DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 23. Dezember 2005 Betr.: Titel, Tsunami, Fall Görgülü espekt- und bisweilen neidvoll blicken viele Staaten auf die USA – wie das RMutterland des Fortschritts und der Rationalität erscheint der Staat mit den renommiertesten Biotech-Laboren, den reichsten Hochschulen und den meisten Nobelpreisträgern. Doch weite Teile der Bevölkerung leben in einer anderen Welt, wie Jörg Blech, 39, SPIEGEL-Korrespondent in Boston, bei vielen Gesprächen mit Spitzenforschern erfuhr: „Peinlich berührt nehmen die akademischen Stars zur Kennt- nis, dass die meisten ihrer Mitbürger den lieben Gott für den Erschaffer des Menschen halten.“ Genährt und gefördert wird der Glaube an den „intelligenten Designer“ von der religiösen Rechten in den USA. Sie will die moderne Evolutionsbiologie demon- tieren und schickt ihre Missionare in alle Welt. In der Titelgeschichte beschreibt Blech mit seinen Kollegen Rafaela von Bredow, 38, und Johann Grolle, 44, den globalen Feldzug der Wissenschaftsfeinde (Seite 136).

in Seebeben vor Sumatra hatte am 26. De- Ezember 2004 eine Flutwelle ausgelöst, die in Südostasien eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes nach sich zog: Rund 300000 Menschen kamen um, in Thailand waren 5395 Tote zu bekla- gen, etwa 4300 allein im Urlaubsparadies Khao Lak. SPIEGEL-Redakteur Ralf Hoppe, 45, erfuhr ein knappes Jahr danach, „wie traumatisiert die Menschen dort noch immer sind“, obwohl der Wie- deraufbau weit vorangeschritten ist. In der fast voll- ständig zerstörten indonesischen Unruheprovinz

Aceh erlebte Südostasien-Korrespondent Jürgen AARON HUEY / POLARIS Kremb, 48, eine andere Folge des Tsunami: Der Hoppe, Bewohner auf Khao Lak Bürgerkrieg ruht, seit die Regierung und die Re- bellen nach dem Inferno Friedensverhandlungen führen. Doch Krembs Prognose ist düster – Kämpfer der „Bewegung Freies Aceh“ stellten ihm angebliche Selbstmord- attentäter vor, die sie rekrutiert hatten. SPIEGEL-Redakteur Guido Kleinhubbert, 32, fand heraus, zu welch skurrilen Ergebnissen die Spendenbereitschaft der Deutschen führte. So lagern in einer früheren Kaserne unter anderem Videorecorder, die zu- gunsten der Tsunami-Opfer versteigert werden sollten – und auf Tagesgeldkonten ruht Spendengeld in zweistelliger Millionenhöhe (Seiten 60, 110).

er Fall, den SPIEGEL-Redakteur Markus Verbeet, 31, recherchierte, ist in der Ddeutschen Rechtsgeschichte einzigartig. Eine Frau wird von ihrem Freund, dem Türken Kazim Görgülü, 36, schwanger, trennt sich von ihm und gibt den gemeinsamen Sohn gleich nach der Geburt in Leipzig im August 1999 zur Adoption frei. Das Ehe- paar Heiko und Renate Bauer nimmt das Baby in seine Familie auf, um es zu adop- tieren, aber auch Görgülü will das Kind mit seiner neuen Partnerin großziehen. Seit sechs Jahren beschäftigt der Streit die Instanzen bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der die Bundesrepublik wegen einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg an der Saale sogar rügte – und noch immer gibt es keine Lösung. Aber wohin gehört der Sechsjährige? „Beide Familien lieben den Jungen“, sagt Verbeet, selbst Jurist. Er sei

DER SPIEGEL „froh, den Fall als Richter nicht entschei- Ehepaar Bauer, Verbeet (M.) den zu müssen“ (Seite 40).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 52/2005 3 InIn diesem diesem Heft Heft

Titel Neuer Kulturkampf um Darwins Abstammungslehre ...... 136 Ausstellungen in New York, London und Spurensuche nach dem Geiseldrama Seite 22 Dresden erklären die Evolution ...... 142 Ein geheimnisvoller Scheich SPIEGEL-Gespräch mit dem US-Philosophen und ein noch mysteriöserer Daniel Dennett über die Vertreibung Gottes Beduine halfen Deutschlands durch die Naturwissenschaft ...... 148 Unterhändlern, die Geisel Deutschland Susanne Osthoff im Irak frei- Panorama: Kann Merkel die EU-Verfassung zubekommen. Während sich retten? / Das war das Jahr 2005 / die neue Regierung noch über Umfrage zu Deutschlands Rolle in Europa ...... 17 die bestandene Feuertaufe Entführungen: Das Drama um die Irak-Geisel Susanne Osthoff ...... 22 freut, versuchen Geheim- Innere Sicherheit: Minister Wolfgang Schäuble dienstler aufzuklären, wer die irritiert mit seinen Äußerungen über Folter Entführer sind und wer ihre Freund und Feind ...... 26 Hintermänner. Es gibt Spu- Liberale: SPIEGEL-Gespräch mit dem FDP-Chef ren: Osthoffs Fahrer geriet über sein Verhältnis zu Angela unter Verdacht – und einer Merkel und die Möglichkeiten der Opposition ...... 30 MATT MOYER / GETTY IMAGES MOYER MATT der Vermittler, mit dem die Grüne: Eingeklemmt zwischen SPD und Union Osthoff, Begleiter im Südirak (2003) Deutschen verhandelten. suchen die einstigen Alternativen ein neues Profil ... 34 Altlasten: Gifte aus DDR-Zeiten gefährden die Elbe ...... 36 Strafjustiz: Abu Ghureib in Saarbrücken? Kripo im Pascal-Prozess in Erklärungsnot ...... 38 Familien: Wie ein türkischer Vater seit sechs Jahren um sein Kind kämpft ...... 40 Foltern oder foltern lassen Seite 26 Sozialstaat: legt sich mit Für seine Äußerungen zu Folterge- den Krankenkassen an ...... 44 ständnissen wird Bundesinnenminister Parteien: Seltsame Muslime in Hamburgs CDU ... 45 Wolfgang Schäuble (CDU) heftig kriti- Spartricks: Pfennigfuchser nutzen Ikea als Sozialstation ...... 46 siert. Gegen den Vorwurf, das Folter- verbot relativiert zu haben, wehrt er Serie sich zwar – doch im Bemühen, die und der Aufschwung deutsche Demokratie für den Kampf der fünfziger Jahre ...... 48 gegen den Terror zu rüsten, gerät Der Historiker Hans-Ulrich Wehler über die Illusion von der Wiederholbarkeit Schäuble mehr und mehr ins Span- des Wirtschaftswunders ...... 54 nungsfeld zwischen rechtsstaatlichen PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT Gesellschaft Prinzipien und innerer Sicherheit. Schäuble Szene: Rückblick 2005 – Schiedsrichterskandal, Aufstand in Frankreichs Vorstädten, Kate Moss’ Drogensucht ...... 56 Eine Meldung und ihre Geschichte ...... 58 Tsunami: Das thailändische Touristenparadies Seite 72 Khao Lak ein Jahr danach ...... 60 Wo entstehen neue Arbeitsplätze? Hilfsorganisationen horten noch immer Quer durch alle Branchen haben die Unternehmen in diesem Jahr Arbeitsplätze Spendenmillionen ...... 64 abgebaut. Doch es gibt auch Firmen, die neue Mitarbeiter einstellen. Hinter den Ortstermin: Türkische Mütter auf Jubelmeldungen verbergen sich jedoch häufig Teilzeit- und Billigjobs. Drogenpatrouille in Berlin-Kreuzberg ...... 66 Wirtschaft Trends: E.on erwägt rechtliche Schritte im Strompreis-Streit / Ex-AHBR-Vorstände sollen Schadensersatz leisten / Rückblick auf das Jahr der Heuschrecken ...... 69 Wirtschaftswunder Arbeitsmarkt: Immer mehr gutdotierte Arbeitsplätze verschwinden – immer mehr West Seite 48 Billigjobs entstehen ...... 72 Konjunktur: SPIEGEL-Gespräch mit Nach den Zerstörungen des Zwei- EZB-Präsident Jean-Claude Trichet über ten Weltkriegs erholten sich Indu- Inflationsrisiken und deutschen Pessimismus ...... 76 strie, Handel und Konsum erstaun- Deutsche Bank: Ackermann vor Rücktritt? ...... 80 lich schnell. Die SPIEGEL-Serie Landwirtschaft: Amerikanische Saatgut-Firmen über die Gründerjahre beschreibt, missbrauchen Rumänien als Versuchslabor ...... 84 wie das Wirtschaftswunder in den Dienstleistungen: New Yorker Bürger engagieren chinesische Kindermädchen ...... 91 Fünfzigern über Westdeutschland kam und welchen Anteil die Alli- Sport ierten und der Ökonom Ludwig Events: SPIEGEL-Gespräch mit dem Philosophie- TV-YESTERDAY Erhard daran wirklich hatten. Professor Hans Lenk über das Mega-Sportjahr 2006, gedopte Helden und Tennis-Blondinen ...... 92 Fußball: Wie Premiere die Pay-TV-Rechte verlor 96 Fernsehen 1959 Basketball: Chinas Liga wird amerikanisiert ...... 97

6 der spiegel 52/2005 Ausland Panorama: Sperrwall für Tschetschenien? / Sozialistische Wende in Bolivien beunruhigt Brasilien / Die Helden des Jahres 2005 ...... 99 Asien: Die Rivalität zwischen Japan und China ... 102 Kuba: Wie ein früherer CIA-Agent Touristen auf Castros Insel lockt ...... 105 Ukraine: SPIEGEL-Gespräch mit Präsident Wiktor Juschtschenko über die „orange Revolution“, seine Vergiftung und die Revancheversuche des alten Regimes ...... 106 Indonesien: Der Frieden nach dem Tsunami ...... 110 Global Village: In Kalkutta müssen handgezogene Rikschas dem Fortschritt weichen ...... 114 Kultur

ZURAB KURTSIKIDZE / PICTURE-ALLIANCE / DPA / PICTURE-ALLIANCE KURTSIKIDZE ZURAB Szene: Joyce Carol Oates auf der Suche nach sich Juschtschenko, Timoschenko (Dezember 2004) selbst / Höhen und Tiefen im Kulturjahr 2005 ...... 115 Kino: Hollywoods Tabubruch – Oliver Stone verfilmt die Anschläge vom 11. September 2001 ... 118 Pop: US-Komponist Burt Bacharach präsentiert Kiews einsamer Präsident Seite 106 ein Protestalbum gegen Bushs Politik ...... 122 Ein Jahr nach dem Machtwechsel in der Ukraine sind die Führer der „orange Revo- Kulturpolitik: Interview mit dem Schweizer lution“ zerstritten, die Wirtschaft ist schwer beschädigt. Der Kurs der Regierung war Schriftsteller Adolf Muschg über den Hauskrach in der Berliner Akademie der Künste ...... 124 falsch, schuld sei Ex-Premier Julija Timoschenko gewesen, sagt Staatschef Wiktor Ausstellungen: Irakische Kunst in Berlin ...... 126 Juschtschenko im SPIEGEL-Gespräch – nun aber gehe es wieder aufwärts. Bestseller ...... 127 Autoren: In seinem Roman „Menschenflug“ begibt sich Hans-Ulrich Treichel noch einmal auf Brudersuche ...... 128 Stars: Sexsymbol Scarlett Johansson brilliert in Künstliches Kind Seite 154 Woody Allens „Match Point“ ...... 130 Wissenschaft · Technik Elf europäische Forschungsinstitute bauen einen neu- Prisma: Drohnenboote gegen Piraten / gierigen kleinen Roboter, der krabbeln kann, mit Förm- Früherkennung gefährlicher Vulkanwolken / chen spielt und aus seinen Erfahrungen lernt. Nur so, Schlaglichter 2005 ...... 133 glauben die Forscher, werden Maschinen intelligent. Automobile: Die schnellste aller Limousinen kommt aus Bottrop ...... 152 Forschungsobjekt „Robotcub“ Künstliche Intelligenz: Ein krabbelnder

ROBOTCUB KONSORTIUM ROBOTCUB Roboterjunge soll die Welt erkunden ...... 154 Tiere: Rettungsaktion für Eisbär-Waisen ...... 156 Unfallforschung: Wie gefährlich ist Weihnachten? ...... 158 Eisbären in Medien Trends: ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut der Klimafalle Seite 156 attackiert ARD / Bavaria soll zahlen ...... 161 Fernsehen: Vorschau/Rückblick ...... 162 Eisbären sind Opfer des Klimawandels: Weil das Rückblick: Lexikon des Medienjahres 2005 ...... 164 Eis zurückgeht, erreichen viele Tiere ihre Jagd- gründe nicht mehr. Geschwächte Tiere brechen

ARCTICPHOTO / LAIF ARCTICPHOTO sogar ein und ertrinken. Eine kanadische Biologin Briefe ...... 8 Eisbär-Muttertier, Junge will zumindest die Eisbär-Waisen retten. Impressum, Leserservice ...... 168 Chronik ...... 169 Register ...... 170 Personalien ...... 172 Hohlspiegel / Rückspiegel ...... 174 Scarletts Matchball S. 130 Titelbild: Illustration Braldt Bralds / DER SPIEGEL Nach „Lost in Translation“ und „Das Mäd- chen mit dem Perlenohrring“ galt Scarlett Das runde Glück Johansson als Jungtalent mit Zeug zum Su- perstar. Doch keiner ihrer folgenden Filme Der Fußballweltmeisterschaft erfüllte die Erwartungen. Nun aber brilliert widmet der KulturSPIEGEL, die Amerikanerin als gescheiterte Schau- das Magazin für Abonnenten, spielerin in Woody Allens „Match Point“, dieses Mal seine ganze Aus- einer Sozialsatire über einen Tennislehrer. gabe: mit Geschichten über alle 32 Mannschaften, die bei

Johansson PRESS / ACTION REX FEATURES dem Turnier antreten.

7 Briefe

Vielen Dank für die ausgezeichnete Titel- geschichte. Unklar bleibt nur die Aussage, Mozart sei „durch und durch katholisch“ „Ein guter Start ins neue gewesen. Gewiss, von Salzburg her war er stark katholisch sozialisiert. Aber es gibt (Mozart-)Jahr! Nicht nur zum keinerlei Anhaltspunkte, dass Mozart in Wien auch nur einigermaßen regelmäßig Einstimmen, sondern den Gottesdienst besucht hätte. Eine in den ersten Wiener Jahren begonnene Mes- auch zum Klügerwerden.“ se ist unvollendet liegen geblieben. Die an- gestrebte Stelle in der Domkapelle zu St. Stephan sollte allein der wirtschaftlichen Ute Uelsmann aus Unterlüss in Niedersachsen zum Titel Absicherung dienen; unvorstellbar, dass „Mozart – Das himmlische Kind“ Mozart es dort bei seinem Freiheitswillen, SPIEGEL-Titel 51/2005 seinem quirligen Naturell und seiner Vor- liebe für Opern mit durchaus unfrommen Sujets lange ausgehalten hätte. sen“ genutzt habe. Er mag auf leicht er- Bergisch Gladbach Hagen Körber Das Wichtigste auf der Welt kennbare biografische Enthüllungen weit- Nr. 51/2005, Titel: Mozart – Das himmlische Kind gehend verzichtet haben. Aber Mozarts Es ist ja nicht so einfach, Mozarts Zeit, ihre ganzes Schaffen war doch ein einziges per- Auswüchse und die für einen Komponisten Entwaffnend gut diese Titelgeschichte! Sie sönliches Bekenntnis: dass die Musik für daraus erwachsenden Seelenqualen und zeigt Mozart als Menschenkenner, als mo- ihn das Wichtigste auf der Welt ist. Lebensumstände auf ein paar Blätter zu dernen Künstler und seine Sehnsucht nach Thessaloniki Georgios Albanidis bannen, ohne in den Matsch kontemplati- Popularisierung, die Wirkung seiner Musik ver Unschärferelationen zu geraten. Ihren bis hin in die U-Bahnhöfe 2005. Bis heute Autoren ist dennoch eine ausnehmend gute habe ich keine so prägnante Mischung von Titelgeschichte gelungen. Die Auswahl der Biografie, Werkbeschreibungen und Mi- Lebensstationen, auch der Musikbeispiele lieuschilderungen der Mozart-Zeit auf we- und die fast atemlose, die Journalisten vom nigen Seiten gefunden. Ganz besonderen Nachdenken über Mozart offenbar selbst Dank für diesen Satz: „Ein Komponist, der berührende Begeisterung packt hoffent- uns verändert, wenn wir ihm zuhören.“ lich nicht nur Mozart-Verehrer wie mich, Bad Lauterberg im Harz Helmut Höltje sondern auch solche, deren Sicht auf die riesige humane Welt der Musik von ih- Dass Sie die Mythen und Märchen über rem Mega-Meta-Bohlismus rücksichtslos das Genie, das seiner Zeit voraus war, als dümmlich verkleinert wird. solche benennen, aber nicht verdammen, Riedenburg Franz Hummel gefällt mir. Dass Sie sich mit so viel Herz und Sympathie ins Zeug gelegt haben, beweist, dass es die Mythen und Märchen Die ganze Weisheit des alten Europa zu Recht gibt – der SPIEGEL lässt sich Nr. 49/2005, Serie: Zwischen schließlich nicht ohne Grund zu so viel Be- Hungerjahren und Wirtschaftswunder; Nr. 50/2005, geisterung hinreißen. Die Entstehung der Bundesrepublik – Hamburg Peter Theophil eine Staatsgründung aus dem Geist der Vorsicht AKG Leider ist offenbar auch der SPIEGEL Mozart-Bildnis (1770) Dank und Vorwurf zugleich an den SPIE- nicht bereit, liebgewordene Legenden Seiner Zeit voraus GEL. Dank dafür, dass den Nachgebore- durch Fakten zu entzaubern. Das Requiem nen diese „bleierne“ Zeit zur Kenntnis hat Mozart nicht, wie geschrieben, mit dem Da es einleuchtet, dass die Verbrechens- gebracht wird. Vorwurf, weil durch die achten Takt des Lacrymosa abbrechen las- rate sinkt, wenn U-Bahnhöfe mit Mozarts wirklichkeitsnahe Aufbereitung lange Ver- sen. Vielmehr hat er auch noch mindestens Musik beschallt werden, sollte man viel- drängtes schmerzhaft wieder präsent ist. das anschließende Offertorium kompo- leicht per Uno-Dekret eine Beschallung al- Wir Kriegskinder waren und sind geprägt niert. Das Lacrymosa bricht zwar in der ler Krisengebiete unserer Erde mit Mozarts durch Entwürdigungen: Hunger, Armut, Tat ab. Mozart hatte allerdings offenbar Kompositionen veranlassen. Mozarts Mu- Schläge in Schule und Elternhaus sowie eine umfangreiche Amen-Fuge über das sik als Friedensstifter – ein Geniestreich! durch Ohnmacht gegenüber durch nichts Requiem-Thema am Ende der Sequenz Hamfelde (Schl.-Holst.) Marita Schmitt als begrenzte Machtbefugnisse legitimierte vorgesehen, deren Skizze des Anfangs er- halten geblieben ist. Den Abbruch haben verschiedene namhafte Mozart-Forscher Vor 50 Jahren der spiegel vom 28. Dezember 1955 logisch damit erklärt, dass Mozart mög- Kritik an Bank deutscher Länder Schlag gegen die Konjunktur. General licherweise die harmonische Verbindung zu Erich Mielke wirbt CSU-Mitarbeiter als Spitzel Lemmers Erlebnisse im diesem „Amen“ noch bis zur eigentlichen Ostsektor. Käuferansturm aus dem Saargebiet auf deutsche Läden Ausarbeitung der Fuge offen lassen wollte. Franc oder Mark? Opel-Arbeiter bestreiken Busunternehmen Höhere Bremen Benjamin-Gunnar Cohrs Preise trotz kürzerer Strecke. Schadensersatzforderung eines zwangs- Dirigent und Musikwissenschaftler sterilisierten Bauern Schreiendes Unrecht. Briten streiten um Heroin- verbot Verlängerung der Herstellungslizenzen um ein Jahr. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de Sie schreiben, dass Mozart seine Musik oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. „weit weniger als seine romantischen Titel: Raketenforscher Wernher von Braun Nachfolger zu persönlichen Bekenntnis-

8 der spiegel 52/2005 Briefe

steckt staatsphilosophisch die ganze Weis- schon immer zur Weißglut gebracht. Da heit des alten Europa. klingt die Anlage spät abends (am besten Jena Prof. Dr. Rolf Gröschner mit einem Gläschen Wein in der Hand) Lehrstuhl für Öffentliches Recht deshalb besser als morgens vor der Arbeit, und Rechtsphilosophie weil das Stromnetz nicht durch Waschma- schinen verschmutzt ist. Die Stimmung, die Psyche des Hörers ist dabei eine ir- Subtile Wühlarbeit relevante Größe, mit ihr lässt sich ja kein Nr. 49/2005, Interessenverbände: Wie Lobbyisten die Geld verdienen. schwarz-rote Koalition bedrängen Oldenburg (Nieders.) Tim Oesterlau

Den Artikel, der mit seinen konkreten Bei- Hoppla, bereits rund 20 Jahre nach Be- spielen meine schlimmsten Befürchtungen kanntmachung des dicken Lautsprecher- bestätigt hat, müsste man millionenfach kabels und manch anderer Meilensteine kopieren und jedem Wahlberechtigten zu- für den besseren Klang entdeckt der SPIE- schicken, damit jeder merkt, dass wir nicht GEL das Thema. Und empfiehlt prompt von unseren gutbezahlten sogenannten die Rückkehr in die Hi-Fi-Steinzeit. Ihr Ar- „Volksvertretern“ regiert werden, sondern tikel zeigt, dass Sie gut schreiben, aber of- von den Lobbyisten. fenbar schlecht hören können. Pech, dass SPIEGEL-Leser Hecker (1953) Bayerisch Gmain Marlis Kadavanich die Zeitschrift „Stereo“ seit exakt zehn Abo auf Raten Jahren monatlich öffentliche Workshops Es ist schon erschreckend, wie willfährig durchführt, in denen es immer wieder Pseudoautoritäten. Mir wird erst jetzt be- Regierung und Ministerialbürokratie der mal um mehr oder minder abseitiges Zu- wusst, warum ich bei meiner Beschäfti- subtilen Wühlarbeit von Lobbyisten aller behör für die Hi-Fi-Anlage geht. Tausende gung mit der Vergangenheit das 17. Jahr- Art auf den Leim gehen. Da bleibt nur die von Audiophilen haben sich mit eigenen hundert bevorzuge und die Nachkriegszeit Hoffnung, dass die Regierungsfraktionen Ohren von dessen Wirkung überzeugen ausgeblendet habe. im Sinne des SPD-Fraktionsvorsitzenden können. Pulheim (Nrdrh.-Westf.) Winfried Becher Peter Struck tatsächlich keine „Abnick- Euskirchen (Nrdrh.-Westf.) Matthias Böde vereine“ sind. Sehr zuversichtlich bin ich Chefredakteur „Stereo“ Diese Serie wird alle, die diese Zeit erlebt allerdings nach den Erfahrungen der ver- haben, besonders berühren. Alles war so, gangenen Legislaturperioden nicht, dass Ihr Artikel fasst den ganzen Schwachsinn, wie Sie es beschreiben. Den Einfluss des die Mauscheleien nicht ins Kraut schießen. der mit der Wiedergabetechnik getrieben SPIEGEL können Sie heute gar nicht er- Und am Ende ist – wie üblich – der Nor- wird, sehr schön zusammen. Die Hardcore messen. Wir hatten wenig Geld. In dem malbürger der Dumme, wie unter ande- „HighEnten“ geben lieber Tausende Euro Amt, wo ich beschäftigt war, teilten wir rem bei der schamlosen Energiepreis- für albernen, sinn-, und wirkungslosen uns jede Woche einen SPIEGEL. Wer ihn abzockerei derzeit auf offener Bühne zu Schnickschnack aus, als auch nur einen kaufte, durfte ihn zuerst lesen. Als wir hei- bestaunen ist. Gedanken in die Bearbeitung der Raum- rateten, schenkte ich meinem Mann nicht Obernburg (Bayern) Heinrich Weitz akustik zu investieren. Was bekanntlich so- etwa zu Weihnachten Nützliches (was fort wirkt und vergleichsweise günstig ist. angebracht gewesen wäre), sondern ein Köln Michael Gorny Abonnement des SPIEGEL – auf Raten! Albern, sinn- und wirkungslos Das konnte man damals! Nr. 50/2005, Audiophilie: Lufttuning und Stromreinigung Schade, dass unsere kritische – und von Bonn Alice Hecker – esoterische Leidenschaften der Hi-Fi-Freaks manchen Freaks heftig angefeindete – Aus- einandersetzung mit dem Thema „Teure Jede Kritik der fünfziger Jahre – wie sie Schon wahr, dass unser Hobby manchmal Stromkabel – Abzocke oder Klangge- besonders in den Leserbriefen (49/2005) seltsame Blüten treibt. Bin selbst jahrelang winn?“ („Audio“ 12/2005) nicht erwähnt zum Ausdruck gekommen ist – greift zu durch die audiophile „Hölle“ gegangen wird. Vor dem „Sound Improver“ hatten kurz, wenn sie den Blick auf die Gegen- und habe ein halbes Vermögen in besagte wir auch mal gewarnt. Bitte nicht alle, die wart außer Acht lässt. Nostalgie beinhaltet Gerätschaften gesteckt. Besitze nun seit gut und gerne Musik hören, in einen Spin- immer auch eine Kritik der eigenen Zeit: etwa fünf Jahren einen Röhrenverstärker ner-Topf werfen. keine Familie, keine Kinder, keine Kirche, und habe seitdem meinen Seelenfrieden Stuttgart Lothar Brandt keine Werte, keine Moral. Wen wundert’s, gefunden. Die Wirkung der Schraubsiche- Geschäftsführender Redakteur „Audio“ dass es mit unserem Land bergab geht, rung mit Goldfaden, die ich mir während es damals bergauf ging?! voriges Jahr zu Weihnachten ge- Bonn Dr. Wilfried Westphal schenkt habe, hat mich dann doch ins Grübeln gebracht. Mal Die ganze Weisheit der Gründerjahre sehen, was in den nächsten Jah- steckt nicht erst in der Trias von Demo- ren weitere Erkenntnisse aus der kratie, Rechts- und Sozialstaat, sondern Quantenphysik bringen. schon im Staatsnamen. Denn „Republik“ Heinsberg-Porselen (Nrdrh.-Westf.) bedeutete für die Gründerväter und -müt- Hardi Kricke ter der Bundesrepublik Deutschland mehr und anderes als die bloße Negation der Obwohl ich mich wohl selbst als Monarchie: die Konstituierung eines „Frei- Hi-Fi-Freak bezeichnen muss, staates“, das deutsche Synonym für das haben mich die erkenntnisresis- lateinische Lehnwort Republik, das heißt tenten „Voodooisten“, welche einer durch Freiheit legitimierten, am ihrerseits die Empirie als Zau-

Gemeinwohl orientierten und in Ämtern berkunst und physikalische Ge- REINHARD KURZENDÖRFER / IMAGO organisierten politischen Ordnung. Darin setze als Scharlatanerie abtun, Junge Musikkonsumentin: Seltsame Blüten

12 der spiegel 52/2005 Briefe

danken und möchte den Befürwortern des und der Politik? Ist dann einer flexibel und Mit Sachkunde und Heimatliebe Ausbaus Folgendes mit auf den Weg ge- kann beides, dann schlägt die Stunde der Nr. 50/2005, Umwelt: Die Bundesregierung will die Elbe ben: Bitte nehmen Sie die Elbe nicht (nur) Neider und Heuchler. für die Binnenschifffahrt weiter ausbauen als Wasserstraße wahr, sondern auch und Bad Schwalbach (Hessen) Rudi Sander vor allem als das, was sie ist, nämlich ein Glückwunsch zu diesem hervorragenden natürlicher und unverbauter Fluss, der für Gasprom-Gerd demontiert nun seine eige- Artikel. Noch drei Fakten zur Untermaue- uns und kommende Generationen einen ne Legende als Reserve-Bismarck und ou- rung der wirtschaftlichen Sinnlosigkeit der großartigen Wert an sich darstellt. tet sich als der, der er immer war: ein ma- Binnenschifffahrt: Ein Elbschiff kostet den Berlin Horst Meierhofer, MdB nisch ich-bezogener Polit-Emporkömmling. Steuerzahler durchschnittlich 500 000 Euro Sprecher für Gewässerschutz (FDP) Subventionsmittel. Den von Ihnen er- wähnten 15 000 Angestellten der Wasser- Es überraschte ja nicht wirklich, dass nach und Schifffahrtsverwaltung stehen ledig- der Elbe-„Jahrhundertflut“ 2002 den wohl- lich etwa 6800 Arbeitsplätze in der Bin- feilen Politikerbekenntnissen („Gebt den nenschifffahrt gegenüber. Wäre die Elbe Flüssen mehr Raum…“) kaum entspre- auf tschechischem Gebiet beim Elbehoch- chende Taten folgen würden. Dass aber wasser 2002 ausgebaut gewesen, so wäre statt notwendiger Deichrückverlegungen der Hochwasserscheitel Berechnungen zu- und „Auenrevitalisierung“ nun sogar wei- folge 1,4 Meter höher ausgefallen. Was das tere Drangsalierungen des Ökosystems angerichtet hätte, möge sich bitte jeder Elbe auf der Agenda stehen, lässt mich selbst ausmalen. schier verzweifeln. Es braucht noch viele Berlin Uli Christmann weitere Ernst Paul Dörflers, die sich mit naturkundlichem Sachverstand, aber auch Die Elbe ist eine Bundeswasserstraße und mit Emotion und – ja doch – Heimatliebe Bestandteil des europäischen Wasser- den Schmalspur-Technokraten entgegen- straßennetzes, zu deren Unterhaltung die stellen. Bundesrepublik verpflichtet ist. Herr Dörf- Dannenberg/Elbe (Nieders.) Christian Fischer ler verbreitet Horrorgeschichten in seiner selbstgewählten Rolle als Totengräber der Der Botschaft des Beitrages, es gäbe kei-

Elbschifffahrt. Trotz schlechterer Schiff- nen Kompromiss zwischen Umweltschutz, DPA / PICTURE-ALLIANCE/ KURTSIKIDZE ZURAB fahrtsbedingungen durch die Folgen des Schifffahrt und Hochwasserschutz, ist zu Freunde Schröder, Putin Hochwassers 2002 und ungenügender Un- widersprechen. Umwelt à la Steinzeit und Heuchelei allerorten? terhaltung wurden in Sachsen-Anhalt 2004 unser heutiges Lebensniveau sind nicht zu rund 3,5 Millionen Tonnen im Elbegebiet vereinbaren. Es gibt nur einen Kompro- Für seine Kumpanei mit Putin („ein lu- umgeschlagen, die ansonsten hauptsäch- miss von vernünftiger wirtschaftlicher Ent- penreiner Demokrat“, hahaha) haben die lich auf dem Lkw gelandet wären. Eine der wicklung und notwendigem Umweltschutz. Russen das gleiche Sprichwort wie wir: Natur überlassene Elbe vergrößert die Schönebeck/Elbe Jochen Klapperstück „Ruka Ruku moet!“ Eine Hand wäscht die Hochwassergefahr, und der Wegfall der andere! Schifffahrt führt zum Verlust vieler Ar- Köln Helmar Meinel beitsplätze. Aus Gas Kohle machen Aken (Elbe) Hansjochen Müller Nr. 50/2005, Panorama – Gas-Pipeline: Bewundern wir doch den Energiezaube- Bürgermeister Fragwürdige Gesellschaft rer Schröder: Er macht aus Gas Kohle. Hamburg Gerald Böhnel Natürlich ist es unsere Aufgabe, Alternati- Es zeichnet sich schon lange ab, dass ven zum Transportverkehr auf unseren Schröder nicht zwischen seinem Wohl und Man kann sich über das Pharisäertum in Straßen zu finden. Die Frage ist jedoch: dem des deutschen Volkes unterscheiden der Politik angesichts der Diskussion Sind die geplanten Mittel verhältnismäßig? kann. Sollte man das wegen seiner „Ver- über die Anschlusskarriere des Ex-Kanz- Im Fall des geplanten Elbausbaus scheint dienste“ übersehen? Nein, man sollte ge- lers nur wundern. Fest steht jedenfalls, dies nicht so zu sein. Ich möchte mich für nauer hinsehen und ihm seine vielen dass Schröder wohl alle politischen Äm- den sehr gut recherchierten Artikel be- Unverfrorenheiten aufs Butterbrot schmie- ter niedergelegt hat. Demgegenüber be- ren. Übrigens wäre das kommen aber etliche Bundestagsabgeord- auch gut für die Sozial- nete als Lobbyisten ihr zusätzliches Salär demokratie. Die schein- während der Mandatsausübung, wofür heilige Meinung, dass wohl? Und so bleibt letztlich festzustel- ein solcher Jobwechsel len, dass man keinesfalls mit Steinen generell in Ordnung sei, schmeißen sollte, wenn man im Glashaus gehört wohl auf den sitzt. Misthaufen. Münster/Dieburg (Hessen) Peter Burkard Koblenz Gerhard Birkhahn Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Welch eine Heuchelei schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. allerorten. Hat es nicht Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected] jahrelang geheißen, ge- rade in besonders libe- In der Heftmitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich ral sich dünkenden Krei- in einer Teilauflage ein vierseitiger Beihefter der Firma Lexware, Freiburg. Eine Teilauflage enthält eine Beilage sen, es müsse viel mehr der Firma SPIEGEL TV (Kabel Deutschland), Hamburg,

CHRISTIAN KAISER / LAIF CHRISTIAN Austausch geben zwi- sowie die Verlegerbeilage SPIEGEL-Verlag/KulturSPIE- Elbschifffahrt bei Hitzacker: Mehr als eine Wasserstraße schen der Wirtschaft GEL, Hamburg.

14 der spiegel 52/2005 Panorama Deutschland

VERTEIDIGUNG Europäische Kommission in Brüssel Ruppige Ratschläge erteidigungsminister Franz Josef VJung (CDU) bekam bei seinem An- trittsbesuch in Washington am vergange- nen Montag die volle Härte seines US- Kollegen Donald Rumsfeld zu spüren. Zwar zeigte sich Jung nach dem Treffen „froh und glücklich“ über die angeblich „positive Grundstimmung“. Tatsächlich aber hatte Rumsfeld den Gast gleich nach der Begrüßung ruppig angeherrscht, wann Deutschland gedenke, seinen Ver- teidigungsetat endlich auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, was eine Steigerung von derzeit 24 auf 45 Milliarden Euro erfordern würde. Öf-

DAVID AUSSERHOFER / JOKER DAVID fentlich sah Jung keinen Anlass, die Fol- tervorwürfe gegen die CIA anzusprechen EUROPA – bei Rumsfeld fragte er aber sehr wohl nach dem Anti-Folter-Gesetzentwurf von Senator John McCain. Prompt traktierte Merkel will Verfassung retten der Gastgeber den Neuling mit einem Vortrag über die Rechtslage in den USA ach ihrem Vermittlungserfolg beim durchsetzbar sein sollte, gibt es eine an- und erklärte sogar, dass einschlägige NEU-Gipfel in der vergangenen Wo- dere Option. Dann könnten möglicher- Dienstvorschriften der Armee bald Ge- che in Brüssel will Bundeskanzlerin An- weise Teile des Vertrags in Kraft gesetzt setzesrang erhalten würden. Für Ände- gela Merkel (CDU) die Grundlinien ihrer werden, so die Überlegung. Spätestens rungen bleibe aber er selbst zuständig, Europapolitik festlegen. Bei einer Kabi- zum Ende der deutschen Präsidentschaft nicht etwa der Kongress. nettsklausur am 9. und 10. Januar im am 30. Juni 2007 will Merkel Klarheit brandenburgischen Schloss Genshagen schaffen. Mit ihrem Eintreten für die Ver- wird die Ministerrunde nach dem Willen fassung stellt sich die Kanzlerin gegen Merkels die deutsche EU-Ratspräsident- die Vorschläge des belgischen Minister- schaft im ersten Halbjahr präsidenten Guy Verhof- 2007 vorbereiten. Einen stadt, der die Schaffung Schwerpunkt soll dabei eines „Kerneuropas“ vor- die EU-Verfassung bil- geschlagen hatte. Danach den, an der die Kanzle- würde ein Teil der EU- rin trotz der ablehnenden Staaten künftig enger Voten in einigen Mit- kooperieren, um eine gliedsländern festhalten Lähmung der Union zu will. Das Kabinett soll verhindern. Dagegen sagt Strategien diskutieren, Merkel: „Wir müssen wie das Vertragswerk ge- einen Weg finden, das rettet werden kann. Für Europa der 25 so zu ge-

den Fall, dass die Verfas- / REUTERS YVES HERMAN stalten, dass es hand-

sung als Ganzes nicht Merkel lungsfähig bleibt.“ / REUTERS ROBERTS JOSHUA Jung, Rumsfeld

ABGEORDNETE Den Grünen und der Linkspartei reichen die neuen Offen- legungspflichten nicht, Union und FDP gehen sie zu weit. Nebeneinkünfte werden öffentlich Auch Lammert, seinerzeit Vizepräsident des Bundestags, hat- te die Befürchtung geäußert, die Anzeigepflichten der von der b 2006 müssen die Bundestagsabgeordneten ihre Einkünf- rot-grünen Koalition verabschiedeten Verhaltensregeln seien Ate aus Nebentätigkeiten offen legen. Bundestagspräsident zu rigide und könnten Probleme verursachen. Diese Befürch- (CDU) wird ab Januar den vom tung habe er zwar „immer noch“, so der jetzt zum Parlaments- beschlossenen Verhaltenkodex erstmals anwenden. Bis Ende präsidenten aufgerückte Lammert. Gleichwohl werde er die März müssen die Volksvertreter ihre Nebenjobs und die unge- damals gefasste und nach der vorgezogenen Wahl vom neuen fähre Höhe der dabei erzielten Einkünfte im Handbuch des Bundestag übernommene Regelung anwenden: „Die Verhal- Parlaments veröffentlichen. Bisher genügte es, dies dem Bun- tensrichtlinien sind beschlossen und in Kraft, und wer sie än- destagspräsidenten mitzuteilen. dern will, muss dazu Anträge stellen.“

der spiegel 52/2005 17 ZITATE 2005 Panorama · Rückblick 2005 »Die hat von Kohl über Schäuble bis Merz immerhin die halbe CDU-Führungsriege hin- KARRIEREN KIRCHE gemeuchelt. So eine brauchen NEUWAHLEN wir!« Wo bleibt Habemus papam Basilius Streithofen, Dominikanerpater, Ein dramatischer über die Unions-Kanzlerkandidatin Simonis? ir sind Papst“, bejubelte Abend WDeutschlands auflagen- igentlich war schon alles stärkste Tageszeitung „Bild“ »Glauben Sie im Ernst, dass ie Überraschung war ge- Eklar im platten Land zwi- die Wahl des ersten deut- meine Partei auf ein Gesprächs- Dlungen: Gerade wurden schen Nord- und Ostsee: Nach schen Oberhaupts der katho- angebot von Frau Merkel bei die ersten Hochrechnungen der schleswig-holsteinischen lischen Kirche nach 482 Jah- dieser Sachlage einginge, indem über die verheerende Nieder- Landtagswahl im Februar ren auf den Heiligen Stuhl. sie sagt, sie möchte Bundes- lage der SPD bei der Land- wollte sich von Seit dem „habemus papam“ kanzlerin werden?« tagswahl in Nordrhein-West- ihrer SPD, den Grünen und Bundeskanzler Gerhard Schröder falen bekannt, da holten Bun- dem Südschleswigschen am Wahlabend in der Fernsehsendung deskanzler Gerhard Schröder Wählerverband (SSW) wieder »Berliner Runde« und SPD-Chef Franz Münte- zur Ministerpräsidentin fering zum Befreiungsschlag wählen lassen. Die angestrebte »Irgendjemand muss ihm aus – Neuwahlen zum Bun- Koalition hatte zwar nur eine jetzt mal erklären, dass er die destag müssten rasch her, for- Stimme Mehrheit, aber da Wahl verloren hat.« derten sie, um „für den Re- wäre Simonis nicht die Erste Christian Wulff, CDU-Ministerpräsident formkurs eine Mehrheit zu gewesen, die so über eine Le- von Niedersachsen, über Gerhard Schrö- bekommen“. Der Wahlsieger gislaturperiode kommt. Dumm ders Weigerung, auf das Kanzleramt des Tages wurde vom nun zu verzichten nur: Einer ihrer Gefolgsleute entstehenden Tohuwabohu versagte ihr am 17. März im zur Seite gedrängt: Kaum ei- Kieler Landtag die Stimme – »Die von CDU/CSU geplante ner kümmerte sich mehr um und das gleich in vier Wahl- Mehrwertsteuererhöhung ist für den neuen Landesvater Jür- gängen hintereinander. Ge- Wachstum und Beschäftigung gen Rüttgers, der an jenem demütigt musste Simonis ihr das, was in gebrauchten Win- 22. Mai mit seinen Christde- Amt an den CDU-Kandidaten deln drin ist.« mokraten einen historischen abge- SPD-Fraktionsvize Erfolg errungen hatte. Bald ben, nicht ohne die Öffentlich- darauf begann das Rätseln keit wissen zu lassen, dass sie »Jetzt kommen zwei Prozent um Schröders Basta-Initiati- den Verräter kenne. Die So- Merkelsteuer und ein Prozent ve: Wollte der Kanzler in der zialdemokratin hatte der poli- Müntesteuer noch obendrauf.« tiefsten Krise der Sozialde- tische Instinkt verlassen – die mokratie auch noch politi- Große Koalition, die ihrem Guido Westerwelle, FDP-Vorsitzender, zu den Plänen der Regierung, die Mehr- Abgang folgte, hätte sie auch / AFP MARI ARTURO wertsteuer zu erhöhen früher haben können. Nur al- Benedikt XVI. lerdings unter der Vorausset- »Ich kann leider kein zung, dass sie selbst nicht am 19. April in Rom reißt das Einreiseverbot für Zugvögel mehr die Regierung anführen Wohlwollen in der Öffentlich- verhängen.« würde. Simonis’ Kommentar keit für Papst Benedikt XVI. dazu: „Und wo bleibe ich alias Joseph Ratzinger nicht Innenminister auf die Frage, ob im Zusammenhang mit der dann?“ Die Frage ist inzwi- ab: Rund eine Million Gläubi- Vogelgrippe spezielle Grenzkontrollen zu schen beantwortet: Derzeit ge feierten ihn beim Weltju- erwarten seien wirkt die Ex-Ministerpräsiden- gendtag in Köln wie einen PEER GRIMM / DPA tin als Vorstandsmitglied des Popstar, Benedikts General- Schröder »Es bleibt die Frage: Versteht Kinderhilfswerks Unicef in audienzen auf dem Peters- den Hunger- und Armutsge- platz sind ein Besucherma- Condoleezza Rice unter Folter schen Selbstmord begehen? bieten Afrikas, zum 1. Januar gnet, sein Geburtsort Marktl das Gleiche wie wir?« Oder glaubte er tatsächlich, wird sie dessen Deutschland- am Inn ist neues Pilgerziel. Karsten Voigt, SPD, Koordinator für die rot-grüne Koalition in Vorsitzende. Die zahlreichen Kritiker des deutsch-amerikanische Zusammenar- Berlin auf diese Weise retten beit, zum Folterverdacht gegen die CIA einst als „Panzerkardinal“ zu können? verschrienen vormaligen Immerhin: Die Genossen Chefs der vatikanischen rückten zusammen, Schröder Glaubenskongregation sind rehabilitiert, noch ist er bis- legte einen fulminanten dagegen auffallend still, vor her von irgendeiner seiner Wahlkampf hin und führte allem, nachdem der neue erzkonservativen Haltungen seine Partei so aus den tiefs- Pontifex im Herbst den vor 25 öffentlich abgewichen: Verhü- ten Umfrageniederungen her- Jahren in Ungnade gefallenen tung und Abtreibung sind des aus. Schweizer Theologen Hans Teufels, Homosexualität ist Die Zuneigung zwischen Küng empfangen hat. Man aus Sicht des Vatikans eine Rot und Grün schwand hinge- könne „in der Kirche wieder Krankheit, und wieder ver- gen rasch dahin: Mit ihm sei freiere Luft atmen“, gab sich heiratete Geschiedene wer- die Neuwahlentscheidung Küng hinterher beeindruckt. den vom Abendmahl ausge- ja auch nicht abgestimmt ge-

ULRICH PERREY / DPA ULRICH Dabei hat der Papst den Kir- schlossen. Und natürlich: Es wesen, grummelte Joschka Simonis, Carstensen chenkritiker weder offiziell bleibt beim Zölibat. Fischer.

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schreckenschwärmen“, die ben an der öffentlichen über Unternehmen herfal- Macht!“, schrieb sie 1993 len, sie kahlfressen und in einem Artikel für die weiterziehen würden. Der Zeitschrift „Emma“. Im Historiker Michael Wolff- Nachhinein scheint es, als sohn bezichtigte Münte- hätte die promovierte fering prompt, sich der Physikerin, von der es Nazi-Propagandasprache immer heißt, sie denke al- bedient zu haben – Men- les stets vom Ende her, schen mit Ungeziefer schon damals den höchs-

MARC DARCHINGER MARC gleichzusetzen, das als ten Regierungsposten des Linkspartei-Wahlplakat ,Plage‘ vernichtet werden Landes im Blick gehabt. müsse, wurde so schon Am 22. November zog LINKSPARTEI vor 60 Jahren gesagt und Merkel als erste Frau in geschrieben. Doch die IG der Geschichte der Repu- Aus der Metall zog nach und ver- blik ins Bundeskanzler- öffentlichte auf dem Titel- amt ein. Damit hatten nur Versenkung bild ihrer Mitgliederzeit- wenige gerechnet – was schrift die Karikatur einer ihr offensichtlich nicht ie überraschende Stechmücke im Nadelstrei- schadete: „Wahrscheinlich DAnkündigung von fenanzug, die den Zylin- hat noch niemals vor ihr Bundestagswahlen sor- der lupft: „Die Aussau- ein Politiker in Deutsch- tierte im Frühsommer das land so davon profitiert, Parteiensystem neu: Weit permanent und immer links der Mitte wuchs et- wieder unterschätzt zu was zusammen, was nicht werden“, schreibt ihre zwingend zusammen- Biografin Evelyn Roll. gehört: die „Wahlalterna- Die Kritik auch aus der tive Arbeit & soziale Ge- eigenen Partei – Motto: rechtigkeit“ (WASG) mit „Die kann es nicht“ – ist Ex-SPD-Chef Oskar La- jedenfalls verstummt. Seit fontaine und Gregor Gy- Merkel Kanzlerin ist, sis PDS. Während sich in klettert sie in den Umfra- der WASG vorwiegend gen stetig nach oben. Und

enttäuschte Westgewerk- PRESS / ACTION POLLEX auch die Ikone der deut- schafter und Traditions- Müntefering schen Frauenbewegung sozialdemokraten ver- ist mit der Personalie zu- sammeln, fungiert die ger“ hieß die Zeile. Die frieden: „Die kleinen Partei des Demokrati- Debatte kochte hoch – Mädchen im Land wer- schen Sozialismus von je- Wolffsohn sei „nicht voll den sich künftig fragen: her als Ruhe- und Ab- bei Sinnen“, echauffierte ,Soll ich Friseuse werden klingbecken für ehemali- sich SPD-Poltergeist Lud- oder Bundeskanzlerin?‘“, ge SED-Apparatschiks wig Stiegler. Ungeachtet so Alice Schwarzer nach wie und des Disputs: Die zur Merkels Vereidigung, Hardcore-Kommunisten à Gruppe der Geradflügler „und das ist doch schon la Sahra Wagenknecht. zählenden Heuschrecken mal was.“ Ob sich die Linken aus werden künftig auch als Ost und West tatsächlich Synonym für Unterneh- zusammenraufen oder in menseigner mit rück- ideologischen Gra- sichtsloser Profitgier her- benkämpfen verstricken halten müssen. werden, bleibt trotz des gemeinsamen Erfolgs bei FRAUEN der Bundestagswahl einst- weilen ungewiss. Die erste KAPITALISMUS- Kanzlerin KRITIK b Angela Merkel Münte und die Odrei Jahre nach der Wiedervereinigung schon Heuschrecken ahnte, welches Amt sie zwölf Jahre später antre- r hatte es böse ge- ten würde? „Wir Frauen Emeint: Franz Münte- müssen weitergehen auf fering verglich im Mai Fi- dem Marsch durch die / GETTY IMAGES KOALL CARSTEN nanzinvestoren mit „Heu- Institutionen und teilha- Merkel

der spiegel 52/2005 19 Panorama Deutschland Der kritische Blick der Nachbarn Was denken Briten, Franzosen, Niederländer, Österreicher und Polen über Deutschland, den Irak-Konflikt und die Europäische Union? Eine Umfrage zeigt Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten bei den EU-Partnern.

eutschlands Rolle in Eu- sehen vor allem unsere Dropa, die Zukunft der Nachbarn im Osten kritisch. EU, die erste Bundeskanzlerin 42 Prozent der befragten und das Verhältnis zur Türkei Polen sind – quer durch alle – zu diesen Themen hat das Altersgruppen – der An- Düsseldorfer Institut Ad- sicht, dass der deutsche Ein- vanced Market Research fluss in der EU zu groß sei. (AMR) in Kooperation mit Die neue Berliner Regie- dem SPIEGEL 2500 Men- rungschefin Angela Merkel schen in fünf europäischen hat unter den interviewten Ländern befragt. Der geplante Europäern vornehmlich die EU-Beitritt der Türkei stößt Frauen auf ihrer Seite: danach eher auf Ablehnung. Während nur 42 Prozent al- Noch die größte Zustimmung ler befragten Männer glau- gibt es mit 33 Prozent bei den ben, dass sie ihre Sache als 18- bis 29-Jährigen. Unter den Kanzlerin gut machen wird, über 50-Jährigen sind dage- teilen bei den weiblichen gen nur 20 Prozent dafür. Die Befragten immerhin 52 Pro- Rolle Deutschlands in Europa zent diese Auffassung.

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ENTFÜHRUNGEN Hilfe vom Scheich Das Ende des Geiseldramas im Irak beschert der Regierung einen glücklichen Jahresausklang – nun rekonstruieren Ermittler und Geheimagenten die Zeit der Geiselhaft. Sie suchen nach den Entführern, und es gibt Spuren zu Verdächtigen im Umfeld der verschleppten Susanne Osthoff.

on den langen Wegen, die Menschen kurz vorm Weihnachtsfest noch die Dis- in aller Welt zurücklegen, um Weih- kussion um die Regierung und ihre zwie- Vnachten bei der Familie zu sein, be- spältige Haltung zur Folter über das Land gann einer der längsten am 25. November, gekommen. So als hätte sich die Republik zwischen Bagdad und Arbil im Norden des nach einem Jahr der verpatzten Reformen Irak. Er führte durch eine Geiselhölle von und verkaterten Neuanfänge genau den 23 Tagen, und er führte über einen schma- Ausklang beschert, den das Jahr verdient len Pfad zwischen Leben und Tod. hatte. In dieser Woche sollte er aber doch noch Aber dann das: Nach Kanzlerin Angela bei einer zwölfjährigen Tochter enden, die Merkel, die ihren erfolgreichen Jahresab- lange nicht gewusst hatte, ob ihre Mutter es schluss schon beim EU-Gipfel in Brüssel bis zum Fest schaffen würde. Ob ihre Mut- gefeiert hatte, durfte auch der holpernd ter es überhaupt noch mal schaffen würde: gestartete SPD-Außenminister Frank-Wal- Am Dienstag verließ die Archäologin Su- ter Steinmeier noch ein versöhnliches sanne Osthoff, 43 – die erste Deutsche, die Ende genießen. Zusammen mit Merkel im Irak in die Hände von Entführern hatte er klare Position bezogen: Deutsch- fiel –, das Land ihrer Geiselhaft. Kurz da- land lasse sich nicht erpressen. Gleichzei- nach wollte sie an einem geheim gehalte- tig aber hatte der Krisenstab in seinem

nen Ort im Ausland ihre Tochter Tarfa tref- Auswärtigen Amt mit Geschick in den TIMES (L.);SCHREIBER / AP (R.) MARKUS EDMUND L. ANDREWS / NEW YORK fen. Es war das größte Geschenk, die Toch- Wirren des Irak an den richtigen Fäden Archäologin Osthoff (2003), Bundesaußenminister ter hatte ihre Mutter zurück. gezogen. Susanne Osthoff frei – die Nachricht Die neue Bundesregierung hat ihre mindest in Umrissen rekonstruieren. Der vom Sonntag ist auch für die Bundes- außenpolitische Feuertaufe also bestanden Job für Ermittler und Geheimdienstler ist regierung ein Geschenk. Gnadenlos war – wie sie das gemacht hat, lässt sich nun zu- damit aber noch nicht beendet: Sie versu- chen jetzt, die Entführer zu finden und die Männer, die dahintersteckten. Was die Spezialisten haben, sind die ersten Spu- ren, die ersten Verdächtigen. Osthoff selbst war dabei zumindest bis Mittwoch keine allzu große Hilfe: Die Frau, die am Sonntagmittag plötzlich in der deut- schen Botschaft im Bagdader Villenviertel Mansur auftauchte, hat überlebt, aber als Steinmeier noch am gleichen Tag sagte, sie sei in „körperlich“ gutem Zustand, lag dar- in eine kaum merkliche Einschränkung: körperlich. Tatsächlich machte sie einen schwer an- geschlagenen Eindruck. Osthoff, so heißt es aus dem Krisenstab, redete nach ihrer Freilassung und redete und redete, aber was sie sagte, war kaum zu begreifen: Wirr klang das, wild zusammengewürfelt aus Erlebnissen, Wahrnehmungen, Deutungen. Drei Wochen Todesangst sind offenbar auch der eigensinnigen Archäologin aufs Gemüt geschlagen – selbst ihr, der Frau mit den Stahlnerven: Als ihre Entführer sie aus einem Taxi zerrten und in den Kof- ferraum eines anderen weißen Autos deut-

JEROEN KRAMER / VISUM JEROEN KRAMER scher Herkunft sperrten, erzählt sie nun, Bombenanschlag bei Mossul: In den Wirren des Irak die richtigen Fäden gezogen da habe sie die Bewaffneten noch verspot-

22 der spiegel 52/2005 Steinmeier (bei der Pressekonferenz zur Freilassung Osthoffs vergangenen Sonntag in Berlin): Es wird geredet und nicht geschossen

tet: „Ihr seid gut – ihr entführt eine Deut- soweit deutsche Ermittler im Irak Spuren so verdächtig macht: Auch der Scheich soll sche, aber auf deutsche Autos verzichten, verfolgen können. Dass der Fahrer sich bei seit der Freilassung Osthoffs verschwun- das könnt ihr nicht.“ den Deutschen nach der Freilassung nicht den sein. Doch als es Staatssekretär Klaus Scha- gemeldet hat, ist für die Fahnder nicht das Ist das die heißeste Spur zu den Entfüh- rioth, Leiter des Krisenstabs, am vergan- einzige Indiz: Schimani hatte auf dem Ent- rern? Oder nur der Verdacht einer Frau, genen Montag noch mal am Telefon mit führungsvideo den Kopf herunterhängen die mit den Nerven am Ende ist und nun ihr versuchte, ergaben Osthoffs Aussagen lassen. Um nicht erkannt zu werden?, fra- überall, wie es heißt, Drahtzieher und immer noch kein schlüssiges Bild. Immer- gen sich deutsche Ermittler. Handlanger ihrer Entführung sehe? hin, so viel stellte sie bei ihren Befragungen Genauso suspekt: der Part eines Scheichs Noch fehlen Teile des Gesamtbilds, aber klar: Neunmal hätten die Entführer sie von namens Dschamal al-Duleimi, der vor der eine Reihe von Puzzlestücken gibt es Versteck zu Versteck verschleppt, nie sehr Entführung den Wagen und den Chauf- schon, und zusammengesetzt lassen sie weit, immer in und um Bagdad. Möglich feur für die Fahrt in den Nordosten des jetzt zumindest eine Vorstellung von dem auch, dass es mehrere Gruppen waren, die Landes besorgt hatte. Duleimis gibt es zu, was passiert ist: Es beginnt mit einer sie in den Händen hatten. im Irak zwar so viele wie Schmidts in Fahrt von Bagdad nach Arbil im Nordirak, Die ersten Gespräche nach der Freilas- Deutschland, sie sind einer der größten am 25. November, einem Freitag, morgens sung brachten allerdings auch noch Indi- sunnitischen Stämme, unter Saddam Hus- um sechs Uhr. Osthoff hat sich einen Fah- zien für eine These, die deutsche Ermittler sein Stützen des Regierungsapparats. rer genommen, Schimani. Sie sitzen in ei- schon seit einiger Zeit verfolgen – dass Ost- Dieser Duleimi aber sagt der Bundesre- nem weißen GMC-Taxi – das bis heute ver- hoffs Umfeld in die Entführung verwickelt gierung durchaus etwas: Scheich Dscha- schwunden ist – Bagdader Kennzeichen sein könnte. Die Archäologin mutmaßt, mal al-Duleimi, früher angeblich ein Ge- 427731. In Arbil wartet ein Mann, mit dem dass ihr Fahrer eine undurchsichtige Rolle heimdienstmann unter Saddam, gehörte Osthoff über eines ihrer Lieblingsprojekte gespielt haben könnte. Der Mann, bekannt zu jenen Mittelsmännern, mit deren Hilfe reden will, den Erhalt einer Karawanserei unter dem Namen Chalid Nadschi al-Schi- die Deutschen an die Entführer heran- im nahe gelegenen Mossul. Doch das Taxi mani, war bis Mittwoch noch nicht wieder kommen wollten. Er zählte sogar zu den kommt nie an. aufgetaucht, was immerhin merkwürdig drei Kontaktpersonen, bei denen die Re- Die deutsche Botschaft in Bagdad er- ist. Denn die Bundesregierung geht davon gierung am Ende davon ausging, dass sie fährt es zuerst von den Amerikanern. Bot- aus, dass er genauso freigelassen wurde tatsächlich eine Verbindung zu den Ost- schaftsmitarbeiter versuchen sofort, Ost- wie die Deutsche. hoff-Kidnappern hatten. Duleimi, so heißt hoff auf ihrem Handy zu erreichen. Das Der Generalbundesanwalt, der in der es aus Sicherheitskreisen, war aber nicht Handy aber ist tot. Geiselsache Osthoff das Ermittlungsver- der Zugang, der zur Rettung führte. Und In Berlin setzt Außenminister Stein- fahren führt, verfolgt nun auch diese Spur, was ihn in den Augen der Deutschen jetzt meier im Auswärtigen Amt einen Krisen-

der spiegel 52/2005 23 Deutschland stab ein. Entführung einer Deutschen Das, so warnen die Sicherheitsexperten, schen Sicherheitskräfte dürften nicht in im Irak – jeder hier weiß, was das bedeu- gelte auch für den Einsatz der deutschen den Irak geschickt werden. Ultimatum: ten kann: entweder Lösegeld, wenn man Anti-Terror-Truppe GSG 9, die mancher drei Tage ab Ausstrahlung. Glück hat, oder, wenn es schlecht läuft, Politiker im heimatlichen Berlin nun hoff- Islamisten inszenieren ihre Erpresser- eine Hinrichtung vor laufender Kamera, nungsvoll ins Spiel bringt. Tatsächlich sind videos mit religiösen Beschwörungen und sollten die Forderungen ernsthaft politisch die „Neuner“ in Bagdad, sie sind gut aus- Verwünschungen. Davon gibt es hier aber und damit unannehmbar sein. Es ist die gebildet für solche Operationen. Aber sie kaum etwas. Im Krisenstab hofft man des- erste außenpolitische Krise der neuen schützen jetzt nur die Botschaft – was halb trotz der politischen Forderungen, Regierung, und schon am Sonntag, dem schon gefährlich genug ist: Auf dem Weg dass man es mit Strauchdieben zu tun hat, 27. November, wird die ganze Tragweite dahin, vom jordanischen Amman nach mit Lösegeld-Geiern – was andererseits deutlich. Bagdad, hatte die GSG 9 im April 2004 nicht allzu viel heißt, denn im blutigen Ge- Die britische Botschaft in Bagdad meldet bereits selbst zwei Mann in einer wilden schäft mit den Geiseln verkaufen Gangster sich. Es heißt, es gebe da Erkenntnisse bri- Schießerei verloren. ihre Beute auch gern mal weiter, zum Bei- tischer Special Forces im Irak. Die Spur Auch das BKA entsendet nur einen Be- spiel an islamistische Mörderbanden. führe nach Falludscha – in die Terror- amten der sogenannten Verhandlergruppe Osthoff erzählt, dass sie in diesen Tagen hauptstadt des sunnitischen Dreiecks. Die nach Bagdad. Sein Spezialgebiet: Geisel- immer wieder in andere Verstecke gekarrt Nachrichten gehen kreuz und quer, allein befreiungen – aber mit Worten, nicht mit wird. Man behandelt sie nach ihren Anga- die Briten berichten an diesem Wochen- Waffen. Innenminister Wolfgang Schäuble ben anständig. Sie gibt sich stark, selbst- ende von mehreren Hinweisen, die sich je- (CDU) wirft ein, er halte ein Kommando- bewusst, sie spricht perfekt die Sprache doch teilweise widersprechen. Unternehmen rundweg für „Quatsch“. Da- der Entführer, sie kann mit ihnen umge- Mal scheint Osthoff zum Eingreifen nah, mit ist klar: Es wird geredet, vielleicht ge- hen, kann sie auch angehen. „Sie hat in dann wieder weit weg. Aber für alle Fälle zahlt, aber nicht geschossen. der Geiselhaft abgekriegt, aber auch aus- wollen die Briten wissen, wie weit sie ge- Am 28. November, Montag, gegen 22 Uhr geteilt“, heißt es anerkennend aus deut- hen können: Sie fragen, ob ihre schwer- Ortszeit, bekommen die Deutschen endlich schen Sicherheitskreisen. Mit ihrem Mund- bewaffneten Spezialeinheiten Osthoff mit eine Vorstellung, mit wem sie verhandeln werk muss sie den Kidnappern ziemlich Gewalt befreien sollen, falls sie an ihr Ver- müssen: Ein Unbekannter drückt in Bag- auf die Nerven gegangen sein. KARIM KADIM / AP Deutscher Botschafter Erbel (2004, mit Leibwächter), Wachposten vor der deutschen Botschaft im Bagdader Mansur-Viertel: Erste Erfolge im steck herankämen. Es wäre eine Möglich- dad dem ARD-Mitarbeiter Raad al-Falahil Am 1. Dezember schickt Außenminister keit, die Geiseln zu retten. Die andere eine DVD in die Hand, mit einem Film, drei Steinmeier seinen Staatssekretär Georg Möglichkeit: ein Blutbad, unter den Toten Minuten und fünf Sekunden lang. Boomgaarden in die Region – das Ultima- die Deutsche und ihr Fahrer. Drei Forderungen stellen die Geiselneh- tum läuft in wenigen Stunden ab. Offiziell Die Frage lässt den Krisenstab vibrie- mer, die sich in dem Video „Saraja al-Sa- geht die Reise des Diplomaten nach Katar. ren, es geht um Strategie und Taktik, um lasil“, „Sturmtruppen der Erdbeben“, nen- In Wahrheit aber fliegt Boomgaarden auch Leben und Tod, es geht hin und her. „Ver- nen. Erstens: Schließung der deutschen nach Kairo, zur Arabischen Liga, wo er antwortungslos“, so sehen es Bundeskri- Botschaft. Zweitens: „Beendigung der Zu- den Generalsekretär, Amr Mussa, trifft. minalamt (BKA) und Bundesnachrichten- sammenarbeit mit der kollaborierenden Nach dem Gespräch fordert die Organi- dienst (BND), wäre eine militärische Ope- Regierung des Irak“. Drittens: Die von sation arabischer Staaten in einer Er- ration – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, deutschen Polizisten in den Vereinigten klärung die rasche Freilassung Osthoffs. Es auf diesem Terrain. Arabischen Emiraten ausgebildeten iraki- ist ein erster kleiner Erfolg im Psycho-

24 der spiegel 52/2005 Ringen der deutschen Diplomaten. Ihr namen eines Osthoff-Verwand- Kalkül, das auch hinter den bestellten So- ten, den nur Familienmitglieder lidaritätsadressen der nächsten Tage steht: kennen können. Die Rückmel- Wenn sie schon nicht an die Entführer dung, die wenig später kommt, selbst herankommen – vielleicht wird de- ist richtig. nen immer unwohler, je mehr Männer mit Der „proof of life“, der ent- Einfluss im Irak die Osthoff-Entführung scheidende Beweis, kommt nun für einen Störfaktor halten. gleich von zwei Seiten: von Entscheidend wäre aber ein direkter Scheich Chut und von dem un- Kontakt. Noch immer hat die Bundesre- bekannten Beduinen. gierung keine Ahnung, mit wem sie spre- Der Weg zu Osthoff ist damit chen muss. Die Kurdische Demokratische frei. Dafür aber werden im Irak Partei um Massud Barsani versucht es – andere Wege immer schwerer

sie gibt Tipps, es sind keine entscheiden- PRESS ARD / ACTION passierbar: Landwege. Die Par- den, mehr können die Kurden nicht tun. Entführungskommando mit Osthoff, Begleiter lamentswahl steht bevor, die In der deutschen Botschaft schlüpfen Welche Rolle spielt der Fahrer? Amerikaner richten Sicherheits- und sterben die Gerüchte jetzt wie die Flie- zonen ein. Sich mit zwei Geiseln gen, viele überleben nicht mal einen Tag. Um das erste Dezemberwochenende zu bewegen wäre aus Sicht der Entführer Dutzende Mittelsmänner melden sich. Sie endlich ein Kontakt. Es gibt zwar kein zu- Wahnsinn. alle behaupten, sie könnten helfen, hätten verlässiges Zeichen, dass Osthoff noch lebt. Die Bedingungen sind jetzt so, dass Kontakt zu den Entführern – brauchten Aber es könnte nun mehr dahinter stecken manchmal ein Mittelsmann für zwei Tage aber erst mal Geld. 95 Prozent der Ver- als nur der nächste Versuch, die Deutschen abtaucht oder unvermittelt die Handy-Ver- mittler seien Aufschneider gewesen, die auszunehmen. Und es dauert dann auch bindung ausfällt. „Es kann sich keiner auf das Geld scharf waren, so einer der nicht lange, bis diese dünne Hoffnung zu mehr vernünftig bewegen“, heißt es im Verhandler. Bei Entführungen im Irak tragen beginnt: Ein paar Tage später hat Krisenstab. So welkt und vergeht die Hoff- noch eine gute Quote. die Bundesregierung tatsächlich eine Ver- nung, Osthoff noch vor der Wahl am ver- bindung zu den Entführern. gangenen Donnerstag freizubekommen. Gleich drei „belastbare Kanäle“, wie es Dann aber, am Freitagnachmittag, gegen im Krisenstabs-Jargon heißt, entstehen – 16 Uhr, in der 30. Sitzung des Krisenstabs, drei Wege zu Susanne Osthoff. Einer da- plötzlich die ersehnte Bewegung. Die Ent- von: Dschamal al-Duleimi; er wird aller- führer, so die neuen Lagemeldungen, seien dings nicht wirklich weiterhelfen und bald bereit. Zuversicht macht sich breit in Ber- nichts Substantielles mehr von sich hören lin und Bagdad, sie ist begründet: Es geht lassen. Der zweite: ein Araber, der sich im- nur noch um Materielles, um die Summe, mer nur am Telefon meldet, erstmals in nicht mehr um politische Forderungen, für der vorvergangenen Woche, und nie sei- die Angela Merkels Bundesregierung die nen Namen nennt. Im Krisenstab heißt er Geisel Susanne Osthoff notfalls sterben las- nur „der Beduine“. sen würde. Und wirklich: Am Sonntag, ge- Und schließlich der wertvollste der gen 10.30 Uhr deutscher Zeit, trifft Osthoff Kanäle, wie sich zeigen wird: ein Scheich in der Botschaft ein. Der Vermittler von namens Chut. Der Mann arbeitet mit ei- Scheich Chut hat die Übergabe organisiert. nem weiteren Vermittler zusammen. Und Wie viel Lösegeld gezahlt wird, das blieb dieser Vermittler hat offenbar direkten Zu- bis Mitte der Woche unklar. Möglicherwei- gang zum Entführertrupp. se haben die Deutschen Ähnliches getan Die Verhandlungen führt Deutschlands wie schon 2000 bei der Geiselnahme von Botschafter in Bagdad, Bernd Erbel. Erbel Touristen auf der Philippinen-Insel Jolo. und seine Sicherheitsberater in der Bot- Damals sprang Libyens Diktator Muammar schaft geben den Emissären mehr als zehn al-Gaddafi mit mehreren Millionen Dollar Fragen mit auf den Weg, die nur Osthoff ein und verpflichtete Deutschland damit beantworten kann. Nur so lässt sich prü- zur Dankbarkeit. Diesmal sollen Privatleu- fen, ob nicht wieder Schnorrer und te mitgezahlt haben, Freunde Osthoffs aus Schwätzer am Werk sind – und ob sie noch Deutschland. lebt, die Deutsche. „Warum“, heißt eine Das glückliche Ende eines Alptraums? Frage, „ist Susanne Osthoff mit 18 Jahren Osthoff werde, glaubt ein langjähriger Be-

WATHIQ KHUZAIE / GETTY IMAGES WATHIQ nach Glonn gezogen“, in den Ort im kannter im Irak, wieder ins Land zurück- Psycho-Ringen der Diplomaten bayerischen Landkreis Ebersberg? Und kehren. Im Umfeld des Krisenstabs hieß tatsächlich laufen schnell Antworten ein. es, sie möge doch bitte nach Alaska gehen Hilfe verspricht auch die CIA. Die Ame- Einige sind enttäuschend: Die richti- oder sonstwohin, nur nie wieder nach Bag- rikaner wissen am meisten von allen west- ge auf die Frage nach Glonn wäre zum dad. Wünsche deutscher Beamter haben lichen Geheimdienstlern im Irak – aber am Beispiel gewesen, weil dort ihr Freund Osthoff allerdings noch nie interessiert. Ende werden sie im Fall Osthoff am we- wohnte, einer aus ihrer Schulclique. Ost- „Es ist eine Plage mit ihr“, sagt einer, nigsten geliefert haben, zum Ärger deut- hoff aber, meldeten die Kontaktleute, ha- der die Stunden im Krisenstab am Ende scher Vermittler. Weniger als die Franzo- be in ihrem Versteck nur die Stirn gerun- nicht mehr gezählt hat. Sich zu plagen, für sen, als die Briten, als die Italiener. Die zelt. Möglicherweise, weil die Entführer die Menschen im Irak, ist Osthoffs Lebens- Agenten der befreundeten Mächte versor- Glonn mit Cologne – Köln – verwechselt inhalt – und eine Plage zu sein für andere gen Berlin mit allen Informationen, die ih- haben, wie die Krisenstäbler in Berlin ein Risiko, das sie dafür immer schon in nen zu Ohren kommen. Namen flirren dann mutmaßen. Andere Antworten aber Kauf nahm. Ralf Beste, Jürgen Dahlkamp, über die Bildschirme im Krisenzentrum, stimmen, und eine Frage schieben die Conny Neumann, Holger Stark, Volkhard Windfuhr, Bernhard Zand von Orten, Männern, Gruppen. Deutschen nach – die nach dem Spitz-

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zerstören, für die sie stehen“? Wenn sich einer in Deutschland dieser Frage stellen INNERE SICHERHEIT muss, ist das der Innenminister. Es geht ihm gut. Es geht ihm so gut wie lange nicht mehr. In den Jahren der Op- Tändeln an der roten Linie position war Schäuble ein begehrter Ge- sprächspartner für Journalisten. Man saß bei ihm und ließ sich die Lage analysieren. Wolfgang Schäuble sinniert über die Folter und möchte die Bundes- Das war interessant, hatte aber die Trau- wehr im Inneren einsetzen. Mehr als Angela Merkel rigkeit von Trockenschwimmen. Schäuble könnte er die Bundesrepublik verändern. Von Dirk Kurbjuweit sagte kluge Sätze, die folgenlos blieben – machtlose Sätze. Er wirkte oft gedämpft, AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT Bundesinnenminister Schäuble, US-Gefangenenlager in Guantanamo, Sicherheitsrisiko Fußballstadion (in Frankfurt am Main): Dem liberalen

er hat das behauptet, zischt Wolf- dass sie unter vollkommen rechtsstaat- als flösse ein Teil seiner Energien in einen gang Schäuble. Wer hat behaup- lichen Bedingungen zu erlangen waren, titanischen Kampf gegen Bitterkeit. Nicht Wtet, er habe „Menschen animiert, nutzen wir unter keinen Umständen – das Bundeskanzler geworden, nicht Bundes- darüber zu spekulieren, ob Folter im kon- wäre völlig unverantwortlich.“ präsident geworden, nicht einmal Bürger- kreten Fall nicht vielleicht doch ganz nütz- Er hat auch gesagt, dass deutsche Be- meister von Berlin. liche Folgen haben könnte“? amte einen Gefangenen in Guantanamo Jetzt sitzt er im 13. Stock des Innenmi- In diesem Moment möchte man alles verhört haben. Er hat gesagt, die Bundes- nisteriums und guckt runter auf Berlin. Es sein, nur nicht Roger Kusch, Justizsenator wehr solle während der Fußball-Weltmeis- ist Montagabend, 19 Uhr, Schäuble zeich- von Hamburg. Der hat das nämlich von terschaft 2006 für den Objektschutz einge- net Akten ab, schöne, rote, echte Machtak- Schäuble behauptet. Kusch ist in der CDU setzt werden können. Er hat gesagt, dass ten. Zur Begrüßung sagt er fröhlich, dass er und wird dem Innenminister eines nahen die Teilnahme an einem Terroristencamp sich sehr freue, dass man komme, um ihm Tages begegnen. Das wird nicht schön. Das strafbar sein soll. die Zeit zu stehlen. wird böse. Wolfgang Schäuble hat in den vergan- Schäuble wartet nicht auf die erste Kusch hat dem „Hamburger Abend- genen Tagen sehr viel gesagt, was bei vie- Frage, sondern zählt all die Angriffe gegen blatt“ ebenfalls gesagt: „Man darf nicht len den Eindruck erweckte, er wolle dem ihn auf. Ich bin umstritten, also bin ich mit lockeren Formulierungen Unruhe stif- liberalen Rechtsstaat Bundesrepublik ein heißt eine alte Lebensregel der Politik. Er ten. Folter muss hundert Prozent weltweit anderes Gesicht verpassen. Jetzt kommt versprüht Munterkeit aus dem ganz geächtet werden. Das zu relativieren, fand Kritik von allen Seiten, und Schäuble ver- großen Siphon, und jetzt will er mal er- ich nicht besonders glücklich.“ Auch damit steht das gar nicht. Er will doch nur mehr klären, wie er das wirklich gemeint hat hat er den Innenminister gemeint. Sicherheit. mit der Folter. Als Schäuble diesen Sätzen in seinem Dieser Tage ist in Deutschland ein Buch Er fände es falsch, würden die deutschen Büro lauscht, krabbelt seine Hand über des kanadischen Philosophen und Publizis- Nachrichtendienste nicht Informationen den Tisch wie eine Vogelspinne. „Ich brau- ten Michael Ignatieff in der Diskussion. Es auswerten dürfen, die womöglich unter Fol- che keine Belehrungen“, sagt er. Seine heißt „Das kleinere Übel“ und ist die idea- ter in anderen Staaten gewonnen wurden. Stimme ist hart, eisig. Er erwartet eine Ent- le Lektüre für Wolfgang Schäuble. Igna- Also mal konkret gefragt: Läge jetzt auf schuldigung. tieff schreibt, der Kampf gegen den Terror diesem runden Tisch, an dem er sitzt, eine Er hat doch nicht das Folterverbot rela- könnte „auch Zwang nötig machen, Täu- der schicken roten Mappen und darin tiviert, niemals. Er hat doch nur gesagt: schung, Geheimhaltung und die Verletzung wären Informationen, die unter viehischen „Wenn wir sagen würden, Informationen, von Rechten. Wie können Demokratien zu Schmerzen preisgegeben wurden, zum bei denen wir nicht sicher sein können, diesen Mitteln greifen, ohne die Werte zu Beispiel infolge der Extraktion von Fin-

26 der spiegel 52/2005 gernägeln – mit welchem Gefühl würde nen sie genau wüssten, dass sie unter Fol- allem eine „mediale Diskussion“. Das Wolfgang Schäuble diese Mappe öffnen? ter entstanden seien. Wort sagt er schon ähnlich indigniert wie Er mag diese Frage nicht. Er verzieht Wenn da also ein Zettel liegt, auf dem sein Vorgänger in diesem Büro im 13. das Gesicht. Man wisse ja nie, unter wel- steht der Ort der Bombe, es wurde aber Stock. Auch für Otto Schily und den heu- chen Umständen die Informationen, die gefoltert, und die Deutschen wissen das, tigen Medienberater Gerhard Schröder wa- man auf den Tisch bekommt, gewonnen dann lassen sie Zehntausende sterben? ren meist die Medien schuld. Da kann man wurden, sagt er unwirsch. Es geht nicht. Es gibt hier keine Ant- sich unter Regierenden offenbar schnell Das war mehr ausgewichen als geant- worten, die richtig sind oder falsch, die ei- drauf verständigen. wortet, also noch einmal: Mit welchem … nen schuldig machen oder unschuldig. In Von Schily zu Schäuble hat sich vor allem Er sagt, es sei falsch, Informationen, die diesem Bereich ist jede Lösung tragisch. das Büro verändert. Früher versank man in Zehntausenden das Leben retten könnten, Das Irritierende an Schäuble ist, dass er, riesigen Fauteuils und war bald vom Rauch nicht auszuwerten, auch wenn einem das der an der roten Linie herumtändelt, so länglicher Montecristos umnebelt. Bei Schily herrschte immer ein bisschen Lounge-At- mosphäre, die anwesen- de Mitarbeiter allerdings nicht genießen konnten. Menschenrechte galten für sie nur eingeschränkt. Schäuble hat die Sofas rausgeschmissen und bit- tet Besucher an einen runden Tisch, der in sei- ner kühlen Schlichtheit aus jedem Gespräch ein Arbeitsgespräch macht. Er schwankt zwischen Frohsinn und Schärfe, während Schily häufig Zustände dauernder Un- leidlichkeit heimsuchten. Politisch jedoch sind sie eng verwandt, und Schäuble wird fortsetzen, was Schily begonnen hat: die deutsche Demokratie

TOMAS VAN HOUTRYVE / AP HOUTRYVE VAN TOMAS / DPA / PICTURE-ALLIANCE ARNE DEDERT immer robuster machen Rechtsstaat ein anderes Gesicht verpassen? für den Kampf gegen den Terror. „fürchterliche Gewissensqualen“ machen tut, als hätte er den klarsten Standpunkt Es war ja die große Sorge, die angeblich könne. Er nennt das Beispiel von der der Welt. Dabei kann es in dieser Frage so kalte Angela Merkel könne die Bun- „tickenden, schmutzigen Bombe“, die eine nur einen klaren Standpunkt geben: nein. desrepublik umkrempeln, in einen ökono- Großstadt verstrahlen könnte. Informationen, die im Verdacht stehen, un- mistischen Effizienzstaat verwandeln. Es Dann sagt er, dass es jedoch undenkbar ter der Folter gewonnen zu sein, werden könnte aber sein, dass Wolfgang Schäuble sei, dass deutsche Sicherheitskräfte foltern von Demokraten nicht verwendet. die Bundesrepublik mehr verändert als die würden. Das sei „die rote Linie“, da dürfe Alles andere mag auch richtig sein, führt Kanzlerin. Anders als sie hat er ein ge- man unter keinen Umständen drüber. aber in die Grauzone, und da steht schlossenes Weltbild, ein konservatives, Wenn aber nun deutsche Sicherheits- Schäuble. Es gibt seine rote Linie nicht. Es und er hat den Willen eines Mannes, der kräfte einen Mann in ihrer Gewalt hätten, gibt nur den verzweifelten Kampf um das immer für ganz große Aufgaben geeignet der den Ort dieser Bombe kennt. Dürfen richtige Austarieren von Freiheit und Si- war, sie aber nicht bekommen hat. Jetzt sie ihn foltern, um Zehntausenden das Le- cherheit. macht er sich die innere Sicherheit zur ben zu retten? Schäuble sagt, er sehe da keinen Kon- ganz großen Aufgabe. „Tja, das ist die rote Linie“, sagt flikt. Ohne Freiheit keine Sicherheit und Das ist nichts Falsches. Wenn nur Schäuble. Er verbirgt das Gesicht hinter umgekehrt. Das allerdings ist zu simpel, der Innenminister sensibler wäre für das den Händen. Seine Ellenbogen stützen sich um wahr zu sein. Die Spannung zwischen Heikle, Debattenzwingende dieses Be- auf den runden Tisch. So verharrt er eine diesen beiden Polen ist eines der großen reichs, bei dem es wie nirgends sonst Weile, dann sagt er: „Aber ich bleibe da- Themen unserer Zeit, und es ist ein biss- um die Grundlagen der Demokratie geht. bei, man kann die rote Linie nicht über- chen beunruhigend, dass der Innenminis- Schäuble aber sagt munter, auch die Be- schreiten.“ ter da mal eben so drüber wegwischt. völkerung habe wenig Verständnis für die Ist es also so, dass diesseits der roten Li- Buchautor Ignatieff, ein Liberaler, kann Debatten dieser Tage, sondern wolle Si- nie die Deutschen stehen, die sich die Hän- sich Regelverstöße im Kampf gegen den cherheit. de nicht schmutzig machen dürfen? Und Terror vorstellen, aber nur auf der Grund- Im Kopf hat er bereits eine Liste, was auf der anderen Seite stehen andere, aus lage einer großen Debatte. Eine Demokra- alles unzulänglich ist im deutschen Geset- deren schmutzigen Händen man bei Be- tie habe „unter endloser Anklage“ zu ste- zeswerk und der Verfassung. Er nennt darf mal ein Blättchen mit herbeigefolter- hen, zitiert er den polnischen Philosophen zwei Punkte, die jeder für sich einen Rie- ten Informationen nehmen kann? Leszek Kolakowski. senwirbel machen können, aber er dringt Er kratzt sich am Kopf, sagt nein. Deut- Schäuble dagegen wird schon ungemüt- auf Verschwiegenheit. Das Land, sagt er sche dürften auch keine Folter veranlas- lich, wenn ihn Roger Kusch aus Hamburg fröhlich, soll ein ruhiges Weihnachtsfest sen oder Geständnisse verwenden, von de- kritisiert. Im Übrigen sei das alles doch vor haben. ™

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SPIEGEL-GESPRÄCH „David gegen Goliath“ FDP-Chef Guido Westerwelle über das Leben als Oppositionsführer, politische Umgangsformen im Parlament und sein Verhältnis zu Angela Merkel

SPIEGEL: Herr Westerwelle, Sie weit haben sich deutsche Beamte an führen mit dem Sozialisten Gre- rechtswidrigen Vernehmungsmethoden in gor Gysi und der Grünen Renate Guantanamo oder in einem syrischen Fol- Künast die Opposition an. Wie tergefängnis beteiligt? Darüber wird die fühlen Sie sich in dieser Nachbar- FDP im Januar in den Ausschüssen Aus- schaft? kunft verlangen. Das Jahr ist zu Ende, die Westerwelle: Ganz ordentlich. Wir CIA-Affäre ist es nicht. sind politische Gegner, aber das SPIEGEL: Werden Sie auf einen Untersu- heißt nicht, dass ich mein eigent- chungsausschuss bestehen? liches Ziel aus den Augen verliere, Westerwelle: Darüber werden wir in der mich offensiv mit der Regierung zweiten Januarhälfte entscheiden. Der Un- auseinander zu setzen. Wir wol- tersuchungsausschuss ist ja nicht ein belie- len Schwarz-Rot kontrollieren und biges Instrument des Parlaments, auch antreiben, und, gemessen an den nicht der Opposition, sondern seine Ein- Größenverhältnissen zwischen setzung ist die Ultima Ratio. Falls wir den Opposition und Großer Koalition, Eindruck gewinnen, dass die Regierung sind wir gar nicht so unerfolgreich. mauert, werden wir uns dieses Mittels be- SPIEGEL: So viel war davon noch dienen müssen. nicht zu merken. SPIEGEL: Der ehemalige Kanzleramtschef Westerwelle: Gleich am Anfang und neue Außenminister Frank-Walter musste die Regierung davon Ab- Steinmeier hat sich vergangene Woche im stand nehmen, vorsätzlich einen Bundestag ausführlich zu seiner Rolle er- verfassungswidrigen Haushalt vor- klärt. Sie haben Zweifel an seiner Darstel- zulegen. Und wer hätte gedacht, lung, dass er erst jetzt in aller Deutlichkeit dass die FDP der Regierung schon von der Verschleppung erfahren habe? in der dritten Sitzungswoche eine Westerwelle: Am Anfang sah es so aus, als echte Abstimmungsniederlage bei- ob Herr Steinmeier mit dem Fall Masri nur bringen würde, indem sie den Vi- am Rande befasst war, in seiner Rolle als zekanzler herbeizitieren lässt. Das Koordinator der Geheimdienste. Dann ha- zeigt: David ist gegen Goliath ben wir erfahren, dass der damalige In- nicht chancenlos. nenminister Otto Schily durch die Ameri-

SPIEGEL: Das klingt so, als ob Sie GOETZ SCHLESER kaner frühzeitig informiert worden ist und nichts lieber täten, als gegen die Liberaler Westerwelle: „Mit Säbel und Keule“ es so eine Art Kohlsches Ehrenwort gab: Regierung zu opponieren. Dürfen „Ich rede auch mit keinem drüber.“ Mir wir Sie daran erinnern, dass Sie noch vor SPIEGEL: Wie sehr eine Große Koalition die fällt es schwer zu glauben, dass Herr Schi- wenigen Wochen schwankten, ob Sie In- Gewichte im parlamentarischen Alltag ver- ly über sein Wissen weder den Außenmi- nenminister oder doch besser Justizminis- schiebt, hat gerade die CIA-Affäre um die nister noch die Geheimdienste oder das ter werden sollten? Verschleppung des Deutsch-Libanesen Kanzleramt informiert hat. Das wider- Westerwelle: Mit Verlaub: Sie hätten dieses Khaled el-Masri gezeigt. In allen Aus- spricht dem gesunden Menschenverstand Interview mit mir als Vizekanzler führen schüssen, die mit der Aufklärung befasst und, in meinem Fall, auch dem Instinkt können, wenn ich bereit gewesen wäre, sind, dominieren SPD und Union, und de- des Strafverteidigers. alle Wahlversprechen der FDP in den ren Aufklärungsinteresse ist sehr gebremst. SPIEGEL: Die Große Koalition verfügt über Papierkorb zu werfen und mit den Her- Westerwelle: Das wird uns nicht davon ab- 73 Prozent der Stimmen im Bundestag. ren Schröder und Fischer eine Ampel zu halten nachzusetzen. Wir sind einem Un- machen. Was uns die Sozialdemokraten tersuchungsausschuss näher als noch vor und die Grünen alles an Posten und Pöst- zehn Tagen. Denn einerseits sind wichtige chen zugestanden hätten, ist bemerkens- Fragen beantwortet worden, zum Beispiel wert. Aber wir haben zu unserem Wort durch eine unerwartet offene Erklärung gestanden. des Bundesinnenministers Wolfgang SPIEGEL: Franz Müntefering hat gesagt: Schäuble im Bundestag, andererseits gibt „Opposition ist Mist.“ es eine Fülle weiterer Fragen: Inwieweit Westerwelle: Auf diesem Mist gedeiht die waren deutsche Beamte mindestens fahr- FDP in den letzten Jahren jedenfalls ganz lässig an der Verschleppung des deutschen

kräftig. Staatsangehörigen Masri beteiligt? Wie RICHARDS / AFP J. PAUL

Das Gespräch führten die Redakteure Petra Bornhöft und Ex-Geheimdienstgefangener Masri Jan Fleischhauer. „Die CIA-Affäre ist nicht zu Ende“

30 der spiegel 52/2005 F. GAMBARINI / DPA Kanzlerin Merkel: „Wenn man einmal in einer solchen Schicksalsgemeinschaft war, trägt das über viele Differenzen weg“

Müssen die Minderheitenrechte gestärkt SPIEGEL: Das hilft Ihnen aber wenig, wenn sind Verhaltensweisen, welche die Herren werden, damit eine wirksamere Kontrolle die Regierungsfraktionen bei Plenardebat- vielleicht in ihren Wohngemeinschaften möglich wird? ten erst einmal 40 Minuten ein Selbstge- antrainiert hatten, weil sie sich sonst am Westerwelle: Keiner hat Regeln aufgestellt spräch führen, bevor Sie dann 8 Minuten Kühlschrank in der Küche nicht durchset- für den Fall, dass die Regierungsparteien für die erste Gegenrede haben. zen konnten. Ich glaube, 95 Prozent der über mehr als zwei Drittel der Sitze verfü- Westerwelle: Das Problem trifft die Grünen Deutschen haben ein völlig anderes Ver- gen. Deswegen wäre ich sehr dafür, dass die am schärfsten, als kleinste Fraktion dürfen ständnis von Umgangsformen. Voraussetzungen für eine Normenkontroll- sie nur als Letzte reden, während wir stets SPIEGEL: Sie gelten, zumindest in der Öf- klage geändert werden, mit der die Oppo- als Erste auf die Regierung antworten. Wir fentlichkeit, ebenfalls als Vertreter eines sition die Rechtmäßigkeit von Gesetzen hatten vorgeschlagen, die Regelungen zu eher rüpelhaften Stils. beim Verfassungsgericht überprüfen lassen den Redezeiten großzügiger zu gestalten, Westerwelle: Dass ich bei den Worten nicht kann. Im Augenblick ist dafür ein Drittel aber da stießen wir auf taube Ohren. immer nur das Florett einsetzen kann, son- der Stimmen im Bundestag nötig. SPIEGEL: Hat sich mit der Großen Koalition dern mir auch Säbel und Keule ein Begriff SPIEGEL: Eine Normenkontrollklage wäre der Umgang im Parlament auch für die sein müssen, das gehört in der Demokratie also nur mit Unterstützung aus den Reihen Oppositionsparteien verändert? und in temperamentvollen Debatten des der Koalition möglich. Westerwelle: So überraschend es vielleicht Bundestags dazu. Ich bestreite auch gar Westerwelle: Die Regierungsfraktionen klingen mag: Er ist besser geworden. Das nicht, dass ich mich selbst schon in den sollten unseren Vorstoß unterstützen und gilt auch im persönlichen Gesprächsver- Worten vergriffen habe. Aber mir geht es das festgelegte Quorum auf 25 Prozent ab- hältnis der Spitzen von FDP und Grünen. um allgemeine Umgangsformen, und die senken. Das wäre ein Signal, dass sich die Ich kann mich mit Frau Künast sehr kon- sind mir bisher noch von niemandem Große Koalition nicht gegen die Opposi- struktiv unterhalten, während die Mög- ernsthaft bestritten worden. tion einmauern will nach dem Motto „uns lichkeiten eines Dialogs mit Herrn Fischer SPIEGEL: Joschka Fischers Auftritte waren kann keiner“. immer äußerst bescheiden waren, was jedenfalls sehr originell, „Mit Verlaub, SPIEGEL: Wie stehen die Chancen dafür? schon an den unterschiedlichen Vorstel- Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“ ist Westerwelle: Im Augenblick sehe ich wenig lungen über mitteleuropäische Umgangs- ein Satz, der Parlamentsgeschichte ge- Bereitschaft bei der Regierung, sich in formen lag. macht hat. dieser Frage zu bewegen. Wir können SPIEGEL: Liegt das an der neuen Machtver- Westerwelle: Ich finde diesen Satz weniger immerhin unverändert aktuelle Stunden teilung im Parlament oder an einem Ge- bemerkenswert als den Umstand, wie fas- im Bundestag beantragen. Wir haben am nerationenwechsel? ziniert manche Kommentatoren von sei- Ende auch durchgesetzt, dass die FDP als Westerwelle: Es ist eher der Abschied von nem Macho-Gehabe waren. Das Ganze gip- größte Oppositionsfraktion den Vorsitz im einem bestimmten pavianösen Macho-Ge- felte in der Selbsteinschätzung von Herrn Haushaltsausschuss führt, dem wegen des tue. Sobald ein Redner der Opposition in Fischer zu seinem Abschied aus der Politik, Budgetrechts besondere Bedeutung zu- der vergangenen Legislaturperiode ans mit ihm gehe der letzte Live-Rock’n’Roller. kommt. Ich will allerdings nicht ver- Pult trat, hat man Flegeleien und Respekt- Alles, was nach ihm komme, sei wohl nur schweigen, dass es dazu schon einiger Ge- losigkeiten auf der Regierungsbank erlebt, noch Playback. Das kennt man aus der grie- spräche bedurfte. mit denen man in der Schule bei den Kopf- chischen Antike, dass die Jugend „unsere SPIEGEL: Sie haben mit der Kanzlerin dar- noten durchfallen würde. Herr Fischer und Verderbnis“ ist. Apo-Opas und Apo-Omas über geredet? Herr Schröder gingen demonstrativ mit jammern jetzt in den Feuilletons, dass die Westerwelle: Ja, und mit anderen. Was Frau Missachtung und Nichtachtung durch die „Originale gehen“, weil Abgeordnete ei- Merkel angeht, habe ich bisher den Ein- Bänke, haben sich Witzchen erzählt. Ei- nen Bundestagsvizepräsidenten nicht mehr druck, dass sie sich noch daran erinnern gentlich fehlte nur noch, dass Herr Fischer als Arschloch bezeichnen. Nun ja, die Zei- kann, wie es ist, in der Opposition zu sein. die Füße auf den Tisch gelegt hätte. Das ten haben sich zum Glück geändert.

