Sie doch mal ein Beispiel!) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Im heutigen Zeitalter, in dem Wirtschaftskonzerne in- GRÜNEN]: Wenn die Fraktionen nicht unter- ternational eine immer stärkere Bedeutung bekommen schiedlich abstimmen, ist es mir egal!) und mächtiger als manche Staaten sind, müssen wir uns (B) auch über das Thema „Menschenrechte und Wirtschaft“ – Dann stelle ich das Ergebnis fest: Der Änderungsan- (D) unterhalten. Wir wissen, dass gerade in Afrika viele Bür- trag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfrak- gerkriege und Menschenrechtsverletzungen nur wegen tionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion gegen die Stim- des Rohstoffhungers in der Welt stattfinden. Es muss men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der klar sein: Wer Opfer von Menschenrechtsverletzungen Fraktion Die Linke. wird, auch unter Beteiligung von Firmen, die hier Töch- ter oder Muttergesellschaften haben, dem muss es auch Änderungsantrag auf Drucksache 17/1228. Wer noch nach Jahren möglich sein, unabhängig von den en- stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der gen Verjährungsregelungen des jetzigen Zivilrechts, hier Änderungsantrag ist abgelehnt mit dem gleichen Stim- Schadensersatz von diesen Firmen einzuklagen. Ansons- menverhältnis. ten ist das Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ mit all den wunderbaren freiwilligen Vereinbarungen, die Änderungsantrag auf Drucksache 17/1229. Wer ist Sie in Ihrem Antrag aufgezählt haben, leeres Geschwätz; dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ände- denn sie helfen den Opfern nicht, sie wirken nicht gene- rungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koali- ralpräventiv, und Menschenrechtsverletzungen zahlen tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen- sich weiter aus. stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion. Es fehlt Ihnen in allen Punkten an der Konsequenz. Deshalb ist dies eine in Antragsform gegossene Schön- Wir kommen zum Änderungsantrag auf wetter- und Sonntagsrede zum Thema Menschenrechte. Drucksache 17/1230. Wer stimmt dafür? – Wer ist dage- Mehr ist aber notwendig, wenn man ernsthafte Men- gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist abge- schenrechtspolitik machen will. lehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Frak- LINKEN) tion. Änderungsantrag auf Drucksache 17/1231. Wer Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Der Kollege Dr. Egon Jüttner hat seine Rede zu Pro- Änderungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Ko- 1) tokoll gegeben. alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Frak- 1) Anlage 8 tion und der Fraktion Die Linke. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3237

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksache (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (C) 17/1232. Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Ent- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) haltungen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Rüdiger Veit (SPD): der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion. Die SPD-Fraktion möchte sich heute Abend mit einem Nun kommen wir zur Beschlussempfehlung des Aus- – aus ihrer Sicht jedenfalls – alten und lieben Bekannten schusses. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – befassen. Es handelt sich um die Grundgesetzänderung Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 Satz 3. Es geht darum, die men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge- Möglichkeit zu schaffen, dass Länderparlamente darüber genstimmen der Oppositionsfraktionen. entscheiden können, dass ausländische Mitbürger, die aus Drittstaaten kommen, an Kommunalwahlen teilneh- Tagesordnungspunkte 12 b und 12 c. Hier wird inter- men können. Das hat der Bundesrat übrigens schon 1997 fraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den auf Antrag der SPD beschlossen. In diesem Haus hat er Drucksachen 17/1048 und 17/1165 an die in der Tages- bisher noch keine Mehrheit gefunden. Ich sage ganz of- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da- fen: Ich war wenig begeistert davon, dass wir im vorletz- mit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die ten Jahr nach einer Anhörung im Parlament dem Antrag, Überweisungen so beschlossen. der von anderer Seite gestellt worden war, aus Gründen Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c der Koalitionsräson nicht zustimmen konnten. auf: Ich halte zunächst einmal zufrieden fest, dass wir a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- heute einen Antrag beraten, der aus unserer Feder gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- stammt, der identisch mit dem Wortlaut des Bundesrats- derung des Grundgesetzes (Artikel 28 beschlusses ist und der auch wortgleich von der Fraktion Absatz 1) Bündnis 90/Die Grünen und sinngemäß, jedenfalls in der Begründung, von der Fraktion Die Linke eingebracht – Drucksache 17/1047 – worden ist. Überweisungsvorschlag: Weil das alles schon recht bekannt ist und die Diskus- Innenausschuss (f) Rechtsausschuss sion schon viele Jahre geführt wurde, b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Memet (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja!) (B) Kilic, Josef Philip Winkler, Ingrid Hönlinger, kann ich verstehen, dass der eine oder andere es nicht (D) weiteren Abgeordneten und der Fraktion gerade als sensationell empfindet, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sie sagen es!) Grundgesetzes (Artikel 28 Absatz 1 – Kommu- dass er sich heute Abend noch damit befassen muss, nales Ausländerwahlrecht) Herr Kollege Grindel und Herr Kollege Mayer. – Drucksache 17/1150 – (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Überweisungsvorschlag: Das ist immer wieder nötig!) Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ich kann Ihnen das aber nicht ersparen; Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Beifall bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim CSU]: Doch, das können Sie!) Dağdelen, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE denn wir sprechen von ungefähr 4 Millionen Menschen, die in Deutschland leben und die weder den deutschen Kommunales Wahlrecht für Drittstaatsange- Pass noch einen Pass aus einem Mitgliedstaat der Euro- hörige einführen päischen Union haben. Es handelt sich um Ausländerin- – Drucksache 17/1146 – nen und Ausländer aus sogenannten Drittstaaten, also aus Staaten außerhalb der Europäischen Union. Um de- Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) ren Mitwirkungsmöglichkeit im kommunalen Bereich Rechtsausschuss – wir wollen ihre Teilhabe an der Gesellschaft, wir wol- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe len eine Mitmachgesellschaft – geht es. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall bei der SPD) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so ver- Die genannte Zahl ist nicht klein. Berlin hat, wie ich fahren. heute gelesen habe, aufgrund des Bevölkerungswachs- tums derzeit 3,4 Millionen Einwohner zu verzeichnen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn eine solche Zahl ner das Wort dem Kollegen Rüdiger Veit für die SPD- an Deutschen auf diese Art und Weise von der Wahl aus- Fraktion. geschlossen ist. 3238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Rüdiger Veit (A) Im Übrigen: Wenn wir uns die Situation bei kommu- Wenn, dann seien Sie bitte auch konsequent: Stimmen (C) nalen Wahlen genau anschauen, dann stellt man fest, Sie den Veränderungen im Bereich des Staatsbürger- dass es praktisch drei Gruppen gibt. Es gibt dort, wo schaftsrechtes zu. Dann kann ich Ihr Argument ernst viele Menschen mit ausländischem Pass leben, ungefähr nehmen, sonst nicht. ein Drittel, das nicht wählen darf, ein Drittel, das nicht wählen will, und ein Drittel, das wählen geht. Sie sind Ich vermag nicht einzusehen, warum jemand die deut- es, die über die Zusammensetzung der Kommunalparla- sche Staatsbürgerschaft braucht, um auf kommunaler mente entscheiden. Man kann nicht sagen, dass das eine Ebene beispielsweise zu entscheiden, ob in einem Be- zufriedenstellende demokratische Legitimation ist. Wir bauungsplan genügend Freiraum für Spielflächen für wünschen uns mehr Beteiligung von allen, die hier le- Kinder vorgesehen ist. Ich vermag nicht zu erkennen, ben. Deswegen haben wir diesen Antrag gestellt. warum man die deutsche Staatsbürgerschaft braucht, um verantwortungsvoll entscheiden zu können, in welcher (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Weise und mit welchen Finanzmitteln Kindergärten oder des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Schulen gebaut werden sollen. Man braucht die deutsche Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Warum nur Staatsbürgerschaft auch nicht, um auf kommunaler auf kommunaler Ebene?) Ebene zu entscheiden, dass man ein städtisches Kran- – Herr Kollege, das will ich Ihnen gleich erklären. kenhaus nicht an irgendjemanden verhökert und ver- kauft. So ließe sich die Reihe der Beispiele ohne weite- Vorher will ich Ihnen aber eine Frage stellen – dazu res fortsetzen. ist die Stunde nun doch noch nicht zu spät –: Was haben der Freiherr vom Stein, die Kollegin Leutheusser- Wir haben – dieses Argument von Ihnen kenne ich Schnarrenberger von der FDP und die CDU-Oberbürger- schon – anlässlich der Expertenanhörung im Innenaus- meisterin der Stadt Frankfurt gemeinsam? Alle drei sind schuss des Bundestages sieben Experten gehört. Sechs für das kommunale Ausländerwahlrecht: Der Freiherr davon waren Juristen. Nun gibt es ja das böse Sprich- vom Stein schon 1808 im Bereich seiner Städteordnung, wort: Zwei Juristen, drei Meinungen. Ich sage Ihnen die er damals geschaffen hat. Frau Roth hat damals an- aber einmal: Unter diesen sieben Sachverständigen – wie lässlich der Oberbürgermeisterwahlen geäußert: Wir hat- gesagt, sechs Juristen darunter – gab es nur zwei mit ei- ten bis jetzt etwa 50 000 wahlberechtigte EU-Ausländer. ner abweichenden Meinung. Wenn alle Ausländer wählen dürften, hätten wir rund 140 000 Wahlberechtigte. Ich hätte gerne, dass diese üb- (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das rigen 90 000 Frankfurter ebenfalls wählen dürften. – Das waren aber die maßgeblichen!) finde ich richtig. (B) Sie haben gesagt: Es gibt verfassungsrechtliche Beden- (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ken, Ausländern, die aus Drittstaaten kommen, das kom- DIE GRÜNEN) munale Wahlrecht einzuräumen. Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat am 21. August Kollege Mayer, die ganze Diskussion knüpft an die 2009 gesagt, dass sie die Kampagne „Demokratie Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den braucht jede Stimme“ für ein kommunales Ausländer- Ländergesetzen von Schleswig-Holstein und Hamburg wahlrecht in Bayern unterstütze. Die Arbeitsgemein- aus dem Jahr 1990 an. Damals gab es noch nicht, was schaft der Ausländerbeiräte Bayerns hat sie dafür aus- dann zum 31. Dezember 1992 beschlossen worden ist, drücklich gelobt. nämlich die Bestimmung, dass alle EU-Ausländer bei (Serkan Tören [FDP]: Das hat nichts mit Kommunalwahlen wahlberechtigt sind. Nun weiß ich Ihrem Antrag zu tun!) auch, dass man nicht jeden Sachverhalt über einen Kamm scheren kann. Es gibt sicherlich Unterschiede Meine sehr verehrten Damen und Herren der Koali- – das verkenne ich nicht –, aber ich bestreite entschieden tion, fassen Sie sich ein Herz und überlegen Sie, ob Sie – so hat es auch die Mehrheit der Sachverständigen ge- dieser Verfassungsänderung nicht doch zustimmen soll- tan –, dass es eine unüberwindbare verfassungsrechtli- ten. che Hürde für die Einführung des Kommunalwahlrechts Was spricht denn dagegen? Gerade aus Ihrem Bereich für ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger gibt. wird immer wieder geäußert: Wahlrecht setzt Staatsbür- Das setzt eine Verfassungsänderung voraus. Wir Sozial- gerschaft voraus. Sie sind aber nicht konsequent und demokraten wollen das schon sehr lange. Wir wollen das ehrlich genug, um zu sagen: Dann lassen Sie uns bitte auch weiterhin. Wir werben bei Ihnen allen um entspre- einmal die Voraussetzungen für die Einbürgerung er- chende Unterstützung. leichtern, damit wir wenigstens annähernd solche Zahlen haben wie beispielsweise Schweden oder die Nieder- Ich darf meinen Appell wiederholen: Nehmen Sie lande. sich ein Beispiel an Frau Roth, der Oberbürgermeisterin von Frankfurt. Sie hat Erfahrung im Umgang mit Mi- (Beifall bei der SPD) grantinnen und Migranten. Frankfurt hat einen sehr ho- Deutschland hinkt bei den Einbürgerungszahlen im EU- hen Ausländeranteil. Nehmen Sie sich auch ein Beispiel Vergleich weit hinterher. an unserer jetzigen Justizministerin, Frau Leutheusser- Schnarrenberger. (Serkan Tören [FDP]: Sie haben die Einbürge- rungsvoraussetzungen erschwert!) (Gisela Piltz [FDP]: Jederzeit! Gute Frau!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3239

Rüdiger Veit (A) Dann bekommen wir in diesem Haus und in der zweiten die verfassungsrechtliche Ordnung schlechthin betrach- (C) Kammer vielleicht eine Verfassungsänderung hin. Das tet. würde ich mir wünschen. Wir wollen das. Wir wollten das schon immer. Es bleibt dabei. Wir werden dieses Der Grundsatz, wonach alle Staatsgewalt vom Volke Projekt weiter intensiv verfolgen. ausgeht, unterliegt der Ewigkeitsgarantie des Art. 20 Grundgesetz und kann selbst durch eine Verfassungsän- Danke sehr. derung nicht außer Kraft gesetzt werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Staatsvolk in der Bundesrepublik Deutschland das deut- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sche Volk und wird von den deutschen Staatsangehöri- gen gebildet. Eine Ausnahme – das ist wahr – kann es in- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: soweit nur für die Staatsangehörigen anderer Länder der Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für Europäischen Union geben, weil ihnen nach dem Vertrag die CDU/CSU-Fraktion. von Maastricht die Unionsbürgerschaft zukommt, die (Beifall bei der CDU/CSU) auch das kommunale Wahlrecht umfasst. (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reinhard Grindel (CDU/CSU): Sehen Sie!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzte Debatte über das Thema „Kommunalwahl- Bei den Kommunalwahlen regeln die Bürger einer recht für Ausländer“ haben wir, Herr Veit, vor zehn Mo- Gemeinde, einer Stadt oder eines Landkreises ihre örtli- naten, am 28. Mai 2009, geführt. An der Sachlage hat chen Angelegenheiten. Es geht um das Wohl der Kom- sich seitdem nichts geändert. Ihre Argumente haben sich mune, die die Menschen im Blick haben. auch nicht geändert. Insofern werden Sie nicht böse sein, (Zuruf des Abg. Rüdiger Veit [SPD]) dass sich an der Position der CDU/CSU-Fraktion auch nichts geändert hat. Die Frage ist, Herr Kollege Veit, ob ein ausländischer Mitbürger, der nicht der Unentrinnbarkeit der deutschen Ich würde mich aber freuen, Herr Kollege Veit, wenn Staatsgewalt unterliegt, weil er nicht zum deutschen die Opposition hier einmal mit neuen, weiterführenden Staatsvolk gehört und sich dementsprechend jederzeit Ideen kommen würde, wie man die Integration der Men- der Wirkung der Staatsgewalt entziehen könnte, bei sei- schen mit Migrationshintergrund weiter verbessern ner Wahlentscheidung auch nur das Wohl der Kommune kann, anstatt hier immer wieder die gleichen Anträge zu im Blick hat. stellen, mit denen Sie den Menschen tatsächlich in ihrer (B) konkreten Lebenssituation überhaupt nicht helfen. Daran – das sage ich Ihnen ganz offen – wird man (D) Zweifel haben dürfen, wenn man die jüngsten Reden des (Beifall bei der CDU/CSU) türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan nachliest. Sie werden doch nicht ernsthaft behaupten, dass die Erdoğan hat seine Landsleute in Deutschland aufge- Integration von Migranten in den Ländern, in denen es rufen, die deutsche Staatsbürgerschaft in Form der dop- ein Kommunalwahlrecht für Ausländer gibt, signifikant pelten Staatsbürgerschaft zu erwerben, um mehr Einfluss besser gelungen ist. Nein, unsere ausländischen Mitbür- für türkische Interessen ausüben zu können. Wenn also ger wollen Angebote zur Verbesserung ihrer Sprachkom- schon bei doppelten Staatsbürgern zu befürchten ist, dass petenz. Sie wollen gute Perspektiven für ihre Kinder im aus dem Loyalitätskonflikt ein Loyalitätsverzicht gegen- Kindergarten und in der Schule. Außerdem wollen sie, über dem deutschen Staat wird, dann ist eine solche Be- dass die Arbeitslosigkeit bei Ausländern nicht immer fürchtung erst recht angebracht, wenn es sich um Perso- deutlich höher ist als bei den deutschen Arbeitnehmern. nen handelt, die ausschließlich nur die türkische In all diesen Feldern echter Integrationspolitik sind wir Staatsbürgerschaft besitzen, obwohl sie zum Teil viele unter der Verantwortung von Bundeskanzlerin Angela Jahre in unserem Land leben. Merkel und der im Kanzleramt angesiedelten Staatsmi- nisterin für Integration, Maria Böhmer, gut vorangekom- Herr Veit, Sie haben gesagt: Lass sie doch entschei- men. Das ist konkrete Integrationspolitik. Davon haben den, ob Schulen gebaut werden. – Ich will, dass sie da- unsere ausländischen Mitbürger etwas, aber nicht von rüber entscheiden, wie die Schulen für die Schüler in- Ihren relativ sinnentleerten Anträgen. haltlich gut gemacht werden. Ich will nicht, dass sie über türkische Gymnasien entscheiden, um das ganz klar zu (Beifall bei der CDU/CSU) sagen. Die Vertreter der Oppositionsparteien wissen ganz ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nau, dass es gravierende verfassungsrechtliche Gründe neten der FDP) gibt, die gegen ein Kommunalwahlrecht für Ausländer sprechen. Diese Bedenken können, wie uns Verfassungs- Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk sind die drei rechtler bei der bereits angesprochenen öffentlichen An- Säulen, auf denen die Staatlichkeit eines Gemeinwesens hörung im Jahre 2008 erklärt haben, auch nicht durch ruht. Unklarheiten führen dabei – das lehrt uns die Ge- eine Verfassungsänderung ausgeräumt werden. Eine Er- schichte in vielen Ländern – nur zu Konflikten. Deshalb weiterung des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsange- bin ich für Klarheit: Wer als Ausländer sich gut integriert hörige über den Kreis der EU-Bürger hinaus wird von ei- hat, auf Dauer bei uns leben möchte und wer auf die Ge- ner Reihe von Verfassungsrechtlern als Verstoß gegen staltung seines Gemeinwesens, von der Gemeinde bis 3240 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Reinhard Grindel (A) hin zur Bundesebene, Einfluss nehmen will, der ist herz- Recht möchten wir diesen Menschen nicht vorenthalten. (C) lich eingeladen, die deutsche Staatsbürgerschaft unter Deshalb unterstützen wir diese Initiative selbstverständ- Verzicht auf seine bisherige Staatsangehörigkeit zu er- lich. werben. Dann kann er auf allen staatlichen Ebenen durch ein aktives und passives Wahlrecht Einfluss nehmen. Es geht bei diesem Thema um Gleichstellung. In 16 der 27 EU-Mitgliedstaaten wurde das kommunale Wahl- Es bleibt bei unserem Grundsatz: Die Verleihung der recht für Drittstaatsangehörige, wenn auch mit unter- deutschen Staatsbürgerschaft und der Erwerb des akti- schiedlichen gesetzlichen Bestimmungen, bereits reali- ven und passiven Wahlrechts stehen am Ende eines ge- siert. Es kann also keine Rede davon sein, dass diese lungenen Integrationsprozesses und sind keine Eintritts- Menschen nicht im Interesse der Kommune entscheiden. karte. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – neten der FDP) Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Aber die Inte- Ein Wahlrecht für alle staatlichen Ebenen macht auch gration ist dadurch auch nicht besser!) insoweit Sinn, als viele Fragen, die die Menschen mit Es wurde deutlich: Das Verständnis, das Schwarz-Gelb Migrationshintergrund in besonderer Weise betreffen, von Integration hat, ist offenkundig gleichbedeutend mit eben im Landtag oder Bundestag entschieden werden. Ungleichheit; denn Sie wollen die bestehende Ungleich- Ein Kommunalwahlrecht für Ausländer würde den An- heit zementieren. trieb, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, wei- ter erlahmen lassen. Im Ergebnis würde es die Integra- Ich möchte mich auch an Herrn Veit und die SPD tion also nicht befördern, sondern behindern. wenden. Es ist nicht zu verhehlen – da hat Herr Grindel recht –: Es ist Wahlkampf. Ich frage Sie, Herr Veit: Was Herzlichen Dank fürs Zuhören. ist innerhalb der letzten zehn Monate passiert? Noch vor (Beifall bei der CDU/CSU) zehn Monaten haben Sie hier im Bundestag bei einer na- mentlichen Abstimmung gegen das kommunale Wahl- recht für Drittstaatenangehörige gestimmt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ach was! für die Fraktion Die Linke. So ist das also! Das ist ja interessant!) (Beifall bei der LINKEN) Aber jetzt, kurz vor den Landtagswahlen in Nordrhein- Westfalen, meinen Sie Ihr vermeintliches Herz für Mi- (B) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): grantinnen und Migranten entdecken zu müssen. (D) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Auch in diesem Kontext ist zu sehen, dass Sie heute Herr Grindel, ich frage mich wirklich, von wo Sie immer eine Pressekonferenz einberufen haben, und zwar nur Ihre Argumente hervorzaubern. deshalb, um zu Ihrem heute zu beratenden Gesetzent- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Aus dem wurf Stellung zu nehmen. Das macht Sie nicht glaub- Grundgesetz! – Weiterer Zuruf von der CDU/ würdiger. Sie haben es in Ihren elf Regierungsjahren CSU: Ganz einfach: aus dem Kopf!) nicht geschafft, bei diesem Thema eine Initiative auf den Weg zu bringen. Herr Veit, wo war die SPD in diesen elf Sie sagen, Drittstaatsangehörigen oder ausländischen Regierungsjahren? Warum haben Sie keine Initiative er- Mitbürgerinnen und Mitbürgern könne man kein kom- griffen, um Drittstaatenangehörigen das Wahlrecht zu- munales Wahlrecht geben. Diese Menschen sind nach mindest auf der kommunalen Ebene zu geben? Sie haben Ihrer Auffassung offenbar nicht in der Lage, im Interesse nichts getan. Jetzt, kurz vor der Landtagswahl in NRW, bzw. zum Wohle der Kommune zu entscheiden. wollen Sie etwas tun. Das ist für die SPD schändlich, (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was sagen Sie Herr Veit. denn zu Erdoğan?) (Beifall bei der LINKEN – Christian Lindner Seit 1992 gibt es das kommunale Wahlrecht für EU- [FDP]: Ihr habt das doch in 40 Regierungsjah- Bürgerinnen und EU-Bürger, die nicht deutsche Staats- ren nicht hinbekommen!) angehörige sind. Wollen Sie jetzt behaupten, dass Mil- Sie sagen – insbesondere von der Union, aber auch lionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die in Deutsch- von der FDP hört man das immer wieder –, die Men- land das kommunale Wahlrecht haben, nicht zum Wohl schen sollen sich einbürgern lassen und deutsche Staats- der Kommune entscheiden, sondern für irgendetwas an- angehörige werden; dann können sie auch von ihrem deres? Ich finde, das sollten Sie sich sparen. Wahlrecht Gebrauch machen. Ich frage mich: In welcher Sie möchten die Integration mit der sozialen Frage Welt leben Sie eigentlich? Sie haben das Staatsangehö- verbinden; auch das ist für meine Ohren neu. Aber bei rigkeitsgesetz in den letzten Jahren immer weiter ver- diesem Thema geht es nicht nur um Integration. Hier schärft. Im September 2008 haben Sie den Einbürge- geht es um Gleichstellung, hier geht es auch um Partizi- rungstest eingeführt. Die vorherige rot-grüne Regierung pation, und hier geht es um das Kernstück der Demokra- hat das Staatsangehörigkeitsgesetz im Jahre 2000 refor- tie: Wir wollen mehr als 4 Millionen Menschen das miert. Auch diese Reform hat übrigens zu einem Rück- Recht einräumen, sich an Wahlen zu beteiligen. Dieses gang der Zahl der Einbürgerungen geführt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3241

Sevim DaDaðdelenğdelen (A) Der Einbürgerungstest, den Sie im Jahr 2008 einge- rechtigten Kommunalvertretungen nur berät, ist nun ein- (C) führt haben, hatte zur Folge, dass die Zahl der Einbürge- mal nicht sonderlich attraktiv. rungen im Jahr 2009 im Vergleich zu 2008 um 19 Prozent gesunken ist. Seit dem Jahr 2000, also seit Die FDP hat sich schon immer für eine Ausweitung der großen Reform unter Rot-Grün, beträgt der Rück- demokratischer Mitbestimmung und für eine Verbesse- gang 55 Prozent. Es ist also Quatsch, zu sagen: Die rung politischer Teilhabe von Migranten eingesetzt, al- Leute sollen sich einbürgern lassen. – Vielmehr müssen lerdings immer unter bestimmten Voraussetzungen und wir Einbürgerungen massiv erleichtern, unter dem klaren Leitbild eines mündigen Bürgers, der sich in die öffentlichen Belange einmischt und auch ein- (Beifall bei der LINKEN – Reinhard Grindel mischen kann. [CDU/CSU]: Wir müssen die Integration ver- Die Linke und die SPD fordern als einzige Vorausset- bessern!) zung dafür, das Kommunalwahlrecht zu erlangen, den damit die Menschen überhaupt eingebürgert werden und ständigen Wohnsitz. Ich sage Ihnen ganz klar: Das ist bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai nicht ausreichend. Das ist schwammig. Das zeigt auch, Gebrauch von ihrem Wahlrecht machen können. Wir dass Sie sich mit Ihrem eigenen Antrag überhaupt nicht brauchen aber auch ein kommunales Wahlrecht, damit beschäftigt haben. wir – aus demokratietheoretischen Gründen sage ich das, (Beifall bei der FDP) Herr Grindel – in Deutschland weniger demokratiefreie Zonen haben. Wie können Sie in den Kommunen Stadt- Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grü- räte legitimieren, wenn dort 30 oder 35 Prozent der Be- nen, führen benachbarte Länder wie Belgien, Schweden völkerung an den Wahlen nicht teilnehmen können? oder auch Irland als glänzende Beispiele an. Dann möchte ich Ihnen auch mal erzählen, wie es dort tatsächlich aus- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sieht: Erstens. Die Wahlbeteiligung der Migranten ist in diesen Ländern stets niedriger als die der Staatsbürger Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. ohne Migrationshintergrund.

Sevim Dağdelen (DIE LINKE): (René Röspel [SPD]: Mövenpicker!) Ich komme zum Schluss. Wir als Linke fordern de- Zweitens. Besonders niedrig ist dabei die Wahlbeteili- mokratische und soziale Rechte für alle in Deutschland gung in Gemeinden mit einem hohen Migrantenanteil. lebenden Menschen – und das, liebe SPD, nicht nur Drittens. Migranten in diesen Ländern nehmen das pas- dann, wenn sie uns gerade mal wahltaktisch genehm sive Wahlrecht – wenn überhaupt – nur sehr selten wahr. (B) sind. Das hat natürlich Gründe: Dazu zählen eine mangelnde (D) Kenntnis der jeweiligen politischen Systeme, oft auch ein (Beifall bei der LINKEN) anderes kulturelles Verständnis von Interessenvertretun- gen, teilweise auch die geringe Bereitschaft der Parteien, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sich zu öffnen, oder einfach ein genereller Politikver- Nun hat der Kollege Serkan Tören für die FDP-Frak- druss, wie man ihn auch bei Deutschen hier in Deutsch- tion das Wort. land kennt. (Beifall bei der FDP) (René Röspel [SPD]: Halten Sie die Teilnahme an Demokratie nicht für ein Grundrecht?) Serkan Tören (FDP): All diese Punkte zeigen: Das Wahlrecht ist nicht – so Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! behaupten es die Damen und Herren der Linken – die Die wichtigsten Orte der Integration sind jene, in denen entscheidende Komponente erfolgreicher Integrations- das alltägliche Leben stattfindet. Das ist dort, wo unsere politik. Es sollte auch bitte nicht als solche verkauft wer- Kinder zur Schule gehen, wo wir Mitglied in Sportverei- den. Damit machen Sie es sich viel zu einfach. nen sind und wo es um Bebauungspläne für Wohnge- (Beifall bei der FDP) biete geht. Gerade vor Ort ist es von besonderer Bedeu- tung, dass sich Migranten politisch einbringen und die Auch das Argument der Ungleichbehandlung gegenüber Entscheidungen mitgestalten können. Es existieren dort EU-Bürgern halte ich für nicht tragfähig, und ich wun- bereits einige Modelle, so zum Beispiel Ausländerbei- dere mich darüber immer wieder. Anscheinend kennen räte und Integrationsräte. Ich spreche aber ein offenes Sie die EU-Verträge und das, was damit verbunden ist, Geheimnis an, wenn ich sage, dass deren Sinnhaftigkeit nicht. Deutschland ist in die EU integriert. Es gibt diese zweifelhaft ist. Denn diese Gremien werden de facto nur Verträge nun einmal. Sie müssen sie sich einmal genau sehr schlecht angenommen. durchlesen. (Rüdiger Veit [SPD]: Die haben ja auch nichts (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!) zu sagen! Kein Wunder!) Wir als FDP können uns durchaus vorstellen, dass ein Ich will nur auf die letzten Integrationswahlen in NRW Ausländerwahlrecht in bestimmten Kommunen sinnvoll verweisen. Da lag die Wahlbeteiligung bei nur 11 Pro- ist. Es muss dann allerdings an Bestimmungen geknüpft zent. Hören Sie sich das genau an: nur 11 Prozent. Ein sein. Wenn sich ein Drittstaatenausländer mindestens Gremium zu wählen, das die wirklich entscheidungsbe- fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland aufhält, sollte es 3242 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Serkan Tören (A) den Kommunen grundsätzlich ermöglicht werden, ihm Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) das Wahlrecht zu verleihen. Dazu darf es aber keine Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten starre Vorschrift im Grundgesetz geben. Denkbar wäre Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! an dieser Stelle zum Beispiel eine Länderöffnungsklau- Ich habe gerade mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, sel nach dem Subsidiaritätsprinzip, die es den Ländern in dass die Unionsparteien eine Erweiterung des kommuna- ihrer Hoheit ermöglicht, den Kommunen die Entschei- len Wahlrechts auf Drittstaatler für verfassungswidrig dung über ein solches Ausländerwahlrecht und dessen halten Voraussetzungen zu überlassen und es zu gestalten. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da haben Sie (Beifall bei der FDP – René Röspel [SPD]: aber nicht zugehört!) Mit welcher Begründung eigentlich?) und unsere Kollegen von der FDP eine Erweiterung des Worum es in dieser Debatte tatsächlich geht, ist das kommunalen Wahlrechts auf Drittstaatler für nicht erfor- Ziel einer verbesserten Integration. Es geht um das Ziel derlich halten, sich vielmehr dafür aussprechen, dass die einer vollen gesellschaftlichen und politischen Teil- Kommunen das über eine Öffnungsklausel gestalten nahme von Migrantinnen und Migranten in Deutschland. können. Dazu ist das kommunale Wahlrecht sicherlich nicht das (René Röspel [SPD]: Aber nur, wenn es deut- geeignete Mittel. Der Königsweg ist und bleibt die Ein- sche Patrioten waren! – Gisela Piltz [FDP]: Da bürgerung. Gleichwohl: Wir alle kennen die ernüch- haben Sie auch bei uns nicht zugehört!) ternde Situation, dass sich von 45 möglichen Personen nur eine tatsächlich einbürgern lässt. Das ist nicht befrie- Das zeigt, dass die Koalitionsparteien noch einiges zu digend. Wir müssen für die deutsche Staatsangehörigkeit klären haben. werben. Lassen Sie mich an dieser Stelle deutlich sagen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein paar warme Worte reichen nicht aus. Wir müssen konkrete Anreize schaffen. Ein Ansatzpunkt kann die Bereits in der letzten Wahlperiode haben wir Grüne zügigere Einbürgerung für besonders erfolgreich inte- einen Gesetzentwurf zur Erweiterung des kommunalen grierte Migranten sein. Indem die Einbürgerung von be- Wahlrechts auf Angehörige von Drittstaaten in den Bun- stimmten Integrationsleistungen abhängt, gibt sie näm- destag eingebracht. lich allgemeine Zielstellungen vor. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Und Linke GRÜNEN]: In jeder Wahlperiode!) dürfen nicht eingebürgert werden, nicht?) Unser Entwurf wurde bedauerlicherweise mit den Stim- men der Fraktionen CDU/CSU, FDP und SPD abgelehnt. (B) Diese sind wichtig und unabdingbar für die Motivation (D) der Migranten, insbesondere aber für unser Gemeinwe- Es ist erfreulich und macht Hoffnung, dass die SPD un- sen. Ein Beispiel: Studiert ein junger Mensch erfolgreich sere Meinung in dieser wichtigen Frage nun doch teilt. in Deutschland, lernt er Land und Leute kennen und (Rüdiger Veit [SPD]: Das tun wir eigentlich lernt er die Sprache, ist er hochqualifiziert, so sind dies schon immer!) die Integrationsleistungen, die bei der Wartezeit Berück- sichtigung finden sollten. Ein großer Teil unserer Bevölkerung, nämlich über 4 Millionen Menschen in Deutschland, darf an Wahlen Meine Damen und Herren, man kann sich darüber nicht teilnehmen. Der Ausschluss dieser Menschen aus streiten – wir tun dies, auch heute –, ob die Einbürgerung Drittstaaten von der politischen Teilhabe ist weder mit am Anfang oder am Ende einer erfolgreichen Integration dem Demokratieprinzip vereinbar noch mit einer erfolg- stehen sollte. Lassen Sie es mich so formulieren: Die reichen Integrationspolitik. Einbürgerung ist ein Meilenstein im Integrationsprozess. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei- Die Zahl der Einbürgerungen zu steigern, muss in unser dung zum kommunalen Wahlrecht für Ausländer im Jahr aller Interesse sein. 1990 betont, dass es der demokratischen Idee entspricht, (Rüdiger Veit [SPD]: Schöne Grüße an die eine Übereinstimmung zwischen der Wohnbevölkerung CDU/CSU!) und der Wahlbevölkerung herzustellen. Folgerichtig hat es die Politik aufgefordert, möglichst viele dauerhaft in Ein kommunales Wahlrecht für Ausländer ist nichts Deutschland lebende Bürgerinnen und Bürger in das Halbes und nichts Ganzes. Sorgen wir dafür, dass Mi- Wahlrecht einzubeziehen. granten voll und ganz teilhaben an Staat und Gesell- schaft! Sorgen wir dafür, dass Migranten sich voll und Solange Bürgerinnen und Bürger aus Drittstaaten das ganz zu Staat und Gesellschaft als deutsche Patrioten be- kommunale Wahlrecht nicht erhalten, wird ein erhebli- kennen! cher Teil unserer Gesellschaft von der wichtigsten politi- schen Teilhabe in einer Demokratie ausgeschlossen. In (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einigen Kommunen mit einem hohen Anteil an Immi- der CDU/CSU) grantinnen und Immigranten entstehen so demokratie- freie Zonen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Ausübung des kommunalen Wahlrechts ist aber Nächster Redner ist der Kollege Memet Kilic für die auch für die Integration der in Deutschland lebenden Im- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. migrantinnen und Immigranten von großer Bedeutung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3243

Memet Kilic (A) Eine erfolgreiche Integration lässt sich nur durch Teil- (Rüdiger Veit [SPD]: Das habt ihr von uns (C) habe, also die Einräumung von Rechten, erreichen. gelernt!) Ein wesentliches Recht in der Demokratie ist das Wir reden nicht nur von Integration, wir machen auch et- Wahlrecht. Die Notwendigkeit der politischen Teilhabe was für Integration. von Immigrantinnen und Immigranten haben wir Deut- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sche und Europäer bereits 1992 erkannt und mit dem GRÜNEN]: Was denn? – Wolfgang Wieland Vertrag von Maastricht das kommunale Wahlrecht für [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das träumen EU-Bürgerinnen und -Bürger eingeführt. Seitdem haben Sie doch nur!) jede Unionsbürgerin und jeder Unionsbürger mit Wohn- sitz in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht bei Es gibt eine außerordentlich engagierte und sehr er- kommunalen Wahlen. Die Erfahrungen damit sind äu- folgreiche Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, ßerst positiv. Frau Staatsministerin Professor Böhmer. Wir als CDU/ CSU haben klargemacht, dass es nicht an den finanziel- Dass das Demokratieprinzip und der Integrationsge- len Ressourcen scheitern darf, Ausländern oder auch danke für Nicht-EU-Immigranten nicht gelten soll, ist Aussiedlern die erforderlichen deutschen Sprachkennt- sachlich nicht gerechtfertigt und verfassungsrechtlich nisse beizubringen. Das gilt sowohl für Ausländer und höchst bedenklich; denn die Lebenssituation von Dritt- Aussiedler, die schon länger in Deutschland sind, als staatsangehörigen unterscheidet sich nicht von der Le- auch für die, die neu in unser Land kommen. benssituation von EU-Bürgern und Deutschen. Es geht um Menschen, die seit Jahren legal in Deutschland le- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben, hier arbeiten und Steuern zahlen. Ihre Kinder besu- NEN]: Wer hat das denn eingeführt?) chen gemeinsam mit unseren Kindern die Schule oder Wir haben auch in den Ländern einiges dafür getan, den Kindergarten. Der einzige Unterschied ist, dass dass wirklich praktische Integrationsarbeit vor Ort geleis- diese Bürgerinnen und Bürger die Angelegenheiten ihrer tet werden kann. Ich möchte nur noch daran erinnern: Kommune nicht mitbestimmen dürfen. Diese Einteilung Bevor Jürgen Rüttgers Ministerpräsident in Nordrhein- in Ausländer erster und zweiter Klasse ist ungerecht und Westfalen wurde, bevor die CDU dort in Regierungsver- stellt eine institutionelle Diskriminierung dar. antwortung kam, haben türkische Hauptschulabsolventen (Beifall der Abg. Sevim Dağdelen [DIE aus Bayern im Fach Mathematik besser abgeschnitten als LINKE]) deutsche Hauptschulabsolventen aus Nordrhein-Westfa- len. Daran sieht man: Es gibt auch in den Bundesländern In vielen anderen europäischen Ländern ist das kom- ganz hervorragende und herausragende Beispiele für er- (B) munale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige eine Selbst- folgreiche Integration. (D) verständlichkeit. In Finnland, Schweden, Dänemark, Est- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- land, Luxemburg, Irland, Belgien und den Niederlanden neten der FDP) traut man den Drittstaatsangehörigen längst mehr zu, als zu arbeiten, Steuern zu zahlen oder Fußball zu spielen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinsichtlich Dort dürfen sie mitbestimmen, wenn es um das Schicksal der jetzt zu behandelnden Gesetzentwürfe und des jetzt ihrer Kommune geht. zu behandelnden Antrages gilt es festzuhalten, dass ein Wahlrecht für Drittstaatsangehörige im kommunalen Be- Deshalb fordern wir, das Grundgesetz dahin gehend reich gegen die Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes, zu ergänzen, dass auch Nicht-EU-Bürgerinnen und -EU- gegen Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz, verstoßen würde. Bürger, die ihren ständigen Wohnsitz in Deutschland ha- Ebenso kann ich mich nur dem renommierten Staats- ben, das Kommunalwahlrecht erhalten. rechtler Josef Isensee anschließen, der der Auffassung Ich bedanke mich. ist, dass ein Wahlrecht für Drittstaatsangehörige im kom- munalen Bereich auch gegen das Homogenitätsgebot ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mäß Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes verstoßen würde. sowie bei Abgeordneten der SPD) Es ist nun einmal so, dass das Staatsvolk einheitlich ist. Man kann das Staatsvolk bei einer Kommunalwahl Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nicht anders definieren als bei einer Landtags- oder bei Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege einer Bundestagswahl. Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Deswegen ist es nun einmal so, dass das Staatsvolk ge- mäß Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz so definiert wird, dass Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): die Grundvoraussetzung dafür die deutsche Staatsange- hörigkeit ist. Deswegen ist es auch richtig, dass das ak- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- tive Wahlrecht sowohl im kommunalen Bereich als auch ginnen! Sehr verehrte Kollegen! Ich möchte zunächst im überregionalen Bereich an die deutsche Staatsange- einmal eines feststellen: Seit die CDU/CSU wieder in hörigkeit gebunden ist. Regierungsverantwortung ist, seit dem Jahr 2005, steht das Thema Integration endlich wieder ganz oben auf der (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- politischen Tagesordnung. NEN]: Was ist mit den EU-Bürgern?) 3244 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Stephan Mayer (Altötting) (A) Darüber hinaus würde ein Wahlrecht für Drittstaats- (Gisela Piltz [FDP]: Ich dachte, das ist eine (C) angehörige im kommunalen Bereich gegen das Völker- kurze Frage!) recht verstoßen. Im Völkerrecht gilt der Grundsatz, dass Immer mehr Menschen bleiben zu Hause. eine Rechtsposition eines Landes nur gewährt wird, wenn gemäß dem Prinzip der Gegenseitigkeit das andere Würde man Ihrer Logik folgen, müsste man eventuell Land die gleiche Rechtsposition dem ersteren Land auch auch den Deutschen das Wahlrecht wieder entziehen, gewährt. Dieser Grundsatz des Völkerrechts wäre also weil sie sich an den Wahlen nicht beteiligen. nicht eingehalten. (Zuruf von der FDP: Also bitte! Es ist zwar Darüber hinaus möchte ich auch klarmachen, dass das schon sehr spät, aber …!) Kommunalrecht und der kommunale Bereich keine Ver- suchsfelder sein können. Es geht hier auch um elemen- Sehe ich das richtig? tare Entscheidungen, die die Menschen vor Ort teilweise (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die Frage war unmittelbarer betreffen als manche Entscheidungen, die jetzt unverzichtbar! Die musste sein! – Zuruf auf Landes- oder Bundesebene getroffen werden. Ich von der FDP: Das müssen Sie nicht beantwor- warne davor, das Kommunalwahlrecht hier als Versuchs- ten!) kaninchen zu betrachten. Abgesehen davon bitte ich schon, sich noch einmal Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): deutlich vor Augen zu führen, dass in den EU-Ländern, Sehr verehrte Frau Kollegin, Sie sehen das eklatant in denen Drittstaatsangehörigen das Wahlrecht im kom- falsch. Es ist vollkommen richtig, dass wir mehr dafür munalen Bereich eingeräumt wurde, die Wahlbeteili- tun müssen, Ausländer in Deutschland dafür zu interes- gung durch die Bank bei weit unter 30 Prozent liegt. sieren, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, Man sieht also ganz konkret: Es wird von diesem kom- insgesamt mehr Interesse an einer Partizipation an der munalen Wahlrecht für Drittstaatsangehörige nicht Ge- Gesellschaft an den Tag zu legen. brauch gemacht. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich glaube, eines sollte auch in aller Deutlichkeit fest- NEN]: Machen Sie mal Vorschläge!) gehalten werden: Eine erfolgreiche Integration kann Aber ich bin dezidiert der Auffassung, dass dieser rich- nicht mit dem Gewähren des aktiven und passiven Wahl- tige Wunsch nicht dadurch erfüllt wird, dass man auslän- rechts im kommunalen Bereich erreicht werden. Die dischen Mitbürgerinnen oder Mitbürgern das kommu- Möglichkeit, sich im kommunalen Bereich aktiv und nale Wahlrecht gibt. Ganz im Gegenteil: Wenn ich bei passiv an Wahlen zu beteiligen, kann erst am Ende einer mir im Wahlkreis mit Ausländerinnen und Ausländern (D) (B) erfolgreichen Integration stehen. spreche, dann sagen sie nicht, dass es ihr hehrster (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!) Wunsch ist, endlich an Kommunalwahlen teilzunehmen. Sie sagen, dass sie ordentlich geleistete Integrations- Darauf gilt es meines Erachtens auch in aller Deutlich- arbeit an den Schulen wollen. Sie wollen natürlich auch keit hinzuweisen. einen Job; sie wollen Arbeit, mit der sie auch ihre Fami- lie ernähren können. Sie wollen, was das gesellschaftli- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: che Leben insgesamt anbelangt, gleich behandelt wer- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der den. Aber ich habe noch von keinem ausländischen Kollegin Dağdelen? Mitbürger den Wunsch gehört, endlich an einer Kommu- nalwahl teilzunehmen zu können. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Aber hier keine Nachtgedanken!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In meinem Wahlkreis ist das an- ders!) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Ich bin auch zu später Stunde selbstverständlich noch Vor diesem Hintergrund sehe ich dieses Thema derzeit gerne bereit, die Frage zu beantworten. als absolut am unteren Ende der politischen Agenda an- gesiedelt an. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von Sevim Dağdelen (DIE LINKE): der Opposition, mir fehlt in Ihren Anträgen bzw. Gesetz- entwürfen vor allem auch ein Hinweis darauf, welche Vielen Dank, das ist der bayerische Charme. – Ich Mindestaufenthaltszeit erfüllt sein sollte, damit ein Aus- habe wirklich nur eine ganz kurze Frage. Sie haben auf länder sein aktives und passives Wahlrecht im Kommu- die niedrige Wahlbeteiligung der Drittstaatsangehörigen nalbereich wahrnehmen kann. in den EU-Ländern hingewiesen, in denen es das kom- munale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige gibt. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das Ihre Meinung ist, dann Herr Kollege Mayer, in Deutschland – sowohl auf konkretisieren Sie das mal!) kommunaler Ebene als auch bei Landtagswahlen oder bei der Bundestagswahl – beklagen sehr viele Organisa- Nach Ihren Anträgen bzw. Gesetzentwürfen dürfte ein tionen, selbst die Parteien, dass die Wahlbeteiligung im- Ausländer, auch wenn er sich nur drei oder sechs Monate mer geringer wird. in Deutschland aufhält, in seiner Heimatgemeinde an der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3245

Stephan Mayer (Altötting) (A) Kommunalwahl teilnehmen. Das ist doch in jeder Hin- Ich bitte Sie, endlich die Argumente zur Kenntnis zu (C) sicht absurd und vollkommen illusorisch. nehmen und die Debatte über ein kommunales Wahl- recht für Drittstaatsangehörige in Deutschland zu been- (Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang den. Lassen Sie uns die Zeit lieber darauf verwenden, Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: EU- uns damit zu befassen, was wir machen können, um die Bürger dürfen das!) in Deutschland lebenden Ausländer noch besser und in- tensiver in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Wenn dann immer wieder gesagt wird: „Wir haben doch jetzt seit den 90er-Jahren auch das kommunale Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Wahlrecht für EU-Ausländer“, dann bitte ich dabei zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bedenken, dass in Deutschland der Grundsatz gilt: Glei- neten der FDP) ches muss gleich und Ungleiches muss ungleich behan- delt werden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird NEN]: Aber Sie haben eben vom Staatsvolk Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1047, geredet, zu dem man gehören muss, um teil- 17/1150 und 17/1146 an die in der Tagesordnung aufge- nehmen zu können! Sie sind widersprüchlich!) führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so Es besteht nun einmal ein Unterschied zwischen einem beschlossen. EU-Ausländer und einem Drittstaatsangehörigen. In der Präambel unseres Grundgesetzes gibt es den ganz klaren Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf: Hinweis, dass es unser Ziel ist, uns in die Europäische Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Union zu integrieren. Es gibt den Art. 23 des Grundge- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz setzes. Es gilt festzuhalten, dass ein elementarer Unter- und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un- schied zwischen EU-Ausländern und Drittstaatsangehö- terrichtung der Bundesregierung rigen besteht. Deswegen ist es meines Erachtens nur folgerichtig und sachgerecht, dass EU-Ausländern sehr Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- wohl das aktive und passive Kommunalwahlrecht einge- schen Parlaments und des Rates über das räumt wird, Drittstaatsangehörigen hingegen nicht. Inverkehrbringen und die Verwendung von Biozidprodukten (Text von Bedeutung für den (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- EWR) (inkl. 11063/09 ADD 1 und 11063/09 NEN]: Sie machen sich unbeliebt bei Ihren ADD 2) (B) (D) Leuten, wenn Sie hier endlos reden! Das wa- (ADD 1 in Englisch) ren gefühlt schon 16 Minuten!) KOM(2009) 267 endg.; Ratsdok. 11063/09 Es ist schon auf die meines Erachtens sehr bemer- – Drucksachen 17/136 Nr. A.94, 17/1218 - kenswerte Rede des türkischen Ministerpräsidenten Berichterstattung: Recep Tayyip Erdoğan vom 27. Februar in hin- Abgeordnete Ingbert Liebing gewiesen worden. Manche Passagen daraus – ich zitiere Dr. Bärbel Kofler nur: Wir sind alle Geschwister; wir sind Kinder dessel- Dr. Lutz Knopek ben Stammes – zeigen meines Erachtens schon, wes Ralph Lenkert Geistes Kind Tayyip Erdoğan ist. Dorothea Steiner (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu NEN]: Das ist ja kein Vorbild für uns! Jetzt diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – grenzen Sie sich mal davon ab!) Damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um fol- gende Kolleginnen und Kollegen: Ingbert Liebing, Josef Letzten Endes geht es ihm darum, ein Pantürkentum zu Göppel, Dr. Bärbel Kofler, Dr. Lutz Knopek, Ralph schaffen. Demzufolge besteht meines Erachtens die Lenkert und Dorothea Steiner.1) eklatante Gefahr, dass, wenn es das kommunale Auslän- derwahlrecht für Drittstaatsangehörige gäbe, offenkun- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- dig die Möglichkeit bestände, dass auf die in Deutsch- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit land lebenden Türken bei Kommunalwahlen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung. Der entsprechend eingewirkt werden würde. Die Möglich- Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf keit der Instrumentalisierung ist meines Erachtens bei- Drucksache 17/1218, in Kenntnis der Unterrichtung eine leibe nicht von der Hand zu weisen. Das ist meiner Mei- Entschließung anzunehmen. Gleichwohl müssen wir nung nach auch ein entscheidender Grund, sich auch über diese Beschlussempfehlung abstimmen. Wer vehement gegen ein aktives und passives kommunales stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage- Wahlrecht für Drittstaatsangehörige auszusprechen. Des- gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist an- wegen kann ich zum Schluss nur in aller Deutlichkeit genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen festhalten: Es ist sowohl dem Gesetzentwurf der SPD- gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen. Fraktion als auch dem der Grünen-Fraktion sowie dem Antrag der Linkspartei die Absage zu erteilen. 1) Anlage 9 3246 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Überweisungsvorschlag: (C) Auswärtiger Ausschuss (f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe W. Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dittrich, wei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union terer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE Interfraktionell wird vorgeschlagen, auch hier die Zur Stabilisierung des Rentenniveaus: Riester- Reden zu Protokoll zu geben. – Auch damit sind Sie Faktor streichen – Keine nachholenden Ren- einverstanden. Es sind folgende Kolleginnen und Kolle- tendämpfungen vornehmen gen: Karl-Georg Wellmann, Franz Thönnes, Dr. Bijan Djir-Sarai, Wolfgang Gehrcke und Marieluise Beck.3) – Drucksache 17/1145 – Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Drucksache 17/1153 an die in der Tagesordnung aufge- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu geben. – Sie sind damit einver- Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 18 sowie standen. Folgende Kolleginnen und Kollegen haben dies Zusatzpunkt 6: getan: Peter Weiß, Max Straubinger, Anton Schaaf, 18 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Dr. Heinrich Kolb, und Dr. Wolfgang 1) Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Strengmann-Kuhn. weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf LINKE Drucksache 17/1145 an die in der Tagesordnung vorge- Altschulden der ostdeutschen Wohnungs- sehenen Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überwei- unternehmen streichen sung so beschlossen. – Drucksache 17/1148 – Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 16: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Haushaltsausschuss Höfken, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD (B) Anbau von gentechnisch veränderter Kartof- (D) fel Amflora verhindern Altschuldenentlastung für Wohnungsunter- nehmen in den neuen Ländern – Drucksache 17/1028 – – Drucksache 17/1154 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Überweisungsvorschlag: Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Auch hier wurde interfraktionell vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- Reden zu Protokoll zu geben. – Auch hier sind Sie da- gende Kolleginnen und Kollegen: Parlamentarischer mit einverstanden. Es sind folgende Kolleginnen und Staatssekretär Jan Mücke, Volkmar Vogel, Hans- Kollegen: Carola Stauche, Josef Rief, Elvira Drobinski- Joachim Hacker, Petra Müller, Heidrun Bluhm und Weiß, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Kirsten Stephan Kühn. Tackmann und Ulrike Höfken.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Drucksache 17/1028 an die in der Tagesordnung aufge- 20 Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir lei- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein- der immer noch mit den Altlasten der DDR-Vergangen- verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so heit zu kämpfen – auf vielen Gebieten des gesellschaftli- beschlossen. chen Lebens. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Eines der wichtigsten Felder war ein menschenwür- Beratung des Antrags der Fraktion der SPD diges Wohnumfeld, und zwar überall. Ein intakter, be- zahlbarer und sozial ansprechender Wohnungsmarkt ist Modernisierungspartnerschaft mit Russland – unser Ziel. Gerade ostdeutsche Wohnungsunternehmen Gemeinsame Sicherheit in Europa durch stär- stehen vor großen Herausforderungen, die sie meistern kere Kooperation und Verflechtung müssen. Dazu gehören die zu DDR-Zeiten aufgebürde- – Drucksache 17/1153 – ten Altschulden und gleichzeitig hoher Leerstand durch Wegzug und demografischen Wandel.

