Plenarprotokoll 15/164

Deutscher

Stenografischer Bericht

164. Sitzung

Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 17: (Recklinghausen) (CDU/CSU) ...... 15360 D a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- (fraktionslos) ...... 15362 A SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Hermann Bachmaier (SPD) ...... 15363 A wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versammlungsgesetzes und des Strafge- setzbuches (Drucksachen 15/4832, 15/5051) ...... 15347 A Tagesordnungspunkt 18: b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten , Hartmut Große Anfrage der Abgeordneten Andreas Koschyk, (Heilbronn), Scheuer, Maria Eichhorn, Thomas Dörflinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion weiterer Abgeordneter und der Fraktion der der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs ei- CDU/CSU: Jugend in Deutschland nes Gesetzes zur Änderung des Gesetzes (Drucksache 15/3396) ...... 15364 D über befriedete Bezirke für Verfas- Dr. (CDU/CSU) ...... 15365 A sungsorgane des Bundes (BefBezÄndG) (Drucksachen 15/4731, 15/5069) ...... 15347 B Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekretärin BMFSFJ ...... 15367 A (SPD) ...... 15347 C Klaus Haupt (FDP) ...... 15369 D Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) ...... 15349 B Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15371 B DIE GRÜNEN) ...... 15350 C (CDU/CSU) ...... 15373 C Dr. (FDP) ...... 15351 C Sabine Bätzing (SPD) ...... 15375 A Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD) ...... 15353 B Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) ...... 15376 D Dr. Günther Beckstein, Staatsminister Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 15377 B (Bayern) ...... 15354 C (SPD) ...... 15379 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 15356 C Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 15381 B Dr. (FDP) ...... 15357 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15357 D Tagesordnungspunkt 19: Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 15358 A a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs , Bundesminister BMI ...... 15359 C eines Siebten Gesetzes zur Änderung des II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschrän- (BÜNDNIS 90/ kungen DIE GRÜNEN) ...... 15406 A (Drucksachen 15/3640, 15/5049) ...... 15383 C Marie-Luise Dött (CDU/CSU) ...... 15407 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Tagesordnungspunkt 21: Brüderle, Gudrun Kopp, Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk, (Münster), weiterer Abgeordneter und der , Birgit Homburger, weiterer Fraktion der FDP: Für einen wirksamen Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ver- Wettbewerbsschutz in Deutschland und fahren der Vaterschaftstests vereinfachen Europa und Grundrechte wahren (Drucksachen 15/760, 15/3136) ...... 15383 C (Drucksache 15/4727) ...... 15408 B Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär Sibylle Laurischk (FDP) ...... 15408 C BMWA ...... 15383 D , Bundesministerin BMJ . . . . 15409 C Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 15386 B Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 15410 C (Berlin) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 15390 A Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15412 C Rainer Brüderle (FDP) ...... 15391 D Christoph Strässer (SPD) ...... 15413 C (SPD) ...... 15394 A Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 15394 D Nächste Sitzung ...... 15415 C Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 15395 C Berichtigungen ...... 15415 C (SPD) ...... 15398 A

Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 15399 D Anlage 1 Jörg Tauss (SPD) ...... 15400 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 15417 A Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 15401 C Anlage 2 Tagesordnungspunkt 20: Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum Bürokratieab- Erste Beratung des vom Bundesrat einge- bau (Tagesordnungspunkt 20) brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Büro- kratieabbau (SPD) ...... 15417 D (Drucksache 15/4646) ...... 15403 C Ernst Pfister, Minister (Baden-Württemberg) 15403 C Anlage 3 Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 15404 D Amtliche Mitteilungen ...... 15418 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15347

(A) (C) Redetext

164. Sitzung

Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Entschließungsan- Sitzung ist eröffnet. trag der Fraktion der FDP vor. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kol- zes zur Änderung des Versammlungsgesetzes legen Sebastian Edathy, SPD-Fraktion. und des Strafgesetzbuches (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Silke – Drucksache 15/4832 – Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) (Erste Beratung 158. Sitzung) (B) (D) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Sebastian Edathy (SPD): schusses (4. Ausschuss) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und – Drucksache 15/5051 – Kollegen! Sich über Rechtsextremismus berechtigter- weise zu empören reicht nicht; man muss ihn bekämp- Berichterstattung: fen. Die Demokratie ist wehrhaft. Die Bundesrepublik Abgeordnete Sebastian Edathy hat insofern ein Erbe von Weimar übernommen, als wir Erwin Marschewski (Recklinghausen) wissen: Ein einmal erreichter Grad an Zivilisierung einer Silke Stokar von Neuforn Gesellschaft ist nicht mit einer Ewigkeitsgarantie verse- Dr. Max Stadler hen, sondern wir müssen gemeinsam Tag für Tag und b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Jahr für Jahr dafür arbeiten, dass demokratische Grund- neten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, werte gelebt werden können. Thomas Strobl (Heilbronn), weiteren Abgeordne- Es sind in den letzten Wochen mehr oder minder ten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrach- glückliche Vergleiche zwischen der Bundesrepublik ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Deutschland heute und der Zeit der Weimarer Republik Gesetzes über befriedete Bezirke für Verfas- gezogen worden. Was wir von Weimar lernen können, sungsorgane des Bundes (BefBezÄndG) ist sicherlich, dass eine Demokratie durch hohe Arbeits- – Drucksache 15/4731 – losigkeit gefährdet wird. Ebenso wichtig ist aber, zur Kenntnis zu nehmen, dass Weimar letztlich daran ge- (Erste Beratung 158. Sitzung) scheitert ist, dass es zu wenig Demokraten und Demo- kratinnen gab, die zum Rechtsstaat gestanden haben, und Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- somit die Demokratie selber nicht hinreichend verteidigt ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- worden ist. ordnung (1. Ausschuss) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Drucksache 15/5069 – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Berichterstattung: Unsere Demokratie ist wehrhaft. Allein einige Mel- Abgeordnete Erika Simm dungen dieser Woche belegen das sehr eindrücklich: Thomas Strobl (Heilbronn) (Köln) Am Montag hat das Brandenburgische Oberlandes- Jörg van Essen gericht eine Reihe von jungen Männern wegen Bildung 15348 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Sebastian Edathy (A) einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Diese Bande „nicht zu kleiner Münze“ machen darf. Das ist wahr. In- (C) hatte den Vorsatz gefasst und auch konkret daran gear- sofern bewegen wir uns immer auf einem schmalen beitet, ausländischen Mitbürgern in Brandenburg durch Grat, aber – das sage ich zugleich sehr deutlich – auf ei- Brandanschläge die Existenzgrundlage zu nehmen. nem begehbaren Grat. Am Mittwoch hat der Berliner Innensenator, Herr Ich glaube, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzent- Körting, zwei neonazistische Kameradschaften auf der wurf eine Antwort darauf bieten, wie man, ohne Grund- Grundlage des Vereinsrechts verboten. Ich begrüße das rechte zur Disposition zu stellen, im einfachgesetzlichen für die SPD-Fraktion ausdrücklich. Wer sich gegen die Bereich in einem stärkeren Maße als bisher sicherstellen Grundwerte unserer Verfassung richtet, der muss wissen, kann, dass bestimmte Handlungsweisen schlichtweg dass wir ihm dabei nicht tatenlos zuschauen, sondern nicht Ausdruck von Meinung sind, sondern ein Verbre- handeln. chen und damit unter Strafe gestellt werden können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch DIE GRÜNEN) selbstverständlich!) Ich will zunächst auf das Bezug nehmen, was wir für Am Donnerstag hat der Bundesgerichtshof erfreuli- den Bereich des Strafgesetzbuches vorschlagen. Wir ha- cherweise eine Entscheidung des Kammergerichtes von ben die Absicht, die bisherige Strafbarkeitsschwelle Berlin aus dem Jahre 2003 bestätigt, die darin bestand, für Volksverhetzungstatbestände abzusenken von der dass eine abscheuliche rechtsradikale Musikgruppe Strafbarkeit der Leugnung des Holocaust, bei der sie bis- als kriminelle Vereinigung eingestuft wurde. Auch diese her liegt, auf öffentliche oder in Versammlungen getä- Bestätigung ist wichtig. tigte Äußerungen, die darin bestehen, dass das national- sozialistische Gewalt- und Unrechtsregime gebilligt, Wir sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, gleichwohl verherrlicht oder gerechtfertigt wird. dauerhaft gehalten, das Gesetzesinstrumentarium, das wir in Deutschland haben, laufend auf seine Tauglichkeit Weil das vom Ansatz her ein nicht unerheblicher Ein- im Umgang mit den Feinden der Verfassung zu überprü- griff in die Wahrnehmung des Rechts auf Meinungsfrei- fen. Das enthebt uns nicht – das will ich hier deutlich heit ist, haben wir gleichzeitig mit einem neuen Abs. 4 in zum Ausdruck bringen – der Pflicht, uns auch mit der § 130 Strafgesetzbuch Sicherungssysteme eingebaut, die Überlegung zu befassen, wie wir es hinbekommen, dass sicherstellen, dass nur dann eine Strafbarkeit vorliegt, junge Menschen erst gar nicht anfällig werden für wenn die Würde von Opfern gröblichst verhöhnt und der rechtsextremistische Ideologien. Wir alle wissen, der (B) öffentliche Friede gestört wird. Wir schlagen vor – ich (D) Rechtsextremismus in Deutschland ist erschreckend will das vorlesen, weil das ein ganz wichtiger Punkt ist, jung: Es handelt sich meist nicht um Ewiggestrige, son- auch für die heutige Debatte, der eine wesentliche dern häufig um Neugestrige, die da in Erscheinung treten. Grundlage darstellt und auch Auswirkungen auf das Ver- Ich hoffe, dass der Konsens, der sich bei der Verände- sammlungsrecht haben wird, über das wir in den letzten rung des Strafgesetzbuches und des Versammlungsrechts Wochen diskutiert haben –: hinsichtlich unserer Abstimmung andeutet, auch im Laufe der nächsten Wochen und Monate bestehen wird, Mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder mit Geld- wenn es darum geht, Programme, Initiativen und Pro- strafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer jekte zu stärken, die sich gegen Rechtsextremismus, Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Fremdenfeindlichkeit und Gewalt einsetzen. Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Will- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt. DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, Karl Jaspers hat einmal Damit ist sichergestellt: Der Tatbestand der Störung des formuliert: „Es darf keine Freiheit geben zur Zerstörung öffentlichen Friedens muss erfüllt sein und die Störung der Freiheit.“ Das ist richtig. Gleichwohl gilt, dass auch des öffentlichen Friedens muss dadurch erfolgen, dass Rechtsextremisten, wenn sie nicht entsprechende Grund- die Würde der Opfer verletzt wird. rechte verwirkt haben, Grundrechtsträger sind. Das fest- Nach unserem Dafürhalten wird diese Neuregelung in zuhalten ist bisweilen schwer; aber es ist etwas, was uns vielen Gerichtsverfahren eine klare Grundlage für ent- von den Totalitaristen qualitativ unterscheidet. Das sprechende Entscheidungen bieten. Wir haben bislang heißt, wir müssen uns, wenn wir über den Änderungsbe- eine sehr gemischte Rechtsprechung. Das Parlament hat darf im Strafgesetzbuch und im Versammlungsgesetz re- die große Chance, hier und heute deutlich zu machen, den, vor Augen halten, dass Grundrechte nach Art. 5 des dass diejenigen, die unter Bezugnahme auf die Nazizeit Grundgesetzes – Meinungsfreiheit – und Art. 8 – Ver- positive Äußerungen dergestalt tätigen, dass sie die sammlungsfreiheit – ein hohes Gut sind, das man, wie Würde der Opfer der Nationalsozialisten mit Füßen tre- Heribert Prantl gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ ten, sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen können, zutreffend geschrieben hat, indem wir eine ganz klare Trennlinie im Sinne der wehr- (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ haften Demokratie aufzeigen und deutlich machen: CSU]: Das ist mein Freund, der Prantl, mein Wer diese Grenze überschreitet, der macht sich künftig bester Freund!) strafbar. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15349

Sebastian Edathy (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kritik an dem, was heute mit großer Mehrheit beschlos- (C) DIE GRÜNEN) sen werden wird. Meine Damen und Herren, die zweite Regelung, die Die erste Kritik lautete, dass wir als Gesetzgeber nicht wir hier zur Abstimmung vorschlagen, ist eine Verände- über jedes Stöckchen springen dürften, das uns die NPD rung des Versammlungsgesetzes. In § 15 des Versamm- oder andere hinhalten. Die zweite Kritik war, dass der lungsgesetzes soll ein neuer Absatz eingefügt werden, Staat beschämende Bilder von Neonazidemonstrationen der darauf Bezug nimmt, dass an bestimmten Orten, aushalten müsse; man solle und man könne sie auch nämlich an Gedenkstätten von historischer, herausragen- nicht verhindern. der, überregionaler Bedeutung, dann eine Versammlung oder ein Aufzug verboten werden kann, wenn zu be- Dazu in aller Kürze: Es stimmt, dass wir nicht über je- fürchten ist, dass durch die beantragte Versammlung des Stöckchen springen müssen, das uns Extremisten oder den beantragten Aufzug die Würde der Opfer be- hinhalten. Das tun wir auch nicht. Aber der Staat kann einträchtigt wird. sich nicht alles bieten lassen. Wir können nicht jede Pro- vokation achselzuckend hinnehmen und zur Tagesord- Ein solcher Ort, für den Einschränkungen gemäß dem nung übergehen. eingefügten § 15 Abs. 2 des Versammlungsgesetzes ex- plizit gelten, ist das Denkmal für die ermordeten Juden (Beifall bei der CDU/CSU) in Berlin. Die Bundesländer können auf Grundlage der In einer Demokratie muss man vieles aushalten. Wir historischen und überregionalen Bedeutung von Orten müssen sogar verfassungsfeindliches Gedankengut und selber Gedenkstätten festlegen, für die dieser neue Pas- verfassungsfeindliche Äußerungen hinnehmen. Aber wir sus des Versammlungsgesetzes gelten soll. Wir haben müssen den Feinden der Demokratie und den Feinden großes Vertrauen darin, dass unsere Kolleginnen und unseres Grundgesetzes auch ihre Grenzen aufzeigen. Kollegen in den Landtagen mit dieser Regelung sehr Das ist nicht nur unser Recht, sondern auch unsere verantwortungsbewusst, maßvoll und der Sache ange- Pflicht. messen umgehen werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir schlagen heute neten der SPD) also zwei Änderungen vor: eine Änderung im Bereich des Strafgesetzbuches und eine Änderung im Bereich Eine wirklich wehrhafte Demokratie verdient diesen des Versammlungsgesetzes. Es gehört zu einer leben- Namen nur, wenn sie sich auch wehrt. Tut sie es nicht, digen Demokratie, regelmäßig zu überprüfen, ob unsere dann ist sie auch nicht wehrhaft. Deshalb, Herr Bundes- Gesetze ausreichen. Wir sind der Auffassung, dass die innenminister, war das Verbot der Zeitung „Vakit“ (B) beiden genannten Gesetze gemäß unseren Vorschlägen richtig. (D) verbessert werden sollten. Aber man wird die Debatte darüber hinaus führen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE Ich will noch eine Bemerkung zum Abschluss ma- GRÜNEN und der FDP) chen. Frau Bundesministerin Zypries, ich habe mit gro- ßem Interesse gelesen, dass Sie sich in dieser Woche öf- Wir verdanken dieses Verbot in erster Linie der Auf- fentlich für eine Initiative ausgesprochen haben, die merksamkeit der Kollegin Kristina Köhler, aber auch Ih- Symbole und Zeichen der NS-Zeit und insbesondere rer raschen Reaktion. Angesichts der Tatsache, dass Sie der NSDAP EU-weit zu verbieten. Ich will Ihnen im Na- in den türkischen Medien beschimpft und als Adolf men der SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich unsere Hitler dargestellt werden und dass der Vorsitzende des Unterstützung bei diesem Vorhaben aussprechen. türkischen Presserates sagt, Sie hätten Justizmord began- gen, fühlt sich die Opposition mit beleidigt und stellt Danke sehr. sich ebenfalls vor diesen Innenminister. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- DIE GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/ NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) CSU]: Da kann ja nichts mehr schief gehen!) Neonazis melden ihre Demonstrationen ganz bewusst für solche Tage und zu solchen Anlässen an, die an die Präsident Wolfgang Thierse: Naziherrschaft erinnern sollen. Sie wählen für ihre Auf- Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Bosbach, märsche bewusst sensible Orte wie beispielsweise das CDU/CSU-Fraktion. Brandenburger Tor. Bilder und Berichte von solchen De- (Beifall bei der CDU/CSU) monstrationen gehen um die Welt und beschädigen das Ansehen unseres Landes. Das Ansehen unseres Landes sollte uns nicht egal sein. Es geht nicht nur darum, was Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): der Staat und seine Institutionen aushalten können; es Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat in geht auch darum, wie solche Bilder und solche Aufmär- den vergangenen Wochen über die geplanten Änderun- sche auf die Opfer des Holocaust, auf die Hinterbliebe- gen im Versammlungsrecht und im Strafgesetzbuch eine nen und auf die anderen Opfer von Gewalt- und Willkür- lebhafte und auch kontroverse, aber zum größten Teil herrschaft wirken. Deren Würde wollen wir mit dem sachliche Debatte gegeben. Dabei gab es regelmäßig neuen Recht besser schützen. 15350 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Wolfgang Bosbach (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Präsident Wolfgang Thierse: (C) neten der SPD) Ich erteile das Wort Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Meine Damen und Herren von der Koalition, umso mehr bedauern wir es, dass Sie sich nicht in der Lage se- hen, den befriedeten Bezirk „Deutscher Bundestag“ um Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE die Liegenschaft „Brandenburger Tor“ zu erweitern. Wir GRÜNEN): haben die Anregungen und Bedenken und auch die Kri- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere tik der Sachverständigen, die sie in der Anhörung vorge- Verfassung vertraut auf die Fähigkeit der Bürgerinnen bracht haben, aufgenommen. und Bürger, sich mit extremen Positionen auseinander zu setzen. Nicht durch Verbote, sondern durch öffentlichen (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ Streit sollen politisch unerträgliche Meinungen abge- CSU]: Sehr wahr!) wehrt werden. Die Meinungsfreiheit findet dort ihre Schranken, wo gleichwertige Rechtsgüter verletzt wer- Wir haben unseren Gesetzentwurf geändert. Jetzt kann den. Die Verletzung der persönlichen Ehre ist nicht er- man nicht mehr mit verfassungsrechtlichen Bedenken laubt. argumentieren. Wenn Sie dennoch dagegen argumentie- ren wollen, dann sollten Sie ehrlicherweise sagen: Wir Die von den Koalitionsfraktionen vorgeschlagenen wollen das Brandenburger Tor nicht schützen. – Das ist Änderungen zum Versammlungsrecht und zum Straf- ehrlicher, recht bewegen sich in diesem engen verfassungsrechtli- chen Rahmen. Wir beziehen uns auf den Schutz der (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ Würde der Opfer des Nationalsozialismus und wir halten CSU]: Genauso ist es!) an dem Grundsatz fest, dass in dem sensiblen Bereich der Meinungsfreiheit primär nur Strafbewehrtes verbo- als verfassungsrechtliche Bedenken an den Haaren her- ten werden kann. beizuziehen. Das ist ein ganz sensibler Bereich. Mit unseren Änderungsanträgen stellen wir rechtzei- Nach geltender Rechtslage schützen wir mit dem be- tig vor der Einweihung des Holocaust-Mahnmals sicher: friedeten Bezirk „Deutscher Bundestag“ unter anderem Am Mahnmal für die ermordeten Juden Europas dulden die Schweizer Botschaft, die Spree, das Parlament der wir keine Versammlung von Neonazis. Wir schützen hier Bäume, das Sowjetische Ehrenmal und die Dresdner und an anderen herausragenden Orten des Gedenkens Bank. Aber das eigentliche Ziel der Demonstrationen die Würde der Opfer des Nationalsozialismus. schützen wir nicht. Das halten wir für einen Fehler. In Richtung FDP sage ich: Ihre Argumentation ist äu- (B) (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ ßerst widersprüchlich. Einerseits behaupten Sie: Der (D) CSU]: Sehr wahr!) Schutz der Orte des Gedenkens ist schon auf der Grund- lage des heutigen Rechts möglich. Andererseits sagen Deswegen sind wir nach wie vor der Auffassung, dass Sie, wir gingen mit unseren Klarstellungen zu weit und unser Gesetzentwurf richtig ist. beschädigten die Versammlungsfreiheit. Sie lehnen in Ihrem Entschließungsantrag die örtliche Beschränkung (Beifall bei der CDU/CSU) des Versammlungsrechts ab und haben gleichzeitig die Dessen ungeachtet hoffen wir, dass solche Aufmär- Erwartung, dass Neonazis nicht am Holocaust-Mahnmal sche am Brandenburger Tor durch die im Strafgesetz- demonstrieren dürfen. buch und im Versammlungsgesetz vorgesehenen Ände- Meine Damen und Herren von der FDP, Sie haben of- rungen zukünftig leichter verhindert werden können. Es fenkundig den Sinn für die Verantwortung des Gesetzge- ist auch richtig, dass sich der Bundesgesetzgeber darauf bers verloren. Wir wollen uns nicht auf ein diffuses konzentriert, im Bundesrecht nur das Holocaust-Denk- Richterrecht verlassen. Sie wissen sehr genau, wie wi- mal in einen befriedeten Bezirk einzubeziehen. Ansons- dersprüchlich die Rechtsprechung bei Verboten und Auf- ten entscheiden die Landesgesetzgeber zukünftig selber. lagen ist. Wir sind kein besserer Gesetzgeber. Wir gehen davon aus, dass die Länder – das war immer unser Vorschlag – Wir – der Bundestag – müssen klipp und klar sagen: verantwortungsbewusst mit dem neuen Recht umgehen. Neonazidemonstrationen am Holocaust-Mahnmal und an KZ-Gedenkstätten wollen wir nicht dulden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist unsere Verantwortung als Deutscher Bundestag und damit als Gesetzgeber. Ich freue mich, dass es heute eine große Mehrheit für die Änderungen im Strafgesetzbuch und im Versamm- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lungsrecht gibt. Wir beschwören oft die Gemeinsamkeit sowie bei Abgeordneten der SPD) der Demokraten im Kampf gegen den politischen Extre- Die Liberalität des Versammlungsrechts bleibt durch mismus von rechts oder links. Es ist gut, dass wir nicht die Neuregelung unangetastet. Eine Einschränkung der nur darüber reden, sondern ihn heute auch praktizieren. Versammlungsfreiheit am Brandenburger Tor lehnen wir Danke für das Zuhören. ab. Entsprechende Anträge der Union, die Bannmeile des Bundestages bis zum Brandenburger Tor auszuwei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- ten, sind weder rechtlich mit dem Grundgesetz noch ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) politisch mit unseren Überzeugungen vereinbar. Wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15351

Silke Stokar von Neuforn (A) schützen eben nicht die Spree, sondern wir schützen die Präsident Wolfgang Thierse: (C) Arbeitsfähigkeit des Bundestages. Ich erteile Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion, das (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ Wort. CSU]: Die französische Botschaft und die (Beifall bei der FDP) Dresdner Bank!) Darin sind wir in der Sachverständigenanhörung auch Dr. Max Stadler (FDP): sehr deutlich bestätigt worden. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ich möchte mich allerdings bei der Union ausdrück- ren! Vor vier Wochen jährte sich zum 250. Male der To- lich für die konstruktiven Gespräche bedanken. Wir be- destag des großen Aufklärers und Vordenkers des Recht- grüßen Ihre Bereitschaft, die Gesetzentwürfe von SPD staats Baron de Montesquieu. Eines seiner berühmtesten und Grünen zu unterstützen. Eine breite Mehrheit des Zitate hat auch heute noch Gültigkeit: „Wenn es nicht Bundestages gibt heute den Opfern der NS-Gewalt das notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es notwendig, Signal: Deutschland bleibt auch 60 Jahre nach Ausch- kein Gesetz zu erlassen.“ witz wachsam. Wir lassen nicht zu, dass die nationalso- zialistische Gewalt- und Willkürherrschaft verherrlicht (Beifall bei der FDP) und ihre Opfer verhöhnt werden. Ich begrüße es, dass Meine Damen und Herren, selten hat der Ratschlag sich eine breite Mehrheit des Bundestages gemeinsam Montesquieus an den klugen Gesetzgeber so gut gepasst auf dieses Signal verständigen kann. wie auf die von Rot-Grün und CDU/CSU vorgelegten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verschärfungen des Versammlungs- und Strafrechts. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Sebastian Edathy [SPD]: Das ist aber ganz Wir erweitern behutsam den Straftatbestand der schön arrogant, Herr Kollege!) Volksverhetzung. Wer die Verletzung der Würde von Denn diese Änderungen sind erstens zum großen Teil NS-Opfern öffentlich billigt, rechtfertigt oder verherr- licht und dadurch den öffentlichen Frieden stört, muss nicht notwendig, zweitens zum Teil nicht geeignet und mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen. drittens mit verfassungsrechtlichen Risiken und politi- schen Nebenwirkungen verbunden. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So steht es aber nicht drin! – Erwin Marschewski [Reckling- (Beifall bei der FDP) hausen] [CDU/CSU]: Das wäre rechtswidrig!) In der aktuellen Debatte geht es vor allem um drei Fragen: den Aufmarsch von Neonazis vor dem Holo- (B) Wir schaffen mit diesen Formulierungen im Gesetz (D) auch eine erweiterte Grundlage für Auflagen oder Ver- caust-Mahnmal, den Marsch der NPD durch das Bran- sammlungsverbote. Gleichzeitig warnen wir vor einer denburger Tor am 8. Mai und die jährliche Rudolf-Heß- falschen Erwartungshaltung. Wir müssen auch den Bür- Kundgebung in Wunsiedel. In dem vorliegenden Gesetz- gerinnen und Bürgern in Wunsiedel offen und ehrlich sa- entwurf lösen Sie zwei dieser drei Probleme gar nicht gen, dass die Gesetzeserweiterung zwar hilfreich ist, und das einzige Problem, das Sie zu lösen vorgeben, dass wir aber mit gesetzlichen Regelungen nicht generell hätte keiner gesetzlichen Neuregelung bedurft. ein Verbot von NPD-Versammlungen in Wunsiedel erreichen können. Hier müssen wir andere Formen der (Beifall bei der FDP) Unterstützung der Menschen vor Ort finden. Insofern Mit diesem letzten Punkt meine ich den Aufmarsch wäre es gut, wenn wir bei dem nächsten zu erwartenden von Neonazis vor dem Holocaust-Mahnmal. Es wäre Ereignis im August – wenn kein Verbot möglich ist – an- nicht akzeptabel, wenn dort Neonazis demonstrieren wesend wären, um deutlich zum Ausdruck zu bringen, würden. Darin läge ein Angriff auf die Menschenwürde dass wir uns gegen solche Aufmärsche in Wunsiedel zur der Opfer und ihrer Angehörigen und auf die Würde des Wehr setzen. Ortes. Daher kann eine derartige Demonstration vor dem Lassen Sie mich zum Schluss feststellen: Ich halte die Holocaust-Mahnmal schon nach geltendem Recht verbo- Anregung von Herrn Edathy für richtig, uns für ein ten werden. europaweites Verbot von Symbolen und Zeichen der NS- (Beifall bei der FDP) Zeit, insbesondere der NSDAP, einzusetzen. An den Bundesinnenminister gerichtet möchte ich Auch die Sachverständigenanhörung des Bundestages noch etwas anderes anregen. Damit wir nicht warten am letzten Montag hat klar ergeben: Dafür brauchen wir müssen, bis auf europäischer Ebene eine Einigung in keine Gesetzesänderung. dieser schwierigen und sensiblen Frage zustande kommt, (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: empfiehlt es sich vielleicht, zu prüfen, ob wir in Genau so ist es!) Deutschland ein gesetzliches Einfuhrverbot für diese bei uns verbotenen Symbole und Zeichen besser durchset- Damit komme ich zu den zwei der drei angesproche- zen können. nen Probleme, die Sie nicht lösen. Ich gebe zu: Schwieri- ger liegt der Fall zwar beim geplanten NPD-Marsch Ich danke Ihnen. durch das Brandenburger Tor; aber dieses Problem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird durch den Gesetzentwurf von Rot-Grün nicht ge- sowie bei Abgeordneten der SPD) löst. 15352 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Dr. Max Stadler (A) (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Sie wissen genau: Kein Sachverständiger in der Anhö- (C) So ist es!) rung wollte die Hand dafür ins Feuer legen, dass alles das in Karlsruhe Bestand haben wird. Hierin liegt ein Ri- Von der Union wird eine unpassende Lösung vorge- siko. schlagen: die Ausdehnung des befriedeten Bezirks, die verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen würde. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr Sachverständiger hat gesagt: Daher muss ohnehin auf das geltende Recht zurück- Wir können noch mehr machen!) gegriffen werden. Und es ist nicht die erste verfassungsrechtlich proble- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das muss doch matische Gesetzgebung der rot-grünen Koalition in die- sowieso geschehen!) ser Legislaturperiode. Ich erinnere zum Beispiel an das Ebenso wie der Berliner Senator Körting, wie Verfas- Luftsicherheitsgesetz; ich erinnere an die automatisierte sungsexperte Professor Battis und wie Herr Wiefelspütz Kontenabfrage oder auch an einzelne Elemente der so von der SPD ist auch die FDP der Überzeugung: Das genannten Antiterrorgesetzgebung. Das ist die politische geltende Versammlungsrecht reicht aus, um einen Auf- Nebenwirkung, auf die wir als Liberale aufmerksam ma- marsch der NPD durch das Brandenburger Tor am chen: Dieser Bundestag gewöhnt sich daran, immer mehr in Grundrechte einzugreifen. Das ist in jedem Ein- 8. Mai zu verbieten. Von den Berliner Behörden erwar- zelfall vielleicht sogar noch plausibel begründbar, aber ten wir, dass sie dieses Verbot aussprechen. in der Summe ist es unserer Meinung nach eindeutig zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten viel. der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Diese unerträgliche Provokation hat mit dem Jahrestag Die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Ver- der Beendigung der Naziherrschaft zu tun. Daher dürfen sammlungsfreiheit sind von fundamentaler Bedeutung Neonazis an genau diesem Tag nicht durch das Branden- für jede Demokratie. Wenn also ein Eingriff in Art. 5 burger Tor marschieren. Aber wir können nicht schlecht- und Art. 8 des Grundgesetzes nicht zwingend erforder- hin einen Ort, an dem so viele – auch kommerzielle – lich ist, dann sollte man es lieber bei der geltenden Veranstaltungen stattfinden, ausgerechnet von politi- Rechtslage belassen. Aber Sie gehen mit Ihrem heutigen schen Versammlungen freihalten; denn das wäre eine un- Gesetzesbeschluss einen Schritt weiter, in Richtung angebrachte Abwertung politischer Versammlungen und Gesinnungsstrafrecht und Gesinnungs-TÜV im Ver- Demonstrationen. sammlungsrecht. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der (B) (D) Meine Damen und Herren, richtig ist, dass die Ver- SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/ sammlungen von Neonazis zum Gedenken an Hitlers DIE GRÜNEN) Stellvertreter Rudolf Heß in Wunsiedel in den letzten – Jawohl, genau so ist es. Jahren – im Gegensatz zu früher – von Gerichten gestat- tet worden sind. Sie, Rot-Grün und CDU/CSU, versu- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wenn einem chen nun, dem mit einer Änderung des Strafrechts entge- selber nichts einfällt, sollte man sachlich blei- ben!) genzuwirken. Da in meiner Heimatstadt jahrelang Bundesparteitage der DVU und der NPD stattfanden und Es ist doch gerade die freiheitssichernde Funktion der auch ich dagegen demonstriert habe, sage ich ausdrück- Grundrechte, andere Meinungen und ihre öffentliche De- lich: Ich wünsche den geplagten Bürgern von Wunsie- monstration zuzulassen und zu ertragen, soweit nicht die del, dass sie nicht mehr alljährlich von Tausenden Menschenwürde Dritter verletzt wird. Rechtsextremisten aus ganz Europa heimgesucht wer- Ich erwähne das aus folgendem Grund: Jeder neue den. Aber die FDP hat erhebliche Zweifel, dass dies Grundrechtseingriff ist eine gefährliche Gratwande- durch die Regelungen des vorliegenden Gesetzentwurfes rung. Dem ersten Schritt folgt dann leicht ein zweiter. zu gewährleisten ist; denn sein Wortlaut gibt dafür nichts Ich muss schon daran erinnern: Wir hatten hier im her. Hohen Hause auch schon Vorschläge zu diskutieren, wo- Erst in der Begründung Ihres Gesetzentwurfes wird nach Versammlungen zu verbieten seien, die dem außen- erwähnt, dass die Verherrlichung von Personen aus politischen Ansehen der Bundesrepublik Deutschland der NS-Zeit strafwürdig ist. Wir werden sehen müssen, schaden. Jeder erkennt: Wenn aus diesem Grund schon ob sich Gerichte damit zufrieden geben, dass Sie das, Versammlungen verboten werden dürften, wäre das of- was Sie eigentlich regeln wollen, in die Begründung des fenkundig mit dem Grundsatz der Meinungsfreiheit un- Gesetzestextes schreiben. Warum haben Sie das, was Sie vereinbar. So etwas steht heute nicht zur Abstimmung, wollen, nicht in den Gesetzestext selbst geschrieben? aber dies zeigt: Es gibt auch solche weiter gehenden Deswegen sage ich: Dieser Versuch ist untauglich. Ideen hier im Bundestag. Deswegen ist es richtig, heute hier den Anfängen zu wehren. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Silke Stokar von Da Ihre Vorschläge teils unnötig, teils untauglich sind, Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was stellt sich die Frage: Lohnt sich im Sinne von ist denn das für ein Vergleich? „Wehret den Montesquieu dieser Aufwand, wenn auf der anderen Anfängen!“ steht in einem anderen Zusam- Seite Risiken und Nebenwirkungen zu befürchten sind? menhang!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15353

Dr. Max Stadler (A) Sie werden sehen, dass die Ausweisung versamm- steinlegung für das jüdische Zentrum als Gruppenaktion. (C) lungsfreier Orte in sehr großer Zahl vorgenommen wer- In Brandenburg wurden soeben junge Neonazis wegen den wird. Ein Bundesland hat schon jetzt, ehe das Gesetz Bildung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. erlassen worden ist, angekündigt, dem Landesgesetzge- ber 17 Orte vorzuschlagen, die versammlungsfrei sein Liebe Kolleginnen und Kollegen, so ist die Lage. sollen. Das zeigt: Es wird nicht dabei bleiben, dass nur Deshalb bin ich nicht gelassen und ich finde es richtig, ausnahmsweise einzelne Orte von herausragender histo- dass wir etwas tun. Wir sind auf dem richtigen Weg, rischer Bedeutung versammlungsfrei gestellt werden. Herr Kollege Stadler. Wenn das geschieht, was wir befürchten, dann ist dies (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht mehr mit der Brokdorf-Rechtsprechung des Bun- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) desverfassungsgerichts vereinbar, wonach man den Ort einer Demonstration frei wählen darf. Um Ihr Wort „Wehret den Anfängen!“ aufzunehmen: Ich habe geschildert, welche Anfänge wir meinen und woge- Damit kein Missverständnis entsteht: Es gibt eine gen wir uns mit den Mitteln der Demokratie zur Wehr große Gemeinsamkeit hier im Parlament, den Rechts- setzen wollen. extremismus politisch zu bekämpfen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Es wird keine Gesinnungsverfolgung geben. Wir wer- den es weiterhin erleben müssen, dass Rechtsextremis- Aber es muss erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass ten böswillig die Geschichte verzerren, dass sie sich auf juristische Maßnahmen in diesem politischen Kampf ge- ihre wirre Art zum Anwalt der angeblich sozial Entrech- gen Rechtsextreme wenig bringen. Das haben wir doch teten aufspielen, dass sie mit Antiglobalisierungssprü- beim gescheiterten NPD-Verbotsverfahren gesehen. chen auf die nationalistische Pauke hauen. Das alles (Beifall bei der FDP) muss eine gefestigte Demokratie ertragen. Denn die Grundprinzipien der Freiheit gelten auch für diejenigen, Wir als FDP sind der Überzeugung, dass man Rechts- die sie zerstören wollen. extremismus nicht dadurch wirksam bekämpft, dass man das für alle Bürgerinnen und Bürger geltende Versamm- Aber eine gefestigte Demokratie muss Grenzen ihrer lungsrecht einschränkt. Daher ist die von Ihnen vorge- Toleranz ziehen können. Die verlaufen dort, wo Unsägli- schlagene Verschärfung des Versammlungsrechts der ches in Unerträgliches mündet. Das ist dann der Fall, falsche Weg in der Auseinandersetzung mit den Rechts- wenn dem hohen Gut der Meinungs- und Versamm- extremisten. lungsfreiheit etwas gleichermaßen Schützenswertes ge- genübersteht: die Würde der Opfer der NS-Diktatur. Vielen Dank. (D) (B) Das ist das Signal, das wir heute setzen. Herr Kollege (Anhaltender Beifall bei der FDP – Erwin Stadler, das Versammlungsrecht geht nicht zugrunde, Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: wenn Neonazis nicht grölend am Mahnmal für die er- So viel Beifall von der FDP!) mordeten Juden vorbeiziehen dürfen, weil das unter Strafe steht. Es wird auch nicht beschädigt, wenn einer, Präsident Wolfgang Thierse: der die Untaten der Nationalsozialisten billigt oder beju- Das Wort hat nun Kollegin Cornelie Sonntag- belt, bestraft werden kann. Wolgast, SPD-Fraktion. Das Städtchen Wunsiedel wird Jahr für Jahr von Tau- senden Rechtsradikaler aus ganz Europa heimgesucht Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): – so kann man ruhig sagen –, die dort mit wachsender Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Beteiligung einen Rudolf-Heß-Glorifizierungsmarsch Man sieht: Ein Wechselbad der Kommentare begleitet veranstalten. unsere heutige Debatte. Die einen, Herr Kollege Stadler, Ich habe schon im vergangenen Sommer gemeinsam vermissen den „Aufstand der Anständigen“ und die an- mit meinen Kolleginnen Petra Ernstberger und Gabriele deren werfen uns Hysterie oder Eiferertum vor und ver- Fograscher darauf gedrängt, den Kommunalpolitikern langen mehr Gelassenheit. und vielen anderen, die sich dagegen zur Wehr setzen, Ich will uns einmal vor Augen führen, welche Situa- bei ihren Protestaktionen Schützenhilfe zu leisten. Ich tion wir antreffen. Die rechtsextreme Szene hat weiter- fand es eindrucksvoll, wie sich eine 30- bis 40-köpfige hin Zulauf. Seit Jahren organisieren ihre Rädelsführer Delegation aus Bürgermeister und Landrat, Vertretern Aufmärsche, gegen die sich die Bürger wehren müssen, von Schulen und Kirche nach Berlin auf den Weg mit Gegenkundgebungen, mit bunten Festen, so gesche- machte, um uns im Innenausschuss in Wort und Bild ihre hen in Elmshorn, Nortorf, Passau, Wunsiedel und vielen Nöte zu schildern. Wir haben das eindringliche Plädoyer anderen Orten. Die NPD festigt ihre Strukturen in Sach- des Wunsiedeler Landrats bei der Expertenanhörung sen: Sie wird professioneller und entwickelt eine ge- erlebt und uns dann die Köpfe darüber zerbrochen, wie radezu perfide Sachkenntnis in Rechtsfragen. Mit dem wir ihnen zu einem verfassungsfesten Verbot dieser per- Eklat im Dresdner Landtag Ende Januar hat sie die Leit- fiden Treffen verhelfen können. Eine Garantie dafür lie- melodie der Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag des Kriegs- fert unser Vorschlag zur Verschärfung des Strafrechts endes in ihrer Weise intoniert. In München entlarvt der nicht, aber immerhin eine erleichterte Handhabe. Mein Prozess gegen Führungskader der so genannten Kame- ausdrücklicher Respekt gilt allen Wunsiedelern, die sich radschaft Süd einen geplanten Anschlag bei der Grund- für ihre Sache so hartnäckig ins Zeug gelegt haben. 15354 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der DIE GRÜNEN) CDU/CSU) Ich freue mich, dass unsere Gesetzesänderung eine so Präsident Wolfgang Thierse: breite parlamentarische Mehrheit findet. Das ist ein Ich erteile das Wort dem Bayerischen Staatsminister gutes Signal der wehrhaften Demokratie. Eines ist aller- des Innern, Günther Beckstein. dings auch klar: Nach getaner Gesetzesänderung dürfen (Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk wir uns bestimmt nicht aufs Ruhekissen legen: Das Ge- [CDU/CSU]: Guter Mann!) dankengut der rechtsextremen Wirrköpfe und die Anste- ckungsgefahr, gerade für junge Leute, ist keineswegs ge- Dr. Günther Beckstein, Staatsminister (Bayern): bannt. Es mag ja sein, dass Angst und Unsicherheit dafür Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren, den Nährboden bilden können. Aber, liebe Kolleginnen Kolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Die Innen- und Kollegen, wir müssen auch immer wieder deutlich minister der Länder haben sich in den vergangenen machen: Kein noch so trister Alltag, keine noch so Jahren immer wieder mit der Frage des Versammlungs- schwierige Suche nach Arbeit oder Ausbildung rechtfer- rechts beschäftigt. Insbesondere hat es die Innenminis- tigt es, sich den Antisemiten, den Rassisten und den Ver- terkonferenz bereits am 24. November 2000 für gebo- fassungsfeinden anzuschließen. ten erachtet, Versammlungen verbieten zu können, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gegen die Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des Friedens und der Gerechtigkeit gerichtet sind und insbesondere die Gewalt- und Willkürherrschaft verherr- Gott sei Dank sind viele Bürger wachsamer und sen- lichen oder verharmlosen. sibler geworden. Sie sind gemeinsam mit uns allen dazu Das Versammlungsrecht, das wir als ein elementares aufgerufen, mit Argumenten und Aktionen gegenzusteu- Grundrecht kennen und schätzen, hat in der Tat eine ern: in den Familien, in den Sportvereinen, in den Ju- große Bedeutung. Wir wissen um die engen Zusammen- gendzentren und vor allem in den Schulen. Das alles ist hänge zwischen der Meinungsfreiheit und dem Ver- eine nachhaltige Aufgabe. Es gibt jede Menge Vor- sammlungsrecht. Das Versammlungsrecht stellt gerade schläge, Ideen und Möglichkeiten des Engagements. für denjenigen, der keine großen Gelegenheiten hat, Stützen wir zum Beispiel das Bündnis für Demokratie seine Meinung über die Medien kundzutun, eine Mög- und Toleranz und sorgen wir als Parlamentarier dafür, lichkeit dar, in der Demokratie Einfluss zu nehmen. In dass die Bundesprogramme „Civitas“ und „Entimon“ unseren juristischen Seminaren in der Ausbildung haben finanziell dauerhaft auf einer verlässlichen Grundlage (B) wir deswegen gelernt: Das Versammlungsrecht ist die (D) stehen! Pressefreiheit des kleinen Mannes. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Max Stadler [FDP]: Richtig!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Trotzdem ist auch dieses wichtige Recht selbstverständ- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben keine lich nicht schrankenlos. „Lex 8. Mai“ gemacht, aber dieses Datum wird die Be- währungsprobe für das zivile Engagement im demokrati- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) schen Rechtsstaat. Es gibt in mehreren Ländern, gerade aber auch bei uns in Bayern, Erscheinungen, die als außerordentlich Wir haben mit gutem Grund und bestätigt durch die problematisch angesehen werden müssen. Experten im Hearing davon abgesehen, die Bannmeile zu verändern und das populärste Bauwerk Berlins zum (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ politikfreien Raum zu machen. Ich bin mir ziemlich si- CSU]: Sehr wahr!) cher – ziemlich! –, dass am 8. Mai keine Fahnen der Es ist außerordentlich unerfreulich, wenn die Polizei in Jungen Nationaldemokraten am Brandenburger Tor flat- eine Auseinandersetzung geschickt werden muss und ge- tern werden. Ich hoffe, das ist mit einer guten Portion zwungen ist, eine Versammlung zu schützen, weil einer- pragmatischer und sachkundiger Begründung zu verhin- seits Rechtsextremisten demonstrieren und andererseits dern. Linksextremisten und Autonome das verhindern wollen. Mindestens ebenso wichtig ist aber auch die Präsenz Insbesondere die Einstellung der jungen Polizisten – es der demokratischen Öffentlichkeit. Viele Menschen gibt ja nicht nur die 50-jährigen Polizeibeamten – wird müssen dastehen: Alte und Junge, Unbekannte und Pro- durch Sprechchöre wie „Deutsche Polizisten schützen minente, vor allem auch die Meinungsführer aus Politik, Faschisten!“ außerordentlich beeinträchtigt. Das ist sehr Kunst, Wirtschaft, Gewerkschaften, Religionsgemein- unerfreulich. schaften und Sport. Sie müssen sich den Krakeelern und (Beifall bei der CDU/CSU) Hetzern, wenn sie denn da sein sollten, friedlich und ru- hig entgegenstellen und sagen: Wir besetzen diesen öf- Jedes Jahr im August kommen Tausende von Rechts- fentlichen Raum und ihr habt keine Chance, weder am extremisten aus ganz Europa nach Wunsiedel. Dort Brandenburger Tor noch anderswo. müssen dann zwangsläufig natürlich auch Tausende von Polizeibeamten eingesetzt werden, um die Gegen- Ich bedanke mich. demonstrationen von Bürgerlichen, die für die freiheitli- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15355