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SPIEGEL: Sie duzen sich mit Angela Merkel. Westerwelle: Ich mache mir gar keine Illu- Westerwelle: Es wäre völlig verkehrt, jetzt Hilft diese Vertrautheit als Oppositions- sionen, dass zahllose Vertreter in den Me- aus dem Ergebnis der Bundestagswahl die führer, oder macht es Ihre Aufgabe im Ge- dien und Verbänden der Großen Koalition Schlussfolgerung zu ziehen, dass es in Zu- genteil eher schwerer? im nächsten Jahr erst mal gute Noten aus- kunft nur noch Große Koalitionen oder Westerwelle: Angela Merkel und ich sind stellen werden. Denn nicht einmal die Dreierbündnisse geben wird. Die Strategie uns ja nicht durch Kneipentouren näher jetzige Regierung wird den zaghaften Wirt- der FDP ist es, in Zeiten, in denen die Bin- gekommen oder indem wir gemeinsam am schaftsaufschwung des nächsten Jahres dungswirkung der beiden größeren Volks- Zaun des Kanzleramts gerüttelt und geru- verhindern können, beispielsweise weil parteien nachlässt, selbst an Bindungskraft fen hätten: „Wir wollen hier rein!“ Son- Anschaffungen wegen der folgenden Mehr- zu gewinnen und zu wachsen, so dass es für dern wir sind uns menschlich und politisch wertsteuererhöhung vorgezogen werden. stabile Zweierkonstellationen reicht. näher gekommen, weil wir uns aufeinan- Allerdings sage ich auch voraus: In den SPIEGEL: Mit der Union als Partner? der in schwierigster Zeit richtig verlassen ersten beiden Quartalen des Jahres 2007 Westerwelle: Welche Koalitionsaussage wir konnten. werden die Auftragsbücher dann ziem- auf Bundesebene machen werden, ent- SPIEGEL: Das trägt bis heute? lich leer bleiben. Diese Große Koalition scheiden wir vor der nächsten Bundestags- Westerwelle: Ich habe schon den Eindruck, ist, wie ihre Vorgängerin Ende der sechzi- wahl. In den Ländern sind sowohl Union dass wir eine Wertschätzung füreinander ger Jahre, eine Übergangsregierung, beide als auch SPD, wenn sie sich freiheitlich entwickelt haben, die bleibt. Ich und im Sinne der Erneuerung der denke an die Nacht, als wir über sozialen Marktwirtschaft aufstel- unseren Kandidaten für das Amt len, für uns potentielle Partner. des Bundespräsidenten entschieden SPIEGEL: Bei der Bundestagswahl haben. Sie war sehr einsam in ihrem hat die FDP rund ein Viertel ihrer Gremium, und so leicht hatte ich Wähler, nämlich 1,2 Millionen es in meiner Partei zum damali- Stimmen, von der Union bekom- gen Zeitpunkt auch nicht. Hätten men. Es sieht so aus, dass bei der wir in der Bundesversammlung Union verloren geht, was Sie und Professor Horst Köhler nicht durch- Ihre Leute gewinnen. gesetzt oder vielleicht erst im drit- Westerwelle: Gelegentlich wird der ten Wahlgang, wäre Frau Merkel Eindruck erweckt, als sei das Wahl- nicht Kanzlerkandidatin gewor- ergebnis eine Laune des Augen- den, und ich wäre nicht Parteivor- blicks, ein Gnadenakt der Union. sitzender der FDP geblieben. Wir Unsinn, hier haben sich mehr als haben uns in der entscheidenden eine Million Menschen bewusst aus Sitzung in die Augen gesehen und inhaltlichen und strategischen gesagt: „Wir machen das gemein- Gründen, nämlich unter anderem sam.“ Wenn man einmal in einer weil sie gegen Große Koalitionen

solchen Schicksalsgemeinschaft RADEMACHER UTA sind, für die Freien Demokraten war, trägt das über viele Differen- Kanzler Schröder, Vize Fischer (2001): „Macho-Getue“ entschieden. Aus diesen Wählern zen hinweg. dauerhafte Anhänger zu machen, SPIEGEL: Wie findet es denn Angela Merkel, Partner haben längst die Zeit danach im die unsere Haltung teilen, ist die erste Auf- wenn Sie sie nun als „erste Bundeskanzle- Kopf. gabe. Die zweite ist, unsere politische Kom- rin einer sozialdemokratischen Regierung“ SPIEGEL: Möglicherweise sind sich Union petenz zu verbreitern, damit wir auch für bezeichnen? und SPD viel näher, als Ihnen lieb sein Menschen attraktiv werden, die bislang Westerwelle: Aber ich bitte Sie, ich befin- kann. noch Grüne, Linkspartei oder SPD wählen. de mich mit diesem Urteil in bester christ- Westerwelle: Ich bezweifle überhaupt nicht, Wir werden uns beispielsweise in Zukunft demokratischer Gesellschaft. Mein net- dass die Union mehrheitlich wieder sozial- stärker für eine vielfältige Kulturpolitik und ter Altersgenosse, der niedersächsische demokratisch orientiert ist. Mit Ausnahme eine moderne Umweltpolitik engagieren. Ministerpräsident Christian Wulff, hat der FDP haben wir jetzt im Bundestag nur SPIEGEL: Das klingt so, als ob Sie von den kürzlich darauf hingewiesen, dass es frü- noch Parteien, die sich staatliche Lösungen Grünen gelernt hätten. her Freiheit statt Sozialismus hieß und von Problemen wünschen und nicht die Westerwelle: Die Grünen haben das Pro- jetzt Freiheit und Sozialismus. Er hat freiheitliche und verantwortliche Bürger- blem, dass sie nie ausreichend über die recht. gesellschaft. Der wohlwollende Staat ist Generation Fischer hinausgekommen sind. SPIEGEL: Sie haben zusammen für einen das Ideal der Mehrheit der Union, der Allmählich bekommen sie eine Ahnung Regierungswechsel gekämpft, nun ist der SPD, der Grünen und erst recht der Lin- davon, in welch existentielle Schwierigkei- eine in der Regierung und der andere im- ken. Das sind alles Etatisten. ten sie durch seinen Weggang geraten. mer noch in der Opposition. Frau Merkel SPIEGEL: Woher nehmen Sie dann Ihre Meinen professionellen Respekt hat Herr wirkt nicht sehr unzufrieden mit der jetzi- fröhliche Zuversicht für einen Politik- Fischer auf Lebenszeit, er hatte es ge- gen Lösung. wechsel? schafft, die Grünen attraktiv zu machen Westerwelle: Ach, ich sehe, wie begeistert Westerwelle: Der Anteil derer, die unsere über das Ströbelesche Kreuzberg-Fried- die Abgeordneten der Union den Reden politische Haltung teilen, wird, wie fast alle richshain-Milieu hinaus. von Ludwig Stiegler Beifall geben. Und Wahlen zeigen, erkennbar größer. Die FDP SPIEGEL: Also durchaus auch ein Vorbild? wer sich die Freude gemacht hat, die Mi- verliert als einzige der im Bundestag ver- Westerwelle: Wenn man in der Opposition mik und das Verhalten der Abgeordneten tretenen Parteien keine Mitglieder, sondern ist, muss man bereit sein, auch eine große von Union und SPD in der Debatte über gewinnt welche. Seit der Bundestagswahl Zahl von Gegnern in Kauf zu nehmen, weil das unappetitliche Gasprom-Engagement haben wir 3000 Neumitglieder gewonnen, sonst die eigenen Anhänger und Sympa- von Herrn Schröder zu betrachten, der das ist bei einer Partei, die insgesamt 65000 thisanten gar nicht wissen, warum sie sich weiß: Das ist eine Notgemeinschaft von Mitglieder hat, eine ganze Menge. hinter einem versammeln sollen. Das ist Wahlverlierern. SPIEGEL: Das wird aber nicht reichen, auch mein politisches Prinzip. SPIEGEL: Sie glauben nicht, dass die Große um aus eigener Kraft in die Regierung zu SPIEGEL: Herr Westerwelle, wir danken Ih- Koalition vier Jahre durchhält? kommen. nen für dieses Gespräch.

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Fraktionsvorsitzende Künast, Kuhn Kritisieren, aber bitte nicht wehtun

Es war die Zeit, als die Grünen noch mit Blumentöpfen durchs Parlament flitzten und Kriegsbilder im Plenum hochhielten, als es um die Nachrüstung ging, oder als ein Parteitag unterbrochen wurde, weil die meisten Delegierten lieber einen kleinen Ausflug nach Wackersdorf machen woll- ten: zum Demonstrieren. Sie lebten von der Aura des Rebelli- schen, des Unkonventionellen. Heute klin- gen die Geschichten wie uralte Märchen. Jetzt geht es den Grünen wie einem Partyveranstalter, der keinen Alkohol aus- schenken darf und seine Gäste trotzdem

LAURENCE CHAPERON bei Laune halten muss. Sie dürfen nicht losledern, weil sie selbst so lange regiert Ihr Schicksal illustriert allein die Sitz- haben. Sie leiden an der Last der Vergan- GRÜNE ordnung im Bundestag. Die Grünen sind genheit. platziert zwischen zwei gewaltigen Blö- In der Folteraffäre quälten sie sich aus cken: den ehemaligen Partnern von der Rücksicht auf die Verantwortung Fischers Zwischen zwei SPD, zu denen man sich immer noch gern mit der Frage, ob sie die Bildung eines Un- mal für einen kurzen Plausch rübersetzt, tersuchungsausschusses unterstützen soll- und den Konservativen von der Union, die ten – und ließen sie energisch offen. Gleich- Blöcken bislang Gegner waren, aber in Zukunft zeitig vermerkten manche bitter, dass der Nach dem Verlust der Regierungs- vielleicht Partner werden sollen. An den Ex-Minister ihnen die Loyalität nur wenig Rändern können die anderen Opposi- dankte. „Es wäre uns allen wohler“, so ein macht wollen die tionsparteien derweil nach Belieben trom- Abgeordneter, „wenn er ein großes Inter- einstmals rebellischen Grünen meln: die FDP für die reine Marktwirt- view in der Sache geben würde.“ Doch Fi- das Unmögliche wagen – schaft, die Linkspartei für den real existie- scher denkt bisher nicht daran. eine vernünftige Opposition. renden Lafontainismus. Zugleich wissen die Grünen, dass sie es Die Mittelposition könne irgendwann sich mit keiner der Volksparteien dauerhaft er Abgeordnete Eduard Lintner die machtpolitische Option der Grünen verscherzen dürfen. Schließlich könnten hatte bislang kaum große Auftritte vermehren, meint der Parteienforscher sich SPD und Union künftig auch mit der Dim Parlament des Bundestags. Ver- Franz Walter zwar, „doch zugleich wird FDP verbünden, wenn sie eine Regierung gangene Woche aber trumpfte der CSU- sie dann die programmatische Schärfe min- jenseits der Großen Koalition bilden möch- Mann auf wie selten zuvor. Es ging um die dern, die politische Sprache verdünnen, ten. Nun geht es darum, bis dahin selbst at- Affäre Masri, und Lintner zitierte genüss- die kulturelle Eindeutigkeit von ehedem traktiv zu bleiben. lich aus Anfragen der Grünen an die Re- vernebeln“. Schon verfolgen die Grünen eher hilflos, gierung: Was genau die Bundesregierung Das lässt sich schon jetzt beobachten. wie die Volksparteien gierig ihre Kern- über die Verschleppung des Deutschen ge- Während Linke und Liberale klare Thesen kompetenzen kapern. SPD-Umweltminis- wusst habe, und seit wann? anbieten, für mehr Staat die einen und für ter Sigmar Gabriel präsentiert sich als „Liebe Kolleginnen und Kollegen“, hob weniger Staat die anderen, suchen die Grü- Hüter des Atomausstiegs und kämpft lei- der Rechtsanwalt und Hinterbänkler an nen noch ihr Profil. Sie wollen zwar kriti- denschaftlich für ein Klima à la Kyoto. und blickte süffisant auf die schmalen Rei- sieren, aber bitte nicht wehtun. Sie wollen CSU-Verbraucherminister hen der Grünen-Abgeordneten. „Für den opponieren, aber eigentlich auch mitregie- gibt derweil den entschlossenen Gammel- Fall, dass Sie es verdrängt haben: Der ren. Das neue Konzept heißt Opposition fleischbekämpfer. Und seine Vorgängerin Außenminister hieß damals Joschka Fi- light, doch mit ihrem entschiedenen So- Künast muss schweigend zusehen: Kritik scher. Warum fragen Sie ihn also der wohl-als-auch verbreiten sie bislang mehr am lückenhaften Kontrollsystem etwa wäre Einfachheit halber nicht selbst?“ Der sei Ratlosigkeit als Alternativen. Man sei in sofort auf sie zurückgefallen. „zusammen mit Schily in der Toskana!“, einer schwierigen Position „zwischen der Der ehemalige Staatssekretär Matthias ulkte FDP-Generalsekretär Dirk Niebel neoliberalen und der postkommunistischen Berninger sieht seine Partei bereits in ei- dazwischen, und Lintner schenkte den Opposition“, klagt Alexander Bonde, Ab- nem „Erfolgsdilemma“. „Die Regierung Grünen noch den wohlgefälligen Rat, „alle geordneter aus Baden-Württemberg. macht einfach grüne Politik weiter“, klagt Polemik und Selbstgefälligkeit in diesem So bleibt den Grünen als Ausweg nur er. Beim Atomausstieg, der Förderung er- Fall abzulegen“. ein bislang einmaliges Experiment: die neuerbarer Energien und der Stärkung von Die Grünen saßen da wie vom Blitz ge- vernünftige Opposition. Verbraucherrechten blieben Kurswechsel troffen, unfähig, sich zu wehren. Es ist „Es gibt eine große Chance für eine Par- bislang aus – und damit ironischerweise eben nicht leicht, wenn man Opposition tei, die Komplexität aushält“, sagt Frak- auch die Chancen für die eigene Profilie- sein will, aber nicht Opposition sein darf. tionschef Fritz Kuhn. So klingt es, wenn rung der Grünen. Die Eben-noch-Regierungspartei hat Pro- man aus der strategischen Not eine Tu- Als die Kanzlerin kürzlich Minister See- bleme mit sich selbst. gend machen will. hofer im Bundestag für dessen Engage- Den Abgeordneten geht es oft so in den Bei den Grünen wirkt die neue Lange- ment in Sachen Zuckermarktordnung vergangenen Wochen. Sie sind fleißig, aber weile besonders befremdlich. Wie keine pries, entfuhr Renate Künast ein lautstar- sie agieren unglücklich. Sie wirken einge- andere Partei haben sie der Republik in kes „Ha, ha, ha!“ Merkel konterte trocken: klemmt zwischen der eigenen Vergangen- den achtziger Jahren gezeigt, wie putz- „Ja, Frau Künast, das geht auch ohne Sie!“ heit und Zukunft. muntere Opposition aussehen kann. Ralf Beste, Markus Feldenkirchen

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Gebrochener Damm bei Bitterfeld (2002) loch, das laut diverser Gutachten „über Altlasten weggespült keinerlei natürliche oder technische Basis- oder Seitenabdichtung“ verfügt, wurde mit terfeld mitunter ganz plötzlich wieder auf. Gift aller Art befüllt. 76 000 Tonnen HCH- Etwa als das Umweltbundesamt turnus- Abfälle liegen darin – im unteren Teil der gemäß Fische aus Elbe und Mulde angelte, Grube steht das Grundwasser. Vom Lin- die so nachhaltig mit Schadstoffen belastet dan-Produzenten gab es einen Gleisan- waren, dass im August eine Warnung vor schluss zur „Antonie“, eine Grubenbahn dem Verzehr der Tiere herausgegeben beförderte das Gift direkt ins Loch. Dazu werden musste. Der Schadstoff war HCH, noch 48 000 Tonnen DDT-Schlamm, ein dessen bekannteste Variante unter dem Gemisch aus Schwefelsäure und Pflanzen- Markennamen „Lindan“ bis 1982 in Bit- schutzmitteln. terfeld hergestellt wurde und der als Da die Gifte bis heute in das Grundwas- krebserregend gilt. Von Bitterfeld aus, so ser suppen, überlegten Experten, wie die vermuten Experten, gelangt er derzeit wie- Kippe saniert werden kann. Die Kosten der in die Elbe. dafür werden auf 600 Millionen bis 2 Mil- Nun rächt sich, dass die enormen Altlasten liarden Euro geschätzt – Gutachter stuften der Stadt aus finanziellen Gründen oft nur das als „unverhältnismäßig“ ein. halbherzig beseitigt wurden. Experten aus Als Giftquelle kommt noch ein weite- dem In- und Ausland hatten unablässig die res Gebiet in Frage: die Spittelwassernie- Sanierung der Giftkippen angemahnt und derung nahe Bitterfeld. Bei einer ersten vor den Folgen eines Hochwassers gewarnt. Bestandsaufnahme 1991 verschlug es den „Man darf sich nicht zurücklehnen und die Wissenschaftlern den Atem. In Proben dunklen Punkte im Osten einfach verges- des Sediments, staunten Experten bei der sen“, ärgert sich Professor Heinrich Reincke, 1. Bitterfelder Umweltkonferenz, sei „ein der 16 Jahre die Sauberkeit der Elbe im Auf- ganzer chemischer Zoo von über 200 ver- trag der Anrainerländer überwachte. schiedenen potentiellen Schadstoffen“ ge- Dann kam die Jahrhundertflut 2002 – funden worden. 20 000 Kubikmeter Schlick und spülte die Altlasten davon. Die HCH- in der Aue gelten seither als extrem kon- Werte in den vom Umweltbundesamt ge- taminiert, drei Kilometer Flusslauf müssten

DDP / ULLSTEIN BILDERDIENST DDP / ULLSTEIN fangenen Brassen lagen bis zu 18fach über abgetragen oder versiegelt werden. den Grenzwerten, es waren die höchsten je Wahrscheinlich sind große Mengen die- ALTLASTEN in Deutschland gemessenen Belastungen ses Sediments mit der Flut 2002 über die bei Süßwasserfischen. Fische aus dem Mulde in die Elbe gelangt. Experten des Elbe-Zufluss Mulde waren extrem ver- Umweltforschungszentrums Leipzig-Halle Chemischer Zoo seucht, aber auch die in Hamburg-Blanke- gehen in einer Studie zur Schadstoffbelas- nese gefangenen Exemplare wiesen eine tung nach dem Hochwasser davon aus, In der Elbe schwimmen wieder deutliche HCH-Belastung auf. Die wohl dass „hochbelastetes Sediment aus der verseuchte Fische. Seit der Jahrhun- aus der Lindan-Produktion stammenden Unteren Mulde und dem Spittelwasser elb- Rückstände sind in der Umwelt kaum ab- abwärts verfrachtet“ worden sei. dertflut 2002 kommen die Hinter- baubar und lagern sich in Fettgewebe, Dabei gab es immer wieder Versuche, lassenschaften der DDR-Giftküche Knochenmark und Nervengewebe ab. die Altlast in den Griff zu bekommen. Das Bitterfeld an die Oberfläche. Die genauen Quellen für den neuerli- Landratsamt Bitterfeld ließ 1993 eine chen Giftschub in Elbe und Mulde werden Machbarkeitsstudie zur Sanierung anferti- ie Sonne spiegelt sich auf der 25 offiziell vom sachsen-anhaltischen Um- gen – für 20 bis 30 Millionen Mark, so die Quadratkilometer großen Wasser- weltministerium bis heute gesucht. Eine damalige Schätzung, wäre die Aue zu ret- Dfläche des Stausees „Goitzsche“, Altlast im Einzugsgebiet der Mulde steht ten. Doch das Regierungspräsidium legte sanft schlagen die Wellen an die Kaimau- unter Verdacht: In Bitterfeld liegt die sich quer, die Studie blieb unter Ver- er. Gerade wurde die neue Marina ein- Deponie „Antonie“, eine ehemalige Koh- schluss. geweiht, es folgt ein Sportboothafen. Di- lengrube. Das 20 bis 25 Meter tiefe Rest- Im Jahr 2000 erarbeitete ein internatio- rekt am Ufer des gefluteten Tagebaus nales Expertenkonsortium fünf Projekt- steht eine Neorenaissance-Villa und be- vorschläge, deren Umsetzung zwischen herbergt die staunenden Gäste des Idylls: 6 und 40 Millionen Euro gekostet hätte. In Bitterfeld, einst „dreckigste Stadt Euro- Beim billigsten Projekt wäre der Fluss be- pas“, kann man nun segeln, surfen und gradigt und das alte Sediment abgedeckt planschen. worden – doch passiert ist erneut nichts. Möglichst nichts soll hier erinnern an Im vergangenen Jahr gab die Arbeits- vergangene Tage, als die DDR-Giftküche gemeinschaft für die Reinhaltung der Elbe, noch brodelte, die Luft zum Schneiden war der sieben Bundesländer angehören, er- und die Abfälle der Chemieproduktion dis- neut eine „Empfehlung zur Sediment- kret in den Kohlengruben der Umgebung sanierung des Spittelwassers“ ab. Inner- verschwanden. Die Zukunft hält endlich halb von zwei Monaten könnten Hydrau- Einzug im einstigen Vorhof der Hölle – die likbagger die Fläche abtragen und Lkw das Zukunft, das sind Touristen. Sediment auf eine Sonderdeponie bringen. Nur: Die Vergangenheit lässt sich nicht Für grob geschätzt fünf Millionen Euro. so einfach fluten, und so taucht sie in Bit- Das Projekt verlief wie immer im Sande. Es war in etwa zu der Zeit, als das Um- DDR-Chemiestandort Bitterfeld (1983) weltbundesamt die Brassen fischte. Da war

Vorhof der Hölle / ARGUS EISERMANN es längst zu spät. Steffen Winter 36 Deutschland

gehen und wo er nun wohnen sollte. Er kaufte sich eine Dose Bier und fuhr zum STRAFJUSTIZ Sozialamt. Auch dort war man ratlos. In seiner Not kam er bei einer Frau aus dem Milieu unter, die schon mal erzählt „So geht’s ja nun doch nicht“ hatte, „der Luddi“ habe den kleinen Pas- cal in der Badewanne mit Salzsäure auf- Zwischenbilanz im Pascal-Prozess: Ein Angeklagter will seine Ehre gelöst. Nach drei Tagen fand er einen Platz in der „Herberge zur Heimat“, einem wiederhaben. Die Kripo gerät in Erklärungsnot. Die Saarbrücker Obdachlosenheim. Seitdem Verteidigung besinnt sich ihrer Pflichten. Von Gisela Friedrichsen ist er dort.

s ist der 77. Verhandlungstag im Saarbrücker „Pascal-Prozess“, der Eletzte vor den Festtagen. Wieder ein- mal werden Kripobeamte gehört, die die jetzt Angeklagten einst als Beschuldigte vernommen hatten. Gegen elf Uhr öffnet sich die Tür zum Zuschauerraum. „Lud- di“drückt sich auf die hinterste Bank. Mit richtigem Namen heißt er Günter Ludwig, 51, und war bis zum 10. Oktober Angeklagter in dem Verfahren, in dem es um den 2001 verschwundenen fünfjähri- gen Jungen Pascal geht, von dem bis heu- te jede Spur fehlt, der aber nach Auffas- sung der Staatsanwaltschaft in der Burba- cher „Tosa-Klause“ sexuell missbraucht und getötet worden sein soll. Im Oktober wurde Ludwig wie drei andere Angeklag- te aus der Haft entlassen, weil der Tatver- dacht dem Gericht nicht mehr dringend erschien. Er hat es aber noch besser. Für ihn ist der Prozess vorbei, zumindest vor- läufig, da er als verhandlungsunfähig gilt. Schon im September ging es ihm schlecht. In der Haft klagte er über Taub- heit im linken Arm und Schwindelgefühle. Es war wohl ein Schlaganfall gewesen, der aber vom Gefängnisarzt weder diagnosti- ziert noch behandelt wurde. In der Sitzung vom 29. September fiel Ludwigs Verteidi- gerin Brigitte Bertsch sein desolater Zu- stand auf. Der psychiatrische Gutachter Michael Rösler untersuchte den Ange- klagten oberflächlich. Ludwig kam als Not-

fall in die Städtischen Kliniken, wo er bis DIETRICH RAINER zum 7. Oktober blieb. Angeklagter Ludwig, Verteidigerin Bertsch: „Ein einfacher Mensch, aber kein schlechter“ An jenem Morgen erschienen zwei Poli- zeibeamte an seinem Bett mit einem Ent- lassungsschein aus der Untersuchungshaft. Man händigte ihm sein restliches Taschen- geld aus und setzte ihn vor die Tür. Da stand er nun. Dass der Anstaltsarzt von einer „lebensbedrohlichen Durchblu- tungsstörung des Gehirns“ wusste, „die je- derzeit zum plötzlichen Hirntod des Pa- tienten führen kann“, hatte ihm niemand gesagt. Auch nicht, dass „außer blutver- dünnenden Maßnahmen keine weitere Therapieoption mehr in Frage“ komme und sein Zustand „weder in einer Justiz- vollzugsanstalt noch in einem JV-Kran- kenhaus gebessert werden“ könne. Von „akuter Lebensgefahr“ erfuhr er aus „Bild“: „Er hat nur noch wenige Wochen zu leben. Vielleicht auch nur einige Tage.“

Geht man so mit Menschen um? / ZEITENSPIEGEL KWIOTEK RAINER Zunächst wusste Ludwig nicht, wohin er Vorsitzender Chudoba, Beisitzer: „Nackt-ED? Was ist das? Ich kenne den Begriff nicht“

38 der spiegel 52/2005 Und nun erscheint er freiwillig wieder nommen. Der habe, so der Beamte als Ghureib gewirkt!“, sagte der Vorsitzende im Gericht. Er könnte auf Nimmerwieder- Zeuge, jede Kenntnis vom Verschwinden und zählte auf: Prügel angedroht, zu Bo- sehen verschwinden. Er könnte die Frei- des Jungen „geleugnet“. S. befürchtete da- den geworfen, ohne Hose und Unterhose heit, was immer er auch darunter versteht, mals, man wolle ihm partout etwas in die dastehen lassen und so fort. H. empört: genießen. Doch er „will den Freispruch“. Schuhe schieben. Er habe mit Pascal nichts „So ist es nicht abgelaufen!“ Der Verteidi- Er will unbedingt erzählen, „wie es war“. zu tun.Dann wollte er nichts mehr sagen ger des Betreffenden: „Es ist aber richtig, Inzwischen wurde er auf Betreiben sei- und verlangte nach einem Anwalt. dass Sie eine Nackt-ED machen wollten?“ ner Anwältin und des Saarbrücker Straf- Der Vorsitzende Ulrich Chudoba: „Sie Der Zeuge bejaht zögernd. verteidigers Walter Teusch im Herzzen- haben aber trotzdem weitergefragt. War- Der Vorsitzende ist irritiert. „Nackt-ED? trum Völklingen untersucht. Von wegen um?“ Der Beamte: „Weil S. mir noch ge- Was ist das? Ich kenne den Begriff nicht. „keine weitere Therapieoption“: Man hat sprächsbereit schien. Er wusste in dem Mo- Gehören Nacktaufnahmen – es sei denn, ihn behandelt, man kann ihn weiter be- ment wohl keine Antwort. Sätze wie ‚nicht es liegt ein Grund vor – zur üblichen handeln, er bekommt Medikamente, er ohne meinen Anwalt‘ fallen ja sehr oft, erkennungsdienstlichen Behandlung?“ Bei trinkt nicht mehr und führt ein geregeltes ohne dass ein Wille dahintersteht.“ Sexualdelikten, versichert der Beamte, Leben. Er strotzt zwar nicht vor Gesund- Und dann? Der Beamte: „Dann legten durchaus: „Falls es in einer weiteren Ver- heit, doch es geht ihm besser denn je. wir ihm eine blaue Mülltüte vor. In so eine nehmung heißt, derjenige habe ein Furun- Brigitte Bertsch, eine junge Anwältin wurde ja das tote Kind gesteckt. Und einen kel am Hintern oder eine Warze am Penis, ohne viel Erfahrung bisher mit einem Pro- Spaten, mit dem das Kind wohl vergraben hätte man das feststellen können.“ Der zess solchen Kalibers, ist sich des Dilemmas wurde, und ein Bild von Pascal.“ Chudoba: Sohn einer Angeklagten habe schließlich bewusst: „Kümmere ich mich um die Ge- „Mit so etwas kommen Sie jetzt! Da hätte erzählt, die Männer hätten ihn in Serie sundheit meines Mandanten, setze ich ihn ich aber Bedenken! Sie nicht?“ Der Be- missbraucht. „Da macht es doch Sinn, dem der Gefahr aus, wieder auf die Anklagebank amte schüttelte den Kopf. Der Vorsitzende Kind die Fotos zu zeigen. Kinder wissen ja zu müssen, was ja nicht Aufgabe des Vertei- brach die Vernehmung ab: „Verwerten oft Namen nicht“, so der Beamte. digers ist. Kümmere ich mich aber nicht, können wir das ja sowieso nicht. So geht’s „Wollten Sie dem Kind tatsächlich diese wäre er wohl tatsächlich bald am Ende, was ja nun doch nicht.“ Fotos zeigen?“, fragte der Vorsitzende ent- ich noch weniger verantworten kann. Auch Es steht zu befürchten, dass weitere Ver- geistert. Der Beamte schwieg. Es sei ja nur besteht er darauf, seine Ehre wiederzuer- nehmungen mit entlastendem Inhalt eben- ein Beispiel gewesen. langen. Er ist zwar ein einfacher Mensch, so unverwertbar sind. Auf die Verteidi- Auch Ludwig musste seine Geschlechts- deshalb aber noch lange kein schlechter.“ gung, ohnehin ein Sonderproblem im Pas- teile fotografieren lassen. Dabei bestand Teusch wiederum, Verteidiger gegen ihn nie ein entsprechender der angeklagten „Tosa“-Wirtin, ist dringender Tatverdacht. Ihm wird an Ludwig auch als einem wichti- nur Beihilfe vorgeworfen, weil er gen Zeugen interessiert: „Ludwig aufgepasst haben soll, dass nie- erinnert sich genau an den Ver- mand die angeblichen Täter stört. lauf jenes Tages, an dem der klei- Warum aber dann Fotos seiner ne Pascal verschwand. Seine An- Genitalien? gaben entsprechen exakt dem, Auch weitere Personen wurden was meine Mandantin unabhän- so abgelichtet, anderen blieben gig von ihm ausgesagt hat.“ derartige Fotos erspart, es ging Doch alle Versuche, Ludwig als willkürlich zu. „Wenn Sie Bewei- Zeugen zu benennen, wurden se sichern, fertigen Sie doch ei- vom Gericht bisher abgelehnt, nen Vermerk für die Akten an“, weil – ja weil der Psychiater Rös- hielt Verteidiger Teusch dem Be- ler, Allzweckwaffe unter den saar- amten vor. „Warum gibt es kei- ländischen Gutachtern, der für die nen einzigen Vermerk über diese Beurteilung der Schuldfähigkeit sogenannten Nackt-EDs? Wo sind

ebenso gefragt ist wie für aussa- DPA die Fotos?“ H., in Erklärungsnot: gepsychologische Probleme und Verschwundener Pascal: Seit 2001 keine Spur von dem Jungen „Natürlich hätt’ man das vermer- nun sogar für internistische, auch ken können. Ich weiß nicht mehr, ohne nähere Kenntnis nach wie vor Le- cal-Prozess, kommt Arbeit zu. Doch es ob ich es gemacht habe.“ Der Vorsitzende bensgefahr bei Ludwig sieht. Selbst wenn scheint, dass sich mehr als ein Jahr nach eisig: „Sie können davon ausgehen, dass die Herzspezialisten dessen Zustand für Prozessbeginn so mancher Anwalt doch der Herr Verteidiger und das Gericht nichts weit weniger dramatisch und eine Zeu- allmählich seiner Pflicht bewusst wird. Bis- gefunden haben in den Akten.“ genbefragung für unbedenklich halten. her hatten der öffentliche Abscheu vor Der Beschuldigte S. stand damals auf. Dabei wäre Ludwig auch in anderer „Kinderschändern“ und nicht zuletzt eige- Das Verhör reichte ihm. Daraufhin packte Hinsicht als Zeuge interessant, wie sich an ne Vorurteile gegen die zum Teil geistig ihn der Beamte und drückte ihn auf den jenem 77. Verhandlungstag zeigte. Bisher beschränkten Angeklagten die meisten Stuhl zurück, wobei Mensch und Möbel fiel auf die Vernehmungskunst der Saar- Verteidiger geradezu gelähmt. Zu Geld zu Boden gingen. H.: „Wenn man den Ein- brücker Kripo nur diffuses Licht. Man hat- kommt man in diesem Prozess auch nicht. druck hat, da kommt noch was – und der- te von Zeugen gehört, dass sie angstvoll Ein Anwalt begriff gar nicht, warum die jenige versucht zu flüchten, dann schnapp Dinge ausgesagt hätten, die nicht oder Kammer im Oktober den Haftbefehl ge- ich mir den natürlich.“ Wollte S. flüchten? nicht ganz der Wahrheit entsprachen, weil gen seine Mandantin aufhob; sie hatte Der Verteidiger Hans Lafontaine, Zwil- man ihnen so zugesetzt habe. Das alles doch ein so schönes Geständnis abgelegt. lingsbruder des ehemaligen saarländi- wurde jeweils als Geschwätz abgetan. Als nächster Zeuge erschien am 77. Sit- schen Ministerpräsidenten und mit den Nun aber haben zwei Polizeibeamte zungstag der Kripobeamte H. Der Vorsit- Besonderheiten des Pascal-Prozesses we- Dinge zugeben müssen, die sich mit Auf- zende belehrte ihn über sein Schweige- nig vertraut, da er für eine Kollegin ein- klärungseifer allein nicht erklären lassen. recht, denn es gab mal eine Anzeige gegen sprang, sagte kopfschüttelnd beim Hinaus- Der Beamte Sch. etwa hatte am 22. Fe- ihn. „Wenn das zutrifft, was da drinsteht, gehen: „Das ist hier ja fast wie in Guan- bruar 2003 den Beschuldigten Dieter S. ver- könnte man meinen, Sie hätten in Abu tanamo.“ ™

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FAMILIEN Kind im Kreidekreis Seit sechs Jahren streiten zwei Männer um einen Jungen: Der eine hat ihn gezeugt, der andere hat ihn aufgezogen. Die Bundesrepublik wurde in dem Fall schon verurteilt, Gerichte und Gutachter stritten sich. Aber noch immer ist unklar, zu wem der Junge gehört. Von Markus Verbeet

s geht um ein Kind. Man kann das die dieses Kind lieben: Der eine hat es ge- sie züchten Schafe und Ziegen. Aber jetzt leicht vergessen in dieser Geschichte, zeugt, der andere hat es aufgezogen, und muss er, der keinen Schulabschluss hat und Edenn es tauchen darin so viele Er- jetzt wollen beide dieses eine Kind. als Verputzer arbeitet, plötzlich die deut- wachsene auf. Aber es geht um ein Kind. Es ist ein klassischer Konflikt, ein Kind sche Juristerei begreifen. Seine jetzige Ehe- Das Kind ist Christofer zu nennen im kaukasischen Kreidekreis – doch wie frau, eine Deutsche, die er nach der Ge- oder auch nicht, das lässt sich nicht so ein- ihn heute, in einem Rechtsstaat, lösen? burt seines Kindes geheiratet hat, hilft ihm. fach sagen, seit die Erwachsenen darum Gehört das Kind zu dem Mann, der sein „Aber manchmal kann ich nichts begrei- streiten. Das Kind soll hier leben oder Vater ist? Oder zu dem Mann, den es sei- fen“, sagt der 36-Jährige. dort, auch dies lässt sich nicht sicher sa- nen Vater nennt? Und müsste nicht, so oder Das Drama beginnt, als er bereits meh- gen, denn auch darum streiten die Er- so, längst eine Entscheidung gefällt sein? rere Jahre in Deutschland lebt. 1994 kam er wachsenen. hierher und begehrte Asyl, rund drei Jah- Unbestritten ist, immerhin, die Geburt Der Vater re später lernt er eine deutsche Frau ken- des Kindes: männlichen Geschlechts, am Manchmal geht Kazim Görgülü in das Zim- nen. Das Paar will heiraten, die Frau wird 25. August 1999, in Leipzig. So besiegelt mer, das er für seinen Sohn eingerichtet schwanger, aber dann sagt die Frau alles vom Standesamt der Stadt, Abstam- hat. Er geht dann die Treppe hinauf, in ab. Monate später erfährt Görgülü, dass mungsurkunde Nummer 2437/1999, ausge- den ersten Stock seines kleinen Hauses bei seine Ex-Partnerin das Kind geboren hat. stellt im fünften Monat nach der Geburt. Leipzig, und schaut sich um. Es lebt bereits bei einer Pflegefamilie. Als der Streit gerade begonnen hatte, In einer Kiste liegen Lego-Steine und Kazim Görgülü beginnt, um sein Kind aber noch zügig zu enden schien. Als das Plastik-Schlümpfe für Christofer, im Regal zu kämpfen. Er geht zum Jugendamt, doch Bundesverfassungsgericht noch nicht be- stehen „Das große Buch der Dinosaurier“ die Mitarbeiter weisen ihn ab. Die Mutter fasst war und nicht der Europäische Ge- und „50 Gute-Nacht-Geschichten“. Auf wolle eben nicht, dass das Kind zu ihm richtshof für Menschenrechte. Nicht die dem Bett sieht der Vater die Decke mit den komme, erklären sie. Und wer wisse denn, deutsche Regierung und nicht diverse Mäusen und den Elefanten, unter die sich dass er überhaupt der Vater sei? Görgülü Staatsanwälte. Als noch nicht 3 Gutach- Christofer kuscheln könnte. Vor dem Bett zieht vor Gericht, um die Vaterschaft fest- parkt das Feuerwehrauto, stellen zu lassen. Er gewinnt das Verfahren, das Christofer über den Bo- aber er verliert Zeit. den rasen lassen könnte. Sein Sohn ist jetzt fast ein Jahr alt. „Das Nichts fehlt in diesem Kind hatte enge liebevolle Bindungen zu Kinderzimmer. Nur das seinen Pflegeeltern aufgebaut“, heißt es in Kind. einer Stellungnahme des Landkreises, des- „Vor sechs Jahren haben sen Jugendamt für Christofer zuständig wir das Zimmer eingerich- ist. „Eine Trennung zu Gunsten des biolo- tet“, sagt der Vater. Alles gischen Vaters war dem Kind aus der Sicht sollte vorbereitet sein, wenn des Kindeswohles nicht zuzumuten.“ Christofer hierher kommt. Christofer bleibt bei den Pflegeeltern. Doch Christofer ist nicht ge- Die Verfahren stehen erst am Anfang, kommen. Der Vater greift noch ist der erste Aktenordner nicht ge- sich das Feuerwehrauto. füllt, aber spätestens jetzt weiß Kazim Gör- „Das wollte ich ihm zu gülü: Die Zeit arbeitet gegen ihn. Weihnachten schenken“, Görgülü zieht weiter vor Gericht,

SABINE SAUER / DER SPIEGEL SAUER SABINE sagt er. Aber Weihnachten zunächst mit Erfolg. Das Amtsgericht ord- Vater Görgülü (im Kinderzimmer): „Ich will meinen Sohn“ durfte er seinen Sohn nicht net an, dass er seinen Sohn sehen darf. sehen. Der Vater blickt auf Mehrfach trifft er die Pflegefamilie, das ten erstellt waren, 5 Strafanzeigen erstattet, den Polizeihubschrauber. „Das war für Amtsgericht überträgt Görgülü schließlich 34 Gerichtsentscheidungen gefällt. Ostern“, aber auch Ostern durfte er seinen sogar das Sorgerecht. Doch das Jugendamt Mehr als sechs Jahre sind seit diesem Sohn nicht sehen. Dann geht Görgülü ruft das Oberlandesgericht Naumburg an. 25. August 1999 vergangen. Noch immer schnell zurück ins Wohnzimmer. Dort im Das Amt bringt vor, was angeblich gegen kämpfen alle um den Jungen; alle außer Schrank sind die sechs Jahre Kampf um den Vater vorzubringen ist. Er sei, unter der Mutter. Sie hat ihren Sohn gleich nach sein Kind dokumentiert. 13 Aktenordner. anderem, „im hiesigen Sprach- und Kul- der Geburt zur Adoption freigegeben und Es ist schwierig, diese vielen Verfahren turkreis nicht heimisch“ und sogar „prak- will jetzt, „dass endlich einmal Ruhe ist“. zu verstehen, und vielleicht ist es am tizierender Moslem“. Die Richter des Doch es ist nicht Ruhe. Es streiten Rich- schwierigsten für den Vater selbst. Er 14. Zivilsenats urteilen, wie sie noch häu- ter, Rechtsanwälte und Staatsanwälte. Es stammt aus Kusburun-Kuyü, einem klei- figer urteilen werden: gegen den Vater. streiten Psychologen und Politiker. Vor al- nen Dorf im Osten der Türkei. Sein Ur- Görgülü darf sein Kind nicht mehr sehen. lem aber streiten, gemeinsam mit ihren großvater hat das Dorf gegründet, erzählt Als seine Verfassungsbeschwerde nicht Ehefrauen, zwei Männer. Zwei Männer, er, noch heute leben dort nur Görgülüs, angenommen wird, zieht Görgülüs Anwältin

40 der spiegel 52/2005 ein Recht auf Umgang ist oft wenig wert – und manchmal gar nichts. Als Görgülü seinen Sohn im Januar zum ersten Mal wiedersehen will, legt das Ju- gendamt das Attest einer Ärztin vor, Chris- tofer sei „fieberhaft erkrankt“. Als der Va- ter ihn eine Woche später sehen will, be- ruft sich das Amt auf ein Gutachten. Eine „erhebliche Traumatisierung“ befürchten zwei Sachverständige, wenn Christofer von der Pflegefamilie getrennt würde; der Be- such wird wiederum unterbunden. Der Vater glaubt längst, dass das Jugend- amt, dem das Sorgerecht für seinen Sohn übertragen worden ist, gemeinsame Sache macht mit den Pflegeeltern. Über Jahre ha- ben die Pflegeeltern und der Amtsvormund dieselbe Anwältin. Die vermag aber kei- nen Interessenkonflikt zu erkennen. Auch der verantwortliche Landrat weist alle Vorwürfe von sich – auch wenn sich die Aufsichtsbehörde gezwungen sehen wird, dem Landkreis den Fall zu entzie- hen, da der Umgang immer wieder ver- hindert werde. Die Aufsichtsbehörde kon- statiert „eklatante Gesetzesverstöße“. Görgülü kann nicht fassen, wie sich alle gegen ihn zu verbünden scheinen, und dann muss er noch diesen Artikel in einer Lokalzeitung lesen: „Die wundersame Kar- riere des Kazim Görgülü“. Der Verfasser behauptet, dass „der Türke“, der jetzt „den treusorgenden Vater gibt“, damals nur ein Bleiberecht begehrte, als er Christofers Mutter kennen lernte. „Eine deutsche Frau muss her“, darum sei es dem „abgelehnten Asylanten“ gegangen. Er will nun endlich Christofer sehen, nachdem keine Ärztin mehr eine Erkran- kung bescheinigt und das Bundesverfas- sungsgericht das Gutachten über die „er-

SABINE SAUER / DER SPIEGEL SAUER SABINE hebliche Traumatisierung“ für irrelevant Ehepaar Bauer, Christofer: „Enge und liebevolle Bindungen zu seinen Pflegeeltern“ gehalten hat. Doch die nächsten Samstage sind bedrückend, zweimal nur kann er mit vor den Europäischen Gerichtshof für Men- der Verdacht auf, dass der 14. Zivilsenat seinem Sohn spielen. Dann geht immer schenrechte in Straßburg. Die sieben Rich- diesen Beschluss einer verfassungsgericht- etwas schief. „Die Pflegeeltern halten ter, darunter ein Deutscher, entscheiden im lichen Überprüfung entziehen wollte“. Christofer fest“, sagt er. „Oder die Frau Fall „Görgülü versus Germany“: Deutsch- Was nicht gelingt. vom Jugendamt fragt so oft, ob er mit- land hat den Vater in seinem Menschenrecht Görgülü legt die Entscheidung in Karls- kommen will, bis er nein sagt.“ Die Pfle- auf Achtung des Familienlebens verletzt, ruhe vor, das Bundesverfassungsgericht geeltern und das Amt bestreiten dies. eine neue Regelung ist zu treffen. Görgülü wird sie später in der Luft zerreißen. Das Seit August immerhin verlaufen die gewinnt, Germany verliert. Oberlandesgericht habe „das Urteil des Samstage besser. Meistens kann Görgülü Sein Sohn ist jetzt viereinhalb. Der Va- Europäischen Gerichtshofs für Menschen- seinen Sohn sehen, kann in den Zirkus ge- ter freut sich, ihn endlich wieder zu sehen. rechte nicht nur nicht beachtet, sondern hen oder auf den Fußballplatz. Aber im- Aber er freut sich zu früh. dessen Vorgaben in ihr Gegenteil ver- mer nur samstags, immer nur kurz; zuletzt Denn das Oberlandesgericht Naumburg kehrt“. Und: Das Gericht habe „außerhalb alle zwei Wochen für vier Stunden. stellt sich stur. Ein Umgangsrecht für den seiner Zuständigkeit unter Verstoß gegen Görgülü hätte Christofer so gern ganz Vater? Kommt nicht in Frage, urteilen die die Bindung an Gesetz und Recht“ gehan- bei sich, im nächsten Sommer oder spätes- Richter des 14. Zivilsenats unbeirrt. Selbst delt. Einen härteren Vorwurf kann man tens im Sommer drauf. Nach sechs Jahren nachdem das Bundesverfassungsgericht die Richtern kaum machen. Die Staatsanwalt- Kampf sitzt er ratlos vor den Aktenord- Richter noch einmal belehrt hat, ändert schaft Halle ermittelt gegen vier Richter nern und sagt: „Ich kann das alles nicht sich nichts. wegen Rechtsbeugung. mehr verstehen.“ Er will nicht aufgeben, Eine Entscheidung pro Görgülü melden In einem Eilbeschluss bestätigt das Bun- aber er sieht müde aus. die Naumburger Richter umgehend nach desverfassungsgericht, dass Görgülü sei- Während der Woche bleiben ihm nur Karlsruhe, nur um am selben Tag noch eine nen Sohn für zwei Stunden pro Woche se- die Fotos, die er auf den Wohnzimmer- Entscheidung gegen Görgülü zu treffen – hen darf. Samstags, 15 bis 17 Uhr. Auf dem tisch legt. Sie zeigen einen der größten Er- diesen zweiten Beschluss aber behalten sie Papier hat Görgülü gewonnen. Aber er hat folge, den Görgülü in sechs Jahren errun- erst einmal für sich. Die Verfassungsrichter ein weiteres Jahr verloren. Und die Pro- gen hat. Sie zeigen einen Fußballplatz am fühlen sich ausgetrickst. Ihnen „drängt sich bleme in der Praxis beginnen erst. Denn Samstag, dem 28. Mai 2005. Als er mit

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Christofer spielen durfte. Vater und schen Tee mit, Bauer hat Babyfotos Sohn sind auf diesen Fußballplatz dabei. Man kommt sich näher, man gegangen, unter amtlicher Aufsicht, duzt sich. und haben aufs Tor geschossen. Es gibt ein Video vom ersten In einem Protokoll wird später Treffen. Es zeigt einen aufgeweck- zu lesen sein: „Für die Beobach- ten Einjährigen, der über den Bo- ter stellt sich das Spiel als ein un- den tapst und Bauklötze stapelt. befangenes Fußballspiel dar, wie Links von ihm steht Kazim Gör- es zwischen einem Erwachsenen gülü, er hält sich schüchtern vor der und einem 6-jährigen Jungen üblich Wand, rechts kniet Heiko Bauer. ist.“ Bauer nimmt ein Plastikflugzeug und schubst es in die Richtung des Der Pflegevater fremden Mannes. Damit das Kind Der Anruf, der Heiko Bauer seinen zu seinem Vater krabbelt.

zweiten Sohn beschert, kommt an / ECHR WUIBAUX ELLEN Mehrere weitere Begegnungen einem Donnerstag. Schon lange will Gerichtshof für Menschenrechte*: Görgülü versus Germany finden statt, einmal schlendern alle er ein zweites Kind adoptieren, gemeinsam über den Weihnachts- aber bislang hat es nicht geklappt. „Der wenn Görgülü sogar auf Mahnwachen re- markt, aber die Stimmung wird schlechter. Anruf kam relativ überraschend“, sagt det und sich von der Presse in einem leeren Heiko Bauer ist es leid, dass er den Jungen, Bauer. „Das Jugendamt wollte wissen, ob Kinderzimmer fotografieren lässt. der ihn seinen Papa nennt, nicht nur immer wir auch kurzfristig ein Kind aufnehmen Für Bauer und seine Frau sieht alles so häufiger aus der Hand geben soll – son- könnten.“ Das gewünschte zweite Kind für einfach aus, im August vor sechs Jahren. dern schließlich für immer. „Bei einem Tref- ihre Familie. Ein kleiner Bruder für ihren Sie wissen nichts von einem Vater, der In- fen ist Herr Görgülü einfach eingeschlafen“, ersten Adoptivsohn. teresse an dem Kind hat. Sie beschließen, sagt Bauer. „Und seine Frau hat gesagt: Wir Am Freitagmorgen fahren Heiko Bauer dem Jungen einen anderen Namen zu ge- wollen den Jungen in unserer Familie, egal, und seine Frau zum Krankenhaus in Leip- ben, wie es auch andere Eltern machen, ob es dem Kind gut tut oder nicht.“ Beides zig. Eine Mitarbeiterin des Jugendamts die ein Kind adoptieren wollen. „In den bestreitet das Ehepaar Görgülü vehement. zeigt der Familie den Jungen. Die Mutter Unterlagen im Krankenhaus war nicht klar Aktenkundig ist: Das Oberlandesgericht ist schon weg, aber das Baby liegt in sei- zu erkennen, wie er heißt, da stand Chris- Naumburg will keine weiteren Treffen. Es nem Bettchen. Am Sonntag holen sie das tian und Christofer, und das auch noch in setzt den Umgang für ein Jahr aus und ver- Kind heim. verschiedenen Schreibweisen“, sagt Bauer. wehrt Görgülü das Sorgerecht. Die Richter Das Haus der Bauers liegt in einer ruhi- Noch weiß er nicht, dass die Namensge- stützen sich auf ein Gutachten des Landes- gen Straße einer kleinen ostdeutschen bung einmal zu einer Strafanzeige führen jugendamts und verweisen auf die „enge Stadt. Man kennt die Nachbarn, die Nach- wird; noch denkt Görgülü nicht daran, An- Eltern-Kind-Bindung“ zwischen Christofer barn grüßen freundlich, hinter dem Haus zeige zu erstatten. und den Pflegeeltern. Das Verfassungsge- stehen ein Klettergerüst und eine Schaukel. Als Bauer erfährt, dass es Kazim Gör- richt sieht zu diesem Zeitpunkt keinen Am Tisch sitzt die Familie, es gibt Kaffee gülü gibt, lernt er ihn kennen. Mehrfach Grund, sich mit der Sache zu befassen. für die Erwachsenen und Kekse für alle. treffen sich die beiden Männer, gemein- Natürlich kann man die Gerichts- „Ich habe mich damals wahnsinnig ge- sam mit ihren Frauen und dem Kind. Das entscheidung kritisieren; der Europäische freut“, sagt Bauer. Der 43-Jährige lächelt, Amtsgericht hat eine Sozialpädagogin als Gerichtshof für Menschenrechte wird dies dann schaut er prüfend. Noch nie hat er mit Verfahrenspflegerin eingesetzt, die diese fast drei Jahre später tun. Aber kann man einem Journalisten gesprochen, er will Treffen arrangiert. Görgülü bringt türki- Bauer kritisieren, dass er so lange einer nicht neuen Streitstoff liefern. Aber einmal rechtskräftigen Entscheidung folgt? Er seine Sicht schildern, das will er schon – * In Straßburg. freut sich einfach, dass Ruhe einkehrt. Sei- ne Frau beendet den Erziehungsur- schwappt und die Eltern ziemlich laub, die Lehrerin arbeitet jetzt als böse blicken. Steuerfachgehilfin. „Da bin ich fle- Das Leben könnte sehr einfach xibler und kann besser für die Kin- sein, wenn man gerade sechs ge- der da sein“, sagt sie. worden ist. Das Urteil des Menschenrechts- Im Leben dieses Kindes aber ist gerichtshofs trifft die Familie über- nichts mehr einfach. Im Februar raschend. Nur ein Bruchteil der Be- steht der nächste Gerichtstermin an, schwerden, die in Straßburg einge- vorher soll Christofer wieder ein- hen, hat Erfolg. „Das Jugendamt mal begutachtet werden, von einer und wir sind in dem Verfahren Psychologin des Landeskriminal- überhaupt nicht angehört worden“, amts. Dann will das Oberlandesge- sagt Bauer. Die Richter in Straßburg richt, diesmal der 8. Zivilsenat, ent- verurteilen die Bundesrepublik, sie scheiden, was nun mit dem Umgang kritisieren das Oberlandesgericht ist, und vielleicht auch bestimmen, und das Jugendamt – aber sie tref- Görgülü, Sohn Christofer: „Unbefangenes Spiel“ wer das Sorgerecht hat. Doch der fen vor allem Bauer und seine Frau. Streit könnte weitergehen. Nachdem sich die Gerichte noch einige Verein „Väteraufbruch für Kinder“ ruft zu Kein Richter Azdak, wie ihn Brecht in Scharmützel geliefert haben, hat Bauer Spenden auf, „Sonderkonto Görgülü“, und seinem „Kaukasischen Kreidekreis“ auf- nun am Samstag bereitzustehen. „Da ist zu Mahnwachen. Anfang Dezember wur- treten lässt, kann ihn einfach beenden. Das an ein normales Familienleben nicht mehr den in Halle, dem Sitz des Landesjugend- deutsche Rechtssystem, das eigentlich dem zu denken“, sagt er. Jeder Urlaub sei recht- amts, wieder Schilder in die Höhe gehalten: einfachen Prinzip „Ober sticht Unter“ zeitig anzumelden, sonst gebe es Ärger. „Keine Zwangsadoption von Christofer folgt, wirkt wie eine Endlosschleife. Bis- „Einmal hatten wir die Koffer schon ge- durch die Pflegeeltern!“ und „Stoppt die her sind so viele einstweilige Anordnungen packt“, sagt Bauer – da habe Herr Gör- Kinderhändler in Gerichten aller Instanzen und so wenige endgültige Entscheidungen gülü beim Landesverwaltungsamt den Ur- und in den Jugendämtern!“ getroffen worden. Der Rechtsweg scheint laub noch unterbinden wollen. Bauer sagt: „Wenn wir wirklich den Um- nie erschöpft, aber Heiko Bauer wirkt er- Aus Kazim ist längst wieder Herr Gör- gang vereiteln würden, dann hätte es doch schöpft und Kazim Görgülü auch. gülü geworden, aus einem vernünftigen auch am 28. Mai nicht geklappt. Es war Heiko Bauer sagt: „Wir haben Verständ- Miteinander ein nervenaufreibender Kampf der Tag, als Christofer mit seinem Vater nis für die Interessen des leiblichen Vaters. ums Kind. Der beginnt mit den Begriffen: aufs Tor schoss. Abends war Christofer Es ist schade, dass er nicht zum richtigen Bauer bezeichnet sich als Adoptivpfle- „völlig erschöpft“, berichtet Bauer. Am Zeitpunkt da war. Aber jetzt geht es nur gevater, da er mit seiner Frau die Adoption nächsten Morgen soll er gesagt haben: „Ich darum, was besser ist für das Kind, und in anstrebt. Görgülü aber bezeichnet ihn will nicht mehr mit Kazim spielen.“ unserer Familie ist es fest integriert.“ als Pflegevater, wie ihn Kinder haben, die Kazim Görgülü sagt: „Ich hab nichts ge- nur vorübergehend von ihren Eltern ge- Das Kind gen die Pflegeeltern. Aber ich will meinen trennt werden. „Manchmal wird auch be- An den guten Tagen darf Christofer ein- Sohn, man kann ihn mir doch nicht wegneh- hauptet, wir wollten uns nur bereichern“, fach nur Kind sein. Er kann sich, wenn men. Das ist doch nicht gut für Christofer.“ sagt er. „Das ist völliger Quatsch.“ Ihm gerade keiner guckt, schnell so viele Erd- Das Kind sagt noch nicht viel. Eines Ta- und seiner Frau gehe es allein um Christo- beer-Bonbons in den Mund stecken, dass ges aber wird Christofer sein eigenes Urteil fers Wohl. Sie kassierten Kindergeld, sonst er kaum noch kauen kann. Und beim fällen, was richtig war und was falsch. Er nichts. Kaffeetrinken kann er ein bisschen auf wird dazu in seinem Leben lesen können, Doch Bauer bekommt es mit vielen Vor- dem Stuhl zappeln; bis er ans Tischbein in mindestens 3 Gutachten, 5 Strafanzei- würfen und Verdächtigungen zu tun. Der stößt und der Kaffee aus den Tassen gen, 36 Gerichtsentscheidungen. ™ Deutschland

SOZIALSTAAT Virtueller Wettbewerb Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und die Funktionäre der Krankenkassen liegen im Clinch: Wer hat Schuld an den steigenden Beitragssätzen? ur wenige Minuten benötigte Ulla Schmidt, um den versammelten NKassenfunktionären die Stimmung zu verderben. „Nicht nachvollziehbar“ und „überzogen“ sei, was einige Versiche-

rungen da planten, schimpfte die Gesund- MICHALKE NORBERT heitsministerin jüngst auf einer Tagung der Ministerin Schmidt: Böse Niederlage bei den Koalitionsverhandlungen Allgemeinen Ortskrankenkassen in Berlin. Der Saal antwortete erst mit frostigem tastrophe. Im Wahlkampf hatten SPD wie gleichen. Und so belastet der Aufschlag die Schweigen, dann legte Kassenchef Hans Union noch unisono angekündigt, das Krankenversicherung um knapp eine Mil- Jürgen Ahrens kleinlaut Widerspruch ein. deutsche Medizinsystem grundlegend re- liarde Euro jährlich. „Wir tun doch nur, was wir tun müssen.“ formieren und die Sozialbeiträge senken Während die neue Regierung sehenden Es herrscht Eiszeit zwischen der Minis- zu wollen. Von einer Entkopplung der Ge- Auges neue Lücken in die Kassenbudgets terin und den Versicherungsbossen. Vor sundheitskosten vom Lohn war die Rede, riss, fielen ihre Kostendämpfungsaktionen einigen Wochen hatte eine Hand voll Orts- von einer neuen Volksversicherung, in die eher bescheiden aus. So wurde das Spar- krankenkassen angekündigt, im nächsten auch Beamte, Selbständige und Besserver- programm bei Arzneimitteln wieder ge- Jahr die Beitragssätze teils drastisch zu er- diener einzahlen sollten. schrumpft, kaum dass es vereinbart war. höhen. Seither streitet Schmidt mit den Nach der Wahl war alles nicht mehr Auf Druck der Pharmaindustrie soll der Funktionären, wer die Schuld an der Mi- wahr. Nun stand plötzlich die Finanzpoli- Medikamentenetat jetzt nur noch um sere trägt: Die Politik habe dem Gesund- tik im Mittelpunkt – und beide Volkspar- rund eine Milliarde Euro im nächsten heitssystem neue Lasten aufgebürdet, teien überboten sich geradezu darin, den Jahr abgesenkt werden. Ursprünglich wa- schimpfen die Funktionäre. Die Kassen Kassen dringend benötigtes Geld zu ent- ren Kürzungen von zwei Milliarden Euro würden immer nur mehr fordern, statt zu ziehen. Um den Bundeshaushalt zu entlas- geplant. sparen, klagt die Ministerin. ten, strichen sie etwa die erst kürzlich Höhere Kosten, weniger Einsparungen: So geht das schon seit Wochen. beschlossenen Staatszuschüsse für Mutter- Die Folgen lassen sich leicht ausmalen. Schmidts Büchsenspanner weisen auf die schaftsgeld und Empfängnisverhütung gna- Insgesamt wird der Fehlbetrag in der Kas- sechsstelligen Verdienste vieler Kassen- denlos zusammen. Als Konsequenz feh- senbilanz im Verlauf des nächsten Jahres vorstände hin und werfen ihnen vor, sich len der gesetzlichen Krankenversicherung auf rund zehn Milliarden Euro anwach- einen „Schluck aus der Pulle“ zu geneh- künftig Einnahmen von bis zu vier Milliar- sen, prognostiziert der Wirtschaftsweise migen. Die Manager hingegen verwahren den Euro pro Jahr. und Sozialexperte Bert Rürup. „Wenn die sich gegen die „persönlichen Angriffe“ aus Anschließend beschlossen SPD und Politik nicht energisch gegensteuert, wer- dem Ministerium. Das Gesundheitsressort Union eine Erhöhung der Mehrwertsteuer den die durchschnittlichen Kassenbeiträge drohte den Kassen mit verschärften Kon- um stolze drei Prozentpunkte – ohne die Anfang 2007 um rund einen Prozentpunkt trollen, härteren Strafen und gesetzlich er- Folgen für das Gesundheitssystem zu be- steigen“, erwartet der Regierungsbera- zwungenen Fusionen. Im Gegenzug ver- denken. Doch auch Kassen müssen Steu- ter. „Das Ziel, die Sozialbeiträge unter suchten die Versicherungen, ihre jeweiligen ern zahlen, wenn sie ihre Rechnungen bei 40 Prozent zu drücken, kann man dann Landesregierungen gegen Berlin in Stel- Apotheken oder Katheter-Produzenten be- vergessen.“ lung zu bringen. Bayerns Sozialministerin Christa Stewens etwa warnte den Bund vergangene Woche davor, „mit politischem Kurze Erholung Druck Beitragserhöhungen verhindern zu Einnahmen und Ausgaben* der gesetz- wollen“. lichen Krankenkassen in Deutschland, Längst ist sicher, dass sich Betriebe und in Milliarden Euro Beschäftigte im nächsten Jahr auf höhere 2003 2004 2005 Beiträge einstellen müssen. Jetzt geht es um die Schuldfrage: Die Kassenchefs tun EINNAHMEN 103,5 104,6 106,8 so, als hätten sie bei Finanzentscheidungen ihrer Versicherungen keinerlei Spielraum. AUSGABEN 106,7 103,3 106,0 Und die Gesundheitspolitiker wollen über- +1,3 decken, dass sie bei den Koalitionsver- +0,8 handlungen eine böse Niederlage einste- DEFIZIT/ ÜBERSCHUSS cken mussten. / LAIF LANGROCK / ZENIT PAUL *jeweils 1. bis Zentrale der AOK Berlin Tatsächlich war das Ergebnis des wo- 3. Quartal chenlangen Geschachers eine einzige Ka- „Wir tun nur, was wir tun müssen“ 44 –3,2 So argumentieren auch die Vorstände Polit-Karriere Hechts in Gefahr. Hecht der Krankenkassen. Doch anstatt Sozial- PARTEIEN musste damit rechnen, bei der nächsten wie Christdemokraten zu grundlegenden Bürgerschaftswahl auf einen aussichtslosen Reformen des Systems zu drängen, gehen Listenplatz strafversetzt zu werden – und nicht wenige von ihnen den denkbar ein- Der Hecht damit seinen Parlamentssitz zu verlieren. fachsten Weg: Sie erhöhen schon mal vor- Er würde in Finkenwerder versauern, und sorglich die Beiträge – auch wenn es in dagegen schien wenig zu helfen. Hechts diesem Umfang vielleicht gar nicht überall von der Elbe Ortsverband hat gerade mal zwei Dele- geboten ist. Eine Posse beschäftigt gierte in dem Landesgremium, das die So wollen etwa die Allgemeinen Orts- Kandidaten aufstellt. krankenkassen in Hessen, Schleswig-Hol- Hamburger CDU-Politiker: Warum Aber kurz vor dem 1. Dezember – dem stein und im Saarland ihre Beitragssätze sind auf einen Schlag Stichtag der Mitgliederzählung – traten in zum Jahreswechsel um bis zu 0,8 Prozent- Dutzende alevitische Muslime der Finkenwerder plötzlich die alevitischen punkte hochsetzen. Dabei hat sich die Fi- Christenpartei beigetreten? Hundertschaften bei. Durch sie kann der nanzlage vieler Versicherungen im ver- gangenen Jahr deutlich verbessert, wie aus anz bis zur Ekstase ist ein einer internen Analyse des Gesundheits- fester Bestandteil der reli- ministeriums hervorgeht. Danach waren Tgiösen Riten der Aleviten. die Ortskrankenkassen im vergangenen Bei den sogenannten Cem-Zere- September lediglich noch mit 2,7 Milliar- monien etwa drehen sich Männer den Euro verschuldet. Zwei Jahre zuvor und Frauen wie die Derwische. war es rund eine Milliarde Euro mehr. Ansonsten aber leben sie unauf- Zudem weisen viele Kassen zum Teil er- fällig in der Bundesrepublik. Sie hebliche „positive Finanzreserven“ auf, so stellen etwa 20 Prozent der türki- der Vermerk. Anstatt die Beiträge zu er- schen Einwanderer, viele von ih- höhen, so geht aus dem Papier hervor, nen sind längst deutsche Staats- könnten sich viele Versicherungen deshalb bürger, sie gelten als gut integriert. genauso gut zu finanzstärkeren Verbün- Bis vor kurzem wussten auch den zusammenschließen. Hamburgs regierende CDU-Politi- In der Praxis jedoch sperren sich nicht ker wenig mehr über die muslimi- selten Vorstände oder Verwaltungsräte ge- sche Glaubensgemeinschaft. Doch gen Fusionen, weil sie um die eigenen das hat sich in den vergangenen

Posten und Pfründen fürchten. So bieten Tagen blitzschnell geändert. Denn BILDERDIENST RÖHRBEIN / ULLSTEIN republikweit noch immer gut 250 Kran- auf einen Schlag sind dort jetzt 200 Türken in Hamburg: Vom Beitritt nichts gewusst kenkassen ihre Dienste an – viel Auswahl Aleviten eingetreten – alle im Orts- haben die Versicherten dennoch nicht. verband Finkenwerder der Chris- Ortsverband nun auf einmal Der Leistungskatalog der Anbieter ist bis tenunion, der bis dahin gerade mal sechs Delegierte entsenden, auf wenige Ausnahmen gesetzlich vorge- 78 Mitglieder zählte. Und sie ta- was Aleviten-Freund Hecht schrieben. ten das unter höchst seltsamen sehr helfen dürfte. Und genauso uniform fallen die Verträ- Umständen. Das kam der Parteizentra- ge mit Ärzten, Kliniken oder Pharmaher- Das Ganze wäre kaum mehr als le merkwürdig vor. Zumal stellern aus, deren Konditionen die Kassen eine rätselhafte Posse, würde der viele Antragsteller laut Anga- zumeist „einheitlich und gemeinsam“ aus- Vorgang nicht etwas an jene CSU- ben der Parteizentrale gar handeln müssen, wie es im Sozialpolitiker- Affäre erinnern, bei der gekaufte nicht in Finkenwerder woh- Jargon heißt. oder erfundene Neumitglieder die nen. „Wir haben keine Be-

Um Abhilfe zu schaffen, plädieren Ex- Machtverhältnisse in Bayern än- BILDERDIENST ULLSTEIN denken, Mitglieder anderer perten deshalb schon seit Jahren dafür, dern sollten – was schließlich die Jungpolitiker Hecht Glaubensgemeinschaften auf- dass Krankenkassen mit den sogenannten Strauß-Tochter Monika Hohlmei- Karriere in Gefahr zunehmen – aber nicht, wenn Leistungsträgern unterschiedliche Verträge er um ihre Posten brachte. Machenschaften dahinter- abschließen dürfen. Einen entsprechenden Aber: Was steckt hinter den massenhaf- stecken könnten“, sagt Landesgeschäfts- Reformplan, so kündigen derzeit führende ten Eintritten der Muslime? Ein gewitzter führer Christoph Ahlhaus. Sozial- wie Christdemokraten an, will die Lokalpolitiker mit besten Kontakten zur Für das Misstrauen gibt es durchaus An- Große Koalition bereits innerhalb der Aleviten-Gemeinde soll die Muslime ange- lass. Die Anträge wurden en bloc abge- nächsten sechs Monate präsentieren. Doch heuert haben, um seinen Platz im Parla- geben, die Beiträge pauschal für Dutzende ob dabei bei mehr herauskommt als bei ment der Hansestadt zu sichern, so die Neumitglieder entrichtet. Und zwar in bar, den zahlreichen gescheiterten Anläufen zu- Theorie von Parteigranden. was auch nicht alle Tage vorkommt. Zu- vor, ist noch völlig offen. Heiko Hecht heißt der Verdächtige; er ist dem hätten zwei Aleviten, sagt Ahlhaus, Vergangene Woche traf sich Ministerin CDU-Vorsitzender auf der Elbinsel Fin- behauptet, sie wüssten gar nichts von ihren Schmidt mit den Vertretern der Ortskran- kenwerder und mit 28 Jahren einer der eigenen Mitgliedsanträgen. kenkassen, um den aktuellen Beitragsstreit jüngsten Abgeordneten in der Bürgerschaft. Hecht begründet die Eintritte mit seiner zu entschärfen. Eine Stunde verhandelten Seinen kleinen Ortsteil wollten die Partei- gelungenen Integrationsarbeit in Finken- die Kontrahenten, dann hatten sie immer- granden im Rahmen einer Gebietsreform werder. Für weitere Stellungnahmen war hin eine gemeinsame Sprachregelung ge- einem anderen Bezirk zuordnen – doch da er nicht zu erreichen. Seine Parteifeinde funden. Zwar bleibt es dabei, dass vier hatten sie die Rechnung ohne den Youngs- wollen jetzt zurückschlagen, streng nach Ortskassen zum Jahresanfang ihre Sätze ter gemacht. Er legte seine Parteigewaltigen Satzung: Sie wollen die Neuen zwar auf- erhöhen werden. Zugleich aber zeigen sich mit einer Unterschriftensammlung über- nehmen, allerdings nur im Verband ihres Ministerin und Funktionäre nun „erfreut raschend aufs Kreuz. Dabei verlor er viele jeweiligen Wohnorts – wo sie Finkenwer- darüber, dass die übrigen ihre Beiträge sta- Freunde in der Partei; auch CDU-Bürger- ders Hecht nichts nützen würden. bil halten“. Michael Sauga meister Ole von Beust war indigniert, die Cordula Meyer, Andreas Ulrich

der spiegel 52/2005 45 Deutschland

Hamstern von Mahlzeiten: GESELLSCHAFT „Einfach einen Zettel mit der eigenen Meinung ausfüllen, Adresse angeben und irgend- Schwedische was Unerfreuliches schreiben, zum Beispiel, ich musste über 30 Minuten warten. Schon Futterkrippe kommt ein Gutschein für ein Mit seinen Billig-Restaurants will Frühstück ins Haus“, schreibt Daniela bei „Frag-Mutti.de“. der Möbelriese Ikea Kunden Doch wesentlich mehr als locken. Doch immer mehr Menschen die Futterschnorrer fürchten nutzen die Läden als Sozial- Ikea-Mitarbeiter pflichtver- station und kostenlosen Kinderhort. gessene Mütter und Väter. Rund 150 Drei- bis Zehn- eden Tag, um 8.50 Uhr, steigt Bodo Ikea-Filiale (in Hamburg): Magische Anziehungskraft jährige werden täglich in Scheel mit knurrendem Magen in Hamburg-Schnelsen im Kin- Jseinen Nissan und fährt auf die Auto- derparadies Småland abgege- bahn A7. Der Weg ist 11,3 Kilometer lang, ben – ein kostenloses Betreu- dann kommt Scheels Ziel in Sicht: Aus- ungsangebot, damit Eltern in fahrt 23, Hamburg-Schnelsen-Nord, Mö- Ruhe durch den Ausstel- belhaus Ikea. Seit Jahren schon frühstückt lungsraum streifen können. der 67-jährige Rentner im dortigen Res- Doch viele missbrauchen den taurant. Das Angebot ist unübertroffen: Dienst als Gratis-Babysitting. Für 1,50 Euro bekommt er zwei Brötchen, Gern mal setzt Mutti den Butter, Wurst und Käse, Marmelade und Kleinen zwischen die bunten sogar Räucherlachs, dazu Kaffee satt. „Die Bälle zu den Kindermädchen Brötchen kann man mitnehmen und nach – und eilt auf den Tennisplatz drei Tagen noch gut mit einer Dose Thun- oder zum Friseur. Die ver- fisch essen“, sagt der frühere Justizbeam- zweifelten Durchsagen, sie te. „Schmeckt prima.“ möge ihren kreischenden

Pensionär Scheel und seine Gattin sind GREGORSCHLAEGER.DE FOTOS: Liebling doch bitte sofort nicht die Einzigen, für die der Besuch im Rentnerpaar Scheel: Billig-Frühstück beim Schweden abholen, bleiben dann un- Möbelladen zum täglichen Ritual gehört. gehört. In Köln und Bielefeld gibt es bereits orga- „sozialen Wohnzimmer“ feiern manche so- „Wir wissen, dass es solche Fälle gibt. nisierte Frühstücksclubs. Von München gar Geburtstag. Im Sinne der Kinder ist das absolut bis Kiel entwickelt sich der Elch-Shop zu- Was lockt, sind auch die Preise: der Hot nicht in Ordnung, wenn die Eltern sich nehmend zur Sozialstation für Arbeitslose, Dog für 1 Euro, das Pils für 1,30 Euro, der nicht bei Ikea aufhalten, wenn ihre Kin- Rentner, Mütter und Geringverdiener. Apfelkuchen mit Vanillesauce für 50 Cent. der im Småland sind“, sagt Nold. Mit Im familiär-gemütlichen Konsumtempel Im Schnitt gibt ein Ikea-Esser 4,30 Euro pro Schrecken erinnert sich eine Möbel- zu essen ist für viele Finanzschwache an- Mahlzeit aus und darf dafür in halbwegs verkäuferin an einen Fall aus Dortmund. genehmer, als in der Suppenküche anzu- gediegenem Ambiente speisen, statt sich bei An einem Freitagabend wurde dort stehen. Das Stigma der Bedürftigkeit bleibt Fast-Food-Ketten mit aufgeschäumter Plas- ein Kind bis Ladenschluss nicht abge- hinter dem „Billy“-Regal verborgen. Was tikverpackung herumzuschlagen. „Wenn ich holt, trotz flehentlichster Durchsagen. als Zusatzservice zur Kundenbindung ge- mit der Familie auswärts essen will, gehe ich Erst gegen 21 Uhr kamen die Eltern an- dacht war, entwickelt längst ein Eigenleben zu Ikea, das kann ich mir leisten“, sagt Ste- geschlendert. Sie hatten ihr Kind schlicht jenseits der Sperrholzmöbel und Auszieh- phan Panther. Der 47-jährige Taxifahrer aus vergessen. sofas. Sich zwischen kaufkräftige Kund- Hamburg muss mit seinem Lohn von 1200 Eine magische Anziehungskraft auf El- schaft zu mischen gibt vielen das Gefühl Euro netto vier Kinder ernähren. tern übt auch die Windelecke aus. „Früher dazuzugehören – auch wenn das Geld nur Schon morgens warten Trauben von wurden die kostenlosen Windeln säcke- für einen Hot Dog reicht. Menschen vor den geschlossenen Türen weise mit nach Hause genommen“, sagt Mit ihren 37 Restaurants haben sich die darauf, Punkt neun Uhr das Büfett zu stür- Faymé Brockmann vom Ikea-Restaurant Schweden in der Liste der umsatzstärksten men. Autofahrer nutzen Ikea gern als Rast- in Schnelsen. Heute liegen sie nur noch in Gastronomen Deutschlands 2004 auf den stätte – mit kostenlosen Toiletten inklusive. kleineren Stückzahlen bereit, gerade genü- elften Platz vorgearbeitet, weit vor Tchibo Die meisten Filialen sind von der Auto- gend, um Babys während der Shopping- und den Bäckerriesen Kamps mit seinen bahn aus gut sichtbar und liegen an einer Tour trockenzuhalten. rund tausend Filialen. Jeden zwanzigsten Ausfahrt. In Ferienzeiten zählt besonders Damit die Kleinkinder beim Marathon Euro setzt der Konzern hierzulande mit die Gaststätte in Kiel auffallend mehr Be- durch die Wohnlandschaften nicht von Billig-Menüs um – 141 Millionen Euro im sucher. „Es sind Urlauber, die auf dem Hunger geplagt werden, stellt Ikea zudem vergangenen Geschäftsjahr. Im Berliner Weg nach Schweden oder Dänemark sind kostenlose Alete-Babynahrung bereit. Das Arbeiterbezirk Tempelhof steht der größ- und eine Rast im Ikea-Restaurant einle- Angebot kommt an: Sparfüchse laden sich te Schwedenimbiss mit 640 Sitzplätzen, gen, bevor sie auf die Fähre gehen“, so Sa- batterienweise die 190-Gramm-Gläser aufs bundesweit finden 14000 Besucher Platz. bine Nold von Ikea. Tablett und bunkern sie zu Hause – rund Die Kundenmischung ist bunt: Hier tref- Auch für Schnorrer ist der Schweden- 1500 Stück pro Monat gehen allein in fen Pensionäre auf Alleinerziehende, Ma- imbiss ein Dorado. Gebrauchte Becher Schnelsen weg. Diese Schnorrerei versucht nager auf Müllarbeiter. „Das Ikea-Restau- werden aus der Geschirrrückgabe-Station die Firma neuerdings mit einem Trick zu rant ist ein moderner Bürgertreff, es ist ein gegriffen, im Toilettenwaschbecken ge- unterbinden: Die Kassiererinnen schrau- Social-Living-Room“, sagt Gretel Weiß von spült und ohne Limit neu gefüllt. In Inter- ben an der Kasse die Deckel von den der Zeitschrift „food service“. In diesem net-Foren kursieren Anleitungen zum Gläsern. Gerald Drißner

46 der spiegel 52/2005 Serie

CDU-Parteifreunde, die oppositionellen so erfolgreich wie in den fünfziger Jah- Sozialdemokraten. Doch mit einem ren. Der SPIEGEL beschreibt in einer Ludwig Erhard, Wirtschaftsdirektor der politischen Handstreich ebnete er der Serie die unterschiedlichen Antworten Bizone, hatte 1948 fast alle gegen sozialen Marktwirtschaft den Weg. von Bundesrepublik und DDR auf die sich: die amerikanischen Besatzer, Nie waren die Deutschen wirtschaftlich Katastrophe des „Dritten Reichs“. Plötzlich waren die Regale voll Mythos Wirtschaftswunder: In kürzester Zeit ist Westdeutschland aus den Kriegstrümmern zur Industriemacht aufgestiegen. Hatte der Ökonom Ludwig Erhard tatsächlich entscheidenden Anteil daran? Oder war der Aufschwung bloß das Ergebnis glücklicher Umstände?

Der Mann mit der dicken Zigarre, die so schön an rauchende Schlote erinnerte, mochte seinen Ehrentitel nicht leiden. Dass er immerzu als „Vater des Wirtschafts- wunders“ gepriesen wurde, missfiel Lud- wig Erhard. Und das war nicht bloß Ko- ketterie. Schon bevor der Boom einsetzte, in sei- ner ersten großen Rede als Wirtschafts- direktor der Bizone im April 1948, äußer- te der Volkswirt sein Unbehagen über das scheinbar Unerklärliche: „Wir glauben nicht an Wunder“, so Erhard nüchtern, „und dürfen solche auch nicht erwarten.“ Auch später, als alle Welt staunte, wie rasch sich das Land erholt hatte, sprach er stets abfällig über das „seichte Gerede von dem deutschen Wunder“. Obskure Kräfte passten einfach nicht ins ökonomische Weltbild des Professors. Der fulminante Aufschwung der fünfziger Jah- re war für den Wissenschaftler vielmehr das „naturnotwendige“ Ergebnis von Me- chanismen, wie sie in einer wettbewerb- lichen Ordnung eben funktionierten. Und die, nicht zu vergessen, er mit „konse- quenter Politik“ etabliert hatte. Den Bürgern freilich war es gleich, ob man es ein Wunder nennen sollte oder Marktwirtschaft. Sie empfanden es als un- fassbares Glück, wie das Land aus den Trümmern zu einer führenden Industrie- nation aufsteigen konnte. Denn was hatten sie schon zu erwarten? Auf den totalen Krieg, das schien klar, würde eine tiefe Depression folgen. Die Menschen in den zerbombten Wohnquar- tieren litten Hunger und Kälte; kaum vor- stellbar, dass es statt Brennnesselsuppe bald wieder Schwarzwälder Kirsch geben sollte. Die Schäden, die Opfer, die Repa- rationsansprüche: Man musste mit dem Schlimmsten rechnen. Aber das Beste passierte: Im goldenen Jahrzehnt bis 1960 wuchs die Wirtschaft jedes Jahr um über acht Prozent im Wirtschaftsminister Erhard (1960): „Wir glauben nicht an Wunder“

48 der spiegel 52/2005 Schnitt, das Sozialprodukt konnte mehr als nen Autos, zu Beginn waren es gerade „Damals hatten wir es mal mit einem verdoppelt werden, die Hersteller von In- 700000 gewesen. Ein VW war seinerzeit schwungvollen Schriftzug versucht“, er- vestitionsgütern verdreifachten sogar ihr in acht Tagen lieferbar, zum stolzen Preis zählt der Unternehmer und erinnert sich. Geschäft. von 5300 Mark. Daran, wie er anfangs Sandalen fertigen Die Bürger lebten in einer neuen Staats- Dafür schuftete der Bundesbürger 48 ließ mit Sohlen aus Pappelholz, das er aus form, mit neuer Währung, sogar neuen Stunden in der Woche, natürlich auch dem Garten eines Freundes besorgt hatte. Verbündeten, die sie eben noch als Feinde samstags. So viele Wünsche hatten sich an- Wie er den alten Opel, aus dem er die bekämpft hatten. Zugleich verschob sich gestaut, die Nachkriegsgründer konnten Rückbank herausgenommen hatte, mit das gesamte Wirtschaftsgefüge: Fortan do- sie bedienen. Junge Männer wie Adolf Schuhen belud und die Filialen belieferte. minierte die Industrie, gefolgt vom Dienst- Dassler (Adidas) oder Max Grundig star- Wie seine Frau morgens noch im Laden leistungssektor, die Landwirtschaft spielte teten ihre kometenhaften Karrieren, vor stand und abends eine Tochter zur Welt nur noch eine Nebenrolle. allem aber Einzelhändler wie Otto Beis- brachte. Und wie er nach der Währungs- Die Menschen genossen die geschenkte heim (Metro) oder der Schuhkönig Heinz- reform jede Woche in die Pfalz fuhr, um Freiheit, vor allem die Freiheit des Kon- Horst Deichmann wussten die Gunst der Nachschub zu besorgen, später nach Ita- sums. Dank „bequemer Teilzahlung“, wie Stunde zu nutzen. lien: „Mit meinem Latein kam ich dort der neue Ratenkredit beworben wurde, „Es war eine herrliche Zeit“, schwärmt ganz gut durch.“ konnte sich jeder Normalverbraucher den Deichmann heute. Der 79-Jährige steht in Inzwischen führt Sohn Heinrich, 43, das Bauknecht-Kühlschrank oder das Grundig- seinem Büro in Essen-Borbeck, in den Unternehmen. Deichmann ist der größte Radio leisten – und bald schon vieles mehr: Händen hält er ein kleines Schuko-Auto- Schuh-Einzelhändler in Europa, die 21000 den Urlaub am Lido di Jesolo, den Käfer modell: einen grünen Mercedes-Transpor- Mitarbeiter verkaufen im Jahr 90 Millionen von Volkswagen. Die Zulassungsbehörden ter aus den frühen Sechzigern mit einer Paar Schuhe. „Wir sind Teil des Wirt- zählten Ende des Jahrzehnts gut 5 Millio- Deichmann-Aufschrift am Seitenblech. schaftswunders“, stellt der Senior fest. Gleich nach dem Krieg formulierte er seine Unternehmensphilosophie, sie pass- te genau in die Zeit: die Masse mit modi- schen Qualitätsschuhen zu günstigen Prei- sen versorgen. Und so eröffnete er eine Fi- liale nach der anderen. „Das war oft wie ein Fest“, beschreibt er die Aufbruchstim- mung: „Jeder freute sich, wenn die Läden voller Menschen waren.“ Und jeder war dankbar, den Krieg heil überstanden zu haben. Noch immer wird dieser Geist der fünf- ziger Jahre gern beschworen, der Mythos Wirtschaftswunder lebt. Im Wahlkampf verwies Angela Merkel auf die Gründer- jahre, als ob sich diese wiederholen ließen. Und dabei vergaß sie nie, die Leistung von Ludwig Erhard herauszuheben, als ob die- ser allein den Wohlstand gebracht hätte. Fragt sich bloß, ob der Anteil des Ökono- men am Wiederaufbau tatsächlich ent- scheidend war? Der Mainzer Historiker Volker Hent- schel hat Zweifel. „Das Wirtschaftswun- der wurde weder von Erhard noch von der ,sozialen Marktwirtschaft‘ geschaffen“, meint er, „das Wirtschaftswunder schaffte vielmehr die Erhard-Legende und den My- thos von der ,sozialen Marktwirtschaft‘.“ Demnach hätte der Aufschwung der fünf- ziger Jahre auch ohne den Einfluss von Er- hard stattgefunden. Die Industrie jedenfalls lag längst nicht so danieder, wie es die Zerstörungen in den Städten vermuten ließen. Nicht einmal die Stahlproduktion an der Ruhr hatte größere Schäden erlitten, allenfalls die Transportwege waren in Mitleidenschaft geraten. Den meisten Firmen gelang der Neustart ohne große Verzögerung, mit demselben Personal, denselben Maschi- nen, denselben Kunden. „Die Vorstellung, es habe eine ,Stunde null‘ gegeben, trifft für die westdeutsche Industrie am allerwenigsten zu“, meint der

J. H. DARCHINGER J. Bielefelder Historiker Werner Abelshau- Sommerschlussverkauf in (Frankfurt am Main, 1958): Freiheit des Konsums ser. Die Eliten in Handel und Industrie

der spiegel 52/2005 49 blieben weitgehend die Gleichen. Rund 6000 jüngere Manager hatten im „Dritten Reich“ für Hitlers Rüstungsminister Albert Speer gearbeitet. „Viele dieser Nachwuchs- talente machten nun Karriere in der Nach- kriegswirtschaft“, so Abelshauser über „Speers Kindergarten“, darunter einfluss- reiche Unternehmensführer wie der VW- Chef Heinrich Nordhoff oder der Kauf- hausgründer Helmut Horten. Auch in anderer Hinsicht basierte der Nachkriegsaufschwung auf einer Grund- lage, die schon vor 1945 gelegt wurde: In den frühen dreißiger Jahren skizzierten Wissenschaftler wie Wilhelm Röpke, Franz Böhm oder Walter Eucken ihre Vorstellun- gen eines idealen Wirtschaftssystems: einer marktwirtschaftlichen Ordnung, basierend auf freiem Leistungswettbewerb, allerdings mit einem starken Staat, der die Spielregeln bestimmt, ohne selbst mitzuspielen. Solche Ideen griff Ludwig Erhard dank- bar auf. Der Ökonom, ein fülliger Franke, der in Nürnberg ein Institut für Konsum- forschung leitete, machte sich schon 1944 in einer Abhandlung Gedanken darüber, was nach dem Krieg aus der Volkswirtschaft des Deutschen Reiches werden könnte. Die 268 Seiten fielen den Amerikanern in die Hände. Telefunken-Werk (bei Stuttgart, um 1958): Die Bundesbürger flüchteten in Arbeit und verdrängten Die Schrift beeindruckte die Militärs, sie stellten Erhard im April 1945 als Berater den“. Sogar den Amerikanern ging ihr Am Montag wurde er deshalb ins Büro ein, und „von diesem ersten neuen Tage an Zögling zu weit – doch im entscheidenden von Lucius D. Clay zitiert, dem amerika- verband mich mit den Amerikanern ein Moment ließen sie den Wirtschaftsdirektor nischen Militärgouverneur. Wie er es denn Vertrauensverhältnis“, so Erhard später. gewähren. wagen könne, eigenmächtig alliierte Preis- Schon im Oktober des Jahres avancierte er Am Sonntag, dem 20. Juni 1948, trat die vorschriften abzuändern, blaffte ihn Clay zum bayerischen Staatsminister für Handel Währungsreform in Kraft: Die Bürger be- an. Daraufhin Erhard kühn: „Ich habe die und Gewerbe, dann zum Bizonen-Wirt- kamen 40 Deutsche Mark im Umtausch Vorschriften nicht abgeändert, ich habe sie schaftsdirektor – eine Karriere, wie sie nur gegen 60 alte Reichsmark, weitere 20 Mark abgeschafft.“ „Aber alle meine Berater in solchen Zeiten möglich war. gab es zwei Monate später. Erhard aber sind gegen Ihr Vorgehen“, erwiderte Clay. Nun konnte der Seiteneinsteiger sein überraschte die Amerikaner damit, dass er „Meine Berater auch“, gab Erhard zurück. Konzept in die Tat umsetzen, eine Wirt- kurzerhand auch die Bewirtschaftung ab- Tatsächlich lieferte die Freigabe der Prei- schaftsordnung, von der, so Erhard, jeder schaffte, wie er noch am Abend im Rund- se die Initialzündung für den Aufschwung. profitiere: „Je freier die Wirtschaft, umso funk verkünden ließ: Bis dahin waren die Was vielleicht noch wichtiger war: Erhard sozialer ist sie auch.“ Alle Macht dem meisten Güter rationiert, man bekam Le- hielt gegen alle Widerstände daran fest. Markt, das Soziale kommt dann von al- bensmittel nur über Bezugsscheine, und Denn zunächst reagierte der Markt nicht lein. Heute würden wohl nicht nur Attac- die Preise wurden von der Militärverwal- so, wie er es kalkuliert hatte. Die Preise zo- Anhänger Ludwig Erhard als gnadenlosen tung festgelegt. Von nun an bestimmten gen erheblich an. Der Anstieg war umso Neoliberalen bezeichnen. die Marktkräfte über den Preis, nur be- schmerzlicher, weil die Löhne zugleich sta- Kein Wunder, dass der parteilose Öko- sonders wichtige Produkte wie Kohle, gnierten, die Wochenverdienste lagen nur nom aneckte, die Zweifel am Kapitalismus Stahl oder Kraftstoff waren noch eine Zeit fünf Prozent höher als zehn Jahre zuvor. waren in jenen Tagen weit verbreitet. Den lang rationiert. Der Unmut wuchs. Menschen war die Weltwirtschaftskrise von „Uns reicht es“, verkündete der DGB- 1929 noch schmerzlich bewusst, viele Bür- Vorsitzende Hans Böckler, am 12. Novem- ger sympathisierten mit der Verstaatlichung Die Wirtschaftswunder ber machten die Gewerkschaften mobil. der Schwerindustrie, überhaupt mit Ein- Durchschnittliches jährliches Wirtschafts- Sie riefen zum ersten – und bislang einzi- griffen in die Wirtschaft. Und die großen wachstum zwischen 1951 und 1960 gen – Generalstreik nach dem Krieg in Parteien spiegelten diesen Zeitgeist. Westdeutschland auf, doch das Dem SPD-Vorsitzenden Kurt Schuma- Japan +8,7% klingt spektakulärer, als es cher war das Wirtschaftsprogramm Erhards tatsächlich war: „Der General- „ein dicker Propaganda-Ballon des Unter- Deutschland +8,5% streik war eher ein genereller nehmertums“, gefüllt mit den „Abgasen Italien +6,3% Warnstreik“, erinnert sich der Währungs- des verwesenden Liberalismus“. Auch von experte Wilhelm Hankel, 76, damals Ab- Österreich +5,3% der CDU bekam Erhard mächtig Gegen- iturient in Mainz. wind, schließlich war die Union im Ahle- Frankreich +5,0% Der Ausstand dauerte einen Tag. Als die ner Programm 1947 zu dem Schluss ge- USA +3,3% Löhne freigegeben wurden und wieder kommen, das kapitalistische System sei stiegen, gewann Erhard an Zustimmung; „den staatlichen und sozialen Interessen Großbritannien +2,8% gleichwohl gehörte er damals zu den un- des deutschen Volkes nicht gerecht gewor- populärsten Politikern.