1) Anlage 10 2) Anlage 11 3) Anlage 12 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3247

Volkmar Vogel (Kleinsaara) (A) Um es klar zu sagen: Alle Akteure am ostdeutschen werdender Wohnungsleerstand zu beklagen. Die wenigs- (C) Wohnungsmarkt haben Hervorragendes geleistet in den ten Wohnungen waren auf modernen Standard saniert. letzten Jahren. Die christlich-liberale Koalition wird Die Wohnungsunternehmen standen in den letzten zwei das weiterentwickeln, was sie bereits 1993 mit dem Alt- Jahrzehnten also vor enormen Aufgaben. Sie hatten schuldengesetz auf den Weg brachte. Auch das Pro- noch eine weitere Last zu tragen: Altschulden. Im Zuge gramm Stadtumbau Ost wird fortgesetzt und durch wei- der Herstellung der deutschen Einheit wurden die Alt- tere Felder ergänzt. schulden aus dem DDR-Wohnungsbau auf die Woh- nungsunternehmen übertragen und belasten sie bis Wir haben in unserem Koalitionsvertrag festgehalten, heute. Aufgrund der Qualität der Wohnungen und durch dass „beim Stadtumbau Ost die Aufwertung von Innen- hohe Leerstände konnten die Unternehmen nur wenig städten und die Sanierung von Altbausubstanz gestärkt Mieteinnahmen erzielen. Hinzu kam die gesetzliche Be- und der Rückbau der technischen und sozialen Infra- grenzung von Mietsteigerungen im Interesse der Mieter. struktur besser berücksichtigt werden soll. Der Erfolg Damit drückten die Altschulden besonders. Das Alt- des Programms soll nicht durch ungelöste Altschulden- schuldenhilfe-Gesetz ermöglichte den Abriss von Woh- probleme einzelner Wohnungsunternehmen beim Abriss nungen bei gleichzeitiger Befreiung von Altschulden. von Wohnungsleerstand gefährdet werden.“ Damit ha- 250 000 Wohnungen wurden auf diese Weise bis Ende ben wir einen klaren Arbeitsauftrag formuliert, den die 2009 zurückgebaut. Die Unternehmen wurden dadurch Koalitionsfraktionen und die Regierung sorgfältig, in die Lage versetzt, in einem Milliardenumfang Moder- überlegt und zielführend umsetzen. nisierungs- und Verbesserungsmaßnahmen für das Zugleich möchte ich auch noch mal deutlich die bis- Wohnumfeld zu finanzieren. herigen Leistungen hervorheben. Denn im Rahmen des Der Wohnungsleerstand konnte damit aber noch Solidarpaktes I von 1993 – nach dem Altschuldengesetz nicht gänzlich beseitigt werden. Jetzt droht aufgrund der (AHG) vom 23. Juli 1993 – wurden bereits 14 Milliarden demografischen Entwicklung eine zweite Leerstands- Euro an Teilentlastungen und 2,6 Milliarden Euro an welle in den neuen Ländern. Zu der einen Million leer- Zinshilfen gezahlt. Den Wohnungsgesellschaften und stehender Wohnungen könnten Schätzungen zufolge bis Genossenschaften, deren Existenz infolge Leerstands 2020 weitere 430 000 hinzukommen. Neue finanzielle gefährdet ist – und dies ist ab einer Leerstandsquote von Belastungen drohen den ostdeutschen Wohnungs- 15 Prozent der Fall –, erhalten zusätzlich eine Altschul- unternehmen: weitere Mietrückgänge und höhere Be- denentlastung nach der Härtefallregelung des Paragra- triebskosten in der alten Gebäudesubstanz. Mit etwa fen 6 a AHG, soweit diese ihren Antrag bis zum 4 000 Euro Restschuld pro Wohnung stehen die ostdeut- 31. Dezember 2003 bei der Kreditanstalt für Wiederauf- schen Wohnungsunternehmen noch in der Kreide. Sie bau eingereicht haben. (B) müssen davon dringend entlastet werden, um den Spiel- (D) raum dafür zu gewinnen, weiter ihren Beitrag zu einer Hans-Joachim Hacker (SPD): Aufwertung der Quartiere leisten zu können. Viele nach Mit dem seit 2002 laufenden Förderprogramm Stadt- 1990 instandgesetzte Wohnungen müssen bald wieder umbau Ost konnte ein Meilenstein für die Entwicklung saniert werden. Bei vielen Wohnungen ist dringend eine ostdeutscher Städte gesetzt werden. Das milliarden- energetische Sanierung notwendig. Leerstehende Woh- schwere Programm hat es ermöglicht, städtebauliche nungen müssen zu einem großen Teil zurückgebaut, das Fehlentwicklungen zu korrigieren und Quartiere aufzu- Wohnumfeld verbessert werden. Dafür brauchen die ost- werten. Das Programm geht auf eine Initiative der rot- deutschen Wohnungsunternehmen Luft, die sie durch grünen Bundesregierung im Jahre 2001 zurück und war eine Entlastung bei den Altschulden erhalten können. nach Vorlage des Berichts einer Expertenkommission zum wohnungswirtschaftlichen Strukturwandel in den Bei der Evaluation des Programms Stadtumbau Ost neuen Ländern ergriffen worden. Neben der Stabilisie- im vergangenen Jahr waren wir uns einig, dass dieses rung von Stadtteilen sollten auch besonders wertvolle Programm erfolgreich war und fortgesetzt werden muss. innerstädtische Altbaubestände mit überdurchschnittli- Wir haben uns dazu mit einem Beschluss des Bundes- chen Leerständen gerettet werden. Von Anfang an waren tages bekannt. Ein Teil des Beschlusses beinhaltete die zwei Dinge in dem Programm klar: Abriss und Aufwer- Prüfung, wie eine weitere Entlastung der Wohnungs- tung sind zwei Seiten derselben Medaille. Es ging nicht unternehmen von Altschulden ausgestaltet werden nur darum, überschüssigen Wohnraum zu entfernen, könnte. Hier setzt der Antrag der SPD-Bundestagsfrak- sondern gleichzeitig Wohnbedingungen in Quartieren tion an. Wir fordern eine abschließende Regelung der durch Sanierungen zu verbessern. Und zweitens: Das Altschuldenproblematik, die es den Wohnungsunterneh- Programm war und ist ein „lernendes Programm“, das men in den neuen Ländern ermöglicht, durch Umbau sich ständig weiterentwickeln sollte. Es war damit im bzw. Abriss und Wohnumfeldmaßnahmen Quartiere zu Zusammenspiel von Bund, Ländern und Gemeinden bes- stabilisieren und aufzuwerten. Uns geht es darum, allen tens geeignet, Lösungen für die Probleme bei der Stadt- Wohnungsunternehmen gleichermaßen die Chance für entwicklung in den neuen Ländern umzusetzen. Investitionen in Rückbaumaßnahmen, energetische Sa- nierung und altersgerechten Umbau zu geben. Die Alt- Die Städte und die Wohnungsunternehmen in den schulden müssen bedient werden. Sie dürfen aber nicht neuen Ländern standen nach der Wiedervereinigung vor Hindernis für die dringend erforderlichen Investitionen gewaltigen Herausforderungen. Durch Abwanderung sein. In diesem Sinne sollten wir gemeinsam den Antrag und Wegzug ins Städteumland war ein immer größer beraten und danach beschließen.

Zu Protokoll gegebene Reden 3248 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Petra Müller (Aachen) (FDP): Stadtentwicklung, die bereits im FDP-Landeswahlpro- (C) Beim Stadtumbau Ost soll die Aufwertung von In- gramm NRW verankert ist. nenstädten und die Sanierung von Altbausubstanz Es ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer abschätzbar, in- gestärkt und der Rückbau der technischen und so- wieweit die Fortführung des Programms von einer Wei- zialen Infrastruktur besser berücksichtigt werden. terführung der Altschuldenhilfe abhängt. Unbestritten Der Erfolg des Programms soll nicht durch unge- ist, dass es durch einen behutsamen Rückbau zu einer löste Altschuldenprobleme einzelner Wohnungsun- Aufwertung der betroffenen Quartiere gekommen ist. Al- ternehmen bei Abriss von Wohnungsleerstand ge- lein deshalb hat der Bund mit der Ersten Verordnung zur fährdet werden. Änderung der Altschuldenhilfeverordnung vom 14. No- So steht es im Koalitionsvertrag, und genau so wer- vember 2008 zum Beispiel die Abrissfrist von 2010 auf den wir auch mit dieser Frage umgehen. 2013 verlängert. Das Altschuldenhilfe-Gesetz trat 1993 in Kraft. Die Wir erwarten, dass die Wohnungsunternehmer und ostdeutschen Wohnungsunternehmen wurden dadurch Kommunen über die integrierten Stadtentwicklungskon- etwa um die Hälfte ihrer noch aus DDR-Zeiten stam- zepte und die Flexibilisierung der Stadtumbaupro- menden Altschulden entlastet. Ende 1993 betrugen die gramme eine noch engere Zusammenarbeit in Betracht Altschulden einschließlich aufgelaufener Zinsen circa ziehen. Die Länder haben über die Verwaltungsverein- 30 Milliarden Euro. Im Rahmen des Solidarpaketes I er- barung 2010 sowie über die Bauministerkonferenz die hielten die ostdeutschen Wohnungsunternehmen eine Möglichkeit, sich auszutauschen. Wir werden prüfen, ob Teilentlastung von rund 14 Milliarden Euro zulasten des es bezüglich § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes eine Bundes und 2,6 Milliarden Euro Zinshilfe von Bund und Anschlussregelung für die Härtefallregelung geben Ländern. Im Jahr 2001 wurde das Gesetz dahin gehend wird. Die heutigen Anträge der SPD und der Linken leh- ergänzt, dass Wohnungsunternehmen, deren Existenz in- nen wir deshalb ab. folge Leerstands ab 15 Prozent gefährdet ist, zusätzliche Altschuldenentlastung nach der Härtefallregelung in Insgesamt hat sich die wirtschaftliche Situation der § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetz erhalten. Der entspre- Wohnungsunternehmen und Kommunen durch unsere chende Antrag musste bis zum 31. Dezember 2003 bei Städtebauförderprogramme und die KfW-Förderpro- der KfW eingegangen sein. Es erfolgte somit eine Förde- gramme wesentlich verbessert. Das Evaluierungsgut- rung des Abrisses, verbunden mit dem Erlass der Alt- achten zum Stadtumbau Ost aus 2008 hat gezeigt, dass schulden. Bei einem Abriss bis Ende 2013 wird durch die sich bei fast allen sogenannten §-6-a-Unternehmen die KfW ein Tilgungszuschuss bis zu 77 Euro pro Quadrat- wirtschaftliche Situation verbessert hat. Ob in Zukunft meter gewährt. weiter die Altschuldenhilfe notwendig ist, werden wir (B) eingehend prüfen. Dabei wird die Haushaltskonsolidie- (D) Der Stadtumbau Ost unterstützt die Kommunen bei rung nicht aus dem Blick verloren. Ab dem Jahr 2011 der Bewältigung der städtebaulichen Folgen des demo- stehen wir vor einer finanzpolitischen Herausforderung, grafischen und wirtschaftlichen Strukturwandels durch für die es bislang in der jüngeren Geschichte der Bun- Maßnahmen der städtebaulichen Aufwertung und des desrepublik kein Beispiel gibt. städtebaulich bedingten Rückbaus von dauerhaft nicht mehr benötigten Wohnungen. Es geht um eine nachhal- Heidrun Bluhm (DIE LINKE): tige Aufwertung und Stabilisierung von Stadtquartieren So oft, wie dieses Thema schon in diesem Haus zur mit dem Ziel, den Strukturwandel der ostdeutschen Debatte stand, sollten Sie alle hier eigentlich genug da- Städte zu unterstützen und eine Konsolidierung des von haben und endlich der längt überfälligen Streichung Wohnungsmarktes zu bewirken. der Altschulden ostdeutscher Wohnungsunternehmen Der Stadtumbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte. Der zustimmen. Dass Sie, meine Damen und Herren auf der Schrumpfungsprozess der Städte geht meist einher mit Regierungsbank, das ja eigentlich und unter bestimmten hoher Arbeitslosigkeit sowie geringer Steuereinnahmen Voraussetzungen vielleicht sogar wollen würden, haben und Kaufkraft. Deshalb müssen im Mittelpunkt die Sie doch im Koalitionsvertrag – wenn auch ein wenig Quartieraufwertung, der bedarfsgerechte Umbau und verschämt – zum Ausdruck gebracht. Frei nach Karl der Wohnungsrückbau stehen. Neben dem Abriss müs- Valentin: „Möchten hätten wir schon gewollt – aber sen wir uns auch um die Sanierung von historischen und dürfen ham mer uns nicht getraut.“ Nur „eigentlich“ stadtbildprägenden Altbauten kümmern und so den Er- und „vielleicht“ reichen – wie so oft – auch dieses Mal halt und die Sanierung historischer Quartiere weiter vo- nicht. Geben Sie sich endlich einen Ruck! Handeln Sie rantreiben. Seit 2008 können Mittel der Altschuldenhilfe jetzt, und tun Sie es gründlich! Aussitzen lässt sich die- in Einzelfällen statt zum Abriss auch zur Sanierung von ses Problem ohnehin nicht, und je länger Sie warten, stadtbildprägenden Altbauten verwendet werden. umso dramatischer und kostspieliger wird die Lage vie- ler ostdeutscher Wohnungsunternehmen am Ende für Wir stehen vor der Herausforderung, unsere Städte uns alle. Ich werde, da können Sie sicher sein, in dieser und Gemeinden fit zu machen für die Zukunft. Als stadt- Angelegenheit hartnäckig bleiben, bis Sie Ihre eigenen entwicklungspolitische Sprecherin meiner Fraktion lege Ankündigungen ernst nehmen. ich großen Wert auf einen ganzheitlichen Ansatz und nicht nur auf die Lösung von Detailproblemen einzelner Altschulden nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz waren Stadtteile. Diesen ganzheitlichen Ansatz verfolgt auch von Anfang an ein willkürliches politisches Konstrukt mein Zukunftsprojekt, die energetisch-dynamische und bleiben eine schreiende Ungerechtigkeit. Fernab

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3249

Heidrun Bluhm (A) von jeder wirtschaftlichen Verantwortung der Woh- Probleme. Aber er würde wirken wie der Einstieg in ein (C) nungsunternehmen für die Staatsschulden der DDR und neues Konjunkturpaket und könnte signalisieren, dass um einen unliebsamen Mitbewerber in der Wohnungs- auch die Bundesregierung allmählich eine Ahnung da- und Immobilienbranche dauerhaft zu schwächen, sind von bekommt, was uns auf dem Gebiet von Wohnungs- denen in einem historisch wohl einmaligen politischen und Städtebau in den nächsten Jahrzehnten bevorsteht. Willkürakt Milliardenlasten aufgebürdet worden, wegen Nur so können wir unsere stärksten Partner im Stadt- der sie sich bis heute nicht zu der treibenden Kraft beim umbau erhalten. Stadtumbau Ost entwickeln konnten, die sie eigentlich sein müssten. Diese Ungerechtigkeit und wirtschafts- Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): politische Unvernunft werden nicht gerechter oder ver- nünftiger, wenn Sie sie bis zum bitteren Schluss durch- Zum wiederholten Male wird die Problematik der Alt- halten wollen und in der Konsequenz schließlich uns schulden der ostdeutschen Wohnungsunternehmen in allen damit schaden. diesem Hause debattiert. Ich bin auch durchaus der Meinung, dass die Altschuldenproblematik einen Kon- Wir stehen mit unserer Forderung nach Altschulden- struktionsfehler der deutschen Einheit darstellt, der die entlastung ja auch längst nicht allein. Auch der GdW, ostdeutsche Wohnungswirtschaft nachhaltig belastet. der Bundesverband der deutschen Wohnungs- und Im- Deswegen haben Bündnis 90/Die Grünen sich in der mobilienunternehmen, hat jüngst – zum wiederholten Kleinen Anfrage „Fortführung und inhaltliche Aus- Mal – gemeinsam mit ostdeutschen Mitgliederverbän- richtung des Programms Stadtumbau Ost“, Drucksache den in seiner Leipziger Erklärung gefordert: „Wir 17/974, auch nach verlässlichen Zahlen zur Problematik brauchen eine Lösung der Altschuldenfrage, um das er- erkundigen wollen, um überhaupt einmal die Dimension folgreiche Fortschreiten des dringend notwendigen des Problems realistisch einschätzen zu können. Wir Stadtumbaus in Ostdeutschland und damit die weitere mussten feststellen, dass der Bundesregierung auf die positive Entwicklung der ostdeutschen Städte nicht zu Frage der Höhe der Altschulden der kommunalen und gefährden.“ Es geht bei der Entscheidung „Altschulden genossenschaftlichen Unternehmen anscheinend keine streichen oder nicht“ längst nicht mehr nur um die Exis- Informationen vorliegen. Auf unsere Frage, ob denn tenz und wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Wohnungs- weitere Entlastungen für die Wohnungsunternehmen unternehmen, sondern, auch das hat der GdW richtig er- oder ein Erlass der Altschulden geplant seien, wurde et- kannt, um die Zukunftsfähigkeit der ostdeutschen Städte. was wortkarg geantwortet: „Dies wird zur Zeit geprüft. Deshalb wollen wir ja auch gar nicht, dass die noch mit An einen Erlass der Altschulden ist nicht gedacht.“ Mei- Schulden belasteten Unternehmen den Erlass zum Null- nen Sie nicht, dass es an der Zeit ist, diese Informationen tarif bekommen. Wir wollen, dass die Wohnungsunter- einzuholen und an die Bundestagsfraktionen weiterzu- (B) nehmen, statt noch weitere 25 bis 30 Jahre Kapitaldienst geben? Der aktuelle Kenntnisstand des Ministeriums (D) an die Banken zu leisten, die frei werdenden Mittel in die dient jedenfalls nicht einer lösungsorientierten Debatte. Kofinanzierung der Gebäudesanierungs- und Stadtum- bauprogramme stecken, die Sie hier gerade vor wenigen Wir benötigen verlässliche Zahlen als Grundlage für Tagen mit dem Haushalt 2010 beschlossen haben. Dazu die politische Diskussion. Diese bekommen wir auch benötigen sie Eigenkapital, das diese Unternehmen beim Antrag der Linken übrigens nicht dargestellt. Sie nicht in ausreichendem Maße haben, weil Sie es ihnen übernehmen ohne weiteres Hinterfragen des GdW-Bun- vorenthalten. desverbands die Angabe 4 000 Euro durchschnittliche Belastung pro Wohnung zur Beschreibung des Problems, Wir wollen die entlasteten Unternehmen verpflichten, schweigen sich aber über die Anzahl der belasteten frei gewordene Mittel in die Umsetzung des CO2-Gebäu- Wohnungen aus, sodass wir wiederum keine Erkenntnis desanierungsprogrammes zu leiten und dabei die Kalt- zur finanziellen Dimension des Themas erhalten. Woher miete für einige Jahre stabil zu halten, damit Segrega- nimmt die Linke die Erkenntnis, dass „ohne Altschul- tion und Entmischung des sozialen Gefüges ganzer denentlastung sich Wohnungsunternehmen nicht oder Stadtteile entgegengewirkt werden kann. Das wäre öko- nur in Ausnahmefällen am Stadtumbau beteiligen kön- logisch und sozial. Wir wollen die Unternehmen in die nen“? Lage versetzen – und zwar auch das verbindlich –, Mit- tel aus den Programmen zum Stadtumbau in Anspruch Sie wissen, dass es diese Entlastung durch die Alt- zu nehmen und in den Beginn von Stadtumbau hin zur schuldenhilfe bereits gibt. Sie wissen auch, dass sehr „Sozialen Stadt“ zu investieren. Das wäre konjunkturbe- viele Unternehmen die Unterstützungen wahrnehmen. lebend und politisch verantwortlich. Laut der Beantwortung unserer Anfrage sollen 78 Pro- zent der abgerissenen Wohnungen dank der Altschul- Es geht nämlich schon lange nicht mehr nur darum, denhilfe abgerissen worden sein. Bis 2013 stehen laut rückwärtsgewandt Fehler zu korrigieren und Schaden Ministerium noch 230 Millionen Altschuldenhilfemittel zu begrenzen, sondern es geht trotz des dramatischen zur Verfügung. Die Frage ist gegenwärtig, ob diese Mit- Wohnungsleerstandes in einigen Regionen Ostdeutsch- tel für den bevorstehenden Stadtumbau ausreichen wer- lands darum, dem drohenden strukturellen Wohnungs- den oder nicht? Laut unserer Anfrage „wird dies zurzeit mangel, der auf wachsende Städte zukommt, rechtzeitig geprüft“. Wir sind gespannt auf die Antwort und die und programmatisch entgegenzuwirken. Der Altschul- Zeit, die das Ministerium für diese Antwort benötigt. denerlass für die ostdeutschen Wohnungsunternehmen – das ist uns selbstverständlich bewusst – ist nicht der Ich sage Ihnen schon einmal: Wir von Bündnis 90/Die Zauberschlüssel zur Lösung aller wohnungspolitischen Grünen sind auch nicht zufrieden mit dem Altschulden-

Zu Protokoll gegebene Reden 3250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Stephan Kühn (A) hilfe-Gesetz. Wir fördern Abriss mit Finanzhilfen, die ei- diese neue Kreditverträge mit Banken ihrer Wahl ge- (C) gentlich für den Aufbau Ost vorgesehen sind. Die Alt- schlossen. Darüber hinaus erhalten die Wohnungsunter- schuldenhilfe wird aus dem Korb II des Solidarpakts II nehmen, deren Existenz infolge Leerstands ab 15 Prozent finanziert. Diese Mittel sind absehbar endlich. Und ein gefährdet ist, seit 2001 zusätzliche Altschuldenentlas- Behelf ist keine nachhaltige Lösung. Sollte eine Neuauf- tung nach Härtefallregelung § 6 a Altschuldenhilfe-Ge- lage der Altschuldenhilfemittel notwendig werden, dann setz, soweit ihr Antrag bis zum 31. Dezember 2003 bei muss über eine ganzheitliche, nachhaltige Lösung der der KfW eingegangen ist. Bei Abriss der entsprechenden Altschuldenfrage nachgedacht werden. Dafür fordern Wohnfläche bis spätestens Ende 2013 wird den Unter- wir von der Bundesregierung verlässliche Zahlen. An- nehmen durch die KfW ein Tilgungszuschuss bis zu sonsten führen wir noch 2020 Debatten über Altschul- 77 Euro pro Quadratmeter gewährt. Rechtsgrundlage ist den, die ans Fischen im Trüben erinnern. die Altschuldenhilfeverordnung – AHGV – vom 15. De- zember 2000, die auf der Ermächtigungsgrundlage des Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- § 6 a AHG beruht. Die Härtefallregelung ergänzt die ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: umfassende Altschuldenentlastung für ostdeutsche Woh- nungsunternehmen von 1993. Nach dem Koalitionsvertrag soll der Erfolg des Pro- gramms Stadtumbau Ost nicht durch ungelöste Altschul- Mit einem Entschuldungsvolumen von insgesamt denprobleme einzelner Wohnungsunternehmen beim Ab- 1,1 Milliarden Euro wird so der Abriss von circa riss von Wohnungsleerstand gefährdet werden. Dies 280 000 Wohnungen bis 2013 gefördert – zusätzlich zu bedeutet, wir werden genau prüfen, ob eine Anschlussre- den Abrisshilfen des Programms Stadtumbau Ost. Bis- gelung für die Härtefallregelung nach § 6 a Altschulden- her wurden davon 80 Prozent – 885 Millionen Euro – hilfe-Gesetz – Kosten von circa 800 Millionen Euro bis ausgezahlt. Die tatsächlich erfolgten Abrisse blieben 2016 – notwendig ist, damit sich die Wohnungsunterneh- 2007 und 2008 hinter den ursprünglichen Abrissplänen men weiter am Abrissteil des Programms Stadtumbau der Unternehmen zurück – 50,7 Millionen Euro Ausga- Ost beteiligen können. Die Altschuldenregelung ist kein bereste. wohnungswirtschaftliches, sondern vielmehr ein städte- bauliches Instrument. Eine vollständige Altschuldenent- Mit der Ersten Verordnung zur Änderung der AHGV lastung aller von Altschulden betroffenen Wohnungsun- vom 14. November 2008, die unter anderem die Abriss- ternehmen unabhängig von der Leerstandsquote wie im frist von 2010 auf 2013 verlängert, hat der Bund auf zu- Antrag der Linken gefordert lehnen wir ab. Dies ist ange- nehmende Probleme der Wohnungswirtschaft beim Frei- sichts der Kostenbelastung von mehreren Milliarden ziehen für den Abriss vorgesehener Gebäude reagiert. Euro völlig illusorisch und wäre auch sachlich nicht zu Der Leerstand betrifft häufig nur noch Gebäudeteile, so- (B) rechtfertigen. dass die Wohnungsunternehmen in langwierigen Verfah- (D) ren vor Abriss Gebäude freiziehen oder die weitere Im Einzelnen: Altschulden sind aus der Zeit der DDR Leerstandsentwicklung abwarten müssen. Im Übrigen übernommene Wohnungsbaudarlehen. Die Finanzie- können mit dem 2008 eingeführten Haushaltsvermerk rung des Wohnungsneubaus erfolgte aus dem Staats- Mittel der Altschuldenhilfe statt zum Abriss auch zur Sa- haushalt sowie aus Krediten, die aus den Spareinlagen nierung von stadtbildprägenden Altbauten verwendet der Bürger der DDR bei den Sparkassen refinanziert werden. Diese Regelung dient zusammen mit den Siche- wurden. Vor der Währungsumstellung hatte die Staats- rungs- und Aufwertungsmaßnahmen des Programms bank der DDR rund 75 Milliarden Mark offene Forde- Stadtumbau Ost dem Erhalt von Altbauten. rungen für Wohnungsbaukredite. Diese wurden wie alle Schulden im Verhältnis 2:1 umgestellt. Die Deutsche Insgesamt hat sich die wirtschaftliche Situation der Kreditbank AG – DKB – sowie die Berliner Stadtbank Wohnungsunternehmen durch die Städtebauförderungen AG – BSB – hatten diese Schulden übernommen. Nach – unter anderem Abrisspauschale und Aufwertungsmit- Art. 22 Abs. 4 des Einigungsvertrages wurden die Kom- tel im Programm Stadtumbau Ost – sowie durch die Alt- munen oder die Wohnungsgenossenschaften Schuldner schuldenhilfe, aber auch durch die sehr günstige Zins- der Baukredite. Wohnungen und Schulden wurden in der entwicklung wesentlich gebessert. Entsprechend dem Regel von den Kommunen auf neu gegründete kommu- Gutachten zur Evaluierung des Programms Stadtumbau nale Wohnungsunternehmen übertragen. Die Wohnun- Ost in 2008 ist bei fast allen sogenannten §-6-a-Unter- gen der Wohnungsgenossenschaften sind einschließlich nehmen eine Konsolidierung der wirtschaftlichen Situa- der Verbindlichkeiten in deren Eigentum verblieben. tion zu verzeichnen. Nach Erhebungen des GdW hat sich die Leerstandsquote von 16,2 Prozent 2002 auf circa Die Altschulden betrugen am 31.Dezember 1993 ein- 10 Prozent Ende 2009 reduziert. Außerdem sind eine schließlich aufgelaufener Zinsen circa 30 Milliarden Steigerung der Gesamt- und Eigenmittelrentabilität so- Euro. Die ostdeutschen Wohnungsunternehmen erhiel- wie ein besseres Rating bei den Gläubigerbanken zu ver- ten im Rahmen des Solidarpaktes I von 1993 bisher nach zeichnen. Wohnungsunternehmen zahlen inzwischen Altschuldenhilfe-Gesetz – AHG – vom 23. Juli 1993 eine zum Teil Dividenden an ihre Kommunen. hälftige Teilentlastung in Höhe von 14 Milliarden Euro zulasten des Bundes und 2,6 Milliarden Euro Zinshilfe Inwieweit der Erfolg des Programms Stadtumbau zulasten von Bund und Ländern. Diese Teilentlastung Ost, zu dem auch der bedarfsgerechte Abriss von leer- senkte die Altschulden auf durchschnittlich 77 Euro pro stehenden Wohnungen gehört, der von der Programm- Quadratmeter Wohnfläche. Über die bei den Wohnungs- evaluierung mit 200 000 bis 250 000 Wohnungen bis unternehmen verbliebenen Altverbindlichkeiten haben 2016 ermittelt wurde, tatsächlich von der Weiterführung

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3251

Parl. Staatssekretär Jan Mücke (A) der Altschuldenhilfe abhängt, ist vor diesem Hinter- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19: (C) grund schwer abschätzbar. Einerseits erfolgten knapp 80 Prozent der bisherigen Abrisse durch Wohnungsun- Beratung des Antrags der Abgeordneten ternehmen mit Altschuldenentlastung. Andererseits ha- Dr. Rosemarie Hein, Agnes Alpers, Nicole ben die Unternehmen durch die grundsätzlich kostende- Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ckenden Abrisshilfen des Stadtumbaus, auch ohne DIE LINKE Altschuldenhilfe, starke Anreize zum Abriss, um ihre Kooperationsverbot in der Bildung unverzüg- Leerstandskosten weiter zu reduzieren. Ob und inwie- lich aufheben weit zusätzlich dabei die Altschuldenhilfe notwendig ist, bedarf der eingehenden Prüfung. Dabei sind die schwie- – Drucksache 17/785 – rige Situation des Bundeshaushalts und die verfassungs- Überweisungsvorschlag: rechtlichen Konsolidierungsvorgaben zu berücksichti- Ausschuss für Bildung, Forschung und gen. Technikfolgenabschätzung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sollen die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Reden auch hier zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Tankred Schipanski, Marianne Schieder, Swen Schulz, den Drucksachen 17/1148 und 17/1154 an die in der Ta- Patrick Meinhardt, Dr. Rosemarie Hein und Priska Hinz. gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tankred Schipanski (CDU/CSU): „Rütteln am Grundgesetz“, so die „Süddeutsche Zei- Wir kommen zum Zusatzpunkt 7: tung“ am 1. März 2010, „Schavan für Bund-Länder- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Bund“, so die „FAZ“ am 17. März 2010, „Bildung richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- macht immer Ärger“, so die „Zeit“ vom 10. Dezember schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu 2009. Die Berichterstattungen befassen sich alle mit Äu- dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth ßerungen unserer Bundesministerin Schavan, die zu ei- (Quedlinburg), Cornelia Behm, Alexander nem Nachdenken über das sogenannte grundgesetzlich Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion verankerte Kooperationsverbot anregen sollen. Unsere BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ministerin gibt Denkimpulse und hinterfragt die gegen- wärtige strikte Aufgabentrennung im Bildungsbereich Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi- von Bund und Ländern in einem Bundesstaat. Das ist le- (B) schem Tierschutz Rechnung tragen – Stellung- gitim und richtig. Im Unterschied zur Opposition fordert (D) nahme des Deutschen Bundestages gemäß Ar- die Ministerin aber nicht die sofortige Neuordnung der tikel 23 Absatz 3 Grundgesetz Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern im Bil- dungsbereich. Vielmehr hat die Ministerin klargestellt: – Drucksachen 17/792, 17/1208 – Föderalismus beinhaltet eine klare Verteilung von Auf- Berichterstattung: gaben und Verantwortung. An dieser für moderne föde- Abgeordnete Dieter Stier rale Systeme kennzeichnenden klaren Verteilung sollten Heinz Paula wir festhalten. Ich verweise auf die Rede von Bundes- Dr. Christel Happach-Kasan ministerin Schavan vor dem Deutschen Bundestag am Alexander Süßmair 18. März 2010. Diese Einschätzung teilt auch die christ- Undine Kurth (Quedlinburg) lich-liberale Koalition. Für uns sind Bund, Länder und Kommunen Bil- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu dungspartner, genauso wie Studenten, Professoren und Protokoll zu geben. – Damit sind Sie einverstanden. Es Hochschulleitungen Bildungspartner sind. Bei einer sind folgende Kolleginnen und Kollegen: Dieter Stier, Partnerschaft braucht es keine verfassungsrechtliche Heinz Paula, Dr. Christel Happach-Kasan, Alexander Diskussion über sogenannte Kooperationsverbote. In ei- Süßmair und Undine Kurth.1) nem föderativ gestalteten Staat wie der Bundesrepublik Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss Deutschland stehen die Aufgabenbereiche von Bund und für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ländern grundsätzlich nebeneinander. Das Grundgesetz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- geht daher in Art. 30 in Verbindung mit Art. 83 sowie sache 17/1208, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Art. 104 a Abs. 1 grundsätzlich von einer strikten Aufga- Grünen auf Drucksache 17/792 abzulehnen. Wer stimmt ben- und Ausgabentrennung zwischen Bund und Län- für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – dern und einem Verbot der Mischverwaltung und -finan- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit an- zierung aus. Diese verfassungsrechtliche Trennung der genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Zuständigkeiten ist also staatsstrukturell bedingt und für gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Bundesstaat elementar. und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD- Von dem Grundsatz der Aufgabentrennung gibt es Fraktion. Ausnahmen, die ausdrücklich im Grundgesetz geregelt sind. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um die Ge- 1) Anlage 13 meinschaftsaufgaben, Art. 91 a bis d GG. Auch für den 3252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Tankred Schipanski (A) Bildungs- und Forschungsbereich verlangt das GG Zu- Jugendlichen in unserem Lande soll – unabhängig von (C) sammenarbeit und somit Kooperation, wie Art. 91 b ihrer sozialen Herkunft – der Zugang zu einer qualitativ Abs. 1 GG ausdrücklich kodifiziert. Nach Art. 91 b hochwertigen Bildung offen stehen. Zudem geht es uns Abs. 1 Nr. 1 GG können Bund und Länder bei der Förde- darum, Deutschland zu einem attraktiven und interna- rung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaft- tional wettbewerbsfähigen Wissenschafts- und For- lichen Forschung außerhalb von Hochschulen zusam- schungsstandort weiterzuentwickeln. Diese Ziele haben menwirken. Beispielhaft dafür steht der Pakt für für uns absolute Priorität. Forschung und Innovation. Art. 91 b Abs. 1 Nr. 2 GG ist die Grundlage für den Hochschulpakt 2020 sowie für Das von ihnen vorgetragene sogenannte Koopera- die Exzellenzinitiative. Art. 91 b Abs. 1 Nr. 3 GG besagt, tionsverbot gibt es in dieser Form nicht; Kooperationen dass Bund und Länder bei Forschungsbauten an Hoch- sind nicht per se verboten. Eine gesamtstaatliche Ver- schulen, einschließlich Großgeräten, zusammenwirken antwortung lässt sich nicht verbieten. Gute Bildung ist können. Die Ausgestaltung des Art. 91 b Abs. 2 GG zeigt, in Deutschland nicht verboten. In den Bereichen, in de- dass der Bund eine begrenzte Rolle im Bildungsbereich nen eine Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern hat. Hier wünscht sich unsere Ministerin die Möglichkeit nicht ausdrücklich kodifiziert ist, haben wir den Grund- eines stärkeren Engagements. Art. 104 b GG enthält und satz der Bundestreue zu beachten, der ein Zusammen- enthielt auch vor den Föderalismusreformen keine gene- wirken von Bund und Ländern erfordern kann. Wir sind relle Befugnis zur Zusammenarbeit von Bund und Län- dabei, unsere Erfahrungen der Föderalismusreform I dern im Bildungs- und Forschungsbereich. Der Bund zusammenzutragen. Unsere Ministerin hat mit Blick auf scheint danach nicht befugt zu sein, über Investitionshil- Art. 91 b Abs. 2 GG ihre Erfahrungen in die Diskussion fen hinaus inhaltlich Einfluss auf die Bildungspolitik der eingebracht. Die Bundesländer werden nunmehr ihre Länder zu nehmen. Erfahrungen kommunizieren. Wir Parlamentarier wer- den eine Gesamtbetrachtung der Ergebnisse vornehmen Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Die klare Auf- und die unterschiedlichen Interessen abwägen. Erst gabenzuweisung im Bundesstaat ist eingebettet in unsere dann kann sich ein Parlamentarier eine abschließende Verfassung. Unsere Verfassung ist gekennzeichnet von Meinung bilden, allen voran in einem so sensiblen Be- verschiedenen Verfassungsprinzipien. So ist im Bund- reich wie einer Grundgesetzänderung. Unser Meinungs- Länder-Verhältnis der Grundsatz des bundesfreundlichen bildungsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Ich darf Verhaltens, die sogenannte Bundestreue, elementar. Die- Ihnen jedoch bereits jetzt versichern, dass im Zentrum ses Prinzip ist – als ungeschriebene Generalklausel – unseres Meinungsbildungsprozesses die Frage stehen als staatsrechtliche Ausprägung des Grundsatzes von wird, wie wir als Bund mit den Ländern und Kommunen Treu und Glauben zu verstehen. Es verpflichtet den Bund zusammenwirken können, um unseren Kindern und (B) und die Länder, „bei der Wahrnehmung ihrer Kompeten- Jugendlichen die bestmöglichen Bildungschancen zu er- (D) zen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das öffnen und den Wissenschaftsstandort Deutschland vo- Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange ranzubringen. Dabei werden wir auch überlegen, in wel- der Länder zu nehmen“ (BVerfGE 92, 203 [239]). cher Form wir die Zusammenarbeit weiterentwickeln können. Zwar eröffnet die Bundestreue keine gesetzgeberische Kompetenz des Bundes. Dennoch lässt er sich meines Erachtens im Zusammenhang mit der Kritik am soge- Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): nannten Kooperationsverbot ins Feld führen: Soweit die Bildung ist ein wichtiges Gut, insbesondere für Kritiker befürchten, dass ein Kooperationsverbot zu weit Deutschland als innovatives Land der Dichter und Den- auseinanderklaffenden Differenzen in der Bildungs- ker. Wir tun gut daran, unser Bildungssystem ständig landschaft führt, dürfte dem die Bundestreue entgegen- weiterzuentwickeln, zu optimieren und allen Menschen stehen. Sie wirkt nämlich als Verpflichtung zur Zusam- unserer Gesellschaft einen gerechten Zugang zu ermög- menarbeit, Abstimmung, Koordination, gegenseitigen lichen. Kontraproduktiv wäre es, die Sorge um das Bil- Information und Rücksichtnahme, die insbesondere bei dungswesen dem Diskurs um Kompetenzen zu unterwer- Ausübung an sich gegebener Kompetenzen zu beachten fen. ist. Im Einzelfall kann sie dabei als Kompetenzschranke wirken. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Bun- In der Bundesrepublik Deutschland hat sich in den destreue verlangt von den Ländern eine Gesamtverant- letzten 60 Jahren der Bildungsföderalismus grundsätz- wortung für Deutschland. Dies gilt auch für den Bereich lich bewährt. Daher macht es auch Sinn, an ihm festzu- der Bildung. Das heißt: Bei der Herstellung von Bil- halten. Die aktuellen Herausforderungen im Bildungs- dungsgerechtigkeit müssen die Länder eine gesamtstaat- wesen haben jedoch gezeigt, dass die Absolutheit, mit liche Verantwortung wahrnehmen. der der Bildungsföderalismus derzeit zementiert und von den Bundesländern verteidigt wird, infrage zu stellen ist. Aktuell betrachtet bedeutet dies: Der Bund hat durch Daher macht es Sinn, das im Grundgesetz festgeschrie- die Bundesregierung der christlich-liberalen Koalition bene Kooperationsverbot zu überarbeiten. In diesem umfangreiche Finanzmittel für unsere Bildungsrepublik Punkt gehe ich mit dem Antrag der Fraktion Die Linke Deutschland zur Verfügung gestellt bzw. zugesichert. noch d’accord. Schwierig wird es allerdings mit dem Wir brauchen klare rechtliche Grundlagen, damit wir Wie. In erster Linie soll der Bund zum Finanzhilfengeber diese Gelder sinnvoll in unserer Bildungsrepublik ein- für die Länder im Bereich Bildung mutieren. Und das ist setzen können. Ziel der christlich-liberalen Koalition ist mir zu wenig, wenn es darum gehen soll, unser Bil- es, Bildungsgerechtigkeit zu schaffen. Allen Kindern und dungswesen für den internationalen Vergleich fit zu ma-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3253

Marianne Schieder (Schwandorf) (A) chen und vor allem für mehr Bildungsgerechtigkeit zu Hintergrund sie haben – eine Zusammenarbeit aller (C) sorgen. Ebenen nötig machen. Die Ergebnisse des Bildungsföde- ralismus sind ausweislich der PISA-Studien und anderer Wir brauchen eine enge Kooperation in verschiedens- wissenschaftlicher Erhebungen auch nicht so ermuti- ten Bereichen des Bildungswesens, wenn wir weiterkom- gend, dass alle anderen Nationen mit Neid auf unseren men wollen. Wir brauchen eine Kooperation zwischen schönen Föderalismus schauen. Das hat inzwischen so- Bund und Ländern. Wir brauchen eine Kooperation un- gar Bundesministerin Schavan erkannt. Dabei hatte sie ter den Bundesländern. Derzeit haben wir leider die Si- sich als Bildungsministerin Baden-Württembergs noch tuation, dass mit jeder Kultusministerkonferenz in ganz anders geäußert. Inzwischen freuen wir uns aber Deutschland neue Unterschiede zwischen den Bundes- über ihren Erkenntnisgewinn. Sie möchte den Bund als ländern entstehen. Da muss sich etwas ändern. Hier Akteur auch in der Schulpolitik sehen, um etwa Grund- sind der Bund und insbesondere das Bundesbildungs- ministerium gefordert, moderierend einzugreifen und schulen in sozialen Brennpunkten unterstützen zu kön- sich darum zu kümmern, die Legitimation dafür zu ha- nen. Darüber kann man im Einzelnen reden – wenn es ben. Bisher haben wir leider nur leere Ankündigungs- denn eine Grundgesetzänderung gäbe und das soge- reden von Frau Ministerin Schavan, dass sich hier etwas nannte Kooperationsverbot abgeschafft würde. Leider ändern müsse. vermissen wir bis heute bei allen schönen Reden und Wolkenschiebereien der Frau Schavan eine konkrete, Ich fordere die schwarz-gelbe Regierung auf, die handfeste Initiative zur Grundgesetzänderung. noch vorhandenen Mehrheiten zu nutzen und den Worten endlich Taten folgen zu lassen, um eine effektive Koope- Die kommt nun von der Fraktion Die Linke, aber lei- ration zwischen Bund und Ländern im Bildungswesen zu der nur halbherzig. Der Bund soll bei Aufgaben von ermöglichen. Zusammenarbeit beinhaltet auch, auf- überregionaler Bedeutung beim Ausbau des Bildungs- einander zu hören, miteinander zu reden und im Dialog systems mitwirken, insbesondere durch die Gewährung Vereinbarungen zu treffen. Dies, meine Damen und Her- von Finanzhilfen. Was ist von überregionaler Bedeutung ren von der Linken, vermisse ich in Ihrem Antrag, wenn und was nicht? Ist die Einrichtung von Ganztagsschulen es hier heißt, dass: „der Bund die Kompetenz erhält, in von überregionaler oder regionaler Bedeutung? Und die allen Bereichen der Bildung bei Aufgaben von überre- Hilfe für besonders belastete Schulen? Und warum nur gionaler Bedeutung, insbesondere durch die Gewährung Finanzhilfen? Warum soll der Bund nicht auch pädago- von Finanzhilfen, beim Ausbau des Bildungssystems gisches Personal stellen können? Nein, die optimale Lö- mitzuwirken“. Wenn das Kooperationsverbot im Bil- sung liegt doch wohl eher in der Schaffung einer echten dungswesen fällt, dürfen wir nicht neue Problemstellun- Kooperationsmöglichkeit von Bund und Ländern für die (B) gen schaffen, indem wir den Bund entweder zur Finanz- Bildung ohne einschränkende Bedingungen, die dann (D) melkkuh verkommen lassen oder den Bund auf Bereiche sowieso nur juristischen Streit provozieren. mit sogenannter überregionaler Bedeutung begrenzen. Qualifizierte Bildungspolitik für die Herausforderungen Ich habe, wie in der Haushaltsdebatte bereits ange- von morgen braucht mehr. Genauso fatal wäre es, dem kündigt, Bundesministerin Schavan in einem Brief ange- Bund einseitig die Kompetenz zu geben, ohne Rückkopp- boten, dass wir eine gemeinsame, überparteiliche Initia- lung mit den Ländern in die Bildungspolitik hineinagie- tive zur Grundgesetzänderung ergreifen. Man darf ren zu können. gespannt sein auf die Antwort. Natürlich gibt es viele Widerstände gegen eine Grundgesetzänderung. Das hat Ich halte daher fest, liebe Kolleginnen und Kollegen mit Eitelkeiten einiger Akteure zu tun, die schlicht nicht der Linken: Im Grunde ist ihr Anliegen unterstützens- zugeben möchten, dass die Föderalismusreform ein Feh- wert, doch in der Ausgestaltung bleiben viele Fragen of- ler war, und mit Verlustängsten: Die Bundesländer se- fen, und es droht eine Engführung, die neue Probleme hen den wichtigsten Kern ihrer Kompetenz – und damit provoziert. Die letzten Jahre haben zur Genüge gezeigt, ihrer Existenzberechtigung – bedroht. Doch das sind dass blinder Aktionismus in der Bildungspolitik über- Debatten, über die wir alle nur den Kopf schütteln wer- haupt nicht hilft. Bleibt zu hoffen, dass wir in diesem den, wenn sie einmal überwunden sind. Denn erstens Hohen Haus baldmöglichst über einen konkreten und wollen wir den Ländern doch nichts wegnehmen, son- ausgereiften Gesetzentwurf zur Frage des Koopera- dern nur bei der Bewältigung von Problemen zusam- tionsverbotes im Bildungswesens abstimmen können menarbeiten. Und zweitens: Kann sich heute noch je- und uns nicht weiter an Willenserklärungen abarbeiten mand vorstellen, dass bei der Föderalismusreform auch müssen. Abschließend kann ich für meine Fraktion sa- jede Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der gen, dass wir daran arbeiten, diesem Anspruch gerecht Hochschulpolitik grundgesetzlich verboten werden zu werden. sollte? Es war die SPD-Bundestagsfraktion, die mit der Androhung der Ablehnung der gesamten Reform eine Swen Schulz (Spandau) (SPD): Öffnung des Grundgesetzes zur Kooperation in der Wis- Der Radikalföderalismus in der Bildungspolitik hat senschaft erzwungen hat. Und dann gab es in Windeseile sich überlebt. Leider haben das aber noch nicht alle er- große und erfolgreiche Kooperationen von Bund und kannt. Dabei liegt auf der Hand, dass die Herausforde- Ländern für die Hochschule, etwa den Hochschulpakt. rungen im Bildungswesen, die Notwendigkeiten zu Ver- Man stelle sich nur für einen Moment vor, jemand wollte besserungen zur Erreichung optimaler Bildung für alle jetzt das Grundgesetz ändern und diese Kooperation – egal welcher Herkunft sie sind und welchen familiären verbieten wollen. Er würde ausgelacht.

Zu Protokoll gegebene Reden 3254 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Swen Schulz (Spandau) (A) So, genau so wird es auch beim Thema Schule gehen. Wir glauben an das Prinzip der Subsidiarität auch in (C) Wir müssen nur endlich einmal durchsetzen, dass die le- der Bildungspolitik, und zwar nicht deshalb, weil wir es bende Leiche Radikalföderalismus auch endlich beer- vor Jahrzehnten einmal beschlossen haben – das wäre digt wird. der Weg, den Sie mit Ihrer Zentralismusgläubigkeit ge- hen. Wir halten am Prinzip der Subsidiarität deshalb fest, weil es sich als der richtige Weg erweist, als der Patrick Meinhardt (FDP): richtige Weg gegen Bürokratie, gegen Innovationsfeind- Der hier vorliegende Antrag der Linken zeigt ganz lichkeit und für eine moderne Bildungspolitik, die nahe klar, dass es hier nicht um eine seriöse bildungspoliti- bei den Menschen ist. Der Wettbewerb um die beste Bil- sche Diskussion geht, sondern ausschließlich um ideolo- dung ist auch ein Wettbewerb der Länder um die beste gische Vorurteile. Die Linke zeigt wieder einmal, dass Bildungspolitik. sie ein grundsätzliches Problem mit der föderalistischen Ordnung des Grundgesetzes hat. Wir haben hier also einen Antrag vorliegen, der ganz klar an der Sache vorbeigeht. Wir brauchen keine endlo- Sie verstehen das Prinzip des Föderalismus nicht und sen Debatten über Zuständigkeiten. Wir brauchen deshalb haben sie ein Problem damit. Wie in vielen Be- Debatten über die besseren Bildungskonzepte. Doch bei reichen hat sich die Linke auch in dieser Frage bis heute dieser Frage versagen Sie regelmäßig, meine Damen nicht von ihrer Vergangenheit lösen können. Sie streben und Herren von den Linken. Wo haben wir denn die weiterhin ein zentralistisches Einheitssystem an, eine wirklichen Probleme in der Bildungspolitik? Nicht in zentralistische Bildung möglichst einheitlich an jedem Baden-Württemberg, nicht in Hessen und auch nicht in Ort dieser Bundesrepublik. Wir Liberale setzen dagegen Schleswig-Holstein. Die großen Probleme haben wir auf einen bürgernahen Staat, auf Selbstverantwortung dort, wo Linke oder SPD oder Grüne regieren und re- vor Ort und Entscheidungsfreiheit der Betroffenen. giert haben. Wenn Sie der Ansicht sein sollten, dass wir Über 1 Billion Euro hat die öffentliche Hand in drei- diesen Länderregierungen wirklich die Kompetenz für ßig Jahren für Bildung ausgegeben. Und mit welchem die Bildungspolitik entziehen sollten, dann könnte ich Ergebnis? Die PISA-Studie und andere Studien haben dies sogar nachvollziehen. Weil die Länder, in denen uns nicht das beste Zeugnis ausgestellt. Und nur um ei- linke Bildungspolitik gemacht wird, den Vergleich weder nes klarzustellen: Wir reden dabei über die Zeit vor der national noch international standhalten, wollen Sie den Föderalismusreform. Wir reden über die Zeit, als die Zentralismus. Und damit wollen sie letzen Endes nur Kooperation zwischen Bund und Ländern bestand und vertuschen, dass Sie keine sinnvollen Ideen in der Bil- nicht gegriffen hat. Hören Sie also auf, das unsinnige dungspolitik bieten können. Wissen Sie, Sie sollten end- Märchen zu verbreiten, ohne das Kooperationsverbot lich verstehen, dass es einzig und alleine um die Kinder (B) hätten wir ein besseres Bildungssystem in Deutschland. und Jugendliche in der Bildungspolitik geht. (D) Hören Sie auf, den Eindruck zu erwecken, dass man nur Wir brauchen in Deutschland eine klare Zuordnung mehr Geld für Bildung ausgeben muss und so alle Pro- der Kompetenzen als Voraussetzung für ein modernes bleme lösen könnte. Und hören Sie auf, die föderalen und effizientes Bildungssystem. Zu lange haben wir De- Strukturen für Probleme verantwortlich zu machen, die batten über Zuständigkeiten geführt, die uns von wichti- durch diese föderale Ordnung überhaupt erst zu Tage gen inhaltlichen Diskussionen abgehalten haben. Dass treten. Die Bundesländer, die sich modernen Konzepten Sie diese Debatte erneut aufgreifen, zeigt einfach nur, in der Bildungs- und Hochschulpolitik geöffnet haben, dass es Ihnen nur um populistische und ideologische Pa- haben in allen Vergleichsstudien gut oder sehr gut abge- rolen geht und nicht um die beste Bildung für unsere schnitten. Die Landesregierungen, die an ihren ideologi- Kinder und Jugendlichen. schen Vorstellungen festgehalten haben, wurden mit den entsprechenden Ergebnissen abgestraft. Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Und schließlich muss man sich auch noch die Frage Vier Jahre ist es her, dass mit der Föderalismus- stellen, welche angeblichen Reformen Sie denn durch reform die Kooperation und damit die gemeinsame bundeseinheitliche Maßnahmen fördern möchten. Etwa Finanzierungsverantwortung von Bund und Ländern im die staatliche Monopolisierung von Bildung, wie sie in Bereich der Bildung unmöglich gemacht wurden. Heute Mecklenburg-Vorpommern oder Bremen betrieben findet man kaum noch jemanden, der diesen Schritt von wird? Oder doch lieber das Tombolasystem ihrer rot- damals verteidigt. Hätte man bei der Anhörung im Bun- roten Parteifreunde in Berlin, wo die Chancen auf einen destag genau hingehört, wäre das Kooperationsverbot Platz an einem Gymnasium und damit die Zukunftschan- wohl nicht verhängt worden. Dort erklärten mehrere cen eines Kindes vom Losglück abhängen, und zwar nur Sachverständige in großer Deutlichkeit, dass sie diesen deshalb, weil Sie ideologische Probleme mit dieser Schritt für einen Fehler halten. So hob der Föderalis- Schulform haben. Nein, meine Damen und Herren, diese musexperte Professor Dr. Schneider vom deutschen Ostalgie in der Bildungspolitik machen wir nicht mit. Sie Föderalismusinstitut Hannover hervor, dass sich – ich setzen auf jene Konzepte, mit denen Sie schon in der Ver- zitiere aus dem Protokoll der Anhörung im Deutschen gangenheit gescheitert sind. Wir wollen moderne Ideen Bundestag – „das Erziehungs- und Bildungswesen am und Kreativität fördern. Deshalb hat sich die Koalition allerwenigsten zu einer strikten Trennung von Bundes- der Mitte auch klar für eine Bildungspartnerschaft von und Landeskompetenzen“ eigne. Damals bestanden vor Bund, Ländern und Kommunen unter Wahrung der je- allem die Bundesländer darauf, die alleinige Verantwor- weiligen staatlichen Zuständigkeit ausgesprochen. tung auf dem Gebiet der Bildung übernehmen zu wollen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3255

Dr. Rosemarie Hein (A) Heute hört man in Ost wie West Forderungen nach fehlen schon für das Erreichen des angestrebten Ziels (C) mehr Einheitlichkeit im Bildungswesen, und es scheint für die unter Dreijährigen bis 2013 noch immer so etwas wie eine Gegenbewegung zu geben. Inzwischen 78 000 Erzieherinnen und Erzieher in der frühkindli- sind sich alle Parteien einig, dass Bildung eine gesamt- chen Bildung. Für den Ausbau der Kinderbetreuung ist gesellschaftliche Aufgabe sein muss. Wir als Linke spre- von der Bundesregierung aber bis auf ein kleines Bau- chen von einer Gemeinschaftsaufgabe und verstehen da- programm aus dem Jahre 2007 von 2,15 Milliarden runter die gemeinsame Verantwortung der öffentlichen Euro nichts geleistet worden. Für alle anderen Kosten Hand auf allen Ebenen. Doch heute darf der Bund sich sind die Länder und Kommunen zuständig. Nicht um- grundsätzlich nicht mehr an den Investitionen in den sonst mehren sich heute die Klagen, dass die Aufgabe Bau von Schulen beteiligen, und so erfinden die Mit- bis 2013 nicht zu schaffen ist. Alleine die Stadt Magde- arbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien fleißig burg, aus der ich komme, gibt über 49 Millionen Euro Programme, mit denen dieses Verbot der Zusammen- pro Jahr für Kinderbetreuung aus. arbeit und gemeinsamen Verantwortungsübernahme diskret unterlaufen werden kann. Ohne dies wären auch Wenn künftig Bildung als Gemeinschaftsaufgabe ver- die lokalen Bildungsbündnisse nicht zu fördern. Von standen werden soll, muss auch der Bund seiner Verant- „Bildungspartnerschaften“ ist dann die Rede und von wortung nachkommen können für mehr Vergleichbarkeit „Sicherung der Nachhaltigkeit“ früherer Programme. in der Bildung, für die Überwindung sozialer Ausgren- Aber eigentlich geht auch das alles nach dem Grundge- zung, für die Sicherung einer hohen Bildungsqualität setz nicht. Darum musste erst das Grundgesetz in der und für eine gute Ausstattung der Bildungsinstitutionen. Föderalismusreform II geändert werden, sodass wenigs- Darum muss als erster Schritt das Kooperationsverbot tens in Katastrophenfällen geholfen werden kann. Sonst fallen. Dafür soll unser Antrag den Aufschlag geben. Sie hätten Schulen und Kultureinrichtungen vom Konjunk- alle wissen, dass das Kooperationsverbot bildungspoli- turpaket II gar nicht profitieren können. tisch nicht zu begründen ist. Darum springen Sie einmal über Ihren Schatten. Stimmen Sie unserem Antrag ein- Tatsächlich leistet der Bund für das Ziel, künftig fach zu. 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung aus- zugeben, nicht viel. Der Bildungsanteil in den Länder- Mittelfristig muss man weiter gehen. Die Gemein- haushalten beträgt im Durchschnitt heute bereits mehr schaftsaufgabe Bildung ist im Interesse einer modernen als 32 Prozent; der in den Kommunen dürfte, je nach Be- Ausgestaltung des Föderalismus durch alle Bildungsbe- rechnung, bei 20 Prozent liegen. Der Bildungsanteil im reiche hinweg neu zu definieren. Die Abteilung „Pro- Bundeshaushalt liegt deutlich unter 5 Prozent. Dabei grammerfindung“ im BMBF kann dann künftig ander- formuliert der Bund ständig Erwartungen und setzt so- weitig beschäftigt werden. Dazu aber bedarf es einer (B) gar gesetzliche Rahmen, die Konsequenzen für bil- umfangreichen Debatte zwischen Bund, Ländern und (D) dungspolitische Entwicklungen haben müssten: die Er- Kommunen, die heute begonnen werden muss. wartung, die starke Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft zu mindern, die UN-Konven- tion über inklusive Bildung umzusetzen und einen Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung zu verwirkli- NEN): chen. Die Maßnahmen dazu reichen zwar längst nicht Lassen Sie mich eines gleich zu Beginn sagen: Mit aus, sind aber schon jetzt auf allen Ebenen unterfinan- der Einführung des Kooperationsverbots im Rahmen der ziert. Föderalismusreform I im Jahre 2006 haben sich Bund und Länder einen Bärendienst erwiesen. Dies ist keine Das Ganztagsschulprogramm wurde initiiert, um ein neue Erkenntnis, musste aber offensichtlich so lange flächendeckendes Ganztagsschulangebot zu entwickeln. wiederholt werden, bis auch Bundesministerin Schavan Das Ziel ist richtig. Aber das vom Bund bezuschusste so langsam zu der Erkenntnis kam, dass man wohl da- Bauprogramm war nur der Startschuss und löste bei den mals einen Fehler gemacht hat. Denn was ist die Konse- Ländern und Kommunen massive Folgekosten aus. quenz? Der Bund kann seinen Teil der gesamtstaatlichen Ganztagsschulen müssen nicht nur unterhalten, sondern Verantwortung für Bildung nicht wahrnehmen. Stattdes- auch mit Leben erfüllt werden. Dazu gehört nicht nur die sen wird viel Energie verschwendet, Umwege dafür zu dauerhafte materielle Ausstattung der Schulen, sondern suchen, wie der Bund die Länder doch unterstützen auch die Bezahlung von Lehrkräften und anderem päda- kann. Das Konjunkturprogramm II ist ein Beispiel dafür. gogischen Personal. Es geht um die Sicherung der in- Weil die Finanznot von Ländern und Kommunen groß haltlichen Qualität des Ganztagsschulbetriebs. Dafür ist, der Bund aber keine direkte Unterstützung beim aber reichen Bauprogramme nicht aus. Schulbau leisten darf, wurde die Begründung „energeti- Oder nehmen wir den frühkindlichen Bereich: Hier sche Sanierung“ bemüht, um den Schulen dennoch Geld hat die Bundesregierung sogar einen Rechtsanspruch zukommen lassen zu können. Viel sinnvoller wären aber festgeschrieben – auch das ist richtig –, wenngleich nur gemeinsam von Bund und Ländern ausgehandelte und halbherzig, weil kein Ganztagsanspruch formuliert finanzierte Programme, die zu einer Qualitätssteigerung wurde. Dass aber für frühkindliche Bildung mehr als gut im Bildungsbereich führen: ganztägige gute Bildung, aufgeschriebene Programme nötig sind, nämlich mas- längeres gemeinsames Lernen, ein inklusives Schulsys- senhaft gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, ist tem, die Förderung von Migrantenkindern, ein besserer im Eifer der guten Tat untergegangen. Nach den jüngs- Übergang von der Schule in die Ausbildung. Die Liste ist ten Zahlen der Bundesregierung über den Ausbaustand lang.