Staatsminister Dr. Günther Beckstein (Bayern) (A) che Demokratie eintreten, zu schützen und die Trennung gehen. Sie kommen jedoch spät, sind gehetzt und nur (C) zwischen den Rechtsextremen und den Autonomen bzw. halbherzig. Trotzdem stimmen wir ihnen zu, weil es in den Leuten, die dem linksextremen Bereich zuzuordnen die richtige Richtung geht. sind, sicherzustellen. Die Stadt befindet sich dann quasi Die erste Änderung betrifft das Strafgesetzbuch. Al- in einem Bürgerkriegszustand, wie das der Bürgermeis- lerdings fehlt in der entsprechenden Vorschrift – § 130 ter von Wunsiedel immer wieder dargestellt hat. Abs. 4 – der Begriff der Verharmlosung. Ich verstehe Herr Kollege Körper hat mit mir an einer eindrucks- nicht, warum es dagegen so große Bedenken gegeben vollen Veranstaltung in Wunsiedel teilgenommen und hat. erlebt, wie das die Bürger sehen, die im August ihre (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Häuser zusperren und zum Teil die Stadt verlassen, weil GRÜNEN]: Hätten Sie mal an der Anhörung sie derartige Erscheinungen nicht miterleben wollen. Ich teilgenommen!) meine, jeder muss sehen, dass hier Grenzen überschrit- ten werden und dass der Staat zu reagieren hat, damit Denn in § 130 wird der Begriff der Verharmlosung be- sich die überwiegende Mehrzahl der Bürger vom Staat reits heute verwendet, und zwar unbeanstandet. nicht verlassen fühlt. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- GRÜNEN]: Holocaust!) neten der SPD) – Wenn er auf die Frage des Holocaust Anwendung fin- Herr Kollege Stadler, ich bin davon überzeugt, dass den soll, dann verstehe ich nicht, warum ein solcher auch Sie hier die Notwendigkeit einer Regelung betonen Begriff im Zusammenhang mit der Verherrlichung der würden, wenn Sie dies in Wunsiedel selbst miterlebt hät- nationalsozialistischen Gewaltherrschaft plötzlich pro- ten. Denn es ist eben nicht gelungen, mit Versammlungs- blematisch sein soll. Denn wenn der Begriff unscharf ist, verboten diesen Aufmarsch zu verhindern. Die Verbote, ist er auch bei der Frage des Holocausts unscharf. Des- die vom Landratsamt äußerst sorgfältig begründet wor- wegen verstehe ich das nicht. den sind, haben mehrfach gehalten. Aber durch sich seit Ich sage: Es wäre richtig gewesen, in § 130 Abs. 4 2000 laufend verschärfende Rechtsprechungen des Bun- den Begriff „Verharmlosung“ mit aufzunehmen und ei- desverfassungsgerichts sind mehrfach OVG-Entschei- nen entsprechenden Tatbestand unter Strafe zu stellen, dungen aufgehoben worden. Darum halte ich es für ein- sodass dies dann im Bereich des Versammlungsrechtes deutig, dass der Gesetzgeber reagieren muss, um das, Wirkung entfaltet. was er für wünschenswert hält, durchzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) neten der SPD) Ich meine, auch die Risiken im Zusammenhang mit Wunsiedel könnten bei einer solchen Regelung eher be- Wir haben deswegen als Innenminister den Vorgang grenzt werden, als das jetzt der Fall ist. Ich hoffe sehr, begleitet, um Vorschläge in diesem sensiblen Bereich zu dass die jetzt getroffene Regelung auch für Wunsiedel erarbeiten, und im Herbst des vergangenen Jahres ab- ausreichend ist. Denn in der Tat: Wenn der Hitler-Stell- schließende, übereinstimmende Vorschläge vorgelegt. vertreter ohne jede Kritik sozusagen verherrlicht wird, Wir waren dann etwas überrascht, dass es Monate ge- dann ist das auch eine Verherrlichung der Gewaltherr- dauert hat, bis die Bundesregierung reagiert hat. Im No- schaft. Aber es sind jetzt durchaus Gestaltungsformen vember hatte der Bundesinnenminister angekündigt, möglich, durch die ein Einschreiten sehr schwierig wird. dass kurzfristig ein Vorschlag gemacht werde. Wir müssen hoffen, dass Gerichte dem Rechnung tragen, (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Der hat keine was der Gesetzgeber gewollt hat. Ich will hier ausdrück- Mehrheit gegenüber den Grünen!) lich festhalten, dass das gesamte Hohe Haus die Absicht hat, mit der jetzt zu treffenden Regelung gerade auch die Dieser Vorschlag ist dann von Frau Zypries und Herrn Demonstrationen der vergangenen Jahre in Wunsiedel Schily vorgelegt worden; das haben wir begrüßt. für verbotsfähig zu erklären. Das ist für uns ganz wichtig Ich war etwas überrascht, als Rot-Grün dann die ei- und gewissermaßen der Ausgangspunkt, um dieser gene Regierung zurückgepfiffen hat. Das ist schon er- Regelung zustimmen zu können. staunlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das kommt jetzt häufiger vor!) Man hätte sicher leichter zum Ziel kommen können, wenn man ausdrücklich auch den Begriff der Verharm- Immerhin haben die Justizministerin und der Bundes- losung aufgenommen hätte. Denn dann wäre meines Er- innenminister Regelungen vorgestellt, die mit den Bun- achtens kein Zweifel mehr möglich. desländern erarbeitet und allseits als verfassungsrecht- lich unbedenklich angesehen worden sind. Dass solche Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, Regelungen dann zurückgepfiffen werden, ist erstaun- auch die zweite Regelung, die sich mit den befriedeten lich; allerdings nicht nach den Erlebnissen, die wir in der Orten beschäftigt, geht aus meiner Sicht zwar in die Vergangenheit hatten. So etwas ist nämlich immer wie- richtige Richtung, ist aber durchaus verbesserungsfähig. der einmal passiert. Wir meinen aber, dass die Regelun- Jetzt wird eine Regelung getroffen, die das Brandenbur- gen, die jetzt gefunden wurden, in die richtige Richtung ger Tor nicht erfasst. Aber das betrifft nicht den Freistaat 15356 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Staatsminister Dr. Günther Beckstein (Bayern) (A) Bayern; darum möchte ich mich nicht in erster Linie da- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE (C) mit beschäftigen. GRÜNEN): Guten Morgen, Herr Präsident, verehrte Kolleginnen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE und Kollegen! Herr Kollege Stadler, das war nicht in GRÜNEN]: München ist weit weg vom Bran- Ordnung: Wider besseres Wissen haben Sie hier behaup- denburger Tor!) tet, uns gehe es um Gesinnungsstrafrecht oder etwas Ähnliches. Sie wissen, dass das nicht stimmt. Wir ver- Es betrifft jedoch jedes Bundesland, wenn Bilder dieses bieten keine Gesinnung. Das wollen wir nicht, das kön- deutschen Symbols in einer Weise durch die Welt gehen, nen wir nicht und das dürfen wir nicht. Nicht einmal die die wir so nicht wollen. Gesinnung von Neonazis wird verboten. Meine Ausführungen sollen sich schwerpunktmäßig Es gibt aber Gesinnungen, die dann, wenn sie geäu- mit der Anwendung für die Zukunft beschäftigen. Es ßert werden, die Würde anderer Menschen dermaßen heißt, dass Gedenkstätten von historisch herausragender, verletzen, dass das strafwürdig ist. überregionaler Bedeutung befriedete Orte sind. Was in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diesem Zusammenhang „historisch herausragend“ be- und bei der SPD) deutet, ist nicht ganz einfach zu erläutern. Ist das Doku- mentationszentrum auf dem Reichsparteitagsgelände in Es kann doch nicht sein, dass wir alle uns dagegen weh- Nürnberg etwas historisch Herausragendes, ist das von ren können, wenn wir im Privatleben beleidigt werden, überregionaler Bedeutung? Die Beantwortung dieser also unsere Würde angegriffen wird, es aber straffrei schwierigen Fragen überlassen Sie den Ländern, schrän- bleibt, wenn im öffentlichen Raum – auf Versammlun- ken sie aber insoweit ein. Ich bin allerdings froh darüber, gen oder öffentlichen Veranstaltungen – die Würde von dass die Länder die Möglichkeit bekommen, weitere Opfern nationalsozialistischer Gewalt und Willkürherr- Orte festzulegen. Ich bedauere es jedoch, dass dies nur schaft dramatisch verletzt wird. Hier müssen wir mit mit einem förmlichen Gesetz möglich ist; denn gerade gleichem Maß messen und dies unter Strafe stellen. die Abgrenzung hätte ein Verordnungsgeber ohne weite- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN res besser als der förmliche Gesetzgeber durchführen und bei der SPD) können. Das, was wir an Änderungen vornehmen, ist keine Insgesamt geht diese Verschärfung des Versamm- Verschärfung des Versammlungsgesetzes, sondern es lungsrechts in die richtige Richtung. Deswegen stimmen geht uns bei den beiden Vorschriften, im Strafgesetzbuch wir zu. Wir müssen uns mit dem Rechtsextremismus und im Versammlungsgesetz, um den besseren Schutz (B) massiv auseinander setzen. Derzeit läuft in München der der Würde der Opfer des Nationalsozialismus, um (D) Prozess gegen die „Kameradschaft Süd“ und Herrn nichts anderes. Das ist richtig und wichtig. Auch in Zu- Wiese. Ich füge hinzu: Deren Straftaten konnten, so die kunft wird es in Deutschland keine demonstrationsfreien Polizei, nur durch Maßnahmen des großen Lauschan- Zonen geben. Das gilt auch für das Holocaust-Denkmal. griffs, die heute nicht mehr zulässig wären, verhindert Auch dort dürfen Versammlungen und Aufzüge stattfin- werden. den. Sogar Neonazis dürfen dort demonstrieren. Was sie aber nicht dürfen, ist, in einer Art und Weise oder mit In- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) halten zu demonstrieren, die die Würde der Opfer verlet- zen. Dagegen wehren wir uns und dagegen richten sich Wir haben hier ganz bewusst Maßnahmen des großen die Klarstellungen im Versammlungsgesetz und die Lauschangriffs eingesetzt. Nur dadurch konnten diese neuen Bestimmungen im Strafgesetzbuch. Um nichts an- Straftaten verhindert werden. deres geht es hier. Wir brauchen die Auseinandersetzung mit den Herr Kollege Stadler, Sie wissen, dass in der Anhö- Rechtsextremisten. Allerdings ist eine Auseinanderset- rung hier im Deutschen Bundestag auch von den Sach- zung mit dem Extremismus insgesamt notwendig; denn verständigen gesagt worden ist: Wenn wir als Schutzgut Rechtsextremismus und Linksextremismus sind oft nah die Würde der Opfer entsprechend der Rechtsprechung beieinander. Die Person des Herrn Mahler führt das ein- des Bundesverfassungsgerichts aufnehmen, dann sind drucksvoll vor. In dieser Auseinandersetzung ist das vor- solche Regelungen, wie wir sie jetzt im Strafrecht und in liegende Gesetz ein Baustein. Aber selbstverständlich das Versammlungsrecht einführen, zulässig. brauchen wir darüber hinaus weitere Maßnahmen, die (Dr. [FDP]: Das ist aber wir gemeinsam auf den Weg bringen werden. nicht nötig!) Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Sie sind dann nach dem Grundgesetz hinnehmbar. Das entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gerichts etwa zur Leugnung des Holocaust. Auf dieser neten der SPD) Ebene bewegen wir uns. Deshalb kann man diese Ge- setze, wie wir sie heute einbringen und im Bundestag Präsident Wolfgang Thierse: verabschieden werden, durchaus vertreten. Ich erteile das Wort Kollegen Christian Ströbele, Ich sage den Kolleginnen von der PDS: Es kann nicht Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. sein, dass Sie mit den Antifas zu Gegendemonstrationen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15357

Hans-Christian Ströbele (A) zu Neonaziaufmärschen aufrufen und auf entsprechen- Präsident Wolfgang Thierse: (C) den Veranstaltungen verlangen, dass Demonstrationen Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem dieser Art verboten werden, sich aber dann, wenn im Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion. Bundestag die gesetzlichen Voraussetzungen dafür prä- zisiert werden sollen, dagegen aussprechen. Das ist nicht Dr. Guido Westerwelle (FDP): ehrlich und das ist nicht folgerichtig. Das ist wider- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- sprüchlich. Da sollten Sie Ihre Auffassung einmal über- ren Kolleginnen und Kollegen! Wir haben bisher eine prüfen. Auseinandersetzung über die unterschiedliche Bewer- tung eines Gesetzesvorhabens gehabt. Wir sollten uns al- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lerdings nicht auf ein Niveau begeben, bei dem denjeni- und bei der SPD) gen, die diesem Gesetz nicht zustimmen, mangelnder Wille unterstellt wird, gegen Extremismus und braunen Hier geht es jetzt ausdrücklich und ausschließlich um Geist vorzugehen, Herr Kollege Ströbele. den Schutz der Opfer des Nationalsozialismus, nicht mehr – wie es früher einmal im Gesetzwurf vorgesehen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie war – um die Opfer anderer Völkermorde. Das haben bei Abgeordneten der SPD und der Abg. wir extra herausgenommen, um in der Diskussion nichts Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. durcheinander zu bringen. Petra Pau [fraktionslos] – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Das ist eine (Dr. Max Stadler [FDP]: Das gehört zu unserer Sauerei! – Hans-Christian Ströbele [BÜND- Kritik!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat überhaupt keiner gemacht! Herr Stadler hat von Gesin- Deshalb: Zeigen Sie, dass Sie Antifaschisten sind und nungsstrafrecht gesprochen!) stimmen Sie diesem Gesetz zu! Ich jedenfalls möchte Ihre Formulierung „Zeigen Sie, dass Sie Antifaschisten sind und stimmen Sie diesem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetzentwurf zu!“ für die FDP in aller Entschiedenheit sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Guido zurückweisen. Wir sind gegen jeden Extremismus und Westerwelle [FDP]: Oh, das ist allerdings gegen jeden Faschismus, übrigens nicht nur gegen den schon grenzwertig, Herr Kollege! – Weitere von rechts, sondern auch, Herr Kollege, gegen den von Zurufe von der CDU/CSU) links. Trotzdem stimmen wir diesem Gesetzentwurf nicht zu. Jetzt komme ich zu dem Antrag der Union. Wir wol- (B) len keine Bannmeile um das Brandenburger Tor. Wir (Beifall bei der FDP) (D) lehnen auch den neuen Antrag zur Erweiterung des be- friedeten Bereichs über den jetzigen Bereich hinaus rund Präsident Wolfgang Thierse: um das Brandenburger Tor herum ab. Wir verteidigen Zu einer Reaktion haben Sie jetzt Gelegenheit, Kol- das Demonstrationsrecht an diesem wichtigsten Ort in lege Ströbele. Deutschland. Wir sagen allen, die vielleicht jetzt in der ( [CDU/CSU]: Einfach mal Diskussion nicht mehr auseinander halten können, was entschuldigen, dann ist es schon gut!) sie in Zukunft dürfen und was sie nicht dürfen: Wer am Brandenburger Tor morgen, übermorgen oder in den nächsten Jahren demonstrieren will, der kann dort de- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE monstrieren. Er kann dort uneingeschränkt demonstrie- GRÜNEN): ren und nicht unter anderen Voraussetzungen, als sie Herr Kollege Westerwelle, wenn Sie genauer zuge- hört hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass ich mich heute schon gegeben sind. dagegen gewehrt habe, dass der Kollege Stadler uns vor- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Können wir geworfen hat, wir würden mit diesem Gesetz Gesin- auch gegen Sie demonstrieren?) nungsstrafrecht betreiben. (Dr. Max Stadler [FDP]: In den weiteren Auch in Zukunft ist es nicht notwendig – so wäre es Schritten!) nach Ihrem Gesetzentwurf –, dass die Leute etwa beim Bundesinnenminister um Erlaubnis fragen müssen, ob Dagegen wehre ich mich, weil es nicht wahr ist und weil sie am Brandenburger Tor demonstrieren dürfen. ich weiß, dass der Kollege Stadler weiß, dass das nicht wahr ist. Das hat mit Gesinnungsstrafrecht nichts zu tun. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So schlecht Wenn ich hier die Aufforderung ausgesprochen habe, wäre das gar nicht!) dass die Kolleginnen von der PDS, die sich als Antifa- schisten bezeichnen, diesem Gesetz zustimmen müssen, Das wollen wir nicht. Wir wollen diesen Demonstra- wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden wollen, dann tionsort für alle erhalten. Wir sind die Verteidiger des un- hat das überhaupt nichts damit zu tun, dass ich irgendje- eingeschränkten Demonstrationsrechts und das werden manden in eine braune Ecke stellen will, Sie schon gar wir bleiben. nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- bei der SPD – Zurufe von der FDP: Oh!) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) 15358 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

(A) Präsident Wolfgang Thierse: jetzt; denn es ist nichts schlimmer, als wenn ein Politiker (C) Ich erteile das Wort Kollegen Jürgen Gehb, CDU/ vollmundig von der Verfassungsmäßigkeit redet und hin- CSU-Fraktion. terher die Verfassungswidrigkeit attestiert bekommt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Andererseits dürfen wir aber auch nicht bei jedem Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn sich verbleibenden Rest an Bedenken sofort unsere legislato- Herr Westerwelle nicht zur Intervention gemeldet hätte, rischen Maßnahmen runterschrauben auf null, quasi ge- hätte ich die Gelegenheit genutzt, das richtig zu stellen. bannt wie das Häschen vor der Schlange nach Karlsruhe Dass er sich gemeldet hat, entbindet mich von dieser oder auch zu den Instanzgerichten schauen: Wird das Pflicht. So muss das sein. Auf der anderen Seite – das wohl Bestand haben? Alle Sachverständigen haben ge- gebe ich auch zu –: Der Begriff Gesinnungsstrafrecht sagt, eine Garantie, dass das vor dem Verfassungsgericht – selbst wenn Sie, Herr Stadler, gesagt haben, das sei ein hält, könnten sie nicht geben. Sie dürften sie auch gar Schritt in diese Richtung – dient nicht dazu, ein bisschen nicht geben, denn in Deutschland gibt es nur eine einzige das Timbre herunterzusetzen. Institution, die feststellen kann, ob etwas verfassungs- (Beifall bei der CDU/CSU) widrig ist oder nicht: Das ist das Bundesverfassungs- gericht. Selbst dort ist in den Senaten die Entscheidung Meine Damen und Herren, Innenminister Beckstein nicht immer unisono, sondern – wir wissen es alle – wir hat eben schon gesagt, wir diskutierten hier nicht zum haben knappe Entscheidungen von vier zu vier über fünf ersten Mal die Frage, wie das Versammlungsrecht ver- zu drei bis sieben zu eins, acht zu null. Die gesamte Pa- schärft oder verändert werden kann. Ich meine, wir ha- lette ist möglich. Niemand soll für sich in Anspruch neh- ben einen unbestimmten Rechtsbegriff in § 15 des Ver- men, er hätte nun die Weisheit für sich gepachtet. sammlungsgesetzes. Danach sind Versammlungen zu verbieten oder an Auflagen zu binden, wenn sie gegen Meine Damen und Herren, gerade das Bundesverfas- die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstoßen. Nun sungsgericht hat in seiner neueren Rechtsprechung zum ist das ein weites Feld für die Kasuistik sowohl der Versammlungsrecht eine Grenze des Versammlungs- Instanzgerichte als auch des Bundesverfassungsge- rechts in den Strafgesetzen gesehen. Nur warne ich da- richts. Wir versuchen seit geraumer Zeit, bei diesem un- vor, grundrechtswidrige Eingriffe etwa dadurch rechtfer- bestimmten Rechtsbegriff ein bisschen Butter bei die tigen oder nobilitieren zu wollen, dass man sie einfach Fische zu tun, ihn mit Fleisch anzufüttern. Deswegen ist unter Strafe stellt. Die bloße Pönalisierung von Verhal- jetzt in § 15 des Versammlungsgesetzes etwa ein Verbot ten, auch von Meinungsäußerungen, wird nicht deshalb (B) von Versammlungen insbesondere an bestimmten Orten grundrechtskonform, weil man es unter Strafe stellt. Al- (D) vorgesehen. lerdings ist hier doch etwas anders gemacht worden, Herr Stadler: Man hat es nicht dabei bewenden lassen, Nun muss ich sagen: Die Anhörung in der letzten Wo- die bloße Artikulation von Meinungen strafbewehrt wer- che – jeder nimmt offenbar irgendeinen für sich als den zu lassen, sondern man hat den Tatbestand um zwei Kronzeugen – hat die breite Palette aller Auffassungen Erfolgsmerkmale ergänzt, nämlich die Störung des öf- dargelegt. fentlichen Friedens und die Verletzung der Menschen- (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ würde. Da gibt es eigentlich an der Verfassungsmäßig- CSU]: Genau so war es!) keit keine signifikanten Bedenken. Ich will mich jetzt nicht selbst einreihen und sagen, ob es verfassungsmäßig Ich erinnere mich an Herrn Battis, der gesagt hat, er ist oder nicht, obwohl ich eben gesagt habe, außer dem könne sich auch vorstellen, dass es bei der geltenden Ge- Bundesverfassungsgericht könne das keiner machen. Es setzeslage bleibt. Dann gab es andere, die gesagt haben, gibt aber keine durchgreifenden Bedenken. Das ist aller- es hätte gereicht, wenn man nur an der Schraube des dings durchgängig von den Gutachtern auch gesagt wor- Versammlungsrechts gedreht hätte. Übrigens wäre das den, namentlich von Herrn Professor Poscher, von Herrn auch mir näher gekommen. Die – nicht extreme – ganz Nack und von den anderen auch. andere Position ist, sowohl das Versammlungsrecht als auch das Strafrecht zu ändern. Das ist der Gesetzent- Ich sehe eine kleine andere Schwierigkeit, bedingt da- wurf, den wir heute hier beraten und dem wir auch zu- durch, dass ich hauptberuflich damit sowohl in der Exe- stimmen. kutive als auch in der Judikative bereits befasst war, nämlich die Frage: Wie soll eigentlich ein Beamter in ei- Meine Damen und Herren, wo sind die Vor- und ner Versammlungsbehörde prognostizieren, ob ein Auf- Nachteile? Das soll hier heute keine Rechtsvorlesung marsch und eine Versammlung der Neonazis – erstens – sein, sondern wir machen Rechtspolitik. Dennoch muss den öffentlichen Frieden stört, und das – zweitens – in man, um das einmal den Leuten klarzumachen, sagen, einer die Würde der Opfer verletzenden Weise? wo die Gefahren liegen. Sicherlich wäre es unseriös, heute hier aufzutreten und zu sagen: Mit diesem Gesetz- Ein Strafgericht kann das besser, weil es eine Ex-post- entwurf ist ein für alle Mal jeder Aufmarsch der Nazis Betrachtung vornimmt. Da wird durch den Staatsanwalt unterbunden; er ist verfassungsfest und auch gerichts- ermittelt. Es gibt einen Referendar, der das Votum vorbe- fest. – Damit würden freilich falsche Begehrlichkeiten reitet. Dann beugen sich drei Berufsrichter darüber. geweckt und wir liefen Gefahr, wenn es keinen Bestand vor den Gerichten hat, noch schlechter dazustehen als (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15359

Dr. Jürgen Gehb (A) Dann gibt es einen Anwalt, dann wird Beweis erhoben. Otto Schily, Bundesminister des Innern: (C) Im Nachhinein ein Verhalten als strafwürdig zu betrach- Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! ten ist sehr viel einfacher – obwohl es sicherlich noch Zuerst gilt es den erfreulichen Sachverhalt festzustellen, schwierig genug ist –, als es prospektivisch beispiels- dass unter den Parteien Einmütigkeit darüber herrscht, weise durch einen Oberinspektor einer Ordnungsbe- dass die Versammlungsfreiheit zu den elementaren Be- hörde gerichtsfest machen zu lassen, und zwar weniger standteilen unserer Verfassungskultur und – wir können verfassungsgerichtsfest als instanzgerichtsfest; denn zu- das sogar noch weiter fassen – der europäischen Verfas- erst kommen die Verfahren, in denen es um Verbotsver- sungskultur gehört. Wir verdanken der Versammlungs- fügungen geht, die mit Widerspruch angegriffen werden, freiheit den Aufwuchs des Rechtsstaates und der und in denen einstweiliger Rechtsschutz beantragt wird, Demokratie in Europa. Deshalb haben alle diejenigen vor die Instanzgerichte. Das endet in der Regel vor dem Recht, die diese Verfassungskultur hochhalten und ver- OVG oder dem VGH. Dann muss quasi in einer Nacht- teidigen. und-Nebel-Aktion – das Gericht hat oft nicht viel Zeit, Eine kleine Fußnote: Wer den Anspruch erhebt, sich weil die Demonstrationen meistens samstags stattfin- irgendwann einmal unter das Dach der europäischen den – bei summarischer Würdigung der Sach- und Verfassungskultur zu begeben, muss sehr darauf achten, Rechtslage entschieden werden, ob einstweiliger Rechts- dass Frauendemonstrationen nicht brutal niedergeschla- schutz gewährt wird oder nicht. Das ist schwierig. gen werden, wie es in der Türkei geschehen ist. Wir müssen dem Gesetz trotzdem eine Bewährungs- (Beifall im ganzen Hause) chance geben. Wir können natürlich am grünen Tisch leicht alles abwägen. Aber was sollen wir den Leuten in Ich will die Gelegenheit nutzen, mich bei Herrn Kol- Wunsiedel sagen? Herr Kollege Dr. Friedrich – Frau legen Bosbach für seine Äußerungen ausdrücklich zu be- Sonntag-Wolgast hat schon einen anderen Betroffenen danken, genauso wie bei Frau Kollegin Köhler, die mich genannt –, Sie sehen fast täglich, was dort los ist, wir auf eine schlimme, antisemitische und rassistische Publi- nicht. Der Kollege Bosbach hat Recht: Wir befinden uns kation in der Türkei aufmerksam gemacht hat. Es ist zwischen Szylla und Charybdis. Entweder kann man uns nicht mit der europäischen Rechtskultur zu vereinbaren vorwerfen: „Ihr lasst euch im Wettlauf mit den Gutmen- und nicht zu dulden, dass ein Blatt in der Türkei die schen um die beste Lösung gegen die Naziaufmärsche deutsche Regierung oder ein Mitglied des deutschen Par- treiben“ oder es heißt: „Ihr schaut tatenlos zu, wie sich laments – in diesem Fall ist Frau Kollegin Köhler betrof- diese braune Brut kampflos wieder entwickelt.“ In die- fen – beleidigt. Auch das halte ich für unmöglich. sem Spannungsbogen mussten wir tätig werden und wir (Beifall im ganzen Hause) (B) sind tätig geworden. Ich selber möchte die Verfassungs- (D) widrigkeit und die Aufhebung durch Instanzgerichte Ein weiterer erfreulicher Sachverhalt ist, dass sich die nicht herbeireden. Vielmehr möchte ich den Gerichten großen demokratischen Parteien hier aufeinander zube- und den Behörden die Gelegenheit geben, zu überprüfen, wegt haben. Zu einer respektvollen politischen Ausei- ob sich dieses Gesetz bewährt oder nicht. Wenn wir kei- nandersetzung gehört, dass wir auch diejenigen achten, nes machen, dann bleibt alles, wie es ist. Nach der mo- die eine andere Auffassung – der Kollege Stadler hat es mentanen Gesetzeslage – de lege lata – werden eben hier vorgemacht – vertreten. Ich finde, das gehört sich nicht alle diese Dinge ausgeschlossen; denn sonst gäbe so. Wir sollten niemandem, der diesem Gesetz nicht zu- stimmt, unterstellen, dass er sich von Rassismus und es ja keine Gerichtsentscheidungen, mit denen nachträg- Rechtsextremismus nicht ebenso scharf abgrenzt. Das lich Verbotsverfügungen aufgehoben wurden. anzuerkennen gehört zu einer fairen Auseinanderset- Meine Damen und Herren, lassen Sie es uns bei aller zung. juristisch-dogmatischen Feinziselierung doch einmal (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei darauf ankommen, wie sich das Gesetz in der Praxis be- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE währt. Neben der Juristerei müssen natürlich die mündi- GRÜNEN und der CDU/CSU) gen Bürger – davor habe ich keine Bange – zeigen, wer die Mehrheit im Staate hat und dass Rechtsextremisten Erwartungsgemäß begrüße ich es sehr, dass dieser und Linksextremisten bei uns in Deutschland absolut in Gesetzentwurf heute vorgelegt wird. Er ist gewiss ein der Minderheit sind und auf politischem Wege bekämpft Kompromiss. Sie werden es mir auch nicht verargen, werden müssen. Wenn das nicht hilft, müssen die Exeku- wenn ich Ihnen nicht vorenthalte, dass ich es eher be- tive und die Judikative flankierend tätig werden. grüßt hätte, wenn der ursprüngliche Entwurf von Frau Kollegin Zypries und mir Zustimmung gefunden hätte. Herzlichen Dank. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir auch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Es wäre unehrlich, wenn ich Ihnen das verheimlichen wollte. Präsident Wolfgang Thierse: ( [CDU/CSU]: Uns war Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Innern, das schon bekannt!) Otto Schily. Ich teile die Auffassung des Kollegen Beckstein, dass (Beifall bei der SPD) der Begriff der Verharmlosung in der Gesetzgebung in 15360 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Bundesminister Otto Schily (A) der Tat schon heute verwendet wird; deshalb sehe ich Der Kollege Stadler hat seine Rede mit einem wunderba- (C) keinen Grund, ihn nicht auch hier zu verwenden. ren Satz von Montesquieu begonnen. Dieser Satz trifft in diesem Fall auf Sie, Frau Stokar, zu. Natürlich ist die Aber es gibt immerhin eine Verbesserung. Auch das Einfuhr von Gegenständen, deren Verbreitung in ist ein Fortschritt. Wir können jetzt nichts tun – Herr Deutschland unter Strafe gestellt ist, verboten. Dafür Gehb hat das richtig dargestellt –; dann bleibt es beim jetzigen Zustand, und zwar mit allen schlimmen Auswir- braucht man kein zusätzliches Gesetz. kungen, die wir aus der Rechtsprechung kennen. Hier ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mehrfach von der Gemeinde Wunsiedel und dem, was der FDP) diese Gemeinde Jahr für Jahr ertragen muss, die Rede gewesen. Ich begrüße ausdrücklich, dass von allen Sei- Wir dürfen keine Gegenstände einführen, deren Verbrei- ten Solidarität mit der demokratischen Öffentlichkeit tung in Deutschland verboten ist. Insofern brauchen Sie Wunsiedels geäußert worden ist. Das sollte noch einmal sich keine Sorgen zu machen. Deshalb verweise ich an unterstrichen werden. dieser Stelle auf Montesquieu. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des Das Versammlungsrecht ist das eine, die Zivilcourage BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der und das beherzte Auseinandersetzen mit Rechtsextre- CDU/CSU) mismus und Neonazismus das andere. In diesem Zusam- menhang sollten wir einen wichtigen Satz von Cornelie Wenn wir jetzt etwas tun, um diesen Menschen Beistand Sonntag-Wolgast hervorheben. Ich finde, sie hat voll- zu leisten, dann ist das auf jeden Fall besser, als wenn kommen Recht, wenn sie sagt, dass es – neben allen wir nichts tun. polizeilichen, gesetzlichen und strafrechtlichen Maßnah- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) men – sehr entscheidend ist, dass wir die Öffentlichkeit selbstbewusst für uns als Demokraten in Anspruch neh- Wie Herr Gehb zu Recht gesagt hat, werden wir se- men. Das Wichtigste ist, dass die demokratische Öffent- hen, ob sich unser Vorgehen in der Praxis bewährt. Man lichkeit am 8. Mai hier vollzählig versammelt ist, damit kann bezweifeln, dass durch unser Tun alles verhindert kein Neonazi auch nur eine Spur breit Raum hat, sich wird; aber immerhin kommt ein weiteres Werkzeug zur Anwendung. Man muss hier ganz schlicht entscheiden: dort zu bewegen. Die demokratische Öffentlichkeit muss Ist es besser, es so zu belassen, wie es ist, oder ist es bes- dort zeigen, was Demokratie bedeutet. ser, es in diesem Sinne zu verändern? Ich bin eindeutig Vielen Dank. dafür, etwas auf der Grundlage des gemeinsamen Ge- setzentwurfs zu tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (B) Um hier ganz ehrlich zu sein – wir müssen offen mit- CDU/CSU) (D) einander reden –: Ich bleibe dabei, dass es besser wäre – ich sage das, obwohl man sich als Vertreter der Exeku- tive hier zurückzuhalten soll –, wenn der Bundestag den Präsident Wolfgang Thierse: befriedeten Bezirk um das Brandenburger Tor erwei- Ich erteile das Wort dem Kollegen Erwin tert. Marschewski, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Er hält seine 125. Rede, Herr Präsident!) Ich weiß, dass ich damit eine gegensätzliche Meinung zu der meiner Freunde in der Koalition vertrete. Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Ich bin mir auch darüber im Klaren, dass der Ansatz, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und den ich vertrete, kein Allheilmittel ist; schließlich soll Herren! Wir sind fast am Ende dieser Debatte. Mein diese Regelung nur an Sitzungstagen gelten. Aber es Resümee: Wer ständig und überall Neonazis bekämpfen gäbe an diesen Tagen eben eine gewisse Schutzwirkung. will – Herr Westerwelle, das will das gesamte Hohe (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Haus –, der muss das insbesondere hier, mitten in Berlin, GRÜNEN]: Wovor denn?) auch am Brandenburger Tor, tun. Ich teile die Ansicht von Herrn Bosbach – ich muss das (Beifall bei der CDU/CSU) hier offen sagen –: Warum soll durch die Regelung über Ich teile voll Ihre Auffassung, Herr Bundesinnenminis- den befriedeten Bezirk ausgerechnet das Brandenburger ter. Auch der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Ge- Tor nicht geschützt werden, wenn wir die unmittelbare meinde dieser Stadt, Herr Nachama, der Berliner Kardi- Umgebung des Reichstages dadurch schützen? Das ist nal und Gerhard Schröder im Jahr 2000, auf dem nicht zu verstehen. Geburtstag der Gewerkschaft der Polizei, haben dies ge- (Beifall bei der CDU/CSU) fordert. Ich muss noch eine kurze Bemerkung an Frau Kolle- Ich finde es unverantwortbar – Günther Beckstein, gin Stokar richten. das gilt nicht nur für Wunsiedel –, in Berlin die Polizei in das Feuer zwischen linksradikalen Autonomen und (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ Rechtsradikalen zu schicken und sie so dafür haften zu CSU]: Das ist aber ganz selten! – Eckart von lassen, dass Rot-Grün keine Lösung bietet, Klaeden [CDU/CSU]: Jetzt kommen seine Lieblinge!) (Widerspruch bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15361

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) obwohl dies möglich wäre. Das hat die Anhörung erge- (Beifall bei der CDU/CSU) (C) ben. ob über die Bannmeilenregelung oder über die Kon- Einer Erweiterung des befriedeten Bezirks um das struktion, die ich Ihnen anbiete. Dies wollen nämlich Brandenburger Tor steht – insbesondere nach dem viele Menschen, insbesondere viele Berliner. neuen Entwurf – eben nicht die Verfassungswidrigkeit „auf der Stirn“. Das steht im Gegensatz zu dem, was Sie, Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Kollege Ströbele: Herr Kollege, behauptet haben. Die Funktionsfähigkeit Was hier nichts nützt, ist bloße Parteitaktik, bloße Ideo- des Parlaments – der Kollege Hartmut Koschyk hat das logie. Ich weiß zwar nicht, ob heute noch alle Grünen beim letzten Mal erläutert – muss nämlich erhalten blei- Ihre Meinung teilen, sie seien geradezu geboren aus dem ben. Der Zugang von den Wohnungen, von den Büroräu- Recht, zu demonstrieren. Wie dem auch sei: Das Werden men und von den Sitzungssälen Unter den Linden muss der Union vor 60 Jahren war ebenfalls Demonstration, garantiert werden. Dies entspricht voll dem Grundsatz wenn auch ein wenig anders: der Verhältnismäßigkeit. Hierdurch würde der durch das (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Gesetz eingeräumte Ermessensspielraum nicht auf null GRÜNEN]: Keine Geschichtsklitterung!) verkürzt, wie es die Bundesjustizministerin beim letzten Mal gesagt hat. Demonstration gegen totalitäres Denken jeglicher Prove- nienz. Unser Schutzwall dabei war das christliche Men- Ich möchte noch etwas, ich meine, Bedeutenderes, schenbild, die Würde des Menschen, die Sie ansonsten anführen. Für uns, für die deutsche Bevölkerung ist das richtigerweise auch in den Mittelpunkt stellen, sei es bei Brandenburger Tor zum Symbol für die Wiedervereini- den Formulierungen im Versammlungsgesetz, sei es bei gung in Frieden und Freiheit geworden. Es erinnert an den Regelungen im Strafgesetzbuch in Bezug auf Ver- die Morde des SED-Regimes an der Mauer, am Bran- sammlungen an Gedenkstätten oder anderswo, wie eben denburger Tor, vor allem an den 30. Januar 1933, mit in Wunsiedel beim Kollegen Hans-Peter Friedrich, wo dem alles seinen Anfang nahm: Beseitigung der pluralen Nazigewalt und Willkürherrschaft gebilligt, verherrlicht Demokratie, Rassismus, Antisemitismus. All das ist oder gerechtfertigt werden. unvereinbar mit den Menschenrechten. Im krassen Widerspruch dazu stehen die Neonazis, wenn sie ihre Der Vorschlag, den die Koalitionsfraktionen machen, menschenverachtende Ideologie insbesondere am Bran- ist rechtmäßig, Herr Kollege Stadler, weil die Meinungs- denburger Tor zum Ausdruck bringen. Denn gerade hier, freiheit nur unter Wahrung des Grundsatzes der Ver- so meine ich, verletzen sie die Menschenrechte und die hältnismäßigkeit eingeschränkt wird und weil es um Menschenwürde, die der Opfer nationalsozialistischer den Schutz gleichwertiger herausragender Rechtsgüter geht. Deswegen ist das, was hier vorgeschlagen wird, (B) Gewalt und Willkürherrschaft, die aller Demokraten und (D) vor allem die unserer jüdischen Mitbürger. durchaus rechtmäßig, Herr Kollege, Herr Bundesinnenminister, ich teile erneut Ihre Auf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fassung. Sie haben unter Hinweis auf die Veranstaltung neten der SPD) zur Befreiung des KZs in Auschwitz darauf aufmerksam und, wie ich im Gegensatz zu dem, was gestern Abend gemacht: Welch seelische Schmerzen tun wir diesen polemisch in der ARD-Sendung „Panorama“ behauptet Menschen, gerade den jüdischen Mitbürgern an, wenn worden ist, meine, auch erfolgversprechend. Deswegen sie dies alles erleben müssen, hier, unmittelbar nebenan? stimmt die Union diesem Gesetzentwurf zu. Das beschreibt doch unsere gemeinsame Verantwortung. Dass die Verletzung der Menschenwürde, dieses obers- Meine Damen und Herren, hektische Tage liegen hin- ten Wertes unserer gesamten Rechts- und Sozialordnung, ter uns: Es gab ein Versprechen der Koalition und ihres ein Versammlungsverbot rechtfertigt, ist doch völlig un- Kanzlers, daraufhin wurden mehrere Gesetzentwürfe bestritten. eingebracht – wir haben darüber gesprochen –, ein von beiden Verfassungsministerien eingebrachter Entwurf Dies sei auch an die Adresse von Karlsruhe gesagt: stieß schon im Vorfeld auf Ablehnung; dann gab es eine Es geht bei dem Gedankengut der Neonazis eben nicht von der Union beantragte Anhörung, die uns alle zum um politisch missliebige Meinungen, es geht auch nicht Nachdenken gebracht hat, und zwar mit Erfolg, denn um politisch unerwünschte Anschauungen, beide Seiten, Koalitionsfraktionen und Union, sind auf- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE einander zugegangen. Für mich und für meine Fraktion GRÜNEN]: Da haben Sie Recht!) geht diese Einigung – Sie wissen das –, insbesondere was die Regelungen zum Brandenburger Tor anbetrifft, es geht vielmehr um Vorstellungen – das hat Karlsruhe nicht weit genug. Aber das kann sich, so lehrt meine auch einmal gesagt; diese Rechtsprechung kenne ich –, langjährige Erfahrung in diesem Parlament, noch än- die mit der historisch bedingten Wertordnung des dern. Wie vieles, wird sich das auch noch ändern – ich Grundgesetzes schlechterdings unvereinbar sind, die die teile da völlig die Meinung des Herrn Bundesinnenmi- Nazis aber eben hier aktiv, aggressiv und kämpferisch nisters –, weil wir darin übereinstimmen, dass die Frei- verfolgen. Weil die Schwelle zum Unrecht mit der heit des Andersdenkenden ein hohes Gut ist, aber diese Bekämpfung der Grundordnung von den Neonazis Freiheit in unserer wehrhaften Demokratie dort ihre überschritten wird, werbe ich um Zustimmung für null Grenze finden muss, wo das menschenverachtende Toleranz, wie es auch der Kollege Wiefelspütz beim Gedankengut der Nazis wieder Platz zu greifen droht. letzten Mal gefordert hat – Das dürfen wir nirgendwo und niemals zulassen, meine 15362 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) Damen und Herren, insbesondere nicht an diesem Eine Ausweitung der so genannten Bannmeile oder (C) 8. Mai. des befriedeten Bezirks lehnen wir ab. Sie wäre zweck- fremd und unbotmäßig. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Joachim Stünker [SPD]) [fraktionslos]) Sie träfe übrigens auch demokratische Initiativen, die am Präsident Wolfgang Thierse: Brandenburger Tor für ihre Rechte demonstrieren. Wer Herr Kollege Koschyk hat mir vorhin zugerufen, dass das dennoch fordert, setzt sich dem Verdacht aus, auch das Ihre 125. Rede im deutschen Parlament war, Kollege diese Einschränkung zu wollen. Marschewski. Respekt! (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (Beifall) [fraktionslos]) Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau. Wir lehnen ebenso ab, dass Gedenkstätten von be- sonderer Bedeutung benannt werden; denn damit wür- Petra Pau (fraktionslos): den zugleich Gedenkstätten sowie Opfer erster und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein zweiter Klasse definiert und es würden dort Einfallstore Aufmarsch der NPD, ausgerechnet am 60. Jahrestag der für Nazidemonstrationen geöffnet, wo das Präventivver- Befreiung vom Faschismus, ausgerechnet am Branden- bot nicht gilt. burger Tor, ist schwer hinnehmbar und soll verhindert (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE werden. GRÜNEN]: Genau das stimmt nicht!) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch – Frau Kollegin, das haben wir in der Praxis alles schon [fraktionslos]) erlebt. Das ist Konsens. Deshalb begrüßt die PDS auch, dass So weit erst einmal in aller Sachlichkeit zu zwei der sich das breite Berliner Bündnis für ein Europa ohne hier vorliegenden Vorschläge. Rassismus reaktiviert hat und dass auch alle Parteien im Bundestag zu Zivilcourage, Frieden und Demokratie Nun zu Ihnen, Herr Kollege Ströbele. Sie meinten, aufrufen wollen. definieren zu können, wer Antifaschist ist, nämlich nur (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch derjenige, der beim Nachdenken zu Ihren Schlüssen ge- [fraktionslos]) kommen ist und Ihrem Gesetzentwurf zustimmt. Das er- (B) lebe ich in letzter Zeit immer öfter, wenn wir hier über (D) Denn das entscheidende Signal gegen Rechtsextre- Bürgerrechte reden, zum Beispiel wenn Sie hier plötz- mismus, Rassismus und Nationalismus kann niemand lich die Verlängerung des Lauschangriffes begründen anders geben als die Gesellschaft selbst, die Bürgerinnen oder Ihre Meinung zum Luftsicherheitsgesetz darlegen. und Bürger. Ich sage Ihnen deutlich: Die PDS versteht sich als antifa- (Beifall der Abg. Undine Kurth [Quedlinburg] schistische Partei. Meine Kollegin und ich verstehen uns [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) als Antifaschistinnen, ganz egal ob wir uns am Holo- caust-Mahnmal befinden, an der Gedenkstätte der Sozia- Die PDS unterstützt das ausdrücklich. listen in Lichtenberg oder auf dem Friedhof in Marzahn, Heute geht es hier um staatliche Sperren, um Ände- wo das Sammellager für die Berliner Sinti und Roma rungen im Versammlungs- und Strafrecht. Sie sollen während der Olympischen Spiele eingerichtet wurde, rechtsextreme Aufmärsche verbieten helfen. Dazu gab und das gilt auch für den Alltag. es am Montag eine Anhörung von Experten. Dabei (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Gehen Sie warnten nahezu alle vor leichtfertigen und schwerwie- auch nach Hohenschönhausen?) genden Eingriffen in Grundrechte der Verfassung, kon- kret in das Recht auf Versammlungsfreiheit und in das – Ich gehe auch nach Hohenschönhausen, Herr Kollege Recht auf Meinungsfreiheit. Nach der Anhörung wurden Koschyk, vielleicht viel öfter als Sie. die ursprünglichen Vorschläge modifiziert. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das kann tionslos] – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: auch der Sinn einer Anhörung sein!) Das hat in der Aufzählung noch gefehlt!) – Das gebe ich gerne zu, Frau Kollegin. Ich würdige hier Wir verstehen uns als Antifaschisten und brauchen nicht gerade, dass wir alle klüger geworden sind und jetzt mo- die Belehrung von Herrn Ströbele, wer hier der richtige difizierte Vorschläge auf der Tagesordnung haben. Antifaschist ist. Es bleiben drei Vorschläge: Die CDU/CSU will den Ich sage Ihnen noch etwas – das habe ich Ihnen ges- befriedeten Bezirk rund um den Bundestag ausweiten, tern schon gesagt –: Die PDS im Bundestag könnte der SPD und Grüne wollen das Strafrecht konkretisieren und Konkretisierung im Strafrecht zustimmen, vorausge- die Bundesländer sollen Gedenkorte benennen, an denen setzt, SPD und Grüne würden hier heute eine Einzelab- die Würde der Opfer nicht demonstrativ verhöhnt wer- stimmung zulassen. Darum haben Sie sich offensichtlich den darf. nicht gekümmert. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15363