50 der spiegel 52/2005 Serie

Mit dem Tag der Reform hatte das Marshall hatte in seiner Rede an der Har- Päckchen „Camel“ als Währung ausgedient, vard-Universität im Juni 1947 Hilfsleistun- der schwarze Markt brach zusammen, Ar- gen angekündigt, die „eine Heilungskur beiten lohnte sich wieder. Und, psycholo- und nicht nur ein Linderungsmittel dar- gisch besonders wichtig, plötzlich waren die stellen“ sollten. Es war gewiss nicht reine Regale voll. Erhard hatte zuvor Signale aus- Nächstenliebe, die die Amerikaner dazu gesendet, dass die Reform bevorstehe – und trieb; ihre kriegsgeschwächte US-Wirt- die Händler handelten wie gewünscht: Sie schaft brauchte dringend ein regeneriertes horteten Waren für den Tag X. Europa als Absatzmarkt. Es schien, als ob ein Schalter umgelegt Die Summen, die Westdeutschland aus worden wäre: Noch im Frühjahr 1948 hat- dem „European Recovery Program“ zu- te der Hygieneartikelhersteller Camelia die kamen, waren freilich eher bescheiden. Kunden in Zeitungsanzei- Von den rund 14 Milliarden gen gebeten, dem Händler Dollar (nach heutigem Wert doch bitte die gebrauchten Die US-Hilfe kam rund 108 Milliarden Dollar) Schachteln zurückzugeben, zu spät und ent- erhielt die Trizone gerade „denn die Verpackungs- zehn Prozent. Die Hilfen be- schwierigkeiten sind sehr sprach „oft nicht standen aus Krediten, aber groß“ – kurz darauf lebten den Bedürfnissen auch aus Rohstoffen und Le- die Verbraucher in der Weg- der deutschen bensmitteln, wobei die Ame- werfgesellschaft. Auch die rikaner die Auswahl vornah- sogenannte Fettlücke, die Industrie“. men. Zudem durften die der bizonalen Verwaltung im Deutschen nicht frei über die Hungerwinter 1946/47 noch Mittel verfügen. große Sorgen bereitet hatte, war bald ge- Der Historiker Abelshauser kann des- schlossen – einige Jahre später rollte die halb in den Hilfsleistungen „keine ent- Fresswelle an. scheidende Bedeutung für den wirtschaft- Die Bundesbürger flüchteten in den lichen Wiederaufstieg“ erkennen: „Sie

DODENHOFF / AKG Konsum und in die Arbeit und verdrängten waren zu teuer, kamen zu spät und ent- die Erinnerung an die Vergangenheit die Erinnerung an die braune Vergangen- sprachen oft nicht den Bedürfnissen der heit. Der sichtbare, für die meisten unmit- westdeutschen Industrie.“ Mit der eigentlichen Währungsreform, telbar spürbare Erfolg der Marktwirtschaft „Nicht der Betrag war entscheidend“, der physischen Einführung der D-Mark, erleichterte es ihnen, die parlamentarische meint hingegen Währungsexperte Hankel, hatte Erhard wenig zu tun, diese Operation Demokratie zu akzeptieren, sich sogar mit „wichtiger war die psychologische Wir- lief unter der Federführung eines jungen ihr zu identifizieren. Der wachsende Wohl- kung.“ Hankel war Anfang der fünfziger US-Beamten namens Edward Tenenbaum. stand lieferte das beste Argument für die Jahre junger Volkswirt im eigens einge- Er koordinierte den Transport der 23000 Westbindung. richteten Ministerium für den Marshall- Stahlkisten, in denen die in den USA ge- Dabei half der Marshall-Plan auf beson- Plan am Bonner Rheinufer. druckten Geldscheine verpackt waren: erst dere Weise. US-Außenminister George Dort wurden unter anderem spek- von Bremerhaven in das alte Reichsbank- takuläre Werbeaktionen vorbereitet: Pla- gebäude in Frankfurt, dann über die ein- kate mit der Aufschrift „Hier hilft der zelnen Landeszentralbanken an zahllose Marshall-Plan“, Aufkleber, Postkarten und Lebensmittelkartenstellen, die den Um- Sonderstempel, Preisausschreiben, Radio- tausch am Tage X erledigen sollten – eine sendungen und nahezu 200 Filmbeiträge – logistische Meisterleistung. das Marketing war oft auffälliger als die An diesem Tag wurde der größte Teil Hilfe selbst. des Barvermögens ungültig. Tenenbaum Die Kampagnen hatten gewaltigen Ein- hatte die Umstellung bis ins Detail aus- fluss darauf, dass die Amerikaner nicht getüftelt, deutsche Sachverständige halfen mehr als Besatzer wahrgenommen wur- ihm dabei. den, sondern als Verbündete, sogar als Nie in der deutschen Geschichte hat es Freunde. Der Feind stand nun im Osten, eine größere Enteignungsaktion gegeben, und zwar ganz nah, nur wenige Kilometer am härtesten traf die Währungsreform die von Lübeck, Fulda und Hof entfernt: „Die Besitzer großer Sparguthaben. Am meisten Marshall-Plan-Politik“, so der Gießener profitierte, wer über Grund- und Sachver- Historiker Hans-Jürgen Schröder, „hat die mögen verfügte. Teilung Deutschlands beschleunigt und Und nie zuvor existierte in Deutschland vertieft.“ eine Währung, die nicht durch Gold oder Zu dieser Zeit war die westdeutsche

Devisen gedeckt war. Die Skepsis in der (U.) AKG (O.); DPA Wirtschaft längst auf dem Weg der Besse- Fachwelt war groß: „Sie haben überhaupt rung, aber noch nicht gesund. Ihr Motor keine Chance, es kann nichts daraus wer- lief gleichsam nur auf einem Zylinder, der den“, beschied Camille Gutt, der damalige Binnenkonjunktur. Die Arbeitslosenquote Chef des Internationalen Währungsfonds, schnellte im Februar 1950 auf 14 Prozent, den Präsidenten der Bank deutscher Län- in Bonn wurde sogar spekuliert, dass Bun- der, Wilhelm Vocke. deskanzler Konrad Adenauer seinen Wirt- Und was daraus wurde: Die D-Mark ent- schaftsminister ablösen würde. Doch die wickelte sich zur stabilsten Währung der weltpolitischen Zeitläufte retteten Erhard. Nachkriegszeit, härter als der Dollar, sogar Ausgabe der D-Mark-Scheine (1948) Als am 25. Juni 1950 die Nordkoreaner härter als der Schweizer Franken. Logistische Meisterleistung ihre Verwandten in Südkorea angriffen,

der spiegel 52/2005 51 traten die Amerikaner wieder in die Kriegswirtschaft ein. Und damit sprang der andere Zylinder an, der Export. Auf dem Weltmarkt stieg die Nachfrage nach deut- schen Waren kräftig an, in nur einem Jahr, zwischen Juni 1950 und Juli 1951, verdop- pelten sich die Ausfuhren. „Zum ersten Mal spürte die westdeutsche Wirtschaft ei- nen Wachstumsschub über die Außenwirt- schaft“, urteilt Historiker Abelshauser über den Korea-Boom. Die deutsche Industrie lieferte, was die Welt brauchte: Maschinen, Anlagen, Kraft- fahrzeuge. 1952 exportierte die Bundes- republik erstmals wieder mehr, als sie ein- führte. In den zehn Jahren bis 1960 stieg der Anteil, den Westdeutschland am Welt- export hielt, von 3,6 Prozent auf 8,9 Pro- zent an. Damit knüpfte das Land an alte Traditionen an. Schon zur Kaiserzeit waren im Deut- schen Reich Unternehmen wie BASF, AEG oder Siemens entstanden, die dank ihres technologischen Vorsprungs und ihrer mo- dernen Organisation Weltruf erlangt hat- ten. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg setzten diese Firmen wieder da an, wo sie eine Generation zuvor aufgehört hatten. Vielen mittelständischen Unternehmen, die sich seit Generationen in der Hand ein- zelner Familien befanden, gelang erst mit dem Wirtschaftswunder der internationale Durchbruch. Erfolgreich besetzten sie Ni- schen, von dort aus drangen Betriebe wie der Hersteller von Klimaanlagen für Autos

Behr in Stuttgart (gegründet 1905) oder der GETTY IMAGES Edelmetallspezialist Heraeus in Hanau (ge- Werbung für den Marshall-Plan (um 1948): „Teilung Deutschlands beschleunigt“ gründet 1851) an die Weltspitze vor. Andere Unternehmer, die nach dem ferempfänger, 1959 den ersten UKW-Emp- schnell den veränderten Märkten an. In Krieg eine Firma gegründet hatten, nutzten fänger, 1952 den ersten Tonbandkoffer für diesen Betrieben haben ganze Generatio- den Exportboom der fünfziger Jahre aus. unter 1000 Mark. nen von Arbeitnehmern Karriere gemacht. Es waren Macher wie Reinhold Würth, die Solche Nachkriegstycoons trugen ent- Der Aufschwung trug sich schließlich von Anfang an konsequent auf das Aus- scheidend zum wirtschaftlichen Erfolg der selbst, das Ausland beobachtete verblüfft landsgeschäft setzten. 1954 hatte er vom jungen Bundesrepublik bei. Sie hatten die das „economic miracle“, die Amerikaner Vater in Künzelsau eine Zwei-Mann- Nase dafür, was ankam, sie passten sich verloren ihre letzten Zweifel an Erhards Schraubenhandlung übernommen, inzwi- ordoliberalem Konzept. Anfangs schen beschäftigt er knapp 50000 Mitarbei- hatten sie es durchaus kritisch be- ter. „Mit Sicherheit war 70 bis 80 Prozent Hilfe aus Amerika trachtet, immerhin herrschte in den des Erfolgs die frühe Internationalisie- Zuteilung der Marshall-Plan-Gelder 1948 bis 1952 USA noch der Geist des New Deal. rung“, sagt der 70-Jährige heute. Doch mit dem Erfolg kam die Auch Artur Fischer, 85, ist so ein Pionier DÄNEMARK NORWEGEN TÜRKEI Zustimmung, nun wurde Erhard des Wirtschaftswunders. 1958 gelang ihm 276 254 243 beim Washington-Besuch 1958 als eine bahnbrechende Erfindung, der „Apostel der freien Marktwirt- Spreizdübel aus Kunststoff, ein Artikel, wie BELGIEN/ schaft“ gefeiert: „Der Wirtschafts- LUXEMBURG 556 geschaffen für den Bauboom jener Jahre. politik und ihrem theoretischen Dieser Dübel ist nur eines von insgesamt Konstrukt wurde damit endlich GRIECHENLAND 694 GROSS- 1096 Patenten des Tüftlers aus Tumlingen. BRITANNIEN ,Absolution‘ erteilt“, bemerkt die Heute ist seine Unternehmensgruppe in 19 3443 Historikerin Anette Koch-Wegener Ländern zu Hause. ÖSTERREICH 712 in ihrer unlängst erschienenen Dis- Oder natürlich Max Grundig (1908 bis NIEDER- in sertation über die amerikanische 1989), der legendäre Konstrukteur aus LANDE 977 Millionen Sicht auf Erhard. Nürnberg, der einen Baukasten mit Ein- Dollar Kurioserweise entfernte sich zelteilen auf den Markt brachte, aus de- gerade in diesen Jahren jedoch nen die Kunden den „Heinzelmann“ zu- FRANKREICH die deutsche Volkswirtschaft im- sammenbasteln konnten – fertige Radio- BUNDES- 2806 mer weiter von der freien Markt- geräte durften nach dem Krieg nur gegen REPUBLIK ITALIEN wirtschaft. Die Politik griff mehr Bezugsscheine verkauft werden. Stets hat- DEUTSCHLAND 1515 und mehr ins Geschehen ein, te Grundig das passende Produkt für den 1413 der Einfluss der Gewerkschaften Zeitgeschmack parat, 1949 den ersten Kof- wuchs. Das Betriebsverfassungs-

52 der spiegel 52/2005 Serie gesetz von 1952 regelt bis heute, wie Ar- rikanern vorgeworfen, den Deutschen le- cherten die Bundesrepublik, der Bevöl- beitnehmer und Betriebsräte in den Un- diglich Hühnerfutter, nämlich Mais, vor- kerungszuwachs war der eigentliche Treib- ternehmen mitwirken können. Ein „Ku- zusetzen. „Wir zahlen es in Dollar aus stoff für den fulminanten Aufschwung. chenausschuss“ genanntes Gremium aus deutscher Arbeit und deutschen Exporten Allein deshalb schon ist ein Wirtschafts- Unionspolitikern verteilte vor den Bun- und sollen uns dafür noch bedanken“, pol- wunder heute – in einer schrumpfen- destagswahlen 1957 Geschenke aus dem terte Semler. den, alternden Gesellschaft – nicht vor- Budgetüberschuss. Dazu muss man wissen, dass Mais in den stellbar. Die größte Wohltat wurde den Senio- USA als hochwertiges Lebensmittel gilt Ebenfalls oft unterschätzt wird der Bei- ren zuteil. Mit der Rentenreform stiegen und „Chickenfood“ im Englischen die Ne- trag, den die Gewerkschaften in den die laufenden Altersbezüge um mehr als 60 benbedeutung von „lächerlicher Kleinig- Aufbaujahren geleistet haben. Die Löhne stiegen nur moderat, jedenfalls weitaus langsamer als die Produktivität. Auch sonst verhielten sich die Arbeitnehmervertreter konstruktiv, manchmal standen sie Erhard sogar näher als die Christdemokraten. Erst die Appelle von Gewerkschaftern bei- spielsweise bewegten die Sozialausschüsse der Union dazu, dem wichtigen Leitsätze- gesetz von 1948 zuzustimmen, das be- stimmte, welche Preise freigegeben wur- den und welche nicht. Als überaus vorteilhaft hat sich auch herausgestellt, dass anders als nach dem Ersten Weltkrieg die Alliierten den Deut- schen keine schwerwiegenden ökonomi- schen Strafen auferlegten. Die Demontage von Industrieanlagen hielt sich im Westen in Grenzen, die Siegermächte erließen 1953 beim Londoner Schuldenabkommen von den ursprünglich erwogenen Forderungen großzügig etwa die Hälfte – auch dank des Verhandlungsgeschicks des deutschen Ban- kiers Hermann Josef Abs – und vereinbar- ten eine Ratenzahlung, gestreckt auf Jahr- zehnte: Die Bundesrepublik wurde kredit-

J. H. DARCHINGER J. würdig. Neubau von Arbeiterwohnungen (im Saarland, 1960): Mit Elan ans Werk Und schließlich gehört zur Erklärung des raschen Aufstiegs auch dazu, dass West- Prozent, fortan wurde die Höhe der Ren- keit“ hat. Ein doppeltes Missverständnis, deutschland seine neue Währung gleich zu ten automatisch an die Einkommen ge- das Folgen hatte: Semler musste gehen, Er- Beginn um 20 Prozent abgewertet hatte. koppelt: Zwischen 1957 und 1969 wuchsen hard bekam seine Chance – und ergriff sie. Mit diesem Schritt wurden Waren „made sie um sagenhafte 110,5 Prozent. Von Be- Sein Verdienst liegt zweifellos darin, in West-Germany“ gegenüber den Pro- ginn an betrachtete Erhard diese Art der dass er Westdeutschland gegen alle Wi- dukten aus anderen Ländern billiger, die Sozialpolitik als Gefahr für seine Wirt- derstände auf einen marktwirtschaftlichen deutschen Ausfuhren standen im Wettbe- schaftsordnung, als gefährliche „Entwick- Kurs geführt hat: Das sind Spuren, die blei- werb besser da. lung zum Versorgungsstaat“. ben. Ob er mit dieser Weichenstellung Es war also durchaus kein Wunder, Doch verhindern konnte er sie nicht. In auch die hohen Wachstumsraten der fünf- was nach dem Krieg in Westdeutschland diesen Jahren verlor Erhard nach Ansicht ziger Jahre bewirkt hat, ist geschah. Erhard hatte recht, des US-Historikers Alfred Mierzejewski freilich weniger gewiss. Viel wenn er meinte, es sei „in seinem Kampf um die Umgestaltung spricht dafür, dass der Auf- Der Bevölkerungs- „eine völlig falsche Wort- Nachkriegsdeutschlands an Elan“. Dass es schwung ohnehin gekom- zuwachs war prägung“, die rasche Gene- ihm nicht gelang, Adenauers Rentenreform men wäre. Denn auch sung Westdeutschlands als aufzuhalten, sei „seine wichtigste Nieder- Frankreich erlebte damals der eigentliche „Wirtschaftswunder“ zu be- lage“ gewesen. seine „glorreichen Jahre“, Treibstoff für den zeichnen. Was also bleibt Erhards Erbe, worin liegt obwohl dort die Wirtschaft fulminanten In dieser Kategorie er- sein Anteil am Wirtschaftswunder? Wel- stark reglementiert und zen- laubte sich der Wissen- che Faktoren haben den Aufschwung letzt- tral gesteuert wurde. Aufschwung. schaftler nur in einem be- lich getragen? Es war jedenfalls nicht allein Erhard profitierte von an- sonders heiklen Moment sei- die Währungsreform und schon gar nicht deren Besonderheiten jener nes Lebens zu denken: als der Marshall-Plan, die den Wiederaufbau Zeit: Da war vor allem der ungeheure Zu- ihm Ende September 1918, kurz vor bewirkt haben. Es spielten noch eine ganze strom von vielfach gutausgebildeten Ver- Kriegsende, Granatsplitter die linke Schul- Reihe anderer Einflüsse eine Rolle, darun- triebenen; sie setzten ihre ganze Kraft ein, ter zerfetzten und die Ärzte im Reckling- ter auch pure Zufälle. sich ein neues Leben aufzubauen. Mit ähn- häuser Hospital ihm wenig Hoffnung Dass zum Beispiel Ludwig Erhard über- lichem Elan gingen die Übersiedler aus der machten, dass der Arm zu retten sei. haupt eine so exponierte Stellung einneh- DDR ans Werk: Ärzte, Lehrer oder Inge- Nach der Operation wachte Erhard auf men konnte, verdankte er einer markigen nieure, die qualifiziert und leistungswillig und fasste nach links: Sein Arm war ver- Äußerung seines Vorgängers als Wirt- waren. kürzt, aber er war noch dran. „Das“, so be- schaftsdirektor der Bizone, Johannes Sem- Millionen Arbeiter und Angestellte, kannte der Ökonom, „war für mich ein ler. Der hatte am 4. Januar 1948 den Ame- Steuerzahler und Konsumenten berei- wirkliches Wunder.“ Alexander Jung

der spiegel 52/2005 53 Serie Der deutsche Fetisch Hans-Ulrich Wehler über die Verklärung des Wirtschaftswunders

Wehler, 74, war bis 1996 Professor für Allgemei- Wachstumsspurts hat eine leidenschaftliche Diskussion über sei- ne Geschichte an der Universität Bielefeld. Die ne Ursachen ausgelöst. Prominente Ökonomen und Wirtschafts- bislang erschienenen vier Bände seiner „Deut- historiker haben sich daran beteiligt. Vier krass unterschiedene schen Gesellschaftsgeschichte“ (Verlag C. H. Denkschulen bildeten sich dabei heraus. Beck) haben für Aufsehen gesorgt. Zurzeit berei- Die eine setzt auf die nach dem russischen Konjunkturforscher tet er die Folge über die Geschichte der Deut- Nikolai Kondratjew benannten, 50 Jahre währenden „Langen schen nach 1949 vor. Wellen“ mit einer je 22- bis 25-jährigen Aufschwung- und Ab- schwungphase. Der als autonom geltende Wirtschaftsprozess hat wei Jahre dauerte es, bis sich die Hoffnungen erfüllten, die demzufolge die Prosperitätsepoche von 1950 bis 1973 geradezu viele in die Währungsreform und Ludwig Erhards Reform- gesetzmäßig hervorgebracht. Das Dilemma dieser Deutung liegt Zpaket im Sommer 1948 gesetzt hatten. Erst der Korea-Krieg darin, dass die „Langen Wellen“ bisher nicht empirisch überzeu- löste von Juni 1950 an einen Boom aus, der selbst die kühnsten gend nachgewiesen werden konnten. Erwartungen übertraf. Ganz unerwartet ging er sogar in eine in Die zweite Interpretation setzt ganz auf den „Catch up“-Prozess, der deutschen Geschichte beispiellose, langlebige Hochkonjunk- jene Aufholjagd, während der die europäischen Volkswirtschaften, tur über. Sie hielt dem Trend nach bis zum ersten Ölpreisschock namentlich auch die deutsche, die überlegene amerikanische Tech- im Jahre 1973 an. Das ist jene Wachstumsphase, die umgangs- nologie importiert hätten, bis mit der Wahrnehmung aller Wachs- sprachlich alsbald als „deutsches Wirtschaftswunder“ firmierte. tumschancen ein Gleichstand, damit aber auch das Ende der Hoch- Für diesen Begriff gab es gute Gründe: Anfangs erreichten die konjunktur erreicht war. Dieses simple Modell leidet an einer jährlichen Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts märchen- bestürzenden Unkenntnis der deutschen Technikgeschichte. Wo es hafte 9,5 Prozent, im Durchschnitt der fünfziger Jahre 8,5 Prozent, einen amerikanischen Vorsprung gab, ohnehin nur auf wenigen seither bis 1973 immer noch 4,8 Pro- Gebieten, setzte die deutsche Aufhol- zent. Zum einen lagen sie weit über jagd schon um 1900 ein und konnte in den Werten für die Zeit der deutschen den dreißiger Jahren als abgeschlossen Industriellen Revolution bis 1913, als gelten. Seither operierten deutsche jährlich 1,1 Prozent erzielt worden und amerikanische Unternehmer auf waren. Zum anderen wuchs das Brut- gleicher Augenhöhe. Nach 1949 wa- tosozialprodukt zunächst doppelt so ren die deutschen Leitsektoren wie rasch wie in den USA und in 23 Jah- chemische und elektrotechnische In- ren mehr, als zwischen 1800 und 1945 dustrie, Maschinen- und Automobil- möglich gewesen war. Die Quote der bau im Nu wieder globale Spitzenrei- Investitionen, des Treibstoffs für den ter. VW zum Beispiel besaß schon in Motor der ökonomischen Expansion, den frühen fünfziger Jahren das mo- kletterte auf fabulöse 25 Prozent des dernste Pkw-Werk der Welt. Bruttosozialprodukts, vor allem aber verdoppelte sich das individuelle Real- ährend diese beiden Ansätze einkommen schon bis 1960, verdrei- im Wettrennen um die Erklä- fachte sich sogar bis 1973; der Privat- Wrung des „Wirtschaftswun- verbrauch stieg um 300 Prozent. ders“ entfallen, kommt die dritte Hy- Nie zuvor sind Deutsche schneller pothese von der „Rekonstruktion“ der

wohlhabend geworden als jene in der (U.) / INTERFOTO HEIDELBERG SAMMLUNG (O.); URBAN MARCO deutschen Wirtschaft ungleich näher Bundesrepublik in dem Vierteljahr- Volkswagenwerk in Wolfsburg (1957) an die Realität heran. Ihre Denkfigu- hundert nach 1950. Kein Wunder, dass ren sind einleuchtend: Das Potential nach zwei verlorenen Kriegen und der deutschen Industrie hatte einen zwei Inflationsschocks, nach der Vertreibung von 14 Millionen stetig ansteigenden Wachstumstrend ermöglicht, der aber wegen Deutschen, der Zerstörung vieler Städte im Luftkrieg und den der Kriegseinwirkung abknickte. Da nur maximal 24 Prozent der Abermillionen Toten diese ganz unvorhersehbare Konjunktur- deutschen Industriekapazität zerstört worden waren, konnte erfahrung verklärt wurde. Nur vor diesem Hintergrund kann man sie erstaunlich schnell wieder aufgebaut werden. Das regenerierte die mystische Überhöhung des „Wirtschaftswunders“, wie sie sich Wachstumspotential, das durch die vorzügliche Qualifikation des in derart exaltierter Form allein in der Bundesrepublik einstellte, „Humankapitals“ mit seiner kostenlos zuströmenden Reserve von angemessen verstehen. Dieser rasche Aufstieg wurde damals tief weit mehr als zehn Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen ent- verinnerlicht. Er drang in das westdeutsche Selbstverständnis und scheidend unterstützt wurde, trieb die Entwicklung erneut steil Leistungsbewusstsein ein, ja er übte einen prägenden Einfluss auf nach oben. Mitte der siebziger Jahre wurde jener Wachstumspfad das Identitätsgefühl der zweiten Republik aus. Seine Folgewir- wieder erreicht, der ohne den Krieg beibehalten worden wäre. kung hält bis in die unmittelbare Gegenwart als Fixierung auf ei- Die vierte Diskussionsströmung setzt dagegen ganz auf den nen tiefverankerten Wachstumsfetischismus an, der Züge einer wohltätigen „Strukturbruch“ seit 1945/49: auf die radikale Um- neuen Säkularreligion gewonnen hat. orientierung der deutschen Wirtschaftspolitik unter dem Einfluss Obwohl die Legende nur das „deutsche Wirtschaftswunder“ neuer Institutionen und Leitideen. Da gab es das Ordnungsmodell kennt, handelt es sich bei jener hochkonjunkturellen Trend- der sozialen Marktwirtschaft, vor allem aber die Öffnung des periode tatsächlich um ein gemeineuropäisches Phänomen, Weltmarkts, der dank dem Währungssystem von Bretton Woods, wahrscheinlich sogar um ein „Welt-Wirtschaftswunder“. Die im dem GATT-Zollabkommen, der Europäischen Zahlungsunion, der Rückblick leicht erkennbare Einmaligkeit dieses explosiven Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Europäischen Ge-

54 der spiegel 52/2005 meinschaft eine seit 1914 nicht mehr vorhandene Liberalisierung holbarkeit eines einzigartigen „Großen Spurts“ festhielt. Dass die erlebte. Sie ermöglichte es der deutschen Wirtschaft, den Anteil von Grund auf veränderte Konstellation, die durch das verschärf- ihres Exports am Bruttosozialprodukt auf erstaunliche 25 Prozent te Tempo der Globalisierung noch dramatisiert wurde, außeror- Anfang der siebziger Jahre zu steigern, den Anteil am Weltexport dentlich anstrengende und schmerzhafte Anpassungsleistungen er- auf 10 Prozent zu erhöhen. Fraglos war der westdeutsche Erfolg in fordert, um überhaupt die enorme Leistung eines Wachstums um hohem Maße diesem exportorientierten Wachstum zu verdanken. zwei Prozent weiter erbringen zu können, sickerte nur langsam in die Köpfe der Politiker, noch zähflüssiger in die Öffentlichkeit ein. ine einseitige Privilegierung der These von der Rekonstruk- Das nostalgisch verklärte „Wirtschaftswunder“ verwandelte sich in tion oder vom Strukturbruch erweist sich als erkenntnis- die schwere Bürde eines Erfolgs, der eine verzerrte Realitätswahr- Ehemmend statt erkenntnisfördernd. Man sollte die beiden nehmung und politische Lähmung auslöste. War es damals nicht Erklärungsversuche kombinieren. Denn ohne die auf dem Wachs- ständig bergauf gegangen, und hatte man nicht alle Rezessionen und tumspotential beruhende Rekonstruktionsleistung hätte der libe- Ölschocks bravourös überwunden? Das Ergebnis dieser beharr- ralisierte Weltmarkt nicht so effektiv genutzt werden können. Und lich geleugneten Einmaligkeit des „Wirtschaftswunders“ war ein ohne den in der Tat einem Strukturbruch gleichkommenden Wan- starrer Strukturkonservativismus: Er vertraut blind auf das Fehlur- del der Wirtschaftspolitik und der internationalen Institutionen teil, dass sich ein denkwürdiges Unikat beliebig wiederholen lasse. hätte sich wiederum die Rekonstruktion nicht in so phantastisch Aus der Sackgasse, in die diese Chimäre geführt hat, müssen sich kurzer Zeit als geradezu revolutionärer Umbruch auswirken kön- Politik und Wählerschaft endlich herausbewegen, um durch die un- nen. Ihre Folgen übertrafen die Veränderungen durch die Welt- vermeidbare Fortsetzung der viel zu spärlich initiierten Reformen wirtschaftskrise seit 1929 und den Zweiten Weltkrieg bei weitem. jene Flexibilität und Leistungsfähigkeit wiederzugewinnen, welche In den Jahrzehnten nach 1973 pendelten sich die deutschen die Bundesrepublik früher einmal insgesamt, nicht nur ihre Ex- Wachstumsraten bei zwei Prozent ein, danach hätten sich die portindustrie ausgezeichnet hat. Die Grundvoraussetzung dafür Unternehmer des kaiserdeutschen Reichs die Finger geleckt. Sie bleibt freilich der endgültige Abschied von dem gefährlichen unterschritten diesen Wert aber schließlich fast ständig, da ein ver- Wunschtraum, das Wachstumstempo der fünfziger/sechziger Jah- krusteter Arbeitsmarkt, das Fehlen von aussichtsreichen Zukunfts- re noch einmal erreichen zu können. Ein derart singulärer Boom industrien, die harte Konkurrenz der asiatischen und osteuro- kann sich in Deutschland nicht wiederholen. Das aber heißt: Good- päischen Niedriglohnländer und die eklatante Reformunfähigkeit bye, ihr Wachstumsraten einer unwiederbringlichen Vergangen- des Landes den Wachstumsmotor schwächten. Erhalten blieb aber heit. Sollten in Zukunft zwei Prozent erreicht und gehalten wer- die Fixierung auf die ganz und gar einmaligen Wachstumsraten des den, wäre das eine Leistung, die alle Anerkennung verdient. „Wirtschaftswunders“, obwohl es doch den nicht wiederkehrenden Sonderbedingungen der Rekonstruktionsära und des Strukturbruchs im Inneren und auf dem Weltmarkt zu verdanken gewesen war. Im nächsten Heft: Wie die DDR das bessere Deutschland Die Erfolgserfahrung der zweieinhalb Jahrzehnte nach 1950 werden wollte – und warum sie damit scheiterte. nährte einen starren Wachstumsfetischismus, der an der Wieder- SzeneGesellschaft · Rückblick 2005

nationale Wettmafia, AUFSTAND DES JAHRES erst nach ein paar Tagen. In die den deutschen einer verzweifelten Lust am Kickerbetrieb in eine Der große Frust Krawall tobt sich der große Krise stürzte; es han- Frust der schwarzen Jugend- delte sich auch nicht m Ende war man sich lichen aus, die sich eigentlich um eine große Ver- Aeinig: Eine erhebliche längst schon als Franzosen schwörung aus dem ost- Mitschuld an den Pariser fühlen, aber nicht so behan- europäischen Geheim- November-Ereignissen trägt delt werden. Nun will Präsi- dienstmilieu. Robert die Architektur. In ganz Hoyzer, ein selbstgefäl- Europa interessiert man liger, leicht verführba- sich plötzlich für die rer Student aus Salzgit- trostlose „Banlieue“, ter, der das Luxusleben, jene Trabantenstädte von dem er träumte, aus Beton, hauptsäch- von seinen regulären lich bewohnt von Einnahmen als Zweitli- Schwarzafrikanern und ga-Schiri nicht stemmen Arabern. Zwei Wochen konnte und der die teu- Dauer-Bambule, 9000 ren Autos, die ihn reiz- brennende Autos, ver- ten, nicht lenken durfte, wüstete Büchereien verpfiff nachweislich und Schulen – das war

sechs Spiele, weil er die Bilanz des Auf- / DPA FLOCH LE / PASCAL ERIC TRAVERS „Kohle machen“ woll- stands in den Ghettos Brennende Autos in Aulnay-sous-Bois te. Von Wettkönig Sapi- Frankreichs. Innenmi-

FIRO SPORTPRESSEPHOTO na bekam Hoyzer dafür nister Nicolas Sarkozy be- dent Jacques Chirac mit ei- Hoyzer 67000 Euro sowie einen schimpfte die Jugendlichen nem Umbau der maroden Plasmafernseher – und als „Gesindel“ und „Ab- Vorstädte das Problem lösen. PFEIFE DES JAHRES vom Berliner Landgericht in schaum“, und auch die Ver- Davon hatte er übrigens erster Instanz zwei Jahre und hängung des Notstands durch schon vor über zehn Jahren Kohle machen fünf Monate. Premier de Villepin wirkte das erste Mal gesprochen. s ist nur eine kleine Epi- Esode in der mehr als 6000 Seiten umfassenden Akte Robert Hoyzer, die die Berli- ner Staatsanwaltschaft gegen den korrupten Schiedsrichter zusammengetragen hat. Aber sie verrät viel über den Mann, der dem deutschen Fußball Anfang des Jahres die brisanteste Affäre seit dem Bundesligaskandal 1971 bescherte. An einem Nach- mittag im Oktober 2004 vor der Zweitligapartie zwischen Ahlen und Burghausen, die Hoyzer für 32000 Euro mani-

pulieren wird, sitzt der PETER KNEFFEL / DPA bestechliche Referee mit dem Griese-Schwenkow (2. v. l.), Isa Gräfin von Hardenberg, Sabine Christiansen, Friede Springer Kroaten Ante Sapina, dem Drahtzieher der Schieberei- en, vor einem Computer und konfiguriert sich auf der Was war da los, Frau Griese-Schwenkow? Audi-Homepage einen A3 Die Journalistin Inga Griese-Schwenkow, 48, über den Tag der Kanzlerinnenwahl nach seinen Wünschen. Ein paar Stunden später, nach ür mich war das der Tag war das, ich hatte nicht ge- schauten uns an und konnten einem gemeinsamen Essen, Fdes Jahres, der 22. Novem- wusst, dass man im Reichstag ein leises ,Yeah‘ nicht unter- ist ihm nach einem Mercedes ber, als Angela Merkel zur nicht essen darf. Bei der Ver- drücken. Für uns vier, die wir CLK, und so begibt er sich, Kanzlerin gewählt wurde. Wäh- lesung des Wahlergebnisses Frau Merkel seit Jahren unter- als Dessert sozusagen, mit Sa- rend der Stimmenabgabe ha- und der späteren Vereidigung stützt haben, war das ein sehr pina zur örtlichen Mercedes- ben wir geschnattert, die Ho- hatte ich Gänsehaut, das war privater, sehr schöner Mo- Niederlassung am Berliner roskope für den Tag gelesen ein Gefühl der Freude, wie ment. Ich hätte mich gefreut, Salzufer. Zur Probefahrt und meine selbstgebackenen ich es auch von der Abitur- wenn auch Alice Schwarzer kommt es nicht, Hoyzer hat Kekse gegessen – bis eine Saal- zeugnisvergabe meiner Kinder bei uns gesessen hätte, aber nicht einmal einen Führer- dienerin kam. Sehr peinlich kenne. Friede Springer und ich die musste arbeiten.“ schein. Es war nicht die inter-

56 der spiegel 52/2006 GesellschaftSzeneKultur

STARS DES JAHRES nem Handy um zwei Uhr KLÜGER WERDEN MIT: die USA nicht so unvorberei- früh in einem Aufnahmestu- tet treffen müssen. Zu viele Köche dio im Londoner Stadtteil Jared Diamond SPIEGEL: Das sind düstere Chiswick, verkaufte der Dea- Aussichten. acken, schnitzeln, ler für ein paar hunderttau- Der 68-jährige Pulitzer- Diamond: Ich bin recht optimis- Hschmoren, brutzeln, bra- send Pfund an die Medien Preisträger hat den tisch, dass es nicht so weit ten; tagsüber Vincent Klink, und trieb „Cocaine Kate“, Sachbuch-Bestseller kommen wird. Im Vergleich zu Jamie Oliver und Tim Mälzer, wie sie die englischen Zeitun- „Kollaps“ geschrieben. den Mayas oder den Wikin- abends gleich fünf Köche bei gen nun nannten, an den ge- gern haben wir Medien, die Kerner zur besten Sendezeit, schäftlichen Abgrund. H&M SPIEGEL: In Ihrem Buch be- uns erklären, was passiert, Vincent Klink rollt Klöße, Jo- und Chanel kündigten ihre schäftigen Sie sich mit den wenn es so weitergeht. Das ist hann Lafer wickelt Thunfisch- Verträge, Moss verbarrika- Gründen für den Untergang das Gute an der Globalisie- rouladen, Schuhbeck tränkt dierte sich in einer Drogen- von Kulturen. Welche Erkennt- rung. Viele junge Menschen Fenchel mit Orangendip. Mil- klinik in Arizona, mit einem nis hat Ihnen das Jahr wissen, dass wir alle lionen schauen zu im Fernse- Tagessatz von 4000 Dollar – 2005 gebracht? in einem Boot sitzen. hen und feiern die Illusion, nur weit unter dem, den das Diamond: Man kann Sie werden Lösungen dass beim Kochen alles Modell selbst in besseren Ta- schon heute die ein- finden. schnell und locker geht. gen verlangt hatte. Zu Hause zelnen Gesellschaften SPIEGEL: Wenn es Köche sind die neuen Stars in England fand sich Kokain nicht mehr getrennt hart auf hart kom- der Unterhaltungsindustrie, jetzt überall: auf den Toilet- voneinander sehen – men sollte – wer blie- sie stillen die Sehnsucht nach ten des Labour Parteitags, sie wachsen zusam- be am Ende übrig? Genuss und Geborgenheit angeblich in der Vergangen- men. Denken Sie nur Diamond: Die Ur- oder wecken diese Sehnsüch- heit der neuen Tory-Super- an die afrikanischen völker. Sie haben te erst wieder. So schafft es stars David Cameron und Flüchtlinge am Diamond ihre Steinäxte erst Tim Mälzer mit einem Koch- George Osborne. Gegen diese Grenzzaun in Ma- vor einigen Jahren buch auf die Bestsellerlisten, große Koalition der Droge rokko. Aber diese globalisierte aufgegeben und können nach monatelang, und kocht vor Welt steht an einem Scheide- wie vor ohne Tiefkühltruhe Publikum im ausverkauften punkt: Wenn wir so weiterma- überleben. Saal im Congress Center chen, werden wir in den nächs- Hamburg. Sieht man die Auf- ten 50 bis 100 Jahren unter- ZITATE 2005 lagen, die Quoten dieses Jah- gehen. Nicht nur der Westen. res an, so müsste Deutschland Alle Länder gehören heute zu »Um die Tyrannei in der ein Paradies der guten Küche den bedrohten Kulturen. Welt zu beenden, musst du sein, aber das ist es nicht. SPIEGEL: Warum? länger aufbleiben.« Gute Restaurants kämpfen Diamond: Als die Mayas die Laura Bush über ihren ums Überleben, nur jeder Natur in Mittelamerika ausge- Mann, der gern immer schon Vierte kocht noch regelmäßig beutet hatten, betraf das nur um 21 Uhr ins Bett geht daheim, und junge Menschen sie selbst. Wenn arme Länder wissen nicht mehr, wie man ihre Natur so weit zerstören, »Das hier ist ein Mann, der einen Braten gart. Immerhin dass man dort nicht mehr mindestens 300000 Leute schenkt man einander Koch- leben kann, machen die Men- ermordet hat, und wir sollen bücher zu Weihnachten, Wil- schen sich auf den Weg nach ihn bedauern, weil jemand des von Mälzer oder Edles / INTER-TOPICS LANDMARK Europa und in die USA. Die sein Foto geschossen hat?« von Stars wie Dieter Müller. hatten auch die strengsten westliche Welt kämpft doch Graham Dudman, leitender Redak- Nur gekocht wird wahr- Sittenwächter keine Chance heute schon gegen die Flücht- teur des britischen Boulevardblatts scheinlich nicht daraus, denn mehr – ein paar Monate nur lingsströme. Kommen zu viele »Sun«, über Fotos, die Saddam das kostet Zeit. nach ihrem hysterisch herbei- Flüchtlinge in die westliche Hussein in Unterhosen zeigen geschriebenen Karriereende Welt, werden auch bei uns die SÜCHTIGE DES JAHRES durfte Moss schon wieder für Ressourcen knapp. Wir wer- »Ich habe in meinem den heiligen Schrein der den Kriege um diese Ressour- ganzen Leben noch kein Kate Moss Branche arbeiten, den Pirelli- cen führen. Buch gelesen.« Kalender. Der linksliberale SPIEGEL: Was müsste man tun? Victoria Beckham, s war das berühmte Foto „Guardian“ schrieb: „Wenn Diamond: Es reicht nicht, dass Ex-Popstar und Fußballergattin Ezu viel, mit dem Kate sie ein Kerl wäre, würde man Europäer und Amerikaner Moss im September dieses sie jetzt zum Ritter schlagen“, ihre eigenen Wirtschafts- und Jahres auf der Titelseite der und der Virgin-Konzern enga- Umweltprobleme lösen. Wir »Moshammer ist tot – britischen Boulevardzeitung gierte sie für seine neue Han- müssen auch den armen Län- sehr traurig – Gott hilf.« „Daily Mirror“ landete: eine dy-Werbung. Die Spots sollen dern helfen. Wir müssen Trauerschreiben eines Strähne ihres blonden Haars erstmals zu Weihnachten unsere Märkte für Bananen, Obdachlosen nach dem Mord sorgsam hinter das rechte ausgestrahlt werden. Moss Zucker oder Kaffee aus der an dem Modedesigner Ohr gesteckt, die Knie wie wird keinen davon sehen. Sie Dritten Welt öffnen. Wenn die »Wir sind nicht nur beim Nachmittagstee fein verbringt die Ferien in einem Menschen eine Perspektive Bedenkenträger, sondern parallel gestellt, nur dass vor Luxus-Spa in Thailand, haben, bleiben sie in ihrer auch Heulsusen.« ihr keine Porzellantasse Tagessatz 750 Dollar, mit ein Heimat. Außerdem muss jedes Norbert Walter, stand, sondern ein paar Lini- paar Tassen Tee. Geld, so Land mehr in die Umweltpoli- Chefvolkswirt der Deutschen Bank, en Kokain ausgelegt waren. scheint es, ist die umwerfends- tik investieren. Der Hurrikan über die Deutschen Die Szene, fotografiert mit ei- te Droge von allen. „Katrina“ in New Orleans hätte

der spiegel 52/2006 57 Gesellschaft Szene

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE natürlich die Geschenke. Weihnachten hatte er sich immer gut gefühlt. Auf dem Weg nach Hause kaufte er einen Truthahn und ein Geschenk. Er Mr Christmas weiß nicht mehr, was es war, aber er weiß, dass der Tag von diesem Moment Warum ein britischer Elektriker täglich Weihnachten feiert an schön war. So begann Parks Obses- sion. Er sagt, er finanziere sie mit seiner ndy Park sitzt auf seinem Sofa der Rede nimmt sich Park ein Geschenk Arbeit als Elektriker, außerdem lege er im Wohnzimmer, hinter ihm und packt es aus. Dann zündet er ein an drei Abenden in der Woche Platten Aleuchtet ein schneeweißer Plas- paar Zimmerböller, aus denen Konfetti auf in lokalen Clubs. tikweihnachtsbaum, über ihm, an der regnet. Manchmal singt er. Allein. Anfangs war Parks Obsession seine Decke, blinkt eine Lampe in Form ei- Park hat eine Freundin, aber sie fei- Privatangelegenheit. Doch bald erfuh- nes Weihnachtssterns, erst rot, dann ert selten mit ihm. Er hat auch eine er- ren seine Nachbarn davon, die Men- grün, dann gelb. Am Kamin hängen wachsene Tochter. Sie kommt selten zu schen in seiner Straße, in seiner Stadt. 24 handgroße Weihnachtsmänner an Besuch. Park beschenkt in der Regel Sie begannen über ihn zu reden, über einer Schnur. Im Wintergarten steht ein nur sich selbst. Caz, seine Tochter, sagt den seltsamen Kerl, der selbst im Hoch- zweiter Plastikweihnachtsbaum, sommer einen Weihnachtsbaum auch er ist weiß, geschmückt in seinem Haus stehen hat und mit Kugeln und Kerzen. Unter allein feiert. Ein Pfarrer empörte dem Baum liegen Geschenke, sich über ihn, sprach von einer sorgfältig eingepackt, mit bunten Entweihung des Festes. Park Schleifen. Es ist noch eine gute freute sich darüber, er fand Ge- Woche bis zum Fest. fallen an der Aufmerksamkeit. Park hat die Geschenke unter Er war nicht länger nur ein un- dem Baum selbst ausgesucht, ge- bekannter Elektriker, er wurde kauft, verpackt. Er wird sie sich zu Mr Christmas, verlacht, aber selbst schenken, alle. Gestern hat prominent, in seiner Stadt. Ir- er eins geöffnet, eins von den gendwann war er im Lokalradio großen. Es war eine elektrische zu hören, mit einem Weihnachts- Gitarre, eine Fender Stratocaster. lied, später rutschte er ins natio- Park hat sich trotzdem gefreut, nale Programm, als Teil der vor- sagt er. weihnachtlichen Freakshow.

Auch heute hat er ein Ge- ANDREWS / BARCROFTJULIAN MEDIA Mittlerweile hat Park es ins schenk geöffnet, ein kleines. Eine Park Fernsehen geschafft. Er war in goldene Halskette, schwer und einer Kochshow zu sehen, am wuchtig, passend zu seinem Hals. Nachmittag, er trat bei „Top of Morgen wird Park auch ein Ge- the Pops“ auf, nicht als Sänger, schenk öffnen, und übermor- als Ansager, auf dem Kopf trug gen, überübermorgen, natürlich er einen roten Zylinder. Park an Weihnachten, aber auch an gibt viele Interviews, jetzt, in der Silvester, am 1. Januar, am 2. Aus der „Süddeutschen Zeitung“ Vorweihnachtszeit. Er verlangt Andy Park, 45 Jahre alt, selbstän- 100 Pfund für zwei Stunden sei- diger Elektriker in Melksham, in der über ihren Vater, er sei ein „Crackpot“, ner Zeit. Sein tägliches Weihnachtsfest englischen Grafschaft Wiltshire, feiert ein Spinner. scheint ihm nicht mehr wirklich wichtig Weihnachten jeden Tag. Seit 12 Jahren. Fährt Park in Urlaub, fragt er vorher, zu sein. Er ist zum Manager seiner Ob- Jeder seiner Tage beginnt mit einem ob er im Hotel täglich Truthahn und session aufgestiegen, sie zu vermarkten Truthahnsandwich, ein paar Hackfleisch- Kartoffeln bekommen kann, hindert ihn ist sein Job. Er jongliert mit Interview- röllchen und einem Glas Sherry. Dann die Arbeit am Kochen, kümmert sich Anfragen aus Italien, Australien, den verlässt er das Haus, repariert ein paar eine Nachbarin ums Essen, laden Freun- Niederlanden, Deutschland. Er hofft, Waschmaschinen, kehrt gegen 11.30 Uhr de ihn zum Essen ein, verlangt er Trut- den Elektrikerjob endgültig hinter sich zurück und schiebt einen Truthahn in hahn. Das Ganze hat etwas Verbissenes. lassen zu können, es auf die Bühne von den Ofen. Ist der Vogel gar, legt Park Park feierte sein erstes tägliches „Top of the Pops“ zu schaffen und nur ein paar Kartoffeln neben das Fleisch, Weihnachten am 14. Juli 1993, er war 33 noch prominent zu sein. Ein Lied soll Erbsen, gibt Bratensaft darüber und ge- Jahre alt, saß in seinem Wagen und ver- ihm dabei helfen, er hat es selbst kom- nehmigt sich ein Glas Rotwein. fluchte die Hitze des Sommers, seinen poniert, es trägt den Titel: „It’s Christ- Nach dem Essen geht Park ins Wohn- Job und sein Leben, das aus einer end- mas everyday“. Man kann es im Radio zimmer, wo das ganze Jahr über der losen Reihe defekter Waschmaschinen, hören, er hofft auf einen Weihnachtshit. weiße Plastikweihnachtsbaum steht, Geschirrspüler, Herde zu bestehen Fragt man Park, wie er seine Chan- schaltet den Videorecorder ein und schien. Da musste mehr sein, aber was? cen einschätzt, wiegt er den Kopf hin sieht sich die Weihnachtsrede der Park versuchte sich an außergewöhnli- und her und sagt: „Das Rennen ist noch Queen an. Er nimmt sie jedes Jahr am che Tage zu erinnern, an Tage, an de- offen.“ Es gebe ein paar ernsthafte 25. Dezember auf. Im vergangenen Jahr nen er sich gut gefühlt hatte. Weih- Konkurrenten: den „Crazy Frog“ und sagte die Queen etwas über das fried- nachten fiel ihm ein. Der Baum, der ein paar Schafe, die „Jingle Bells“ liche Miteinander der Kulturen. Nach Duft des Essens, Lieder, Gelächter und blöken. Uwe Buse

58 der spiegel 52/2005 ANDREW WONG / GETTY IMAGES Gekühlte Leichen in Takuapa bei Khao Lak: Ende einer Traumwelt

TSUNAMI Das Hotel der Geister 30 Kilometer Strand und Palmen, 6500 Zimmer mit Meeresblick: Touristen suchten in Khao Lak in Thailand das Paradies, Einheimische eine bessere Zukunft. Dann kam die Flut. Für die Überlebenden ist die Katastrophe gegenwärtig – und der Grund, ein neues Leben zu beginnen. Von Ralf Hoppe

er Indische Ozean schlägt in langen Gäste von 2219 müssen umquartiert wer- sagen andere, das Hotel der Überleben- Wellen an den Strand. Das erste den, sie haben sich gestern beschwert, die den, think positive. DLicht des Tages ist fahl, schatten- Bauarbeiter von nebenan fangen früh an Fast ein Jahr hat es gedauert bis zur los, Lufttemperatur 27 Grad Celsius, schon mit ihren Presslufthämmern. Wiedereröffnung. Mr Warakorn Songsang, jetzt, morgens um halb sieben. Tum hat An der Außendusche spült Tum sich den der Besitzer, hatte alles verloren, seine Fa- ihre schwarzen Pumps ausgezogen. Sie Sand von den Füßen. Sie schlüpft in ihre milie, seine beiden Hotels, er wusste erst stapft barfuß durch den Sand, späht Schuhe, setzt ein Lächeln auf, streicht den nicht, ob er einen Neuanfang wagen woll- hinter die glattgescheuerten Felsen, schaut schwarzen, kurzen Rock glatt, und so be- te. Dann die zähen Verhandlungen mit den nach unter den Palmen und im Wurzel- ginnt sie ihren Tag – einen normalen Ar- Banken. Dann die langwierigen Aufräum- werk der Kasuarina-Bäume – aber da liegt beitstag in diesem ziemlich unnormalen arbeiten, die Neubauten, Gehwege, Pal- weder Treibmüll noch Papier, keine Hotel. men, Pumpen, Computer, Toiletten, alles Kippen, keine Dosen, der Sand ist geharkt, Tum ist der Front Office Manager, und Mögliche ging schief, als laste ein Fluch vorn wenigstens. ihr Hotel ist das „Palm Beach Resort“ in auf dem Hotel. Gut. Die neuen Gärtner sind offenbar Khao Lak, Thailand, zum zweiten Mal Als vor einer knappen Woche die ersten zuverlässig. eröffnet vor wenigen Tagen. Das Personal: Gäste anreisten und ihre nach frischer Far- Tum wendet sich wieder Richtung Hotel, 20 Kellner, Köche, Gärtner, dazu 8 bis 10 be riechenden Bungalows bezogen, kamen sie hat es jetzt eilig. Auf 1130, bei den Zimmermädchen, 4 weitere Damen für die sie fast genau zwölf Monate nach dem Schweden, stimmt wieder was mit der Toi- Rezeption, die aussehen, als wären sie Weltbeben, dem Tag, an welchem der Tsu- lette nicht, literweise kommt das Spülwas- zwölf, dazu drei Dutzend Bauarbeiter in nami den unteren, strandnahen Teil des ser hochgegulpt. Sie muss den Klempner Badelatschen, die überall schweißen, strei- Hotels in ein Trümmerfeld verwandelte, rufen. Dann das blubbernde Geräusch chen, klopfen. Und dann die vier Gäste. die Traumsiedlung Khao Lak zerlegte – beim Pool, Tum muss jemanden finden, Das Palm Beach Resort: Hotel der To- und nebenbei auch das Leben von Tum, der sich mit Pumpen auskennt. Und die ten, sagen manche, die hier arbeiten. Nein, die eigentlich Partumtip Srideang heißt, 36

60 der spiegel 52/2005 Gesellschaft HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS SCHWARZBACH HARTMUT Zerstörtes „Palm Beach Resort“: Angst vor dem Jahrestag

Jahre alt ist und Marketing-School-Absol- Umzugskartons, in einer Dreizimmerwoh- bringt er das Opfer, leichten Herzens. Na- ventin aus Bangkok. Eine kleine Frau, nung im vorweihnachtlichen Wien, 11. Be- türlich, gewarnt hat man ihn. Deutschland, stämmig, energisch. Glattes, kurzes Haar, zirk, im Osten der Stadt, Dachgeschoss. steif und trocken, und dann auch noch mit- viel Make-up, müde Augen. Anja reicht an, Guido packt ein. Die Tüte ten in die Provinz. Und wenn es ein Fehler Fürchtet sie sich vor dem nahenden mit den Schuhen. Den Laptop. Draußen ein ist? Platzer ist 36 Jahre alt, Beziehungen 26. Dezember? kalter, klarer Tag. Die Sonne flutet durch die zerbrechen, die Liebe löst sich auf, es wäre Nein, sagt sie. Zuckt die Achseln. Oder großen Fenster. Viel ist es nicht. Platzer hat nicht zum ersten Mal. vielleicht doch, ein wenig. aussortiert, zum Beispiel die karierten Hem- Aber er ist sich sicher, ganz sicher – seit Das Problem, flüstert sie, sind die Geister. den, die er schon lange nicht mehr trägt. dem 26. Dezember 2004, als er und Anja Kurz vor Weihnachten wird es voller Nur das Wichtigste nimmt er mit in sein Hensel im Palm Beach Resort von Khao werden. Und für den 26. Dezember sind sie neues Leben, Ski-Ausrüstung, Laufschuhe, Lak um ihr Leben kämpften. Sie hatten fast ausgebucht. Sie brauchen mehr Weih- eine Filmdose mit Sand aus Thailand, der Bungalow 1130, dasselbe Häuschen, in dem nachtsschmuck. Trinkwasser brauchen sie erste gemeinsame Urlaub mit Anja. inzwischen, auf der anderen Seite des Erd- auch. Und ein oder zwei Torten, falls je- Guido Platzer verstaut die Filmdose und balls, der Klempner das Badezimmer über- mand von den Gästen Geburtstag hat. Sie verpackt sein Leben, er verlässt Wien, seine schwemmt hat. muss auch noch die Schichten für den Stadt, die er immer noch großartig findet, Das Leben ist kostbar, sagt Guido Plat- Weihnachtsmann-Dienst einteilen. Tum aber egal, er zieht in ein rotes Klinkerhaus zer, das lernt man auf die harte Tour, wenn selbst wird ebenfalls hier sein am Jahrestag am Stadtrand von Hildesheim. Seine Freun- man dem Tod so nahe kommt. des Todes, erstens muss sie arbeiten, din Anja lebt dort und kann nicht weg, also Khao Lak, sagt Anja Hensel, wird man außerdem, was soll sie sonst machen? Das nicht mehr los. Hotel ist alles, was ihr blieb. Wenn die Touristen Khao Lak sagen, Tums Geliebter, ihr Boyfriend, kam in meinen sie eine Reihe von Dörfern längs der Flutwelle um, er ist jetzt ein Geist, der der Nationalstraße 4, die Thailand in Nord- sie immer wieder heimsucht, manchmal Süd-Richtung durchzieht. Ein Küstenstrei- wochenlang nicht, dann wieder jede Nacht, fen, 30 Kilometer, mit Dörfern, deren Na- er kennt sich hier aus, sie hatten sich men sich kein Tourist merken kann: Bang schließlich im Palm Beach Resort kennen Laong, Bang Niang, Khuk Kak, Laem Paka- gelernt. Vielleicht kommt er, um sie zu war- rang, Pak Weep, Bang Sak – bis nach Ban nen, vielleicht aber auch, um sie zu den To- Namkem im Norden, was so viel bedeutet ten zu holen, Tum weiß es nicht, Geister wie Salzwasserdorf, eine Fischersiedlung. sind unberechenbar. Sie weiß nur, dass er Es ist die Heimat von Maem. Sie heißt hier ist. Und die anderen Toten auch. mit vollem Namen Uraiwan Klaewkla, 25 Sie setzt sich an den Schreibtisch, greift Jahre, und das Palm Beach war ihr Ar- zum Telefon. beitsplatz, bis der Tsunami kam und sie

Am selben Tag, da Tum den Klempner AARON HUEY / POLARIS ein neues Leben anfing. anruft und tiefgefrorene Torten ordert, Überlebende Tum Vor der Flut war Ban Namkem eine la- stehen Guido Platzer und Anja Hensel vor „Ich denke täglich an meinen Freund“ byrinthische Siedlung, wuchernd, ärmlich,

der spiegel 52/2005 61 AARON HUEY / POLARIS Schaufelbagger am Strand von Khao Lak: Ferien auf der Baustelle mit Schlupfwinkeln, in denen sich die ille- Maem hat ein neues Leben begonnen, flogen manchmal zahme Nashornvögel, galen Burmesen versteckten, mit Bordel- wie auch Tum, ihre ehemalige Chefin, wie und in den Massagesalons wurde man len, Spielsalons, einem stinkenden See in auch Guido Platzer und Anja Hensel – die tatsächlich massiert. Khao Lak war das der Mitte. 14 000 Menschen lebten hier, alle eine Art heimlichen Club bilden, ohne bessere Thailand, und die hierher kamen, jetzt sind es höchstens ein Drittel. Ban Satzung, aber mit Erinnerungen, die sie an waren die besseren Menschen, die idealen Namkem war in eine flache Lagunenland- diesen Ort binden, die Überlebenden vom Touristen, auf der Suche nach dem Glück. schaft hineingewachsen, tödlich nah am Palm Beach. Hier, an einem der schönsten Strände der Meer – jetzt ist es eine Ruinenlandschaft. Das Hotel, eingeschnitten in einen Hü- Welt, war das Leben leicht wie eine Brise, Maem wohnt seitdem in einem Container- gel, mittlerer Komfort, mittlere Preise, war hier war man sicher vor Stress, Hektik, dorf, mit anderen Flüchtlingen, etwas ab- vor dem Tsunami das typische Durch- Kälte. Khao Lak boomte, immer mehr ka- seits von Ban Namkem. schnittshotel. Eines von mehr als 80 Hotels, men. Nach dem Tsunami waren 5395 Tote Aber Maem will ihr altes Haus wieder- 6500 Zimmer, 13000 Betten, beinahe zu und 2817 Vermisste in ganz Thailand zu aufbauen, zusammen mit ihrem Mann, 100 Prozent belegt am Vorabend der Sint- beklagen, etwa 4300 davon starben in direkt an der Ban Namkem Road, es stinkt flut: Khao Lak war das Versprechen einer Khao Lak. nach Müll, Bauschutt, Hundescheiße. Klei- paradiesischen Welt. Am Morgen des zweiten Weihnachts- ne gelbe Hunde wälzen sich im kalkigen Khao Lak war der Gegenentwurf zu tages 2004, um 7.58 Uhr Sumatra-Zeit, riss Sand. Maem liebt dieses Dorf. Phuket und Patong, Stadt der grellen Hu- der Meeresboden vor Sumatra auf wie ein Das Haus, das sie bauen, eigentlich nur ren und gefälschten Rolex-Chronometer. Reißverschluss. In Sekundenbruchteilen ein mit Wellblech überdachter Raum, kos- In Khao Lak sah man Elefanten am wurden Millionen Tonnen Gestein gegen- tet sie und ihren Mann 150000 Baht, etwa Straßenrand. Durch die Lobbys der Hotels einander gepresst, verschoben, Spalten 3000 Euro. Das Geld mussten sie sich lei- klafften, Schlammlawinen rollten, ein Don- hen. Darum hat ihr Mann gleich zwei Jobs, nerschlag ging durch das Meer, ein See- er ist Truckfahrer, darum steht Maem beben, ein Weltbeben. jeden Morgen um halb sechs auf. Der Strand von Khao Lak steigt gleich- Als Erstes kocht sie eine Kanne Ovo- mäßig an, im flachen Winkel. Ein Riff im maltine, sie haben aus einer Schweizer Meer, eine Felswand unter Wasser hätten Hilfslieferung ein paar Kanister abgestaubt. die Welle gebremst. Aber die Unterwas- Sie trinkt selbst eine Tasse, lässt den Rest serwelt von Khao Lak bot keine solchen stehen für ihren Mann und ihre Eltern, Hindernisse, sie war ideal für die Welle. dann fährt sie auf den Markt nach Jian Jan, Tum, die Managerin, befand sich am um Ware zu kaufen: Fischsauce, Nudeln, Morgen des 26. Dezember 2004 an der Re- Zahncreme, Süßigkeiten, Seife. Um acht zeption ihres Hotels. Sie spielte ein Buch- ist sie wieder zu Hause. Sie sortiert die haltungsprogramm auf. Tum hatte gerade Ware ein und öffnet ihren Shop, den sie im ihren neuen Job angetreten – zwei Mona- vorderen Teil ihres Wohncontainers ein- te zuvor war sie vom Palm Beach Resort

gerichtet hat. Eine kleine Flasche Shampoo REINER RIEDLER zum „Green Diamond“ gewechselt. Das kauft sie für 15 Baht, verkauft sie für 25. Überlebende Platzer, Hensel Green Diamond war zwar bescheidener in Sie ist jetzt Unternehmerin. „Das Leben ist wichtig“ der Ausstattung, aber aufstrebend, und ihr

62 der spiegel 52/2005 Gesellschaft

Chef fragte sie in allem um Rat. Die Bun- abriss. Als das Wasser sie emportrug, konn- In Bungalow 1130 griff Guido Platzer galows standen auf kleinen Stelzen auf ei- te sie einen Dachbalken packen und auf nach seiner Badehose, Anja Hensel nach nem großen Strandabschnitt. Damit, hatte den Giebel klettern. dem neuen lachsfarbenen Rock, als sie ein Tum ihrem neuen Chef erklärt, müsse man Maem war bis auf Kratzer unverletzt. seltsames Geräusch hörten. Es klang wie ein vor allem werben: kinderfreundlicher Sie hielt sich am Dach fest, bis die Flut ab- Putzwagen, der den Berg herunterschep- Strand, weil flach. zog, watete aus dem zertrümmerten Palm pert. Anja Hensel spähte hinaus, sah eine Tum horchte auf. Ein Geräusch, erst ein Beach Resort, kletterte einen Hügel hinauf. Schlammwalze, Wasserwalze, 20 Meter ent- Rauschen, dann ein Dröhnen. Tum ging Maem half dann und an den folgenden Ta- fernt, grauschwarz, das Meer kam sie holen. zum Fenster und sah eine Wand auf sich Vor dem Meer hatte zurollen, aus Wasser, graubraun, malmend. Die Überlebenden vom „Palm Beach“ sind eine Art ich immer Angst, sagt Im ersten Moment, sagt Tum heute, Anja. Ich bin zwar dachte ich an meinen Freund. Ich wollte, heimlicher Club, ohne Satzung, aber mit Erinnerungen. sportlich, aber Tauchen dass er da ist, dass er mir hilft. Ich war fast war zum Beispiel völlig wütend, dass er mich nicht beschützt. Aber gen ihren verwundeten Landsleuten, den ausgeschlossen. Schon bei der Vorstellung, er war ja im Hafen, ich wusste es ja, er ar- blutenden Touristen, sie tröstete, verpflas- mein Gesicht unter Wasser zu haben, wer- beitete an einem Boot. terte, sie besorgte Trinkwasser, beruhigte de ich panisch. Ich denke an ihn, sagt Tum, täglich. schreiende Kinder. Der Ansturm des Wassers drückte die Tum schleuderte ihre Schuhe ab, rannte In extremen Stresssituationen konfigu- gläserne Terrassentür aus den Angeln. An- zum Ausgang, sprang auf ihr Honda-Mo- riert sich das menschliche Gedächtnis neu. jas Schrei gefror in der Luft, sie drehte sich ped. Sie trat den Kickstarter, das Wasser Die erlebten Details werden undeutlich, um zu ihrem Freund. Guido stand am jetzt nur noch wenige Meter hinter ihr, ein allgemeines Angstgefühl überwiegt. Fernseher, die schwarze Badehose noch in Tum sah ihren Chef, lenkte auf ihn zu, er Maem hat bis heute denselben Traum, an- der Hand, bis zu den Hüften schon im sprang auf, während der Fahrt, die kleine fangs jede Nacht: Das Wasser ist hinter ihr, Wasser, und der Pegel stieg rasend schnell. Maschine schlingerte, drohte zu rutschen, sie rennt, Treppen, Wege, sie springt auf Sie habe augenblicklich, sagt Anja Hen- aber Tum gab Gas, duckte sich weit über Tische, sie will fliegen, aber es geht nicht. sel heute, mit ihrem Leben abgeschlossen. den Lenker, weg, nur weg. Maem hat seitdem keinen Fuß ins Meer Und sie dachte noch: Schade, sehr schade Tum fuhr einen Hügel hinauf. Ihr Chef gesetzt. um unsere Liebe. schrie, weinte und wollte zurück zum Guido Platzer und Anja Hensel erlebten Das Wasser spülte Anja Hensel vor sich Strand. Tum hielt ihn fest, sie wusste, es die dramatischsten Momente ihres Lebens her, durch eine Tür hindurch, in das anlie- würde tödlich sein. gemeinsam. Seit jenem Tag haben sie im- gende Badezimmer. Sie konnte zwar nichts Tum begann noch am selben Tag, nach mer wieder die Ereignisse durchgespro- sehen, drückte sich aber nach oben ab, ihrem Freund zu suchen. Zwei Tage darauf chen – sich gegenseitig Psychiaterdienste spürte plötzlich einen scharfen Schmerz in erfuhr sie von seinem Tod. Sie identifi- geleistet und so auch die Erinnerung im- der Brust. zierte seine Leiche, sie or- mer tiefer und detaillierter Der ganze Bungalow war mit Wasser ganisierte und bezahlte die Khao Lak eingebrannt. voll gelaufen. Auch Guido schaffte es, ins Verbrennungszeremonie. Sie bereiteten sich an anliegende Badezimmer zu gelangen. Hier Er war ein freundlicher jenem Morgen für den konnte er erstmals Luft schnappen, in ei- Mann, sagt sie, wir wären Strand vor. Beide waren nem schmalen Spalt, zehn Zentimeter, glücklich geworden. Sie nackt, rieben sich mit Son- doch er musste den Kopf zurücklegen, um schreibt seinen Namen auf nenöl ein, Guido hatte den zu atmen, die Lippen streiften bereits die ein Blatt Papier: Kitnanon Rucksack bereits gepackt, Zimmerdecke, das Wasser stieg. Panwan. N4 Handtücher, ein Mankell- Aber Anja lebte, sie war neben ihm. Nach kurzem Zögern Krimi, „Die Hunde von Platzer, Sporttaucher, Skifahrer, Lang- greift sie abermals zu dem Riga“. streckenläufer, dreimal die Woche im Papier, schreibt sorgsam Anja Hensel, 33 Jahre Kraftraum, blieb besonnen und hatte Re- vor den Namen: Mr – für jung, dunkelblond, Ange- serven. Er wusste, dass sie einen Ausweg Mister. stellte einer Software-Fir- finden mussten. Das Fenster. Maem, das Zimmer- ma in Hannover, und Gui- Platzer tauchte zum Badezimmerfenster, mädchen aus dem Fischer- do Platzer, 35, aus Wien, trotz der vollkommenen Dunkelheit, die dorf, fegte im Haus 1105, Philips-Manager, waren die beiden umschloss, das schlammig- Typ Deluxe Garden Bun- nach Thailand gekommen, schwarze Wasser stand draußen höher als galow, als die Welle kam. weil sie herausfinden woll- das Fenster, fast bis zu den Bungalow- Plötzlich wurde die Tür über- ten, ob ihre Liebe für ein Dächern. Guido Platzer schaffte es, das aufgerissen, und zwei Fa- flutetes ganzes Leben reichen wür- Fenster aus der Verankerung zu hebeln. Er langs, Touristen, stürzten Gebiet de. Seit einem Jahr waren bekam Anja zu fassen, schob sie vor sich herein. Sie knallten die Tür zerstörte sie schon zusammen, durch die Fensteröffnung, so schwammen hinter sich zu. Maem wun- und be- lebten in entfern- sie nach oben und kletterten auf das Dach derte sich, die beiden hiel- schädigte ten Städten, sa- des Bungalows. In Anjas Brust steckt ein ten sich an den Händen Hotels hen sich nur Holzsplitter, bleistiftdick und zentimeter- und sahen erschrocken aus. unbeschä- THAILAND am Wochen- tief. Guidos linker Knöchel war zer- Ein großer Mann, er sagte digte Hotels ende. schmettert, der Knochen ragte heraus, weiß etwas zu seiner Frau in der sonstige Wir waren und glänzend, Wade und Fuß sahen zer- fremden Sprache, es klang Gebäude schon auch roman- hackt aus. Das Blut pulste in eiligen Stößen. laut und nervös. Maem tisch, sagt Anja Hen- Sie saßen auf dem Dach. Hörten lächelte unsicher. Kurz dar- sel, aber auch skeptisch. Schreie. Trümmer trieben auf dem Wasser, auf zersplitterte die gläser- „Palm Man hat halt gescheiter- entwurzelte Bäume, Leichen. Dann: ein ne Terrassentür. Es war Beach te Beziehungen hinter Krachen. Ein Baumstamm, die Äste scharf- Maems Glück, dass die Flut 1 km Resort“ sich, ist ja logisch, sagt kantig abgebrochen, wurde hochgehebelt, das Dach des Bungalows Guido Platzer. schlug aufs Dach, ein Aststrunk, scharf wie

der spiegel 52/2005 63 Gesellschaft „Groteskes Stück“ Ein Jahr nach dem Tsunami wissen viele Hilfsorganisationen immer noch nicht, wie sie die Spendenmillionen verwenden sollen.

as Gelände der ehemaligen chen auf Veranstaltungen zum Jahres- Graf-Yorck-Kaserne liegt abge- tag des Seebebens nun vom „Spenden- Dschieden vor den Toren Soests, Tsunami“, der manche einfach über- und es bietet reichlich Stauraum – um rollt habe. „Es ist sehr viel Gutes mit Sachen abzulegen, die niemand wirk- den Spenden gemacht worden, aber es lich braucht. In Halle 45 beispielsweise ist auch Geld verschleudert worden“, sind etwa 3000 Pakete gestapelt. Zwi- sagt Thomas Gebauer, Geschäftsführer schen den Paletten hockt ein riesiger von Medico International. roter Plüschelefant, in den Kartons Aufgeschreckt von den apokalyp- stecken Videorecorder oder Spiegel- tisch anmutenden Bildern, spendeten reflexkameras. Bundesbürger Hilfsgüter und Geld wie Die gebrauchten Sachen sollten ei- noch nie. So kam die Rekordsumme gentlich zugunsten der Opfer des Tsu- von 670 Millionen Euro zusammen – nami per Ebay versteigert werden. und damit mehr Geld, als manche Hel- Spendengala „Deutschland hilft“*: Wettkampf unter Doch das Internet-Auktionshaus und fertruppe sinnvoll ausgeben konnte die Deutsche Post stießen mit ihrer Ak- (siehe Grafik). hen sie auch vor Bergen gebrauchter tion „Wir wollen helfen“ an die Gren- Die „Aktion Deutschland hilft“, ein Wintermäntel, die in dem Tropenland zen des logistisch Machbaren. 250000 Zusammenschluss mehrerer Hilfsorga- keiner tragen mag. Pakete von hilfswilligen Spendern tru- nisationen, hat noch rund 80 Millionen Rupert Neudeck, Gründer der Hilfs- delten ein – einen Teil davon ver- Euro Tsunami-Spenden in Reserve, das organisation Cap Anamur, glaubt, dass schenkten die Firmen dann etwa an Deutsche Rote Kreuz parkte etwa 30 die Bundesregierung den Wettkampf den Kreisverband Soest des Deutschen Millionen auf Tagesgeldkonten. unter den Helfern noch verschlimmert Roten Kreuzes. Der will sie nun als Die Spendenflut stellte besonders habe. Es sei ein „groteskes Tollhaus- „Füllmaterial“ auf Lastwagen packen, kleine Hilfsorganisationen vor ein un- stück“ gewesen, dass der Kanzler blitz- die mit Hilfsgütern nach Weißrussland gewohntes Problem: Wohin mit dem schnell 500 Millionen Euro zusagte und fahren. Sicher braucht dort jemand ei- ganzen Geld? Vielen sei es darum ge- Deutschland mit Abstand an die Spitze nen Plüschelefanten. gangen, den Spendern schnell Ergeb- der Geberländer setzte: Japan spen- Dass eine überbordene Spendenbe- nisse präsentieren zu können, sagt dierte 378 Millionen Euro, die USA 265 reitschaft auch zur Belastung werden Heinz Peters, Tsunami-Koordinator der Millionen. kann, mussten kurz nach dem Tsunami Deutschen Welthungerhilfe. „Wir hat- Viel klüger wäre es, wenn der Staat vor einem Jahr nicht nur die Amateur- ten anfangs einen Kampf um beson- die Höhe des privaten Spendenauf- helfer von Ebay und Post feststellen. ders prestigeträchtige Projekte“, bilan- kommens künftig abwarten und sich Auch Vertreter professioneller Hilfs- ziert auch ein Helfer von Terre des dann antizyklisch verhalten würde, organisationen wie der Caritas spre- Hommes. Kein Wunder, bei der Arbeit glaubt Peter Neher, Präsident des in Sri Lanka stießen seine Kollegen Deutschen Caritasverbands. So ließe auf Mitarbeiter von etwa tausend sich mangelnde private Spendenbe- Spenden für die Tsunami-Opfer anderen Hilfsorganisationen. reitschaft – wie nach dem Erdbeben in aus Deutschland, in Millionen Euro Um in dem Wettkampf bestehen Pakistan – besser ausgleichen. Bisher zu können, widmeten sich viele kamen für die Menschen im Himalaja Gesamt 670,0 Organisationen zunächst den Fi- vergleichsweise bescheidene 50 Millio- schern, deren Häuser und Boote nen Euro zusammen. Die Hilfsorgani- davon für: die Flutwelle zerschmettert hatte. sationen dürfen jedoch ihre Tsunami- „Aktion Deutschland hilft“ 125,0 So wurden in Indien vorschnell Gelder nicht nach Pakistan umleiten, Deutsches Rotes Kreuz 124,6 Hunderte Katamarane angeschafft denn die Spenden wurden meist aus- – die für den Fischfang viel zu in- drücklich für Opfer des Seebebens Unicef 99,0 stabil sind. In manchen Fischer- gesammelt und sind damit zweck- Caritas 52,1 gemeinden gebe es jetzt so viele gebunden. Boote, dass die Überfischung der Den Schritt, den die Ärzte ohne Diakonie Katastrophenhilfe 44,2 Küstengewässer und ein Überange- Grenzen machten, wollten viele nicht „Aktionsbündnis bot auf den Märkten drohe, sagt mitgehen. Als die Mediziner 110 Mil- Katastrophenhilfe“ 40,7 Gebauer. lionen Euro aus aller Welt für die Not- Ärzte ohne Grenzen 39,0 Einheimische in Sri Lanka kla- hilfe im Tsunami-Gebiet auf ihren Kon- gen zudem über Häuser, die hastig ten hatten, baten sie ihre Spender, die Welthungerhilfe 28,0 ohne Baugenehmigung errichtet Zweckbindung aufzuheben. Die meis- Kindernothilfe 14,5 wurden – und nun wieder abgeris- ten stimmten zu – die Ärzte haben nun sen werden müssen. Staunend ste- fast 80 Millionen Euro für die Arbeit in Terre des Hommes 12,6 nicht so populären Krisengebieten * Am 3. Januar auf Sat.1. übrig. Guido Kleinhubbert

64 der spiegel 52/2005 Tum, die Managerin, hatte aber er wolle dennoch weitermachen. Tum ihren Freund verloren, ihr setzte er als Managerin ein. Die Mönche Arbeitsplatz, das Green Dia- kamen ins Hotel, um die aufgebrachten mond, war verwüstet. Sie ver- Geister der Toten mit Gesängen zu beru- brachte die ersten zwei Tage higen. Die Straße wurde neu asphaltiert. und Nächte bei einer Freun- Khao Lak wollte wieder sein, was es ge- din, jede Nacht träumte sie wesen war, das bessere Thailand. von Geistern, die zu ihr ins Aber es gelingt nicht. Zimmer traten und sich auf sie Etwa 20 Prozent der Hotels sind wieder legten, und immer musste sie aufgebaut. Deren Auslastung, bis auf die die Toten von sich wegschie- zwei Hochsaisonwochen um Weihnachten, ben und erklären, dass sie lie- liegt oft nur bei zehn Prozent. Die Touris- ber allein im Bett schlafen musunternehmer von Khao Lak beschweren wolle. Und bald fuhr auch ihr sich: Für Patong wurde geworben, für Khao toter Freund in den Träumen Lak nicht, die Tourism Authority of Thailand vor, er fuhr den roten Nissan, gesteht bedrückt ihr Versäumnis ein. Un- den sie gemeinsam gekauft längst gab es zwei Tsunami-Alarme in Khao hatten, er winkte ihr zu. Lak, die Sirenen jaulten, die Menschen Um nicht verrückt zu wer- stürmten in Panik die Berge hinauf. Der Di- den vor Einsamkeit und Trau- rektor des Tsunami-Warnzentrums ent- er, machte Tum sich am über- schuldigte sich später, ein Techniker habe

MAX KOHR MAX nächsten Tag auf zum Palm den falschen Knopf gedrückt. Es war nicht den Helfern Beach. Sie übernahm es, in den der Knopf, sagen manche, es waren die folgenden Wochen die Hotel- Geister, sie haben Khao Lak verzaubert. ein Fahrtenmesser, zerschlitzte seine Schul- safes hinter der Rezeption zu bewachen, Für die Überlebenden ist es gleichfalls, ter, zwölf Zentimeter lang, drei Zentimeter denn inzwischen gingen Plünderer um. als hätte man in ihrem Leben einen unbe- tief. Kein Schmerzempfinden. Dank Tum blieben die Safes unversehrt, bis kannten Knopf gedrückt. Tum und ihr Wir müssen weg hier, sagte Anja, zur sie unter Polizeiaufsicht geöffnet wurden – Freund wollten eine gemeinsame Zukunft; Straße. Dort stoppte sie einen Wagen, ein so dass nach einem halben Jahr Anja Hen- Tum hat diesen Traum begraben, sie macht Thailänder raste mit den beiden nach Pa- sel tatsächlich ihre eingelagerten Traveller- weiter, immer weiter, wie unter Schock. tong, ins Krankenhaus. schecks zurückbekam. Später wurde das Anja Hensel und Guido Platzer fuhren Die Straße nach Patong war die imma- Palm Beach zur Notunterkunft für Helfer. nach Khao Lak, um herauszufinden, ob sie nente Grenze von Khao Lak, das Paradies In den folgenden Monaten wurde Khao sich ihrer Liebe sicher sein könnten. Sie war in Wahrheit eine Doppelwelt: links Lak aufgeräumt, aufgebaut. Die Touristen fanden es heraus: nicht in einer milden Whirlpools, rechts Wellblech. Auf der waren ausgeflogen. An ihrer Stelle kamen Tropennacht am Strand, sondern in einem Meeresseite der Nationalstraße 4 ragten die „Freunde von Salem“ aus Deutschland. Badezimmer, das mit stinkendem Wasser die Hotels auf, Festungen des Müßiggangs, Eine Studentenabordnung aus Singapur. voll lief. Aber sie fanden unter Lebens- manche fünfsternig wie das noble „Le Me- Die Freimaurerloge aus Australien. Ro- gefahr eine Klarheit und Sicherheit, die ridien“, die meisten im mittleren Segment tarier aus Italien und Frankreich. ihnen zuvor fehlte. Es habe ihm nichts wie das Palm Beach. Auf der anderen Sei- ausgemacht, erzählt Gui- te, am Saum des Dschungels und der Kau- Sie habe augenblicklich, sagt Anja, mit dem Leben do Platzer heute, seine tschukplantagen, standen die Hütten und Karriere bei Philips aufzu- Häuser der Thailänder – die morgens un- abgeschlossen. Schade um unsere Liebe. geben. Sie müssten jetzt auffällig in die Hotels schwärmten, um Blu- glücklich werden, das sei- men zu gießen und Currys zu kochen. Die Das „Rajaprajanugroh“-Waisenhaus wur- en sie dem Schicksal schuldig. Ich glaube, soziale Trennlinie zwischen diesen Welten de gebaut, für 660 Kinder, von denen vie- ich habe gelernt, was wichtig ist im Leben. wurde von beiden Seiten bereitwillig ak- le nachts schweißgebadet aufwachen und Und das wäre? zeptiert. Die Thailänder genierten sich ih- nach ihren Eltern schreien. Im Palm Beach Das Leben selbst ist wichtig, sagt er. rer Armut und wollten nicht wirklich, dass rief der Besitzer seine Belegschaft zusam- Die physischen Wunden sind verheilt die Falangs ihnen ins Wohnzimmer starren. men: Er habe seine Frau, seine beiden bei den beiden, die gelegentlichen Panik- Den Urlaubern wiederum genügte es, ge- Töchter, seinen Sohn verloren, sagte er – attacken und Depressionen abgeklungen. legentlich an einer Bude eine scharfe Sup- Im nächsten Jahr wollen sie nach Khao pe zu essen und so das authentische Thai- Lak reisen, ins Palm Beach Resort, sie wol- land zu kosten. Mehr musste nicht sein. len die Patenschaft für ein Kind aus Khao Schließlich wollte man braun werden und Lak übernehmen. sich nicht den Magen verderben. Maem, das Zimmermädchen, kündigte. Der Tsunami an jenem Tag mischte alles Der Tsunami habe sie gelehrt, sagt sie, dass auf. Er entwurzelte Palmen, zersplitterte alle Menschen gleich seien, ob Touristen Möbel, trug Dächer ab und verwirbelte die oder Einheimische. Maem hatte zwar als sozialen Grenzen, die Toten und Überle- Zimmermädchen gearbeitet, aber sie heg- benden aller Länder. Alle waren plötzlich te stets den Wunsch, ein eigenes Business gleich auf dieser Straße. anzufangen, obwohl sie wenig Kapital hat, Tum, die Managerin, Maem, das Zim- obwohl sie Angst hat, es könnte schief ge- mermädchen, Guido Platzer und Anja hen, weil die Geister eifersüchtig sein kön- Hensel, die Touristen aus Europa, hatten nen. Man muss die Geister respektieren, überlebt. Für sie alle begann eine Zeit der sagt Maem, sie sind gefährlich.

Panikattacken, der Träume und Geister. AARON HUEY / POLARIS Sind sie auch allmächtig? Und dazwischen, unwirklich und fla- Überlebende Maem Sie lässt sich den Ausdruck übersetzen. ckernd, das Gefühl von Dankbarkeit. Jetzt sind alle gleich Denkt nach. Nein, sagt sie, das nicht. ™

der spiegel 52/2005 65 Gesellschaft

Mütternacht Ortstermin: In Berlin-Kreuzberg machen türkische Frauen mit Taschenlampen Jagd auf Drogendealer.

m Hinterzimmer eines unbeleuchteten Jeans und hellblauen Lidschatten. Ihre en mit ihren Taschenlampen in Gebüsche Hauses in Kreuzberg sitzen fünf Frau- Kopfbedeckung ist eine schwarze, zur Sei- und Mülltonnen, sie suchen überall, wo sie Ien an einem runden Tisch und treffen te gedrehte Baseballkappe. Dealer und Drogenverstecke vermuten. letzte Vorbereitungen für die Nacht. Sie Die Frauen, die in dieser Nacht nach Günseli Boga geht die Treppe zu einem schrauben Taschenlampen auf und wech- Dealern suchen, nennen sich „Mütter ohne Keller hinunter. „Hallo?“, ruft sie und seln Batterien, zünden Öllampen an. Sie Grenzen“. Der Name soll Offenheit si- stößt die Tür vorsichtig mit dem Fuß auf. reden nicht viel, ein paar von ihnen rau- gnalisieren und zeigen, dass Frauen und „Günseli“, bittet sie eine Frau am Ende chen. Es ist kurz nach zehn. Sie streifen Männer, egal welcher Herkunft, in ihrer der Treppe, „geh nicht allein.“ weiße Laken über und gehen hinaus in die Gruppe willkommen sind. Doch seit dem Die Frauen teilen sich auf und durch- Dunkelheit. Sommer, als sie zum ersten Mal mit Ta- kämmen den Innenhof von zwei Seiten, In den Bars von Kreuzberg sitzen die schenlampen durch Kreuzberg gingen, sind Glas knirscht unter ihren Füßen. Sie gehen Gäste in dieser Nacht hinter beschlage- die türkischen Frauen allein. schnell, es ist eine kalte Nacht. Als sie auf nen Scheiben, draußen vor den Türen ste- Sie haben sich oft gefragt, warum keine einem Spielplatz Stimmen hören, richten hen Männer in T-Shirts und trinken Bier deutschen Frauen in ihre Gruppe kommen. sie ihre Taschenlampen auf Gestalten in aus Flaschen. In der Walde- der Dunkelheit. „Wir wollen marstraße biegen die Frauen mit euch reden“, rufen die mit den weißen Gewändern Frauen auf Türkisch. „Kommt in einen unbeleuchteten Park. doch her, wenn ihr mit uns Sie gehen in einer Reihe ne- reden wollt“, rufen die Ge- beneinander, wie ein Such- stalten und flüchten. trupp, die Lichtkegel ihrer Ta- Die Frauen laufen nicht hin- schenlampen stechen in die terher. Sie suchen die Aus- Gebüsche. einandersetzung, nicht den Samstagnachts, wenn die Kampf. Eine türkische Fami- Straßen von Kreuzberg leuch- lie kommt in den Hof, ein ten und die Parks und Hinter- Mann mit großem Schnurr- höfe in Dunkelheit liegen, bart, eine Frau mit Kopftuch prallen am Kottbusser Tor die und zwei kleine Kinder. Die parallelen Welten des Stadt- Mütter gehen auf sie zu und teils aufeinander. Die Frauen erklären, was sie hier machen. in den weißen Gewändern „Inschallah“, sagt der Mann wollen es so. Wenn sich die und nickt, „das ist gut.“ Seine

Drogendealer im Schutz der RÖDER / OSTKREUZ JULIAN FOTOS: Frau lächelt. Dunkelheit postieren, nehmen Türkische Aktivistinnen: „Inschallah, das ist gut“ Die Frauen verlassen den die Frauen ihre Taschenlam- Innenhof und überqueren ge- pen und verlassen für ein paar Stunden Sie haben keine Antwort. „Vielleicht haben rade die Adalbertstraße, als ein schwar- ihre Männer und Kinder. die Angst“, sagt Günseli Boga, „vor den zer Wagen langsam an ihnen vorbeifährt. Die Frauen leben seit vielen Jahren in Dealern oder vor ihren Männern.“ Der Fahrer kurbelt das Fenster herunter, Kreuzberg, eine von ihnen wurde hier ge- So wie die Frauen sie erzählen, ist die Ge- dann ruft er auf Türkisch: „Verpisst euch, boren. Ihre Familien kamen aus der Tür- schichte der „Mütter ohne Grenzen“ eine ihr Huren!“ Vor zwei Wochen wurden kei, um für die Kinder ein besseres Leben kleine Parabel über die Wunderlichkeiten die Frauen in der Nähe mit Steinen be- zu finden. Aus den Kindern wurden Müt- der Integration. Sie, die türkischen Frauen, worfen. ter, und sie wollen nicht fortgehen, um für entwickeln Bürgersinn, während die deut- Es ist bald Mitternacht, als die Frauen in ihre Kinder ein besseres Leben zu finden. schen Frauen aus Angst zu Hause bleiben. das unbeleuchtete Haus zurückkehren, in Sie haben „Dealer raus!“ auf ihre Gewän- In ihrem Treppenhaus sieht Günseli dem sie vor eineinhalb Stunden aufbra- der geschrieben. Boga die Spritzen, die verbogenen Löffel chen. Sie frieren und trinken türkischen „Unsere Eltern mussten hart arbeiten“, und die Fetzen von Alufolie, sie hat von Tee, auf den Rücken ihrer weißen Ge- sagt Günseli Boga. „Sie hatten nur ihre Hausmeistern gehört, die im Nebenberuf wänder steht „MuetterOhneGrenzen@ Hände und kannten die Sprache nicht. Wir Drogen verkaufen. Als sie bemerkte, wie hotmail.de“. Sie lassen eine Zigarette her- wollen mehr. Wir wollen hier leben.“ Dealer einen zwölfjährigen Jungen in ihrer umgehen und rauchen, weißer Filter, „Da- Günseli Boga ist 38 Jahre alt und wurde Nachbarschaft als Drogenkurier anwarben, vidoff Gold“. Man würde jetzt gern mit in der Nähe von Istanbul geboren. Sie ar- wollte sie nicht länger zusehen. „Natürlich ihren Männern reden, doch die sitzen zu beitet als Betreuerin in einem Jugendzen- haben wir Angst vor den Dealern“, sagt Hause und hüten die Kinder. trum und studiert nebenher Kommunika- sie, „aber es macht uns noch mehr Angst, Die Frauen küssen sich und verschwin- tionswissenschaften an einer türkischen wenn wir daran denken, was mit unseren den in der Dunkelheit. In der U-Bahn- Fernuniversität in Köln. Sie hat zwei Töch- Kindern passieren könnte.“ Station unter dem Kottbusser Tor ver- ter, die sie allein erzieht, eine von ihnen In der Naunynstraße betreten die Mütter kaufen türkische Söhne den Stoff dieser macht gerade ihr Abitur. Die Mutter trägt einen verwahrlosten Innenhof. Sie leucht- Nacht. Mario Kaiser

66 der spiegel 52/2005

Trends Wirtschaft FRANK AUGSTEIN / AP AUGSTEIN FRANK / CARO BILDERDIENST ULLSTEIN Bernotat E.on Braunkohlekraftwerk (in Schkopau)

STROMPREISE erhöhungen gehandelt. In den meisten Fällen wurden die An- träge in der Vergangenheit von den jeweils zuständigen Landes- behörden ohne größere Beanstandungen durchgewinkt. Nach Geht E.on vor Gericht? den drastischen Strompreiserhöhungen des vergangenen Jahres scheint sich diese Praxis nun grundlegend zu ändern. er Energiemulti E.on wird voraussichtlich rechtliche Schrit- Auch in anderen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Dte gegen die Ablehnung der beantragten Strompreiserhö- Bayern wurden die Anträge der Strommonopolisten zum Teil hung durch das Bundesland Hessen einlegen. Die bisherige drastisch zurechtgestutzt. Einen weiteren Dämpfer könnten Begründung des hessischen Wirtschaftsministers Alois Rhiel, die milliardenschweren Konzerne und ihre Manager wie E.on- heißt es in dem Düsseldorfer Konzern, sei nicht nachvollzieh- Chef Wulf Bernotat in wenigen Wochen durch die Bundes- bar und juristisch zweifelhaft. Rhiel hatte in der vergangenen netzagentur erhalten. Parallel zu den Stromtarifen mussten sie Woche Anträge mehrerer Versorger auf Strompreiserhöhun- dort erstmals auch ihre Netzentgelte zur Genehmigung vor- gen pauschal zurückgewiesen. Die Erhöhungen, so der Wirt- legen. Die Netzgebühren machen rund 30 Prozent des Strom- schaftsminister, ließen sich nicht durch höhere Kosten recht- preises aus und gehören zu den höchsten in Europa. Zahlrei- fertigen. Mit seiner überraschenden Ablehnung hatte Hessen che Experten rechnen damit, dass die Stromversorger auch bei erstmals entgegen der sonst üblichen Praxis bei Strompreis- diesem Posten nicht ungeschoren davonkommen.