Zu Protokoll gegebene Reden 3256 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Priska Hinz (Herborn) (A) Seit einiger Zeit spricht Bundeskanzlerin Merkel ja Dr. Rolf Koschorrek, René Röspel, Dr. Marlies Volkmer, (C) gerne von der „Bildungsrepublik Deutschland“. Doch Lars Lindemann, Dr. Petra Sitte und Birgitt Bender. was ist bisher daraus geworden? Zwei gescheiterte Bil- dungsgipfel 2008 und 2009. Der nächste steht im Juni Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): dieses Jahres an. Doch warum soll das Ergebnis besser sein als bei den vorangegangenen? Wenn die Bundes- Mit der Redewendung „Eulen nach Athen tragen“ regierung nicht endlich anfängt, eine Initiative zur Auf- bezeichnet man gemeinhin eine überflüssige Tätigkeit. hebung des Kooperationsverbotes einzuleiten, dann „Eulen nach Athen tragen“ wäre auch eine passende wird auch dieser Gipfel zu einer Farce. Selbst Frau Überschrift für den hier vorgelegten Antrag der Linken Schavan, einst Kämpferin für eine „Nichteinmischung“ zur Registrierung und Veröffentlichung aller klinischen des Bundes in Bildungsfragen, gibt inzwischen zu, dass Studien und ihrer Ergebnisse, denn die Bundesregierung das Kooperationsverbot ein Fehler war. Es sei 2006 aus ist längst dabei, die zentralen Forderungen des hier vor- einer „momentanen Missstimmung“ zwischen Bund und gelegten Antrags auf den Weg zu bringen. Ländern, in erster Linie auf Drängen der Ministerpräsi- Auf europäischer Ebene: Innerhalb der Europäischen denten, beschlossen worden. Ich frage Sie: Sollen wir Union besteht bereits eine Registrierungspflicht für alle jetzt weitere Jahre wegen einer „Missstimmung“ das hier durchgeführten klinischen Studien in der – zurzeit Kooperationsverbot weitertragen, das verhindert, dass allerdings noch nur behördenintern zu nutzenden – wir gerade in einem so wichtigen Bereich wie der Bil- EudraCT-Datenbank. Die Bundesregierung setzt sich dungspolitik eine Stagnation erleben? Das Koopera- auf europäischer Ebene dafür ein, dass die Daten der tionsverbot ist eine selbstverordnete Einschränkung der klinischen Studien für die Öffentlichkeit zugänglich ge- politischen Handlungsfähigkeit von Bund und Ländern. macht werden und engagiert sich dementsprechend bei Der sogenannte Wettbewerbsföderalismus hat das Bil- der Erarbeitung der erforderlichen EU-Richtlinien. dungsniveau insgesamt nicht gesteigert, die Qualität der Konkret geht es dabei um die Festlegung der Datenfel- Schulen nicht verbessert. Initiativen wie das Investi- der, die der Öffentlichkeit sinnvollerweise bereitgestellt tionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ für werden sollen. Als maßgebliches Kriterium hierfür sieht mehr Ganztagsschulen haben gezeigt, dass es wichtig die Bundesregierung, dass die zugänglich zu machenden ist, Programme gemeinsam aufzulegen, durchzuführen Informationen für die Öffentlichkeit von Nutzen sein und zu finanzieren. müssen. Sehr geehrte Ministerin Schavan, ziehen Sie die fol- In Deutschland: An der Universität Freiburg befindet gerichtige Konsequenz aus Ihrer späten Erkenntnis, sich mit Förderung des Bundesforschungsministeriums dass das Kooperationsverbot ein Fehler war. Ergreifen ein nationales Studienregister für klinische Studien im (B) Sie die Initiative für eine Grundgesetzänderung, damit Aufbau, das Deutsche Register Klinischer Studien, (D) die Kooperation von Bund und Ländern im Bereich der DRKS. Es umfasst neben Arzneimittelstudien und Stu- allgemeinen Bildung wieder möglich wird. Wir unter- dien zu Medizinprodukten Studien zu medizinischen, stützen Sie dabei gerne. physiotherapeutischen und psychotherapeutischen Ver- fahren. Es wird in enger Zusammenarbeit mit der WHO Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – speziell mit der International Clinical Trials Registry Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Platform, ICTRP – konzipiert. Das DRKS ist seit Okto- Drucksache 17/785 an den Ausschuss für Bildung, For- ber 2008 als WHO-Primärregister anerkannt und erfüllt schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. damit die Anforderungen des International Committee Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann of Medical Journal Editors, ICMJE, dessen Mitglieder ist die Überweisung so beschlossen. bereits im September 2004 die prospektive Registrie- rung klinischer Studien als Voraussetzung für eine Ver- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: öffentlichung beschlossen haben. Es zählt zu den der- zeit weltweit zehn Primärregistern, die in die WHO- Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra Plattform „International Clinical Trial Registry Plat- Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer form“, ICTRP, mit einem internationalen Standard für Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE die Registrierung klinischer Studien integriert ist. Verpflichtung zur Registrierung aller klini- schen Studien und zur Veröffentlichung aller Das DRKS bietet die Möglichkeit, Informationen zu Studienergebnisse einführen laufenden und abgeschlossenen klinischen Studien in Deutschland zu suchen oder eigene Studien über die Re- – Drucksache 17/893 – gistrierung anderen zugänglich zu machen. Im Ge- Überweisungsvorschlag: schäftsbereich des BMBF ist die Registrierung klini- Ausschuss für Gesundheit (f) scher Studien Voraussetzung für eine Förderung, zum Ausschuss für Bildung, Forschung und Beispiel in der Fördermaßnahme „Klinische Studien“. Technikfolgenabschätzung (f) Eine verpflichtende Registrierung aller klinischen Stu- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dien beim DRKS lässt sich derzeit gesetzlich nicht ver- Federführung strittig ankern. Allerdings wird auf untergesetzlicher Ebene da- In der Tagesordnung wurde schon ausgewiesen, dass rauf hingewirkt, dass möglichst viele Studien im Rahmen auch hier die Reden zu Protokoll genommen werden. des Antragsverfahrens bei den Ethikkommissionen frei- Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: willig beim DRKS registriert werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3257

Dr. Rolf Koschorrek (A) Dies ist der aktuelle Sachstand der laufenden Bemü- umfassende Registrierung etwa dazu führt, dass es Per- (C) hungen und des aktiven Einsatzes der Bundesregierung sonen, die an seltenen Krankheiten leiden, leichter mög- hinsichtlich der Registrierung von klinischen Studien lich sein wird, sich an einer Studie zu beteiligen. Ohne und zu den Neuregelungen, wie der Zugang für Ärzte, Registrierungspflicht hätte die Mehrzahl dieser Perso- Patienten und die Wissenschaft zu den Daten der klini- nen vermutlich nie von der Studie erfahren. Forschung schen Studien national und international optimiert wird. und Wissenschaft leben vom freien Austausch von Infor- Anstelle weiterer Ausführungen dessen, was aus unserer mationen. Ohne eine allgemeine Registrierungspflicht Sicht zu dem hier eingebrachten Antrag darzulegen kann man jedoch nie sicher die Frage beantworten, wel- wäre, ist hier auf die ausführliche Antwort der Bundes- che Studien zur Krankheit X oder zum Arzneimittel Y be- regierung auf die Anfrage der Fraktion Die Linke, reits durchgeführt wurden. Doppelstudien, die durchaus Drucksache 17/349, hinzuweisen, die dem Parlament auch Gefahren für die Probandinnen und Probanden be- vorliegt und darüber hinaus allgemein zugänglich ist. inhalten können, sind die Folge. Ohne Not werden hier Ressourcen verschwendet, die man besser in zusätzliche Studien investieren sollte. René Röspel (SPD): Klinische Studien sind ein wichtiger Baustein moder- Wer gegen eine allgemeine Registrierungspflicht ar- ner Gesundheitsforschung. Jedoch leidet auch dieser gumentiert, der sollte sich bewusst sein, dass offenkun- Forschungszweig unter einem Problem, das zwar dig in Deutschland größere Bedenken bestehen als in menschlich verständlich, in diesem Bereich aber über- anderen Ländern. So haben etwa die USA eine solche haupt nicht angebracht ist: positive Ergebnisse werden Verpflichtung bereits in geltendes Recht übernommen – überbetont, negative Ergebnisse hingegen zu oft ver- und die USA gelten wahrlich nicht als Land, in dem For- heimlicht. Dies gilt insbesondere, wenn die klinischen schung und Freiheit durch bürokratische Fesseln ge- Studien durch Unternehmen finanziert werden und das hemmt werden. eigentliche Ziel der Studie nicht der Wissensgewinn, sondern der Nachweis positiver Wirkungen etwa eines Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode ge- Arzneimittels, ist. Dieser sogenannte „Publication meinsam mit der Fraktion der CDU/CSU einen guten Bias“ ist ein vielfach nachgewiesenes und seit langem Antrag zur Förderung nichtkommerzieller klinischer bekanntes Problem. Kritisch wird dieser Sachverhalt vor Studien, Bundestagsdrucksache 16/6775, auf den Weg allem dort, wo es um eine gute und finanziell dem Nutzen gebracht. Diese kollegiale Zusammenarbeit im Sinne angemessene medizinische Versorgung kranker Men- der Patientinnen und Patienten sollten wir fortsetzen. schen geht. Wir werden daher ebenfalls einen Antrag in die parla- mentarische Beratung einbringen. Dieser wird unter an- (B) Die Probleme, vor denen etwa das Institut für Quali- derem, ausgehend von der genannten Drucksache, Vor- (D) tät und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in der schläge unterbreiten, um den öffentlichen Zugang zu Vergangenheit stand und bis heute steht, sind korrekt im Informationen über klinische Studien umfassend sicher- Antrag der Fraktion Die Linke beschrieben. Wir müssen zustellen. uns fragen, ob wir als Gesellschaft wirklich akzeptieren wollen, dass, wie im vorliegenden Fall für drei Antide- Im Gegensatz zum Vorschlag der Fraktion Die Linke pressiva, bei insgesamt rund 5 100 Testpersonen nur werden wir aber auch stärker darauf Rücksicht nehmen, Daten von 1 600 Probanden transparent verfügbar sind dass die Sponsoren klinischer Studien ebenfalls berech- und publiziert wurden. Die beste Lösung für dieses Pro- tigte Interessen haben. So darf etwa eine Registrierungs- blem kann nur sein, dass wir eine Verpflichtung zur Re- pflicht nicht zum Einfallstor für den Diebstahl von Ideen gistrierung aller klinischer Studien, die in Deutschland und Forschungsdesigns werden. Dieser Aspekt wird im durchgeführt werden, einführen. Antrag der Fraktion Die Linke leider nicht ausreichend berücksichtigt. Daher sehen wir den Antrag der Linken Es war und ist gut und richtig, dass das Bundesminis- als interessanten Impuls für unsere parlamentarische terium für Bildung und Forschung knapp 2,3 Millionen Debatte; aber wir werden einen besseren Vorschlag zur Euro aufgewandt hat, um das „Deutsche Register klini- Lösung der im vorliegenden Antrag beschriebenen Pro- scher Studien“, DRKS, aufzubauen. Man muss sich aber bleme unterbreiten. fragen, ob die Schaffung von Anreizen für eine freiwil- lige Registrierung der Studien beim DRKS ausreicht. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Die Bundesregierung vertritt laut Bundestagsdrucksa- che 17/349 die Auffassung, dass diese Anreize ausrei- Bereits seit Jahren diskutieren wir darüber, wie die chen. Wir als Fraktion der SPD teilen diese Bewertung Transparenz über laufende, beendete oder abgebro- ausdrücklich nicht. Man muss sich fragen, wer einen chene klinische Studien erhöht werden kann. Heute kann Nutzen aus dem Verzicht auf eine allgemeine Registrie- es keinen Zweifel mehr darüber geben: Die Zeit der frei- rungspflicht hat und hier kommen einem sicherlich we- willigen Selbstverpflichtungen ist vorbei. Registrierun- der die Probanden noch die Kranken noch unsere Ge- gen und Veröffentlichungen auf freiwilliger Basis wer- sellschaft allgemein in den Sinn. den niemals zu einem vollständigen Überblick über die Studien zu einem Arzneimittel oder einem therapeuti- Nicht nur aus Gründen der Verbesserung der Versor- schen Verfahren führen. Seit den ersten Diskussionen um gung, sondern auch aus forschungspolitischer Sicht ist die Einführung von Studienregistern hat sich einiges ge- eine Verpflichtung zur Registrierung aller klinischer tan. Heute bezweifelt niemand mehr ernsthaft den Sinn Studien wünschenswert. So steht zu hoffen, dass eine einer Registrierung von Studien. Register sind unter an-

Zu Protokoll gegebene Reden 3258 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Marlies Volkmer (A) derem notwendig, weil die Berichterstattung über Stu- Unterlagen zu Studien zur Verfügung zu stellen, die es (C) dienergebnisse, positive und negative, vollständig sein für die Nutzenbewertung von Arzneimitteln benötigte. muss. Dies ist wichtig bei der Bewertung des Nutzens ei- Das IQWiG schildert konkret eine Bewertung von Arz- ner Therapie. Zudem ist überflüssige Forschung am neimitteln zur Behandlung von Depressionen. In diesem Menschen unethisch und muss vermieden werden. Da- Fall fehlten in der öffentlich zugänglichen Literatur die rüber hinaus müssen Patientinnen und Patienten sowie Ergebnisse von etwa zwei Dritteln der behandelten Pa- Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit erhalten, sich über tienten. Dabei suggerierten die veröffentlichten Ergeb- laufende Studien zu einzelnen Erkrankungen zu infor- nisse einen Nutzen, der sich letztlich bei Betrachtung al- mieren, aber auch über die besten Behandlungsmöglich- ler Daten nicht belegen ließ. keiten in bestimmten klinischen Situationen. Vor diesem Hintergrund braucht es dringend eine Re- Mittlerweile gibt es international eine ganze Reihe gistrierungs- und eine Veröffentlichungspflicht klini- von Registern, die allerdings unterschiedlich zugänglich scher Studien. Die Registrierungspflicht muss sich auf und bekannt sind. Das europäische Register EudraCT das Deutsche Register für Klinische Studien, DRKS, be- dürfte eines der umfangreichsten Register in Europa ziehen, das seit 2007 mit finanzieller Unterstützung des sein, da jede klinische Prüfung mit Arzneimitteln dort re- Bundesministeriums für Bildung und Forschung aufge- gistriert sein muss, bevor die Prüfung begonnen wird. Al- baut wird. Anders als andere Register, zum Beispiel auch lerdings beinhaltet EudraCT ausschließlich Arzneimit- das geplante europäische EudraPharm-Register, um- telstudien und ist weder Ethikkommissionen noch Ärzten fasst das DRKS über Arzneimittelstudien hinaus Studien oder gar der Öffentlichkeit zugänglich. Es gibt Register zu Medizinprodukten und Studien zu medizinischen, in anderen Ländern wie das Register des National Insti- physiotherapeutischen oder psychotherapeutischen tute of Health in den USA, www.clinicaltrials.gov. Leider Verfahren. Anders als andere Register bietet es durch ist der Anteil der Studien, die Firmen mit Sitz in die deutsche Sprache Patientinnen und Patienten und Deutschland dort registrieren, nach Aussagen von Ex- Ärztinnen und Ärzten einen einfachen Zugang. Zudem perten äußerst gering. Es wird davon ausgegangen, dass soll es – auch das ist nicht unbedingt Usus – eines Tages lediglich 10 bis 30 Prozent aller in Deutschland durch- Studienergebnisse verzeichnen können. Deshalb braucht geführten Studien dort registriert werden. Es ist bekannt, das DRKS langfristig eine ausreichende finanzielle und dass die Mehrheit der deutschen Ärzteschaft nicht ein- personelle Ausstattung. mal regelmäßig englischsprachige Artikel in Fachzeit- Sie sehen, dass ich die Hauptargumente des vorlie- schriften zur Kenntnis nimmt. Vor diesem Hintergrund genden Antrags teile. Im Detail sehe ich Verbesserungs- verwundert es nicht, dass auch nur einer Minderheit das bedarf vor allem hinsichtlich der konkreten Umsetzung amerikanische Register überhaupt bekannt ist – was zu- (B) der Registrierungspflicht. Deshalb wird die SPD-Frak- (D) dem nichts über seine Nutzung sagt. tion einen eigenen Antrag vorlegen. Argumentiert wird häufig, dass für die Publikation in einer großen Fachzeitschrift eine Registrierung ohnehin Lars Lindemann (FDP): notwendig sei. Nur: Nicht jede klinische Prüfung wird Die Linke hat uns hier einen Antrag vorgelegt, in dem publiziert. Vor allem von abgebrochenen Studien und sie eine uneingeschränkte und undifferenzierte Regis- von Studien mit negativen Ergebnissen, zum Beispiel, trierungs- und Veröffentlichungspflicht für klinische Stu- wenn das Arzneimittel nicht die erhoffte Wirkung hatte, dien fordert. Als Begründung wird eine „systematische erfahren in der Regel nur die zuständige Bundesoberbe- Verzerrung in der Bewertung von diagnostischen und hörde und die Ethikkommission, sonst niemand. So therapeutischen Verfahren“ im gegenwärtigen For- kommt es dazu, dass die Wirksamkeit zum Beispiel von schungsbetrieb genannt. Dabei umfasst der Geltungsbe- Arzneimitteln systematisch überschätzt wird, die Risiken reich des Antrages Studien forschender Unternehmen hingegen unterschätzt werden. Das kann fatale Folgen ebenso wie öffentlicher Institute. Ziel soll es sein, fal- bei der Behandlung von Patienten haben; denn das be- sche Wirksamkeits- und Risikobewertungen zu verhin- stehende Risiko durch nutzlose oder schädliche Behand- dern. Dieses Ziel teilen wir. Wir haben ein Interesse da- lungen kann kein Arzt aus eigener Kraft recherchieren. ran, dass nur solche Arzneimittel auf den Markt Aber auch Institutionen wie das Institut für Qualität und kommen, die wirksam und sicher sind. Und wir haben Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, stoßen ein Interesse an einer guten Verfügbarkeit von Daten an Grenzen. Das IQWiG hat die Aufgabe, den Nutzen und einer verständlichen Kommunikation der relevanten von Arzneimitteln und anderen Therapien und das Kos- Ergebnisse. Sie allerdings nutzen selbst dieses Thema ten-Nutzen-Verhältnis zu bewerten, und zwar durch Ver- dazu, Ideologie zu transportieren, statt sachdienliche gleich mit anderen Arzneimitteln und Behandlungsfor- Vorschläge zu machen; denn von der Sache haben Sie men. Die Bewertung ist dabei maßgeblich von der ganz offensichtlich nicht viel Ahnung. So zeichnen Sie Vollständigkeit der publizierten Literatur abhängig. Um einmal mehr das düstere Bild von Forschung, als wäre das Problem der lückenhaft publizierten Studien aus der sie nicht Hoffnung und Heilsbringer kranker Menschen, Welt zu schaffen, hat das IQWiG mit den pharmazeuti- sondern das Reich des Bösen. Sie stellen die Forscher- schen Herstellern bereits 2005 eine grundsätzliche Eini- gemeinde unter den Generalverdacht der Manipulation gung zur Übergabe solcher Daten vereinbart. Allerdings und schießen scharf auf ihren Klassenfeind. Gleichzeitig ist auf diese Ankündigungen kein Verlass. Nach Aussa- beweisen Sie Ihre Realitätsferne, indem Sie die qualita- gen des IQWiG gab es in den letzten Jahren wiederholt tiven Selbstregulationsmechanismen des Wissenschafts- Fälle, in denen es Firmen abgelehnt hatten, dem Institut betriebes ignorieren und keinerlei Differenzierung etwa

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3259

Lars Lindemann (A) zwischen Phase-I- und Phase-III-Studien vornehmen. fahrens standhalten. Und hier sind dann auch die (C) Forscher sollen bei Androhung von Strafe gezwungen Ressourcen. werden, ihre sämtlichen Ergebnisse nicht nur für Fach- adressaten zu formulieren, sondern stets auch laienver- Wir befürworten eine bessere Verfügbarkeit wissen- ständlich. Aber was heißt das eigentlich in der Wirklich- schaftlicher Daten aus medizinischen Studien. Deswe- keit? Können Sie mir sagen, welcher Bürger sich für die gen begrüßen wir die Selbstverpflichtung zur Registrie- pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Daten rung und Publikation sämtlicher Studien, die sich der einer Substanz interessiert, die bereits in dieser Phase Verband Forschender Arzneimittelhersteller, vfa, auferlegt aus dem Prozess fliegt und niemals in der Klinik landet? hat. Diese ist so angelegt, dass ein vollständiger Überblick Wie kann man ohne Fachausbildung überhaupt die Rele- über die in einem bestimmten Indikationsgebiet durchge- vanz dieser Parameter beurteilen? Und haben Sie eine führten Studien ermöglicht wird. Hier ist die europäische Vorstellung, welche zusätzliche bürokratische Belastung Datenbank für klinische Studien, EUDRACT, eingebunden. sie den Forschergruppen zumuten? Das ist wirklich Aktivitäten auf europäischer Ebene, die eine Erweiterung nicht Ihre Welt; das merkt man in jeder Zeile Ihres An- der Zugänglichkeit der EUDRACT-Daten anstreben, trages. halten wir für sinnvoll. Der Aufbau eines zusätzlichen nationalen Registrierungs- und Publikationssystems Wissenschaftliche Fragestellungen sind differenziert, liegt aber eindeutig nicht im Interesse einer einfacheren Studienpublikationen haben bestimmte Adressaten, und Zugänglichkeit von Daten. nicht jede Studie hat Fragestellungen, die sich auf eine Punktum: Ihr Antrag ignoriert die bestehenden Me- einfache Aussage reduzieren lassen. Und wollen Sie chanismen und enthält nichts, was Sicherheit und Quali- ernsthaft sagen, dass ein Laie die statistische Signifi- tät von Arzneimitteln erhöhen würde. Stattdessen wollen kanz einer Korrelation mathematisch nachvollziehen Sie die Forschergemeinde durch kontraproduktive Büro- will? Für den Bürger ist wichtig, dass ein Mittel wirk- kratie noch mehr belasten. Das schadet nicht nur der sam und sicher ist und für die richtige Indikation ver- Forschung, sondern schließlich auch den kranken Men- wendet wird. Die Aufgabe, dies sicherzustellen, hat die schen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Zulassungsbehörde, in der die Fachleute sitzen, die Stu- dien in ihrer wissenschaftliche Tiefe beurteilen und alle Informationen auch einordnen können. Dem bürokrati- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): schen Aufwand stünde gerade bei Phase-I-Studien kei- Gestern hat US-Präsident Obama das größte innen- nerlei Nutzen gegenüber. Deshalb setzt übrigens auch politische Projekt der Legislaturperiode, eine Gesund- die amerikanische Food and Drug Administration, FDA, heitsreform samt Versicherungspflicht für alle Bürger, den Filter bei Studien, die sich auf zugelassene Arznei- auf den Weg gebracht. Das amerikanische Gesundheits- (B) mittel beziehen. system ist bekanntermaßen das teuerste der Welt, auch (D) die Arzneimittelkosten liegen an der globalen Spitze. Darüber hinaus schüren Sie Ängste, es würden in gro- Obama hat mit der Versicherungspflicht einen ersten ßem Stil gefährliche Medikamente, Hilfs-, Heilmittel und richtigen Schritt getan. Nun folgen die Mühen der Verfahren zugelassen. Dabei ignorieren Sie völlig die Ebene: Das Versicherungssystem darf kein Selbstbedie- gute Arbeit des Bundesinstituts für Arzneimittel und Me- nungsladen für die Leistungserbringer und Pharmafir- dizinprodukte, BfArM, des Instituts für Qualität und men werden, sondern muss die bestmögliche Versorgung Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, der eu- zu vertretbaren Kosten im Blick haben. Ein Teil dieser ropäischen Arzneimittelagentur, EMEA, des Paul-Ehr- Debatte wird sich um die Kosten-Nutzen-Bewertung von lich-Institutes, der Forschungsinstitute selbst, der wis- Arzneimitteln drehen. Während den USA viele Bewer- senschaftlichen Fachzeitschriften, der medizinischen tungsinstrumente fehlen, haben sie Deutschland jedoch Fachgesellschaften, der forschenden Pharmaunterneh- eines voraus: eine gesetzliche Pflicht zur Registrierung men, der Krankenkassen, der Ärzte und Therapeuten. und Veröffentlichung der Daten aus klinischen Studien. Damit sind nur einige genannt, die einen international Seit 2008 enthält der Food and Drug Administration extrem hohen Standard der Qualitätssicherung in Amendment Act, FDAAA, die Vorschrift, dass alle Regis- Deutschland sicherstellen. trationsdaten klinischer Studien, aber auch die Ergeb- nisse der Untersuchungen im Internet zu veröffentlichen Niemand wird in Abrede stellen, dass Untersuchungs- sind. ergebnisse wissenschaftlicher Studien in Ausnahmefäl- len gefälscht oder auch zielorientiert erstellt werden. Warum hat sich dieses industriefreundliche Land zu Dass dies möglich ist, liegt vor allem daran, dass der solch einem radikalen Schritt entschlossen? Weil es der stetig wachsenden Masse von Publikationen – abgese- Publikationspraxis industriegeführter Pharmaforschung hen von solchen, die Teil von Zulassungsverfahren sind, nachweislich an Transparenz mangelt. Dies verwundert kaum Ressourcen zur Überprüfung gegenüberstehen. nicht. Schließlich sind positive Studienergebnisse ein Aber was ändert Ihr Vorschlag daran? Wer die kriminelle Push-up für Absatz und Börsenkurs, während die Nach- Energie aufbringt, Protokolle zu fälschen oder Mess- richt von Unwirksamkeit oder gar Komplikationen und werte zu schönen, der wird nicht dadurch abgeschreckt, Nebenwirkungen von Wirkstoffen Milliardenumsätze dass er seine Studie registriert hat und sie neben dem verhindern können. Auch die Frage, ob ein neues Medi- Fachjournal noch in einer zusätzlichen Datenbank veröf- kament besser wirkt als ein bereits am Markt befindli- fentlicht. Kommt es zu einem Zulassungsverfahren, müs- ches, hat Auswirkungen auf den Umsatz der Pharmakon- sen die Daten spätestens den strengen Kriterien des Ver- zerne. Wenn die Kassen das neue Medikament nicht

Zu Protokoll gegebene Reden 3260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Petra Sitte (A) erstatten, dann entsteht unter Umständen gar kein Markt sen. Patientinnen und Patienten wollen die verschriebe- (C) dafür. nen Therapien überprüfen können, Ärztinnen und Ärzte die wirksamsten Medikamente verschreiben und die Aber nicht nur die sogenannten Sponsoren der Stu- Selbstverwaltung des Gesundheitswesens auf effizienten dien, also die Industrieunternehmen, haben ein Interesse Mitteleinsatz der Versichertenbeiträge und Steuermittel an positiven Ergebnissen. Auch der wissenschaftlichen achten. Reputation von Forscherinnen und Forschern und von Redaktionen der Journales helfen Erfolge in der Wirk- Wir fordern die Bundesregierung auf, nicht nur auf stoffentwicklung eher als deren Risiken und Nebenwir- europäischer Ebene um eine Veröffentlichungspflicht zu kungen. Es gibt also handfeste Interessenlagen, die den ringen, sondern hier in Deutschland mit gutem Beispiel sogenannten Publikations-Bias hervorrufen. Studiener- voranzugehen. In Heidelberg wird, unterstützt durch das gebnisse mit positivem Inhalt werden dreimal so häufig Bundesforschungsministerium, seit 2007 das Deutsche publiziert wie solche mit negativem Inhalt. Viele Studien Register für Klinische Studien – kurz DRKS – aufgebaut. bleiben nach Abschluss oder Abbruch in der Schublade Obwohl einige namhafte Forschungszeitschriften die der Sponsoren, auch wenn sie vorher ordentlich bei den Registrierung der Studie in einem zertifizierten Register europäischen Behörden registriert worden sind. Ver- zur Voraussetzung einer Publikation machen, wächst schiedene Untersuchungen haben festgestellt, dass zwi- der Datenbestand auf freiwilliger Basis nur äußerst schen den angemeldeten Studien und den dann in der schleppend. Mit Stand von gestern waren 203 Studien Fachliteratur publizierten Ergebnissen häufig eine registriert. 1 300 klinische Tests werden jedoch nach große Lücke klafft. Eine 2008 erschienene Untersu- Aussage der Bundesregierung pro Jahr durchgeführt. chung verglich Studienergebnisse, die der amerikani- Das zeigt: Freiwilligkeit löst das Problem nicht. Wir schen Arzneimittelbehörde FDA gemeldet wurden, mit brauchen eine gesetzliche Pflicht zur Veröffentlichung denen, die dann in der Fachliteratur auftauchten. Er- aller Daten aus klinischen Studien. Das DRKS, offiziell gebnis: Die Daten der FDA können keinen signifikanten von der WHO anerkannt, bietet für solch ein Vorhaben therapeutischen Nutzen der zwölf untersuchten Antide- die passende Infrastruktur. Sie müssen nur den Mut ha- pressiva nachwiesen; lediglich 51 Prozent der Studien- ben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ergebnisse waren positiv. In der Fachliteratur hingegen dem renditestärksten Industriezweig Grenzen zu setzen wurden Prüfungen mit 94 Prozent positivem Ergebnis und die Interessen der Öffentlichkeit in den Vordergrund dargestellt. Der Rest fiel zumindest für die Augen von zu rücken. Dass zu den ersten Amtshandlungen des Ge- Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten und sundheitsministers der sanfte Druck zur Absetzung des Krankenversicherungen einfach unter den Tisch. renommierten IQWiG-Leiters Peter Sawicki gehörte, stimmt mich in dieser Hinsicht zwar pessimistisch. Wir Der Publikations-Bias ist kein amerikanisches Pro- (B) setzen jedoch auf den sanften Druck der öffentlichen De- (D) blem. Gerd Antes, Leiter des renommierten Cochrane- batte, die in den letzten Monaten immer deutlicher eine Zentrums in Heidelberg, geht davon aus, dass etwa die Veröffentlichungspflicht für klinische Studien gefordert Hälfte der in Deutschland angekündigten Studien nie hat. SPD und Grüne, selbst Herr Spahn von der Union veröffentlicht wird. Das Institut für Qualität und Wirt- und der Staatssekretär im Gesundheitsministerium Herr schaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG, das den Bahr von der FDP zeigten sich einer solchen Regelung Nutzen neuer Medikamente bewerten soll, muss sich zum gegenüber aufgeschlossen. Dann sollte sie doch auch Teil mit noch schlechterer Datenlage begnügen. So ver- umzusetzen sein. weigerte der Pharmahersteller Pfizer trotz gegenteiliger Vereinbarung die Einsicht in die Patientendaten zum An- Zugleich, das soll hier zum Schluss angemerkt sein, tidepressivum Edronax, das bereits seit zwölf Jahren auf kann die Debatte um Transparenz und Freiheit der medi- dem Markt ist. Lediglich 1 600 Datensätze wurden dem zinischen Forschung mit diesem Vorhaben nicht abge- Institut zur Verfügung gestellt; die 3 000 weiteren seien schlossen werden. Eine Studie hat im Auftrag des deut- nicht zur Bewertung des Medikaments geeignet – so die schen Ärztetages im vergangenen Jahr festgestellt: lapidare Aussage des Konzerns gegenüber dem IQWiG. „Veröffentlichte Arzneimittelstudien erzielen häufig ein Von den 17 Studien, die zu Edronax durchgeführt worden für pharmazeutische Unternehmen günstiges For- sind, tauchten nur sieben in wissenschaftlichen Publika- schungsergebnis, wenn diese Studien vom Herstellerun- tionen auf – natürlich die mit positivem Ergebnis. ternehmen finanziert wurden oder sich ein Autor in ei- nem ökonomischen Interessenkonflikt befindet.“ Ergo: Wir finden, dass dieser Zustand der Intransparenz Es muss um die Ermöglichung von mehr industrieunab- und Vertuschung ein Ende haben sollte. Erkenntnisse hängiger Forschung gehen. Wir brauchen objektives aus klinischen Studien sind keine „Geschäftsgeheim- Wissen über den Nutzen und Schaden der immer komple- nisse“ und auch keine Privatsache der Financiers. Zum xer werdenden therapeutischen und diagnostischen einen wurden diese Studien fast immer unter Nutzung öf- Möglichkeiten. fentlicher Infrastrukturen und öffentlicher Grundlagen- forschung durchgeführt. Zum anderen haben viele Ak- teure ein Recht auf diese Ergebnisse: zuerst die Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Probandinnen und Probanden selbst, die sich der Wis- Die fehlende Transparenz über bestehende Studien senschaft zur Verfügung stellen. Aber auch die wissen- und der fehlende Zugang zu deren Ergebnissen sind schaftliche Community, deren Diskurs auf Transparenz nicht hinnehmbar und schaden letztlich allen Beteiligten und Validität gründet. Und nicht zuletzt sind alle Akteure im Gesundheitswesen. Seit Jahren setzen wir Grüne uns in der Gesundheitsversorgung auf die Daten angewie- für ein öffentlich zugängliches, verpflichtendes Arznei-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3261

Birgitt Bender (A) mittelstudienregister und die Veröffentlichung aller Stu- „Nichtkommerzielle klinische Studien in Deutschland (C) dienergebnisse ein. Daher stößt der Antrag der Linken, voranbringen“, von ihrer eigenen Regierung ein natio- der dieses Thema parlamentarisch aufgreift, auf unsere nales Register und eine Erleichterung des öffentlichen ungeteilte Zustimmung. Zugangs zu nationalen und europäischen Registern für klinische Studien. Der politische Wille einiger Koali- Ein öffentlich zugängliches und verpflichtendes Stu- tionsabgeordneten war da, aber es fehlte ihnen die poli- dienregister ist notwendig, da es erstens Teilnehmerin- tische Macht zur Durchsetzung. nen und Teilnehmer an Forschungsvorhaben vor unnöti- gen und gegebenenfalls schädlichen Studien schützt, da Im Interesse der Patientinnen und Patienten, der Ärz- es zweitens Forschende unterstützt, sich tatsächlich tinnen und Ärzte und der Forscherinnen und Forscher neuen, bisher noch nicht erforschten Gebieten zu wid- sollten wir als Parlament geschlossen fordern, dass men, statt Redundantes zu erforschen oder sich in den diese Bundesregierung endlich wirklich aktiv wird und gleichen Sackgassen zu verlaufen wie andere zuvor, da längst Überfälliges umsetzt. Sie sollte sich nicht mit dem es drittens Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit bietet, Verweis darauf, dass für Arzneimittel die europäische auf einer möglichst sicheren Basis Therapieempfehlun- Datenbank EudraCT in Zukunft in Teilen öffentlich zu- gen und Leitlinien zu entwickeln, und da es viertens gänglich ist, drücken. Denn EudraCT hat ein zentrales Patientinnen und Patienten nicht – im Extremfall tödli- Manko: Es fehlen Informationen zu den Studienergeb- chen – Nebenwirkungen aussetzt, die unter Umständen nissen. Für Medizinprodukte und alle anderen medizini- den Herstellern bekannt waren, von ihnen aber ver- schen Studien sieht die Situation viel düsterer aus. Ein schwiegen werden. erster Silberstreifen am Horizont ist das freiwillige Deutsche Register Klinischer Studien. Jedoch deuten die Wie notwendig ein solches Vorgehen ist, zeigen Arz- ersten Zahlen der dort registrierten Studien darauf hin, neimittelskandale der letzten Jahre. Genannt seien aus dass mit einer Freiwilligkeit, selbst wenn die Registrie- dem Jahr 2000 Vioxx, wo Hinweise auf ein erhöhtes kar- rung eine Voraussetzung für eine Publikation in Fachor- diovaskuläres Risiko der Öffentlichkeit offenbar systema- ganen ist, bei weitem keine Vollständigkeit erzielt wer- tisch vorenthalten wurden, und aus dem Jahr 2007 das den kann. Antidepressivum Seroxat. Hier wurde dem Hersteller vorgeworfen, Forschungsergebnisse, die eine erhöhte Selbstmordgefahr bei Teenagern zeigten, zurückzuhalten. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Auf den aktuellen Fall, die Vorenthaltung von Studien ge- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf genüber dem IQWiG – auch hier handelte es sich um An- Drucksache 17/893 an die in der Tagesordnung aufge- tidepressiva –, weist der Antrag ja bereits hin. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der (B) Seit Jahren bohren wir Grüne an diesem dicken Brett. FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Ge- (D) Dass dies nicht immer einfach ist, davon kann ich ein sundheit, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung Lied aus den letzten Wahlperioden im Bundestag singen. beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- 2003/2004 stand die 12. Novelle zum Arzneimittelgesetz genabschätzung. auf der Tagesordnung. Wir gingen damals mit zwei For- derungen, die einen engen Bezug zur heutigen Debatte Wir stimmen zunächst über den Überweisungsvor- haben, in die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner schlag der Fraktion Die Linke ab, das heißt Federführung SPD. Zum Ersten mit der Forderung nach einem natio- beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- nalen Register aller genehmigten klinischen Prüfungen, genabschätzung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- das regelmäßig evaluiert werden sollte. Zum Zweiten mit schlag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Er ist damit der Forderung nach expliziten Auskunftsrechten von abgelehnt. Probandinnen und Probanden zu den Ergebnissen der Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Studie, an der sie selbst teilgenommen haben. Mit beiden Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, Anliegen sind wir gescheitert. Damals fehlte es an einer nämlich Federführung beim Ausschuss für Gesundheit. Unterstützung aus der SPD-Fraktion. Immerhin ist ein Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer Teil der SPD kurz danach aufgewacht. Ende 2004 nach ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor- einer Anhörung der Enquete-Kommission Ethik und schlag ist angenommen. Das heißt, die Federführung Recht in der modernen Medizin schrieben sie sich ein liegt beim Ausschuss für Gesundheit. verpflichtendes Studienregister plötzlich auf die Fahne. Erreicht haben wir Grüne damals nur einen kleinen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf: Schritt in die richtige Richtung. Den Ethik-Kommissio- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine nen wurde ein indirekter Zugang zur europäischen Da- Zimmermann, Jutta Krellmann, Klaus Ernst, wei- tenbank EudraCT ermöglicht. Mit § 42 Abs. 2 a AMG teren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE wurde das BfArM oder PEI verpflichtet, die zuständigen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ent- Ethikkommissionen zu unterrichten, wenn Informatio- fristung der freiwilligen Weiterversicherung in nen insbesondere zu abgebrochenen oder vorzeitig be- der Arbeitslosenversicherung endeten klinischen Prüfungen vorliegen, die für die Be- wertung der beantragten Studie von Bedeutung sind. – Drucksache 17/1141 – Überweisungsvorschlag: In der letzen Wahlperiode forderten dann Abgeord- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) nete der Regierungskoalition, versteckt im Antrag Rechtsausschuss 3262 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte diese auch für die langjährig Selbstständigen zu öffnen (C) Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, und für solche, die vorher Leistungen nach dem SGB II weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- bezogen haben. NIS 90/DIE GRÜNEN Wie schade, dass Sie nicht gründlich recherchiert ha- Freiwillige Arbeitslosenversicherung für ben, bevor Sie Ihren Entwurf zu Papier brachten! Dann Selbstständige entfristen und ausbauen würden Sie nämlich die Antwort der Bundesregierung – Drucksache 17/1166 – vom 18. Februar dieses Jahres auf eine Kleine Anfrage der Grünen kennen, Drucksache 17/749. Dort teilte die Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Bundesregierung mit, dass sie „prüft, ob die freiwillige Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Weiterversicherung über den 31. Dezember 2010 hinaus fortgeführt werden soll. Bei dieser Prüfung wird sie Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, wer- auch die bisherigen Erfahrungen mit der freiwilligen den die Reden von folgenden Kolleginnen und Kollegen Weiterversicherung berücksichtigen. Die Beratung in- zu Protokoll gegeben: Paul Lehrieder, Gabriele nerhalb der Bundesregierung ist noch nicht abgeschlos- Lösekrug-Möller, Johannes Vogel, Sabine Zimmermann sen.“ „… Vor dem Hintergrund der Veränderung in den und Brigitte Pothmer. Erwerbsbiographien beurteilt die Bundesregierung die bisherige Wirkung der freiwilligen Arbeitslosenversi- Paul Lehrieder (CDU/CSU): cherung positiv.“ Allerdings sei auch zu berücksichti- Bevor ich auf den Gesetzentwurf der Linken und den gen, dass „die Förderung und Absicherung selbständig Antrag der Grünen eingehe, möchte ich kurz etwas zum Tätiger … eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft und Gegenstand der Initiativen sagen, die wir heute hier de- nicht nur der Beitragszahler zur Bundesagentur für Ar- battieren, der freiwilligen Arbeitslosenversicherung. beit“ sei. Meine Damen und Herren von den Linken, ich Seit dem 1. Februar 2006 können sich bestimmte Grup- denke, diese Aussage spricht für sich. Sie hätten sich pen von Selbstständigen nach § 28 a SGB III freiwillig also wirklich viel Arbeit sparen können. in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung weiterver- sichern. Voraussetzung dafür ist, dass die selbstständige Die Grünen wiederum haben einen reinen Schaufens- Tätigkeit mehr als 15 Stunden wöchentlich umfasst, dass terantrag abgeliefert. Die Antwort der Bundesregie- der Antragsteller innerhalb der letzten 24 Monate vor rung, datiert vom 18. Februar 2010, ist deutlich genug Beginn der Selbstständigkeit mindestens zwölf Monate und zufriedenstellend. Trotzdem preschen die Grünen in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden oder vor und unterstellen der Bundesregierung gewisserma- eine Entgeltersatzleistung bezogen hat. Wichtig ist auch, ßen Untätigkeit. Redlich ist das nicht. Ein einfacher An- (B) dass unmittelbar vor Aufnahme der selbstständigen Tä- ruf im Bundesarbeitsministerium oder in unserer Frak- (D) tigkeit ein Versicherungspflichtverhältnis bestanden hat tion hätte ausgereicht. Dann hätten wir Ihnen gerne oder eine Entgeltersatzleistung bezogen wurde und dass noch einmal bestätigt, dass innerhalb des Ministeriums der Antrag auf freiwillige Weiterversicherung spätestens in Abstimmung mit anderen Ressorts an einer schnellst- innerhalb eines Monats nach Aufnahme der selbststän- möglichen Lösung gearbeitet wird. Im Laufe des norma- digen Tätigkeit gestellt wird. Für die einen erhöht sich len Gesetzgebungsverfahrens können Sie dort dann Ihre dadurch die Dauer eines möglichen Anspruchs auf Ar- Vorstellungen einbringen. Ihrem Vorwurf, die Bundesre- beitslosengeld. Für die anderen wird der Antrag auf gierung versäume es, die Versicherungsoption zu ver- ALG II und die damit verbundene unangenehme Bedürf- längern, und nehme so die Verunsicherung der betroffe- tigkeitsprüfung auf einen späteren Zeitpunkt verscho- nen Bevölkerung in Kauf, widerspreche ich entschieden. ben. Er ist durch nichts belegt. Im Gegenteil: Am 1. März die- ses Jahres teilte das Bundesarbeitsministerium dem On- Zweck der freiwilligen Weiterversicherung ist es, Ar- linewirtschaftsportal „ad-hoc-news“ auf Anfrage mit: beitslosen, die sich selbstständig machen, um ihre Ar- „Die entsprechenden Rechtsänderungen, die auch die beitslosigkeit zu beenden, die Angst zu nehmen, bei ei- bisherigen Erfahrungen mit der freiwilligen Weiterversi- nem Scheitern der Existenz sozial schlechter zu stehen cherung berücksichtigen, werden zurzeit erarbeitet“. als zuvor. § 28 a SGB III stellt deshalb sicher, dass sie Eine Leserin hat diese Nachricht daraufhin wie folgt den bereits erworbenen Versicherungsschutz durch eine kommentiert: „Das sind wirklich gute Neuigkeiten … Weiterversicherung aufrechterhalten können. aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen, dass diese Gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 SGB III endet das Ver- Möglichkeit der Weiterversicherung ein wichtiger un- sicherungspflichtverhältnis von Selbstständigen und Ar- terstützender Faktor bei der Entscheidung ist, die Ar- beitnehmern, die vorübergehend im Ausland außerhalb beitslosigkeit durch den Schritt in die Selbständigkeit zu der EU oder EU-assoziierten Staaten tätig sind, spätes- beenden – vor allem, wenn es Familienväter und -mütter tens mit Ablauf des 31. Dezember 2010. Dann stünde ab sind, die eine Gründung erwägen. Das ist ein wichtiges 2011 nicht nur Neugründern die Möglichkeit der frei- Stück Basis-Absicherung für Selbständige!“ Eine wei- willigen Arbeitslosenversicherung nicht mehr zur Ver- tere Leserin schreibt: „Auch ich bin erleichtert, dies zu fügung, sondern auch bereits Versicherte nach § 28 a hören! Die Arbeitslosenversicherung gibt mir die nötige SGB III könnten in der Folge die Arbeitslosenversiche- Sicherheit, mir keine Sorgen machen zu müssen, was rung nicht weiterführen. In ihrem Gesetzentwurf fordern passiert, wenn das Geschäft einmal am Ende sein sollte die Linken deshalb, die bestehende Möglichkeit zur frei- und man darüber nachdenken muss, aufzugeben.“ Ver- willigen Weiterversicherung schnell zu entfristen und unsicherung sieht anders aus. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3263

Paul Lehrieder (A) Wie Sie alle wissen, messen wir, misst die Bundes- der Arbeitslosigkeit. Damit trägt sie zur Entlastung des (C) regierung der unternehmerischen Selbstständigkeit und Arbeitsmarktes bei und bietet mittelfristig die Chance der Gründung von Unternehmen einen sehr hohen Stel- auf das Angebot zusätzlicher Arbeitsplätze. Vor allem lenwert für unsere Volkswirtschaft bei. Es ist deshalb innovative Gründungen schaffen zahlreiche neue und auch unser Ziel, die steuerlichen und investiven Rah- nachhaltige Arbeitsplätze. menbedingungen für Selbstständige und mittelständi- sche Unternehmen zu verbessern, deren Finanzierungs- Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanzkrise möglichkeiten zu erweitern, bürokratische Hemmnisse und der damit verbundenen Auswirkungen auf die Wirt- systematisch und nachhaltig abzubauen und eine neue schaft und den Arbeitsmarkt ist eine verstärkte Nach- Gründerdynamik anzustoßen. Deshalb hat die Bundes- frage nach dem Gründungszuschuss, der Mitte 2006 den regierung am 25. Januar 2010 die Initiative „Gründer- Existenzgründungszuschuss und das Überbrückungs- land Deutschland“ gestartet, um einen Mentalitätswan- geld abgelöst hat, nicht unwahrscheinlich. Die Grün- del und ein gesellschaftliches Klima zu fördern, das dung einer selbstständigen Existenz ist als Alternative Unternehmergeist und die Lust auf Selbstständigkeit för- zur Arbeitslosigkeit nach bisherigen Erfahrungen dert. Gründungen stehen für die Schaffung von Neuem, durchaus attraktiv. Aus der Perspektive der Sozialversi- für Kreativität und unternehmerische Freiheit. Sie tra- cherungsträger ist es wünschenswert, dass Gründerin- gen wesentlich zum Innovationsgeschehen und zum nen und Gründer auch als Arbeitgeber tätig werden – Strukturwandel unserer Volkswirtschaft bei. dies gilt besonders für Gründungen, die mit Mitteln der Arbeitslosenversicherung unterstützt werden. Lassen Sie mich dazu aus dem Koalitionsvertrag zi- tieren:„Wir werden die Förderprogramme für Gründun- Von stammen die Worte: „Ich will gen und Gründungsfonds sowie für die Betriebsnachfol- mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des gen zusammen mit der Wirtschaft stark ausbauen, Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst ver- bessere Rahmenbedingungen für Chancen- und Beteili- antwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, daß ich dazu in gungskapital schaffen und für ein Leitbild der unterneh- der Lage bin.“ merischen Selbständigkeit werben. In diesem Sinne hat meine Fraktion immer Politik im Wir wollen junge, innovative Unternehmen von unnö- Sinne der Selbstständigen gemacht. Darin bleiben wir tigen Bürokratielasten befreien, um Gründungen zu er- uns treu. Deshalb lehnen wir Ihre Initiativen, liebe Kol- leichtern und intensiv zu fördern. legen von den Grünen und den Linken, guten Gewissens ab. Wir werden einen High-Tech-Gründerfonds II als Pu- blic-Private Partnership auflegen, der auf den Erfah- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): (B) rungen des ersten Fonds aufbaut. Darüber hinaus wol- (D) len wir dringend benötigtes privates Kapital für „Eine Arbeitslosenversicherung für Selbstständige deutsche Venture Capital Fonds mobilisieren, indem wir gab es bisher nicht. Ab dem 1. Februar 2006 können institutionellen Investoren eine anteilige Garantiemög- Existenzgründer einen freiwilligen Beitrag zur Arbeits- lichkeit zur Risikoabsicherung ihrer Fondseinlagen an- losenversicherung zahlen. Somit besteht die Möglich- bieten. keit, im Falle der Aufgabe des Unternehmens einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erhalten oder aufzu- Wir werden das Umfeld für die Tätigkeiten von Busi- bauen,“ so können es Gründungswillige auf der Home- ness Angels in Deutschland verbessern. Wir wollen das page www.gruenderlexikon.de lesen. Angebot von Mikrokrediten ausweiten, insbesondere für Gründer und Kleinunternehmer. Ja, vor dem 1. Februar 2006 gab es diese Möglichkeit gar nicht! Also schon vor fünf Jahren haben die Sozial- Wir wollen Gründern nach einem Fehlstart eine demokraten erkannt, dass wir Selbstständigen vom Start zweite Chance eröffnen. Dazu wird die Zeit der Rest- an ein solidarisches Angebot zu Risikoabsicherungen schuldbefreiung auf drei Jahre halbiert. Der Pfändungs- machen müssen. Und wir haben entsprechend gehan- schutz für die private Altersvorsorge im Insolvenzfall delt. Wenn Gelb-Schwarz heute das Lied „Deutschland verringert das Risiko der Altersarmut für Selbständige muss wieder ein Gründerland werden“ intoniert, dann deutlich. Wir werden deshalb die Pfändungsfreigrenzen wissen die Kundigen: Neu ist weder die Melodie noch für die Altersvorsorge Selbständiger regelmäßig anpas- der Text. sen.“ Warum ist die Weiterentwicklung dieses Grundgedan- Last, but not least werden wir die Aufgeschlossenheit kens der solidarischen Risikoabdeckung für Gründer der Schulen für Projektarbeit zum Thema „Selbststän- und Selbstständige uns Sozialdemokraten so wichtig? digkeit“ und zum Üben des „Gründens und Führens“ ei- Für abhängig Beschäftigte kämpfen wir für einen ge- nes Unternehmens erhöhen. Hierfür werden wir unter setzlichen Mindestlohn. Für Frauen streiten wir für Federführung des BMWi die Initiative „Unternehmer- „equal pay“. Für Leiharbeit fordern wir das Ende des geist in die Schulen“ weiter stärken. Wir werden die Missbrauchs. Und für jene, die den Schritt in die Selbst- BMWi-unterstützten Maßnahmen JUNIOR und Deut- ständigkeit wagen, brauchen wir das Angebot eines um- scher Gründerpreis für Schüler zusammen mit den Pro- fassenden Konzeptes der solidarischen Absicherung. jektverantwortlichen weiter ausbauen. Beschäftigungs- Daran arbeiten wir Sozialdemokraten. Vier Fallbei- politisch tritt eine Sologründung an die Stelle einer spiele zeigen die Notwendigkeit: Beispiel eins: der junge abhängigen Beschäftigung oder bietet einen Weg aus Freelancer! Kreativ, engagiert und in der Zukunft zu