Petra Pau (A) Grundsätzlich bleibt die PDS im Bundestag allerdings Dennoch kann in einer Werteordnung, wie sie das (C) bei ihrer Kritik. Solange das Thema Rechtsextremismus Grundgesetz vorgibt, auch der sehr weitgehende Schutz vorwiegend im Innen- und Rechtsausschuss und mit um- der Meinungsfreiheit nicht grenzenlos sein. Art. 5 des strittenen Paragraphen behandelt wird, so lange agieren Grundgesetzes nennt als Schranken die allgemeinen Ge- wir am Ende des Problems und nicht an den Wurzeln. setze, die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der CDU/CSU, SPD und Grüne haben sich seit Wochen viel Jugend und das Recht der persönlichen Ehre – man mit Aktionismus selbst unter Druck gesetzt. Eine gründ- könnte auch sagen: Würde. liche, ressortübergreifende Debatte mit dem Ziel der Wenn wir nunmehr neben § 15 des Versammlungsge- politischen Auseinandersetzung und der gesellschaftli- setzes vor allem auch § 130 des Strafgesetzbuches be- chen Ächtung von Rechtsextremismus gab es bislang hutsam ergänzen, so knüpft das an diesen Rahmen des nicht. Ich finde, das ist ein Armutszeugnis, das wir uns Art. 5 an. Das Strafgesetzbuch setzt Grenzen. Meinungs- allesamt im Bundestag heute ausstellen müssen. freiheit darf nicht genutzt werden, um Volksverhetzung (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch zu betreiben und dadurch die Würde der Opfer zu be- [fraktionslos]) schädigen. Wer die heutige Fassung des so genannten Volksverhetzungsparagraphen im Strafgesetzbuch liest, wird vor allem auch im Lichte mittlerweile erfolgter Präsident Wolfgang Thierse: rechtsradikaler Aufmärsche und so genannter Helden- Ich erteile das Wort Kollegen Hermann Bachmaier, und Opfergedenken erkennen, dass dieser Straftatbe- SPD-Fraktion. stand dringend der Ergänzung bedarf. Aufbauend auf dem ursprünglichen Vorschlag der Hermann Bachmaier (SPD): Justizministerin und des Innenministers haben wir des- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicherlich halb nach sehr intensiven Beratungen, die sicherlich in wäre es besser, wenn wir solche Gesetze, deren Ände- kurzer Zeit erfolgten, und unter Mithilfe von Verfas- rung wir heute beraten und beschließen, erst gar nicht sungs- und Strafrechtsexperten jetzt mit dem neuen brauchen würden. In diesem Punkt gebe ich Herrn § 130 Abs. 4 des Strafgesetzbuches eine recht gute, wie Stadler durchaus Recht. Wir wissen natürlich, dass die ich meine, und höchstwahrscheinlich verfassungsfeste Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus und Lösung gefunden. Sicher kann man sich diesbezüglich mit denjenigen, die zynisch und menschenverachtend nie sein. Es besteht für den Gesetzgeber immer das Ri- die Gewalttaten der Nazis verherrlichen, in erster Linie siko, dass das Bundesverfassungsgericht bestimmte Re- politisch erfolgen muss. Menschenverachtung und gelungen in einem neuen Lichte sieht. Der Gesetzgeber Dummheit kann man nicht mit dem Strafrecht und mit muss aber diesen Mut zum Handeln aufbringen. (B) (D) dem Versammlungsrecht aus der Welt schaffen. Die gefundene Lösung bietet eine Chance, denjenigen Wir können aber auch nicht tatenlos zusehen, dass auf das Handwerk zu legen, die unter Ausnutzung der Mei- der Würde der Millionen Opfer der nationalsozialisti- nungsfreiheit die Würde der Opfer verhöhnen. Wir ha- schen Gewaltherrschaft buchstäblich mit Füßen herum- ben dabei peinlich darauf geachtet, dass wir den bewusst getrampelt wird. Das kann und darf ein Gesetzgeber weiten Rahmen, den die Freiheitsordnung der Bundesre- nicht zulassen. publik der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit ge- währt, nicht überschreiten. Wer die nationalsozialistische (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gewalt- und Willkürherrschaft in einer die Würde der DIE GRÜNEN) Opfer verletzenden Weise billigt, verherrlicht oder recht- fertigt und dadurch den öffentlichen Frieden stört – inso- Es ist eine der vornehmsten Aufgaben des Gesetzgebers, fern ist das kein Meinungsdelikt, Herr Stadler, sondern die Meinungsfreiheit zu schützen. Er muss aber auch ein Erfolgsdelikt, wie die Juristen zu sagen pflegen –, derart menschenverachtende Umtriebe verhindern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir wissen – darauf hat uns bis in die jüngste Zeit nicht DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zuletzt das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜND- grundlegender Entscheidungen hingewiesen –, dass uns NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) aufgrund der Meinungsfreiheit manches zugemutet wer- den kann. Meinungsfreiheit ist in unserem Lande aber nur kann sich in Zukunft für sein menschenverachtendes dann gewährleistet, wenn wir bereit sind, auch Meinun- Treiben nicht auch noch auf den Schutz des Grundgeset- gen zu ertragen, über die wir nicht nur den Kopf schütteln zes berufen. Das war unser Ziel. können, sondern die uns bisweilen geradezu unerträglich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erscheinen. Da gebe ich meinen Vorrednern völlig Recht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie wir in der Anhörung erfahren konnten, geht das Deshalb muss es neben dem Schutz besonders hervor- Bundesverfassungsgericht beim Schutz der Meinungs- gehobener Orte des Gedenkens auch einen Schutz vor freiheit sogar so weit, dass Art. 5 des Grundgesetzes allen Formen militanter, zynischer und die Würde der auch noch solche Meinungsäußerungen in seinen Schutz Opfer verachtender Verherrlichung des Nationalsozialis- mit einbezieht, die im Widerspruch zur Werteordnung mus geben. Dies ist zwingend geboten. Diesen bisher der Verfassung stehen. Es gibt also einen sehr weit rei- nicht hinreichend gegebenen Schutz, der selbstverständ- chenden Schutz der Meinungsfreiheit. lich auch auf das Versammlungsrecht ausstrahlt, soll der 15364 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Hermann Bachmaier (A) neue Straftatbestand in § 130 Abs. 4 Strafgesetzbuch Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- (C) bieten. Wir gehen davon aus – das ist schon mehrfach lung auf Drucksache 15/5051, den Gesetzentwurf in der gesagt worden –, dass die neuen Regelungen auch Orten Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die wie Wunsiedel weiterhelfen, Orten, die sich Radikale dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen und Neonazis buchstäblich zur Beute nehmen, um da- wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – durch auf ihr widerliches Geschäft der Verherrlichung Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter des NS-Regimes aufmerksam zu machen. Ich weiß, wo- Beratung mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, des von ich spreche. Denn die Stadt Schwäbisch Hall in mei- Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU gegen die nem Wahlkreis wird nur deshalb jedes Jahr zum Auf- übrigen Stimmen des Hauses angenommen. marschort für dumpfe Parolenschreier, weil sich diese Stadt aus der Sicht der Rechtsradikalen vor einigen Jah- Dritte Beratung ren erdreistet hat, die Wehrmachtsausstellung zu zeigen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ich meine, dass wir nunmehr im Rahmen des uns ver- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – fassungsrechtlich Möglichen unsere rechtlichen Instru- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- mentarien im Versammlungs- und Strafrecht so geschärft wurf ist damit mit der gleichen Mehrheit wie zuvor an- haben, dass wir in Zukunft den zynischen Herausforde- genommen. rungen auch rechtlich besser begegnen können. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto sache 15/5066. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- Fricke [FDP]: Das sagen Sie jedes Mal!) trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, der Trotzdem bleibt die Hauptlast – dies ist gut und rich- CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die tig so – der politischen Auseinandersetzung überlas- Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der beiden sen. Es ist Aufgabe von uns allen, die Menschen davon fraktionslosen Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und zu überzeugen, dass eine Verherrlichung des NS-Will- Petra Pau abgelehnt. kürregimes keine, aber auch gar keine Antwort auf die Fragen gibt, die uns heute beschäftigen und bedrängen. Tagesordnungspunkt 17 b. Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Deshalb appelliere ich in diesem Zusammenhang an Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über befriedete Be- uns alle: Auch wenn einige immer wieder einmal ver- zirke für Verfassungsorgane des Bundes. Der Ausschuss sucht sind, den Demokraten die Existenz der Neonazis in für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (B) die Schuhe zu schieben, war es bislang eine gute Übung, empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- (D) dass sich die demokratischen Parteien die Existenz der sache 15/5069, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte Nichtdemokraten und Radikalen nicht gegenseitig zum diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, Vorwurf machen. Wir sollten vielmehr gemeinsam ver- um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- suchen, diesen Irrsinn mit allen uns zur Verfügung ste- tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit henden, verfassungsrechtlich zulässigen Mitteln einzu- den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, dämmen. der FDP und der beiden fraktionslosen Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau gegen die Stimmen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Auch deshalb ist es gut und richtig, dass wir heute die wohl überlegten Ergänzungen des Versammlungs- und Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Strafrechtes weitgehend gemeinsam verabschieden, also Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten mit den Stimmen der Regierungskoalition und der CDU/ Andreas Scheuer, Maria Eichhorn, Thomas CSU-Fraktion. Auch wenn ich Ihre Meinung, Herr Dörflinger, weiterer Abgeordneter und der Frak- Stadler, respektiere – wir kennen uns sehr gut; wir unter- tion der CDU/CSU stellen uns gegenseitig nichts –, würde es mich natürlich freuen, wenn auch die FDP zustimmen würde. Aber dies Jugend in Deutschland können wir von unserer Seite aus nicht erzwingen. – Drucksache 15/3396 – Herzlichen Dank. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich DIE GRÜNEN) höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Präsident Wolfgang Thierse: Andreas Scheuer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Die Kolleginnen und Kollegen, die den Plenarsaal eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des verlassen wollen, bitte ich, das umgehend zu tun, damit Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuches. Der wir die Beratungen ungestört fortsetzen können. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15365

Präsident Wolfgang Thierse (A) ( [FDP]: Aber rechtzeitig zur Ab- (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) stimmung wiederkommen!) NEN]: Aber die Letzten werden die Ersten sein!) Bitte schön, Herr Kollege Scheuer. Frau Staatssekretärin, Sie haben längst den roten Fa- den verloren, der Sie aus der Vogel-Strauß-Politik des Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Wegduckens Ihres Ministeriums herausgeführt hat. Wo Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ist denn die Ministerin, wenn die Arbeitslosenzahlen Es wäre gut, wenn die Kolleginnen und Kollegen von vorgelegt werden? Wo sind die Konzepte zur Bekämp- der SPD-Fraktion aufpassen würden; fung der Jugendarbeitslosigkeit? Eigentlich müsste dazu ein Aufschrei der zuständigen Ministerin im Kabinett er- (Sabine Bätzing [SPD]: Wir sind ganz Ohr!) folgen. Aber nichts dergleichen geschieht. dann würden sie die niederschmetternden Zahlen hören, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die die Situation der Jugend in Deutschland deutlich neten der FDP) machen. Die bayerische Verfassung stellt in Art. 125 treffend Derzeit sind 680 000 Jugendliche arbeitslos. 7,2 Pro- fest: „Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes.“ Wir zent der unter 18-Jährigen sind auf Sozialhilfe angewie- stimmen sicherlich alle darin überein, dass dies auch für sen. Der Anteil der Schulabgänger ohne Schulabschluss die Jugendlichen gilt. betrug zuletzt 7,9 Prozent und unter den ausländischen Jugendlichen sogar 19,2 Prozent. Auf jedes neugeborene (Ulrich Kelber [SPD]: Die bayerische Verfas- Kind in Deutschland kommen 16 900 Euro Schulden zu. sung ist ja noch nicht einmal in Kraft!) Es ist kaum verwunderlich, dass knapp die Hälfte der Ju- Darüber sollten wir uns im Bundestag einig sein. Die gendlichen in Deutschland die Zukunftsaussichten als CDU/CSU-Fraktion hat der Bundesregierung eine sehr düster beurteilt. umfangreiche Große Anfrage mit 225 Fragen zum Thema Jugend in Deutschland vorgelegt. Man muss sich in einer Jugenddebatte sehr eindring- lich mit der Politik der zuständigen Frau Ministerin (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beschäftigen, die heute wegen Krank- NEN]: Und 138 Unterfragen! Ich habe es heit verständlicherweise nicht an dieser Sitzung teilneh- nachgezählt!) men kann. Wir wünschen ihr gute Besserung. Doch es schien der Bundesregierung schwer zu fallen, (Beifall im ganzen Hause – Zuruf von der Rechenschaft über ihre eigene Politik abzulegen. Die (B) (D) CDU/CSU: Nicht nur für ihren Gesundheits- Antwort ließ bis gestern und damit neun Monate auf sich zustand!) warten – eine wahrhaft schwere Geburt – und wurde erst kurz vor dieser Debatte am Mittwoch durch das Kabinett Trotzdem wird die Auseinandersetzung mit ihrer Poli- geprügelt. tik recht hart werden. Das kann ich schon ankündigen. Die Ministerin selber duckt sich weg. Sie ist zwar sonst (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rührig im Umgang mit den Medien, aber die Realität NEN]: Bei den vielen Fragen hätte ich drei hinsichtlich der Arbeit und der Umsetzung sieht anders Jahre gebraucht, Herr Scheuer!) aus. Sie handelt nach dem Motto „Die Jugend einlullen Den jungen Menschen in Deutschland wird damit statt politisch zu handeln“. klar, dass sich die CDU/CSU ihrer Probleme annehmen. Aber Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, sind (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – darauf nicht vorbereitet. Sabine Bätzing [SPD]: So ein Quatsch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Priorität der Politik der Bundesregierung liegt of- fensichtlich nicht in der Unterstützung der Jugend. Unter Die Einzelbereiche sprechen eine deutliche Sprache. den sehr zahlreichen zu Topthemen erklärten Sachfragen Kinder zu haben ist in Deutschland zum Armutsrisiko auf ihrer Homepage kommt die Jugend seit langem nicht geworden. Rund 7 Prozent der Kinder sind Sozialhilfe- mehr vor. Eine Ausnahme stellt seit gestern die Antwort empfänger. Das ist bitter und peinlich für ein Land wie auf die Große Anfrage zum Thema Jugend in Deutsch- Deutschland. Ich verweise in diesem Zusammenhang land dar. Es ist schon ein Fortschritt, dass auch bei die- auf den Armutsbericht. sem Thema die CDU/CSU-Fraktion die Bundesregie- Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren von rung wachgerüttelt hat. Rot-Grün, den Kindern, Jugendlichen und jungen Fami- (Beifall bei der CDU/CSU) lien endlich eine Perspektive zu bieten. (Beifall bei der CDU/CSU) Ebenso bemerkenswert ist, dass die Jugend auch auf der Startseite des zuständigen Ministeriums nicht vor- Zum nächsten Thema: der deutschen Bildungs- kommt. Das ist ein Totalausfall. Im Bundesministerium misere. Es genügt nicht, sich darüber zu freuen, dass für Familie, Senioren, Frauen und Jugend steht die Ju- man nicht mehr unter den Letzten ist. Ziel muss sein, gend somit nicht nur begrifflich, sondern auch inhaltlich wieder zu den Besten zu gehören. Das war immer die an allerletzter Stelle. Garantie für unseren Wohlstand in Deutschland. Doch 15366 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Dr. Andreas Scheuer (A) das gebetsmühlenartige Beschwören von PISA und Co. Deutschland und unserem Verständnis von Menschen- (C) hat bei der Bundesregierung nur oberflächliche Panik- rechten zu tun haben, die Zustimmung zu Praktiken der handlungen bewirkt. Man denke nur an die diffuse Dis- Ausgrenzung zu wachsen. Meine Damen und Herren kussion über Eliteuniversitäten. Der Braindrain, also die von Rot-Grün, begreifen Sie endlich, dass sich eine Abwanderung der Talente und der Führungskräfte von ethnisch vielfältige Gesellschaft nicht von allein regelt. morgen, ist ungebrochen. Die besten Köpfe verlassen Da hilft kein Schönreden, auch dann nicht, wenn man es unter Rot-Grün unser Land. noch so oft versucht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der FDP) Ich wünsche mir, dass insbesondere die Kollegin An diese jungen Menschen kann ich nur den Appell rich- – meine Damen von den Grünen, vielleicht ten: Ab 2006 wird es in Deutschland unter einer unions- richten Sie ihr das aus – einmal eine empörungsfreie Zeit geführten Bundesregierung wieder aufwärts gehen. einlegt, damit man sachlich und mit kühlem Kopf mit ihr Kommt zurück und helft beim Aufschwung mit! diskutieren kann, (Beifall bei der CDU/CSU – Christel Humme (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Genau! Erst den- [SPD]: War das eine Drohung, oder was?) ken, dann heizen!) Zur Jugendarbeitslosigkeit. Die Erwerbsbiographien was bei ihrem gegenwärtigen Gemütszustand nicht mög- der heutigen Jugendlichen unterscheiden sich gravierend lich ist. von denen früherer Generationen. Gute Bildung ist heute kein Garant mehr für einen Arbeitsplatz. Stattdessen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jutta werden Akademiker, unterstützt von der Bundesagentur Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für Arbeit, zunehmend zu Dauerpraktikanten. Wen wun- NEN]: Dummes Zeug!) dert das angesichts der gegenwärtigen Arbeitsmarkt- Vielleicht haben Sie von den Grünen momentan viel lage? um die Ohren, weil all Ihre gesellschaftspolitischen Um- In diese Kerbe schlägt das Antidiskriminierungs- wälzungen, mit denen Sie unser Land verändern wollten, gesetz. In Wahrheit ist es ein Antiaufschwungs-, ein An- wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Ich wün- tilehrstellen- und ein Antiarbeitsplatzgesetz. sche Ihnen viel Spaß beim weiteren Fortgang des Visa- Untersuchungsausschusses. (Nicolette Kressl [SPD]: Sie haben sich ja auch so sehr um Lehrstellen gekümmert! – Ge- (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE genruf des Abg. Michael Kretschmer [CDU/ (B) GRÜNEN]: Vielleicht können wir mal wieder (D) CSU]: Ja, so ist es! Hören Sie ihm doch mal zum Thema kommen!) zu! – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ge- nau! Nicht mit nacktem Finger auf angezogene Meine Damen und Herren, Parallelgesellschaften sind Leute zeigen!) längst zur Realität geworden. Hören Sie also endlich auf, Einzelfälle, die gut verlaufen sind, zu verallgemeinern Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, Sie ka- und sie ständig als Monstranz vor sich herzutragen. Ich pieren es einfach nicht. Wie viele Mühlsteine wollen Sie fordere Sie auf, diesen Jugendlichen endlich eine Identi- dem Standort Deutschland noch umhängen? Sie haben tät und Werte zu geben. Ich gebe zu: Das ist sicherlich es zu verantworten, dass den Unternehmen die letzten schwierig, wenn man selbst als politische Führung mit noch vorhandenen Anreize, für junge Leute Lehrstellen diesen Begriffen auf Kriegsfuß steht. zu schaffen, genommen werden. Frau Ministerin, wenn Sie am Fernseher zusehen, sage ich Ihnen: Kommen Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zur Vernunft; denn sonst werden Sie immer mehr zur neten der FDP) Antijugendministerin. Damit sind vier von insgesamt 20 Themengebieten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unserer Großen Anfrage beim Namen genannt. Mein Fazit lautet: Nach sechs Jahren Rot-Grün sind die Kin- Ein weiteres drängendes Problem ist die mehr als der und Jugendlichen in unserem Land ärmer: sowohl mangelhafte Integration ausländischer Jugendlicher, materiell als auch an Perspektiven und Chancen. Das ist die Sie nur zu gerne schönreden wollen. Die Schande- sehr traurig. Wir müssen gegensteuern und diesen jun- morde an jungen Türkinnen hier in Berlin stellen vorläu- gen Menschen endlich Perspektiven geben. fig den traurigen Höhepunkt einer Entwicklung dar, die wir seit längerem mit Sorge beobachten. In der gestrigen An einem Beispiel sieht man allerdings, wie fahrläs- Debatte wurde klar: Die Union hat sich dieser Schicksale sig Rot-Grün handelt. Die Erfahrungen beim Aufbau Ost angenommen, und das ist gut so. zeigen: Man kann es der Jugend in Deutschland nicht wünschen, dass sie von Rot-Grün zur Chefsache erklärt (Beifall bei der CDU/CSU) wird. Die Bereitschaft der dritten Zuwanderungsgeneration, (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Jawohl!) sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, nimmt leider ab bzw. wird in keiner Weise gefördert. Statt- Wo ist denn der Regierungschef, wenn es um die Jugend dessen scheint gerade bei den Jugendlichen, die wenig geht? Er schweigt und findet zu diesem Thema keine mit unserem Wertekanon, unserer Hausordnung in Worte. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15367

Dr. Andreas Scheuer (A) Meine Damen und Herren, unsere Jugend ist nicht die (Zurufe von der CDU/CSU: Ja! – Gute (C) so genannte Null-Bock- oder Fun-Generation. Ich bin Frage! – Gegenruf der Abg. Kerstin Griese von der Kreativität, dem Ideenreichtum und der Eigen- [SPD]: Hören Sie doch erst mal zu!) initiative unserer Jugend überzeugt. Allerdings müssen Wenn Sie die Antworten der Bundesregierung auf die wir ihr Freiraum lassen, damit sie ihre Eigeninitiative Große Anfrage gelesen hätten – darüber wollten Sie ja entfalten kann. Wir müssen ihre Anliegen ernst nehmen heute nicht debattieren –, dann wüssten Sie zu dieser und zukunftsorientierte Rahmenbedingungen in Schu- Frage schon einiges. len, Verbänden, Jugendzentren, Behörden und in den Köpfen schaffen. Die Jugend muss klar sehen – darin Ich bin sehr verwundert darüber, dass die größte Op- sind wir uns alle einig –, dass es nichts nützt, sein Kreuz positionspartei im Deutschen Bundestag in ihrer Großen bei extrem rechten oder extrem linken Parteien zu ma- Anfrage zur nachfolgenden Generation keine einzige chen oder, statt zur Wahl zu gehen, zu Hause zu bleiben. Frage zu früher Förderung und Erziehung, zu Betreuung Unsere Große Anfrage beweist, dass sich die CDU/CSU und frühkindlicher Bildung gestellt hat. den Problemen unserer Jugend annimmt. Daher kann ich (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Kinder und nur folgenden Appell an die jungen Leute richten: Geht Jugend!) zur Wahl und wählt CDU und CSU; denn dann wählt ihr Zukunft. Damit ignorieren Sie nicht nur – hören Sie erst einmal zu; das ist manchmal sehr hilfreich – Herzlichen Dank. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Lesen ist auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. hilfreich!) Klaus Haupt [FDP] – Nicolette Kressl [SPD]: Da muss er selber lachen!) wissenschaftliche Erkenntnisse; Sie gehen auch an den Wünschen und Bedürfnissen der Kinder und Eltern vor- bei. Ferner nehmen Sie die Notwendigkeit der frühen Präsident Wolfgang Thierse: Förderung im Blick auf Schulbildung und Ausbildung Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staats- nicht ernst. sekretärin Christel Riemann-Hanewinckel. Präsident Wolfgang Thierse: Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staats- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des sekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senio- Kollegen Scheuer? ren, Frauen und Jugend: (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staats- (D) Kollegen! Ich glaube nicht, dass wir uns irgendwo auf sekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senio- der Straße im Wahlkampf befinden. ren, Frauen und Jugend: Nein, im Moment nicht. Herr Scheuer hat hier schon (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Wir sind darlegen können, was er zu sagen hat. Es bedarf also kei- im Plenarsaal, Frau Staatssekretärin!) ner weiteren Frage von ihm. Deshalb lasse ich die Rede von Herrn Scheuer unkom- (Widerspruch bei der CDU/CSU – Dr. Günter mentiert; es lohnt nicht, sich damit intensiver zu be- Krings [CDU/CSU]: Das ist der Standard der schäftigen. Bundesregierung: keine Fragen beantworten!) Was brauchen Kinder und Jugendliche? Sie brau- Wir brauchen für die Kinder und Jugendlichen eine chen Chancen für ihre Entwicklung; darin sind wir uns bessere und vor allem frühe Erziehung und Bildung der einig. Zu diesen Chancen gehören Freiräume und Kinder in Ergänzung zur Familie, damit die Herkunft Schutz; dazu gehören aber auch Bildung und Erziehung. eines Kindes nicht mehr über seine Bildungschancen Kinder und Jugendliche wollen Teilhabe; dazu brauchen entscheidet. Der qualitätsorientierte Ausbau der Kinder- sie Eltern, Erwachsene und eine Gesellschaft, die ihnen betreuung ist eines der zentralen gesellschaftspolitischen Spielräume geben. Die Gesellschaft muss ihnen Raum Vorhaben der Bundesregierung. Mit dem Tagesbetreu- geben, damit sie ihrer Neugier nachgehen können; denn ungsausbaugesetz hat die Bundesregierung das Not- – das wissen wir inzwischen – in ihrer Neugier und wendige getan. Wissbegierde sind die Kleinsten die Größten. Kinder (Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD]) und Jugendliche brauchen Gelegenheiten, um ihre Er- fahrungen in unterschiedlichen Bereichen und in ver- Das Gesetz, das am 1. Januar dieses Jahres in Kraft ge- schiedenen sozialen Beziehungen machen zu können, treten ist, war der längst überfällige Schritt zu einer Ver- mit und in der Familie, mit anderen Kindern, in der besserung der Tagesbetreuung für die unter Dreijähri- Nachbarschaft, in den Kindertagesstätten, in der Schule, gen. in der Freizeit. Kinder und Jugendliche brauchen diese (Beifall bei der SPD) Chancen und Möglichkeiten zum Erleben und zum Er- lernen von Anfang an. Damit sind sie auf eine breite Al- Unser Ziel ist es, für die ganz Kleinen bis 2010 circa lianz in der Gesellschaft angewiesen. 230 000 zusätzliche neue Plätze zu schaffen. Die Zahl der öffentlich geförderten Tagesmütter und Tagesväter Was tut die Bundesregierung? soll mittelfristig von 10 000 auf etwa 70 000 steigen. 15368 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

(A) Präsident Wolfgang Thierse: ren Bedarf an Unterstützung. Sie werden aber durch die (C) Frau Kollegin, gestatten Sie zwei Zwischenfragen, Standardangebote oft nicht erreicht. Das Nebeneinander von der Kollegin Klöckner und von der Kollegin Lenke? verschiedener Hilfsangebote reicht nicht mehr aus. Da- her haben wir das Modell „Häuser für Familien und Kin- Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekre- der“ gestartet. Auch bei den lokalen Bündnissen, die tärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, schon an vielen Orten in Deutschland – es gibt inzwi- Frauen und Jugend: schen über 200 – initiiert worden sind, geht es darum, das zusammenzuführen, was schon da ist, oder aber, De- Nein, ich gestatte im Moment gar keine Zwischenfra- fizite miteinander zu beseitigen und das Engagement gen. verschiedener Akteurinnen und Akteure vor Ort für die (Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Günter Kinder und für die Familien zu bündeln. Krings [CDU/CSU]: Man könnte ja mal was Kinder und Jugendliche brauchen aber auch mehr Wahres sagen!) Zeit zum Lernen. Ich werde das, was ich zu sagen habe, vortragen und ( [CDU/CSU]: Können wir mal dann haben die Kolleginnen und Kollegen die Chance, was zur Jugend hören?) im Rahmen einer Kurzintervention Jugendliche in Deutschland brauchen neue Räume, brau- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Es reicht chen mehr Zeit dafür. Deshalb ist der Kurswechsel in der uns auch schriftlich!) Bildungspolitik überfällig gewesen. Entscheidend ist – nein, nicht schriftlich – die Fragen zu stellen oder in auch hier eine frühe Förderung von Schülerinnen und ihren Redebeiträgen das darzustellen, was sie in die De- Schülern. batte einbringen wollen. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Jugend!) In Westdeutschland ist es nötig, die magere Quote Gerechte Chancen für alle Kinder von 2,7 Prozent Krippenplätzen – an dieser Stelle sollten die Damen und Herren, die jetzt eine Zwischenfrage (Jens Spahn [CDU/CSU]: Jugend!) stellen wollten, gut zuhören – für die unter Dreijährigen und Jugendlichen sind nötig, und zwar sowohl für die in den fünf Jahren bis 2010 auf ein bedarfsgerechtes Kinder und Jugendlichen aus benachteiligten und aus Niveau zu steigern und in Ostdeutschland die gute und Migrantenfamilien als auch für die besonders Begabten ausreichende Betreuung zu erhalten. Im Osten nehmen und diejenigen, die einen besonderen Förderbedarf ha- wir mit dem Angebot an Kinderbetreuung weltweit ben. Deshalb hat die Bundesregierung das Investitions- (B) einen Spitzenplatz ein, programm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ gestartet. (D) (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Damit ha- Es ist mit 4 Milliarden Euro das größte je auf den Weg ben Sie als Bundesregierung aber wenig zu gebrachte Bildungsprogramm. Bis Sommer 2005 wird es tun!) 3 000 neue Ganztagsschulen in Deutschland geben. Die Ganztagsschulen geben Raum und haben Raum für neue wie uns die jüngste OECD-Studie bescheinigt hat. Das Konzepte. Das, meine Damen und Herren, ist auch nötig. nützt dem Kindeswohl und hilft den Eltern bei der Ver- einbarkeit von Familie und Beruf. Die Betreuung, die Wir haben eben vom Kollegen Scheuer gehört, wie Bildung und die Erziehung – diese Trias wird auch von viele Jugendliche ohne Schulabschluss dastehen. Das ist der OECD begrüßt: als genau das, was jetzt getan wer- ein Problem der Bildungspolitik der Bundesländer. Des- den muss. Diese Trias gilt jetzt auch in der Kindertages- halb war es notwendig, dass die Bundesregierung an die- pflege. Der Förderauftrag bezieht sich auf die soziale, ser Stelle für eine optimale Förderung und Entfaltung die emotionale, die körperliche und die geistige Ent- der individuellen Begabung das entsprechende Geld be- wicklung eines Kindes. reitgestellt hat. Notwendig ist jetzt für die gemeinsame Entwicklung mit den Ganztagsschulen die Kooperatio- Es ist aber Aufgabe der Länder, Qualitäts- und nen zwischen den unterschiedlichen Akteurinnen und Bildungskriterien detailliert zu regeln. Ich bin froh, Akteuren. Ich zähle hier nur stellvertretend auf: die zwi- dass sich alle Länder auf vorschulische Bildungsziele schen der Jugendhilfe und der Schule, die zwischen den verständigt haben und dass die Nationale Qualitätsinitia- Verbänden und der Schule, aber auch die zwischen Kin- tive unseres Ministeriums mit der Mehrzahl der Bundes- dertageseinrichtungen und der Schule. Ich kann es auch länder durchgeführt wird. Das ist übrigens ein gutes Bei- anders sagen, sehr viel globaler – Sie alle sind mit aufge- spiel für funktionierenden Föderalismus: Der Bund gibt fordert –: Was wir brauchen, ist eine nationale Kraft- einen verlässlichen Rahmen vor, den die Länder, auch anstrengung für Jugendliche, die die Schule ohne Ab- im Wettbewerb miteinander, ausfüllen. Deshalb ist es gut schluss verlassen haben. Deshalb brauchen der Bund, und liegt auch im Interesse der Kinder und Jugendlichen, vor allen Dingen aber die Länder hier einen entsprechen- dass das Kinder- und Jugendhilferecht in der Zuständig- den Kurswechsel. keit des Bundes liegt. Wir geben in Deutschland mehr Geld für Bildung und Meine Damen und Herren, nicht nur Kinder, sondern Forschung aus, als das bisher der Fall war – jetzt ist die auch Eltern brauchen Bildung. Sie haben Fragen und nächste Altersstufe dran, die der Studierenden. Noch Beratungsbedarf zur Erziehung ihrer Kinder. Kinder und nie hat eine Bundesregierung so viel in Forschung und Eltern in schwierigen Situationen haben einen besonde- Bildung investiert: 2005 allein fast 10 Milliarden Euro. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15369

Parl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel (A) Denn gute Bildung – das wissen wir alle – ist die beste Plattform „Entwicklung und Chancen junger Menschen (C) Versicherung gegen Arbeitslosigkeit – und auch für eine in sozialen Brennpunkten“ – E & C – ergänzt. Diese funktionierende Volkswirtschaft. Bundesinitiative war sehr erfolgreich. Ich nenne nur kurz ein paar Zahlen dazu: Durch 416 Projekte in allen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ostdeutschen Bundesländern wurden 13 000 junge Men- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schen zusammengebracht, die eine regionale Verbunden- Erste Erfolge sind sichtbar: Über 2 Millionen junge heit entwickelt haben und denen Perspektiven zum Blei- Menschen studieren. Die Studierendenquote liegt inzwi- ben in den östlichen Bundesländern aufgezeigt wurden. schen bei 36,5 Prozent. Sie lag einmal bei 28 Prozent. Nicht wenige haben aus dieser Initiative heraus einen Das ist ein Erfolg, vor allen Dingen für die jungen Arbeitsplatz gefunden. Frauen und die jungen Männer. Damit wird das Ziel, das (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) die OECD vorgibt – 40 Prozent aller jungen Leute ein Studium zu ermöglichen – bald erreicht. Entscheidende Die Bundesregierung hat mit dieser Initiative einen Beiträge zu diesen Erfolgen sind die BAföG-Reform, die Anschub gegeben. Nachhaltigkeit war ein Auswahlkrite- neuen Bachelor- und Master-Studiengänge und vor allen rium bei der Auftragsvergabe. Zu meiner Freude laufen Dingen auch die praxisnähere Ausbildung. jetzt viele Projekte weiter, weil Kommunen oder Länder die Finanzierung übernommen haben. Zum Teil haben Meine Damen und Herren, ich habe es schon festge- die Jugendlichen es aber auch geschafft, eine eigene stellt: Kinder und Jugendliche sind von Natur aus neu- Finanzkraft zu entwickeln. gierig und innovativ. Das merken wir besonders deutlich bei den Schüler- und Jugendwettbewerben. Bei Meine Damen und Herren, der Nationale Aktionsplan „Jugend forscht“ gab es 2004 erneut einen Teilnahme- „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005–2010“ rekord, nämlich 8 315 Anmeldungen. Es ist auch interes- liegt Ihnen vor. Sie hatten viele Fragen. Ich empfehle Ih- sant, dass davon fast 40 Prozent junge Frauen und nen: Lesen Sie in diesem Nationalen Aktionsplan nach. Mädchen waren. Die Unterstützung vonseiten der Bun- Dort finden Sie alles zu Ihrer Großen Anfrage aufgelis- desregierung lag im Jahre 2004 bei 820 000 Euro. Das tet. Dort steht, was die Jugendlichen in Deutschland halte ich für gut investiertes Geld, das in der Zukunft brauchen, was die Bundesregierung schon getan hat und eine wirklich gute Rendite erbringen wird; denn wir wis- was sie in Zukunft noch tun wird. sen, dass die Jugendlichen auch innovative Beiträge ge- leistet haben, die zum Teil in der Produktion umgesetzt Ich habe mit der Aussage begonnen, auf den Anfang werden können. komme es an. Meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, auch bei Ihnen kommt es auf den Anfang an. Fan- (B) (Dirk Niebel [FDP]: Sie hätten die Regie- gen Sie also an, mitzutun und Ihre gesellschaftliche Ver- (D) rungsbank mal stärker besetzen können! – antwortung wahrzunehmen, und reden Sie die Jugend Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Bei dieser und das, was für die Jugend in Deutschland getan wird, Rede spürt man richtig den Ruck, der durch nicht nur schlecht. die Regierung geht!) Vielen Dank. Wir brauchen besondere Anstrengungen für bessere und gerechte Chancen auf Arbeit und Bildung. Ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nenne einige Punkte, die die Bundesregierung in der DIE GRÜNEN) Vergangenheit auf den Weg gebracht hat: Beispielge- bend sind der Nationale Pakt für Ausbildung und Fach- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kräftenachwuchs in Deutschland und die Erhöhung der Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt. Zahl der Ausbildungsplätze in der Bundesverwaltung im Jahre 2004 um 20 Prozent. Damit werden insgesamt Klaus Haupt (FDP): 14 000 Ausbildungsplätze vor allem in den neuen Bun- desländern finanziert. Außerdem ist es uns durch eine Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Modernisierung und Neuschaffung von Ausbildungsbe- Frau Staatssekretärin, mir sei eine Vorbemerkung gestat- rufen gelungen, neue Möglichkeiten für Jugendliche zu tet: Wie wichtig Sie in Ihrem Haus die Jugendpolitik eröffnen. Hier nenne ich besonders die Neuordnung nehmen, zeigt sich daran, dass ich die Antwort auf die zweijähriger Berufe, weil wir an diese Jugendlichen be- Große Anfrage vorgestern Abend erhalten habe. sonders denken müssen. Daneben nenne ich noch das (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das war ein Aktionsprogramm „Jugend für Toleranz und Demokra- bisschen knapp!) tie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. Deshalb sehe ich mich außerstande, Ihre Antwort, die si- cherlich klug und weise formuliert ist, in meiner Rede Die Bundesinitiative „wir … hier und jetzt“ in den überhaupt zu berücksichtigen. neuen Bundesländern möchte ich hier noch besonders ansprechen, weil diese Initiative von allen Politikerinnen (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: So ist es!) und Politikern auf den unterschiedlichsten Seiten unter- So darf man mit einer Großen Anfrage zu einem wichti- stützt worden ist. Durch diese Initiative wurden die er- gen gesellschaftlichen Thema nicht umgehen. folgreichen Programme „Die soziale Stadt“, „Regio- kom“, „Soziales Kapital für soziale Zwecke“ sowie die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 15370 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Klaus Haupt (A) Die Rechte und Interessen von Kindern und kompetenz. Das Beherrschen der deutschen Sprache (C) Jugendlichen sind im politischen Handeln gegenwärtig muss in den Fokus der gesamten Bildungslaufbahn rü- längst noch nicht ausreichend berücksichtigt. Ich glaube, cken. Das gilt insbesondere deshalb, weil Zuwanderer in wir sind uns einig: Wir alle sind gefordert, darauf zu ach- unterschiedlichen Lebensphasen nach Deutschland kom- ten, welche Auswirkungen unsere Politik gerade auf die men. junge Generation hat. Wir müssen zum Beispiel Kindern und Jugendlichen ernst gemeinte, auf sie zugeschnittene (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und altersdifferenzierte Angebote zur Teilhabe am der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE politischen und gesellschaftlichen Leben machen. GRÜNEN) Für die FDP ist die aktive Einbeziehung und politi- Ausbildung und Arbeit sind für Jugendliche mehr sche Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ein als nur Grundlage für ein wirtschaftlich unabhängiges Leitziel, das nur erfolgreich erreicht werden kann, wenn Leben. Sie haben auch zentrale Bedeutung für die Identi- Scheinpartizipation vermieden wird. tätsfindung, die Selbstverwirklichung und die Selbstbe- stimmung. Die bisherige Politik hat jedoch nicht verhin- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dern können, dass vielen Jugendlichen die Chance, in ein der CDU/CSU) qualifiziertes und erfülltes Erwerbsleben einzutreten, er- Alle Vorschläge der Kinder und Jugendlichen sollten schwert, ja sogar verwehrt wird. von den politischen Instanzen und sonstigen Entschei- Im Februar hatten wir eine Steigerung der Arbeits- dungsträgern wirklich ernsthaft überdacht und im Rah- losenquote bei jungen Menschen unter 25 Jahren auf men der Möglichkeiten umgesetzt werden. Denn Mit- 13,6 Prozent, im Osten sogar auf 20,5 Prozent. Fehlende wirkung muss Wirkung zeigen. Ausbildungs- und Berufsperspektiven sind wiederum die Die Union spricht in ihrer Anfrage berechtigt die entscheidenden Gründe für die dramatischen Abwande- Frage der Finanzierung von Jugendpolitik an. Dazu rungszahlen junger Hoffnungsträger aus den neuen Län- muss ganz klar gesagt werden: Ausgaben für Kinder und dern in Richtung Westen. Dies wiederum entvölkert zu- Jugendliche sind Investitionen in die Zukunft. nehmend ganze periphere Regionen mit allen fatalen Folgewirkungen wie Wohnungsleerstand, Rückgang von (Beifall bei der FDP) kommunalen Steuereinnahmen, sinkende Nachfrage, Wer hier zu sehr spart, spart an der falschen Stelle und Rückgang von Investitionen usw. verursacht damit zum Teil wesentlich höhere Folgekos- Jüngst haben sowohl UNICEF als auch der Armuts- ten. und Reichtumsbericht den dramatischen Anstieg der (B) Allerdings muss Kinder- und Jugendarbeit einerseits Kinderarmut in Deutschland aufgezeigt. Die Zahl der (D) sparsam und effizient und andererseits mit Kontinuität Kinder, die von Sozialhilfe leben, ist erneut gestiegen: und Nachhaltigkeit verfolgt werden. Nachhaltigkeit und um rund 64 000 auf 1,08 Millionen. Die Zahl der von Kontinuität sind derzeit durch die Tendenz zu kurzfristi- Armut betroffenen Kinder ist laut UNICEF noch höher ger Projektförderung gefährdet. Langfristiges Engage- und liegt bei 1,5 Millionen. Das ist ein Armutszeugnis ment ist aber eine wichtige Voraussetzung für die Quali- für unsere Gesellschaft. Die Bundesregierung ist in der tätssicherung in der Jugendarbeit. Armutsbekämpfung gescheitert. Arbeitsplätze und Ver- einbarkeit von Beruf und Familie – vor allem durch gute (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kinderbetreuungsangebote – sind letztlich die besten der CDU/CSU) Wege aus der Armut. Beides verspricht die Regierung Die jüngsten beträchtlichen Haushaltskürzungen der Re- seit Jahren, ohne dass wirklich etwas geschieht. gierungskoalition im Bereich der Jugendverbandsarbeit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stehen dazu im Widerspruch. Fazit: Grundlegende Reformen in der Bildungs-, Wirt- (Zuruf von der SPD: Es gibt doch gar keine schafts- und Arbeitsmarktpolitik sind für die Zukunft der Kürzungen!) jungen Menschen in Deutschland drängender denn je. Sie treffen übrigens, Frau Staatssekretärin, insbesondere Bildung ist für die späteren gesellschaftlichen Chan- die neuen Bundesländer, wo die Verbandsstrukturen cen junger Menschen von zentraler Bedeutung. Bildung noch im Aufbau oder weniger gefestigt sind. ist daher ein wichtiges Ziel der meisten jungen Leute. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Diejenigen Heranwachsenden, die mit den Anforderun- der CDU/CSU) gen in Schule und Beruf weniger gut zurechtkommen, fühlen sich benachteiligt, reagieren darauf mit Aggres- Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit sion oder Resignation und sind überproportional häufig Migrationshintergrund ist Herausforderung und – das von der Demokratie als Staatsform enttäuscht. Sie waren betone ich – Chance zugleich. Diese jungen Menschen beispielsweise bei der Landtagswahl in meinem Ländle können Brücken bilden und Vermittler zwischen den Sachsen das größte Wählerreservoir der NPD. Kulturen sein. Kinder und Jugendliche mit Migrations- hintergrund dürfen aus unserer Sicht nicht nur als Pro- In vielen Gebieten Ostdeutschlands ersetzen die so blemfälle behandelt werden, sondern müssen auch in ih- genannten Kameradschaften die im Westen über Jahr- ren Stärken gefördert werden. Voraussetzung für die zehnte gewachsene soziale Infrastruktur für Kinder und Nutzung dieser Chancen ist eine umfassende Sprach- Jugendliche. Kameradschaften formen das Freizeitver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15371