HYPOTHEKENBANKEN tut zuführen. Nun macht die Klägerin „erhebliche Pflicht- Teurer Irrtum verletzungen“ der Ex-Vorstän- de geltend. Bei einem ersten ine der größten finanziellen Schief- Gerichtstermin regte Stefan Elagen in der deutschen Wirtschafts- Möller, der Vorsitzende Rich- geschichte wird nun vor dem Landgericht ter der 9. Kammer für Han- Frankfurt verhandelt. Die Hypotheken- delssachen beim Landgericht bank AHBR hat ihren ehemaligen Frankfurt, eine Vergleichszah- Vorstandsvorsitzenden Horst Alexander lung der beklagten Vorstände Spitzkopf sowie dessen damalige, in Höhe von 25 bis 50 Millio- mittlerweile ebenfalls ausgeschiedenen nen Euro an. Die Vorstände Vorstandskollegen auf Zahlung von gelten als liquide, weil die 250 Millionen Euro verklagt. Die AHBR AHBR für sie eine Haftpflicht- hatte nach den Terroranschlägen vom versicherung beim US-Ver- 11. September 2001 den Zinsanstieg sicherer AIG abgeschlossen falsch eingeschätzt. Als Konsequenz hatte. Wenn sich Kläger und mussten die AHBR-Eigner, die Gewerk- Beklagte in den kommenden schaftsholding BGAG und der Bau- Wochen nicht auf einen Ver-

finanzierer BHW, über 1,2 Milliarden BARABARA STAUBACH gleich einigen, wird der Pro- Euro zur Absicherung dem Kreditinsti- AHBR-Zentrale (in Frankfurt am Main) zess am 25. Januar fortgesetzt.

der spiegel 52/2005 69 Trends · Rückblick 2005

Boulevards geschafft. Schon zu Beginn des Jahres hatte sein Name jeden reformeri- schen Glanz verloren: „Hartz IV“, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozial- hilfe, stand vor allem in Ost- deutschland nurmehr für kal- ten Sozialabbau. Statt Geld zu sparen, geriet die Reform

zum Bürokratiemonster. Al- X / STUDIO / GAMMA CHINAFOTOPRESS lein das Arbeitslosengeld II Explosion der Chemiefabrik in Jilin wird in diesem Jahr elf Milli- arden Euro zusätzlich kosten. CHINA Wirtschaftswunders ist hoch: Dann geriet Peter Hartz auch Von den 20 schmutzigsten noch in den Sog der VW- Im Schatten Städten der Erde liegen 16 in Affäre um Tarnfirmen und China. Im November flüchte-

JENS NEUMANN / VISUM JENS NEUMANN Sexreisen. Seine Mitarbeiter des Booms ten Zehntausende Menschen Hartz hatten für sich und wichtige aus der Stadt Jilin. Eine Arbeitnehmervertreter hinas Volkswirtschaft Chemiefabrik war explodiert, HARTZ Luxustouren in ferne Länder Cüberschlägt sich weiter 100 Tonnen Benzol gelangten nebst Damenbegleitung or- mit Erfolgsmeldungen: Nach in den Fluss Songhua. Ein Fall ins Bodenlose ganisiert, alles auf Firmen- neuen Erhebungen der Statis- über 100 Kilometer langer kosten. Hartz übernahm die tikbehörde wurde die Wirt- Giftteppich bewegte sich rutaler ist kein Manager Verantwortung und trat schaftsleistung unerwartet um Richtung Russland. Wie über Bdurchgereicht worden: zurück, was beteiligte Prosti- 20 Prozent nach oben korri- Jilin durfte auch über die VW-Personalvorstand Peter tuierte aber nicht daran giert. Die Fabrik der Welt hat Vorfälle im südchinesischen Hartz, dessen Name zum hinderte, ihre Erlebnisse mit damit Großbritannien und Dorf Dongzhou zunächst Synonym für die Reformen ihm und anderen VW-Ver- Frankreich überrundet und ist nicht berichtet werden. An- des Arbeitsmarktes wurde, tretern detailgetreu der damit die viertgrößte Voks- fang Dezember hatten dort hat es bis in die Gosse des „Bild“-Zeitung zu schildern. wirtschaft. Der Preis dieses Bauern gegen ihre Enteig- nung zugunsten eines Wind- kraftwerks protestiert. Meh- ENERGIEWIRTSCHAFT rere Menschen wurden er- schossen. Anfang Dezember ehrte der Deutsche Richter- Aufstand der Kunden bund den chinesischen Anwalt Zheng Enchong, der sich in Shanghai um eben- solche Opfer des Booms kümmert, die wegen riesiger Bauprojekte aus ihren Häu- sern vertrieben werden. Von mehr als 500 Verfahren hat Zheng kein einziges gewon- nen. Den Preis konnte er persönlich nicht entgegen- nehmen. Er sitzt wegen „Wei- tergabe von Staatsgeheimnis- sen“ im Gefängnis. FRANZ-PETER TSCHAUNER / DPA FRANZ-PETER Umgeknickte Strommasten RÜCKTRITT n Ostwestfalen und Baden-Württemberg, liert haben. Ende November entschloss sich der „Ich höre auf“ Iausgerechnet dort, wo Deutschland als norddeutsche Versorger E.on Hanse zwar dazu, besonders gehorsam gilt, begann der Unge- seine Kalkulation offen zu legen, doch die Po- ufsichtsratschef Hilmar horsam: Kunden der Gasversorger schlossen sition der Verbraucher scheint dadurch eher AKopper nannte ihn sich zu Bürgerinitiativen zusammen, um die gestärkt: Es wurde deutlich, wie willkürlich Mil- „Máximo Líder“, er selbst notorischen Preiserhöhungen der Monopolis- lionenblöcke im Konzern hin und her gescho- sah sich als „Mr. Shareholder- ten zu attackieren. Sie zahlten einfach die ben werden können. Dass die Energiekonzerne Value“. Komisch nur, dass Erhöhungen nicht mehr. Aus einigen Queru- ihre üppigen Gewinne nur bedingt für die Ver- der lange dümpelnde Kurs lanten sind nach Schätzungen von Verbrau- besserung ihrer Netze ausgeben, wurde im No- der DaimlerChrysler-Aktie cherschützern inzwischen Hunderttausende vember sichtbar: Reihenweise knickten im erst nach dem Rücktritt geworden. Erste Prozesse hatten Erfolg, weil Münsterland Strommasten um und ließen des Konzernchefs Jürgen die Versorger nicht nachweisen konnten, dass Kunden mehrere Tage ohne Strom. Tausende Schrempp in die Höhe schoss. sie ihre Preise nach billigem Ermessen kalku- Masten waren vor 1940 errichtet worden. Auf der Hauptversammlung im April war Schrempp für

70 der spiegel 52/2006 Wirtschaft

das gescheiterte Mitsubi- shi-Engagement und die defizitäre Marke Smart massiv kritisiert worden. Vom Ende der Welt-AG war die Rede. Schrempp geht fast drei Jahre vor Ablauf seines Vertrags – ohne Abfindung und ohne Beratervertrag. In seiner zehnjährigen Amtszeit dürfte er 80 Millionen Euro verdient haben, schätzungsweise 100 Millionen an Optio- JÖRG GLÄSCHER / LAIF JÖRG GLÄSCHER Kirchhof

STEUERPOLITIK ihn mit despektierlichem Unterton nannte, ist Der Professor nun wieder an der Uni. aus Heidelberg DAX om Visionär zum Was für ein VFachidioten zu wer- KARL-BERND KARWASZ den kann in der Politik Abschwung? Schrempp manchmal nur Tage dauern. Paul Kirchhof, s sah nicht gut aus nen könnten dazukom- Steuerexperte aus Hei- Efür die deutsche men, wenn sich die Aktie delberg, erlebte im Au- Wirtschaft Anfang des gut entwickelt. „Ich trete gust im Zeitraffer, wie er Jahres. Dauernd korri- nicht zurück“, verriet vom CDU-Wahlkampf- gierten irgendwelche In- Schrempp vor kurzem. joker zum Buhmann stitute irgendwelche Pro- „Ich höre auf.“ wurde. Seine Idee einer gnosen nach unten. Der niedrigen Einheitssteuer Deutsche Aktienindex ZITATE 2005 wurde im Rekordtempo (Dax) kümmerte sich verschlissen und bekam nicht um solche Progno- »Manche Finanzinvestoren ver- das Stigma sozialer Kälte sen, er legte um knapp schwenden keinen Gedanken und Bevorteilung von 25 Prozent zu, wobei die an die Menschen, deren Ar- Reichen. Auf Unterstüt- beitsplätze sie vernichten. Sie zung konnte Kirchhof, 5400 Dax +25% bleiben anonym, haben kein dessen Steuerkonzept seit Jahres- Gesicht, fallen wie Heu- zuvor von Experten un- beginn schreckenschwärme über terschiedlicher Coleur 5000 Unternehmen her, grasen sie gelobt worden war, in ab und ziehen weiter.« Zeiten des Wahlkampfs 4600 Franz Müntefering, nicht hoffen – auch nicht aus den eigenen Reihen. damaliger SPD-Vorsitzender Quelle: „Ein einheitlicher niedri- Thomson 4200 Financial »Die entlassen Tausende von ger Steuersatz für alle Datastream widerspricht dem deut- Leuten, kippen sie uns vor die JFMAMJJA SOND Tür und tun dann hinterher so, schen Gerechtigkeits- als hätten sie nichts damit zu gefühl“, sagte Nieder- tun, und kritisieren uns für das, sachsens Ministerpräsi- Deutsche Börse (plus 100 was wir machen.« dent Christian Wulff. Prozent), die Commerz- „Radikale Theorien sind bank (plus 77 Prozent) Edmund Stoiber, CSU-Chef, als Reaktion auf Kritik der schwer in die Politik um- und der Verlagerungs- Chefs der Autokonzerne Volkswagen, zusetzen. Davon weiß spezialist Continental DaimlerChrysler und Porsche Herr Kirchhof nicht allzu (plus 58 Prozent) zu den viel“, spottete der Gewinnern zählten. »Leistung, die Leiden schafft.« FDP-Politiker Otto Graf Klarer Verlierer: die Ein Kleinaktionär bei der Hauptver- Lambsdorff. Der „Pro- schwindsüchtige sammlung der Deutschen Bank fessor aus Heidelberg“ Telekom-Aktie (minus wie Gerhard Schröder 17 Prozent).

der spiegel 52/2006 71 Wirtschaft

Hafenarbeiter Lichtenauer Chip-Spezialisten Friedow, Hülsmann ARNE WEYCHARDT (L.);DOERING / VISUM (R.) SVEN ARNE WEYCHARDT 200 neue Jobs 2005 450 neue Jobs 2005

ARBEITSMARKT „Amerikanische Verhältnisse“ Die deutschen Unternehmen strichen 2005 so viele Arbeitsplätze wie selten zuvor, die Unternehmen wollen fitter werden für den globalen Wettbewerb – und attraktiver für die Anleger. Neue Jobs entstanden auch, sie sind aber oft von minderer Qualität und schlecht bezahlt.

ein Wunder, dass dem Job des Ha- Er ist ein Globalisierungsgewinner, er lekom will sich sogar von mehr als 30000 fenarbeiters immer noch ein Stück profitiert davon, dass China die Welt mit Mitarbeitern trennen, die Konkurrenz im KRomantik anhaftet. Es ist fünf Uhr billigen Waren überschwemmt und dafür Festnetz wächst. In der Öffentlichkeit findet am Nachmittag, die Sonne versinkt hinter Maschinen und hochwertige Produkte beim Konzernchef Kai-Uwe Ricke dafür wenig einem Wald aus gestapelten Containern, Exportweltmeister Deutschland einkauft. Verständnis, immerhin erwirtschaftete die gigantischen Frachtern und kolossalen Es gibt aber auch viele Globalisierungs- Telekom allein im dritten Quartal dieses Hafenkränen. Sirenenlichter blinken in der verlierer, 2005 waren es so viele wie selten Jahres 2,4 Milliarden Euro Gewinn. Wütend Dämmerung. Containertransporter sausen zuvor. Meldungen über Jobabbau und Ar- protestierten 25000 Mitarbeiter bundesweit: an den Kaimauern entlang. Irgendwo trö- beitsplatzverlagerungen dominierten die „Ricke, wir haben die Faxen dicke!“ tet ein ankommender Dampfer. Wirtschaftsnachrichten. Früher fielen vie- Zu den spektakulären Stellenstreichun- Feierabend. André Lichtenauer, 29, le Arbeitsplätze weg, weil es den Unter- gen kommen die vielen kleineren, die in steigt von seinem 50 Meter hohen Kran- nehmen schlecht ging, heute streichen die den Medien kaum wahrgenommen werden. Ungetüm herab, für heute ist erst mal Manager auch dann Arbeitsplätze, wenn es Der Schwund an Arbeitsplätzen zieht sich Schluss. Der Job schlaucht ihn. Aber das dem Unternehmen gut geht. durch fast alle Branchen. Allein im Hand- stört ihn nicht. „Hauptsache, der Job ist Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann werk gingen rund 140000 Jobs verloren. Von sicher“, sagt der gelernte Großhandels- etwa verkündete im Februar einen Jahres- den acht wichtigsten Wirtschaftsverbänden kaufmann. Sein Arbeitgeber, die Hambur- gewinn von 4,1 Milliarden Euro vor Steuern Deutschlands gab bei einer SPIEGEL-Um- ger Hafen und Logistik AG (HHLA), und im selben Atemzug den Abbau von frage lediglich der IT-Branchenverband Bit- kommt kaum hinterher, genügend Nach- knapp 2000 Stellen in Deutschland. Er will kom an, in diesem Jahr neue Arbeitsplätze schub an Kran- und Containerfahrern die Eigenkapitalrendite des Geldhauses auf geschaffen zu haben (siehe Grafik). einzustellen. internationales Niveau heben. „Dazu gibt Bernd Gottschalk, Präsident des Ver- Der Hafen boomt. In diesem Jahr wur- es für uns keine Alternative“, behauptet bandes der deutschen Automobilindustrie, den in der Hansestadt rund acht Millionen Deutschlands oberster Banker. lobt, seine Branche sei in diesem Jahr Standardcontainer umgeschlagen, eine Der traditionsreiche Hausgeräteherstel- „schneller und schlanker“ geworden. Ge- Million mehr als noch 2004. 2,6 Millionen ler Miele ist schon stolz, wenn er statt der neral Motors einigte sich mit der Gewerk- entfallen allein auf den Burchardkai, den ursprünglich geplanten 1100 nur 888 Ar- schaft auf den langfristigen Abbau von wichtigsten Umschlagplatz der HHLA. Bis beitsplätze streichen muss. Stattdessen pro- 9000 Arbeitsplätzen bei Opel, bei Volks- spätestens 2012 soll sich diese Zahl ver- duziert er auch in Tschechien und China. wagen sind es 10 000. Mercedes will bis doppelt haben. Die HHLA braucht drin- Der Reifenbauer Continental hat an- 2008 rund 8500 Stellen streichen, im ge- gend neue Mitarbeiter, mindestens tau- gedroht, seine Pkw-Reifenproduktion in samten DaimlerChrysler-Konzern sind es send – Leute wie Lichtenauer. Hannover zu schließen. Die Deutsche Te- sogar 16000.

72 der spiegel 52/2005 Logistikexperte Eckel Nachwuchsmanagerin Jodeleit SVEN DOERING / VISUM (L.); ARNE WEYCHARDT (R.) DOERING / VISUM (L.); ARNE WEYCHARDT SVEN inklusiv Planung Sept. 2004 bis Sept. 2005 1000 neue Jobs 2005 1525 neue Jobs 2005

950 Millionen Euro will Mercedes aus- Jahren verdoppelte sich der Absatz der kommt die Auslagerung immer qualifizier- geben, um die Menschen loszuwerden, die Marke nahezu. Doch nun lässt sich der terer Arbeitsplätze in externe GmbH. Dort das Unternehmen nach seinen Berech- Verkauf auch mit neuen Modellvarianten wird oft nur noch die Hälfte des Banktarifs nungen zu viel beschäftigt. 80000 Mitar- kaum noch steigern. Deshalb muss Daim- bezahlt und deutlich mehr als 38,5 Stunden beiter in allen Werken werden in Einzel- lerChrysler die Zahl der Beschäftigten gearbeitet. Gerade traf dies 400 Mitarbeiter gesprächen darüber informiert, wie viel verringern. des Kreditrisikomanagements des Branchen- Abfindung sie erhalten, wenn sie ihren Job Viele halten die Maßnahmen für kurz- primus Deutsche Bank. freiwillig aufgeben, bei manchen sind das sichtig. „Die Größenordnung des Ab- Betriebsbedingte Kündigungen vermei- 275 000 Euro. Für Mercedes-Arbeiter in baus ist verantwortungslos“, sagt Udo den die Banken nur allzu gern. Der Ab- Sindelfingen oder Untertürkheim mag das Richter, Betriebsratsvorsitzender des Bre- schluss von Aufhebungsverträgen klingt attraktiv sein. Dort finden sie vielleicht mer DaimlerChrysler-Werks und gleich- irgendwie freundlicher. „Da wird viel Jobs. Aber in Bremen? Hier liegt die Ar- zeitig Mitglied des Aufsichtsrats im Ge- Soziallyrik betrieben“, sagt der Frankfurter beitslosenquote bei mehr als 15 Prozent. samtkonzern. „Was ist, wenn der Verkauf Arbeitsrechtler Norbert Pflüger. Seine Wer dort einen Arbeitsplatz hat, gibt ihn wieder anzieht, zum Beispiel, wenn im Mandanten berichteten von sogenannten nicht so leicht auf. kommenden Jahr die neue C-Klasse auf Sterbezimmern, in denen sie ohne Telefon Frank Discher, 43, zum Beispiel arbeitet den Markt kommt?“, fragt Richter. seit 22 Jahren in Halle 7, beim Rohbau der Verschärft wird die Lage aber, wenn eine Geringfügig Beschäftigte Mercedes-Fahrzeuge. Der gelernte Karos- falsche Modellpolitik den Absatz einbre- +30% seriebauer hätte 121000 Euro Abfindung chen lässt, wie es vor einiger Zeit bei Opel haben können, wenn er freiwillig gegangen geschehen war. Dann müssen noch mehr wäre. Für ihn ist das keine Verlockung: Arbeitsplätze gestrichen werden. +25% „Selbst wenn ich einen neuen Arbeitsplatz In der Kreditwirtschaft geht der Stellen- hätte, würde ich bei Daimler bleiben“, sagt abbau ebenfalls weiter. Die Banken trennten +20% Discher. „Ich wäre woanders doch der sich seit dem Krisenjahr 2001 von mindes- Selbständige und Erste, der wieder gehen muss, wenn es tens 70000 Mitarbeitern. Besonders in Mode Mithelfende schlecht läuft. 121000 Euro reichen nicht +14% +15% bis zur Rente.“ DaimlerChrysler lockt nicht nur mit Erwerbstätigkeit +13% Geld, der Konzern droht auch. Wenn bis in Deutschland, Veränderung +10% Ende März 2006 nicht 8500 Mitarbeiter be- TTeilzeitbeschäftigteeilzeitbeschäftigte* reit sind, ihren Arbeitsplatz zu verlassen, gegenüber dem Jahr 2000 dann will das Unternehmen die Arbeits- +5% zeiten der verbliebenen Mannschaft redu- zieren – bei gleichzeitiger Lohnkürzung. Bei DaimlerChrysler geht es nicht um Ver- 0% 0 lagerung ins billigere Ausland. Es geht auch nicht in erster Linie darum, den Profit ERWERBSTÄTIGE noch weiter zu steigern. Die Mercedes Car 2000: 39,1 Mio. –5% Group hat einfach nicht genügend Arbeit 2005: 38,8 Mio. VVollzeitbeschäftigteollzeitbeschäftigte für ihre Belegschaft. – 10% Die Produktivität in den Fabriken steigt *ohne geringfügig Beschäftigte Jahr für Jahr. Die gleiche Mannschaft kann Quelle: Statistisches Bundesamt; mehr Autos herstellen. Das ging gut, so- Berechnung des IAB Schätzung lange Mercedes immer mehr Fahrzeuge ver- 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 kaufen konnte. In den vergangenen zehn

der spiegel 52/2005 73 Wirtschaft und Computeranschluss weichgekocht hochqualifizierte, gutbezahlte Jobs wegfal- dass dieses Land in amerikanische Ver- würden. Nach mehreren Monaten in sol- len und durch schlechtbezahlte ersetzt wer- hältnisse abdriftet“, sagt DGB-Chef Mi- chen Geisterstuben unterschrieben viele den. „Reguläre“ Arbeitsplätze weichen zu- chael Sommer. „Dieses Land ist eines der Mitarbeiter ihren Aufhebungsvertrag. nehmend „prekären Beschäftigungsver- reichsten Länder der Erde und leistet sich Die Unternehmen wollen durch diesen hältnissen“, wie die Jobs in der Sprache bereits jetzt, dass ein großer Teil der ar- Aderlass fitter für den globalen Wettbe- der Arbeitsmarktexperten genannt werden. beitenden Menschen praktisch von Ar- werb werden – und attraktiver für Anleger. Nach einer Analyse des Nürnberger In- mutslöhnen lebt.“ Doch wie weit soll dieser Schrumpfungs- stituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- Job ist eben nicht gleich Job, und deshalb prozess noch gehen? Ist es in Deutschland schung (IAB) blieb zwar die Zahl der Er- sind viele der Jubelmeldungen über neue überhaupt noch möglich, hochwertige Ar- werbstätigen im vergangenen Jahr nahezu Arbeitsplätze eher mit Vorsicht zu ge- beitsplätze zu schaffen? konstant. Die Zahl der sozialversiche- nießen. Die norddeutsche Kaffeehauskette „Absolut“, sagt Hans Deppe, Deutsch- rungspflichtigen Vollzeitjobs aber sank ra- Balzac Coffee beispielsweise verkündet, in land-Chef des amerikanischen Chip-Her- pide. Rund 450000 Vollzeitarbeitnehmer diesem Jahr 100 neue Arbeitsplätze ge- stellers AMD. Vor zwei Jahren hat er gegen weniger zahlten 2005 in die Renten-, Kran- schaffen zu haben und im neuen Jahr heftigen Widerstand der Amerikaner durch- ken- und Arbeitslosenkasse ein. Im Jahr weitere 100 einzurichten. Doch ihren An- gesetzt, ein zweites Werk in Dresden zu bau- 2006 werden es nach IAB-Berechnungen gestellten – fast ausnahmslos Studierende – en – auch, weil der Staat mit einer halben noch einmal 300000 weniger sein. zahlt Inhaberin Vanessa Kullmann Stun- Milliarde Euro Fördergelder lockte. Am 14. Oktober war Einweihung. Tausend neue Kollegen wird Deppe Der Abbau geht weiter insgesamt bis Ende 2006 eingestellt Job-Entwicklung in Deutschland nach haben. André Friedow und Heike SPIEGEL-Umfrage bei den Verbänden Hülsmann sind bereits da. Friedow pendelt aus Cottbus nach Dresden, 2005 2006 Hülsmann zog von Jena an die Prognose Elbe. „Mein soziales Umfeld ist bis zu mir wichtig. Insofern ist es toll, Handwerk –140000 –80000 dass es solche Jobs auch im Osten gibt“, sagt die promo- vierte Chemikerin Hülsmann. Bau –47000 –20000 Die Amerikaner hätten das Werk lieber in East Fiskill im bis zu US-Bundesstaat New York ge- Einzelhandel –15000 –10000 sehen. Deppe konnte die Kon- zernleitung überzeugen, dass Auto- ± die Investition nirgends besser mobil –6000 0 angelegt ist als in Dresden. In- zwischen ist AMD der größte keine ausländische Investor in den Chemie –4400 Angabe neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung. Und war- Elektro- um? „Weil hier alles stimmt: technik –4000 –3000 Qualifikation, Motivation, Fle- Maschinen- xibilität“, sagt Deppe. „Ich keine verstehe Personal nicht als und –3000 Angabe Anlagenbau Kostenfaktor, sondern als Res- source, mit der das Manage- Informations- ± ment äußerst pfleglich um- wirtschaft +4000 0 gehen muss.“ PFEIL / AP ROBERTO So beteiligt AMD jeden Mit- Proteste gegen den Jobabbau der Telekom: „Ricke, wir haben die Faxen dicke“ arbeiter am Gesamterfolg des Konzerns. Erwirtschaftet er Gewinn, er- Dagegen stieg die Zahl derjenigen, die denlöhne von 6,50 Euro. Und nach Feier- halten die Arbeitnehmer pro Quartal rund sich selbständig, mit 400-Euro- oder Ne- abend müssen ihre Mitarbeiter eine Stunde 3,5 Prozent ihres Verdienstes obendrauf. benjobs sowie Teilzeitarbeit verdingen den Laden reinigen – freilich ohne Lohn. Auch die Arbeitszeiten regelt Deppe flexi- müssen. Allein die Zahl der „geringfügig Auch die stark wachsende Handelskette bel. „Der Osten ist in vielerlei Hinsicht Beschäftigten“ nahm zwischen 2000 und Lidl verweist gern auf ihre 20000 Arbeits- moderner als der Westen“, sagt West-Im- 2005 um 30 Prozent zu (siehe Grafik). plätze, die sie allein in den vergangenen drei port Deppe. „Mir ist es ein Rätsel, warum Rund 1,8 Millionen Menschen gehen laut Jahren geschaffen hat. Aber kaum einer der es hier nicht mehr Industrie gibt.“ IAB nach Feierabend einem Zweitjob Neuangestellten hat eine sozialversiche- Erfolgsmeldungen wie die aus Dresden nach, bei dem sie maximal 400 Euro ver- rungspflichtige Vollzeitstelle. Die Mehrheit verleiten Arbeitsmarktexperten schnell zu dienen. Weitere 413000 Menschen arbeiten arbeitet halbtags oder auf 400-Euro-Basis. Optimismus – oft vorschnell. „Die Wirt- neben ihrem eigentlichen Beruf in ihrer Selbst Konzerne, die viel Beifall aus Po- schaft entlässt weniger und nimmt mehr Freizeit selbständig als Taxifahrer, Reini- litik und Öffentlichkeit für ihr Engagement auf“, frohlockt Heinrich Alt, Vorstands- gungskraft oder Pizzabote. Das sind im- in Deutschland erhalten, stellen eher mitglied der Bundesagentur für Arbeit, und merhin 5,7 Prozent aller Erwerbstätigen „prekäre“ Arbeitsplätze zur Verfügung. Ei- verweist auf die leicht zurückgegangene und damit sogar mehr als in den USA. nen solchen Arbeitsplatz ergatterte Kay Arbeitslosigkeit in den vergangenen Mo- Für die Gewerkschaften ist diese Ent- Eckel aus Kabelsketal in Sachsen-Anhalt. naten. Diese Tendenz kann jedoch nicht wicklung alarmierend. „Solange ich DGB- Seit August arbeitet der 25-Jährige beim darüber hinwegtäuschen, dass immer mehr Vorsitzender bin, will ich nicht hinnehmen, Logistikkonzern DHL, einer Tochter der

74 der spiegel 52/2005 Deutschen Post. Am Leipziger Flughafen, wo DHL bis zum Jahr 2008 ein neues Luft- drehkreuz einrichten und 3500 Menschen einstellen will, probt Eckel sozusagen schon mal den Ernstfall – aber in Teilzeit. 60 Prozent der neuen Jobs werden in Leipzig auf Teilzeitbasis entstehen. „At- mende Arbeitszeit“ nennt Michael Rein- both, Leiter des DHL-Kreuz-Europa, das Modell. So sortiert sein Angestellter Eckel täglich von 20 bis 22.30 Uhr Päckchen. Dann geht er nach Hause, schläft ein we- nig, um um 4.30 Uhr erneut zum Dienst zu erscheinen und bis 8 Uhr zu arbeiten. Ins- gesamt kommt Eckel so auf 30,5 Stunden. „Wir holen die Leute, wenn wir sie brau- chen, und schicken sie nach Hause, wenn wir sie nicht brauchen“, sagt Reinboth. Für ihn ist das ein „Zukunftsmodell“, für Eckel ist es ein Glücksfall. „Sonst hätte ich, wie alle meine Freunde, in den Westen, nach Österreich, Holland oder sonstwohin pendeln müssen“, sagt Eckel. Mitarbeiter wie er verdienen bei DHL zwi- schen 17150 und 20755 Euro im Jahr – Ta- rif. Speditionskaufleute mit Spezialkennt- nissen wie Im- oder Exportwirtschaft brin- gen es immerhin auf bis zu 26728 Euro. Da hat es Sandra Jodeleit, 29, besser. Seit zwei Monaten wird die studierte Be- triebswirtin bei der zum Metro-Konzern gehörenden Handelskette Media Markt als angehende Führungskraft ausgebildet. Während ihres Studiums und auch danach tingelte sie als „Projektleiterin“ durch di- verse Callcenter. Jetzt sieht sie erstmals Perspektiven. „Hier kann ich mich ent- wickeln, kann ins Ausland gehen oder Ab- teilungen übernehmen“, sagt Jodeleit. Wie kaum ein Unternehmen expandiert die Media-Saturn-Holding GmbH, zu der neben Media Markt auch das Elektrokauf- haus Saturn gehört. Innerhalb eines Jahres schraubte der Konzern in Deutschland die Mitarbeiterzahl um 1525 Menschen nach oben. Nur 3,6 Prozent aller Arbeitsplätze sind nicht sozialversicherungspflichtig. Und die Zahl der Märkte steigt. Jodeleit arbeitet für den 200. Media Markt in Hamburg- Altona. Die Akademikerin muss erst einmal Waschmaschinen verkaufen, doch bald soll sie Personal- und Budgetverantwortung be- kommen, soll selbst für den Einkauf der Ware verantwortlich sein und dezentral mit den Herstellern Konditionen aushandeln „Wir sind deshalb so erfolgreich, weil bei uns die Mitarbeiter quasi Unternehmer im Unternehmen sind“, sagt Utho Creusen, Mitglied der Geschäftsführung und verant- wortlich für Personal in der Media-Saturn- Holding. „Das spornt zu Höchstleistungen an.“ Und so verwundert es nicht, dass Creusen viele seiner Managerkollegen für phantasielose Nieten hält. „Wer ein Klima der Furcht sät und bei Umstrukturierun- gen immer zuerst an Personalabbau denkt statt an neue unternehmerische Ideen, muss sich nicht wundern, wenn es bergab geht.“ Christoph Pauly, Janko Tietz der spiegel 52/2005 75 Wirtschaft BERND ROSELIEB EZB-Präsident Trichet, Bankzentrale (in Frankfurt am Main): „Enorme Hausaufgaben zu erledigen“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Wir müssen mehr an uns glauben“ Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank, über das Risiko einer Inflation im Euro-Raum, die Herausforderungen der Globalisierung und typisch deutsche Ängste sowie die Frage, was eine Sprache über das Bewusstsein eines Landes verrät

Trichet, 63, leitet seit gut zwei Jahren die Das schafft allenfalls noch Ihr US-Kollege um bei der Gewährleistung von Preissta- Europäische Zentralbank (EZB) als Prä- Alan Greenspan. Auf welche Fragen wer- bilität im Zeitverlauf glaubwürdig zu sein sident. Davor hatte der Franzose zehn den wir von Ihnen sicher keine klare Ant- und um die Inflationserwartungen weiter- Jahre die Banque de France als Gouver- wort bekommen? hin fest auf einem Niveau zu verankern, neur geführt. Trichet: Das Gegenteil ist der Fall! Wir müs- das mit Preisstabilität im Einklang steht!“ sen deutliche Positionen beziehen und kla- Das ist die Position des EZB-Rats. SPIEGEL: Monsieur Trichet, jeder konkrete re Antworten geben. Hierbei denken wir SPIEGEL: Das ist nicht viel. Satz von Ihnen als oberster Notenbanker nicht nur an 311 Millionen Mitbürger, son- Trichet: Noch einmal. Das ist die Position Europas kann weltweit die Finanzmärkte dern auch an die Investoren und Sparer in des EZB-Rats. Ich denke, sie wird von den durcheinander bringen. Muss dieses Ge- Europa und weltweit. europäischen Bürgern sowie von den spräch nicht zwangsläufig ein Alptraum für SPIEGEL: Dann wollen wir’s mal versuchen: Marktteilnehmern ganz gut verstanden. beide Seiten werden? Zum ersten Mal seit über fünf Jahren er- SPIEGEL: Luxemburgs Ministerpräsident Trichet: (lacht) Natürlich müssen sich der höhte die EZB Anfang Dezember die Leit- Jean-Claude Juncker nannte Ihre Zins- Sprecher der EZB sowie alle Mitglieder un- zinsen – auf nunmehr 2,25 Prozent. Ist das erhöhung „überhastet“. Wirtschaftswachs- serer Entscheidungsgremien bewusst sein, der erste Schritt einer Reihe von Er- tum sei wichtiger als Preisstabilität. dass ihre Aussagen für viele Menschen eine höhungen, wie sie die USA bereits hinter Trichet: Ich bin der festen Überzeugung, große Bedeutung haben können. Wir spre- sich haben? dass das eine gut zum andern passt. Preis- chen immerhin zu 311 Millionen Bürgern Trichet: Was die künftige Geldpolitik be- stabilität ist eine Voraussetzung, eine not- im Euro-Raum. Und wenn ich etwas im trifft, so werde ich wiederholen, was ich im wendige Bedingung für anhaltendes Wachs- SPIEGEL sage, spreche ich damit praktisch Namen des EZB-Rats nach unserer letz- tum und die Schaffung von Arbeitsplät- mehr als 82 Millionen Deutsche an. Aber ten geldpolitischen Entscheidung gesagt zen. Stabile Preise sichern die Kaufkraft, dies ist nicht nur für uns eine große Ver- habe: „Wir haben ex ante nicht entschie- erhöhen das Vertrauen, festigen die nied- antwortung, sondern für alle Personen, die den, eine Serie von Zinserhöhungen vor- rigen mittel- und langfristigen Marktzin- große Verantwortung tragen … zunehmen. Wir werden in der Zukunft die sen und fördern Investitionen. All dies ist SPIEGEL: … die aber selten komplette Entscheidungen treffen, die notwendig gut für Wachstum und für die Schaffung Volkswirtschaften beeinflussen können. sind, um Preisstabilität zu gewährleisten, von Arbeitsplätzen.

76 der spiegel 52/2005 SPIEGEL: Dennoch trauern viele Deutsche Trichet: Nein, im Gegenteil: Unsere Ent- noch immer ihrer D-Mark hinterher. scheidung sichert durch die Stabilisierung Trichet: Als wir antraten, mussten wir zwölf von Inflationserwartungen ein finanzielles Nationen versprechen, dass die neue Umfeld, das für anhaltendes Wachstum Währung mindestens so gut sein würde und die Schaffung von Arbeitsplätzen wie ihre alte. Also musste der Euro min- günstig ist. Allerdings kann die Geldpolitik destens so gut sein wie die beste Währung nicht alle Probleme allein lösen. Wir überhaupt. Damals gab es einige „beste“, benötigen ebenfalls durchgreifende struk- auch die D-Mark. Wir haben dieses Ver- turelle Reformen, um unser Wachstums- sprechen gehalten. Es ist ein großer Erfolg, potential zu erhöhen. deutschen Journalisten heute sagen zu SPIEGEL: Sind weitere Reformen das wich- können, dass die langfristigen Marktzin- tigste EU-Ziel 2006? sen – dank unserer langfristigen Glaub- Trichet: Insgesamt muss der Wirtschaft, würdigkeit – niedriger sind als je zuvor seit aber auch der Gesellschaft eine größere Bestehen der Bundesbank. Ich bin stolz, Anpassungsfähigkeit und mehr Flexibilität dass der Euro genauso vertrauenswürdig erlaubt und – in der Tat – abverlangt wer- ist, wie es die D-Mark war. den. Für die Industrieländer sind die Alte- SPIEGEL: Dennoch: Politiker im ganzen rung der Bevölkerung, die Globalisierung Euro-Raum kritisierten Ihre Zinsentschei- sowie die Entwicklung von Wissenschaft dung. Wenn man die explodierenden Ener- und Technik die drei wesentlichen He- giepreise herausrechnet, ist die befürch- rausforderungen, die eine permanente An- tete Inflation doch auch gar nicht so passung erfordern. Alle drei resultieren schlimm. übrigens aus phantastischen Erfolgen. Trichet: Ich denke, wir werden von den Eu- SPIEGEL: Was soll an einer überalterten Ge- ropäern gut verstanden. Unsere Mitbürger sellschaft so großartig sein? Oder daran, sind sehr daran interessiert, Preisstabilität dass die Globalisierung Tausende Jobs aus zu haben. Sie verstehen auch, dass Vor- Frankreich, England oder Deutschland sorgen besser ist als Heilen. Dies gilt vor al- nach Osteuropa treibt?

PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT LANGROCK / AGENTUR PAUL lem für mögliche Zweitrundeneffekte … Trichet: Die Tatsache, dass die Lebenser- SPIEGEL: … also die Tatsache, dass sich mit wartung immer höher und höher wird, be- der Energie zum Beispiel auch Waren oder legt die enormen Fortschritte der Medizin. 1,40 Löhne verteuern könnten … Die Globalisierung zeigt, dass die Markt- Wechselkurs Trichet: Dies ist ein Risiko, das sich wie- wirtschaft auf der ganzen Welt übernom- derum permanent auf die zukünftige In- men wurde und in Ländern, die wir vor ei- Wert des Euro in Dollar 1,30 flation auswirken würde. Wenn wir mit nigen Jahren noch als „Dritte Welt“ be- unseren Entscheidungen warten würden, zeichneten, bereits großartige Fortschritte bis solche Effekte eintreten, wäre es schon gebracht hat. Die Erfolge in führenden 1,20 zu spät. Darum ist es immer besser, solche Technologien und Wissenschaften sprechen Effekte zu verhindern, als sie später behe- für sich selbst. All diese Erfolge erfordern – ben zu müssen. gerade wegen ihrer großen Bedeutung – die 1,10 SPIEGEL: Haben Sie nicht selbst Angst, dass Veränderung der Gesellschaften. die leichte Erholung der europäischen SPIEGEL: Anders als etwa die USA muss Wirtschaft schon wieder abgewürgt wird? Europa aber erst zusammenwachsen. 1,00

0,90

Quelle: Thomson Financial Datastream 0,80 2001 2002 2003 2004 2005

Leitzinsen in Prozent 6 US-Notenbank 5 Europäische 4,25 % Zentralbank 4

3 2,25 % 2

1 Quelle: Thomson Financial Datastream

2001 2002 2003 2004 2005 0 / AP WAGNER ORLIN US-Notenbankchef Greenspan: „Große Verantwortung“

der spiegel 52/2005 77 Wirtschaft

Trichet: Richtig. Wir, die Europäer, ver- im derzeitigen deutschen Empfinden eine Trichet: Man muss einen Weg zwischen die- wandeln uns tiefgreifend, und zwar wirt- Art „Angst“, die so nicht gerechtfertigt ist. sen beiden Extremfällen finden. Der Opti- schaftlich und politisch. Das ist die vierte SPIEGEL: Wir gehören auch zu den chroni- mismus in den USA ist systematisch. Dort Herausforderung. Und die fünfte ist die schen Defizitsündern. Zudem kann es Ih- ist das Glas immer halb voll, während es im stetige Ausweitung unserer Grenzen, das nen nicht gefallen, wenn die neue Bun- Euro-Raum und in der derzeitigen deut- Phänomen von Erweiterung. Diese zwei desregierung 2007 die Mehrwertsteuer um schen Kultur immer halb leer ist. Tatsache zusätzlichen Herausforderungen für die drei Prozentpunkte anhebt. So etwas treibt ist, dass unser Glas sowohl halb voll als Europäer sind wie die anderen auf den Er- auch das Inflationsrisiko an. auch halb leer ist. Wir haben hier noch folg des Konzepts der Europäischen Union Trichet: Ich verstehe den Mehrwertsteuer- enorme Hausaufgaben zu erledigen. Aber selbst zurückzuführen. Schritt als parteiübergreifende Vereinbarung, sie sind zu bewältigen, weil wir es bereits SPIEGEL: Vielleicht wächst dieses Europa die wir bereits in unseren eigenen mittelfris- bewiesen haben, dass wir es können. Wir einfach zu schnell. tigen Projektionen berücksichtigt haben. Europäer müssen einfach mehr an uns Trichet: Ich glaube das nicht. Die Sowjet- SPIEGEL: Was halten Sie für gefährlicher? glauben. union ist zusammengebrochen, teilweise Zu viel Pessimismus, wie in der Bundesre- SPIEGEL: Die Weltwirtschaft wird noch im- durch den westeuropäischen Erfolg. Und publik? Oder zu viel Optimismus, wie ihn mer von den USA dominiert. Wie bedroh- Geschichte ist nicht aufzuhalten. Wir müs- die USA chronisch demonstrieren? lich ist das amerikanische Doppeldefizit? sen den Menschen in Europa, insbesonde- re in den Ländern der Gründungsväter, wie Deutschland, Italien, den Benelux- Ländern oder Frankreich, unermüdlich er- klären, dass das Gebiet, um das es heute geht, viel, viel größer ist als das von Karl dem Großen! SPIEGEL: Passt die Türkei zu Europa? Trichet: Wir sind Teil eines historischen Prozesses. Und die Menschen Europas ent- scheiden selbst, wo ihre Grenzen liegen. SPIEGEL: Ihr Enthusiasmus in Ehren, aber die Europäische Verfassung ist in Frank- reich und den Niederlanden kläglich ge- scheitert. Fünf von zwölf Euro-Ländern schaffen zurzeit nicht die Stabilitätskrite- rien des Maastricht-Pakts. Und der Krach ums Brüsseler Budget hat den Menschen gerade wieder vor Augen geführt, was für ein Tollhaus diese EU sein kann. Trichet: Nichts ist einfach. Das ist klar. Und wir verlangen die strikte Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Aber das Brüsseler Budget wurde gerade während des letzten EU Gipfeltreffens gelöst. Und aus politischer Sicht ist Europa in einer Reifephase. Die EZB, für ihren Teil, wird das Vertrauen in die Währung erhalten und so fachmännisch wie möglich die Erweite- rung des Euro-Raums vorbereiten. SPIEGEL: Die öffentliche Meinung hierzu- lande sieht eher düster aus … Trichet: … und neigt vielleicht dazu, die Schwierigkeiten überzubewerten. Zugleich wird unterschätzt, was Ihr Land bereits er- reicht hat. Natürlich war die Wiederverei- nigung eine enorme Aufgabe. Aber damit ist man sehr gut vorangekommen. Und seit Einführung des Euro hat sich die Kosten- wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt- schaft im Vergleich zum EU-Durchschnitt deutlich verbessert. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Exportzahlen. Es gibt keinen Grund, weshalb sich diese verbesserte wirt- schaftliche Situation nicht auch zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Binnennach- frage und vor allem beim Konsum be- merkbar machen sollte. SPIEGEL: Vielleicht, weil wir zum Pessimis- mus neigen? Trichet: Es liegt in der menschlichen Natur, bei schwierigen Aufgaben Befürchtungen zu haben. Aber vielleicht erwächst daraus

78 der spiegel 52/2005 Trichet: Es gibt zwei gegenläufige Trends: noch nicht umfassend, aktiv und effizient krieg unser Ziel, dass China, Indien und Erstens: Die Vereinigten Staaten sind sehr genug … noch eine Reihe anderer, sehr armer Län- flexibel, was sie anpassungs- und wider- SPIEGEL: … während beiden mit China ein der nach und nach aufholen. standsfähiger macht. Das ist ein sehr wich- neuer Mitspieler auf den Weltmärkten er- SPIEGEL: Aber in diesem Tempo? tiger Vorteil für die USA. Sie haben aber wächst. Ist die Volksrepublik für Sie eher Trichet: Deshalb sage ich auch, dass die Ge- auch eine große Belastung: eine sehr Aggressor oder Wettbewerber? Für Euro- schwindigkeit der Veränderungen in China geringe Sparquote, die zu einem hohen pa eher Chance oder Risiko? und Indien auch eine Herausforderung für Leistungsbilanzdefizit führt. Auf dieser Trichet: Zunächst einmal ist Chinas Weg unsere Gesellschaft und für den Rest der Welt Seite des Atlantiks haben wir das um- ein Beweis für den Erfolg der Marktwirt- ist, denn dadurch ändert sich sehr nachhaltig gekehrte Problem: viel weniger Flexibi- schaft. Viele haben bereits vergessen, dass und rapide das Gefüge der globalen Wirt- lität in der Volkswirtschaft, was uns hin- dort bis vor kurzem eine vollständige und schaft. Aber auch dieser Aufgabe müssen wir dert, die heutigen Chancen zu nutzen, und total ineffiziente Planwirtschaft herrschte. uns stellen. Wir haben keine andere Wahl. andererseits eine zufriedenstellende Spar- Außerdem war es seit dem Zweiten Welt- SPIEGEL: Ist das Ihre zentrale Botschaft als quote. Zum Glück besteht darüber Kon- oberster europäischer Währungshüter? sens, dass beide Seiten ihre Schwachstel- * Sven Afhüppe und Thomas Tuma im Euro-Tower in Trichet: Verbunden mit dem Verlangen, aus len angehen müssen. Leider tun es beide Frankfurt am Main. den Erfolgen der vergangenen 50 Jahre ge- nug Energie für die Zukunft zu tanken, um die vielen Chancen zu ergreifen, die die Welt uns heute bietet. Das ist nicht un- bedingt einfach, aber es lohnt sich. Stellen Sie sich vor, Sie würden den Gründer- vätern Europas heute sagen, dass der Eu- ropäischen Union nun 25 Nationen mit insgesamt 459 Millionen Menschen ange- hören und dass wir ein Parlament haben, BERND ROSELIEB Trichet (M.), SPIEGEL-Redakteure* „Vorsorgen ist besser als heilen“

das von den Menschen dieser Länder ge- wählt wird. Dass wir einen Gerichtshof ha- ben, der für die Rechtsprechung aller in der Union verantwortlich ist und dass wir eine einheitliche Währung für 311 Millio- nen Menschen haben. Jean Monnet wäre ohne Zweifel total begeistert. SPIEGEL: Vor kurzem haben Sie angefangen, aktiv Deutsch zu lernen. Versteht man die Seele einer Nation erst über ihre Sprache? Trichet: Nun, es ist zumindest außeror- dentlich hilfreich. Die Struktur einer Spra- che verrät auch Argumentationsmuster. Es ist kein Zufall, dass viele große Philoso- phen Deutsche sind. Ihre Sprache ist für sehr tiefgehende Überlegungen gut geeig- net. Es ist eine Sprache, die sicher nicht nur für die alltägliche Kommunikation, sondern auch für die persönliche Refle- xion und Betrachtung geeignet ist. SPIEGEL: „Angst“ wird hoffentlich nicht zu Ihrer deutschen Lieblingsvokabel. Trichet: (lacht) Nein, sicherlich nicht, eben- so wenig wie „Alptraum“. SPIEGEL: Monsieur Trichet, wir danken Ih- nen für dieses Gespräch.

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Ackermann das durch? Oder tritt er schon Noch geben die Verteidiger die Hoff- AFFÄREN vorher zurück? nung nicht auf. Schließlich werde, so Was der Senatsvorsitzende Klaus Tolks- Ackermanns Anwalt Eberhard Kempf, das dorf verkündete, muss auf den Banker Landgericht Düsseldorf „die Tatsachen neu Hopp Ackermann stellenweise vernichtend wir- festzustellen haben“. Dass das Verhalten ken. Dass derjenige, der fremdes Vermö- der Angeklagten rechtswidrig war, dürfte gen zu betreuen hat, „das anvertraute Ver- in einem neuen Prozess indes kaum noch oder topp mögen nicht nutzlos weggeben darf“, so anzuzweifeln sein. Zu klären ist aber, ob Der Fall Mannesmann wird neu Tolksdorf, gelte „selbstverständlich auch Ackermann und Co. vielleicht freizuspre- verhandelt, der BGH hob die für Präsidiumsmitglieder“ des Aufsichts- chen oder zumindest milder zu bestrafen rats. Eine „im Dienstvertrag nicht verein- sind, weil sie um die Strafbarkeit ihres Ver- Freisprüche gegen die Angeklagten barte Sonderzahlung für eine geschuldete haltens möglicherweise nicht wussten. Die- auf. Muss sich die Deutsche Bank Leistung, die ausschließlich belohnenden se Frage fehlenden Unrechtsbewusstseins jetzt einen neuen Chef suchen? Charakter hat und der Gesellschaft keinen werde „der Schwerpunkt“ in einer neuen Verhandlung sein, so Ackermanns ande- rer Verteidiger Klaus Volk, an dieser Stel- le gehe es „um hopp oder topp“. Zumindest bei der Prämie für den be- reits ausgeschiedenen Ex-Mannesmann- Vorstandschef Joachim Funk sehen die BGH-Richter für einen solchen strafbe- freienden Irrtum wenig Raum: Es sei „schlechterdings nicht vorstellbar“, dass sich der „in führenden Positionen der deutschen Wirtschaft tätige Angeklagte Dr. Ackermann“ für berechtigt gehalten ha- ben könnte, in Millionenhöhe willkürlich über das ihm anvertraute Gesellschafts- vermögen verfügen zu dürfen. Das Urteil enthält stellenweise so klare Vorgaben, dass auch die Ackermann-An- wälte gegenwärtig nicht auf einen glimpf- lichen Deal mit der Staatsanwaltschaft zu hoffen wagen. Die Verantwortlichen der Deutschen Bank waren denn auch von dem Urteil

OLIVER BERG / DPA OLIVER ziemlich schockiert. Doch zunächst wur- Angeklagte Esser, Ackermann*: Das anvertraute Vermögen nutzlos weggegeben? den Durchhalteparolen ausgegeben. Kein Wunder, der Deutschen Bank fehlt ein ür Josef Ackermann war 2004 ein zukunftsbezogenen Nutzen bringt“, sei überzeugender Ersatzkandidat. Wie kaum ganz schlechtes Jahr, ein Tiefpunkt „als treupflichtwidrige Verschwendung des ein anderer Großkonzern ist sie auf ihren Fseiner Karriere. Aber da konnte der anvertrauten Gesellschaftsvermögens zu Vorstandssprecher zugeschnitten. Die Chef der Deutschen Bank noch nicht ah- bewerten“. wirkliche Macht liegt ohnehin im soge- nen, was ihn 2005 erwarten sollte – und Wiederholt hatte Tolksdorf schon in der nannten Group Executive Committee, das was ihm 2006 droht. Verhandlung gemutmaßt, die Prämien sei- von den angelsächsischen Investmentban- Am 21. Dezember 2005 nämlich, am en „schlicht ein Geschenk“ an Esser zu kern dominiert wird. Ackermann lässt sie Mittwoch dieser Woche, hob der 3. Straf- Lasten der Mannesmann AG gewesen, und weitgehend gewähren, schließlich tragen senat des Bundesgerichtshofs (BGH) die gefragt: „Was ist dafür hereingekommen?“ sie den überwiegenden Teil zum stetig stei- Freisprüche im Fall Mannesmann auf. Das Nach dem, was sich aus dem Urteil ergibt: genden Gewinn bei. Landgericht Düsseldorf hatte im vergan- nichts. „Auch das Ansehen der Mannes- Der Aufsichtsratsvorsitzende Rolf Breu- genen Jahr Ackermann und die übrigen mann AG in der Öffentlichkeit wurde er, dem die Suche nach einer Alternative Angeklagten vom Vorwurf der Untreue durch die Anerkennungsprämien nicht ge- für Ackermann obliegt, hat zudem eigene freigesprochen. Diese hatten, nach der fördert“, bemerkten die Richter in dem juristische Probleme. Ein anderer Senat feindlichen Übernahme des Mobilfunk- Urteil süffisant. des Bundesgerichtshofs bescheinigte ihm in konzerns durch den britischen Konkur- seiner Auseinandersetzung mit dem Me- renten Vodafone, Prämien und Abfin- dienpleitier Leo Kirch eine Verletzung des dungszahlungen in Höhe von insgesamt Bankgeheimnisses. Die Deutsche Bank knapp 60 Millionen Euro teils, wie der da- muss deswegen am 24. Januar mit einer malige Konzernchef Klaus Esser, selbst partiellen Verurteilung rechnen. kassiert, teils, wie Ackermann, genehmigt. Sehr viel Zeit bleibt dem Aufsichtsrat Nun wird der Prozess im kommenden nicht, die Personalie Ackermann zu ent- Jahr neu aufgerollt, und für den Chef der scheiden. Dessen Vertrag als Vorstands- Deutschen Bank geht das so quälende – sprecher läuft noch bis Ende 2006. Übli- und demütigende – Procedere von vorn cherweise werden die Verträge vom Auf- los. Und wieder stellt sich die Frage: Hält sichtsrat allerspätestens sechs Monate vor Ablauf verlängert.

MARKUS BENK / ACTION PRESS BENK / ACTION MARKUS Dann hat der Prozess in Düsseldorf noch * Oben: am 21. Januar 2004 vor Beginn des 1. Verhand- Dietmar Hipp, lungstags im Düsseldorfer Landgericht; unten: am ver- Vorsitzender Richter Tolksdorf* nicht einmal angefangen. Christoph Pauly gangenen Mittwoch. „Schlicht ein Geschenk“

80 der spiegel 52/2005 Eine Operationsbasis, von der aus die EU mit ihren 480 Millionen skeptischen Ver- brauchern erobert werden soll. Karl Otrok ist seit Anfang des Jahres pensioniert. In Bukarest sitzt der 60-Jäh- rige nun im Büro eines Plattenbaus, von wo aus er eine kleine Agentur für Land- maschinen steuert. „Wer kann sich Gen- saatgut oder Hybridmais schon leisten?“, fragt er nun merkwürdig selbstkritisch. „Fast keiner.“ Nahezu die Hälfte der Rumänen arbeite heute in der Landwirt- schaft. „In fünf Jahren werden es noch drei Prozent sein.“ Otrok, der lange Größe pre- digte, plädiert nun für „kleinere Struktu- ren“. Er ist ein Agroingenieur, der sich zurücksehnt zur Natur. Im Sommer 2004 ist er deshalb noch deutlicher geworden. Damals stand er vor Gemüsefeldern südlich von Bukarest. Er hatte eine Hybridaubergine in der Hand

JEFF O'BRIEN / MAURITIUS IMAGES JEFF O'BRIEN / MAURITIUS und sagte, die sei nett anzuschauen, hätte Landwirt in Rumänien: „Wer überleben will, muss seine Erträge steigern“ aber keinerlei Geschmack. Einer seiner Pioneer-Kollegen stand neben ihm und sagte, die Bauern müssten sich eben zwi- LANDWIRTSCHAFT schen Geschmack und Ertrag entscheiden. Otrok antwortete väterlich: „Wir haben den Westen ausgetrickst, und jetzt kommen Wildwuchs im Hinterhof wir nach Rumänien und werden hier die ganze Landwirtschaft über den Tisch zie- Amerikanische Saatgutfirmen missbrauchen Rumänien als hen.“ Otrok stand damals nicht nur vor Gemüsefeldern, sondern auch vor der Ka- Versuchslabor und Umschlagplatz für ihre Gen- und mera Erwin Wagenhofers, der einen Film Hybridprodukte. Von dort aus soll die ganze EU erobert werden. über den Irrwitz unserer Ernährung drehte. Vor zwölf Wochen kam die Dokumen- ioneer – in den vergangenen 22 Jah- umkehrt und Ertragsverluste entstehen, tation in Österreich in die Kinos. 130000 ren hat kaum ein Mitarbeiter des muss der Bauer das Saatgut jedes Jahr neu Menschen haben sie inzwischen gesehen. Pamerikanischen Saatgutkonzerns kaufen. Für die vielen rumänischen Mais- Der Film zeigt, wie Küken Sekunden nach den Firmennamen so wörtlich genommen bauern war das ungewohnt – und so teuer, dem Schlüpfen zu Tausenden auf Fließbän- wie Karl Otrok. Der österreichische Ket- dass die rumänische Regierung das mo- der einer Fabrik fallen. Wie unersetzbarer tenraucher mit leichter Schwäche für Her- derne Saatgut zunächst subventionierte. Regenwald für den Anbau von Gensoja renschmuck und klobige Geländewagen Dieses System, das in den USA zu Über- planiert wird. Wie Nestlé-Chef Peter Bra- war in dieser Zeit so etwas wie die euro- produktion, Preisverfall und noch mehr beck seine menschenleeren Produktions- päische Vorhut für den Umbau der euro- Subventionen führt, kann im Osten offen- stätten lobt. Und er zeigt Karl Otrok, den päischen Landwirtschaft nach US-Muster. bar noch als Moderne verkauft werden. Kronzeugen der Groteske, die in Rumä- Otrok begann in Österreich, wo er Vor allem in Rumänien, das von der nien besonders gut zu beobachten ist. schnell zum Werksleiter aufstieg. Auf dem Landwirtschaft abhängt wie kein anderes 22 Jahre an der Front der industriellen Firmengelände protestierte Greenpeace Land in Europa, scheint der Feldzug der Landwirtschaft haben ihn nicht gegen gegen Versuche mit Genmais, was Otrok US-Lobbyisten erfolgreich. Es ist inzwi- Zweifel imprägnieren können. damals noch mehr antrieb. „Ein Bio-Typ schen eine Art Freilandversuchslabor ge- Im Film ist er auch vor einem bis zum war ich nie“, sagt er. Nach dem Mauerfall worden. Ein kaum mehr kontrolliertes Ex- Horizont ragenden Feld mit genmanipu- wurde Otrok Projektmanager für Zentral- perimentierfeld amerikanischer Konzerne. lierten Sojapflanzen zu sehen. Der US- europa und verlagerte den Pioneer- Chemiekonzern Monsanto sorgt seit eini- Schwerpunkt nach Osteuropa, wo es we- gen Jahren für den großflächigen Anbau in niger skeptisch zuging als in der EU. In Rumänien. Seit gut einem Jahr mischt auch Ungarn ließ er ein riesiges Werk für Hy- Pioneer – eine Tochter des US-Chemie- bridmais aufstellen, mit dem Pioneer in- multis DuPont – im Gensoja-Geschäft mit. zwischen ganz Europa beliefert. Die Gensoja-Pflanzen sind widerstands- Otrok erklärte den Bauern im Osten die fähig gegen das von Monsanto vertriebene neuen Spielregeln der globalen Landwirt- Pflanzengift Roundup. Feingefühl im Um- schaft: Wer überleben wolle, müsse seine gang mit der chemischen Keule scheint Erträge steigern – so wie es Pioneer-Land- nicht nötig: Das Totalherbizid soll alles wirte rund um die Welt von Äthiopien bis Grüne töten – nur eben das Gensoja nicht. Mexiko vormachen. Dafür habe seine Fir- Auch in die EU wird gentechnisch ver- ma das optimale Saatgut: hochgezüchte- ändertes Soja eingeführt. Seit dem Verbot ten Mais, der so oft mit sich selbst bestäubt von Tiermehlfutter ist der Bedarf an der ei-

wird, dass er Bombenerträge verspreche. FEJER / OSTPHOTO MARTIN weißreichen Bohne groß. Der gewerbliche Da sich jedoch schon bei der nächsten Ex-Pioneer-Manager Otrok Anbau allerdings ist verboten. In der EU Aussaat die Wirkung des Pflanzen-Inzests Kronzeuge der Groteske darf es bislang kein Bauer ernten – aber

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ein: „Wir haben noch keine funktionieren- den Kontrollmöglichkeiten.“ Die Kenn- zeichnungspflicht, so der jüngste Green- peace-Bericht, funktioniere überhaupt nicht. „Wir wollen nicht das Trojanische Pferd für Genpflanzen in Europa sein“, sagt Tibu und gibt gleichzeitig zu, dass „schon früher ein strengerer rechtlicher Rahmen nötig gewesen wäre“. Bis zum Jahr 2002 existierte allerdings nicht mal ein Gentechnikgesetz. Die neue Regelung, die Rumänien EU-fähig machen soll, sieht Testlabore vor, die es noch gar nicht gibt – und Berater wie Badea und Sin. Auf ihre Rolle sind beide schon vor gut vier Jahren vorbereitet worden – von den US-Agrokonzernen und dem USDA, dem US-Landwirtschaftsministerium. Die Ame- rikaner waren so besorgt über die Zusam-

JEFFERSON BERNARDES / AFPJEFFERSON mensetzung der Biosafety-Kommission, Demonstrierende Greenpeace-Aktivisten*: Manipulation und Angstmache? dass sie Badea, Sin und ein paar rumäni- sche Journalisten in die USA einluden. eben in Rumänien, wo die Soja-Landwirte Dort trafen sie amerikanische Bauern und sogar noch EU-Subventionen erhalten. wurden von Monsanto- und Pioneer-Ma- Unter die von den Agrokonzernen ge- nagern empfangen. Das mit üppigen Lob- streuten Erfolgsmeldungen von höheren bymitteln ausgestattete Programm solle Ernten und zufriedenen Bauern mischen „einen positiven Einfluss auf die Zukunft sich jedoch zunehmend andere Nachrich- der Gentechnologie in Rumänien haben“, ten: Von resistentem Superunkraut ist die so ein USDA-Report. Rede, von steigendem Herbizidverbrauch Verhindern könnte das allerdings die und damit verbundenem Fröschesterben. Mitgliedschaft in der EU. Um den Gen- „Der Gensoja-Anbau in Rumänien ist soja-Anbau in Rumänien zu retten und außer Kontrolle“, sagt Dragos Dima. Er ist zur Blaupause in Europa zu machen, hat landwirtschaftlicher Berater in Bukarest Monsanto gerade einen Antrag auf Gen- und arbeitet für Projekte der Weltbank. soja-Anbau in der EU gestellt.

Zuvor war er Direktor von Monsanto. FEJER / OSTPHOTO MARTIN Mit den Agrokonzernen im Rücken läuft Dima verließ das Unternehmen Ende 1998. Ex-Monsanto-Manager Dima die Gentech-Propaganda in Rumänien auf „Damals waren weder die Regierung noch „Gensoja-Anbau ist außer Kontrolle“ vollen Touren: Elena Badea brachte gera- Monsanto bereit und fähig, die Gentech- de die Lobbygruppe „Black Sea Biotech- nologie zu überwachen.“ trolle durch „kompetente Regierungsstel- nology Organisation“ mit auf den Weg. Bis heute hat sich daran offenbar nichts len“. Doch weder die Konzerne noch die „Anrainerstaaten des Schwarzen Meers geändert. Rund 140000 Hektar Soja wur- Regierung scheint der Wildwuchs wirklich sollen Konsumenten auf die Gentechnik den dieses Jahr angebaut, davon waren zu beschäftigen. vorbereiten“, sagt die 62-Jährige. nach Regierungsangaben rund 85000 Gen- Das Chaos passt in eine Reihe von Nach- In Timisoara arbeitet sie an einem Pro- soja. Weil konventionelles Soja „höchs- lässigkeiten der Branche, die nur schwer zu jekt mit genveränderten Kartoffeln, das tens“ auf 20000 Hektar ausgebracht wur- erklären sind. Mal werden Daten einer von der Weltbank und Monsanto unter- de, bleibe eine Lücke von gut 35000 Hek- Studie zu Genmais zurückgehalten, nach stützt wurde. Dass schon Feldversuche an- tar, so Dima. der es bei Ratten zu Wachstumsstörungen gefangen wurden, obwohl nur Labortests Gabriel Paun von Greenpeace kann die- kommt. Mal wird konventioneller Mais aus erlaubt waren, scheint sie nicht zu stören: se Lücke sogar erklären. Im Sommer Versehen mit gentechnisch verändertem „Es ist wichtig weiterzumachen.“ Was sie durchkämmte er das Land und testete die gemischt. „Und am Ende heißt es dann, es nicht sagt: Der ökonomische Sinn des Felder mit Streifen, die so ähnlich aussehen gebe kaum noch gentechnikfreie Produk- übereifrigen Projekts liegt im Dunkeln. wie ein Schwangerschaftstest und auf ein te“, sagt Karl Otrok. Monsanto, so die amerikanische Ent- von der Genpflanze produziertes Eiweiß „Wo ist das Problem?“, fragt Constantin wicklungshilfeagentur USAID, habe die reagieren. Zur Sicherheit überprüfte das Sin, Biotechnik-Spezialist im rumänischen Urheberrechte aus „humanitären Grün- Österreichische Bundesumweltamt die Be- Agrarministerium. Gensoja sei gut für das den“ an die Universität von Timisoara funde. Danach war klar, dass der Anbau Land, und Roundup sei ein „freundliches abgetreten. Tatsächlich hatte der US-Kon- genveränderter Pflanzen in Rumänien völ- Herbizid“. Seine Kollegin Elena Badea, zern mit dem Produkt keinen Erfolg. lig aus dem Ruder gelaufen war. Neben Professorin für Biotechnologie an der Uni- Bereits im Jahr 2001 wurde der Verkauf Soja entdeckte Greenpeace auch illegale versität Timisoara, stellt bei Anfragen gleich in den USA gestoppt. Die drei größten Versuche mit Kartoffeln und Pflaumen. klar: „Grüne sind nicht meine Freunde.“ Pommes-Produzenten wollten keine Gen- Der deutsche Monsanto-Manager An- Wenn man ihr helfen wolle, sei das in kartoffeln verarbeiten. Zudem ist der Kar- dreas Thierfelder hält den Greenpeace- Ordnung, alles andere schade den Bauern toffelkäfer, gegen den die Züchtung re- Bericht für „Manipulation“ und „Angst- und Rumänien. Sin und Badea sind in der sistent ist, in der EU laut Experten unter mache“. „Je mehr Gensoja angebaut wird, Biosafety-Kommission, die den Anbau des Kontrolle. umso günstiger für die Umwelt“, sagt er. Gensojas im Auge behalten soll. Das Kon- Die weitaus größere Hürde, die Ableh- Ein Pioneer-Sprecher verweist auf die Kon- trollsystem sei „sehr ausgeprägt“, sagt Sin. nung der Verbraucher, ficht Badea nicht Etwas realistischer schätzt Adrian Tibu, an. „Das ist deren Problem“, sagt die Pro- * Beim Weltsozialforum in Porto Alegre am 28. Januar. Sprecher des Agrarministeriums, die Lage fessorin. Nils Klawitter

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DIENSTLEISTUNGEN Globalisierung für Kleine Chinesische Kindermädchen sind in New York neuerdings heiß begehrt: Manhattans Elite will ihren Nachwuchs auf die Wirt- schaftswelt von morgen vorbereiten. hre Eltern sind weiße Amerikaner, ihr Zuhause ist eine millionenteure Villa Iam New Yorker Hudson River, ihr liebster Spielplatz die Schaukel im Garten. Doch wenn sich Hilton Augusta Ro- gers, 2, an sonnigen Vormittagen in die Lüf- te schwingt, lässt sie ihre Gefühle nicht in Englisch erklingen. „Geng gao“, ruft sie

dann auf Mandarin ihrem Vater Jim zu. SCHWERE FRANK „Das heißt: höher“, sagt der und schubst Kindermädchen Shirley, Familie Rogers/Parker: „Sie saugt alles auf wie ein Schwamm“ sie weiter nach oben. Das Mädchen ist jetzt glücklich und sagt es auch, „le le“ lautet das Clifford Greenhouse ist Chef der Pavil- Wie ernst es ihre Eltern meinen, er- in ihrem Kleinkind-Chinesisch. Dann hat lion Agency; seine Firma, nach eigenen schließt sich beim Hausbesuch auf den ers- sie plötzlich Hunger auf „gua gua“ – und Angaben die größte auf ihrem Markt, ver- ten Blick. Überall in dem mehrstöckigen macht ihre Eltern mit jedem Wort stolz auf mittelt seit 1962 Kindermädchen und Haus- Gebäude hat das neue Kindermädchen, ihr familiäres Globalisierungsprojekt: Wer hälterinnen an Amerikas reichste Familien. das sich in den USA den Namen Shirley sonst in Hiltons Alter und Umfeld kann Ständig landen neue Anfragen nach den gegeben hat, chinesische Schrifttafeln auf- schließlich schon „Melone“ in der Sprache gefragten Erzieherinnen auf seinem Tisch, gehängt – die ganze Villa sieht wie eine der künftigen Weltmacht brabbeln? Greenhouse kommt kaum noch hinterher. dreidimensionale, begehbare Sprachfibel Jim Rogers meint es ernst mit Hilton, „Ich suche verzweifelt qualifizierte Chi- aus, in der Hilton quasi im Vorbeiwackeln seinem jüngsten Investitionsvorhaben. Der nesinnen“, sagt er, „bringen Sie mir eine die Begriffe für Tür, Kühlschrank oder 63-Jährige hatte in den siebziger Jahren her, ich kann ihr sofort zehn Top-Familien Bücherregal lernen kann. zusammen mit George Soros den legen- zur Auswahl geben.“ Die heißbegehrten Schon morgens beim Frühstück geht das dären Quantum-Fonds gegründet und so Nannys aus Peking oder Shanghai können Pauken los. Paige Parker hält in der Küche Millionen verdient. Er setzte erfolgreich – bei entsprechenden Referenzen – gut mehrere Papptafeln bereit: Auf der Rück- auf Zucker, Kupfer und Nickel, als vor ein 100000 Dollar pro Jahr verdienen: 60000 seite sind für die Mutter die englischen Be- paar Jahren noch alle Welt aufs Internet mehr als ihre früher so beliebten Kollegin- griffe für „Milch“ (niunai) oder „Guten spekulierte; seither ist er als „Rohstoff- nen aus Old Europe. Allerdings müssen sie Morgen“ (zao an) notiert. Die Tochter be- Guru“ berühmt. dafür nicht nur Mandarin und Englisch kommt die Vorderseite mit den chinesi- Jetzt macht er sein einziges Kind fürs fließend beherrschen, sondern auch den schen Schriftzeichen entgegengestreckt. 21. Jahrhundert fit, für die Begegnung mit aufwendigen Lebensstil ihrer Zöglinge ma- Das englische Alphabet kann die junge dem roten Drachen. „China wird die nächs- nagen können. „Die Kinder meiner Kun- Amerikanerin ja später noch lernen. „Sie te Supermacht der Welt“, sagt er, „wir den haben mehr zu tun als normale Er- saugt alles auf wie ein Schwamm“, sagt glauben, dass wir etwas sehr Gutes für un- wachsene“, sagt Greenhouse. ihre Mutter. sere Tochter tun.“ Zusammen mit seiner Sechs Monate hat es gedauert, bis Jim Längst haben auch die Industrie und Frau Paige, 37, hat er darum für Hilton ein Rogers und Paige Parker eine Nanny für der Bildungssektor den Trend erkannt: chinesisches Kindermädchen engagiert. ihre Tochter gefunden hatten. Auf ihre An- Spielehersteller haben Sprechpuppen auf Viele Amerikaner haben sich wie Ro- zeigen in US-chinesischen Zeitungen mel- den Markt gebracht, die auf Englisch gers längst darauf eingestellt, dass China deten sich lange nur ungeeignete Kandi- und Chinesisch „Ich heiße Ling“ sagen die USA spätestens 2040 wirtschaftlich und datinnen aus New Yorks Chinatown. „Die können. politisch überholen wird. Deshalb sorgen kommen ja meistens aus ländlichen Ge- Privatschulen wie St. Hilda’s & St. Hugh’s sie jetzt vor für die nächste Generation; genden und sprechen Kantonesisch“, sagt in Manhattan bereiten Mandarinklassen schließlich kann es nicht schaden, wenn Rogers, „das wollen wir nicht.“ Hilton für Dreijährige vor. Die Kleinen sollen da- der eigene Nachwuchs mit den künftig Augusta soll dereinst schließlich mit der mit, so die Direktorin, angemessen auf ihre Mächtigen in der Weltherrschaft dereinst Business-Elite von Shanghai kommunizie- künftige Rolle in der Weltwirtschaft vor- angemessen, also auf Mandarin, kommu- ren. Und die spricht Mandarin. bereitet werden. nizieren kann. Damit nichts schief geht beim Kinder- Doch schon jetzt ist Hilton Augusta in Folglich ist in New Yorks besseren Krei- mädchen-Casting, haben die Eltern außer- jedem Chinarestaurant die große Attrak- sen neuerdings eine „chinese nanny“ dem chinesische Freunde zu den Bewer- tion, wenn sie auf Babychinesisch ihr Essen schick – sehr zum Verdruss der französi- bungsgesprächen hinzugebeten: sozusagen bestellt. Sämtliche Kellner laufen dann schen Gouvernanten, die ihre traditionel- als Sprachpolizei, die verhindern soll, dass herbei, sie lachen, staunen und können es le Vorherrschaft über Manhattans Kinder- Miss Rogers vom falschen Vorbild lernt kaum fassen, dass die jüngsten Abkömm- stuben nicht länger gegen die fernöstliche und sich später womöglich bloß im Gar- linge der globalen Führungsmacht ihre Konkurrenz verteidigen können. küchen-Slang verständigen kann. Sprache erlernen. Frank Hornig

der spiegel 52/2005 91 HEINZ-PETER BADER / REUTERS Lenk: SPIEGEL: Präsidenten gewählt. ten Deutschen zu seinem phie hatLenk 2005alsers- dePhiloso- International achte Kunst“. Das Institut oder Fairness?“ und„Die „Eigenleistung“, „Erfolg gen desSports, etwa in schäftigt ersichmitFra- 25 seiner120Bücherbe- Karlsruhe Philosophie. In anderUniversität lehrt siegerAchter, im 1960 Lenk, 70,Ruder-Olympia- Deutsche Olympia-HoffnungBiathlon: 92 Alfred Weinzierl. Das Gespräch dieRedakteure führten Gerhard Pfeil und gegen Ricaerleben Costa werden? schon, wieundwo SiedasEröffnungsspiel Fußball-WM inDeutschland.Wissen Sie beginnt dasMega-Sportjahr 2006mitder wann esist.Ichhabekeinen direkten Kon- Keine Ahnung,ichweiß nichteinmal, Professor Lenk, inwenigen Tagen Mega-Sportjahr 2006unddengesellschaftlichen Nutzen einerFußball-Weltmeisterschaft, „Sport istschizophren“„Sport über gedopte Helden unddiePlaygirl-Funktion von Tennis-Blondinen Philosophieprofessor undRuder-Olympiasieger HansLenküberdas „Neigung zur Verbissenheit“ SPIEGEL: Lenk: schaft natürlich auchdazu. sprecherei gehört inderMediengesell- Recht-haben-Wollen. dieseGroß- Aber Jammern und im Ankündigen sowie im cherheit nicht!Wir sindWeltmeister im rung: „Wir werden Weltmeister“? MitSi- Fernsehen? terschaft alsonicht ernsthaft verfolgen im Mit dieserpenetranten Selbststilisie- der spiegel SPIEGEL-GESPRÄCH Sie werden dieFußball-Weltmeis-

DORIS POKLEKOWSKI Aufbruch bescheren kann. WM denDeutschen mittels einer erfolgreichen als Hoffnungsträger, der Bundestrainer Klinsmann SPIEGEL: fußballer war. einst erfolgreicher Jugend- „Nein danke“, obwohl ich ball überalles!Dasage ich: gespielt wird. Fußball, Fuß- kel, michzu hoch dasfür ist einFaszinationsspekta- Diese ganze Angelegenheit mehrzumFußball.takt Für manchegilt 52/2005 spektakeln, diesmalaufdeutschem Boden. der Kette von teleökonomischen Super- wird. Esisteinweitereseinflusst Gliedin von Aufschwung mitverursacht oderbe- Und insofern kannessein,dass eine Art produkt wird natürlich davon profitieren. sches Großereignis, unddasBruttoinlands- Lenk: SPIEGEL: Lenk: läufer. langläufer oderRuderer oderMarathon- geradezu lächerlich gegen jedenSki- weist, dasistselbst beiProfis nochheute ein Fußballer ankörperlicher Fitness vor- trainiertnicht anständig sind.Dennwas als obsienichtlaufen könnten, weil sie stellen unddenBall hin-undherschieben, balls, sichwiedereinmalsoblasierthin- die Deutschen,Großathleten desFuß- stückchen derBall-Eleganz!Malsehen,ob sieren, hoffe aufbrasilianische Kabinett- aber nichternsthaft. Ichwerde michamü- Land zuerleben? lichkeit derBürger, dieWMimeigenen Zunächst einmalisteseinökonomi- Natürlich werde ichsieverfolgen, Was dieBefind- bedeutet esfür wie terroristische Akte. vorausgesetzt, esgibtkeine Zwischenfälle Das wird einepositive Wirkung haben– inAthengriechische oderdasitalienische. besserseinwirddeutsche Publikum alsdas zende, faire Gastgeber. Ichdenke, dassdas Deutschen präsentieren könnten alsglän- bei dergrößte Nutzen wäre, wenn sichdie das wird esingewissem Sinnegeben, wo- Nutzen? Wenn SieEhrgefühl meinen,ja, des Geistes gesellschaftlicher nennen.Aber des Volkes, mankönnte esauchDopium nem etcircenses, zweifellos eineArtOpium sind Spieleraus31 Nationen zuGast. Völkerverständigung beitragen? Immerhin Sie sichdasmal beiolympischen End- weiß, dazunichtverpflichtet war. Stellen obwohl dieGegenmannschaft, soweit ich obwohl esdaauchum einiges ging,und ner ausderMannschaft rausgegangen – dann istaufderanderen Seite ebenfallsei- wo einerwegen Verletzung und ausfiel, nere mich aneinenTauziehwettbewerb, Icherin- gab esFair Play imalten Sinne: ger Zeit,daswar wirklich begeisternd. Da Wir hatten diejainDeutschlandvor eini- Games dernichtolympischen Sportarten. alsvielmehrbeidenWorldzu finden Fußball-WM oderbeiOlympischen Spielen ständigungsgeist istheute weniger beieiner Dereigentlicheständnis. sportlicheVer- gehoben sindgegenüber demNormalver- Hochprofis ausgehen kann,diedochab- ser WMinDeutschlandnichtzu? neben demökonomischen –trauen Siedie- Lenk: SPIEGEL: Lenk: SPIEGEL: Fußball-Bundestrainer Klinsmann(voreinerAbbildungderWM-Trophäe): Ich glaube nicht,dasssievonIch glaube diesen ieFßalW isteingroßes Pa- Eine Fußball-WM Einen gesellschaftlichen Nutzen – Kann eineWMheute nochzur „Hauptsache, das Image stimmt“ Tennisspielerinnen Kurnikowa, Hingis SPIEGEL: nutzen. die werden gerade daskaltschnäuzigaus- schaft aucheinerrausgeht. ImGegenteil, den kann,obdannbeideranderen Mann- zung ausfälltundnichtmehrersetztwer- Fußballfinale! Wenn einerwegen Verlet- kämpfen heutzutage vor! Oderineinem sellschaft Fair Play überhaupt möglich? Euro ausgelobt. IstinsoeinerLeistungsge- sche Fußball-Bund jedenSpieler300000 für der spiegel Für denWM-Titel hatderDeut- Sport „Penetrante Selbststilisierung“ 52/2005

BRAINPIX / FACE TO FACE deren Holz alsdieaktuellenStars? ven Zeit wieEmilZátopek auseineman- breitete. sind jaGrotesken –leiderreale undver- res Foul“, was immerdasheißenmag.Das spielen –wenn aucheineinigermaßen „fai- Jugendlichen, siemüssten lernen, foul zu spieler, dieverlangen alsTrainer von ihren Kleinen. Esgibtberühmte Ex-National- SPIEGEL: Lenk: SPIEGEL: Lenk: globalisierten Sportnochzeitgemäß? Sind SymbolewieFahne und Hymne im türkischen Nationalhymne gepfiffen habe. Schweizer der beimAbspielen Publikum sache war angeblich, dassimHinspieldas schen Spielern zueinerKeilerei. EineUr- schluss aufdemWeg indieKabine zwi- kei gegen Schweiz kam esnachSpiel- von Eröffnungs- undSchlussfeier leisten. Länder jaaucheinenBeitrag zurBuntheit ist utopisch. Zumaldiese vielenkleinen Selbstdarstellung nehmenzuwollen diese Weltöffentlichkeit zupräsentieren. Denen da eineMöglichkeit erhalten, sichder Nationen,chenden, neuentstandenen die nen zuwollen. Angesichts deraufbre- schen isteshoffnungslos, sowas verban- monien herunterdimmen sollte. Inzwi- das olympische Protokoll mit seinenZere- Ich habedann1964 gefordert, dassman meinsamen Mannschaft angetreten sind. Deutschen ausOstundWest ineinerge- „Ode andieFreude“, weil damalsdie ne gespielt wurde, sondern Beethovens 1960, wo nichtdiedeutscheNationalhym- eigene olympische Siegerehrung inRom Das Dilemmabeginntjaschonim Ich erinnere michnochanmeine Beim WM-Qualifikationsspiel Tür-Beim WM-Qualifikationsspiel Waren dieHelden ausIhrer akti- 93

MARKUS GILLIAR / GES Sport

Lenk: Ich glaube das grundsätzlich nicht. strong, der nach sieben Tour-de-France- SPIEGEL: Doping ist das Thema unserer Natürlich kann man sich fragen, welche Siegen längst zum Mythos taugte, ist nach Zeit, immer öfter werden Athleten über- Helden bei den letzten oder vorletzten den Dopingenthüllungen um seine Person führt. Dennoch sind die Stadien voll, die Olympischen Spielen aufgetaucht sind, die ohne dunklen Fleck. Einschaltquoten im Fernsehen hoch, im- zu ähnlichen mythischen Figuren werden Lenk: Ich habe seine Autobiografie gelesen mer mehr Sponsoren investieren in den können wie Zátopek. Ich sehe keinen. und war tief beeindruckt. Nach einem Sport. Ist das nicht schizophren? SPIEGEL: Woran liegt das? Krebsleiden sich so zu erholen war eine Lenk: Unsere Gesellschaft ist sowieso schi- Lenk: Höheres Leistungsniveau, viel mehr Art Wunder – so unglaublich, dass es nicht zophren. Im Alltag ist es ja auch so, dass Meisterschaften. Dass einer so überle- möglich schien. fast jeder sich dopt. Sport ist schizophren. gen siegt, ist heute kaum noch möglich. SPIEGEL: Hatten Sie Zweifel an Armstrongs Die Idee, dass er das Idealbild der reinen Vor allem aber wird den Sportlern heute Lauterkeit nach seinem vierten, fünften Gentleman-Konkurrenzgesellschaft dar- eine andere Funktion aufgedrängt, diese Toursieg? stellt, die ist natürlich einerseits schön, Showbusiness-Funktion, diese Playboy- Lenk: Ich dachte eben, dass Armstrong an- aber andererseits entspricht sie nicht der oder Playgirl-Funktion. Diese Art von ders gewesen sei – und in der Tat hat sich Realität. Man würde jedoch auch nicht sa- medienstilisierten Effekten gab es früher das auf eine unerwartete Weise bestätigt. gen, das sechste oder siebente christliche nicht. Ich muss zugeben: Das hat mich geschockt. Gebot ist unsinnig, weil sich kaum noch SPIEGEL: Kann man sich denn heute als erfolgreicher Sportler überhaupt noch wehren gegen diese Vereinnahmung? Lenk: Ich denke schon, dass man es ein we- nig runterspielen, ironisieren könnte. Aber die Sportler genießen ihren Status zum großen Teil ja auch. Sie fühlen sich ge- schmeichelt, und sie ziehen Vorteile dar- aus. Und einige spielen genial auf dieser Klaviatur, gerieren sich als König, als Kai- ser gar. Andere freilich werden in eine Rol- le katapultiert, für die sie absolut nicht ge- eignet sind. Die übersehen oft gar nicht, wie ihnen mitgespielt wird. Sie werden Op- fer ihrer eigenen Karnevalsrolle und der galoppierenden Playboyisierung im Big Business des Spitzensports. SPIEGEL: Viele Sportler schaffen es gerade mal zum Helden für ein Spiel, für eine Wo- che oder allenfalls eine Saison – um dann vom System wie Sondermüll aussortiert zu werden. Lenk: Eine Folge unserer Event-Hysterie. Was den Sport angeht, leben wir eher in einer momentfixierten Erfolgsgesellschaft und weniger in einer echten Leistungs- gesellschaft. Der Schein des Erfolgs nach außen hin spielt manchmal eine größere Rolle als der Erfolg selbst. Hauptsache, das Image stimmt. Denken Sie nur an Anna Kurnikowa, die blonde Tennisspielerin, die nie ein Turnier gewonnen hat, aber Multi- millionärin geworden ist. SPIEGEL: Kürzlich hat Frau Kurnikowa noch einmal ihr Tenniskleidchen überstreifen dürfen, mit der ehemaligen Weltrang- listenersten Martina Hingis gespielt – und damit deren Comeback öffentlich befeuert. Lenk: Das sind Show-Biz-Anbiederungen und -Verführungen oder -Zwänge. Der alte Ratzeburger „Ruderprofessor“ Karl Adam, mein Klassenlehrer, Freund und Trainer meinte: Dieser Verführungen wegen sei die Produktion von Leistungssportlern, die ihre Selbstachtung in ständiger überdurch- schnittlicher Leistung suchen, nicht so hoch. Aber ich zitiere ihn seit fast 40 Jahren. SPIEGEL: Und es ist immer noch aktuell? Lenk: Das ist sogar aktueller geworden, als es damals war. SPIEGEL: Sind Sporthelden dann nicht die falschen Helden, denen die Gesellschaft nachrennt? Nicht einmal ein Lance Arm-

94 der spiegel 52/2005 Leute daran halten. Solche Normen haben sen. Der muss einerseits Höchstleistungen eine Funktion selbst dann, wenn sie oft auf Teufel komm raus erbringen – und soll übertreten werden. Und diese Funktion andererseits fair bleiben und die alten Idea- hat der Sport nach wie vor – insbesondere le vertreten, was letztlich nicht möglich ist. auch für junge und nacheifernde Sportler. Je ernster sich der Spitzensport entwickelt, SPIEGEL: Sie haben schon Mitte der Siebzi- um je mehr Geld oder Anerkennung es ger zur Humanisierung des Leistungssports geht, desto schwieriger wird das mit der als einer der Ersten Dopingkontrollen im Ethik. Das ist ganz klar ein Systemzwang Training gefordert. Wenn der Medikamen- dieser Ellenbogenwettbewerbsgesellschaft. tenbetrug nicht in den Griff zu bekommen SPIEGEL: Da kann man einen Oliver Kahn ist, befürchtet Richard Pound, der Chef der ganz gut verstehen, wenn er dieses „Ich Welt-Anti-Doping-Agentur, werde der bin von allen getrieben“-Gesicht aufsetzt Sport nur noch eine Art gladiatorischer und diese Schwere in seine Stimme legt.