Zu Protokoll gegebene Reden 3264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Gabriele Lösekrug-Möller (A) Hause. Kurze Zeit war er angestellt, und dann wurde Millionen Euro, so flossen 2009 bereits mehr als (C) ihm der Rahmen zu eng. Dank unserer Initiative kann er 33 Millionen Euro. freiwillig die Arbeitslosenversicherung nutzen. Das ist gut, und deshalb sind auch wir Sozialdemokraten, wie Ich lade Sie von den Grünen und Linken ebenso wie Grüne und Linke, für die Entfristung dieser Regelung. Sie als Mitglieder der Mehrheit zu mehr Mut ein, mehr Mut, so wie wir es von jenen „Gründern“ erwarten. Un- Beispiel zwei: Die junge Soloselbstständige! Mutig ser Mut kann sich entfalten an einem umfassenden An- und erfolgreich. Sie geht in die Selbstständigkeit, nach- gebot solidarischer Risikoabdeckung. Über Arbeitslo- dem mit Ablauf der Elterngeldzeit faktisch keine Per- sigkeit hinaus müssen unsere Angebote an diesen immer spektive für angestellte Tätigkeit und Familienarbeit be- größer werdenden Personenkreis besser werden. Gebro- stand. Auch für sie besteht die Möglichkeit der chene Erwerbsbiografien, Wechsel zwischen selbststän- freiwilligen Versicherung in der Arbeitslosenversiche- diger und abhängiger Beschäftigung, Phasen von Quali- rung. Auch für sie wird es richtig sein, wenn wir die Be- fizierung und Weiterbildung, Vereinbarkeit von Familie fristung dieser Regelung aufheben. und Beruf, Absicherung von Übergängen: Von uns for- dert das, Brücken über Lücken zu bauen. Wir arbeiten Beispiel drei: Der Langzeitarbeitslose! Viele Jahre deshalb an einem umfassenden Konzept, das Gründerin- hart gearbeitet. Dann ging die Firma baden. Jahrelang nen und Soloselbstständige in Alterssicherung, Kran- beworben und abgelehnt, qualifiziert und doch fünf kenversicherung und Arbeitsversicherung einbezieht. Jahre lang keinen Job bekommen, will er nicht länger Grundsicherungsempfänger sein und hat sich für Selbst- „Nur wer verlässliche Perspektiven in seinem Leben ständigkeit entschieden. Mit guter Beratung, solidem hat, kann seine Talente und seine Leistungsfähigkeit voll Businessplan und viel Tatkraft legt er los – und hat kei- entfalten.“ So haben wir Sozialdemokraten in unserem nen Anspruch auf freiwillige Versicherung in der Ar- Hamburger Programm die von uns gewollte Sicherheit beitslosenversicherung. Seine Pflichtversicherungszei- im Wandel beschrieben, daran richten wir unsere Politik ten liegen zu lange zurück! aus. Beispiel vier: Hochschulabsolventin Umwelttechno- logie, möchte sich als Beraterin selbstständig machen, Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Gründerin, wie wir das alle möchten. Sie hat derzeit Wir debattieren heute zwei so gut wie inhaltsgleiche keine Möglichkeit, Beitragszahlerin in der Arbeitslosen- Vorlagen, einen Antrag der Fraktion der Grünen und ei- versicherung zu werden; denn sie hat noch nie in einem nen Gesetzentwurf der Linken. Sie beziehen sich jeweils „Pflichtversicherungsverhältnis nach SGB III“ gestan- auf den § 28 a SGB III, also auf die Möglichkeit der frei- den, wie es § 28 a SGB III verlangt. Wie auch? willigen Arbeitslosenversicherung für Selbstständige. (B) Das ist gerade für uns Liberale ein wichtiges Thema, (D) Diese gegriffenen vier Beispiele zeigen, dass es um weil wir stärker als alle anderen im freien, unternehme- mehr gehen muss als um die Entfristung des § 28 a rischen Handeln einen Stützpfeiler unseres Wohlstands SGB III. Wir wissen, die Bundesregierung „prüft“. Das sehen und einen wichtigen Ausdruck der freien Persön- könnte eine gute Nachricht sein, wüssten wir nicht, wie lichkeitsentfaltung. Ich bin froh, dass es FDP und CDU/ viele Prüfaufträge bei Gelb-Schwarz auf dem Tisch lie- CSU seit dem Regierungsantritt gelungen ist, bereits ei- gen. Allein bei der Frau Ministerin für Arbeit und Sozia- nige wichtige gesetzliche Erleichterungen für Selbst- les stapeln sie sich in gefährlicher Höhe. Deshalb ständige und mittelständische Unternehmen vorzuneh- begrüßen die Sozialdemokraten Antrag und Gesetzes- men. Allerdings sind wir hier noch nicht am Ziel. entwurf als Merkposten für die Regierung, den Prüfauf- Steuerliche Rahmenbedingungen und bürokratische Be- trag unten aus dem Stapel zu ziehen und zu handeln. hinderungen erschweren nach wie vor den Eintritt in die Also nicht über das Gründerland Deutschland philoso- Selbstständigkeit. Das Ziel, Deutschlands Gründerkul- phieren, sondern konkret Verbesserungen erarbeiten. tur mit neuen Impulsen zu versehen, verlieren wir nicht Dann würde zügig aus der „Nichtregierungsorganisa- aus den Augen. Gerade in der Jahrhundertkrise, in der tion Merkel“ ein handlungsfähiges Kabinett. Ich höre wir uns befinden, müssen wir uns Gedanken machen, die allerdings den berechtigten Einwand: Würde denn die auch den Wandel am Arbeitsmarkt reflektieren. Dabei FDP mitmachen? Wir wissen es nicht. Zumindest lässt steht völlig außer Frage, dass der Schritt in die Selbst- sich feststellen, dass der „Kollisionsvertrag“ hier keine ständigkeit ein individuelles Risiko beinhaltet, das wir Kommission ins Leben gerufen hat. Es könnte also klap- als Gesetzgeber achten sollten. pen. Die bestehende Regelung zur freiwilligen Arbeitslo- Zurück zur freiwilligen Weiterversicherung Selbst- senversicherung läuft nun Ende des Jahres aus, sodass ständiger in der Arbeitslosenversicherung. Nicht nur zweifellos ein gewisser Handlungsdruck gegeben ist. Al- dank der minutiösen Vorarbeit der Grünen zu ihrem An- lerdings befinden wir uns im März, und da stellt sich trag – sie haben sich die Details dafür über die Antwort schon die Frage, ob der Alarmismus, der mitunter aus der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage geholt – ihren Anträgen spricht, wirklich angezeigt ist. Schauen wissen wir, dass seit 2006 die Zahl der Anträge – und wir uns die Gesetzeslage doch einmal etwas genauer an. Bewilligungen – stetig gestiegen ist: Waren es 2006 erst Momentan muss der Antrag auf Aufnahme in die Ar- 88 000 Anträge, so sind es 2009 schon über 94 000. Die- beitslosenversicherung binnen Monatsfrist nach Beginn ser Aufwuchs spiegelt sich auch in den Einnahmen der der Selbstständigkeit erfolgen. Mit Interesse nehme ich Arbeitslosenversicherung wider: Waren es 2006 circa 18 zur Kenntnis, dass weder die Linke noch die Grünen an

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3265

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (A) dieser bestehenden Fristenregelung etwas ändern wol- sich auch unter gewandelten Bedingungen einfach so (C) len. Ja, da frage ich Sie doch: Warum müssen wir dann fortführen lässt. jetzt, also im ersten Quartal des Jahres 2010, etwas an einer Regelung ändern, die ohnehin immer nur im Fol- Abschließend möchte ich aber noch einmal ausdrück- gemonat Wirkung entfaltet. Es besteht doch überhaupt lich festhalten, dass wir die freiwillige Arbeitslosenver- kein Grund zur Hast. Niemand, der jetzt oder auch noch sicherung positiv bewerten. Für uns geht es darum, den im nächsten halben Jahr in die Selbstständigkeit geht, Menschen den Schritt in die eigene Existenzsicherung so muss dies in Rechtsunsicherheit tun. leicht wie möglich zu machen. Die freiwillige Arbeitslo- senversicherung kann hierzu einen wichtigen Beitrag Ebenfalls ist es wichtig, nicht leichtfertig den Zeit- leisten. Deshalb prüft die Koalition äußerst wohlwol- raum zu beschränken, in dem wir als Gesetzgeber Erfah- lend ihre Fortführung und wird rechtzeitig handeln. rungen mit der jetzigen Regelung machen können. Erst seit Februar 2006 besteht überhaupt die Möglichkeit der freiwilligen Arbeitslosenversicherung. Handelten wir Sabine Zimmermann (DIE LINKE): schon jetzt, würden wir – ich betone es noch einmal – die Um es Zehntausenden Selbstständigen zu ermögli- aktuelle Situation der Bürgerinnen und Bürger über- chen, sich weiterhin freiwillig in der Arbeitslosenversi- haupt nicht verbessern oder verschlechtern. Wir würden cherung zu versichern, bringt die Linke heute den vorlie- uns aber die Möglichkeit nehmen, im Verlauf des Jahres genden Gesetzentwurf ein; denn die geltende Regelung weitere Erfahrungen mit der Regelung zu sammeln, und läuft zum Jahresende aus. Worum geht es? Wer heute wir würden uns die Möglichkeit nehmen, die bisherigen den Schritt in die Selbstständigkeit macht, kann sich un- Erfahrungen mit der nötigen Sorgfalt aufzuarbeiten. ter bestimmten Bedingungen freiwillig in der gesetzli- Zum Beispiel sollte man abwarten, ob die zwischen 2008 chen Arbeitslosenversicherung weiter versichern. Diese und 2009 nach oben geschnellte Zahl der Antragsteller Regelung gilt für diejenigen, die zuvor einen bestimmten im Jahresverlauf wieder abnehmen wird oder nicht und Zeitraum in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt die Ursachen der Schwankungen analysieren. Ein zen- oder eine Versicherungsleistung wie das Arbeitslosen- trales Element der aktuellen Regelung ist in meinen Au- geld I bezogen haben. Um es gleich zu sagen: Die Linke gen jedoch die Freiwilligkeit. Es kann nämlich gerade könnte sich eine weitergehende Lösung vorstellen, etwa nicht darum gehen, ein neues Zwangsinstitut zu begrün- dass auch langjährige Selbstständige Zugang zur Ar- den. Genau dies scheinen aber Sie, verehrte Mitglieder beitslosenversicherung bekommen, Menschen, die sich der Linksfraktion, im Sinn zu haben. Beinahe unschuldig nach dem Studium selbstständig machen, oder Men- schildern Sie in der Problemanalyse Ihres Gesetzent- schen, die zuvor Leistungen nach dem SGB II bezogen wurfs, dass „die vorhandene Regelung ein erster Schritt haben. Dennoch: Die vorhandene Regelung ist ein ers- (B) hin zu einer Einbeziehung der Selbstständigen in die ge- ter Schritt hin zu einer Einbeziehung der Selbstständi- (D) setzliche Arbeitslosenversicherung“ sei. Nein, genau gen in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung. Allein das ist es nicht. Um es ehrlich zu sagen: Bei Ihnen habe im letzten Jahr sind Anträge von fast 90 000 Selbststän- ich so meine Zweifel, ob es Ihnen mehr um die spezifi- digen zur freiwilligen Weiterversicherung bewilligt wor- sche Situation der Selbstständigen geht oder ausschließ- den. lich um die Arbeitslosenversicherung an sich. Es ist umso schlimmer, dass die Bundesregierung kein Der Antrag der Grünen wiederum geht über die Ini- klares Signal für die Verlängerung dieser Regelung gibt. tiative der Linken hinaus. Während die Linke allein eine Wenn die Politik nicht handelt, läuft nach vorliegender Entfristung vorsieht, also das Gesetz in seiner beste- Rechtslage die derzeitige Regelung zum 31. Dezember hende Form unverändert lässt, schlagen Sie eine inhalt- dieses Jahres aus. Im letzten Monat hat die Arbeitsmi- liche Änderung vor. Zugang zur freiwilligen Arbeitslo- nisterin Frau von der Leyen eine Verlängerung in Aus- senversicherung sollen auch diejenigen Selbstständigen sicht gestellt. Nun heißt es von der Bundesregierung le- erhalten, die sich unmittelbar nach Ende ihrer Ausbil- diglich, sie prüfe eine Verlängerung, keine Aussage dung oder ihres Studiums unternehmerisch betätigen, darüber, wann sie ihre Entscheidung treffen will, ge- wie auch alle die, die aus der Grundsicherung heraus schweige denn nach welchen Kriterien. Offensichtlich ihr Unternehmen gründen. Gerade Ihnen müsste es also gibt es Teile dieser Regierung, die es nicht gerne sehen, einsichtig sein, dass eine genaue Evaluation des Geset- dass die Arbeitslosenversicherung ausgebaut wird. zes und seiner Folgen unablässig ist, wollte man den Kreis der Anspruchsberechtigten so weit ausdehnen, wie Menschen machen sich aus sehr unterschiedlichen sie es vorhaben. Motiven selbstständig. Wenn die Politik sie dazu ermun- tert, kann sie die Frage nach ihrer sozialen Absicherung Um es abzukürzen: Die FDP-Fraktion hält wenig von nicht unbeantwortet lassen. Eine Arbeitslosenversiche- Ihrem Gesetzentwurf bzw. Ihrem Antrag. Das heißt rung für Selbstständige ist hier zentral. Denn Selbst- nicht, dass wir nicht grundsätzliche Sympathie für das ständigkeit ist auch geprägt von unterbrochener Er- Instrument der freiwilligen Arbeitslosenversicherung werbstätigkeit. Wenn es nicht möglich ist, sich gegen hegen würden. Gerade weil dies aber so ist, verbieten Arbeitslosigkeit zu versichern, droht der sofortige Ab- sich Schnellschüsse. Es ist noch ausreichend Zeit vor- sturz in Hartz IV. Nicht allen Selbstständigen ist es mög- handen, um die Entfristung oder auch eine Modifikation lich, für den Fall der Arbeitslosigkeit finanzielle Rückla- vorzunehmen. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass gen zu bilden. Nicht wenige Soloselbstständige, also die jetzige Regelung stark an den alten Ich-AGs orien- Selbstständige ohne Beschäftigte, arbeiten zu prekären tiert war und dass wir auch hier prüfen müssen, ob sie Bedingungen, unsicher und mit Einkünften an der Ar-

Zu Protokoll gegebene Reden 3266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Sabine Zimmermann (A) mutsgrenze. Seit Jahren wächst die Zahl der Selbststän- ermöglichen. Aber wo bleiben die Initiativen, dies recht- (C) digen, die auf das Arbeitslosengeld II angewiesen sind. zeitig gesetzlich neu zu regeln? Die Linke bringt den vorliegenden Gesetzentwurf ein, Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine weil es gilt, schnell zu handeln. Die Betroffenen brau- Anfrage zur freiwilligen Weiterversicherung für Selbst- chen Planungssicherheit. Menschen rufen bei mir im ständige in der Arbeitslosenversicherung macht doch Büro an, weil sie wissen wollen, wie es weitergeht. Ich klar: Die Arbeitslosenversicherung für Selbstständige weiß, dass Gleiches für die Bundesagentur für Arbeit ist ein voller Erfolg. Hunderttausende Selbstständige gilt. Die zögerliche Haltung der Bundesregierung ist zahlen inzwischen in die Arbeitslosenversicherung ein. nicht vertretbar. Die Linke plädiert darüber hinaus, in Das Beitragsvolumen der Selbstständigen lag 2009 bei einem nächsten Schritt zu prüfen, wie der Kreis der An- nahezu 33 Millionen Euro. Lediglich 4 968 Menschen spruchsberechtigten ausgeweitet werden kann. Nun ist haben im November 2009 Leistungen aus der Arbeitslo- die Bundesregierung gefragt. senversicherung für Selbstständige in Anspruch genom- men. Angesichts dieser Zahlen kommt sogar die Bundes- regierung selbst nicht umhin, die bisherige Wirkung der Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): freiwilligen Arbeitslosenversicherung positiv zu bewer- Ein Unternehmen zu gründen, sich selbstständig zu ten. Positiv bewerten reicht nicht. Sie müssen dazu auch machen, das erfordert Mut, Kreativität und Tatkraft. Beschlüsse fassen. Trotz der Krise haben 2009 wieder mehr Menschen in Wir Grüne jedenfalls fordern Sie auf, diese Arbeitslo- Deutschland den Sprung in die Selbstständigkeit ge- senversicherungsoption für Selbstständige zu entfristen wagt. Das ist auch gut so; denn so können neue Ge- und auch für diejenigen zu öffnen, die nach einem Hoch- schäftsfelder und zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. schulabschluss oder aus der Grundsicherung heraus ein Aber der Gründungsboom in Deutschland erfolgte vor Unternehmen gründen. Das ist ein wirksamer Beitrag, allem durch die wachsende Zahl der Soloselbstständi- um die neuen Selbstständigen besser vor Armut zu gen. Von den über 4 Millionen Selbstständigen beschäf- schützen. tigen mehr als zwei Millionen keine Angestellten. Im letzten Jahr wurden 293 000 solcher Kleinunternehmen gegründet. Diese neuen Selbstständigen sind meist keine Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ärzte oder Juristen, sondern es sind Medien- und Kul- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf turschaffende, Hausmeister oder Raumpflegerinnen. den Drucksachen 17/1141 und 17/1166 an die in der Ta- Auch im Bausektor nimmt der Trend zur Soloselbststän- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – digkeit rasant zu, seitdem es in etlichen Handwerksberu- Sind Sie damit einverstanden? – Dann sind die Überwei- (B) fen auch für Gesellen möglich wurde, als Einzelunter- sungen so beschlossen. (D) nehmer zu arbeiten. Viele dieser neuen Selbstständigen Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22: sind nach den Kriterien des Statistischen Bundesamtes armutsgefährdet. Während 2008 circa 6 Prozent aller Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Erwerbstätigen von Armut bedroht waren, lag die Ar- Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, wei- mutsgefährdung der Soloselbstständigen mit 10,4 Pro- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zent deutlich darüber. Diese Zahlen müssen uns ein An- sporn dafür sein, die soziale Absicherung all derjenigen, Für die Demokratisierung des Gewerkschafts- die den Weg in die Selbstständigkeit wählen, zu verbes- rechts in der Türkei sern und sie bei ihrem Wagnis so gut wie möglich zu – Drucksache 17/1101 – schützen. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Sie schreiben sich immer ganz groß auf die Fahnen, Ausschuss für Arbeit und Soziales dass Sie die Gründerinnen und Gründer in Deutschland Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union unterstützen wollen. „Deutschland muss wieder zum Gründerland werden“, so lautet Ihr Slogan. Wenn man Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge- Ihre Politik für die neuen Unternehmerinnen und Unter- wiesen, dass die Reden zu Protokoll genommen wer- nehmer aber nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren den. Es handelt sich um die Reden der Kollegen und Taten misst, dann ist das Ergebnis mehr als dürftig. Sie Kolleginnen Dr. Wolfgang Götzer, Uta Zapf, Serkan wissen doch genau, dass die Option für die Selbstständi- Tören, Sevim Dağdelen und Claudia Roth. gen, sich in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung freiwillig weiterzuversichern, am 31. Dezember dieses Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Jahres endet. Und Sie wissen doch auch, dass es diese Bereits in der letzten Wahlperiode hat die Linkspartei Option bisher nur für einen bestimmten Kreis von Grün- einen Antrag zu diesem Thema vorgelegt. Auch wenn der derinnen und Gründern gibt. Für diejenigen, die nach heute zur Debatte stehende Antrag demgegenüber ihrem Hochschulabschluss oder aus dem Grundsiche- leichte Änderungen aufweist, hat auch dieser einen gra- rungsbezug heraus gründen, gibt es diese Möglichkeit vierenden Mangel: Er greift bewusst nur ein einzelnes nicht. Zwar erklärt das Arbeitsministerium auf Presse- Problem der Türkei auf und blendet weiterhin gezielt an- anfragen seit neuestem, dass etwas getan werden soll, dere aus. Auch der jetzige Antrag ist deshalb zu einseitig um den Selbstständigen auch über 2010 hinaus einen und zu kurzsichtig – so wie es schon der Antrag der Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung zu Linkspartei in der letzten Wahlperiode war. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3267

Dr. Wolfgang Götzer (A) Es ist zwar zutreffend, dass in der Türkei die Rechte Laut Art. 2 der türkischen Verfassung ist die Türkei (C) der Gewerkschaften unzureichend und die gewerk- zwar ein demokratischer Rechtsstaat. De facto sind aber schaftliche Betätigung von Arbeitnehmerinnen und Ar- beispielsweise einige Gruppen von Staatsbürgern nicht beitnehmern nach wie vor eingeschränkt sind. So gibt es einmal wahlberechtigt. für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer prak- Darüber hinaus liegt die Sperrklausel bei Wahlen bei tisch keine Vereinigungsfreiheit. Streikrecht und Tarif- 10 Prozent. Auch Direktmandate können nur wahrge- verhandlungsrecht sind für zahlreiche Arbeitnehmer- nommen werden, wenn eine Partei insgesamt 10 Prozent gruppen stark beschnitten, insbesondere für Angestellte der Stimmen erhält. Darunter leidet insbesondere die im öffentlichen Dienst. Zudem wird die Mitgliedschaft in kurdische Minderheit. Grundsätzlich herrscht in der einer türkischen Gewerkschaft gegenüber vielen Arbeit- Türkei Wahlpflicht, die jedoch gegen eine Strafgebühr nehmerinnen und Arbeitnehmern als Kündigungsgrund von circa 13 Euro umgangen werden kann. seitens des Arbeitgebers benutzt. All diese Regelungen widersprechen grundlegend un- Die Situation der türkischen Gewerkschaften ist aber serem Demokratieverständnis. kein isoliertes Problem. Vielmehr müssen wir konstatie- ren, dass in der Türkei noch immer große Demokratie- Ein weiterer Punkt: Rein rechtstheoretisch gesehen defizite auf vielen Gebieten auch nach fast 5-jährigen herrscht in der Türkei Gleichberechtigung. Doch auch Beitrittsverhandlungen bestehen. Deshalb möchte ich an die Geschlechtergleichheit findet sich in der türkischen dieser Stelle noch einmal betonen, dass die Vorausset- Verfassung in einem ungewöhnlichen Zusammenhang: „Die Familie ist die Grundlage der türkischen Gesell- zungen für eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU schaft und beruht auf der Gleichheit von Mann und nach wie vor nicht gegeben sind und wir diese deshalb Frau“. unverändert ablehnen. Die Gleichheit von Mann und Frau wird also primär Die politischen Bedingungen, die nach dem Be- als Teil des türkischen Familienverständnisses und nicht schluss des Europäischen Rates vom Dezember 1993 ei- als eigenständige Rechtnorm betrachtet. Solche Formu- gentlich vor der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen lierungen sind nicht mit unserem europäischen Rechts- erfüllt sein müssten, liegen im Falle der Türkei noch im- verständnis in Einklang zu bringen. Vor allem aber mer nicht vor. So ist in der Türkei nicht nur das Gewerk- rechtstatsächlich kann man kaum von einer Gleichstel- schaftsrecht unterentwickelt, sondern es gibt gravie- lung von Mann und Frau sprechen. In vielen Regionen rende Defizite in der Gewährung von Grundrechten, gibt es eine eklatante Benachteiligung, ja teilweise Un- insbesondere im Bereich der Meinungs-, Presse- und Re- terdrückung von Frauen. ligionsfreiheit sowie bei der Unabhängigkeit der Justiz. (B) Einen weiteren wichtigen Punkt möchte ich nennen: (D) Ich möchte noch einmal betonen: Die Antragsteller In der Türkei ist bis heute das Recht auf freie Religions- greifen ein einzelnes Problem auf, ohne die Lage der ausübung nicht gewährleistet. Nach wie vor haben Türkei insgesamt zu beleuchten. Eine isolierte Behand- Christen und andere religiöse Minderheiten mit äußerst lung eines Aspektes greift aber zu kurz. Dass in der Tür- schwierigen Bedingungen zu kämpfen. Nicht nur, dass kei nach wie vor in vielen Bereichen gravierende Demo- man sie allein aufgrund ihrer Religion oft als Feinde der kratiedefizite bestehen, möchten die Linken aber nicht Türkei und des Türkentums betrachtet, die AKP verwei- klar beim Namen nennen. Ich habe allerdings auch nicht gert den Kirchen weiterhin die Anerkennung eines öf- erwartet, dass ausgerechnet die Partei, in der nach wie fentlich-rechtlichen Status. Christliche Kirchen bangen vor ehemalige SED-Mitglieder tonangebend sind, für in der Türkei um ihre Existenz. Ministerpräsident die umfassende Durchsetzung demokratischer Rechte Erdoğan fordert mehr Rechte für Muslime in Deutsch- eintreten würde. land – Christen in der Türkei aber können ihre Religion nicht frei und ohne Furcht vor Repressalien ausüben. Dabei könnte der Zeitpunkt dafür kaum besser sein. Schon nach ihrem ersten Wahlsieg 2002 hatte die Denn derzeit ringen die Türken um eine Verfassungsre- AKP unter Erdoğan eine neue Verfassung versprochen. form. Die Verfassung von 1980 wurde zwar seit ihrem In diesem Zusammenhang erklärte der Ministerpräsi- Inkrafttreten 1982 mehrfach überarbeitet, ist aber noch dent wiederholt, dass die Bewerbung um die Mitglied- immer in ihrem Rechts- und Freiheitsverständnis von schaft in der EU nur mit einer modernen Verfassung zum europäischen Normen weit entfernt. Zwar finden sich in Erfolg führen könne. Es wurden daraufhin zwar rasch dem aus 177 Artikeln bestehenden Werk alle üblichen auf dem Papier Reformen des Zivil- und Strafgesetzbu- Grundrechte, wie etwa die Meinungs- und Pressefrei- ches durchgeführt, eine neue Verfassung gab es jedoch heit, die Religionsfreiheit oder der Schutz des Privatle- nicht. Eine von der Regierung bei Staatsrechtlern in Auf- bens. Doch viele dieser Grundrechte werden im Text ein- trag gegebene liberale Neufassung verschwand 2007 in geschränkt oder in widersprüchliche Zusammenhänge den Schreibtischen der Regierung. Stattdessen versan- gestellt. dete die Verfassungsreform 2008 in einem Streit über das islamische Kopftuch. Faktisch ist es auch heute noch in der Türkei so, dass – falls türkische Journalisten beispielsweise über den Zurzeit ringt man in Ankara erneut um eine liberalere Völkermord an den Armeniern oder kritisch über den Verfassung. Die beiden Oppositionsparteien haben je- Ministerpräsidenten berichten – sie mit harten Konse- doch schon angedeutet, dass sie auf keinen Fall der quenzen rechnen müssen. neuen Verfassung zustimmen werden – und die AKP ver-

Zu Protokoll gegebene Reden 3268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Dr. Wolfgang Götzer (A) fügt mit ihren 337 Sitzen im Parlament nicht über die er- nisieren, zu streiken und kollektive Verhandlungen zu (C) forderliche Zweidrittelmehrheit. Deshalb soll die Ver- führen. Deshalb muss die Türkei bestehende Einschrän- fassungsänderung nun mit einer Dreifünftelmehrheit kungen beseitigen und eine völlig revidierte Gesetzge- verabschiedet und anschließend per Volksabstimmung bung in diesem Bereich für den öffentlichen und privaten gebilligt werden. Sektor vorlegen.“ Rehn forderte die Türkei in diesem Zusammenhang auf, die entsprechende Gesetzgebung Ich möchte nicht verhehlen, dass ich Zweifel habe, ob unverzüglich einzuleiten. Das ist bis heute nicht gesche- die Regierung wirklich einen grundsätzlichen Wandel hen. Die Türkei erfüllt in diesem Bereich die Kopenha- anstrebt oder ob es sich vielmehr nur um „Kosmetik“ gener Kriterien nicht. handelt, um bei der EU den Eindruck zu erwecken, die Türkei habe den ernsthaften Willen, eine Demokratie zu Die türkischen Gewerkschaften haben nur einen sehr werden so wie wir sie haben und verstehen. Fest steht: geringen Handlungsspielraum. Die Rechte der Interes- Die Regierung Erdogan hat keines ihrer vielen Reform- senvertreter der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen versprechen eingehalten. sind äußerst begrenzt. In der Verfassung von 1982 und in Bei aller Kritik an der innenpolitischen Situation der den Gewerkschaftsgesetzen von 1983 wurde eine Viel- Türkei möchte ich an dieser Stelle aber nicht versäumen zahl von Hürden für die gewerkschaftliche Organisation zu erwähnen, dass die Türkei für die gesamte Europäi- gesetzt, die weder mit den Standards der EU noch mit sche Union ein wichtiger Partner ist. Die Türkei ist nicht der Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation nur ein wichtiger Handelspartner und Investitionsstand- kompatibel sind. Das Recht, Gewerkschaften und Ar- ort, sondern sie ist auch unverzichtbar als Bindeglied beitgeberverbände zu gründen, ist geregelt. Aber Ge- zwischen den europäischen Märkten und den Energie werkschaften können nur auf Branchenebene gegründet exportierenden Ländern im Mittleren und Nahen Osten. werden. Von den 93 existierenden Gewerkschaften sind Darüber hinaus ist die Türkei ein wichtiges NATO-Mit- nur 53 tariffähig. Sie sind stark kontrolliert. Streiks kön- glied und unverzichtbarer Mittler zwischen der westli- nen nur im Zuge von Tarifverhandlungen angewendet chen und der islamischen Welt. werden; Warn- und Unterstützungsstreiks sind unzuläs- sig. Mit dem heutigen Antrag hat Die Linke wieder einmal bewiesen, dass sie keinerlei Interesse an einer seriösen Für das Recht zum Abschluss eines Tarifvertrages Europa- und Außenpolitik hat. Schon in der letzten Le- müssen 50 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehme- gislaturperiode haben wir den Antrag abgelehnt, weil er rinnen eines Betriebes in derselben Gewerkschaft sein. zu einseitig war und nicht auf die Lage in der Türkei ins- Mindestens 10 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeit- gesamt, so wie ich sie eben angesprochen habe, einging. nehmerinnen eines Wirtschaftssektors müssen der be- (B) Der neue Antrag weist die selben Mängel auf. Haben die treffenden Gewerkschaft angehören. Mitglieder müssen (D) Antragsteller nichts dazugelernt? Verschließen sie ein- ihre Mitgliedschaft notariell beglaubigen lassen, was fach die Augen vor der Gesamtlage in der Türkei? Kosten verursacht – ebenso bei Austritt aus der Gewerk- schaft. Mitbestimmung in den Betrieben gibt es nicht; Ganz verborgen geblieben sind aber auch der Linken Betriebsräte stellen eher die Ausnahme dar. die Probleme in der Türkei nicht, denn in dieser Woche hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der Fraktion Die Die ILO-Kernarbeitsnormen – Vereinigungsfreiheit, Linke einen Reisebericht vorgelegt, in dem sie zu dem Beseitigung von Zwangsarbeit, Abschaffung von Kin- Ergebnis kommt, dass sich die Menschenrechtslage in derarbeit – werden nur rudimentär erfüllt. Insbesondere der Türkei 2009 im Vergleich zum Jahr 2008 verschlech- die mangelnde Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit tert habe. Dennoch sieht sich Die Linke nicht in der ist ein großes Hindernis. Es gibt keine nennenswerten Lage, dies auch in ihrem Antrag klar und deutlich anzu- Fortschritte bei den Arbeitnehmerrechten. Die Fort- sprechen. schrittsberichte der EU zur Türkei haben dies immer Deshalb lehnen wir den Antrag ab. wieder beklagt, aber mit abnehmender Lautstärke. Die Eröffnung des Verhandlungskapitels 19 zu Sozialpolitik und Beschäftigung stagniert, weil die türkische Regie- Uta Zapf (SPD): rung die Befassung des Parlaments mit den schwierigen Der Antrag der Linken spricht einen sensiblen Punkt Fragen von Streikrecht in Privatwirtschaft und öffentli- der türkischen Gesetzgebung bei den Gewerkschafts- chem Dienst sowie Zugangshürden für neue Gewerk- rechten an. Dass es um die Gewerkschaftsrechte und die schaften scheut. Die Verabschiedung ILO-konformer Erfüllung der ILO-Standards, also die Einhaltung der Gesetze ist allerdings Voraussetzung für die Eröffnung Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation, in des Kapitels. der Türkei nicht zum Besten steht, ist zwar bekannt, ge- rät aber immer mehr außerhalb der Aufmerksamkeit der Nun wird der Türkei zwar eine funktionierende EU. Hatte noch im Oktober 2006 der damalige EU-Er- Marktwirtschaft bescheinigt, aber das Gleichgewicht, weiterungskommissar Olli Rehn kräftige Worte gewählt, das in einer sozialen Marktwirtschaft erforderlich ist, herrscht heute eher kleinmütiges Schweigen. Rehn da- wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf gleicher Augen- mals: „Die Türkei muss sicherstellen, dass die vollen höhe verhandeln können, fehlt. Dies ist umso bedenkli- Gewerkschaftsrechte respektiert werden und im Ein- cher, als die Privatisierung fortschreitet. Fehlende klang stehen mit EU-Standards und der ILO-Konven- Rechte der Arbeitnehmer führen zu sozialen Spannun- tion, insbesondere in Bezug auf das Recht, sich zu orga- gen, zu Auseinandersetzung und zu Gewalt.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3269

Uta Zapf (A) Der Antrag der Linken zielt auf den konkreten Fall kel-Arbeiter mit Bussen nach Ankara angereist seien. (C) der ehemals staatlichen Monopolfirma Tekel ab. Mit er- Die Tekel-Mitarbeiter würden ihre Rechte als Beamte presserischen Dumpingforderungen sollten die Arbeit- verlieren, weil der ehemals staatliche Tabakkonzern Bri- nehmer unter Fristsetzung das Angebot der neuen priva- tish American Tobacco verkauft werde. Die Beschäftig- ten Besitzer annehmen oder ihren Arbeitsplatz verlieren. ten hätten dann keinen Kündigungsschutz mehr und Ein Gericht hat jetzt die Frist für ungültig erklärt. Aber müssten mit der Hälfte des bisherigen Lohnes auskom- es geht eben nicht nur um diesen Fall, sondern um ein men. Die Beschäftigten müssten nun innerhalb einer gravierendes soziales Problem. Eine weitgehend recht- Frist beantragen, in ein Angestelltenverhältnis über- lose Arbeitnehmervertretung steht einem Prozess gegen- nommen zu werden. Täten sie das nicht, drohe die Ent- über, der von sinkenden Löhnen und einem wachsenden lassung. Der Großteil der Tekel-Arbeiter lehne den An- informellen Sektor gekennzeichnet ist. Über die Hälfte gestelltenstatus weiterhin ab, so der Antrag der Linken. der Arbeitnehmer arbeitet nicht in einem registrierten Arbeitsverhältnis. Aus folgenden Gründen wird von der FDP der Antrag der Linken abgelehnt: Der Deutsche Bundestag ist nicht Auch die Gewerkschaften haben einen Anteil an der der verlängerte Arm dafür, das Gewerkschaftsrecht in desolaten Situation. Untereinander zerstritten und miss- der Türkei zu reformieren. Schon allein der sprachliche trauisch, ziehen sie nicht an einem Strang. Ihre Kontakte Duktus, in dem eine Verstaatlichung gegen eine Privati- zur internationalen Arbeitsorganisation, ILO, bleiben sierung von Unternehmen vorzuziehen ist, kann für die zwiespältig und oberflächlich. DISK, eine eher linke Ge- FDP-Bundestagsfraktion nicht gelten. Der Antrag ist werkschaft, zum Beispiel unterstützt offiziell den EU- von einem Gedankengut getragen, der sich fundamental Beitritt, ist aber 2006 aus dem tripartistischen Dialog vom dem der FDP unterscheidet. Dem Deutschen Bun- der ILO ausgestiegen und hat sich aus Gremien wie dem destag steht es nicht zu, Wertungen über die Gewerk- Europäischen Wirtschafts- und Sozialrat zurückgezo- schaftsfunktion und die demokratischen Reifeprozesse gen. Die Kooperationsbereitschaft der verschiedenen im Gewerkschaftsrecht der Türkei vorzunehmen. Es Gewerkschaften untereinander und mit der Regierung kann auch nicht sein, dass der Deutsche Bundestag die ist durch ideologische Unterschiede und Konkurrenz- türkische Regierung auffordert, wie sie ihre sozial- und denken extrem erschwert. Auch die Kommunikation mit arbeitsrechtlichen Normen anzuwenden hat, so wie es in anderen, neuen EU-Ländern zu diesen Fragen kommt dem Antrag gefordert wird. Auch auf EU-Ebene steht es nicht in Gang. dem Deutschen Bundestag nicht an, der Europäischen Kommission reinzureden, wie sie Ihren EU-Fortschritts- Infolge eines zunehmend durch andere politische bericht bezüglich der Türkei zu gestalten und welche Fragen gekennzeichneten Diskurses wird die EU nicht Punkte die EU-Kommission in den Mittelpunkt zu stellen (B) als Anwalt von Arbeitnehmerrechten wahrgenommen. hat. (D) Die EU wird als „Europa des Kapitals“ angesehen, was nationalistischen Ressentiments Auftrieb gibt. Auch die Aus Sicht der FDP ist es sicherlich nicht das alleinige Wirtschafts- und Finanzkrise und ihre Folgen tragen Gewerkschaftsrecht, was in den Mittelpunkt der EU- dazu bei. Die EU sollte sich auf ihren Anspruch als „Eu- Fortschrittsberichte über die Türkei zu stehen hat. Der ropa der Bürger“ besinnen und ihre Verantwortung für Antrag der Linken ist aus Sicht der FDP völlig überflüs- die Arbeitnehmerschaft ernst nehmen. sig und wird daher abgelehnt.

Serkan Tören (FDP): Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den Antrag der Nachdem die SPD zu fast allen Forderungen, die sie Fraktion die Linke „Für die Demokratisierung des Ge- in der letzten Wahlperiode abgelehnt hat, jetzt plötzlich werkschaftsrechts in der Türkei“ ab. In diesem Antrag eigene Anträge einbringt, habe ich schon fast damit ge- wird die Bundesregierung aufgefordert, sich für die De- rechnet, dass sie auch zur Stärkung der Gewerkschafts- mokratisierung des Gewerkschaftsrechts, die Versamm- rechte in der Türkei einen Antrag vorlegen wird. Ver- lungs- und Vereinigungsfreiheit in der Türkei einzuset- wunderlich waren die Gründe, die zur Ablehnung zen und die Einhaltung der ILO-Konventionen für den unseres ähnlichen Antrages in der 16. Wahlperiode führ- EU-Beitrittsprozess einzufordern. Konkret wird die Bun- ten. So hätten wir die Zersplitterung der Gewerkschaf- desregierung dazu angehalten, sich gegen eine angebli- ten nicht hinreichend berücksichtigt. Aber wobei eigent- che Kriminalisierung der Tekel-Arbeiter einzusetzen, die lich und weshalb hätten wir das tun sollen? Auch in seit geraumer Zeit gegen Massenentlassungen, Privati- unserem neuen Antrag kritisieren wir, dass die türki- sierungen und für existenzsichernde Mindestlöhne pro- schen Gewerkschaften, egal ob nun staatsnah, islamisch testieren. So sollen rund 12 000 Beschäftigte des staatli- oder revolutionär, aufgrund restriktiver gesetzlicher Re- chen türkischen Tabak-Monopols Tekel gegen ihre gelungen nur über einen sehr eingeschränkten bzw. betriebsbedingte Entlassung als Folge der Privatisie- kaum vorhandenen legalen Handlungsspielraum verfü- rung protestieren. So sollen, nachdem die Tekel-Produk- gen. Hinzu kommen institutionelle und rechtliche Hür- tionsstätten an British American Tobacco verkauft wur- den wie kostenverursachende Beglaubigungs- und den, landesweit 40 Lagerhäuser geschlossen werden. Registrierungspflichten von Gewerkschaftsmitgliedern Hierbei seien gemäß dem Antrag geltende Gesetze und oder strenge Voraussetzungen für die Zulassung der Ta- ILO-Bestimmungen über Betriebsübernahme missachtet riffähigkeit. Die Kritik, dass weder die Standards in der worden. Ferner wird in dem Antrag betont, dass am EU noch die Übereinkommen der Internationalen Ar- 15. Dezember aus vielen Teilen des Landes Tausende Te- beitsorganisation, ILO, in Bezug auf die uneinge-

Zu Protokoll gegebene Reden 3270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Sevim DaDaðdelenğdelen (A) schränkte Achtung der Gewerkschaftsrechte erfüllt sind, Beziehungen. In den letzten Jahren nahm das bilaterale (C) gilt formal für alle diese Gewerkschaften und deren Mit- Handelsvolumen in beide Richtungen deutlich zu. 2008 glieder. Die Einschränkungen und Verbote beim Organi- blieb es trotz der internationalen Finanzkrise mit 24,8 Mil- sations- und Streikrecht und beim Recht auf Tarifver- liarden Euro nur geringfügig unter dem Rekordwert von handlungen gelten rechtlich erst einmal für alle 2007 mit 24,9 Milliarden Euro. Deutschland stellt die Gewerkschaften. größte Zahl der ausländischen Firmen, die in der Türkei Direktinvestitionen getätigt haben. Die Zahl deutscher Nach Angaben des Internationalen Gewerkschafts- Unternehmen bzw. türkischer Unternehmen mit deut- bundes, ITUC, ist rund einer halben Million Beschäftig- scher Kapitalbeteiligung in der Türkei ist in den vergan- ten in der Türkei aufgrund gesetzlicher Beschränkungen genen Jahren auf knapp 3 955 gestiegen. Die Betäti- der Eintritt in Gewerkschaften untersagt. ITUC stellt in gungsfelder deutscher Unternehmen reichen von der seinem Jahresbericht 2009 über die Türkei fest: „Das industriellen Erzeugung und dem Vertrieb sämtlicher Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Tarifverhand- Produkte bis zu Dienstleistungsangeboten aller Art. Da- lungsrecht müssen an die EU-Standards und ILO-Über- rüber hinaus wird die Türkei auch für Deutschland im- einkommen angepasst werden. Die Bemühungen der Ge- mer wichtiger als Energiekorridor. Das betrifft zum Bei- werkschaften, sich zu organisieren, werden noch immer spiel die RWE-Beteiligung am Konsortium für den Bau vereitelt bzw. sind von massiven Entlassungen der Mit- der Nabucco-Pipeline. Damit hat die Bundesrepublik glieder und dubiosen Gerichtsverhandlungen und Ver- nicht nur große Verantwortung, sondern auch eine ent- haftungen der Gewerkschaftsführer begleitet. Streikende sprechende Pflicht hinsichtlich der Einforderung von und friedliche Demonstranten sahen sich exzessiver Po- Arbeits- und Einkommensbedingungen sowie die Rah- lizeigewalt ausgesetzt.“ Eine ähnliche Bilanz zog auch menbedingungen für die gewerkschaftliche Arbeit ge- die Europäische Kommission im Fortschrittsbericht mäß den in den EU-Staaten gültigen Standards und de- über den Beitritt der Türkei vom November 2008. Darin nen der ILO. wird die Lage hinsichtlich der umfassenden Garantie der Gewerkschaftsrechte als „problematisch“ bezeich- So gehört zu den zahlreichen deutschen Unternehmen net. Und das betrifft nicht nur nichtstaatliche Gewerk- das Motorenwerk Mahle, das in seinem Betrieb im west- schaften. türkischen Izmir rund 500 Mitarbeiter beschäftigt. Diese Bestes Beispiel sind die Tekel-Beschäftigten. Ihre Ge- Beschäftigten führen seit Wochen einen erbitterten Ar- werkschaft Tekgida-Is ist nämlich Mitglied im Dachver- beitskampf gegen die Firmenleitung, die Druck auf sie band Türk-Is, die die SPD für offensichtlich weniger un- ausübt und mit Betriebsschließung droht, wenn sie nicht terstützenswert hält. Wir solidarisieren uns mit den aus der dort organisierten Gewerkschaft aus- und in Forderungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine andere, als unternehmerfreundlich bekannte Ge- (B) (D) und ihrem Kampf um gewerkschaftliche Rechte unab- werkschaft, eintreten. Kein Einzelfall! Nach Informatio- hängig von ihrer Mitgliedschaft in einer genehmen Ge- nen von türkischen Gewerkschaften und auch der IG werkschaft. Deshalb hat die Linke auch den Arbeits- Metall versuchen deutsche Firmen, in der Türkei mit al- kampf der Tekel-Beschäftigten unterstützt. Im Rahmen len Mitteln beschäftigtenfeindliche Möglichkeiten, die einer Auslandsdienstreise besuchte ich die streikenden ihnen das türkische Arbeitsrecht bietet, um gewerk- Tekel-Arbeiter in der türkischen Hauptstadt. Auch wäh- schaftliche Aktivitäten in Betrieben zu verhindern, wei- rend des Generalstreiks am 4. Februar 2010 stand ich testmöglich auszunutzen an der Seite der Tekel-Beschäftigten. Der Fall Tekel ist Die Linke fordert von der Bundesregierung nicht nur, exemplarisch für die Notwendigkeit der Stärkung ge- auf die türkische Regierung hinsichtlich der Einhaltung werkschaftlicher Rechte in der Türkei. Die türkische Re- bzw. Einführung international verpflichtender gewerk- gierung versucht nämlich, nachdem im Jahr 2006 das schaftlicher Standards einzuwirken. Es gilt auch, den staatliche türkische Tabak- und Alkoholmonopol Tekel Einfluss auf deutsche Unternehmen auszuüben, die im an den Lucky-Strike-Produzenten British American To- Ausland investieren und/oder produzieren. Angesichts bacco verkauft wurde, die Arbeiterinnen und Arbeiter im der zahlreichen Beispiele, die wir aus Deutschland ken- Rahmen eines sogenannten Sozialplans zum Verzicht auf nen, in denen aufgrund ihres gewerkschaftlichen Enga- tarifliche Rechte wie Anspruch auf Urlaub und Lohn- gements „unbequeme“ Beschäftigte kurzerhand vor die fortzahlung im Krankheitsfall zu zwingen, und bietet auf Tür gesetzt werden, hat man jedenfalls keinen Grund zu zehn Monate befristete Arbeitsverträge an, die eine der Annahme, dass die deutschen Unternehmen dies Lohnkürzung um mehr als die Hälfte vorsehen. Und um freiwillig machen würden. Dies scheint aber bei einem organisierten Widerstand möglichst von vornherein aus- Trio infernale aus einem FDP-Außenminister, einem zuschließen, sieht das türkische Recht vor, Arbeitgebe- FDP-Wirtschaftsminister und einem FDP-Minister für rinnen und Arbeitgebern das Recht auf Entlassung von Entwicklungszusammenarbeit wie die Quadratur des Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgrund einer Ge- Kreises. Kein Wunder! Denn Außenminister Westerwelle werkschaftsmitgliedschaft bei Zahlung von Entschädi- reist offenbar besonders nicht nur lieber mit solchen, die gungen einzuräumen. Das verstößt klar und eindeutig der FDP viel Geld gespendet haben, sondern vertritt gegen das Übereinkommen der Internationalen Arbeits- auch lieber deren Interessen. Gewerkschafterinnen und organisation, Nr. 98, Art. 1, Abs. 2, Satz b. Gewerkschafter gehören da wohl weniger zum Reisetross. Und das geht auch die Bundesrepublik an. Denn die Und so hat der Außenminister auf seiner Antrittsreise in deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen und ihre die Türkei Anfang Januar 2010 auch nicht die Gelegen- Entwicklung bilden eine tragende Säule der bilateralen heit gefunden, sich entsprechend für die seit Mitte De-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3271

Sevim DaDaðdelenğdelen (A) zember 2009 protestierenden Tekel-Beschäftigten inso- Rechtsstaatlichkeit sind ohne Beteiligungsrechte von Ar- (C) weit einzusetzen, dass er die Einhaltung international beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ohne Teilhabe und verankerter gewerkschaftlicher Rechte als Grundlage Partizipationsmöglichkeiten nicht vorstellbar. Die türki- für wirtschaftliche Kooperationen zur Voraussetzung sche Politik, aber auch die Wirtschaft, die multinationa- machte. len und europäischen Konzerne und die EU müssen in ihren Wirkungsbereichen, ihren Einrichtungen und Be- Die Linke fordert, im Rahmen der bilateralen Bezie- trieben die Einhaltung moderner Arbeits- und Sozial- hungen mit der Türkei und auf EU-Ebene die Demokra- standards garantieren. tisierung des Gewerkschaftsrechts nach den Konventio- nen der Internationalen Arbeitsorganisation als Nach dem hoffnungsvollen Beginn der Beitrittsver- Voraussetzung für einen EU-Beitritt einzufordern. Uns handlungen mit der EU hat die Reformdynamik in der geht es auch darum, sich auf EU-Ebene dafür einzuset- Türkei stark nachgelassen. Aus unserer Sicht gab und zen, dass die Probleme der Gewerkschaften in der Tür- gibt es keine Entschuldigung für den anhaltenden Re- kei in künftigen Fortschrittsberichten ausführlicher the- formstau, der in den letzten drei Jahren so viel politi- matisiert und noch deutlicher in den Mittelpunkt gestellt schen Schaden angerichtet hat. Hinzu kommt aber auch werden. Insbesondere die mangelnde Versammlungs- eine EU-Politik, die ihrer Verantwortung gegenüber der bzw. Vereinigungsfreiheit sollte hierbei im Vordergrund Türkei nicht gerecht wird. In drei Tagen besucht die stehen. Im bilateralen Rahmen muss darauf hingewirkt Bundeskanzlerin die Türkei. Für ihre Gespräche in werden, dass die türkische Regierung gemeinsam mit Istanbul und Ankara könnte sie einige Anregungen aus den Gewerkschaften eine Lösung findet, die gewährleis- dieser Debatte im Parlament gut gebrauchen. Denn die tet, dass die Versammlungsfreiheit respektiert wird. Und Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei laufen das sollte bereits zum 1. Mai durchgesetzt werden, damit weiterhin sehr schleppend und unbefriedigend. Seit fast auf dem Taksim-Platz in Istanbul friedliche Demonstra- fünf Jahren sind Verhandlungen insgesamt in zwölf tionen stattfinden. Die Polizeigewalt gegen Gewerk- Kapiteln eröffnet. Wir beobachten ein großes Des- schafterinnen und Gewerkschafter und andere Demon- interesse der Bundesregierung an den Beitrittsver- strantinnen und Demonstranten im Rahmen von Streiks handlungen mit der Türkei – und folglich auch an der muss die Bundesregierung deutlich kritisieren und klar- Demokratisierung des Landes. Das weiterhin nebulöse machen, dass diese ganz erheblich Einfluss auf wirt- Konzept der Kanzlerin von einer „privilegierten Part- schaftliche Kooperationsprojekte haben kann. Die beste nerschaft“ der Türkei paralysiert das Denken und Han- Gelegenheit, um auf die große Bedeutung gewerkschaft- deln der Bundesregierung. licher Rechte aufmerksam zu machen, ist die Reise der Das Haupthindernis bei den Verhandlungen ist offi- Bundeskanzlerin in die Türkei. Auf dem Programm ste- ziell die Nicht-Umsetzung des sogenannten Ankara-Pro- (B) (D) hen politische und Wirtschaftsgespräche. Ich jedenfalls tokolls durch die Türkei gegenüber Zypern. Die alten werde namens der Linken sowohl gegenüber den türki- Konflikte aus der Zeit des Kalten Krieges zwischen der schen Regierungsvertretern als auch gegenüber den in Türkei und Zypern wirken in die Gegenwart hinein und Begleitung mitreisenden deutschen Unternehmerinnen lähmen wichtige Entwicklungen in Europa. Bei aller be- und Unternehmern diese Themen ansprechen. Ich hoffe rechtigten Kritik an der türkischen Haltung im Zypern- Sie auch! konflikt ist es nicht hinnehmbar, wie Zypern als Mitglied im EU-Klub alle Register zieht, um die Beitrittsverhand- Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lungen mit der Türkei – eine Frage von enormer strate- NEN): gischer Bedeutung – zu blockieren. Die EU hat eine ab- wartende Haltung eingenommen, anstelle selbst aktiv zu In Zeiten des Kalten Krieges standen die Gewerk- werden und eine gestaltende Rolle zu spielen. Eine Nor- schaften im NATO-Land Türkei unter einem fortwähren- malisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und den Generalverdacht. Dies führte zu lähmenden Restrik- Zypern wird ohne eine aktive und glaubwürdig vermit- tionen und Einschränkungen von selbstverständlichen telnde Rolle der EU nicht gelingen. und fundamentalen Rechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Entrechtung und Kriminalisierung Deutschland hat maßgeblichen Anteil an der passi- von Arbeitnehmervertretungen fanden ihre traurigen ven Rolle der EU. Die Bundesregierung sollte ihre Höhepunkte in der brutalen Unterdrückung und dem Bremserrolle in den Beitrittsverhandlungen der EU mit blutigen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Aktivis- der Türkei dringend korrigieren. In bilateralen Gesprä- tinnen und Aktivisten der Gewerkschaften. Mittlerweile chen und Beziehungen kann sie auch wesentlich dazu hat sich die Lage zum Besseren verändert. Seit fast fünf beitragen, eine Modernisierung des Gewerkschafts- Jahren führt die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der rechts in der Türkei voranzutreiben. Denn die Rechte EU. Es ist richtig, wenn die EU die türkische Regierung der Gewerkschaften in der Türkei entsprechen weder auffordert, den Gewerkschaften mehr Rechte einzuräu- den EU- noch den ILO-Standards. Dies betrifft insbe- men und Reformen fortzusetzen, die das Gewerkschafts- sondere die Rechte, Gewerkschaften zu gründen, zu recht in der Türkei an die Konventionen der Internatio- streiken oder Tarifverträge abzuschließen. Gerade diese nalen Arbeitsorganisation und die Standards der EU Rechte sind ein Schwerpunkt der Beitrittsverhandlungen angleichen. Es ist nicht nur im Interesse der EU, son- mit der Türkei. Die Bundesregierung kann sich im Sinne dern vor allem im Interesse der Türkei und der türki- der europäischen Politik und der in der EU geltenden schen Demokratie, dass die Türkei ein modernes Rechtsnormen für die Anpassung und Weiterentwicklung Gewerkschaftsrecht bekommt. Denn Demokratie und des türkischen Gewerkschaftsrechts einsetzen.