Klaus Haupt (A) halten der Mitglieder, wobei rechtsextremistische Die Antwort der Bundesregierung umfasst 265 Seiten. (C) Grundpositionen gleichsam als weltanschauliche Klam- Ich finde, das Motto „Fragen und Lesen bildet“ kann mer dienen, die die Gruppenidentität prägt. Viele Ju- durchaus zur Aufklärung beitragen. gendliche schließen sich ihnen aus einem Hang zur Pro- vokation an. Aber wenn junge Menschen nicht die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Perspektive haben, sich in den Städten und Gemeinden, sowie bei Abgeordneten der SPD) in denen sie zu Hause sind, ihren Lebensunterhalt zu Herr Scheuer, zu Ihrem Beitrag von heute Morgen muss verdienen und beruflich eine Zukunft zu haben, dann ich allerdings sagen: Es gehört dazu, dass man sich zu- wird es schwer, die daraus folgenden Frustrationen auf- mindest mit einigen der eigenen Fragen und auch mit zufangen und die viel beschworene Bürgergesellschaft den Antworten inhaltlich auseinander setzt. Davon habe zu stärken. Deshalb müssen wir der Jugend Chancen bie- ich heute Morgen gar nichts gehört. Das finde ich ten, Talente und Fähigkeiten zu entfalten und eine Auf- schade. gabe zu haben. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wir leider auch noch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht! – Heiterkeit bei der CDU/CSU) der CDU/CSU) Zwei Bemerkungen vorab. Die 14. Shell-Studie be- Die positive Zukunftssicht der jungen Generation, weist, dass junge Menschen in Deutschland leistungsbe- die sich etwa in der 14. Shell-Jugendstudie zeigt, darf reit, zukunftsorientiert und engagiert sind. Diesen auch die Politik optimistisch stimmen. Die Jugendlichen Schluss zieht auch die Union. Ich finde, das ist schon et- von heute stellen sich den großen gesellschaftlichen und was. Leider entgleist Ihnen dann aber schon der zweite persönlichen Herausforderungen mit Pragmatismus, Satz im zweiten Absatz Ihrer Anfrage – ich zitiere –: Fleiß und Ehrgeiz. „Aufstieg statt Ausstieg“ ist das Motto für die meisten der jungen Generation. Diese Ge- Wenn aber die Politik der Bundesregierung Bedin- neration kann nach liberaler Auffassung wirklich im gungen und Zukunftsaussichten für die junge Gene- positiven Sinne als die Zukunft unserer Gesellschaft be- ration massiv negativ beeinträchtigt, drohen selbst zeichnet werden. für optimistische Jugendliche Verunsicherung und Perspektivlosigkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Ja, so ist das!) Ihren Mut zur Zukunft darf Politik nicht durch Bürokra- Das steht selbstverständlich nicht in der 14. Shell-Stu- tismus, Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit die. Das ist allein die etwas boshafte Herangehensweise (B) behindern, (D) der Union (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) (Lachen bei der CDU/CSU – Michael sondern muss ihn konsequent und nachhaltig stärken. Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist die Realität Die Regierung ist in der Pflicht, die dazu unabdingbaren in Deutschland, Frau Kollegin! Das Leben ist Reformen nicht im Hinblick auf anstehende Wahl- so!) termine aufzuschieben, sondern unverzüglich anzupa- nach dem Motto: Wir stellen unsere Fragen so, weil wir cken. die Antworten gar nicht hören wollen, sondern sowieso Danke. von vornherein wissen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jugendsprachlich formuliert, Herr Scheuer, würde ich Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jutta Dümpe- gerade in Ihre Richtung sagen – Sie sind ja der Haupt- Krüger. autor dieser Großen Anfrage –: Das war voll der unter- irdische Touchdown. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Kann ich das noch einmal hören?) Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Etwas irritiert war ich auch, als ich gesehen habe, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die dass die Union in ihren Fragen die Altersgrenze für Ju- Große Anfrage der Union zum Thema „Jugend in gend fast durchgängig bis 35 Jahre zieht. Grundsätzlich Deutschland“ vor dem Hintergrund der 14. Shell-Studie beschreibt der Begriff Jugend den Zeitraum zwischen hat 225 Fragen mit 138 Unterfragen. Ich habe mir ein- dem Eintritt der biologischen und dem der sozialen Reife mal den Spaß gemacht und sie alle zusammengezählt, bzw. der wirtschaftlichen Eigenständigkeit der Heran- was 363 ergibt. wachsenden. Jugendpolitik vertritt daraus abgeleitet junge Menschen zwischen dem 14. und 27. Lebensjahr. (Zuruf von der CDU/CSU: Hoffentlich haben Auch das SGB VIII geht davon aus, bei Bedarf Hilfen Sie sie auch gelesen!) bis 27 Jahre zu leisten. 15372 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Jutta Dümpe-Krüger (A) Ich habe mich wirklich gewundert und gefragt, woher ihnen die nötigen finanziellen Ressourcen vorenthalten (C) der schleierhafte Ansatz von 35 Jahren kommt. Dann wollen. Da will ich niemanden scharf angucken. habe ich nachgelesen, dass die Mitgliedschaft in der Jun- gen Union mit dem 35. Lebensjahr erlischt. Aus Sicht Hinter der Frage 218, die die Zuordnung junger Voll- von Jugendfachleuten ist das zwar mit Sicherheit nicht jähriger mit seelischen Behinderungen zum Gesamtsys- unbedingt SGB -VIII-kompatibel; darauf kommt es Ih- tem der Sozialhilfe und Reha beinhaltet, versteckt sich nen aber auch nicht an. Es ist aber immerhin eine Erklä- eine weitere Begehrlichkeit der Union. Sie wollen näm- rung, wie diese unfachliche Zahl in Ihr Papier gekom- lich den gesamten Bereich der Hilfen für junge Men- men ist. schen im Sozialhilferecht regeln. Aus fachlicher Sicht gehen Sie damit nicht einen Schritt vor, sondern mindes- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) tens zehn zurück. Ich möchte jetzt zum Bereich des Jugendstrafrechts § 35 a wurde im SGB VIII eingeführt, damit für Kin- kommen. Interessant sind die Fragen zum Jugendstraf- der und Jugendliche passgenaue Angebote gestrickt wer- recht, besonders wenn sich die Union um „innovative den können, nämlich eine Kombination von medizini- Formen von Strafsanktionen“ kümmert. schen und pädagogischen Angeboten. Ich bin dafür, dass wir endlich alle Kinder und Jugendlichen gleich behan- (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) deln. Unabhängig von der Art ihrer Behinderung sollten – Sie sollten jetzt einmal die Ohren spitzen und zuhören. alle Hilfen über das SGB VIII erhalten. Das wäre eine Wer die CDU/CSU und ihren ständigen Ruf nach Ver- Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe und da- schärfungen des Jugendstrafrechts kennt, bei dem gehen rüber sollten wir streiten. dabei alle Warnlichter an: Sicherungsverwahrung für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Heranwachsende, Warnschussarrest, Erhöhung der und bei der SPD) Höchststrafe auf 15 Jahre bis hin zur Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters auf 12 oder 10 Jahre, um nur die Ich komme zum Bereich Ehe und nachhaltige Part- absurdesten Vorschläge zu nennen. nerschaft. Interessant ist die Fragestellung der Union, wie viele Jugendliche, und zwar ausschließlich mit der (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Absurd? Rich- Betonung auf deutsche Jugendliche, sich vorstellen kön- tig!) nen, eine Ehe einzugehen, und ob es hierbei Ost-West- Unterschiede gebe. Ergebnis: Neben der Ehe gibt es – wer Das sind dann Ihre so genannten Innovationen. hätte das gedacht? – auch noch andere attraktive Formen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Zusammenlebens. Familie haben heißt nicht mehr au- (B) und bei der SPD) tomatisch, dass man verheiratet sein muss. Das meinen (D) junge Menschen aus den neuen Bundesländern noch häu- Dabei sollten Sie eigentlich wissen, dass Verschärfungs- figer als Jugendliche aus den alten. tendenzen im Jugendstrafrecht allen fachlichen Erkennt- nissen zur Verhinderung von Jugendkriminalität wider- Richtig spannend aber wird es in diesem Zusammen- sprechen. Kern unseres Jugendstrafrechts ist der hang bei Frage 119 der Union. Da wollen Sie wissen, ob Erziehungsgedanke. es Daten darüber gibt, „welcher Anteil deutscher Ju- gendlicher eine nachhaltige Partnerschaft als notwendig (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Was heißt betrachtet, um Kinder zu erziehen“. Die Bundesregie- hier „Ihres Jugendstrafrechts“? Es ist deut- rung sagt hierzu, dass ihr keine Datenquelle mit genau sches Jugendstrafrecht!) dieser Fragestellung bekannt ist. Mich hat das nicht ge- wundert. Ich kannte auch nur nachhaltige Holzwirt- Das oberste Ziel jeder jugendstrafrechtlichen Interven- schaft, meine Damen und Herren, was ja bedeutet, dass tion ist die Vermeidung künftiger Straftaten. Das errei- nur so viel Holz geschlagen wird, wie in derselben Zeit chen wir am besten durch Prävention. Alle Akteure, die nachwachsen kann. mit jungen Menschen zu tun haben, sind hier gefragt. In den allermeisten Fällen fehlt es nicht an geeigneten Kon- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des zepten, sondern an echtem Willen und ausreichenden BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Mitteln für die Umsetzung. SPD – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wis- sen Sie auch, wie eine Motorsäge angeht?) (Zuruf von der CDU/CSU: Ach! Von wem denn?) Die Bezeichnung „nachhaltige Partnerschaft“ als Ab- grenzung zur Ehe war mir hingegen neu. Aber wenn die Ich komme zum Bereich Kinder- und Jugendhilfe, Shell-Jugendstudie dazu beigetragen hat, dass für die also zu den Fragen ab 214. Sie wollen wissen, ob die Union 36 Jahre nach Woodstock durch den Begriff Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in der Lage „Nachhaltigkeit“ ein Stück weit die Zeit der freien Liebe sind, die Probleme benachteiligter Jugendlicher ziel- angebrochen ist, dann haben Sie aus familienpolitischer sicher und effektiv zu bekämpfen. Die Antwort darauf Sicht endlich etwas Neues am Start. kann nur sein: Natürlich sind sie dazu in der Lage. Man muss ihnen nur die Möglichkeit dazu geben. Das (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ SGB VIII stellt die nötigen fachlichen Instrumente zur DIE GRÜNEN und bei der SPD – Eckart von Verfügung. Die Träger der Jugendhilfe können darauf Klaeden [CDU/CSU]: Bei Ihnen scheint die virtuos spielen. Für Missklang sorgen nur diejenigen, die Zeit schon lange vorbei zu sein!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15373

Jutta Dümpe-Krüger (A) Warum haben wir einen Schwerpunkt auf das „Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) jekt P“ gelegt? Die Antwort ist ganz einfach: Kinder und und bei der SPD) Jugendliche brauchen eine starke Stimme, und zwar ihre eigene. Sie sollen selbst Anwälte ihrer Interessen sein. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nur so können sie sich zu eigenständigen Persönlichkei- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael ten entwickeln und nur so können anstehende Probleme Kretschmer. am besten gelöst werden. Warum versteht das die Union nicht? (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Jetzt werden wir merken, wie notwen- Sie machen mit der Frage 22 ganz deutlich, dass Sie dig lebenslanges Lernen ist!) nicht verstehen, warum die Bundesregierung die Parti- zipation fördert, wo das doch – so Ihre Auffassung – be- reits die Jugendverbände machen. Sie müssen einfach Michael Kretschmer (CDU/CSU): einmal zur Kenntnis nehmen, dass es unterschiedliche Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Beteiligungsformen gibt. Es gibt die parlamentarischen Woche begann mit einem unangenehmen Zeitungsar- Formen, beispielsweise Kinder- und Jugendparlamente. tikel, der einen Vorfall in einer S-Bahn beschrieb: Eine Es gibt offene Formen, beispielsweise Zukunftswerkstät- junge Frau wurde von fünf Jugendlichen belästigt und ten. Darüber hinaus gibt es verwaltungsorientierte For- geprügelt und keiner hat reagiert. – Das, was wir gerade men, beispielsweise Kinderbeauftragte und Kinderbüros. gehört haben, ist eine viel zu einfache Antwort auf diese Schließlich gibt es noch unsere Jugendverbände, die her- Fragen. Man kann nicht einfach den Problemen in der vorragende Arbeit leisten. Jugendpolitik und der Perspektivlosigkeit der Jugend- lichen nur mit Sozialpolitik begegnen. So einfach ist es Jede dieser Formen hat ihre Berechtigung und alle ge- eben nicht. meinsam sorgen dafür, dass Jugendpolitik als Quer- schnittsaufgabe verstanden wird, die bei allen politi- (Beifall bei der CDU/CSU) schen Entscheidungen zu berücksichtigen ist. Denn Wenn wir über Jugendpolitik und über die Frage, wie Partizipation und lebendige Demokratie gehören zusam- es den Jugendlichen in Deutschland geht, reden wollen men. und dabei nicht ein Mitglied der Bundesregierung anwe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN send ist, dann zeigt das, wie wichtig Rot-Grün dieses und bei der SPD) Thema nimmt. Ich finde es gut, dass die CDU/CSU- Fraktion diese Anfrage in ihrer umfassenden Form ge- Ich komme nun auf den Bereich „Programme gegen stellt hat. Frau Dümpe-Krüger, Ihre Antwort war ange- Rechtsextremismus“ zu sprechen. Damit sind wir bei (B) sichts der Komplexität des Themas in der Tat zu dumpf (D) dem Komplex angelangt, bei dem Sie immer wieder wie und viel zu einfach. Don Quichotte unverdrossen gegen Windmühlen kämp- fen. Meine Damen und Herren, in Ostdeutschland ist das Problem noch viel größer als im Rest des Landes. Für (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Wollen Sie viele hängt von der Perspektive einer Berufsausbildung nicht dagegen kämpfen?) alles ab: die Möglichkeit, in der Heimat zu bleiben, eine eigene Familie zu gründen und sich ein Leben mit selbst Ich sage an dieser Stelle: Setzen Sie sich mit den Ant- verdientem Geld aufzubauen. worten der Bundesregierung auseinander! Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Ich fand die Antworten der Viele Jugendliche stimmen seit Jahren mit den Füßen Bundesregierung richtig gut. Die Bekämpfung von ab. Sie verlassen ihre Heimat. Im Februar 2005 waren Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Anti- 224 000 Jugendliche unter 25 Jahre in den neuen Bun- semitismus ist ein Schwerpunktthema der Bundesregie- desländern arbeitslos. Trotz Ausbildungspakt und Nach- rung. Es sollte – es ist mir ganz wichtig, an dieser Stelle vermittlung haben 4 700 Jugendliche in den neuen Bun- darauf hinzuweisen – ein Schwerpunkt aller Demokraten desländern bis Ende 2004 keine Lehrstelle gefunden. sein. 174 000 Jüngere sind in Maßnahmen wie JUMP oder in Berufsvorbereitungen geparkt. Das ist zwar besser als Meine Damen und Herren, ich komme leider nicht nichts, aber kein Ersatz für eine Lehrstelle, für eine Be- mehr zum Thema Migration, das ich mir auch vorge- rufsausbildung. nommen hatte. Es bleibt zu sagen: Meine Damen und Herren von der Union, mit Ihrer Anfrage haben Sie in Schon längst ist der Wegzug aus Ostdeutschland dra- erster Linie zwei Dinge deutlich gemacht: Erstens. Pa- matisch. Aus meiner ehemaligen Schulklasse haben pier ist geduldig. Zweitens. Im Bereich der Jugendpolitik nicht mehr als drei oder vier einen Ausbildungsplatz in haben Sie nach allem, was bisher hier zu hören und zu ihrer Heimat gefunden, der ihnen eine Chance bietet. Die lesen war, ich will nicht sagen: nichts, aber nicht viel da- meisten sind aber weggegangen. Der dadurch bedingte zugelernt. Darum nutzen Sie die Chance, die Ihnen die emotionale Sprengstoff bei Großeltern und Eltern sowie Antwort der Bundesregierung bietet. Lebenslanges Ler- Freunden ist gewaltig. Die Frustration steigt und wir ver- nen gilt schließlich nicht nur für junge Menschen. lieren unsere Zukunft im Osten. Aber Ostdeutschland ist zunehmend überall in Deutschland. Perspektivlosigkeit (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben nichts gibt es auch in anderen Regionen, wenn auch nicht so dagegen!) flächendeckend und ausgeprägt wie in Ostdeutschland. Danke schön. Aber wir können an Ostdeutschland ablesen, was auch in 15374 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Michael Kretschmer (A) Westdeutschland passieren wird, wenn sich nichts än- Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze, damit die Ju- (C) dert, wenn wir die wirtschaftlichen Probleme unseres gend in Ostdeutschland eine Chance hat. Landes nicht lösen. In unserer Großen Anfrage haben wir auch das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Thema Berufsbildungsrecht angesprochen und uns neten der FDP) nach Berufen mit zweijähriger Ausbildung erkundigt. In Die Lösung der wirtschaftlichen Probleme ist die Ihrer Antwort, die Sie kontinuierlich verschleppt haben, Antwort auf die Frage, wie es mit der Jugend in sodass sie erst einen Tag vor der heutigen Debatte vorlag Deutschland weitergeht. Seit der Wiedervereinigung ha- und niemand die Möglichkeit hatte, sie genau zu lesen, ben über 1 Million Menschen Ostdeutschland verlassen. werden Sie diesem Thema nicht gerecht. In der Tat brau- Davon waren zwei Drittel zwischen 18 und 25 Jahre. chen wir mehr zweijährige Ausbildungen; denn gerade Gegangen sind vor allen Dingen junge, gut ausgebildete Jugendliche ohne Schulabschluss oder mit schlechten Frauen. Sie bekommen ihre Kinder in Zukunft in West- Noten haben immer weniger Chancen auf eine Lehr- deutschland. Die Folgen für unser gesellschaftliches stelle. Die Konkurrenz ist einfach zu gut und zu zahl- Klima und die Infrastruktur werden verheerend sein. So- reich. Deutschland ist das einzige Land mit einer drei- lange Sie unfähig sind, die Konjunktur in Schwung zu jährigen Berufsausbildung zum Tankwart. Wir wollten bringen, wird sich die Perspektive der Jugend in das ändern. Wir haben vorgeschlagen, die Stufenausbil- Deutschland nicht bessern. Wir brauchen keine Pro- dung zur Regel zu machen. So könnte eine Verkäuferin gramme wie „wir … hier und jetzt“ zur Förderung des schrittweise zur Einzelhandelskauffrau weitergebildet Heimatgefühls. Wir lieben nämlich unsere ostdeutsche werden. Aber Ihre Parteigenossen haben das bei der No- Heimat. velle zum Berufsbildungsgesetz verhindert; denn die Ge- werkschaftsideologen hatten nicht die Jugendlichen, (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Frau Präsi- sondern ihre eigenen Pfründe im Sinn. dentin, die unterhalten sich auf der Regie- rungsbank! Kein Mensch hört zu!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Widerspruch bei der SPD) – Meine Herren von der Regierung, wenn Sie zuhören mögen! – Wir brauchen aber Arbeit, damit die Jugend in Vom Osten kann man lernen; denn dort werden trotz Ostdeutschland bleiben kann. Wir haben kein Verständ- eines schwierigen wirtschaftlichen Umfelds – prozentu- nis dafür, dass Rot-Grün mit Überregulierung und Be- al – mehr Lehrstellen bereitgestellt als anderswo. Doch sitzstandsdenken die Lösung der Probleme unseres Lan- dafür ist insgesamt mehr Flexibilität notwendig. Wir des verhindert. wollten das im Berufsbildungsrecht verankern. Wir (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wollten die Stufenausbildung zur Regel machen sowie (D) eine angemessene und verbindliche Ausbildungsvergü- Frau Präsidentin, ist es möglich, dass Herr Staffelt auf tung festlegen. Aber Sie haben die Chancen vertan, mehr der Regierungsbank Platz nimmt? Ausbildungsplätze in kleinen Betrieben zu schaffen. (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Pöbelhaf- Wer, wie ich in einem Gespräch mit einer zehnten tes Verhalten!) Klasse, erlebt, wie niedergeschlagen Jungen und Mäd- chen nach 30 oder 40 erfolglosen Bewerbungen sind, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: den befällt ein kalter Schauer. Diese Jugendlichen sind Ich bin gehalten, darauf zu achten, dass von der Re- beinahe noch Kinder. Was würden Sie antworten, wenn gierungsbank aus nicht dazwischengeredet wird. Aber Jugendliche Ihnen erzählten, sie wollten bei der Prüfung ich glaube, dass ich Aufstehen nicht verhindern kann absichtlich durchfallen, weil noch ein Jahr in der Schule und sollte. besser als ein sinnloses Jahr in der Berufsvorbereitung sei? Michael Kretschmer (CDU/CSU): Nur eine persönliche Perspektive kann diese Jugend- Es ist recht. Aber es ist bei einem solchen Thema eine lichen überzeugen. Frage des Anstandes, dass man sich voll und ganz dem Redner widmet und zuhört; denn die Probleme sind in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Tat gewaltig. Der Wert von Demokratie und Freiheit ist für die Ju- Wenn ich an meine ostdeutsche Heimat denke und die gendlichen mit einer beruflichen Chance unmittelbar Lethargie sehe, die weite Teile des Landes im Griff hat, verbunden. Sie wollen arbeiten; sie wollen ihr Geld dann wird mir angst und bange. Ich frage mich, warum selbst verdienen. Aber statt neuer Ideen sendet die Bun- die Bundesregierung nicht längst gehandelt hat. desregierung immer mehr verheerende Signale in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Osten. Der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit soll eingestellt werden. Die Das Institut der deutschen Wirtschaft sagt ganz klar: Die Bundesagentur sagt: Arbeitslose über 55 sollen nicht wirtschaftliche Lage und insbesondere die Lehrstellenlü- mehr vermittelt werden. Die Jugendlichen fragen sich: cke sind die Hauptursachen für die Abwanderung. Wir Sind wir die Nächsten? So wird es nichts mit dem Auf- brauchen deshalb keine Programme, die die Rückkehr- bau Ost und so wird es uns auch nicht mehr gelingen, bereitschaft fördern sollen. Vielmehr brauchen wir diesen jungen Leuten eine Perspektive zu schaffen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15375

Michael Kretschmer (A) Das muss uns aber gelingen. Wir müssen eine andere (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (C) Politik machen, eine Politik, die jungen Leuten in BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Deutschland und vor allen Dingen in Ostdeutschland Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das sieht eine Chance gibt. Wir müssen die jungen Leute zurück- man an der Regierungsbank! Blühende Parti- holen und ihnen sagen: Ihr habt eine Chance. Schreibt zipation!) euch nicht ab, wir kümmern uns um euch! Was heißt überhaupt Partizipation? Partizipieren bedeu- Vielen Dank. tet laut Duden: etwas abbekommen, teilhaben. Was be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommen die Jugendlichen also ab? Wir wollen junge Menschen für die Kernwerte einer demokratischen Ge- sellschaft gewinnen. Dazu gehören Toleranz und Mitge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: staltung. Wir wollen der Entwicklung, dass immer mehr Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Bätzing. Jugendliche demokratischen Institutionen, Parteien und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Repräsentanten gleichgültig oder ablehnend gegenüber- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stehen, entgegentreten. Daher müssen wir den Teufels- kreis durchbrechen, der entsteht, wenn sich Jugendliche nicht beteiligen, weil Politik von oben gemacht wird, Sabine Bätzing (SPD): und wenn Politik von oben gemacht wird, weil sich Ju- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und gendliche nicht beteiligen. Kollegen! Wir sprechen hier im Deutschen Bundestag zur besten Sendezeit über die Jugendpolitik in Deutsch- Wir wollen junge Menschen dafür begeistern, sich in land. ihre Angelegenheiten einzumischen. Kurzum, wir wol- len, dass sie mitmischen. Wir wollen ihr Vertrauen ge- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Es geht winnen. Genau an dieser Stelle setzt das „Projekt P“ an: nicht um Sendezeit, sondern um junge Leute, „P“ steht für Partizipation und für Politik. Ich muss sa- Frau Kollegin!) gen: Ich bin ein großer Fan von diesem Projekt; denn es Ich hoffe sehr, Herr Kretschmer, dass möglichst viele, funktioniert. vor allem junge Menschen diese Debatte verfolgen. Ich bin der Auffassung, dass Ihre Polemik heute Morgen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ völlig fehl am Platz ist. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mit dieser Initiative lernen junge Menschen, dass je- DIE GRÜNEN – Michael Kretschmer [CDU/ der Einzelne Einfluss nehmen kann. In mehr als (B) CSU]: Das ist die Wahrheit!) 200 Projekten haben sich bereits 6 000 Jugendliche en- (D) gagiert. Dass dieser Erfolg in knapp anderthalb Jahren Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen; denn ich bin erzielt werden konnte, liegt sicherlich auch an der her- Ihnen für Ihre Große Anfrage an die Bundesregierung vorragenden Kooperation mit unseren erfahrenen Part- zur Jugendpolitik in Deutschland eigentlich dankbar. nern, dem Deutschen Bundesjugendring und der Bun- Getreu dem Motto „Wer nicht fragt, bleibt dumm“ hoffe deszentrale für politische Bildung. ich sehr, dass nicht nur Sie von der Opposition, sondern vor allem viele Jugendliche die Antworten lesen werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das hoffen wir auch!) Aber nicht nur Junge können hier lernen, sondern auch Erwachsene und damit auch Sie, meine Damen und Jugendpolitik ist für uns eine Politik für das Kost- Herren. Oftmals fehlt den Erwachsenen der Mut, Verant- barste, wofür wir Verantwortung tragen: für unsere Zu- wortung an junge Menschen abzugeben und mit ihnen kunft. Alles, was in jungen Jahren gesät wird, werden auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Genau das ist wir ernten: Erfolge und Misserfolge. Daher sind wir alle zum Beispiel beim Projekt „Come in Contract“ mög- hier gemeinsam in der Pflicht, für die jungen Mitglieder lich – der Beitrag der Jugendverbände zum „Projekt P“. unserer Gesellschaft Zukunftschancen zu sichern. Ein Markenzeichen sozialdemokratischer Jugendpolitik ist, (Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD]) dass wir junge Menschen ernst nehmen. Wichtig war Hier entstehen Lernpartnerschaften zwischen Jugend- und ist uns, dass wir Politik nicht nur für, sondern auch lichen und politischen Instanzen. Ich selbst habe Ver- gemeinsam mit den jungen Menschen machen. träge mit dem schwul-lesbischen Jugendnetzwerk (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lambda und mit dem Kreisjugendring meines Wahlkrei- DIE GRÜNEN) ses geschlossen. Die Professionalität und die Bereit- schaft der Jugendlichen, Verantwortung zu übernehmen, Denn wer kennt die Nöte, die Ängste und die Bedürf- haben mich bei beiden Gruppen begeistert. nisse von Jugendlichen besser als sie selbst? Genau da- rum haben wir unsere Beteiligungskampagne ins Leben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gerufen. DIE GRÜNEN) Damit sind wir beim Thema Partizipation. Partizipa- Bei dem Projekt in meiner Heimatstadt Altenkirchen tion ist ein oft bemühtes Wort, das wir mit Leben gefüllt wird vor allem deutlich, dass gerade durch die projekt- haben. bezogene Förderung – unabhängig von bestehenden 15376 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Sabine Bätzing (A) politischen Organisationen – junge Menschen erreicht wollen, die sich entfalten. Darum sind Politiker im Rah- (C) werden können, die noch nie vorher mit politischem En- men der Gesetzgebung und jeder Einzelne von uns ver- gagement in Berührung gekommen sind. Ich habe zum antwortlich dafür, dass wir Kindern und Jugendlichen Beispiel einen Vertrag mit einer Gruppe von Cheerlea- Kompetenzen vermitteln, um selbstbewusst mit diesen dern, Mädchen von 9 bis 17 Jahren, zur erweiterten Nut- Risiken umzugehen. Prävention ist der beste Schutz. zung der örtlichen Turnhalle geschlossen. Auch das mit Erfolg. Diese hatten vorher noch nie Kontakt mit Politik (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gehabt. Hier haben sie zum ersten Mal ernstes Interesse Ganz besonders ist jeder verpflichtet, sich für Kinder für ihre Anliegen erfahren. Mit diesen Beispielen verantwortlich zu fühlen, deren eigene Eltern und Ange- möchte ich auch Sie ermutigen, sich am „Projekt P“ zu hörige sie missbrauchen und vernachlässigen; denn sie beteiligen. haben niemand außer vielleicht Ihnen, der auf sie Acht „Projekt P“ ist übrigens auch auf europäischer Ebene gibt. Die kleine Jessica aus Hamburg hatte leider nie- auf großes Interesse gestoßen. Eine Zusammenarbeit manden. Die Präventionskampagne „Hinsehen.Han- wird angestrebt – für die Demokratinnen und Demokra- deln.Helfen!“ ist ein durchaus erfolgreicher, aber noch ten von morgen. „Projekt P“ als Blaupause für die EU – lange nicht der letzte Schritt auf dem Weg zu einer ver- ich glaube, das ist ein großartiger Erfolg und führt uns antwortungsvollen und sensibilisierten Gesellschaft. vor allen Dingen direkt zu einem anderen wichtigen Be- Fernsehen, Internet und DVDs prägen das Aufwach- reich der Jugendpolitik, dem internationalen Jugend- sen in einer modernen Welt. Kein Medium ist von vorn- austausch. herein gut oder schlecht für unsere Kinder. Es kommt Wenn einer eine Reise tut, kann er viel erzählen, und immer darauf an, was man damit macht. Reisen bildet. Das wissen wir alle. Ein Blick über den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Tellerrand, die Erweiterung des eigenen Horizonts ist für des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) viele junge Menschen der Impuls für eine tolerante und interessierte Lebenseinstellung. Ob Schüleraustausch für Mit dem gesetzlichen Kinder- und Jugendmedien- zwei Wochen oder Auslandssemester, die Möglichkeiten schutz sind wir dabei einen großen Schritt nach vorn ge- sind vielfältig, die Erfahrung einmalig. Ob es nun unsere gangen. Medienkompetenz ist das Stichwort. Diese gilt Programme „Leonardo da Vinci“ oder „Sokrates“, das es Kindern und Eltern zu vermitteln. Die Kampagne EU-Programm „Jugend“ oder Aktionen außerhalb der „SCHAU HIN! Was deine Kinder machen.“ zeigt bei- EU sind: Insgesamt unterstützen wir den Jugendaus- spielhaft, dass wir alle in der Verantwortung stehen, tausch mit 16 Millionen Euro. wenn es um unsere Kinder geht. (B) (D) (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, aus Kindern werden Se- Aber auch die Wirtschaft trägt Verantwortung für die nioren. Damit komme ich zum Thema Jugend und De- junge Generation im Rahmen von Public Private Part- mographie. Wir Abgeordnete, und nicht nur wir, sind nership. nicht nur dem Hier und Jetzt verpflichtet, sondern auch der Zukunft. Wichtig ist aber auch, dass diese Angebote für den in- ternationalen Jugendaustausch nicht nur existieren, son- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dern dass sie den Jugendlichen auch bekannt und vor al- lem attraktiv für sie sind. Die Internetseiten des IJAB Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen oder „rausvonzuhaus.de“ sind an der Stelle gelungene Scheuer? Beispiele. Die machen richtig Lust auf die große weite Welt. Sabine Bätzing (SPD): (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Weg von Gerne, Herr Scheuer. Deutschland, das glaube ich!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Auch für Sie gilt: Einen Blick über den Tellerrand zu werfen ist nicht verkehrt. Wir machen es dann so, dass Sie die Antwort mit Ih- ren Schlusssätzen verbinden; denn Ihre Redezeit ist ab- Jugendaustausch trägt zum Aufbau von Vertrauen und gelaufen. zum Abbau von Ängsten bei. Damit tragen wir auch dazu bei, gegen den Rechtsextremismus anzugehen. Wir Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): haben etwas gegen Rechtsextremismus und Fremden- feindlichkeit, nämlich unser Aktionsprogramm „Jugend Frau Präsidentin! Hochgeschätzte Frau Kollegin für Toleranz und Demokratie“. Denn in toleranten, welt- Bätzing, Sie waren vorher beim Jugendschutz. Im natio- offenen Köpfen ist kein Platz für Hakenkreuze. nalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutsch- land“ wird ja von der Bundesregierung der Jugendschutz Sosehr wir den Kindern eine Welt ohne Grenzen wün- groß ausgebreitet. Können wir uns darüber unterhalten, schen, so sehr müssen wir uns auch den Gefahren stel- ob Ballerspiele und ähnliche Dinge verboten werden, len, denen sie dadurch ausgesetzt sind. Wir können sie wie wir es in dem von uns vor einiger Zeit eingebrachten nicht vor den Gefahren durch Drogen oder Gewaltme- Antrag vorgesehen haben, und würden Sie dabei mitma- dien wegsperren, wenn wir Kinder aufwachsen sehen chen? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15377

(A) Sabine Bätzing (SPD): wünschte, auch noch einmal in unserem Alter zu sein, (C) Herr Scheuer, ich bin nicht erstaunt, dass Sie das haben wir diesen Wunsch, jung sein zu wollen, vielleicht Thema schon wieder ansprechen. Wir haben uns ja be- noch verstanden. Wie sieht es denn heute aus? Ehrlich reits oft im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und gesagt möchte ich heute nicht in der Haut einer 16-Jähri- Jugend sowie im Ausschuss für Kultur und Medien da- gen stecken. rüber unterhalten. Ich habe Ihnen immer gesagt – und (Lachen bei der SPD – Zuruf von der SPD: das ist auch heute wieder meine Antwort –, dass wir das Quatsch!) Jugendschutzgesetz evaluieren. Die Perspektive für die Zukunft ist alles andere als (Zuruf von der CDU/CSU: Wie lange denn?) optimal: Dabei werden wir sehen, welche Entwicklungen es gibt. (Ute Kumpf [SPD]: Sie machen alles mies!) Wenn es dann erforderlich sein sollte, werden wir uns vielleicht auch über solche Maßnahmen Gedanken ma- Rekordverschuldung, Rekordarbeitslosigkeit, Rekordin- chen. solvenzen. Wenn Sie uns auffordern, Deutschland bei den jungen Menschen nicht mies zu machen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Ute Kumpf [SPD]: Sie machen es doch!) Eigentlich war ich ja schon in der Schlussphase mei- erwidere ich Ihnen: Sie dürfen die Lage auch nicht ner Rede, Frau Präsidentin, angekommen. Ich möchte schönzeichnen, sonst bricht man nämlich in das Eis ein. die Zeit nutzen, um mit Ausführungen zum Thema Hüten Sie sich davor, warnen Sie die Jungen und Generationengerechtigkeit meinen Beitrag in dieser ju- schauen Sie sich einmal die Zahlen an! Von diesem gendpolitischen Debatte zu beenden. Der Begriff Gene- Standpunkt aus müssen wir die Richtung noch einmal rationengerechtigkeit wird ja in Ihrer Großen Anfrage korrigieren. Das ist nämlich eine traurige Spitzenleis- erwähnt. Er wird aber durchaus unterschiedlich definiert. tung der Bundesregierung. Ich finde, er darf nicht nur, wie aus Ihren Fragen hervor- (Beifall bei der CDU/CSU) geht, auf die sozialen Sicherungssysteme bezogen wer- den. Er muss auch Eingang in die Finanzpolitik genauso Das, was für viele Jugendliche gewiss ist, ist, dass sie wie in die Bildungs- und Wirtschaftspolitik finden. die Rechnung dafür zahlen müssen, was heute schief Standortpolitik ist eben auch Jugendpolitik und Bil- läuft. Schauen wir uns das einmal genauer an: Sie wer- dungspolitik ist Standortpolitik. den die Rechnung für die optische Schönung von Ar- beitslosenzahlen zahlen müssen, Unsere Regierung, meine sehr geehrten Damen und (B) (D) Herren, hat Jugendpolitik als eine Querschnittsaufgabe (Widerspruch bei der SPD – Anton Schaaf erkannt. Die Interessen der jungen Menschen finden auf [SPD]: Wer hat denn die Zahlen immer ge- allen Handlungsebenen Berücksichtigung. Ohne die Ju- schönt? Es wäre schon angebracht, dass Sie gend und ohne ein Miteinander von Jung und Alt sieht wahrhaftiger wären!) unser Staat alt aus. Damit ist kein Staat zu machen. sie werden die Rechnung für das Türken von Bundes- Herzlichen Dank. haushalten und für den Verkauf des Tafelsilbers, der von Ihnen betrieben wird, zahlen müssen. Sie werden auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Rechnung für die Abschaffung des demographischen DIE GRÜNEN) Faktors unter Rot-Grün bezahlen müssen, der dann irgendwann wieder unter dem Namen Nachhaltigkeits- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: faktor – der Begriff Nachhaltigkeit wird ja sehr oft infla- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Julia Klöckner. tionär gebraucht – eingeführt wurde. (Beifall bei der CDU/CSU) (Jörg Tauss [SPD]: Studiengebühren, nicht?) – Leider ist Ihre Jugendzeit, Herr Tauss, schon länger Julia Klöckner (CDU/CSU): vorbei. Sie hatten es vielleicht noch ganz gut. Für die Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- heutige Jugend sieht es aber anders aus. legen! Frau Kollegin Bätzing, Sie haben eben gesagt, die Bundesregierung will Lust auf die große weite Welt ma- (Ute Kumpf [SPD]: Was?) chen. Ich muss Ihnen da entgegenhalten: Wir wollen un- Die verfehlte Renten- und Gesundheitspolitik trägt das seren Jugendlichen erst einmal Lust auf Deutschland, Ihrige dazu bei. auf ihr Heimatland, machen. Das Schlimmste, was diese Regierung – die heute lei- (Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Bätzing der sehr übersichtlich hier vertreten ist – der Jugend an- [SPD]: Es geht um den Austausch und das Er- tun kann, ist, ihr den Glauben an die Zukunft zu nehmen. lernen gegenseitiger Toleranz!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der eine will die Jugend ewig haben, der andere will noch einmal 16 sein. Angeblich soll ja die Jugendzeit Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie eine der schönsten im Leben sein. Damals, als Sie und reden ja gerne von Nachhaltigkeit. Sie benutzen dieses ich vielleicht noch 16 waren und sich so mancher Wort ziemlich oft und inflationär, wodurch es immer 15378 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Julia Klöckner (A) inhaltsleerer wird. Nachhaltig wäre es gewesen, wenn Betriebe sie nicht wollten, sondern weil den Betrieben (C) Sie unserem Antrag auf Einrichtung eines Zukunftsaus- von der Bundesagentur für Arbeit Praktikanten angebo- schusses vom vergangenen Jahr zugestimmt hätten. Jähr- ten werden, die mobil sind und Auto fahren können. Ein liche Generationenbilanzen und Gesetzeschecks vor dem Lehrling kostet Zeit, Nerven und auch Geld und die Hintergrund der Generationengerechtigkeit wären ein Praktikanten werden zurzeit wie „sauer Bier“ angeboten. Warnsignal gewesen, auch über die nächsten Wahlen hi- Das hat einen Kannibalisierungseffekt. Auf der einen naus. Seite fordern Sie, dass die Betriebe einstellen, auf der anderen Seite subventionieren Sie diesen Ausverkauf. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mittlerweile lebt – Sie haben es im Armutsbericht ge- lesen – jedes zehnte Kind in relativer Armut. Hinzu Schauen Sie, dass Ihre Umsetzungen stringent sind! Be- kommt ein neuer Aspekt, dem wir uns noch nicht kundungen allein helfen nicht, schon gar nicht den Ju- genügend zugewendet haben: die Verschuldung von gendlichen. Jugendlichen und die Verstrickung in Kostenspiralen. Das ist ein neues Problem, das auf uns zurollt. Die Kauf- Zum Thema Rechtsextremismus hat schon mein anreize sind groß, Verträge sind problemlos geschrieben, Kollege Michael Kretschmer einiges gesagt. Da stehen bargeldlos ist schnell eingekauft. Die jugendliche Ziel- wir alle zusammen, auch parteiübergreifend. gruppe steht im Fokus von Lockangeboten. Auch die ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mangelnde Kenntnis vom Haushalten, vom Umgang mit NEN]: Hoffentlich!) Geld wird ein Problem werden, dem wir uns zuwenden wollen. Hier brauchen die jungen Menschen unsere Un- Wir sind uns sicher, dass Demokratie und ein tolerantes, terstützung. weltoffenes, soziales Miteinander erlernbar sind. Wir möchten die Jugendlichen nicht abschreiben. Aber eines Es wird gewiss nicht einfacher werden, für die Ju- fällt uns schon auf. Jugendliche sind dort gefestigt, wo gendlichen in diesem Land eine Lanze zu brechen. Wir sie in ländlichen Strukturen, Vereinen und demokratisch reden fast über Minderheitenpolitik. legitimierten Jugendgruppen integriert sind. Uns wun- (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Julia, etwas dert, dass die Bundesregierung gerade die Gelder für langsamer, die Regierung möchte zuhören!) diese Jugendorganisationen streicht. – Das ist ein bisschen schwierig. Wahrheiten tun oft (Sabine Bätzing [SPD]: Das stimmt doch gar weh. – Bis 2050 wird sich der Anteil der unter 20-Jähri- nicht!) gen von derzeit 21 Prozent auf 16 Prozent verringern. – Wenn das nicht stimmt, hat leider auch Ihr Juso-Vorsit- (B) Besonders bedrückend ist die Entwicklung im länd- (D) zender aufgrund einer falschen Sachlage die Bundes- lichen Raum. Ein Blick zeigt, dass die Jugend dort sehr regierung kritisiert. – Diese Jugendorganisationen müs- schwach vertreten ist bzw. abwandert. Laut Statisti- sen unterstützt werden, damit Demokratie erlernbar schem Bundesamt sind nur rund 19 Prozent der Bevöl- bleibt. kerung im ländlichen Raum angesiedelt. Abgewandert sind von 1996 bis 2001 rund 300 000 Jugendliche. Die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dörfer aber entwickeln sich nur mit den Jugendlichen und umgekehrt entwickeln sich die Jugendlichen mit ih- Ein letzter Blick auf die Landwirtschaft. Diese Bun- ren Dörfern. desregierung hat nur eine Museumslandschaft im Auge. Ich denke in diesem Zusammenhang an Ministerin Eine kräftige Wirtschaft ist einer der wichtigsten de- Künast, die ein Denkverbot in Richtung Grüne Gentech- mographischen Faktoren. Laut Aussage der Bundesre- nik ausgesprochen hat. Die Landwirtschaft ist aber mehr gierung, auch in einer Antwort auf unsere Große An- als nur eine Museumslandschaft. Sie ist ein starker Wirt- frage – die, nachdem sie so oft verschoben wurde, schaftsfaktor; denn die Produktivität pro Arbeitskraft ist vorgestern Abend auf dem Tisch lag; ich finde es eine in den letzten Jahren gestiegen. Außerdem bietet sie mit Unverschämtheit, dass Sie sich jetzt auf eine Antwort 13 grünen Berufen den Jugendlichen eine Zukunft. beziehen, über die noch nicht einmal die Staatssekretärin gesprochen hat; außerdem ist es ein starkes Stück, ein- Wenn die Bundesregierung den Jugendlichen wirklich fach nur einen Berg Papier zu produzieren; Gesetze müs- eine Chance geben will, dann darf sie nicht weiter den sen Sie uns in der Antwort nicht erklären, die können wir Ausverkauf unserer Landwirtschaft betreiben. Wir brau- selbst nachlesen, stattdessen hätten wir gerne konstruk- chen vielmehr ein Bekenntnis zur Landwirtschaft im tive Ansätze und Perspektiven für die Zukunft erfah- deutschen Raum und wir müssen diejenigen unterstüt- ren –, zen, die Betriebe übernehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie uns die Jugendlichen und die Kinder in den Mittelpunkt unserer Politik stellen! Bei dem, was ist es ihr Ziel, allen Jugendlichen die Chance einer jetzt entschieden wird, sollten Sie nicht nur an die Ausbildung zu eröffnen. Das hört sich sehr gut an. Aber nächste Wahl denken, sondern auch daran, dass diejeni- wie sieht es denn konkret aus? In unsere Abgeordneten- gen, die nach uns kommen, die späteren Lasten und Kos- sprechstunden kommen in jüngster Zeit immer mehr Ju- ten tragen müssen. gendliche, die sich darüber beklagen, dass ihre Lehrver- träge aufgelöst werden, und zwar nicht deshalb, weil ihre (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15379