JOEL SAGET / AFP JOEL SAGET Wettkampf sein. Wann ist es so weit? Lenk: Er hätte es nicht nötig, deshalb kann Dopingverdächtigter Tour-Star Armstrong Lenk: Diese Tendenz ist gar nicht zu leug- ich ihn nicht verstehen. Aber ich kann „Das hat mich geschockt“ nen. Und der Athlet ist hin- und hergeris- nachfühlen, wie eine solche Haltung zu- stande kommt. Es gab mehrfach Umfragen bei Olympia-Teilnehmern, ob sie ein nicht aufzuspürendes Dopingmittel nehmen würden, das ihnen zur Goldmedaille ver- hilft, aber die verbleibende Lebenszeit auf nur noch circa fünf Jahre verkürzt. Über 50 Prozent der Befragten würden das Mittel nehmen! Sportler begeben sich in eine Anspannungssituation des „Alles oder nichts“, „Sieg oder Tod!“ Der alte Pytha- goras hat gesagt: Es ist wichtig, bei den Olympischen Spielen teilzunehmen, aber es ist ebenso wichtig, nicht zu siegen – weil die Verführungen oft zu groß sind. Schon in der Antike hat man das also festgestellt. SPIEGEL: Sollte man Kinder und Jugendliche vor dem Spitzensport also eher warnen? Lenk: Das ist eine sehr tiefgehende Frage. Sportferne Organisationen wie die Unesco sollten sich da mal einmischen; die ist ja für die Erziehung zuständig und könnte mit dem IOC und anderen Sport- und Wis- senschaftsgremien Lösungen erarbeiten. Es gibt einen Unesco-Welttag der Philosophie, den ich vorigen Monat zusammen mit den Unesco-Spitzen eröffnete. Warum haben wir keinen Unesco-Welttag des Jugend- sports? Man sollte den Nachwuchs einer- seits bekannt machen mit den Trainings- methoden und dem irrsinnigen Aufwand und ihn, wenn er eine gewisse eigene Nei- gung dazu hat, dann auch heranführen. An- dererseits ist es unverantwortlich, Jugend- liche nur auf eine sportliche Laufbahn hin- arbeiten zu lassen und nicht die schulische, berufliche oder sonstige Ausbildung in an- gemessenem Maße mitzuverwirklichen. SPIEGEL: In sieben Wochen, bei den Olym- pischen Winterspielen in Turin, wird wohl wieder die Hälfte der deutschen Athleten im Staatsdienst sein – bei Bundeswehr, Bundespolizei, Zoll. Ein Erfolgsmodell? Lenk: Warten wir es ab. Bisher war es ja oft so, dass die Deutschen zu Anfang der Sai- son Superergebnisse hingelegt haben, dann später aber versagten. Die Mentalität der Deutschen ist etwas schwierig, sie neigen zu Verbissenheit und sind betreuungsab- hängig in einem System, das dem Verband so eine Bedeutung beimisst. Sie haben nicht die Lockerheit der US-Athleten. SPIEGEL: Professor Lenk, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

der spiegel 52/2005 95 Sport

Vollversammlung der Deutschen Fußball Prozent im Besitz der in Hessen und Nord- FUSSBALL Liga (DFL) den Zuschlag, in den kom- rhein-Westfalen agierenden Kabelgesell- menden drei Spielzeiten alle Bundesliga- schaft Unity Media, demnächst jährlich an In der Begegnungen live im Pay-TV zu übertra- die deutschen Proficlubs überweisen. Al- gen. Bereits tags zuvor hatte sich der acht lein indes werden die Eigner der Unity Me- Mitglieder umfassende DFL-Aufsichtsrat dia, die beiden Private-Equity-Firmen Löwengrube auf Empfehlung des neuen Liga-Ge- BC Partners mit Sitz in Hamburg und schäftsführers Christian Seifert einstimmig Apollo Management mit Sitz in New York, Trickreich pokerten die Kabel- für die Kabelanbieter ausgesprochen. die Lizenzgebühr nicht schultern müssen. betreiber Unity Media und KDG Wochenlang hat das Feilschen um die Denn die Gesellschaft KDG, die mit wertvollsten Sportrechte der Republik die Ausnahme von Hessen, Nordrhein-West- um die Bundesligarechte im Branche in Atem gehalten, und anders als falen und Baden-Württemberg den Rest Bezahlfernsehen – und stachen den früher waren kaum Details aus der Frank- der Bundesrepublik mit Kabelfernsehen Platzhirsch Premiere aus. furter DFL-Zentrale nach außen gedrun- bedient, soll sich demnächst zu 50 Prozent an der Arena GmbH beteiligen – und da- mit eine flächendeckende Versorgung mit Bundesliga-Fußball über Kabel und Satel- lit im Bezahlfernsehen sichern. Der Deal der DFL mit den Kabelbetrei- bern ist eine historische Zäsur – und eine Katastrophe für den bisherigen Liga- Stammkanal Premiere: Noch nie musste der Bezahlsender, der derzeit 3,4 Millionen Abonnenten vorweist, ohne Live-Bundes- ligarechte auskommen. Die Börse kannte keine Gnade – als die Entscheidung vori- gen Mittwoch durchsickerte, brach der Kurs bis nachmittags um 13.45 Uhr um 46 Prozent auf 12,55 Euro ein. Premiere-Chef Georg Kofler und sein Sportvorstand Hans Mahr haben sich ver- zockt. Mehr Geld, tönte der Boss aus Süd- tirol, würde er für die Liga nur locker- machen bei deutlich mehr Exklusivität – in Koflers Welt gilt die „Sportschau“ als der natürliche Feind. Und so offerierte er der DFL zur Deadline der Nachverhandlungen

LARS BARON / GETTY IMAGES BARON LARS am vorigen Dienstag für jenes Szenario Fußball-Übertragung auf Premiere: Die Liga brüskiert rund 300 Millionen Euro pro Jahr, in dem die Samstagspiele im frei empfangbaren on dem Bürohaus in der Münchner gen. Um Durchstechereien aus dem eige- Fernsehen frühestens um 22 Uhr übertra- Löwengrube 12 gingen für den deut- nen Haus vorzubeugen, hatte sich Seifert gen worden wären. Für das Modell mit der Vschen Profifußball bislang keine mit seinen engsten Mitarbeitern gar in ei- „Sportschau“, für das Premiere bislang nennenswerten Impulse aus. In dem Ge- nem ausgelagerten Büro im Steigenberger- rund 180 Millionen Euro jährlich auf den bäude sind eine Kanzlei mit Schwerpunkt Hotel in Frankfurt verschanzt, intern Tisch legt, bot Kofler gerade noch 15000 Verkehrsunfallrecht, eine Zeitarbeitsver- scherzhaft „war room“ genannt. Euro an – aus Sicht der Liga ein Affront. mittlung sowie die Numismatische Abtei- Seiferts diskrete Strategie hat sich aus- Die Kabelbetreiber machten DFL-Mann lung der Privatbankiers Hauck & Aufhäu- gezahlt. Insgesamt kassiert die DFL mit Seifert indes von Anfang an klar, dass sie ser ansässig. dem Verkauf aller Fernseh-, Mobilfunk- auch mit einer Zusammenfassung im Free- Seit einigen Wochen indes residiert in und Internet-Verwertungsrechte zukünftig TV gut leben könnten, die samstags um der Adresse, die nur etwa 300 Meter ent- rund 420 Millionen Euro pro Jahr, knapp 18.30 Uhr beginnt – und verschafften sich fernt ist vom Stammsitz des in die Pleite 120 Millionen mehr als bisher. Für jetzt damit einen enormen strategischen Vor- geschlitterten früheren Fußball-Patriarchen rund 90 Millionen kann die ARD weiterhin teil, weil viele Vereine mit Rücksicht auf Leo Kirch, auch eine Firma namens Arena ihre „Sportschau“ präsentieren, etwa 20 ihre Sponsoren auf die „Sportschau“ par- Sportrechte & Marketing GmbH – und Millionen zahlt das ZDF für die Zweitver- tout nicht verzichten wollten. dieses erst im Oktober eingetragene Un- wertung im „Sportstudio“. Im- Außerdem köderte die ternehmen hat der Kickerszene hierzulan- merhin 40 Millionen kommen Arena GmbH die Liga-Bosse de nun eine wahre Revolution beschert. von der Deutschen Telekom für mit einem schlagenden Argu- Denn die Arena GmbH, hinter der Ka- die Übertragungsrechte im ment: Die monatliche Gebühr belanbieter Unity Media und demnächst Netz, und auch Betandwin ist für Pay-TV-Kunden, die das auch die Kabelgesellschaft KDG stehen, richtig eingestiegen – für die volle Programm Bundesliga bot im millionenschweren Poker um die Verwertung der Auslandsrechte abonnieren wollen, soll zwi- Bezahlfernsehrechte der Fußball-Bundes- macht der Wettanbieter etwa schen 15 bis maximal 20 Euro liga als Konkurrent des bisherigen Platz- 25 Millionen Euro pro Jahr monatlich liegen – wer bei Pre- hirschs Premiere frech mit. locker. miere derzeit alles live aus der Mit sensationellem Erfolg: Vorigen Mitt- Den größten Anteil an dem Liga empfängt, muss 34,80

woch erhielt die Firma, die der Luzerner Deal, weit mehr als 220 Millio- PRESS / ACTION OELSNER STEFAN Euro pro Monat zahlen. Sportrechtemanager Bernard de Roos als nen Euro, wird die Arena DFL-Manager Seifert Marcel Rosenbach, Generalbevollmächtigter vertritt, von der GmbH, derzeit noch zu 100 Diskrete Strategie Michael Wulzinger

96 der spiegel 52/2005 BASKETBALL Himmel ohne Grenzen Die NBA ist ein TV-Renner im Reich der Mitte. Jetzt wollen die Chinesen die eigene Liga stärken – nach amerikanischem Vorbild.

ie Cheerleader tragen goldene Glit- zer-BH und schwenken blau-silber- Dne Plastikpuschel. Aus dem Laut- sprecher ertönen Hammondorgel, Trompe-

ten und Anfeuerungsrufe auf Englisch: / GETTY IMAGES / NBAE SHERMAN DAVID „Defense! Defense!“ – „Abwehr! Abwehr!“ NBA-Gastspiel in Peking: „50 Prozent Wachstum“ Auf dem Parkett kämpfen zwar die „Pe- king Enten“ gegen die „Henan Drachen“ Handy die aktuellen NBA-Ergebnisse emp- spezialisten der Schweizer Firma Infront aus Zentralchina, doch die Regie müht sich fangen können. Und dass die Fans in vie- sollen den Weg ebnen. Alle Vermarktungs- nach Kräften, amerikanische Basketball- len Städten mittlerweile Schuhe, Bälle und rechte sind in ein Joint Venture zwischen atmosphäre in die Sportarena des Stahl- NBA-Trikots kaufen können. Infront und dem Verband geflossen. werks im Westen Pekings zu zaubern. Die Basis dieses Siegeszuges der NBA Das von den Schweizern geführte Un- Im Basketball kennen die beiden Su- legte ein 2,26 Meter großer Mann aus ternehmen darf Chinas Liga in den nächs- permächte keine Berührungsängste: So- Shanghai: Mit dem Wechsel von Yao Ming ten sieben Jahren fast nach Gutdünken ge- wohl die Enten als auch die Drachen setzen zu den Houston Rockets 2002 sind die stalten. Infront entscheidet zum Beispiel, auf amerikanische Profis, der Pekinger sportinteressierten Chinesen endgültig zu welche Sponsoren die 15 Profivereine un- Club hat zudem Mengke Bateer heimge- NBA-Anhängern geworden. Zugleich dient terstützen und wer in den Hallen Reklame holt, einen bulligen Mongolen, der zuletzt Yao, 25, seinem Land als patriotisches macht. Das Unternehmen darf den Clubs noch bei den Cleveland Cavaliers Körbe Aushängeschild. sogar die Farbe der Trikots vorschreiben. warf. Chinas Funktionäre erkoren Yao Ming Mehr Spiele, mehr Show am Rande der Das Joint Venture unterm Korb strahlt zum „fortschrittlichen Modellarbeiter“. Matches, mehr TV-Sendungen, höhere Prä- bis in chinesische Wohnstuben. Nirgendwo Stolz empfing er die Ehrung, die sonst Ei- mien für die Akteure, engere Kontakte zu außerhalb der USA schalten so viele Men- senbahnern und Kohlenkumpel vorbehal- den Fans – so stellt sich Infront die Profes- schen den Fernseher ein, wenn die Riesen ten ist. „Er zeigt das moderne Image der sionalisierung der Liga vor. „Denn Basket- der National Basketball Association (NBA) Chinesen, während er in der internationa- ball“, glaubt Benedikt von Dohnanyi, 29, um Ruhm und Punkte kämpfen. Über 100 len Sportarena ein Patriot ist“, lobten die Infront-Repräsentant in Peking, „hat in NBA-Spiele pro Saison werden vom zen- Kader. China mehr Potential als Fußball.“ tralen Staatsfernsehen und einigen Pro- Noch steht die Liebe der Chinesen zum Basketball in China, da sind sich Ver- vinzsendern live übertragen. US-Basketball im Widerspruch zur Leis- markter und Funktionäre einig, soll so wer- Die Dauerpräsenz hat Folgen: An den tung der eigenen Spieler. International den wie NBA-Basketball im chinesischen Kiosken Pekings liegen allein acht Hoch- dümpelt die Männer-Nationalmannschaft Fernsehen. glanzmagazine und drei Wochenzeitungen auf Platz 14, das Frauenteam rangiert auf „Für die Amerikaner ist das Spiel nicht aus, die kaum ein anderes Thema als die Platz 9. nur Wettbewerb, sondern auch Unterhal- NBA kennen. Das Herz der Chinesen Die Gründe für die bescheidene Bilanz tung“, sagt Li Yuanwei, Generalsekretär schlägt inzwischen heftiger für die Houston sind vielfältig. Erst seit 1995 gibt es in Chi- des nationalen Basketballverbandes. Rockets oder die Boston Celtics als für die na eine Profi-Liga, Schul- und Univer- Er hat sein Büro in der Nähe des Pekin- Guangdong Tiger oder die Shanghai Haie. sitätsmannschaften sind rar, eine Vereins- ger Himmelstempels, wo die zentrale chi- „In China hat der Himmel keine Gren- kultur fehlt. Junge Talente müssen deshalb nesische Sportbürokratie zu Hause ist, die zen“, schwärmt Mark Fischer, Chefreprä- schon früh in den Profi-Clubs anheuern. für ihre konservative Haltung berüchtigt sentant der NBA, die vor drei Jahren ein Wer es nicht schafft, einen der mit umge- ist. Doch Li schwärmt vom American Way Büro in Peking eröffnet hat und sich nun rechnet 20000 bis 60000 Euro dotierten of Sport, von „den riesigen Videowänden“ selbst vermarktet. So kommt es, dass ame- Verträge zu ergattern, hat wegen der stren- in den Hallen, von „VIP-Räumen“ und den rikanische Teams wie die Sacramento gen Zulassungsregeln große Schwierigkei- vielen Kameras, die jeden Slam-Dunk do- Kings und die Houston Rockets Saison- ten, an Schule oder Universität zurückzu- kumentieren, „von unten, von oben, von vorbereitungsspiele aus PR-Gründen schon kehren. Deshalb verwehren viele Eltern der Seite“. mal in Shanghai und Peking austragen, ihren Kindern den Weg in den Berufssport. All diese Elemente würde der ehemali- während sich chinesische Trainer an US- Doch wenn in gut zweieinhalb Jahren ge Universitätslehrer Li auch bei hiesigen Hochschulen weiterbilden lassen in mo- die Olympischen Sommerspiele in Peking Basketballspielen gern sehen. In der Rea- derner Trainingslehre und in Englisch. stattfinden, will Chinas Basketball interna- lität sorgt jedoch ein Heer grau uni- „50 Prozent Wachstum“ im China-Ge- tional konkurrenzfähig sein. Mit Hilfe ihres formierter Polizisten in vielen Hallen da- schäft bilanziert Fischer für das vergange- neuen Trainers, des Litauers Jonas Kaz- für, dass die Zuschauer nicht allzu sehr ne Jahr. Der Mann, der mit einer Chinesin lauskas, soll die Nationalmannschaft unter in Wallung geraten. Li ahnt, dass er ei- verheiratet ist und die Landessprache die ersten sechs kommen. nen weiten Weg vor sich hat: „Die Ameri- fließend beherrscht, hat unter anderem Für das hohe Ziel setzt man auf ausländi- kaner werden noch lange unsere Lehrer dafür gesorgt, dass Chinesen auf ihrem sche Unterstützung. Die Sportmarketing- sein.“ Andreas Lorenz

der spiegel 52/2005 97 Panorama Ausland

BOLIVIEN Getrübte Freude er überwältigende Sieg Ddes Indioführers Evo Mo- rales bei der Präsidentschafts- wahl stellt seinen wichtigsten Verbündeten in der Region, Brasiliens Präsident Lula da Silva, vor ein Problem: Mora- les will die bolivianische Energieindustrie verstaatli- chen; das würde vor allem den brasilianischen Energie- konzern Petrobras treffen.

YURI TUTOV / AFP YURI TUTOV Petrobras ist der größte Multi Sicherheitskräfte bei der Geiselnahme von Beslan (September 2004) im Andenland und erwirt- schaftet etwa 20 Prozent des RUSSLAND Bruttoinlandsprodukts; dazu sind brasilianische Metropo- Sperrwall für Tschetschenien? len wie São Paulo weitgehend it einem Trick will die russische Regie- satz zur Geiselbefreiung weniger als 30 Pro- Mrung vom Versagen der Sicherheits- zent der Gekidnappten um, sagte er unter behörden bei der Geiseltragödie im nord- Berufung auf die makabre Statistik israe- ossetischen Beslan ablenken: Für den 28. De- lischer Sicherheitsspezialisten, gelte eine Ak- zember kündigte Alexander Torschin, der tion als erfolgreich – in Beslan starben 331 Vorsitzende der Untersuchungskommission Menschen oder 27 Prozent aller Geiseln. Die im russischen Parlament, überraschend ei- Russen, doziert Torschin, lebten im Anti-Ter- nen Bericht über die Arbeit des Ausschusses ror-Kampf „unter gleichen Bedingungen wie an. Mitglieder der Beslan-Kommission halten die Israelis“ und müssten daraus „Schluss- das für den Versuch des Kreml, kurz vor dem folgerungen ziehen“. Auch Dmitrij Kosak,

Beginn der Ferien die Diskussion kurz zu Putins Bevollmächtigter im Nordkaukasus, / AP KARITA JUAN halten. Angehörige der Op- war kürzlich nach Israel ge- Indios in La Paz fer klagen, viele der Geiseln reist und hatte den neuen seien im September 2004 Sicherheitswall zu den Pa- von Gaslieferungen aus Boli- nicht von tschetschenischen lästinensergebieten im West- vien abhängig. In den Bau und inguschischen Terroris- jordanland besichtigt. Dass einer Gas-Pipeline zwischen ten erschossen worden, sie Russland ebenfalls eine Mau- den beiden Ländern investier- hätten den Tod gefunden, als er rund um Tschetschenien te der Konzern viel Geld. die Sicherheitskräfte Panzer bauen wolle – wie eine israe- Der brasilianische Präsident und Flammenwerfer einsetz- lische Zeitung berichtete –, Lula hatte den sozialistischen ten. Die Soldaten hatten zu- wies Kosak zurück. Dennoch Koka-Bauernführer trotz der dem die Feuerwehr am Lö- gilt als ausgemacht, dass Mos- Verstaatlichungspläne im schen gehindert. Torschin, kau zumindest Teile eines Wahlkampf unterstützt. Mo- der kürzlich Israel besuchte, Sperrwalls an neuralgischen rales wiederum nannte den

weist solche Vorwürfe zu- / REUTERS NIR ELIAS Punkten am Nordkaukasus brasilianischen Präsidenten rück. Kämen bei einem Ein- Grenzanlage in Israel errichten könnte. sein Vorbild und seinen „großen Bruder“.

SKANDINAVIEN den alarmiert: Ein Terroranschlag in verhaftete die Polizei vor kurzem einen einem der drei nordischen Länder sei Bosnier mit schwedischem Pass, der von Terroralarm im Norden „nur eine Frage der Zeit“, warnt Jörn Schweden aus unter dem Decknamen Holme, Chef der norwegischen Sicher- „Maximus“ junge Muslime für Anschlä- ls das Terrornetzwerk al-Qaida vor heitspolizei. Eingeschleuste Extremisten ge angeworben haben soll. Gleichzeitig Azwei Jahren Norwegen zum Ziel würden die liberalen Gesetze und wurde ein Türke mit dänischen Papie- von Anschlägen erklärte, glaubten viele Aufenthaltsbestimmungen nutzen, um ren festgenommen. Kurz darauf spürte Experten an eine Verwechslung mit Dä- Bombenanschläge vorzubereiten. die dänische Polizei sieben junge Musli- nemark. Schließlich hatte die Regierung Dänische Terrorexperten befürchten so- me mit Wohnsitz in und um Kopen- in Oslo den USA im Irak-Krieg die Un- gar, dass al-Qaida bereits dabei ist, nor- hagen auf, von denen mindestens vier terstützung verweigert, anders als der dische Zellen „scharf zu machen“. Dass „daran beteiligt gewesen sind, einen südliche Nachbar. Inzwischen aber sind die Warnungen wohl berechtigt sind, Terroranschlag vorzubereiten“, so Poli- die skandinavischen Sicherheitsbehör- belegen einige Festnahmen. In Sarajevo zeisprecher Sten Skovgaard Larsen.

der spiegel 52/2005 99 Panorama · Rückblick 2005

DOROTHY STANG Morde in Brasilien, und das sind jährlich schätzungsweise Tod einer 40000, nicht aufgeklärt werden? Missionarin Immerhin, im Fall der Nonne nahm die Gerechtigkeit ihren rasilien ist das fünftgrößte Lauf, zwei Täter sind zu lan- BLand der Welt, immer gen Haftstrafen verurteilt noch riesig sind seine Urwäl- worden, und Lula hat 8,2 Mil- der – Ökologen, die gegen lionen Hektar in Pará zum Raubbau protestieren, fühlen Naturschutzgebiet erklärt – sich wie Sisyphos: Sie bringen auch die Gemeinde Anapu.

stets aufs Neue den Stein ins / PHOTOSELECTION CPA / LFI VINCE FLORES VERNA YU / AFP Rollen, und doch scheint all HAUWA IBRAHIM Ibrahim Gao ihre bewusstseinsbildende GAO ZHISHENG Kärrnerarbeit vergebens. Im Eis. Sein Risiko ist wohl noch gern, mit Brechstangen ge- Februar ermordeten bezahlte Alles, was größer als das Ibrahims, die prügelt, auf den Kopf getreten Killer die Nonne und enga- sich mit den Religionsgelehr- und mit Messern aufge- gierte Umweltschützerin Recht ist ten anlegt, weniger mit dem schlitzt, erklärte ein örtlich Dorothy Stang, eine Missio- Staatsapparat. Dennoch, mit bekannter Einschüchterer den narin aus den USA; auf dem enschenrechte sind für Angst kommt Gao, kommen Zwischenfall zur „IRA-Ange- Weg zu einer Versammlung Mdie einen ein ideologi- auch Chinas Reformer nicht legenheit“. Und kaum war von Kleinbauern in der Ge- scher Kampfbegriff, für ande- weiter: „Hier geht es nicht der Name der katholischen re ein Gerechtigkeitstraum. nur um meine Angelegen- Untergrundorganisation gefal- Um seine Verwirklichung be- heit“, sagt der Anwalt. „Dem len, konnten sich 70 Pub-Be- mühen sich Anwälte wie die Volk bleibt keine Möglichkeit sucher an nichts mehr erin- Nigerianerin Hauwa Ibrahim, mehr, als öffentlich für seine nern. Sie hatten nichts gehört, 37, die dieses Jahr mit dem Rechte einzutreten.“ nichts gesehen und konnten Sacharow-Preis ausgezeichnet leider nichts aussagen. Nur wurde, oder der Chinese Gao MCCARTNEY- mit den fünf Schwestern und Zhisheng, 41. Ibrahim hat SCHWESTERN der Verlobten des Opfers hat- eine ganz und gar atypische te niemand gerechnet. Die Karriere gemacht. Anstatt Die sechs machten mächtig Ärger, for- früh zu heiraten und Kinder derten schärfere Ermittlun- zu gebären, schaffte sie es bis Aufrechten gen, wollten die Schuldigen,

REUTERS zur Universität und wurde die ohnehin jedermann kann- Stang Anwältin. Seither kümmert igentlich war es nur der te, bestraft und im Gefängnis sich die Muslimin, still und Eortsübliche Weg, die sehen. Die sechs machten sich meinde Anapu im Bundes- ohne revolutionäre Attitüde, Scherereien mit der Leiche zu lästig, sie erlangten Ruhm, sie staat Pará wurde sie mit sechs um Nigerianerinnen, die im vermeiden: Als der Gabel- trieben die IRA in die Enge, Schüssen gleichsam hinge- islamischen Teil des Landes staplerfahrer Robert McCart- raubten ihr den Nimbus. Ob richtet. zu Opfern der Scharia wer- ney, 33, am 30. Januar tot vor das Problem aus der Welt Der Fall schlug hohe Wellen. den. Aufsehen erregte Ibra- dem Eingang der Bar „Ma- wäre, wenn sie zwei Täter ab- Stangs Geschwister reisten him, als sie eine zur Steini- gennis’s“ in Belfast lag, nie- knallen ließen, fragte die an, gaben Interviews, Präsi- gung verurteilte junge Frau dergemetzelt von einem hal- IRA-Führung an und holte dent Lula da Silva schaltete namens Amina Lawal rettete. ben Dutzend Kneipengän- sich auf dieses obszöne Ange- sich persönlich ein und ver- Und Aminas gibt es viele in sprach Aufklärung. Das ist Nordnigeria – die Anwältin die Ausnahme in Pará – ob- kämpft deshalb auch für wohl es Hunderte Morde ge- mehr Bildung oder gegen den geben hat, hinter denen oft archaischen Brauch der Be- die Großgrundbesitzermafia schneidung von Mädchen. steckt, kam es bisher lediglich Gao macht ähnlich wenig zu neun Verfahren und drei Aufhebens um seine Tätig- Schuldsprüchen. Denn mit keit, aber er ist stärker im Vi- Korruption, Bestechung und sier des Staates. Unter forma- Einschüchterung verfolgen len Vorwänden zwang ihn die Öko-Spekulanten rücksichts- Regierung in Peking Anfang los ihr Ziel, die Bodenschät- November, seine Kanzlei zu ze und Holzvorkommen in schließen, und entzog ihm für der dünnbesiedelten brasilia- ein Jahr die Zulassung. Gao, nischen Tropenzone auszu- der in Ungnade gefallene beuten. Schriftsteller und Menschen- Pará ist dreieinhalbmal so rechtler vertritt, der sich so- groß wie Deutschland. Was gar für Mitglieder der verbo-

also zählt ein Menschen- tenen Falun-Gong-Sekte ein- JIM BOURG / REUTERS leben, zumal 99 Prozent aller setzte, balanciert auf dünnem McCartney-Schwestern vor dem Weißen Haus

100 der spiegel 52/2006 Ausland

Nation war stolz auf ihre taffe „Attila die Süße“ genannt. Seglerin. Am 4. April 2004 starb Shee- Deutlich schneller noch war hans Sohn Casey; er hatte der Amerikaner Steve Fossett, sich im Bagdader Stadtteil 60, sein Sportgerät allerdings Sadr City um die Bergung konnte auch abheben. In ei- verwundeter Kameraden nem leichten Spezialflugzeug bemüht. Mutter Cindy, eine namens „Global Flyer“, das hagere, eher unscheinbare, wie ein Trimaran der Lüfte aber wortgewandte und enga- anmutete, umrundete er den gierte Person, wollte darauf- Erdball in nicht einmal drei hin Bush zur Rede stellen, Tagen nonstop. Und weil ihm und sei es nur eine Stunde keine kontinentalen Landmas- lang. Sie verlangte Auskunft sen den Weg versperrten, be- darüber, für welchen „ehren- trug seine Strecke nur 36818 werten Grund“ Casey eigent- Kilometer. Fossett, im Haupt- lich sein Leben lassen musste beruf Milliardär, musste laut – der mächtigste Mann der Reglement eine Distanz Welt ließ die lästige Fragerin zurücklegen, die dem Umfang abwimmeln. Also zog Shee- eines Wendekreises entsprach. han Anfang August vor den Minimales Gewicht war die präsidialen Sommersitz in Voraussetzung für seine Un- Crawford, Texas, und cam- ternehmung, also ließ er seine pierte, begleitet von Kameras einstrahlige Maschine vom Leichtbauspezialisten Burt Rutan entwickeln. Sie war mit 13 randvollen Treibstofftanks bestückt, aber ohne Toilette; Fossett benutzte Windeln. Am 3. März landete er auf seinem Startplatz Salina im

CHRIS ISON / EMPICS US-Bundesstaat Kansas – als MacArthur ein neuer Held unseres re- kordversessenen Zeitalters, bot eine Abfuhr. Die sechs ELLEN MACARTHUR als einer, der das Schlagwort wollten Gerechtigkeit und STEVE FOSSETT von der Globalisierung, wie warben dafür bei Tony Blair, auch Ellen MacArthur, mit bei George W. Bush, bei Einmal um die unverfänglichem, sportlichem Hillary Clinton. Die ganze Inhalt füllt. westliche Welt bewunderte ganze Welt plötzlich die McCartney-Sip- CINDY SHEEHAN pe – für die ewig gestrigen eit die letzten weißen VIC HINTERLANG / WPN IRA-Kämpfer ein Fiasko SFlecken auf den Landkar- Mutter der Nation Sheehan ohnegleichen. ten getilgt sind, suchen Aben- Auch die Politiker der ver- teurer nach Alternativen. Ihr in Militärschlag ohne und Journalisten aus aller bündeten Sinn-Fein-Partei ge- Motto: Schneller, höher, wei- ETote, eine weitgehend au- Welt sowie Hunderten rieten unter Druck, den sie ter. Die Britin Ellen MacAr- tomatisierte Intervention zu- Gleichgesinnten, bei 40 Grad an die Aktivisten weiterga- thur, 28, umschiffte beispiels- mindest ohne eigene Opfer – Hitze in Sichtweite von Bushs ben. Dass im Sommer die weise die sieben Meere auf an dieser Utopie arbeiten im Ranch. Landesweit solidari- IRA dann ihren Kampf offi- ihrem Trimaran „B&Q“ in Pentagon ganze Stäbe von sierten sich Kriegsgegner mit ziell beendete und abrüstete, knapp 72 Tagen und unterbot Waffentechnologen. Indes, der Mutter der Nation, die le- war zwar überfällig gewesen, die alte Bestmarke um über die Verhältnisse sind noch gendäre Joan Baez sang zur die Kapitulation aber wohl 32 Stunden. Der Kieler Me- nicht so weit gereift, und Prä- Unterstützung der neuen Pa- auch den kämpferischen teorologe Meeno Schrader sident George W. Bush hat zifisten-Ikone den Klassiker Schwestern zu verdanken. unterstützte ihren 50648 Ki- gerade eingestanden, dass „Where Have All the Flowers Ansonsten haben sie leider lometer langen Marathon mehr als 30000 Iraker seit der Gone“. nicht viel erreicht. Zwei Ver- durch die maritime Einsam- Invasion ihr Leben verloren. Cindy Sheehan wird weitere dächtige sind inzwischen wie- keit mit Wetterdaten und Dass bisher auch rund 2160 Kriege im Namen amerikani- der auf freiem Fuß, fünf wei- Kursvorschlägen. Nur dank US-Boys starben, quält Ame- scher Interessen kaum ver- tere, die mit großem Getöse modernster Kommunika- rika mehr und mehr und un- hindern, aber sie hat das aus der Sinn Fein ausge- tionstechnik war es der rou- tergräbt den Ruf des Präsi- Menschenmögliche versucht. schlossen worden waren, fan- tinierten Einhandseglerin denten. Cindy Sheehan, 48, Ein Gericht in Washington den in Gnaden wieder Auf- möglich, immer hart am ist aus Bushs Sicht eine Ner- hat sie Mitte November we- nahme. Und die McCartneys Wind zu kreuzen. Die Rück- vensäge, vielen Hinterbliebe- gen Teilnahme an einer nicht mussten aus ihrem katholi- kehr am 7. Februar in den nen hingegen gilt sie als das genehmigten Demonstration schen Stadtviertel in Belfast Zielhafen Falmouth geriet Gewissen der Nation. Wegen zu symbolischen 50 Dollar ausziehen, sicherheitshalber. zum Spektakel. Eine ganze ihrer Beharrlichkeit wird sie Strafe verurteilt.

der spiegel 52/2006 101 Ausland

ASIEN Tränen für die Kamikaze Mit seiner Verklärung der Vergangenheit bringt Premierminister Koizumi die Nachbarn gegen Japan auf und isoliert sein Land außenpolitisch. China profitiert davon und übernimmt die Vormacht auf dem Kontinent.

n diesen Tagen lassen sich viele Ja- paner ihr Herz von einem Film wär- Imen, der in der Vergangenheit spielt, die nicht vergehen will. Es geht um todesmutige Soldaten, die gegen eine übermächtige Flotte amerikani- scher Flugzeuge kämpfen. Das Blut spritzt, gewaltige Explosionen betäu- ben die Ohren, Rauch steigt auf, dann versinkt die „Yamato“, damals das größte Schlachtschiff der Welt, im Pa- zifik und mit ihr rund 2500 Kamikaze- Krieger. Nippons Helden im Zweiten Weltkrieg, sie sollen nicht umsonst ge- fallen sein, das ist die Botschaft des Films, und sie kommt gut an. Das Ereignis selbst ist 60 Jahre her. Der japanische Generalstab schickte die „Yamato“ vor Okinawa in den si- cheren Untergang, um die amerikani- sche Invasion auf das japanische Kern- land hinauszuzögern. Daraus entstand der Mythos vom heldenhaften Opfer fürs Vaterland, von dem sich Japaner wie eh und je zu Tränen rühren lassen. Mit diesem Kriegsschmachtfetzen klingt das Jubiläumsgedenken an Krieg und Atombomben, an Niederlage und Besatzung symptomatisch aus. Es war ein Jahr, in dem in Japan von der Reue über die Gräuel, begangen an den asia- tischen Nachbarn, wenig die Rede war, dafür aber viel vom Dank an die Ge- fallenen für Kaiser und Reich. Ihrem Opfermut, so denkt und fühlt offenbar eine Mehrheit, verdankt die zweit- größte Industrienation der Welt ihren Aufstieg nach 1945. So gegenwärtig ist die Vergangen- heit. Denn Japan glaubt sich heute wie- der umzingelt von Feinden. Dazu zählen diesmal nicht die Vereinigten Staaten, die im Gegenteil mehr denn je ein unverzichtbarer Bündnispartner sind, dazu zählen aber die aufstreben- de Weltmacht China und die ehemali- ge japanische Kolonie Korea. Seit geraumer Zeit rüstet Japan nach Kräften auf, militärisch und moralisch. Bei Hiroshima eröffnete unlängst das „Yamato Museum“, in das Erstklässler, mit gelben Mützen und schwarzen Uni- formen, klassenweise strömen. An ei-

ERIKO SUGITA / REUTERS SUGITA ERIKO nem riesigen Modell des gesunkenen Premier Koizumi vor dem Yasukuni-Schrein (in Tokio): Spiel mit dem Feuer Ungetüms wird ihnen beigebracht, wie

102 der spiegel 52/2005 LIU JIN / AFPLIU (L.); (R.) BILDERDIENST / ULLSTEIN REUTERS Antijapanische Kundgebung in Shanghai, japanische Kriegsgräuel in Nanjing (1937): Schändliche Gegenwart der Vergangenheit die Vergangenheit die Gegenwart beflü- Wie kein Premier vor ihm gelt, wie das Wirtschaftswunder nach 1945 versucht Koizumi, sein Land sich auch der Kriegstechnologie verdankt. nach Jahren der Krise auch Nippons Kriegstoten gebührt Ehre und außenpolitisch zu neuer Dank, das hält auch der Ministerpräsident Größe zu führen. Im Zuge für richtig. Fünfmal in seiner Amtszeit seit des Krieges gegen den Ter- 2001 pilgerte Junichiro Koizumi zum Ya- rorismus schickte er 2001 sukuni-Schrein in Tokio, an dem auch die erstmals Kriegsschiffe zum im Jahr 1948 hingerichteten japanischen Einsatz außerhalb Japans in Hauptkriegsverbrecher als shintoistische den Indischen Ozean. Da- Gottheiten verehrt werden. nach entsandte er Truppen Die umstrittene Wallfahrtsstätte beher- in den Irak. Dazu passt, dass bergt auch ein weitläufiges Museum mit er Artikel neun der Verfas- Kriegsflugzeugen, mit Torpedos und an- sung revidieren will, der

deren Reliquien des „Großostasiatischen GETTY IMAGES Japan „den Krieg als sou- Krieges“, wie die Invasion Chinas und der „Yamato“-Besatzung im Film*: Auftrieb für das Feindbild veränes Recht der Nation“ Pazifische Krieg gegen den Westen noch verbietet. Ihn hatte die ame- heute von Patrioten genannt werden. Dass Stücke aus dem traditionellen Kabuki- rikanische Besatzungsmacht 1946 diktiert. kaiserliche Offiziere zum Beispiel 1937 ein Theater und alte amerikanische Western. Mittlerweile kommt den USA Japans Auf- Massaker in Nanjing an bis zu 300 000 Vor allem aber ist er ein eigensinniger Ein- rüstung gelegen, denn Chinas Aufstieg Zivilisten verübten, lastet die makabre zelkämpfer, der sein sonst so harmoniebe- würde die momentan einzige Weltmacht Ausstellung dem chinesischen Widerstand dürftiges Land radikal modernisieren will. um ihr Monopol bringen. an, der japanische Warnungen missachtet Innenpolitisch zieht der große Reformer Koizumi mag in vielen Facetten schil- habe. Koizumi aus dieser Eigenschaft seine Stär- lern – ein Chauvinist, der alte hegemonia- Natürlich löst Koizumi mit seinen Besu- ke. Er übt nicht einmal Rücksicht auf sei- le Träume neu träumt, ist er nicht. Sein chen im Schrein anderswo Zorn und Ent- ne eigene Partei, wenn er das zähe Ge- Spiel mit dem Feuer hat allerdings Konse- setzen aus. Chinas Präsident Hu Jintao flecht der Einzelinteressen durchschlägt, quenzen in ganz Asien. Und ironischer- verweigert ihm bilaterale Gipfeltreffen, das Japan jahrzehntelang lähmte. Er legt weise schwächt er damit die ausgreifenden Südkoreas Präsident Roh Moo Hyun sagte sich ebenso erfolgreich mit mächtigen Ban- Ambitionen, die er für sein Land hegt. eine für Dezember vorgesehene Reise nach kern, Bossen und Politikgrößen an. Geschickt nutzt vor allem China Koizu- Tokio ab. Peking und Seoul haben über Mit seinem Geschichtsverständnis mis Geschichtspolitik gegen den Rivalen. Koizumi praktisch eine diplomatische Qua- schwimmt Koizumi durchaus im Gefühls- So blockt Peking den Anspruch Japans auf rantäne verhängt, so als repräsentiere der strom seines Landes. Als 20-Jähriger habe Aufnahme in den Sicherheitsrat der Ver- nicht Asiens größte Hightech-Nation, son- ihn ein Buch mit Abschiedsbriefen von Ka- einten Nationen ab. Mit 19,5 Prozent der dern einen Pariastaat. mikaze-Fliegern zu Tränen gerührt, lässt Mitgliedsbeiträge ist Tokio nach Amerika Warum provoziert der Regierungschef er verbreiten. „Auch jetzt, wenn mir etwas zwar der zweitgrößte Finanzier der Welt- mit der ergrauten Revoluzzerfrisur die Unangenehmes widerfährt, sage ich mir: organisation, aber die schändliche Gegen- Nachbarn mit seinem nationalkonservati- Versetze dich in die Lage jener Einsatz- wart der Vergangenheit disqualifiziere Ja- ven Gehabe? Trägt der innenpolitische Re- flieger“, sagte der Premier vor vier Jahren pan für globale Mitsprache, argumentierte former, dem die Japaner wie einem Pop- im Parlament. Solche Sätze könnten in ei- die chinesische Führung und stieß damit idol zujubeln, nur kalten Herzens einem nem Buch über Selbstmotivation stehen, auf Zustimmung. weitverbreiteten Sentiment Rechnung, sie können aber ebenso als moralische Le- Kein Zweifel, Japan gibt seinem alten oder ist er wirklich ein Nationalist? gitimation der Vergangenheit zu politi- Feindbild zum eigenen Nachteil neuen Koizumi, 63, ist ein Mann der Wider- schen Zwecken verstanden werden. Auftrieb. Japan-Bashing ist populär, ob in sprüche. Er begeistert sich für Wagner- Pjöngjang, wo Diktator Kim Jong Il seine Opern, gab eine CD mit Hits von Elvis * Schauspieler während der Dreharbeiten zu dem Kriegs- Gottähnlichkeit mit Märchen über den Presley heraus, er schätzt gleichermaßen film. antijapanischen Widerstand legitimiert, ob

der spiegel 52/2005 103 nischen Teilgebilde in die Hemisphäre Chinas an. Paradoxerweise ist nun jene Großmacht, die Japan im Zweiten Weltkrieg bezwang, der einzig verbliebene Bündnispartner von Gewicht im Pazifik: die Vereinigten Staa- ten. „Je stärker die amerikanisch-japani- schen Beziehungen sind, desto geringer ist die Möglichkeit zu Konflikten in dieser Re- gion“, sagte Premier Koizumi, als er seinen Gast George W. Bush in der alten Kaiser- stadt Kyoto empfing. Japan hat kaum eine andere Wahl und investiert auch in die Freundschaft mit den USA. Den Truppeneinsatz im Irak hat die Regierung Koizumi gerade um ein Jahr verlängert. Mit seiner Bündnistreue hebt sich Japan vorteilhaft von Südkorea ab, das sein Kontingent um rund 1000 Soldaten

GETTY IMAGES reduzieren möchte. Zudem verärgert Seoul Partner Bush, Koizumi*: Gemeinsames Misstrauen gegen China und Südkorea die bedrängte Weltmacht mit Forderungen, zum Beispiel damit, dass der Süden im Fall in Seoul, wo der glücklose Präsident Roh Die historische Tendenz ist ziemlich eines Krieges mit dem Norden den mi- gern die Gelegenheit zu moralischer Em- deutlich. Japan verliert in Asien an Ein- litärischen Oberbefehl haben sollte. pörung ergreift. Auch in Peking, wo der fluss, China läuft ihm den Rang ab. Vorbei Wie Japan hegt Amerika mehr und Kommunismus in einen eifrigen Nationa- ist die Zeit des Kalten Krieges, als Japan mehr Misstrauen gegen China und Süd- lismus übergeht, beschäftigt man sich ein- mit dem Transfer von Kapital und Tech- korea. Da ist es nur folgerichtig, dass bei- gehend mit Koizumis Japan. nologie für gute Beziehungen zu China de ihren Sicherheitspakt bekräftigen und Das chinesische Staatsfernsehen stellt oder Südkorea sorgte. sogar ausbauen. Die USA formieren gera- täglich kommunistische Helden vor, die In den letzten Jahrzehnten ist der Gü- de ihre in Japan stationierten Truppen neu. sich damals den japanischen Aggressoren teraustausch mit Südkorea zwar um das Sie wollen rund 7000 Soldaten von der süd- entgegengestellt hatten. Solche Seifen- Achtzehnfache gestiegen, dabei halbierte lichen Insel Okinawa, wo die Besatzungs- opern sind sehr beliebt. Das Feindbild sich aber der Anteil Japans am koreani- macht wenig gelitten ist, auf das pazifische muss auch für die große Politik herhalten, schen Gesamthandel auf 15 Prozent. Ähn- US-Eiland Guam abziehen. Zugleich rückt beispielsweise, wenn Peking es für nötig lich beim Import/Export mit China: Seit damit ein wichtiger Teil der amerikani- erachtet, patriotische Bande mit Taiwan 1980 sank auch er erheblich. schen Armee aus der Reichweite chinesi- zu beschwören. Die Zahlen symbolisieren die Zeiten- scher Kurzstreckenraketen. So räumte Präsident Hu Jintao den 1949 wende. Als der Westen Mitte des 19. Jahr- Welche Rolle die Weltmacht Amerika nach Taiwan geflohenen Nationalchinesen, hunderts China zur Öffnung zwang, erhob dabei Japan zugedacht hat, ist kein Ge- den Kuomintang, kürzlich erstmals ein, sie sich Japan zur asiatischen Vormacht. Ge- heimnis: Es soll ihr regionaler Sheriff sein. hätten an vorderster Front gegen Japan Aber ist Tokio dazu noch imstande? Die gekämpft, die Kommunisten aber nur als Japan soll der regionale Sheriff Selbstisolation trägt jedenfalls nicht zur Nachhut. Der frühere Kuomintang-Führer der Weltmacht Amerika sein. Stärke bei. US-Diplomaten halten zudem Lien Chan stimmte bei einem Festlands- Aber ist Tokio dazu imstande? Koizumis Spiel mit der Vergangenheit für besuch in den Gleichklang ein: „Wir wer- gefährlich. „Es ist etwas frustrierend für den nicht zulassen“, versicherte Lien mit uns, für die USA, wie schlecht die Bezie- Blick auf Japan feierlich, „dass jemand die stärkt durch militärische Reformen nach hung zwischen Japan und China wegen historische Wahrheit verdreht.“ preußischem Vorbild, brach das Kaiser- dieser historischen Fragen geworden ist“, Fast immer werden die Kontroversen reich Stück um Stück aus dem chinesi- meint Christopher Hill, der amerikanische um die Vergangenheit auch aus Gegen- schen Einflussgebiet heraus, von Taiwan Unterhändler bei den Sechsergesprächen wartsinteressen geführt. Im Ostchinesi- bis Korea. Es war wegen seines Militaris- über Nordkoreas Atomprogramm. schen Meer streiten China und Japan um mus und Chauvinismus gefürchtet, es Asien richtet sich neu aus. Die Zugkraft die Ausbeutung von Öl- und Gasvorkom- machte sich mit seinem Rassendünkel in des alten Magneten, der Vereinigten Staa- men. Außerdem konkurrieren sie erbittert Asien verhasst. Nach dem Zweiten Welt- ten, könnte nachlassen. Die Zugkraft des um die Führung im gemeinsamen asiati- krieg hielt der Einfluss Japans in der Re- neuen Magneten, der kommenden Welt- schen Wirtschaftsblock einschließlich der gion an, diesmal wegen seiner Wirt- macht China, ist schon an vielen Ecken Asean-Staaten, der eine große Freihan- schaftskraft. und Enden zu spüren. delszone bilden möchte. Seit der Globalisierung, seit der Wirt- Japan aber wehrt sich unter Koizumi ge- Dabei versucht China, ganz Weltmacht schaftskrise in Tokio, seit dem Zustrom gen den schleichenden Bedeutungsverlust. in spe, die übrigen Länder Asiens – von von Kapital und Know-how aus dem Wes- Das Echo, das er damit in Asien auslöst, Indonesien und Thailand bis Singapur – an ten ist Japan kein Vorbild mehr für die an- schreckt mittlerweile besonnenere Lands- sich zu binden. Außenseiter Japan plä- deren asiatischen Länder. Selbst die Sa- leute auf. Der Ministerpräsident müsse sei- diert dagegen dafür, auch Indien, Neu- nierung des bankrotten Nordkorea regeln ne Außenpolitik überdenken, mahnt der seeland und Australien zu integrieren, um China und Südkorea mittlerweile in eige- Experte Kan Kimura in dem Blatt „Nihon ein Gegengewicht gegen den anschei- ner Regie. Mit dem Bau von Fabriken und Keizai“. Wenigstens sollte Koizumi den nend unaufhaltsamen Aufstieg Chinas zu Straßen und mit viel Geld sind sie die ent- Nachbarländern versichern, dass Japan schaffen. scheidende Stütze für den stalinistischen niemanden militärisch bedrohen wolle – Diktator Kim. Da deutet sich, wie neben- dass die Vergangenheit soweit wirklich ver- * Vor dem Kinkakuji-Tempel in Kyoto, am 16. November. bei, die Rückkehr der beiden korea- gangen ist. Wieland Wagner

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Lewis Libby, den einstigen Stabschef von Agee kennt Havanna noch aus vor- KUBA Vizepräsident Richard Cheney. Ihm wirft revolutionären Zeiten: 1957 feierte der ein Sonderermittler vor, er habe die CIA- abenteuerlustige Jurastudent aus Tampa Agentin Valerie Plame mutwillig enttarnt. in Florida seinen 22. Geburtstag in der Staatsfeind in Von Havanna aus verfolgt Agee vergnügt Kultkneipe „Sloppy Joe’s“. Sechs Monate jede Volte des Washingtoner Skandals. später heuerte er bei der CIA an: „Ich Seine Reiseagentur nimmt mehrere träumte davon, in aufregenden Städten wie Havanna Räume in einem Bürokomplex im Villen- Havanna zu arbeiten.“ Bei zahlreichen Ein ehemaliger CIA-Agent ent- viertel Miramar ein. Agee ist Besitzer und Einsätzen in Lateinamerika erlebte er, Direktor der Firma, die als Offshore-Un- wie der Geheimdienst, immer im Kampf deckte seine Vorliebe für ternehmen auf den Bahamas registriert ist. gegen den Kommunismus, versteht sich, Castros Insel und verdient sein Geld Die Geschäftsidee war ihm in Hamburg gegen unliebsame Regierungen konspi- nun als Reiseunternehmer. gekommen, wo er zuvor gewohnt hatte rierte und zum Putsch animierte. und noch immer ein Apartment besitzt. Er kündigte und begann mit der Arbeit milie McAlevy aus Hoboken, New „Ich bestellte mir immer Bücher bei Ama- an seinem Buch. „Ich wollte die Arbeit der Jersey, war zum allerersten Mal auf zon. Eines Tages dachte ich: So kann man CIA sabotieren“, sagt er, stolz auch nach EKuba, doch der Mann, der ihre Reise doch auch Reisen nach Kuba verkaufen.“ so vielen Jahren. Auf Lesereisen verbrei- organisierte und sie auch in Havanna emp- Das Geschäft ist allerdings kompliziert, tete er Listen mit Agentennamen. Er habe fing, kam ihr irgendwie bekannt vor: ein denn die amerikanische Regierung unter- aber nur Spione auffliegen lassen, die als gutgekleideter, gebildeter Amerikaner mit nimmt viel, um ihren Bürgern den Besuch Diplomaten getarnt waren: „Meines Wis- leicht geheimnisvoller Aura. Nach dem ge- Kubas zu erschweren. Amerikaner, die sens ist nie einer zu Schaden gekommen.“ meinsamen Mittagessen fragte sie ihn leicht dort ihre Dollar ausgeben wollen, ver- Der CIA-Chef George Bush sah das an- befangen: „Sind Sie vielleicht Philip Agee, stoßen gegen das Wirtschaftsembargo und ders. Er warf Agee vor, er sei für den Tod der Autor?“ Ja, entgegnete der schmächti- können mit hohen Geldstrafen belegt wer- des CIA-Stationsleiters in Athen, Richard ge ältere Herr mit charmantem Lächeln. den. Agee lässt seine Kunden über die Ba- Welch, verantwortlich, der 1975 von lin- Philip Agee, 70, war einmal CIA-Agent hamas, Mexiko oder Jamaika ins Land flie- ken Terroristen ermordet worden war. und Schriftsteller, er ist nun Geschäfts- gen; sämtliche finanziellen Transaktionen Welch kommt in Agees Buch allerdings mann und liebt Kuba. Seine Biografie wickelt er über Drittländer ab. überhaupt nicht vor. Barbara Bush wie- macht ihn zum schillerndsten derholte den Vorwurf in ihren unter all diesen Ausländern, die Memoiren und handelte sich ei- auf Fidel Castros Insel ihr Geld nen Prozess ein. „Sie hat sich verdienen. Vor fast sechs Jahren schriftlich bei mir entschuldigt gründete er die Internet-Reise- und die Passage getilgt“, sagt agentur Cubalinda.com in Ha- Agee. vanna. Seither hat er Tausende Die CIA ließ den Abtrünni- Amerikaner ins ideologische gen beschatten, Agenten ver- Feindesland gebracht. wanzten selbst seine Schreib- Weltweiten Ruhm brachte maschine, 1979 entzog ihm die Agee ein Buch ein, das er vor Regierung in Washington den genau 30 Jahren in England ver- Pass. Einige Jahre reiste Agee öffentlicht hatte. Es handelte von mit ungültigen Papieren, bis ein seiner Zeit als Agent in Diensten Anwalt in Hamburg ihm zu ei- der CIA, der er von 1957 bis nem deutschen Reisedokument 1969 angehörte. Es gab einiges verhalf. Der ehemalige Spion zu erzählen, es war mitten im nahm seinen Wohnsitz in der Kalten Krieg, zwischen Kuba- Hansestadt. Seine Frau, die Bal-

Krise, Mauerbau in Berlin 1961 CREUTZMANN SVEN lettlehrerin Giselle Roberge, ar- und der sowjetischen Invasion Ex-Spion Agee: „Ich wollte die Arbeit der CIA sabotieren“ beitete in John Neumeiers Com- in Prag 1968. pagnie an der Hamburger Staats- „Inside the Company: CIA oper. diary“ schaffte es zum Bestsel- Das Reisegewerbe auf Kuba ler. Es war ein skandalöses floriert mittlerweile nicht mehr Werk, denn Agee enttarnte so gut wie vordem. Daran ist das Hunderte Geheimdienstagenten, politische Klima schuld. Der die in Europa ihrem Job nach- amerikanische Präsident George gingen. Der damalige CIA-Chef W. Bush hat die Reisebestim- und spätere Präsident George mungen noch verschärft. „Der Bush nannte ihn einen Verräter. Tourismus aus den USA ist um Ein paar Jahre später, 1982, 90 Prozent zurückgegangen“, erließ Präsident Ronald Reagan klagt Agee. Er hofft jetzt auf den „Intelligence Identities Pro- Kundschaft aus Europa: „Wer tection Act“, der die Preisgabe das sozialistische Modell Kuba der Identität von CIA-Agenten kennen lernen will, muss jetzt zum Verbrechen erhob und die Gelegenheit nutzen“, sagt er. unter Strafe stellte. Das „Anti- Wer weiß denn auch, was Agee-Gesetz“, wie es bald hieß, nach Fidel Castro aus Kuba wird sorgt übrigens gerade wieder – aus der Revolution und natür-

für Schlagzeilen: im Zusammen- / IFA-BILDERTEAM KOUBOU SHASHIN lich auch aus dem Reisebürobe- hang mit der Anklage gegen Straßenszene in Havanna: „Reisen nach Kuba verkaufen“ sitzer Philip Agee. Jens Glüsing

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Schauen Sie in mein Gesicht“ Der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko, 51, über die Schwierigkeiten im ersten Jahr nach der „orange Revolution“, die Folgen seiner Vergiftung, das Schicksal der Timoschenko-Regierung und die Versuche der Opposition, Revanche zu nehmen

SPIEGEL: Die ukrainische Wirk- lichkeit scheint uns komplizier- ter. Warum denn sind die Ma- cher der orange Revolution zer- stritten, fast bis aufs Messer? Juschtschenko: Denken Sie an das komplizierte Verhältnis zwi- schen dem polnischen Premier Mazowiecki und dem späteren Präsidenten Walesa 1989, wenige Monate nach dem Sieg der Soli- darno£ƒ: Für Polen war das nicht weiter schlimm, es wurde trotz- dem ein demokratisches Land, Mitglied der Nato und der EU. Alles andere waren Nuancen. Unsere Mannschaft war gut, aber wir hatten alle nur gelernt, mit vereinter Kraft gegen, nicht für etwas zu kämpfen. Ich habe mein Versprechen gehalten, die wichtigsten Figuren der Revolu- tion in die Regierung zu bringen. Aber als es vom Kiewer Revolu- tionsplatz, dem Maidan, in die Ministerbüros ging, wurde es für manche schwer. Wir haben sie ausgetauscht durch mutigere, vernünftigere, ausgeglichnere Leute. Das war eine Episode,

ALEXANDER KLIMENKO ALEXANDER keine Tragödie. Staatschef Juschtschenko: „Niemand außer mir weiß, wie tief es schmerzt“ SPIEGEL: Wie groß ist die Gefahr, dass Ihr eigener Ruf leidet, wenn SPIEGEL: Herr Präsident, ein Jahr nach dem mentswahl im März, sagen Experten, sie gegen den Mitfinanzier der Revolution, Machtwechsel von Kiew sind viele Ukrainer fordern Strukturreformen. den Schokoladenkönig und kurzzeitigen enttäuscht: Die Führer der „orange Revolu- Juschtschenko: Dann nehmen Sie die Wirt- Chef des Sicherheitsrats, Pjotr Poroschen- tion“ liegen im Streit, das Wirtschaftswachs- schaft: Wir haben einen ausgeglichneren ko, den Patenonkel eines Ihrer Kinder, we- tum hat sich dramatisch verlangsamt, und Haushalt und 2005 voraussichtlich vier gen Bestechung ermittelt wird? Und wenn die Partei Ihres Gegners, des früheren Ku- Prozent Wirtschaftswachstum. In Deutsch- ein Kiewer Börsenchef sagt, es gebe nach tschma-Premiers Janukowitsch, führt in den land wird darüber gestritten, ob man ein wie vor kein Recht und kein Ge- Meinungsumfragen. Was ist schief gelaufen? Prozent erreicht oder nicht. setz im Land, dafür aber jede Menge Kor- Juschtschenko: Was heißt Enttäuschung? SPIEGEL: Vergangenes Jahr hatten Sie zwölf ruption? Sie müssen doch gerecht bleiben: In zehn Prozent. Juschtschenko: Da muss ich Sie korrigieren: Monaten sind die Realeinkommen um 24 Juschtschenko: Wenn ein Land ein ganzes 14 Jahre lang gab es hier kein Recht und und die Löhne um 35 Prozent gestiegen. In Jahr nur mit immer neuen Präsidenten- kein Gesetz, deswegen haben wir die Re- welchem Land Europas gibt es das noch? wahlen und Skandalen beschäftigt ist wie volution gemacht. Die Korruption stammt Das ist ein Verdienst der orange Revolu- wir 2004, bleibt das nicht ohne Folgen. nicht von uns, sie ist auch nicht größer als tion, die Schattenwirtschaft wird beseitigt. Seither wurde nur zögerlich investiert, erst in Weißrussland oder Russland, aber natür- Oder nehmen Sie unsere Sozialpolitik: jetzt steigt das Tempo wieder. Ich hatte lich ist sie ein ernster Tatbestand. Dass es Kinderreichen Familien, alleinstehenden eben ein Treffen mit der Führung der sie auch in meiner Umgebung gibt, hat Müttern oder Invaliden zahlen wir we- Deutschen Bank: 1,8 Milliarden Dollar hat nicht die Opposition gesagt, sondern der sentlich mehr. Warum gab es denn diese sie uns dieses Jahr an Krediten gewährt. Premierminister … Revolution: Weil die Leute spüren woll- Das ist ein Novum für die Ukraine. Die SPIEGEL: … die inzwischen von Ihnen eben- ten, dass man auch anders leben kann. Revolution hat eine völlig neue Grundlage falls entlassene Julija Timoschenko … SPIEGEL: Die sozialen Gaben seien schlich- für das Leben geschaffen, die Lage nor- Juschtschenko: … deswegen sind eine Par- ter Populismus mit Blick auf die Parla- malisiert sich. lamentarische Untersuchungskommission,

106 der spiegel 52/2005 Kommissionen der Generalstaatsanwalt- zu amnestieren, die jetzt poli- schaft und des Innenministeriums gebildet tisch wieder aktiv werden wol- worden – keine von ihnen hat bestätigen len, gegen mich. können, dass es korrupte Handlungen bei SPIEGEL: Dürfen wir Sie trotz- einem der Beschuldigten gab. Aber wer dem fragen, wie es Ihnen ge- Anschuldigungen fabriziert, um dadurch sundheitlich geht? interne Rechnungen zu begleichen, muss Juschtschenko: Urteilen Sie zurücktreten. Das waren tatsächlich Leute, selbst: Wenn ein Mensch seit 14 die auf dem Maidan neben mir standen: Ti- Monaten mit einer Vergiftung moschenko, Poroschenko, Sintschenko … kämpft, die niemand so in der SPIEGEL: … der Chef Ihrer Präsidialver- Welt bisher überlebt hat und waltung. von der niemand außer mir wis- Juschtschenko: Ihr Verhalten kollidierte mit sen kann, wie tief sie schmerzt den Interessen des Staats. und was ihn die Behandlung all SPIEGEL: Haben Sie das Gefühl, dass es ein- diese Zeit kostete, wenn der sam wird um Sie herum? trotzdem seinen Wahlkampf Juschtschenko: Es gibt kein Vakuum: Die durchsteht und nur wenige Wo- neue Regierung arbeitet krisenfrei, der chen im Krankenhaus war – da Wahlkampf für die Parlamentswahl hat be- erübrigen sich doch alle Speku- gonnen. Ich bin überzeugt, dass unser lationen über die Gesundheit. Block Nascha Ukraina auf dem ersten Platz SPIEGEL: Es gibt Gerüchte, dass landet und die demokratischen Kräfte we- hinter dieser Vergiftung dunkle, sentlich mehr als 50 Prozent der Stimmen russische, Kräfte stehen und die erhalten. Ermittlungen auch in dieser Sa- SPIEGEL: Keine Chance für die Mannschaft che deswegen nicht vorankom- von Ex-Premier Janukowitsch, dessen Par- men, weil jede Veröffentlichung tei neuen Zulauf bekommt – jüngst zum das ohnehin komplizierte Ver-

Beispiel durch den wichtigsten Oligarchen, / DPA DOLZHENKO hältnis zu Russland weiter be- den Donezker Milliardär Rinat Achmetow? Feier zum Revolutionsjubiläum*: „Es gibt kein Vakuum“ lasten würde. Juschtschenko: Bei den Kräften der Re- Juschtschenko (schweigt länge- vanche, wie wir sie nennen, wird es nicht POLEN WEISS- RUSSLAND re Zeit): Ich glaube, daran ist mal zu einem Drittel reichen. RUSSLAND zuallererst die ineffektive Ge- SPIEGEL: Viele Ukrainer sind auch deswe- neralstaatsanwaltschaft schuld, gen enttäuscht, weil sie nach wie vor Gra- Kiew die die Ermittlungen nicht vor- benkämpfe mit ansehen müssen. Da darf angetrieben, sondern sie sogar Ihr entlassener Generalstaatsanwalt von Donezk politisch genutzt hat. Die übri- Lwiw einem Impeachment-Verfahren gegen Sie (Lemberg) gen Probleme sind einfach zu sprechen, weil Ihnen der russische Milliar- erklären: Das Wissen über die där Boris Beresowski voriges Jahr 31 Mil- MOLDAU Odessa Dnjepr Wirkung dieses Giftes ist sehr lionen Dollar zugesteckt haben soll. 200 km gering, erst vor zwei Wochen Juschtschenko: Ich habe keinerlei Geld ge- RUMÄNIEN Krim wurden die Untersuchungen in nommen. Ich hatte einen offiziellen Wahl- privaten Labors in Deutschland, fonds, der mikroskopisch überprüft wurde Schwarzes Meer Belgien und Großbritannien ab- und genügend Mittel für meine Kampagne UKRAINE geschlossen. Die Mediziner je- besaß. Außerdem: Ich konnte nirgendwo in Bevölkerung ...... 47,1 Mio. Erdöllieferungen denfalls haben in den zurück- der Ukraine Reklame machen, das Fernse- Wirtschaftswachstum aus Russland ...... ca. 80 % liegenden Monaten eine einzig- hen übertrug keine meiner Reden, in zwei (2005, geschätzt) ...... 4 % artige Arbeit geleistet – ehrlich Dritteln des Landes ignorierte es mich völ- Gaslieferungen und konsequent. Bruttoinlandsprodukt aus oder lig. Wo also hätte ich Millionen ausgeben SPIEGEL: Sie hatten vor einem pro Kopf (2004) ...... 1125 Euro über Russland ...... ca. 75 % können? Was sonst noch finanziert wurde, Jahr schnelle Aufklärung ver- hat keinen Bezug zu meinem Wahlstab. sprochen, in Ihrem Fall wie in SPIEGEL: Ex-Generalstaatsanwalt Piskun dem des geköpften Journalisten droht inzwischen unverhohlen mit weite- Gongadse. Solange das nicht rem belastenden Material und sagt, Sie sei- geschieht, wird niemand an die en schwerkrank nach Ihrer Dioxinvergif- versprochene neue Transparenz tung, in Ihrer Handlungsfähigkeit begrenzt glauben. und deswegen eine leichte Beute für Ein- Juschtschenko: Das ist Aufgabe flüsterer. der Generalstaatsanwaltschaft. Juschtschenko: Wir haben Wahlkampf. Als ich Staatsoberhaupt wurde, Herr Piskun und die Staatssicherheit haben war die Akte Gongadse prak- in keinem der großen politischen Krimi- tisch leer. Dann kam Bewegung nalfälle die Ermittlungen entscheidend vor- in den Fall, weil wir den Zeugen angebracht – ich denke nur an den Fall des Sicherheit versprachen; so ka- ermordeten Journalisten Gongadse, die men erste Aussagen, und einige Wahlfälschungen oder meine Vergiftung. Zeit später konnten wir die Die Staatsanwaltschaft hat sich in letzter mutmaßlichen Mörder festneh- Zeit nur damit befasst, jene Leute politisch men. Am 9. Januar wird der

SERGEY ZHUKOV / AFP SERGEY ZHUKOV Prozess gegen die drei früheren * Am 22. November in Kiew. Politiker Timoschenko, Putin: „Jeden Monat eine Krise“ Polizeioffiziere beginnen.

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SPIEGEL: Wer diese Männer beauftragt hat, Regierung waren dadurch entstanden, dass eine Art Gegen-Maidan. Dadurch sackte ist damit nicht geklärt. dort undurchdachte Entscheidungen ge- das Wirtschaftswachstum in den ersten Juschtschenko: Nein, das ist sicher auch troffen wurden. Sie griff administrativ in acht Monaten dieses Jahres von 6,5 auf mi- viel komplizierter. Aber wenn es vierein- die Wirtschaft ein. nus 1,6 Prozent ab, der Außenhandelssaldo halb Jahre in dieser Sache keinerlei Fort- SPIEGEL: Sie meinen die Begrenzung der fiel von 2,5 Milliarden auf minus 340 Mil- schritte gab, wir aber in nur acht Monaten Benzinpreise, was die russischen Ölliefe- lionen Dollar. die mutmaßlichen Mörder finden – ent- ranten aufbrachte? SPIEGEL: Sie meinen, Julija Timoschenko schuldigen Sie, das ist doch sehr viel. Wie Juschtschenko: Es begann damit, dass alle verfolgte ein ganz anderes Ziel als Sie. viele Teiche mussten wir leer pumpen, wie steuerbegünstigten Wirtschaftszonen auf- Juschtschenko: Ich fühlte wirklich von Tag viele Gräben leer schaufeln, um wenigs- gelöst wurden. Davon betroffen waren zu Tag mehr das fehlende gegenseitige Ver- tens zu dieser Wahrheit vorzudringen. mehr als 500 Wirtschaftsprojekte, die nicht ständnis innerhalb der Mannschaft. Die SPIEGEL: Stimmt denn die verbreitete Be- nur von Gaunern geführt wurden, sondern Leute, die zusammen auf dem Maidan ge- hauptung, dass das Schweigen im Fall Gon- dem Land Nutzen brachten. So entstand standen hatten, sprachen auf einmal nicht gadse Teil einer Absprache mit Ihrem Vor- ein Riss zwischen Führung und Geschäfts- mehr miteinander, sie hörten sich nicht gänger Leonid Kutschma ist – um die fried- welt. Dann begann die Debatte über jene mehr zu, sammelten belastendes Material liche Revolution nicht zu gefährden? 3000 Firmen, die reprivatisiert werden soll- gegen den jeweils anderen – ich musste Juschtschenko: Das ist Unfug. Schauen Sie ten – entgegen meiner klaren Haltung in eine überaus schwierige politische Ent- in mein Gesicht: Was habe ich persönlich dieser Frage. Das trieb unsere Beziehungen scheidung treffen. dafür zahlen müssen, damit die Demokra- zur Wirtschaft noch tiefer in die Sackgas- SPIEGEL: Um Ihren neuen Premier tie Oberhand gewinnt in diesem Land? se. Dann kam die Benzinkrise, die die Prei- Jechanurow im Parlament durchzusetzen, Was also schulde ich Kutschma? se in die Höhe jagte, danach die Fleisch- mussten Sie Ihrem Gegner Janukowitsch SPIEGEL: Julija Timoschenko war die ei- krise, weil durch Zollmanipulationen mehr zugestehen, dass die „politische Verfol- gentliche Ikone der Revolution. Was war als 100 000 Tonnen Hühnchen in die Ukrai- gung der Opposition aufhört“. Darin se- der Hauptgrund dafür, dass Sie Ihre im ne geschmuggelt wurden – um die einhei- hen viele einen Verrat an der Revolution. Land populäre Regierungschefin im Sep- mischen Fleischpreise zu drücken, schließ- Verstehen wir recht: Es wird keine Aufar- tember entlassen haben: Amtsmissbrauch, lich die Zuckeraffäre. Die Ukraine stürzte beitung der Verbrechen aus der Kutschma- ihr Vorpreschen in Sachen Reprivatisie- jeden Monat in eine neue Krise. Ära geben? rung der großen Firmen oder Druck der SPIEGEL: Handelte es sich um einen schlei- Juschtschenko: Im Memorandum mit der Timoschenko-Gegner in Ihrer Umgebung? chenden Putsch gegen den Präsidenten? Opposition gibt es kein Abrücken vom Juschtschenko: Niemand hat Druck auf Juschtschenko: Das war einfach eine stüm- Geist des Maidan, denn die Opposition, um mich ausgeübt, niemand übt jetzt Druck perhafte Wirtschaftspolitik. Der Kurs der ein Wort de Gaulles abzuwandeln – das ist auf mich aus. Es ging um eine politische Premierministerin brachte Zehntausende ebenfalls die Ukraine. Ich war unter Ku- Entscheidung: Die Probleme innerhalb der Menschen auf die Straße, sie organisierten tschma Oppositionsführer, ich weiß, was das heißt. Politische Repressionen Marktwirtschaft erhalten und Verhandlun- wird es hier künftig nicht mehr gen über eine Liberalisierung des Visa-Re- geben. Wir werden niemanden gimes aufgenommen. Und die USA sind belangen, der voriges Jahr ge- dabei, ihre Handels- und Zollbeschrän- zwungen wurde, bei der Präsi- kungen aufzuheben. Ist das wenig? dentenwahl falsche Wahlzettel in SPIEGEL: Weniger als erwartet, der Westen die Urnen zu werfen. Wer aber nimmt weiter spürbar Rücksicht auf Mos- Fälschungen im großen Maßstab kau. Dafür sieht Ihr Außenminister die organisierte, muss vor Gericht. Ukraine nun als „Leuchtturm“ für die Län- SPIEGEL: Julija Timoschenko will der der früheren Sowjetunion. Wird die nach der März-Wahl ins Amt des orange Revolution zum Exportgut? Premierministers zurückkehren. Juschtschenko: Es ist Sache dieser Länder, Und plötzlich sucht Moskau, wo über ihre Demokratisierung zu entschei- es jüngst noch einen Haftbefehl den. Wir haben, wie Deutschland, für die gegen sie gab, das Gespräch mit demokratischen Werte einiges gezahlt. Ich

ihr – zu einer Zeit, da ein neuer KLIMENKO ALEXANDER sehe keinen anderen Mechanismus des Krieg um den Preis russischer Juschtschenko, SPIEGEL-Redakteure* Fortschritts als den Kampf um diese Gaslieferungen in die Ukraine „Mehr erreicht als in zehn Jahren zuvor“ Grundrechte, aber den Drang zur Demo- ausgebrochen ist. Will auch Präsi- kratie kann man nicht exportieren. dent Putin die Revolutionäre vom Maidan gebrauchen. Der aber gibt Ihnen keine SPIEGEL: Wenn Sie aus irgendwelchen spalten und so seinen ungeliebten Amtskol- klare Perspektive für einen EU-Beitritt. Gründen in näherer Zukunft zurücktreten legen Juschtschenko unter Druck setzen? Mehr noch: Nur wenige namhafte west- müssten: Hätten Sie das Gefühl, Sie hätten Juschtschenko: Das ist noch etwas unklar. europäische Politiker tauchten bisher zu etwas Unumkehrbares geleistet? Wenn wir eindeutige Prinzipien der Preis- offiziellen Besuchen in Kiew auf. Sind Sie Juschtschenko: Ich denke: ja. Durch jene bildung bekommen, die denen gegenüber enttäuscht? Ereignisse, die wir die orange Revolution Polen, Tschechien, Moldau, Aserbaidschan Juschtschenko: In zehn Monaten hat die nennen, ist die Ukraine ein anderes Land oder Georgien gleichen, wäre das ein wirt- Ukraine auch hier mehr erreicht als in den geworden. Heute hofft hier niemand mehr, schaftliches Problem. Wenn die Ukraine aber zehn Jahren zuvor, nur Blinde können das durch Wahlfälschung an die Macht kom- eine unverständliche Ausnahme bleibt und ignorieren. Wir haben einen Aktionsplan men zu können, niemand kann mehr Jour- mehr als alle anderen zu zahlen hat, ist das mit der EU, jüngst sogar den Status einer nalisten auf die Knie zwingen. Es gibt kei- ein erstes Zeichen von politischem Druck. ne Rückkehr ins Gestern. SPIEGEL: In dieser Situation könnten Sie * Walter Mayr und Christian Neef in Juschtschenkos Büro SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen gut mehr Unterstützung aus dem Westen in Kiew. für dieses Gespräch. BIALOBRZESKI / LAIF Stadtzentrum von Jakarta: Wahlen sollen entscheiden, ob das Land als Demokratie weiterbestehen kann

INDONESIEN „Die Menschen hier sind leidensfähig“ Der Tsunami hat die Provinz Aceh zerstört, er hat ihr aber auch ein bisschen vom ersehnten Frieden gebracht, den das ganze Land bitter benötigt. Indessen träumt Präsident Susilo davon, sein Reich aus 17500 Inseln in einen gewaltfreien muslimischen Modellstaat zu verwandeln.

reiheit und Demokratie begannen für wusste, dass nach derart heftigen Erd- und vermutlich 230000 Menschen in den Irwandi Yusuf, 45, am 26. Dezember stößen eine gewaltige Flutwelle das Ge- Tod gerissen. Fdes vergangenen Jahres. Er saß im fängnis überrollen könnte und dass ihm Aus dem weihnachtlichen Seebeben ent- Zentralgefängnis von Banda Aceh, es war nicht viel Zeit blieb. Er kletterte auf sein wickelte sich rasch ein Weltbeben, denn genau 7.58 Uhr, als ihn ein schweres Beben Bett zurück, stemmte beide Beine gegen die Katastrophe hatte nicht nur abgelege- aus seinem Bett auf den Zellenboden warf. die brüchige Decke und rettete sich ge- ne Regionen Asiens erfasst, sondern – vor Vor ihm tat sich ein kopfgroßes Loch in der rade noch rechtzeitig auf das Gefängnis- allem in Thailand und auf Sri Lanka – ei- Außenwand auf, durch das er ins Freie dach, bevor die Wassermassen auf ihn zu- nige Traumziele der weltweiten Touristen- schauen konnte. rasten. ströme zerstört. Das globale Entsetzen lös- 287 Gefangene waren auf engstem Raum Was danach geschah, weiß er nicht mehr te einen Tsunami der Hilfe aus – gut zehn zusammengepfercht, allesamt Guerilleros genau. Wenige Minuten später kam der Milliarden Dollar Hilfsgelder wurden für der Bewegung Freies Aceh (Gam), die seit Dachstuhl, an dem er sich festgekrallt hat- den Wiederaufbau der Katastrophenregio- 1976 für die Unabhängigkeit der Provinz te, vier Kilometer weiter landeinwärts zum nen gespendet. Auch über Aceh brachen von Indonesien kämpfte. Irwandi kom- Liegen. Helfer und noch mehr Hilfsversprechen mandierte die Rebellen und war ins Ge- Anders als seine Kameraden im Ge- herein. fängnis gekommen, nachdem im Mai 2003 fängnis überlebte Irwandi eine der größten Von allen Küstenregionen des Indischen Friedensgespräche mit der Regierung ge- Naturkatastrophen, die seit mehr als ei- Ozeans traf es die indonesische Provinz scheitert waren. nem Jahrhundert über Asien hereingebro- Aceh am schwersten. 15000 Tote hatte der Banda Aceh, die Hauptstadt der Unru- chen war. Der Tsunami, den der Erdstoß 30-jährige Unabhängigkeitskrieg bis zu je- heprovinz, liegt auf einem flachen Küs- vor Aceh ausgelöst hatte, war mit unge- nem 26. Dezember gefordert. Jetzt wur- tenstreifen am Meer, und Irwandi ist ein heurer Geschwindigkeit durch den gesam- den in wenigen Wochen 142952 Menschen ziemlich heller Kopf. Ehe er Guerillafüh- ten Indischen Ozean gefegt, hatte in den in Massengräbern beigesetzt, mehr als rer wurde, hatte er Veterinärmedizin an Anrainerstaaten Süd- und Südostasiens 37000 gelten weiterhin als vermisst. 570000 der Universität von Bandung gelehrt. Er verheerende Verwüstungen angerichtet Menschen verloren ihr Zuhause, 90 Pro-

110 der spiegel 52/2005 Ausland zent aller Straßen, Schulen und Kranken- die Hälfte aller Indonesier häuser in der ohnehin bitterarmen Provinz müssen von weniger als zerstörte der Tsunami. zwei Dollar am Tag leben. Und dennoch hat die Katastrophe auch Daneben aber gibt es ein kleines Wunder bewirkt, das inzwi- auch moderne Hightech- schen jeden Mittwochnachmittag im frühe- Metropolen wie etwa ren Gouverneurspalast in Augenschein zu Bandung, und überall flo- nehmen ist: Dann setzen sich im arabisch riert eine freche und agile anmutenden Dekor eines Konferenzrau- Zivilgesellschaft. mes Vertreter des indonesischen Militärs Die ist beispielsweise mit ihrem alten Gegner Irwandi zusam- im Utan Kayu Kulturzen- men und reden über Frieden. trum in Jakarta zu besich- Schon drei Tage nach dem Tsunami, am tigen. Hier sind vor noch 29. Dezember, hatte die Gam einen Waf- nicht allzu langer Zeit die fenstillstand verkündet. Es folgten Frie- Grundlagen für das mo- densverhandlungen unter finnischer Ver- derne Indonesien gelegt mittlung. Acht Monate später, am 15. worden. Im Sommer 1994, August, unterzeichneten die Bürgerkriegs- als Suharto drei Nach- parteien in Helsinki eine Absichtserklä- richtenmagazine verbie- rung, einen der längsten bewaffneten Kon- ten ließ, kauften Journa- flikte Südostasiens zu beenden. listen und Schriftsteller Noch beäugen die erbitterten Feinde die heruntergekommenen von einst einander misstrauisch. Jahr- Häuser mit der Adresse zehntelang hatte die Armee Rebellen ge- Utan Kayu 68 H und foltert, besonders gern mit Hilfe eines ein- trotzten der Diktatur mit fachen Tisches: Dabei wurde ein Tischbein einem Buchverlag. Eine den Opfern auf einen Fuß gestellt, dann linksalternative Szene sprangen vier Soldaten auf die Tischplatte. entstand, und 1998 nah- Die Gam rächte sich, indem sie gefangenen men die Massendemon- Soldaten die Augen ausstach. strationen, die zum Sturz

Vergessen ist das alles nicht. „Die Men- INOONG / AFP des Diktators führten, schen hier sind aber sehr leidensfähig“, Staatschef Susilo: Verhandlungen mit den Terroristen von diesem Ort ihren sagt Generalmajor Supiadin Adi Sa- Ausgang. putra, dem die Garnison auf Aceh Ayu Utami, 37, sitzt im Gartenrestau- Einwohner: 220 Millionen 1000 km unterstand und der nun einen Teil- rant des Zentrums, vor sich eine große Fla- abzug der Streitkräfte leitet. „Aber davon 88 Prozent Muslime sche Bintang-Bier. Die langen, schwarzen wie hätte man angesichts solcher PHILIPPINEN Locken fallen der jungen Frau über die Verwüstung noch weiterkämpfen Banda Aceh entblößten Schultern, das T-Shirt ist weit können?“ Aceh Pazifischer Ozean ausgeschnitten, dazu trägt sie hautenge Jeans. Ayu Utami ist eine auf Java gebore- Es war Präsident Susilo Bambang INDONESIEN Yudhoyono im fernen Jakarta, der ne Katholikin, sie ist Single und will, wie Jakarta einsah, dass das Blutvergießen nie Surabaya die bekannteste Schriftstellerin Indone- aufhören würde, solange er vor- Bogor siens in einer ihrer zahlreichen Zeitungs- Java OSTTIMOR nehmlich den Generälen die Kon- kolumnen verkündete, daran einstweilen trolle über die Unruheprovinz über- Indischer Ozean AUSTRALIEN nichts ändern. Heute redet sie allerdings lassen würde. Er ist selbst ein Ge- nicht über Sex, das Hauptthema ihres Best- neral a. D., seine Brust voller Orden sellers „Saman“, sie moderiert eine Dis- verdiente er sich in zwei langen Kampf- im April zum Gouverneur gewählt wer- kussion über die Ereignisse am 6. August. einsätzen in Osttimor. den. „In Aceh entscheidet sich, ob Susilo An diesem Tag hatten die Islamisten von Als Staatschef hat Susilo eine Vision und als Präsident und Indonesien als Demo- der Front der Verteidiger des Islam ver- einen Alptraum. In seinem Alptraum wird kratie bestehen kann“, sagt di Tiros Spre- sucht, das Kulturzentrum zu stürmen. Ihr er gezwungen, so weiterzumachen wie sei- cher Bakhtiar Abdullah. Angriff galt dem Büro des Netzwerks für ne drei Amtsvorgänger, die in den sechs Das ist sicher nicht die ganze Wahrheit. Liberalen Islam, das in seinen Studien Fra- Jahren nach dem Sturz des Diktators Su- Denn der Tsunami und seine Verwüstun- gen beantwortet wie etwa diese: „Warum harto das Land nicht aus der ökonomi- gen, der Waffenstillstand und der Wieder- der Koran das Kopftuch nicht vorschreibt.“ schen Krise führen konnten. In seiner Vi- aufbau, die Guerilla und die vier Millionen Die liberalen Muslime werben für eine sion macht er aus Indonesien ein demo- Acehnesen sind nur ein kleiner Teil der „grundlegende Neuinterpretation“ ihres kratisches, tolerantes Land, ein Modell für Probleme Indonesiens. In der größten Glaubens. die ganze islamische Welt. So hat er im muslimischen Nation der Welt leben 220 „Ich werde mir von solchen Fanatikern September 2004 die Direktwahl für die Millionen Menschen, von denen fast 90 nicht meine Religion erklären lassen“, sagt Präsidentschaft gewonnen. In Aceh erhielt Prozent dem Islam angehören. Sie vertei- die Netzwerkerin Lanny Octavia, 26. Sie er 70 Prozent aller Stimmen, und der Tsu- len sich auf 17500 Inseln, was das Regieren passt eigentlich gar nicht in diese alterna- nami hat ihn in seiner Vision bestärkt. und die Verwaltung des Landes sicher tive Szene. Seit ihrem Theologiestudium Wenn das Parlament in den nächsten nicht vereinfacht. an der Islamischen Universität im pakis- Wochen ein Gesetz verabschiedet, das die In West-Papua zum Beispiel, größer als tanischen Islamabad trägt sie einen Schlei- Gam als Partei zu den Regionalwahlen Deutschland, leben manche Ureinwohner er. „Der hat aber nichts damit zu tun, was zulässt, könnte Hasan di Tiro, 75, der po- noch in der Steinzeit. Hunderte Sprachen in meinem Kopf vorgeht“, sagt sie. litische Führer der Aufständischen, aus werden auf dem über 5000 Kilometer hin- Offenbar hat sie keine Angst vor den ra- dem Exil in Schweden zurückkehren und gestreckten Archipel gesprochen, und über dikalen Islamisten. „Wir sind gut aufge-

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und bezeichnet sich manchmal als Forscher sehen, sie lesen Zeitung und erhalten eine mit dem Schwerpunkt „radikaler Islam“, moralische Erziehung. Das bringt sie auf dann wieder als Aktivist der Bewegung die richtigen Ideen.“ Darul Islam (Haus des Islam), die seit den Oder auch nicht. In einer Klasse der vierziger Jahren im Untergrund für einen Mittelstufe Eins sollen sie über Osama Bin islamischen Staat kämpft. Laden diskutieren. „Das ist mein Freund“, Chaidar kennt jedes Schlachtfeld der brüllt der 13-jährige Mohammed. Dem Ver- Dschihadisten zwischen Kunduz in Afgha- waltungschef der Schule ist die Antwort nistan und der Gewürzinsel Ambon im peinlich. Allerdings macht er wenig später Osten Indonesiens aus eigener Erfahrung. selbst klar, dass auch er der Überzeu-

JONATHAN PERUGIA / ONASIA.COM JONATHAN Im November sprach er erstmalig über sein gung anhängt, wonach die Anschläge vom Schriftstellerin Ayu Utami Treffen mit Noordin Mohammed Top, dem 11. September 2001 eine amerikanische Bestseller voller Sex steckbrieflich gesuchten Bombenbauer der Verschwörung gewesen sein müssen: „Man Terrororganisation Jemaah Islamiah, die weiß ja, dass keine Juden dabei starben.“ stellt“, sagt sie. Im zweiten Stock des im Oktober 2002 bei ihrem Anschlag auf In Indonesien wächst der engstirnige, mi- Hauptgebäudes arbeiten etwa hundert Bali 202 Menschen tötete. Chaidar nahm litante Islam. Journalisten in drei Schichten an einem im Auftrag der Regierung mit dem Terro- Nun jährt sich der Tag, an dem der Tsu- Radioprogramm, das 18 Stunden täglich risten Verhandlungen auf. nami hereinbrach, und vor allem in der Talkshows, religionskritische Essays und Der Emissär erscheint gegen Mitternacht Katastrophenprovinz Aceh stehen Ge- von der Regierung unterdrückte Informa- in einer menschenleeren Hotellobby und denkfeiern bevor. Ausländische Würden- tionen in landesweit 423 unabhängige erzählt, wie ihn ein paar Mitglieder der Je- träger reisen an, Präsident Susilo will sich Radiostationen einspeist. Im Frühjahr soll maah Islamiah abgeholt, eine Kapuze über persönlich vom Fortschritt beim Wieder- ein Fernsehstudio dazukommen. den Kopf gezogen und zu ihrem Chef ge- aufbau überzeugen. Nicht alles, was er zu Einige Stadtviertel weiter, in Menteng, bracht hätten. 100 Kilometer seien sie sehen bekommt, wird ihn froh stimmen. versammeln sich an diesem Nachmittag die durch die Nacht gefahren. „Noordin hat Die Straßen sind zwar geräumt, und das einstigen Gegner der Netzwerker zu ei- von der Regierung die Freilassung der Bali- Krankenhaus in Banda Aceh ist mit Hilfe nem gemütlichen Plausch. Bomber gefordert und den Abbruch der der Deutschen Gesellschaft für Technische In Menteng wohnen die Reichen und diplomatischen Beziehungen mit den Zusammenarbeit wiederhergerichtet. Aber Superreichen Jakartas. Hinter einer Pfor- USA“, sagt Chaidar und muss selbst den von den 120000 dringend benötigten Wohn- te aus Mahagoni treffen sich einige Vete- Kopf schütteln. Darauf lässt sich Susilo häusern sind zum Jahrestag erst 16500 fer- ranen aus den Geheimdiensten. Namen natürlich nicht ein. So bleibt der Terroris- tiggestellt. Mehr als 107 000 Menschen leben dürfen nicht genannt werden, ansonsten tenchef weiterhin „irgendwo da draußen in noch in Notunterkünften und Zelten. zeigen sie wenig Scheu vor Journalisten. seinem Versteck auf Java“, Was halten sie von Präsident Susilo? „Ein sagt Chaidar. „Und er wirbt Präsident muss in diesem Völkergemisch weiter Selbstmordattentäter immer gegen die Fliehkräfte ankämpfen“, an, auch junge Frauen.“ sagt der Hausherr. Susilos Vorgänger Ba- Die Fahrt von Bogor nach charuddin Habibie habe 1999 „die Wie- Surabaya, der zweitgrößten derwahl vergeigt, weil er die Unabhängig- Stadt Indonesiens, dauert keit Osttimors zuließ“. Sollte es keinen selbst mit dem Expresszug Frieden in Aceh geben oder sollten etwa neun Stunden. Die Fahrt die Papuas einen eigenen Staat fordern, führt vorbei an Reisterrassen, sagt ein älterer Kollege, dann sei auch die- Tempelanlagen, Vulkanen. ser Präsident „kaputt“. Im Großraum der Metropole Die Tropen-Soirée der Geheimdienstler mit ihren 2,7 Millionen Ein- steckt voller Gerüchte und Intrigen. „Hast wohnern sind die meisten Pe- du gehört, dass die Chinesen schon wieder santren des Landes zu finden: ihr Geld aus dem Land schaffen?“, fragt ei- strenge islamische Internate. ner. „Sie haben Angst vor einem An- Die Schule Tebu Ireng zum schlag“, entgegnet ein anderer. „Quatsch“, Beispiel hat der Großvater sagt ein Dritter, „die Inflation von 18 Pro- des ehemaligen Präsidenten zent vertreibt sie.“ Der Hausherr entkorkt Abdurrahman Wahid gegrün- eine Flasche alten französischen Cognacs. det, eine Art Salem muslimi- In Jakarta, der Zwölf-Millionen-Stadt, scher Erziehung. 2000 Jungen werden zwar alle wirklich wichtigen poli- und 200 Mädchen aus gutem tischen Entscheidungen getroffen, aber das Hause erhalten hier ihre Aus- Herz Indonesiens schlägt auf dem Land bildung. draußen, im restlichen Teil von Java. Auf Direktor Yusuf Hasyim ist einer Fläche fast so groß wie Griechenland mächtig erzürnt über die leben hier über 120 Millionen Menschen, Ankündigung der Regierung, 900 auf jedem Quadratkilometer. sie lasse künftig, als vorbeu- In Bogor etwa, berühmt für seinen un- gende Maßnahme im Kampf gewöhnlich artenreichen botanischen Gar- gegen den Terror, Fingerab- ten, gibt es eine ziemlich bizarre Szene po- drücke von allen Pesantren- litischer Extremisten. „Können Sie noch Schülern nehmen. „Als wür- heute Nacht kommen? Ich muss morgen den wir zur Gewalt ansta-

wieder die Terroristen treffen“, heißt es in cheln“, schimpft er. „Dabei / AFP JEWEL SAMAD einer SMS von al-Chaidar. Der Mann ist verhalten wir uns neutral. Moschee bei Banda Aceh nach dem Tsunami (o.), heute (u.) Ende dreißig, spricht gepflegtes Englisch Unsere Schüler können fern- „Nächstes Jahr geht der Aufbau richtig los“

112 der spiegel 52/2005 Leupung ist nur 30 Kilometer von Ban- da Aceh entfernt. Das Dorf liegt gleich hin- ter dem einzigen bedeutenden Industrie- betrieb der Provinz, einem Zementwerk an der Westküste, dort wo der Tsunami mit der größten Wucht über den schmalen Küstenstreifen hinweggerast war. Von den 1476 Dorfbewohnern leben nur noch 378. „Ein paarmal waren Ausländer hier und versprachen, sie würden uns Häuser bau- en“, sagt Sakaria, der Gemeindesekretär von Leupung. Wenig ist bisher geschehen. Die Überlebenden tauchen im Meer nach Metallschrott, den sie dann verkaufen. Vor dem Dorf verkündet eine riesige Plakatwand, dass hier die Straße ins gut 200 Kilometer entfernte Meulaboh von der US-Regierung gebaut wird. Aber wann? Die Sandpiste, die es jetzt gibt, wird die Regenzeit kaum überdauern. Rund sieben Milliarden Dollar sind in den Wochen nach der Katastrophe Indo- nesien versprochen worden, vornehmlich für den Wiederaufbau von Aceh. Die in- donesische Regierung hat Vorverträge in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar mit Hilfs- organisationen und Firmen unterzeichnet, aber erst 2,2 Milliarden sind bis heute auch ausgegeben worden. „Wo ist das viele Geld, das angeblich für Aceh gespendet wurde?“, fragt Chik Rini, 30, eine promi- nente Journalistin. Sie sitzt im Fisch- restaurant „Imperial Kitchen“. Um die strengen Scharia-Gesetze zu umgehen, wird hier das Bier in Teekannen ausge- schenkt. Chik Rinis Elternhaus lag direkt am Ha- fen von Banda Aceh. Weil dort die Eigen- tumsrechte an den Grundstücken noch nicht geklärt werden konnten, ist auch nichts wieder aufgebaut. Allerdings sind die Mieten und Preise für Häuser, die in anderen Stadtvierteln gebaut wurden, in die Höhe geschnellt – vor allem die zahl- reichen Ausländer sind bereit, viel Geld für ihre Unterkünfte auszugeben. Bereits im Mai legte die indonesische Regierung den ersten Generalplan für die Sanierung der Katastrophenregion vor. Dann gründete sie die Wiederaufbau- behörde für Aceh. Den Vorsitz führt seit- her Kuntoro Mangkusubroto, ein früherer Minister für Bergbau, dem der Ruf der Unbestechlichkeit vorauseilt. „Ende De- zember werde ich meinen Haushalt aufge- stellt haben“, sagt Kuntoro, „im nächsten Jahr geht es richtig los.“ Eigentlich dürfte Jakartas oberster Hel- fer im protzigen Gouverneurspalast woh- nen, der dem Tsunami getrotzt hat. Statt- dessen hat er sich am Stadtrand eine klei- ne Villa gemietet. In seinem Garten geht es ziemlich geschäftig zu. Kuntoro verspricht: „Wir werden 78000 Häuser errichten. Das ist hochgegriffen, aber wir werden es versuchen.“ Dann sagt er noch: „Es muss klappen. Ich habe es dem Präsidenten versprochen.“ Jürgen Kremb der spiegel 52/2005 113 Ausland Der bengalische Buddha KALKUT TA Global Village: Handgezogene Rikschas sollen aus Kalkutta verschwinden, weil sie den Fortschritt behindern.