Zu Protokoll gegebene Reden 3272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

Claudia Roth (Augsburg) (A) Angesichts der Bedeutung von deutsch-türkischen führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind (C) Wirtschaftsbeziehungen und der Rolle der deutschen Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist auch diese Wirtschaft in der Türkei dürfen wir auch die Wirtschaft Überweisung so beschlossen. aus ihrer Verantwortung nicht entlassen. Denn Gewerk- schaftsrechte und die Verankerung von demokratischen Wir sind bereits am Schluss unserer Tagesordnung Mit- und Selbstbestimmungsrechten sind wichtige Vo- angelangt. raussetzungen für eine nachhaltige und produktive Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP schaftspolitik. Im vorliegenden Antrag sind viele rich- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tige Forderungen formuliert. Dennoch werden viele weitere Reformen außerhalb des Gewerkschaftsrechtes Ich danke Ihnen, dass Sie so lange an diesen Beratungen außer Acht gelassen, die auf dem Weg der Türkei in die teilgenommen haben. EU wichtig sind. Dazu gehören Erneuerungen und An- passungen im Sozialbereich, im Bereich der Minderhei- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- tenrechte oder bei den Rechten der Frauen. Ein moder- destages auf morgen, Freitag, den 26. März 2010, 9 Uhr, nes und fortschrittliches Gewerkschaftsrecht kann seine ein. Wirkung nur im Zusammenspiel mit weiteren Rechten im sozialen und gesellschaftspolitischen Bereich entfalten. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen restlichen Abend. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Sitzung ist geschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1101 an die in der Tagesordnung aufge- (Schluss: 23.00 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3273

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bernschneider, Florian FDP 25.03.2010 Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/ 25.03.2010 DIE GRÜNEN Burchardt, Ulla SPD 25.03.2010 Kunert, Katrin DIE LINKE 25.03.2010 Burkert, Martin SPD 25.03.2010 Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 25.03.2010 Dr. Danckert, Peter SPD 25.03.2010 Lötzer, Ulla DIE LINKE 25.03.2010 Dreibus, Werner DIE LINKE 25.03.2010 Pflug, Johannes SPD 25.03.2010 Erdel, Rainer FDP 25.03.2010 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 25.03.2010 Gabriel, Sigmar SPD 25.03.2010 Pronold, Florian SPD 25.03.2010 Götz, Peter CDU/CSU 25.03.2010 Roth (Esslingen), Karin SPD 25.03.2010 Golze, Diana DIE LINKE 25.03.2010 Dr. Steffel, Frank CDU/CSU 25.03.2010 Gottschalck, Ulrike SPD 25.03.2010 Ulrich, Alexander DIE LINKE 25.03.2010* Granold, Ute CDU/CSU 25.03.2010 Werner, Katrin DIE LINKE 25.03.2010 (B) Groth, Annette DIE LINKE 25.03.2010 (D) Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 25.03.2010* Hempelmann, Rolf SPD 25.03.2010 DIE GRÜNEN

Hintze, Peter CDU/CSU 25.03.2010 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 25.03.2010 * für die Teilnahme an der 122. Jahreskonferenz der Interparlamenta- Keul, Katja BÜNDNIS 90/ 25.03.2010 rischen Union DIE GRÜNEN

Klöckner, Julia CDU/CSU 25.03.2010

Anlage 2 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages teilgenommen haben (Tagesordnungspunkt 3)

CDU/CSU Ernst-Reinhard Beck Dr. Maria Böhmer Dr. Ralf Brauksiepe (Reutlingen) Wolfgang Börnsen Dr. Helge Braun Ilse Aigner Manfred Behrens (Börde) (Bönstrup) Heike Brehmer Peter Altmaier Veronika Bellmann Wolfgang Bosbach Ralph Brinkhaus Peter Aumer Dr. Christoph Bergner Norbert Brackmann Gitta Connemann Dorothee Bär Peter Beyer Klaus Brähmig Leo Dautzenberg Thomas Bareiß Steffen Bilger Michael Brand Alexander Dobrindt Norbert Barthle Clemens Binninger Dr. Reinhard Brandl Thomas Dörflinger Günter Baumann Peter Bleser Helmut Brandt Marie-Luise Dött 3274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Dr. Thomas Feist Lothar Riebsamen SPD (C) Enak Ferlemann Jürgen Klimke Josef Rief Ingrid Arndt-Brauer Ingrid Fischbach Axel Knoerig Klaus Riegert Rainer Arnold Hartwig Fischer (Göttingen) Jens Koeppen Dr. Heinz Riesenhuber Heinz-Joachim Barchmann Axel E. Fischer (Karlsruhe- Manfred Kolbe Johannes Röring Doris Barnett Land) Dr. Rolf Koschorrek Dr. Norbert Röttgen Dr. Hans-Peter Bartels Dr. Maria Flachsbarth Hartmut Koschyk Dr. Christian Ruck Klaus Barthel Klaus-Peter Flosbach Thomas Kossendey Erwin Rüddel Sören Bartol Michael Kretschmer Albert Rupprecht (Weiden) Bärbel Bas Dr. Hans-Peter Friedrich Gunther Krichbaum Anita Schäfer (Saalstadt) Sabine Bätzing (Hof) Dr. Günter Krings Dr. Wolfgang Schäuble Dirk Becker Michael Frieser Dr. Martina Krogmann Dr. Annette Schavan Uwe Beckmeyer Erich G. Fritz Rüdiger Kruse Dr. Andreas Scheuer Lothar Binding (Heidelberg) Hans-Joachim Fuchtel Bettina Kudla Karl Schiewerling Gerd Bollmann Alexander Funk Dr. Hermann Kues Norbert Schindler Klaus Brandner Ingo Gädechens Günter Lach Tankred Schipanski Willi Brase Dr. Dr. Karl A. Lamers Georg Schirmbeck Bernhard Brinkmann Dr. Thomas Gebhart (Heidelberg) Christian Schmidt (Fürth) (Hildesheim) Norbert Geis Andreas G. Lämmel Patrick Schnieder Edelgard Bulmahn Alois Gerig Dr. Norbert Lammert Dr. Andreas Schockenhoff Marco Bülow Eberhard Gienger Katharina Landgraf Dr. Ole Schröder Petra Crone Michael Glos Ulrich Lange Dr. Kristina Schröder Elvira Drobinski-Weiß Josef Göppel Paul Lehrieder (Wiesbaden) Sebastian Edathy Dr. Wolfgang Götzer Dr. Bernhard Schulte-Drüggelte Siegmund Ehrmann Reinhard Grindel Ingbert Liebing Uwe Schummer Dr. h. c. Gernot Erler Hermann Gröhe Matthias Lietz Armin Schuster (Weil am Petra Ernstberger Michael Grosse-Brömer Dr. Carsten Linnemann Rhein) Karin Evers-Meyer Markus Grübel Patricia Lips Detlef Seif Elke Ferner Manfred Grund Dr. Jan-Marco Luczak Johannes Selle Gabriele Fograscher Monika Grütters Dr. Michael Luther Reinhold Sendker Dr. Edgar Franke Dr. Karl-Theodor Freiherr Karin Maag Dr. Patrick Sensburg Dagmar Freitag zu Guttenberg Dr. Thomas de Maizière Thomas Silberhorn Peter Friedrich Olav Gutting Hans-Georg von der Marwitz Johannes Singhammer Sigmar Gabriel Florian Hahn Andreas Mattfeldt Jens Spahn Michael Gerdes (B) Holger Haibach Stephan Mayer (Altötting) Carola Stauche Martin Gerster (D) Dr. Stephan Harbarth Dr. Michael Meister Erika Steinbach Iris Gleicke Jürgen Hardt Dr. Angela Merkel Christian Freiherr von Stetten Günter Gloser Gerda Hasselfeldt Maria Michalk Dieter Stier Angelika Graf (Rosenheim) Dr. Matthias Heider Dr. h. c. Hans Michelbach Gero Storjohann Michael Groschek Mechthild Heil Dr. Mathias Middelberg Stephan Stracke Michael Groß Ursula Heinen-Esser Philipp Mißfelder Max Straubinger Wolfgang Gunkel Frank Heinrich Dietrich Monstadt Karin Strenz Hans-Joachim Hacker Rudolf Henke Marlene Mortler Thomas Strobl (Heilbronn) Bettina Hagedorn Michael Hennrich Dr. Gerd Müller Lena Strothmann Klaus Hagemann Jürgen Herrmann Stefan Müller (Erlangen) Michael Stübgen Michael Hartmann Ansgar Heveling Nadine Müller (St. Wendel) Dr. Peter Tauber (Wackernheim) Ernst Hinsken Dr. Philipp Murmann Antje Tillmann (Peine) Christian Hirte Bernd Neumann (Bremen) Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Barbara Hendricks Robert Hochbaum Michaela Noll Arnold Vaatz Gustav Herzog Dr. Georg Nüßlein Volkmar Vogel (Kleinsaara) Gabriele Hiller-Ohm Franz-Josef Holzenkamp Franz Obermeier Stefanie Vogelsang Petra Hinz (Essen) Joachim Hörster Eduard Oswald Andrea Astrid Voßhoff Frank Hofmann (Volkach) Anette Hübinger Henning Otte Dr. Johann Wadephul Dr. Eva Högl Thomas Jarzombek Dr. Michael Paul Marco Wanderwitz Christel Humme Dr. Dieter Jasper Rita Pawelski Kai Wegner Josip Juratovic Dr. Franz Josef Jung Ulrich Petzold Peter Weiß (Emmendingen) Oliver Kaczmarek Andreas Jung (Konstanz) Dr. Joachim Pfeiffer Sabine Weiss (Wesel I) Johannes Kahrs Dr. Egon Jüttner Sibylle Pfeiffer Ingo Wellenreuther Dr. h. c. Susanne Kastner Bartholomäus Kalb Beatrix Philipp Karl-Georg Wellmann Ulrich Kelber Steffen Kampeter Ronald Pofalla Peter Wichtel Lars Klingbeil Alois Karl Christoph Poland Annette Widmann-Mauz Hans-Ulrich Klose Bernhard Kaster Eckhard Pols Klaus-Peter Willsch Dr. Bärbel Kofler Volker Kauder Lucia Puttrich Elisabeth Winkelmeier- Daniela Kolbe (Leipzig) Siegfried Kauder (Villingen- Daniela Raab Becker Fritz Rudolf Körper Schwenningen) Thomas Rachel Dagmar Wöhrl Anette Kramme Dr. Stefan Kaufmann Dr. Dr. Matthias Zimmer Nicolette Kressl Roderich Kiesewetter Eckhardt Rehberg Wolfgang Zöller Ute Kumpf Eckart von Klaeden Katherina Reiche (Potsdam) Willi Zylajew Christine Lambrecht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3275

(A) Christian Lange (Backnang) Manfred Zöllmer Dr. Martin Neumann Stefan Liebich (C) Dr. Karl Lauterbach Brigitte Zypries (Lausitz) Dr. Gesine Lötzsch Steffen-Claudio Lemme Dirk Niebel Thomas Lutze Burkhard Lischka FDP Hans-Joachim Otto Ulrich Maurer Gabriele Lösekrug-Möller (Frankfurt) Dorothée Menzner Jens Ackermann Kirsten Lühmann Cornelia Pieper Cornelia Möhring Christian Ahrendt Caren Marks Gisela Piltz Kornelia Möller Christine Aschenberg- Katja Mast Dr. Birgit Reinemund Niema Movassat Dugnus Hilde Mattheis Dr. Peter Röhlinger Wolfgang Nešković Daniel Bahr (Münster) Petra Merkel (Berlin) Dr. Stefan Ruppert Thomas Nord Florian Bernschneider Ullrich Meßmer Björn Sänger Petra Pau Sebastian Blumenthal Dr. Matthias Miersch Frank Schäffler Jens Petermann Claudia Bögel Franz Müntefering Christoph Schnurr Richard Pitterle Nicole Bracht-Bendt Dr. Rolf Mützenich Jimmy Schulz Yvonne Ploetz Andrea Nahles Klaus Breil Marina Schuster Ingrid Remmers Dietmar Nietan Rainer Brüderle Dr. Erik Schweickert Paul Schäfer (Köln) Manfred Nink Angelika Brunkhorst Werner Simmling Michael Schlecht Thomas Oppermann Ernst Burgbacher Judith Skudelny Dr. Herbert Schui Aydan Özoğuz Marco Buschmann Dr. Dr. Ilja Seifert Heinz Paula Sylvia Canel Joachim Spatz Kathrin Senger-Schäfer Joachim Poß Helga Daub Dr. Max Stadler Raju Sharma Dr. Wilhelm Priesmeier Reiner Deutschmann Torsten Heiko Staffeldt Dr. Petra Sitte Dr. Sascha Raabe Dr. Bijan Djir-Sarai Dr. Rainer Stinner Sabine Stüber Mechthild Rawert Patrick Döring Carl-Ludwig Thiele Alexander Süßmair Gerold Reichenbach Mechthild Dyckmans Stephan Thomae Dr. Kirsten Tackmann Dr. Carola Reimann Jörg van Essen Florian Toncar Dr. Axel Troost Sönke Rix Ulrike Flach Serkan Tören Kathrin Vogler René Röspel Otto Fricke Johannes Vogel Sahra Wagenknecht Dr. Ernst Dieter Rossmann Paul K. Friedhoff (Lüdenscheid) Halina Wawzyniak Michael Roth (Heringen) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Daniel Volk Marlene Rupprecht Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Guido Westerwelle Jörn Wunderlich (Tuchenbach) Hans-Michael Goldmann Dr. Claudia Winterstein Anton Schaaf Heinz Golombeck Dr. Volker Wissing BÜNDNIS 90/ Axel Schäfer (Bochum) Miriam Gruß Hartfrid Wolff (Rems-Murr) DIE GRÜNEN Joachim Günther (Plauen) Bernd Scheelen Marieluise Beck (Bremen) (B) Dr. Christel Happach-Kasan DIE LINKE (D) Dr. Hermann Scheer Volker Beck (Köln) Heinz-Peter Haustein Marianne Schieder Jan van Aken Cornelia Behm Manuel Höferlin (Schwandorf) Agnes Alpers Birgitt Bender Werner Schieder (Weiden) Elke Hoff Dr. Dietmar Bartsch Alexander Bonde Ulla Schmidt (Aachen) Birgit Homburger Herbert Behrens Viola von Cramon-Taubadel Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Werner Hoyer Karin Binder Ekin Deligöz Carsten Schneider (Erfurt) Heiner Kamp Matthias W. Birkwald Katja Dörner Olaf Scholz Michael Kauch Heidrun Bluhm Hans-Josef Fell Ottmar Schreiner Dr. Lutz Knopek Steffen Bockhahn Dr. Thomas Gambke Swen Schulz (Spandau) Pascal Kober Christine Buchholz Kai Gehring Ewald Schurer Dr. Heinrich L. Kolb Eva Bulling-Schröter Katrin Göring-Eckardt Dr. Angelica Schwall-Düren Hellmut Königshaus Dr. Martina Bunge Britta Haßelmann Dr. Martin Schwanholz Gudrun Kopp Roland Claus Bettina Herlitzius Dr. h. c. Jürgen Koppelin Dr. Diether Dehm Winfried Hermann Stefan Schwartze Sebastian Körber Heidrun Dittrich Priska Hinz (Herborn) Dr. Carsten Sieling Patrick Kurth (Kyffhäuser) Dr. Dagmar Enkelmann Ulrike Höfken Sonja Steffen Heinz Lanfermann Wolfgang Gehrcke Dr. Anton Hofreiter Peer Steinbrück Sibylle Laurischk Nicole Gohlke Bärbel Höhn Dr. Frank-Walter Steinmeier Harald Leibrecht Dr. Gregor Gysi Ingrid Hönlinger Christoph Strässer Sabine Leutheusser- Dr. Rosemarie Hein Thilo Hoppe Kerstin Tack Schnarrenberger Inge Höger Uwe Kekeritz Dr. h. c. Wolfgang Thierse Lars Lindemann Dr. Barbara Höll Memet Kilic Franz Thönnes Christian Lindner Andrej Konstantin Hunko Sven-Christian Kindler Wolfgang Tiefensee Dr. Martin Lindner (Berlin) Ulla Jelpke Maria Anna Klein-Schmeink Rüdiger Veit Michael Link (Heilbronn) Dr. Lukrezia Jochimsen Ute Koczy Dr. Marlies Volkmer Dr. Erwin Lotter Katja Kipping Tom Koenigs Andrea Wicklein Oliver Luksic Harald Koch Sylvia Kotting-Uhl Heidemarie Wieczorek-Zeul Horst Meierhofer Jan Korte Dr. Dieter Wiefelspütz Patrick Meinhardt Jutta Krellmann Fritz Kuhn Waltraud Wolff Gabriele Molitor Caren Lay Stephan Kühn (Wolmirstedt) Jan Mücke Renate Künast Uta Zapf Petra Müller (Aachen) Ralph Lenkert Markus Kurth Dagmar Ziegler Burkhardt Müller-Sönksen Michael Leutert Undine Kurth (Quedlinburg) 3276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Monika Lazar Omid Nouripour Manuel Sarrazin Hans-Christian Ströbele (C) Nicole Maisch Friedrich Ostendorff Elisabeth Scharfenberg Dr. Harald Terpe Agnes Malczak Dr. Hermann Ott Christine Scheel Markus Tressel Jerzy Montag Lisa Paus Dr. Gerhard Schick Jürgen Trittin Kerstin Müller (Köln) Brigitte Pothmer Dr. Frithjof Schmidt Beate Müller-Gemmeke Tabea Rößner Dorothea Steiner Daniela Wagner Ingrid Nestle Claudia Roth (Augsburg) Dr. Wolfgang Strengmann- Wolfgang Wieland Dr. Konstantin von Notz Krista Sager Kuhn Dr. Valerie Wilms

Anlage 3 Befürwortet die Bundesregierung die Pläne der polnischen Regierung, den Bau von Atomkraftwerken in Polen zuzulas- Antwort sen, und schließt die Bundesregierung generell deutsche oder europäische Finanzhilfen für polnische Atomkraftwerke aus? des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die Nach Auffassung der Bundesregierung steht es jedem Frage der Abgeordneten Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE Staat frei, über die Zusammensetzung seines Energiemi- GRÜNEN) (33. Sitzung, Drucksache 17/1107, Frage 87): xes einschließlich des Einsatzes der Kernenergie selbst Wie begründet die Bundesregierung die Zusage der Ex- zu entscheiden. Dies gilt auch für die Pläne Polens zur portbürgschaft in Höhe von knapp 2,5 Milliarden Euro für Zu- Nutzung der Kernenergie. lieferungen des Siemens-Konzerns für den Weiterbau des Atomkraftwerkes Angra 3 in Brasilien? Anträge auf Finanzhilfen für den Bau von Kernkraft- Das Geschäft hält internationale Standards ein und hat werken in Polen sind der Bundesregierung nicht be- für den Exporteur eine hohe beschäftigungspolitische kannt. Bedeutung. Hinzu kommt die Bedeutung des Auftrages für die Auslastung der am Projekt beteiligten kleinen und mittleren Zulieferanten aus ganz Deutschland. Dies Anlage 6 sichert auch in den jetzigen Krisenzeiten hochqualifi- Antwort zierte Arbeitsplätze. des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die Frage der Abgeordneten Caren Marks (SPD) (33. Sit- zung, Drucksache 17/1107, Frage 114): (B) Anlage 4 (D) Inwieweit sieht die Bundesregierung durch die mit der Antwort Pflegeteilzeit angestrebte Verlagerung der Pflege in die Fami- lien und der damit einhergehenden Privatisierung und Entsoli- des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die Fra- darisierung eine angemessene Lösung bezüglich der immer gen des Abgeordneten Dr. Herman Ott (BÜNDNIS 90/ größer werdenden gesellschaftlichen Herausforderungen in DIE GRÜNEN) (33. Sitzung, Drucksache 17/1107, der Pflege, und welche Lösungsvorschläge hat die Bundesre- Frage 91): gierung bei der Konzeption einer Pflegeteilzeit bezüglich der bekannten psychischen und physischen Überlastung pflegen- Warum fördert die Bundesregierung den Export deutscher der Angehöriger? Atomtechnologie nach Brasilien und nicht den Export deut- scher Technologien im Bereich der erneuerbaren Energien? Die Regierungsparteien haben im Koalitionsvertrag folgendes vereinbart: „Um den Familien die Chance zu Deutsche Exporte sind von außerordentlicher wirt- geben, Erwerbstätigkeit und die Unterstützung der pfle- schafts- und arbeitsmarktpolitischer Bedeutung. Daher gebedürftigen Angehörigen besser in Einklang zu brin- sichert die Bundesregierung auch Exporte im Bereich der gen, wollen wir mit der Wirtschaft und im öffentlichen erneuerbaren Energien mit dem Instrument der Export- Dienst bei Pflege- und Arbeitszeit verbesserte Maßnah- kreditgarantien unter anderem für das Zielland Brasilien men zur Förderung der Vereinbarkeit von Pflege und Be- ab. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Indeckung- ruf entwickeln.“ nahme müssen hierfür jeweils vorliegen. Außerdem för- dert die Bundesregierung den Export deutscher Techno- Die derzeitigen Regelungen des Pflegezeitgesetzes logien speziell für erneuerbare Energien im Rahmen der sind ein wichtiger und richtiger Schritt auf diesem Weg. Exportinitiative Erneuerbare Energien insgesamt und Danach haben Beschäftigte für eine Dauer von bis zu auch auf Brasilien bezogen. sechs Monaten einen Anspruch, vollständig oder teil- weise von der Arbeitsleistung freigestellt zu werden, um Angehörige zu pflegen. Die Regelungen werden im Anlage 5 nächsten Bericht über die Entwicklung der Pflegeversi- cherung evaluiert. Antwort Die Bundesregierung prüft vor dem Hintergrund der des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die Koalitionsvereinbarung das Familien-Pflegezeitkonzept Frage des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ von Frau Bundesministerin Dr. Kristina Schröder. Nach DIE GRÜNEN) (33. Sitzung, Drucksache 17/1107, Fra- Ende der Prüfung wird unter Einbindung der Ressorts im ge 92): September 2010 ein Eckpunktepapier vorgelegt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3277

(A) Anlage 7 Wenn wir Menschenrechte einklagen, dann darf es sich (C) nicht um Lippenbekenntnisse handeln. Erklärung Eine wertegeleitete Außenpolitik darf sich nicht der Abgeordneten Dr. Ursula von der Leyen scheuen, auch wirtschaftlichen Druck auf ein Land aus- (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung zuüben, wenn dieses die Menschenrechte massiv ver- über den Entwurf eines … Gesetzes zur Ände- letzt. Aber auch in der Entwicklungspolitik müssen wir rung des Umsatzsteuergesetzes (Tagesord- menschenrechtliche Anforderungen stärker in den Vor- nungspunkt 5 d) dergrund stellen. Wir dürfen in der Entwicklungszusam- menarbeit nicht nur Menschenrechtsprojekte fordern. In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt. Wir müssen die Entwicklungszusammenarbeit auch als Mein Votum lautet „Nein“. Instrument zur Einhaltung von Menschenrechten einset- zen. Ich nenne das Beispiel Uganda. Dort konnte dank massiven Drucks seitens der Europäischen Union, aber Anlage 8 auch auf Druck des deutschen Ministers für Entwick- Zu Protokoll gegebene Rede lungszusammenarbeit zumindest vorläufig ein Gesetzes- verfahren gestoppt werden, das die Todesstrafe für Ho- zur Beratung: mosexuelle vorsieht. – Beschlussempfehlung und Bericht: Menschen- Handfeste wirtschaftliche Interessen dürfen nicht dazu rechte weltweit schützen führen, menschenrechtliche Prinzipien zu vernachlässi- gen oder gar aufzugeben. Gerade in einer globalisierten – Antrag: Menschenrechtsverteidiger brauchen Welt mit ihren wirtschaftlichen Interessen müssen wir den Schutz der Europäischen Union uns energisch für die Einhaltung menschenrechtlicher – Antrag: Mehr Schutz für Menschenrechts- Prinzipien einsetzen. Sie müssen für uns eine besondere verteidigerinnen und Menschenrechtsvertei- Herausforderung sein. Wirtschaftlicher Erfolg und Werte diger wie Demokratie und Menschenrechte dürfen nicht gegen- einander ausgespielt werden. Deshalb stehen wir klar zu (Tagesordnungspunkt 12 a bis c) unseren Forderungen, zu denen auch die weltweite Ab- schaffung der Todesstrafe gehört. Allein im Jahre 2008 wurden mindestens 2 390 Menschen hingerichtet. Todes- Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): „Menschenrechte strafe und Menschenrechte sind unvereinbar. Diese Hal- weltweit schützen“. So lautet der Titel des Antrags der tung müssen wir Ländern wie China oder dem Iran, aber Fraktionen von CDU/CSU und FDP. Der Antrag bringt (B) auch demokratischen Ländern wie den USA oder Japan (D) zum Ausdruck, dass wir uns uneingeschränkt zu den deutlich machen. Menschenrechten bekennen und dass wir sie auch ein- fordern – bei uns und überall in der Welt. Der Antrag be- Unser Respekt gilt jenen, die sich oft unter Gefahr für nennt die zentralen Handlungsfelder der Menschen- das eigene Leben beharrlich für die elementaren Men- rechtspolitik der christlich-liberalen Koalitionen. In den schenrechte anderer einsetzen: den Menschenrechtsver- 17 Forderungen unseres Antrags an die Bundesregierung teidigern und -verteidigerinnen. Wir müssen sie überall kommt zum Ausdruck, dass es uns ernst ist, alles zu tun, dort, wo uns dies möglich ist, unterstützen, sie schützen um die Menschenrechte weltweit durchzusetzen. Die und ihre Arbeit fördern. Ohne ihr Wirken wäre die welt- Forderung nach Einhaltung der Presse- und Meinungs- weite Durchsetzung von Menschenrechten nicht denk- freiheit ist uns ebenso wichtig wie die Forderung nach bar. Mit unserem Antrag wollen wir die Bundesregie- Stärkung der Menschenrechtsschutzsysteme, die welt- rung nicht nur auffordern, sondern ihr auch den Rücken weite Abschaffung von Todesstrafe und Folter ebenso stärken in ihrem Bemühen, sich weltweit für den Schutz wie die Bekämpfung von Sklaverei, Ausbeutung und der Menschenrechte einzusetzen. Wir bitten um Zustim- Menschenhandel. Aber auch der Schutz von Frauen und mung zu unserem Antrag. Kindern ist uns ein wichtiges Anliegen.

Bei Menschenrechtsverletzungen dürfen wir nicht Anlage 9 schweigen. Wir müssen uns einmischen und in einen ständigen Dialog mit den Verantwortlichen jener Staaten Zu Protokoll gegebenen Reden treten, die Menschenrechte verletzen. Die Menschen- rechte haben deshalb in unserer Außenpolitik einen hohen zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Stellenwert. Im Koalitionsvertrag wird die Einhaltung der Berichts: Vorschlag für eine Verordnung des Eu- Menschenrechte ausdrücklich als eine Grundlage deut- ropäischen Parlaments und des Rates über das scher Außenpolitik bezeichnet. „Interessengeleitete Au- Inverkehrbringen und die Verwendung von Bio- ßenpolitik muss auch wertegeleitete Politik sein“, sagte zidprodukten (Text von Bedeutung für den EWR) die Bundeskanzlerin beim Tag der Konrad-Adenauer- (inkl. 11063/09 ADD 1 und 11063/09 ADD 2) Stiftung im Jahre 2008 anlässlich der damals 60 Jahre (ADD 1 in Englisch) (Tagesordnungspunkt 14) zuvor von den Vereinten Nationen verabschiedeten All- gemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie machte zu Ingbert Liebing (CDU/CSU): Wir beraten heute Recht deutlich, dass zu einer wertegeleiteten Außenpoli- über den Entwurf einer EU-Verordnung zu Biozidpro- tik auch die Anmahnung der Menschenrechte gehört. dukten. Biozidprodukte sind wichtig, sie dienen dem 3278 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Schutz des Menschen und seiner Umwelt. Biozide haben pen, die der neuen Wirkstoffe und die der Niedrig-Risiko- (C) – bei sachgerechter Anwendung – einen positiven Nut- Wirkstoffe, eingeführt werden. Das bringt uns zu der For- zen, sie sind unverzichtbar für einen hohen Gesundheits- derung, dass die Gemeinschaftszulassung gegenüber dem und Hygienestandard. Aber sie provozieren auch Kritik; vorliegenden Vorschlag ausgeweitet werden soll. Das denn sie verfügen auch über Eigenschaften, von denen Ziel muss darin bestehen, die Gemeinschaftszulassung eine Gefahr für Mensch und Umwelt ausgehen kann. grundsätzlich auf alle Produktkategorien auszudehnen. Deshalb muss ihrem Einsatz stets eine sorgfältige Abwä- Die aktuelle Beschränkung des Verfahrens ist unsachge- gung des individuellen Risikos und des zu erwartenden mäß, löst nicht das Problem und macht das Verfahren für Nutzen vorausgehen. die Praxis de facto bedeutungslos. Darüber hinaus unter- Nun wird der vorliegende Verordnungsentwurf, den stützen wir ausdrücklich den Vorschlag der Bundesregie- die Europäische Kommission dem Rat und dem Europäi- rung für die Einführung eines Verfahrens der sogenannten schen Parlament am 12. Juni 2009 präsentierte, von allen „Gleichzeitigen gegenseitigen Anerkennung“. Die bishe- Seiten kritisiert, von Verbraucherschützern genauso wie rige aufwendige Praxis paralleler eigenstaatlicher Zulas- von der chemischen Industrie. Auch wir sehen Hand- sungsverfahren muss in jedem Fall beendet werden. lungsbedarf, den Verordnungsentwurf noch zu verbes- Zweitens. Ausschlusskriterien. In Art. 5 des Verord- sern. Die europäische Biozidrichtlinie von 1998, die nungsvorschlages der Europäischen Kommission werden 2002 mit dem Biozidgesetz in deutsches Recht umge- sogenannte Ausschlusskriterien definiert, wonach karzi- setzt wurde, hat sich einfach nicht bewährt. Sie ist viel nogene, mutagene oder reproduktionstoxische Stoffe zu bürokratisch. Aufwand und Kosten stehen in keinem bzw. Stoffe mit endokrinschädigenden Eigenschaften nur ausgewogenen Verhältnis zueinander. Ein konkretes Bei- spiel: Derzeit beträgt die Bearbeitungsdauer für die Auf- dann in die Positivliste aufgenommen werden, wenn sie nahme eines Wirkstoffes ganze vier Jahre – mit der eine der Voraussetzungen erfüllen. Wir begrüßen aus- Folge, dass bis 2008 überhaupt nur 14 Wirkstoffe bear- drücklich die Einführung von Ausschlusskriterien, denn beitet wurden und Biozidwirkstoffe und -produkte, die dieses Instrument dient der Verbesserung des Schutz- noch benötigt werden, vom Markt verschwinden. Die niveaus für Mensch und Umwelt. Und weil wir es ernst wesentliche Ursache dieses unbefriedigenden Zustandes meinen mit der Stärkung des Gesundheits- und Umwelt- ist das parallele Zulassungsverfahren auf der nationalen schutzes, enthält unser Entschließungsantrag die Forde- Ebene, das eine zu lange Bearbeitungsdauer erfordert rung, die Ausschlusskriterien sogar um wichtige Um- und zu bürokratisch ist. weltaspekte zu erweitern, die im Verordnungsentwurf bisher außer Acht bleiben: bioakkumulative, persistente Aus diesem Grund verfolgt die EU-Kommission mit und toxische Stoffe sowie persistente organische Verbin- ihrem Vorschlag folgendes Ziel: Harmonisierung der Re- (B) dungen. Allerdings ist in Zusammenhang mit der Einfüh- (D) gelungen und Vereinfachung der Verfahren für Biozide rung von Ausschlusskriterien sicherzustellen, dass zu in der EU. Diese Zielsetzung findet unsere Unterstüt- jeder Zeit alle notwendigen Biozidprodukte in ausrei- zung – auch weil die Kommission mit ihrer Initiative chender Anzahl auf dem Markt zur Verfügung stehen, um eine Richtung einschlägt, die im Einklang steht mit den auch weiterhin hohe Gesundheits- und Hygienestandards Bestimmungen des Koalitionsvertrages der neuen christ- zu garantieren. Dieser Zielsetzung widerspricht jedoch lich-liberalen Bundesregierung. Dieser legt fest, dass die Art. 5, der von vorneherein „Wirkstoffe für die Produkt- bürokratischen Hürden für die Zulassung von Biozidpro- arten 4 sowie 14 bis 19“ ausnimmt. Diese Regelung hätte dukten abgebaut werden sollen. Bürokratische Erleichte- möglicherweise zur Folge gehabt, dass beispielsweise die rungen dürfen allerdings nicht mit der Absenkung von für Schädlingsbekämpfungsmittel benötigten Wirkstoffe Inhalten einhergehen. Es muss sichergestellt sein, dass nicht mehr auf die Positivliste aufgenommen und Pro- die bestehenden, insbesondere hohen deutschen Sicher- dukte mit diesen Wirkstoffen dann nicht mehr hätten her- heits- und Umweltstandards in vollem Umfang aufrecht- gestellt werden können. Eine nicht hinnehmbare Ein- erhalten und ebenfalls auf europäischer Ebene verankert schränkung des bestehenden Schutzniveaus. Aus dieser werden. Kurz gefasst: Hohe Sicherheitsstandards bei Problematik resultiert unsere Forderung an die Bundesre- Verfahrenserleichterungen. gierung, sich auf europäischer Ebene für eine entspre- Obwohl die Zielsetzung der Europäischen Kommis- chende Präzisierung des unkonkreten Art. 5 einzusetzen. sion unsere Unterstützung findet, sind die Ausführungen Die Präzisierung dient dazu, Ausnahmeentscheidungen des Verordnungsvorschlags nicht zufriedenstellend. In an klare Kriterien zu binden und den generellen Aus- unserem Entschließungsantrag haben wir daher in zwei schluss von Produktarten überflüssig zu machen. Wenn wesentlichen Bereichen, den Ausschlusskriterien und wir die Ausnahmen so klar und stringent formulieren, dem gemeinschaftlichen Zulassungsverfahren, konkrete dann brauchen wir nicht den generellen Ausschuss von Verbesserungsvorschläge formuliert: Erstens. Gemein- Produktarten. schaftliches Zulassungsverfahren. Wir unterstützen den Vorschlag der Europäischen Kommission, eine Gemein- Hinsichtlich der Problematik „Ausschlusskriterien“ schaftszulassung einzuführen; denn die bislang genutzten sind wir zusammenfassend der Ansicht, dass wir durch nationalen Zulassungsverfahren sind zu aufwendig – mit die Erweiterung der Ausschlusskriterien um wichtige den zuvor beschriebenen Folgen, also der Nicht-Anmel- Umweltbelange auf der einen Seite und die Erleichte- dung von Produkten, weil sich der Aufwand nicht lohnt. rung, die sich auf der anderen Seite durch die Umformu- Nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission lierung des Art. 5 ergibt, eine Ausrichtung der Verord- soll die Gemeinschaftszulassung nur für zwei Fallgrup- nung erzielen, die in ihrer Ausgewogenheit überzeugt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3279

(A) Neben der Einführung eines gemeinschaftlichen Zu- Kleidung, Teppiche und Möbel oder Materialien, die mit (C) lassungsverfahrens und der Präsizierung der Ausnahme- Lebensmitteln in Kontakt kommen, sind mehr als über- möglichkeiten von Ausschlusskriterien, möchte ich zu- fällig. Durch den europaweiten Austausch von Test- dem noch auf den Punkt „Transparenz für den ergebnissen werden weniger Tierversuche notwendig Verbraucher“ zu sprechen kommen. Um eine Verbesse- sein. Im Detail gibt es aber noch Nachbesserungsbedarf. rung der Bereitstellung von Informationen auf europäi- Wenn die Bewertung eines Wirkstoffes positiv abge- scher Ebene zu erzielen, welche meiner Meinung nach schlossen worden ist, begann bisher auf der Basis von angestrebt werden sollte, könnte man sich auf EU-Ebene Anträgen bei den zuständigen Behörden der Mitglied- an den Regelungen der deutschen Gesetzgebung im Be- staaten das nationale Produktzulassungs- oder Registrie- reich Biozide orientieren. Hier weise ich auf das im deut- rungsverfahren für Biozidprodukte, die diesen Wirkstoff schen Biozidrecht verankerte Produktverzeichnis hin, das enthalten. Bei dieser zweiten Verfahrensstufe werden die als Vorbild dienen kann. Damit habe ich den aus unserer produktspezifischen Risiken bewertet. Die Regierungs- Sicht bestehenden Nachbesserungsbedarf am vorliegen- fraktionen unterstützen die Bundesregierung in ihrer den Verordnungsentwurf umfassend beschrieben. In die- Verhandlungsposition, dass künftig auch die Zulassung sem Zusammenhang freut es mich, dass mit dem Bericht aller Produkte auf europäischer Ebene möglich sein soll. der Berichterstatterin des Europäischen Parlaments, Die Kommission sieht dies in ihrem Entwurf nur für Christa Klass, EVP, eine gute Stellungnahme vorliegt, die neue Produkte und Produkte mit geringem Risiko vor. verschiedene Aspekte ausgewogen behandelt. Dieser Ansatz entlastet die Unternehmen von Bürokra- tie. Ich halte es aber für unabdingbar, auch künftig Zu- Unser Antrag benennt klare Ziele und Maßnahmen: lassungen mit Auflagen zur Eindämmung regionaler Ri- Erhaltung des hohen Schutzniveaus, das wir in Deutsch- siken verbinden zu können. Diese Unterschiede können land kennen; Harmonisierung des europäischen Biozid- für den Schutz der regionalen Bevölkerung oder emp- rechts mit dem Ziel der Erleichterung der Verfahren bei findlicher Ökosysteme erforderlich sein. Die Bundesre- der Zulassung sowie damit verbunden die Anforderung gierung muss bei den Verhandlungen in Brüssel außer- an den positiven Nutzen einer sicheren Anwendung von dem darauf achten, dass die grundsätzlich sinnvolle Biozidprodukten. Dabei will ich auch darauf hinweisen, Ausweitung des Verfahrens zur gegenseitigen Anerken- dass bei der Ausformulierung dieser Ziele es nicht die nung nationaler Zulassungen auf alle Produkte nicht so Aufgabe des Bundestages sein kann, ins letzte Detail zu weit geht, dass Deutschland sein höheres Schutzniveau gehen und sich so zu überheben. Das übergeordnete Ziel nicht mehr durchsetzen kann. Standardabsenkungen leh- der Formulierung der oben genannten Ziele in Form ei- nen wir ab. nes Entschließungsantrages, verbunden mit einem ent- sprechenden Votum des Deutschen Bundestages, besteht Auch die Transparenz des Verfahrens und die Infor- (B) darin, die Bundesregierung in den Verhandlungen durch mation der Öffentlichkeit sind verbesserungswürdig. Die (D) die Vorgabe klarer Ziele auf europäischer Ebene den Rü- Daten zu Zulassung, Vermarktungsmengen, Anwen- cken zu stärken. Das ist uns mit diesem Entschließungs- dungsintensität, den Regeln der guten fachlichen Praxis, antrag gelungen. Dafür bitte ich um Ihre Zustimmung. zu Vergiftungsfällen und Umwelt- und Gesundheitsbe- lastungen müssen den Bürgern zugänglich sein. Ich Josef Göppel (CDU/CSU): Schon der Begriff „Bio- wünsche mir in diesem Zusammenhang auch, dass die zide“ unterstreicht die Notwendigkeit einer strengen Zu- zuständigen Behörden über alternative Methoden zur lassungsregelung. Der Begriff für Materialschutz- und Schädlingsbekämpfung und zum Materialschutz infor- Schädlingsbekämpfungsmittel ist abgeleitet vom grie- mieren. Bei der Komplexität natürlicher Kreisläufe chischen Wort für Leben „bios“ und dem lateinischen bleibt auch beim sorgfältigsten Zulassungsverfahren ein Wort für töten „caedere“. Desinfektionsmittel, Holz- Restrisiko. Der beste Schutz vor den Risiken von Biozi- schutzmittel und Insektengifte bergen für Mensch und den ist, wenn sie erst gar nicht zum Einsatz kommen. Natur erhebliche Gefahren. Viele Biozide sind langlebig, CDU/CSU und FDP wollen mehr Transparenz im Zulas- reichern sich in den natürlichen Kreisläufen an und kön- sungsverfahren. Wir fordern deshalb in unserem Antrag nen Erbgut verändern. Entsprechend hoch ist das Ge- ein europaweites, öffentliches Produktverzeichnis nach sundheitsrisiko für den Menschen. Besonders die schlei- dem Vorbild des deutschen Biozidrechts. chende Wirkung einiger Biozide ist äußerst tückisch, Krebs die Langzeitfolge. Ich erinnere hier nur an die Zum Vorsorgeprinzip gehört, dass besonders gefährli- leidvollen Erfahrungen aus früheren Zeiten mit PCP, che Stoffe, die zum Beispiel Krebs erregen können, von DDT und Lindan in Holzschutzmitteln. Der Staat steht der Anwendung ausgeschlossen werden. Der Verord- hier ganz besonders in der Pflicht, Vorsorge für die Ge- nungsentwurf sieht hier Kriterien vor, die noch nicht sundheit der Bürger zu treffen. Deshalb steht für die Re- ausreichen. Wir fordern die Bundesregierung deshalb in gierungsfraktionen an vorderster Stelle, dass eine euro- unserem Antrag auf, sich für einen Ausschluss von Stof- päische Harmonisierung und der Abbau bürokratischer fen einzusetzen, die sich in der Natur anreichern, beson- Hürden keinesfalls zu einer Aufweichung des hohen ders langlebig oder giftig sind. Das ist ich für mich ein deutschen Schutzniveaus führen dürfen. ganz wesentlicher Punkt, warum ich den Antrag unter- stütze. Solche Stoffe bergen die Gefahr, die natürlichen Grundsätzlich begrüße ich den Ansatz der EU-Kom- Kreisläufe nachhaltig zu stören. Wir reden hier von Ein- mission, die zehn Jahre alte Biozidrichtlinie nach dem griffen, die nicht einfach durch einen Stopp der Anwen- Vorbild der europäischen Chemikalienpolitik zu überar- dung rückgängig zu machen sind. Als Förster weiß ich beiten. Strengere Regeln für mit Bioziden behandelte um die dramatischen Folgen für das biologische Gleich- 3280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) gewicht. Als christlicher Politiker erinnere ich hier ganz monsystem stören. Daher gibt es in Deutschland eine (C) besonders an unsere Verantwortung für die Bewahrung Zulassungspflicht für Biozidprodukte vor deren erstma- der Schöpfung. Deshalb halte ich unsere Forderung für ligem Inverkehrbringen. Auf europäischer Ebene wird richtig, dass die Ausnahmeregelungen in Art. 5 des Ver- der Umgang mit Biozidprodukten bisher durch eine EU- ordnungsentwurfs für diese besonders gefährlichen Bio- Richtlinie aus dem Jahr 1998 geregelt, die jetzt überar- zide präziser gefasst werden müssen. Mir ist es zum Bei- beitet werden soll. Das ist auch dringend notwendig; spiel zu schwammig formuliert, wenn der Ausschluss denn diese Produkte sind auf dem Vormarsch. Der Ab- von Wirkstoffen ohne bekannten Ersatz aufgehoben wer- satz von Insektensprays und Haushaltsdesinfektionsmit- den kann, wenn sich – ich zitiere – „verglichen mit dem teln steigt in Deutschland und Europa ungebrochen an. Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Um- Auf dem Markt sind innerhalb der EU derzeit etwa welt … nachweislich unverhältnismäßig negative Fol- 400 000 Tonnen Wirkstoffe in insgesamt 50 000 Produk- gen“ ergeben. Das ist nicht nur ein Schlupfloch, sondern ten. Deutschland nimmt mit rund 20 000 verschiedenen eine riesige Bresche, mit der letztendlich auch der Biozidprodukten einen Spitzenrang unter den Mitglied- krebserregendste Stoff noch zugelassen werden kann. Die staaten ein. Bundesregierung muss hier dringend auf einer Nachbes- serung bestehen. Diese Zahlen zeigen deutlich, dass wir handeln müs- sen, wenn wir unser Leitprinzip für Reformen – die Idee In diesem Zusammenhang will ich aber auch auf ei- der nachhaltigen Entwicklung – ernst nehmen. Nachhal- nen Punkt hinweisen, in dem ich mir im Antrag der Re- tigkeit heißt, dass wir einen fairen Interessenausgleich gierungsfraktionen eine zurückhaltendere Formulierung zwischen Ökonomie, Sozialem und Ökologie suchen. gewünscht hätte. Die Kommission sieht im Verord- Nachhaltigkeit heißt, dass wir Verantwortung für das Le- nungsentwurf vor, dass für bestimmte Produktgruppen ben künftiger Generationen übernehmen. Insofern ist sie keine Ausnahmeregelungen für besonders gefährliche nicht vereinbar mit der heutigen Kurzfristigkeit, die be- Stoffe möglich sind. Für mich haben selbst bei einer eng triebswirtschaftliche Entscheidungen prägt. gefassten Präzisierung der Ausnahmeregelungen krebs- erregende Stoffe als Desinfektionsmittel im Lebensmit- Das bedeutet für unser heutiges Beratungsthema: Bei tel- und Futtermittelbereich nichts zu suchen. Dieses ein- der Revision der europäischen Biozidrichtlinie müssen deutige Verbot sollte in der Verordnung erhalten bleiben. wir sicherstellen, dass die angestrebten Vereinfachungen und ein gewünschter Bürokratieabbau nicht auf Kosten Zum Abschluss meiner Rede möchte ich aber noch des Umwelt- und Verbraucherschutzes gehen. Der auf etwas wirklich Erfreuliches hinweisen: Die Biozid- Hauptzweck der Verordnung sollte der Schutz der Um- verordnung ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es welt und der menschlichen Gesundheit vor den mögli- (B) ist, dass der Deutsche Bundestag nun durch das Urteil chen negativen Folgen der Verwendung von Bioziden (D) des Bundesverfassungsgerichts und den Vertrag von Lis- sein. Wenn man sich den vorliegenden Entwurf aber ge- sabon schon zu einem frühen Zeitpunkt die Möglichkeit nau ansieht, scheint das vorrangige Ziel der EU-Kom- hat, Entscheidungen auf europäischer Ebene zu beein- mission bei der neuen Verordnung zu sein, den freien flussen. Das deutsche Parlament unterstreicht mit die- Verkehr von Biozidprodukten innerhalb der Gemein- sem Antrag, dass es beim Schutz der Bevölkerung vor schaft zu steigern. Im Gesetzestext finden sich zahlrei- den Gefahren von Bioziden keine Rückschritte zulässt. che Änderungen, die die Zulassung und das Inverkehr- Das Signal ist klar: Unser Recht auf Mitsprache bei eu- bringen von Biozidprodukten vereinfachen sollen. Auch ropäischen Entscheidungen werden wir selbstbewusst laut Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Bundesregie- wahrnehmen. rung soll die Zulassung von Bioziden erleichtert werden. Auch wir von der SPD setzen uns für einen modernen Dr. Bärbel Kofler (SPD): Die Revision der europäi- Industriestandort Deutschland, für Forschung und Inno- schen Biozidrichtlinie, unser heutiges Thema, ist ein vationen ein. Aber wir sagen auch deutlich: Es darf kei- weites Feld für naturwissenschaftliche Experten. Im nen einseitigen Blick auf die Förderung der Biozidver- Umweltausschuss haben wir Fachpolitiker den vorlie- marktung geben. Unser Hauptaugenmerk muss weiterhin genden Entwurf mehrfach und auf hohem Niveau bera- auf einen vorsorgeorientierten Schutz von Mensch, Um- ten. In der heutigen Plenardebatte geht es darum, nicht in welt und Tier gerichtet sein. Das ist aus unserer Sicht auch eine Chemievorlesung zu verfallen, sondern für die Bür- der Hauptzweck bei der Revision der europäischen Bio- gerinnen und Bürger verständlich zu machen, worum es zidrichtlinie. Aber leider wird er durch den heute zu be- eigentlich geht: Um Produkte, die sich in jedem Haus- ratenden Vorschlag nicht erfüllt. halt finden, wie antibakterielle Putzmittel, Mücken- sprays und Holzschutzmittel. Die Verbraucher haben Lassen Sie mich konkret auf die Beratungsvorlage also im Alltag direkten Kontakt mit Bioziden, das heißt eingehen. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt grund- mit Substanzen, die unerwünschte Organismen vernich- sätzlich die Revision der europäischen Biozidrichtlinie. ten und die zum Teil dieselben Wirkstoffe wie Pestizide Im vorliegenden Vorschlag werden etliche zutage getre- enthalten. Wichtig für die Verbraucher ist dabei, dass tene Schwachstellen der vorherigen Regelung beseitigt Produkte wie Holzschutzmittel, Desinfektionsmittel und und eine Reihe von Elementen, insbesondere zum Um- Rattengift aber auch das Risiko unerwünschter Neben- gang mit Daten und Verfahrensvorschriften, verbessert wirkungen für Mensch und Umwelt haben. Sie können und harmonisiert. Wir freuen uns, dass wichtige Prinzi- Wirkstoffe enthalten, die Krebs erzeugen, das Erbgut pien aus der neuen Verordnung zur europäischen Chemi- verändern, die Fruchtbarkeit herabsetzen oder das Hor- kalienpolitik, REACH, übernommen wurden. Beispiels- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3281

(A) weise wurde der Geltungsbereich auf Gegenstände und Auch aus Tierschutzsicht besteht dringender Nach- (C) Materialien erweitert, die mit Biozidprodukten behan- besserungsbedarf. So sollten zum Beispiel tierversuchs- delt wurden. Das heißt konkret, dass Erzeugnisse wie freie Alternativen – als Ersatz für die in den Datenanfor- Farben, Textilien, Teppiche oder Lederwaren mit Biozi- derungen vorgeschriebenen Tierversuche – für die den ausgerüstet sind und durch den Import aus Drittlän- Antragsteller attraktiver werden. dern in die EU gelangen. Durch die Revision wird end- lich eine relevante Lücke im bisherigen Biozidrecht Für die SPD steht der Mensch im Mittelpunkt. Des- geschlossen. Wir begrüßen ausdrücklich, dass zukünftig halb geht es uns bei der Revision der europäischen Bio- in der EU nur Erzeugnisse vermarktet werden dürfen, zidrichtlinie auch in erster Linie um den gesundheitli- deren Biozidausrüstung auch in der EU zugelassen ist. chen Schutz für die Verbraucherinnen und Verbraucher Das ist vor allem für die europäischen Verbraucherinnen und nicht vorrangig um den Schutz der Unternehmen, und Verbraucher eine erfreuliche Verbesserung des die Biozidprodukte herstellen, wie es die Regierungs- Schutzes vor gefährlichen Stoffen. fraktionen in ihrem Entschließungsantrag darlegen. Es ist den Regierungsfraktionen leider nicht gelungen, mit Die SPD-Bundestagsfraktion sieht jedoch noch einen ihrem Entschließungsantrag an unser Niveau heranzu- deutlichen Änderungsbedarf des vorliegenden EU-Ent- kommen. wurfs, da in der bisherigen Fassung dem vorsorgenden In der heute zur Abstimmung stehenden Beschluss- Umwelt- und Gesundheitsschutz noch nicht genügend empfehlung gibt es keinen Satz zur Vorsorge, keinen Rechnung getragen wird. Mit dieser Forderung stehen Satz zur Substitution, keinen Satz zum Tierschutz. Für wir nicht alleine da. Ein breites Bündnis von Umwelt-, die weiteren Beratungen auf europäischer Ebene bedeu- Naturschutz- und Verbraucherschutzverbänden haben tet das, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung leider Vorschläge und Forderungen für ein besseres Biozid- ihre Chance verspielt, sich für das hohe Schutzniveau für recht vorgelegt. Die SPD-Bundestagsfraktion hat daher die Umwelt, die Gesundheit der Menschen und den Tier- einen Entschließungsantrag in die Beratungen im Um- schutz als Hauptzweck der Verordnung einzusetzen. Aus weltausschuss eingebracht. Wir fordern die Bundesre- diesem guten Grund lehnt die SPD-Bundestagsfraktion gierung auf, sich bei den Verhandlungen im Umweltmi- auch den vorliegenden Entschließungsantrag der CDU/ nisterrat für folgende Änderungen einzusetzen. Das CSU und FDP ab. Vorsorgeprinzip muss auch in dieser neuen Regelung zur Anwendung kommen, wie bei der Chemikalien- und Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar grund- Pestizidgesetzgebung. Dieses Prinzip bedeutet, vorsorg- sätzliche Gedanken zum heutigen Thema formulieren. lich Schutzmaßnahmen zu ergreifen, auch wenn der Um- Wir alle können froh sein über unseren heutigen hohen fang der Gefahr noch nicht vollständig abzuschätzen ist. Standard im Bereich der Hygiene und Gesundheit. Auch (B) Nur so können wir das hohe Schutzniveau für die Um- in Deutschland produzieren Unternehmen Produkte, die (D) welt und die Gesundheit von Mensch und Tier auch wei- für unser tägliches Leben eine echte Bereicherung dar- terhin gewährleisten. stellen. So fortschrittlich die Innovationen im Bereich der Biozidprodukte heutzutage auch sind, stellt sich Die geplante Biozidverordnung muss mit geltenden doch für die Verbraucher trotzdem häufig die einfache Umweltschutzgesetzen und Umweltschutzstandards ver- Frage: Muss das alles sein? Ob keimfrei sprühen, wi- knüpft werden, zum Beispiel die Umweltqualitätsziele schen oder waschen, ob Badewannen, Müllsäcke oder der Wasserrahmenrichtlinie. Auch die Definition des so- Socken mit antibakterieller Ausstattung – wer will, kann genannten Schadorganismus muss enger gefasst werden. den Kampf gegen Keime an jeder Front im Haushalt auf- Es muss klargestellt werden, dass Biozide nur zur nehmen. Aber wie wirksam die Produkte sind und inwie- Schädlingsbekämpfung eingesetzt werden dürfen – und weit Infektionskrankheiten dadurch vereitelt werden, das nicht auch gegen sogenannte unerwünschte Lebewesen, bleibt dem Hoffen der Verbraucher überlassen. Das Um- die nicht schädlich sind. Wir fordern darüber hinaus ei- weltbundesamt, das Bundesinstitut für gesundheitlichen nen strikten Ausschluss von besonders gesundheits- und Verbraucherschutz und Veterinärmedizin sowie das umweltgefährlichen Stoffen. Wir unterstützen den Vor- Robert Koch-Institut bewerten die chemische Entkei- schlag, dass künftig Biozidwirkstoffe mit krebserregen- mung im Haushalt als „überflüssig“ und extrem schäd- den, fortpflanzungsschädigenden, erbgutverändernden lich. Es gibt natürlich eine Existenzberechtigung für oder hormonell wirksamen Eigenschaften ausgeschlos- echte Desinfektionsmittel – in Krankenhäusern, Lebens- sen werden sollen. Diese Regelung sollte aber erweitert mittelbetrieben, in der Veterinärmedizin. Aber dort soll- werden. Es gibt noch zahlreiche Stoffe, die von der Re- ten Biozide nur von ausgebildeten Personen angewendet gelung noch nicht erfasst sind, aber eine besonders ge- werden, die sich mit Konzentration, Wirkungsspektrum fährdende Wirkung haben, wie die sogenannten PBT- und Einwirkzeiten auskennen. Ein Wissenschaftler des Stoffe, vPvB-Stoffe und POPs-Stoffe. Auch die Anwen- Instituts für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene dung des Substitutionsprinzips, also der Ersatz von ge- der Uniklinik Freiburg hat es auf den Punkt gebracht: fährlichen Chemikalien durch sichere Alternativen, „Das Szenario der allgemeinen Bedrohung durch Keime sollte konsequenter durchgeführt werden. Innovationen ist Panikmache und eine Erfindung von Marketingstrate- für Alternativen sollten gefördert werden. Die Zulas- gen.“ sung, Vermarktung und Verwendung von Bioziden muss transparent sein. Die Verbraucherinnen und Verbraucher Die Bundesregierung sollte bei den Beratungen auf müssen aktiv über die Vorsorgemaßnahmen und unbe- europäischer Ebene das nicht aus dem Auge verlieren. denkliche neue Alternativverfahren informiert werden. Sie handeln im Auftrag der Konsumentinnen und Kon- 3282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) sumenten unseres Landes und nicht im Auftrag der Wirt- Der Einsatz von Giften ist immer nur Ultima Ratio. Die (C) schaftsverbände. meiste Schädlingsbekämpfung kommt heute ohne sie aus. Erst wenn der Einsatz von Köderboxen nicht zum Dr. Lutz Knopek (FDP): Biozide sind Stoffe oder Erfolg führt, kommen Biozide zum Einsatz. Eine Kon- Zubereitungen, denen bestimmungsgemäß die Eigen- trolle im Anschluss und ein Einsammeln der Kadaver schaft innewohnt, Lebewesen abzutöten oder zumindest und nicht gebrauchter Köder sind Teil des sachgerechten in ihrer Lebensfunktion einzuschränken. Aufgrund die- Einsatzes, der der Risikominimierung dient. ser potenziell gefährlichen Eigenschaften von Bioziden Zum Abschluss meiner Rede will ich noch kurz auf ist die Begrenzung des mit der Verwendung von Biozid- einen Kritikpunkt der Opposition eingehen. SPD, Links- produkten einhergehenden Risikos für den Menschen partei und Grüne haben – auf Zuruf des Tierschutzver- und für Organismen von besonderer Bedeutung. Der am bandes – im Ausschuss und in ihren Entschließungsan- 12. Juni 2009 vorgelegte Verordnungsentwurf der Kom- trägen suggeriert, dass der Verordnungsentwurf den mission zur Revision der Biozid-Produkte-Richtlinie Tierschutz nicht ernst genug nimmt und dass auf Tier- strebt dazu eine Vereinfachung und Harmonisierung der versuche praktisch ganz verzichtet werden könnte. Die- Biozidgesetzgebung in der Europäischen Union an. Ziel sem Eindruck will ich an dieser Stelle entschieden entge- der Verordnung ist es, der laufenden technischen Ent- gentreten. Der Einsatz von Tierversuchen ist – leider – wicklung Rechnung zu tragen sowie die in der bisheri- auch weiterhin unvermeidlich. Zur Feststellung von Re- gen Anwendung der Biozid-Produkte-Richtlinie festge- produktionstoxizität und Teratogenität reichen In-vitro- stellten Schwächen und Probleme zu beheben. Der Versuche grundsätzlich nicht aus. Schädigungen, die am Kommissionsentwurf wird diesen Zielen leider nicht ge- Ende eines Lebenszyklus oder sogar erst nach mehr als recht. Die Koalition aus CDU, CSU und FDP hat daher einer Generation auftreten, können nur am lebenden Or- einen gemeinsamen Entschließungsantrag vorgelegt, mit ganismus festgestellt werden. Deshalb sind Forderungen dem die Bundesregierung beauftragt wird, sich für eine nach einem zu weitgehenden Verbot von Tierversuchen Überarbeitung auf europäischer Ebene einzusetzen. deplatziert. Zudem sind die Bestimmungen zur Minimie- Uns geht es dabei vor allem um zwei Punkte: Erstens. rung von Tierversuchen und zum Austausch von Ver- Die bisherige aufwendige Praxis paralleler eigenstaatli- suchsdaten im Verordnungsentwurf bereits ausreichend. cher Zulassungsverfahren ist zu teuer und zu bürokra- In Art. 51 heißt es dazu: „Versuche an Wirbeltieren wer- tisch. Wir machen uns daher stark für eine Ausweitung den nur als letzter Ausweg durchgeführt. Versuche dür- und Stärkung der neuen Gemeinschaftszulassung. Die fen nicht mehrfach ausgeführt werden.“ Der Datenaus- vorgesehene Beschränkung des Verfahrens auf zwei tausch ist bei Tierversuchen außerdem ohnehin Fallgruppen, Produkte mit neuen Wirkstoffen und Nied- obligatorisch. (B) (D) rig-Risiko-Produkte, ist unsachgemäß und macht das Für uns ist die Kritik der Opposition an dieser Stelle Verfahren für die Praxis bedeutungslos. Mit der Auswei- daher nicht nachvollziehbar. Sie dient offensichtlich nur tung der Gemeinschaftszulassung erhalten die Unterneh- als vorgeschobener Grund, um einen ausgewogenen und men Anreize zur Produktinnovation, da sie ihre Produkte differenzierten Antrag ablehnen zu können. Wir machen dann europaweit vermarkten können. Kleine, national lieber konstruktive Politik. segmentierte Märkte haben ein zu geringes Umsatzpo- tential, um eine solche Wirkung zu entfalten. Neue, we- niger gefährliche Wirkstoffe werden aber nur dann ent- Ralph Lenkert (DIE LINKE): Mit der Biozidrichtli- wickelt werden, wenn es betriebswirtschaftlich Sinn nie stellen EU und Bundesregierung Industrieinteressen macht. über Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Biozide sind Gifte, die Lebewesen töten oder massiv beeinträchtigen. Zweitens. Da wir Liberale grundsätzlich einen ganz- Der notwendige, auch unvermeidbare Einsatz von Biozi- heitlichen Bewertungsansatz verfolgen, ist eine Erweite- den zur Bekämpfung von schädlichen Insekten und Na- rung der Ausschlusskriterien um Umweltkriterien, na- gern, Pilzen, Bakterien, Viren und auf anderen Gebieten mentlich bioakkumulative, persistente und toxische muss deshalb mit Vorsicht erfolgen und auf das notwen- Stoffe sowie um persistente organische Verbindungen, dige Mindestmass begrenzt werden. Rattengifte töten wichtig und sinnvoll. Damit wird den vielfältigen ökoto- auch Menschen, Insektengifte schädigen die Fortpflan- xikologischen Risiken, die beim Einsatz von Bioziden zungsfähigkeit von Frauen und Männern, und Anti-Pilz- entstehen können, Rechnung getragen. Jedoch lehnen mittel lösen Atemwegserkrankungen und Krebs aus. wir das faktische Verbot bestimmter Produktgruppen, Eine strenge Reglementierung der Zulassung von Biozi- wie sie in Art. 5 des Verordnungsentwurfs vorgesehen den, Einsatz von gut geschultem Personal bei der Nut- sind, ab. Die Nichtaufnahme von Wirkstoffen in die Po- zung von Bioziden sowie klare Verwendungsrichtlinien sitivliste auf Anhang 1 der Verordnung kann nur dann wie bei der Pestizidverordnung wären erforderlich. begründet werden, wenn eine individuelle, expositions- basierte Risikoabwägung zu dem Schluss kommt, dass Statt den bestmöglichen Schutz von Mensch und Na- Risiko und Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis tur sichert diese Richtlinie eine einfache EU-weite Zu- zueinander stehen. Gerade bei den Schädlingsbekämp- lassung dieser gefährlichen Stoffe. In Kopplung mit der fungsmitteln, die aufgrund ihrer Stoffeigenschaften pau- EU-Dienstleistungsrichtlinie wird das erwähnte Fach- schal ausgeschlossen werden sollten, muss bedacht wer- kräftegebot jedoch zur Farce. Die Einhaltung von An- den, dass ihre Verwendung immer im Rahmen eines wendungsvorschriften und Einsatzbeschränkungen wird integrierten Schädlingsbekämpfungskonzeptes erfolgt. kaum überprüft. Hier handeln EU und Bundesregierung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3283