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Unsere Reform der Kinder- und Jugendhilfe sieht (C) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Griese. anders aus. Wir werden sie sinnvoll und nachhaltig wei- terentwickeln. Wir werden dabei übrigens die Kommu- (Beifall bei der SPD) nen entlasten. Wir werden keine Ausgaben streichen, sondern wir werden dafür sorgen, dass jedes Kind und Kerstin Griese (SPD): jeder Jugendliche, das bzw. der Hilfe braucht, diese Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hilfe auch bekommt. Liebe Kollegin Klöckner, diese Schwarzmalerei passt eigentlich gar nicht zu Ihrem Gemüt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Woher kennen Sie mein Gemüt?) Wir werden die Jugendämter stärken und wir werden das Kinder- und Jugendhilfegesetz weiterentwickeln, um Wir sollten nicht alles schwarz malen, sondern wir soll- Missbrauch zu verhindern. Wir werden die Eingliede- ten uns die Fakten einmal genau ansehen. Es gibt durch- rungshilfen zielgenauer formulieren und die Qualität aus ernsthafte Probleme. Daher muss man ernsthaft nach sichern. Wir werden außerdem – auch das gehört zur Lösungen suchen und darf nicht billige Taktiererei be- sozialen Gerechtigkeit – finanzstarke Eltern stärker an treiben. den Kosten beteiligen. Es handelt sich also um eine gute (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und sinnvolle Weiterentwicklung von bestehenden Re- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gelungen und um eine sinnvolle Investition in die Zu- kunft von Kindern und Jugendlichen. Der Rekordhalter im Schuldenmachen ist immer noch Theo Waigel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Ich nenne Ihnen ein zweites Beispiel, das zeigt, wie Man muss sich einmal die Entwicklungen ansehen, um wir die Chancen und Teilhabemöglichkeiten von Kin- erkennen zu können, was wir für die Zukunft unseres dern und Jugendlichen verbessern können. Es geht um Landes und für die Zukunft unserer Kinder und Jugend- den Bereich Ausbildung, der schon häufig angesprochen lichen tun können. worden ist. Sie sollten nicht immer mit einem Finger auf Wenn man einmal die verschiedenen Lösungen ver- andere zeigen; denn vier Finger zeigen auf Sie zurück. gleicht, die die Opposition Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung, die Ausbil- dungssituation zu verbessern. Wir haben den Ausbil- (Anton Schaaf [SPD]: Da haben wir gar nichts (B) dungspakt auf den Weg gebracht. Es zeigen sich bereits (D) gehört!) deutliche Erfolge. Es gibt mehr Ausbildungsplätze, weil und die SPD und die Grünen anbieten, dann kann man sich Politik und Unternehmen verstärkt darum geküm- sehr deutliche Unterschiede feststellen. Herr Scheuer, mert haben, dass Jugendliche eine Chance bekommen. ich möchte zunächst ein Beispiel aus Bayern anführen. Die Lösung, die Sie in Ihrem „Pakt für Deutschland“ Der Freistaat Bayern hat – unterstützt von der CDU/ vorschlagen, beinhaltet als einzigen Ansatz, die Bestim- CSU – in den Bundesrat das kommunale Entlastungs- mungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes zu verschär- gesetz eingebracht. Schauen wir uns dieses Gesetz doch fen. Es wird dabei aber vergessen, dass darin weder die einmal genauer an. Es beinhaltet, dass soziale Leistun- Vergütung noch Einstellungsvoraussetzungen geregelt gen in den Kommunen reine Sparmasse sein sollen und werden. Mit den Änderungen im Jugendarbeitsschutzge- dass ein Finanzvorbehalt eingeführt werden soll. Das wi- setz wollen Sie nur die Regelungen hinsichtlich der Ar- derspricht aber dem, was im Sozialgesetzbuch steht, beits- und Ruhezeiten für Jugendliche verschlechtern. nämlich dass die Menschen ein Recht auf ein menschen- Ich glaube, das ist nicht der richtige Ansatz, um Jugend- würdiges Dasein haben. Die von Ihnen geplante Einfüh- lichen mehr Chancen auf Bildung zu geben. rung einer Finanzklausel würde dazu führen, dass die Ausgaben für Kinder und Jugendliche nur noch Manö- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vriermasse wären. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der Ausbildungspakt ist ein Erfolg. Seit 2004 konnte des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Zahl der Ausbildungsverträge zum ersten Mal wieder erhöht werden. Bundesweit wurden 573 000 Ausbil- Sie senden ein falsches Signal aus. Denn Ihre Vor- dungsverträge abgeschlossen. Das ist ein Plus von fast schläge beinhalten, dass Menschen, die wirklich Hilfe 3 Prozent. Ich sage aber sowohl an die Adresse der Un- brauchen, sie nicht in Anspruch nehmen können und ternehmen als auch an die Adresse der Politik sehr deut- dass sie nur zu einer finanziellen Belastung der Kommu- lich, dass das noch nicht genug ist. Aber diese Trend- nen degradiert werden. Wir brauchen eine sozial ge- wende, die wir eingeleitet haben, ist ein erster richtiger rechte Lösung. Wir müssen zwar die Finanzierbarkeit Schritt. beachten. Aber die Hilfe für Menschen, die sie brauchen, muss im Vordergrund stehen. Die Konzepte der Union Ein drittes Beispiel dafür, was wir Sinnvolles tun, ist beinhalten dagegen nur Abbau von Rechten. Die Ju- der europäische Pakt für die Jugend. Wir haben heute gendlichen in Bayern sollten sich daher genau überle- schon über Identität und Werte gesprochen. Dies ist eine gen, wo sie ihr Kreuz machen. Diskussion, die ich für durchaus wichtig halte. Ich finde 15380 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Kerstin Griese (A) es deshalb gut, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder und Eigenverantwortung zu übernehmen. Diese Arbeit (C) zusammen mit drei anderen Staats- und Regierungschefs unterstützen wir im Kinder- und Jugendplan. die Errichtung eines europäischen Pakts für die Jugend vorgeschlagen hat, um die Jugendpolitik als Quer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schnittsaufgabe in der Europäischen Union zu verankern DIE GRÜNEN) und die junge Generation in Europa zukunftsweisend Ich denke, dass wir hoffentlich gemeinsam erkannt auszubilden, ihr Beschäftigungschancen zu geben und haben – dies müssen wir aber auch umsetzen –, dass die ihr natürlich auch, Frau Klöckner, Chancen auf Jugend- Integration von Jugendlichen besonders aus dem Kreis austausch zu geben. Ein solcher Austausch ist doch dazu der Spätaussiedler und ausländischer Jugendlicher bzw. da, dass man etwas lernt, mit diesem Wissen wieder- Jugendlicher mit Migrationshintergrund äußerst wichtig kommt und es hier im Lande anwenden kann. Wir alle ist. Sie kennen vielleicht das Programm „Entwicklung kennen Jugendliche, die an dem Parlamentarischen Pa- und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunk- tenschafts-Programm des Bundestages teilgenommen ten“. Dies ist ein wichtiges Programm, in das viele EU- haben, und wissen, wie sinnvoll es ist. Wir wollen aber, Mittel fließen. Fast 1,8 Millionen Euro werden im Haus- dass mehr Jugendliche diese Chance erhalten. halt des Jugendministeriums zur Verfügung gestellt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Damit wird vor Ort, in den Stadtteilen, soziale Ausgren- DIE GRÜNEN) zung bekämpft, werden Kompetenzen und Qualifikatio- nen für die Zukunft erworben und Eigenverantwortung Uns geht es darum, das, was im Weißbuch Jugend und soziales Engagement gestärkt. Es werden soziale vorgesehen ist, nämlich Partizipation, Information und Räume geschaffen, die eine Aus- und Weiterbildung er- mehr Freiwilligendienste, tatsächlich in Deutschland zu möglichen. Das ist ein sinnvoller Schritt, um dies tat- verankern. Dafür haben wir wichtige Projekte gestartet; sächlich nachhaltig – da hat das Wort seine richtige Be- meine Kolleginnen haben schon darauf hingewiesen. deutung – zu sichern. Ich will zu einem weiteren Punkt etwas sagen; denn Wir haben im Bereich des Internets große Fort- Sie behaupten immer wieder, wir hätten die Mittel für schritte gemacht; darüber haben wir schon häufig disku- die Jugendverbände gekürzt. Das stimmt nicht. Wir ha- tiert. Wir haben, nachdem die Schulen in Deutschland ben im derzeitigen Haushalt – im Gegenteil – die Mittel am Netz sind – obwohl wir dort gern noch mehr Compu- im Kinder- und Jugendplan noch einmal um 2 Millionen ter und eine bessere Ausstattung hätten –, einen nächsten Euro erhöht. Wenn man sich all die Streichungsvor- wichtigen Schritt mit der Bundesinitiative „Jugend ans schläge, die auf dem Tisch lagen, ansieht, kommt man zu Netz“ gemacht. Damit wird Jugendlichen in Jugendein- dem Ergebnis, dass es viel schlimmer hätte aussehen richtungen die Möglichkeit eines Zugangs zu Computern (B) können. Wir haben also die Mittel erhöht und zusätzlich und damit zum Internet gegeben. Das ist ein kostengüns- (D) EU-Mittel, die diese Summe um ein Vielfaches überstei- tiges Angebot. Das führt dazu, dass mehr Jugendliche gen, ganz gezielt im Bereich der Jugendlichen einge- auf das Internet zugreifen können. setzt. Sie sehen, wir haben alles in allem viel getan, damit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jugendliche eine größere Perspektive und Chancen ha- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ben. Es geht darum, gemeinsam mit Kindern und Ju- gendlichen für Kinder und Jugendliche die Zukunft zu Besonders wichtig ist dabei das Programm „Jugend gestalten. Wir haben die Investitionen in Bildung und für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremis- Ausbildung erhöht. mus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. Die Mittel für dieses Programm haben wir – das wissen Sie; Dazu muss man ganz deutlich sagen: Ich glaube, es ist wir haben darüber diskutiert – nicht gekürzt. Wir halten weitaus sinnvoller, in Bildungschancen, in Kinderbe- diese Aufgabe vielmehr weiterhin für äußerst wichtig. treuung und in Bildungsangebote für Kinder und Ju- gendliche zu investieren als weiterhin in die Eigenheim- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zulage. Das wäre ein Schritt, bei dem Sie beweisen DIE GRÜNEN) könnten, dass Sie in die Zukunft investieren wollen. Das Deutsch-Polnische und das Deutsch-Französi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sche Jugendwerk sind zwei wichtige Säulen des Jugend- DIE GRÜNEN) austausches. Wir haben mit Tandem im Rahmen des deutsch-tschechischen Jugendaustausches und mit Con- Wir haben einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Wir Act im Rahmen des deutsch-israelischen Jugendaustau- haben die Angebote für Kinder und Jugendliche verbes- sches und jetzt neu mit dem deutsch-russischen Jugend- sert. Wir alle wissen, dass es heute für junge Frauen und austausch einen wichtigen Schritt gemacht und finan- Männer wichtig ist, dass die Kinderbetreuung ausgebaut zielle Mittel dafür eingesetzt, dass Jugendliche die wird, damit sie die Chance haben, ihre Kinderwünsche Erfahrung des Jugendaustausches machen können. zu verwirklichen und damit Männer und Frauen sich tat- sächlich gleichberechtigt berufliches Engagement und Ich will in diesem Zusammenhang die gute und wich- Erziehungsarbeit teilen können. tige Arbeit der Jugendverbände ausdrücklich hervorhe- ben, die einen wertvollen Beitrag dafür leisten, dass Kin- Dieses Thema gehört ebenso zur Jugendpolitik, auch der und Jugendliche in unserer Gesellschaft lernen, wenn das in den 225 Fragen Ihrer Großen Anfrage nicht solidarisch und demokratisch miteinander aufzuwachsen vorkommt. Die Masse macht ja bei den Anfragen oft Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15381

Kerstin Griese (A) nicht die Klasse. Auch wir haben in der letzten Wahl- Da Lesen bildet und wir lebenslang lernen wollen, (C) periode eine Große Anfrage zur Jugendpolitik gestellt. Frau Staatssekretärin, zitiere ich die von Ihnen angege- Vielleicht schauen Sie noch einmal nach; wir haben bene Zahl der Ausbildungsplätze, die die Bundesver- 81 Fragen gestellt. Aber diese haben alle Themenfelder waltung anbietet. Auf Seite 5 der Antworten ist von umfasst, die Kinder und Jugendliche angehen. Deshalb 30 Prozent die Rede, um die sich die Zahl dieser Ausbil- muss auch das, was wir im Bereich der Frühförderung dungsplätze erhöht hat. von Kindern tun, eine wichtige Rolle spielen. Die Opposition liest. Alles in allem muss unser Motto lauten: „Auf ins Le- (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE ben“, und zwar mit vielen guten Ansätzen, die die jun- GRÜNEN]: Daran habe ich keinen Zweifel, gen Menschen unterstützen. Die „Rheinische Post“ Frau Fischbach!) schreibt auf der Titelseite ihrer heutigen Ausgabe: Die Jungen kommen. Ich glaube, wir brauchen keinen billi- Sie hat das in der Schule noch gelernt. In den guten Re- gen Schlagabtausch. Wenn es darum geht, die Chancen gierungszeiten von Helmut Kohl haben wir noch richtig von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, ist viel- viel mitbekommen. mehr eine ernsthafte Zusammenarbeit notwendig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben als rot-grüne Koalition gute Ansätze ge- Wir haben sogar bis Seite 86 gelesen. wählt und wirkliche Verbesserungen erzielt. Ich kann Ich zitiere nochmals aus Seite 5: das für mein Bundesland Nordrhein-Westfalen bestäti- gen, wo mit einer nachhaltigen Jugendpolitik die Ju- Die Bundesregierung hat ihrerseits im Jahr 2004 gendarbeit deutlich gestärkt wird. Das werden die Ju- die Zahl der Ausbildungsplätze in der Bundesver- gendlichen auch merken. waltung um 30 Prozent erhöht. Vielen Dank. Ich zitiere aus Seite 86: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Bundesregierung erhöht die Zahl der Ausbil- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dungsplätze in der Bundesverwaltung in 2004 um 20 Prozent. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Julia Klöckner [CDU/CSU]: 10 Prozent ma- Jetzt müssen Sie erst einmal durchatmen. – Das Wort chen nichts aus! Das ist wie beim Bundeshaus- hat nun die Abgeordnete Ingrid Fischbach. halt!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn ich bis Seite 210 weiterlese, dann sind es 10 Pro- (B) zent und in Wirklichkeit null. (D) Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Allein dieses Beispiel – auf weitere gehe ich gar nicht Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ein – zeigt, wie Sie auf die Anfrage eingehen und mit ich muss erst einmal Luft holen, Frau Griese. Es trifft welcher Ernsthaftigkeit Sie sie beantwortet haben. nicht nur zu, dass in der Masse nicht die Klasse liegt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sondern auch nicht in der Schnelligkeit. Es war sehr Klaus Haupt [FDP]) schwer, Ihnen zuzuhören. Vielleicht war sogar etwas Das ist ein Schlag ins Gesicht der jungen Leute, die sich Gutes dabei. Wir konnten Ihnen aber kaum folgen. von Ihnen veräppelt fühlen. (Sabine Bätzing [SPD]: Wir haben es ge- (Beifall bei der CDU/CSU) schafft! – Christel Humme [SPD]: Jetzt stellen Sie aber Ihr Licht unter den Scheffel!) Anders als Sie haben wir nicht gesagt: Auf den An- fang kommt es an. Wir meinen vielmehr, dass es auf die Ich bin richtig aufgeregt und muss mich erst einmal et- Jugend ankommt. Deshalb haben wir im vergangenen was beruhigen. Jahr ein erstes Expertengespräch in der Fraktion durch- Wir haben aber trotzdem zugehört. Sie haben vom geführt, in dem junge Leute aus ganz Deutschland zu lebenslangen Lernen gesprochen und festgestellt, dass Wort kamen. Lesen bildet. (Christel Humme [SPD]: Konsequenz?) (Christel Humme [SPD]: Zuhören manchmal Wir haben zugehört. Aufgrund der Wünsche und Vor- auch!) stellungen der jungen Leute ist die vorliegende Anfrage zustande gekommen. Wir geben ihnen nämlich nicht vor, Diese Tatsache gilt nicht nur für die Opposition, sondern was sie zu fragen oder zu beanspruchen haben oder wel- sicherlich auch für die Regierung. che Ideen sie äußern sollen. (Beifall bei der CDU/CSU – Jutta Dümpe- Frau Staatssekretärin, Sie haben bedauert, dass Kin- Krüger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die derbetreuungsangebote und frühe Förderung in unserer gilt für alle!) Anfrage fehlen. Diese Punkte interessieren die Jugendli- Sie gilt auch für die Frau Staatssekretärin, die die Ant- chen zurzeit überhaupt nicht. Sie haben andere Sorgen, und zwar hinsichtlich der Arbeitslosigkeit. worten aus ihrem eigenen Haus nicht gelesen zu haben scheint. (Beifall bei der CDU/CSU) 15382 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Ingrid Fischbach (A) Sie aber sind nur in den letzten drei Minuten Ihrer zwölf- Es ist kein Zweifel: Unser drängendstes und auch (C) minütigen Rede mit ein paar Halbsätzen auf die Arbeits- schmerzhaftestes Problem bleibt die Massenarbeits- losigkeit eingegangen, Frau Staatssekretärin. Deshalb losigkeit. Sie führt zu psychischen Zerstörungen, denke ich, dass Sie an der Jugend vorbeireden. Sie wis- zum Zusammenbruch von Sozialstrukturen. Den ei- sen nicht, was die Jugend bewegt und was sie will. nen nimmt sie die Hoffnung, und den anderen macht sie Angst. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Klaus Haupt [FDP]) Das haben nicht wir gesagt, sondern Ihr Kanzler. Ich möchte einige Sätze des Bundeskanzlers aus dem (Klaus Haupt [FDP]: Wo der Kanzler Recht Jahr 1998 zitieren: Wir brauchen eine bessere Ausbil- hat, hat er Recht!) dung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeitslosigkeit Wo er Recht hat, hat er Recht. zurückgedrängt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wie sollen unsere jungen Menschen unsere Gesell- Klaus Haupt [FDP]) schaft und unsere Zukunft gestalten, wenn wir ih- nen nicht die Möglichkeit geben, für sich selber zu Herr Müntefering hat am 6. dieses Monats gesagt: sorgen? Wir stehen für das Zukunftsprojekt Wir haben die Arbeitslosigkeit in der Größenordnung Deutschland. Wir machen keine unhaltbaren Ver- 98 Helmut Kohl plus Statistik Hartz. Es ist ein Schlag sprechungen. ins Gesicht der jungen Leute, wenn er weiter ausführt: „Das ist bedrückend viel, aber es ist nicht mehr gewor- Wir alle wissen, dass die Arbeitslosenzahlen 1998/99 den. Liebe Leute, so geht das nicht. zurückgingen. Insofern stellen die Zahlen von heute – sechs Jahre nach Beginn Ihrer Regierungszeit – einen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. dramatischen Anstieg allein gegenüber dem Vorjahr dar. Klaus Haupt [FDP] – Eckart von Klaeden Die Jugendarbeitslosigkeit hat sich um 28,5 Prozent er- [CDU/CSU]: Eine Verhöhnung der Arbeitslo- höht. sen ist das!) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: 28,5 Prozent! Nun gehe ich ganz kurz auf zwei weitere Aspekte ein, Sehr bitter!) die Sie sehr gerne ansprechen. Frau Dümpe-Krüger, zum KJHG. Ist Ihnen der gemeinsame Antrag Nordrhein- 680 000 junge Menschen unter 25 sind ohne Arbeit. In Westfalens und Bayerns zu den Änderungen im KJHG Nordrhein-Westfalen – Frau Griese, Sie haben auf NRW bekannt? hingewiesen – ist der Anstieg der Arbeitslosigkeit ebenso eklatant: Dort sind im Februar 23 000 junge (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) (D) Leute mehr ohne Arbeit, insgesamt nun 129 300. NEN]: Ich sage nur: Finanzkraftklausel!) Nun sagen Sie, das liege an den Hartz-Gesetzen und In Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, aus dem Sie das sei so, weil Sie das gesamte System umgestaltet hät- kommen, wurde eine Volksinitiative gegen die Kürzun- ten. Ich nenne Ihnen nur einmal die Zahlen, die uns zu gen durchgeführt, die das Land im Jahr 2003 im gesam- neuen Ausbildungsverträgen vorliegen. Bereits im ten Jugendbereich durchführen wollte. Wenn nicht die Jahr 2001 sank die Anzahl der neuen Ausbildungsver- CDU und verschiedene Organisationen, zum Beispiel träge. Damals waren noch keine Hartz-Gesetze in Kraft. Jugendverbände, gemeinsam eine Volksinitiative ins Le- Allein im Jahr 2003 sank die Anzahl der Ausbildungs- ben gerufen hätten, hätten Sie dort schon im Jahre 2003 verträge junger Leute um mehr als 20 000. Das hat also – und zwar ohne Bayern – die Mittel gekürzt. nichts mit den Hartz-Gesetzen, sondern mit verfehlter Wirtschaftspolitik zu tun. Das möchte ich Ihnen einmal (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE sagen. GRÜNEN]: Das hätten wir gar nicht, Frau Fischbach! Kein Stück! Das wissen Sie ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nau!) Klaus Haupt [FDP]) Das ist die Realität. Jetzt komme ich auf Frau Dümpe-Krüger zu spre- chen. Wer lesen kann, ist glatt im Vorteil. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Da wird ja (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE gefälscht, dass sich die Balken biegen!) GRÜNEN]: Ja, das ist so!) Das muss ich leider auch der Kollegin Griese sagen. Sie haben ja aus dem zweiten Abschnitt unserer Großen Ich könnte es mir einfach machen, Frau Griese, und sa- Anfrage zitiert: gen: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird sich ent- sprechend all den Gesprächen, die wir geführt haben, Wenn aber die Politik der Bundesregierung Bedin- verhalten gungen und Zukunftsaussichten für die junge Gene- ration massiv negativ beeinträchtigt, drohen selbst (Zuruf von der SPD: Das könnten Sie auch für optimistische Jugendliche Verunsicherung und ruhig ernsthaft machen!) Perspektivlosigkeit. und ihre Entscheidung im Interesse der Jugendlichen Meine Damen und Herren, Sie sollten einmal hören, was treffen. Aber, wie gesagt: Lesen bildet. Wer liest, ist glatt der Kanzler dazu gesagt hat: im Vorteil. Daher empfehle ich Ihnen, Frau Griese, die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15383

Ingrid Fischbach (A) Lektüre Ihres Gesetzentwurfes zum SGB XII, den Sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) – auch das ist schon eine Weile her – im Jahre 2003 vor- Ich schließe damit die Aussprache. gelegt haben. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Jetzt müssen Sie bitte auf Ihre Redezeit achten. Keine gierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten langen Lesereien mehr! Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen Ingrid Fischbach (CDU/CSU): – Drucksache 15/3640 – Das ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin. – In Ihrem Gesetzentwurf zum SGB XII steht unter § 70 – Einrich- (Erste Beratung 124. Sitzung) tungen und Dienste –: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Die Vereinbarungen müssen den Grundsätzen der ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungs- fähigkeit entsprechen und – Drucksache 15/5049 – – jetzt kommt es – Berichterstattung: Abgeordneter Hubertus Heil die Finanzkraft der öffentlichen Haushalte ange- messen berücksichtigen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit Das ist nichts anderes als eine Finanzkraftklausel. (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Diese war in Ihrem Gesetzentwurf zum SGB XII enthal- Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, Daniel Bahr ten. (Münster), weiterer Abgeordneter und der Frak- (Christel Humme [SPD]: Sie vermischen da tion der FDP was! Das ist falsch!) Für einen wirksamen Wettbewerbsschutz in – Nein, wir vermischen gar nichts. Sie müssen nur rich- Deutschland und Europa tig lesen. – Drucksachen 15/760, 15/3136 – (Beifall bei der CDU/CSU – Christel Humme [SPD]: Also, Frau Fischbach, Lesen bildet! Berichterstattung: Lesen Sie das noch einmal nach!) Abgeordneter Hartmut Schauerte (B) – Ich lese wahrscheinlich besser und schneller als Sie, Zum Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes ge- (D) weil ich eine Brille aufhabe. Aber eine Brille haben Sie gen Wettbewerbsbeschränkungen liegen ein Entschlie- ja auch, Frau Humme. ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und zwei Ent- schließungsanträge der Fraktion der FDP vor. Ich möchte Sie daran erinnern: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Nicolette Kressl [SPD]: Ich glaube, Sie sind die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Wi- eigentlich fertig!) derspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Die Jugend will und braucht Zukunft. Die CDU/CSU- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Fraktion bietet der Jugend Zukunft. Da Sie nicht alles der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt. anders, aber vieles besser machen wollten, und der Kanzler gesagt hat, wir seien abgewählt worden, – Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: desminister für Wirtschaft und Arbeit: Frau Kollegin! Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist zweifelsfrei Ingrid Fischbach (CDU/CSU): für die Wirtschaftsordnung unseres Landes von großer – weil wir die Arbeitslosigkeit nicht in den Griff be- Bedeutung. Tatsächlich zeigt die Erfahrung: Ein funktio- kommen haben, vermute ich, – nierender Preis- und Qualitätswettbewerb ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, jetzt geht es nicht mehr. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Er ist unerlässlich, wenn die Wahlmöglichkeiten und die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bewertungsfähigkeit der Verbraucher sichergestellt sein sollen. Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Anlass und Hauptanliegen des vorliegenden Gesetz- – dass auch Sie abgewählt werden, spätestens im entwurfes ist die Anpassung des deutschen Wettbe- Jahr 2006. werbsrechts an das zum 1. Mai 2004 geänderte europäi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sche Wettbewerbsrecht. Die Zeit drängt. Seit letztem Klaus Haupt [FDP]) Mai gilt für die deutschen Unternehmen zweierlei Recht: 15384 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) ein deutsches für rein regionale und lokale Vereinbarun- des Bußgeldrahmens. Auch der Rechtsschutz Privater (C) gen, ein europäisches für nationale und grenzüberschrei- gegen Kartellrechtsverstöße wird verbessert. Unterlas- tende Bindungen. Es ist Zeit, diesen Zustand zu been- sungs- und Schadensersatzansprüche werden deutlich er- den. leichtert. In diesem Zusammenhang weist der Gesetzent- wurf auch den Verbraucherverbänden – das möchte ich (Beifall bei der SPD) besonders hervorheben – eine stärkere Rolle bei der Ziel ist, das deutsche Wettbewerbsrecht europatauglich Durchsetzung des Wettbewerbsrechts zu: zu machen; denn das europäische Recht hat Vorrang vor (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten anders lautenden nationalen Vorschriften. Wo dies der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Fall ist, zeichnen wir im Gesetzentwurf europäisches Recht nach. Aber auch dort, wo wir eigene Gesetzge- Sie können Unterlassungsansprüche geltend machen, bungshoheit haben, bei Vereinbarungen ohne zwischen- vor allem aber können sie von Kartelltätern unter be- staatliche Relevanz, übernehmen wir die Prinzipien stimmten Voraussetzungen die Herausgabe der so ge- europäischen Rechts. Das Verbot wettbewerbsbeschrän- nannten Kartellrendite verlangen, also der Einnahmen, kender Vereinbarungen wird an das europäische Recht die zu Unrecht durch die Unternehmen realisiert worden angepasst. Gleiches gilt für die Ausgestaltungen der sind; ich denke, auch das ist ein ganz wichtiger Fort- Ausnahmen von dem Kartellverbot. So entsteht im Inte- schritt durch dieses Gesetz. Dies alles – ich sage es noch resse der Unternehmen ein einheitliches Wettbewerbs- einmal – stärkt das Wettbewerbsprinzip und macht deut- recht, das wir dringend benötigen. Die Unternehmen lich, dass funktionierender Wettbewerb immer auch dem können sich nunmehr auf einheitliche Rechtsstandards Verbraucher dient und dass wir, diese Bundesregierung einstellen. und die Koalitionsfraktionen, den Wettbewerb in diesem Lande ganz entschieden fördern, weil wir von seinen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorteilen überzeugt sind. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich möchte an dieser Stelle auch darauf hinweisen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass dies insbesondere für unsere kleinen und mittleren Unternehmen wertvoll ist und für sie dadurch eine Insbesondere zwei Änderungen waren in den letzten Gleichbehandlung mit den großen Unternehmen ermög- Monaten Gegenstand vertiefter Diskussion: Erstens. Im licht wird. Bereich der Zusammenschlusskontrolle wird der vor- läufige Rechtsschutz gegen Freigabeentscheidungen des Wie im europäischen Recht wird das bisherige An- Bundeskartellamtes maßvoll zurückgeführt. Wie im all- melde- und Genehmigungssystem für wettbewerbsbe- gemeinen Verwaltungsprozessrecht kommt es künftig (B) schränkende Vereinbarungen abgeschafft und durch ein (D) auf die Verletzung eigener Rechte an. Damit verfolgen System der so genannten Legalausnahme ersetzt. Dies wir ein wichtiges Ziel: Der vorläufige Rechtsschutz darf bedeutet, dass Vereinbarungen automatisch freigestellt nicht zur Blockade wichtiger Investitionsentscheidungen sind, wenn sie die gesetzlichen Freistellungstatbestände am Standort Deutschland missbraucht werden; erfüllen. Wichtig hierbei ist: Das bisherige behördliche Prüf- und Freistellungsverfahren entfällt nunmehr. Da- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit trägt das Gesetz ganz im Sinne dieses Hauses und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auch im Sinne der Politik der Bundesregierung dazu bei, auch das müsste eigentlich allgemeine Auffassung in Unternehmen ein weiteres Mal von Bürokratie zu entlas- diesem Hause sein. ten. Zweitens. Der vorläufige Rechtsschutz gegen Minis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tererlaubnisse des Bundesministers für Wirtschaft und DIE GRÜNEN) Arbeit bleibt davon ausgenommen. In diesem besonders Ich glaube, dass wir so die Wachstumskräfte unserer sensiblen Bereich soll der Rechtsschutz der Unterneh- Wirtschaft stärken können. Zweifellos werden auch in men nicht eingeschränkt werden. Auch der Rechtsschutz Zukunft die Kartellbehörden für die Diskussion über in der Hauptsache bleibt selbstverständlich unverändert. konkrete Einzelfälle zur Verfügung stehen. Die Unter- Dies ist – auch hier gibt es wieder große Übereinstim- nehmen haben also von dem neuen System keinerlei mung mit der deutschen Wirtschaft und ihren Verbän- Nachteile zu erwarten. Dies ist auch der Grund dafür, den – eine insgesamt ausgewogene, den Wettbewerb und dass wir uns in diesen Fragen in absoluter Übereinstim- die Investitionskraft dieses Landes stärkende Lösung. mung mit den Verbänden der deutschen Wirtschaft be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten finden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine Damen und Herren, Sie alle wissen – das hat des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) uns ja sehr bewegt –, dass die Bundesregierung in die- Um sicherzustellen, dass mit dem Systemwechsel sem Zusammenhang auch Änderungen der pressespezi- kein Verlust an Wettbewerbsschutz verbunden ist, sind fischen Regelungen des GWB vorgeschlagen hat. Ziel im Gesetzentwurf eine Reihe flankierender Maßnahmen ist es, die seit 1976 geltenden Regelungen im Lichte der vorgesehen. So werden die Ermittlungs- und Sanktions- strukturellen und konjunkturellen Probleme der Zei- befugnisse der Kartellbehörden gestärkt, etwa durch die tungsverlage zu modernisieren. Damit sollten die wirt- Einführung eines Enqueterechts und durch die Erhöhung schaftlichen Grundlagen für Anbieterpluralität auf der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15385

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) einen und Meinungsvielfalt auf der anderen Seite ver- Reihe von Vorteilen; denn größere Projekte werden in al- (C) bessert und gesichert werden. Die Bundesregierung be- ler Regel ohnehin vorab informell mit den Kartellbehör- grüßt deshalb, dass die Koalitionsfraktionen mit ihren den besprochen. Das formale Verfahren, das wir einfüh- Beschlüssen dieser Initiative gefolgt sind. ren, garantiert hier letztlich Rechtssicherheit und damit auch Investitionssicherheit für alle Beteiligten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die jetzt gefundene Lösung wird einen wichtigen und DIE GRÜNEN) nachhaltigen Beitrag zur Bewältigung der Probleme der Zeitungsverlage leisten. Ziel der Vorschläge des Regie- Bei den im Regierungsentwurf vorgeschlagenen rungsentwurfes war immer, die Selbstständigkeit der Schwellenerhöhungen ist es geblieben. Deren Bedeu- Zeitungsverlage durch Stärkung ihrer wirtschaftlichen tung sollte nicht unterschätzt werden. Dies ist vor allem Basis zu erhalten. eine mittelstandsfreundliche Maßnahme. Die Hand- lungsspielräume mittelständischer Verlage für Fusionen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten untereinander werden durch diese Regelung erweitert. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kleinen Verlagen wird es ermöglicht, bei der Suche nach Das ist unserer Auffassung nach der beste Garant für Nachfolgern den Marktwert ihrer Zeitungen zu realisie- eine gesicherte strukturelle Eigenständigkeit der Redak- ren. tionen und es ist Voraussetzung für den Erhalt der in Wesentliche Ziele des Regierungsentwurfs sind durch Europa und in der Welt einmaligen Vielfalt der deut- den nun vorliegenden Entwurf aus unserer Sicht erreicht. schen Zeitungslandschaft. Die jetzige Lösung ist ein Kompromiss, den wir als Bun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des desregierung ausdrücklich mittragen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Bundesregierung hat in ihrem Entwurf ein Kon- DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: zept zur Erreichung dieses Ziels mit den Elementen Sie glauben doch selbst nicht, dass das ein gu- Schwellenerhöhung, Kooperations- und Fusionserleich- ter Kompromiss ist! Er ist schlecht!) terungen vorgeschlagen. Sie hat dabei immer ihre Offen- Ich möchte allerdings nicht verhehlen, dass sich die heit für bessere Wege zur Erreichung dieses Ziels betont. Bundesregierung weiter gehende Spielräume für die Nur: Am Ziel – das war für uns der entscheidende Zeitungsverlage gewünscht hätte. So könnte noch stär- Punkt – sollte festgehalten werden. Wir glauben, dass ker, als es in der Begründung anklingt, verdeutlicht wer- wir diesen Weg gemeinsam in sehr konstruktiver Weise den, dass die Sicht der betroffenen Verlage beim Erfor- (B) gegangen sind. derlichkeitstest ein hohes Gewicht haben sollte. Die (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erforderlichkeit muss in der Rechtsanwendung nach DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: praktischen Gesichtspunkten geprüft werden und darf Das glauben auch nur Sie!) sich nicht nur an theoretischen Prinzipien orientieren; das wollen wir in dieser Debatte ausdrücklich betonen. Durch den jetzt zur Abstimmung anstehenden Kom- Ich will damit sagen: Wichtig ist eine vernünftige kauf- promiss werden wesentliche Teile des Regierungsent- männische Betrachtung und nicht nur eine juristische wurfs, aber auch eine ganze Reihe von Kritikpunkten be- Betrachtung aus der Sicht der Verlage und des Verlegers. rücksichtigt und verlagswirtschaftliche Kooperationen in den Vordergrund gestellt. Diese Kooperationen kön- (Beifall bei der SPD) nen durch Gemeinschaftsunternehmen abgesichert wer- Die zeitliche Befristung der Gültigkeit des § 31 GWB den, solange der redaktionelle Teil ausgeklammert und die Pflicht, nach drei Jahren einen Erfahrungsbericht bleibt. Ausgangspunkt der Vorschläge im Regierungs- vorzulegen, geben dem Parlament die Möglichkeit, die entwurf war eine Problemlage bei einer beteiligten Zei- Angemessenheit der Regelung zu überprüfen und sie ge- tung. Wenn sich eine solche abzeichnet oder tatsächlich gebenenfalls zu korrigieren. Dies ist übrigens ein gutes vorhanden ist, dann werden die entsprechenden weiteren Beispiel für ein zeitgemäßes Vorgehen. Schritte eingeleitet. Auch dabei ist es geblieben: Ansatz- punkt ist die Erforderlichkeit der Kooperation für die (Beifall bei der SPD) langfristige Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage Im Übrigen sind wir auch sehr erfreut darüber – dazu und die Fortführung der Not leidenden Zeitung. wird nachher sicherlich noch einiges zu sagen sein –, (Beifall bei der SPD) dass wir in Sachen Grosso-Vertriebssystem eine ordent- liche, tragfähige und für alle Beteiligten akzeptable Lö- Wir finden, dass die obligatorische Einschaltung sung gefunden haben. der Kartellbehörden eine insgesamt gesehen starke Verbesserung ist. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Ich DIE GRÜNEN) möchte Sie alle bitten, diesem Gesetzentwurf Ihre Zu- stimmung zu geben. Das ist wichtig für unser Land. Sie Wegen des Verfahrensaufwandes stellt sie einerseits unterstellen in Ihrem Entschließungsantrag, dass es so- zwar eine gewisse zusätzliche Belastung für die Unter- zusagen nur die Behauptung einer Strukturkrise gibt, die nehmen dar, andererseits bietet sie aber auch eine ganze jedoch nicht real ist. 15386 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist auch so!) Ich beginne mit den allgemeinen Grundsätzen, bei de- (C) nen unsere Meinungen gar nicht so weit auseinander lie- Das zeugt davon, dass Sie offensichtlich nicht in der gen. Die CDU/CSU war sehr konstruktiv. Wir haben be- Lage sind, die realen wirtschaftlichen Verhältnisse dieser reits 2001, als sich die SPD noch scheute, die Branche einzuschätzen. Legalausnahme für richtig gehalten. Das ist wichtig für (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ den Bürokratieabbau. Es muss nicht mehr jedes Vorha- CSU]: Das ist falsch! Das nehmen Sie sofort ben bei der Kartellbehörde angezeigt werden. Eigentlich zurück!) müssen die Marktteilnehmer mittlerweile wissen, was sie dürfen und was sie nicht dürfen und deswegen sollen Wir sehen uns hier in einem Boot mit der Wirtschaft sie handeln. Aber wenn sie falsch gehandelt haben, wenn und mit den Verlegern in diesem Lande. In diesem Sinne sie Regelverstöße begangen haben, die den Wettbewerb hoffe ich auf Zustimmung und gute Diskussionen. gefährden, oder wenn sie Marktmacht ausgeübt oder Marktmachtmissbrauch betrieben haben, sollen sie auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ drastisch bestraft werden. Das ist völlig unstreitig. DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wie können Sie da Beifall klatschen?) Wir haben immer wieder eine Bitte vorgetragen – sie ist ernst gemeint –, die Sie aber leider nicht aufgenom- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: men haben. Das war die Bitte, dass in besonders schwie- Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für Ihre Rede. rigen Fällen insbesondere mittelständische Unterneh- Ich möchte aber, dass Sie Ihren Kolleginnen und Kolle- men, die keine großen Rechtsabteilungen haben, das gen die Botschaft ausrichten, dass ich es nicht als Res- Recht haben müssen, eine Rechtsauskunft vom Kartell- pekt gegenüber einer Parlamentsdebatte und Ihnen als amt zu bekommen, ob ihr Vorgehen rechtmäßig ist. Redner ansehe, wenn niemand auf der Regierungsbank (Jörg Tauss [SPD]: Das ist schwierig!) sitzt. Ich bitte Sie, diese Anmerkung weiterzuleiten. Bei allem gewachsenen Kenntnisstand über das Wettbe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. werbsrecht gibt es eben doch noch erhebliche Lücken. Hubertus Heil [SPD] – Ernst Hinsken [CDU/ Ich denke, die Bundesregierung hätte sich diesem CSU]: Respekt, Frau Präsidentin!) Thema öffnen können. Sie hat es nicht getan. Auch die Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartmut Koalition hat dieses Thema übersehen. Wir werden im Schauerte. Bundesrat versuchen, diesen Punkt, vielleicht unterstützt durch eine praktikable Lösung, noch einmal aufzugrei- fen. (B) Hartmut Schauerte (CDU/CSU): (D) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das war Ab- legen! Wettbewerbsrecht ist für viele Normalbürger fast sicht, das war kein Versehen!) so etwas wie ein Fremdwort. Für alle, die etwas von Marktwirtschaft und sozialer Marktwirtschaft verste- – Ob es nun ein Versehen war oder ob sie es nur nicht hen, ist klar, dass es so etwas wie das Grundgesetz der wollen, jedenfalls ist es eine Schwäche im allgemeinen Wirtschaft ist. Es sind Spielregeln, die nicht nur im Sport Wettbewerbsrecht. gelten müssen, sondern natürlich auch in der Wirtschaft. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie müssen ordnend eingreifen. Ihr oberstes Ziel sollte sein, Wettbewerb zu fördern und zu sichern In diesem Zusammenhang muss man daran erinnern, warum wir jetzt darüber diskutieren. Es gab eine Minis- (Beifall des Abg. Hubertus Heil [SPD]) tererlaubnis für die Fusion von Eon und Ruhrgas, die und so die Kreativität zu stärken und die Innovationsge- peinlich war. Der Clement-Entwurf wollte darauf reagie- schwindigkeit, die Erträge und die Zahl der Arbeits- ren und Ministererlaubnisse noch leichter machen. Ich plätze in Deutschland zu erhöhen. finde es gut, dass insbesondere die Grünen in diesem Fall unserer Meinung waren und zu der Erkenntnis ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: kommen sind, dass eine Aufweichung, eine Erleichte- Bis jetzt vernünftig!) rung von Ministererlaubnissen schädlich wäre. Das Das ist ein wichtiges Thema. Deswegen ist es schade, würde einer falsch verstandenen Industriepolitik Tür und dass so wenige Abgeordnete anwesend sind. Es ist auch Tor öffnen. Insoweit ist dies eine Verbesserung. Aber ich schade, weil wir heute nicht nur über das allgemeine finde es interessant, dass man im Haus Clement, das ja Wettbewerbsrecht reden, sondern insbesondere über die eigentlich der Wettbewerbshüter in diesem Land ist, zu- Sonderstellungen im Pressebereich. Die Pressevielfalt ist nächst einen völlig anderen Weg gehen wollte. Das ein hochsensibles Gut, eines der höchsten Güter, das wir wurde gestoppt; das begrüßen wir. in der Demokratie zu verteidigen haben. Im Zeitungsbereich hatten wir auch einen konkreten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Anlass, tätig zu werden. Ich meine den „Tagesspiegel“ bei Abgeordneten der SPD) und die „Berliner Zeitung“ in Berlin. Wir haben den ganz großen Verdacht, dass all das, was wir im Pressefu- Der vorliegende Gesetzentwurf, muss daraufhin geprüft sionsrecht jetzt an Sondertatbeständen zu erwarten ha- werden, ob er diesen Ansprüchen gerecht wird. ben, letztlich eine Antwort auf diese Situation geben Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15387

Hartmut Schauerte (A) soll. Wer weiß, wer wem in diesem Zusammenhang wel- Lassen Sie mich zum wirtschaftlichen Problem etwas (C) che Zusagen gemacht hat. sagen. Der Presse in Deutschland geht es so schlecht wie der übrigen Wirtschaft – nicht besser und auch nicht (Jörg Tauss [SPD]: Das ist eine Verschwö- schlechter. Ich sehe keine Zusammenbrüche und auch rungstheorie!) keine Konkurse. Die Konkurse sehe ich auf anderen Wirtschaftsfeldern. Die Presse hat in der Tat ein kon- Auch deswegen sind wir hochnervös und hochaufmerk- junkturelles Problem; denn die Anzeigenerlöse sind sam, was in diesem Bereich passiert. Wir müssen darauf weggebrochen. Sie hat auch Modernisierungs- und bestehen, dass diese Sache in einem Vermittlungsaus- Strukturprobleme, weil neue Wettbewerber auf den schussverfahren noch einmal gründlich geprüft wird. Markt gekommen sind. Das haben alle Unternehmen in Das können wir Ihnen und Ihren internen Absprachen Deutschland. mit wem auch immer beim besten Willen nicht überlas- sen. Ich sage es noch einmal: Wir operieren hier am offe- Was mich an diesem Thema aber besonders nervös nen Herzen der Demokratie, weil es darum geht, Mei- macht, ist Ihre Begründung. Aus der konjunkturellen nungsvielfalt zu erhalten. Delle, von der einige behaupten, sie sei insbesondere strukturell, bei der aber niemand einen volkswirtschaft- (Beifall bei der CDU/CSU) lich erklärbaren und nachvollziehbaren Nachweis gelie- fert hat, was an dieser Welle strukturell bedingt sei Auf diesem Gebiet dürfen wir uns gegenseitig keinen einzigen Fehler erlauben. (Jörg Tauss [SPD]: Delle!) – Delle, Welle oder Wellendelle; auch eine Welle kann Lassen Sie mich jetzt auf das Thema pressespezifi- nach unten gehen –, sches Kartellrecht zu sprechen kommen denn das ist im Moment die wichtigste Frage; alles andere ist eher ver- ( [SPD]: In der Welle heißt das nachlässigbar. Es geht im Prinzip um die Anpassung an Tal!) das europäische Kartellrecht mit einigen wenigen schaffen Sie ein Presserecht, das nicht die damaligen Schwächen in Ihrem Entwurf, auf die ich aber nicht nä- Verengungen im allgemeinen Kartellrecht aufhebt. Sie her eingehen möchte. Ich möchte mich besonders mit gehen über die damaligen Verengungen im Kartellrecht dem pressespezifischen Kartellrecht beschäftigen. hinaus und erklären: Jetzt kann ohne Berücksichtigung Ich habe in dieser Frage eine lange Erfahrung. Ich der Größe das größte mit dem kleinsten Unternehmen in glaube, 1970 habe ich die erste Diskussion mit dem da- Deutschland ohne jede Deckelung fusionieren und ko- maligen stellvertretenden Chefredakteur der „Westfäli- operieren, wie immer man will. (B) schen Rundschau“, Herrn Clement, zum Thema Presse- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist verhee- (D) fusion und -konzentration gehabt. In den 70er-Jahren rend! – Hubertus Heil [SPD]: Fusionieren ist kam es zu einer erheblichen Konzentrationswelle. Herr etwas anderes als Kooperieren!) Stiegler, Sie erinnern sich. Sie waren ja einer, der mit ge- rufen hat: Haut dem Springer auf die Finger! Zerschlagt Das ist an sich schon verheerend genug. Aber was die die Pressekonzerne! – Ich darf daran erinnern: Im Nach- Sache neben dem sehr sensiblen Gut Presse noch verhee- beben dieser Diskussion haben wir beobachtet, dass in render macht, ist Folgendes: der Gesellschaft wahnsinnig viele Konzentrationspro- (Jörg Tauss [SPD]: Reden Sie mal mit Ihren zesse abliefen. Diese haben wir mit der Schaffung eines Verlegern!) Sonderrechts für die Presse im Kartellrecht gestoppt. Mit dieser oberflächlichen Begründung können Sie das Wir haben der Presse sehr enge Regeln vorgegeben. gesamte deutsche Kartellrecht im Grunde in den Papier- Diese Operation war ausgesprochen erfolgreich. Dass korb werfen. Mit der gleichen Begründung kann man sa- Herr Staffelt vorhin erklären konnte: „Wir verfügen in gen: Natürlich behindern Auflagen für Zusammen- Deutschland über eine der vielfältigsten Presselandschaf- schlüsse in der Entsorgungsbrache, Herr Repnik, viele ten in Europa“, ist richtig und hängt damit zusammen, unternehmerische Initiativen. Manch einer würde gerne dass wir damals übereinstimmend, Sozialdemokraten ganz anders in der Fläche operieren und sich rechts oder und CDU/CSU, dieses Gesetz zur Pressefusion und -kon- links verbrüdern, verbinden und organisieren können. In zentration beschlossen und damit Ruhe in die Presseland- der Automobilzuliefer- und Lebensmittelbranche haben schaft gebracht haben, die der Meinungsvielfalt in wir diese Probleme bereits. Sie können jeden Wirt- Deutschland und der mittelständischen Struktur unserer schaftsbereich nehmen. Alle großen Unternehmen in Presse, den Verlagen und Unternehmen ausgesprochen Deutschland hätten lieber weniger Kartellrecht. Die gut getan hat. Masse der kleinen Unternehmen in Deutschland hätte lieber mehr Kartellrecht, weil sie sich dann etwas besser (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: gegen Macht- und Marktmissbrauch geschützt wähnen. So eine lange Tradition hat das bei uns!) Sie sollen ja auch geschützt werden. Ich sage Ihnen: Der konkrete Anlass für Ihr Handeln Mit der Begründung, die Sie hier vortragen und die durch keine wirklich nachvollziehbare wirtschaftswis- sind die „Berliner Zeitung“ und „Der Tagesspiegel“. Sie senschaftliche Analyse und durch kein Gutachten bewie- geben aber vor, dass es ein besonderes Pressestruktur- sen ist, problem gebe, und deswegen müsse etwas geändert wer- den. (Hubertus Heil [SPD]: Quatsch!) 15388 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Hartmut Schauerte (A) wird behauptet, wir hätten ein Strukturproblem und (Hubertus Heil [SPD]: Glauben Sie, dass wir (C) müssten deshalb alle Grundsätze über Bord werfen. denen etwas Gutes tun wollen?) (Widerspruch bei der SPD) Die Bilanz ist doch erfreulich. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Deswegen kön- (Jörg Tauss [SPD]: Können Sie das noch ein- nen wir diesem Gesetz leider nicht mehr zustimmen, was mal wiederholen?) wir sonst gerne getan hätten, weil es immer gut ist, wenn Die Bilanzen von Bauer und Holtzbrinck sind doch er- alle Beteiligten bei Spielregelsetzungen, bei Grundsatz- freulich. Die Bilanz der WAZ ist ebenfalls erfreulich. fragen der Volkswirtschaft oder bei verfassungsähn- Bei der WAZ arbeitet übrigens ein ehemaliger Kanzler- lichen Fragen, die das Funktionieren der sozialen Markt- berater. Vielleicht hat der seine Beratungen wieder auf- wirtschaft berühren, an einem Strang ziehen; denn die genommen. Akzeptanz solcher Regeln wird erhöht, wenn die Men- schen, die diese Regeln beachten und anwenden müssen, (Hubertus Heil [SPD]: Wer sitzt denn bei wissen, dass das der Wille des gesamten deutschen Par- Springer?) laments ist. Insoweit ist das schade. Sie haben uns aber Die WAZ kann ertragsmäßig – das ist ihr von Herzen durch diese Art der Vorgehensweise die Zustimmung un- gegönnt – vor Kraft nicht laufen. Sie hat das strukturelle möglich gemacht. Problem, das Sie anführen, nicht. Die WAZ weiß, dass (Jörg Tauss [SPD]: Na ja!) sie in Zukunft vor allem auf dem europäischen Markt agieren muss. Eine weitere Konzentration auf Deutsch- Die ersten Steine sind aus dem Damm herausgebro- land ist nicht gut bekömmlich, aus welchen Gründen chen. Wir können Ihrer Begründung nicht folgen, weil auch immer, übrigens auch aus unternehmerischen wir nicht bereit sind, das Kartellrecht insgesamt zu Gründen nicht. Insoweit ist die WAZ gehalten – das tut schwächen. Dies ist aber ein erster und entscheidender sie auch –, in Osteuropa Fuß zu fassen. Die Expansion, Punkt zur Schwächung des Kartellrechts. Sie könnten die wir positiv sehen und der WAZ wünschen, wird auf bei jedem Wirtschaftsbereich die gleichen Begründun- europäischer Ebene erfolgen. Das sind nicht die Punkte, gen anführen; es gäbe sogar noch gewichtigere Gründe. die so wichtig waren. Sie sind ihr gefällig gewesen. Es Deshalb sage ich: Sie müssen an dieser Stelle noch ein- hat Verflechtungen gegeben. Ich weiß nicht, was ver- mal nachdenken. Ich hoffe, wir werden es im Bundesrat sprochen worden ist. hinkriegen, dass Sie nachdenken. (Monika Griefahn [SPD]: Das sind Unterstel- Jetzt will ich in die Einzelheiten gehen. Die Altverle- lungen!) gerklausel – das war der Ansatz von Clement – ist jetzt (B) Das macht uns an dieser Stelle so besonders ängstlich (D) beerdigt, obwohl noch Elemente in der Fünferregelung, und zurückhaltend. auf die ich noch zu sprechen komme, durchschimmern. Darin überlebt der alte Vorschlag in modifizierter Form. Ich möchte noch etwas zu den Presse-Grosso-Ver- tretern sagen. Die Verteilung der Zeitungen in Deutsch- (Hubertus Heil [SPD]: Sie müssen Fusion und land ist ein sehr komplizierter Vorgang. Insoweit kann Kooperation unterscheiden!) man Ausnahmen von eigentlichen unternehmerischen Es gibt Sondertatbestände, die wir ablehnen; ich habe und kaufmännischen Prinzipien nicht nur akzeptieren, sondern sogar mit erfinden, damit das vernünftig läuft. das angesprochen. Wir meinen, dass Sie mit dieser Re- Ich begrüße sehr, dass es eine Vereinbarung zwischen gelung nicht einmal mehr die Obergrenze von den Verlagen und dem Presse-Grosso gegeben hat und 500 Millionen Euro bei Kartellen einhalten, die für alle man diese Art der Verteilung stabilisieren will. Das ha- Wirtschaftskreise gelten. Es ist bedauerlich, dass Sie das ben Sie jetzt in den Änderungen bezüglich Abonnement eingebaut haben. Ich weiß, warum das passiert ist. Ich und Vertrieb akzeptiert. Wir haben immer gefordert, dass muss das hier nicht weiter erläutern; das kann sich jeder das beachtet werden muss. Trotzdem bleibt natürlich denken. Ich glaube, dass nur bei wenigen Gesetzen so auch da richtig: Jede weitere Konzentration in der Pres- viel Lobbyarbeit betrieben worden ist wie bei diesem. selandschaft wird diese Presse-Grosso-Vertriebe unver- Sie haben sich der Lobbyarbeit ein Stück weit ergeben. meidlich gefährden. Ich meine, dass das zu weitgehend war. Dass sie stattfin- det, wissen wir alten Fuhrleute. Wie weit man sich ihr Deshalb können Sie keine reine Freude an diesem ergibt, ist jedoch immer die Frage. Daran müssen wir Vorgang empfinden. Sie sind froh, dass die Vereinbarung uns messen lassen. zustande gekommen ist. Sie sitzen aber zwischen Baum und Borke und hoffen, dass das Eis trägt, auf dem Sie (Jörg Tauss [SPD]: Da sind wir ganz zufrie- miteinander gehen wollen. Ich sage Ihnen aber: Die den!) Konzentrationsvorschübe, die Sie leisten, bleiben in die- Sie sind zu nachgiebig gewesen. sem Bereich problematisch. Sie hätten mit uns eine Regelung finden können, um Ich habe noch eine Frage: Wie kommen Sie eigentlich dem Mittelstand eine stärkere Kooperation zu erlauben, darauf, die Sonderregelung zu treffen, dass sich fünf Zei- tungen bzw. fünf Verlage zusammentun dürfen? Ich habe wenn eine Deckelung vorgesehen worden wäre. Das darüber nachgedacht. wäre vernünftig. Wir haben doch die erfreuliche Bilanz des Hauses Springer gesehen. Sie wurde gestern veröf- (Zurufe von der SPD: Zeitungen, nicht Ver- fentlicht. lage!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15389