in kleines Apartment kann in Kal- benwiderspruch in seiner kapitalistischen Buddha rechtfertigte sein Verbot mora- kutta, dieser wilden, schwülen Mega- Einflusssphäre sorgt: Er hat zum Jahres- lisch. Dass sich Habenichtse für etwas we- ECity, zweierlei bedeuten: entweder ende jene 18000 handgezogenen Rikschas niger Arme vor aller Augen so ins Zeug puren Luxus oder Minimalkomfort für eine verboten, die in Kalkutta nicht nur ein be- legen, sei „menschenunwürdig“, eine be- bessere Familie. währtes Transportmittel sind, sondern auch sonders verwerfliche Form der Ausbeu- Buddhadeb Bhattacharjee wohnt mit der Lebensunterhalt für ungezählte Pau- tung. Genauso wichtig ist ihm aber, dass Frau und Tochter in anderthalb Zimmern pers, wie Karl Marx sie genannt hätte – die ohnehin schon in die Nebenstraßen und weit unter seinem Niveau, denn er für bodenlos arme Kulis und ihren An- verbannten Männer mit den hornigen Fuß- ist Westbengalens Chefminister. Am Geld hang, für magere Menschen mit zähen sohlen nicht länger seine rosige Zukunfts- liegt es nicht, dass er so beengt lebt, son- Muskelsträngen wie Mukundlal Shah, der vision behindern. dern eher an seinen Überzeugungen – und ein Jahr jünger ist als Buddha und nichts Mögen Ärzte auch einwenden, dass wohl auch an Rücksichten auf die Wähler. gelernt hat außer dieser Knochenarbeit. Krankentransporte durch die labyrinthi- Bhattacharjee führt nämlich ein Links- An guten Tagen verdient Shah umge- schen Slums ohne Rikschas kaum mehr bündnis; sein privater Lebensstil ist eine rechnet zwei Euro. Davon muss er knapp möglich sein werden – Bhattacharjee pocht Frage der Glaubwürdigkeit. ein Drittel an den Eigentümer seines Ge- darauf, Kalkutta müsse dem indischen Das Volk nennt den 61- Hightech-Paradies Bangalore jährigen Politiker nur „Bud- nacheifern. Das nämlich ist dha“. Seit vier Jahren regiert sein wahres Anliegen: Wohl- er den nordostindischen Bun- stand und Wachstum ohne desstaat, dessen 15-Millio- jene Lotterschar von Kulis, nen-Hauptstadt der Makel die auf fremde Investoren einer Elendsmetropole an- unangenehm rückständig, ja haftet. abstoßend wirken könnte. Die selige Mutter Teresa Fast anderthalb Jahrhun- versuchte beharrlich, die derte lang waren die rollen- Tristesse zu mildern. Gün- den Holzböcke in Asien ter Grass schilderte nach ei- nützlich und beliebt. Der nem halben Gastjahr Kal- amerikanische Baptisten- kuttas Zustand in düster ge- Missionar Jonathan Gable tuschten Impressionen. Der soll den Prototyp um 1860 in französische Autor Domini- Tokio ersonnen haben, da- que Lapierre bezeichnete mit seine invalide Frau nicht den Moloch mit trotzigem länger von zwei Sänften- Euphemismus als „City of trägern geschleppt werden Joy“ – und diese Metapher musste. Von Japan aus ver- ist jetzt Programm gewor- breiteten sich die „Jinriki- den: Buddha schwärmt von shas“ („von menschlicher

einer Stadt des heiteren Auf- / AP BIKAS DAS Kraft gezogene Vehikel“) im schwungs und der saube- Rikscha-Kuli in Kalkutta: Menschliche Zugpferde Eilschritt – bis ein Jesuit sie ren Wachstumstechnologien im Indien der zwanziger Jah- – egal wie trostlos es in vielen Vierteln fährts abgeben. Die meisten Rikschas ge- re mit einem Fahrrad kreuzte und so die aussieht. hören Polizeibeamten, und die erpressen Arbeit zumindest etwas kommodierte. Seit 28 Jahren regieren gewählte Marxis- auch noch Bestechungsgelder, etwa wenn Die handgezogenen Exemplare kamen ten den indischen Bundesstaat, eine welt- die Lizenz fehlt. Von einem Apartment bald als Symbole des Kolonialismus in weit einmalige Sache, und Bhattacharjee mit Klimaanlage können die menschlichen Verruf. China schaffte sie schon 1949 ab. bekennt denn auch: „Ich bin ein stolzer Zugpferde nur träumen. Sie arbeiten im Und weil Bhattacharjee als Bewunderer Kommunist. Ich glaube an die marxisti- Schichtbetrieb. Die große obdachlose Mehr- des Reformkommunismus Peking in al- sche Weltsicht, an den Grundwiderspruch heit schläft auf Sammelplätzen („deras“), lem hinterherhechelt, wie Kritiker spotten, zwischen Arbeit und Kapital und an den gekrümmt und chronisch hustend auf den soll nun auch die letzte Rikscha-Hochburg Klassenkampf.“ Brettern der Gefährte. fallen. Er ist sicher, „dass die Amerikaner nicht Lungenkrankheiten, aber auch Alkoho- Vor ein paar Jahren scheiterte ein Ver- das letzte Kapitel der Zivilisationsge- lismus, sind berufstypisch. Kalkuttas „Rik- such, die Karren aus dem Dreck der Stra- schichte schreiben werden, aber“ – und scha-Wallahs“, die letzten lizenzierten in ßen in Kalkutta zu entfernen. Damals diese entscheidende Einschränkung macht Indien, viele älter als 40 und überwiegend wurden jedem Kuli rund 200 Euro ver- derzeit viel Furore in Kalkutta – „ich bin aus dem bitterarmen Nachbarbundesstaat sprochen, der sich von seinem Reproduk- auch Realist. Die Lehre aus dem Kollaps Bihar stammend, bewegen sich auf Atem- tionsmittel trennen würde – keine Rikscha der Sowjetunion und Maos China heißt: höhe mit den Auspuffrohren von Bussen wurde abgeliefert. Reformieren oder untergehen“. und Lastwagen. Besonders während der Und diesmal? Im Frühjahr stehen Wah- Praktisch bedeutet dies, dass der Chef- Monsunzeit sind sie in den schlammigen, len an. Auch Kulis haben Stimmen. minister persönlich für einen neuen Ne- überfluteten Gassen unentbehrlich. Rüdiger Falksohn

114 der spiegel 52/2005 Szene Kultur

LITERATUR Trip zur Selbsterkenntnis n ihrem neuen Roman schildert die Iamerikanische Erfolgsautorin Joyce Carol Oates, 67, etwas mehr als die ganz normalen Schwierigkeiten des Erwach- senwerdens. Es ist eine quälend langsa- me, manchmal alptraumhafte Identitäts- suche, die ihre namenlose Hauptfigur durchmacht. Es ist die – meisterhaft er- zählte – Geschichte einer jungen Frau, die immer wieder dabei scheitert, im prüden Amerika der sechziger Jahre zu sich

selbst zu kommen. Und es ist auch die PRESS KRUG / ACTION FRANZISKA / DPA KIEFER / PICTURE-ALLIANCE STEFAN Geschichte der Autorin, von der es lange Fürstin von Thurn und Taxis, Ausstellungsobjekte im Thurn-und-Taxis-Museum Zeit hieß, sie halte sich aus ihren Texten selbst weitestgehend heraus. Mehr als MUSEEN hundert Bücher hat Oates bisher publi- ziert, alle Jahre wieder wird sie als Kandi- datin für den Nobelpreis gehandelt. Ihr „Das ist unser Erbe“ Entwicklungsroman „Ausgesetzt“ ist der persönlichste. Wie einst Oates wuchs Gloria Fürstin von Thurn und Taxis, 45, im Winter bieten wir Führungen an. Und auch ihre Heldin in ärmlichen Verhältnis- über mangelndes Besucherinteresse an wir machen ein sehr offensives Marketing. sen auf und entkommt der familiären einem Teil ihres Familienerbes, das der Der von der Stadt betriebene Teil war da- Tristesse erst mit einem Hochbegabtensti- Bayerische Freistaat ihr 1993 abgekauft gegen nur zeitweise geöffnet und wurde pendium. In eine elitäre Schwesternschaft hatte, um damit fürstliche Steuerschul- auch nicht sehr intensiv beworben. an der Universität aufgenommen, provo- den von 22 Millionen Euro abzulösen SPIEGEL: Sie können wohl kaum die Leu- ziert sie ihren Rausschmiss – und steht te am Eingang zur Schatzkammer be- vor dem Scherbenhaufen ihrer sorgsam SPIEGEL: Fürstin, 2200 Kunstwerke aus grüßen. Aber was könnte die fürstliche zusammengebastelten Ihrem Besitz hat das Land Bayern erwor- Familie zur Verbesserung der Lage tun? Persönlichkeit: „Wie ben und der Stadt Regensburg für ein Mu- Thurn und Taxis: Wir könnten unsere Or- schlampig genähte seum überlassen. Nun machen sich die ganisation zur Verfügung stellen. Ein Quilts fiel ich ständig Rechnungsprüfer Sorgen, weil pro Jahr nur richtiger Weg wäre sicherlich, die Schatz- auseinander … Trotz- noch 635 Leute die Schatzkammer sehen kammer bei uns zu integrieren. dem hatte ein solcher wollten. Wie wichtig ist Ihnen der ehema- SPIEGEL: Der Freistaat hat die Preziosen Kollaps etwas Tröst- lige Familienbesitz? nun einmal von Ihnen erworben. Die Stadt liches, war eine herbe, Thurn und Taxis: Das ist unser Erbe, und wünscht sich für die Schatzkammer einen bittere Lust.“ Nur gele- das ist uns natürlich sehr wichtig. Audioführer. Wäre es denkbar, dass Sie gentlich deutet sich SPIEGEL: Rund 70000 Besucher besichtig- einen solchen besprechen? schon an, dass es auch ten 2005 das Schloss in Regensburg. Aber Thurn und Taxis: Das habe ich bereits bei das Schreiben ist, was die Schatzkammer interessierte nur die den Audioguides für unsere Museen ge- sie nicht untergehen lässt. Oates’ Protago- wenigsten. Wie erklären Sie sich das? tan. Es ist sehr zeitaufwendig, und wenn nistin rappelt sich wieder auf, um sich als Thurn und Taxis: Die drei Museen, die un- ich mich so stark einbringen soll, dann „Anellia“ neu zu erfinden. „Negerfreun- ter Leitung der fürstlichen Verwaltung ste- würden wir natürlich auch den Führungs- din“ ist der Titel des zweiten Kapitels, hen, sind von April bis Oktober geöffnet, betrieb übernehmen wollen. denn ihr Freund Vernor, nun Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens, ist schwarz – ein kleiner Skandal im rassistischen Syra- Kino in Kürze cuse. Aber bald entzieht er sich ihr; Anel- lia steht wieder vor dem Nichts. Psycho- „Domino“, ein elegantes Model aus England (ge- logisch scharfsinnig, reflektiert und doch spielt von Keira Knightley), hat ihr privilegiertes mit großer Nähe zu den Gefühlen ihrer Dasein satt und sucht Gefahr und Abenteuer in Heldin blickt Oates zurück – und gibt mit rüder Männerwelt: Per Schnellkurs sattelt sie um „Ausgesetzt“ wohl auch den Schlüssel zu auf Kopfgeldjägerin und hetzt fortan mit Raubein ihrem eigenen Werk. Zu sich kommt das Ed (Mickey Rourke) und dessen Kollegen justiz- Mädchen erst im letzten Teil des Romans. flüchtige Tatverdächtige im finstersten Los An- Der totgeglaubte Vater lebt doch noch, geles. Eine bizarre Karriere, angelehnt an die liegt aber in den letzten Zügen. Sie fährt Biografie der rebellischen Tochter von Filmstar allein nach Utah – ein Road-Trip zur Laurence Harvey. Regisseur Tony Scott, ein lang- Selbsterkenntnis, um mit den Geistern jähriger Freund der realen Domino, die nach ihrer Kindheit Frieden zu schließen. Ende der Dreharbeiten zu diesem Film an einer Überdosis Schmerzmittel starb, zelebriert ihre Biografie als eine chaotisch erzählte, sentimenta- Joyce Carol Oates: „Ausgesetzt“. Aus dem Amerika- nischen von Silvia Morawetz. S. Fischer Verlag, Frank- le Action-Dampframme, die letztlich eher stra- FILM CONSTANTIN furt am Main; 336 Seiten; 19,90 Euro. paziert als fasziniert. Knightley in „Domino“

der spiegel 52/2005 115 Szene · Rückblick 2005

KINO Kostengründen: phie Mutter, 42, künstlerisch Wer mit einer vier- um Längen hinter sich lässt. Gegen die Flaute köpfigen Familie ins Noch drängeln sich in den Kino geht, muss oft Charts vorwiegend Marketing- as Jahr 2005 möchten die mehr als doppelt so Stars wie die Schmalspur-Diva Ddeutschen Kinobesitzer viel Geld bezahlen Anna Netrebko oder der Kla- möglichst schnell vergessen: wie für den Kauf vierakrobat Lang Lang. Am Umsatzrückgänge von über einer DVD. Hoff- Klavier beeindruckte der 20 Prozent stürzten die Bran- nungsträger für die Deutsch-Rumäne Herbert che im Sommer in Panik, Filmtheater waren Schuch, 26, mit einer eigen- Theaterschließungen schie- Komödien: „Hitch – nen unvermeidlich zu sein. Der Date-Doktor“ Inzwischen sieht die Bilanz und „Madagascar“

dank Blockbustern wie dem etwa liefen in LIBRARY ART BONN, 2005; BRIDGEMAN VG BILD-KUNST vierten „Harry Potter“-Aben- Deutschland über- Lichtenstein-Bild „In the Car“ (1963) durchschnittlich gut – um gemeinsam zu la- acht Objekte, die Ende des chen, strömen die Menschen 19. Jahrhunderts oder erst im hierzulande eben immer noch vergangenen Jahrhundert in Massen ins Kino. entstanden sind. Doch auch Nebenmärkte versprechen KUNSTMARKT steigende Gewinne. Auktio- nen mit russischer Kunst und Neu vor alt Chinesisches, versteigert in Hongkong, sind der neueste bwohl der Aktienmarkt Umsatzbringer. O2005 erfreuliche Gewin- ne brachte, investierten die KLASSISCHE MUSIK Superreichen in diesem Jahr

UIP weiter auf dem Kunstmarkt. Junger Aufbruch Szene aus „Madagascar“ Teuerstes Gemälde war eine Venedig-Vedute von Canalet- lug, kompromisslos und teuer oder den digitalen Mus- to, die im Sommer bei Sothe- Kerst 22 Jahre alt ist Julia kelspielen von „King Kong“ by’s in London 32,7 Millionen Fischer. Durch gleich zwei zwar besser aus, aber die Kri- Dollar einbrachte. Doch die meisterliche Aufnahmen hat se ist noch nicht vorbei. Ver- Altmeister haben längst die Geigerin sich dieses Jahr antwortlich für den Zuschau- scharfe Konkurrenz: Roy an die Spitze gespielt. Erst Fischer erschwund machen Experten Lichtensteins gerade mal 42 überzeugte das Energiebündel die enttäuschende Jahrespro- Jahre altes Pop-Bild „In the mit Bachs Sonaten und Parti- ständigen Gegenüberstellung duktion Hollywoods und die Car“ brachte es bei Christie’s ten; wenig später kam eine von Schumann und Ravel. Popularität der DVDs. Viele in New York auf den Rekord- glasklare Interpretation von Altmeister John Eliot Gardi- Konsumenten ziehen das zuschlag von 16,3 Millionen Mozart-Violinkonzerten her- ner überraschte die Fachwelt Heimkino inzwischen der Dollar. In den Top Ten der aus, die den Manierismus des sogar mit der Aufnahme einer Leinwand vor – auch aus teuersten Kunstwerke waren Publikumslieblings Anne-So- unbekannten Bach-Arie.

AUTOREN Deutsche Bestseller er deutsche Buchmarkt ist als Oase für ausländische DLiteratur bekannt – und auch im zurückliegenden Jahr gab es eine stattliche Zahl bemerkenswerter, zum Teil hervorragend übersetzter Romane, ob von Philip Roth, John Updike, Zeruya Shalev, Ian McEwan, Alan Hollinghurst, Kazuo Ishiguro oder vom diesjährigen Frie- denspreisträger Orhan Pamuk. Nun aber geht auch die deutschsprachige Literatur auf Erfolgskurs – und dieses Mal nicht mit der altbekannten

Grass-Walser-Garde: Im Frühjahr erklomm Wilhelm Ge- RÜCKER / NEON TOBIAS OHLBAUM ISOLDE nazino, 62, mit seinem eigenwilligen Roman „Die Lie- Kehlmann Geiger besblödigkeit“ die SPIEGEL-Bestsellerliste, und seit Wo- chen tummeln sich die jungen Romanciers Daniel Kehlmann, 30 zumindest auf dem deutschen Markt gar mit Dan Brown, Ken („Die Vermessung der Welt“), und Arno Geiger, 37 („Es geht uns Follett und Joanne K. Rowling auf. Begleitet werden die beiden gut“), unter den ersten zehn der Verkaufsrangliste und nehmen es anspruchsvollen Dichter – ebenfalls schon seit Wochen – von der

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SYMBOLE Freude an der Frauenkirche or den Trümmern der Frauenkirche in Dresden, am 19. De- Vzember 1989, hielt als Bundeskanzler eine Rede zur deutschen Einheit. Er war umgeben von einem Meer von Fahnen und von einer Wiedervereinigungseuphorie, die ausgesprochen haltbar wirkte – sie war es nicht. Die Begeiste- rung wich bald einer Einheitsverzweiflung, die sich als überaus hartnäckig erwies. Nun aber, am 30. Oktober 2005, über 15 Jah- re nach dem Zusammenschluss, war auf einmal alles anders. Wieder gab es Freudentränen auf dem Platz vor der Frauenkir- che, die Dresdner feierten gemeinsam mit anderen Deutschen aus Ost und West die Weihe der im Zweiten Weltkrieg zerstör- ten und nun vollständig wiederaufgebauten Kirche. Der lange, aufwendige Akt der Rekonstruktion galt als Symbol der Bewäl- tigung deutscher Spaltung. 100000 Menschen versammelten sich vor der Kirche, mehr als 250000 Besucher aus dem In- und Ausland haben die Kirche bisher besichtigt, 370000 seit Februar die Kuppel bestiegen. Zum 11-Uhr-Gottesdienst an den Sonnta- gen kommen in der Regel 3000 Besucher, 1000 müssen abgewie-

sen werden. Und es wird auch weiterhin gespendet: täglich rund / REUTERS SCHWARZ TOBIAS 3500 Euro, diesmal für den Erhalt der Kirche. Dresdner Frauenkirche am Tag der Weihe (30. Oktober)

THEATER seur Johan Simons trium- terabend, der die Zuschauer Banhart oder CocoRosie, vor phierte beim Berliner Thea- packt, erschüttert und zu Trä- allem aber die New Yorker Nacherzählter Sex tertreffen 2005 mit seiner Ver- nen rührt wie eben schon lan- Balladenband Antony and sion der „Elementarteilchen“ ge keine Aufführung mehr, in The Johnsons. Deren gefeier- ald werden sie wieder alle von Michel Houellebecq, die der Texte von Goethe, Shake- tes Melancholie-Popalbum Bganz brav Goethe, Shake- ursprünglich in Zürich her- speare oder Peter Handke ge- speare und Handke spielen auskam und inzwischen in sprochen wurden. auf deutschsprachigen Schau- den Münchner Kammerspie- spielbühnen statt dauernd len zu sehen ist. Kühl befreit MUSIKGESCHÄFT Kaurismäki und Thomas Simons den Text von allem Mann und Houellebecq – Ballast und lässt seine Schau- Coole Exzentriker aber noch sind Film- und Ro- spieler von wüst ausufernden manbearbeitungen schwer in Sexgelagen und schlimmer ndlich ist deutsche Popmu- Mode. In diesem Jahr feierte Seelennot erzählen, ohne Esik wieder spannend ge- diese Mode ihren späten, dass sie je lächerlich, peinlich worden. Dank der von jungen aber wohl stolzesten Erfolg: oder pornografisch wirken. Sängerinnen dominierten Er-

Der niederländische Regis- Durch minimale Blicke, Ton- folgsbands Juli, Silbermond PRESS / ACTION NIEDERMÜLLER THOMAS fall, Gesten machen vor allem oder Wir sind Helden wagen Silbermond-Sängerin Stefanie die beiden herausragenden sich plötzlich jede Menge hei- Debüt-Krimi-Autorin Leonie Schauspieler im Zentrum mische Nachwuchskräfte an „I Am a Bird Now“ ist ein Swann, 30 („Glennkill“), dem (André Jung und Robert den Start. Als Überraschungs- Meisterwerk und wurde unterhaltsamen Jan Weiler, 38 Hunger-Bühler) spürbar, wie coup erwies sich vor allem die überraschend sogar mit dem („Antonio im Wunderland“), trostlos die Geilheitsexzesse Magdeburger Band Tokio Ho- britischen Mercury Prize aus- und der unvermeidlichen Su- dieser Verlorenen sind – und tel, deren Sänger nicht nur mit gezeichnet. Die beste Wirt- sanne Fröhlich, 43 („Familien- dabei gelingt ihnen ein Thea- dem Hit „Durch den Monsun“ schaftsnachricht des Jahres: packung“). Kehlmann und Wei- beweist, dass puber- Immer mehr Menschen sind ler haben jetzt als einzige tierende Jungs bereit, für das Runterladen deutschsprachige Bestseller- manchmal die besse- solch schöner Musik aus dem autoren mit einer Neuerschei- ren Mädchenstim- Internet Geld zu bezahlen. nung 2005 sogar den Sprung men haben. Interna- Als ökonomischen Triumph- auf die Jahresbestsellerliste tional dominierten zug ohnegleichen kann Rob- (siehe Seite 127) geschafft – Großereignisse wie bie Williams die Punktlan- Frank Schätzings Roman „Der die Afrika-Benefiz- dung mit neuem Album und Schwarm“ ist Longseller seit spektakel Live 8 und gefragtem Vorverkauf seiner Frühjahr 2004. Neuerdings mel- Madonnas Rückkehr Tourneekarten verbuchen – den auch ausländische Verlage in den Showzirkus auch wenn die neuen Lieder wieder ihr Interesse an: Von das Popjahr. Lieblin- eher mau sind, regiert er Kehlmanns Roman wurden ge der Kritiker aber Europas Popwelt so souverän

schon 15 Lizenzen verkauft. / BR VSP waren coole Exzen- wie einst nur die Beatles und Inszenierung „Elementarteilchen“ triker wie Devendra der Schweden-Vierer Abba.

der spiegel 52/2006 117 Stunden schwerverletzt gerettet wurden. Towers begraben understnach 22bzw. 13 Pena), dieunter denTrümmern derTwin Cage) undWilliam J.Jimeno(Michael John McLoughlin(gespielt von Nicolas schichte derbeidenNew Yorker Polizisten Studios,verfilmtta Stone diewahre Ge- tember 2001. bruch desWorld Trade Center am11.Sep- geren US-Geschichte –demZusammen- delt vom tragischsten Fall Event derjün- einesstehtnoch nicht.Aber fest: Erhan- EinenTitelfliehen. hatderFilm bislang schen auseinemeinstürzenden Gebäude bereitet eineEinstellung vor, inderMen- in derLuft. Noch nicht.Stones Filmteam befreien.Staub Dabeiliegtgarkein Staub durch dieHaare, alsmüsste ersievom Oliver Stone undfährtsich mitderHand fällt nichtum. das Schildzittert nach.Doches nochkurz stürzt. DannbrichtderTon jähab,und klingen, wenn derHimmelaufdieErde infernalischen Lärm steigert –somusses ein tiefes Grollen, dassichschnellzueinem des Herbstes an:Fall Event 2001.Daertönt schäfts preist einSchildModeereignis fensterscheiben. InderAuslage einesGe- D Darsteller CageimOliver-Stone-Film überden11.September: 118 Oliver Stone diewahre Geschichte zweier Polizisten, dieimSchutt desWorld Trade Center überlebten. Mitten in LosAngeles, indenPlaya Vis- Einige Meter weiter steht derRegisseur Lange galten dieAnschläge vom 11.September inHollywood alsTabu-Thema –nunsindmehrere die Scherbenzerborstener Schau- sertropfen fallenvon derDecke auf ie Mallistwieausgestorben. Was- Zwei Männer, zweiTürme Leinwand-Epen überdieKatastrophe inArbeit.InLosAngeles verfilmt Regisseur konstruiert, ist in Arbeit.Auch das US- und demEinsturz deszweiten Turms re- ersten Flugzeugs insWorld Trade Center das dieZeitzwischendemEinschlag des Adaption desSachbuchs„102 Minuten“, tastrophe Frau undKinder verliert; eine einen Familienvater spielen,derinKa- wickelt weitere ausihrgleich Filme. wood siehtdasoffenbar genauso undent- Tages die„DNA für unserer Zeit“. Holly- kommen –Stones Film erstimAugust. kommenden Jahres soll„Flight 93“ insKino ten zurWehr gesetzt hatten. EndeApril nachdem Passagiere sichgegen dieTerroris- September über Pennsylvania abstürzte, Flugnummer jenerMaschine,dieam11. don denFilm „Flight 93“ –solautete die grass („Die Bourne Verschwörung“) inLon- Zeitdrehtgleichen derBrite Paul Green- auf dieLeinwand bringt.“ nicht derErste sein,derden11.September „Ich willgarkein Pioniersein!Ichwill zeuge. Stone blicktnachobenundstöhnt: däre Milliardär Howard HugheseinstFlug- stehen, entwickelte undbaute derlegen- gen von Teilen desWorld Trade Center gen Hallen,indenennundieNachbildun- Spuren einesPioniers. Dennindenriesi- schreitet derHüneStone zurTat –aufden In „Reign O’er Me“ wird Adam Sandler Greengrass hältdieEreignisse jenes Das wird erwohl auchnicht.Dennzur Breitbeinig undmitschwerem Gang der spiegel Demut vor den Opfern Kultur KINO 52/2005 US-Präsident Busham14.September 2001vor Selbst beiKomödien wie„Zoolander“, der 11.September war alsFilmsujet tabu. Action seifortan passé,hießesdamals, gehalten undderGewalt abgeschworen. Hollywoods Studiobosse2001nochinne- TV-Filme undSerienüberdasEreignis. Fernsehen produziert gerade zahlreiche FOTOS: UIP / PARAMOUNT Nachbau vonGround Zero inLosAngeles: Unter demSchockderAnschläge hatten Ein beklemmendes Labyrinth des Todes Regisseur Stone bei den Dreharbeiten in New York: „Großes griechisches Drama“

die vor den Anschlägen gedreht worden habe geantwortet: ‚Die Welt wird sich än- me sind mit Staub bedeckt, über den As- waren, wurden die Twin Towers aus den dern – Hollywood nicht.‘“ phalt wehen Tausende Aktenblätter. Eines Bildern digital entfernt – angeblich aus Nun hat Hollywood dem Regisseur etwa ist ein Lieferschein. Darauf steht: „Für Rücksicht auf die Gefühle der Zu- 60 Millionen Dollar gegeben, um die Ka- Schäden, die bei der Auslieferung nicht schauer. tastrophe zu rekonstruieren. Auf dem angezeigt wurden, übernehmen wir keine So blieben Hollywood-Filme über den Gelände des Studios lässt Stone Ground Verantwortung.“ 11. September und seine Folgen eine Ra- Zero nachbauen, jene bizarr in den Him- Da ertönt ein Geräusch. Ein Flugzeug rität. Bisher wurde vor allem die Opferbe- mel ragenden Ruinen, die zum Inbild ter- fliegt über das Studio. Es kreuzt gerade ei- reitschaft der New Yorker Feuerwehrleute roristischer Zerstörung und amerikani- nen Kondensstreifen, den eine andere Ma- gewürdigt: etwa 2002 in Jim Simpsons Ad- scher Verwundbarkeit wurden. Der Dekor schine zuvor in den blauen kalifornischen aption des Theaterstücks „The Guys“ von wirkt beklemmend wie ein Labyrinth des Himmel gezeichnet hat. Nein, dieser Luft- Anne Nelson. Doch nun scheint Amerikas Todes. Zwei Arbeiter schweißen gerade verkehr gehört nicht zur Produktion. Viel- Filmindustrie das kommerzielle Potential Metallträger zusammen – mit jedem Fun- mehr liegt der internationale Flughafen der Katastrophe zu erkennen – und die kenbogen schießen einem die Bilder der von Los Angeles nur wenige Kilometer Pietät zu vergessen. damaligen Rettungsaktionen wieder durch entfernt. Man empfindet ihn als Gefahren- „Kurz nach den Anschlägen rief mich den Kopf. quelle, unwillkürlich richtet sich der Blick ein Reporter an“, erinnert sich Stone. Einige hundert Meter weiter zertrüm- immer wieder nach oben, wie von selbst „Und als Erstes fragte er mich tatsächlich, mert ein Baggerführer mit seiner Schaufel zieht sich der Kopf ein. welche Auswirkungen sie auf Hollywood das Führerhaus eines Feuerwehrautos – für Der 11. September hat Wahrnehmungs- haben würden. Statt das Ereignis emotio- eine Szene, die unweit des zusammenge- muster verändert und konditionierte Re- nal auf sich wirken zu lassen, dachte er stürzten World Trade Center spielt und flexe hinterlassen – selbst bei Menschen, schon sofort an die Konsequenzen. Ich bald gedreht werden soll. Künstliche Bäu- die das Ereignis am anderen Ende des Erd- balls vor dem Fernseher verfolgt haben. „Jeder Zuschauer unseres Films wird emo- tional vorbelastet sein“, sagt Michael Shamberg, zusammen mit seiner Partnerin Stacey Sher und dem Deutschen Moritz Bormann Produzent des Films. „Die Bilder vom 11. September überstiegen unsere Vorstellungskraft, wirkten irreal. Viele von uns fühlten sich an Kinofilme erinnert. Nun versuchen wir einen Film zu machen, der möglichst real wirken soll – eine echte Herausforderung.“ Alle an diesem Film Beteiligten üben sich in Demut vor der Katastrophe und ihren Opfern. Ein paar Kilometer entfernt steht das Wort Hollywood in haushohen Lettern in den Hügeln von L.A.; hier hin- gegen wird es so klein wie möglich ge- schrieben. Bigger than life, größer als das Leben, diese bewährte Devise der Traumfabrik bei der Verfilmung realer Ereignisse ist verpönt. „Man kann den Einsturz nicht

DOUG MILLS / AP DOUG MILLS visuell beeindruckender ins Bild setzen, Ground Zero: „Weltweite Sympathie leichtfertig verspielt“ als er ohnehin schon war“, meint Sham-

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nige Szenen drehen; die Stadtoberen, allen voran Bürgermeister Bloomberg, wollten nicht einmal Tränen auf den Gesichtern der Statisten sehen, erzählt der Regisseur. In seinen Filmen herrschte schon immer Krieg. Stones Helden rennen, so weit und so schnell die Füße sie tragen: bis der feind- liche Kugelhagel sie niederstreckt wie die GIs in „Platoon“ (1986); bis sie von gegne- rischen Verteidigern gefällt werden wie die Footballspieler in „An jedem verdammten Sonntag“ (1999); bis sie nach einem Feldzug um die halbe Erde auf ein stärkeres Heer treffen wie der Welteroberer „Alexander“ (2004). Sie rennen, wie ihr Regisseur, oft ge- gen Wände. In seinem neuen Film über das World Trade Center dagegen werden seine beiden Helden unter Mauern und Decken begraben und zur Passivität verdammt. „Gemessen daran, dass dieser Film mit- ten in der Katastrophe spielt, ist er sehr ru- hig, fast eine Meditation“, sagt Stone. „Wir erzählen von den beiden Männern, die in einem Loch tatenlos ausharren müssen,

ALBERT FERREIRA / REUTERS FERREIRA ALBERT von den verzweifelten Versuchen, sie zu Star Cage (2. v. l.), Regisseur Stone (3. v. l.) in New York*: „Absolute Detailtreue“ retten, und von ihren Familien, die um sie bangen.“ Es gehe nicht um Politik, das berg. „Wir können und werden ihn nicht veranstaltung – beflissen darum bemüht, Wort „Amerika“, betont er, komme in den digital nachinszenieren.“ bloß nicht den Eindruck zu erwecken, mit Dialogen wahrscheinlich nicht einmal vor. „Absolute Detailtreue“, beteuert Stacey der Katastrophe Geld verdienen zu wollen. Stone, der Polit-Posaunist des US-Kinos, Sher, sei das oberste Gebot der Produk- Auch Oliver Stone, der Kraftmeier unter der stets mit beiden Beinen in nationale tion. Tatsächlich wird Stones Epos der ers- den US-Regisseuren, der sich sonst so Fettnäpfchen springt und keine Gelegen- te Film der Geschichte sein, der auf ein schwer tut, ein Blatt vor den Mund zu heit auslässt, das offizielle Washington zu Millionenheer von Experten trifft: Fast nehmen, windet sich ganz ungewohnt – kritisieren, ist vorsichtig geworden. Glaubt jeder war dabei, als die Twin Towers zu- doch dann bricht’s aus ihm heraus. er, dass die Bush-Administration aus den sammenbrachen. Rund um den Globus „Dieser Film führt uns in die Hölle“, Anschlägen Nutzen gezogen habe? Stone muss der Film den Blicken von Augen- sagt er. „Zwei Männer werden unter verlässt den Raum, um sich mit Vertrauten zeugen standhalten. Deshalb hat die Pro- Millionen Tonnen Zement begraben. Am zu beraten. Dann kommt er zurück. duktion mit Will Jimeno einen der zwei Ende kommen sie aus dem Inneren der „Ich war in den achtziger Jahren in Pa- geretteten Polizisten als Berater engagiert. Erde wieder ans Licht – als wären sie dem ris und schrieb das Drehbuch zu dem Film Voller Stolz läuft der kugelige Jimeno Hades entronnen. Der 11. September war ,Scarface‘, als eine arabische Terrorgruppe über den Set wie das wandelnde Echt- ein großes griechisches Drama, aufgeführt auf einem Markt in der Stadt eine Bombe heitszertifikat dieses Films. Er zeigt seine vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Es hochgehen ließ“, erzählt er. „Doch die Narben vor – die verbrannte Haut auf sei- war sehr theatralisch – und sehr mythisch.“ Franzosen blieben ruhig. Sie haben die Tä- nem Arm, das vom Schutt zertrümmerte Stets sucht Stone den handgreiflichen ter gejagt, ohne viel Aufhebens davon zu Bein –, als wären es Verdienstorden aus Kontakt zu seinen Stoffen, von seinen Viet- machen. Die Amerikaner lassen jeden wis- Fleisch und Blut. Der amerikanische namkriegsdramen „Platoon“ und „Gebo- sen, wie tief verletzt sie sind – und starten Traum, auf einen Schlag berühmt zu wer- ren am 4. Juli“ bis zu den Polit-Thrillern eine Militäraktion, die auf noch mehr Ab- den, hat sich für ihn erfüllt. Dafür aller- „JFK – Tatort Dallas“ und „Nixon“. Er lehnung stößt als der ursprüngliche Ter- dings musste er unvorstellbar leiden. handelt wie ein Berserker: Es gibt viel zu rorangriff. Die USA haben die enorme Religiöse Visionen habe er gehabt, als er filmen, packen wir’s an. Doch gerade des- Sympathie, die sie nach den Anschlägen dort unten begraben lag, erzählt er, Jesus halb glauben in den USA viele, bei ihm sei weltweit genossen, leichtfertig verspielt.“ sei ihm erschienen. 33 Jahre alt war der tief- dieses Projekt schlecht aufgehoben, denn Dann stapft Stone zurück zum Set, um gläubige Katholik Jimeno, als er unter den es mangele ihm an Fingerspitzengefühl. eine Einstellung zu drehen, in der seine Twin Towers verschüttet und später geret- Noch immer halten die US-Medien dem Helden um ihr Leben rennen, während das tet wurde. Fühlt sich Jimeno auserwählt? Regisseur Äußerungen vor, die er unmit- höchste Gebäude der Stadt über ihnen zu- Er zögert einen Moment, lächelt, sagt telbar nach dem 11. September von sich sammenbricht. Will Jimeno sitzt auf einem „vielleicht“ – und redet dann zehn Minu- gegeben hat. Stone habe die Anschläge als Stuhl, wenige Meter von der Kamera ent- ten ohne Unterlass von seinen beim Ein- Akt der „Rebellion gegen die Globalisie- fernt, als die donnernden Geräusche ein- sturz ums Leben gekommenen Kollegen. rung, gegen den American Way“ gedeutet, gespielt werden. Er greift nach seinem ver- „Heldentum?“ Michael Shamberg ver- schrieb die „L.A. Times“ unlängst. „Ich sehrten Bein, als würde er einen jähen zieht das Gesicht, als hätte jemand ein stehe zu meinen Aussagen von damals“, Phantomschmerz verspüren. obszönes Wort benutzt. „Nein, darum geht versichert der Bescholtene heute trotzig – „Wissen Sie“, sagt er, „die machen das es eigentlich nicht“, sagt er. „Wir erzählen weshalb viele US-Amerikaner glauben, die hier schon verdammt gut. Aber dieses von Mut und Überlebenskampf.“ Nun ja, nationale Tragödie werde nun von einem Geräusch – wie das klingt, wenn man da Mut plus Überlebenskampf – das ist für Vaterlandsverräter auf die Leinwand ge- unten begraben wird, das kann man nie- Hollywood seit je der Zweikomponenten- bannt. In New York konnte Stone nur we- mandem vermitteln. Denn man hört es kleber des Heldentums. Hier reden alle nicht in den Ohren. Man hört es mit jeder ein bisschen wie auf einer Wohltätigkeits- * Mit den Polizisten Will Jimeno und John McLoughlin. Faser seines Körpers.“ Lars-Olav Beier

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Nachwuchskräfte zu komponieren, habe er abgelehnt. „Schließlich war ich ein an- derer Mensch, als ich Nummern wie ,Walk on By‘ ablieferte“, erklärt er seine lange Enthaltsamkeit. In den sechziger Jahren, Bacharachs tollster Zeit, galt er als Goldfinger der Pop- musik. Über ein Jahrzehnt lang gelang ihm Hit auf Hit. Dionne Warwick hat ihm ihre Karriere fast vollständig zu verdanken; Dusty Springfield, die Carpenters oder Tom Jones schulden ihm einige ihrer größ- ten Erfolge. Die Verse zu Hits wie „I Say a Little Prayer“ oder „This Guy’s in Love with You“ steuerte jeweils sein Stamm-Tex- ter Hal David bei. Bacharach, Sohn eines Journalisten und geboren in Kansas City, hat in New York Kompositionslehre und Musiktheorie stu- diert. Seine ersten großen Auftritte absol- vierte er als Chef der Begleitmusiker von Marlene Dietrich. Mehrmals hat er die deutsche Diva auf Tourneen begleitet.

SHOOTING STAR / INTER-TOPICS STAR SHOOTING „Die Dietrich bügelte mit Hingabe meine Musiker Bacharach: Goldfinger der Popmusik Hemden und hat mir überhaupt den Drang zur Perfektion eingebläut“, erinnert er „Ich fühle mich von meiner Regierung sich. POP betrogen“, sagt der Mann, der die Popwelt Der Komponist, der selbst aussah wie mit Melodien für Hits wie „What’s New ein Filmstar, heiratete die Hollywood-Blon- Pussycat?“ beglückte. „Ich war für den Irak- dine Angie Dickinson und gewann einen Liebeslieder für Krieg. Ich war ein Fan von Colin Powell. Oscar für „Raindrops Keep Falling on My Aber heute bin ich mir Head“, den Hit aus dem nicht mal mehr sicher, ob Kultfilm „Butch Cassidy Pferde es bei der letzten Präsiden- and the Sundance Kid“. Der US-Komponist Burt Bacharach tenwahl wirklich mit rech- Für Politik habe er sich wurde berühmt als brillanter ten Dingen zugegangen in jenen Glamourtagen nie ist“, zürnt Bacharach. interessiert. Während in Unterhalter. In seinen neuen Songs Deshalb habe er sich Vietnam junge US-Solda- protestiert der alte Herr zum ersten Mal in seiner ten starben, komponierte jetzt gegen Bushs Kriegspolitik. Karriere genötigt gesehen, er „The Look of Love“. selbst auch Texte zu Papier „Ich war total egozen- s wird bereits dunkel, als sich Burt zu bringen. Seine Lieder trisch“, bekennt er. Heute Bacharach an diesem trüben Londo- heißen „Please Explain“, aber mache er sich große Ener Nachmittag in seiner Hotelsuite „Danger“ oder „Who Are Sorgen, zum Beispiel um zum Frühstück setzt. Er trägt einen schim- These People?“, sie wüten seinen 19-jährigen Sohn mernden Jogginganzug, weil er aus dem in Zeilen wie „Seems like Christopher Elton, dem er Fitnessraum kommt, wo er sein tägliches these liars will inherit nicht wünsche, dass er ei- Sportprogramm absolviert hat. the earth“ gegen Lügen nes Tages „in Uniform ir- Mit feuchtem Silberhaar sitzt der 78- und schmutzige Geschäfte gendwo durch die Wüste jährige Komponist lächelnd vor geschälten amerikanischer Politiker. robben muss“.

Kirschtomaten, tropischem Obst und ei- Gesungen werden die GETTY IMAGES Den Kontrakt für sein ner Teetasse; ein Inbild jener glamourö- Songs von prominenten Diva Dietrich, Bacharach (1964) neues Protestalbum hat sen Lässigkeit, die den Großmeister des Verehrern wie Elvis Cos- Drang zur Perfektion Bacharach nicht mit einem sogenannten Easy Listening berühmt ge- tello oder Rufus Wain- amerikanischen Plattenfir- macht hat. Und doch trügt der Schein: wright, einige Beats steuerte der Gangsta- menboss ausgehandelt, sondern mit dem „Noch nie in meinem Leben war ich so Rap-Pate Dr. Dre bei, von dessen „klas- Großbritannien-Chef von Sony BMG. „In aufgebracht“, sagt Bacharach mit leiser, sischem Gespür für Melodien“ Bacharach den USA würde sich kein großer Laden zorniger Stimme, während er Akazien- schwärmt. trauen, diese Lieder herauszubringen“, be- honig in seinen Tee träufelt. Eigentlich wollte der Pop-Pensionär kei- hauptet der Komponist. Der Amerikaner Bacharach ist nach ne neuen Platten mehr aufnehmen. In den Er habe mit Schrecken gesehen, wie die London gekommen, um Werbung zu ma- letzten Jahren beschränkte er sich auf die Musikerinnen der Countryband Dixie chen für „At This Time“, sein erstes Solo- Verwaltung und Wiederverwertung seiner Chicks in den USA öffentlich angegriffen Album seit über 25 Jahren. Es ist wahr- zahlreichen Evergreens. Manchmal sang er und geächtet wurden, weil sie George W. scheinlich sein letztes großes Werk – und die großen Liebeslieder, mit denen er einst Bushs Irak-Politik kritisiert hatten, sagt die erstaunlichste Platte des Jahres. Denn berühmt geworden ist, auch seinen Renn- Bacharach. Er selbst aber fürchte sich nicht der alte Herr präsentiert nicht bloß einen pferden vor, „weil man zumindest Tieren vor Anfeindungen in seiner Heimat. „Ich neuen Satz wunderbar geschmeidiger Bal- mit einer schönen Melodie immer noch die bin über siebzig, vor was soll ich noch laden, sondern ein Dokument des Pro- Laune verbessern kann“, wie er glaubt. Angst haben?“, sagt er und nimmt einen tests. Alle Angebote, Hits für vielversprechende Schluck Tee. Christoph Dallach

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Muschg: Für mich gehören Dinge dazu, die nicht modisch sind. Es gilt, anzugehen KULTURPOLITIK gegen den großen Gedächtnisverlust der deutschen Gesellschaft – nicht nur, was das Dritte Reich angeht. Man muss auch jene „Bescheidene Bombe“ Traditionen im Kopf haben, auf die man stolz sein könnte, etwa die deutsch-jüdi- Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg, 71, über den schen Salons um 1800 oder die Barrikaden von 1848. Sonst führt das zu einer Verar- Dauerstreit in der Berliner Akademie mung der kulturellen Präsenz des Landes. der Künste und seinen Rücktritt als Präsident des Hauses SPIEGEL: Und dazu sollte die von Ihnen an- gestrebte organisatorische Straffung des Muschg: Streiten mit Niveau, Streiten um Hauses gut sein? eine Sache gehört durchaus zu den Aufga- Muschg: Eine Akademie soll ruhig die Ver- ben der Akademie. Die Akademie ist keine einskultur pflegen und die Arbeit der Mit- Korporation mit zünftigen Zunftmeistern, glieder vorstellen, die der Gegenwart und denen man bloß nicht auf die Füße treten die der Vergangenheit. Wir haben eines der darf. Wir müssen tanzen lernen, und da darf besten Archive der Welt, eine Schatz- und man sich auch mal auf die Füße treten. Folterkammer des 20. Jahrhunderts. Aber SPIEGEL: Wenn die Akademie endlich tanzt, wir müssen auch thematische Schwerpunk- soll sie nach Ihrem Wunsch einen „geisti- te setzen, am besten einen Schwerpunkt für gen Fahrplan“ für Politik und Gesellschaft ein ganzes Jahr. In Paris kann man derzeit bereitstellen. Ist dieser Anspruch nicht eine große, schöne Melancholie-Ausstellung wirklich „fiktiv und monströs“, wie Sie sehen. Mit Verlaub: Das könnten wir auch. selbst formuliert haben? Wir könnten zum Beispiel das Verhältnis Muschg: Ja, aber dafür sind Künstler doch von Kunst und Kult zum Thema machen, da! Wir sind dafür da, Fiktives und Mon- die Platzhalterdienste der Kunst in einer sä- ströses zu versuchen! Wir sind keine Prag- kularisierten Welt, in der sie vakant gewor- matiker. Unser Arbeitsprodukt ist am Ende dene religiöse Bedürfnisse befriedigen muss. nicht messbar, aber es wiegt im Bewusst- SPIEGEL: Ihre Gegner, wie der Komponist sein. Was blieb haften im Gedächtnis von Udo Zimmermann, werfen Ihnen man-

ANNETTE HAUSCHILD / OSTKREUZ ANNETTE HAUSCHILD der Akademie-Arbeit der letzten Jahre? Die gelnde Absprache vor. Gestehen Sie ein, Autor Muschg Intervention meines Vorgängers György Fehler gemacht zu haben? „Ich bin kein Genie der Integration“ Konrád für das Holocaust-Mahnmal. Er hat Muschg: Ich bin kein Genie der Integration, sinngemäß gesagt: Das Projekt müsste so da hat Zimmermann Recht. Das Telefonie- SPIEGEL: Herr Muschg, Sie haben Ihr Amt eingerichtet sein, dass Deutsche den Ort ren liegt mir nicht, das hat mit meinem Ein- als Chef der Berliner Akademie hinge- gern besuchen. Das sagte ein überlebender zelkindhabitus zu tun. Und sicher hätte ich worfen – weil Sie das Opfer einer Ver- Jude – ein Wink der Entkrampfung. die Probleme gelassener angehen müssen. schwörung sind, wie Walter Jens, einer SPIEGEL: Wirkt nicht die beharrliche Ein- Nur gab es eben keine Einsicht, und da Ihrer Vorgänger, behauptet? mischung von Schriftstellern in politische meine ich als Schweizer auch Mentalitäts- Muschg: Nein, Verschwörung ist ein zu Fragen, wie sie zum Beispiel Günter Grass unterschiede zu erkennen: Die Deutschen starkes Wort, auch wenn ich es nicht un- mit ehrfurchtgebietender Ausdauer be- haben in den sechziger Jahren die Kontro- dankbar gelesen habe. Es gab eine Zu- treibt, heutzutage sehr anachronistisch? verse bis zum Exzess betrieben. Nun glau- sammenrottung gegen mich, von Akade- Muschg: Das ist das Vorurteil der Jüngeren. ben sie, sie beherrschten den kritischen miemitgliedern, die in mir das Symbol Meine Generation sieht es als Bürgerpflicht Diskurs. Dabei sind ihnen Diskurse bis heu- eines ganz üblen Zentralismus sehen. eines Schriftstellers an, sich einzumischen. te suspekt; sie nehmen sie persönlich. Ich SPIEGEL: Konkret zerstritten haben Sie sich Und als unser neues Haus am Pariser Platz sehe da Spuren alten Untertanengeists – in mit Ihren Kollegen über die Frage, wie die eingeweiht wurde, hat uns die Politik re- der Unfähigkeit, im offenen Gespräch auch neue Satzung der jetzt vom Bund finan- gelrecht angefleht, dass wir unserem Be- mal die Position des anderen annehmen zu zierten Akademie aussehen soll. ratungsauftrag nachkommen sollen. können. Nun ist der Sinn meines Rücktritts Muschg: Ich wollte Mauern einreißen. Ich SPIEGEL: Passiert ist seither trotzdem nichts. der, das Brett vor dem Kopf wegzunehmen, halte es für den Grundgedanken der Aka- Wo könnte sich das Haus einmischen? das ich für viele Kollegen verkörpere. demie, dass sich dort Leute aus SPIEGEL: Sie bleiben auch nach verschiedenen Sparten, Baumeis- dem Rückzug Mitglied der Akade- ter und Musiker, Schriftsteller und mie. Heißt das, Sie halten die Filmemacher, miteinander unter- Institution weiter für sinnvoll? halten. Der Akademie-Senat hat Muschg: Mein Problem ist, dass aber für eine Satzung plädiert, in ich einen zu hohen Sinn damit der die einzelnen Sektionen weiter verbinde. Ich bin davon über- unter sich bleiben. Er hat die Res zeugt, dass die Akademie eine publica, die gemeinsame Sache un- Produktionsstätte politischer, ge- serer Organisation, völlig aus dem sellschaftlicher und künstlerischer Blick gelassen. Deshalb sah ich Phantasie sein soll. Sie können keine andere Waffe mehr und habe in der Kunst genauso wenig wie die bescheidene Bombe meines in der Liebe sagen, warum sich Rücktritts gezündet. etwas lohnt. Aber Sie können SPIEGEL: Mit dem Ergebnis, dass trotzdem wissen, dass es sich

Ihnen nun Nestbeschmutzung vor- / IMAGES.DE SCHULTEN ROLF lohnt. geworfen wird. Akademie-Neubau am Pariser Platz: „Brett vor dem Kopf“ Interview: Wolfgang Höbel

124 der spiegel 52/2005 LUDWIG RAUCH LUDWIG Kuratorin David (5 v. r.) mit Teilnehmern der Irak-Schau: Krisengipfel, Bombendrohungen und Dauer-TV

Sie pflege den Austausch mit irakischen darin „Brandstifter der irakischen Gesell- AUSSTELLUNGEN Intellektuellen, solchen, die im Land ge- schaft“ und warnt vor „tragischen Folgen“, blieben sind „und mit denen man sich im sollten sie nicht bald abziehen. benachbarten Jordanien trifft“, und den Die Filmemacherin Hana al-Bayati, Böse Anekdote vielen, die im Exil leben. Beiden Gruppen Tochter irakischer Eltern, in Frankreich ge- Eine mit Bundesmitteln geförderte will sie ein Podium bieten. boren und Jahrgang 1979, bekennt in ei- Auf der Geschichte irakischer Kultur nem Beitrag im selben Heft, froh zu sein Berliner Schau zum Irak müsste normalerweise der Schatten von über „die Tatsache, dass es den Amerika- schlägt radikale Töne an – die Saddam Hussein und seiner Diktatur lie- nern nach wie vor nicht gelungen ist, ira- Künstler vereint vor gen, von Krieg, Besatzung, Sprengstoff- kisches Öl zu exportieren“. Das zu ver- allem der Hass auf Amerika. attentaten, Terror jeder Art. Aber wer er- hindern sei zum Glück leicht. „Alles was wartet, die Schau bilde eine Zone der Bru- man braucht, ist eine selbstgebaute Bombe, ür Catherine David ist die Sache klar: talität ab, eine große Blutlache, der irrt. die man neben eine Pipeline legen kann.“ Sie sei keine Provokateurin, und soll- Schockbilder von Zerstörung, von Fa- „Das ist ironisch gemeint“, glaubt Da- Fte diese von ihr verantwortete Aus- natismus und Leichen? Diese Ausstellung vid. Und falls nicht? Dann sei es eine Hal- stellung trotzdem Missverständnisse aus- will subtiler sein, fern allen Vorurteilen. tung, die man zur Kenntnis nehmen müs- lösen, „dann ist das nicht mein Problem“. Trotzdem sind die Feindbilder klar ver- se. Bayati selbst, eine junge und gerade Eines will sie aber doch gleich einmal kor- teilt. Saddam Hussein, der Diktator, der von sehr aufgebrachte Frau, beharrt darauf, rigieren: „Sprechen Sie nicht von Ausstel- 1979 an das Volk drangsalierte – er ist eine ihre Äußerung „ganz sicher“ ernst zu mei- lung, sprechen Sie von einer Plattform.“ „böse Anekdote“ (David), mehr eigentlich nen. Die Amerikaner hätten „nur Chaos Die Französin David, 51, ist eine der nicht. Fast alle Gewalt, alles Verderben da- gebracht“, stünden ja wohl auch hinter streitbarsten und seit 1997 eine der be- gegen geht von den Amerikanern aus. manch aktuellem Anschlag. rühmtesten Ausstellungsmacherinnen der Schnell wird klar: Davids Irak-Gipfel Es lässt sich in Berlin schwer unter- Welt; damals leitete sie die Documenta in versteht sich auch, aber ganz sicher nicht scheiden zwischen Hilfeschrei, Propaganda Kassel. In der Berliner Institution „Kunst- nur als kulturelles Spektakel. Aus dem po- und grober Provokation. Der Begriff Kul- Werke“ versucht sie sich jetzt an der Prä- litischen Anliegen und einem rigorosen tur ist auch in anderer Hinsicht weit ge- sentation und Analyse der irakischen Kul- Antiamerikanismus wird in dieser – von fasst: Bei der Ausstellung handelt es sich tur von den fünfziger Jahren bis heute. der Bundeskulturstiftung geförderten – weitgehend um ein Film- und Fernseh- Titel: „Die irakische Gleichung“. Schau kein Hehl gemacht. ereignis. Man überträgt etwa fünf irakische Die Kunstfachfrau hat in Städten wie Das Begleitheft enthält ein Interview mit TV-Sender. Einer bezieht seine Gelder Rotterdam und Barcelona ähnliche Veran- Pierre-Jean Luizard. Der französische Is- übrigens vom Pentagon, ein anderer ist der staltungen zum Libanon und zu Kairo or- lamwissenschaftler nennt die Amerikaner einzige Privatsender des Landes und setzt ganisiert, sie hat viele arabische Län- auf Reality-Show-Unterhaltung. Welch der besucht, der Irak war nicht dabei. hintersinnige Berieselung: Das westli- Sie hat es versucht, „es hat nicht ge- che Publikum kapiert mal wieder gar klappt“. Die Gefahr ist nicht zu un- nichts, auf eine Übersetzung wird ver- terschätzen, „und es ist idiotisch zu zichtet. glauben, man verschafft sich einen Außerdem ist viel Dokumentari- Überblick, indem man für ein paar sches zu sehen, insgesamt 40 Stunden Tage nach Bagdad fährt, wo man nicht Film summieren sich zur Informa- das Hotelzimmer verlassen sollte“. tionsüberdosis. Szenen von Grenz- Eine ausgeprägte Meinung zum Irak übergängen oder von der Straße, Men- hat sie trotzdem. Da wäre, zum Bei- schen suchen den Kontakt zur Kame- spiel, die Frage nach der Religion. „In- ra, manche beklagen die Angst vor teressiert mich nicht, religiöser Extre- Entführungen auch eigener Leute, Po-

mismus, das ist Teil des Klischees“, DPA lizisten beschweren sich, keine Waffen befindet David. Irakisches Propagandabild: Nostalgische Gefühle? tragen zu dürfen.

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Von irritierender Harmlosigkeit und ge- Im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen legentlich auch von unfreiwilliger Komik Jahresbestseller 2005 und Auswahlkriterien finden Sie online unter: sind die an die Wand projizierten Schwarz- www.spiegel.de/bestseller weißfotos. Vieles ist lange vor 1990 und im Belletristik Sachbücher Staatsauftrag entstanden. Die Motive – gern wuchtige Neubauten – gaukelten ein Wirt- 1 Joanne K. Rowling 1 Peter Hahne schaftswunder vor. Diese fotografische Hin- Harry Potter und Schluss mit lustig terlassenschaft zu zeigen sei „politisch nicht der Halbblutprinz Johannis; 9,95 Euro so richtig korrekt“, sagt ein Sprecher der Carlsen; 22,50 Euro Kunst-Werke, und es klingt erfreut. Bildende Kunst spielt hier bis auf die Reproduktion eines Monumentalbildes von Der Zauberlehrling ist sei- Die Ambition kennt kein 1984 (einer im Exil entstandenen Kaffee- ner Kindheit entwachsen Pardon: Moralpredigt ei- – die Gewalt im Kampf ge- nes Fernsehmoderators hausszene mit Militär, Wasserpfeife und gen das Böse eskaliert und Fundamentalchristen „Times“-Cover) kaum eine Rolle. Zum Aufregerstoff soll sie dennoch taugen. 2 Dan Brown Sakrileg 2 Sabine Kuegler Dschungelkind Dafür wird Hashim al-Tawil, 53, sorgen. Lübbe; 19,90 Euro Droemer; 19,90 Euro Der gebürtige Iraker ist Künstler und Kunsthistoriker, er verließ sein Heimatland 3 Joanne K. Rowling Harry Potter 3 Ben Schott Schotts Sammelsurium 1986, heute lehrt er an einem US-College. and the Half-Blood Prince Bloomsbury Berlin; 16 Euro In Berlin wird er demnächst über den Um- Bloomsbury; 26,30 Euro (unverbindl. Preisempfehlung) 4 Corinne Hofmann Wiedersehen gang mit irakischen Sammlungen und 4 Dan Brown Diabolus Monumenten „nach der US-Invasion“ in Barsaloi A 1; 19,80 Euro Lübbe; 19,90 Euro sprechen. Gemeint ist nicht der Raub von 5 Werner Tiki Küstenmacher / Altertümern – der ja, wie Tawil betont, 5 François Lelord Hectors Reise Lothar J. Seiwert Simplify your „unter den Augen der militärischen Ein- Piper; 16,90 Euro life Campus; 19,90 Euro dringlinge möglich war“. Ihm geht es um die jüngere Kunstge- 6 Frank Schätzing Der Schwarm 6 Alexander von Schönburg schichte. Seit den sechziger Jahren habe Kiepenheuer & Witsch; 24,90 Euro Die Kunst des stilvollen Verarmens der Irak kulturell „einen besonderen Reich- 7 Daniel Kehlmann Die Vermessung Rowohlt Berlin; 17,90 Euro tum“ erlebt. Das Ministerium für Kultur der Welt Rowohlt; 19,90 Euro und Information habe „eifrig“ Kunst ange- 7 Dietrich Grönemeyer Der kleine kauft. Das klingt nicht ganz nostalgiefrei. 8 Cecelia Ahern Für immer Medicus Rowohlt; 22,90 Euro Die Kunst auch der Saddam-Jahre gilt vielleicht W. Krüger; 16,90 Euro 8 Jürgen Neffe Einstein Tawil sehr wohl als zeitgeschichtliches Ma- 9 Donna Leon Rowohlt; 22,90 Euro terial, das „Aufschluss über das Wesen einer Beweise, daß es böse ist Diogenes; 19,90 Euro Diktatur“ gebe, aber eben noch mehr als 9 Susanne Fröhlich Moppel-Ich „kulturelles Erbe“. Denn Kultur erwachse 10 Santo Cilauro / Tom Gleisner / W. Krüger; 13,90 Euro aus einer Kontinuität. Ein bewusster Bruch Rob Sitch Molwanîen 10 Jürgen Todenhöfer Andy und mit der Vergangenheit: „undenkbar“. Heyne; 14,90 Euro Nach der Invasion sei in Bagdad der Be- Marwa C. Bertelsmann; 16 Euro stand des „Markaz Saddam“, der Samm- 11 Diana Gabaldon Ein Hauch von 11 Frank Schirrmacher Das lung moderner Kunst, „brutal geplündert“ Schnee und Asche Blanvalet; 24,90 Euro worden. Anderes sei noch nicht verloren, Methusalem-Komplott Blessing; 16 Euro 12 Paulo Coelho Der Zahir „rasches Handeln“ erforderlich. 12 Ayaan Hirsi Ali Ich klage an Diogenes; 21,90 Euro Der Westen hat diese oft kitschig staats- Piper; 13,90 Euro tragende Kunst bislang nur verlacht. Tawil 13 Ken Follett Eisfieber 13 Eva-Maria Zurhorst nicht, für ihn gehört sie zum nationalen Lübbe; 22,90 Euro Vermächtnis, das Respekt verdient. Stand- Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro bilder Saddams, etwa als behelmter Koloss 14 Jan Weiler Antonio im 14 Corinne Maier Die Entdeckung in dreifacher Ausführung als Denkmal für Wunderland Kindler; 16,90 Euro der Faulheit Goldmann; 12 Euro die Ewigkeit? Oder dieses Bild: Saddam 15 Henning Mankell Tiefe wie ein Held der Antike, mit Tunika um Zsolnay; 21,50 Euro 15 Ben Schott Schotts Sammelsurium den Leib, Bogen in der Hand und Bomben Essen & Trinken Bloomsbury Berlin; 16 Euro im Gepäck? 16 Nick Hornby A Long Way Down Egal. Tawil kommt wie einige Berliner Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro 16 Dietrich Grönemeyer Mein Teilnehmer zu der – politischen – Schluss- Rückenbuch Zabert Sandmann; 19,95 Euro folgerung: Man solle den „Irak den Ira- 17 François Lelord Hector und die 17 Stephen Hawking / Leonard kern“ überlassen. Geheimnisse der Liebe Seine Einstellung sei weit entfernt von Piper; 16,90 Euro Mlodinow Die kürzeste Geschichte der Zeit Rowohlt; 19,90 Euro jeder Verherrlichung einer Diktatur, sagt 18 Joanne K. Rowling Harry Potter Catherine David. „Wenn jemand seine und der Orden des Phönix 18 Helmut Kohl Erinnerungen Panzer im Louvre parken würde, hätte 1982 – 1990 Droemer; 29,90 Euro man in Frankreich auch Einwände, nie- Carlsen; 28,50 Euro mand würde das nationalistisch nennen.“ 19 Anna Gavalda Zusammen ist man 19 Markus Breitscheidel Abgezockt Catherine David wirbt für ihre Idee vom weniger allein Hanser; 24,90 Euro und totgepflegt Econ; 16,95 Euro Irak um Verständnis. Dafür nimmt sie of- fenbar ein paar Missverständnisse gern in 20 Paulo Coelho Der Alchimist 20 Sigrid Damm Das Leben des Kauf. Ulrike Knöfel Diogenes; 17,90 Euro Friedrich Schiller Insel; 24,90 Euro

der spiegel 52/2005 127 Kultur

gonnen hat der Autor, Ende der siebziger AUTOREN Jahre, als Lyriker). Entstanden ist ein hin- tergründiger Roman über die Frage, ob sich Fiktion und Realität trennen lassen, ob Held auf es historische Wahrheit gibt und wie sie literarisch einzufangen wäre. Auf verspielte Weise versteckt sich ein kleiner erkennt- der Laufstrecke nistheoretischer Traktat in diesem Buch. In seinem Roman „Menschenflug“ Stephans Befreiungsversuch (die Lo- sung: „Sein Bruder gehörte ins Buch, nicht setzt Hans-Ulrich Treichel ins Leben“) erweist sich zunehmend als Il- die abenteuerliche Brudersuche aus lusion. Und sein Problem wird er nicht da- seiner Erzählung „Der Verlorene“ durch lösen, dass er davonläuft. Spätestens fort – mit überraschendem Ausgang. wenn der Held auf seiner Laufstrecke längs des Berliner Teltowkanals („schnelles Ge- ls Mann in den besten Jahren könn- hen und ein nicht zu schneller Trab“) am te Stephan sich in den Tagen vor Denkmal für den Flugpionier Otto Lilien- Aseinem 52. Geburtstag fühlen, wäre thal vorbeikommt (die Inschrift „Dem Va- da nicht der Gedanke an seinen Vater, der ter des Menschenfluges“ war Anregung für nur 54 geworden ist, wäre da nicht neuer- den Romantitel), wird ihm das deutlich: Er

dings dieses gelegentliche Stolpern des ei- OHLBAUM ISOLDE muss noch einmal neu starten. genen Herzens und wäre Stephan nicht Schriftsteller Treichel Wie ein Musikstück gliedert sich „Men- überhaupt ein Mensch, der zu Melancho- „Die Älteren sind immer die anderen“ schenflug“ in drei etwa gleich lange Teile. lie, zu Skepsis und Vorsicht neigt. Die drei Sätze könnten so überschrieben So registriert er nun genau die Wand- in seiner eigenen Familie zugetragen hat, sein: Problem, Aufschub, Lösung. lungen, die in ihm vorgehen. Eben noch gibt es schon ein Buch von ihm, die Er- Das Problem ist die Frage, wie nah Ste- hat für ihn gegolten: „Die Älteren sind im- zählung „Der Verlorene“ (1998), mittler- phan an das Familiengeheimnis wirklich mer die anderen.“ Nun lautet sein Motto: weile in 25 Sprachen übersetzt. herankommen will. Offenbar gibt es neue „Der Ältere bin ich.“ Tapfer nimmt er zur Das ist ein Wagnis – was Treichel, dem Informationen zum alten Fall. Wäre der Kenntnis, ein Alter erreicht zu haben, „in durch literaturtheoretische Studien und verlorene Bruder doch noch zu finden? dem ihm die Ärzte, ohne mit der Wimper Essays bestens ausgewiesenen Kenner, Aber anstatt sich konkret auf die Suche zu zu zucken, einen Alterskrebs zutrauten“. dem Poeta doctus (seit 1995 auch Professor machen, die „Familienforschungen“ eines Stephan, Akademischer Rat an einer am Leipziger Literaturinstitut), bewusst ge- Onkels zu Rate zu ziehen, sich gar zu den Berliner Universität und verheiratet mit wesen sein dürfte. Hätte es nicht auch ein Wurzeln der Familie nach Wolhynien (heu- einer Psychoanalytikerin, ist eigentlich Aufsatz über den Erfolg, die Folgen der te in der Ukraine) aufzumachen, fliegt er nicht unzufrieden mit sich und seinem Erzählung getan, über die Wirkungsge- lieber – Aufschub – allein nach Ägypten. Leben, auch wenn es zum Professor nicht schichte also? Stephans zögerlicher Gang zu den Grä- gereicht hat. Immerhin hatte er viel Erfolg Zunächst sieht es tatsächlich so aus, bern und Pyramiden ist ein Gleichnis für mit einem Buch, das er vor einiger Zeit als wäre der neue Roman nur eine Art das Thema des Romans, dargeboten als Fortsetzung dieser Er- Form von Lethargie: Eigentlich würde der zählung, eine Nachre- Tourist lieber am Hotelpool sitzen bleiben. cherche. Treichels Al- Die Nähe zu den Bauwerken verstellt eher ter Ego Stephan den Blick auf deren historische Größe, und hat diese Erzählung die Bekanntschaft mit einer Archäologin in der Hoffnung ge- (mitsamt körperlicher Annäherung) bringt schrieben, seinen ver- lediglich die Erkenntnis, wie beschwerlich lorenen Bruder, „das der Weg zur Geschichte ist: Sie forscht in Trauma seiner Eltern den Gräbern nur nach Spuren der Archä- und ein Phantasma ologen vor ihr, sie betreibt „so etwas wie seiner Kindheit“, end- Wissenschaftsgeschichte der Ägyptologie“. lich loszuwerden – und Nach diesem Intermezzo verharrt Trei- muss nun feststellen: chels Roman freilich nicht im Leerlauf, So leicht ist das nicht. sondern präsentiert im letzten Teil einen Stephan hat die Fol- überraschenden Aufschwung, eine Wen- gen zu tragen: Einla- de. In Celle scheint Stephan schließlich

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN dungen zu Lesungen, dem vermissten (und wie sich zeigt: ei- Flugpionier Lilienthal (1894): Neustart mit der alten Geschichte sein Buch ist „Prü- gentlich doch nicht so vermissten) Bruder fungsstoff für die gegenüberzustehen, einem bösen alten über seinen älteren Bruder geschrieben Sprachexamina der Goethe-Institute“ – Mann, dem er sich nicht zu erkennen gibt. hat, der Anfang 1945 während der Flucht und immer wieder kommen Leser, die sich Wie diese nun wohl definitive Begeg- aus dem Osten verschollen war. für den unbekannten Bruder halten oder nung zu einer Lösung führt, die eher eine Der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel, glauben, ein ähnliches Schicksal zu haben, Loslösung ist und viel mit profanen finan- 53, spielt in seinem Roman „Menschen- so etwa der aufdringliche Mann aus Bre- ziellen Erwägungen zu tun hat, das ist flug“ ganz unverhohlen mit der eigenen merhaven: „Ich bin ein Verlorener.“ im „Menschenflug“ so anmutig erzählt, Vita, dem eigenen literarischen Werk*. Doch das alles ist nur der Anfang, die dass es hier nur angedeutet werden kann. Denn über diesen Fall, der sich so ähnlich Oberfläche. „Menschenflug“ zielt höher, Hans-Ulrich Treichel hat dem bedrücken- was leicht zu übersehen ist bei der Lako- den Thema von Flucht und Vertreibung * Hans-Ulrich Treichel: „Menschenflug“. Suhrkamp Ver- nie, die Treichels Prosastil kennzeichnet noch einmal Flügel wachsen lassen. lag, Frankfurt am Main; 236 Seiten; 17,80 Euro. und die Lektüre so vergnüglich macht (be- Volker Hage

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STARS Die Flugbahn des Tennisballs In Woody Allens bitterböser Gesellschaftssatire „Match Point“ brilliert Scarlett Johansson ausgerechnet in der Rolle einer scheiternden Schauspielerin.

ie ist nervös, wenn sie vorsprechen hat Nola bei jeder Audition versagt, egal, muss. Ihre Bewegungen sind kantig wie winzig die Rolle auch war. Sund zu schnell, denn im Grunde weiß Diese Film-Nola ist eine amerikanische FILM CONSTANTIN sie schon im Voraus, dass sie es auch die- Schauspielerin in London, gespielt wird sie Kultfilm „Lost in Translation“*: Flott gedreht ses Mal vermasseln wird. Seit Ewigkeiten von Scarlett Johansson, die auch Ameri- kanerin ist. Damit sind alle Gemeinsam- keiten zwischen Rolle und Darstellerin auf- gezählt. Ihre Stärke sei es, sagt Johansson, dass sie beim Vorsprechen ganz besonders gut sei: „Ich liebe diese wahnsinnige En- ergie, ich will zeigen, was ich kann. Und deshalb war ich meistens auch erfolgreich.“ Die Ironie an der Sache ist, dass Jo- hansson, 21, für ihre Rolle in „Match Point“, der am Donnerstag in Deutschland anläuft, gar nicht vorsprechen musste. „Ich bekam einen Anruf, ob ich in einer Woche in London anfangen könnte zu drehen“, erzählt sie. Gewissermaßen als Lücken- büßerin, denn die britische Schauspielerin Kate Winslet war wegen Erschöpfung aus dem Filmprojekt ausgestiegen. „Zum ers- ten Mal seit langem hatte ich mir den Som- mer freigenommen und hatte deshalb Zeit“, sagt Johansson, „das war unglaub- liches Glück.“ Und außerdem: „Wie hät- te ich nein sagen können, wenn Woody mich will?“ Woody ist Woody Allen, und Johans- sons unglaubliches Glück besteht vor allem darin, dass Allen mit „Match Point“ nach mehreren eher erfolglosen und auch nicht gerade bejubelten Filmen („Anything Else“, „Melinda und Melinda“) endlich wieder zu Bestform aufgelaufen ist. Die Geschichte über den gescheiterten Profi- Tennisspieler Chris, der sich nach oben in die Upperclass schläft und schließlich zwi- schen Liebe und Lust und sozialer Karrie- re wählen muss, ist eine hochspannende und tiefgründige Satire über die in die vie- len da unten und die wenigen da oben ge- teilte Gesellschaft. In Wahrheit hatte Johansson Glück nötig. Nach ihrem Durchbruch mit der flott und preiswert abgedrehten Romanze „Lost in Translation“ und dem Kunstfilm „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ war ihre Karriere etwas ins Stocken gera- ten. Mit Michael Bays 120 Millionen Dollar teurem Science-Fiction-Drama „Die Insel“ sollte Johansson zum Star eines Block- busters werden – war aber dann nur Hauptdarstellerin in einem Flop. Ihre nächsten Filme „Lovesong für Bobby JOHN SPELLMAN / RETNA INTER-TOPICS JOHN SPELLMAN Aufsteigerin Johansson: „Wie hätte ich nein sagen können, wenn Woody mich will?“ * Links: Johansson mit Bill Murray; rechts: mit Colin Firth.

130 der spiegel 52/2005 CONCORDE FILMVERLEIH PROKINO / FOX „Mädchen mit dem Perlenohrring“-Szene*: Geteilte Gesellschaft „Match Point“-Dreharbeiten mit Johansson, Allen: Blinis und Kaviar

Long“, „Reine Chefsache“ und „Good während Chris noch Hühnchen ordern Strategisch geplant, behauptet die in Woman – Ein Sommer in Amalfi“ (der der- möchte. Das allerdings lässt Tom ihm nicht Greenwich Village aufgewachsene Archi- zeit im Kino zu sehen ist) schafften es nicht durchgehen. Wer dazugehören will, muss tektentochter Johansson, habe sie ihre Film- über „ferner liefen“ in der Hitliste hinaus. essen, was im Edelrestaurant auf den Tisch karriere nicht. Als sie noch die New Yorker Auch „Match Point“ wird wohl kaum kommt. Professional Children’s School besuchte, Zuschauerrekorde erzielen, denn das ist Wie viel sind Liebe und Leidenschaft habe sie nur bei Drehbüchern ja gesagt, die keinem Woody-Allen-Film in den vergan- wert? Mehr oder weniger als Geld und ihr gefielen; und wenn sie mal abgelehnt genen 15 Jahren gelungen, wenigstens in Karriere? „Match Point“ ist eine so großar- worden sei, habe sie damit gut umgehen Amerika nicht. Allen wird in Europa mehr tige Gesellschaftssatire, weil sie am Bei- können – auch wenn sie sich selbst als „un- geliebt als daheim. Dabei hätte der Film je- spiel der britischen Upperclass die gene- glaublich ehrgeizig“ beschreibt. den kommerziellen Erfolg verdient, und relle Frage analysiert: Was bedeutet es, Allein die Rolle des depressiven, zyni- zwar schon wegen der ersten Szene. Da wenn eine Gesellschaft soziale Mobilität schen Teenagers in Robert Redfords „Pfer- fliegt ein Tennisball gegen die obere Kan- abblockt und der Aufstieg nicht mit Hilfe deflüsterer“ habe sie „unbedingt spielen te des Netzes, springt ab, fliegt hoch – und von Beruf und Karriere möglich ist? Son- wollen“ und dafür auch mehrere Auditions dies ist der Moment, in dem sich entschei- dern nur auf Grund von Glück oder Be- in Kauf genommen, bis sie ihren Willen det, auf welcher Seite des Spielfeldes er ziehungen? Und welches sind die morali- bekam. Da war Johansson 13 Jahre alt und herunterfallen wird, ob alles gut oder alles schen Fundamente dieses gespaltenen seit fünf Jahren im Geschäft. schlecht ausgehen wird. Systems? Zum Vorsprechen geht Johansson auch Der irische Ex-Tennisprofi Chris (Jona- Es ist ein globales Thema, das Allen in heute noch, allerdings werde sie nur abge- than Rhys Meyers) hat die Hoffnung, dass „Match Point“ durchgeht, und man kann lehnt, „wenn die Chemie nicht stimmt“ sein Ball es übers Netz schaffen wird, als er das schon daran sehen, dass der Film ei- zwischen ihr und dem Regisseur oder dem in einem Londoner High-Society-Tennis- gentlich in New York spielen sollte. Aus männlichen Hauptdarsteller. Und weil mit club als Lehrer anheuert. Schnell freundet finanziellen Gründen wurde er nach Lon- Allen die chemische Verbindung offenbar er sich mit seinem Schüler Tom Hewett don verlegt, obwohl Allen es hasst, außer- besonders stabil ist, hat sie mit „Scoop“ (Matthew Goode) an, der zwar wenig halb von Manhattan zu arbeiten. Als Wins- bereits den nächsten Film unter seiner Re- sportliches Talent besitzt, dafür aber umso let ausfiel und Johansson einstieg, wurde gie abgedreht. Inhalt: Eine amerikanische mehr Geld. Außerdem hat er eine hübsche aus der gescheiterten britischen Schau- Studentin in London verliebt sich in einen Schwester, Chloe (Emily Mortimer), die spielerin eine Amerikanerin, und das Aristokraten. Das klingt irgendwie sehr mangels eigener Karriereinteressen drin- Skript funktionierte genauso gut. Mindes- vertraut. gend einen Mann zum Heiraten sucht. tens. „Das war eine Sache von einer Stun- Im Kasten ist schon „Die schwarze Dah- Da taucht Chris also genau zum richti- de“, sagt Allen. lie“ (Regie: Brian De Palma) nach einem gen Zeitpunkt auf, und es könnte Spiel, Eigentlich liege ihr Allens Regiestil nicht, Thriller von James Ellroy; in Vorbereitung Satz, Sieg heißen, wenn nicht, ja wenn erklärt Johansson. „Woody benutzt keine sind die Komödie „The Nanny Diaries“, nicht der Ball manchmal gegen die Netz- Videokameras, die alles mitschneiden, und die auf einem Bestseller beruht (Johans- kante fliegen würde. Und das heißt in keine Monitore. Er lässt jede Szene durch- son: „Der Film sollte sich kommerziell be- diesem Fall: Beim Kurzurlaub auf dem spielen und höchstens dreimal wiederho- haupten können“), und ein Zaubererfilm Hewettschen Landsitz trifft Chris auf Toms len. Das kann nervenaufreibend sein.“ Vor von Christopher Nolan. Im Frühjahr dreht Verlobte, die missratene Schauspielerin allem gehöre sie zu den Schauspielern, die Johansson mit Neil Jordan „Borgia“. Und Nola. Für ihn ist es Lust auf den ersten mit jeder Wiederholung besser würden. vorgesehen ist sie für die Hauptrolle in Blick. Für sie dagegen ist Sex und noch Wozu sie in der Bürokomödie „Reine „Amazone“. Bisher gibt es dafür zwar erst mehr, sexy zu sein, das Einzige, bei dem sie Chefsache“, die im Frühjahr im Kino lief, das Drehbuch, aber das Projekt ist von sich auf ihr Können verlassen kann. reichlich Gelegenheit hatte, denn der Re- vornherein als Blockbuster geplant. Tatsächlich ist Scarlett Johansson mit ei- gisseur Paul Weitz, so Johansson, „dreht Als sie acht Jahre alt war, hat Laurence ner seltsamen Mischung aus Trägheit, Ag- eine Szene 15-mal, aus jedem erdenklichen Fishburne, mit dem Johansson damals dreh- gression und Hysterie noch nie so sexy ge- Winkel“. Das „schätze ich aber auch“, sagt te, gefragt, ob sie Schauspielerin oder Star wesen wie in „Match Point“. sie. Dies jedoch ist eine Floskel, die ein werden wolle. „Star!“, rief sie, doch er kor- Chris fühlt sich Nola auch deshalb so Hollywood-Profi nach 13 Jahren im Enter- rigierte: „Nein, nein, Scarlett, das möchtest nahe, weil sie beide soziale Aufsteiger sind. tainmentbetrieb und Dutzenden von In- du nicht, du willst Schauspielerin werden.“ Sie beherrscht die Umgangsformen der terviews von sich gibt, wenn er den Ver- Wirklich? Im Moment fliegt Johanssons höheren Gesellschaft aber schon deutlich dacht hat, etwas Kontroverses gesagt zu Ball in der Luft, und es ist noch nicht ent- besser. So bestellt sie im Restaurant bei- haben. Etwas, das der Karriere schaden schieden, auf welcher Seite des Netzes er spielsweise gleich Blinis mit Kaviar, könnte. landen wird. Marianne Wellershoff

der spiegel 52/2005 131 Prisma Wissenschaft · Technik

UNIVERSITÄTSKLINIKEN Augustine-Vulkan in Alaska (12. Dezember) „Nur mit Forschung konkurrenzfähig“ Wolfgang Pföhler, 52, Vorstandsvorsit- zender der Rhön-Klinikum AG, über die heikle Frage der Forschungszu- sammenarbeit zwischen dem privati- sierten Universitätsklinikum Gießen/ Marburg und den in Landeshand ver- bleibenden medizinischen Fakultäten.

SPIEGEL: Sie werden demnächst dem Land Hessen für 112 Millionen Euro das zuvor fusionierte Universitätsklinikum Gießen/Marburg abkaufen. Warum wollten Sie unbedingt eine Uniklinik haben?