(A) grob fahrlässig. So kann Maries Opa weiter nach dem sam vor giftigen Biozidprodukten zu schützen. Das (C) Motto „Viel hilft viel“ gegen Mehltau spritzen, Oma Motto kann nicht sein: Alle notwendigen Biozidpro- sprüht gegen Essigfliegen, Papa pinselt gegen Schim- dukte, gleich wie risikobehaftet, müssen jederzeit auf mel, und Mama wäscht die Haare ihres Kindes mit Lin- dem Markt verfügbar sein. Die Marktverfügbarkeit und dan, als Pestizid wegen der Giftigkeit verboten, gegen die Verfahrensvereinfachung stehen im Mittelpunkt ihres Kopfläuse in der Bundesrepublik bis 2007 noch zugelas- Vorschlages, der vorsorgende Schutz der Verbraucher sen. 20 Jahre später braucht Marie keine Verhütungsmit- spielt jedoch eine sehr geringe Rolle. Ich muss schon sa- tel – sie wurde durch diese Biozide unfruchtbar –, weil gen: Die Schädlingsbekämpfungslobby hat sich durchge- ihre Eltern und Großeltern der staatlichen Zulassung ver- setzt. Wenn man den Vorschlägen vonseiten der FDP zu- trauten – skandalös. hört, bekommt man den Eindruck, dass es wichtiger sei, Gefährliche Biozide müssten schnellstmöglich ersetzt Bürgerinnen und Bürger vor Rattenplagen zu schützen werden. Was passiert jedoch? Ausnahmeregelungen für als vor besonders gesundheits- und umweltgefährdenden altbekannte Wirkstoffe werden so lange verlängert, wie Stoffen. Für meine Fraktion hingehen ist unabdingbar, es keine alternativen Wirkstoffe gibt. Da die Hersteller dass die Anwendung von besonders risikoreichen Sub- bei fehlenden ungefährlicheren Bioziden problemlos und stanzen, wie beispielsweise PBT- und POP-Stoffe, aus- ohne Kosten die Zulassung ihrer vorhandenen Biozide geschlossen wird und problematische Biozidprodukte verlängert bekommen, haben sie kein Interesse an Neu- nicht generell, sondern nur in Ausnahmen zugelassen entwicklungen zur Verminderung von unerwünschten werden können. Das wird die erfolgreiche Bekämpfung Nebenwirkungen der Biozide. von Rattenplagen nicht verhindern, die Menschen aber wirksam vor Risikoprodukten schützen. 50 000 Biozide gibt es in der EU – 20 000 in der Bun- desrepublik, die meisten mit Bestandsschutz. Die Zahl Wir hören, dass insbesondere die FDP einen Innova- möglicher Wechselwirkungen ist höher als die mögli- tionsschub für den deutschen Biozidmarkt fordert. Das chen Kombinationen beim Lotto. Der sachgerechte Ein- sehen wir auch so. Allerdings heißt Innovation für uns: satz dieser Mittel würde herausragend geschultes Perso- Entwicklung von Niedrigrisikoprodukten. Die von Ihnen nal benötigen. Wie das bei einem Fachvortrag bei einem geforderte gemeinschaftliche Zulassung für alle Pro- Apotheker in Portugal oder bei einem zweiwöchigen dukte in der EU schafft Anreize ab, Niedrigrisikopro- Crashkurs in der Bundesrepublik vermittelt werden soll dukte auf den Markt zu bringen. Wir fordern Sie auf: Pri- ist fraglich. Die Linke sieht die Notwendigkeit einer vilegieren sie Niedrigrisikoprodukte und fördern Sie Biozidverordnung. Wir fordern, die Ausnahmeregelun- damit Innovationen, die zum Schutz von Umwelt und gen aufzuheben. Die Industrie wird, wenn unter Druck Mensch beitragen. Wir kritisieren, dass mit diesem Ent- (B) gesetzt, neue Wirkstoffe mit geringerem Gefahrenpoten- wurf der EU-Verordnung die Bevölkerung nicht ausrei- (D) zial entwickeln. Beim FCKW-Kühlschrank konnten chend vor Risikoprodukten geschützt wird. Wenn Sie der nach dem Durchbrechen der Blockade durch die kleine Verordnung so trotzdem unverändert zustimmen wollen, Firma Foron die Marktführer Siemens und Miele dann in dann sollten Sie zumindest alles tun, um die Verbraucher nur sechs Monaten auch FCKW-frei produzieren, was über mögliche Risiken von und Alternativen zu Biozid- vorher laut Industrie nicht möglich war. produkten zu informieren. Aber auch hier vermissen wir Wir fordern, den Beruf des Schädlingsbekämpfers mit weitergehende Forderungen. Sorgen Sie für Transpa- den hohen bundesdeutschen Standards europaweit ver- renz, setzen Sie sich dafür ein, dass die Bevölkerung eu- bindlich zu machen. Nur so kann das notwendige Fach- ropaweit über die Risiken von Biozidprodukten, über wissen bei dem Biozideinsatz gesichert werden. Um den Vorsorgemaßnahmen und über unbedenkliche Alterna- regionalen Besonderheiten entsprechen zu können und tivverfahren informiert wird. damit jeder EU Staat das Recht hat, über die Mindest- schutzstandards für seine Bürger hinauszugehen, fordern Als Letztes noch ein Wort zum Tierschutz. Sie sagen, wir, dass jedes Land das Recht hat, Zulassungen von grundsätzlich sei es richtig, Tierversuche weitgehend zu Bioziden zu verweigern. reduzieren. Leider findet sich davon wenig in ihrem Ver- ordnungsvorschlag. Klare Leitlinien zur Verhinderung Diese Richtlinie erfüllt leider umfänglich den An- von Tierversuchen und Anreize zur Verwendung von Al- spruch der Industriefreundlichkeit, statt den Anspruch zu ternativmethoden fehlen. Und wenn sie sagen, wie die erheben, den bestmöglichen Schutz von Mensch und Na- Kollegen von der FDP das im Ausschuss getan haben, tur zu sichern. Das ist nicht der Weg für die Linke. Für dass der Verzicht auf Tierversuche mit massiven Risiken uns stehen Mensch und Natur an erster Stelle. Deshalb für den Menschen verbunden ist, dann sage ich Ihnen: lehnen wir diese Vorlage ab. Nehmen Sie den Tierschutz endlich ernst und setzen Sie für die Anwendung bereits bestehende zuverlässige und Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): EU-weit anerkannte Alternativmethoden ein. Der vorge- Der vorgelegte Vorschlag zur EU-Biozidverordnung legte Verordnungsvorschlag und der Entschließungsan- schützt Mensch, Tier und Umwelt nicht ausreichend. trag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP schützen Vielmehr ist er ein weiterer Beweis dafür, dass die Re- Mensch, Tier und Umwelt nicht wirksam vor gefährli- gierungskoalition den Schutz der Herstellerinteressen chen Biozidprodukten. Nicht zum ersten Mal stellt die über den Schutz der Verbraucher und Verbraucherinnen Koalition ihre Umweltpolitik unter das Motto Entbüro- stellt. Die Regelung zum Einsatz von Biozidprodukten kratisierung, Marktfreiheit und Schutz der Hersteller. muss zum Ziel haben, Mensch, Tier und Umwelt wirk- Der Verbraucherschutz hingegen bleibt auf der Strecke. 3284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Anlage 10 Wir dagegen wollen die Rentenversicherung auch für (C) die Zukunft leistungsfähig und sicher machen. Das Soli- Zu Protokoll gegebene Reden daritätsprinzip in der Rente war und ist auch der Grund zur Beratung des Antrags: Zur Stabilisierung für die Einführung sogenannter Dämpfungsfaktoren in des Rentenniveaus: Riester-Faktor streichen – der Rentenformel, also Altersvorsorgefaktor, Riester- Keine nachholenden Rentendämpfungen vor- Faktor, und Nachhaltigkeitsfaktor. Es ist daher höchst nehmen (Tagesordnungspunkt 15) problematisch, auf die Nachholung der wegen der An- wendung der Rentenschutzgarantie nicht realisierten An- passungsdämpfungen auf alle Zeiten einfach zu verzich- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Das Sys- ten. Gerade bei der Rentenanpassung müssen die Belange tem der gesetzlichen Rentenversicherung erbringt in die- der Rentnerinnen und Rentner mit denen der künftig Ver- sem Jahr eine großartige Solidarleistung zugunsten der sicherten vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und 20,2 Millionen Rentnerinnen und Rentner in Deutsch- sozialen Entwicklung ausgelotet werden. Hier ist zu be- land. Da die jeweils zum 1. Juli eines Jahres vorzuneh- rücksichtigen, dass künftig – bedingt durch die geringe mende Rentenanpassung gemäß der seit der Einführung Geburtenrate und die steigende Lebenserwartung – im- der dynamischen Rente im Jahr 1957 geltenden Regeln mer mehr Rentner immer weniger Beitragszahlern gegen- der Lohnentwicklung des Vorjahres folgt, müssten ei- überstehen, sodass die Beitragsbelastung ohne gegen- gentlich die Renten zum 1. Juli 2010 gesenkt werden. steuernde Maßnahmen erheblich steigen würde. Um eine Denn die Auswirkungen der Finanz- und Kapitalmarkt- generationengerechte Verteilung der mit einer älter wer- krise haben 2009 dazu geführt, dass wir leider eine ins- denden Gesellschaft verbundenen Ausgaben zu gewähr- gesamt in Deutschland negative Lohnentwicklung hat- leisten, hat der Gesetzgeber die Anpassungsformel in den ten, nämlich um minus 0,4 Prozent. Die für die vergangenen Jahren ergänzt: Der Faktor für die Verände- Rentenanpassung maßgebliche Lohnentwicklung beträgt rung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung und des für das Jahr 2009 in den alten Ländern minus 0,96 Pro- Altersvorsorgeanteils sowie der Nachhaltigkeitsfaktor zent. In den neuen Ländern sind diese geringfügig um berücksichtigen sowohl die steigenden Aufwendungen 0,61 Prozent gestiegen. Doch schon in der Großen Ko- der Jüngeren für ihre private zusätzliche Vorsorge als alition haben wir für diese Situation vorgesorgt. Mit der auch Veränderungen beim zahlenmäßigen Verhältnis von neu ins Rentenrecht aufgenommenen Rentengarantie ha- Rentnern zu Beitragszahlern. ben wir eine klare und eindeutige Botschaft an die Rent- nerinnen und Rentner ausgesandt: Was auch immer an Eine Abschaffung der Dämpfungsfaktoren hätte dem- der Lohnfront geschehen mag, eine Rentenkürzung gibt nach erhebliche Mehrausgaben zur Folge. Deren Finan- es nicht. Deshalb gibt es trotz negativer Lohnentwick- zierung würde die Betragszahler überfordern und die (B) lung im Jahr 2009 zum 1. Juli 2010 keine Rentenkür- Rentnerinnen und Rentner nicht mehr angemessen an ei- (D) zung, sondern eine Garantie, dass alle Renten auf der ner generationengerechten Rentenpolitik beteiligen. bisherigen Höhe bleiben. Auch für die Rentnerinnen und Ohne Wirkung der Dämpfungsfaktoren würde der Bei- Rentner haben wir einen zusätzlichen Schutzschirm auf- tragssatz zur Rentenversicherung weit über die gesetz- gespannt, der vor den negativen Auswirkungen der Krise lich festgelegten Obergrenzen von höchstens 20 Prozent schützt. bis 2020 bzw. höchstens 22 Prozent bis 2030 hinaus an- Diese großartige Solidarleistung der Rentenversiche- steigen. Wegen der geltenden Fortschreibungsvorschrif- rung muss natürlich auch finanziert werden. Und diese ten wäre dies nicht nur mit einer erheblichen Belastung Finanzierung erbringen die rund 35 Millionen aktuellen der Versicherten und Arbeitgeber, sondern auch der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler zur gesetzlichen Steuerzahler verbunden, weil mit einem höheren Bei- Rentenversicherung. Solidarität ist aber keine Einbahn- tragssatz auch höhere Bundesmittel verbunden sind. straße. Deshalb ist es mehr als recht und billig, dass in Auch der Präsident der Deutschen Rentenversiche- künftigen Jahren, wenn die Renten trotz positiver Lohn- rung, Dr. Herbert Rische, hat in einem Interview mit entwicklung wieder steigen können, Stück für Stück dem Tagesspiegel am 22. März 2010 darauf hingewie- diese zusätzliche Solidarleistung wieder ausgeglichen sen: „Ich muss aber darauf hinweisen: Wenn die unter- wird. Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutsch- bliebenen Rentenanpassungen nicht nachgeholt werden, land ist grundlegend auf die Solidarität der Generationen dann wird es nicht möglich sein, das angestrebte Bei- aufgebaut. Wer diese Solidarität zerstört, zerstört die tragssatzziel von 22 Prozent im Jahr 2030 – das übrigens Rentenversicherung. auch im Gesetz steht – einzuhalten.“ Darüber hinaus ist Was die Fraktion Die Linke beantragt, bewirkt aber darauf hinzuweisen, dass diese Faktoren nicht aus- genau dieses: Die Solidarität zwischen den Generationen schließlich anpassungsdämpfend wirken; der Nachhal- wird einseitig aufgekündigt. Die Rentenversicherung tigkeitsfaktor hat bei den Rentenanpassungen der Jahre wird ihrer Basis beraubt, und das machen wir im Inte- 2007 und 2008 mit rund plus 0,2 Prozent und im Jahr resse der Rentnerinnen und Rentner wie der Beitragszah- 2009 mit rund plus 0,3 Prozent rentensteigernd gewirkt. lerinnen und Beitragszahler nicht mit. Nicht Entsolidari- Eine Schutzklausel verhindert jedoch, dass es zu Renten- sierung, nein, mehr Solidarität ist notwendig, wenn das kürzungen kommt. Schließlich existieren klare, gesetz- Rentensystem auch in Zukunft funktionieren soll, wenn lich festgeschriebene Vorgaben zur Rentenniveauhöhe, die Zahl der Älteren im Verhältnis zur Zahl der Jüngeren die nicht unterschritten werden dürfen und – wie der deutlich zunimmt. Wer entsolidarisiert, zerstört die ge- Rentenversicherungsbericht vom November vergange- setzliche Rentenversicherung. nen Jahres zeigt – auch nicht unterschritten werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3285

(A) Im Übrigen ist der Antrag der Linken ein Nullantrag. dabei auch bei der Leistungsorientierung in der Rente. (C) Selbst wenn der Antrag der Linken angenommen würde, Letztlich folgt sie den Löhnen. wäre nach der dann geltenden Rentenformel die Ren- tenanpassung 2010 bei null. Also, einen Antrag vorzule- Und – das ist eine wichtige Botschaft für die Rentne- gen, der suggeriert, es gäbe für die Rentnerinnen und rinnen und Rentner in Deutschland – die Rente ist auch Rentner mehr, der aber in Wahrheit nicht mehr bringt als in der Krise verlässlich. Wir sind uns unserer sozialen null, das ist eine bewusste Rentnertäuschung, die hier die Verantwortung bewusst und werden ihr gerecht. Obwohl Linken inszenieren. die Löhne aufgrund der Wirtschaftskrise im vergangenen Jahr gesunken sind, müssen die Rentnerinnen und Rent- Dass wir als Gesetzgeber die Interessen der Rentne- ner keine Rentenkürzung hinnehmen. Dies verhindert rinnen und Rentner dennoch stets im Blick haben, zeigt die gesetzliche Schutzklausel. Entscheidend für die Ren- sich an den Rentenanpassungen der Jahre 2008 und tenentwicklung 2010 ist die Effektivlohnentwicklung, 2009, bei denen die stufenweise Erhöhung der Riester- Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer, 2009. Durch Treppe ausgesetzt wurde, um die Rentnerinnen und die massive internationale Finanz- und Wirtschaftskrise Rentner stärker am Wirtschaftsaufschwung teilhaben zu sind die Bruttolöhne und -gehälter in Deutschland im lassen. Dadurch fielen die Rentenanpassungen zum Jahr 2009 erstmals seit über 50 Jahren gesunken. Die 1. Juli 2008 sowie zum 1. Juli 2009 um jeweils rund Wirtschaftskrise hat zu sinkenden Pro-Kopf-Löhnen ge- 0,65 Prozentpunkte höher aus. Und eben auch in Zeiten führt. Dies ist der Preis für den Erhalt Tausender Ar- der Krise schützen wir mit der Rentengarantie die Rent- beitsplätze gewesen. Neben den Konjunkturprogrammen nerinnen und Rentner umgekehrt vor Rentenkürzungen. war der entscheidende Stabilisator am Arbeitsmarkt die Kurzarbeit. Sie hat einerseits Arbeitsplätze gesichert bei Generationengerechtigkeit und Generationensolidari- drastischem Rückgang von Produktion und Arbeitsvolu- tät sind die Basis einer funktionierenden und zukunfts- men. Andererseits hat die Kurzarbeit, die sich durch festen Altersvorsorge. Generationengerechtigkeit und einen Teillohnausgleich für nicht geleistete Arbeit aus- Generationensolidarität sind das Markenzeichen der Al- zeichnet, in der Summe zu Lohneinbußen für Beschäf- tersvorsorgepolitik der Bundesregierung. Und deshalb tigte geführt. werden wir jeden Anschlag auf diese Prinzipien im Inte- resse der Rentnerinnen und Rentner wie der Beitragszah- Damit die Rentengarantie nicht zulasten der jüngeren lerinnen und Beitragszahler mit aller Entschiedenheit ab- Generationen geht, werden unterbleibende Rentenmin- wehren. derungen in den Folgejahren mit künftigen Rentenerhö- hungen verrechnet. Die finanzielle Stabilität der Renten- Max Straubinger (CDU/CSU): Ich möchte heraus- versicherung bleibt damit auch künftig gewahrt. Das (B) stellen: Die gesetzliche Rentenversicherung ist die beste Ziel der Beitragssatzstabilität dürfen wir nicht aus den (D) Grundlage dafür, dass es in Deutschland keine Altersar- Augen verlieren. Das ist eine Frage der Generationenge- mut gibt. Deutschland verfügt dank der rentenpoliti- rechtigkeit. Die jungen Beitragszahler dürfen nicht Bei- schen Maßnahmen der vergangenen Jahre mit den drei tragssätze zahlen müssen, unter denen ihr Leistungswille Säulen gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Al- zusammenbricht. Es ist eine Beitragssatzstabilität von tersvorsorge und private Altersvorsorge über ein stabiles 20 Prozent bis zum Jahr 2020 und von 22 Prozent bis und zukunftsfähiges Altersvorsorgesystem. Gerade diese zum Jahr 2030 vorgesehen. Damit soll nicht nur Leis- Bundesregierung hat die wesentlichen Grundlagen dafür tungsgerechtigkeit, sondern auch Beitragsgerechtigkeit geschaffen, dass die Menschen zukünftig nicht mit Al- gewährleistet werden, besonders für die betroffenen Ar- tersarmut konfrontiert sein werden. Deutschland hat der- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer. zeit die geringste Altersarmut aller europäischen Länder zu verzeichnen. Das Rentenkonzept, das es angeblich bei der Linken gibt, würde dazu führen, dass die Beitragszahler mit bis Die Riester-Förderung gibt es gezielt für Geringver- zu 28 Prozent belastet würden. Angesichts der derzeiti- diener: Die Förderquote für Niedrigverdiener beträgt gen Höhe der Beiträge zur Krankenversicherung, zur Ar- 92 Prozent. Die staatliche Förderung kommt gerade Ge- beitslosenversicherung, zur Pflegeversicherung und der ringverdienern zugute. Außerdem hat es die kluge Poli- Höhe der Steuerbelastung wäre dies eine ungeheure Be- tik dieser Bundesregierung ermöglicht, dass viele Men- lastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Da- schen in Arbeit und Brot gekommen sind. Dies bedeutet her lehne ich Ihren Antrag ab. auch mehr Schutz vor Altersarmut. Grundlage für die Fi- nanzierung der Altersversorgung ist die Erwerbstätig- keit. Die Entwicklung am Arbeitsmarkt ist das Verdienst Anton Schaaf (SPD): Mit Ihrem Antrag wollen Sie, der von Dr. Angela Merkel geführten Bundesregierung liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, und eine Grundlage dafür, dass die Altersversorgung den Eindruck erwecken, die Dämpfungsfaktoren seien weiterhin sicher ist. verantwortlich dafür, dass die Renten in diesem Jahr nicht steigen. Bewusst konstruieren Sie einen falschen In den letzten Jahren mussten einige notwendige Ver- Begründungszusammenhang, um Verwirrung zu stiften. änderungen im Rentensystem durchgeführt werden. Man Obwohl wir bereit sind, Ihre Sorge um die zukünftige muss sehen, dass man in der Rentenpolitik aufgrund Entwicklung der Rente nachzuvollziehen, können wir neuer Gegebenheiten immer wieder Veränderungen her- Ihre Forderungen, den Riesterfaktor zu streichen, auf beiführen muss. Unsere Rentenpolitik, die auf Dauer an- nachholende Rentendämpfungen zu verzichten und die gelegt ist, sichert die Renten in Deutschland. Es bleibt Ziele der Beitragssatzdeckelung aus dem SGB VI eben- 3286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) falls zu streichen, nicht unterstützen. Unzweifelhaft wa- Rentenerhöhung im vergangenen Jahr um ansehnliche (C) ren und sind die Belastungen für die Rentnerinnen und 2,41 Prozent in den alten Bundesländern und 3,38 Pro- Rentner hoch. Die wenig erfreulichen Aussichten auf ge- zent in den neuen Bundesländern eine Nullrunde bevor. ringe Rentenanpassungen oder Nullrunden verstärken Tatsache ist aber auch: Wir haben mit der im vergange- diese noch. Ich kann mir deshalb vorstellen, in unsere nen Jahr noch verabschiedeten Rentengarantie verhin- Überlegungen für ein Gesamtkonzept einer nachhaltigen dert, dass auf sinkende Löhne auch sinkende Renten fol- Alterssicherungspolitik auch die Verträglichkeit des gen. Ich bedaure für die rund 20 Millionen Rentnerinnen Altersvorsorgeanteils in eine Prüfung einzubeziehen. Al- und Rentner, dass ihre Bezüge nicht steigen. Allerdings lerdings sehen wir die Hauptgefahr für das Alterssiche- würde eine Rentensteigerung zum jetzigen Zeitpunkt die rungssystem an anderer Stelle: Unsichere Arbeitsver- Beitragszahlerinnen und Beitragszahler über Gebühr be- hältnisse und zu niedrige Löhne bedrohen die Rente. Die lasten. So viel nur zu Ihrer Forderung, die Beitragssatz- Medienberichte über Pläne aus dem BMAS, den Kündi- deckelung zu streichen. gungsschutz zu schleifen, bieten Anlass zur Sorge. Wir Ich will Ihnen erklären, warum die stagnierenden warnen die Koalition aus CDU/CSU und FDP eindring- Renten in diesem Jahr zunächst nichts mit den Dämp- lich davor, weiter Hand an den Kündigungsschutz zu le- fungsfaktoren zu tun haben. Erstens. Die Rentenanpas- gen – mit fatalen Folgen für die Alterssicherung: für die sung folgt – wie die meisten von uns wissen – der jewei- Rentenhöhe und das Renteneintrittsalter. Unsichere Ar- ligen Entwicklung der Löhne und Gehälter. Steigen beitsverhältnisse führen unweigerlich zu einem früheren diese nicht oder sinken sogar, so verharren die Renten Ausstieg aus dem Arbeitsleben. Gerade ältere Arbeit- auf dem alten Niveau. Wegen der von uns eingebauten nehmerinnen und Arbeitnehmer haben es schwer, eine Schutzmechanismen können die Dämpfungsfaktoren die neue Beschäftigung zu finden. Auch der Gesundheit sind Renten nicht vermindern. Zusätzlich bewirkt die Renten- befristete Arbeitsverhältnisse nicht gerade zuträglich. garantie, dass auch eine negative Lohnentwicklung Außerdem verhindern Sie weiterhin flächendeckende keine kürzende Wirkung entfalten kann. Dies ist in die- Mindestlöhne. Sie sind auf dem falschen Weg. Mehr Fle- sem Jahr der Fall. xibilität bringt nicht automatisch mehr Arbeitsplätze. Zweitens. Zugleich gilt: Die Dämpfungsfaktoren wir- Und wie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union ken nicht immer nur in eine Richtung. Sie sind keine und FDP, gedenken Sie denn nun mit der angekündigten Kürzungsmechanismen per se. So hat sich der Nachhal- Angleichung der Renten in Ost und West umzugehen? tigkeitsfaktor schon mehrere Male 2007 wie auch 2008 Eine kürzlich erschienene DIW-Studie prognostiziert ge- positiv ausgewirkt – zuletzt noch im vergangenen Jahr rade für die Menschen in den neuen Bundesländern ein mit 0,31 Prozent. Immer wenn sich die Zahl der Rentner dramatisches Absinken der Renten. Es droht massenhaft zugunsten der Beitragszahler im Verhältnis verschiebt, (B) (D) Altersarmut. Von Ihrer Vereinbarung im Koalitionsver- hat dies einen positiven Einfluss auf die Rentenanpas- trag, die Renten in Ost und West anzugleichen, rücken sung. Weil Ihnen das bewusst ist, geehrte Damen und Sie nun aber doch wieder ab. Dies haben Sie zumindest Herren von der Linksfraktion, fordern Sie vermutlich auf Ihrem Parteitag Anfang dieser Woche erklärt. Vor nicht die Streichung des Nachhaltigkeitsfaktors, ver- dem Ende der Legislaturperiode können die Rentnerin- schweigen aber wissentlich dessen Funktionsweise. Er nen und Rentner also weder mit einem schlüssigen Kon- passt offenbar nicht zu ihrer Argumentation. zept noch mit einer tatsächlichen Angleichung rechnen. War also alles nur Wahlkampf? Für die Rentenfinanzen Drittens. Eine Beitragssatzdeckelung ist notwendig, gilt: Es ist weitgehend Planungssicherheit zu gewährleis- weil wir Richtmarken brauchen. Neben dem Ziel, ein an- ten. Rentnerinnen und Rentner, Beitragszahlerinnen und gemessenes Rentenniveau zu halten, sind auch stabile Beitragszahler müssen davon ausgehen können, dass sie Beitragssätze wichtig. Das Alterssicherungssystem be- auch in 10, 20, 30 und in 40 Jahren eine angemessene sonders in einem Umlageverfahren muss im Gleichge- Rente bekommen und diese auch finanzierbar bleibt. wicht gehalten werden. Ursache der bevorstehenden Das Umlageverfahren hat viele Vorteile, verlangt aber Nullrunde ist die Entwicklung der Löhne und Gehälter. auch Disziplin von denen, die verantwortlich sind. Wer- Diese sind zum ersten Mal seit über 50 Jahren gesunken. den nur Verbesserungen im Rentensystem verlangt, wie Dies stellt uns vor ungeahnte Probleme. Auch in der Al- die Fraktion Die Linke mit dem vorliegenden Antrag, ist terssicherung bekommen wir dies zu spüren. Löhne und noch nichts gegen die grundsätzlichen Probleme unserer Gehälter sind krisenbedingt geschrumpft bzw. im Osten sozialen Sicherungssysteme getan. Machen Sie Vor- nur gering gestiegen. Die für die Rentenanpassung maß- schläge, wie sozialversicherungspflichtige Beschäfti- gebliche Lohnentwicklung beträgt für das Jahr 2009 in gung gestärkt werden kann, dann haben Sie uns auf Ihrer den alten Ländern minus 0,96 Prozent. In den neuen Seite. Wir sind davon überzeugt, dass der Modus der Ländern ist eine geringe Steigerung von 0,61 Prozent zu Rentenanpassung kein Dogma sein darf. Auch bisher ha- verzeichnen. Auch bei Aussetzung der Veränderung des ben wir schon dementsprechend gehandelt, wenn wir es Altersvorsorgeanteils in diesem Jahr wäre – zumindest für erforderlich hielten. Die von uns durchgesetzte Ren- im Westen – keine Rentensteigerung möglich. Im Ge- tengarantie oder die Aussetzung der Veränderung des Al- genteil: Die Renten müssten trotzdem um 1,46 Prozent tersvorsorgeanteils – auch Riester-Treppe oder Riester- gekürzt werden. In den neuen Bundesländern wäre eine Faktor – für die Jahre 2008 und 2009 belegen dies. Rentensteigerung von 0,1 Prozent möglich. Nur die von der SPD durchgesetzte Rentengarantie – erweiterte Tatsache ist: Den Rentnerinnen und Rentnern in Schutzklausel – verhindert eine Kürzung. Nach Berück- Deutschland steht in diesem Jahr nach einer deutlichen sichtigung aller Elemente der Rentenformel müssten die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3287

(A) Renten um insgesamt 2,1 Prozent im Westen und hingegen müssen den jeweiligen Altersvorsorgeanteil (C) 0,55 Prozent in Osten abgesenkt werden. Die Verschie- voll mittragen, profitieren selbst aber nicht mehr vom bung des Riester-Faktors, die wir in der Großen Koali- geförderten Sparen. Rentenbezieher sind schon in ho- tion 2008 beschlossen haben, hat ermöglicht, die Rent- hem Umfang an den Lasten, die die Beitragszahler zu nerinnen und Rentner in den Jahren 2008 und 2009 am leisten haben, beteiligt worden. Die Frage, inwiefern sie Wirtschaftsaufschwung zu beteiligen, obwohl zu diesem weiterhin bei sinkendem Rentenniveau die private Al- Zeitpunkt noch nicht deutlich wurde, ob und wie stark tersvorsorge mittragen sollen, muss deshalb neu gestellt, sich dieser in steigenden Löhnen und Gehältern nieder- die Fakten neu bewertet werden. Ein dogmatisches Fest- schlagen würde. Die nächsten Stufen der Riester-Treppe, halten am Altersvorsorgeanteil wäre falsch; das Ausset- die für die Rentenanpassungen 2008 und 2009 ausge- zen bzw. eine dem tatsächlichen Aufwand entsprechende setzt wurden, sollten dann in den Jahren 2012 und letzt- Berücksichtigung dieses Dämpfungsfaktors ist der rich- malig 2013 berücksichtigt werden. Ein guter Zeitpunkt tige Weg. aus damaliger Sicht, weil dann die Beitragssätze sinken sollten und damit auch Rentensteigerungen wahrscheinli- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die Linke startet unter cher wurden. Damit hatten wir nach mehreren Nullrunden dem Vorwand einer vermeintlich sozialen Politik einen und einer Minierhöhung im Jahr 2007 wieder deutliche Generalangriff auf unser stabiles Gemeinwesen. Sie re- Rentenerhöhungen erreicht, ohne die Beitragssatzziele det Konflikte herbei und dramatisiert Entwicklungen, aufzugeben. wo immer es geht, weil sie ihr parteipolitisches Süpp- Durch die Aussetzung des Riester-Faktors im Zusam- chen nur dann kochen kann, wenn es ihr gelingt, jede menspiel mit der überraschend hohen Lohnsteigerung von einzelnen Gruppen der Bevölkerung empfundene für 2009 hat sich auch das Rentenniveau wieder erhöht. Ungerechtigkeit hochzuspielen und zu instrumentalisie- Ergab sich aus den Modellrechnungen im Rentenversi- ren. cherungsbericht 2008 noch ein absinkendes Rentenni- Die große Linie des neuen Grundsatzprogramms der veau auf 50,5 Prozent, lag es nach dem Bericht 2009 bei Linken beinhaltet vergesellschaftete, also „volkseigene" 52 Prozent. Zu bedenken aber bleibt: Sollten in den Betriebe, eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnaus- nächsten Jahren die Löhne nicht deutlich steigen, sind gleich, Räte und runde Tische, mit denen die parlamen- kaum Rentensteigerungen möglich. Dies bedeutet da- tarische Demokratie unterwandert werden soll und jetzt rüber hinaus, dass der Ausgleichsbedarf – die aufgelau- auch den Test hinsichtlich der Belastungsfähigkeit unse- fenen Dämpfungen, die bisher wegen der Schutzklausel res stabilen Rentensystems. Das ist ein Irrweg, der nicht nicht mindernd wirken konnten – nicht abgebaut werden zum Erfolg führen wird. „Reichtum für alle“ kann man kann, sondern noch weiterer Kürzungsbedarf entsteht. nicht beschließen. (B) Dies kann dazu führen, dass auch weiter in der Zukunft (D) liegende Rentenanpassungen geringer ausfallen werden. Genauso wenig kann man die demografische Ent- Neben den für das jeweilige Jahr geltenden Dämpfungs- wicklung per Beschluss verändern. Sie verlangen von faktoren wird der Ausgleichsbedarf die Rentenanpassun- uns in Ihrem Antrag die Aufhebung des dringend not- gen zusätzlich schmälern. Der Sozialbeirat rechnet bis wendigen demografischen Faktors bei der Rentenbe- 2016 mit nur geringen Rentenanpassungen als auch mit rechnung. Das ist schlicht und einfach unseriös. Sie for- Nullrunden. Daher müssen wir uns mit der Frage ausei- dern den Verzicht auf die zur Stabilisierung des nandersetzen, ob und in welchem Umfang der Altersvor- Rentenbeitrags erforderliche Nachholung unterbliebe- sorgeanteil bei zukünftigen Rentenanpassungen zu be- ner Dämpfungen der Rentenanpassung. Kein Wort zur rücksichtigen ist. Mit dem Faktor für die Veränderung Finanzierung! Das sind völlig unseriöse Versprechun- des Altersvorsorgeanteils soll sichergestellt werden, dass gen! die steigenden Aufwendungen der Jüngeren für ihre ge- förderte private Altersvorsorge bei der Anpassung be- Wir dürfen aber die Fakten nicht ignorieren: Die von rücksichtigt werden. Die Aussetzung des sogenannten den Linken vorgeschlagenen Eingriffe in die Rentenfor- Altersvorsorgeanteils in der Rentenanpassungsformel in mel haben eine Gesamtwirkung von mehr als 10 Milliar- Höhe von jährlich 0,5 Prozentpunkten war jedoch be- den Euro; denn es besteht folgender Nachholbedarf: rechtigt, auch weil die Inanspruchnahme der geförderten 6,1 Milliarden Euro durch die unterbliebenen Renten- Altersvorsorge zwar gut vorangekommen ist, aber im- dämpfungen 2005, 2006 und 2010 – davon übrigens mer noch nicht alle Menschen hiervon Gebrauch ma- 85 Prozent bei den Rentnern in den westlichen Bundes- chen. Im Jahr 2009 stieg die Zahl der Riester-Policen ländern, um die ständigen Andeutungen der Linken von weiter um gut 1,1 Millionen auf nun 13,2 Millionen. Benachteiligungen für Rentner in den neuen Ländern Dies sind aber weiterhin nur etwas über ein Drittel der mal zu relativieren –, 1,7 Milliarden Euro aufgrund der tatsächlich Berechtigten; deren Zahl kann aber nur nähe- Rentengarantie – wirksam ausschließlich im Westen – rungsweise geschätzt werden. und 2,9 Milliarden Euro durch Aussetzen der Riester- Treppe – betrifft zu 79,3 Prozent den Westen. Unklar ist auch, mit welchem Beitrag die Sparer tat- sächlich privat für das Alter vorsorgen, und eine eben- Aus Sicht der FDP wäre es besser gewesen, den falls nicht zu vernachlässigende Frage lautet: Bleiben die Riester-Faktor nicht auszusetzen. Die Folge des Nachho- Sparer über die Jahre dabei bis zur Rente? Jeder Berech- lens ist jetzt eine bedauerliche Dämpfung der Renten- tigte kann frei entscheiden, ob er über die Riester-Rente steigerungen, die sich über Jahre hinziehen wird. Haben für das Alter vorsorgen will. Rentnerinnen und Rentner die Antragsteller der Linken eigentlich auch nur ansatz- 3288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) weise berechnet, was die Umsetzung ihres Antrags für reichten Lebensstandard auch im Ruhestand halten zu (C) die Beitragszahler bedeuten würde? können, wurde aufgegeben. Als Ausweg gebar Rot-Grün Zwillinge: staatliche Fürsorge und private Vorsorge, also Sie denken nie an die Arbeitgeber. Sie denken aber die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde- auch nie an die einzahlenden Arbeitnehmer. Wir hören rung, und die sogenannte Riester-Rente. Die „Grund- immer nur Ihre Versprechungen zu höheren Sozialleistun- sicherung“ sollte die gesetzliche Rentenversicherung gen, höheren Renten usw. Was ein Beitrag zur Rentenver- von unten stützen, auf Sozialhilfeniveau; denn es war sicherung von weit über 20 Prozent für den durchschnitt- klar, dass die gesetzliche Rente für viele nicht mehr die lichen Einzahler bedeutet, interessiert Sie überhaupt Existenz würde sichern können. Diese „Grundsiche- nicht. rung“ von im Schnitt 664 Euro im Monat bedeutet für Sie sägen an vielen Ästen, auf denen die Bürger sit- viele Menschen einen sozialen Abstieg. Denn Armut zen, und zerstören die Wurzeln unseres Sozialstaats. Von verhindert sie nicht, und wer durchschnittlich verdient, Generationengerechtigkeit haben Sie offensichtlich noch muss nun für eine Rente in dieser Höhe bereits heute gar nichts gehört. Das ist schon zu viel Weitblick für Ihr 28 Jahre Beiträge gezahlt haben. Im Jahre 2030 werden einfach gestricktes Weltbild. es schon 34 Jahre sein. Und wer nur die Hälfte des Durch- schnittseinkommens hat, also heute rund 1 300 Euro Das Weltbild der christlich-liberalen Koalition ist dif- brutto verdient, muss heute 56 Jahre und 2030 dann ferenzierter und sozialer. Eine Regierungskommission 68 Jahre Beiträge gezahlt haben, um das Grundsiche- wird sich mit dem Risiko der Altersarmut befassen. rungsniveau überhaupt zu erreichen. Das ist doch absur- Die FDP-Vorschläge dazu sind altbekannt: ein an- des Theater. rechnungsfreier Grundfreibetrag von 100 Euro für die Die Riester-Rente soll die gesetzliche Rente aufsto- private und betriebliche Altersvorsorge, darüber hinaus cken. Das funktioniert vor allem für die Versicherungs- gehende Beträge werden nur zu 60 Prozent angerechnet, wirtschaft. Was als Ausgleich für den Abbau der gesetz- Verträge zum Schutz gegen Erwerbsminderung werden lichen Rente vorgesehen war, hat sich als ein riesiges voll Riesterförderungsfähig gemacht, Verbesserung der Subventionsprogramm für die private Versicherungs- Altersvorsorge von Selbstständigen in Form einer Pflicht branche entpuppt. Seit 2009 sind so knapp 9 Milliarden zur Versicherung bei weitgehendem Gestaltungs- und Euro Steuergelder in die Kassen der Versicherer geflos- Wahlrecht. sen, 9 Milliarden, die der solidarischen Rentenversiche- Im Übrigen liegt die Lösung des Strukturproblems bei rung fehlen. Für die Menschen funktioniert Riester nicht. der Alterssicherung sicher nicht allein in der gesetzli- Gerade mal 37 Prozent derjenigen, die einen Anspruch chen Rentenversicherung. Diese muss nachhaltig stabil auf Förderung hätten, haben einen Vertrag abgeschlos- (B) gehalten werden. Der vorliegende Antrag tut aber das sen. Und von denen haben 60 Prozent nicht einmal die (D) Gegenteil. Aus unserer Sicht ist es darüber hinaus wich- vollen Zulagen erhalten, weil sie die Eigenbeiträge nicht tig, dafür sorgen, dass Vermögenseinkommen und be- aufbringen konnten oder wollten. Von niedrigen Löhnen triebliche Renten einen größeren Anteil an der Alters- lassen sich eben nur schwer Beiträge zahlen. Das zeigt: vorsorge erhalten. Die Mehrheit der Beschäftigten wird von „Riester“ nichts haben. Ihnen droht Altersarmut, und das ist unver- antwortlich! Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Die Rentenre- form von wird als Jahrhundertreform in Zur Wahrheit gehört auch: Das aktuelle Gerede von die Geschichtsbücher eingehen, doch nicht als Erfolgs- einer Nullrunde ist pure Schönfärberei. Zwar werden die geschichte. Wir werden leider nichts lesen können vom Renten nicht direkt gekürzt, aber sie verlieren dennoch Wohlstand der vielen. Aber wir werden lesen müssen, an Wert, Stichwort Inflation, oder denken Sie an die Zu- dass die rot-grüne Bundesregierung Armut im Alter zum satzbeiträge der Krankenkassen und die drohende Kopf- Programm erhoben hat. Zum Schulwissen wird ebenfalls pauschale. Außerdem gilt für die Kürzungen: Aufge- gehören, dass auch die nachfolgenden Bundesregierun- schoben ist nicht aufgehoben. Sobald eine Erhöhung der gen – ob schwarz-rot oder schwarz-gelb – wider besseres Renten möglich wäre, werden die Kürzungen nachge- Wissen und offenbar ohne schlechtes Gewissen den Le- holt. Aktuell beträgt der so angehäufte „Ausgleichsbe- bensabend der Meisten den Kräften des Marktes, den darf“ im Westen 3,8 Prozent und im Osten 1,8 Prozent. Banken und Versicherungen, ausgeliefert haben. Kom- Das heißt: In den nächsten fünf bis sechs Jahren gibt es mende Generationen werden uns fragen: Warum habt Ihr für die Rentner und Rentnerinnen keinen Cent mehr. Die das alles nicht verhindert? Schutzklausel von heute frisst also die Rentenerhöhung von morgen. Die Rentnerinnen und Rentner werden mit Die Altersarmut von morgen ist die direkte Folge der der Nullrunde keineswegs verschont; sie werden dreist falschen Rentenpolitik von heute. Wir haben zwei Mög- verschaukelt. Das darf nicht so bleiben. lichkeiten: Entweder wir verteilen morgen Trostpflaster an arme Rentnerinnen und Rentner, oder wir handeln Wir Linken fordern eine radikale Abkehr von dem Irr- heute und beugen der Altersarmut vor. Die Linke ist für weg der Riester-Privatisierung. Denn die Rentnerinnen den zweiten Weg. Wir wollen schwerwiegende Fehler in und Rentner von heute und die von morgen sind sich ei- der Rentenpolitik von Rot-Grün bis heute beseitigen. nig: Sie wünschen sich nach einem langen Arbeitsleben Mit den Riester-Reformen wurde das Niveau der gesetz- einen Ruhestand ohne Armut und ohne große finanzielle lichen Rente bewusst massiv gesenkt. Das war ein gra- Sorgen. Mit der drastischen Kürzung der Rente für alle vierender Einschnitt. Das Ziel, den im Berufsleben er- und Riester nur für einen Teil wird das nichts. Die soli- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3289

(A) darische gesetzliche Rentenversicherung hat gerade in schützt und die nicht von der Entwicklung des allgemei- (C) der Finanzkrise gezeigt, wie stabil sie ist. Darum fordere nen Lebensstandards abgekoppelt ist. ich Sie auf: Stärken Sie die Rentenversicherung, strei- chen Sie den Riester-Faktor, löschen Sie das Minuskonto in der Rentenanpassung und mit ihm die Dämpfungsfak- Anlage 11 toren! Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ zur Beratung des Antrags: Anbau von gentech- DIE GRÜNEN): Ende der 80er-Jahre gab es Prognosen nisch veränderter Kartoffel Amflora verhin- des Prognos-Instituts, dass der Beitragssatz zur Renten- dern (Tagesordnungspunkt 16) versicherung bis 2030 ohne Veränderungen auf über 35 Prozent ansteigen würde. Seitdem gab es in relativ Carola Stauche (CDU/CSU): Die CDU/CSU-Frak- breitem Konsens beschlossene Reformmaßnahmen, um tion des Deutschen Bundestages hat sich immer dafür dies zu vermeiden: Angefangen mit der Umstellung von ausgesprochen, die Entscheidung über den Anbau von der Bruttolohn- auf die Nettolohnanpassung 1992, die gentechnisch veränderten Pflanzen ausschließlich auf Debatte um den demografischen Faktor Ende der 90er- der Basis wissenschaftlicher Bewertungen durchzufüh- Jahre und dann unter Rot-Grün die Umstellung von der ren. Wir sind uns der Risiken von genveränderten Orga- Nettolohnanpassung zur modifizierten Bruttolohnanpas- nismen bewusst. Vor allem sind wir uns jedoch darüber sung sowie die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors. im Klaren, welche Chancen genveränderte Organismen für die Landwirtschaft bieten, angefangen von verbes- Dadurch ist es gelungen, die Beiträge auf absehbare serten Eigenschaften wie bei Amflora, Einsparungen Zeit weitgehend stabil zu halten. Und das ist auch gut so. beim Pflanzenschutz bis hin zu höheren Erträgen. Wir Allerdings müssen wir auch gestehen, dass dadurch eine reden heute über die Amflora-Kartoffel, die erste gen- Rentenformel entstanden ist, die kaum noch jemand ver- technisch veränderte Pflanze, die seit 1998 in der EU für steht. Hinzu kommt, dass diese Rentenformel in den den Anbau zugelassen wurde. Tatsächlich stellt sich aber letzten Jahren kaum zur Geltung gekommen ist und di- die Frage, ob wir heute über den Amflora-Anbau disku- verse Male ausgesetzt wurde, weil sie zu einer Absen- tieren oder eine eher ideologisch geführte Grundsatzdis- kung der Rente geführt hätte. Dadurch ist eine Bugwelle kussion zum Thema Grüne Gentechnik führen. Zur von mehreren Milliarden Euro entstanden, die in den grundsätzlichen Debatte möchte ich mich eigentlich nächsten Jahren abgebaut werden müssen. Bezahlen sol- nicht äußern. Vielleicht nur so viel: Als ich mich auf die len das über die Nachholfaktoren die Rentnerinnen und heutige Debatte vorbereitet habe, bin ich auf einen Arti- (B) Rentner, die deswegen in den nächsten Jahren – wenn kel gestoßen, welcher sich mit der Geschichte der Kar- (D) überhaupt – nur mit geringen Rentensteigerungen zu toffel in Europa beschäftigt. Aus diesem möchte ich kurz rechnen haben. zitieren: „Anfangs begegnete man der Kartoffel vieler- orts in Europa mit Misstrauen. Ab dem frühen 17. Jahr- Vor diesem Hintergrund sollten wir uns in der Tat Ge- hundert stand sie sogar im Verdacht, Lepra zu verursa- danken über eine Reform der Rentenformel machen. Ein chen …“ Ich will Ihnen dadurch deutlich machen, dass Verzicht auf das Ziel der Beitragsstabilisierung und die es schon immer Ängste hinsichtlich neuer, unbekannter Abschaffung aller Dämpfungsfaktoren – also die Rück- Pflanzen oder Organismen gab. Diese Ängste gilt es kehr zur Rentenformel aus den 80er-Jahren – wären al- ernst zu nehmen. Wir von CDU und CSU nehmen diese lerdings falsch. Letzteres wird in dem Antrag der Linken Ängste ernst. Auch die Hinweise der Kollegen von den – im Gegensatz zu sonstigen Verlautbarungen – aber gar Grünen nehmen wir ernst, teilen die im Antrag geschil- nicht gefordert, sondern nur die Abschaffung des derten Darstellungen allerdings nur bedingt. Riester-Faktors. Ich finde, dass dies durchaus eine Op- tion ist, über die wir nachdenken sollten; denn das, was Wir diskutieren heute über den Antrag der Grünen, wir erreichen wollen, nämlich eine weitgehende Bei- den Anbau der gentechnisch veränderten Kartoffel Am- tragsstabilität und einen gerechten Ausgleich zwischen flora in Deutschland zu verbieten. Wir als CDU/CSU den Generationen, wird durch den Nachhaltigkeitsfaktor werden diesem Antrag nicht zustimmen. Sie werfen uns ausreichend gewährleistet, sodass der Riester-Faktor in dies als Kniefall vor BASF und der Wirtschaftslobby der Tat verzichtbar erscheint. vor. Das ist es jedoch nicht. Vielmehr ist es eine bewusste Entscheidung, die wir im Sinne unserer Landwirte treffen. Ich finde allerdings auch, dass wir uns für diese Wir machen mit dieser Entscheidung unseren Bauern Frage, die ja letztlich einen wesentlichen Teil der Bevöl- Folgendes deutlich: Der deutsche Gesetzgeber lässt euch kerung entweder als Beitragszahlende oder als Renten- die Chancen wahrnehmen, die euren Kollegen in den eu- beziehende betrifft, Zeit nehmen und intensiv beraten ropäischen Mitgliedstaaten auch zur Verfügung stehen. sollten, zumal eine neue Rentenformel auf Dauer Be- Der deutsche Gesetzgeber lässt es nicht zu, dass euch stand haben und von einer breiten Mehrheit getragen Wettbewerbsnachteile durch Verschärfungen europäi- werden sollte. Ohne ein Festhalten an dem Ziel der Bei- scher Regelungen entstehen. – Genau dies wäre die tragssatzstabilität wird dies nicht gelingen, und es wäre Folge, wenn wir dem Ansinnen des Grünen-Antrages auch falsch, dieses Ziel aufzugeben. Aber ebenso wich- folgen würden. Landwirte in Holland, Tschechien oder tig ist, dass sich die Menschen darauf verlassen können, Schweden dürfen die Amflora-Kartoffel anbauen, Land- eine ordentliche Rente zu erhalten, die vor Armut wirte beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern dürf- 3290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) ten sie nicht anbauen. Wir setzen uns für eine Gleichbe- Abschließend noch ein Zitat des von mir sehr ge- (C) handlung aller europäischen Landwirte ein. schätzten Albert Einstein. Ich glaube, es passt ganz gut zur Gentechnik-Debatte: „Es ist schwieriger, eine vorge- Die Kommission hat aufgrund mehrerer Unbedenk- fasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.“ lichkeitsbescheinigungen der europäischen Lebensmit- telbehörde EFSA die Amflora-Kartoffel für den Anbau zugelassen. Da die Neubeantragung im Jahr 2003 er- Josef Rief (CDU/CSU): Wir lehnen den Antrag der folgte, wurden die Sicherheitsbewertung und das Zulas- Grünen ab. Selbstverständlich ist die europäische Zulas- sungsverfahren nach den Maßgaben der 2001 deutlich sung der Amflora-Kartoffel ein sensibles Thema, über verschärften Freisetzungsrichtlinie durchgeführt. Man das man diskutieren kann. Mir scheint aber doch eine ideologische Sichtweise der Grund für den Antrag der kam zur Erkenntnis, dass die Gefahr eines Transfers des Grünen zu sein. Betrachtet man die Meinung von Fach- antibiotikaresistenten Markergens von einer gentechni- leuten zum Thema, warnt der eine Teil der Wissenschaft- schen veränderten Pflanze auf Bakterien extrem unwahr- ler vor der Grünen Gentechnik. Der andere Teil sieht scheinlich sei und die Wirksamkeit von Antibiotika da- große Chancen in Forschung und Entwicklung. Ich bin durch nicht gefährdet ist. Dieses Markergen wird sicher, dass in Zukunft die Wissenschaft viele neue Er- allerdings in der Diskussion immer wieder angeführt, kenntnisse hervorbringen wird. um Stimmung gegen einen Anbau von Amflora-Kartof- feln zu machen. Für die diesjährige Anbauperiode ist für Amflora eine Fläche von 20 Hektar angemeldet. Hier sollen in Meck- Die Antragsteller weisen auf Art. 23 der Freiset- lenburg-Vorpommern lediglich Saatkartoffeln vermehrt zungsrichtlinie hin. Die hier geforderten neuen oder zu- werden. Eine weitere Verwertung der Amflora zu indus- sätzlichen Informationen, die es Mitgliedstaaten ermög- triellen Zwecken ist in diesem Jahr in Deutschland nicht lichen, gentechnisch veränderte Organismen in ihrem geplant. Die Debatte sollte sachlich geführt werden. Am Hoheitsgebiet vorübergehend einzuschränken oder gar Ende werden wir hier im Parlament nicht entscheiden, zu verbieten, liegen nach mehrmaliger Prüfung wie eben ob die Amflora angebaut wird oder nicht. In erster Linie erwähnt nicht vor. Ob ein Landwirt Amflora anbauen wird dies der Verbraucher, aber auch der Landwirt tun. möchte, sollte nach unserer Überzeugung seine eigene Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Bürgerinnen und Entscheidung sein und nicht durch die Politik oder eine Bürger ernst nehmen und ihnen die Freiheit lassen, zu Verwaltung getroffen werden. Das ist ein Punkt der uns entscheiden, ob sie gentechnisch veränderte Produkte deutlich von den Grünen abgrenzt. Wir möchten nieman- wünschen oder nicht. Gleiches muss auch für die Land- den bevormunden. Natürlich sind wir uns über eventu- wirte gelten. (B) elle Gefahren bewusst. Deshalb stehen wir auch hinter (D) den in der Freisetzungsrichtlinie genannten Grenzwer- Genauso wichtig wie die Wahlfreiheit muss die ten, die selbstverständlich nicht überschritten werden Sicherheit sein, nicht irrtümlich genveränderte Lebens- dürfen. Die größte Gefahr beim Amflora-Anbau besteht mittel zu erhalten, wenn jemand dies nicht wünscht. Ge- bei Durchwuchskartoffeln. Da nach dem Anbau der Am- nau das tun wir mit unserer Politik. Wir wollen wissen- flora-Kartoffeln ein Jahr lang keine konventionellen schaftliche Grundlagen für die Einschätzung einer Kartoffeln angebaut werden dürfen, ist hier eine Vermi- Technologie und nicht die ideologische Befeuerung oder Verteufelung. Ideologen haben Deutschland in der Ver- schung kaum möglich. Die bei der Ernte nicht erfassten, gangenheit hundertmal mehr geschadet als genützt. Die im Boden verbliebenen Kartoffeln keimen im Folgejahr Menschen in meiner Heimat und auch ich selber plädie- aus, sind auf dem Feld deutlich zu erkennen, und man ren dafür, neben der wissenschaftlichen Prüfung der kann sie dann mit geeigneten Mitteln bekämpfen. An- Grünen Gentechnik auch immer nach der Sinnhaftigkeit ders als im Antrag geschildert, gehen wir jedoch davon der Einführung der Sorten zu fragen. Es nützt uns nichts, aus, dass es den anbauenden und weiterverarbeitenden wenn wir mit genveränderten Pflanzen höhere Erträge Betrieben gelingt, die geforderten Maßnahmen zum erzielen und gleichzeitig der Produktionsaufwand höher Schutz gegen Verunreinigungen der Lebens- und Futter- ist und der Marktpreis sehr viel geringer als bei konven- mittelkette ordnungsgerecht auszuführen. tionellen Sorten. Ich rate, die EU- und US-Körnermais- Für mich stellt sich dennoch die Frage, ob es für einen preise zu vergleichen. Letztendlich werden wir aber erle- ben, dass die Entscheidung über den Erfolg von Landwirt überhaupt infrage kommt, die Amflora-Kartof- genveränderten Sorten wie der Amflora auf dem Markt fel anzubauen. Denn die vertraglichen Verpflichtungen, fällt. Der Verbraucher soll entscheiden, welche Produkte die Landwirte und weiterproduzierende Betriebe einzu- er kauft. halten haben, fördern die Attraktivität des Anbaus nach meinem Erachten nicht: das bereits erwähnte Anbauver- Die europäische Zulassung gibt jetzt Gegnern und bot konventioneller Kartoffeln für ein Jahr nach dem Befürwortern die Gelegenheit, zu ergründen, in welcher Amflora-Anbau, die komplette räumliche Trennung der Weise sich die Argumente bewahrheiten und in der Pra- Amflora-Produktion von der konventionellen Kartoffel- xis sich heute formulierte Vor- und Nachteile bei Anbau, erzeugung – angefangen von der Pflanzkartoffel bis zur Vermarktung und Verbraucherakzeptanz zeigen. Der Er- Verarbeitung in der Stärkeindustrie. Diese Punkte wer- folg der Amflora ist auch nach Expertenmeinung frag- den in jedem wirtschaftlich geführten Betrieb beachtet lich. Die Kartoffel, die zur industriellen Stärkeproduk- und wirken sich, so denke ich, nicht gerade förderlich tion angebaut werden soll, gilt als veraltet, und als auf den Anbau von Amflora aus. Saatgut ist sie teuer. Es gibt heute schon aus konventio- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3291