Hartmut Schauerte (A) – Ich werde das noch erläutern. – Im Kartellrecht kennen (Jörg Tauss [SPD]: Ja, ja! – Hubertus Heil (C) wir eigentlich nur Größenordnungen in Höhe von 25 Mil- [SPD]: Aus dem Koffer!) lionen oder 50 Millionen. Manchmal spricht man auch Da es doch so große strukturelle Probleme in der Zei- von Größenordnungen in Höhe von 100 Millionen oder tungsbranche gibt – Sie behaupten, diese seien der 500 Millionen. Diese Größenordnungen kann man ver- Grund für die Reform – treten. (Jörg Tauss [SPD]: Wir beherrschen sie!) Sie sagen einfach fünf, ohne dabei eine finanzielle Größenordnung anzugeben. und die Risiken groß sind, würde ich Ihnen auch im Inte- resse Ihres eigenen Vermögens empfehlen, aus der Zei- (Monika Griefahn [SPD]: Kooperationen!) tungsbranche auszusteigen. Handeln Sie doch kaufmän- Hängt es vielleicht damit zusammen, dass es fünf Finger nisch vernünftig und lassen Sie in Zukunft gelten: Das, an einer Hand gibt? Das wäre ja eine natürliche, biolo- was draufsteht, muss auch drin sein. gische Erklärung für diese Zahl. Die Zahl ist doch eigen- (Beifall bei der CDU/CSU) artig und nicht begründbar; sie wird auch nirgendwo er- klärt. Das, was drin ist, muss auch auf den Titelblättern stehen. Wenn auf Zeitungen, die Ihnen zum Teil gehören und (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Gegriffen!) von Ihnen maßgeblich beeinflusst werden, Deswegen muss der Verdacht aufkommen, dass es eine (Jörg Tauss [SPD]: „Beeinflusst“? Unver- 5-er Konstellation gibt, die schon mit Ihnen gesprochen schämtheit!) hat. Gibt es so etwas? Wurde das schon berechnet? Ha- ben einige schon eine Strategie? „unabhängig, überparteilich“ steht, dann ist das eine Ver- brauchertäuschung, die Sie in jedem anderen Bereich, in (Ludwig Stiegler [SPD]: Herr Schauerte, das dem Sie nicht selber betroffen sind, durch Ihre Verbrau- hätten Sie doch längst rausbekommen!) cherministerin längst gestoppt hätten. An dieser Stelle – Nein, es sind schon so viele, die mit der Zahl Fünf lassen Sie die Verbrauchertäuschung weiter zu. rechnen. Sie glauben gar nicht, wer mir schon alles vor- (Hubertus Heil [SPD]: Klagen Sie doch mal gerechnet hat, was man mit Fünf alles machen kann. dagegen!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Pofalla ist für – Nein, es ist eine Frage der politischen Hygiene, über 50 Prozent!) die wir hier reden, Genau deswegen sind wir dagegen. Das sprengt jeden (Lachen bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Da (B) (D) Ansatz, den wir sonst im Kartellrecht haben. Ich sage Ih- fällt uns aber etwas anderes ein!) nen: Sie richten mit dieser Aktion erheblichen Schaden an. und keine Frage des Klagerechts. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Hubertus Heil [SPD]: Kollege Pofalla wollte Hubertus Heil [SPD]: Reden Sie mal mit sechs haben!) Dr. Helmut Kohl oder Herrn Koch über Hy- – Nein, auch die Sechs hätte eine biologische Erklärung. giene!) Nein, ich bleibe dabei: Wo kommt die Zahl Fünf her? Wenn die CDU die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Hubertus Heil [SPD]: Das sage ich Ihnen oder den „Spiegel“ eigentümermäßig mit 30 oder 40 Pro- gleich!) zent beeinflussen könnte, Sie bleibt unerklärlich. (Hubertus Heil [SPD]: Brauchen Sie ja gar nicht!) Der Gesetzgeber sollte jedoch rational und nachvoll- ziehbar handeln. Hier handelt es sich um reine Spekula- wollte ich sehen, wie Sie, die Sie hier alle sitzen, mit die- tion, nehme ich zu Ihren Gunsten an. Das kann nicht ver- sem Thema umgehen würden. nünftig sein, das ist falsch. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will einen letzten Punkt ansprechen, der mir in Ich kann Sie beruhigen: Wir hätten das Geld, um uns an diesem Zusammenhang sehr wichtig ist: Wie wertvoll ist der einen oder anderen Seite zu beteiligen; aber wir tun die Presse? Ich bitte die SPD noch einmal, ihre Pressebe- es aus Prinzip nicht. Es gehört sich nicht, dass politische teiligungen zu überprüfen. Parteien Zeitungen herausgeben und beeinflussen, die (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: nicht nur für ihre eigenen Mitglieder bestimmt sind. Das haben wir getan!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Es ist der SPD unbenommen, ihre Gelderträge Hubertus Heil [SPD]: Das ist furchtbar! Schä- men Sie sich!) (Jörg Tauss [SPD]: Nur kein Neid! – Monika Griefahn [SPD]: Wir haben nicht so große Ansonsten müssten Sie darauf schreiben: Dies ist eine Spender wie Sie!) Zeitung der SPD. – Wir werden daher den Verdacht nicht los, dass Ihre eigenartige Großzügigkeit in der Presse- in der Volkswirtschaft zu organisieren. fusionsfrage 15390 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Hartmut Schauerte (A) ( [CDU/CSU]: Einer der größten Um der Gefahr von Missbrauch und Intransparenz (C) Skandale in der Bundesrepublik Deutsch- entgegenzuwirken, werden die Sanktions- und die Er- land!) mittlungsbefugnisse der Kartellbehörden gestärkt und die private Rechtsdurchsetzung vereinfacht. Ziel ist, die etwas damit zu tun hat, dass Sie auch eigene, für uns im Kartellbehörden von unnötigen Verfahren zu entlasten. Moment nicht wirklich erkennbare, aber aus gutem Dem stehen erweiterte Einspruchs- und Klagemöglich- Grund vermutete wirtschaftliche Interessen an diesen keiten der von solchen Vereinbarungen möglicherweise Regelungen haben. Das verbietet sich und ist ungehörig betroffenen Wettbewerber und Verbraucherverbände ge- bei einem solchen für die Demokratie und die Presse genüber. Deswegen haben wir nach ausführlicher Dis- wichtigen Recht. kussion den ursprünglichen Gesetzentwurf im Punkt „vorläufiger Rechtsschutz bei Ministererlaubnis“ geän- Ich bedanke mich. dert. Eine solche Ausnahmeerlaubnis kann von Drittbe- (Beifall bei der CDU/CSU) troffenen weiterhin angefochten werden. Es gibt also keine Beschränkung. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Um Rechtsklarheit zu schaffen und ein zweiteiliges Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Schulz. Kartellrecht zu verhindern, werden Vereinbarungen ohne zwischenstaatliche Bedeutung dem europäischen Recht (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Er war da- angepasst. Dabei geht es unter anderem um die Beibe- mals schon gegen die Staatspresse! – Hans- haltung der Freistellung von Mittelstandskooperationen. Peter Repnik (CDU/CSU): Der kann dem Dies erhöht die Rechtssicherheit für kleine und mittlere Schauerte in vielen Punkten folgen!) Unternehmen. Ich kann hier nicht auf alle Einzelheiten des Gesetzes Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eingehen. Nur einige Worte zur Kritik der FDP-Fraktion: NEN): Sie lehnt unter anderem eine Vorteilsabschöpfung Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege durch die Verbraucherverbände ab und begründet das da- Schauerte, ich freue mich, dass wir uns über die Bedeu- mit, dass sich sonst das deutsche Sanktionsrecht dem tung und den Stellenwert des Wettbewerbsrechts als US-amerikanischen annähere. Wenn man das genau be- Magna Charta in der Marktwirtschaft einig sind. Das trachtet, kommt man zu dem Schluss, dass das nicht der klang jedenfalls in Ihren ersten Sätzen an. Ich hätte mich Fall ist; denn das Recht auf Vorteilsabschöpfung bietet noch mehr gefreut, wenn sich die Einigkeit auch auf keine Möglichkeit für eine Sammelklage nach US-ame- sämtliche Kapitel und Detaillösungen erstreckt hätte und rikanischem Vorbild, sondern eröffnet die Möglichkeit (B) wenn Sie nicht auf dem schwierigen Feld der Presse- für eine echte Verbandsklage. Nach unserer Auffassung (D) fusion spekulative Attacken geritten und Eskapaden ge- sind Missbrauchsmöglichkeiten dabei ausgeschlossen. macht hätten. Außerdem folgt die Regelung ganz klar dem Vorbild des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben sicherlich noch meine kritischen Worte bei Bleiben Sie bei Ihrer Meinung, die Sie vor drei der Einbringung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend Monaten hatten! Sagen Sie ja nichts anderes!) das Kartellrecht im Pressebereich in Erinnerung; das ha- ben Sie angesprochen. Wenn Sie sich den vorliegenden Sinn und Zweck der siebten Novelle zum Gesetz ge- Gesetzentwurf genau anschauen und ehrlich sind, dann gen Wettbewerbsbeschränkungen ist die Anpassung an können Sie wesentliche Verbesserungen im Vergleich das seit Mai vorigen Jahres geltende, vorrangige euro- zum ursprünglichen Gesetzentwurf feststellen. päische Kartellrecht. Damit wird ein einheitliches Recht für große, grenzüberschreitende Unternehmen sowie für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kleine und mittelständische Unternehmen geschaffen. und bei der SPD) Das neue Wettbewerbsrecht bringt etliche Verbesserun- Die einhellige Kritik am Redaktionsmodell oder an der gen. Hervorheben möchte ich die Stärkung der Verbrau- so genannten Altverlegerlösung, die in der Sachverstän- cherinteressen sowie ein verbessertes Anhörungsrecht digenanhörung geäußert wurde, ist fast vollständig auf- und die Möglichkeiten für Verbraucherverbände, gegen gegriffen worden. den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen vorzugehen. Nach intensiven Verhandlungen mit unserem Koali- tionspartner haben wir uns auf einen tragfähigen Kom- Für uns gehören hohe Wettbewerbsintensität und ho- promiss in Sachen Pressefusion geeinigt. Wir haben eine her Verbraucherschutz zusammen. Bei der Kontrolle der Lösung gefunden, die Verlagen in der Krise die Mög- Einhaltung von wettbewerbsbeschränkenden Vereinba- lichkeit bietet, mit anderen Verlagen – unter bestimmten rungen wird das Anmelde- und Genehmigungsverfahren Umständen und bei Garantie ihrer redaktionellen Selbst- durch das System der Legalausnahme ersetzt. Die Unter- ständigkeit – zu kooperieren. Es gibt nun also – im Ge- nehmen selbst müssen einschätzen, ob eine Vereinba- gensatz zum ursprünglichen Gesetzentwurf – keine rung zu unzulässigen Wettbewerbsbeschränkungen führt Möglichkeit mehr für eine verschwiemelte Fusion. Diese oder nicht. Damit setzen wir künftig auf mehr Eigenver- Lösung trägt der Erkenntnis Rechnung, dass auch antwortung der Unternehmen und leisten einen Beitrag Presse- und Meinungsvielfalt einer wirtschaftlichen zum Bürokratieabbau. Grundlage bedürfen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15391

Werner Schulz (Berlin) (A) Zu der berechtigten Kritik, dass der Gesetzgeber Außerdem haben wir eine Missbrauchsklausel ver- (C) keine sektorale Strukturpolitik betreiben darf, muss ich einbart. Das Kartellamt bekommt dadurch die notwen- natürlich sagen: Wir dürfen den Strukturwandel durch dige Handhabe, um gegen Kooperationen, die durch die eine restriktive Gesetzgebung nicht verhindern. Auch da Hintertür doch zu Fusionen führen und bei denen die re- müssen wir einen Ausgleich schaffen. Ich glaube, dass daktionelle Vielfalt gefährdet wird, vorzugehen. Da- die notwendige Balance mit dem jetzt vorliegenden An- durch haben wir das Kartellamt im sensiblen Bereich der satz gewahrt ist. Presse- und Meinungsvielfalt gestärkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Regelung über die Kooperationszusammen- und bei der SPD) schlüsse ist auf fünf Jahre befristet. Danach werden wir sie auf der Grundlage von wissenschaftlicher Analyse Künftig sind Kooperationen zwischen Presseverla- und einem Erfahrungsbericht der Bundesregierung eva- gen im Bereich „Anzeigen, Vertrieb und Druck“ mög- luieren. Bestehende Kooperationen werden allerdings lich, wenn eine solche Kooperation zur langfristigen Si- Bestand haben. Entscheidend wird sein, ob die neuen cherung der wirtschaftlichen Grundlage mindestens Regeln den Praxistest bestehen, ob Kooperationen im einer der beteiligten Zeitungen erforderlich ist. Damit Bereich „Anzeigen, Vertrieb und Druck“ bei redaktio- wollen wir das Überleben bedrohter Zeitungen ermög- neller Selbstständigkeit die wirtschaftliche Situation etli- lichen, ohne dass diese auf ihre publizistische Eigenstän- cher Zeitungen verbessern können. Wir werden die Lage digkeit verzichten müssen. genau verfolgen und überprüfen. Die eingefügte Eva- luationsklausel hilft uns, Veränderungen wahrzuneh- Weil wir davon ausgehen, dass auch solche Koopera- men und entsprechend zu reagieren. tionen den Wettbewerb einschränken und die Vielfalt ge- fährden können, muss das Kartellamt sie vorher geneh- Herr Kollege Schauerte, Sie haben gesagt: Das ist migen. Wettbewerb auf dem Pressemarkt trägt dazu bei, eine Operation am offenen Herzen. Sie werden gespannt Meinungsvielfalt zu ermöglichen. Sie ist daher einer le- sein, wie die Überprüfung im Bundesrat ausfällt. Ich bendigen Demokratie verpflichtet. Die Bürgerinnen und finde, Sie sollten nicht nur gespannt sein, sondern auch Bürger müssen die Möglichkeit haben, sich umfassend etwas beitragen. und aus verschiedenen Quellen zu informieren und ihre (Jörg Tauss [SPD]: Konstruktiv beitragen!) Meinung zu bilden. Wir haben in Deutschland, wie schon gesagt, eine Presselandschaft, die in ihrer Vielfalt Ich habe von Ihnen nicht gehört, was Sie besser machen einzigartig ist und auch in wirtschaftlich schwierigen wollen. Zeiten unbedingt erhalten werden muss, um ebendies zu (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (B) garantieren. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (D) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Einer Operation zuzuschauen ist wirklich keine Leis- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) tung. Manchmal ist es besser, früh einen Bypass zu le- gen, als dem Rat zu folgen, den Herzinfarkt zu ignorie- Das Kartellamt hat nun einen großen Ermessensspiel- ren. Das entspräche dem, was Sie vorgeschlagen haben: raum. Es muss prüfen, ob die Kartelle zum Erhalt der die Krise auf dem Zeitungsmarkt überhaupt nicht zur Zeitungen und deren langfristiger Sicherung erforderlich Kenntnis zu nehmen und darauf nicht zu reagieren. Wir sind oder ob es weniger wettbewerbsbeeinträchtigende haben versucht, hier eine Brücke zu bauen, um die Pres- Möglichkeiten zum Erhalt der Zeitungen gibt. Die Prü- sevielfalt zu erhalten und gleichzeitig den Wettbewerb fung der Erforderlichkeit beinhaltet eine Beurteilung der zu stärken. gegenwärtigen und zukünftigen wirtschaftlichen Situa- tion der betroffenen Zeitungen. An einer Kooperation Ich danke Ihnen. dürfen maximal fünf Zeitungen beteiligt sein. Herr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schauerte, das ist ein Hinweis darauf, dass wir diese Ko- und bei der SPD) operation nicht unendlich ausdehnen wollen. Natürlich kann man die Frage „Warum fünf, warum vier, warum Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: drei, warum nicht sechs?“ – eine Art Zahlenspiel – stel- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle. len. Das ist müßig. Ich glaube, es gibt darauf keine schlüssige Antwort, die Sie zufrieden stellen könnte. (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt sieht man gleich, ob er medizinische Grundkenntnisse hat! Jetzt Die so genannte Aufgreifschwelle wird von kommt der Narkosearzt!) 25 Millionen Euro auf 50 Millionen Euro erhöht. Ver- lage, die einen gemeinsamen Umsatz von mehr als Rainer Brüderle (FDP): 50 Millionen Euro haben, müssen ihr Fusionsvorhaben Herr Tauss, Sie waren schon besser. vom Kartellamt prüfen lassen. Dies entscheidet dann, ob eine marktbeherrschende Stellung entsteht. Verlage mit Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ge- einem Jahresumsatz von unter 2 Millionen Euro können setz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist in der Tat sich, wenn sie das wollen, mit anderen Verlagen zusam- nicht irgendein Gesetz; es ist das Grundgesetz einer so- menschließen, ohne dass das Kartellamt dies prüft. Der zialen Marktwirtschaft. Die Fehlentwicklung der Wett- Umsatz der hinzukommenden Verlage fällt dann nicht bewerbsstrukturen ist eine der Ursachen dafür, weshalb ins Gewicht. wir in Deutschland zunehmend weniger erfolgreich 15392 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Rainer Brüderle (A) wurden, weshalb das Wachstum des Produktionspoten- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Angeblich (C) zials viel zu niedrig ist und wir bei der Bewältigung der zugunsten einer Branche!) Arbeitslosigkeit nicht recht vorankommen. Mit diesem Vorhaben ist Herr Clement zu Recht vor die Es war bisher Tradition bei allen Novellen des Geset- Wand gelaufen. zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die entspre- chenden Regelungen parteiübergreifend zu treffen. Sie Wir sind das gewohnt. Das passiert ihm oft: bei der wollten das diesmal nicht. Wir waren immer gesprächs- Unternehmensteuerreform, beim Antidiskriminierungs- bereit. Ich hatte damals ausdrücklich auch dem Kollegen gesetz, der EU-Dienstleistungsrichtlinie, beim Energie- Heil angeboten – bei der Anpassung an das europäische wirtschaftsgesetz und jetzt beim Pressefusionsrecht. Der Recht sind wir nicht weit auseinander –, ein Gespräch zu Wirtschaftsminister kann sich in dieser Koalition, in die- führen. Es wurde nie geführt. Das hat man nicht gewollt. ser Regierung eben nicht durchsetzen, und das vor dem Vielleicht war auch das Gerangel innerhalb der Koalition Hintergrund von 5,5 Millionen Arbeitslosen. so groß, dass man es nicht konnte. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das, was heute als Koalitionskompromiss vorgelegt wird, lehnt die FDP ab. Zweiter Verlierer sind die Grünen. Sie tragen Bürger- rechte wie eine Monstranz vor sich her. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Leider!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Lang, lang ist’s her!) Ich muss das präzisieren: Wir müssen dies als Partei der sozialen Marktwirtschaft, des Wettbewerbs, ablehnen. Aber wenn es im Bundestag zum Schwur kommt – siehe Wir werden uns im Vermittlungsausschuss wieder- Sicherheitsgesetze, siehe Bankgeheimnis sehen; denn Sie brauchen die Zustimmung des Bundes- rates. Das Gesetz wird so, wie es heute von Ihnen auf (Jörg Tauss [SPD]: Oh, oh! – Zuruf der Abg. den Weg gebracht wird, mit Sicherheit nicht rechtskräf- Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tig. NEN]) (Jörg Tauss [SPD]: Da sind wir gespannt!) – Frau Hustedt, Sie werden doch bald irgendwohin beru- fen; Sie bekommen doch bald einen Job –, siehe Presse- Interessant ist, dass heute der Bundesverband der Zei- kartellrecht –, machen die Grünen mit. Insgesamt be- tungsverleger, dem immerhin so renommierte Verlags- weist Grün-Rot einmal mehr, dass sie mit Wettbewerb häuser wie der Spiegel-Verlag – – nicht viel am Hut haben. (B) (D) (Zurufe des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Jetzt aber! – Hartmut Schauerte – Herr Tauss, müssen Sie immer stören? Können Sie [CDU/CSU]: Eine ÖTV-Partei!) nicht einmal zuhören? Sie sind doch hier nicht am Stammtisch, sondern im Parlament. Zwar sieht das Pressekartellrecht Genehmigungen seitens des Bundeskartellamtes für Anzeige-, Vertriebs- (Jörg Tauss [SPD]: Am Stammtisch macht und Druckkooperationen vor; aber die engen Prüfkrite- man das nicht!) rien schränken diesen Genehmigungsvorbehalt gleich – Hören Sie doch mal zu! Immer muss Herr Tauss da- wieder entscheidend ein. Nach Ihren Vorstellungen muss zwischenquaken, um davon abzulenken, dass ihm nichts das Bundeskartellamt auch dann eine Zusammenarbeit einfällt. zulassen, wenn diese zu einer Marktbeherrschung führt. Sie missbrauchen die Magna Charta der sozialen Markt- (Beifall bei der FDP) wirtschaft für sektorale Strukturpolitik. Also: Der Bundesverband der Zeitungsverleger hat Auch die kleinen Verlage sind den Grünen und Roten heute ein Rechtsgutachten der Universität Rostock offenbar schnuppe; sonst würden sie der Einführung ei- vorgelegt, das Ihren Gesetzentwurf für verfassungs- ner Bagatellklausel nicht zustimmen. widrig hält. Immerhin gehören diesem Bundesverband (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne der Spiegel-Verlag, Kastner) (Hubertus Heil [SPD]: Zeitschriften, nicht Zei- Es können circa 30 selbstständige Zeitungsverlage kon- tungen! Sie verwechseln das immer!) trollfrei aufgekauft werden. der Burda-Verlag, der Süddeutsche Verlag und andere Herr Kollege Schulz, ich schätze Sie sonst sehr, muss an. Ihnen jedoch einige Zitate Ihrer Rede bei der ersten Be- Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist eine Klat- handlung der Novelle vortragen. sche für den Bundeswirtschaftsminister. Das von ihm je- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja, ja, da kommt doch vehement verteidigte Altverlegermodell hätte das es ans Licht!) Ende einer Fusionskontrolle im Zeitungsmarkt bedeutet. Damit wäre ein wesentliches Element des Wettbewerbs- Sie sagten wörtlich – ich zitiere aus dem Protokoll des rechts zugunsten einer Branche platt gemacht worden. Bundestages –: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15393

Rainer Brüderle (A) Es ist aber nicht nachvollziehbar, warum auf die (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) konjunkturellen und strukturellen Herausforderun- NEN]: Was hat das denn jetzt damit zu tun?) gen einer Branche – Das hat sehr viel mit Ordnungspolitik zu tun, Frau – die Pressebranche ist gemeint – Hustedt, auch wenn Sie das nicht übersehen. – Subven- mit einer so umfassenden Gesetzesänderung rea- tionen werden fortgeführt, die Risiken des Steinkoh- giert werden sollte. lenabbaus auf den Staat abgewälzt, während die anderen Geschäftsfelder privatisiert werden. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So hat er gesagt!) (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Da Ein weiteres Zitat: seid ihr Fachleute!) Allerdings gehen die Vorschläge zur Anzeigen- Risiken sozialisieren, Gewinne privatisieren – das ergibt kooperation zu weit. sich in Konsequenz aus einer vorhandenen Schieflage in Anderes Zitat: der praktischen Umsetzung. Auf unsere Ablehnung stößt auch die Einführung Wir haben Ihnen zehn konkrete Verbesserungsvor- einer Bagatellklausel ... Das wären möglicherweise schläge vorgelegt, um das Wettbewerbsrecht effektiver Schnäppchen für die Großen. zu machen. Sie haben das eine oder andere – das gebe ich zu – in den Entwurf aufgenommen, wären aber gut Ein weiteres Zitat: beraten, diese Vorschläge viel ernsthafter in Ihre Überle- Wir sind der Auffassung, all diese Regelungen wür- gungen einzubeziehen. Denn jenseits aller parteipoliti- den zu weniger und nicht zu mehr Vielfalt auf dem schen Auseinandersetzungen wäre es gut, wenn es ein Pressemarkt führen. paar Dinge in der Wirtschaftspolitik gäbe, auf die man sich parteiübergreifend einigt. Das war bisher auch die – Soweit die damalige Äußerung des Kollegen Schulz. Tradition. Der Mechanismus des Wettbewerbs ist näm- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das stimmt lich die Essenz der marktwirtschaftlichen Ordnung. Der immer noch!) jetzt eingeschlagene ordnungspolitische Weg führt aller- dings weg von einem dezentral gesteuerten Wettbewerb Aber das wird dann wie immer schnell wieder geändert. hin zu einer sektoralen Industriepolitik. Sie verfolgen (Monika Griefahn [SPD]: Deshalb haben wir damit Ansätze, die nicht zu mehr Effizienz und Leis- tungsfähigkeit führen und letztlich den Steuerzahler viel (B) ja Änderungen vorgenommen, Herr Kollege! (D) Das ist ja der Punkt!) Geld kosten werden und viele Beschäftigte um ihre Ar- beitsplätze bringen werden. Bisher galten wenigstens im Pressebereich die glei- chen Kontrollmaßstäbe für Entstehung oder Verstärkung (Jörg Tauss [SPD]: Ach, Herr Brüderle!) einer marktbeherrschenden Stellung wie in anderen Märkten. Sie wollen nun ausdrücklich ein weniger stren- Überlegen Sie einmal, was Sie mit Ihren Fehlsteue- ges Wettbewerbsrecht für eine bestimmte Branche. Das rungen, sei es im Bereich der Steinkohle oder im Stahl- bedeutet nicht weniger und nicht mehr als den Anfang sektor, angerichtet haben: Das Geld ist weg, die Arbeits- vom Ende eines allgemeinen Wettbewerbsrechts. plätze sind auch weg und die Situation ist nicht besser geworden. (Beifall bei der FDP) (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Sie setzen Ihren Weg fort nach den Sonderregelungen im Energiesektor und dem Weisungsrecht im Telekommuni- – Dass Sie da, Herr Tauss, als ein Mann, der sich jahre- kationsbereich. Es hat keine Bundesregierung, egal wel- lang bei der IG Metall aktiv engagiert hat, befangen cher Couleur, je gewagt, ein Weisungsrecht in einen sind, verstehe ich ja. Sie sollten aber trotzdem die Kraft bestimmten Markt hinein gesetzlich zu konstituieren. Da aufbringen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und zeigt sich, dass Sie eben nicht in gesamtwirtschaftlichen ab und zu auch einmal zuzuhören. Zusammenhängen denken und nach ordnungspoliti- schen Prinzipien handeln, sondern Ihr Denken und Es wäre gut, wenn man nicht nur beschwört, dass De- Handeln an einzelnen Betrieben bzw. Konzernen ausge- mokraten zusammenstehen sollen, sondern sich bei richtet ist. Bei Ihrer Politik ist Wettbewerb also nicht wirklichen Grundsatzfragen – und hier geht es um eine mehr die Essenz der Marktordnung. Grundsatzfrage – auch so verhalten würde. Es wäre demnach gut gewesen, wenn der Wirtschaftsminister Ich hätte mir sehr gewünscht – das ist eine Rand- statt auf der CeBIT bei einem so wichtigen Gesetz auch bemerkung –, wenn der Vorgänger von Herrn Clement in dem Parlament seine Präsenz gegönnt hätte. Brüssel genauso engagiert für Wettbewerbsprinzipien wie für einen Sockel an Steinkohlensubventionen ge- Vielen Dank. kämpft hätte. Wir sehen jetzt, was sich daraus als nächs- ter Schritt ergibt: Die Pläne zum Börsengang einer neuen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ruhrkohle AG, die jetzt Herr Müller leitet, sind das Er- Hubertus Heil [SPD]: CeBIT ist aber auch gebnis. wichtig!) 15394 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das ist eine notwendige Änderung, die genau diesen (C) Das Wort hat die Kollegin Monika Griefahn, SPD- kleinen Zeitungen vor Ort hilft, statt sie zu zerstören. Fraktion. Wir waren als Kulturpolitiker sehr intensiv daran be- (Beifall bei der SPD) teiligt. Gegenüber den ersten Vorschlägen waren wir kri- tisch; das haben Sie vollkommen richtig gesagt. Deswe- Monika Griefahn (SPD): gen hat das Parlament nun anderthalb Jahre diskutiert Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und ganz konkrete Änderungen vorgeschlagen. Das Kar- und Kollegen! Nachdem ich Herrn Schauerte gehört tellamt ist explizit mit einbezogen worden, auch bei der habe, komme ich zu dem Schluss, dass er nicht wahr- Frage der Kooperationen und der Zusammenschlüsse. genommen hat, was seit einigen Jahren passiert. Sie ha- Außerdem haben wir das Instrument der Evaluation ein- ben praktisch ignoriert, dass es tatsächlich strukturelle geführt, was dazu führt, dass ab morgen, wenn das Ge- Änderungen im Zeitungsmarkt gibt. setz in Kraft tritt, überprüft wird, wie die Umsetzung verläuft. Ich glaube, das sind entscheidende Punkte: ers- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Offen tens, dass das Kartellamt auch weiterhin einbezogen angesprochen!) wird – das ist eine wesentliche Verbesserung gegenüber der vorherigen Regelung –, und zweitens, dass der Pro- Sie haben gesagt, diese gebe es de facto nicht. zess in Form der Evaluation begleitet wird und überprüft (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo gibt es wird, ob die Umsetzung des Gesetzes tatsächlich funk- das denn nicht?) tioniert. Man muss einfach einmal sehen: Durch das Internet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wurde beispielsweise der Anzeigenmarkt bei Druck- DIE GRÜNEN) erzeugnissen erheblich kleiner. Heute verkauft doch kei- ner mehr sein Auto über die örtliche Zeitung, sondern Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nur noch über das Internet. Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist im Kollegen Schauerte? Automobilhandel auch so!) Monika Griefahn (SPD): Das ist de facto so; diese Entwicklung kann man nicht Gerne, natürlich. mehr zurückdrehen. Auch bei einer Verbesserung der konjunkturellen Lage würde sich diese Situation nicht (Hubertus Heil [SPD]: Ich will auch eine!) (B) ändern, sondern sie würde so bleiben. Darauf müssen (D) wir doch reagieren. Das ist der Punkt. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Sie haben die ganze Zeit nur größere Zeitungen ange- Sie haben ja, Frau Kollegin Griefahn, als Laufzeit sprochen. Wir reden im Zusammenhang mit Pressefusio- dieser Regelung fünf Jahre vorgesehen. nen nur über Zusammenschlüsse von Zeitungen. Wir re- den nicht über Verlagszusammenschlüsse oder über Monika Griefahn (SPD): Zusammenschlüsse von Zeitschriften, sondern über Zei- Richtig. tungszusammenschlüsse bzw. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Er hat ja gerade Hartmut Schauerte (CDU/CSU): den Vergleich angestellt! – Jörg Tauss [SPD]: In dieser Zeit wollen Sie überprüfen. Was machen Sie Kooperationen!) denn, wenn in den fünf Jahren etwas falsch läuft? Haben Sie die Möglichkeit, das, was falsch läuft, zurückzuho- – das wollte ich jetzt anführen – Kooperationen. len, oder muss das Falsche dann bestehen bleiben? (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist die neue Umschreibung für Kartelle!) Monika Griefahn (SPD): Das ist genau der Punkt: Dadurch, dass das Kartell- Ich komme aus einer Region, Herr Schauerte, in der amt die Umsetzung begleitet, kann auch eingegriffen es hauptsächlich kleine Zeitungen gibt. Ich sehe, dass werden. deren Abonnentenzahl stark zurückgegangen ist, unter anderem deswegen, weil es mittlerweile viele kostenlose (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nein, eben Angebote von Wochenblättern etc. gibt. nicht! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Da haben wir negative Erfahrungen gemacht, zum Bei- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die haben spiel beim Energiewirtschaftsgesetz!) nicht nach dem neuen Recht gerufen!) – Das werden wir dann sehen. Dafür läuft der Evalua- Diese haben sozusagen geradezu gefleht, dass sie we- tionsprozess ab morgen. nigstens den Abonnementbetrieb zusammen machen dürfen und dass Anzeigenkooperationen erlaubt sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das sind Punkte, die wir hier aufgegriffen haben. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zu einem weiteren Punkt, der ganz wichtig ist, der DIE GRÜNEN) vor allem uns als Kulturpolitikern ganz wichtig war. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15395

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bei kleineren Titeln mit weniger als 2 Millionen Euro (C) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Jahresumsatz. Kollegen Brüderle? Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, bei dem wir, wie bei anderen Punkten, die uns wirklich im Magen lagen, Monika Griefahn (SPD): zum Beispiel beim Altverlegermodell, in den vielen De- Lassen Sie mich doch kurz noch zu den anderen batten, die wir hatten, eine Lösung gefunden haben, die Punkten kommen, vielleicht komme ich dann ohnehin zu praktikabel und redaktionsfreundlich ist, auch im Sinne dem, was Sie fragen wollen. der Pressevielfalt. Herr Heil wird sicherlich nachher noch auf die anderen Punkte in diesem Zusammenhang Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: eingehen. Die Unterstellungen, die bezüglich der Beteili- Sie gestatten sie also nicht. gungen der SPD geäußert wurden, sind unglaublich und können nicht unwidersprochen bleiben. Monika Griefahn (SPD): (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Im Moment nicht. Meine Redezeit reicht allerdings nicht aus, um dies klar- Wenn wir – darauf haben Sie richtig hingewiesen; zustellen. Herr Heil wird, wie gesagt, noch darauf einge- auch da spreche ich wieder vom ländlichen Raum – eine hen. Pressevielfalt auch in der Fläche erhalten wollen, dann Ich bitte um Zustimmung. ist es ganz entscheidend, dass wir das Presse-Grosso er- halten und dass gewisse Zeitungen an jedem Ort gekauft Herzlichen Dank. werden können, nicht nur in der Großstadt am Bahnhofs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kiosk. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich bin sehr froh, dass es eine Vereinbarung zwischen Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken, CDU/CSU- den Verlagen und dem Presse-Grosso gibt. Wir haben in Fraktion. unseren Gesetzentwurf ebenfalls aufgenommen, dass ge- (Beifall bei der CDU/CSU) nau geprüft wird, ob die Umsetzung so erfolgt, wie wir uns das vorstellen, und werden gegebenenfalls aktiv Ernst Hinsken (CDU/CSU): werden können. Deswegen glaube ich auch, Herr Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kol- (B) Brüderle, dass Ihr Entschließungsantrag in diesem Falle (D) legen! Der Hinweis der Vizepräsidentin Frau unnötig ist; denn wir haben das in den Gesetzentwurf Dr. Vollmer, dass sich die Regierungsbank füllen möge, aufgenommen. Es ist Teil der Beratungen, die wir in den hat gewirkt. Der Anteil der anwesenden Regierungsmit- letzten anderthalb Jahren durchgeführt haben. Das Parla- glieder hat sich immerhin um 200 Prozent erhöht. ment und die Fraktionen haben das aufgegriffen. Die Formulierung ist so gewählt, dass wir die Kooperation in (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der diesem Fall ausschließlich auf den Abonnementvertrieb SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- konzentrieren. Darüber hinaus prüfen wir, ob die Verein- NEN) barung so umgesetzt wird, wie wir uns das vorstellen. Jetzt sitzen immerhin zwei Staatssekretäre auf der Re- Das ist uns als Parlament wichtig und da schauen wir ge- gierungsbank, um dieser wichtigen Debatte zu lauschen. nau hin. Aber eigentlich müsste bei dieser wichtigen Debatte, in (Beifall bei der SPD) der es um wesentliche Punkte geht, der Bundeswirt- schaftsminister selbst zugegen sein. Natürlich besteht im Feld der Kooperationen eine Gefahr. Natürlich muss gewährleistet sein, dass die Re- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – daktionen tatsächlich selbstständig bleiben. Die Redak- Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Er hat es ini- tionsselbstständigkeit ist das A und O für die Presseviel- tiiert!) falt. Mit den konkreten Maßnahmen, die wir hier Ich möchte nicht darauf eingehen, was es mit dem vorschlagen, unternehmen wir den Versuch – es ist ein GWB, dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Versuch; bei jedem Gesetz kann sich herausstellen, dass speziell auf sich hat. Aber wir wissen, dass unsere Wirt- an einigen Stellen Änderungen vorgenommen werden schaft und gerade unser Mittelstand ein klares Bekennt- müssen, wenn die Praxis zeigt, dass das eine oder andere nis zur Marktwirtschaft und zu einem freien und fairen nicht richtig funktioniert –, Redaktionstätigkeit zu erhal- Leistungswettbewerb brauchen. ten, die sonst ganz wegfallen würde. Die kleinen Zeitun- gen, die ich eben erwähnt habe, würden sonst sang- und Ich möchte eingangs feststellen: Dieses GWB hat sich klanglos untergehen, sie würden dann einfach zuge- in der Bundesrepublik Deutschland bewährt. Es hat in- macht. Sie werden nicht aufgekauft, sondern verschwin- ternational anerkannte Maßstäbe gesetzt und den Mittel- den einfach. Wenn hier mit der Bagatellgrenze die Mög- stand unserer Republik einmal groß gemacht. Erfreuli- lichkeit besteht, durch Kooperationen den Titel als cherweise darf ich darauf verweisen, dass wir in diesem solchen und die Redaktion als solche zu erhalten, dann Bereich bislang immer Konsens hatten. Änderungen ist das einen Versuch wert; das gilt auch für die Fusion wurden mit größter Sorgfalt, ohne Zeitdruck und unter 15396 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Ernst Hinsken (A) Berücksichtigung des Rates Sachverständiger vorge- ob sie eine solche Entscheidung trifft. Aber das will die (C) nommen. Leider hat das Rot-Grün in diesem Gesetzge- Bundesregierung so. bungsverfahren nicht immer so gehandhabt. Insbeson- dere bei einem Teil des Gesetzes, nämlich der Gerade kleine und mittlere Unternehmen verlieren Pressefusionskontrolle, hat man uns, die Opposition, bei Rechts- und Planungssicherheit bei strittigen Fällen und der Entscheidungsfindung völlig außen vor gelassen, großen Investitionen, haben sie doch in aller Regel keine Herr Heil. Darauf komme ich später noch zu sprechen. adäquate eigene Rechtsberatung. Kollege Schauerte und Kollege Brüderle haben das bereits in treffender Art und (Jörg Tauss [SPD]: Was heißt hier „später“?) Weise angesprochen. – Herr Tauss, passen Sie gut auf, dass Sie beim Nach- Ihnen drohen stattdessen ein Untersagungs- und Buß- plappern nicht auch noch Fehler machen. geldrisiko sowie die Nichtigkeit der getätigten Ge- schäfte. (Beifall bei der CDU/CSU) (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Ja!) Lassen Sie mich zunächst etwas Grundsätzliches zum GWB sagen. Hier ist, was das neue europäische Kartell- Vor allem Investitionen in Zukunftssektoren, wo nicht rechtsverfahren anbelangt, festzustellen, dass es sich um auf Erfahrungen aus der Praxis zurückgegriffen werden einen Systemwechsel von einem Anmelde- und Ge- kann, können so zu einem unkalkulierbaren unternehme- nehmigungssystem zu einem System der so genannten rischen Risiko werden. Das alles sehen Sie nicht. Legalausnahme handelt. Das ist zu begrüßen, (Beifall bei der CDU/CSU) (Hubertus Heil [SPD]: Sehr gut!) Dies kann umso mehr geschehen, als im Rahmen der führt doch dies erstens zur Rechtsvereinfachung, zwei- siebten GWB-Novelle die Sanktionsmechanismen der tens zu mehr Rechtssicherheit und drittens zu einem ge- Kartellbehörden verschärft werden sollen. ringeren Aufwand für die betroffenen Unternehmen. Dies ist bei immer mehr Bürokratie besonders wichtig. (Hubertus Heil [SPD]: Das ist doch gut, oder?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Meine Damen und Herren, es besteht kein Zweifel an neten der SPD) der Bereitschaft und an dem guten Willen sowohl der Europäischen Kommission als auch der deutschen Wett- Trotz dieser Anpassung an europäisches Recht dürfen bewerbsbehörden, betroffenen Unternehmen auch künf- die Besonderheiten des deutschen Kartellrechts aber tig Gelegenheit zu informellen Gesprächen zu geben. nicht über Bord geworfen werden. (Hubertus Heil [SPD]: Genau!) (B) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Genau! – (D) Hubertus Heil [SPD]: Wunderbar!) Aber in manchen Fällen wird auch in Zukunft Gewiss- heit über die kartellrechtliche Zulässigkeit einer geplan- Für meine Fraktion ist deshalb weiterhin unverzichtbar: ten Vereinbarung nur durch eine förmliche Entscheidung erstens die Missbrauchsaufsicht über marktbeherr- der Wettbewerbsbehörden möglich sein. Die Praxis schende und marktstarke Unternehmen zeigt, dass etwaige Absprachen vielfach entweder auf (Hubertus Heil [SPD]: Ja!) den Einzelfall bezogen sind oder Sachverhalte betreffen, deren kartellrechtliche Relevanz nicht im Rahmen einer sowie zweitens die Beibehaltung des Freistellungstat- Gruppenfreistellungsverordnung allgemein gültig beur- bestands der Mittelstandskooperation. teilt werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Im Interesse der Rechtssicherheit und des Nachteils- Hubertus Heil [SPD]) ausgleichs gerade für kleine und mittlere Unternehmen Es wird sich zeigen, wie sich das neue System der ist es daher geboten, Unternehmen für einen eng defi- Legalausnahme für die betroffenen Unternehmen aus- nierten Kreis von Fällen einen Anspruch auf eine Ent- wirkt. Dies hängt entscheidend von der künftigen Hand- scheidung nach § 32 c GWB innerhalb einer angemes- habung in der Verwaltungspraxis ab. Denn schließlich senen Frist einzuräumen und dies ausnahmsweise nicht wird den Unternehmen das Risiko der Fehleinschätzung in das Ermessen der Kartellbehörden zu stellen, sofern aufgebürdet. Das bedeutet für diese eine erhebliche ein erhebliches rechtliches und wirtschaftliches Interesse Rechtsunsicherheit und finanzielles Risiko. geltend gemacht werden kann. Anknüpfungskriterien können Umsatzschwellen oder Investitionssummen sein. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Tatsächliche oder rechtliche Umstände, die eine kartell- rechtliche Beurteilung erheblich erschweren, müssen da- Gerade deshalb braucht der Mittelstand in bestimmtem bei vorliegen und vom betroffenen Unternehmen nach- Umfang Unterstützungsmaßnahmen durch die Wett- gewiesen werden. bewerbsbehörden. Ich erspare mir, auf das Preisbindungsverbot und die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Missbrauchsaufsicht näher einzugehen. Bei der Miss- Für den Mittelstand ist der Erlass einer Verfügung des brauchsaufsicht sind die nationalen Regelungen beizube- Bundeskartellamts, dass kein Anlass zum Tätigwerden halten. Es ist gut, dass sie ausdifferenzierter und schlag- besteht, von herausragender Bedeutung. Unbefriedigend kräftiger als europäische Bestimmungen sind; das möchte ist jedoch, dass es im Ermessen der Kartellbehörde liegt, ich hier ausdrücklich feststellen. So können gerade kleine Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15397