Pföhler: Rhön wäre zwar durchaus in A. POWER / AP J. der Lage, sich ein eigenes Forschungs- zentrum zu leisten. Aber nur mit einer GEOLOGIE Uniklinik können wir internationale Spitzenforschung machen und so lang- fristig konkurrenzfähig bleiben. Warnung vor den Aschewolken SPIEGEL: Sie haben den Fakultäten zwar zugesichert, die Freiheit von Forschung ankt Augustin grummelt und tobt in- nicht nur Anwohner betreffen, sondern und Lehre uneingeschränkt zu achten ... Snerlich. Ein Ausbruch des Augustine- auch Flugpassagiere aus aller Welt. Als Pföhler: ...das tun wir auch … Vulkans in Alaska steht womöglich di- 1989 der nahe gelegene Mount Redoubt SPIEGEL: ...doch offenbar haben Sie rekt bevor, warnt der Geophysiker Peter ausbrach, setzten kurzfristig alle Trieb- auch eigene Vorstellungen davon, was Cervelli vom Alaska Volcano Obser- werke eines niederländischen Jumbojets in Gießen und Marburg in Zukunft er- vatory. Die Eruption könnte der erste aus, weil er durch die Aschewolke ge- forscht werden soll. Test für eine Art Vulkanwetter-Vorher- flogen war. „Der hochaggressive Vul- Pföhler: Natürlich – aber nur mit dem sage werden, mit der eine Früherken- kanstaub reichte damals über zwölf Ki- Geld, das wir zusätzlich zur Verfügung nung der gefährlichen Aschewolken lometer hoch“, so Cervelli, „und er stellen. Neben dem Geld, das das möglich werden soll. Zurzeit wird der hätte theoretisch auch über die ganzen Land den Fakultäten weiterhin zur Gipfelbereich des 1260 Meter hohen USA getrieben werden können.“ Der Verfügung stellt, haben wir eine indu- Feuerbergs ständig von Dampfexplosio- Forscher ist derzeit per Hubschrauber strienahe Stiftung gegründet und wer- nen erschüttert, die bereits mehrere auf der Vulkaninsel unterwegs, um ein den auch selbst investieren. Forschung Messinstrumente zerstört haben; eine Messnetz aus insgesamt 18 Seismo- verstehen wir dann aber als eine Fahne aus Dampf und Rauch zieht 75 metern, 5 Neigungsmessern, 9 GPS-Sen- Dienstleistung. So wollen wir in Mar- Kilometer weit über das Meer; und über soren und mehreren Webcams auf- burg eines der deutsch- der Kleinstadt Homer hängt schwefliger zubauen, welches vor einem solchen Ri- landweit ersten Zen- Gestank. Eine Eruption könnte jedoch siko warnen soll (www.avo.alaska.edu). tren für Schwerionen- und Protonentherapie, also für eine innovati- ve Form der Krebsbe- handlung, bauen. Eine ma hat einen Roboter mit Schiffsrumpf weitere Idee ist ein entwickelt, der für mehr Sicherheit auf

MATHAES / ULLSTEIN BILDERDIENST / ULLSTEIN MATHAES Zentrum für Pande- den Weltmeeren sorgen soll. Die mit al- Pföhler mieforschung, wo es lerlei Überwachungselektronik versehe- beispielsweise um die nen Drohnenboote können Schiffe beste Abwehrstrategie gegen die Vogel- durch gefährliche Gewässer eskortieren grippe geht. und wichtige Seewege überwachen. SPIEGEL: Nehmen Sie auf diese Weise Entdecken die Sensoren der schwim- nicht indirekt doch massiven Einfluss Roboterschiff „Ghost Guard“ menden Wächter eine Gefahr, wird auf die Forschung der Fakultäten? zunächst per Funk die Küstenwache Pföhler: Wir haben nur die Rechte, die je- SCHIFFFAHRT alarmiert. Dann übermitteln die Boote der Drittmittelgeber hat. Bei der Wahl ihre Position und nehmen gegebenen- der Professoren, die ja zugleich die Chef- Roboter gegen Piraten falls die Verfolgung der Piraten auf, ärzte der Kliniken sind, haben wir nur ein erklärt Keith Henderson von MRVI. Mitspracherecht. Doch wir hoffen durch- atrouilliert der Ghost Guard, blei- Zudem sorge der Einsatz der unbe- aus, dass ein von uns geführtes Uniklini- Pben Piraten lieber im Hafen – jeden- mannten Ghost Guards dafür, dass kum automatisch auch die in unseren Au- falls, wenn es nach Marine Robotic Ves- auf Patrouillenfahrten keine Menschen- gen richtigen Leute anziehen wird. sels International (MRVI) geht. Die Fir- leben mehr gefährdet werden.

der spiegel 52/2005 133 Wissenschaft · Technik · Rückblick 2005 Prisma

Größenordnung gab es noch „gottlose“ Justiz. Die ganze nie. Wahrscheinlich lastete Welt wird Zeuge ihres öffent- auch noch nie ein solcher lichen Sterbens durch angeb- Druck auf einem Luftfahrt- lich „qualvolles Verhungern konzern. Zehn Milliarden und Verdursten“. Der Vati- Euro Entwicklungsetat veran- kan spricht von Mord. Nach schlagte Airbus – letztendlich ihrem Tod ergibt die Obduk- wurden es eineinhalb Milliar- den mehr. Und nun verzögert sich die Auslieferung des ers- ten A380 auch noch um ein halbes Jahr auf Ende 2006. Damit das Projekt A380 in die Gewinnzone kommt, muss Konzernchef Gustav

Humbert mindestens 250 bis / AFP MAY MATT 300 Maschinen verkaufen. Patientin Schiavo, Mutter

STERBEHILFE tion, was Neurologen in all den Jahren immer wieder Erkämpfter Tod diagnostiziert hatten: Alle Gehirnstrukturen, mit denen m 31. März stirbt Terri Terri Schiavo irgendetwas ASchiavo in einem kalifor- hätte wahrnehmen können, nischen Hospiz – 13 Tage auch Schmerz oder Hunger, nachdem auf richterliche An- waren längst unwiderruflich

U.S. COAST GUARD / GETTY IMAGES GUARD COAST U.S. ordnung die Magensonde ent- abgestorben. New Orleans (am 29. August) fernt worden war, die die Wachkomapatientin am Le- ZITATE 2005 METEOROLOGIE LUFTFAHRT ben erhalten hatte. Ihr Fall wird zum Lehrstück über Le- »Es ist mir peinlich. Ich bin Windige Monster Weißer Riese ben und Sterben in Zeiten ein alter Mann, und meine der hochtechnisierten Medi- Entdeckung habe ich vor 40 atrina“, „Rita“ und „Wil- ie Astronauten sahen zin. 15 Jahre zuvor hatte die Jahren gemacht. Das alles Kma“ waren die größten Wdie Crew-Mitglieder in damals 26-Jährige nach einem ist lange her.« Zerstörer des Jahres. Mit ihren orangefarbenen Over- Herzstillstand für immer das Der französische Chemiker mehr als 250 Stundenkilome- alls aus – und so wurden sie Bewusstsein verloren. In ei- Yves Chauvin, 75, tern erreichten sie die Hurri- nach der Landung auch gefei- nem sieben Jahre währenden zu seinem Nobelpreis kan-Spitzenkategorie 5. Aber ert. Bei dem Jungfernflug des Gerichtsstreit fordert Michael auch „Dennis“, „Emily“ und neuen Airbus-Flaggschiffs Schiavo, Terris Ehemann und »Es ist vielleicht besser, die anderen hatten es in sich: A380 im April verlief alles ge- gesetzlicher Betreuer, die wenn man ihn nicht zu früh 14 von 26 tropischen Wirbel- nau so wie geplant. „Der Start Einstellung der lebenserhal- bekommt. Ich kenne Nobel- stürmen wuchsen in diesem war so leicht wie Fahrradfah- tenden Maßnahmen, da Terri preisträger, die danach Jahr bis zum Hurrikan heran; ren“, gab Testpilot Jacques so niemals hätte leben wol- praktisch aufgehört haben sonst sind es sechs pro Jahr. Rosay noch auf dem Rollfeld len. Terris Eltern behaupteten zu forschen.« Zeitweise im Wochentakt zo- des Flughafens Toulouse- dagegen, ihre Tochter wolle Der deutsche Physiker Theodor gen sie Schneisen der Verwüs- Blagnac bekannt. Elf Jahre leben und könne möglicher- Hänsch, 64, zum selben Anlass tung durch die Küstenregio- brauchten die Ingenieure für weise irgendwann wieder auf- nen des Atlantiks. Nie war die technische Ausnahmeleis- wachen. Nachdem das Ge- »Langsamfahrer rufen bei die Wucht der tropischen tung. Bequemer, weiter und richt Michael Schiavo recht vielen anderen Verkehrsteil- Winde größer und der Scha- vor allem zu viel geringeren gegeben hat, wird die Frau, nehmern Aggressionen her- den gewaltiger. Allein für Pro-Kopf-Kosten soll der Me- die sich nicht wehren kann, vor. Wer zum Beispiel in ei- „Katrina“ werden in den galiner seine bis zu 873 Flug- von Politikern und Religiösen ner Tempo-50-Zone 49 fährt, USA mehr als 200 Milliarden gäste transportieren. Ein Pas- vereinnahmt als Märtyrerin provoziert dadurch mitunter Dollar für den Wiederaufbau sagierflugzeug in dieser im Kreuzzug gegen eine riskante Überholmanöver.« veranschlagt. Ob der Mensch Hermann Fedrowitz, durch den CO2-Ausstoß und ADAC-Mitarbeiter, über Gefahren die dadurch verursachte Er- auf deutschen Straßen wärmung der Atmosphäre die Katastrophenstürme anfacht, »Früher hatten wir Angst vor darüber sind sich die Forscher Kometen. Jetzt ist der Komet nicht einig. Tatsache ist: Das mal dran, sich zu fürchten.« Jahr 2005 wird – mit 0,48 Weltraumforscher Andrew Coates, 48, Grad Celsius über dem Mittel über die Deep-Impact-Mission, bei der Jahre 1961 bis 1990 – das der die NASA den Kometen „Tempel 1“

zweitwärmste Jahr seit Be- MICHAEL RÖHS mit einer Metallsonde beschoss ginn der Wetteraufzeichnung. Airbus A380 (in Frankfurt am Main)

134 der spiegel 52/2006 Titel AKG Evolutionsforscher Darwin (Porträt von 1840), Schulkinder in Saurierausstellung (in London): Seit je befällt den Menschen Staunen Darwins Werk, Gottes Beitrag In den USA eskaliert ein Kulturkampf. 150 Jahre nach Darwin versucht die religiöse Rechte aufs Neue, die moderne Evolutionsbiologie zu demontieren und damit der aufgeklärten Gesellschaft die Grundlage zu entziehen. Das nächste Ziel der Wissenschaftsfeinde: Europa.

m Anfang war die Riesenmuschel. Ihn hieß er, sich die Erde untertan zu ma- Mensch – und damit das einzige Tier, das Und es kam über sie Areop-Enap, chen. Höchstens 10 000 Jahre ist all das fähig ist, seinen Ursprung zu erforschen. Adie Alte Spinne. Mit einem Zauber jetzt her. Die erste Geschichte ist ein Schöp- zwang sie die Schalenhälften auseinander Noch mal neu: Am Anfang waren Mo- fungsmythos von der Insel Nauru im Süd- und verwandelte sie in Himmel und Erde. leküle. Aus ihnen entstanden mikrosko- pazifik, der kleinsten Republik der Welt. Der Schweiß des Wurms Rigi aber, ihres pisch kleine Zellen. Ein jedes dieser Ge- Die zweite Version von der Schöpfung leh- Gehilfen, sammelte sich zum salzigen Oze- schöpfchen vererbte seine Gene, die per ren die Christen. Die dritte Theorie beruht an. Aus Steinen schließlich schuf die Alte Zufall variierten und neue Formen her- auf Erkenntnissen des britischen Naturfor- Spinne – den Menschen. vorbrachten. Die kräftigsten, flinksten und schers Charles Darwin. Nein, ganz anders: Es ward Licht – am widerstandsfähigsten Wesen überlebten Die Evolution, meint Connie Morris, sei ersten Tage. Dann trennte der Allmächtige und gaben ihr Erbgut weiter. Jahrmillio- „ein uraltes Märchen“. Und Kathy Martin den Himmel von der Erde. Später machte nen später hatten sich auf diese Weise Tie- sagt: „Ich bezweifle, dass der Mensch vom er sich daran, Pflanzen, Fische, Vögel und re und Pflanzen entwickelt. Am Ende ent- Affen abstammt.“ Die Erde sei weniger als sonstiges Getier zu schaffen. Am sechsten stieg, Schritt für Schritt, dem Spiel der 10000 Jahre alt, glaubt Steve Abrams. Tag schließlich gelang ihm sein Meister- Gene faszinierend Komplexes: erst der Die drei sind Mitglieder im Rat der werk: der Mensch, Krone aller Schöpfung. Affe und viele Mutationen später der Schulbehörde von Kansas. Sie geben vor,

136 der spiegel 52/2005 PRESSNET / BULLS PRESS (L.); BROOKS KRAFT / CORBIS SYGMA (R.) KRAFT / CORBIS SYGMA PRESS (L.); BROOKS PRESSNET / BULLS angesichts der vielen Wunder des Lebens US-Präsident Bush: Traum vom amerikanischen Gottesstaat

gemeinsam mit sieben Kollegen, was die der 50 Bundesstaaten der führenden In- Zum Showdown im Kulturkampf ist es Schüler des US-Bundesstaats lernen sol- dustrienation. Selbst in liberalen Bastio- jetzt in Pennsylvania gekommen. In der len. Und weil die meisten unter ihnen sich nen wie Michigan und New York wurden Kleinstadt Dover hatten elf Mütter und Vä- einig sind, dass weder Areop-Enap noch neue Gesetze erwogen, wie die Lehre der ter gegen ihren Schuldistrikt geklagt, weil die Moleküle am Werke waren, sondern Evolution an öffentlichen Schulen zu un- ihre Kinder, von religiösen Eiferern in der dass der Allmächtige den Menschen und terrichten sei. Biologiestunde angestachelt, zu Hause das Leben überhaupt aus der Taufe geho- Das langfristige Ziel der Darwin-Geg- voller Hass über die Abstammungslehre ben hat, fassten sie bei ihrer Sitzung im ner geht weit über die Lehrpläne hinaus: herzogen. Jegliches Gerede von einem in- November einen folgenschweren Ent- „Die Grundlage aller Wissenschaft soll telligenten Schöpfer, fanden die Kläger, schluss: Die Biologielehrer von Kansas sol- durch einen christlichen Theismus ersetzt habe im Unterricht nichts zu suchen. Denn len nicht mehr nur die Evolution lehren. werden“, verlangte schon vor sieben Jah- die Verfassung der Vereinigten Staaten ver- Sie sollen auch von einer überirdischen ren Phillip Johnson, einer der Gründer- bietet es, religiöse Inhalte an öffentlichen Macht erzählen dürfen, einem intelligenten väter der Bewegung. „Unsere Kultur soll Schulen zu lehren. Designer, der die Menschen in all seiner erneuert werden, so dass der Mensch wie- Wochenlang wurden die Verfechter bei- Herrlichkeit geschaffen habe. Charles Dar- der als Ebenbild Gottes gesehen wird.“ der Seiten ins Kreuzverhör genommen. Am win, dem Begründer der Evolutionstheo- Beiden Seiten gilt Darwins Lehre als Dienstag hat John Jones III, Richter am rie, wurde damit der Prozess gemacht. wichtigste Bastion des humanistisch-frei- Bundesgericht in Harrisburg, den Missio- Die Entscheidung reicht weit über die heitlichen Weltbilds. Ist sie erst geschlif- naren des Intelligent Designs einen mäch- Grenzen von Kansas hinaus. Ein Kultur- fen, so fürchten viele Intellektuelle, dann tigen Dämpfer verpasst. Sie hätten „wie- kampf tost in Amerika – und die Schulräte sei es nicht mehr weit bis zur Ächtung al- der und wieder gelogen“, um ihr wahres haben vor den Augen der Welt einen Etap- ler Linken, Homosexuellen und Abtrei- Ziel zu erreichen, nämlich „Religion ins pensieg errungen: für die Sache des Herrn, bungsbefürworter. Die Gläubigen wieder- Klassenzimmer der öffentlichen Schule zu für die mächtige Bewegung der religiösen um haben Angst, dass die Biologen ihnen tragen“. Ihr Verhalten geißelte Jones in sei- Rechten. Und gegen die Wissenschaft. den Schöpfer einfach wegerklären. Ein Eu- nem ungewöhnlich harschen Urteil als eine Die Entscheidung lässt sich nicht ein- ropäer, Václav Havel, hat diese Furcht auf „atemberaubende Hirnverbranntheit“. fach abtun als Provinzposse, denn die zehn den Punkt gebracht: „Die moderne Wis- Kathy Martin, der bibelfrommen Schul- Räte repräsentieren die weiße Mittelschicht senschaft“, sagte der ehemalige tschechi- rätin in Kansas, ist der Richterspruch herz- in weiten Landstrichen der USA. Gott ge- sche Präsident, „tötet Gott und nimmt sei- lich egal: „Ich wüsste nicht, warum das an gen Darwin – so heißt es gegenwärtig in 20 nen Platz ein auf dem leeren Thron.“ unserer Entscheidung etwas ändern soll-

der spiegel 52/2005 137 Titel GERALD MAYR / SENCKENBERG MUSEUM MAYR GERALD Archaeopteryx-Fossil: Klappmesserartige Mörderkralle Chor bei christlicher Erweckungsveranstaltung te“, kommentierte sie das Urteil. Wie an Wirklichkeit des Lebens auf der Erde. Ge- „vielleicht größte intellektuelle Revolution, ihr dürfte das Verdikt an den meisten Ame- rade in diesem Jahr häuften sich dermaßen die die Menschheit erlebt hat“, meinte Wil- rikanern abperlen. bedeutende Erkenntnisse, dass das Wis- sons Kollege Ernst Mayr, der Anfang des Denn in der nach wie vor größten Wis- senschaftsmagazin „Science“ sie in seiner Jahres im Alter von 100 Jahren starb. senschaftsmacht der Welt gehen 84 Pro- aktuellen Ausgabe feiert als „Durchbruch Längst ist Darwins große Idee zum zent der Einwohner davon aus, Gott sei an des Jahres“. Herzstück jeglichen modernen Naturver- der Erschaffung des Menschen in irgend- Je mehr die Forscher über die Geheim- ständnisses geworden. „Nichts in der Bio- einer Weise beteiligt gewesen (siehe Grafik nisse der Evolution erfahren, desto näher logie ergibt Sinn, außer im Lichte der Evo- Seite 143). Und selbst Präsident George W. rückt auch des größten Rätsels Lösung: lution“, so dozierte der große russisch- Bush sprach sich im August dafür aus, den Was macht den Mensch zum Menschen? amerikanische Naturforscher Theodosius Kindern Intelligent Design beizubringen. „Alles, was wir tun, gibt letztlich auch dar- Dobzhansky. „Unerreicht seltsam“ findet es der So- auf eine Antwort“, sagt Axel Meyer, Evo- Zugleich aber hat keine Erkenntnis den ziobiologe Edward Wilson, dass die Ame- lutionsbiologe an der Uni Konstanz. Menschen tiefer beleidigt. Vom Affen soll- rikaner so schwer von der Evolution zu Euphorie beflügelt die Evolutionswissen- te der Mensch, das edle Geschöpf, die Kro- überzeugen sind. Denn die Beweise, die schaftler, denn sie fühlen sich dem Ziel so ne der Schöpfung abstammen? Nichts als Tausende Wissenschaftler im Verlaufe der nah wie nie: In immer schnellerem Tempo das Resultat zufälliger Prozesse sei er, ohne letzten 150 Jahre zusammengetragen, ge- lesen Genforscher das Erbgut ganzer Orga- Plan und Ziel, ohne heiligen Odem, der prüft und gegengeprüft haben, sind über- nismen. Gerade erst im September verkün- aus der Krume erst Leben zaubert? wältigend. Alltäglich bestätigt sich die Ab- deten sie, das Schimpansen-Genom ent- Die Abwesenheit der göttlichen Hand, stammungslehre durch Erbgut-Analysen schlüsselt zu haben. Damit sind jene 1,2 Pro- die den Ratsuchenden väterlich geleitet und Fossilfunde aufs Neue. zent der Erbgutsequenz identifiziert, die und dem Strauchelnden aufhilft, lässt die Gerade erst Anfang des Monats hat ein offenbar vonnöten waren, um aus äffischer Welt kalt und sinnlos wirken. Und der Ge- versteinerter Archaeopteryx aus der Ge- Intelligenz den Scharfsinn eines Voltaires, danke, dass alle Komplexität auf Erden, gend ums bayerische Solnhofen Aufsehen das Genie eines Mozarts, den Irrsinn eines selbst die menschliche Intelligenz und das erregt. Denn der uralte Flattermann ist der- Hitlers zu gebären. Nun machen sich die Faszinosum des Bewusstseins durch einen art intakt erhalten, dass er die Paläobiolo- Biologen daran, aus diesen Daten das mo- ziellosen Prozess entstanden sein sollen, gen aufs Deutlichste in seinen Knochen le- lekulare Extrakt des Menschseins zu filtrie- scheint schwer zu begreifen. sen lässt: Eine Zehe verrät die verblüffend ren: Wo genau verbergen sich jene Schalter, Wie schön wäre es da, wenn es gelänge, nahe Verwandtschaft des Urvogels mit den die den Ahnen den Weg wiesen zu auf- ein persönliches Wesen, einen intelligenten bipeden Raubsauriern – über eine ähnliche rechtem Gang, Sprache, Bewusstsein? Designer in diese scheinbar so entseelte klappmesserartige Mörderkralle verfügte Solche offenen Fragen ändern nichts Natur zu schmuggeln. Mit missionarischem auch sein Vetter, der Velociraptor, bekannt daran: In der gesamten Wissenschaft sei Eifer versucht dies die religiöse Rechte als gierige Bestie in „Jurassic Park“. „nichts fester etabliert, nichts erhellender Amerikas – und bereitet nun auch einen Kein Zweifel: Es finden sich noch als das universelle Geschehen der biologi- globalen Feldzug gegen Darwin vor. Lücken im Wissen um die Evolution. Auf schen Evolution“, schreibt Wilson im Das konservative Discovery Institute in der Suche nach Erklärungen forschen und Nachwort der jüngsten Neuauflage von Seattle, Denkfabrik der Bewegung, fördert debattieren die Biologen weiter. Pausen- Darwins gesammelten Werken. Selbst Re- mehr als 40 Akademiker und Buchautoren, los finden sie Fragwürdiges, Strittiges und lativitäts- und Quantentheorie reichten auf dass sie die Idee des Intelligent Designs unendlich Faszinierendes heraus über die nicht heran an die Evolutionstheorie als (ID) in die Welt aussenden. Im Sommer

138 der spiegel 52/2005 Schöpfungsmythos begreiflicher zu ma- chen. Doch welche der vielen Legenden von der Weltengründung soll man nun glauben? Wer war’s: Areop-Enap oder die Dreieinigkeit aus Brahma, Wischnu und Schiwa? Oder doch der Gott der Juden, Christen und Muslime? Der Einzige, der eine Schöpfungs- geschichte geschrieben hat, deren Wahr- heitsgehalt sich mit den Mitteln der Na- turwissenschaft prüfen lässt, ist jener Eng- länder, um den jetzt der Kulturkrieg in den USA tobt. Doch selbst Charles Darwin wusste sich anfangs die betörende Fülle der Tier- und Pflanzenwelt einzig durch einen Schöpfer zu erklären. Ja, der Mann, der am Ende Gott überflüssig machen soll- te, wollte zunächst sogar dessen Diener werden. Vielleicht hätte der junge Theologe und Amateurforscher sein Leben tatsächlich in aller Abgeschiedenheit als Landpfarrer beendet, hätte er nicht am 29. August 1831, damals gerade 22-jährig, einen dicken, in London abgestempelten Umschlag in sei- ner Post gefunden: Man bot ihm die Teil- nahme an einer Weltreise an.

THOMAS WITTE / GAMMA / STUDIO X / STUDIO / GAMMA WITTE THOMAS Vier Monate später stach die Brigg (in Cincinnati): „Moderne Wissenschaft tötet Gott und nimmt seinen Platz ein“ „Beagle“ in See. Darwin hatte seine win- zige Achterkajüte mit Probenbehältern, half das Institut dem Wiener Erzbischof Einen großen Triumph feiern die Krea- Chemikalien, Seziergerät, Mikroskop, Christoph Schönborn, einen evolutions- tionisten auch in der eigentlich strikt lai- Schleppnetz, Geologenhammer und Bü- kritischen Kommentar in der „New York zistischen Türkei. Schon 1999 erstarb dort chern vollgestopft. Nun hing er seekrank in Times“ zu platzieren. Im Oktober spon- ein Aufstand liberaler Professoren, erstickt der Hängematte über dem Kartentisch. serte es eine Konferenz („Darwin and De- durch Drohungen und Belästigungen. Den Auf der Kapverdischen Insel São Tiago sign“) in Prag, zu der 700 Anhänger ka- Schülern darf inzwischen ungestört in der sah er dann schließlich Wildkatzen durchs men. „Die Intelligent-Design-Bewegung Biologiestunde Allah als Schöpfer des Le- Dickicht huschen, grellbunte Eisvögel flat- wächst in vielen Orten“, schwärmt Insti- bens auf der Erde präsentiert werden. terten umher, Affenbrotbäume, dick wie tutspräsident Bruce Chapman. Zuverlässig können die ID-Verfechter Getreidesilos, spendeten Schatten. „So viel In Deutschland allerdings glauben nur 16 dabei an jenes Staunen appellieren, das Schönheit“, staunte Darwin, „und zu so Prozent der Bevölkerung an eine Schöp- den Menschen seit je angesichts der Wun- geringem Zweck geschaffen.“ fung à la Bibel – ein relativ kleiner Markt der des Lebens befällt. Fast scheint es, als Dreieinhalb Jahre lang segelte die für Kreationisten. Doch als der thüringi- gehöre das Grübeln über den Ursprung „Beagle“ an den Küsten Südamerikas ent- sche Ministerpräsident Dieter Althaus ei- der Welt zur natürlichen Grundausstattung lang – viel Zeit für Darwin, um am abend- nen deutschen ID-Vertreter zu einer hoch- des Homo sapiens. Denn fast alle Kulturen lichen Lagerfeuer bei Nandueiknödeln und karätigen Podiumsdiskussion lud, wurde haben auf ihre Weise versucht, die Un- gebratenem Puma-Embryo über die Rätsel klar, dass der Mix aus Metaphysik und begreiflichkeit des Daseins durch einen des Lebens zu grübeln: Wer hatte all die Wissenschaft inzwischen auch hierzulan- blutleckenden Vampire, die de salonfähig ist. Galápagos-Schildkröten schwülstigen Orchideen, die In den Niederlanden und in Italien ha- Armeen von Raubameisen ben die ID-Anhänger bereits – wenngleich Auf den Galápa- geschaffen? Was war mit kurzlebige – Erfolge errungen. In beiden gosinseln erwar- den Riesenfaultieren ge- Ländern bekundeten die Bildungsminister tete Darwin eine schehen, deren Knochen er Sympathie mit deren Ideen, und ruderten Steinwüste, de- aus dem Gestein geklopft erst nach heftigen Protesten zurück. ren eindrucks- hatte? Ausgerechnet in Charles Darwins Hei- vollste Bewohner Reiche Beute brachte der mat gelang es den Kreationisten sogar, die Riesenschildkrö- Weltreisende am Ende Schöpfungslehre im naturwissenschaft- ten waren. Der heim: 770 Seiten umfasste

lichen Unterricht staatlich unterstützter WESSEL / PHOTOPRESS Vizegouverneur sein Tagebuch, fast 2000 Schulen zu verankern. Wie im amerikani- behauptete, er weitere Seiten hatte er mit schen Bruderland führen in Großbritanni- könne bei jedem der Tiere die Herkunft angeben. Notizen gefüllt, 1529 Spe- en fundamental-christliche Millionäre den Doch Darwin schenkte dem zunächst keine Beach- zies in Spiritus eingelegt, Kreuzzug an: Das Schulsystem erlaubt ih- tung. Erst viel später interessierte er sich für die fei- 3907 Häute, Knochen und nen private Spenden – im Gegenzug kann nen Unterschiede: In der Tat hatten die Schildkröten andere Fundstücke etiket- der Sponsor Lehrinhalte beeinflussen. Be- jeder Insel eine eigene Evolution durchgemacht. tiert. Nach seiner Rückkehr sonders hervorgetan mit solchen Umtrie- Dort wo zum Beispiel Kakteen lockten, bildete ihr begann er seine Mitbringsel ben hat sich der schwerreiche Autohändler Panzer einen Sattel aus, der es ihnen erlaubte, den auszudeuten – er war zu Peter Vardy, der schon drei Schulen nach Kopf nach den Leckerbissen zu recken. seiner zweiten, noch weit- seinem Gusto führt. aus abenteuerlicheren Ex-

der spiegel 52/2005 139 Titel MARIO TAMA / GETTY IMAGES TAMA MARIO Stammbaumskizze in Darwins Notizblock: „Es ist, als gestände man einen Mord“ Drusenkopf-Leguan auf Galápagos: Nichts als das

pedition aufgebrochen, einer Expedition leuchtung: Tiere, die er ursprünglich für Denn über eines machte er sich nie Illu- des Geistes. Zaunkönige, Drosseln und Kernbeißer ge- sionen: Wer die Tiere zu Geschöpfen der Rund 15000 Briefe umfasst die Korre- halten hatte, erwiesen sich bei genauerer Evolution erklärt, der kann vor dem Men- spondenz, die Darwin hinterlassen hat. Vor Betrachtung als enge Verwandte. Sie alle schen nicht Halt machen. Selbst das Den- allem aber hat er all seine Zweifel und Fra- mussten einem Ahnen entstammen, den ken sei nichts als eine „organische Funk- gen, seine Ängste, Hoffnungen und Geis- es einst auf die entlegenen Pazifik-Inseln tion wie die Absonderung von Galle eine tesblitze seinen Notizbüchern anvertraut. verschlagen hatte. Bei einigen der Nach- solche der Leber“. Der Mensch möge sich Eine regelrechte Darwin-Industrie hat sich fahren wurde der Schnabel immer kräfti- den Orang-Utan anschauen, spottete er, an die Exegese dieses einzigartigen Doku- ger, so dass sie harte Früchte knacken nachdem er stundenlang gebannt das Af- menten-Schatzes gemacht. Denn er erlaubt konnten. Anderen wuchs ein schlankerer fenmädchen Jenny im Londoner Zoo be- es, die Entstehungsgeschichte der wohl be- Schnabel; sie pickten damit Insekten auf obachtet hatte, „seine ausdrucksvollen deutsamsten Idee der abendländischen oder saugten Nektar aus Blütenkelchen. Klagelaute anhören, seine Intelligenz erle- Wissenschaft in einer beispiellosen Detail- Kühn skizzierte Darwin einen Stamm- ben. Und er sollte sich einen Wilden an- genauigkeit zu rekonstruieren. baum und schrieb entschlossen „I think“ schauen, der seine Eltern brät, nackt und Langsam, tastend näherte sich Darwin darüber. Dem jungen Forscher war klar: Er ungesittet. Und dann soll er noch einmal dem Konzept der „Transmutation“, wie er stand an der Schwelle zur Ketzerei. Schau- wagen, sich stolz als Krone der Schöpfung den Artenwandel nannte. Vor dernd gestand er seinem Notiz- zu bezeichnen“. allem die Vögel des Galápagos- buch: „Der Teufel in Gestalt des Noch weihte er niemanden ein. Denn Archipels brachten ihm Er- Pavians ist unser Großvater!“ Darwin wusste um die enorme Spreng-

1859 Charles Darwin 1864 Der englische 1890 Eine Kampagne reli- Kampf ums Dasein begründet mit seinem Werk Premierminister Benjamin giös-konservativer Kongress- Evolutionslehre und Evolutionsstreit „On the Origin of Species“ Disraeli erklärt, im Streit abgeordneter zwingt den die moderne Evolutionslehre. um Darwins Abstammungs- führenden amerikanischen 1794 Erasmus Darwin, Großvater von Motor der Evolution ist die lehre gehe es um die Frage: Evolutionsforscher Othniel Charles Darwin, sinniert in seiner natürliche Auslese, bei der „Ist der Mensch ein Affe Marsh zum Rücktritt von „Zoonomia“ über einen möglichen die am besten an ihre Um- oder ein Engel?“ allen Ämtern. Stammbaum des Lebens. Darwin-Karikatur, 1871 welt angepassten Individuen 1809 In der „Philosophie zoologique“ größere Überlebenschancen haben und so ihre 1865 Der Augustinermönch 1901 Der Niederländer erklärt Jean-Baptiste Lamarck, dass Tier- Merkmale weiterverbreiten können. Gregor Mendel veröffentlicht Hugo de Vries entdeckt und Pflanzenarten veränderlich sind. Ge- nahezu unbemerkt die Er- die Mendelschen Gesetze brauch oder Nichtgebrauch von Organen soll 1860 Bischof Samuel Wilberforce, Wortführer gebnisse seiner Kreuzungs- neu. In seiner „Mutations- kleine Umwandlungen bewirken, die weiter- der anglikanischen Kirche, die sich gegen experimente mit Erbsen- theorie“ erklärt er spontane vererbt werden. Ständiges Hochrecken des Darwin stellt, unterliegt in einer öffentlichen pflanzen. Die Mendelschen Veränderungen des Erb- Kopfes hätte demnach der Giraffe über Debatte Thomas Henry Huxley, einem Freund Vererbungsregeln geben ers- guts zum Hauptantrieb der Generationen ihren langen Hals beschert. des Naturforschers . te Hinweise auf die Gene. Evolution.

140 der spiegel 52/2005 mals die wohl größte Kapazität der Natur- geschichte, erste Andeutungen. Und er zog den jungen, heißspornigen Thomas Henry Huxley auf seine Seite, der später als „Dar- wins Bulldogge“ dessen Thesen scharf- züngig verteidigte. Als Darwin dann im Jahre 1859 mit sei- nem großen Werk „Die Entstehung der Arten“ an die breite Öffentlichkeit trat, da war der Angriff so gut vorbereitet, das Füll- horn der Beweise so berstend voll, die Ar- gumentation so nüchtern, scharfsinnig und durchdacht, dass die Phalanx der Gegner rasch bröckelte. Bald schon hatte die Idee eines Schöp- fergottes in Europas Gelehrtenwelt weit- gehend ausgespielt. An die Stelle der Ama- teurforscher alter Prägung trat nun eine neue Generation von Wissenschaftlern, die der Natur für ein festes Salär ihre Ge- heimnisse entrissen. Von Anfang an grün- deten sie ihre Erkenntnisse und Theorien fest auf das Darwinsche Fundament. Von diesen Profis zweifelte kaum einer mehr an der Abstammung des Menschen vom Affen. Zu überwältigend stellt sich heute die Beweislage dar: Aus Grabungs- stellen in Äthiopien, in Tansania, auf Java und in China brachten die Paläoanthropo-

OKAPIA logen Schädel für Schädel, Kieferfragment Resultat von Zufällen, ohne heiligen Odem, der aus der Krume erst Leben zaubert für Kieferfragment, die verborgenen Wege der Menschwerdung ans Licht. kraft seiner Gedanken: „Es wankt und Viele taktische Einsichten sammelte er Zweifelsfrei belegen diese die Herkunft stürzt das ganze Gebäude“, schrieb er in im Laufe dieser Zeit: „Keinerlei Bemer- des modernen Homo sapiens aus Afrika. sein geheimes Notizbuch. Und das, dar- kungen über die Abstammung von Pfer- Die hatte Darwin bereits dort geortet, als er an hatte er keine Zweifel, würde die kirch- den, Hunden oder Menschen“, notierte er vermutete, dass des Menschen nächste Vet- lich geprägte Gesellschaft Englands nicht etwa – allzu groß schienen bei diesen drei tern Schimpanse und Gorilla seien. Seither hinnehmen. Hatte er nicht erlebt, wie Spezies die Empfindlichkeiten. Er merkte fielen die Fossilien wie passende Teile in Gelehrte kaltgestellt wurden, die Zweifel an, dass er auf die Verfolgung früherer das große Puzzle einer langsam sich voll- an der göttlichen Schöpfung zu äußern Astronomen durch die Kirche hinweisen ziehenden Stammesgeschichte: von affen- wagten? Hatte er nicht „mit Furcht und müsse. Und er begriff, dass er Verbündete ähnlichen Geschöpfen wie dem Sahelan- Zittern“ die wutschnaubenden Rezensio- brauchte. thropus über die Australopithecinen und nen gelesen, die jedem drohten, der die Zielstrebig und in kleinen Dosen träu- den Homo erectus bis hin zum modernen Unveränderlichkeit der Arten in Frage felte Darwin sein Gift in die Köpfe seiner Menschen (siehe Grafik Seite 147). stellte? Kollegen: Als Ersten weihte er den Bota- Mit 90-jähriger Verspätung sah sogar der Strategisch bereitete Darwin niker Joseph Dalton Hooker Stellvertreter Christi ein, dass Darwin so seinen großen Coup vor. Schon in seine Gedankengänge falsch nicht gelegen haben kann. 1950 ge- 1842 hatte er heimlich eine Skiz- ein: „Es ist, als gestände stand Papst Pius XII. dessen Lehre zu, ei- ze seiner Theorie entworfen. Bis man einen Mord“, schrieb ne „ernstzunehmen- zur Veröffentlichung ließ er die er ihm. Dann wagte er, auch de Hypothese“ zu Welt noch 17 Jahre warten. Charles Lyell gegenüber, da- sein. Selbst im

1925 In Dayton, Tennessee, wird im so- Watson und 1995 Schulbücher Button funda- genannten Affenprozess der Biologieleh- Crick 1953 in im US-Bundesstaat mentalistischer

SPL / AGENTUR FOCUSSPL / AGENTUR Cambridge rer John Scopes wegen Verbreitung der Alabama müssen mit Darwin-Gegner Evolutionslehre angeklagt und zu 100 Stickern beklebt wer- 1953 James Watson und Francis 1999 Die Schul- Dollar Bußgeld verurteilt. Das Urteil wird Crick entdecken die doppelsträngi- den, nach denen Evo- später wegen eines Formfehlers wieder lution „eine umstrittene behörde von Kansas ge Helixstruktur des Erbmoleküls verbietet den Lehrkräf- aufgehoben. DNA. Theorie ist, die nicht als Tat- sache angesehen werden darf“. ten, die Themenkreise „Ur- knall“ und „Evolution“ in um 1940 In mehreren Schriften begrün- 1987 Der oberste amerikanische Prüfungen zu behandeln. den Theodosius Dobzhansky und Ernst Gerichtshof verbannt die Schöp- 1996 Papst Johannes Paul II. er- Mayr die neue synthetische Evolutions- fungslehre aus dem Unterricht. Es klärt in einer Botschaft an die theorie: Ungerichtete Mutationen und formiert sich eine Bewegung, die Päpstliche Akademie der Wissen- 2005 In Dover, Pennsylvania, die Darwinsche Selektion ergänzen sich. sich darauf verlegt, die kreationisti- schaften, die Evolutionstheorie sei wird einer Klage von elf Eltern Die Neubildung von Arten erfolgt in schen Ideen im pseudowissen- „mehr als eine Hypothese“ und gegen ihren Schuldistrikt statt- räumlich voneinander getrennten schaftlichen Gewand zu präsen- sieht sie im Einklang mit der bi- gegeben: Intelligent Design Populationen. tieren: Intelligent Design. blischen Schöpfungsgeschichte. gehört nicht in den Unterricht.

der spiegel 52/2005 141 SHANNON STAPLETON / REUTERS (L.); SVEN DOERING / VISUM (R.) (L.); SVEN / REUTERS SHANNON STAPLETON Darwins Studierzimmer (in New York), Besucherin vor Menschenaffen-Exponaten (in Dresden): Den Weg der Erkenntnis abschreiten

Auch im Dresdner Hygiene-Museum begegnet der Besucher dem großen Na- turforscher Darwin – wenn auch nur in Wunderkammer der Natur Gestalt einer von ihm etikettierten Taube. Hier steht nicht er selbst, sondern sein Drei Ausstellungen in New York, London und Werk im Zentrum. Eine Art Wunderkammer führt ein in Dresden präsentieren Darwins Forschung und deren Folgen. die Kräfte der Evolution: Das Fell eines „Ligers“, gekreuzt aus Löwe und Tiger, tickgarn, ein Federkiel, eine Land- seinen forschenden Passagier. In einer Vi- lädt ein zum Nachdenken über den Ar- karte, in der ein Grab verzeichnet trine haben zum ersten Mal seit rund 170 tenbegriff. Die Ähnlichkeit von Ameisen- Sist – ein rührendes Ensemble, das Jahren wieder Darwins kleine Pistole, sein bär aus Südamerika, Schuppentier aus Charles Darwin da als Andenken an An- Geologenhammer und seine Bibel zusam- Java und australischem Ameisenbeutler nie aufbewahrt hat. Der Tuberkulose-Tod mengefunden. versetzt in Staunen. Fasan, Pfau und ein seiner zehnjährigen Lieblingstochter im An der Schwelle zum zweiten Raum ge- mächtiger Wapiti-Hirsch führen vor, wel- Jahre 1851 löschte in ihm den letzten Rest leiten langsam überblendete Fotos jenen che Pracht die Macht der sexuellen Aus- vom Glauben an einen gütigen Gott. Kiesweg entlang, auf dem Darwin Jahr- lese hervorzubringen vermag. Annies Schreibkasten ist eines der rund zehnte seines Lebens fast täglich seinen Dem Menschen widmet sich der zweite 400 Exponate, die derzeit in einer Aus- Gedanken nachging. Der so weit Gereiste Saal, in dem die Anordnung der Expona- stellung des American Museum of Natu- war kränklich und sesshaft geworden. Den te an antike Architektur erinnert. Säulen ral History in New York zu sehen sind: Großteil des Tages verbrachte er in dem säumen den Weg, auf denen Schädel ver- Briefe, Fossilien, Manuskripte, Proben Studierzimmer, das hier rekonstruiert ist – schiedener Vor- und Urmenschen thro- und Utensilien aus Darwins Nachlass. mitsamt Darwins spiralig verdrehtem Spa- nen; in einer Art Amphitheater führen Vi- Sie bieten einen einzigartigen Einblick in zierstock und dem Stuhl, unter dem er deos ein in den Zusammenhang von Ver- das Leben dieses außergewöhnlichen Rollen befestigen ließ, um sich müheloser halten und Evolution. Mannes. zwischen Tisch und Sekretär hin- und her- Im dritten und letzten Raum tritt der Um zwei zentrale Räume gruppiert sich bewegen zu können. Mensch nicht mehr als ein Geschöpf der die Schau. Im einen empfangen den Besu- Beide Räume verbindet eine Galerie, Natur auf, hier ist er selbst Schöpfer: Eine cher tropische Klänge, er darf sich auf Ent- in der sich gleichsam der Weg der Er- deckenhohe Wand präsentiert 14 ver- deckungsreise fühlen. In der Mitte muss er kenntnis abschreiten lässt. Er steht für schiedene Hunderassen; anhand von Hal- modellierte Felsen umschiffen, während an jene 23 Jahre, die zwischen der Rückkehr men lässt sich die Geschichte des Weizens den Gestaden ringsum Trouvaillen auf ihn der „Beagle“ und der Veröffentlichung nachvollziehen. Der Homo sapiens heizt warten: die Spottdrosseln, die Darwin auf der „Origin of Species“ vergingen. Der die Atmosphäre auf, verschleppt Arten, Galapagos schoss; das Modell jenes gewal- Betrachter wird Zeuge, wie Darwins produziert Antibiotika: Längst, so zeigt tigen Gürteltierfossils, das er aus argenti- große Idee Konturen annahm. Dokumen- sich hier, ist er zu einer Triebkraft evolu- nischem Sediment kratzte; der von ihm be- tiert ist jener Heureka-Moment, in dem tionärer Veränderung geworden. schriebene Nandu, der unter Zoologen als Darwin erstmals einen Stammbaum des Die Expedition durchs Reich des Le- „Darwin-Strauß“ bekannt ist. Lebens skizzierte, wie auch der Brief, mit bens endet in einer kreisrunden Kammer In einem Brief äußert sich „Beagle“- dem er seinen Freund Joseph Dalton Hoo- mit nackten Wänden. Einziges Exponat: Kapitän Robert FitzRoy wohlwollend über ker als Ersten ins Vertrauen zog. Eines der ein Wasserglas, in dem eine klumpige, mil- wenigen erhaltenen Originalblätter von chig-trübe Substanz schwimmt – mensch- American Museum of Natural History, New York: „Dar- Darwins epochalem Hauptwerk bildet den liche DNA. win“, bis 29. Mai 2006; Deutsches Hygiene-Museum, Abschluss – es diente zwischenzeitlich als So faszinierend die Einblicke ins Wun- Dresden: „Evolution. Wege des Lebens“, bis 23. Juli 2006; Science Museum, London: „Science of Aliens“, Schmierpapier, wie Kinderzeichnungen derreich der Evolution, so vermeiden es bis Ende Februar 2006. auf der Rückseite beweisen. doch beide Ausstellungen sich ausführli-

142 der spiegel 52/2005 Titel

Vatikan betrachtete man die Evolution UMFRAGE: EVOLUTION fortan als „einer Erforschung und vertie- fenden Reflexion würdig“. Ganz anders jenseits des Atlantiks. Dort „Welche der folgenden An- war eine Nation erstanden, die zu einem nahmen kommt Ihrer Vorstel- Gutteil das Werk von Sektierern war. „Das lung von der Entwicklung des weiße Amerika wurde von Menschen ge- Menschen am nächsten?“ gründet, die von religiösen Ideologien ge- Der Mensch hat sich über Millionen trieben waren“, sagt der Philosoph Michael von Jahren hinweg aus anderen Ruse, 65, von der Florida State University Lebensformen entwickelt. in Tallahassee. Bis tief ins Landesinnere wa- Gott hat diesen Prozess gesteuert. ren die Trecks der Puritaner, Mennoniten und anderer Frömmler vorgedrungen, um Deutsche 33% dort ihren Glauben ausleben zu können. Ihre Kinder schickten sie auf eigene Schu- AmerikanerAmerikaner 31% len und Universitäten, von den Eliten an der Ostküste schotteten sie sich ab. Auf die- Gott hatte keinen Einfluss auf se Weise entstand im Süden und im mitt- diesen Prozess. leren Westen der USA eine breite religiöse Strömung, deren Anhänger sich nach einer 46% populären christlichen Schriftenreihe „Fun- damentalisten“ nannten. 12% Ihre Nachfahren gehen heute viel häufi- cher der jüngsten Kontroverse darum zu ger in die Kirche als gläubige Europäer; Gott hat den Menschen in seiner widmen. „Wir wollten Darwin nicht ver- vor allem aber nehmen sie die Bibel beim jetzigen Form erschaffen, genau wie teidigen, sondern ihn und seine Ideen fei- Wort. Deshalb sind sie entschlossen, Dar- es die Bibel beschreibt. ern“, erklärt Ellen Futter, Präsidentin des wins Lehre vom Artenwandel wieder New Yorker Museums. zurückzutauschen gegen die Bibelstory. 16% Auch in Dresden führt nur eine tem- Weil er das nicht glauben wollte, wurde pelartige Installation in die bezaubernden dem Biologielehrer John Scopes 1925 in 53% Schöpfungsmythen ein, die verschiedene Dayton, einem beschaulichen Städtchen in TNS Infratest für den SPIEGEL vom 6. bis 8. Dezember; Kulturen hervorgebracht haben. Kreatio- den Hügeln Tennessees, der Prozess ge- Gallup-Umfrage für CNN/USA Today vom 8. bis 11. Septem- nismus und Intelligent Design aber wer- macht. Der junge Pädagoge hatte es gewagt, ber; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: den ausgespart. „Wir wollten zeigen: Das seinen Schülern Darwins Theorie über die „weiß nicht“/keine Angabe ist Evolution!“, sagt Museumsdirektor Abstammung des Menschen zu erklären Klaus Vogel. Und Ausstellungsleiterin Col- und damit gegen das Gesetz verstoßen. zu bremsen. Schockiert über den Vorstoß leen Schmitz erklärt, sie habe doch nicht Der „Affenprozess“ fesselte das ganze der Sowjets in den Weltraum trieb die US- das kreationistisch gefärbte Pseudolehr- Land. Hinreißende Wortgefechte lieferten Regierung die naturwissenschaftliche Aus- buch der deutschen Biologen Junker und sich Befürworter und Gegner der Evolu- bildung der Schüler voran. Die Anti-Evo- Scherer neben Darwin-Manuskripten prä- tion. Als erstes Gerichtsverfahren der US- lutionisten wurden zurückgedrängt. sentieren können. Geschichte wurde der Prozess im Radio Und doch war es noch bis in die achtzi- Wer Sehnsucht nach Überirdischem übertragen; ein Millionenpublikum nahm ger Jahre in einigen US-Bundesstaaten aus- hat, dem sei deshalb eine dritte Ausstel- so Anteil daran, wie die Kreationisten den drücklich verboten, Schülern die Sache mit lung im Londoner Science Museum emp- Sieg davontrugen. Lehrer Scopes wurde zu den Affen zu erklären, ohne dem zugleich fohlen, die sich mit der „Wissenschaft der einer Geldstrafe von 100 Dollar verurteilt. die biblische Version entgegenzuhalten. Aliens“ befasst. Auch sie beschäftigt sich Erst der Sputnik-Schock Ende der fünf- Erst 1987 entschied der Oberste Gerichtshof zunächst mit der Evolution auf Erden, um ziger Jahre vermochte den Kreationismus schließlich in einem Musterprozess, Krea- dann daraus auf mögliches Leben auf fer- tionismus verbreite eine re- nen Planeten zu schließen. Die Präsenta- Orang-Utan ligiöse Ansicht – und sei des- tion von fliegenden Walen und intelligen- halb ein für allemal aus der tem Schleim ist zwar sehr spekulativ, aber Am 28. März Bio-Stunde zu verdammen. immerhin bedienten sich die Ausstel- 1838 sah Dar- Das Urteil zwang die lungsmacher sehr hochkarätigen wissen- win seinen ers- Kreationisten, ihre Idee an- schaftlichen Beistands. ten Menschen- ders zu verpacken: „Intelli- Weniger vage, und dennoch durchaus affen. Das gent Design“ wurde zur geeignet geradezu religiösen Schauder Orang-Utan-Mäd- neuen Parole der Gottes- auszulösen, ist der Abschluss der New chen Jenny war krieger. Die Strategie be- Yorker Ausstellung: Sie entlässt den Be- vom Londoner stand darin, evolutionäre

sucher in einen Orchideengarten, in dem / DPA / PICTURE-ALLIANCE GRUBITZSCH W. Zoo gekauft und Kräfte in der Natur zwar der letzte Satz von Darwins „Origin of züchtig in Kleider nicht völlig zu leugnen, Species“ prangt: Es sei etwas „wahrlich gehüllt worden. Fasziniert beobachtete Darwin, wie doch überall dort, wo die Erhabenes“, so schrieb er, „dass, während sich das Tier auf den Rücken warf, mit den Füßen moderne Biologie noch vor sich unser Planet nach den Gesetzen der strampelte und schrie, als ihm der Wärter einen Ap- Rätseln steht, eine überirdi- Schwerkraft im Kreise bewegt, aus einem fel nicht geben wollte – „wie ein unartiges Kind“, no- sche „Intelligenz“ zur Er- so schlichten Anfang eine unendliche tierte er. Noch allerdings dauerte es viele Jahre, bis klärung zu beschwören, die Zahl der schönsten und wunderbarsten Darwin beim Vergleich von Gorilla, Schimpanse und den Lauf der Naturge- Formen entstand und noch weiter ent- Orang-Utan feststellte, dass die Menschenaffen Afri- schichte gelenkt habe. steht“. Johann Grolle kas mit dem Menschen noch näher verwandt sind. In Wirklichkeit freilich besteht der Wandel vom

der spiegel 52/2005 143 ENGLISH HERITAGE ENGLISH Äquatortaufe auf der „Beagle“: Über die Natur grübeln bei gebratenem Puma-Embryo Schmuckhornfrosch: Arten erzeugen, ohne die

Kreationisten zum ID-Jünger zumeist nur behaupten, Mensch und Dinosaurier hät- Schöpfungslehre durchtränktes, angebli- darin, an die Stelle des alten „Gottes“ den ten gleichzeitig die Erde bevölkert. Oder ches Biologiebuch. Der Anlass: Das Mach- neuen „Intelligenten Designer“ zu setzen. sie errechnen anhand biblischer Angaben werk hatte einen – von den Frömmlern Michael Behe, ein bärtiger Biochemie-Pro- die Größe von Noahs Arche („Mindest- selbst ausgelobten – Schulbuchpreis ge- fessor und Vordenker des ID, ist einer von maße: 135 m x 22,5 m x 13,5 m“). „Das ist wonnen. denen, die das bestens beherrschen. Er ist so dumm“, sagt Kutschera, „dass ein Fach- Als „sehr gutes Beispiel für werteorien- der Star unter jenen 41 „Fellows“ und „Se- mann nur den Kopf schütteln kann.“ tierte Bildung und Erziehung“ empfahl nior Fellows“ des Discovery Institute, de- Als gefährlicher stuft der Biologe die der ehemalige Physiklehrer das Buch für ren Aufgabe es ist, überall dort, wo in den wissenschaftlich ausgebildeten Schöp- den Biologieunterricht und wetterte gegen USA Darwin zur Disposition steht, bibel- fungslehrer und ID-Jünger ein. „Die miss- die „Evolutionsgläubigen“ und ihre nur frommen Sektierern den pseudo-wissen- brauchen ihre akademischen Titel, um „scheinbar in sich schlüssige Theorie“. schaftlichen Überbau zu liefern. Glaubensinhalte getarnt als wissenschaft- Althaus’ Sympathie mit der Sache der Die Umtriebe der Discovery-Leute sind liche Fakten unters Volk zu bringen“, Bibeltreuen ging so weit, dass er kürzlich Teil einer Strategie, die vom Traum eines schimpft Kutschera. Dies mache es mitun- einen der Autoren des Pseudo-Schulbuchs, amerikanischen Gottesstaates geleitet ist. ter schwer, die versteckte christliche Mis- Siegfried Scherer, einlud zum „Erfurter Das Institut wird zum Teil von den glei- sion als solche zu entlarven. Dialog“ in der Staatskanzlei. Der thürin- chen christlichen Konservativen finanziert, Neben Kardinal Schönborn, der nicht gische Ministerpräsident hatte sich damit die George W. Bush ins Weiße Haus ver- müde wird, in seinen Katechesen im Wie- einen Referenten ausgesucht, der nicht holfen haben. Der „New York Times“ zu- ner Stephansdom die Darwinsche Lehre nur allen Ernstes versichert, alle Menschen folge flossen 2003 ungefähr 4,1 Millionen zu geißeln, fanden die Kreationisten schon auf diesem Planeten stammten von Adam Dollar an Zuschüssen und Spenden – un- vor drei Jahren einen weiteren wichtigen und Eva ab. Scherer behauptet auch, be- ter anderem von insgesamt 22 Stiftungen, Verbündeten in Dieter Althaus, heute sonders bizarr für einen Mikrobiologen etwa zwei Drittel davon mit ausdrücklich thüringischer Ministerpräsident. Der Christ- mit Lehrstuhl an der TU München, der religiösen Zielen. demokrat und gläubige Katholik sollte Tod sei als „Folge des Sündenfalls“ in die Ein internes Manifest aus dem Discovery die Laudatio halten auf ein von der Welt gekommen. Institute beschreibt die wahren Motive: Erst die öffentliche Em- „Die materialistische Sichtweise der Rea- Galápagos-Finken pörung zwang Althaus, den lität infizierte letztlich alle Bereiche unserer Schöpfungsgläubigen wieder Kultur, von der Politik/Wirtschaft bis zur Bedeutsam wa- auszuladen. Am Dienstag Literatur/Kunst.“ In einer auf 20 Jahre an- ren die Galápa- dieser Woche dann gab er gelegten Kampagne solle deshalb die Idee gosinseln für die Unterstützung der Glau- des ID in die Köpfe der Menschen ge- Darwin nicht nur bensbrüder völlig auf: „Ich pflanzt werden. Dazu heißt es in dem Ma- wegen ihrer vertrete weder Kreationis- nifest: „Design-Theorie verspricht, die er- Schildkröten. mus noch Intelligent De- stickende Vorherrschaft der materialisti- Als noch wichti- sign.“ Dass das christliche schen Weltanschauung umzustoßen und sie ger erwiesen Bio-Buch in thüringischen

durch eine Naturwissenschaft zu ersetzen, DAVIDBRANDT.DE sich die Vögel, Schulbibliotheken steht, fin- die mit christlichen und theistischen Über- die er auf dem de er „gar nicht gut“. zeugungen in Einklang steht.“ Archipel geschossen hatte. Erst der Präparator in Den meisten Wissen- Verglichen mit ihren Geistesverwandten London wies ihn darauf hin, dass die meisten von schaftlern fällt es schwer, jenseits des Atlantiks dümpelt die kleine ihnen eng miteinander verwandt waren und sich sich mit wirren Thesen wie Schar deutscher Kreationisten bescheiden nur an verschiedene Nischen angepasst hatten. In- denen Scherers abzugeben. vor sich hin. Der Kassler Evolutionsbiolo- zwischen sind sogar weitere Details über die „Dar- „Die Physiker müssen sich ge Ulrich Kutschera, der ein ganzes Buch winfinken“ bekannt. Besonders spektakulär: Einige ja auch nicht mit jedem aus- der hiesigen Szene und ihren Umtrieben krallen sich im Gefieder großer Seevögel fest und einander setzen, der an Erd- gewidmet hat, teilt sie in zwei Lager: Ei- zapfen mit scharfem Schnabel ihre Opfer an. strahlen und Wünschelruten nerseits gebe es da die „Esoterischen“, die glaubt“, klagt Kutschera.

144 der spiegel 52/2005 JOE MCDONALD / AMERICAN MUSEUM OF NATURAL HISTORY MUSEUM OF NATURAL / AMERICAN JOE MCDONALD Welt von Grund auf neu zu erfinden

Lieber widmet er sich seinem Job. Und der besteht darin, die vielen noch unbekannten Details des großen Darwinschen Daseins- kampfs aufzuklären, aus dem die heutige Vielfalt des Lebens hervorging. Die Fortschritte der Mikrobiologie ma- chen es den Forschern inzwischen mög- lich, direkt im Labor Zeuge des evolu- tionären Wandels zu werden. Über Aber- tausende von Generationen hin vermehren die Forscher Bakterien in Flüssigkultur und setzen sie dabei den widrigsten Umwelt- bedingungen aus. Täglich bestätigt sich da- bei das Prinzip von Variation und Auslese. „Wir können sogar die Urahnen dieser Bakterien wieder auftauen und gegen ihre heutigen Nachkommen antreten lassen“, schwärmt Kutschera. „Das ist, als würden wir einen Tyrannosaurus rex zum Leben erwecken und schauen, wie er sich durch- setzt gegen einen heutigen Raubsäuger, ei- nen Löwen zum Beispiel.“ Und gerade erst vor zwei Wochen ver- meldeten die Forscher, nach dem Schim- pansen- nun auch das Hunde-Genom ent- schlüsselt zu haben. Bald wird sich im Detail nachvollziehen lassen, wie gering- fügige Unterschiede im Erbgut die Gestalt verändern und Spitz, Dogge oder Schäfer- hund hervorbringen können. Schon haben Evolutionsbiologen be- gonnen, in einer internationalen Großan- strengung anhand der Gendaten einen gi- gantischen „Tree of Life“, einen Stamm- baum allen irdischen Lebens zu zeichnen. „Mit Gen-Analysen haben wir zum Bei- spiel herausgefunden, dass der Lungen- fisch viel näher mit uns Säugetieren ver- wandt ist als der Quastenflosser, der immer noch in vielen Biologiebüchern als Urahn steht“, erklärt Meyer. Zudem könnte die Genom-Analyse hel- fen, der Evolution besser auf die Schliche zu kommen. Wie genau verwandelten sich Beine in Flügel und Flossen in Beine? Wie- so gibt es Hunderttausende Käferarten, aber nicht einmal 300 verschiedene Prima-

der spiegel 52/2005 145 WOLFGANG VOLZ / LAIF WOLFGANG Urmensch-Schädel im Tomografen: Das Extrakt des Menschseins filtrieren

ten? Wie hat die Natur überhaupt diese un- 44 Spezies, darunter zum Beispiel die ermessliche Vielfalt hervorbringen können? Störe. Eine Antwort kennen die Evolutions- Das Prinzip, nach dem die Erbgutver- biologen schon: Sex. Wenn das Erbgut von dopplung zur Artenmehrung beitrug, be- Männchen und Weibchen verschmilzt, ent- schreibt Fischexperte Meyer so: „Kopie A steht, in Gestalt der Nachkommen, in jeder macht den normalen Job. Und Kopie B Generation überraschend Neues an Far- mutiert fröhlich vor sich hin.“ Das eine ben, Formen – und letztlich, sehr viel spä- Genom garantierte also den gewöhnlichen ter, auch Arten. Fortpflanzungs- und Überlebensbetrieb. Der Sex trägt auch direkt zur Artbildung Mit der Kopie aber konnten die Fische ge- bei, wie sich zeigt. Manchmal scheinen sich fahrlos experimentieren. Varianten, die Angehörige ein und derselben Art plötz- funktionierten und Vorteile brachten, wur- lich nicht mehr sexy zu finden und ent- den fest installiert. 20000 Jahre reichen da wickeln sich fortan getrennt voneinander locker aus, fand Meyer in Nicaragua, um weiter. Bei vielen der 500 Buntbarsch-Spe- neue Arten hervorzubringen; das ist ein zies im afrikanischen Victoriasee etwa Wimpernschlag in der Naturgeschichte. scheint es so gewesen zu sein. Sex und Genomverdoppelung – es Doch warum fahren einige der Fisch- scheint, als habe die Natur beide Mecha- weibchen plötzlich ab auf goldene Lover nismen hervorgebracht, um möglichst und lassen die alten, schwarzweißen Favo- rasch neue Arten hervorbringen zu kön- riten links liegen? Wie und wo schlägt sich nen. Altbewährtes wird dabei zum Roh- die Geschmacksveränderung im Erbgut stoff für Neues, das entsteht, ohne dass je- von Männlein und Weiblein nieder? des mal die Welt von Grund auf neu er- „Solche Präferenzgene, die die Partner- funden werden müsste. wahl beeinflussen, sind im Moment ein Dasselbe erstaunliche Prinzip findet sich heißes Thema“, sagt der Konstanzer For- auch bei einer anderen Entdeckung, die scher Meyer, der gerade zurückgekehrt ist derzeit in Begriff ist, das Verständnis der von einer Exkursion zu neun Kraterseen in Evolution zu revolutionieren: Die Forscher Nicaragua, wo er den Genen solch wähle- sind auf ein universelles Set von Genen rischer Buntbarsche zu Leibe rückt. gestoßen, das seit mindestens 500 Millio- Überhaupt, die Fische: Meister der Viel- nen Jahren die Entwicklung tierischer Ge- falt unter den Wirbeltieren, haben den For- stalt bestimmt – und zwar der aller Tiere, schern jüngst eine erstaunli- che Erkenntnis geschenkt – Feuerländer und damit eine jener Lücken im Theoriegebäude Anders als viele andere Na- geschlossen, in denen die turforscher seiner Zeit hatte Kreationisten so gern einen Darwin Kontakt zu Angehöri- Schlupfwinkel göttlichen gen von Naturvölkern ge- Wirkens sehen. Denn bisher habt, was sein Denken war unklar, warum einige nachhaltig beeinflusste. Das Tiergruppen eine so über- erste Mal stellte sich für ihn bordende Mannigfaltigkeit am südlichsten Zipfel Süd- hervorgebracht haben – amerikas die Frage nach der etwa die Strahlenflosser mit Rolle des Menschen in der

ihren 25000 Arten. / INTERFOTO KARGER-DECKER Natur. Rohe Gestalten sah Die Ahnen dieser Fisch- er in Feuerland auf einem gruppe, so zeigte sich nun, ins Meer ragenden Felsvorsprung hocken. Ihre heise- haben vor etwa 350 Millio- ren Laute, das Fuchteln der Arme, die dürftigen Tierfel- nen Jahren ihr Erbgut ver- le auf der schmutzigen Haut – diese Wesen waren doppelt. Von ihren armse- barbarischer als alles, was er sich in seiner Phantasie ligen Vettern, mit deren ausgemalt hatte. Bang fragte er sich: „Könnten unse- Genom dies nicht geschah, re Vorfahren gewesen sein wie sie?“ leben heute noch ganze

146 der spiegel 52/2005 Titel gleichgültig ob Qualle, Plattwurm, Mari- scher: Nur ein einziges der Baukasten- enkäfer oder Mensch. Gene muss nämlich anders reguliert wer- Wie Star-Architekten gebärden sich die- den, um in einem kanadischen See einer se sogenannten Homöobox-Gene. Sie ent- zweiten Variante des Stichlings neuen Le- werfen den großen Plan, sagen den Zellen bensraum zu schenken. Die eine Form im Embryo, ob sie Kopf oder Schwanz schützt sich mit langen Stacheln vor Raub- werden sollen, welche Erbgutstückchen ab- fischen im offenen Wasser. Der andere zulesen und welche besser stillzulegen Stichling wimmelt am Boden herum. Dort sind. Ein- und dasselbe Gen zum Beispiel aber leben gefräßige Libellenlarven, die steuert die Entwicklung des menschlichen Jungfische bevorzugt an deren Stacheln Linsenauges und des Facettenauges der packen. Das entsprechende Baukasten- Libelle. Gen ist bei diesem Seebewohner weitge- hend abgestellt, so dass ihm nur kurze Stächelchen wachsen. „Die Vielfalt entspringt nicht Schimpanse, moderner so sehr dem Inhalt des Baukas- Gorilla Bonobo Homo sapiens Neandertaler 0 tens, sondern dessen Nutzung“, erklärt Sean Carroll, der an der University of Wisconsin früher forscht. Das heißt, es müssen A. robustus, Homo sapiens vor A. boisei nicht mehr Hunderte Gene zu- 1 fällig so mutieren, bis aus ihnen Homo Million Homo wie durch ein Wunder eine von Jahren erectus Homo habilis Grund auf neue Konstruktion A. afri- erwächst. Es genügt, die Bau- canus 2 kasten-Gene mal ein bisschen Homo mehr, mal ein bisschen weniger abzulesen, mal an einer anderen A. aethi- rudolfensis opicus Stelle im Körper oder zu einem anderen Zeitpunkt in der Ent- 3 wicklung. Australopithecus Vielleicht, so hoffen einige For- afarensis scher, ist ja auch der kleine Un- terschied zwischen Mensch und 4 Australo- Schimpanse so zu erklären: mit pithecus unterschiedlicher Regulation der anamensis Ardipithecus Gene. ramidus Tatsächlich wurde gerade erst 5 ein offenbar in der Stammesge- schichte entstandener Mechanis- mus im menschlichen Gehirn ent- Orrorin deckt, der nachweislich anders tugenensis tugenensis funktioniert als beim Schimpan- 6 sen: Die Zellen im Hirn des Men- schen stellen größere Mengen ei- nes bestimmten Stoffes her, einer Sahelanthropus Vorstufe verschiedener Neuro- tchadensis 7 peptide, die umfassend auf Be- wusstseinsprozesse wie Wahr- nehmung und Verhalten, Erinne- Brüder im Erbgut rung und soziale Bindung wirken. DNA-Analysen zeigen, dass sich die afrikanischen Men- Nicht der Bauplan des Stoffes 8 schenaffen vor rund 9 Millionen Jahren (Gorilla) und bis selbst hat sich auf dem Weg vom zu 7 Millionen Jahren (Schimpanse, Bonobo) vom Affen zum Homo sapiens geän- Stammbaum der Hominiden trennten. Vormenschliche dert, sondern nur jene Erbgut- Knochenfunde reichen inzwischen ähnlich weit zurück. abschnitte, die regulieren, wie viel wann und wo von ihm her- gestellt wird. Vor allem bei Fruchtfliegen haben die „Es ist zu früh zu sagen, ob diese Ver- Forscher inzwischen gelernt, mit den Kon- änderungen der Schlüssel zu dem sind, was trollgenen herumzuspielen. Das Ergebnis uns menschlich macht“, sagt der amerika- sind Kreaturen, die Horrorfilmen entsprun- nische Evolutionsgenetiker Bruce Lahn. gen zu sein scheinen: Fliegen, denen Augen „Aber es scheint eine vernünftige Hypo- an den Beinen oder Beinchen aus dem Kopf these zu sein.“ wachsen. Solche uralten Gene funktionieren Ein Gen als einer der Kandidaten für wie ein Baukasten der Evolution für die die Erklärung menschlichen Bewusstseins? Konstruktion neuartiger Geschöpfe. Es wird eng für den Schöpfer. Dass diese Idee mehr ist als bloße Theo- Jörg Blech, Rafaela von Bredow, rie, zeigt ein neueres Ergebnis der For- Johann Grolle

der spiegel 52/2005 147 Titel

SPIEGEL-GESPRÄCH „Süßigkeit für den Geist“ Der US-Philosoph Daniel Dennett über Darwins umstürzlerische Idee, den Ursprung der Seele und die Vertreibung Gottes durch die Naturwissenschaft

SPIEGEL: Professor Dennett, mehr als hun- ben, um etwas von niedrigerem Rang her- dert Millionen Ihrer Landsleute gehen da- zustellen. Niemals sehen wir einen Topf, von aus, Gott habe Adam aus Erde er- der nicht von einem Töpfer hergestellt schaffen und Eva aus dessen Rippe. Ken- wäre; nie ein Hufeisen ohne Schmied. nen Sie einen dieser Menschen? SPIEGEL: Und Sie glauben, diese Idee sei Dennett: Ich habe mich mit Dutzenden bereits beim Affen vorhanden? von ihnen unterhalten. Die meisten ha- Dennett: Sagen wir, schon beim Homo ha- ben aber wenig Interesse daran, über bilis, der vor mehr als zwei Millionen Jah- ihre religiösen Überzeugungen zu reden. ren begann, Steinwerkzeuge herzustellen. Ganz anders übrigens die Anhänger des Schon er hielt sich vermutlich für wunder- Intelligent Design. Die reden ohne Punkt barer als die Artefakte, die er schuf. Es und Komma, doch was ich von ihnen handelt sich da um ein tiefverankertes, in- höre, sind vor allem Fehlinformationen – tuitives Gefühl. Und genau dieses Gefühl und die haben sie nicht etwa von ihrem sprechen die Verfechter des Intelligent De- Pastor aufgeschnappt, sondern in Büchern sign mit ihrer Propaganda an, wenn sie fra- bekannter Verlage gelesen. Oder sie ha- gen: Gab es je ein Bild ohne Maler, je ein ben im Internet die clevere Propaganda Haus ohne Architekten? Sternenexplosion im Sternbild Stier, muslimische

SPIEGEL: Ein uraltes theologisches Argu- ment … Dennett: … dem Darwin widerspricht. Zum Teufel, sagt seine Theorie, nein: Man be- kommt in der Natur eben doch Design durch seelenlose, zwangsläufig ablaufen- de Mechanismen. Mehr noch, sogar Desig- ner können auf diese Weise entstehen: Poeten, Künstler und Ingenieure sind auch bloß Früchte vom Baum des Lebens. Das erschüttert die Vorstellung der Menschen, das Leben habe einen tieferen Sinn. SPIEGEL: Auch der Geist des Menschen, sei- ne Seele sozusagen, entsteht also auf see- lenlose Weise? Dennett: Aber ja. Als mehrzelliges, beweg- liches Geschöpf brauchen Sie einen Geist, weil Sie darauf achten müssen, wohin Sie gehen. Sie brauchen ein Nervensystem, das Information aus der Umwelt schnell verarbeitet und Ihr Verhalten steuert. Das

RICK FRIEDMAN fundamentale Problem aller Tiere besteht darin, das zu finden, was sie brauchen, und des Discovery Institute in Seattle gelesen, Daniel Dennett das zu vermeiden, was ihnen schadet – und das von religiösen Rechten finanziert gilt als einer der extremsten Anhänger der diese Aufgabe müssen sie schneller meis- wird. Evolutionslehre. In zahlreichen Büchern tern als ihre Konkurrenten. Darwin hat das SPIEGEL: Warum regen sich diese Leute ei- beschrieb der Philosoph von der Tufts Uni- Gesetz entdeckt, das diese Entwicklung gentlich so sehr über die Evolution auf? versity in Medford (Massachusetts) den seit vielen hundert Millionen Jahren vor- Gegen Urknall oder Quantenmechanik Menschen, dessen Seele und Kultur als angetrieben und dabei immer gewandtere scheinen sie nichts zu haben. zufälliges Produkt der natürlichen Auslese, Geister hervorgebracht hat. Dennett: Bei der Evolution geht es um die entstanden aus den Chemikalien der Ur- SPIEGEL: Aber irgendetwas Ungewöhnli- beunruhigendste Entdeckung der Wissen- suppe. In seinem neuen Buch „Breaking ches scheint doch geschehen zu sein, als schaft überhaupt. Sie erschüttert die älteste the Spell“ (Den Zauber brechen), das im der Mensch die Bühne betrat. Vorstellung, die wir Menschen haben, die Februar bei Viking in New York erscheint, Dennett: Ja, er hat die Sprache entdeckt. vielleicht sogar älter ist als unsere Art. beleuchtet Dennett, 63, aus evolutionärer Das führte zu einer explosiven Steigerung SPIEGEL: Nämlich welche? Perspektive, warum gerade radikale Reli- der Geisteskraft. Denn jetzt lernen Sie Dennett: Ich spreche von dem Glauben, es gionen so erfolgreich sind. nicht mehr nur aus Ihrer eigenen Erfah- müsse einen großen, schlauen Denker ge- rung, sondern Sie können von Menschen

148 der spiegel 52/2005 NASA / DPA (L.); REUTERS / ULLSTEIN BILDERDIENST (R.) BILDERDIENST / ULLSTEIN (L.); REUTERS / DPA NASA Pilger in Mekka: „Gott vollbringt keine Wunder, er passt auf keine Stellenausschreibung“

lernen, die Sie nie getroffen haben und die be in unserem Körper sind biologische Ma- biologischen Thesen zu stark in Soziologie schon lange tot sind. Die menschliche Kul- terialien, die Bauchspeicheldrüse allerdings und Religion einmischen – und auf diese tur wurde dank des Sprachvermögens ist ein immaterielles Wundergewebe. Das Weise die Intelligent-Design-Bewegung selbst zu einer tiefgründigen Kraft der Evo- Gehirn ist nicht wunderbarer als die Lun- erst stark machen. lution. Nur deshalb übersteigt unser Er- ge oder die Leber – es ist ein Gewebe. Dennett: Ach, Michael versucht doch nur, kenntnishorizont bei weitem denjenigen SPIEGEL: Darwins Ideen wurden schon vie- die Folgerungen aus Darwins Einsicht zu jeder anderen biologischen Art. Wir sind le Male von Eugenikern und Rassisten verwässern und die Menschen in ihrem die einzige Spezies, die weiß, wer sie ist missbraucht. Ist auch das ein Grund dafür, Glauben zu bestärken, der Zwiespalt zwi- und wie sie entstanden ist. Unsere Bücher, dass man ihn so heftig attackiert? schen der Biologie und ihrer altherge- Kunstwerke und unsere Religionen sind Dennett: Ja. Man kann das Problem auch brachten Weltsicht sei gar nicht so groß. allesamt das Produkt evolutionärer Algo- etwas sanfter ausdrücken: Das Prinzip der SPIEGEL: Und was ist dran am Vorwurf, Sie rithmen. Manche Leute finden das aufre- Evolution ist so schlicht, dass man es ei- schürten die Intelligent-Design-Bewegung? gend, andere finden es deprimierend. nem anderen in einer Minute erklären Dennett: Da mag etwas Wahres dran sein. SPIEGEL: Nirgends zeigt sich Evolution so kann. Genau aus diesem Grund kann man Ich habe zum Beispiel gerade ein Buch ab- offensichtlich wie im DNA-Molekül. Trotz- Darwins Idee leicht verzerren und politisch geschlossen, in dem ich Religionen evolu- dem halten die Anhänger des Intelligent missbrauchen. Geduldig erkläre ich mei- tionsbiologisch betrachte. Ich glaube, diese Design den DNA-Code offenbar für weni- nen Studenten die Theorie der Evolution – Forschung kann, sollte und muss man trei- ger gefährlich als Darwins Lehre. Warum? und muss dann hinter mir aufwischen, weil ben. Andere sagen: Bloß nicht, lass die Bio- Dennett: Ich weiß es nicht. Sie haben recht: sie zu enthusiastisch reagieren und vieles logen nicht an die Sozialwissenschaften Die Bioinformatik liefert uns Tag für Tag falsch verstehen. Darwins Idee ist wie eine heran! Ich finde das schrecklich. Die Vor- Beweise für die Evolutionstheorie. Offen- Süßigkeit für den Geist: Wer zu viel von ihr stellung, die Humanwissenschaften seien bar wollen die Kritiker den Prozess schlicht nascht, wird von der Wahrheit abgelenkt. vor evolutionärem Denken zu schützen, ist nicht wahrhaben; sie weigern sich zu se- Das spielt Rassisten und Sexisten in die für mich die Anleitung zum Desaster. hen, dass aus Molekülen, Enzymen und Hände. Deshalb muss man unentwegt in- SPIEGEL: Warum? Proteinen Gedanken entstehen. Denn tellektuelle Hygiene betreiben. Dennett: Weil gerade die Evolutionslehre dann folgt unausweichlich: Wir Menschen SPIEGEL: Egal ob Seitensprung, Vergewalti- die Welt der Bedeutung, des Sinns, der mögen eine Seele haben – aber sie besteht gung oder Kindsmord: Fast jede Verhal- Ziele und der Freiheit mit der Welt der aus vielen kleinen Robotern. tensweise des Menschen wird von Evolu- Naturwissenschaften vereint. Da wird SPIEGEL: Sie glauben nicht, die Biologen tionspsychologen in auflagenträchtigen Bü- immer von der Kluft zwischen Geistes- könnten sich aufs Leben beschränken und chern im Lichte der Evolution analysiert. und Naturwissenschaft geredet. Und wer die Seele der Religion überlassen? Wie kann man da seriöse Forschung von schließt diese Kluft? Darwin, indem er uns Dennett: Genau das hat ja Papst Johannes Vulgärwissenschaft unterscheiden? zeigt, wie Sinn, Design und Bedeutung aus Paul II. gefordert, als er 1996 verkündete, Dennett: Indem Sie penibel die Fakten Sinnlosem, aus stupider Materie, entstehen. die Evolution sei wohl eine Tatsache – und sammeln und Ihre Hypothese dann streng SPIEGEL: Wirkt überall, wo Neues entsteht, dann schnell hinzufügte: aber mit Ausnah- überprüfen – eben das hat Darwin getan. Darwins Gesetz? Auch bei der Entstehung me der Seele. Das mag die Menschen zu- SPIEGEL: Auch Sie handeln sich Vorwürfe des Universums zum Beispiel? frieden stellen, es ist allerdings schlicht ein. Der Philosoph Michael Ruse etwa Dennett: Zumindest sind darwinistische falsch. Niemand würde sagen: Die Gewe- meint, dass Sie sich mit Ihren evolutions- Ideen auch bei vielen Physikern beliebt.

der spiegel 52/2005 149 Dennett: Viele Religionen entstanden, als es noch keine Schrift gab. Gruppengesänge und gemeinsames Beten sind da effiziente Mechanismen, Gedanken zu vervielfälti- gen. Alle Religionen scheinen zudem si- cherstellen zu wollen, dass einige Teile der Überlieferung unverständlich sind. SPIEGEL: Wozu das? Dennett: Weil es die Menschen zwingt, die Sachen, die sie nicht verstehen, Wort für Wort auswendig zu lernen. Die Geschich- te vom Abendmahl ist ein wunderbares Beispiel: Die Vorstellung, das Brot symbo-

AKG lisiere den Leib Christi und der Wein sein Abendmahl-Darstellung*: „Die Sache muss gänzlich unverständlich gemacht werden“ Blut – das wäre nicht aufregend genug. Die Sache muss gänzlich unverständlich ge- Sie vermuten, dass sich das heutige Uni- – aber sie tut es gar nicht. Religionen sind macht werden: Das Brot ist der Leib, der versum in einer Art evolutionärer Auslese hervorragend geeignet, Menschen zur Un- Wein ist das Blut. Jetzt erst wird die Ge- aus einer Vielzahl unterschiedlichster Uni- tertanentreue anzuhalten. Religiöse Moral schichte Ihre Aufmerksamkeit fesseln und versen durchgesetzt hat. Der Philosoph kann Teamwork zu einer extrem wir- sich gegenüber langweiligen Storys durch- Friedrich Nietzsche hatte, vermutlich kungsvollen Kraft machen. Aber das ist ein setzen. Es ist, als ob man einen wehen durch Darwin inspiriert, die Idee der ewi- zweischneidiges Schwert. Denn diese Form Zahn hätte und ständig mit der Zunge dar- gen Wiederkehr: Alle Varianten werden von Teamwork hängt davon ab, dass Sie an herumspielte. Der Islam verlangt, dass durchgespielt; jede Version wird auspro- Ihr eigenes Urteilsvermögen weitgehend jeder gute Muslim fünfmal am Tag betet. biert, nicht einmal, sondern billionenfach. an die Autorität einer Gruppe abtreten. SPIEGEL: Auch das deuten Sie als evolu- SPIEGEL: Nietzsche zog den Schluss, Gott Wir wissen, wie gefährlich das sein kann. tionär entstandene Überlebensstrategie ei- sei tot. Auch das eine Konsequenz aus Dar- SPIEGEL: Trotzdem hilft uns Religion, mo- ner Religion? wins Lehre? ralische Standards zu setzen. Dennett: Durchaus möglich. Der israelische Dennett: Eindeutig. Dass es in der Welt De- Dennett: Sind denn Menschen nur deshalb Biologe Amotz Zahavi hat postuliert, dass sign gibt, war immer das stärkste Argu- moralisch gut, damit sie im Himmel be- besonders kostspielige Verhaltensweisen, ment für die Existenz Gottes – und Darwin lohnt werden? Ich finde diese Vorstellung die nur schwer nachzuahmen sind, am bes- hat dem den Boden entzogen. geradezu menschenverachtend. Verhalten ten weitergegeben werden. Damit erklärt SPIEGEL: Evolution ist also mit einem Gott wir uns nur deshalb gut, um im Paradies er, warum der Pfau ein Rad schlägt. Dieses unvereinbar? 76 Jungfrauen zu kriegen? Wir spotten Prinzip der kostspieligen Signale ist in der Dennett: Man muss doch sehen, dass Got- doch über so etwas. Biologie weit verbreitet, und wir sehen es tes Rolle seit Äonen schrumpft. Anfangs SPIEGEL: Sie sagen, Gott passe auf keine auch in der Religion. Es ist wichtig, Opfer wurde er noch für Adam und Eva ge- Stellenausschreibung. Wieso haben dann zu bringen. Wenn die Imame sich ent- braucht, dann hieß es, er habe die Evolu- bis heute so gut wie alle Kulturen Reli- schlössen, die täglichen Gebete abzuschaf- tion ins Rollen gebracht. Die Erkenntnisse gionen? fen, dann würden sie eine der wirksamsten der Kosmologie zeigen uns jedoch: Leben Dennett: Zum Teil erklärt sich das aus der evolutionären Anpassungen des Islam be- entwickelt sich überall dort, wo es kann. Geschichte: Religionen sind außerge- schädigen. Gott kann keine neuen Arten erschaffen, wöhnlich gut angepasste Kulturphänome- SPIEGEL: Erlaubt es diese Art der Argu- er vollbringt keine Wunder, er passt auf ne, die sich entwickeln, um zu überleben. mentation auch vorherzusehen, welche keine Stellenausschreibung. SPIEGEL: Wie eine biologische Art? Religionen sich am Ende durchsetzen SPIEGEL: Wie kommt es dann, dass viele Dennett: Genau. Das Design einer Religion werden? Naturwissenschaftler gläubig sind? entsteht auf die gleiche seelenlose Weise Dennett: Meine Kollegen Rodney Stark and Dennett: Weil sie nicht so genau hinschau- wie das Design von Pflanzen und Tieren. Roger Finke haben untersucht, warum sich en wollen. Wir unterteilen die Welt gern, SPIEGEL: Haben erfolgreiche Religionen Religionen so unterschiedlich stark aus- um Widersprüche zu vermeiden. denn ähnliche Merkmale? breiten. Ihnen zufolge ist die Nachfrage SPIEGEL: Dieses Unterteilen hat doch etwas Dennett: Allerdings. Sie alle tragen zum nach Religion besonders dann groß, wenn Gutes: Die Naturwissenschaft handelt vom Beispiel Merkmale, die es ihnen erlauben, deren Ausübung aufwendig ist und einem Leben, die Religion beschäftigt sich mit ihre Identität weiterzugeben – viele von viel abverlangt. Das würde erklären, war- dem Sinn des Lebens. ihnen sind dabei Merkmalen aus der Bio- um in den USA die gemäßigten Protestan- Dennett: Eine Grenze, wie schön! Das Pro- logie verblüffend ähnlich. ten Mitglieder verlieren und die extremen blem ist nur, dass sich diese Grenze ver- SPIEGEL: Zum Beispiel? Gruppen Zulauf haben. schiebt. Und je mehr sie dies tut, desto we- SPIEGEL: Können Sie auch erklären, warum niger hat Gott zu tun. Auch ich erstarre in der Glaube an das Intelligent Design nir- Ehrfurcht vor dem Universum. Auch ich gends so verbreitet ist wie in Ihrer ameri- bin glücklich, hier zu sein. Das Problem kanischen Heimat? ist nur: Es gibt da draußen niemanden, Dennett: Leider nein. Ich kann Ihnen nur dem ich danken könnte. so viel sagen: Wir haben es mit einer Alli- SPIEGEL: Lassen Sie denn gelten, dass die anz aus evangelischen Fundamentalisten Religion uns moralische Werte aufzeigt? und rechten Politikern zu tun. Sie wollen in Dennett: Wenn Religion diese Aufgabe er- Amerika eine Gottesherrschaft errichten. füllte, hielte ich das für gar nicht so dumm Es ist erschreckend, dass viele von ihnen überzeugt sind, das Jüngste Gericht stehe

RICK FRIEDMAN kurz bevor. * Oben: Gemälde von Philippe de Champaigne, 1652; rechts: Jörg Blech und Johann Grolle in Dennetts Büro an Dennett, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Professor Dennett, wir danken Ih- der Tufts University in Medford, Massachusetts. „Zeigen, wie Sinn aus Sinnlosem entsteht“ nen für dieses Gespräch.

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Rennlimousine „Rocket“, Brabus-Zentrale Stahlhartes Signal

Das wäre misslich. Kaum ein Auto braucht den elektronischen Wachdienst dringender. Noch oberhalb von 200 km/h, erläutert Brabus-Chefentwickler Ulrich Gauffrés, könne ein beherzter Tritt aufs Gaspedal die Antriebsräder ins Rutschen und so das Fahrzeug ins Schleudern brin- gen, wenn der Schlupfregler nicht eingreift. Dass auch die Aerodynamik des Fahr- zeugs grundlegend verändert wurde, ist äußerlich kaum erkennbar. Am Oberbau begnügten sich die Tuner mit einer mini-

HANS DIETER SEUFERT / MPI HANS DIETER SEUFERT malen Bespoilerung. Der Unterboden da- gegen wurde fast vollständig verkleidet, um Turbulenzen AUTOMOBILE und unerwünschten Auftriebs- kräften entgegenzuwirken. Schließlich liegt die Höchstge- König der schwindigkeit des Rocket weit über dem Starttempo von Ver- kehrsflugzeugen. Kraftmeier Für Fahrversuche mit sol- chen Autos wird es nicht nur Die schnellsten Limousinen der im Raum Bottrop eng. Gele- Welt kommen traditionell aus gentlich nutzt Brabus das Test- gelände von DaimlerChrysler Bottrop. Mercedes-Tuner Brabus in Papenburg. Doch dort lässt hat die 350-km/h-Marke sich die Höchstgeschwindigkeit erreicht – und strebt nach mehr. des Rocket nicht erreichen. Bedingt geeignet erscheint eschwindigkeit ist ein hohes Gut im die Bundesautobahn Nummer Automobilbau, wenn auch nicht 31 von Bottrop in Richtung Em- Gdas einzige. Der Brabus „Rocket“ den, wo nachts meist freie etwa schafft 350 – und einiges mehr: „Sie Bahn ist und Brabus-Ingenieur

können damit auch vier Kinder zur Schu- / LAIF DIRK KRÜLL Jörn Gander bisher einmal in le bringen“, sagt Firmenchef Bodo Busch- den elektronischen Begrenzer mann. reihe, in deren Motorraum ein dem SL- fuhr, der die Rakete bei 350 km/h abre- Zweifellos eine solitäre Kombination Roadster entnommener und kunstreich fri- gelt. Als ernsthafte Erprobung mag Gander von Transportleistungen, ähnlich segens- sierter Zwölfzylinder-Biturbo-Motor ver- das noch nicht bezeichnen. Im Übrigen sei reich wie die bemannte Mondfahrt und pflanzt wurde. Aus 6,2 Liter Hubraum es „auch kein Spaß mehr“. mithin ein stahlhartes Signal für den ange- schöpft er 730 PS, 230 mehr als das Ba- Im Februar soll deshalb auf dem zwölf rosteten Industriestandort Deutschland: sisaggregat, und schluckt je nach geforder- Kilometer langen Rundkurs im süditalie- Die Rakete kommt aus Bottrop. ter Leistung 10 bis 60 Liter auf 100 Kilo- nischen Nardo das volle Potential des Wa- Das Kohlenpott-Metropölchen huldigte meter. gens ausgelotet werden, ehe das erste von der mittelständischen PS-Manufaktur be- Auf dem Prüfstand ermittelte Brabus ein etwa 30 Rocket-Exemplaren in den Handel reits mit einem Straßennamen. Knapp 300 Drehmoment von 1320 Newtonmetern, kommt. Buschmanns Ingenieure wollen Angestellte werkeln in der Zentrale an der mehr als das Doppelte eines Porsche 911 sich noch nicht festlegen, streben aber etwa Brabus-Allee. In Werbekampagnen fürs Turbo. Im Fahrbetrieb wird die Kraft elek- 360 km/h an. Ruhrgebiet zählt Buschmann zu den tronisch leicht gezügelt, da sonst das Ge- Was mit diesem Fahrzeug in Kunden- Protagonisten. triebe, ein Fünfgang-Automat aus dem hand geschehen wird, ist ebenso schwer Binnen 30 Jahren mauserte sich Brabus Salonwagen Maybach, innere Verletzun- vorherzusehen wie zu kontrollieren. Eine vom Schmierölvertrieb zum Königreich gen erleiden könnte. gewisse Gefahr berge „die Leichtigkeit des der Kraftmeier im internationalen Tuning- Antriebswellen, Differential und diverse Fahrens“, sagt Buschmann. Das Auto lau- zirkus. Die auf Mercedes-Modelle ge- Achselemente an Vorder- und Hinterrad- fe extrem ruhig und verleite dazu, seine trimmte GmbH verschrieb sich der hand- aufhängung wurden durch robustere Teile Kraft zu unterschätzen. festen Mission, die deutsche Droschke der ersetzt. Die serienmäßigen Luftfedern „Man muss den Fahrer schon in die Schallgeschwindigkeit näher zu bringen. könnten bei Bodenwellen und Tempo 350 Pflicht nehmen“, doziert der Brabus-Chef Brabus baut die schnellsten Limousinen durchschlagen. Sie mussten deshalb gegen und appelliert an die „sittliche Reife“ sei- der Welt. konventionelle Stahlelemente ausgetauscht ner Kundschaft – eine Tugend, die aller Ein Stab von Ingenieuren, an der Spitze werden. Erfahrung nach nicht zwingend mit der ein ehemaliger Mercedes-Entwickler, kon- Auch die elektronischen Regelsysteme Kaufkraft zunimmt. struiert zu diesem Zweck aus Stuttgarter von Antrieb und Bremsen bedurften einer Brabus verlangt für den Rocket 403680 Rohlingen prinzipiell neue Autos, die dann Anpassung. Der Serien-Bordrechner wür- Euro. Die darin enthaltene Mehrwertsteu- auch nicht mehr Mercedes heißen. Der de bei dem Extremtempo eine Unplausi- er entspricht etwa dem Gegenwert eines Brabus Rocket basiert auf einer handels- bilität melden und womöglich das ESP aus- serienmäßigen Mercedes CLS. üblichen Coupé-Limousine der CLS-Bau- knipsen. Christian Wüst

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entstehen, wo handelnde Wesen auf ihre Umwelt einwirken“, sagt der Roboterfor- KÜNSTLICHE INTELLIGENZ scher Giulio Sandini von der Universität von Genua, der das Vorhaben koordiniert. Sein Leitspruch: „Intelligenz braucht ei- Roboter in der Krabbelstube nen Körper.“ Der Kopf des Kindchenroboters, so der Europäische Forscher bauen einen verspielten Maschinenzwerg, Plan, ist deshalb anfangs so gut wie leer. Eingebaut ist nur eine Grundausstattung: der die Welt wie ein Kind auf allen Vieren erkundet. Neugier auf alles, was sich bewegt, und ein Könnte sich in dem Wesen einst ein Funke von Verstand regen? paar Reflexe. Drückt man dem Robotcub etwas in die Hand, greift er zu. „Das könn- ührend, das Kerlchen. Und wenn es geht. Hin und wieder basteln sie an der te zum Beispiel ein Hammer sein“, sagt dann erst zu krabbeln beginnt! Die Software. Und dann heißt es geduldig sein: Rolf Pfeifer vom Labor für Künstliche In- RHersteller werden entzückt sein. Macht der Zögling Fortschritte? Wird sich telligenz an der Uni Zürich, das an dem Mögen auch die Gelenke ein wenig knir- am Ende gar eine Art Intelligenz in sei- Konsortium beteiligt ist. „Dann muss der schen, die Motoren ein wenig surren – es nem Köpfchen regen? Roboter herausfinden, wie er das Teil am ist doch fast ein richtiges Baby. Auf fünf Jahre ist das Projekt angelegt; besten anpackt. Und was er damit alles an- Etwa 90 Zentimeter misst der Wichtel die EU fördert es mit 8,5 Millionen Euro. fangen kann.“ aus Metall, gut 23 Kilogramm ist er schwer, Das erste Jahr ist bereits um, und die Plä- So lernt der Kleine allmählich durch sei- und seine Gestalt ähnelt einem Kleinkind ne für den Körper der Kindchenmaschine ne Aktionen. Ob daraus je ein Funken In- von zwei Jahren. Er kann zwar nicht lau- – vorläufiger Name: „Robotcub“, zu telligenz entspringt, ist ungewiss. Auf die fen, aber er bewegt sich flink auf allen Vie- deutsch etwa Roboterjunges – sind so gut hergebrachte Weise aber geht es bestimmt ren, und keine Gummiente ist vor seiner wie fertig. Es dauerte eine Weile, denn nicht; da sind sich die meisten Forscher Neugier sicher. hierbei kommt es auf jedes Detail an. Der heute einig: Roboter mit vorgefertigter Bald geht der wundersam verspielte Hu- Kleine soll schließlich im Stande sein, aus Software stellen sich im Durcheinander des manoide in Bau; im Jahr 2007 soll er fertig dem Sitz behände loszukrabbeln, seine Lebens viel zu hölzern an. Selbst das Er- sein. Für die Gemeinde der Roboterfor- Spielsachen zu ergreifen, in den Händen kennen schlichter Objekte überfordert häu- fig ihre Prozessoren. Kaum wechselt die Beleuchtung, sind sie schon verwirrt. „Ein Roboter, der Erfahrungen mit dem Greifen hat, dürfte sich dagegen mit dem Sehen sehr viel leichter tun“, meint Pfeifer. Mit dem Robotcub will er herausfinden, ob diese Vermutung stimmt. Bislang versuchten die Robotiker vor al- lem, einzelne Körperteile intelligenter zu machen: Sie konstruierten mechanische Arme, die die Kunst des Greifens ergrün- den, und Zweibeiner ohne Rumpf für das naturnahe Laufen mit möglichst wenig Steuerungsaufwand. Für die höheren Funktionen gibt es am amerikanischen MIT den Koboldkopf Kis- met, den berühmtesten Vorläufer des Ro- botcub. Kismet lernt im Umgang mit Men- schen die Anfänge eines Sozialverhaltens: Gesichter erkennen, Gesten deuten, Stim- mungen aus dem Tonfall heraushören. Der Roboter antwortet mit passender Mimik und Säuglingsgebrabbel. Seine Tage ver-

PIRMIN RÖSLI bringt Kismet allerdings festgeschraubt auf Roboterforscher Pfeifer: Sehnsucht nach einer Steckdose einem Podest; er kann den Kopf drehen und seine Glubschaugen rollen. scher wird es ein denkwürdiges Datum zu drehen und gelegentlich auch durch die Der mobile Robotcub dagegen, so hof- sein: die Geburt des ersten kompletten Gegend zu werfen. fen die Forscher um den Genuesen Sandi- Kunstkindes. Sensoren in den feingliedrigen Fingern ni, spielt im Glücksfall bald die Vorzüge ei- Elf europäische Forschungszentren ha- verleihen dem rührigen Zwerg eine Art nes wendigen Ganzkörpers aus: Er ist im ben sich dafür zusammengetan, dazu zwei Tastsinn; er hat Temperaturfühler und Stande, das ganze Labor unsicher zu ma- in den USA und drei in Japan. Das Ge- kann sein Gleichgewicht halten. Derart chen; so sollte er sich ungleich vitalere Er- schöpf, das sie in die Welt setzen wollen, gerüstet, erforscht der Roboter seine klei- fahrungen verschaffen. soll heranwachsen wie ein kleiner Mensch. ne Welt; er muss allein sehen, wie er dar- Verglichen mit einem Kind ist solch eine Sein gesamtes Dasein wird von Anfang an in zurechtkommt – alle Risiken inbegriffen: krabbelnde Rechenmaschine jedoch im- protokolliert: wie der Roboter über den Die Mechanik ist so ausgelegt, dass sie mer noch überaus brav. Es ist nicht zu be- Boden rutscht, wie er emsig bunte Klötz- auch Stöße und Stürze verkraftet. fürchten, dass sie auch nur anfängt, aus ei- chen bepatscht. Und wie er sich zum ersten Das Projekt entsprang der`Überzeu- genem Antrieb Schubladen auszuräumen. Mal die Kniemechanik aufschlägt. gung, dass sich so etwas wie Verstand Sie wird auch nicht vor Hunger rebellisch. Stets messen die Forscher, was in den nicht von außen, als fertiges Programm, Allenfalls messen Roboter gleichmütig Speicherbausteinen des Roboters vor sich einhauchen lässt. „Intelligenz kann nur den Ladestand ihrer Akkus. Verzweiflung

154 der spiegel 52/2005 Künstliches Kind Der Roboterzögling des Forschungsprojekts Robotcub

Wie ein Kleinkind soll der kleine Maschinenmensch Robotcub mit vielerlei Objekten hantieren und aus seinen Erfahrungen lernen. Das internationale Konsortium, das den Roboter baut, erhofft sich davon einen Durchbruch auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Forscher in aller Welt dürfen zudem den Robotcub über das Internet kostenlos für Versuche mit eigenen Verhaltens- programmen nutzen.

Quelle: Robotcub Konsortium ist ihnen fremd. Vielleicht entdecken sie Projektleiter Erich Rome hofft, dass der zugänglich sind (siehe Grafik). Baupläne dafür andere, ebenso exklusive Zustände kleine Kurt mit der Zeit aus seinen Erfah- und Software liegen offen; Gastforscher in sich. Manche Forscher überlegen, ob rungen auch mal was macht. Zu den Din- können sogar eigene Programme in die eine Maschine Sehnsucht nach einer Steck- gen, die er lernen soll, gehört es beispiels- Elektronenhirne der Gnome laden. Das dose entwickeln könnte, wenn die Energie weise, eine Tür zu öffnen, indem er eine Konsortium räumt sie dafür leer bis auf nachlässt. „Wir werden nie wissen“, sagt Dose auf einen Druckschalter stellt. Wenn Motorik und Sinneswahrnehmung; ihre Pfeifer, „was für ein Gefühl es ist, an einer Kurt das kann, sagt Rome, geben die For- Persönlichkeiten werden an einem siche- Ladestation zu hängen.“ scher ihm Dosen, die nur halb so schwer ren Ort zwischengespeichert. Dann ste- Das Roboterkind bekommt wohl zu- sind. Die Frage ist dann: Wird er begreifen, hen die Roboter für Fremdversuche aller nächst, als Ersatz für dringende Bedürfnis- dass er zwei Dosen übereinander stellen Art bereit. se, ein Bewertungssystem einprogram- muss? „Ich weiß nicht, ob wir so weit mit Auch Entwicklungspsychologen und miert. Das ist eine Art Katalog, in dem der ihm kommen“, sagt Rome. Kognitionsforscher sind eingeladen, neue Kleine nachschlägt, was gut für ihn ist und Die Robotik ist, nach vielen unerfüllten Theorien zu erproben. Die Frage etwa, wie was schlecht. Versprechen, bescheiden geworden. Auch Kinder lernen, ihren Körper zu beherr- Gut könnte es etwa sein, ein Objekt mit das Großvorhaben Robotcub ist zunächst schen, lässt sich womöglich erhellen, wenn möglichst vielen Sinnen zugleich zu er- eine Ausgeburt der Defensive: „Für ein man Teilfunktionen probeweise in einem kunden: den Hammer sehen und zugleich einzelnes Labor“, sagt Koordinator Sandi- Roboter nachbaut: von der Fähigkeit, beim betasten. Dann noch ein tüchtiger Schlag ni, „sind die anstehenden Probleme längst Kopfdrehen das angeschaute Objekt nicht auf den Tisch, und auch das Gehör be- zu groß.“ Das internationale Konsortium aus dem Auge zu verlieren, bis hin zur kommt wertvollen Input – förderlich fürs beidhändigen Koordination beim Ein- Köpfchen. „Das Zusammenspiel mehrerer „Der Kopf aus Lissabon, die gießen eines Glases Apfelsaft. Sinneskanäle“, sagt Pfeifer, „ist die Grund- Beine aus dem britischen Salford, So bekommt die possierliche Menschen- lage des Lernens.“ die Fingerchen aus Pisa.“ ähnlichkeit des Robotcub doch ihren tiefe- Ähnliche Erfahrungen blühen einem Ro- ren Sinn. Es gehe weder um Marketing boter namens Kurt 3D in St. Augustin bei noch um wohlfeile Rührungseffekte, sagen Bonn. Das Fraunhofer-Institut für Auto- sei der erste Schritt zu einem neuen An- die Forscher. Der Humanoide diene nome Intelligente Systeme richtet ihm dort lauf. schließlich auch als Modellkind, das die gerade ein Spielzimmer ein. Kurt, ein kom- Die Produktion des gesamteuropäischen Entwicklung des menschlichen Gehirns paktes Rollwägelchen mit einem Magnet- Maschinenkindes ist, wie die des Airbus, verstehen hilft. arm, wird darin die Natur der Dinge stu- auf etliche Länder verteilt. Das Design des Selbst dass der Kleine unbedingt krab- dieren. Kopfes kommt aus Lissabon, die Hüfte mit- beln muss (anstatt einfach auf Rollen her- Es gibt große und kleine Dosen, dazu al- samt den Beinen aus dem britischen Sal- umzufahren), entspringt offenbar nicht nur lerhand Rampen und Schwellen. Wenn der ford, und ein Labor in Pisa kümmert sich einem unerfüllten Gebärwunsch männ- Roboter lang genug spielt, kann er einiges derzeit um die Fingerchen. licher Konstrukteure. Selbst hier geht es, über sein kleines Reich erfahren – etwa Zehn Exemplare (Materialkosten: je wie Projektleiter Sandini versichert, um dass es eine Klasse von Dingen gibt, die er 50000 Euro) sind insgesamt geplant. Eini- reine Wissenschaft und Modellbildung: anheben kann: Sie sind magnetisch, nicht ge von ihnen werden in einer Art Robo- „Auch das Krabbeln der Kleinkinder“, sagt zu schwer und haben eine ebene Ober- terkrabbelstube hausen, wo sie übers In- er, „ist ja bislang kaum erforscht.“ fläche zum Andocken des Arms. ternet auch anderen Fachleuten kostenlos Manfred Dworschak

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Eisbär (nahe Churchill, Kanada) Zu früh aufs dünne Eis D. J. COX / WILDLIFE COX D. J.