(A) neller Zucht bessere Sorten. Wir haben alles dafür getan, für GVO-Kartoffeln als Futtermittel oder gar Lebensmit- (C) die Möglichkeit einer Koexistenz sicherzustellen. Auch tel, weil die Verbraucher das ablehnen. für die Amflora gelten die gesetzlichen Bestimmungen aus Gentechnikgesetz und Koexistenzverordnung, was Diese Liste ist nicht vollständig, soll aber zur Illustra- Anbauabstand und verschuldensabhängige Haftung an- tion des angeblich so großen Interesses an der Amflora reichen. Sie ist unnötig und unerwünscht. Aber das Di- geht. Das sollte so bleiben. lemma der Bundesregierung ist offensichtlich. Denn eine Der Kommissionsbeschluss sieht eine räumliche der wenigen präzisen Aussagen im Koalitionsvertrag Trennung der genveränderten Kartoffel von konventio- von CDU/CSU und FDP ist folgende: „Der Anbau der nellen Kartoffeln über den gesamten Weg von Anpflan- gentechnisch veränderten Stärkekartoffel Amflora für zung, Ernte, Transport und Verarbeitung vor. Ein Anbau eine kommerzielle, industrielle Verwertung wird unter- von konventionellen Kartoffeln ist im Folgejahr auf die- stützt.“ Ehrlicherweise sollte man hinzufügen: Koste es, sen Flächen ebenfalls verboten. Ich komme aus einem was es wolle. Eine sehr ungewöhnliche, wenn nicht gar Landstrich, wo wir gentechnikfreie Anbauzonen haben, ungeheuerliche Verpflichtung ist die Koalition da einge- weil die Verbraucher und die überwiegende Mehrheit der gangen. Aber wie sagte Peer Steinbrück: „Niemand ist Bauern daran glauben, mit gentechnikfreier Aussaat und vor Erkenntniszuwachs gefeit.“ Ich hoffe, auch Sie sind Ernte die heimischen Märkte besser und nachhaltiger be- dagegen nicht gefeit, Frau Ministerin Aigner, und ziehen dient werden können. Mir ist wichtig, dass eine Ableh- die nötigen Konsequenzen. Statt an diesen einen Satz im nung oder Zustimmung aus sachlichen oder wissen- Koalitionsvertrag, den Ihnen wahrscheinlich die FDP schaftlichen Gründen im Einzelfall geschieht und nicht abgerungen hat, sollten Sie sich besser an die Erklärung aus ideologischen Gründen. In der Medizin akzeptieren gebunden fühlen, die die deutsche Delegation am 16. Juli 2007 bei der Abstimmung im EU-Rat über die wir seit vielen Jahren ganz selbstverständlich Medika- Zulassung der Amflora zu Protokoll gegeben hat. Darin mente, die aus der Gentechnik stammen und bei vielen war die Zulassung an einige Bedingungen geknüpft wor- Therapien den Menschen helfen können. Jede Technolo- den: gie muss aber den Vorteil für die Menschheit nachwei- sen. Die Menschen werden richtig entscheiden, weil wir Erstens. Sie sollte weder die Verwendung als Futter- den Menschen vertrauen und letztendlich an die Ver- mittel noch als Lebensmittel beinhalten. nunft glauben. Zweitens. Das Fernhalten des in der Amflora enthal- Es stimmt die These Lenins eben nicht, dass Ver- tene Antibiotikaresistenz-Markergens aus Lebensmittel- trauen gut und Kontrolle besser ist. und Futtermittelkette sollte oberste Priorität haben. (B) Umgekehrt ist’s richtig! Drittens. Aus sorgfältigen Untersuchungen, an denen (D) alle interessierten Kreise beteiligt werden sollten, sollten in Deutschland konkrete Anforderungen für Anbau, La- Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Keiner will sie, kei- gerung, Transport und sonstigen Umgang sowie Weiter- ner braucht sie: die Amflora. Und wenn man sonst den verarbeitung der Amflora erarbeitet werden, die jegliche Eindruck gewinnt, dass diese Bundesregierung die Be- Vermischung von Amflora mit konventionellen Kartof- lange und den Schutz der Verbraucher den wirtschaftli- feln und Einträge in die Futtermittel- und Lebensmittel- chen Interessen einzelner Industrievertreter unterordnet, kette zuverlässig vermeiden. so stimmt hier nicht einmal das. Denn an der extra für die Stärkeindustrie entwickelten Kartoffel hat die Stär- Viertens. In einem Monitoring sollten die Auswirkun- keindustrie kein Interesse. So sagt der Geschäftsführer gen auf die Bodenökologie genau beobachtet werden, der Firma Südstärke gegenüber der taz: „Für uns kommt damit keine Resistenzgene in nachfolgend angebaute Amflora definitiv nicht infrage“. Südstärke beliefert Pflanzen und darüber in die Nahrungskette gelangen. auch die Lebensmittelindustrie und bekennt ganz offen: Keine einzige dieser Bedingungen ist erfüllt. Im Ge- „Wir könnten die konventionellen und die Genkartoffeln genteil: Die EU-Zulassung sieht ausdrücklich die Ver- im Werk kaum trennen.“ Auch der größte deutsche Kar- wendung der Abfälle zu Futterzwecken vor und beinhal- toffelstärkeproduzent Emsland Stärke GmbH erklärt: tet sogar einen Toleranzwert von 0,9 Prozent für „Wir sehen zurzeit keine Möglichkeit, Amflora anzu- Lebensmittel. Hier sichert man sich im Vorfeld gegen pflanzen. Die Konsequenzen wären zu groß.“ Die Ems- Verunreinigungen ab; das ist eine Lizenz zum Ver- land-Gruppe hat stattdessen gemeinsam mit der Firma schmutzen. Wir sehen darin einen eklatanten Verstoß ge- Europlant, mit klassischen Zuchtmethoden eine Alterna- gen das Vorsorgeprinzip. Wie Sie wissen, ist die Amflora tive entwickelt: eine Amylopektinkartoffel ohne Gen- mit einem Antibiotikaresistenz-Markergen ausgestattet: technik. Die Amflora biete keine attraktiven Chancen Dagegen hatten auch offizielle Organisationen wie die vom Ertrag und von der Anbautechnik her, sagt der sonst EU-Arzneimittelbehörde und die Weltgesundheitsorga- nicht gerade gentechnikkritische Deutsche Bauernver- nisation WHO Bedenken. Solche Antibiotikaresistenz- band. Vom deutschen Kartoffelhandelsverband DKHV gene dürften eigentlich gar nicht mehr eingesetzt wer- ist zu hören, dass kein Bedarf an GVO-Kartoffeln be- den. Wir haben hier schon mehrfach über die Amflora stehe, weil die gewünschten Stärkeeinträge und Qualitä- debattiert. Den meisten ist bekannt, dass es inzwischen ten auch von anderen Sorten erbracht werden. Und der gentechnikfreie Alternativen gibt und die Amflora eine Bundesverband der obst-, gemüse- und kartoffelverar- veraltete Entwicklung ist. Sie ist aber nicht nur eine „olle beitenden Industrie BOGK sieht keine Notwendigkeit Knolle“ ohne wirtschaftliche Erfolgsaussichten, weil sie 3292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) keiner will und keiner braucht. Sie birgt möglicherweise von einer Pflanze in ein Bakterium ist noch unwahr- (C) auch gesundheitliche Risiken. Und die konventionellen scheinlicher. Der Anbau von Pflanzen mit diesem Gen Kartoffelhersteller kann sie teuer zu stehen kommen, trägt somit nicht zur Verbreitung der Resistenz bei Bak- weil ihr Einsatz erhebliche Mehrkosten für Tests und terien bei. Nicht nur die EFSA, auch die Zentrale Kom- Kontrollen verursachen könnte. Sie lässt sich aus der mission für die Biologische Sicherheit, ZKBS, hat diese Nahrungskette kaum raushalten, auf die Schwierigkeiten Bewertung abgegeben. bei Überwachung und Kontrolle hat der SPD-Agrarmi- nister Mecklenburg-Vorpommerns Backhaus bereits In der vergangenen Legislaturperiode ist insbesondere mehrfach hingewiesen. von den Grünen die Anwendung der Gentechnik in ver- schiedenen Anträgen thematisiert worden. Die Tendenz Frau Ministerin, das sind mehr als genug Gründe. war immer gleich und setzte darauf, die vorhandene Werden Sie tätig! Setzen Sie sich für das Vorsorgeprin- Skepsis zu verstärken, statt über Information und Auf- zip ein! Prüfen Sie die Möglichkeiten der „Schutzklau- klärung die eigene Entscheidungskraft der Bürgerinnen sel“ und verhindern Sie den Anbau in Deutschland! Wir und Bürger zu stärken. Die schwarz-rote Koalition hatte werden Sie gern dabei unterstützen. in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, Anbau und For- schung fördern zu wollen. Diese Vereinbarung ist völlig wirkungslos geblieben. Deshalb haben wir in unserem Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Zulas- Koalitionsvertrag für die christlich-liberale Koalition sung des Anbaus der Stärkekartoffel Amflora durch die sehr viel genauer festgeschrieben, was wir in unserer Re- neue EU-Kommission am 2. März diesen Jahres ist ein gierungsarbeit erreichen wollen. wichtiger Meilenstein in der Geschichte des Umgangs der EU mit gentechnisch veränderten Pflanzen. Seit dem Wir haben bereits erreicht, dass die Stimme Deutsch- Moratorium in den Jahren 1998 bis 2004 ist dies die lands in der EU in den verschiedenen Abstimmungen erste Zulassung des Anbaus einer gentechnisch verän- dem Grundsatz folgt, die Entscheidung über die Zulas- derten Pflanze. Die Zulassung folgt der Empfehlung der sung neuer Produkte an deren wissenschaftlicher Bewer- Europäischen Behörde für die Sicherheit der Lebensmit- tung ausrichten zu wollen. Dies ist ein entscheidender tel, EFSA. Damit wird einem wichtigen Anliegen der Fortschritt, der Deutschlands Anspruch als Wissen- christlich-liberalen Koalition Rechnung getragen: Ent- schaftsstandort endlich gerecht wird. Die Vorteile bio- scheidungen über die Zulassung neuer Sorten sollen ent- technologischer Züchtungsverfahren sind überzeugend. sprechend den Empfehlungen der Wissenschaft erfolgen. Professor Dr. Josef Glößl, Vizerektor der Universität für Nur so ist ein maximaler Schutz von Mensch, Natur und Bodenkultur in Wien hat kürzlich in der überregionalen Umwelt sichergestellt. Es gibt keinen Grund, den Anbau österreichischen Tageszeitung Die Presse in seinem Bei- (B) der Stärkekartoffel Amflora zu verhindern. trag „Gentechnik hat großen Nutzen“ einen Überblick (D) über den Kenntnisstand der biotechnologischen For- Mir ist bewusst, dass Menschen Vorbehalte gegen die schung gegeben. Die künftigen globalen Herausforde- Gentechnik haben. Diese Skepsis beruht nicht auf nega- rungen wie die Ernährung von bald 9 Milliarden Men- tiven Erfahrungen weder bei uns noch in anderen Län- schen, die Anpassung unserer Kulturpflanzen an die dern. Sie beruht auf gezielt verbreiteten Fehlinformatio- durch den Klimawandel hervorgerufenen Veränderun- nen. Die mit dieser Methode gezüchteten Sorten sind gen, die verstärkte Nutzung von Pflanzen als nachwach- sicherer als mit anderen Methoden gezüchtete Sorten. sende Rohstoffe erfordern den Einsatz dieser inzwischen Außerhalb Europas steigt die Zahl der Landwirte, insbe- bewährten Züchtungsmethode. sondere der Kleinbauern, die diese Sorten anbauen. Zu- nehmend engagieren sich Schwellenländer in der Ent- Sigmar Gabriel hat in seiner Zeit als Umweltminister wicklung eigener Sorten wie China, Indien, Brasilien in einer Plenarrede auf die positiven Umweltwirkungen und auch Kuba. Die von der Deutschen Forschungsge- der Stärkekartoffel hingewiesen. Sie produziert reine meinschaft am Ende des letzten Jahres herausgegebene Amylopektin-Stärke. Dadurch ist es nicht erforderlich, Broschüre „Grüne Gentechnik“ informiert sachlich und in einem aufwendigen Prozess, die in sonstigen Kartof- gut verständlich über die Methode und ihre Anwendung feln vorhandene Amylose zu entfernen. Dadurch wird weltweit. Die Nachfrage ist hoch und zeigt das Interesse Wasser und Energie gespart. Dies ist ein echter Beitrag der Menschen nach verlässlicher Information. zur Nachhaltigkeit. Es gibt seit langem Züchtungsan- strengungen zur Züchtung einer solchen Kartoffel. Es Die Stärkekartoffel gehört zu den Sorten, die noch vor gibt auch mit herkömmlichen Methoden gezüchtete Stär- dem von der EU erlassenen Moratorium entwickelt wur- kekartoffeln. Sie liefern jedoch einen geringeren Hektar- den. Der erste Zulassungsantrag wurde bereits 1996 ertrag und haben sich bis jetzt nicht am Markt durchge- gestellt. Sie enthält einen sogenannten Antibiotikaresis- setzt. tenzmarker. Dieses Antibiotikaresistenzgen nptll vermit- telt eine Resistenz gegen die beiden Antibiotika Kana- Der Antrag der Grünen reiht sich nahtlos ein in die mycin und Neomycin. Beide haben wegen ihrer zwölf Anträge zum Thema Grüne Gentechnik, die wir in toxischen Wirkung für Mensch und Tier nur eine sehr der vergangenen Legislaturperiode diskutiert haben. Alle geringe Bedeutung als Antibiotikum. Das Gen kommt zielen in dieselbe Richtung, alle liefern Fehlinformatio- natürlicherweise in verschiedenen Bakterienarten so- nen und versuchen, unbegründete Ängste zu schüren. wohl in der Darmflora als auch im Boden vor. Der Die christlich-liberale Koalition steht für Aufklärung Transfer eines Gens von einem Bakterium in eine ande- und Wissenschaftlichkeit, für eine Versachlichung der res Bakterium ist extrem unwahrscheinlich, der Transfer emotional geführten Debatte über die Grüne Gentechnik. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3293

(A) Mit der fundamentalen Ablehnung einer weltweit etab- den. Deshalb hatte die EU ja 2004 beschlossen, keine (C) lierten Züchtungsmethode werden wir den zukünftigen gentechnisch veränderten Pflanzen mehr zuzulassen, die Aufgaben nicht gerecht werden können. resistent sind gegen Antibiotika, die bei Menschen oder Tieren angewandt werden. Über diesen Beschluss hat sich die EU-Kommission jetzt mit der Zulassung der Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Ich wohne in Amflora, also einer Lex BASF, hinweggesetzt. einer traditionellen Kartoffelregion, der Prignitz im Nordwesten des Bundeslandes . Aber unter- Für die Linke stellt sich sehr ernsthaft die Frage: Ist das dessen macht sich auch dort die Kartoffel immer mehr damit verbundene Risiko wirklich verantwortbar, selbst vom Acker, weil sich die Rahmenbedingungen ver- wenn die EFSA mehrheitlich Entwarnung gegeben hat? schlechtert haben. Unterdessen freut man sich selbst in Was ist, wenn die zwei Wissenschaftler in diesem Gre- meiner Heimat über jedes Feld, auf dem mal nicht Mais, mium mit ihrer Minderheitenmeinung dennoch Recht ha- Raps oder Roggen, sondern Kartoffeln angebaut werden. ben? Die Zweifel an der Unabhängigkeit des Gremiums Und wir freuen uns in dieser schon immer armen Region von der Agrogentechniklobby existieren ja, und es war über die Arbeitsplätze mit existenzsichernden Einkom- immerhin das erste Mal, dass es überhaupt kritische men, die es immer noch in der Verarbeitung, zum Bei- Positionen dokumentiert wurden. Risikoverstärkend spiel in zwei Stärkefabriken, gibt. Es sind jedoch deut- kommt hinzu, dass die Amflora nicht nur für den Anbau und lich weniger als früher. Es gibt also gute Gründe, für die die industrielle Verarbeitung zugelassen wurde, sondern Kartoffel zu kämpfen. Ein Weg ist die erfolgreiche Ent- auch als Futtermittel. Und das ist keine theoretische Ver- wicklung neuer Nutzungsmöglichkeiten für die Kartoffel wendung; denn der Reststoff der Stärkeverarbeitung – die selbst und die Nebenprodukte ihrer Verarbeitung. Bei sogenannte Pulpe – wird oft als Futtermittel verwendet. meinem letzten Besuch in der Kyritzer Stärkefabrik ver- Damit aber gelangt die gentechnisch veränderte Kartoffel gangenen Sommer habe ich sehr interessante Ansätze indirekt auch in die Nahrungsmittelkette. Und die Kartof- kennengelernt. Ein zweiter Weg ist die Vereinfachung fel ist ohnehin nicht kontrollierbar. Zum Beispiel können der Verarbeitung. Denn die Kartoffel enthält natürlicher- nach Schätzungen je nach Witterungsbedingungen 10 000 weise zwei verschiedene Stärkeformen mit unterschied- bis 35 000 Kartoffeln auf dem Acker zurückbleiben. Und lichen physikalischen Eigenschaften. was passiert eigentlich, wenn Wildscheine diese Kartof- feln fressen? Die eine Stärke heißt Amylopektin. Sie bindet und klebt, wird also zum Beispiel zu Papier, Textilien oder Es gibt ein weiteres untrügliches Zeichen, dass selbst Klebstoff verarbeitet. Die andere Stärke namens Amy- die EU-Kommission unterdessen weiß, dass eine Tren- lose geliert. Beide müssen zur Verarbeitung mit großem nung zwischen konventionellen und gentechnisch verän- derten Kartoffeln auf Dauer entweder nicht sicher ist (B) Wasserverbrauch und Energieaufwand getrennt werden. (D) Eine Kartoffel, die fast nur Amylopektin enthält, ließe oder zu teuer wird. Sie hat gleich noch die Verunreini- sich also effektiver und kostengünstiger verarbeiten. Au- gung von Lebensmittelkartoffeln mit der Amflora bis zu ßerdem würde Wasser und Energie gespart. Die Idee, 0,9 Prozent erlaubt. Also 9 von 1 000 Kartoffeln dürfen eine solche amylopektinreiche Kartoffel zu entwickeln, gentechnisch verändert sein, und trotzdem kann die ist also schlau, aber längst keine Utopie mehr. Unterdes- Ware als gentechnikfrei verkauft werden. Ob das im sen gibt es zwei solche Kartoffelsorten, die auf konven- Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher ist? Ich tionellem Weg gezüchtet wurden. Die ersten 100 000 wage es zu bezweifeln. Tonnen einer dieser beiden Kartoffeln wurden im ver- Noch kritischer ist, dass die Bundesregierung nicht gangenen Herbst in Kyritz verarbeitet. Das Problem ist einmal bereit ist, die nötigen – und gesetzlich vorge- also auf einem unproblematischen Weg bereits gelöst. schriebenen – Regeln für den Anbau zu erlassen, die we- Dabei wird der Evolution eben nicht ins Handwerk ge- nigstens ein Minimum an Schutz für die gentechnikfrei pfuscht wie mit der Agrogentechnik. Der Evolution wirtschaftende Landwirtschaft herstellen könnten. Das wurde nur quasi ein Zeitraffer eingebaut. zumindest hat mir die Bundesregierung gestern in der Die BASF ist einen anderen Weg gegangen. Sie hat Fragestunde geantwortet. die Kartoffel agrogentechnisch verändert, um die amylo- Fazit: Die Koalition und die EU-Kommission gehen pektinreiche Kartoffelsorte Amflora zu erzeugen, deren ein hohes Risiko ein für eine gentechnich veränderte Verbot die Grünen heute beantragen. Bei der Amflora Kartoffel, die niemand braucht und niemand will. Das ist wurde zum einen das kartoffeleigene Gen ausgeschaltet, vermutlich sehr gut für die BASF, aber schlecht für die das für die Amyloseproduktion verantwortlich ist. gentechnikfrei wirtschaftende Landwirtschaft. Damit ist Zum anderen wurde ein Bakteriengen als Marker ein- aber auch klar: Der Wille der Verbraucherinnen und Ver- gebaut, das die Kartoffel unempfindlich gegen mehrere braucher ist für diese Koalition in dieser Frage ohnehin Antibiotika macht. Dazu gehören Kanamycin und Neo- irrelevant. mycin, zwei Antibiotika, welche von der Weltgesund- heitsorganisation als höchst bedeutsam eingestuft werden. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Kanamycin ist beispielsweise ein Reserveantibiotikum Bundesregierung muss den Anbau der Genkartoffel Am- gegen multirestistente Tuberkulose. Resistenzen gegen flora stoppen, weil die Verschmutzung von Lebens- und diese Antibiotika wären in der Humanmedizin eine Ka- Futtermitteln nicht wirksam ausgeschlossen werden tastrophe. Einigen Menschen könnte bei einer Krankheit kann. Auch der Landwirtschaftsminister von Mecklen- unter Umständen nicht mehr wie gewohnt geholfen wer- burg-Vorpommern, Till Backhaus, fordert ein Anbauver- 3294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) bot. Obwohl Amflora Anfang März zugelassen und ihr Lebensmittel erhalten hat, obwohl für diese Verwendung (C) Anbau auf 20 Hektar in Mecklenburg-Vorpommern vor keine Sicherheitsbewertung existiert – ein fragwürdiges Monaten angemeldet wurde, hat die Bundesregierung Novum im EU-Gentechnikrecht. Eine Vermischung mit keine gesetzlichen Regeln zum Schutz der gentechnik- gentechnikfreien Kartoffeln bei Anbau, Transport und freien Produktion erlassen. Damit wird die Zusage ge- Verarbeitung ist in der Praxis kaum zu vermeiden. brochen, welche die Bundesregierung 2007 in einer Pro- tokollnotiz bei der Zustimmung zur Amflora im Bundesregierung und EU-Kommission bleiben dazu Ministerrat abgeben hat. In der Protokollerklärung der Antworten auf wichtige Fragen schuldig: Wer stellt si- deutschen Delegation vom 16. Juli 2007 anlässlich der cher, dass auf Amflora-Äckern nicht aus Unwissenheit Abstimmung im Rat der EU – Landwirtschaft und Fi- „gestoppelt“ wird und damit Amflora direkt verzehrt scherei – über die Zulassung von Amflora heißt es unter wird? Wie sollen die bereits jetzt überlasteten Kontroll- anderem: behörden in der Praxis denn lückenlos überprüfen, ob in den Produktionsprozessen Verschmutzungen auftreten? Deutschland wird unter Beteiligung aller interes- Und wer haftet, wenn der Schwellenwert von 0,9 Pro- sierter Kreise sehr sorgfältig analysieren, welche zent überschritten wird? Wie groß sind die Abstände und konkreten Anforderungen für den Anbau, die Lage- welche Sorgfaltspflichten bestehen? rung, den Transport und den sonstigen Umgang so- wie die Weiterverarbeitung dieser gentechnisch Die Zulassung der Genkartoffel schadet der heimi- veränderten Kartoffel aufgestellt werden müssen … schen Wirtschaft und verteuert für Produzenten und Ver- Dazu werden wir in Deutschland Regeln der Guten braucher die Speisekartoffeln als wichtiges Grundnah- fachlichen Praxis entwickeln, um in jedem denkba- rungsmittel. Aktuell werden Kosten in Milliardenhöhe ren Fall beim Anbau die Koexistenz mit nicht gen- durch Maßnahmen zur Vermeidung von gentechnischen technisch veränderten Kartoffeln zu sichern … so- Kontaminationen und durch weltweite Schäden auf- wie Kontaminationen von Futtermitteln und grund von Verunreinigungen mit illegalen Gentechnik- Lebensmitteln in der weiteren Vermarktungskette pflanzen verursacht, wie beispielsweise gerade bei Reis zuverlässig zu vermeiden. sowie Leinsamen in Müslimischungen. Wir fordern, dass diese Kosten von den Verursachern getragen und Wir verlangen von der Bundesregierung und Ministe- nicht den Landwirten, Verarbeitern, Steuerzahlern und rin Aigner, dass sie diese Zusage einhalten und umgehend Verbrauchern aufgebürdet werden. entsprechende Regeln zur guten fachlichen Praxis vorle- gen. Statt ihren Schutz- und Vorsorgepflichten nachzu- Auch die Stärkeindustrie hat nach eigenen Angaben kommen, hat die schwarz-gelbe Regierung die Zulassung kein Interesse an Amflora, weil es zwei konventionelle von Amflora begrüßt. Schon im Koalitionsvertrag hat Alternativen von den Firmen AVEBE und Bioplant/Ems- (B) (D) Schwarz-Gelb kostenloses Product Placement für das land Group gibt. Anders als bei der Amflora drohen hier BASF-Produkt gemacht. Während Ministerin Aigner in der Stärkeindustrie keine Mehrkosten durch Überwa- Sonntagsreden die gentechnikfreien Regionen unter- chungsanforderungen, getrennte Lagerung und erhöhte stützt, tut sie nichts, um deren rechtliche Position zu stär- Transportkosten. Sogar der Bauernverband bezeichnet ken. Wie ein Gutachten der Grünen-Bundestagsfraktion Amflora als „sehr alte Sorte“. Die Zulassung von Am- aus dem Sommer 2009 zeigt, wäre dies mit einer einfa- flora ist nichts als ein Kniefall der EU-Kommision und chen Änderung des deutschen Gentechnikgesetzes mög- der Bundesregierung vor der BASF. Amflora ist keine lich. dolle, sondern eine olle Knolle aus der Gentechnikmot- tenkiste, die niemand braucht. Über die nationalen Verbote hinaus fordern wir Grüne die Bundesregierung auf, gegen die Zulassung von Am- flora vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen; denn Anlage 12 ihre Zulassung widerspricht dem EU-Recht. Amflora enthält Resistenzgene gegen die Antibiotika Kanamycin Zu Protokoll gegebenen Reden und Neomycin, die laut der Weltgesundheitsorganisation WHO und der EU-Arzneimittelbehörde EMEA von the- zur Beratung des Antrags: Modernisierungs- rapeutischer Bedeutung für Menschen sind. Nach der partnerschaft mit Russland – Gemeinsame Si- EU-Freisetzungsrichtlinie dürfen aber seit 2009 keine cherheit in Europa durch stärkere Kooperation Gentechniksorten mit Antiobiotika-Markern mehr zuge- und Verflechtung (Tagesordnungspunkt 13) lassen werden. Und selbst nach Meinung einiger Exper- ten der – sonst nicht gerade gentechnikkritischen – euro- Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): Deutschland päischen Lebensmittelzulassungsbehörde EFSA sind und Russland stehen heute vor Herausforderungen, die Verbreitungen dieser Antibiotikaresistenzen in der Um- neue Wege zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft er- welt und damit schädliche Auswirkungen auf Mensch fordern. Es gibt inzwischen eine gute Basis für eine er- und Umwelt nicht auszuschließen. Das Bundesamt für folgreiche Intensivierung der Beziehungen zwischen Naturschutz hat sich in den letzten Jahren mehrmals ge- Russland und Deutschland bzw. zwischen Russland und gen Amflora-Freisetzungen ausgesprochen. Auch Ita- der Europäischen Union. Der amerikanische Präsident lien, Frankreich, Österreich und Griechenland haben die verfolgt die Lösung globaler Probleme mit einem neuen, Zulassung kritisiert und prüfen Möglichkeiten, den An- kooperativen Ansatz; dazu gehört auch die Wiederbele- bau zu unterbinden. Zudem ist es unverantwortlich, dass bung der strategischen Partnerschaft mit Russland. Der Amflora eine Verschmutzungslizenz von 0,9 Prozent für Vertrag von Lissabon macht die EU handlungsfähiger Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3295

(A) und lässt uns eine Modernisierungspartnerschaft mit tung der russischen Politik zeugt von einer wachsenden (C) Russland anstreben. Die NATO sieht neue Kooperations- Bereitschaft, den Realitäten ins Gesicht zu sehen: den felder mit Russland, die das Verhältnis zu Russland Grenzen der „Rohstoffmacht“ Russland, den Defiziten grundlegend erneuern können. und Strukturmängeln der russischen Wirtschaft und der Notwendigkeit marktwirtschaftlicher Reformen. Mit Interesse nehmen wir die Initiativen von Präsi- dent Medwedjew wahr, der die Modernisierung Russ- Nüchternheit und Realismus sprechen auch aus der lands in den Mittelpunkt seiner Politik gerückt hat. Mit neuen Sicherheitsstrategie; sie sind die beste Basis für viel Mut zur Offenheit hat er gezielt Schwachstellen auf- neues und pragmatisches Denken. Immer mehr Men- gezeigt, die die Stabilität und den Erfolg der russischen schen scheinen zu verstehen, dass Russland als „einsame Gesellschaft bedrohen. Zugleich hat er an die Verant- Macht“ seine Stellung in der Welt nicht behaupten kann. wortung der Bürgerinnen und Bürger appelliert, sich Es ist an dieser Stelle wichtig hervorzuheben, dass sich nicht ins Private zurückzuziehen. Eine Änderung zum die bisherige Erweiterung der Europäischen Union und Besseren kann aber nur eintreten, wenn die Möglichkeit der NATO nicht gegen Russland richtet. Im Gegenteil: besteht, Probleme offen zu diskutieren. Dies setzt Mei- Die neuen Mitgliedstaaten erfahren einen Zuwachs an nungs- und Pressefreiheit voraus. Wir werden ihn dafür Stabilität, der sich auch für Russland positiv auswirkt: beim Wort nehmen. als Nachbar, als Investor und als Handelspartner. Zudem haben wir nützliche Instrumente für den strategischen Wir bieten Russland eine Partnerschaft an. Russland Dialog mit Russland entwickelt: den NATO-Russland- hat in seiner Geschichte einen langen und schwierigen Rat und das neu zu verhandelnde Partnerschaftsabkom- Weg hinter sich gebracht. Wenn es heute unseren euro- men mit der EU. Dabei müssen wir uns dringend von der päischen Wertekanon teilt, können wir ein neues Niveau Denkweise der vergangenen Jahrhunderte lösen. Das gilt in der Zusammenarbeit erreichen. Dabei können wir auf nicht nur für Russland, sondern auch für die EU. Ein sol- guten Grundlagen aufbauen. Die Beziehungen zwischen ches Schubladendenken ist falsch und gefährlich. Der Deutschland und Russland sind eng und vertrauensvoll. Vorschlag Präsident Medwedjews für einen europäi- Deutschland und Russland sind heute gegenseitig die schen Sicherheitsvertrag ist ein wichtiges Signal und wichtigsten Handelspartner. Deutschland ist der wich- zeigt uns: Russland möchte bei Fragen, die seine Sicher- tigste ausländische Investor in Russland. Über 4 000 heitsinteressen berührt, von uns gehört werden. Deutsch- deutsche Unternehmen sind in Russland aktiv. Der russi- land hat Interesse an einer kooperativen europäischen Si- sche Präsident hat sich zu einer WTO-Mitgliedschaft cherheitsarchitektur, in der Russland ein Partner ist. Russlands bekannt und damit gezeigt, dass ihm die Inte- Deshalb sollten wir die Vorschläge von Präsident Med- gration in die internationalen wirtschaftlichen Strukturen wedjew konstruktiv aufgreifen. Es geht darum, die euro- wichtig ist. Dies ist ein richtiger Schritt in Richtung Di- (B) päische Sicherheit und das gegenseitige Vertrauen um- (D) versifizierung der russischen Wirtschaft. Die Annähe- fassend zu stärken. rung zwischen Russland und Deutschland und zwischen Russland und der Europäischen Union muss fortgeführt Die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit im NATO- werden. Von seiner Geschichte, seiner Geografie und Russland-Rat im vergangenen Dezember war ein wichti- seiner Kultur her ist Russland ein Teil Europas. Auch ger Schritt zur Vertrauensbildung. Weitere vertrauensbil- Russland betont seinen Anspruch, Teil der europäischen dende Maßnahmen für die Zukunft sollten folgen, so Familie zu sein. Fakt ist: Russland und Europa gehören zum Beispiel die Aufwertung des NATO-Russland-Ra- zusammen. tes oder gemeinsame Übungen der NATO-Partner mit Russland. Wir wollen den Dialog mit Russland intensi- In der Zwischenzeit müssen wir die Möglichkeiten vieren und unsere Zusammenarbeit ausweiten, wo ge- nutzen, die uns durch unsere enge Nachbarschaft gege- meinsame Interessen berührt sind. Ganz konkret zeigt ben sind. Deutschland hat mit Russland bereits 2008 sich das bereits beim gemeinsamen Kampf gegen die Pi- eine Modernisierungspartnerschaft vereinbart. Der Prä- raterie an der afrikanischen Ostküste und im NATO-Ein- sident der Europäischen Kommission, Barroso, hat das satz zur Stabilisierung Afghanistans. Aber auch hier gibt jetzt aufgegriffen. Spanien will dies zu einem Schwer- es noch Raum für eine weitere Verstärkung unserer Zu- punkt seiner EU-Präsidentschaft machen. Wir unterstüt- sammenarbeit. zen dieses Ansinnen nachdrücklich. Es geht aber nicht nur um eine engere Integration unserer Wirtschafts- Ein weiteres wichtiges Thema bei der Zusammenar- räume, sondern auch um einen gesamtgesellschaftlichen beit zwischen der NATO und Russland ist der Bereich Ansatz. In diesem Kontext spielt die Politik der östlichen der Raketenabwehr. Die Bedrohungen, die von der Pro- Partnerschaft der EU eine wichtige Rolle. Sie birgt Po- liferation von Massenvernichtungswaffen und deren Trä- tenzial für die künftige Zusammenarbeit mit den Ländern gersystemen in manchen Regionen des Nahen Ostens unserer gemeinsamen Nachbarschaft, an deren Stabilität ausgeht, betreffen Russland und Europa gleichermaßen. Russland und die EU-Mitgliedstaaten ein dringendes In- Um dieser Bedrohung effektiv zu begegnen und unsere teresse haben. Zugleich hoffen wir, dass die russischen gemeinsame Sicherheit zu stärken, bedarf es einer engen Eliten den notwendigen Willen zur Veränderung aufbrin- Zusammenarbeit zwischen Russland und der NATO. Ins- gen werden. Dabei setzen wir auf drei Faktoren: den besondere im Bereich der Rüstungskontrolle und Abrüs- Pragmatismus der Eliten, das Potenzial der russischen tung sind drängende Probleme zu lösen. Die Bemühun- Gesellschaft und die Einsicht, dass alles andere Russland gen der USA und Russland, zu einem neuen – deutlich keine Zukunftsperspektive bietet. Die zunehmend diffe- niedrigeren – strategischen atomaren Gleichgewicht zu renzierte und offen geführte Debatte über die Ausrich- finden, sind begrüßenswert. Die Präsidenten der USA 3296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) und Russlands haben bereits zu erkennen gegeben, dass die Behandlung aller krisenhaften Entwicklungen zu (C) sie das Nachfolgeabkommen für den im Dezember aus- sein, weil nur dort Amerika, Europa und Russland an ei- gelaufenen START-I-Vertrag sogar noch im April 2010 nem Tisch sitzen. Voraussetzung dafür ist, dass die in Prag besiegeln werden. Dies wäre ein wichtiger NATO die Tür zum Beitritt Russlands nicht dauerhaft Schritt auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt. verschließt. Russland wiederum müsste bereit sein, die Wir unterstützen diese Bemühungen nachdrücklich. Pflichten und Rechte eines NATO-Mitglieds als Gleicher unter Gleichen wahrzunehmen. Es bleibt zu wünschen, dass der Abschluss der Ver- handlungen zwischen Russland und den USA über die In den vergangenen Jahren hat die NATO ihre Tore weitere Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen für den Beitritt der mittelosteuropäischen Staaten geöff- den Auftakt für weitere Abrüstungsschritte im substrate- net. Russland wiederum hat das „Feindbild“ NATO gern gischen Bereich bildet. Es wäre ein wichtiger Impuls für gepflegt und Chancen vertan. Erschwerend kommt ein Jahrzehnt der Abrüstung und könnte langfristig eine hinzu, dass die Bereitschaft der NATO-Staaten, mit tragende Stütze für eine globale Sicherheitsarchitektur Russland kooperative Ansätze in der Sicherheitspolitik sein. Dazu gehört auch, dass wir das substrategische Nu- zu entwickeln, immer mehr verlorengegangen ist. Nach klearpotenzial in Deutschland abbauen. 20 Jahre nach wie vor gibt es im Bündnis keinen Konsens in der Frage, dem Mauerfall muss es erlaubt sein, ein Relikt des Kal- wie mit Russland umzugehen ist. Für uns gilt: Sicherheit ten Krieges abzuschaffen. Dies darf selbstverständlich in und für Europa gibt es nur mit und nicht gegen Russ- nicht einseitig, sondern nur in enger Konsultation mit land. Die transatlantische Gemeinschaft braucht Russ- unseren Partnern in der NATO und mit Russland erfol- land. Die Gründe dafür sind vielseitig: für Energiesi- gen. cherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle, für die Verhinderung von Proliferation, für Lösungen der Pro- Genauso bedeutend ist es, im Bereich der konventio- bleme in Iran, Afghanistan und im Nahost-Konflikt, aber nellen Abrüstung weiter voranzukommen. Der KSE- auch für die Meinungsbildung und Entschlussfassung im Vertrag ist ein wesentlicher, völkerrechtlich verbindli- UN-Sicherheitsrat. Die NATO wird sich darüber klar cher Eckpfeiler der europäischen Sicherheit. Er ist eine werden müssen, wie und welchen Platz Russland in der wichtige Vertrauensbasis für eine langfristige Vertiefung euroatlantischen Gemeinschaft einnehmen soll. Die der sicherheitspolitischen Partnerschaft mit Russland. Bündnispartner müssen sich darüber auseinandersetzen Ein umfassende Rüstungskontrolle funktioniert aber nur, und konkrete Zwischenschritte definieren. Der Abzug wenn alle betroffenen Staaten ihren vertraglichen Ver- amerikanischer Nuklearwaffen aus Europa und die pflichtungen nachkommen. Mehr Transparenz kann hier Rücküberführung aller russischen Nuklearwaffen in zen- das nötige Vertrauen schaffen. Es ist unsere Aufgabe, trale Lagerstätten könnten ein erster gemeinsamer (B) neue Lösungsansätze zu finden, um einen Ausweg aus Schritt sein. Der Aufbau eines gemeinsamen Raketenab- (D) der gegenwärtigen Krise des KSE-Vertrages zu finden. wehrsystems zum Schutz des NATO-Vertragsgebietes Die Weiterentwicklung des KSE-Vertrages auf der und Russlands könnte ebenfalls eine Option sein. Der Grundlage des noch zu ratifizierenden Anpassungsab- Weg zur Beitrittsperspektive für Russland ist lang, aber kommens ist alternativlos. logisch. Am Anfang stehen das Ziel der Außenpolitik, Hier bildet die OSZE das wichtigste Forum für die der gemeinsame Blick auf Bedrohungen und die geteil- Entwicklung neuer Lösungsansätze. Es ist zu begrüßen, ten Werte. Unsere Offenheit gegenüber Russland ist dass sich Minister Lawrow klar zum Korfu-Prozess be- ebenso notwendig wie Russlands eigenes Engagement. kannt hat. Die substanzielle Stärkung der Konfliktlö- Die transatlantische Bindung zwischen Europa und sungsmechanismen in der OSZE muss offen diskutiert Amerika ist unersetzlich und wertvoll. Die NATO steht werden. Der Korfu-Prozess schafft zwar mehr Zusam- als Garant für Sicherheit und Werte gegen Herausforde- menarbeit, bringt aber noch keinen echten Sicherheitsge- rungen, die nicht an Grenzen gebunden sind. Es bleibt zu winn für Europa. Diese Defizite der europäischen wünschen, dass der bevorstehende Abschluss der Ver- Sicherheitsordnung gilt es nun zu benennen und auszu- handlungen zwischen Russland und den USA über die räumen. Es muss uns gelingen, den Korfu-Prozess auf weitere Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen eine konkrete Agenda zu fokussieren, ohne den OSZE- den Auftakt für weitere Abrüstungsschritte im substrate- Acquis zu unterhöhlen. Die Wiederbelebung der kon- gischen Bereich bildet. Es wäre ein wichtiger Impuls für ventionellen Rüstungskontrolle ist hier ein längst fälliges ein Jahrzehnt der Abrüstung und könnte langfristig eine Thema, das im Zuge der amerikanischen Reset-Politik tragende Stütze für eine globale Sicherheitsarchitektur gegenüber Russland dringend weiter verfolgt werden sein. Bilateral und als Mitglied der EU wird Deutschland muss. seinen Beitrag dazu leisten. In diesen Kontext gehört auch die Debatte über eine strategische Neuausrichtung der NATO. Wir sollten uns Franz Thönnes (SPD): Im vergangenen Jahr haben die Frage stellen, welche Rolle Russland in Europa wir 20 Jahre deutsche Einheit gefeiert. Dieses Jubiläum spielt. Auf absehbare Zeit ist nicht mit einem Aufnahme- hat uns an die „friedliche Revolution“ des Jahres 1989 antrag zu rechnen. Die Zukunft der NATO hängt maß- und an die Wiedervereinigung Deutschlands in vielen geblich von der Frage ab, wie Russland eingebunden würdevollen Veranstaltungen erinnert. Dieses Resultat werden kann. Die NATO ist dieser Herausforderung in der Wiedervereinigung ist natürlich zuallererst den Men- ihren jetzigen Strukturen nicht gewachsen. Das Bündnis schen zu verdanken, die sich mit ihrer ganzen Kraft könnte hier die Chance ergreifen, das Primärforum für friedlich für Freiheit und Demokratie mit einer Vielzahl Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3297

(A) von Aktivitäten damals in den verschiedensten Bürger- kämpfung und gegen „Rechtsnihilismus“ an. Als seine (C) bewegungen eingesetzt haben. Aber sie ist auch das Er- politischen Schwerpunkte nannte er die Reform der rus- gebnis eines historischen Prozesses, den die Bundesre- sischen Justiz sowie der Verwaltung und die Durchset- gierungen unter Bundeskanzler , Helmut zung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit. Schmidt und Helmut Kohl maßgeblich mit gestaltet und beeinflusst haben. Schon davor im Juni 2008 suchte der russische Präsi- dent die Unterstützung Westeuropas und der USA für Unstrittig ist es, so glaube ich unter uns, dass ohne die seine Reformen. Hier, in unserer Hauptstadt, machte er Westalliierten, aber eben doch noch stärker ohne die Zu- den Vorschlag für Gespräche über eine neue „Europäi- stimmung Russlands, diese Einheit nicht zustande ge- sche Sicherheitsordnung“. Diese mündeten schließlich kommen wäre. Und ebenso unstrittig ist es, glaube ich, in eine Debatte über die Reform der OSZE. Im weiteren dass die Weiterentwicklung der europäischen Einigung Verlauf der politischen Entwicklungen legte der russi- ohne die positive Haltung Russlands nicht vorstellbar ist. sche Präsident schließlich im November 2009 einen Und auch die Bewältigung unserer gemeinsamen He- Textvorschlag für einen „Europäischen Sicherheitsver- rausforderungen in Europa ist ohne Russland nicht vor- trag“ vor. Neben der Bekräftigung völkerrechtlicher stellbar. Grundprinzipien der UN-Charta und der KSZE-Charta Es geht um die Nichtverbreitung von Massenvernich- von Paris enthält der Vorschlag einige Ideen für Konsul- tungswaffen, es geht um den Kampf gegen den interna- tationsverfahren in Krisensituationen. Wir sollten ihn als tionalen Terrorismus, die Bekämpfung von Drogen- und Einladung für zielgerichtete Verhandlungen über effekti- Menschenhandel. Es geht um eine sichere und nachhal- vere Formen kooperativer Sicherheit in Europa verste- tige Energieversorgung, es geht um den Schutz unserer hen und dies auch so zu praktischem Handeln bringen. Umwelt und um wirksame politische Entscheidungen Beim ersten Gipfeltreffen von US-Präsident Obama und Maßnahmen zum Klimawandel. Kurzum, es geht und dem russsichen Präsidenten Medwedjew wurde um Sicherheit, Frieden und eine nachhaltige Entwick- deutlich, dass die amerikanische Regierung nach einem lung in unserem gemeinsamen Arbeits- und Lebensbe- konstruktiven Neuanfang in den bilateralen Beziehungen reich auf der Erdkugel. sucht. Russland und Deutschland sind durch zahlreiche ge- meinsame Erfahrungen und Traditionen eng miteinander In London wurde im April 2009 neben den gemeinsa- verbunden. Da sind die schrecklichen Kriege auf unse- men Aktivitäten zur Bewältigung der internationalen Fi- rem Kontinent. Da sind aber auch die bedeutenden Ab- nanzkrise im Rahmen der G 20 eine anspruchsvolle schnitte und gemeinsam eingeschlagenen Wege zu ei- Agenda für nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle (B) nem geeinten und friedlichen Europa. Und darauf vereinbart. Und im Sommer 2009 folgte in Moskau die (D) aufbauend wächst mehr und mehr die Erkenntnis, dass Festlegung von Parametern eines START-I-Nachfolge- die gesellschaftlichen Verflechtungen und die vorherr- abkommens. Leider war es trotz engagierter Bemühun- schenden Konflikte in unseren Nachbarregionen nur ge- gen nicht möglich, ein Folgeabkommen vor dem Aus- meinsam beantwortet werden können. laufen des Vertrages Ende 2009 zu vereinbaren. Aktuelle Auseinandersetzungen über die Raketenabwehr stellen Wer Sicherheit und Stabilität in Europa will, der muss sogar eine Unterzeichnung vor Beginn der Überprü- dafür arbeiten, dass es konstruktive und kooperative Be- fungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages, NVV, ziehungen zu Russland gibt. Im Rahmen der „strategi- im Mai 2010 infrage. Und dennoch bildet die beschrie- schen Partnerschaft“, die von Deutschland und der EU bene Entwicklung eine gute Basis für die Zusammenar- angestrebt wird, steht daher die gemeinsame Lösung beit zwischen Russland und Deutschland, der Europäi- globaler Fragen und die Zusammenarbeit auf allen Fel- schen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika. dern von Politik, Recht, Wirtschaft, Kultur und Wissen- Seit langem drängt die EU auf einen qualitativen Ausbau schaft ebenso wie die friedliche Bewältigung regionaler der Zusammenarbeit mit Russland. Vier „Gemeinsame Krisen und Konflikte im Zentrum. Räume“ sollen geschaffen werden: Wirtschaft; äußere Auch Russland selbst steht vor großen Herausforde- Sicherheit; Recht und innere Sicherheit sowie For- rungen. schung, Bildung, Kultur. Seit Herbst 2008 wird wieder über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkom- Präsident Dmitrij Medwedjew hat dies erkannt. Seit men verhandelt. Beginn seiner nun knapp zwei Jahre bestehenden Amts- zeit hat er neue Markierungen in der Innen- und Außen- Bereits kurz nachdem Medwedjew Anfang 2008 politik dargestellt. deutlich gemacht hatte, wie wichtig ihm die Stärkung des Rechtsstaates, die Verwaltungsreform, die Unterstüt- Bereits im November 2008 hat er ein umfassendes zung wirtschaftlicher Entwicklung und umfassende Bil- und ambitioniertes Programm innerer Reformen präsen- dungsinitiativen sind, hat der ehemalige Außenminister tiert. Die Bürokratie stand dabei im Mittelpunkt seiner Frank-Walter Steinmeier mit dem Angebot einer umfas- Kritik. Wie ein Hemmschuh wirke sie, wenn es auf ef- senden „Modernisierungspartnerschaft“ geantwortet. fektiven Wandel in Staat und Gesellschaft ankäme. Frei- heiten des Einzelnen und autonomes Handeln würden Wenn Russland die bestehenden und künftigen He- massiv eingeschränkt werden und behinderten damit die rausforderungen bewältigen will, muss der Staat seine künftige Innovations- und Entwicklungsfähigkeit Russ- wirtschaftliche, soziale und politische Leistungsfähig- lands. Er kündigte eine Kampagne zur Korruptionsbe- keit steigern. 3298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Da werden in verschiedenen Themenfeldern weitere mit Russland 15 Forderungen an die Bundesregierung (C) ermutigende Fortschritte gemacht. So legte Medwedjew zusammengefasst. Sie erstrecken sich von der Aufforde- im April 2009 einen Vorschlag für eine potentiell welt- rung, im Rahmen von EU, NATO und OSZE Initiativen weit anwendbare Energiecharta vor. Bezüge zu der von für eine ernsthafte Debatte und eine gemeinsame Stel- der EU und den USA favorisierten Europäischen Ener- lungnahme zum Vorschlag des russischen Präsidenten giecharta, die die russische Vorgängerregierung noch ab- für einen „Europäischen Sicherheitsvertrag“ vom No- lehnte, sind klar erkennbar. vember 2009 zu ergreifen, über die Auseinandersetzung mit dem russischen Vorschlag für eine weltweite Ener- Nach der Wahl von Wiktor Janukowitsch zum Präsi- giecharta vom April 2009, der Reform der OSZE, der In- denten der Ukraine steht nun ein Plan zur Bildung eines tensivierung der Arbeiten im NATO-Russland-Rat, dem trilateralen Konsortiums zur Leitung und Modernisie- Drängen nach Unterzeichnung des START-I-Nachfolge- rung des ukrainischen Gastransportwesens auf der Ta- abkommens sowie der Aufforderung zur Werbung für gesordnung. Wenn es gelingt, eine dauerhafte Zusam- eine kooperative und vertragsgestützte Lösung bei der menarbeit zwischen Russland, der Ukraine und der EU Errichtung eines Raketenabwehrsystems in Europa und in diesem zentralen Sektor zu etablieren, wäre dies ein die Begrenzung solcher Systeme auf globaler Ebene, wichtiger Pfeiler der europäischen Sicherheit. verschiedener vertrauensbildender politischer Verträge In der russischen Innenpolitik ist ebenfalls einiges in im militärischen Bereich bis hin zu Forderungen, die den Gang gekommen, das bereits in verschiedenen Berei- wirtschaftlichen Bereich und die Ratifizierung des chen zu ersten positiven Veränderungen geführt hat. 6. Protokolls der Europäischen Menschenrechtskonven- Dazu gehören die von Medwedjew veranlasste Überprü- tion zum Verbot der Todesstrafe durch Russland betref- fung der Strafgesetze gegen Spionage sowie der Medien- fen. gesetze. Und ebenso die Ratifizierung des Zusatzproto- Alles berechtigte Forderungen für den Aufbau einer kolls 14 zur Europäischen Menschenrechtskonvention umfassenden Modernisierungspartnerschaft mit Russ- durch Duma und Präsident am 15. Januar 2010. land, die gerade für uns Deutsche von einem zentralen Im letzten Monat haben Wissenschaftler aus dem dem Interesse sein muss. Ein stabiles Russland wird letztend- Präsidenten nahestehenden „Institut für moderne Ent- lich auch ein Partner für unser Land und die EU sein, der wicklung“, INSOR, eine Studie mit dem Titel „Russland sich durch Zuverlässigkeit und Verantwortung für Si- im 21. Jahrhundert – eine Vision für die Zukunft“ vorge- cherheit und Stabilität in Europa auszeichnet. Deshalb stellt. In Berlin erfolgte dies bei der Friedrich-Ebert-Stif- bitte ich um Unterstützung für unseren Antrag. tung. In Russland ist über diese Studie bereits eine kon- troverse innenpolitische Debatte entstanden, denn die Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Wir sind uns als FDP (B) (D) Autoren unter Leitung des Direktors Igor Jürgens wer- der wachsenden Notwendigkeit einer weiteren zukunfts- ben darin für grundlegende Reformen in Politik, Wirt- orientierten Entwicklung der bilateralen Beziehungen schaft und Gesellschaft: unter anderem für die Zulassung sowohl zwischen Russland und der Bundesrepublik echter politischer Konkurrenz, Wahlrechtsreformen, Di- Deutschland als auch zwischen Russland und der Euro- rektwahl der Gouverneure, Entbürokratisierung der päischen Union bewusst. Die Ausweitung und Vertie- Wirtschaft und eine Umstrukturierung und Dezentrali- fung der Partnerschaft im Bereich der Modernisierung sierung der Sicherheitsorgane einschließlich der Auflö- ist von zunehmender politischer und praktischer Bedeu- sung des Innenministeriums und des Geheimdienstes tung. Wir freuen uns, dass die SPD hier das Thema mit FSB in seiner heutigen Form. Außenpolitisch wird gar der Absicht aufgreift, zusätzliche Impulse zu einer ver- die russische Mitgliedschaft in NATO sowie EU ins stärkten Zusammenarbeit zu vermitteln. Wir sind uns, Auge gefasst. denke ich, auch einig, dass der Dialog und das gegensei- Deutschland hat ein großes Interesse am Gelingen der tige Verständnis gefördert werden sollen. Daher müssen inneren Reformen in Russland und an einer vertrauens- wir die Fortschritte und Hindernisse in den Beziehungen vollen Kooperation. Wir sind in vielen außenpolitischen zwischen Russland und der Europäischen Union im Fragen sowie vor allem bei der Bewältigung der interna- Deutschen Bundestag offen diskutieren. tionalen Wirtschafts- und Finanzkrise auf die Zusam- menarbeit mit Russland angewiesen. Die Regulierung Der Antrag der SPD enthält zahlreiche sinnvolle For- der internationalen Finanzmärkte, wie sie im Rahmen derungen, um die Zusammenarbeit mit Russland auf der G-20-Verhandlungen betrieben wird, spielt dabei dem Weg zur Modernisierung weiterzubringen. Jedoch ebenso eine Rolle wie die innere Stabilisierung in Russ- sehe ich folgende klare Defizite: Zum einen enthält der land. Deshalb fordert die SPD eine umfassende Moder- Antrag leider keine klare Beschreibung der derzeitigen nisierungspartnerschaft mit Russland. Sie wird gleich- Zustände in Russland. Schon in seiner letzten Jahresbot- zeitig ein Prüfstein für die Gemeinsame Außen- und schaft im November 2009 ging der russische Präsident Sicherheitspolitik, GASP, der Europäischen Union sein. mit den Zuständen in seinem eigenen Land und mit den Darum ist auch eine EU- „aus einem Guss“ verantwortlichen Akteuren hart ins Gericht. Er selbst hat nowendig, in der die Initiativen „östliche Partnerschaft“ schon die russische Bevölkerung in klaren, in unmiss- und die Schwarzmeer-Synergie sowie die Ostsee- und verständlichen Worten mit den beklagenswerten Defizi- Zentralasienstrategie abgestimmt sind. ten in vielen Bereichen konfrontiert. Davon möchte ich beispielhaft nur einige nennen: So kritisierte er den un- Vor diesem Hintergrund hat die SPD-Bundestagsfrak- genügenden politischen Pluralismus im Parteiensystem tion in ihrem Antrag zur Modernisierungspartnerschaft und warf den Behörden die Schikane der Opposition vor. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3299