Ernst Hinsken (A) und mittlere Unternehmen vor der Gefahr der miss- nungsbildung. Wir werden es deshalb nicht zulassen, (C) bräuchlichen Ausnutzung besonderer Marktmachtposi- dass dies von Ihnen mutwillig aufs Spiel gesetzt wird. tionen besser geschützt werden. Ebenso ist eine Vorteils- (Lachen des Abg. Peter Dreßen [SPD]) abschöpfung durch Verbände abzulehnen. Wir wollen die publizistische Vielfalt weiter schützen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ich muss auch auf Folgendes hinweisen: Ursprünglich sah der Gesetzentwurf der Bundesregierung mit der so Beim Pressefusionsrecht haben Sie von Rot-Grün genannten Altverlegerklausel – Sie haben das eben ange- eine völlig unbefriedigende Lösung vorgelegt; sie ist sprochen, verehrte Frau Kollegin Griefahn, auch wenn einfach nicht zu akzeptieren. Grundsätzlich stellt sich Sie es anders bewertet haben –, der Freistellung von An- die Frage, warum es überhaupt einer Neufassung bedarf; zeigenkooperationen vom allgemeinen Kartellverbot, der (Hubertus Heil [SPD]: Das erkläre ich Ihnen Nichtanwendbarkeit der Vorschriften zur Zusammen- gleich!) schlusskontrolle auf Anzeigenkooperationen und der Einführung einer De-minimis-Regelung gravierende Än- sind wir doch bisher mit der Pressevielfalt, mit den vie- derungen im pressespezifischen Kartellrecht vor. len mittleren Verlagen neben den großen, in unserem Lande gut gefahren. Diese Regelungen konnten Sie nicht durchsetzen. Alle einschlägigen Verbände und Institutionen wie die (Hubertus Heil [SPD]: Ja, dabei soll es blei- Monopolkommission, die Kartellrechtsprofessoren, das ben!) Bundeskartellamt und die Landeskartellämter haben sich dagegen ausgesprochen. Jetzt versuchen Sie es erneut, Die Behauptung, wir hätten ein Strukturproblem und und zwar mit Trick 17 durch die Hintertür. deshalb sei die Korrektur notwendig – dies hat soeben der jetzt nicht mehr anwesende Staatssekretär Herr Bundesminister Clement hat vergessen oder will Dr. Staffelt vorgetragen; jetzt ist Herr Schlauch da; dies missachten, dass die Sachverständigen ihm seinen Ent- haben auch die Redner der SPD und Herr Schulz so dar- wurf regelrecht um die Ohren gehauen haben. gestellt –, ist doch nicht wahr. In der Anhörung haben verschiedene Sachverständige darauf hingewiesen, dass (Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler diese Behauptung überzeichnet ist. [SPD]: Cool down, Ernst!) – Sie haben ihm des Weiteren ins Stammbuch geschrie- (Beifall bei der CDU/CSU) ben, Herr Kollege Stiegler: Ihre Änderungsvorschläge Dies sagte zum Beispiel bei der Anhörung zum GWB zum pressespezifischen Kartellrecht genügen den grund- (B) der Präsident des Verbandes Bayerischer Zeitungsverle- sätzlichen Anforderungen an eine Novellierung des Ge- (D) ger, Herr Dr. Balle. Herr Kollege Stiegler, wie ich in Er- setzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen nicht. – Das fahrung gebracht habe, hat er Ihnen selbst das gesagt und entspricht der Note sechs; Thema verfehlt. Sie sollen ihm sogar Recht gegeben haben. Jetzt meinen Sie, mit durchschaubaren Vorschlägen (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt aber!) doch noch ihr angestrebtes Ziel erreichen zu können. Dabei machen wir aber nicht mit. Hier so zu schreien und in persönlichen Gesprächen an- ders zu reden ist ein nicht akzeptabler Stil. Ich setze auf den Bundesrat und bin fest davon über- zeugt, dass im Vermittlungsausschuss die notwendigen (Hubertus Heil [SPD]: Bleiben Sie anständig, Maßnahmen ergriffen werden. Herr Hinsken! Sie sind doch ein netter Kerl! – Jörg Tauss [SPD]: Jetzt zitieren Sie mal! Was Lassen Sie mich noch darauf verweisen – – hat er denn gesagt?) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – Herr Kollege Tauss, wenn Sie nachlesen wollen, was Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. er genau gesagt hat, dann lesen Sie das Protokoll nach. Dass Sie es nicht genau wissen, ist ein Zeichen dafür, dass Sie erstens nicht an der Anhörung teilgenommen Ernst Hinsken (CDU/CSU): Frau Präsidentin, mein Kollege Hartmut Schauerte (Jörg Tauss [SPD]: Doch, doch!) hat mir eine Minute Redezeit geschenkt. und zweitens nicht die Zeit gefunden haben, zumindest das Protokoll nachzulesen, um hier mitreden zu können. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nein, er hat Ihnen keine Minute geschenkt. Der Kol- (Jörg Tauss [SPD]: Bei mir sind die Verleger lege Schröder, der Schriftführer der CDU ist, hat das gesessen!) Protokoll exakt geführt. Sie von Rot-Grün vergessen völlig: Zeitungs- und Zeitschriftenverlage bringen kein übliches Wirtschafts- Ernst Hinsken (CDU/CSU): gut hervor. Die grundgesetzlich verbürgte Pressefreiheit Dann muss ich mich erkundigen. Es ist bedauerlich, ist mittelbar berührt. Gerade die Vielfalt publizistischer dass ich nicht die zur Verfügung stehende Redezeit aus- Meinungen, der Verlage und der Titel ist von überragen- schöpfen kann, weil sogar um eine Minute gefeilscht der Bedeutung für die freiheitlich-demokratische Mei- und diese gestrichen wird. 15398 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Ernst Hinsken (A) Alles in allem frage ich Sie: Sind Sie bereit, in sich zu Wir können aber nicht auf einen Systemwechsel ver- (C) gehen, das Ganze noch einmal zu überdenken und eine zichten. Er ist einerseits vernünftig und andererseits im vernünftige Lösung vorzulegen, die gerade für das Pres- Hinblick auf die Europäische Union geboten. Der Um- sefusionsgesetz notwendig ist? Das gilt insbesondere setzungsprozess ist mit Chancen und Risiken verbunden. dann, wenn wir dem Leitgedanken folgen, – Es wird zwar zweifellos eine Zeit dauern, bis sich alles eingespielt hat, aber wir bekennen uns zu diesem Pro- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zess. Herr Kollege Hinsken, Sie müssen bitte zum Schluss Wenn wir diesen Systemwechsel vornehmen, müssen kommen. wir eine wirksame Balance schaffen: zwischen den neuen Freiheiten, die die Unternehmen dadurch gewin- Ernst Hinsken (CDU/CSU): nen, und den Möglichkeiten des Kartellamtes, gegen den – dass eine Änderung überhaupt nicht erforderlich ist. Missbrauch dieser Freiheiten vorzugehen. Deshalb ist in der neuen Fassung des GWB unter anderem vorgesehen, Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. dass das Kartellamt zur wirksamen Bewahrung des Wettbewerbs effektive und scharfe Schwerter einsetzen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) darf. Es kommt zum Beispiel zur Übernahme des stren- geren europäischen Bußgeldsystems. Hinzu tritt die Re- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gelung der Vorteilsabschöpfung, welche von einigen Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil, SPD-Frak- Verbänden immer wieder kritisiert wird. Sie wissen das; tion. denn manchmal machen sich diese Kritik auch einige Kollegen aus Ihren Reihen zu Eigen. Hubertus Heil (SPD): Ich finde es gut, wenn wir in unseren Wettbewerbsge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! setzen – das „Grundgesetz“, das GWB, novellieren wir Zu meiner Freude wurde ein Satz in den bisherigen Re- jetzt; aber es gibt auch noch das UWG, das Gesetz gegen den fraktionsübergreifend fast wortgleich wiederholt. unlauteren Wettbewerb, und das Telekommunikations- Das GWB ist tatsächlich das Grundgesetz – oder wie ei- gesetz – möglichst ähnliche oder sogar gleiche Regelun- nige es nennen: die Magna Charta – der Marktwirtschaft. gen abbilden. Das ist zum Beispiel bei der Vorteilsab- Ohne das, was sich mit dem GWB seit 1958 im deut- schöpfung, die im UWG, im TKG und nun auch im schen Kartellrecht entwickelt hat, hätte sich die Absiche- GWB einheitlich geregelt ist, der Fall. Das dient der rung des Wettbewerbs als entscheidendes Ordnungsprin- Klarheit und sollte auch für die Schadensersatz- und Un- (B) zip unserer sozialen Marktwirtschaft nicht in der Form terlassungsansprüche gelten. (D) entwickeln können. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich (Beifall bei der SPD) möchte meine Redezeit nutzen, um vor allen Dingen über das heiß umstrittene Thema Pressefusionskon- Mit der siebten GWB-Novelle, die wir heute in zwei- trolle zu sprechen. Herr Schauerte, ich möchte Sie an ter und dritter Lesung beraten, tragen wir auf der einen dieser Stelle direkt ansprechen. In einem Punkt sind wir Seite dieser guten Tradition und auf der anderen Seite uns einig: Weil der Pressebereich mit Meinungsvielfalt den veränderten Rahmenbedingungen Rechnung. Wir zu tun hat, muss man für ihn im Gesetz gegen Wettbe- sind uns – auch das freut mich – in vielen Bereichen ei- werbsbeschränkungen spezielle Regelungen schaffen. Es nig, beispielsweise in Bezug auf die europäische Ent- war richtig, dass diese Regelungen im Jahre 1976 tat- wicklung. sächlich eingeführt wurden. Wir werden zukünftig mit dem GWB einen europäi- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das schmei- schen Rechtsrahmen umsetzen, der sicherstellt, dass bei ßen Sie jetzt über Bord! – Monika Griefahn der Beurteilung von Kartellvereinbarungen Legalaus- [SPD]: Das war 1976 eine SPD-Regierung!) nahmen das bisherige Anzeige- und Genehmigungsver- fahren ersetzen. Dieser Systemwechsel bedeutet auf der Sie wissen – allerdings haben Sie das in der Debatte einen Seite – das geben wir offen zu – eine wesentliche verschwiegen –, dass es damals auch andere Vorstellun- Entlastung der Kartellbehörden von entbehrlichen Routi- gen über die Ausgestaltung des Presserechts gab. Inzwi- neaufgaben; auf der anderen Seite bietet er Unternehmen schen ist seine Verankerung im Kartellrecht eine be- die Möglichkeit, Verfahrenskosten zu sparen. Aber wir währte Tradition. Aber im Jahre 1976 herrschte auf dem verschweigen auch nicht, Herr Hinsken, dass es gerade Zeitungsmarkt eine andere Situation. Nun fragen Sie auch für kleine und mittlere Unternehmen eine Heraus- – diese Frage ist auch berechtigt –: Worin besteht der forderung darstellt, selber einschätzen zu können, ob ihr Unterschied zu anderen Branchen? Vorgehen rechtskonform ist. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Ja!) Nichtsdestoweniger stehen die Kartellbehörden auch Schließlich fand auch in anderen Branchen ein Struktur- zukünftig für Auskünfte in diesem Bereich zur Verfü- wandel, technischer Fortschritt und Ähnliches statt. gung. Es gibt schließlich Telefon, Herr Hinsken. Inso- fern ist aus unserer Sicht Ihrem Anliegen Genüge getan. Ich will Ihnen sagen: Diese Frage haben Sie zu Be- Wir können sicherstellen, dass Unternehmen tatsächlich ginn Ihrer Rede selbst beantwortet: Der Pressemarkt ist Rat einholen können. ein ganz spezieller Markt; denn es geht um Meinungs- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15399

Hubertus Heil (A) vielfalt. Unsere Überzeugung ist, dass man Meinungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) vielfalt nicht nur proklamieren darf, sondern dass man DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: auch dafür sorgen muss, dass Meinungs- und Zeitungs- Dann müssen Sie ja erst recht unserer Mei- pluralismus in Deutschland eine wirtschaftliche Grund- nung folgen!) lage haben. Darum geht es. Sie sollten wirklich einmal eine solche Redaktion be- (Beifall bei der SPD) suchen. Dann würden Sie feststellen, dass Rationalisie- rung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zwar etwas Wie ist denn die Lage, die Sie angeblich – denn auch Vernünftiges ist. Wenn Rationalisierungsdruck aber dazu Sie wissen es besser – nicht zur Kenntnis nehmen wol- führt, dass die Zeitungen vor allen Dingen im redaktio- len? Es gibt im Zeitungsbereich strukturelle Verwerfun- nellen Bereich zusammenschrumpfen, dann ist das ein gen und fortlaufend massive Veränderungen; dies wurde Problem für die Meinungsvielfalt; das will ich Ihnen sa- übrigens auch im Rahmen der Anhörung belegt. Wenn gen. Wenn die Zeitungsvielfalt darin besteht, dass in den Sie uns nicht glauben wollen, sage ich Ihnen: Es gibt Redaktionen nur noch Agenturmeldungen zusammenge- auch Gutachten, die dies belegen. stückelt werden, dann ist das nicht der Meinungsplura- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die gibt es lismus, den wir wollen. nicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lassen Sie mich nur eine Zahl als Beispiel nennen: DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Im Jahre 1976 finanzierten sich Tageszeitungen grob Genau gegenteilig ist das!) nach dem Schema: ein Drittel Vertriebserlöse, zwei Drit- Deshalb haben wir eine andere Regelung vorgeschla- tel Anzeigenerlöse. Inzwischen ist das Verhältnis fifty- gen. fifty. Das hat nicht nur konjunkturelle Gründe. Ich gebe zu: In den letzten drei Jahren waren die Probleme, mit denen die Zeitungen zu tun hatten, vor allem konjunktu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: reller Natur; diese Situation verbessert sich allerdings Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des wieder. Kollegen Schauerte? (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja, wenn wir Hubertus Heil (SPD): dran sind!) Gerne, Herr Schauerte. Aber die strukturellen Veränderungen, die Frau Griefahn vorhin angedeutet hat, möchte ich noch etwas Hartmut Schauerte (CDU/CSU): (B) ausmalen. Wenn man über die Konkurrenz im Anzeigen- (D) Ich komme aus einem Kreis, in dem sich die Eigentü- bereich spricht, muss man berücksichtigen, dass es die mer der „WAZ“, der damaligen „Westfalenpost“ und der heutigen elektronischen Medien im Jahre 1976 noch „Westfälischen Rundschau“ zusammengeschlossen ha- nicht gab. Weder gab es ein Privatfernsehen noch SMS ben, aber die Redaktionen selbstständig blieben. In die- noch Internet. sem Kreis gibt es nur diese Zeitungen. Die Lokalredak- Schauen Sie sich nur einmal an, in welchem Umfang tionen sind personell so mager besetzt, dass man sie die Anzeigen in den Rubriken Automobile und Immo- kaum noch findet. Denn dem Eigentümer ist es egal, bilien von den Tageszeitungen ins Internet migriert sind; welche Zeitung ein Abonnent bestellt; alle gehören ja denn die dortigen Anwendungen und technischen Mög- ihm. In dem Nachbarkreis, der auch zu meinem Wahl- lichkeiten sind für die Nutzer viel interessanter als das, kreis gehört, Lüdenscheid, gibt es eigentümergeführte, was die Tageszeitungen zu leisten vermögen. Daneben mittelständische Zeitungen, etwa die „Lüdenscheider ist bei denen, die Werbung schalten, ein tief greifender Nachrichten“ der Ippen-Gruppe. Die Lokalredaktionen Konzentrationsprozess zu beobachten. Schauen Sie sich sind personell um ein Vielfaches stärker besetzt; das ist nur den Lebensmittelbereich an: Lidl, Aldi und viele an- auf den Wettbewerb zurückzuführen. Der Umfang dieser dere führen umfangreiche Reihen- und Kettenschaltun- Zeitungen beträgt das Dreifache der Zeitungen im ande- gen durch. Es besteht bei Anzeigen also auf der Nachfra- ren Kreis; das dient auch der Meinungsvielfalt. Das ist geseite eine unheimliche Marktmacht. ein praktisches Beispiel dafür, wie Zusammenarbeit aus- sehen kann. Es gibt also, was die wirtschaftlichen Grundlagen von Zeitungen betrifft, Veränderungen; das kann man nicht Ich frage Sie: Glauben Sie ernsthaft, dass Sie mit Ih- leugnen. Wenn Sie mir nicht glauben, dann schauen Sie rer Konzentrationsbeschleunigung, die Sie mit diesem sich in den Redaktionen um. Reden Sie mit Redakteuren, Gesetz möglich machen, tatsächlich Arbeitsplätze für deren Redaktionen massiv zusammengekürzt wurden. Journalisten retten? Sie werden sich wundern. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Diesen Vor- Hubertus Heil (SPD): gang werden Sie beschleunigen!) Ich antworte Ihnen am besten mit einem Beispiel aus Reden Sie auch einmal mit Menschen, die als freie Mit- meinem Wahlkreis, Gifhorn–Peine. Er liegt in Nieder- arbeiter und Journalisten arbeiten und in einer wirklich sachsen. Ich habe das Glück, dass es in meinem Wahl- schwierigen Situation sind, und nicht nur mit irgendwel- kreis fünf verschiedene Tageszeitungen gibt, die zwei chen Verbandsvertretern. oder drei Verlegern gehören. 15400 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Hubertus Heil (A) (Rainer Brüderle [FDP]: Wo gibt es das denn? (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Und Ver- (C) Das gibt es doch nur ganz wenig!) lagshäuser!) – Das gibt es in meinem Wahlkreis. Ich lade Sie ganz – Nein, es geht um Zeitungen und nicht um Verlage. herzlich ein. Es gibt zwar nicht so wunderbaren Wein wie bei Ihnen, aber es gibt fünf Tageszeitungen. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Und Ver- lagshäuser!) (Rainer Brüderle [FDP]: Ich bringe Ihnen eine Flasche mit!) Im Gesetzentwurf ist von an der Kooperation beteiligten Zeitungen die Rede. Lesen Sie bitte den Gesetzestext! In meinem Wahlkreis, ganz im Norden, gibt es ein sehr Das hilft. kleines Blatt, das „Isenhagener Kreisblatt“. Der Verleger möchte diese Zeitung gern weiterführen. Bei einer Auf- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Und davor lage von sage und schreibe 5 000 Exemplaren – die Zei- stehen die Verlagshäuser!) tung ist ganz klein; ich freue mich darüber, dass es das Ich will Ihnen klar sagen, dass ich mir in diesem Be- Blatt gibt – hat der Verleger allerdings kaum noch die reich mehr vorstellen könnte. Da bin ich übrigens in gu- Möglichkeit, gerade bei größeren Unternehmen Anzei- ter Gesellschaft mit Ihrem stellvertretenden Fraktions- gen in nennenswertem Umfang für diese Zeitung ein- vorsitzenden, Herrn Pofalla, den ich heute sehr vermisse. zuwerben. Warum sollten wir es diesem Unternehmen Herr Hinsken, warum schweigen Sie eigentlich dazu, verweigern, mit einem benachbarten größeren Unterneh- dass Herr Pofalla Vorschläge gemacht hat, die weit über men eine Anzeigenkooperation einzugehen? das hinausgegangen sind, was Herr Clement und wir (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das gibt es vorgeschlagen haben? ja schon!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Weil wir die – Anzeigenkooperation gibt es schon. Aber wir wollen Vorschläge zurückgezogen haben!) sie gerade auch mit Blick auf die strukturelle Verände- Warum verschweigen Sie das heute und tun so, als wür- rung erleichtern. den wir uns in diesem Bereich zu schaffen machen? Von daher glaube ich, dass wir ein gutes Modell ge- funden haben, für den Bereich der Anzeigen, des Ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: triebs und des Drucks gesellschaftsrechtlich oder auch Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des vertraglich Kooperationen zu ermöglichen, unter der Kollegen Tauss? Voraussetzung, dass bestimmte Kriterien erfüllt sind. Ich (B) will Ihnen das gern erklären. (Birgit Homburger [FDP]: Nein, Herr Tauss!) (D)

Im Gesetzentwurf ist keine Zusammenlegung von Hubertus Heil (SPD): Redaktionen vorgesehen. Ebenfalls sind keine Fusionen Ja, gern. vorgesehen. Vielmehr wollen wir auf den von mir ge- nannten Feldern Kooperationen in der Reichweite, die ich eben beschrieben habe, ermöglichen. Das ist aller- Jörg Tauss (SPD): dings keine Garantie dafür, dass es Freiräume für redak- Danke schön. – Lieber Kollege Heil, nachdem Sie ge- tionelle Arbeit gibt; das will ich Ihnen gern einräumen. rade das Wort „Missbrauch“ in den Mund genommen haben und Herr Kollege Schauerte die heutige Debatte (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist die dazu missbraucht hat, die Sachfragen mit vermeintlichen falsche Medizin!) Einflussnahmen der SPD auf Redaktionen, die redak- Aber es bietet die Chance, Meinungsvielfalt zu erhalten. tionelle Unabhängigkeit und auf Verlage zu verbinden, möchte ich Sie fragen: Könnten Sie mir in diesem Zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sammenhang freundlicherweise nochmals die histori- DIE GRÜNEN) schen Zusammenhänge aufzeigen, Was wäre denn Ihre Alternative etwa für das „Isenha- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gener Kreisblatt“? Wir wollen jedenfalls nicht zu- NEN]: Die letzten 60 Jahre, bitte schön!) schauen, wie es zusammenbricht. die dazu geführt haben, dass eine Gesellschaft, an der die (Beifall bei der SPD) SPD beteiligt ist, nach Überwindung der Diktaturen, des Ich will noch einige Punkte nennen. Wir haben Krite- Nazi-Reichs und der SED-Diktatur die Rückgabe von rien aufgestellt, weil wir, Herr Schauerte, nicht wollen, Verlagen erreichen konnte, weil es sich dabei um zu Un- dass diese Regelungen missbraucht werden. Diese Kri- recht enteignetes Eigentum gehandelt hat? Und wie be- terien sind vorhin genannt worden. Zum einen muss es werten Sie die Versuche der CDU, das heute wieder der Wettbewerbsfähigkeit dienen; zum zweiten muss rückgängig zu machen? durch die Kooperation eine der beteiligten Zeitungen langfristig gesichert werden und zum dritten ist eine Be- Hubertus Heil (SPD): grenzung auf fünf Zeitungen vorgesehen. Herr Kollege Herr Kollege Tauss, ich will Ihnen antworten, ver- Schauerte, zum fünften Male: Es geht um Zeitungen und weise aber auf die Auseinandersetzung, die wir hier vor nicht um Verlage. einem Jahr schon zu diesem Thema hatten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15401

Hubertus Heil (A) (Ludwig Stiegler [SPD]: Es gibt ein schönes Hubertus Heil (SPD): (C) Buch dazu!) Doch, das will ich. Ich finde es bedauerlich, dass Sie, Herr Schauerte, in Ihrer Rede ständig mit Unterstellungen gearbeitet haben Ernst Hinsken (CDU/CSU): – das tun wir nicht. Wir sind in der Sache an der einen Wenn sich vier Starke mit einem Fünften, Schwachen, oder anderen Stelle über die Wirkung unterschiedlicher zusammensetzen, zusammenschließen, kommt auch die Auffassung – das gehört zum Meinungsstreit in der Zahl fünf zustande. Haben Sie sich darüber hinaus viel- Demokratie –, aber dass Sie uns sozusagen verschwö- leicht von dem Gedanken leiten lassen, dass Sie fünf rungstheoretisch Eigeninteresse unterstellen, ist nicht Zeitungsverlage in Ihrem eigenen Bereich haben? Ich nur falsch, es ist schäbig, erst recht in dem Ton, in dem kann das nicht nachvollziehen. Sie es getan haben; das will ich Ihnen klar sagen. Hubertus Heil (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gut, dass Sie nachfragen; dann kann ich Ihnen ant- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) worten. Herr Kollege Tauss hat vorhin deutlich gemacht: Die Zeitungsbeteiligungen, die Parteien haben, sind nichts Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ehrenrühriges, weil sie keinen redaktionellen Einfluss Sie sind diesen Fragen schon im Wirtschaftsausschuss nehmen. ausgewichen. Dann sagen Sie wenigstens heute etwas (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wie bitte?) dazu! – Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist hoffnungs- los!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Was ist mit der „Frankfurter Rundschau“?) Hubertus Heil (SPD): Lesen Sie einmal ein paar Zeitungen, an denen die Das mache ich sehr gerne, Herr Kollege, wenn es zur DDVG beteiligt ist. Ich sage Ihnen: Ich ärgere mich Weiterbildung dient. Sie bringen ein paar Dinge durch- manchmal schwarz über das, was ich lese. einander. Ich will das aber gerne mit Ihnen aufrollen, wenn wir die Zeit dazu haben. (Monika Griefahn [SPD]: Wohl wahr!) Erstens. Wir haben im Entwurf eine Begrenzung auf Reden Sie beispielsweise mit Herrn Wulff darüber, ob er fünf Zeitungstitel vorgenommen. Ich gebe wie der Kol- sich über die Berichterstattung der „Hannoverschen All- lege Schulz zu: Es hätten auch sechs oder sieben oder (B) gemeinen Zeitung“ beschweren kann – er wird es (D) acht sein können. Aber fünf war die Begrenzung, die wir schwerlich können. mit den Grünen ausgehandelt haben. Ihr Kollege Pofalla (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollte gar keine Begrenzung. So weit dürften wir uns ei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – nig sein. Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Eine Zeitung, die (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das tut nichts zur der SPD gehört, ist nicht unabhängig! – Sache!) Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Was drauf steht, muss auch drin sein!) Zweitens. Sie haben nach den fünf Jahren gefragt, nach der zeitlichen Begrenzung, und danach, ob man ei- Gerade Sie von der CDU sollten in der Frage, wie Sie nen solchen Zusammenschluss auch wieder rückab- Ihre Partei finanzieren, einmal ganz ruhig sein! wickeln kann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich will Ihnen dazu sagen: Wir wollen, dass Koopera- Herr Kollege Heil, gestatten Sie eine Zwischenfrage tionen möglich sind. Natürlich geht keiner eine Koope- des Kollegen Hinsken? ration und damit ein wirtschaftliches Risiko ein, wenn das Rad nach fünf Jahren zurückgedreht wird. Sie kön- nen eben – mit Ludwig Stiegler gesprochen – aus einem Hubertus Heil (SPD): Omelett kein Ei mehr machen. Gerne, ich habe heute noch jede Menge Zeit; ich muss bloß noch zum Unterbezirksparteitag meiner Partei in (Heiterkeit bei der SPD) Peine. Deshalb haben wir dem Kartellamt mit der Ex-ante-Prü- fung klare rechtsstaatliche Kriterien und genug Möglich- Ernst Hinsken (CDU/CSU): keiten an die Hand gegeben, um Missbrauch möglichst Herr Kollege Heil, ich befürchte, dass Sie das, was einzugrenzen. Nach fünf Jahren wollen wir sehen, was Sie vorhin angekündigt haben, nicht wahr machen, näm- diese Regelung für die Branche bedeutet. Wir können sie lich uns darüber aufzuklären, was es mit der Zahl fünf verlängern, wenn sie sich bewährt hat. Aber zuvor müs- auf sich hat, dass nach fünf Jahren überprüft werden soll. sen wir das überprüfen. (Jörg Tauss [SPD]: Nicht nach fünf Jahren, in- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir können es nerhalb von fünf Jahren!) nicht!) 15402 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Hubertus Heil (A) Herr Hinsken, wir beide können doch nicht in die Zu- muss sich nicht wundern, dass die wirklichen Skandale (C) kunft schauen, auch wenn ich das uns beiden wünschen in Deutschland nicht mehr auffallen. Das ist kein Skan- würde; wir sind beide nette Kerle. Aber wir haben unter- dal, sondern eine unterschiedliche politische Bewertung. schiedliche Auffassungen über die Vergangenheit und die Gegenwart. Das ist der Unterschied zwischen uns: (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Doch, ein riesiger Sie sagen: „Es gibt keine strukturelle Krise auf dem Zei- Skandal!) tungsmarkt.“ – Ach, ja, Sie sind für Ihre sachlichen Einschätzungen (Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] nimmt wie- von politischen Situationen ja allgemein bekannt, Herr der Platz) Kollege. Sehen Sie das so, Herr Hinsken? Dann bleiben Sie ste- Ich will Ihnen nur sagen: Mit der heutigen GWB- hen; Novelle schaffen wir das Grundgesetz der Marktwirt- schaft der Zukunft. Es gibt veränderte Rahmenbedin- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Nein! – Ludwig gungen. Der Pressebereich ist sehr sensibel. Dort bleibt Stiegler [SPD]: Bleib stehen!) es bei Spezialregelungen. Bezogen auf die Aufgreif- schwelle und die Bagatellklausel haben wir behutsame ich bin mit meiner Antwort noch nicht zu Ende. Fragen Änderungen vorgenommen, womit wir die entsprechen- stellen und dann keine Antwort erwarten – so geht es den Regelungen übrigens an die anderer Branchen ange- nicht; das sind rhetorische Fragen, aber keine Zwischen- passt haben. Ich finde, auch bei den Kooperationen sind fragen im Deutschen Bundestag! wir einen guten und vernünftigen Schritt weitergekom- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie können noch men. eine halbe Stunde darüber reden!) Ich hätte mir gewünscht, dass wir die Beratungen hier – Wenn Sie es nicht verstehen wollen, muss ich länger im Bundestag sachlich hätten abschließen können und reden; das tut mir leid. dass wir kein Vermittlungsverfahren brauchen würden. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wenn Sie ankün- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das kommt erst digen, Sie sprechen darüber, dann aber nichts noch!) sagen!) Ich sage: Das ist an Ihnen gescheitert. Es wird zum Ver- Dann will ich Ihnen zum Schluss gerne eins sagen: Auch mittlungsverfahren kommen. Herr Hinsken, ich bin sehr ich hätte mir gewünscht, dass wir das miteinander im gespannt, wie sich die Landeswirtschaftsminister in die- ruhigen Gespräch hätten klären können; ser Frage verhalten werden. (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) ich sage Ihnen das ganz offen. Nur, diese Debatte hier Herr Brüderle, der sonst immer kritisiert, dass zum und auch im Wirtschaftsausschuss und die Presseäuße- Beispiel Minister nicht anwesend sind – – rungen, die Sie gleich, nachdem wir uns in der Koalition verständigt hatten, abgegeben haben, haben uns zu der (Jörg Tauss [SPD]: Wo ist er denn? – Ernst Auffassung gebracht, dass es sinnvoller ist, mit vernünf- Hinsken [CDU/CSU]: Er hat sich verabschie- tigen Landeswirtschaftsministern Ihrer Partei zu reden det! – Birgit Homburger [FDP]: Dass er nicht mehr da ist, wurde abgesprochen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Okay, dann habe ich das nicht mitbekommen und ich als mit ideologischen Menschen, die nur ein Ziel haben: entschuldige mich. Wir sollten die Aufgeregtheiten aber uns die übelsten Motive zu unterstellen. Das tue ich bei auch dann lassen, wenn Staatssekretäre weg müssen. Ihnen auch nicht: Ich unterstelle, dass Sie politisch Das war bei diesem Punkt nämlich auch abgesprochen. falsch liegen. Sie wiederum sagen, ich liege falsch. Aber Sie unterstellen uns dabei, dass wir das aus niederen Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weggründen tun. Das finde ich nicht gut. DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: Unglaublich! – Ernst Herr Hinsken, das haben Sie vorhin nur nicht mitbekom- Hinsken [CDU/CSU]: Aus nicht nachvollzieh- men; so, wie ich eben. baren Gründen!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Moment einmal, Wissen Sie, Herr Hinsken – ich sage Ihnen das in aller die haben doch fünf von der Sorte in einem Ruhe; Sie sind doch freundlicher als Herr Schauerte, der Ministerium!) ständig etwas andeutet –: Es nützt letztlich keinem, Ich will nur sagen, dass wir eine vernünftige Rege- wenn wir uns gegenseitig in jeder politischen Auseinan- lung getroffen haben, mit der viele leben können. dersetzung skandalisieren. Es gibt Verleger, die sich mehr gewünscht hätten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Schauerte hat Recht, wenn er sagt, dass es in der Wer ständig „Skandal“ ruft, Natur von Unternehmen liegt, dass sie das Kartellrecht nicht sonderlich originell finden. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das ist ein Skan- dal!) (Zuruf von der CDU/CSU: Redezeit!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15403

Hubertus Heil (A) – Ich habe noch zehn Sekunden. – Wir als Politiker müs- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge- (C) sen das Kreuz durchdrücken, damit wir dort vernünftige genstimmen der FDP und der CDU/CSU angenommen. Spielregeln haben. Manchen Verlegern geht das nicht Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: weit genug, anderen geht das zu weit. Das heißt, wir sind mit diesem Gesetzentwurf in der guten Mitte. Sie wer- Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten den sehen, dass wir uns durchsetzen werden. Entwurfs eines Gesetzes zum Bürokratieabbau Herzlichen Dank und schönes Wochenende. – Drucksache 15/4646 – Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Das Innenausschuss nächste Mal redet bei der CDU/CSU der Rechtsausschuss Pofalla!) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Ich schließe die Aussprache. Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die rung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Drucksache 15/3640. Der Ausschuss für Wirtschaft und keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wirt- Drucksache 15/5049, den Gesetzentwurf in der Aus- schaftsminister des Landes Baden-Württemberg, Ernst schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Pfister. dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstim- Ernst Pfister, Minister (Baden-Württemberg): men von CDU/CSU und FDP angenommen. Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren Abge- ordnete des Deutschen Bundestages! Sie wissen, dass Dritte Beratung der Bundesrat auf Initiative des Landes Baden-Württem- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem berg eine Gesetzesinitiative zum Abbau von Bürokratie (B) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – in Deutschland vorgelegt hat. Dies war notwendig, nach- (D) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- dem es zwar in der Vergangenheit immer wieder Ankün- wurf ist damit mit demselben Stimmergebnis wie in der digungen von allen Seiten gegeben hat, diesen Jobkiller zweiten Beratung angenommen. Nummer eins, Bürokratie, in Deutschland zurückzudre- hen, aber im Grunde das Gegenteil passiert ist. Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5053? – Wer stimmt Die Zahl der Gesetze und Verordnungen hat in den letz- dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ten Jahren permanent zugenommen. Noch schlimmer ist ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen aber: Bürokratie ist nicht nur eine Angelegenheit, die der CDU/CSU und der FDP abgelehnt. uns alle ärgert, auch als Privatpersonen, sondern Büro- kratie hat mit Kosten zu tun, und zwar auch mit Kosten Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- für die mittelständische Wirtschaft. Es gibt eine Un- tion der FDP auf Drucksache 15/5054? – Wer stimmt da- tersuchung des Instituts für Mittelstandsforschung in gegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist Bonn. In dieser wird uns vorgerechnet, dass die Bürokra- mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der tiekosten für die deutsche Wirtschaft im Jahr 1994 noch FDP und der CDU/CSU abgelehnt. bei 30 Milliarden Euro pro Jahr lagen und diese Zahl in Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- der Zwischenzeit auf 50 Milliarden Euro angestiegen ist. tion der FDP auf Drucksache 15/5055? – Wer stimmt da- Noch schlimmer ist: Wenn Sie die Bürokratiekosten gegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist eines Großbetriebes betrachten, dann werden Sie fest- ebenfalls mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstim- stellen, dass diese Kosten pro Nase und pro Jahr im Au- men der FDP und der CDU/CSU abgelehnt. genblick bei etwa 350 Euro liegen. Wenn Sie einen klei- nen oder mittleren Betrieb betrachten, dann sehen Sie, Tagesordnungspunkt 19 b: Abstimmung über die Be- dass diese Kosten mehr als zehnfach so hoch sind. Sie schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und liegen bei 4 300 Euro. Das heißt, Bürokratie ist insbe- Arbeit auf Drucksache 15/3136 zu dem Antrag der Frak- sondere ein Problem des Mittelstandes, jenes Bereiches, tion der FDP mit dem Titel „Für einen wirksamen Wett- der zu 70 Prozent für Ausbildungsplätze und zu 80 Pro- bewerbsschutz in Deutschland und Europa“. Der Aus- zent für Arbeitsplätze sorgt. Gerade dieser Bereich ist schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/760 durch die Bürokratie besonders belastet. abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 15404 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Ernst Pfister, Minister (Baden-Württemberg) (A) Deshalb sollten wir alle keine Ruhe geben und diesen schen Bundestag und der Bundesregierung signalisieren, (C) Jobkiller dahin befördern, wo er hingehört: in den Pa- dass wir an einem Strick ziehen wollen, dann erwarte ich pierkorb. Der Bundesrat hat am 26. November 2004 mit von Ihnen, meine Damen und Herren Bundestagsabge- großer Mehrheit dem vorliegenden Entwurf eines Geset- ordnete, im Gegenzug Ihre Unterstützung für diese Ini- zes zum Bürokratieabbau zugestimmt. Erstmals – das ist tiative des Bundesrates. Das ist nicht mehr als in Ord- bemerkenswert – wurden die Anstrengungen der Länder nung. zum Bürokratieabbau gebündelt. Die Landesregierung von Baden-Württemberg war hieran maßgeblich betei- (Beifall bei der FDP) ligt. Wir haben das Thema Bürokratieabbau längst zur Der Bundesrat hat mit dieser Gesetzesinitiative ge- Chefsache gemacht. zeigt, dass es ihm mit dem Bürokratieabbau Ernst ist. Ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg bedauere sehr, dass die Bundesregierung in ihrer Stel- Tauss [SPD]: Vergeblich!) lungnahme offensichtlich der Mut verlassen hat. Diese Mutlosigkeit können wir uns nicht mehr erlauben. Büro- – Das liegt an Ihnen, Herr Kollege. kratie als einer der fünf oder sechs stärksten Jobkiller hat zumindest den Vorteil, dass wir an dieser Stellschraube (Jörg Tauss [SPD]: Innerhalb Baden-Württem- drehen können, ohne dass es uns auch nur einen einzigen bergs!) Cent kostet. Im Gegenteil: Wir werden dabei sogar noch Denn richtig ist: Wir allein als Bundesrat, als Bundes- Geld sparen. länder können dies nicht schultern. Das hängt damit zu- Deshalb sollten wir uns gemeinsam, Bundesrat und sammen, meine Damen und Herren Bundestagsabgeord- Bundestag, darauf konzentrieren, in der Zukunft nicht nete, dass das Wirtschaftsrecht zu 90 Prozent in Berlin die Menschen, sondern die Bürokratie zu diskriminieren. oder auch in Brüssel gemacht wird. Das wollen wir und Unterstützen Sie bitte diese gemeinsame Initiative der das will der Bundesrat mit diesem Gesetzentwurf ge- Länder mit dem gemeinsamen Ziel! Diese Bürokratie meinsam angehen. können wir uns in unserem Lande für die Menschen, (Jörg Tauss [SPD]: Föderalismuskommission!) aber auch für die Wirtschaft nicht mehr erlauben. Bürokratie darf nicht in Brüssel entstehen. Da sind wir Haben Sie herzlichen Dank. uns einig. Sie darf auch nicht in Berlin perfektioniert (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) Sie müssen sich ein aktuelles Beispiel dafür gefallen Die Rede des Kollegen Ulrich Kelber, SPD-Fraktion, (D) lassen, dass ständig, auch von der Bundesregierung, zu- wird zu Protokoll gegeben.1) Deswegen gebe ich nun lasten von Bürgerinnen und Bürger und zulasten der dem Kollegen Dr. Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion, Wirtschaft draufgesattelt wird. Das prominenteste Bei- das Wort. spiel dafür ist das Antidiskriminierungsgesetz. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Popanz!) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Dieses Gesetz diskriminiert in Wahrheit rechtschaffene Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Unternehmen und Bürger. Es ist ein gigantisches Ar- gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es freut beitsbeschaffungsprogramm für Rechtsanwälte und Ge- mich, dass wir überhaupt wieder eine Debatte über das richte und mit Sicherheit ein neues bürokratisches Mons- Thema Bürokratieabbau haben. Die letzten Debatten ha- trum, das wir zurückdrängen sollten. ben Sie zeitlich immer so geschoben, dass sie nicht mehr stattfanden. Über Ihren eigenen Antrag haben wir über- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haupt nicht debattiert. Er stand zwar dreimal auf der Ta- gesordnung, aber beim dritten Mal wurde er gegen Mit- Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass die ternacht zu Protokoll gegeben. Das zeigt, wie groß Ihr deutsche Krankheit so umschrieben werden kann, dass Interesse am Bürokratieabbau ist. die Deutschen eine Mentalität haben, die da lautet: Wenn sie nur entfernt am Firmament ein Problemchen ent- (Beifall bei der CDU/CSU) decken, dann kommen sie sofort auf die Idee, diesem Problemchen ein Gesetz hinterherzuschmeißen. Der Versuch, alles zu kaschieren, ist für Ihre Politik be- zeichnend. Sie haben das Jahr 2005 zum Leerlaufjahr er- (Jörg Tauss [SPD]: Richtlinie, Herr Pfister!) klärt. Reformen wird es nicht mehr geben, stattdessen ein bisschen Tagesgeschäft und sehr viele Auslandsbesuche. Damit muss Schluss sein. Deshalb will ich Ihnen sagen, Ansonsten wartet die Bundesregierung darauf, dass die dass der Bundesrat das vom Kollegen Clement vorge- Konjunktur aus irgendwelchen von ihr nicht verschulde- legte und von Ihnen bereits beschlossene Gesetz zum ten Gründen anspringt. In Berlin spielt das Staatsen- Bürokratieabbau durchaus positiv sieht. Über einige semble das Stück: Warten auf ein Wunder. Irgendwie, ir- Punkte muss man im Bundesrat noch sprechen. Das wird gendwann wird alles besser. am nächsten Freitag der Fall sein. Bei einigen Punkten hätte ich mir mehr Mut gewünscht. Aber das ist jetzt nicht entscheidend. Wenn wir von uns aus dem Deut- 1) Anlage 2 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15405