Doch wie schwer die Jungtiere zu ver- TIERE mitteln sind, hat die Forscherin gerade erst erfahren müssen. Erstmals ist es ihr gelun- gen, das Schicksal eines Adoptivkindes per Hustensalbe im Bärenpelz Peilsender zu verfolgen – ein eher fru- strierendes Erlebnis. Der Eisbär hungert – weil die Winter immer kürzer Vom Flugzeug aus hatte Daley die per- fekte Amme für ihren neun Monate alten und wärmer werden. Eine kanadische Biologin versucht, verwaiste Zögling entdeckt: eine Eisbärin, die relativ Jungtiere fremden Weibchen unterzuschmuggeln. gut im Futter stand und ein etwa gleich- altriges Junges bei sich hatte. Sie bewegte ufnummer 675, Apparat 2327 – die- bringen es große Männchen auf das Maxi- sich östlich des Nelson River, gut 300 Ki- se Hotline kennt jeder Einwohner malgewicht von einer Tonne. lometer von Churchill entfernt. Über Funk Rvon Churchill im Schlaf. Denn alle Häufig ertrinken geschwächte Tiere so- verständigte die Biologin ihre Kollegen, Jahre wieder, von Oktober bis Januar, ist gar, weil sie sich zu früh aufs dünne Eis wa- die das Findelkind sofort betäubten und in der Tausend-Seelen-Gemeinde im nord- gen. Ihre Jungen haben dann keine Chan- in einen Helikopter verfrachteten. kanadischen Manitoba der Bär los. ce, allein in freier Wildbahn zu überleben. Derweil flog Daley über die Ersatzmut- Dann streunen Hunderte der größten Um solche Bärenwaisen kümmert sich ter hinweg und betäubte sie ebenfalls landlebenden Fleischfresser durch die die kanadische Biologin Kim Daley, 34. per Narkosegewehr. „Wir markierten den Gegend. Nach dem kargen Sommer in „Wir geben verlassenen Jungtieren eine Rücken orange und prüften, ob die Mutter der Tundra warten sie mit knurrendem zweite Chance in der Wildnis“, sagt die genügend Milch gab“, berichtet Daley. Magen auf das Zufrieren der Hudson Mitarbeiterin der Born Free Foundation, Anschließend legte sie der Bärenmutter Bay, damit sie auf den riesigen Eisschollen während sie mit ihrer grünen Daunenjacke ein Halsband mit integriertem Sender an, endlich wieder Jagd auf Robben machen und den gefütterten Gummistiefeln durch der die Koordinaten des Tieres per Funk können. den Schnee stapft. weiterleitet. „Nur ausgewachsene Weib- In jüngster Zeit müssen die chen können mit diesem Sen- Menschen in Churchill häufi- der versehen werden, ein ger die Eisbären-Notrufnum- Jungtier würde an dem Hals- mer wählen. Denn von Jahr band ersticken, weil es nicht zu Jahr gebärden sich die Tie- mitwächst.“ re aggressiver – Folge des Kli- Vorsichtig platzierten sie mawandels. das Junge zwischen der noch Das Zeitfenster, in dem das schläfrigen Bärin und ihrem Eis stabil genug ist, ausge- eigenen Nachwuchs. Das Pro- wachsene Bären zu tragen, ist blem: Weibchen akzeptieren kleiner geworden. Der Win- keine Jungtiere mit fremdem ter kommt immer später, die Geruch. Um den sensiblen Eisschmelze immer früher, so Geruchssinn der Eisbärin aus- dass die Tiere keine Chance zutricksen, verwendete Daley haben, sich eine ausreichend eine Erkältungssalbe, die isolierende Fettschicht anzu- sonst Husten löst und ver- fressen. Im Schnitt wiegen die stopfte Nasen befreit: Wick Eisbären heute 80 bis 90 Kilo- Vaporub. Großzügig verteilte

gramm weniger als noch vor / MINDEN PICTURES FLIP NICKLIN Daley die Paste auf Schnau- 15 Jahren; nur noch selten Bärentourismus: Weihnachtsurlaub bei minus 40 Grad ze, Kopf und Rumpf der

156 der spiegel 52/2005 Bären, um den Eigengeruch des fremden Jungen zu übertünchen. Aus der Luft sah die Biologin noch, wie die Alte den Kopf hob, an dem Familien- zuwachs schnupperte und ihn vorsichtig anstupste. Dann musste das Team heim- kehren, der Sprit ging zur Neige. Einige Wochen später meldeten Piloten der „Hudson-Bay-Helicopters“-Flotte, die drei Bären noch einträchtig beieinander gesehen zu haben. Doch bei einem weite- ren Kontrollflug waren es auf einmal nur noch zwei. „Von unserem Findelkind fehl- te jede Spur. Die Chance, dass es eine an- dere Mutter gefunden oder gar allein über- lebt hat, ist gering“, sagt Daley. Der kleine Bär ist wohl verhungert. Eisbärinnen bringen in der Regel ein bis zwei rattenkleine Junge zur Welt, die bei der Geburt nur etwa 600 Gramm wiegen. Dank der reichhaltigen Muttermilch neh- men sie aber rasch zu. Normalerweise ver- stößt eine Eisbärin ihre Halbwüchsigen erst, wenn diese ein Alter von etwa zwei- einhalb Jahren erreicht haben. Eisbärfamilien sind in Kanada ganzjährig geschützt. Eingeborene dürfen die Tiere nur für den persönlichen Bedarf erlegen. Der Genuss ihres Fleisches kann für den Menschen allerdings fatal sein, da es oft Schmarotzer wie den Fadenwurm enthält, der sich im Dünndarm und in gutdurch- bluteten Muskeln einnistet. Doch allein schon das Fell gilt als begehrte Trophäe. In Kanada fallen etwa 700 Eisbären im Jahr Wilderern zum Opfer. Experten gehen dort von nur noch 15000 Exemplaren aus; welt- weit sollen es gerade mal 22000 sein. Das Schrumpfen des Bestandes trifft Churchill besonders hart. Schon seit län- gerem verfolgen die Einwohner der kar- gen Siedlung voller Besorgnis den Rück- gang – Churchill lebt vom Bärentourismus. Zu Hunderten pilgern Abenteurer und Fotografen jeden Winter in die Tiefkühl- truhe Kanadas. Dann verbringen betuchte Touristen ihren gesamten Weihnachtsur- laub in Baracken und Containerhäusern, frieren sich im Freien bei bis zu minus 40 Grad Celsius sämtliche Zehen blau und lassen sich in wenig komfortablen, verglas- ten Tundra-Buggys über ehemalige Mi- litärwege schaukeln – alles nur, um einmal in ihrem Leben einen Eisbären in freier Wildbahn zu sehen. Die Vierbeiner sind indes vor allem im Gefängnis zu besichtigen. Bis zu 22 Eis- bären sitzen unweit des Flughafens hinter Gittern – auf der Suche nach Nahrung wa- ren sie den Einwohnern von Churchill zu eng auf die Pelle gerückt. Die alarmierten Wildhüter leisten des- halb Schwerstarbeit. Die Tiere werden geimpft, gewogen und tätowiert. Erst dann dürfen sie zurück in die Freiheit. Ein Heli- kopter-Trupp setzt die weißen Riesen schließlich in sicherer Entfernung auf dem Eis aus – mindestens 20 Kilometer nördlich von Churchill. Annika Thomé der spiegel 52/2005 157 Wissenschaft

gan, der im Internet über die Mission Im- WEIHNACHTEN possible am Heiligen Abend aufklärt. Sei- ne gar nicht frohe Botschaft: Weihnachten ist gefährlich. Sehr gefährlich – und nicht Rentiere in nur fürs Personal. Stapel medizinischer Li- teratur beweisen: Körper und Seele droht Ungemach, wenn wieder die Weisen aus Flammen dem Morgenland heraneilen. Wie gefährlich ist Weihnachten? Schon die Vorbereitung auf das Fest birgt jede Chance auf Schadensmeldung. Sehr! Von verletzten Seelen und „Vorweihnachtliches Trauma: Die Briefkas- Drogen im Lebkuchen ist zu berich- ten-Guillotine“ lautet etwa der treffliche ten. Selbst Weihnachtsmann und Titel einer Fallstudie britischer Mediziner, Christkind bleiben nicht verschont. die berichten, wie sich eine 59-Jährige beim Einwerfen von Weihnachtskarten die er Weihnachtsmann ist tot. Er ver- Fingerkuppe am Briefkastenschlitz ampu- glühte bei dem Versuch, alle 378 tierte. Von Trauma muss auch die Rede DMillionen Christen-Kinder der Erde sein bei der Arbeit texanischer Forscher binnen eines Tages zu beschenken. mit dem Titel „Begegnung mit der Wirk- Ein Schlitten, gezogen von 214200 Ren- lichkeit: Die Reaktion von Kindern auf die tieren, beladen mit 321 300 Tonnen Ge- Entdeckung der Santa-Claus-Legende“. schenken sei notwendig für den Job, hat Das überraschende Ergebnis: Nicht die Rod Morgan vom US State Department er- Kinder reagierten verstört, als sie erfuh- rechnet. Mit 3000facher Schallgeschwin- ren, dass es den Weihnachtsmann nicht digkeit müsse das Gefährt durch die Luft gibt. Traurig waren vielmehr die Eltern. rauschen zwecks termingerechter Liefe- Zum Menü nimmt das Desaster seinen rung. Der dabei auftretende Luftwider- Lauf. Truthähne, die in der Mikrowelle ex- stand erhitze die Rentiere, bis sie in Flam- plodieren, gehören jenseits des Atlantiks men aufgehen: „Das ganze Rentierteam längst zur Folklore. Nachdenklich stimmen wird in 4,26 tausendstel Sekunden vapori- sollte auch der Fall eines Mannes, der auf

siert“ – Santa inklusive. DEFD „Wenn er jemals Weihnachtsgeschenke * Filmszene aus „Santa Clause II: Eine noch schönere Verunglückter Weihnachtsmann* lieferte, ist Santa jetzt tot“, bilanziert Mor- Bescherung“, USA (2002). Ungemach für Körper und Seele einem Gasbrenner zu Weihnachten Filet von einem jungen Patienten, dessen Lun- • Der 35-jährige Sachbearbeiter aus Süd- Mignon mit vier Tassen Brandy flambieren ge sich über 18 Monate hinweg immer wie- westfalen, der auf einer Betriebsfeier wollte. Der Hobbykoch hatte Glück: Einzig der entzündete. Erst eine Operation brach- eine Weihnachtspolonaise durch ein Augenbrauen und Nasenhaare nahmen te Klarheit. Ein drei Zentimeter langer Fenster auf ein anliegendes Flachdach ihm die Flammen. Fremdkörper fand sich im Lungengewebe: führen wollte. Der Mann ententanzte Andere Weihnachtssitten wiederum „Er glich dem Ende eines Tannenzweigs.“ durch das falsche Fenster. Fünf Meter scheinen geradezu dafür erdacht, Schaden „Dies ist der erste publizierte Fall eines weiter unten traf er auf Beton. anzurichten. Von einem 23-jährigen Dä- eingeatmeten Weihnachtsbaums“, schrie- • Ein 34-jähriger Taucher aus dem Hessi- nen wird berichtet, der mit einer starken ben die Autoren – sie irrten. In Australien schen, der bei dem Versuch, einen Weih- Schwellung am Hals beim Arzt erschien. lebte ein Zweijähriger über ein Jahr lang nachtsbaum am Grund eines zugefrore- Erst die Intensiv-Anamnese ergab: Der mit einem Kunststoff-Christbaum im Ra- nen Stausees aufzustellen, das Bewusst- Mann hatte an einem Weihnachtsessen teil- chen. Ärzte fanden das Gewächs in sei- sein verlor und ertrank. Warum der genommen. Nach jedem Gläschen verpass- Mann die Konifere am Seegrund veran- ten sich die Teilnehmer Handkantenschlä- Truthähne, die in der Mikrowelle kern wollte, bleibt rätselhaft. ge in die Nackenregion. explodieren, gehören jenseits Zum Lachen ist das alles natürlich gar Zum Trost wird sich der Mann ein paar des Atlantiks längst zur Folklore. nicht. All jenen, die tatsächlich an Weih- Lebkuchen genehmigt haben. Doch Eltern nachten verzweifeln, sei daher zugerufen: aufgepasst: Das feine Gebäck hat es in sich. „Fürchtet euch nicht, denn euch ist heu- Drogen wollen Prager Pharmakologen in nem Kehlkopf. Die Familie, dazu befragt, te der Heiland geboren“ (Lukas 2, 10-11). der Leckerei ausgemacht haben. Weih- erinnerte sich an eine „Hustenepisode“. Und schon der hat unter dem Fest gelit- nachtsgewürze wie Muskat, Zimt, Ge- Die Spitzenplätze der weihnachtlichen ten. Das jedenfalls legt eine Studie eines würznelken oder Anis enthielten Vorstufen Morbiditätshitliste indes nehmen jene ein, australischen Kinderarztpaares nahe. Ma- des Suchtstoffes Amphetamin, berichten die Anspruch auf den berüchtigten „Darwin rion und Tieh-Hee Koh analysierten 20 die Forscher. Der findet sich auch in De- Award“ hätten, jenen Preis, den erhält, wer mittelalterliche Gemälde von Jesu Geburt signerdrogen wie Speed. „den Genpool verbessert, indem er sich aus aus der National Gallery in London. Auf Oh, du fröhliche Bescherung! Was die selbigem entfernt“. Es sind zu betrauern: elf Bildern war der neugeborene Jesus lieben Kleinen nicht alles schlucken kön- • Jener Möchtegern-Santa, der seine Hüf- nackt, auf sieben beunruhigend leicht be- nen. Ganze Christbaumkugeln fanden sich te per Seil mit seinem geparkten Auto kleidet. schon in den Mägen der Racker. Über- verband, um sich mit Geschenken den „Die Temperatur in Bethlehem zur Zeit haupt der Christbaum: Nicht nur geht er Schornstein des Familiendomizils hin- von Jesu Geburt wird auf etwa sieben Grad allerorten in Flammen auf. Seine Wirkung abzulassen. Leider versäumte der Mann, geschätzt.“ Den Kohs zufolge erlaubt dies entfaltet er an den absonderlichsten Or- seine Frau zu informieren. Die stieg in nur einen Schluss: „Jesus litt an Unter- ten. Kanadische Mediziner etwa berichten das Auto und fuhr davon. kühlung.“ Philip Bethge Trends Medien

zugelegt. Schlimmer als die „Tagesthe- Bellut men“-Verlegung finde ich im Übrigen, dass die ARD zwischen 20.15 Uhr und 21.45 Uhr eine Art Info-Räumungsaus- verkauf veranstaltet. Das ist die Zeit, in der zwischen ARD und ZDF der meiste Zuschaueraustausch stattfindet. SPIEGEL: Werden Sie mit „Frontal21“ und „ZDF.reporter“ nachziehen? Bellut: Auf keinen Fall. Alle Sender er- reichen gegen 21 Uhr ihre höchsten Zu- schauerzahlen. Und wir sind der Mei- nung: Da gehört ein politisches Format auch hin. SPIEGEL: Besonders scharf scheint der Wettbewerb um den Freitagabend. Bellut: Wir erleben ja gerade, dass die ARD entgegen ihrer Ankündigung dort nun doch keine frühere „Tagesthemen“- Sendung plant, sondern bis nach elf Krimis und Melodramatisches. SPIEGEL: Und Sie kontern, indem Sie das

XAMAX / ULLSTEIN BILDERDIENST XAMAX / ULLSTEIN „heute journal“ vom angestammten Sendeplatz auf später verschieben? INTERVIEW Bellut: Darüber entscheiden wir im neu- en Jahr. SPIEGEL: Aus den guten Vorsätzen für „Den Wettbewerb gewonnen“ 2005, sich künftig besser abzustimmen, ist offenbar nichts geworden. ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut, 50, über seine Marktführerschaft im zu Bellut: Bei Sportgroßveranstaltungen Ende gehenden Jahr und die Programmfehde mit der ARD klappt es ganz gut. Ansonsten program- miert die ARD immer noch gern genre- SPIEGEL: In diesen Tagen reißt das ZDF lem, dass wir mit unserem klaren typisch gegen uns. Das kann auf Dauer Bestmarken aus den Jahren 1983 und öffentlich-rechtlichen Profil zugelegt nicht gut sein. 1995 – wissen Sie welche? haben. Die Gfk bescheinigt uns einen SPIEGEL: Erwartet die ZDF-Zuschauer Bellut: Erstmals seit 1983 werden wir das Info-Anteil von 50 Prozent. So viel hat 2006 noch etwas anderes als Winter- Jahr mit etwa 13,5 Prozent Durch- sonst kein Vollprogramm. olympiade und Fußball-WM? Vielleicht schnittsmarktanteil wieder als erfolg- SPIEGEL: Die ARD greift Ihr „heute eine weitere Telenovela? reichster Sender abschließen. Und 1995, journal“ von Januar mit den vorgezoge- Bellut: Das nicht, aber im Anschluss an hmmm, sind wir erstmals seit zehn Jah- nen „Tagesthemen“ um 22.15 Uhr an. die WM planen wir für 19.25 Uhr un- ren wieder besser als RTL? Zittern Sie schon? sere erste tägliche Serie, eine leichte SPIEGEL: Sie könnten erstmals wieder vor Bellut: Ich halte den früheren Termin aus Sommerliebesgeschichte mit 40 oder 50 der ARD liegen: Dank ‚Wetten, dass…?‘, Zuschauersicht für falsch, er ist zu dicht Folgen. Sie wird produziert von den Rosamunde Pilcher, den Telenovelas … an unserem Journal. Aber ich bin da Telenovela-Spezialisten der Ufa, aber Bellut: … die Telenovelas, vor allem selbstbewusst: Immerhin hat das „heute stilistisch deutlich anspruchsvoller, den „Bianca“, haben übers Jahr 0,3 Prozent journal“ den direkten Wettbewerb auch Erwartungen an ein ZDF-Abend- Plus gebracht. Mich freut aber vor al- dieses Jahr wieder gewonnen – und noch programm angemessen.

AFFÄREN die Gesamtsumme bei rund 2,5 Millionen Euro – und damit deutlich höher als bislang angenommen. Die Produktionsver- Bavaria soll zahlen träge hatten bezahltes Product-Placement ausdrücklich unter- sagt und sahen sogar eine Vertragsstrafe von zehn Prozent des in brisantes Schreiben an die Adresse der Münchner Pro- Auftragswerts vor (SPIEGEL 27/2005), der allein bei der Vor- Eduktionsfirma Bavaria ist derzeit beim ARD-Vorsitzenden abendsoap „Marienhof“ bei etwa 20 Millionen Euro jährlich Thomas Gruber in Arbeit – es handelt sich gewissermaßen um liegt. Wichtig ist den Beteiligten, der Bavaria ihre Schleich- die letzte Quittung für den Schleichwer- werbequittung noch vor dem 31. Januar beskandal um die ARD-Serien „Marien- 2006 zu präsentieren – dann endet de- hof“ und „In aller Freundschaft“. In ren Geschäftsjahr. Die Strafsumme soll dem Schreiben, das der Bavaria Anfang nicht den ARD-Anstalten, sondern den Januar überstellt werden soll, fordert Zuschauern zugute kommen: Angedacht Gruber namens der geschädigten ARD ist etwa, es für eine „Schwerpunkt- Schadensersatz von der eigenen Toch- woche Krebs“ einzusetzen, die für terfirma, an der neben dem BR auch Anfang April geplant ist. MDR, SWR und WDR beteiligt sind.

Nach Auskunft von Eingeweihten liegt EPD Szene aus „Marienhof“ 161 Medien Fernsehen

TV-Vorschau Ersten Weltkrieg, konkurrieren beide zu spüren oder – wie im ersten Teil – um eine schöne Frau (Nathalie Boltt) mit der aus dem Gefängnis entlas- Notting Hill und um einträgliche Platin- und Dia- senen großen Liebe ein neues Leben mantenminen. Man sieht, viel Bewe- anzufangen. Ditterts Protagonisten Montag, 21.45 Uhr, ZDF gung durchtost die Handlung, nur, das sind mehr als fremdartige Folklore- Ein Film (Großbritannien 1999, Regie: Herz steht still, ans Gemüt rührt kaum Statisten in einer klassischen Reise- Roger Michell) auf dem Weg zum eine Szene. reportage. Offen schildern sie ihre Klassiker, besonders an Weihnachten Vision von Glück. Freud und Leid willkommen. Die Liebesgeschichte Abenteuer Glück scheinen dicht beieinander zu liegen zwischen dem leicht verschrobenen – dokumentierte und inszenierte Londoner Buchhändler William Mittwoch, 21.45 Uhr, ARD Szenen leider auch. (Hugh Grant) und Anna, dem Film- Das Glück ist ein Abenteuer, kein Zu- star (Julia Roberts), hat alles, was un- stand, hat Dokumentarfilmerin Annette Tatort: Sonnenfinsternis vergängliches Kino braucht: maßvolle Dittert von einem Tuareg gelernt. Für Märchenhaftigkeit, genaue Beobach- die vierteilige Reisereportage begleitete Sonntag, 20.15 Uhr, ARD tung mit präzisen Dialogen und herr- Unpraktisch für die Spurensuche, liche Szenen. So, wenn sich William wenn eine Leiche in der Desinfek- als schimmerloser Reporter von tionskammer einer Käserei klinisch „Pferd & Hund“ bei Anna ein- rein von Spuren gesäubert wurde. schleicht, wenn sie ihm eine hin- Bruno Ehrlicher (Peter Sodann) und reißend verklausulierte Liebeser- seinem Kollegen Kain (Bernd Michael klärung macht und er nur Bahnhof Lade) ist trotzdem bald klar, dass das versteht. Nur Sehen ist schöner als Opfer von dem Mord an der 14-jähri- Schwärmen. gen Tochter der Käsereichefin zu viel wusste. Auch in seinem 39. Fall Der weiße Afrikaner (Buch: Andreas Pflüger) legt Ehrli- cher in bewährter Manier als mensch- Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD licher, scheinbar naiver Columbo von

Afrika hat im Fernsehen Konjunktur, WDR / ARD Sachsen seine Verdächtigen herein. Dreharbeiten in Südafrika sind preis- Szene aus „Abenteuer Glück“ Nicht umsonst ernannte die sächsi- wert. Dieser Zweiteiler (Fortsetzung sche Polizei Sodann 1996 zum Ehren- am Freitag) nach dem Buch von Wolf- sie Menschen aus Hawaii, Mali, Kalkut- kommissar. Dunkel bleibt die Spur gang Stauch und unter der Regie von ta und China, die für ihren jeweiligen des wahren Mörders für den Zu- Traum kämpfen: zum Beispiel einmal schauer und die Kommissare trotz- aus dem chinesischen Bergdorf in die dem bis fast zum Schluss, wenn der Millionenstadt Shanghai zu kommen, letzte Käse falscher Verdächtigungen die gelassene Weite der Sahara wieder zum Bahnhof gerollt worden ist. TV-Rückblick die Regie (Susanne Aernecke) wollten die Tugend der Demut uns Heutigen Abenteuer Mittelalter: näher bringen. Gezeigt wurde jedoch Demut lernen! ein vollkommen undemütiger Burgvogt, der sich wie ein kleinkarierter Spieß 19. Dezember, ARD beim Militär aufführte. Dazu wollte Das Zeitreisen ist inzwischen im Fern- ein Pater dem geschundenen Knappen-

DAVID GUR / MDR ARD DAVID sehen ein beliebter Zeitvertreib. Men- Azubi allen Ernstes einreden, die Meyer, Bergmann als „Afrikaner“ schen aus dem Heute haben Spaß, Schleiferei habe etwas mit Demut zu vor der TV-Kamera auf Schwarzwald- tun. Lernziel verfehlt. Dann lieber Martin Enlen setzt auf Landschaft Bauernhöfen um 1900 zu rackern, Windstärke 8 erleiden. und historisches Flair der Zeit zu Be- bei „Windstärke 8“ auf einem Auswan- ginn des vorigen Jahrhunderts. Nach derer-Segelschiff zu kotzen oder für kompliziertem Anfang – ein Junge zusammengecastete Pseudobarone aus namens Hans verliert seinen Vater, dem Mecklenburgischen den Diener zu wird in Deutschland von einer Offi- machen. Diese Retro-Doku-Soap vom ziersfamilie adoptiert, verschmäht die vergangenen Montag, die im 15. Jahr- Liebe der Tochter, kehrt als Geologe hundert auf einer Burg spielt, eignet zurück nach Afrika – entwickelt sich sich, die Zeitabstände zwischen Gegen- ein Duell zwischen Hans (Tim Berg- wart und Vergangenheit zu vermessen, mann) und Albrecht (Hans-Werner wenn es um Dinge des täglichen Lebens Meyer), der in Deutschland ein brü- geht wie Essen, Abwaschen oder Kör- derliches Verhältnis zu Hans ent- perpflege. Soll aber der Wandel innerer

wickelt hatte. Nun aber, nach dem Werte dargestellt werden, versagt das JUNGHANS / MDR ARD STEFFEN Genre. Das Buch (Peter Behle) und Szene aus „Abenteuer Mittelalter“

162 der spiegel 52/2005 Medien

RÜCKBLICK Von ARD bis Zickenkrieg Eine etwas andere Sicht auf das bunte Medienjahr 2005 in Presse, Hörfunk und Fernsehen

ARD, die: Abk. für Arbeitsgemeinschaft eigenen Bands, was deren Position in den Felt. Jetzt ist auch die wackelnde Legende der öffentlich-rechtlichen Rundfunkundso- Hitlisten verbesserte. Das nennt man nicht Woodward beleidigt, weil „Deep Throat“ weiter, kurz: „Irre Anstalt“ (SPIEGEL Dummheit, sondern Betrug. Die Affäre be- den Hals nicht voll genug bekommt und 28/2005). Bietet der älteren Bevölkerung schäftigte Musikindustrie, Media Control die eigene Geschichte ohne ihn vermarktet. Volksmusik, Sport, Polit-Talk, Nachrichten und Künstler, von denen manche wohl – und Skandale. Nachdem allein in der auch überlegten, ob sie nicht mal eigene „DESPERATE HOUSEWIVES“ (gesprochen: Däs- Vorabendseifenoper „Marienhof“ 117 Fälle CDs … Gracia, Sehr-Ex-Blondine aus –> prät Hausouaifs) Preisgekrönter US-Serien- von –> Schleichwerbung bekannt wurden, „Deutschland sucht den Superstar“, schaff- Nachfolger von „Sex and the city“. Hier: mussten bei der Produktionstochter Bava- te es mit dem Trick zum Schlager-Grand- Probleme verzweifelter Hausfrauen mit Bla- ria mehrere Chefs gehen, die den Auftrag prix und dort auf den letzten Platz: mit gen, Gatten, Gärtnern, Leichen. der „Grundversorgung“ allzu wörtlich ge- je zwei Punkten aus Moldawien und Mo- nommen hatten. Der ARD-Vorsitzende naco. „DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERSTAR“ Thomas Gruber und Programmchef Günter („DSDS“): Lustigste Lüge der jüngeren TV- Struve wussten aber natürlich von nichts. „CICERO“: –> Glastischlektüre. Geschichte, denn die Superstars der bishe- rigen zwei Staffeln halten sich inzwischen AXEL SPRINGER AG, die (Berliner Verlags- CONNOR, SARAH: Fettnapftaugliches Pop- eher mit Möbelhaus-Autogrammstunden haus, Umsatz: 2,4 Milliarden Euro): Gehört Divchen aus Delmenhorst. Interpretierte über Wasser. Oder kann sich jemand an inzwischen wieder weitgehend sich selbst, am 31. Mai in der Münchner Allianz- und Elli Erl erinnern? Ein- also der Verlegerwitwe Friede Springer, Arena vor 66000 Fans die Nationalhymne ziger Überlebender: „Pop-Titan“ („Bild“) und wird von Mathias Döpfner geführt, neu („Brüh im Lichte dieses Glückes“) und Juror , der in der dritten der dem Gründer immer ähnlicher wird: und flüchtete danach in die von ProSieben Staffel nun wieder kleine Mädchen quält, ein bisschen konservativ, ein bisschen alert, wochenlang übertragenen Hochzeitsvor- die wie er nicht singen können. ein bisschen leidend (an den salon-inkom- bereitungen mit einem gewissen Marc patiblen Schlagzeilen seiner publizisti- Terenzi, der auch zu singen versucht. Aber „DITTSCHE“: Olli Dittrich als bademanteliger schen „Wir sind Papst“-Rampensau „Bild“). sind wir nicht alle ein bisschen Delmen- Verlierer, der uns aus einer Hamburger Im- Döpfner möchte ProSiebenSat.1 überneh- horst? bissbude und der Nische des ewigen Ge- men und damit einen Medienverbund heimtipps heraus die Welt erklärt. So schaffen, von dem der Ex-S.-Großaktionär CONRAD, MARC: Mit 108 Amtstagen als RTL- schön kann –> Reality-TV sein. –> Kirch, Leo immer geträumt hat. Boss der kurzlebigste Senderchef in der Geschichte des deutschen Fernsehens. C. DIVERSIFIKATION: Marketing-Sprech von TV- CARRELL, RUDI (*19.12.1934): Bedeutends- fabulierte plötzlich von Politik als dem Managern für: Cash heiligt die Mittel. Be- ter Holland-Import seit Tulpenzwiebeln. Er neuen Sex und wurde schnell als Bedro- sonders beliebt als zusätzliche Erwerbs- sang („Wann wird’s mal wieder richtig Som- hung des Kölner Kanals empfunden, Ab- quelle: Teleshopping, Hotline-Abzocke, mer?“), moderierte (u. a. „Am laufenden stoßungsreaktion inkl. Widmet sich nun –>Klingeltöne und Kaffeebecher-Mer- Band“) und produzierte („7 Tage – 7 Köp- wieder seiner Produktionsfirma Typhoon. chandising. fe“). Aufgrund einer Lungenkrebserkran- kung lernt er die Boulevardpresse derzeit „DEEP THROAT“ hieß nicht nur ein Porno- „DU BIST DEUTSCHLAND“ heißt eine Mut- von ihrer brutalen Seite kennen und rea- film im Frühjahr 1972, sondern kurz darauf mach-Kampagne, an der sich alle großen giert, wie wahre Top-Entertainer das tun: auch die anonyme Insiderquelle der Wa- Sender und Verlage von –> Springer bis Er bereitet gagschreibend die eigene Ab- tergate-Reporter Carl Bernstein und Bob Bertelsmann beteiligten. Es geht irgend- schiedsgala vor (30. Dezember, RTL). Woodward. Jahrzehntelang wurde in Jour- wie darum, dass jeder Beate Uhse sein nalistenkreisen ein Mordsgewese um D. kann oder Michael Ballack, auch wenn LANGROCK/ZENIT; REUTERS; L.): LISTL/ARGUM; AP; (V. PRESS; GETTY IMAGES; ACTION FOTOS REUTERS CHARTBETRUG, der: Ein sogenannter Mu- gemacht, der sich dieses Frühjahr selbst ou- man das vielleicht gar nicht will. Höhe- sikproduzent kaufte Tausende CDs seiner tete – als damals beleidigter FBI-Vize Mark punkt der Diskussion: die Entdeckung,

ARD-Chefs Gruber, Struve Axel-Springer-Zentrale (in Berlin) „Deep Throat“ Felt (M.) „Deutschland sucht den Superstar“ Medienakteure und -ereignisse: Die einen kämpften mit peinlichen Skandalen, die anderen mit großen Deals – die einen wollten berühmt

164 der spiegel 52/2005 „HekMag“, „Der Freund“ oder „Dummy“ und bestechen meist durch ebenso elegant verpackte wie vernachlässigenswerte In- halte. Man liest es nicht, drapiert es aber neben der Espressomaschine. Zielgruppe: hedonistische Mittdreißiger. Sonderfall 1: „Park Avenue“, der, geschätzt, 320. Ver- such, ein deutsches „Vanity Fair“ in den Sand zu setzen. Sonderfall 2: „Cicero“: hu- morlos-konservatives Feigenblättchen des Schweizer Boulevardkönigs Ringier, das mit einer BKA-Enthüllung selbst in die Schlagzeilen wehte. Innenminister Otto Schily billigte die Hausdurchsuchung in der Redaktion und einer Journalistenher- berge, was „Cicero“-Chef Wolfram Wei- mer über den Dunstkreis Potsdamer Sa- lonstuckdecken hinaus bekannt machte.

GOTTSCHALK, THOMAS: Lockiges ZDF-Fossil, das mit „Wetten, dass…?“ wieder Rekord- quoten abräumte. G. gilt zudem als Be- weis, dass man den besten Sendeplatz ei- nes öffentlich-rechtlichen Senders mit –> Schleichwer… pardon: Product Placement zur Reklamebühne degradieren kann.

GRATISZEITUNGEN, die: Schreckgespenst für hiesige Verleger. Viele Projekte und Ge- genprojekte, noch nichts Konkretes.

HAHNE, PETER zeigte, dass man im krisenge- schüttelten Deutschland mit einem Job nicht

PHIL RAMEY / BULLS PRESS / BULLS PHIL RAMEY mehr auskommt. Erstjob: ZDF-Moderator. „Desperate Housewives“-Darstellerinnen*: Ärger mit Gatten, Gärtnern, Blagen, Leichen Zweitjob: „Bild am Sonntag“-Kolumnist, Abt. protestantische Spaßbremse. Drittjob: dass die Parole schon in den dreißiger Jah- Chef eines neuen Kirchenkanals? Papst stammtischlernder Buchautor („Schluss mit ren von den Nazis genutzt wurde. sind wir ja schon und geht bei ihm auch lustig“). Nebenbei noch EKD-Ratsmitglied. nicht wg. protestantischer Herkunft. H. wurde im Oktober ein paar Stunden als DVD, die: Silberscheibchen, das nach dem neuer Regierungssprecher gehandelt. Kino auch das Fernsehen umzukrempeln FUSSBALL (Breitensportart) war das domi- beginnt. Zeitunabhängig, originalversions- nierende Jahresend-Thema und wird auch HEUSCHRECKEN, die (hier: Medien-H.): Popu- fähig, werbefrei. Deshalb sehen viele nicht 2006 regieren. In einer Riesenauktion ver- lärer Begriff für Finanzinvestoren, die das mehr nur Filme auf D., sondern auch Fern- kauften die Vereinsbosse gerade ihre F.-Bun- deutsche Fernseh- und Verlagsgeschäft als sehserien. Für –> Kinos und werbeabhän- desligarechte. Erlös: rund 420 Millionen Renditeobjekt entdecken. Zuletzt wurde gige Privatsender allmählich ein Problem. Euro pro Saison. Seit der Spielauslosung für der Brite David Montgomery verhaltens- die im Juni stattfindende F.-Weltmeister- auffällig, weil er für 182 Millionen Euro die FLIEGE, JÜRGEN: Musste ARD-Missionars- schaft weiß man, dass die großen Sender „Berliner Zeitung“ übernahm und jetzt von stellung nach 1800 Folgen seiner Kaffee- nächstes Jahr mindestens 48 Stunden pro 21 Prozent Rendite träumt. Das Blatt wehr- klatschpredigt aufgeben. Steht dem Ar- Tag berichten werden. Als F.-freie Nischen te sich publizistisch, also erfolglos. beitsmarkt wieder zur Verfügung, evtl. als bleiben: Kinderkanal und Neun Live. HILTON, PARIS (amerikanische Ein-bisschen- GLASTISCHLEKTÜRE, die: Erlebte 2005 eine Hotelerbin): Blondes Nichts mit IQ auf * Marcia Cross, Nicolette Sheridan, Felicity Huffman und Eva Longoria am 18. September bei der Emmy- Blüte. Die Hochglanzmagazinchen heißen Höhe einer Scheibe Cervelatwurst. Cover- Verleihung in Los Angeles. „Monopol“, „Deutsch“, „Zoo“, „Qvest“, Blinse des Jahres, dicht gefolgt von Kate

„Du bist Deutschland“-Kampagne Pooth, Gottschalk Finanzinvestor Montgomery Covergirl Hilton werden, es wenigstens bleiben oder mit altem Ruhm noch einmal richtig Kasse machen

der spiegel 52/2005 165 Medien

Kanzlerduell Kino (in Dortmund) Milchstraße-Verlagssitz (in Hamburg) Premiere-Chef Kofler Auf-, Ab- und Umsteiger: Ein TV-Duell macht Furore, eine Branche in Pessimismus, ein Verlag Miese und ein TV-Chef auf strahlend – beim

Moss, die wegen Drogenexzesses von der „Schni-Schna-Schnappi“-K. können sich Charme-Offensiven von Vorstandschef Modeindustrie erst fallen gelassen und we- als normal betrachten. Manager mit Wag- Georg Kofler in den Keller. Dürfte ohne Ǟ nige Monate später aus dem gleichen ners „Walkürenritt“-K. sollten einen Arzt Fußball-Bundesliga weiter verlieren. Grund als Bad Girl reanimiert wurde. ihres Vertrauens konsultieren. PRESSEFREIHEIT, die: Hatte es nicht nur in KANZLERDUELL, das: Live-Marionettenthea- MILCHSTRASSE, die: Hamburger Verlags- Russland oder den USA schwer, sondern ter und Neuauflage des K. von 2002. Dies- haus („Max“, „TV Spielfilm“ etc.). Einst auch in der Bundesrepublik (Ǟ Glas- mal in der rechten Ecke als Herausforderin: Gute-Laune-Fabrik, dann für 28 Millionen tischlektüre, Ǟ Schröder, Gerhard). Angie Merkel. 21 Millionen sahen zu. Es Euro weitgehend an Burda verkauft. Alt- blieb ihnen auch kaum eine Wahl, weil verleger Dirk Manthey ist jetzt wieder REALITY-TV, das: Einst fabulierte John de ARD, ZDF, RTL und Sat.1 gleichzeitig Jungunternehmer. Mol, Erfinder von „Big Brother“ („BB“), übertrugen. bald werde man TV-Formate nur noch in POOTH, VERONA (geb. Feldbusch): Hat gar zwei Kategorien einteilen: Vor „BB“ und KARTELLAMT, das: Muss u. a. die Frage klä- nichts mehr – weder große Werbeverträge nach „BB“. Fünf Jahre nach der ersten ren, ob –> Springer ProSiebenSat.1 über- noch Shows oder gar Ausstrahlung, nur ei- Staffel der Container-Tristesse wurde die nehmen darf. K.-Chef Ulf Böge sagt nein. nen eher schlichten Gatten namens Franjo zügige Einstellung der als Endlosprojekt Danach könnte Wirtschaftsminister Mi- sowie ein Kind. Schaffte es dennoch wie- gestarteten sechsten beschlossen. Damit chael Glos ja sagen, der sich bislang ein der bis zu „Wetten, dass …?“ – wie die haben großflächig tätowierte Sozialhilfe- klares Jein, wenngleich … entlocken lässt. Ikone aller Ich-weiß-auch-nicht-wofür-ich- anwärter eine Chance weniger, Hartz IV berühmt-bin-Luder, –> Hilton, Paris. zu entkommen. R. ist dennoch überall (von KERNER, JOHANNES B.: Inzwischen omniprä- „Super Nanny“ bis –> „DSDS“). sentes Mainzelmännchen mit der Lizenz zu PREMIERE, das (nicht die): Einst Pay-TV- flöten. Könnte 2006 neben Talk-, Koch- und Milliardengrab von –> Kirch, Leo, dann RUNDFUNKGEBÜHR, die: Aktueller Stand pro Sportshows eigentlich nur noch „heute jour- Hoffnungswert, seit 2005 börsennotiert. GEZ-Opfer: 17,03 Euro. Macht sieben Mil- nal“ und die Hauptrolle in einer Rosamun- Die P.-Aktie rutschte seit ihrem Start liarden Euro pro Jahr für –> ARD, ZDF de-Pilcher-Verfilmung übernehmen. im März trotz chronischer Strahl- und und Deutschlandradio, was denen aber zu

KINO, das: Selten gab es in deutschen Licht- ARD-Dreiteiler „Speer und Er“: „TV-Event des Jahres“ – eines von vielen spielhäusern so viel Platz zum ungestörten Knutschen: Die großen K.ketten verzeich- neten 2005 in den ersten neun Monaten einen Minusrekord. Schuld sind nicht nur der Angstschweiß der Betreiber in den muffig gewordenen Riesenschachteln und Mondpreise für Fünf-Liter-Eimer labbrigen Popcorns, dessen Fans einem dann den letz- ten Filmspaß zerknuspern. Verantwortlich ist auch die Misere an der Angebotsfront, sprich: mangelnder Hollywood-Nachschub sowie der Siegeszug der –> DVD.

KIRCH, LEO (früher Medienmogul, jetzt: -pleitier). Der 79-Jährige gehört noch im- mer zu den reichsten Deutschen. Nach al- lem, was man so hören und lesen konnte, möchte er nun Rache nehmen für seinen Ausverkauf. Ziel der Attacken des Herrn K.: Deutsche-Bank-Aufsichtsratschef Rolf Breuer. Prozess läuft. Urteil Ende Januar.

KLINGELTÖNE, die: gewinnbringende Abfall- produkte der allgemeinen Handy-Manie. Machten einige wenige (etwa die Berliner Firma Jamba) deutlich reicher, Millionen

dafür lärmempfindlicher. Teenies mit / WDR DDP FALKE STEFAN 166 Medienunternehmer Saban RTL-Chefin Schäferkordt ARD-Star Schmidt „Verliebt in Berlin“ (Sat.1) großen TV-Roulette setzen alle auf Sieg, aber nicht jeder gewinnt

wenig ist. Deshalb machen sie auch –> SPIEGEL, der: Hamburger Nachrichten-Ma- für den Sat.1-Zweiteiler „Die Luftbrücke“ Schleichwerbung und wollen klagen. gazin und auch 2005 wieder meistzitiertes nur noch der Trostpreis: „Das Fernsehereig- Medium der Republik – sogar ohne die nis im Advent“. Man wartet noch auf den SABAN, HAIM: Lustiger US-israelischer Strah- Berichterstattung über SPIEGEL-interne 3sat-Fronleichnam-Event des Jahrzehnts. le- und Geschäftsmann. Kaufte 2003 Pro- Querelen in anderen Blättern. SiebenSat.1 für 525 Millionen Euro. Will UNTERSCHICHTENFERNSEHEN, das: Gibt es nun für rund 2,5 Milliarden an –> Springer „TALK DER WOCHE“ war auf Sat.1 der seit nicht, hat es nie gegeben, wird es nie ge- verkaufen. Am 20. Januar wird das Kar- langem erste Versuch eines Privatsenders, ben, da waren sich am Ende einer mona- tellamt entscheiden. Ein besseres Geschäft so etwas wie politischen Journalismus zu telangen Debatte alle einig. Ursprünglich war selten. probieren. Moderation: Bettina Rust. Gäste: thematisiert vom Allzweckwissenschaftler Leute, die selbst bei N24 abblitzen. Quoten: Paul Nolte („Generation Reform“), popu- SCHÄFERKORDT, ANKE: Mächtigste Frau des miserabel. Ende: nach zehn Folgen. lär gemacht von –> Schmidt, Harald, der deutschen Fernsehens, seit sie im Septem- den Begriff nach einigen Kalauern aber ad ber RTL-Chefin wurde. Schmiss gleich ein TALKSHOWS, die: TV-Genre. Beliebtestes acta legte. Selbst angebliche U.sender wie paar Chefs unter ihr raus und sucht nun Bedeutungsplacebo für geckernde Kopf- RTL II belegten mit eindrucksvollen Statis- Ideen. nicker wie Reinhold Beckmann, vor allem tiken, dass sie nur Eliten ansprechen. aber Politiker jeder Couleur. SALM, CHRISTIANE ZU: Neureichste Frau des „VERLIEBT IN BERLIN“: Giga-erfolgreiches –> deutschen Fernsehens, seit sie ihre Antei- TELENOVELA, die: Erfolgreicher Versuch, mit Telenovela-Event des Jahres bei Sat.1: Lisa le an dem von ihr mitverbrochenen Hüt- dem Medienproletariat billiger Schauspiel- Plenske (Alexandra Neldel) mutiert vom chenspieler-Kanal Neun Live für knapp laien und wenig Geld in sehr kurzer Zeit teigigen Entchen zum schönen Schwan. Das zehn Millionen Euro an ProSiebenSat.1 sehr viel Sendeplatz zu füllen. Ursprüng- hat Folgen, und zwar immer mehr. verkaufte. Lebensabschnittspartnerin von lich in Entwicklungsländern Südamerikas –> Premiere-Chef Kofler, was beide wieder erfolgreich, nun auch in der Bundesrepu- VIERTE, das: Im September gestarteter „Medienpaar des Jahres“-tauglich macht. blik, der es ja auch nicht mehr so gut geht. Kleinstkanal des US-Medienriesen NBC FOTOS (V. L.): RÜSCHE / DPA; G. SCHIEFER; MUELLER / VISUM; ACTION PRESS; / VISUM; ACTION G. SCHIEFER; MUELLER L.): RÜSCHE / DPA; (V. FOTOS 1 JUNG; ARD; OBS/ SAT MATTHIAS DPA; Die T. unterscheidet sich von der Seifenoper Universal mit Hollywood-Konserven. Das SCHLEICHWERBUNG, die: Heißt künftig „Pro- durch patent-rehäugige Hauptdarstellerin- Listigste am V. ist sein Anspruch, irgendwie duct Placement“ und wird mit den Weihen nen, trutschiges Frauenbild und garantiertes Vierter auf den TV-Fernbedienungen zu der zuständigen EU-Kommissarin Viviane Hochzeits-Happy-End. Erster Erfolg: „Bi- werden. Erreichte bislang einen Marktan- Reding ab 2007 weitgehend erlaubt. anca – Wege zum Glück“ (ZDF), das nach teil im homöopathischen Bereich und Platz 224 Folgen dieses Jahr endete und eine Viel- 26 unter den frei empfangbaren Kanälen. SCHMIDT, HARALD (Unterhaltungskünstler): zahl von Adaptionen provozierte (Julia, Tes- Feierte in der ARD nach einjähriger Aus- sa, Sophie – wahlweise im „Sturm der Lie- VIVA gehört jetzt zu MTV (das wiederum zeit seine Bildschirmresozialisierung und be“ oder als „Braut wider Willen“). vom US-Konzern Viacom regiert wird) und bekommt für die Arbeitsbeschaffungs- sieht auch so aus. Akzeptabel: Sarah Kutt- maßnahme geschätzte 2,8 Squilliarden TÜRCK, ANDREAS: Als ProSieben-Talker ein ner, die ihre Nachtshow wie einen Auffahr- Euro. Ohne S. ist das deutsche Fernsehen Vertreter klebriger D-Klasse-Prominenz. unfall moderiert – entsetzlich, aber man fad, mit ihm gelegentlich nur enttäuschend. Wurde durch nächtlichen Verkehr auf einer guckt doch immer wieder hin. Frankfurter Brücke aktenkundig und da- SCHRÖDER, GERHARD (Alt-, früher Medien- mit ein Glanzfall für die Boulevardpresse. WEDEL, DIETER: Der Erfolgsregisseur („Der kanzler): Glaubte einst, zum Regieren Hatte er die junge Frau zum Oralsex ge- große Bellheim“) fand dieses Jahr in der brauche man „Bild“, „BamS“ und Glotze. zwungen oder nicht? Der Prozess endete Glotze NICHT statt. Bevor man ihn aber Ließ sich als Brioni-Model fotografieren mit Freispruch, aber ohne Sieger. Das für die „Stern“-Rubrik „Was macht ei- und schmiss sich bei „Wetten, dass …?“ als anschließende Quasi-Berufsverbot dürfte gentlich…?“ vorschlagen kann, kehrt er Chauffeur an Omis ran. Galt lange als nicht so schnell aufgehoben werden. Der Anfang Januar mit dem Scheidungs-Zwei- jovialer Politiker-Darsteller, offenbarte in internationale T. heißt Michael Jackson. teiler „Papa und Mama“ ins ZDF zurück. den letzten Tagen im Berliner Führungs- bunker aber ein bizarres Medienverständ- TV-EVENT, das/der (gern mit dem Zusatz: „des ZICKENKRIEG, der: 2005 zu beobachten zwi- nis und wetterte über vermeintliche Kam- Jahres“): Inzwischen inflationär gebrauchte schen –> ARD und ZDF, die sich im Kampf pagnen. Neue Jobs als Berater des Schwei- Floskel für alles, was teuer ist, u.a. der ARD- um jede drittklassige Adelshochzeit gegen- zer Verlegers Ringier, dessen –> „Cicero“ Dreiteiler „Speer und Er“ (als Hitler: Tobias seitig totsendeten. Die Z.-Neuauflage wird noch im Sommer von S.’ Innenminister ver- Moretti, der seit „Kommissar Rex“ gut mit im Januar starten, wenn die „Tagesthe- folgt wurde, sowie Gasprom-Lobbyist für Schäferhunden kann), –> Kanzlerduell oder men“ eine Viertelstunde früher beginnen Duzfreund Wladimir Putin, der –> Presse- sogar das „TV-total-Turmspringen“. „Bild“ und damit das „heute journal“ attackieren freiheit ähnlich wichtig findet. vergab das Etikett allein dreimal. Da blieb wollen. Marcel Rosenbach, Thomas Tuma

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Das gilt auch DEUTSCHE POLITIK Leitung: Hans-Joachim Noack, Dietmar Pieper, für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Hans-Ulrich Stoldt (stellv.). Redaktion: Georg Bönisch, Annette MÜNCHEN Dinah Deckstein, Heiko Martens, Bettina Musall, Conny Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. Bruhns, Per Hinrichs, Carsten Holm, Dr. Hans Michael Kloth, , Lerchenfeldstraße 11, 80538 München, Tel. (089) 4545950, Fax 45459525 Deutschland, Österreich, Schweiz: Kühnl, Merlind Theile. Autoren, Reporter: Henryk M. Broder, Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 Dr. Thomas Darnstädt, Hartmut Palmer, Dr. Klaus Wiegrefe STUTTGART Felix Kurz, Eberhard Straße 73, 70173 Stuttgart, Tel. E-Mail: [email protected] HAUPTSTADTBÜRO Leitung: Gabor Steingart, Jan Fleischhauer (0711) 664749-20, Fax 664749-22 (stellv.), Konstantin von Hammerstein (stellv.). 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LONDON Thomas Hüetlin, Studio 5B, 9-15 Neal Street, London E-Mail: [email protected] Redaktion: Wolfgang Bayer, Irina Repke, Sven Röbel, Caroline WC2H 9PU, Tel. (0044207) 2401324, Fax 2400246 Schmidt, Michael Sontheimer, Holger Stark, Peter Wensierski Abonnenten-Service MADRID Helene Zuber, Apartado Postal Número 100 64, Persönlich erreichbar Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Thomas Tuma. Redaktion: 28080 Madrid, Tel. (003491) 3910575, Fax 3192968 Beat Balzli, Julia Bonstein, Dietmar Hawranek, Alexander Jung, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, MOSKAU Walter Mayr, Uwe Klußmann. Autor: Jörg R. Mettke, 20637 Hamburg Klaus-Peter Kerbusk, Nils Klawitter, Jörg Schmitt, Thomas Schulz, Janko Tietz Ul. Bol. Dmitrowka 7/5, Haus 2, 125009 Moskau, Tel. (007095) Umzug/Urlaub: 01801 / 22 11 33 zum Ortstarif AUSLAND Leitung: Hans Hoyng, Dr. Gerhard Spörl, Dr. Christian 96020-95, Fax 96020-97 Fax: (040) 3007-857003 Neef (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Dr. Carolin Emcke, NAIROBI Thilo Thielke, P.O. Box 1361, 00606 Nairobi, Fax 00254- Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Joachim Hoelzgen, Siegesmund 204181559 Zustellung: 01801 / 66 11 66 zum Ortstarif von Ilsemann, Jan Puhl, Dr. Stefan Simons. Autoren, Reporter: Fax: (040) 3007-857006 NEW DELHI Padma Rao, 101, Golf Links, New Delhi 110003, Tel. Klaus Brinkbäumer, Dr. Erich Follath, Dr. Olaf Ihlau, Susanne (009111) 24652118, Fax 24652739 Service allgemein: (040) 3007-2700 Koelbl, Erich Wiedemann NEW YORK Frank Hornig, Alexander Osang, 516 Fifth Avenue, Pent- Fax: (040) 3007-3070 WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf house, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 E-Mail: [email protected] Stampf. Redaktion: Dr. Philip Bethge, Rafaela von Bredow, Manfred Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika Hackenbroch, Julia Koch, PARIS 12, Rue de Castiglione, 75001 Paris, Tel. (00331) 58625120, Fax Abonnenten-Service Schweiz Beate Lakotta, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hilmar Schmundt, Mat- 42960822 DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern thias Schulz, Katja Thimm, Christian Wüst PEKING Andreas Lorenz, Sanlitun Dongsanjie Gongyu 2-1-31, Telefon: (0041) 41-329 22 55 Fax: (0041) 41-329 22 04 KULTUR Leitung: Dr. Romain Leick, Matthias Matussek. Redak- Peking 100 600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 E-Mail: [email protected] tion: Verena Araghi, Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Nikolaus von PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. + Fax (00420) 2-24220138, 2-24221524 Festenberg, Angela Gatterburg, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Ulri- RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Caixa Postal 56071, AC Urca, Abonnement für Blinde ke Knöfel, Dr. Joachim Kronsbein, Dr. Johannes Saltzwedel, Elke Rio de Janeiro-RJ, CEP 22290-970, Tel. (005521) 2275-1204, Fax 2543- Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Schmitter, Klaus Umbach, Claudia Voigt, Marianne Wellershoff, Mar- 9011 Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 tin Wolf. Autoren: Wolfgang Höbel, Urs Jenny, Dr. Mathias Schreiber ROM Alexander Smoltczyk, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) GESELLSCHAFT Leitung: Lothar Gorris, Cordt Schnibben. Redak- E-Mail: [email protected] 6797522, Fax 6797768 tion: Anke Dürr, Fiona Ehlers, Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt Ralf Hoppe, Ansbert Kneip. Reporter: Uwe Buse, Ullrich Fichtner, SHANGHAI Dr. Wieland Wagner, No. 50, Lane 1517, Huqingping Frankfurt am Main Jochen-Martin Gutsch, Barbara Supp Rd. Shanghai 201702, Tel. (008621) 59889292, Fax 59889393 Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Maik Großekathöfer, SINGAPUR Jürgen Kremb, Bureau Southeast Asia / Pacific, 59 A, E-Mail: [email protected] Detlef Hacke, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger Merryn Road, 298530 Singapur, Tel. (0065) 62542871, Fax 62546971 Abonnementspreise SONDERTHEMEN Leitung: Stephan Burgdorff, Norbert F. Pötzl WARSCHAU P.O.Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau, Inland: zwölf Monate ¤ 166,40 (stellv.). Redaktion: Karen Andresen, Horst Beckmann, Wolfram Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365 Sonntagszustellung per Eilboten Inland: ¤ 494,00 Bickerich, Joachim Mohr, Manfred Schniedenharn, Peter Stolle, WASHINGTON Georg Mascolo, 1202 National Press Building, Wa- Studenten Inland: zwölf Monate ¤ 114,40 inkl. Dr. Rainer Traub, Kirsten Wiedner shington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina 6-mal UniSPIEGEL WIEN Marion Kraske, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Stegelmann Schweiz: zwölf Monate sfr 291,20 5331732, Fax 5331732-10 Europa: zwölf Monate ¤ 221,00 HAUSMITTEILUNG, INFORMATION Hans-Ulrich Stoldt Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 299,00 DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Axel Pult (stellv.), Peter Wahle DER SPIEGEL als E-Paper: zwölf Monate ¤ 166,40 CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Holger Wolters (stellv.) Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Heinz Egleder, werden anteilig berechnet. SCHLUSSREDAKTION Regine Brandt, Reinhold Bussmann, Lutz Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Cordelia ✂ Diedrichs, Dieter Gellrich, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Maika Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, Abonnementsbestellung Kunze, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Manfred Thorsten Hapke, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Stephanie Hoff- Petersen, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio mann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Sirkka, Ulrike Wallenfels SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate Kemper- Gussek, Jan Kerbusk, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, 20637 Hamburg – oder per Fax: (040) 3007-3070. BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- gestaltung), Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt, Anke Well- Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Dr. Ich bestelle den SPIEGEL nitz; Josef Csallos, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thorsten Ger- Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer ❏ für ¤ 3,20 pro Ausgabe (Normallieferung) ke, Heidrun Günther, Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Lübbert, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moor- ❏ für ¤ 9,50 pro Ausgabe (Eilbotenzustellung am Peer Peters, Dilia Regnier, Sabine Sauer, Karin Weinberg. E-Mail: mann, Tobias Mulot, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, [email protected] Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Andreas M. Peets, Anna Petersen, Sonntag) mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Thomas Riedel, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schier- Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte SPIEGEL Foto USA: Matthias Krug, Tel. (001310) 2341916 GRAFIK Martin Brinker, Gernot Matzke; Cornelia Baumermann, horn, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Thomas Schmidt, Hefte bekomme ich zurück. Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Margret Spohn, Rainer Zusätzlich erhalte ich den KulturSPIEGEL, Renata Biendarra, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Michael Walter Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rai- das monatliche Programm-Magazin. ner Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Hans-Jürgen LAYOUT Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe, Reinhilde Wurst; Vogt, Carsten Voigt, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: Michael Abke, Christel Basilon, Katrin Bollmann, Regine Braun, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Volker Fensky, Claudia Franke, Grit Frenzel, Petra Gronau, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Till Schlünz, Martina LESER-SERVICE Catherine Stockinger Treumann, Doris Wilhelm Name, Vorname des neuen Abonnenten NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / Sonderhefte: Rainer Sennewald Washington Post, New York Times, Reuters, sid PRODUKTION Christiane Stauder, Petra Thormann SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Straße, Hausnummer oder Postfach TITELBILD Stefan Kiefer; Iris Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg, Arne Vogt, Monika Zucht Verantwortlich für Anzeigen: Jörg Keimer REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 59 vom 1. Januar 2005 PLZ, Ort BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Mediaunterlagen und Tarife: Tel. (040) 3007-2475 Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, Kultur und Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Ich zahle Gesellschaft Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 bequem und bargeldlos per Bankeinzug (1/ -jährl.) Verantwortlich für Vertrieb: Thomas Hass ❏ 4 BONN Combahnstraße 24, 53225 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax 26703-20 Druck: Prinovis, Itzehoe Prinovis, Dresden Bankleitzahl Konto-Nr. DRESDEN Steffen Winter, Königsbrücker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. 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168 der spiegel 52/2005 Chronik 17. bis 21. Dezember SPIEGEL TV

DONNERSTAG, 29. 12. SAMSTAG, 17. 12. sitzender der Likud-Partei. Er zieht nun 22.15 – 23.10 UHR VOX als Spitzenkandidat gegen seinen EU-FINANZSTREIT Die Staats- und Regie- Amtsvorgänger Ariel Scharon in die SPIEGEL TV EXTRA rungschefs der Europäischen Union eini- Parlamentswahlen Ende März. gen sich auf einen gemeinsamen Haus- Das Superhaus: ein Traumschloss „Made in Germany“ halt: 862 Milliarden Euro Ausgaben für DIENSTAG, 20. 12. die nächsten sieben Jahre. Bauen in Großbritannien? Für deutsche STREIK In New York streiken bei klirren- Provinzhandwerker war das höchstens WTO-GIPFEL Bei Zusammenstößen zwi- ein Luftschloss. Bisher. Doch jetzt wurde schen der Polizei und Globalisierungs- der Kälte die Verkehrsbetriebe. Sieben Millionen Fahrgäste sind betroffen, dar- daraus Wirklichkeit: Ein betuchter eng- kritikern in Hongkong werden mehr lischer Architekt und Unternehmer hat als 40 Menschen verletzt und 900 fest- unter vornehmlich Pendler, Schüler und Touristen. bei einer Massivhaus-Baufirma im Huns- genommen. rück seine persönliche Traumvilla in Auf- USA Präsident Bush gibt in seiner wö- KOALITIONSSTREIT Bundesfinanzminister trag gegeben – mit 2500 Quadratmeter chentlichen Radioansprache zu, dass seit Peer Steinbrück maßregelt seine Kabi- Wohnfläche inklusive Pool, Kino und al- 2001 Telefongespräche und E-Mails von nettskollegen, nicht länger öffentlich zu- lem Drum und Dran. SPIEGEL TV Extra Amerikanern ins Ausland abgehört werden. sätzliche Ausgaben zu fordern. begleitet den Bau: die Abreise im Huns- rück, Lkw-Fahrer, Arbeiter und Hand- GEISELNAHME II SONNTAG, 18. 12. Susanne Osthoff möchte werker während der verschiedenen Bau- auch nach ihrer Freilassung nicht nach phasen und schließlich den Einzug in das GEISELNAHME I Susanne Osthoff, 43, wird Deutschland zurückkehren. Sie zieht sich Superhaus „Made in Germany“. freigelassen. Die Archäologin wurde am mit ihrer Tochter zurück. 25. November im Nordirak zusammen FREITAG, 30. 12. mit ihrem Fahrer entführt. Er kommt BEVÖLKERUNGSWACHSTUM Heute wird der 22.00 – 24.00 UHR VOX einen Tag später frei. 6,5-milliardste Mensch geboren. SPIEGEL TV THEMA ISRAEL Ministerpräsident Scharon erleidet MITTWOCH, 21. 12. einen leichten Schlaganfall. Wichtige Ereignisse, bewegende HOMOSEXUELLEN-EHEN Gleichgeschlecht- Momente – Der Jahresrückblick 2005 MONTAG, 19. 12. liche Partner dürfen ab sofort in England und Wales offiziell hei- ÜBERNAHME Der Essener Mischkonzern raten. RAG erwirbt 42,86 Prozent der Degussa AG von E.on. RAG hält nun knapp 93 PROZESS Der Bundesgerichtshof hat die Prozent an dem Spezialchemiehersteller. Freisprüche im Fall Mannesmann auf- STROMPREISERHÖHUNG Nach Hessen und gehoben. Die Angeklagten, darunter Bayern lehnen auch Rheinland-Pfalz und Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, NRW die Anträge auf Strompreis- müssen sich nun im nächsten Jahr erneut erhöhung der Energiewirtschaft ab. vor Gericht verantworten. Die Staats- anwaltschaft wirft ihnen im Zusammen- ISRAEL Der frühere israelische Regierungs- hang mit millionenschweren Prämien-

chef Benjamin Netanjahu ist neuer Vor- zahlungen schwere Untreue vor. PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT Merkel

Es war das Jahr der politischen Überra- schungen – Rot-Grün scheitert auf Bun- desebene, die CDU erklärt Angela Mer- kel zur Hoffnungsträgerin und Kanzler- kandidatin – am Ende sorgen die Wähler für eine Sensation. Die Union erleidet eine bittere Schlappe, die Demoskopen liegen falsch. Quo vadis, Deutschland? Schwarze Ampel, Große Koalition oder Neuwahlen? Die Republik erlebt ein bis dato nie da gewesenes politisches Schau- spiel. 2005 – ein Jahr zwischen Neuan- fang und Stillstand, zwischen Hoffnung und Resignation. SPIEGEL TV Thema betrachtet die vergangenen zwölf Mo- nate in Reportagen und Analysen, zeigt Momente großer Spannung, politischer Ohnmacht und menschlicher Rührung.

SONNTAG, 1. 1.

DAVID GILLANDERS / AP GILLANDERS DAVID RTL Dass sie auf dem Unicef-Foto des Jahres 2005 zu sehen ist, erlebt Jana aus SPIEGEL TV MAGAZIN Moldawien nicht mehr: Das Straßenkind starb in den Weihnachtstagen vor einem Jahr, wenige Tage nach der Aufnahme. Jana war HIV-positiv und drogenabhängig. Diese Sendung entfällt.

der spiegel 52/2005 169 Register

gestorben Jack Anderson, 83. Er war, als Journalis- ten noch ernst genommen wurden, einer James Ingo Freed, 75. Was dem Archi- der gefürchtetsten Männer von Washing- tekten viel Lob und viele Aufträge für öf- ton. Richard Nixon, ein Erzfeind, nannte fentliche Bauten in den USA einbrachte, ihn eine Kommunistenschwuchtel, sein war sein Talent für den ästhetischen Mix Mann fürs Grobe, Gordon Liddy, einer der aus Purismus, Neoklassizismus und Post- Planer des Watergate-Einbruchs, wollte ihn moderne, eine stilvolle Verbindung von umbringen lassen, was auch die Mafia ge- Glas, Stahl und Stein. Er selbst nahm seine plant hatte. Die CIA, damals ähnlich forsch Begabung als etwas wie heute, ließ ihn rund um die Uhr beob- Natürliches, es sei die achten. Als Enthüllungsjournalist war er in Fähigkeit, „Raum se- seinen Methoden wenig zimperlich, blieb hen zu können, das ist zeitlebens ein Anwalt des kleinen Man- wie Musik hören zu nes und rüstete ständig zu irgendwelchen können“. Der gebürtige Kreuzzügen, um die Welt zu retten. Er Deutsche entstammte deckte die politischen Manipulationen des einer jüdischen Familie. Kommunikationsgiganten ITT auf oder 1939 gelang dem da- auch Ronald Reagans geheime Waffenlie-

mals Neunjährigen die PCF-P.COM ferungen an Iran. Da-

RUNGROJ YONGRIT / DPA YONGRIT RUNGROJ Flucht zu Verwandten bei war er, der fromme DER TOD AUS DEM MEER nach Chicago, erst ein Jahr später folgten Mormone, der Nicht- Es war eine der schlimmsten Naturkata- ihm seine Eltern. Nach Ende seines Studi- raucher, Nichttrinker, strophen der Neuzeit. Der Tsunami vor ums holte ihn der legendäre Ludwig Mies Nichtflucher einer der einem Jahr tötete Hunderttausende, zer- van der Rohe nach New York. Bereits 1956 großmütigsten Männer störte ganze Landstriche. SPIEGEL ONLINE stieg Freed in die Firma des chinesisch-ame- Washingtons. Wenn rikanischen Architekten I. M. Pei ein – und eine kleine Leuchte aus berichtet von den Gedenkfeierlichkeiten. machte Karriere: Heute gibt es das Büro Nixons großer Gauner-

̈̈ WIRTSCHAFT „Pei Cobb Freed“. Sein berühmtestes Bau- schar wegen seiner JOHNSON / GETTY IMAGES CYNTHIA werk ist das vor einem Jahrzehnt fertig ge- Enthüllungen den Job So wird 2006: Was ändert sich stellte Holocaust Museum in Washington. verloren hatte, half der Pulitzer-Preisträ- bei Steuern, Rente, Gesundheit James Ingo Freed starb am 15. Dezember in ger zuweilen dessen Familie. Jack Ander- und auf dem Arbeitsmarkt? New York. son starb am 17. Dezember in Washington. SPIEGEL ONLINE liefert einen Überblick der wichtigsten Vincent Gigante, 77. Als das „Rätsel im Karl August Bettermann, 92. Der große Neuerungen zum Ausdrucken. Bademantel“ ging der Sohn eines einge- Staatsrechtslehrer war immer auch ein ̈̈ POLITIK wanderten neapolitanischen Uhrmachers Rechtsstaatslehrer. Er besaß ein hohes Comeback des Glaubens: Haben sowohl in die New Yorker Stadt- als auch in Sensorium für dem Zeitgeist geschuldete die Volkskirchen in Deutschland die US-Kriminalgeschichte ein. Geifernd Fehlentwicklungen etwa bei der Interpre- ihre Krise überwunden? Ein und mit sich selbst redend schlurfte der tation der Grundrechte. Seine juristische Essay zur Weihnachtszeit von einstige Preisboxer im Pyjama durch Laufbahn begann er am Gericht in Hagen Franz Walter. Greenwich Village. Die perfekt organisier- als „Zivilist“ – einem te Camouflage, die auch das FBI nicht zu Gebiet, auf dem man ̈̈ KULTUR lüften vermochte, bewahrte den schwer- sich den Forderun- Theater hinter Gittern: SPIEGEL- gewichtigen Mafia-Boss vor lebenslan- gen des Nazi-Regimes ONLINE-Reportage über das gen Haftstrafen. Ganze Heerscharen von noch am ehesten ent- umstrittene Bühnenprojekt Gerichtspsychiatern und Neuropsycho- ziehen konnte. Nach „aufBruch“ in der Justizvollzugs- logen hatten dem Paten der Genovese- dem Krieg wurde Bet- anstalt Berlin-Tegel. Familie drei Jahrzehnte lang geistige termann dort Richter ̈̈ SPORT Unzulänglichkeit attestiert: Ein wirrer, mit am Landgericht, stieg Überflieger: Bei der 54. Vier- einem IQ-Wert von BERND UHLIG rasch in die hohe Ge- schanzentournee will der maximal 72 Punkten richtsbarkeit auf, bevor bedachter dummer al- er sich auch noch der Wissenschaft zu- DSV-Adler Michael Uhrmann ter Mann konnte, so wandte. Habilitation in Münster, ordent- auf dem Podest landen. das medizinische Dik- liche Professur an der Freien Universität ̈̈ Dazu täglich mehr als 100 tum, schwerlich ver- Berlin für Bürgerliches Recht und Zivil- weitere aktuelle Nachrichten, antwortlich sein für die prozessrecht, dann 1970 die „Lebens- Reportagen und Hintergründe ihm zur Last gelegten stellung“ als Prozessrechtler an der Uni- bei SPIEGEL ONLINE. Schandtaten von Er- versität Hamburg, wo er 1979 emeritiert

KARL DEBLAKER / AP pressung über Nöti- wurde. Seine philosophisch getönten, kon- gung, Bestechung bis servativen Gedanken über den Staat waren hin zu Mord und Bandenkriminalität. Den- stets von Respekt und Leidenschaft getra- Jeden Tag. noch wurde er 1997 zu zwölf Jahren ver- gen gegenüber dem Gesetz, hingegen vol- 24 Stunden. urteilt. Jüngst räumte Gigante sein Simu- ler Misstrauen angesichts von Ideologie- lantentum ein und erhielt dafür zusätzliche eifer und vernebelter Theorie. Er prägte drei Jahre Gefängnis. Vincent Gigante zahlreiche heutige Hochschullehrer und www.spiegel.de starb am 19. Dezember im Gefängniskran- höchste Richter. Karl August Bettermann Schneller wissen, was wichtig ist. kenhaus von Springfield, Missouri. starb am 11. Dezember in Hamburg.

170 der spiegel 52/2005 Das XXP-Abendprogramm vom 26. Dezember 2005 bis 1. Januar 2006

MONTAG, 26. 12. DIENSTAG, 27. 12. MITTWOCH, 28. 12. DONNERSTAG, 29. 12. Tagesthema: Gegenwart Tagesthema: Vergangenheit Tagesthema: Zukunft Tagesthema: Lebensart 19.00 Uhr: 2005 – 19.00 Uhr: XXP Nachrichten 19.00 Uhr: XXP Nachrichten 19.00 Uhr: XXP Nachrichten Das Jahr in SPIEGEL TV 19.15 Uhr: 2005 – U.a.: Terroranschlag in London 19.15 Uhr: 2005 – 19.15 Uhr: 2005 – Das Jahr in SPIEGEL TV Das Jahr in SPIEGEL TV 20.15 Uhr: Kreatives Kochen – Das Jahr in SPIEGEL TV U.a.: Hurrikan „Katrina“ in New Orleans U.a.: Deutschland am Tag der Wettkampf der jungen Wilden U.a.: Der Papst beim Weltjugendtag 20.15 Uhr: BBC Exklusiv: Bundestagswahl Unter Leitung des deutschen „Punkkochs“ Seuchen der Zukunft Stefan Marquard bereiten internationale 20.15 Uhr: SPIEGEL TV Zeitreise 20.15 Uhr: Lebensart Mit Stefan Aust 21.00 Uhr: BBC Exklusiv: Talente in Kopenhagen ein aufwendiges Mikrokiller U.a.: Wohnen in Marrakesch Menü – junge Köche zwischen Punkrock, Thema: Rosinenbomber über Berlin – Teil 2 21.55 Uhr: Ausnahmezustand an der 20.55 Uhr: Zeitreise 2005 – Pasta und Petersilie. Elbe – Die „Queen Mary 2“ in Hamburg Ein Jahresrückblick von SPIEGEL TV SPIEGEL TV Extra 21.15 Uhr: „Nicht schuldig?“ SPIEGEL TV Special 23.30 Uhr: Gedächtnislücken (3): 21.00 Uhr: Tsunami – Ein Jahr danach (The Memory of Justice) – Teil 2 und Peter Ensikat SPIEGEL TV-Dokumentation Dokumentarfilm Deutschland/ im Gespräch Frankreich/USA/Großbritannien 1976 1.15 Uhr: Die dritte Generation Regie: Marcel Ophüls Spielfilm BRD 1979, Regie: Rainer Werner 23.50 Uhr: Punkt X Fassbinder Das Interviewmagazin Der Film wurde damals beschrieben als „eine Komödie in sechs Teilen um Gesell- 0.15 Uhr: Zeitzeugen schaftsspiele voll Spannung, Erregung Ella Müller, die Mutter des Dramatikers und Logik, Grausamkeit und Wahnsinn“. SPIEGEL TV SPIEGEL TV Patong, Phuket Heiner Müller, über ihre Erinnerungen an „Queen Mary 2“ in Hamburg Ein Thriller über deutsche Terroristen. Die- den berühmten Sohn. Heiner Müller war se Gruppe ist die Erfindung eines Com- 23.15 Uhr: Gedächtnislücken (1): im Osten Deutschlands geblieben, nach- 23.45 Uhr: Gedächtnislücken (2): puter-Tycoons, der mit Hilfe der terroristi- Egon Bahr und Peter Ensikat dem seine Mutter 1951 mit ihrem Mann Egon Bahr und Peter Ensikat schen Bedrohung Überwachungsgeräte im Gespräch in den Westteil Berlins übergesiedelt war. im Gespräch verkaufen will.

FREITAG, 30. 12. SAMSTAG, 31. 12. PROGRAMMTIPP DER WOCHE Tagesthema: Gesellschaft Tagesthema: Kontinente MONTAG, MITTWOCH, DONNERSTAG UND FREITAG: 19.00 Uhr: XXP Nachrichten GEDÄCHTNISLÜCKEN – EGON BAHR UND PETER ENSIKAT IM GESPRÄCH 19.50 Uhr: 2005 – Das Jahr in SPIEGEL TV 19.15 Uhr: 2005 – U. a.: Gesunde Ernährung Das Jahr in SPIEGEL TV U.a.: Schröders Abschied vom 20.15 Uhr: Der Traum vom Kanzleramt; Krawalle in Paris Glück zu zweit; Der große Bluff? Make-up; 20.15 Uhr: XXP Reise BH-Business Urlaub auf den Seychellen Formate der NZZ 22.05 Uhr: Ein Kaufhaus wird geliftet – 21.00 Uhr: BBC Exklusiv: Neuer Glanz für das KaDeWe Vorsicht Lebensgefahr! SPIEGEL TV Thema Afrika

21.50 Uhr: Toyota World of Wildlife XXP XXP Speed – Die Geschwindigkeit der Tiere Egon Bahr Peter Ensikat SONNTAG, 1. 1. Tagesthema: Kultur 22.20 Uhr: XXP Auslandsspiegel Ost-Experte trifft auf Ost-Kabarettisten: Unter dem Thema „Gedächtnislücken“ haben Rückkehr der Folter sich der SPD-Politiker Egon Bahr und der Kabarettist Peter Ensikat gegenseitig ihr Leben 19.00 Uhr: Pferdezeit erzählt. Herausgekommen ist eine faszinierende zeitgeschichtliche Erzählung, welche die 22.50 Uhr: „M“ wie Musik Sichtweisen zweier Persönlichkeiten aus sehr unterschiedlichen Perspektiven dokumen- 20.15 Uhr: BBC Exklusiv: dctp Kontext Apokalypsen des Altertums tiert. Zwei Tage lang hatten sich Bahr und Ensikat im Fernsehstudio unter der Regie des Tod am Nil; Der Todesvulkan 1.00 Uhr: Gedächtnislücken (4): Filmemachers Thomas Grimm über ihr Leben in Ost und West ausgetauscht und dabei und: Egon Bahr und Peter Ensikat über den jeweils anderen gestaunt oder gelacht. XXP zeigt dieses Fernsehereignis als Von Astro bis Nano im Gespräch Vierteiler in Erstausstrahlung. dctp Kontext Personalien

einen brasilianischen Fischer in des- menten und bei den Gesprächen, so warn- sen Hütte. Dem niederländischen te die Botschaft den Besucher vor, werde Magazin „HP/De Tijd“ war dabei er nur als Minister Franz Josef erscheinen. das teure modische Outfit der ehe- maligen Bankangestellten aufgefal- Ulla Schmidt, 56, Bundesgesundheits- len. Die Sonnenbrille von Chanel ministerin (SPD), freute sich über den Ein- oder Prada wurde auf 250 Euro zug der Emanzipation ins Kunstgewerbe. geschätzt, die Handtasche auf min- Aus dem Erzgebirge hatte sie ein soge- destens 800 Euro. Die Armbanduhr nanntes Räuchermännchen erhalten, das der Ehefrau von Thronfolger Willem- sich bei genauerem Hinschauen als Räu- Alexander erkannte ein bekannter cherweiblein in Krankenschwesterntracht Juwelier als eine Rolex Oyster entpuppte. „Das nenne ich gelebte Gleich- Edition, Junior Size, Weißgold für berechtigung“, jubelte die Politikerin. Das 16230 Euro. „Mit dem Geld für eine sei doch mal was anderes als „immer Rolex Oyster“, so höhnte das Ma- gazin über die „Armenreise“ von „Prinzessin Maxikredit“, „könnte ein brasilianischer Fischer mehrere Jahre überleben.“

Franz Josef Jung, 56, Verteidigungs-

MARCEL ANTONISSE / ANP PICTURE-ALLIANCE ANTONISSE MARCEL minister (CDU), musste sich für Prinzessin Máxima, brasilianischer Fischer einen Aufenthalt in Pakistan mit ei- ner ungewohnten Anrede einrich- Prinzessin Máxima der Niederlande, ten. Weil sein Name in der pakistanischen 34, königliche Hoheit und Mitglied einer Amtssprache Urdu so viel wie Krieg be- Uno-Arbeitsgruppe, die mit Kleinkrediten deutet, sollte die Nennung seines Namens,

Armut in Entwicklungsländern bekämpft, um Missverständnissen vorzubeugen, ver- OSSENBRINK FRANK besuchte im Rahmen ihrer neuen Tätigkeit mieden werden. In den offiziellen Doku- Schmidt

so olle Schornsteinfeger“. Und das Sienna Miller, 23, US-Schau- Püppchen wäre doch auch ein hüb- spielerin („Alfie“), deren Affä- sches Geschenk, schließlich seien re mit dem Kollegen Jude Law „die deutschen Gesundheitsleistun- die Medien beflügelte, hält gen auch dank der Frauen Spitze“. nicht viel vom Internet. Zu- mindest für Promis sei es uner- Klaus Kleinfeld, 48, Vorstandsvor- freulich: „Da hockt irgendwo sitzender von Siemens, hatte zu Hau- eine gelangweilte Person, pro- se unangenehmen Besuch vom Zoll. duziert etwas, stellt es ins In- Der Grund: Auf dem Privatgrund- ternet – und zwei Minuten spä- stück des Konzernchefs in Grünwald ter ist es überall zu lesen. Das bei München tummelten sich sechs ist furchteinflößend.“ Da müs- Schwarzarbeiter, beschäftigt von ei- se man sich schon „eine ziem- nem Handwerksbetrieb, den Klein- lich dicke Haut zulegen“; sie feld für Umbauarbeiten an seiner Vil- selbst neige dazu, gefühlsbetont la engagiert hatte. Gegen die sechs zu reagieren. In diesen Zeiten Männer aus Osteuropa, die keine sei dann ein bisschen angeneh- Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis me Zerstreuung schon gut. Die nachweisen konnten, ermittelt nun liefere zum Beispiel ihr neuer die Staatsanwaltschaft. Kleinfeld Film „Casanova“, der Anfang selbst, so die Fahnder, habe von den Februar in die deutschen Kinos Schwarzarbeitern nichts gewusst. kommt, eine „moralisch erhe- Der Siemens-Chef soll nach der Raz- bende Komödie“, in der sie die zia „sehr verärgert“ gewesen sein, starke, unabhängige Heroine ließ der Konzern mitteilen. Und die spielt, die den sexsüchtigen Ca- Zollbeamten bezweifelten, dass der sanova lange hinhält. Immer- Vorstandsvorsitzende noch vor Weih- hin habe sie sich für den Film in nachten in sein neues Domizil ein- ein Korsett pressen lassen, so ziehen könne, da der Bautrupp er- fest geschnürt, „dass ich einige heblich dezimiert wurde. innere Organe verlor“. Doch der Einsatz hat sich gelohnt: Alain Robert, 43, französischer Ex- „Ich hatte ein Dekolleté wie tremkletterer, muss um seinen Ruf

FRED PROUSER / REUTERS nie zuvor.“ verwegener Furchtlosigkeit bangen. Der auf das Erklimmen von Wolken- Miller kratzerfassaden mit blanken Händen spezialisierte „Spiderman français“

172 der spiegel 52/2005 lange nicht den häus- lichen Frieden gestört. Auf der Weihnachtsfeier der nordrhein-westfäli- schen FDP-Landtagsfrak- tion war der Landesherr als Überraschungsgast erschienen. Die FDP- Landtagsvizepräsidentin Angela Freimuth revan- chierte sich dafür mit ei- nem herzhaften Schmatz samt knallrotem Ab- druck auf Rüttgers Wan- ge. Was wiederum den Fraktionschef der Libe- ralen, Gerhard Papke, zum besorgten Rat ver- anlasste: „Herr Minister- präsident, bevor Sie das Lokal verlassen, sollten

CHRIS HELGREN / REUTERS CHRIS HELGREN Sie das abwischen, da- Robert mit Sie zu Hause keine Schwierigkeiten wegen wollte als letzte Trophäe ein 46-Stockwer- uns bekommen.“ Doch der karnevals- ke-Hochhaus in Houston, Texas, bezwin- erprobte Rüttgers wusste sich ganz als Herr gen. Wie üblich mobilisierte der Kraxler der Lage: „Machen Sie sich mal keine Sor- die Medien. Die Polizei, die ihm von Hong- gen. Meine Frau kennt sich mit diesen Din- kong bis Paris seine Übungen verbietet und gen rheinischen Frohsinns bestens aus.“ Jagd auf ihn macht, sparte er wie gewohnt aus. Doch in Texas wurde der Abenteurer Jacques Chirac, 73, französischer Staats- verpfiffen: Die Cops fingen ihn schon am präsident, bewies seinen rhetorisch-kultu- Fuß des Skyscrapers ab. Die Routine- rellen Reifeprozess. Bei einem Massen- anzeige wegen „Verletzung von Privat- interview mit 50 Lesern der Zeitung „Le eigentum“ nahm le spiderman noch ge- Parisien“ im Elysée-Palast wurde der lassen hin; eine zweite wegen illegalen Gaullist gefragt, was er von den Äußerun- Drogenbesitzes schockte den Uner- gen seines Innenministers Nicolas Sarkozy schrockenen. Um seine Unschuld zu be- halte, der die rebellische Vorortjugend als legen, wies der Kraxler verlegen ein ärzt- „Gesindel“ (racaille) abqualifiziert hatte. liches Rezept vor, das die Droge, die die Der Elysée-Herr gab sich indigniert: In Polizisten bei ihm gefunden hatten, als ein der Republik dürften nur „korrekte Aus- starkes Medikament gegen Angstzustände drücke“ angewandt werden, „das sagt das deklarierte. Das französische Magazin Gesetz“. Chiracs eigener Sprachgebrauch „Marianne“ kommentierte mitfühlend: richtete sich indes nicht immer nach sol- „Auch verrückte Kletterer haben halt mal chen papierenen Behördenanweisungen; Schiss.“ er war im Gegenteil bekannt für robuste Sprüche, die sind auch in einem Buch Jürgen Rüttgers, 54, CDU-Ministerpräsi- (Titel: „Les plus belles gaffes de Jacques dent von Nordrhein-Westfalen, sieht durch Chirac“ – Die schönsten Ausrutscher des einen Kuss von einer anderen Frau noch Jacques Chirac) dokumentiert. Über Bri- tenpremier Maggy Thatcher: „Was will die- se Hausfrau? Meine Eier auf einem Ta- blett?“ – Ein Hochlebe-Spruch: „Auf un- sere Frauen, unsere Pferde und die, die sie besteigen.“ – Über sein Sexleben: „Ich bin in einem Bordell in Algier entjungfert worden.“ – Zum Thema Bosse: „Das Ein- zige, was die verstehen, ist ein Tritt in den Arsch; können sie haben.“ Auch der nunmehr kritisierte Sarkozy fand schon 1996 Chiracs deftige Bewertung: „Man muss voll auf ihn treten. Erstens versteht er nur das, und zweitens bringt das Glück.“ Der geläuterte Chirac säuselte jetzt vor seinen andächtig lauschenden Zuhörern:

FRANK OSSENBRINK FRANK „In der Politik ist die Wortwahl ganz we- Rüttgers sentlich.“

der spiegel 52/2005 173 Hohlspiegel Rückspiegel Aus dem Fortsetzungsroman „Der unend- Zitate liche Traum“ von Richard Paul Evans, ab- gedruckt in der „Oldenburgischen Volks- Das Geheimdienstjournal „Studies in zeitung“: „Fayes Vater, Dr. Benjamin Mur- Intelligence“ in einer Buchbesprechung row, Neurochirurg, war ein Mann, der auf über den SPIEGEL-Bericht Anstand und Etikette hielt. Und das be- „Der Bote aus Berlin“, wonach ein deutete, dass er seine Feindseligkeit eher kleiner deutscher Beamter im mit dem Buttermesser verstrich als mit Auswärtigen Amt einer der mutigsten dem Schlachterbeil verteilte.“ Hitler-Gegner war, aber nach dem Krieg als Verräter galt (Nr. 37/2001):

In dem Buch „The Craft of Intelligence“ (1963) spielt Allen Dulles (der ehemalige Schweizer Resident des CIA-Vorgängers Aus der „Märkischen Allgemeinen“ „Office of Strategic Services“) auf den Mann an, den er später als den ergiebigs- ten Spion in der Schweiz während des Aus den „Lübecker Nachrichten“: „Die Zweiten Weltkriegs bezeichnen wird, Engländerin Katherine Legge (25) steuerte nennt aber keinen Namen. Drei Jahre nach 13 Jahren als Frau ein Formel-1-Auto.“ später, in „The Secret Surrender“ (1966), identifiziert Dulles ihn mit seinem Deck- namen: George Wood. In seiner Antho- Aus dem „Stern“: „Naturverbunden, üp- logie „Great True Spy Stories“ (1968) pig, unverfälscht: Christine Neubauer ist veröffentlichte Dulles weitere Einzelhei- das Glas Kuhmilch unter den Schauspiele- ten aus dem Leben seines Agenten, aber rinnen.“ nicht den echten Namen. Andere Autoren taten ihr Bestes, um Woods Identität zu lüften. Und Ladislas Farago kam der Wahrheit schon ganz nahe, als er 1971 in seinem Buch „Game of The Foxes“ einen „Fritz Kople“ ausmachte. Die offizielle Bestätigung, dass Wood der Beamte Fritz Kolbe aus dem Nazi-Außenministerium sei, kam im Juni 2000, als die OSS-Akten freigegeben wurden. Dann im September 2001 veröffentlichte das deutsche Nach- richtenmagazin DER SPIEGEL einen Ar- tikel über Kolbe und beschrieb ihn als einen „stillen Helden“ des Zweiten Welt- Anzeige aus der „Westdeutschen All- kriegs. Bis zu diesem Bericht war Kolbe in gemeinen Zeitung“ Deutschland fast vollkommen unbekannt. Er war nicht Teil der offiziellen Ge- schichte der Bundesrepublik, in der all Aus der „Lebensmittel Zeitung“: „,Es gibt jenen Ehre widerfuhr, die als Hitler-Geg- unzählige Chinas‘, sagt der Experte. ,Die ner und Nazi-Widerständler anerkannt Chinesen sind von der Entwicklung selbst waren … Von Kolbes Spionagetätigkeit nicht weniger verwirrt als der Rest der für die Alliierten wussten einige einge- Welt.‘“ weihte Freunde, die mit Deckadressen und dergleichen während des Krieges halfen. Nach dem Krieg gewährte er ein Interview, das als skizzenhaft biografische Geschichte im „True Magazine“ (1950) er- schien. Dulles konnte eine Veröffentli- chung in Deutschland nicht verhindern, so erfuhr ein größerer Kreis von Kolbes Aus „Rt tipp“ für Veranstaltungen in Reut- Agententätigkeit während des Krieges. lingen Viele sahen in ihm einen Verräter. Seine Rechtfertigung und Verteidigung durch den SPIEGEL-Artikel erlebte er nicht Aus der „Westdeutschen Zeitung“: „Das mehr. Forum 2000 hat am geplanten Kaiserbad- Center einige Pferdefüße entdeckt. Es sei Kolumnist Wolfram Siebeck nicht erkennbar, wo die Stadt bei der Ent- in der „Zeit“ über Restaurantführer wicklung hin will.“ und den SPIEGEL:

Das rote Buch von Michelin erscheint Aus „Die Aktuelle“: „Auch jetzt, da er er- seit 1900 und nimmt, wie der SPIEGEL wachsen und berühmt ist, stehen ihm sei- vor „Focus“, den ersten Platz bei den ne Ohren immer wieder im Weg.“ Guides ein.

174 der spiegel 52/2005