(A) Die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Ver- nur die russische Vorgängerregierung diese Ratifikation (C) sammlungsfreiheit und die Koalitionsfreiheit werden in ablehne. Lieber Herr Steinmeier, Sie sollten es doch bes- Russland unterdrückt. Es herrschen Korruption und feh- ser wissen. Das ist nicht der Fall. Die amtierende Regie- lende Rechtssicherheit. Die Polizei fällt durch Gewalt rung lehnt dies genauso ab. und Willkür auf. Und diese erschreckende Bestandsauf- nahme nehme nicht ich persönlich vor. Sie wurde vom Zum KSE-Vertrag: Russland hat diesen einseitig aus- obersten russischen Repräsentanten verfasst. Und er gesetzt. Das ist nicht in Ordnung. Der Vertrag muss ganz fährt exakt so fort: Die Wehrpflichtigen in den Streit- im Gegenteil gestärkt werden. Daher muss an dieser kräften werden missbraucht; die Infrastruktur ist veral- Stelle Russland besser aufgefordert werden, sich wieder tet. Wir sehen große Defizite in den militärischen Fähig- zu den Verpflichtungen des geltenden KSE-Vertrags zu keiten der Armee. Zudem gibt es rassistisch motivierte, bekennen. Erstens ist eine Revision zum jetzigen Zeit- offiziell als „Hooliganismus“ abgetane Übergriffe, ins- punkt nicht notwendig. Zweitens sollten wir als Deut- besondere gegen aus dem Kaukasus stammende Bevöl- scher Bundestag nicht Russland auffordern, eigeninitia- kerungsteile. Diese Entwicklung macht vor keinem Be- tiv und einseitig ein neues Vertragswerk vorzuschlagen. reich halt. Wirtschaftlich ist Russland übermäßig Wir fordern Russland nicht auf, hier noch ein weiteres abhängig von Rohstoffexporten. Der Dienstleistungs- neues Fass aufzumachen. und Industriesektor sind schlecht entwickelt. Ich komme nun zu meinem letzten Punkt, an dem die FDP von der im Antrag aufgezeigten Meinung stark ab- Der Mittelstand ist äußerst schwach ausgeprägt. Sie weicht. Hier wird gefordert, für eine Lösung bei der Errich- finden in Russland wenig Unternehmergeist. So können tung eines Raketenabwehrsystems zu werben. Solange die sich nicht ausreichend international wettbewerbsfähige USA und Russland selbst kein Interesse an einem Nach- Produkte entwickeln. Die Umweltverschmutzung ufert folgeabkommen zum gekündigten ABM-Vertrag zeigen, aus. Das Gesundheitssystem ist mangelhaft, und Alko- müssen wir uns in diesem Hause und seitens der Regie- holismus ist immer noch weit verbreitet. Diese Faktoren rung auch nicht äußern. Die Bundesrepublik Deutschland führen zu sinkender Lebenserwartung der Menschen. sollte sich – das ist meine feste Meinung – bei dem Thema Genau eine solche Zustandsbeschreibung müssen wir in eines globalen Raketenabwehrsystems zurückhalten. Sie einem Antrag zu einer Modernisierungspartnerschaft mit sehen, trotz seiner zahlreichen Stärken hat dieser Antrag Russland doch aufgreifen. Zum anderen fehlen in dem deutliche Defizite. Einige davon habe ich hier dargelegt. Teil des Antrages, der die Forderungen des Antragstel- Darüber wird nun in den Ausschüssen zu beraten sein. lers enthält, klare Vorschläge zur Verbesserung. Insbe- sondere erwarte ich Forderungen zur Verbesserung der politischen Defizite. Wir müssen klar artikulieren, wie Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Der vorliegende (B) wir uns eine Partnerschaft vorstellen, damit diese nicht Antrag der SPD ist weder Fisch noch Fleisch. Er benennt (D) einseitig wird. Es ist wichtig für die Partner, dass interne ein richtiges und wichtiges Thema, aber seine Vor- Missstände der Partnerländer beseitigt werden. Zumin- schläge und Konsequenzen sind ideenlos. Insofern steht dest muss als solide Grundlage einer Zusammenarbeit dieser Antrag in der Tradition der Regierungspolitik von der Wille vorhanden sein, die aufgezeigten Probleme Schwarz-Rot – auch diese war in der Russlandpolitik auch anzupacken. Sie fordern, liebe Kolleginnen und nicht besonders ideenvoll. Das ist nicht nur eine Feststel- Kollegen von der SPD, lediglich die Unterstützung des lung von mir. Damit könnten Sie gut leben; das weiß ich. russischen Präsidenten bei seinem Bemühen. Das ist zu Aber blicken Sie einmal in die Spiegel-Ausgabe 10/ wenig für solch einen Antrag. Denn so werden die inter- 2010: Volker Rühe, Ex-Verteidigungsminister, der ehe- nen Zustände in Russland nicht verbessert. Nicht nach- malige Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus vollziehen können wir Ihre Forderung nach Ergreifung Naumann, und weitere konservative Außen- und Sicher- von Initiativen im Rahmen von EU, NATO und OSZE heitspolitiker engagieren sich dort für einen Beitritt und die Forderung nach einer gemeinsamen Stellung- Russlands zur NATO. Ich teile auch diese Konsequenz nahme zum Vorschlag für einen „Europäischen Sicher- nicht, aber der Artikel ist schon aufsehenerregend. Die heitsvertrag“. Dieses Vorgehen erinnert mich ein wenig Autoren greifen auf Altbundeskanzler Helmut Schmidt an die Arbeitsvorgänge in meiner eigenen Küche. Sie zurück und referieren seine Feststellung, „dass viele der kennen das inzwischen geflügelte Wort von den „vielen heute handelnden Politiker nur geringe Geschichtskennt- Köchen“ doch. Ergebnis: Sie verderben den Brei. So nisse haben“, und fügen selbst hinzu, „dass es einen er- wird es zu äußerst unnötigen Reibungen und zur Läh- schreckenden Kompetenzverlust für sicherheitspoliti- mung des gutgemeinten Vorschlages kommen, wenn sche und strategische Fragen gibt“. Ihre Auffassung ist sich diese Organisationen alle mit dem Thema befassen. es, dass von Berlin „weder Meinungsführerschaft noch Impulse für die internationale Debatte“ ausgehen. Und Der Vorstoß von Medwedjew sollte im Rahmen des sie fragen sich und die Öffentlichkeit, ob „die Deut- Korfu-Prozesses innerhalb der OSZE beraten werden. schen“ – wer immer das auch sein mag – „nicht mehr fä- Dort gehört er hin. Alles andere ist nicht sinnvoll. In die- hig sind, zukunftsweisende Beiträge einzubringen“. sem Antrag wird gefordert, dass sich der Westen mit ei- Wenn nicht Rühe, Naumann und die anderen Autoren ih- ner weltweiten Energiecharta befasst. Das ist der zweite ren Artikel weit vor dem SPD-Antrag veröffentlicht hät- Schritt, den Sie hier vor dem ersten setzen. Zunächst ten, so würde ich jetzt spotten, Sie müssten den SPD- sollte Russland die mit der EU ausgehandelte Ener- Antrag gelesen haben. Spott allein reicht nicht aus. Ich giecharta ratifizieren. Dazu müssen wir erst einmal auf- will Ihnen meine Kritik an einem Punkt durchbuchsta- fordern. In Ihrem Einleitungstext suggerieren Sie, dass bieren. 3300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) Der Antrag spricht zu Recht von einer strategischen das zu allervorderst – den 65. Jahrestag der Befreiung (C) Partnerschaft zwischen Russland und Deutschland. Das vom Faschismus. Der Sieg der Anti-Hitler-Koalition ist auch meine Position. Er erklärt aber an keiner Stelle über den deutschen Faschismus und der Beitrag der die Inhalte dieser strategischen Partnerschaft. Wenn die Sowjetunion dafür bleiben ein historisches Verdienst. Vorstellung über diese vertiefte Zusammenarbeit eine Wir begehen den 35. Jahrestag der Konferenz von Hel- Blackbox bleibt, wird sie politisch nicht greifen. Strate- sinki. Die dort gefundene Sicherheitsarchitektur gäbe gische Partnerschaft ist mehr und vor allem etwas ande- auch für das Heute viele Denk- und Handlungsanstöße. res als die Strickjackenfreundschaft zwischen Kohl und Weiterhin haben wir es mit dem 20. Jahrestag der deut- Gorbatschow oder die hemdsärmelige Kooperation zwi- schen Einheit zu tun, und es wird niemand bestreiten schen Schröder und Putin. Keine Frage, das persönliche können, dass auch die deutsche Einheit ohne Russland Verhältnis zwischen Regierungspolitikern Russlands und nicht zustande gekommen wäre. Diese Jahrestage sollten Deutschlands ist wichtig. Es ersetzt aber keine Politik. Denkanstoß für die Ausgestaltung des deutsch-russi- schen Verhältnisses sein. Der heutige Außenminister Westerwelle benutzt zwar ebenfalls gern den Begriff „strategische Partnerschaft“ – im Übrigen nicht nur für Russland –, aber er hat offen- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE sichtlich weder ein politisches noch emotionales Verhält- GRÜNEN): Russland steht vor der Notwendigkeit einer nis zu diesem europäischen Land. Strategische Partner- ebenso tiefgreifenden wie dringenden Modernisierung. schaft muss sich in dem empirischen Verständnis Diese kann nicht nur die Wirtschaft, ihre Struktur und gründen, dass Deutschland im vergangenen Jahrhundert ihre Mechanismen betreffen. Sie muss die ganze Gesell- zweimal gegenüber Russland bzw. der Sowjetunion schaft, darunter Justiz, Armee, Sicherheitsapparate, Par- Kriege vom Zaune gebrochen hat, die in einer Mensch- teien- und Medienlandschaft, erfassen. Scheitert sie, dro- heitskatastrophe endeten. Wer Frieden, Sicherheit und hen dramatische Folgen von wirtschaftlicher Lethargie Stabilität in Europa will, wird das nur mit Russland und über politischen Extremismus bis hin zum staatlichen nicht gegen Russland erreichen können. Von daher hätte Zerfall. Das Problem ist nicht neu. Schon vor 100 Jahren ich mir gewünscht, dass die Vorschläge des russischen stand das Zarenreich vor einer ähnlichen Situation, als Präsidenten Dmitrij Medwedjew für ein neues System das Land, zusätzlich geschwächt vom Wüten des Ersten der Sicherheit in Europa positiver und diskussionsoffe- Weltkriegs, weder wirtschaftlich noch politisch den Weg ner aufgenommen worden wären. aus dem Feudalstaat hin zu einer modernen Industriege- sellschaft fand. Schließlich kam es zum Stalinismus als Der Vorschlag von Volker Rühe und Kollegen, dass einer Methode der nachholenden Modernisierung, die sich die NATO für eine Mitgliedschaft Russlands öffnen (B) ausschließlich durch den Staat und mit brutalen Mitteln (D) solle, ist gleichbedeutend damit, dass die NATO sich betrieben wurde. Der Preis, den das russische und alle grundlegend umwandelt. Das halte ich für wenig wahr- anderen Völker der Sowjetunion für die Herrschaft einer scheinlich, aber ein Geflecht verschiedenster Verträge terroristischen Modernisierungsdiktatur in der ersten zwischen Russland und den NATO-Staaten in Europa Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlen mussten, war extrem. könnte eine neue Art von Sicherheit mit sich bringen. Zwar wurde die Sowjetunion mit dem Sieg über den Na- Eine solche Sicherheitsarchitektur müsste auch im Inte- tionalsozialismus zur Weltmacht. Aber diese Macht resse von Ländern wie der Ukraine, , Moldawien stand auf tönernen Füßen und brach schließlich wirt- und den baltischen Staaten wie auch anderer liegen. schaftlich zusammen. Das politische System war nicht Russland muss ein Interesse haben, gerade gegenüber nur dem Industrialismus, es war dem Leben nicht ge- kleineren Ländern in Osteuropa Furcht und Sorgen, die wachsen. Die offensichtlichen Defizite der heutigen, historisch begründet sind, abzubauen, und solche Länder schon nicht mehr sozialistischen russischen Wirtschaft wie die Ukraine oder auch Polen gewinnen mehr Sicher- sind allgemein bekannt und auch in der russischen Füh- heit, wenn sie sich als Brücke, nicht als Grenze zu Russ- rung anerkannt. Doch wieder stellt sich die Frage nach land verstehen könnten. Noch immer gilt: Es soll nicht dem Weg der Modernisierung und ihrem Ziel. Nach den zu einer neuen Blockbildung in Europa kommen, bzw. Jahren der Jelzin’schen Reformexperimente, die zu mas- die Grenzen zwischen Russland und den EU-Staaten siven sozialen Verwerfungen und einer breiten Verunsi- müssen durchlässig gemacht werden. cherung in Russland geführt hatten, wurde Putins Kon- Das EU-Europa oder meinethalben die euro- zept der starken Hand fast einhellig begrüßt. Sein Ziel, atlantische Gemeinschaft braucht Russland aus vielen der Aufbau eines in den Worten der Welt vom 24. März Gründen: Energiesicherheit, Abrüstung und Rüstungs- „autoritären Machtsystems slawophiler Prägung mit kontrolle, Lösung solcher Konflikte wie der Nahostaus- marktwirtschaftlichen Elementen“ war durchaus popu- einandersetzung, die Beendigung des Krieges in Afgha- lär. Was dabei ins Hintertreffen geriet, waren die enor- nistan, Verbesserung der Beziehungen zum Iran und men gesellschaftlichen und politischen Herausforderun- vieles mehr. Solche Punkte inklusive des gegenseitigen gen, die eine gelingende Wandlung zu einem global wirtschaftlichen Interesses begründen eine strategische wettbewerbsfähigen Gemeinwesen begleiten müssen, Partnerschaft und schaffen dafür einen denkbaren bzw. soll es diese Wandlung erfolgreich vollziehen. möglichen Rahmen. Inzwischen sind die Mängel im politischen System Wir begehen 2010 mehrere wichtige Jahrestage, die Russlands nicht nur erkennbar zu einem Hindernis der das deutsch-russische Verhältnis berühren, und zwar – und wirtschaftlichen Modernisierung geworden. Sie sind Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3301

(A) auch im Alltag derart spürbar, dass immer weniger Be- Anlage 13 (C) troffene sie klaglos hinnehmen und niemand sie mehr übersehen kann. Wenn – um nur ein Beispiel zu nennen – Zu Protokoll gegebene Reden der Innenminister der Bevölkerung öffentlich ein Selbst- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des verteidigungsrecht gegen die brutalen und kriminellen Berichts: Europäische Tierversuchsrichtlinie muss Übergriffe der Polizei einräumt, ist dies kaum anders ethischem Tierschutz Rechnung tragen – Stel- denn als Kapitulation des Rechts vor der Willkür zu be- lungnahme des Deutschen Bundestages gemäß zeichnen. Aber nicht nur im Bereich der Polizei ist das Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz (Zusatztages- staatliche Gewaltmonopol moderner Staaten pervertiert. ordnungspunkt 7) Ähnliches gilt für den Strafvollzug, für die Armee, abge- wandelt, nämlich in Form flächendeckender Korruption, Dieter Stier (CDU/CSU): In den vergangenen Tagen für die Verwaltungsbürokratie. Und natürlich gilt es auch sind Tausende von Mails mit der Forderung einer Nach- für die Justiz und den größten Teil der Medien. In kei- besserung des derzeit vorliegenden Entwurfs einer EU- nem dieser Bereiche herrschen transparente Regeln, Tierversuchsrichtlinie in meinem Abgeordnetenbüro herrscht Rechtssicherheit. Einzige, wenn auch nicht im- eingegangen. Da alle diese Schreiben den gleichen Wort- mer gleichermaßen anwendbare Regel ist die Herrschaft laut haben und zeitweise exakt im Minutentakt eingin- des Staates und seiner Vertreter. gen, drängt sich mir der Eindruck auf, hier werde ganz gezielt und zentral gesteuert Panikmache betrieben. Der- Ein moderner Staat, der qua Mitgliedschaft im Euro- artige Massenmails sind nicht hilfreich, weder bei der parat den Anspruch erhebt, europäischen Werten zu ent- parlamentarischen Willensbildung, noch dienen sie dem sprechen, und der weltweit respektiert werden will, kann Wohl von Tieren, geschweige denn dem Verbraucher so nicht funktionieren. Russlands Anspruch an sich und schon gar nicht dem Forschungsstandort Deutsch- selbst droht durch seine innere Verfasstheit erstickt zu land. Ich denke, wir sollten uns rational mit diesem werden. Präsident Medwedjew scheint dies erkannt zu Thema auseinandersetzen und nicht die Menschen in haben, und mit ihm immer mehr Menschen in Russland. Deutschland und Europa auf eine derart polemische Art Das Unbehagen an der autoritären Herrschaft Putins und und Weise aufwiegeln. seiner Umgebung nimmt erkennbar zu, die Opposition, Meine sehr verehrten Damen und Herren von fast schon verstummt, wird wieder lauter. Einer der Ers- Bündnis 90/Die Grünen, Ihre Kritik richtet sich gegen ten außerhalb der demokratischen Opposition, die dem den jetzt vorliegenden Entwurf der Richtlinie des Euro- Widerstand gegen das erstarrte und anachronistische päischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für System des autoritären Staates eine Stimme gaben, war wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere. Bevor ich (B) (D) Michail Chodorkowskij. Mit seiner wirtschaftlichen im Einzelnen auf die Kritikpunkte Ihres heute vorliegen- Macht unterschied er sich von den mutigen Menschen- den Antrages an der EU-Tierschutzrichtlinie eingehe, rechtlern und Journalistinnen, die immer für demokrati- möchte ich einen ganz zentralen Punkt hervorheben, der sche Werte eingetreten waren. Er drohte zur ernsthaften mir sehr am Herzen liegt. Deutschland war bisher eines Gefahr für Putins System zu werden. Deshalb wurde der EU-Länder mit den höchsten Tierschutzstandards in- sein Konzern zerschlagen, und deshalb wird ihm jetzt nerhalb der Europäischen Gemeinschaft und wird es schon der zweite Prozess gemacht. Diese Jusitizfarce, auch in Zukunft bleiben. Unbestritten ist die dringende nach allem Anschein gespeist von irrationalem Rache- Notwendigkeit einer Harmonisierung der EU-Tier- drang seiner Gegner in der russischen Führung, ist zum schutzstandards. Die derzeit geltende Richtlinie aus dem Symbol für die Willkür und Repression in Russland ge- Jahre 1986 muss dringend novelliert werden, weil sich worden. Chodorkowskij vertritt zugleich eine umfas- im Lauf der vergangenen zwei Jahrzehnte sehr unter- sende Modernisierung, deren Behinderung in Russland schiedliche Tierschutzniveaus in den einzelnen EU-Mit- eine jahrhundertealte Geschichte hat. Paradoxerweise hat gliedsländern herauskristallisiert haben. Verschiedene gerade der Umgang des Staates mit ihm Chodorkowskijs Kulturkreise und Traditionen definieren darüber hinaus Bedeutung gestärkt. Sollte er ein weiteres Mal verur- auch den Tierschutz unterschiedlich. Erfreulicherweise teilt werden, wäre das ein Zeichen andauernden Rück- kommen wir insbesondere im Tierschutz zu immer mehr schritts in Russland. Ihn freizusprechen, würde einen Gemeinsamkeiten unter den Ländern. Somit ist es uns Sieg der Modernisierer bedeuten. Der Ausgang des nun möglich, europaweit ein vergleichsweise höheres Falls Chodorkowskij kann nach Einschätzung der inter- Schutzniveau für Versuchstiere herbeizuführen. Das ist national bekannten und anerkannten Veteranin der russi- eine positive Entwicklung, und die sich daraus erge- schen Opposition Ludmilla Alexejewa die russische Ge- bende Chance gilt es zu nutzen. schichte verändern. Deutschland und die EU brauchen Kurz gesagt: Wir haben jetzt die Gelegenheit in Eu- ein modernes Russland als Partner, ein modernes Russ- ropa ein insgesamt höheres Schutzniveau zu erreichen, land braucht uns. Das ist der Sinn der angestrebten Mo- welches auf der Grundlage von freiwilligen einzelstaatli- dernisierungspartnerschaft. Deshalb sind wir für jede chen Regelungen und auf der Grundlage der derzeit noch Form der Zusammenarbeit, die uns gemeinsam diesem bestehenden Richtlinie nicht zu erzielen ist. Der kleinste Ziel näherbringt. Dazu aber gehört eine klare Analyse gemeinsame Nenner in Sachen Tierschutz könnte auf ein der Hindernisse auf diesem Weg. Und dazu gehören höheres Niveau gehoben werden. Das wäre ein wichti- klare Worte unter Partnern, die diese Hindernisse benen- ges Etappenziel hin zu einem verbesserten Tierschutz in nen. der EU. Der Weg dorthin war schwierig. Nach zähen, 3302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) langwierigen und höchst kontrovers geführten Diskus- durchzusetzen sind und Kompromisse in Kauf genom- (C) sionen zwischen dem Europäischen Parlament und den men werden müssen, so kommen wir doch Schritt für Mitgliedstaaten im Rat konnte man sich im Dezember Schritt weiter. Deutschland hat wichtige Positionen im 2009 endlich auf einen Kompromissvorschlag einigen. Tierschutz, zum Teil auch gegen den Widerstand anderer Dieser derzeit feststehende Kompromiss hat mühsam Mitgliedstaaten, einbringen können. Diesen Erfolg ver- eine qualifizierte Mehrheit sowohl im Rat als auch im danken wir dem Verhandlungsgeschick der Parlamenta- Parlament gefunden. Diese Kompromisslösung ist je- rier in Brüssel. Sollte Deutschland dem jetzt vorliegen- doch derart fragil, dass eine minimale Änderung sehr den Kompromissvorschlag nicht zustimmen, würde dies schnell zu einer Auflösung der Mehrheitsverhältnisse bei den anderen EU-Staaten auf völliges Unverständnis führen und eine Gesamteinigung auf unbestimmte Zeit stoßen und Deutschland in der Frage des Tierschutzes in die Zukunft verschoben würde. isolieren. Der jetzt vorliegende neue Richtlinienentwurf geht Deutschland hat in der Vergangenheit bereits erheb- insgesamt gesehen über die Mindestanforderungen der lich dazu beigetragen, dass auch auf europäischer Ebene derzeit gültigen Rechtslage hinaus. Im heute zur Bera- der Schutz von Tieren und die Forschung in einem aus- tung vorliegenden Antrag fordern Bündnis 90/Die Grü- gewogenen Verhältnis stehen. Es müssen tierethische nen die Einsetzung einer Ethik-Kommission, die Geneh- und wirtschaftliche Belange in Einklang gebracht wer- migungsprozesse von Projekten begleiten und dahin den. Deutschland hat sich im Bereich Tierschutz auf EU- gehend prüfen soll, ob Forschungsprojekte unerlässlich Ebene für international gültige Mindeststandards einge- und ethisch vertretbar sind. Die Mehrheit der EU-Mit- setzt, wie zum Beispiel bei der Richtlinie zur Haltung gliedstaaten hat sich gegen eine solche Ethik-Kommis- von Masthühnern. Wir haben uns für eine einheitliche sion ausgesprochen. In Art. 26 der Richtlinie wird statt- europäische Tierschutzkennzeichnung stark gemacht. dessen die Einrichtung eines Tierschutzgremiums Ein weiteres positives Beispiel für eine europäische Lö- festgeschrieben, welches das Personal zu allen Fragen sung ist das Einfuhrverbot von Hunde- und Katzenfel- des Tierschutzes berät. Positiv zu bewerten ist, dass der len. Die Bekämpfung illegaler Fischerei ist ebenfalls ein Kompromisstext in einigen Regelungen über das derzeit zentrales Anliegen Deutschlands. Warum sollte man im Tierschutzgesetz festgelegte Schutzniveau von Ver- Schutzquoten aushandeln, wenn diese dann letztlich suchstieren hinausgeht. Strengere Einschränkungen gel- doch nicht bindend sind und unterlaufen werden? Hier ten bei der Verwendung gefährdeter Arten und von Pri- bedarf es einer weiteren Kraftanstrengung aller EU-Staa- maten sowie beim grundsätzlichen Verbot von Versuchen ten, dass diese Praktiken endlich beendet werden. Diese mit länger andauernden schweren Schmerzen. Beispiele zeigen, wie wichtig die enge Zusammenarbeit der einzelnen EU-Mitgliedstaaten ist. Tierschutz ist aber Leider konnte sich Deutschland in den Verhandlun- (B) auch eine globale Aufgabe geworden, und Deutschland (D) gen nicht mit dem Vorschlag durchsetzen, dass Mitglied- nimmt seine Verantwortung für Tiere weltweit sehr staaten in Zukunft auch freiwillig national strengere Vor- ernst. Die unionsgeführte Bundesregierung hat beispiels- schriften durchsetzen können. Dies kollidiert mit der weise in der vergangenen Wahlperiode den globalen Zielvorgabe einer EU-weiten Harmonisierung. Politik Schutz der Walbestände durch das Verbot des kommer- bedeutet eben auch das Akzeptieren von Kompromissen, ziellen Walfangs durchgesetzt. wenn sie einem gemeinsamen europäischen Ziel dienen. Ich gebe zu bedenken: Wenn man die Messlatte in Eu- Wir stehen hier vor der schwierigen Aufgabe, For- ropa zu hoch hängt, das heißt, die Anforderungen an ei- schung und Tierschutz miteinander in Einklang zu brin- nige EU-Länder praktisch unerreichbar hoch sind, dann gen. Derzeit sind wir leider noch auf tierexperimentelle wird die Forschung an Tieren in Drittländer, beispiels- Forschung angewiesen, um Fortschritte in der Medizin weise nach China, abwandern. Damit ist weder den Tie- erzielen zu können. Millionen Menschen verdanken ihr ren noch den in der Forschung beschäftigten Menschen Leben und ihre Gesundheit den wissenschaftlichen Er- gedient. kenntnissen, die durch Tierversuche gewonnen wurden. Dies müssen wir uns auch vor Augen halten, wenn wir Insbesondere in Sachen Tierschutz müssen wir über über Tierversuche debattieren. Krankheiten treten übri- die Parteigrenzen hinweg an einem Strang ziehen. Es gens auch parteiübergreifend auf und verschonen nicht bringt uns in der Sache nicht weiter, wenn wir uns in die eine oder andere Couleur. Eines möchte ich deutlich ideologische Grabenkämpfe verstricken. Auch wenn herausstellen: Als Fernziel in der Zukunft streben wir die Bündnis 90/Die Grünen sich gerne als die alleinigen weitestgehende Abschaffung von Tierversuchen an. Um Fürsprecher der Tiere sehen, möchte ich darauf verwei- dieses Ziel zu erreichen, müssen wir verstärkt die Förde- sen, dass gerade die CDU/CSU-geführte Bundesregie- rung und Weiterentwicklung von alternativen Versuchs- rung den Tierschutz an oberster Stelle sieht. Die folgen- methoden voranbringen. Dazu ist beispielsweise biologi- den Beispiele zeugen von einer erfolgreichen und sche Forschung an Modellorganismen denkbar, um nachhaltigen Tierschutzpolitik. Mit der klaren Entschei- Grundlagenerkenntnisse zu gewinnen. Denkbar ist auch dung, den Tierschutz als Staatsziel ins Grundgesetz auf- die Entwicklung von Impfstoffen aus pflanzlicher Pro- zunehmen, haben wir Parlamentarier eine ganz klare duktion. Die Zahl der Tierversuche muss so gering wie Position für den Schutz der Tiere bezogen. Tierschutz in möglich gehalten werden. Deutschland ist zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema geworden. Ich denke, es ist uns allen ein Anlie- Die Union setzt auf möglichst artgerechte Haltung in gen, den Tierschutz voranzubringen. Auch wenn auf Bezug auf Zucht, Unterbringung und Pflege sowie auf EU-Ebene nicht immer deutsche Maximalforderungen einen sensiblen Umgang mit Versuchstieren. Damit sol- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3303

(A) len Leiden und Ängste der Tiere vermieden werden bzw. noch in die Richtlinie aufzunehmen. Dieser lautet: (C) auf ein Minimum reduziert werden. Das ist nicht nur un- „Durch diese Richtlinie werden die Mitgliedstaaten nicht ter ethischen Gesichtspunkten zwingend notwendig, daran gehindert, strengere Maßnahmen anzuwenden sondern auch eine wichtige Grundvoraussetzung für die oder zu beschließen, die auf die Verbesserung des Wohl- Qualität tierexperimenteller Forschung. Hervorragende ergehens und des Schutzes der zu Forschungszwecken Forschungsergebnisse insbesondere in der Humanmedi- verwendeten Tiere abzielen.“ Art. 2 a ist damit hinfällig zin zeigen uns Menschen Wege auf, um mit neuen wirk- und zu streichen. samen Medikamenten zur Bekämpfung von Krankheiten wie Tumorerkrankungen oder Parkinson menschliches Eine ethische Bewertung von Tierversuchen ist im Leid zu verhindern. Ebenso dienen beispielsweise For- Rahmen der vorgeschriebenen Genehmigungsverfahren schungen im Bereich Gewebezucht einer verbesserten kaum mehr vorgesehen. An zahlreichen Stellen wurde das medizinischen Versorgung. Wörtchen „ethisch“ aus dem Text gestrichen. Mit großer Wirkung! Aus der Voraussetzung einer „positiven ethi- Fazit: Ich plädiere für eine Ablehnung des Antrages schen Bewertung“ für die Erteilung einer Genehmigung von Bündnis 90/Die Grünen, damit die Verabschiedung in Art. 35 des ersten KOM-Entwurfs wird ein „positives der neuen EU-Tierschutzrichtlinie in ihrer Gesamtheit Ergebnis der Projektbeurteilung“ im Kompromissvor- nicht gefährdet wird. Wir brauchen dringend die neue schlag. Nach welchen Kriterien diese Projektbeurteilung EU-Tierversuchsrichtlinie, weil damit deutliche Verbes- stattfinden soll, bleibt mit dieser Formulierung fraglich. serungen für den Schutz von Versuchstieren in der EU Dabei ist eine Betrachtung der moralischen und ethischen erzielt werden. Wir erreichen so ein höheres Schutzni- Aspekte beim Tierschutz dringend geboten. Die Men- veau, als wenn wir uns auf einzelstaatliche Lösungen schen sind sensibilisiert für tierschutzrelevante Themen. verlassen. In der Öffentlichkeit erlangt das Wohlergehen der Tiere einen immer höheren Stellenwert. Dies beweisen auch die Lassen Sie mich noch einen Blick in die Zukunft wer- weit über 5 000 E-Mails, die uns in der vergangenen Wo- fen. Tierschutz ist ein Bereich mit großer Dynamik. So- che erreichten. Die Verfasser der E-Mails bitten uns, die lange wir noch nicht am Ziel sind, bleibt Tierschutz für Verschlechterungen in dem Kompromisstext nicht hinzu- uns alle eine Daueraufgabe. Die christlich-liberale Ko- nehmen. Erst gestern nahm ich ebenso viele Unterschrif- alition wird sich auch in Zukunft der Herausforderung ten entgegen. Eine Aktion besorgter Bürgerinnen und stellen, eine ethisch vertretbare Balance von Forschung Bürger, die sich über die Zukunft des Tierschutzes in und Tierschutz zu finden. Dazu wünsche ich mir Ihre Deutschland und Europa Gedanken machen. Ich danke Unterstützung. ihnen für ihr Engagement. Ich verweise hier auch auf § 7 unseres Tierschutzge- (B) (D) Heinz Paula (SPD): Wir beraten heute über den setzes, der da lautet: „Tierversuche dürfen nur durchge- Kompromissvorschlag zur Richtlinie des Europäischen führt werden, soweit sie zu einem der folgenden Zwecke Parlamentes und des Rates zum Schutz der für Versuchs- unerlässlich sind …“ und – so Abs. 3 – „ … wenn die zu zwecke verwendeten Tiere. Er beruht auf einem Vor- erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Ver- schlag der EU-Kommission vom Dezember letzten Jah- suchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch res. Ungeachtet dessen, dass dieser Kompromisstext von vertretbar sind“. Dies sollte unserer Bundesregierung EU-Kommission und EU-Parlament bereits abgenickt Maßstab und Maxime sein, auch bei den Verhandlungen wurde, verdient er aus Sicht eines Tierschützers – und auf EU-Ebene. Hier frage ich mich, warum die Bundes- ich spreche heute in meiner Funktion als Tierschutzbe- regierung nicht längst die Initiative ergriffen und ent- auftragter meiner Fraktion – herbe Kritik. Legt man sprechende Veränderungen zum besseren Schutz der beide Vorschläge nebeneinander, merkt man deutlich, Tiere angestrebt hat. Wo war bei den Verhandlungen zur dass die in Brüssel und Straßburg so zahlreich vertrete- Tierversuchsrichtlinie unsere Bundesministerin Frau nen Lobbyisten ihre Hände im Spiel hatten. Zu viele Aigner? Stellen des ursprünglichen Vorschlages wurden sehr deutlich zuungunsten des Tierschutzes verändert. Nicht Kleine Textkorrekturen bei dem ursprünglichen Ge- hinnehmbare Punkte sind für mich unter anderem: Die setzestext führen auch zu weiteren erstaunlichen Ergeb- Regelung in Art. 2 a des Kompromissvorschlages, wo- nissen. Ursprünglich war eine Verpflichtung zur Ver- nach die Mitgliedstaaten nach Inkrafttreten der Richtli- wendung von Alternativmethoden vorgesehen, sofern nie keine strengeren Maßnahmen mehr erlassen können diese vorhanden und validiert sind. Diese Verpflichtung als die in der Richtlinie vorgesehenen, kann ich nicht bil- wird in dem Kompromissvorschlag alleine durch den ligen. Das ist anachronistisch. Es darf den Mitgliedstaa- Zusatz „wo immer dies möglich ist“ ausgehebelt. Ich ten nicht untersagt werden, den Tierschutz im eigenen frage mich, wer entscheidet, ob die Verwendung von Al- Lande weiterzuentwickeln. Diese Regelung blockiert ternativmethoden möglich ist. Die Unterbringung und jeglichen tierschutzrechtlichen und -politischen Fort- Pflege von Tieren ist ein weiterer Punkt, der korrigiert schritt. So wird Deutschland seiner Vorreiterrolle inner- werden muss. Seit 2006 existieren Maßstäbe und Be- halb der EU nicht gerecht. stimmungen für die Unterbringung und die Pflege von Versuchstieren. Diese hat das EU-Versuchstierabkom- Diese Richtlinie soll Mindeststandards setzen und men damals so festgelegt. Warum sollen wir nun bis nicht, wie hier offenbar beabsichtigt, Höchststandards 2017 warten, bis diese auch umgesetzt werden dürfen? auf niedrigem Niveau. Daher plädiere ich eindringlich, Der erste Kommissionsentwurf sah hier noch überwie- Art. 7 der Entschließung des Europäischen Parlamentes gend eine Frist bis Januar 2012 vor. Es gibt für mich kei- 3304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) nen ersichtlichen Grund, warum von diesem Datum ab- einmal inhaltlich zu überarbeiten. Machen Sie ihren Ein- (C) gewichen werden sollte. fluss geltend! Ich werde Ihr weiteres Vorgehen in dieser Angelegenheit und auch in anderen Angelegenheiten des Und schließlich der wohl strittigste Punkt, der Einsatz Tierschutzes genau beobachten, und ich werde nicht auf- von nichtmenschlichen Primaten bei Tierversuchen. Ein hören, auf einen umfassenden Tierschutz in Deutschland heikles Thema, das weiß ich. Manche Versuche können und auf EU-Ebene zu pochen. Sie werden weiter von mir nur an nichtmenschlichen Primaten durchgeführt wer- hören! den, da sie uns Menschen in ihrer Lebensfunktion am ähnlichsten sind. So können lebensbedrohliche Krank- heiten beim Menschen verhindert oder gelindert werden. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Der Antrag Auf der anderen Seite sind es auch die Tiere, die nach- der Grünen trägt die Überschrift: „Europäische Tierver- weislich unserem Empfinden am nächsten kommen. Es suchsrichtlinie muss ethischem Tierschutz Rechnung ist davon auszugehen, dass sie ähnlich wie wir Schmerz tragen“. Genau das ist das Ziel der Überarbeitung der ge- und Leiden empfinden. Daher müssen die Versuche mit genwärtig geltenden Tierversuchsrichtlinie. Sie stammt diesen Tieren auf ein absolutes Mindestmaß beschränkt aus dem Jahr 1986. Der wissenschaftliche Fortschritt in werden. Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission den vergangenen mehr als 20 Jahren macht eine neue sah genau eine solche Beschränkung vor. Der Kompro- Bewertung der Notwendigkeit und des Ablaufs von Tier- missvorschlag findet eine Regelung, die einen sehr gro- versuchen dringend erforderlich. Der gegenwärtig disku- ßen Interpretationsspielraum für eine Genehmigung von tierte Vorschlag für eine „Richtlinie zum Schutz der für Ausnahmefällen für Versuche an nichtmenschlichen Pri- wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere“ erfüllt die maten zulässt. So heißt es dort in Art. 8 Abs. 1 b: „Als in der Überschrift des Antrags der Grünen formulierte zur Invalidität führender klinischer Zustand für den Anforderung. Zweck dieses Artikels gilt die Beeinträchtigung der nor- Die Wahrung und der Schutz des Lebens ist der malen physischen oder psychologischen Funktionsfähig- Grundgedanke unserer Zivilisation. Zum Schutz von keit des Menschen.“ Dies lässt zu viele Spielräume zu. Mensch und Umwelt wurde im Jahr 2002 auf Initiative Nahezu jeder von uns ist in irgendeiner Weise – zumin- der FDP-Bundestagsfraktion der Schutz der Tiere als dest zeitweise – in seiner physischen Funktionsfähigkeit Staatsziel in Art. 20 a in das Grundgesetz aufgenommen. eingeschränkt. Diesem Anliegen fühlen wir Liberale uns verpflichtet. In vielen Ländern innerhalb der europäischen Union Die derzeitige Richtlinie entspricht nicht heutigen wis- existieren nach wie vor Tierschutzstandards, die auf der senschaftlichen Standards und genügt nicht unseren ethi- alten EU-Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftli- schen Vorstellungen. Sie muss deshalb novelliert wer- che Zwecke verwendeten Tiere von 1986 basieren. Diese den. Einige Länder haben im nationalen Recht (B) (D) liegen weit unter den deutschen Standards und auch weit wesentlich strengere Standards zur Haltung von Ver- unter den in dem uns nun vorliegenden Kompromissvor- suchstieren und zur Genehmigung und Durchführung schlag festgeschriebenen Standards. Das heißt, der Tier- von Tierexperimenten eingeführt. schutzstandard würde durch den vorliegenden Entwurf Das deutsche Tierschutzrecht beispielsweise zählt zu in diesen Ländern verbessert. Sie, sehr verehrte Damen den strengsten in Europa. In einigen Bereichen geht die und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, fordern die neue Richtlinie gleichwohl über die in Deutschland im Bundesregierung nun auf, dem vorliegenden Richtli- Tierschutzrecht formulierten Standards hinaus. Bei- nienentwurf nur zuzustimmen, wenn sie Ihre Forderun- spielsweise schließt sie die Föten von Säugetieren in ih- gen für einen verbesserten und umfassenden Tierschutz ren Geltungsbereich ein. Es ist das erklärte Ziel der auf EU-Ebene durchsetzen können. Sie stellen mit dieser neuen Richtlinie, ein vergleichbares Niveau für die ge- Forderung das gesamte Projekt, eine – wenn auch nicht samte Europäische Union festzuschreiben. ausreichende – Verbesserung einer einheitlichen Rege- lung zum Schutze der für wissenschaftliche Zwecke ver- Die neue Richtlinie etabliert Standards, die an aktuellen wendeten Tiere infrage. Der vorliegende Richtlinienent- wissenschaftlichen Erkenntnissen bezüglich Schmerz- wurf geht immerhin weiter und hebt die derzeit empfinden, Stressfaktoren und artgerechten Haltungsbe- geltenden und damit EU-weit gültigen Tierschutzstan- dingungen orientiert sind. Es wird die in Deutschland be- dards für einige Mitgliedstaaten erheblich an. Deshalb reits angewendete, unabhängige ethische Bewertung hat sich die SPD-Fraktion in der gestrigen Ausschusssit- europaweit eingeführt. Dies stellt grundsätzlich eine Ver- zung mehrheitlich enthalten. besserung des Tierschutzes in Europa dar. Es steht außer Frage, dass die Genehmigung und Durchführung von Verehrte Bundesministerin Aigner, ich habe noch nie Tierversuchen nur nach strengen wissenschaftlichen und so viele Zuschriften erhalten wie zu dem Thema, das wir ethischen Regeln erfolgen darf. Insgesamt ist die neue heute hier behandeln. Ich verlange von der Bundesregie- Richtlinie geeignet, um deutlich höhere Tierschutzstan- rung, dass sie sich für eine Überarbeitung der EU-Richt- dards als bisher in der gesamten EU umzusetzen. linie im Sinne eines umfassenden Tierschutzes stark- macht. Die Bundesregierung will laut eigener Aussage Im Sinne einer modernen Tierschutzpolitik ist insbe- den europäischen Tierschutz an die deutschen Tier- sondere die Entwicklung von Ersatz- und Ergänzungs- schutzstandards angleichen. In Deutschland ist Tier- methoden für Tierversuche geeignet, Tierversuche über- schutz Staatsziel. Ich bitte Sie, Frau Bundesministerin flüssig zu machen. Im Bereich des Testens von Aigner, lösen Sie Ihr Versprechen ein und setzen Sie al- Kosmetikprodukten ist dies weitgehend gelungen. Wir les daran, diesen Kompromissvorschlag in Brüssel noch wollen, dass kein Tier unnötig Tests oder Untersuchun- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3305

(A) gen ausgesetzt wird. Gleichwohl müssen wir feststellen, Tierversuchen gelten. In diesem Sinne unterstützt die (C) dass die Zahl der Tierversuche noch immer steigt, ob- FDP auch ausdrücklich die konsequente Anwendung des wohl Alternativmethoden in bestimmten Bereichen Tier- vorgeschlagenen sogenannten 3R-Prinzip, Replace- versuche ersetzt haben. Im Jahr 2008 ist die Anzahl der ment, Reduction and Refinement, das heißt die Vermei- für Tierversuche und weitere wissenschaftliche Zwecke dung, Verbesserung und Verminderung der Verwendung verwendeten Tiere um 3,2 Prozent gestiegen. Der Haupt- von Versuchstieren. teil der Tiere wurde zur Erforschung von Erkrankungen des Menschen und der Tiere eingesetzt. Ein steigender Aus Sicht der FDP definiert die neue Tierversuchs- Anteil wurde für gesetzlich vorgeschriebene Versuche richtlinie die Rahmenbedingungen einer ethisch begrün- bei der Herstellung oder Qualitätskontrolle von human- deten und wissenschaftlich orientierten Zulassung von oder veterinärmedizinischen Produkten benötigt. Tierversuchen. Das neue Gesetz wird auf europäischer Ebene zu einer deutlichen Verbesserung des Tierschut- Die FDP sieht in der Entwicklung von Alternativme- zes führen und dabei bereits bestehende höhere Einzel- thoden eine wichtige Möglichkeit, Tierversuche zu ver- standards nicht verwässern. Zudem soll die neue Rege- meiden, und begrüßt daher ausdrücklich die in der Richt- lung im Gegensatz zur alten Richtlinie einer linie verankerte verstärkte Förderung der Entwicklung regelmäßigen wissenschaftlichen Evaluierung unterlie- von Alternativ- und Ergänzungsmethoden. Deutschland gen. Dadurch ist gewährleistet, dass neue wissenschaftli- nimmt bei der Erforschung von Alternativmethoden zum che Erkenntnisse zeitnah für den Schutz der Tiere ge- Tierversuch eine führende Rolle ein. Die Zentralstelle nutzt werden. zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergän- zungsmethoden zum Tierversuch, ZEBET, leistet her- vorragende Arbeit. Diese positive Arbeit der ZEBET Alexander Süßmair (DIE LINKE): Die erste euro- muss weiter genutzt werden und sollte europaweit als päische Tierschutzrichtlinie sollte überarbeitet werden, Vorbild dienen. Eine vielversprechende Möglichkeit, die und dies ist auch nötig; denn sie stammt aus dem Jahr Anzahl von Versuchstieren stark zu reduzieren, bietet die 1986. Ein Entwurf dazu lag im November 2008 vor. Produktion von Impfstoffen mithilfe von gentechnisch Kommission, Rat und Europäisches Parlament haben veränderten Pflanzen. Viele Impfstoffe können bisher diesen Entwurf allerdings in den letzten Monaten massiv nur in lebenden Tieren oder durch das Bebrüten von verschlechtert. Es ist daher völlig richtig, zu fordern, den Hühnereiern hergestellt werden. Die gegenwärtigen For- jetzt vorliegenden Entwurf erneut zu überarbeiten und schungsarbeiten zur Produktion von Impfstoffen in all das wieder aufzunehmen, was den ursprünglichen transgenen Pflanzen sind sehr ermutigend. Beispielhaft Entwurf auszeichnete. Was nun vorliegt, das brauchen sei die Entwicklung von transgenen Erbsen zur Herstel- wir nicht, eine Richtlinie, die dem Tierschutz aus heuti- (B) lung eines Impfstoffes gegen eine hochansteckende und ger Sicht nicht genügt, die haben wir bereits. Sie ist fast (D) tödliche Kaninchenkrankheit genannt. Derzeit kann der 25 Jahre alt. Unverzichtbar im Sinne eines europäischen Impfstoff nur in lebenden Kaninchen produziert werden. Tierschutzes, der diesen Namen verdient hat, und so Die neue Methode ermöglicht es, dass kein Kaninchen stand es ursprünglich auch drin, ist die Beteiligung einer mehr für die Produktion von Impfstoffen gegen diese Ethik-Kommission an Projektbewilligungen von Tier- Krankheit leiden muss. versuchen. Für die Linke muss der Verbrauch von Tieren für Tierversuche – und es handelt sich hier um das Ver- Es gibt Gebiete der medizinischen Forschung, in de- brauchen im wahrsten Sinne des Wortes – sowohl wis- nen auf absehbare Zeit der Verzicht auf Tierversuche senschaftlich gut begründet als auch auf das unbedingt nicht möglich ist. Immer wenn Funktionen des gesamten nötige Maß reduziert werden. Organismus erforscht werden sollen, ist das Ausweichen auf Ersatzmethoden zumeist nicht möglich. Vor der Generell sind Tierversuche nach ihrer ethischen Ver- Durchführung klinischer Studien am Menschen im Rah- tretbarkeit zu beurteilen. Dabei geht es nicht nur immer men der biomedizinischen Grundlagenforschung und der um die Beurteilung des Versuchs an sich. Auch die Hal- experimentellen Pharmakologie sind Tierversuche eben- tung und notwendige Konditionierung von Versuchstie- falls erforderlich, für die es zurzeit noch keine alternati- ren muss in die Beurteilung nach ethischen Gesichts- ven Testverfahren gibt. Zur Erforschung von schwerwie- punkten einbezogen werden. Unverzichtbar sind genden menschlichen Leiden wie Multiple Sklerose, einheitliche Standards zu Qualifizierung des Personals, Alzheimer, Parkinson oder von Tumorerkrankungen und welches Tierversuche durchführen darf, und die Be- zur Entwicklung von Arzneimitteln zur Bekämpfung schleunigung von Verfahren zur Anerkennung von Al- dieser Krankheiten sind Experimente mit Versuchstieren ternativen zu Tierversuchen. Die Entwicklung von Alter- häufig die einzige Möglichkeit, um das erforderliche nativmethoden darf nicht behindert werden. Das und Wissen zu gewinnen. Auch die Erforschung von chroni- weitere Forderungen, die ich in der Kürze der Zeit leider schen Erkrankungen macht Tierversuche sowie die Eta- nicht alle benennen kann, wären für uns effektive Maß- blierung geeigneter Tiermodelle erforderlich. nahmen, um Tierschutz zu gewährleisten. Es ist im Interesse des Tierschutzes geboten, die Zahl Doch es geht ja um noch viel Grundsätzlicheres bei der Tierversuche so gering wie möglich zu halten. Dies dem, was alles nicht geht an diesem Richtlinienentwurf: hat gleichzeitig auch wirtschaftliche Vorteile. Es sollte Die eklatante Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, das darauf geachtet werden, dass die Vorgaben der Richtlinie in Art. 5 des EU-Vertrages festgelegt ist, kann von uns in hinreichend bestimmt sind, sodass in der gesamten Euro- keiner Weise mitgetragen werden. Auf diese Weise soll päischen Union einheitlich hohe Schutzstandards bei ein dauerhaft niedriges Tierschutzniveau zementiert 3306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010

(A) werden, das in den einzelnen Mitgliedstaaten dann auch den Schutz von Versuchstieren zum Ziel haben, könnten (C) in Zukunft nicht mehr angehoben werden kann. Das ist in Zukunft auf nationaler Ebene nicht mehr getroffen undemokratischer Zentralismus zum Nachteil der Tiere. werden. Damit wären dem deutschen Parlament auf lange Zeit die Hände gebunden. Das ist inakzeptabel. Ich wundere mich doch sehr, meine Damen und Her- Die Festlegung auf niedrigstem Niveau widerspricht ren von der CDU/CSU, dass die Initiative, das Subsidia- nicht nur dem im Grundgesetz der Bundesrepublik ritätsprinzip auszuhöhlen, ausgerechnet von Ihnen kommt. Die Gralshüter des Föderalismus und der christ- Deutschland festgelegten Staatsziel „Tierschutz“, son- lichen Soziallehre sind offensichtlich auf den Hund ge- dern auch in eklatanter Weise dem Subsidiaritätsprinzip. kommen. Aber vom Hund wollen Sie ja auch nichts wis- Leider wurde erst auf Druck von Bündnis 90/Die Grünen sen; denn Sie tragen damit die besseren Standards beim die EU-Tierversuchsrichtlinie im Bundestag diskutiert. Tierschutz in Deutschland zu Grabe. Nach Art. 20 a des Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag Grundgesetzes aber hat Tierschutz, hat die Bewahrung „Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethischem unserer natürlichen Lebensgrundlagen nichts Geringeres Tierschutz Rechnung tragen“ auf, sich auf europäischer als Verfassungsrang. Das erfordert in Deutschland gege- Ebene dafür einzusetzen, dass der Richtlinienentwurf benenfalls ein deutlich höheres Engagement als in ande- überarbeitet wird – im Sinne eines umfassenderen Schut- ren Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die dem Tierschutz diese hervorgehobene Stellung nicht einge- zes der zu Versuchszwecken verwendeten Tiere als auch räumt haben. Doch nicht nur unser Grundgesetz, auch in Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip. Zumindest ei- der Lissabon-Vertrag unterstreicht die Bedeutung des nige wesentliche Punkte müssen wieder in die Richtlinie Tierschutzes in Europa. Vor diesem Hintergrund wirkt aufgenommen werden. Dazu zählt die Wiederaufnahme der jetzt vorliegende Entwurf umso unverständlicher. einer ethischen Bewertung von Tierversuchen im Ge- nehmigungsverfahren. Dies war eines der zentralen Haben Sie dem Lissabon-Vertrag zugestimmt? Hat Ziele des Richtlinienentwurfs der EU-Kommission, dieses Hohe Haus den Tierschutz vor nunmehr kapp acht wurde nun aber nahezu vollständig gestrichen. Doch die Jahren zum Staatsziel erhoben, um diesen Schritt nun ethische Bewertung ist unverzichtbar, wenn man Tier- per Gesetz auf EU-Ebene rückgängig zu machen? Einem schutz wirklich ernst nimmt und grausame, unnötige solchen Verfassungsbruch werden wir nicht zustimmen. Tierversuche vermeiden will. Wir fordern, dass Versuche Daher wird meine Fraktion den Antrag der Grünen un- unter Beteiligung einer Ethik-Kommission darauf zu terstützen. prüfen sind, ob sie unerlässlich und angesichts der zu er- wartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Ver- Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE suchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch (B) GRÜNEN): In der EU leiden jährlich rund zwölf Millio- vertretbar sind; der verpflichtende Einsatz von Alterna- (D) nen Tiere in Tierversuchen, Tendenz steigend. Alleine in tivmethoden zu Tierversuchen, sobald diese zuverlässig Deutschland wurden im Jahr 2008 2 692 890 Wirbeltiere zur Verfügung stehen; eine Beschleunigung des Verfah- zu Versuchszwecken verwendet. Um das Leiden der rens zur Anerkennung von Alternativmethoden unter Tiere so weit wie möglich zu begrenzen, brauchen wir Beibehaltung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards gute Regelungen, die dem ethischen Tierschutz Rech- bei vorgeschriebenen Versuchen, um den Verzicht auf nung tragen. Aber genau das leistet die nun vorliegende Versuche an Tieren nicht unnötig zu behindern; ein aus- EU-Tierversuchsrichtlinie nicht. Der jetzt vorliegende nahmsloses Verbot von Verfahren, die mit schweren, vo- Entwurf der EU-Tierversuchsrichtlinie, der im Dezem- raussichtlich länger anhaltenden Schmerzen, Leiden ber 2009 von EU-Kommission, EU-Parlament und Mi- oder Ängsten der Tiere einhergehen; die Qualifizierung nisterrat abschließend verhandelt wurde, hat erhebliche der Versuchsdurchführenden nach einheitlichen Maßstä- Mängel. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurden ben und dass von den Pflege- und Unterbringungsstan- wesentliche Punkte des ursprünglichen Richtlinienent- dards in keinem Fall zulasten der Versuchstiere abgewi- wurfs gestrichen. Wir hatten es begrüßt, dass die EU- chen werden darf. Kommission im November 2008 einen Entwurf zu einer neuen Tierversuchsrichtlinie vorlegte, um endlich bes- Außerdem darf es Deutschland auch nach Inkrafttre- sere Tierschutzstandards bei Tierversuchen zu schaffen ten der Richtlinie nicht verwehrt werden, bessere, über und die stark veraltete Richtlinie von 1986 zu ersetzen. die Richtlinie hinausgehende höhere Tierschutzstan- Doch was jetzt vom Kommissionsentwurf übrig geblie- dards einzuführen. Es ist absolut inakzeptabel, dass ben ist, kann und sollte unsere Zustimmung nicht finden. keine Verbesserungen des Tierschutzes auf nationalstaat- Besonders gravierend ist, dass es den EU-Mitglied- licher Ebene mehr möglich sein sollen. Eine Harmoni- staaten nach Inkrafttreten der Richtlinie verwehrt wer- sierung befürworten wir zwar, auch um den Tierschutz- den soll, über die Vorschriften der Richtlinie hinauszu- standard in anderen EU-Ländern anzuheben. Ein gehen und zukünftig höhere nationale Tierschutz- Abweichungsrecht zum Besseren muss aber immer mög- standards einzuführen. Dies besagt der neu in die Richt- lich sein. Der Bundestag darf einer solchen Selbstent- linie eingefügte Art. 2 A. Diese Vorkehrung würde über machtung nicht zustimmen. Durch die Richtlinie wird bislang übliche und zur Sicherstellung der ordnungsge- für lange Zeit festgelegt, unter welchen Voraussetzungen mäßen Funktionsweise des Binnenmarktes nötige Min- Tierversuche in Europa durchgeführt werden dürfen. destharmonisierungen deutlich hinausgehen. Weitere Das Wohlergehen bzw. das Leid von Millionen von Tie- Vorkehrungen und Beschränkungen, die einen umfassen- ren ist also von dieser Richtlinie abhängig. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. März 2010 3307

(A) Doch die Bundesregierung und die sie tragenden Frak- Es ist enttäuschend, dass die SPD selbst in der Oppo- (C) tionen von CDU/CSU und FDP lässt das kalt. Sie zeigen sition nicht die Kraft findet, ihre Stimme für den Tier- keinerlei Engagement für den Tierschutz. Vielmehr hat schutz zu erheben. sich die Bundesregierung bei den Verhandlungen sogar für Verschlechterungen eingesetzt und sich zum Beispiel Wir Grünen werden uns trotz der heutigen Ablehnung für erleichterte Genehmigungen für Versuche an Men- unseres Antrages weiterhin dafür einsetzen, dass die schenaffen und gegen ein Verbot von Versuchen mit Rechte und der Schutz der Tiere nicht auf der Strecke schweren, lang anhaltenden Schmerzen ausgesprochen. bleiben.

(B) (D)

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