Dr. Michael Fuchs (A) Doch dass Sie mit dieser Methode vor allem beim Ich habe mich einmal mit dem Bundesinnenministe- (C) Thema Bürokratieabbau überhaupt keinen Erfolg haben, rium beschäftigt. Leider ist kein Vertreter heute hier. Das zeigt die jüngste Allensbach-Umfrage. Ich weiß nicht, Innenministerium schafft tatsächlich 250 Vorschriften ob Sie davon gehört haben, Herr Tauss. Es wäre gut, ab. Darüber habe ich mich gefreut und ich habe gesagt: wenn Sie einmal zuhören würden. Donnerwetter, da passiert endlich etwas. – Dann habe ich geschaut, was in dem Gesetz steht. Es ist 350 Seiten (Jörg Tauss [SPD]: Ich höre doch!) dick. Darin wird beispielsweise die Verordnung über die Das Allensbach-Institut hat eine Umfrage in ganz Deutsch- Auszahlung des Ehrensoldes für Träger höchster Kriegs- land durchgeführt und festgestellt, dass 86 Prozent der auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg abgeschafft. Wirtschaft Bürokratie für die höchste Belastung halten. Das ist wahrlich wichtig. Auch wird die Verordnung für Bürokratie kommt noch vor Steuern, die von 77 Prozent die deutschen Spruchgerichte zur Aburteilung von Mit- als Belastung genannt werden. Wo sind denn Ihre wirkli- gliedern von Verbrecherorganisationen von 1947 abge- chen Reformvorschläge zum Bürokratieabbau? schafft. Dadurch wird die deutsche Wirtschaft sicher sehr entlastet. Es ist ziemlich erschütternd, womit Sie (Jörg Tauss [SPD]: Zwei Drittel aus den Län- sich beim Bürokratieabbau beschäftigen. dern!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wieso legen Sie uns keine vernünftigen Gesetzentwürfe neten der FDP) vor? Die Bundesratsinitiative des Landes Baden-Würt- temberg zusammen mit Bayern und Niedersachsen ent- Es gibt bei Ihnen noch ein zusätzliches Problem. Sie hält immerhin 40 Einzelmaßnahmen. Sie haben ganze wollen uns jetzt die Megabürokratie des Antidiskrimi- neun aufgelistet. Viel weniger geht nun wirklich nicht. nierungsgesetzes überstülpen. Da geht es so richtig los. Dieses Nicht-mehr-unterscheiden-dürfen-Gesetz wird (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erhebliche Folgen für die gesamte deutsche Wirtschaft haben. Dann geht es ans Eingemachte. Wir werden mit Bedauerlicherweise haben Sie an diesem Thema kein Sicherheit einige Stories aus den Unternehmen über die Interesse und schon gar nicht sind Sie an einer konstruk- Megabürokratie hören. Sie werden es schaffen, dass die tiven Zusammenarbeit mit den Ländern interessiert. Der Unternehmen keine Lust mehr haben. Das ist das Bundesumweltminister hat die Initiative der Bundeslän- Schlimmste. Sie verderben das Klima und die Lust, in der gar eine „Mogelpackung“ genannt. Deutschland noch etwas zu unternehmen. Das ist für (Jörg Tauss [SPD]: Da hat er nicht Unrecht!) mich eines der größten Probleme. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Mit ihm seien Senkungen von Umweltstandards nicht (D) zu machen. Doch wieder einmal vergaloppiert sich Herr Sie satteln grundsätzlich bei jedem Gesetz drauf. Ich Trittin mit seiner grünen Umweltideologie zulasten der möchte in diesem Zusammenhang zitieren, was ein nicht mittelständischen Wirtschaft. Es geht nicht um das Ab- meiner Fraktion angehörender EU-Kommissar über das senken von Umweltstandards, sondern es geht um den ADG und das, was Sie daraus gemacht haben, gesagt Abbau umweltunverträglicher Bürokratie. hat. Herr Verheugen hat zu Ihrer Gewohnheit, immer noch draufzusatteln, gesagt, die deutsche Umsetzung der Herr Trittin ist und bleibt für mich der Minister für EU-Gesetzgebung gleiche einem Pferd, dem nach Deindustrialisierung des Standortes Deutschland. Durchlaufen des deutschen Gesetzgebungsverfahrens so (Lachen bei der SPD) viel draufgesattelt werde, dass es danach als Kamel mit zwei Höckern im Bundesgesetzblatt stehe. Schöner kann Wissen Sie, was das beste Wirtschaftsprogramm für man nicht ausdrücken, was Sie machen. Deutschland wäre? Wir schicken ihn für zwei Jahre nach China. Dann verlassen alle deutschen Unternehmer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fluchtartig China und kommen wieder zu uns zurück. Schöner kann man nicht beweisen, dass Sie es immer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – noch nicht kapiert haben, dass wir weniger Belastungen Jörg Tauss [SPD]: Billig!) brauchen und nicht mehr. Das Bundesumweltministerium hat den Ökologismus (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Es ist nicht alles in Deutschland längst zu einer Quasistaatsreligion erho- falsch, was Verheugen sagt!) ben. Leidtragende dabei sind die Unternehmen und vor Das tun Sie trotz 5,2 Millionen Arbeitslosen. Es wäre al- allen Dingen die Industrie. Man braucht gar nicht mit der lerhöchste Zeit, dass Sie begreifen, dass Sie so nicht wei- Gentechnologie anzufangen, das können Sie querbeet termachen können. sehen. Mit den Strompreiserhöhungen, die Sie in Deutschland verursacht haben, machen Sie die Industrie- Vielen Dank. zweige, die Strom als wesentliche Kostenquelle haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in Deutschland nahezu unmöglich. Demnächst werden wir keine Aluminiumindustrie mehr in Deutschland ha- ben. Sie bauen obendrein mit Ihrer heiligen Ökoreligion Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: überall noch zusätzliche bürokratische Hemmnisse ein. Nächster Redner ist der Kollege Winfried Hermann, Wo bleiben Ihre Bürokratiereformen? Bündnis 90/Die Grünen. 15406 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

(A) Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das sind absolut (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber wichtige Sachen! – Marie-Luise Dött [CDU/ Ex-Landtagskollege Pfister! Wir haben heute zum wie- CSU]: Das zeigt die Vielfältigkeit!) derholten Male in dieser Woche unter wechselnden Ich möchte Ihnen das nicht noch weiter vorlesen, aber Überschriften eine Mantradebatte. Alle sprechen von Bü- ich bin sicher, dass Sie das Zentrum der Bürokratie da- rokratieabbau und alle beklagen die Bürokratie. Ich habe mit nicht erreicht haben. ehrlich gesagt keine Lust, hier im Bundestag weiterhin Mantras zu verbreiten. Ich finde, wir müssen konkret (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über den Gesetzentwurf sprechen, der heute vorliegt, der und bei der SPD) „Entwurf eines Gesetzes zum Bürokratieabbau“ heißt Zweifellos machen Sie konkrete Vorschläge. Es ist und vom Bundesrat eingebracht wurde. Darüber haben wirklich herzig, was da als Entbürokratisierung betrach- Sie merkwürdigerweise nicht gesprochen. tet wird. Ich lese beispielsweise den Vorschlag des Bun- desrates zur Änderung der Druckluftverordnung vor, da- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie haben bei soll es um Entbürokratisierung gehen. Darin heißt es: nicht zugehört!) 1. Dem § 6 werden folgende Sätze angefügt: Der Gesetzentwurf hat einen außerordentlich hohen Anspruch. Bürokratie und Überregulierung, die die Bür- „Die Ausnahmezulassung ist schriftlich zu be- ger fesseln – reden wir von Baden-Württemberg oder re- antragen. Dem Antrag ist bei einer Abweichung den wir von Bayern? –, sollen durch zahlreiche Maßnah- von den Regelungen des § 4 Abs. 1 ein Gutach- men in verschiedenen Lebensfeldern abgeschafft werden. ten eines behördlich anerkannten Sachverständi- Das ist ein hoher Anspruch und man hätte eigentlich er- gen und bei einer Abweichung von den Rege- warten können, dass, wenn die Mehrheit des Bundesrats lungen des § 9 Abs. 1 oder 2 oder § 21 Abs. 4 etwas vorschlägt, substanziell gearbeitet und geklärt ein Gutachten eines ermächtigten Arztes bei- wird, was Bürokratie ist, wer die Bürokratie macht, wer zufügen, das jeweils dokumentiert, ob der dafür verantwortlich ist und wie sie angelegt ist. All das Schutz der Arbeitnehmer gewährleistet ist. Über wird nicht geklärt, sondern es wird allgemein gesprochen. den Antrag ist innerhalb einer Frist von vier Anschließend kommt eine Reihe von konkreten Vor- Wochen …“ schlägen, die aber bei weitem nicht so grundsätzlich sind. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau auf die Man kann nicht erkennen, an welcher Stelle die Länder, vier Wochen kommt es an!) der Bund oder die Kommunen verantwortlich sind. Das gesamte Gesetz ist voll von solchen bürokrati- (B) Eines müssen wir festhalten: Die Ebene der Verwal- schen Phrasen. Das nennen Sie Bürokratieabbau! (D) tung sind die Länder und nicht der Bund, daher ist der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ort, an dem die Bürokratiebekämpfung ansetzen muss, und bei der SPD) die Landesebene. Sie beziehen sich aber auch auf durchaus wichtige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Punkte, die Hälfte des Gesetzentwurfs bezieht sich auf und bei der SPD – Birgit Homburger [FDP]: Umweltgesetze. Offenkundig haben Sie im Umwelt- Quatsch!) bereich einen zentralen Bürokratiefaktor erkannt. Um sich einen genauen Überblick über Ihre Vorschläge zu ver- Die Länder haben nicht nur eigene Gesetzgebungskom- schaffen, muss man im Gesetzentwurf die Seiten 5, 6, 7 ff. petenz, sondern erlassen darüber hinaus auch Verord- anschauen. Diese Seiten – das kann ich Ihnen sagen – nungen. Ich will ein Beispiel nennen: Der von der CDU dienten auch dem Bundestagskabarett „Die Wasser- regierte Freistaat Thüringen ist Rekordhalter bei den werker“ als Grundlage. Auf diesen Seiten wird detailliert Verordnungen, die in den letzten Jahren erlassen wurden. und bürokratisch festgelegt, wie viel Hühner und Ferkel Man sieht, es gibt überall etwas zu tun. mit welchem Gewicht wann und wo zu halten sind und Kommen wir zu Ihren Vorschlägen. Was schlagen ob es eine standortbezogene Umweltverträglichkeits- Sie konkret vor? Wo ist laut des vom Bundesrat einge- prüfung oder eine allgemeine Vorprüfung geben muss. brachten Entwurfs das Zentrum der Bürokratie? Art. 1 Genau das findet sich in Ihrem Gesetzentwurf wieder, er des Gesetzentwurfs befasst sich mit der Änderung der ist kabarettreif. Weinverordnung, ein zentrales Thema. Art. 2 des Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzentwurfs zum Bürokratieabbau befasst sich mit der und bei der SPD) Änderung der Wein-Überwachungsverordnung. Ich Der einzige Punkt, der zum Bürokratieabbau beiträgt, könnte so weitermachen, der Gesetzentwurf befasst sich bezieht sich darauf, dass man inzwischen – ich habe mit der Änderung der Altholzverordnung, der Änderung dazu ein paar Beispiele herausgesucht – keine Umwelt- der Druckluftverordnung, verträglichkeitsprüfung mehr braucht, wenn man bis zu (Birgit Homburger [FDP]: Alles Bundes- 20 000 Hühner oder bis zu 560 Ferkel hält – letztere dür- verordnungen!) fen allerdings nur bis zu 30 Kilogramm schwer sein –, es ist darüber hinaus keine Umweltverträglichkeitsprüfung der Änderung der Medizinprodukte-Betreiberverord- nötig, wenn man 4 500 Ferkel hält, die jedoch nur 10 bis nung, der Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes 30 Kilogramm schwer sein dürfen usw. Das nennen Sie usw. Entbürokratisierung! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15407

Winfried Hermann (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 47 000 Einzelvorschriften und mehr als 3 000 Rechts- (C) und bei der SPD) verordnungen mit fast 40 000 Einzelvorschriften, Ten- denz steigend. In der letzten Wahlperiode hat die Regie- Es ist nicht mehr und nicht weniger als Standard- rung pro Tag mehr als 1,5 Gesetze erlassen, aber abbau im Umweltbereich unter dem Etikett „Bürokratie- insgesamt nur 91 gestrichen, Herr Hermann. abbau“. Der Gesetzentwurf ist durch und durch bürokra- tisch und setzt den Bürokratismus fort, statt ihn Jeder Arbeitsplatz im Mittelstand wird jährlich mit abzuschaffen. bis zu 3 500 Euro Kosten für staatlich verordneten Büro- kratiedienst belastet. Ein Mitarbeiter hat jährlich durch- Ich komme zum Schluss und fasse zusammen: Der schnittlich 62 Stunden staatlich verordneter Bürokratie- Gesetzentwurf ist das Produkt einer Bürokratie, die au- arbeit zu leisten. In der Folge bedeutet dies, dass – laut ßerordentlich detailliert und unverständlich schreibt und Umfrage – knapp 41 Prozent der Betriebe mehr inves- denkt. tierten, wenn sie weniger Bürokratie befolgen müssten. Mit anderen Worten: Erstens. Bürokratie bindet Arbeits- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kraft. Zweitens. Bürokratie verhindert Investitionen. Herr Kollege, Sie müssen jetzt wirklich zusammen- Drittens. Bürokratie verhindert die Schaffung von Ar- fassen. beitsplätzen. Viertens. Bürokratie bindet Ressourcen in- sofern, als Unternehmen häufig gezwungen sind, kosten- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): los Hilfsarbeiten für den Staat durchzuführen, die nicht Ich komme zum Schluss. – Sie schaffen Bürgerbetei- ihre originären Aufgaben sind. ligung ab und nennen das Bürokratieabbau. Alle Ihre (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vorschläge sind 2001 im Vermittlungsverfahren – Sie neten der FDP) mussten dabei nachgeben – gemeinsam verabredet wor- den. Jetzt behaupten Sie, das sei Bürokratieausbau. Ich Aus meinem Fachbereich Umwelt lassen sich eben- muss Ihnen sagen: Ihr Gesetzentwurf ist ein bürokrati- falls Beispiele für unnötigen Bürokratieaufwand finden. scher Witz. So ist am Zulassungsverfahren für Biozidprodukte in Deutschland neben der Bundesanstalt für Arbeitsschutz Vielen Dank. und Arbeitsmedizin als Zulassungsstelle eine ganze (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Reihe weiterer Behörden beteiligt. Einvernehmens- und bei der SPD) behörden sind hierbei das Umweltbundesamt, das Bundesinstitut für Risikobewertung sowie eine weitere Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Abteilung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Ar- beitsmedizin. Ohne das Einvernehmen dieser Behörden Das Wort hat die Kollegin Marie-Luise Dött, CDU/ (B) kann keine Zulassung ausgesprochen werden. Daneben (D) CSU-Fraktion. sind – je nach Produktart – die Bundesanstalt für Mate- (Beifall bei der CDU/CSU – Detlef rialforschung und -prüfung, das Bundesamt für Ver- Dzembritzki [SPD]: Jetzt sagen sie nicht, dass braucherschutz und Lebensmittelsicherheit sowie das das mit den Ferkeln nicht stimmt!) Robert-Koch-Institut als Benehmensbehörden vorgese- hen. Darüber hinaus entscheiden das Bundesamt für Ver- Marie-Luise Dött (CDU/CSU): braucherschutz und Lebensmittelsicherheit sowie das Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nein, Robert-Koch-Institut als Zulassungsstellen in besonde- Herr Dzembritzki, aber es ist sehr komisch und ein biss- ren Fällen, wie zum Beispiel beim Infektionsschutz oder chen lächerlich, wenn man den selber eingebrachten bei der Seuchenbekämpfung. So sieht es in Deutschland Entwurf eines Gesetzes, das die Schwellenwerte in den aus. Verordnungen reduzieren und so letztendlich Bürokratie Die Vielzahl der beteiligten Behörden hat einen gro- abbauen soll, als bürokratisch bezeichnet. ßen bürokratischen Aufwand zur Folge. Durch aufwen- (Beifall bei der CDU/CSU) dige Abstimmungsprozeduren zwischen den einzelnen Behörden wird nicht nur das Zulassungsverfahren erheb- Internationale Vergleichsstudien belegen: Je höher die lich verlängert. Vielmehr ist es auch sehr schwierig, eine Regelungsdichte in einem Land ist, desto weniger ge- einheitliche deutsche Position auf europäischer Ebene lingt es, mögliche Beschäftigungspotenziale auszu- rechtzeitig zu formulieren. schöpfen. Genau das ist unser Problem in Deutschland. Fachleute schätzen, dass zwischen 2 und 7 Prozent der (Beifall bei der CDU/CSU) Unternehmensumsätze für Bürokratiekosten aufgewen- Hier könnte die Zahl der beteiligten Behörden stark re- det werden müssen, obwohl dieses Geld in Wachstum duziert sowie das Verfahren entsprechend vereinfacht und Beschäftigung weitaus besser investiert wäre. Von und verkürzt werden. den Verbesserungen, die Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement in seinem Masterplan Ende 2002 so Ein anderes Beispiel ist die Änderung der Umwelt- vollmundig angekündigt hat, werden weder der einzelne verträglichkeitsrichtlinie – das hatten Sie gerade ange- Bürger noch die Unternehmen etwas bemerkt haben. An- sprochen, Herr Hermann –, die von der Bundesregierung meldungs-, Anzeige-, Aufzeichnungs-, Berechnungs-, durch das Artikelgesetz nicht im Maßstab eins zu eins Erklärungs-, Ermittlungs-, Nachweis- und Abführpflich- umgesetzt worden ist. Darüber haben wir häufig im ten prägen unseren bürokratischen Alltag. Allein auf Parlament debattiert; denn umweltpolitische Verschär- Bundesebene gibt es rund 2 200 Gesetze mit knapp fungen auf nationaler Ebene verschlechtern die 15408 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Marie-Luise Dött (A) Wettbewerbssituation deutscher Unternehmen im Ver- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) gleich zu den europäischen Mitbewerbern. Insbesondere Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die die Herabsetzung der Schwellenwerte hat dazu geführt, Fraktion der FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre dass die UVP-Pflichtigkeit auch ganz kleine Betriebe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. und Handwerker erfasst sowie im Einzelfall existenzbe- drohende Auswirkungen hat. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- gin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion. Die Hauptkritikpunkte sind daher: Erstens: die geplante Ausdehnung des Anlagen- Sibylle Laurischk (FDP): begriffs im UVP-Gesetz. Begründung: Das leistet keinen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Beitrag zur vehement geforderten Deregulierung. Das Frage „Ist es auch wirklich mein Kind?“ hat einen gro- leistet keinen Beitrag zur Beschleunigung der Zulas- ßen Unterhaltungswert, wie die Realityshows zum sungsverfahren. Das geht über das europäische Maß hi- Thema Vaterschaftstest zeigen. In Titelgeschichten hat naus. Das berücksichtigt nicht die entstehenden Kosten- sich die bundesweite Presse mit der männlichen Urangst, belastungen für die Industrie. Das belastet damit vor ein fremdes Kind aufziehen zu müssen, befasst. allem die mittelständische Industrie. (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Zweitens: der Begriff „Stand der Technik“. Die Auf- Mit dieser Frage muss verantwortungsvoll umgegangen nahme der „Gewährleistung der umweltverträglichen werden. Abfallentsorgung“ als Kriterium für den Stand der Tech- Rechtliche Vaterschaft und biologische Vaterschaft nik ist nämlich ein deutscher Sonderweg mit Verschär- können auseinander fallen, wie § 1592 BGB zeigt. Dies fungen und bringt damit Benachteiligungen im europäi- kann sehr private Gründe haben. Eigentlich sollte der schen Vergleich mit sich. Angesichts dessen bin ich über Umgang mit diesen sehr privaten Gründen den Eltern den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf sehr überlassen bleiben. froh. Die rechtliche Zuordnung von Vater, Mutter und Kind Eine grundsätzliche Herangehensweise an die Entbü- zieht aber auch schlicht materielle Konsequenzen im rokratisierung erfordert eine aktive Bürgergesellschaft, Unterhalts- und im Erbrecht nach sich. Gerade das erbit- die sich von einem aktivierenden Staat nicht bevormun- tert die betroffenen Väter ganz besonders. Im Extremfall den lassen will. Mehr Freiheit und Selbstverantwortung ist der rechtliche Vater bloßer Zahlvater, ohne jede emo- für den Einzelnen bedeuten für ihn auf der anderen Seite (B) tionale und sozial-familiäre Bindung und Verantwor- (D) aber auch mehr Risikozumutbarkeit; wer seine Freiheit tung. Dies liegt bisweilen noch nicht einmal an der will, der muss auch bereit sein, das damit einhergehende Verantwortungslosigkeit der Väter, sondern an der ge- Risiko zu tragen. In unserem Antrag zum Bürokratie- scheiterten Beziehung zur Mutter des Kindes. abbau benennen wir grundsätzliche Maßnahmen und Instrumente, gegossen in eine systematische Selbstver- Das Recht der Väter, die biologische Vaterschaft fest- pflichtung. Wir sagen nicht nur wo, sondern auch wie stellen zu lassen, muss unterstützt werden. Bürokratie abgebaut wird. Ich finde, Sie sollten uns da- rin zustimmen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bislang muss ein Vater bei Zweifeln an seiner Vater- schaft das förmliche Vaterschaftsanfechtungsverfahren nach §§ 1600 ff. BGB nutzen. Dieses Verfahren sieht bei Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: negativem Ergebnis auch das Ende jeder rechtlichen va- Ich schließe die Aussprache. terschaftlichen Beziehung zu dem Kind vor und es stellt hohe Hürden für die Einleitung des Verfahrens auf. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz- entwurfs auf Drucksache 15/4646 an die in der Tages- Viele Väter sehen sich deswegen zu einem heimlich ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt durchgeführten Test gezwungen. Wir hören aus dem Jus- es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der tizministerium, dass im Zuge der Regelung im Gen- Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. diagnostikgesetz jegliche heimliche Vaterschaftsfest- stellung unter Strafe gestellt werden soll. Um es ganz Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: deutlich zu sagen: Die FDP-Fraktion lehnt dies entschie- Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle den ab. Laurischk, Rainer Funke, Birgit Homburger, wei- (Beifall bei der FDP) terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wir bejahen aber grundsätzlich das Recht auf infor- Verfahren der Vaterschaftstests vereinfachen mationelle Selbstbestimmung aller Verfahrensbeteilig- und Grundrechte wahren ten. Hier finden wir uns mit dem Bundesgerichtshof – Drucksache 15/4727 – einig, der in seinem Urteil zum Beweisverwertungs- verbot in Bezug auf heimliche Vaterschaftstests das Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) informationelle Selbstbestimmungsrecht des Kindes ge- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend genüber dem Recht des Vaters auf Kenntnis seiner biolo- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15409

Sibylle Laurischk (A) gischen Vaterschaft abgewogen hat. Der Bundesge- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Irmingard (C) richtshof hat die Interessen des Kindes sogar als Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vorrangig erachtet. NEN]) Um den widerstreitenden Interessen zwischen Vater, Mutter und Kind gerecht werden zu können, schlagen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wir, die FDP, vor, ein niedrigschwelliges, förmliches, da- Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte für aber auch offenes Verfahren, ein Abstammungstest- Zypries. verfahren, anzubieten, das nicht notwendigerweise mit der Auflösung der Vaterschaft enden muss. Vaterschaft Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: ist mehr als biologische Abstammung und Zahlvater- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten schaft. Damen und Herren! Frau Laurischk, vielen Dank für Ih- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ren Debattenbeitrag. Mit einem haben Sie Recht: Wir ha- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ben in der Tat allen Anlass, die Frage zu diskutieren, GRÜNEN) welche Regelung wir zur Durchführung der Vater- schaftstests treffen sollten. Selten hat ein Gesetzesvor- Berechtigt, den Test zu beantragen, sollten der recht- schlag so viele öffentliche Debatten ausgelöst wie dieser, liche Vater, die Mutter, aber auch das Kind sein, also die- der in Zusammenhang mit dem Gendiagnostikgesetz jenigen, die auch gemäß der §§ 1600 ff. BGB die Vater- steht. Es geht ja nicht darum, quasi aus der hohlen Hand schaft anfechten können, aber eben außerhalb dieses etwas anders zu regeln, sondern es geht generell um die Verfahrens und ohne damit automatisch verbundene An- Frage: Wie ist es eigentlich mit Regelungen zur Gen- fechtung der Vaterschaft. diagnostik? Wir fordern zur Sicherung des Grundrechts auf infor- Der Gesetzgeber hat Veranlassung, hier Regelungen mationelle Selbstbestimmung den Richtervorbehalt für zu treffen; denn es gibt technische Entwicklungen, die es die Anordnung eines DNA-Analysetests. Dann könnte heute ganz leicht machen, aus genetischem Material Da- auch schon die Äußerung eines Zweifels überhaupt ge- ten herauszulesen und diese zu verwerten. Dies diskutie- nügen, um einen Antrag auf Durchführung eines Ab- ren wir auch im Rahmen der Strafverfolgung intensiv. stammungstestverfahrens zu begründen. Wir wissen inzwischen auch, dass viele Menschen ver- Außerdem schlagen wir die Bestellung eines Verfah- sucht sind, einen Vaterschaftstest machen zu lassen, eben renspflegers für das Kind in diesem offenen Abstam- weil es so einfach ist, es inzwischen auch sehr viel mungstestverfahren vor, da die Eltern als Personensorge- schneller geht und in Privatlabors auch nur noch zwi- (B) berechtigte in einem solchen Verfahren nicht immer die schen 100 und 150 Euro kostet. Darüber hinaus sind (D) Rechte des Kindes wahrnehmen können. auch Menschen versucht, einen solchen Test zu veran- lassen, die mit der engeren sozialen Familie eigentlich Es wird auch eine Beratungspflicht für die betroffe- gar nichts zu tun haben. Dazu, dass vielleicht Schwieger- nen Väter im Vorfeld eines solchen Testverfahrens ange- eltern oder irgendwelche Nachbarn meinen, sich in fami- regt. Das ist eine durchaus überlegenswerte Vorstellung, liäre Strukturen einmischen zu müssen, müssen wir ganz die manch einen vor vorschnellen, unüberlegten Ent- klar sagen: Das geht nicht. Es muss – das halte ich auch scheidungen bewahren mag. Ich halte das für einen bei der Debatte um das Gendiagnostikgesetz für richtig – wichtigen Punkt im Hinblick darauf, wie wir ein solches der Grundsatz gelten, dass niemand die genetischen Da- Verfahren flankierend gestalten sollten. ten eines anderen ohne dessen Einwilligung untersuchen Ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit in den Beziehun- lassen darf. gen von Männern und Frauen zueinander, insbesondere, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wenn Kinder betroffen sind, und hoffe, dass ein erleich- DIE GRÜNEN) tertes Abstammungstestverfahren heimliche Tests über- flüssig macht. Das sind höchstpersönliche Daten, die vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung grundrechtlich ge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) schützt sind. Ich glaube, das versteht jeder. Schließlich zitiere ich die „Süddeutsche Zeitung“ Hinsichtlich der von Ihnen angesprochenen Straf- vom 14. Januar 2005: androhung ist es so, dass im deutschen Recht die Straf- Die Entscheidung, ob er androhung für einen schweren Verstoß gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung immer lautet: – der zweifelnde Vater – Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Diese mit dem Zweifel lebt oder womöglich an der Her- Regelung haben wir im Atomgesetz, diese Regelung ha- stellung der Gewissheit verzweifelt oder gesundet, ben wir im Ausländergesetz und auch in anderen Geset- kann kein Gesetz dem Vater abnehmen. Der Ge- zen. Da muss man sich allenfalls einmal überlegen, ob setzgeber kann allerdings versuchen, ein Verfahren diese Strafandrohung überzogen ist und ob man sie ge- zur Klärung von Zweifeln zur Verfügung zu stellen, nerell ändern muss. das juristisch und menschlich einigermaßen erträg- Man muss sich aber auch sehr sorgfältig überlegen, lich ist. ob es wirklich gerechtfertigt ist, andere Regelungen zu Wir, die FDP-Fraktion, stellen uns dieser Aufgabe. treffen. Es muss sich ja nicht notwendigerweise um eine 15410 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) innerfamiliäre Beziehung handeln. Der Mann, der viel- sonderer Saft ist. Anders kann man es sich ja gar nicht (C) leicht nach einer kurzlebigen bzw. flüchtigen Beziehung erklären, dass in diesem Bereich so viele Aufregungen meint, er sei der Vater des Kindes, kann zu einer entspre- entstehen. chenden Feststellung nicht legitimiert sein. Das alles sind also ganz schwierige Abgrenzungen, über die wir Ich freue mich auf eine angeregte Debatte auch außer- im Einzelnen reden müssen. Deshalb ist Ihr Diskussions- halb dieses Saales und bin sicher, dass dem Haus in beitrag wichtig, es ist in der Tat nicht einfach. Wir disku- Kürze dann auch sachgerechte Vorschläge vorliegen tieren im Bundesministerium der Justiz, seitdem diese werden. Debatte hochgekocht ist, mit den verschiedensten Fami- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lienrechtlern, Richtern am Bundesgerichtshof, Wissen- DIE GRÜNEN) schaftlern, Praktikern, Rechtsanwälten und Vertretern von Jugendhilfe und anderen Erziehungsberechtigten, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wie wir das sinnvoll regeln können. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Gehb, Der Vorschlag, den Sie machen, ist zumindest teil- CDU/CSU-Fraktion. weise nicht praktikabel – das kann man schon jetzt (Beifall bei der CDU/CSU) sagen –, weil er für die Länder zu kostenaufwendig wäre. Wenn man jedes Mal einen gerichtlichen Ent- scheid zur Grundlage machen will, bringt das Kosten mit Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): sich, die einfach für die Länderhaushalte ganz schwer zu Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau verkraften sind. Man muss sich auch fragen, ob es wirk- Ministerin hat zu Recht gesagt, dass kaum ein rechts- lich sinnvoll ist. Wir wissen ja inzwischen, dass mindes- politisches Thema in den letzten Monaten in der Öffent- tens 80 Prozent aller Tests, die Väter durchführen lassen, lichkeit so heftig und leidenschaftlich diskutiert worden zum Ergebnis haben, dass die Zweifel der Väter unbe- ist wie das Thema heimliche Vaterschaftstests – einmal rechtigt waren. Das heißt, da schlagen sich Männer mit abgesehen von der nach der Ermordung Moshammers Sorgen herum, die völlig unbegründet sind. Man müsste völlig zu Recht erhobenen Forderung, Möglichkeiten der da einmal versuchen, zu einer Abschichtung zu kom- DNS-Analyse bei der Verbrechensbekämpfung zu ver- men. bessern. Unsere Überlegungen gehen im Moment in die Rich- Die Untersuchung genetischen Materials ist ein tung, ein Verfahren zu finden, das den geringsten Ein- Thema, das die Öffentlichkeit antreibt – keine Frage. griff in die Familie verursacht, dem zweifelnden Vater Dabei geht es nicht in erster Linie und auch nicht nur um aber erlaubt, sich ohne größere Hürden Gewissheit zu die Angst der Bevölkerung vor dem leichtfertigen Um- (B) (D) verschaffen, ob er der Vater ist oder nicht. Wir wollen, gang mit genetischem Material, um die Angst vor der um diesen Eingriff möglichst wenig belastend zu gestal- Schaffung des bis in die Haarspitze gläsernen Menschen, ten, zunächst die Bereitschaft innerhalb der Familie för- um die Angst vor Überwachung. Nein, was die Men- dern, einem Verfahren zuzustimmen. Wenn die Frau als schen bewegt, sind ganz persönliche Ängste und Pro- Sorgeberechtigte für das Kind zustimmt – nur insofern bleme. Das gilt insbesondere für heimliche Vaterschafts- hat ihre Zustimmung ja Relevanz –, kann man das Ganze tests, über die wir heute reden. gerichtsfrei stellen, was sowohl unter Verfahrens- als Väter, die Zweifel haben, ob sie überhaupt die Väter auch Kostengesichtspunkten für meine Begriffe das Ver- sind, möchten diese Zweifel aus der Welt räumen. Das nünftigste wäre. müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. Ich will nur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ein paar Zahlen nennen: 5 bis 10 Prozent aller Kinder DIE GRÜNEN) sollen Schätzungen zufolge nicht von den Männern ab- stammen. Wir müssen uns auch überlegen, wie wir das Kind schützen. Sie haben den Vorschlag gemacht, dem Kind (Detlef Dzembritzki [SPD]: Dass sie von Män- einen Verfahrenspfleger beizuordnen. Das ist ein nern abstammen, ist wohl klar!) Punkt, über den man in bestimmten Fällen sicherlich re- Fünf bis zehn von 100 Kindern sind also so genannte den kann. Wir überlegen auch, eine Härteklausel einzu- Kuckuckskinder. Mehr als 50 000 Vaterschaftstests wer- führen. Es mag ja bestimmte Situationen geben, in denen den jedes Jahr für rund 40 Millionen Euro in Auftrag ge- einem Kind ein solches Testverfahren gar nicht zumut- geben. bar wäre, beispielsweise weil es in der Pubertät suizidge- fährdet ist. Statt es dann mit einer weiteren Umbruchs- (Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE situation im Leben zu konfrontieren, sollte man lieber in GRÜNEN): Das ist ein Arbeitsmarkt!) bestimmten Fällen ganz darauf verzichten können. Wir haben es mit einem gesellschaftlich wichtigen All das sind ganz schwierige Entscheidungen. Ich und juristisch sehr schwierigen Thema zu tun. Das ver- freue mich, wenn demnächst über Ihren Antrag und auch bietet legislative Schnellschüsse, Frau Laurischk. Natür- über unsere Vorschläge in aller Breite diskutiert wird. lich ist dieser Vorschlag des Verfahrens zur Vaterschafts- Ich glaube, wir alle sind uns in der Sache einig: Wir wol- feststellung nicht ganz neu. Wir haben schon vor len eine vernünftige Regelung finden. Wir alle wissen, Monaten erklärt – erst unlängst bin ich damit im „Spie- dass zum Vatersein sehr viel mehr gehört, als nur die gel“ zitiert worden –, dass das einer von mehreren not- gleichen Gene zu haben, dass zugleich Blut auch ein be- wendigen Schritten ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15411

Dr. Jürgen Gehb (A) Auch die Bundesjustizministerin hat – das kann man So viel zum gesellschaftlichen Szenario. Aber – ich (C) an dieser Stelle ruhig einräumen – entsprechende Rege- habe es eben schon angedeutet – im Raum steht das lungen bereits in Aussicht gestellt, wenngleich ich sagen Diktum, dass es ein Verstoß gegen das informationelle muss, dass die Menschen diese Anknüpfung an die Selbstbestimmungsrecht ist. Damit ist die Heimlichkeit Strafbarkeit nicht verstehen. Andererseits muss ich sa- mit dem Stigma der Rechtswidrigkeit behaftet. gen: Ein Verbot, an das bei Verstoß keine Sanktionen ge- knüpft worden sind, ist – jetzt tue ich dir den Gefallen, (Christoph Strässer [SPD]: So ist es!) lieber Alfred – eine Lex imperfecta, für Hofgeismarer Deswegen ist zu überlegen, ob man diese Tests nicht ein in sich nicht ganz stimmiges Gesetz. vielleicht positivrechtlich zulassen kann. (Alfred Hartenbach [SPD]: Immenhausener! – Meine Damen und Herren, ich habe mich mit dem Ute Kumpf [SPD]: Gilt das auch für Stuttgar- Recht auf informationelle Selbstbestimmung damals bei ter?) den Volkszählungsklagen herumschlagen müssen. Man muss sich das einmal überlegen: Wenn Sie heute eine Meine Damen und Herren, natürlich ist das Verfahren Eintrittskarte für die Fußball-WM oder auch nur eine zur Anfechtung der Vaterschaft reformbedürftig. Aber Kundenkarte haben wollen, dann müssen Sie ein Vielfa- wir können das nicht nur über die Verfahrensfragen re- ches an Daten preisgeben, verglichen mit dem, was Sie geln. Sie haben eben gesagt, Sie hoffen, dass die heim- seinerzeit bei der Volkszählung preisgeben mussten. Wa- lichen Tests damit obsolet werden. Das wird wahr- rum soll man dem Bundesverfassungsgericht nicht die scheinlich nicht der Fall sein. Also bleibt am Ende die Chance geben, sich zu läutern? Wieso soll nicht die juristische Frage: Was wird mit den heimlichen Tests? In Chance bestehen, dass das Bundesverfassungsgericht in der Gesellschaft wird gesagt – das unterstütze ich sogar –: Ansehung der Daten sagt, dass es kein Verstoß gegen das Lieber heimlich testen und seine Frau gar nicht damit informationelle Selbstbestimmungsrecht ist? konfrontieren, um den Ehefrieden nicht zu stören, (Brigitte Zypries, Bundesministerin: Heim- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ lich!) DIE GRÜNEN]: Da ist die Ehe aber auch schon nicht mehr so in Ordnung!) – Wie: „heimlich“? (Alfred Hartenbach [SPD]: Wenn du die Fuß- und wenn sich dann herausstellt, dass – wie es in den ballkarte kaufst, machst du das doch freiwil- meisten Fällen ist, wie die Ministerin gesagt hat – der lig!) Verdacht unbegründet war, kommt es zu keinem noto- rischen Verfahren – außer Spesen nichts gewesen. – Was heißt hier, „heimlich“? Ich verstehe Ihren Zuruf (B) nicht. Ich sage nur, dass das einer der gangbaren Wege (D) Dennoch gibt es ein Gerichtsurteil. Der BGH als ist. Ansonsten werden Sie vor einem Problem wie sei- höchstes Gericht hat nun einmal diese heimlichen Tests nerzeit bei der Abtreibung stehen, nämlich dass Men- als Verstoß gegen das informationelle Selbstbestim- schen ins Ausland gehen – im Falle der Abtreibung zu mungsrecht angesehen. Ich will das ganz kurz erläutern, den Engelmachern –, wenn etwas in Deutschland verbo- damit die Menschen draußen verstehen, was das an sich ten wird. Sie können die Menschen doch nicht ändern. für ein lebensfremdes Urteil ist: Da kommt ein von Wir müssen ihnen vielmehr helfen, aus dieser Konflikt- Zweifeln geplagter Vater, will seine Vaterschaft anfech- situation herauszukommen. ten und legt zur Untermauerung der Plausibilität seines Anfechtungsgrundes dar, dass er zeugungsunfähig, je- (Alfred Hartenbach [SPD]: Aber doch nicht denfalls vermindert zeugungsfähig ist. In seinem Inte- mit illegalen Methoden, Herr Gehb!) resse hoffe ich, dass es sich dabei nur um eine Impotentia Darüber müssen wir sicherlich noch diskutieren. generandi und nicht um eine Impotentia coeundi gehan- delt hat, denn Letzteres wäre der sehr viel tragischere Ich muss sagen, dass die Begründung des Bundesge- Fall. richtshofs auch in anderen Punkten nicht verfängt. Apo- diktisch heißt es: Das Recht des Vaters auf Kenntnis sei- (Detlef Dzembritzki [SPD]: Als Nichtlateiner hät- ner Vaterschaft steht dem Recht auf informationelle ten wir auch von „temporär“ gesprochen!) Selbstbestimmung nach. – Gründe dafür werden nicht Er ist dann trotz dieses Arguments und eines Attests in genannt. allen Instanzen abgelehnt worden. Jahre später gibt es Der Gesetzgeber muss sich um eine Lösung bemühen. die DNS-Analyse und er beschließt, die Vaterschaft jetzt Die höchstrichterliche Rechtsprechung steht im Raum. endgültig zu klären. Es stellt sich heraus, er ist nicht der Von allen, die die Vaterschaft anfechten können – also Vater, muss sich aber vom BGH wieder sagen lassen, er Vater, Mutter und Kind –, haben die Väter die höchste könne das nicht plausibel darlegen. Hürde zu überwinden. Denn es ist der Normalfall, dass die Männer als Ehemänner Väter sind oder die Vater- Meine Damen und Herren, Verwertungsverbote im schaft anerkennen. Um die Vaterschaft später anzufech- Beweisrecht verstehe ich ja noch. Aber hier soll dieses ten, muss man hohe Hürden überwinden. Testergebnis nicht an die Stelle eines später lege artis forensisch durchzuführenden Verfahrens gesetzt werden. Ich habe neulich schnippisch gesagt – ich habe es Die DNA-Analyse ist bloß die Eintrittskarte, um sagen aber nicht so gemeint –: Wenn jemand zehn Monate lang zu können: Testet, ob ich der Vater bin oder nicht. auf hoher See war und bei seiner Rückkehr von seiner 15412 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Dr. Jürgen Gehb (A) Ehefrau mit einem Kind anderer ethnischer Herkunft Herzlichen Dank. (C) überrascht wird, dann kann er wahrscheinlich die Ver- mutung, dass er während der Empfängniszeit beige- (Beifall bei der CDU/CSU) wohnt hat, widerlegen. Aber das ist doch völlig lebens- fremd. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Zuruf des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) Wir müssen noch zwei Redner abwarten, bevor wir ins Wochenende gehen können. – Vielleicht bei Elefantenkühen, Herr Kollege! Die Dauer der Schwangerschaft von neun Monaten können (Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ auch Sie nicht in Zweifel ziehen. DIE GRÜNEN): Ja, das muss er jetzt noch er- tragen!) Jetzt aber Spaß beiseite. (Sibylle Laurischk [FDP]: So spaßig ist das Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, nicht!) Bündnis 90/Die Grünen. – Nein, es ist nicht spaßig. Man muss die Situation aber Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE manchmal wie eine Karikatur darstellen, weil die Leute GRÜNEN): es sonst nicht verstehen. Wir dürfen nicht zu abstrakt diskutieren. Bei allem Verständnis, Frau Laurischk, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! muss ich sagen: Ich glaube nicht, dass alle das verstan- Geschlechterkämpfe sind im 21. Jahrhundert eigentlich den haben, was Sie vorgelesen haben. Wir machen doch nicht mehr so häufig anzutreffen. Aber als Justizministe- Politik für die Bevölkerung. Wir sind hier nicht im El- rin Zypries Anfang des Jahres bekannt gab, dass sie im fenbeinturm, um Klimmzüge am juristischen Hochreck Rahmen des Gendiagnostikgesetzes die heimlichen Va- zu machen. Wir müssen beispielsweise den Menschen terschaftstests verbieten wolle, brachen diese Kämpfe auf der Tribüne, den anwesenden Schülerinnen und doch ganz heftig aus. Eine Zeitung titelte sogar Schülern, erklären können, um was es hier geht. „Schlampenschutzgesetz“. Diese Überschrift war beson- ders „gelungen“. (Sibylle Laurischk [FDP]: Gerade deshalb legen wir den Antrag vor, damit etwas passiert!) Ich fand es schon etwas frappierend, dass der An- schein erweckt wurde, als hätten Frauen nichts anderes Wir werden uns jetzt nach allen Richtungen orientie- vor, als bei der erstbesten Gelegenheit dem Mann ein ren müssen. Es war immerhin kein Geringerer als der Kind unterzuschieben. Ziehen wir einmal die Empirie Justizminister von Baden-Württemberg – ich habe es (B) heran, stellen sich die Verhältnisse etwas anders dar. Die (D) vorhin schon erwähnt –, der einen entsprechenden Vor- meisten Vaterschaften werden angefochten, wenn sich schlag gemacht hat. Dieser Vorschlag wird ja nicht per Paare scheiden lassen. Hier wird die Vaterschaft oftmals se verfassungswidrig sein, lieber Herr Staatssekretär. von den Männern zur materiellen Frage degradiert. Es (Alfred Hartenbach [SPD]: Das war jetzt eine geht also um die Zahlung von Unterhalt. Dieser Zahlung Frechheit!) kommen mehr als ein Drittel aller Väter gar nicht und ein weiteres Drittel nur teilweise nach. Das belastet un- Den Vorschlag wird man doch noch prüfen dürfen. sere Unterhaltsvorschusskassen bundesweit pro Jahr mit Die FDP hat sich mit diesem Thema beschäftigt. Aber einem Betrag von 780 Millionen Euro. sie ist eine Antwort auf die Tatsache schuldig geblieben Mit dem Verbot heimlicher Vaterschaftstests geht es – diese hat sie einfach ausgeblendet –, dass es ungeach- nicht, wie suggeriert wird, um die Beschneidung der tet der förmlichen Verfahren immer die heimlichen Tests Rechte von Vätern, sondern um den Schutz der Rechte geben wird, weil der Mann, der von Zweifeln geplagt des Kindes. wird, einfach wissen möchte, ob sein Verdacht begründet ist, bevor er damit seine eigene Familie konfrontiert und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor Gericht zieht. Er will nicht, dass man im Falle eines sowie bei Abgeordneten der SPD) unbegründeten Verdachts mit dem Finger auf ihn zeigt und ihn auch noch auslacht. Denn diesen können wir keine Schutzrechte in Bezug auf die Untersuchung ihres genetischen Materials vor- Die Frage ist also, wie Zweifel an der Vaterschaft ve- enthalten, während wir uns bei Arbeitnehmern und Ar- rifiziert bzw. falsifiziert werden können. In allen Fällen beitnehmerinnen oder bei Patienten und Patientinnen da- müssen wie bisher wissenschaftlich fundierte Untersu- für einsetzen. Der Bundesgerichtshof hat das – das chungen in angesehenen Labors durchgeführt werden. bewerte ich anders als Sie, Herr Kollege Gehb – glückli- Das hat auch niemand bestritten. Wir müssen uns aber cherweise klargestellt: Die Entnahme und Analyse des fragen, wie hoch die Hürden gestellt werden müssen, um Erbguts eines Kindes ohne sein Wissen oder ohne das plausibel machen zu können, dass es Zweifel an der Va- Wissen seiner Mutter als seiner Stellvertreterin würde terschaft gibt. Das ist der neuralgische Punkt. Darüber eine klare Verletzung dieses Grundrechts bedeuten. unterhalten wir uns noch zu einem späteren Zeitpunkt. ( [FDP]: Immer?) Wir sehen uns nächste Woche in alter Frische wieder. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt und ein schönes Deshalb sind heimliche Vaterschaftstests vor Gericht un- Wochenende. verwertbar. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15413

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Bundesverfas- halten wir eine Beratung des Vaters vor einem Feststel- (C) sungsgericht da anderer Meinung sein wird. Denn nie- lungsverfahren für notwendig – zum einen, um darüber mand weiß genau, ob diese Daten geschützt sind. zu sprechen, ob die Vaterschaftsklage das wirkliche Pro- blem ist, zum anderen, um die Väter auf alle Konsequen- Dass der Familienfrieden mit heimlichen Vater- zen ihres Handelns vorzubereiten. schaftstests zu retten sein soll, ist eine Doppelmoral aus dem biederen Bürgertum des vorletzten Jahrhunderts. Ich danke Ihnen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Jetzt geben Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es mir aber wieder!) und bei der SPD) Wenn ein Mann Zweifel hegt, ob er der biologische Va- ter eines Kindes ist, gehen damit natürlich auch tief grei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fende Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit seiner Part- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege nerin einher. Christoph Strässer, SPD-Fraktion. (Otto Fricke [FDP]: Richtig!) Christoph Strässer (SPD): Selbstverständlich sehe ich aber auch das Recht des Va- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ters darauf, zu erfahren, ob er der biologische Vater ist. Herren! Herr Kollege Gehb, ich hoffe, ich komme Ihren Ohne das Einverständnis der Mutter bleibt ihm bisher Ansprüchen an die Aussprache des Lateinischen einiger- nur das gerichtliche Anfechtungsverfahren. Das bedeu- maßen entgegen, wenn ich jetzt mit einem Zitat beginne. tet, dass sich Väter, die vor Gericht ihre Vaterschaft be- streiten, quasi von ihren Kindern lossagen müssen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das wird schwer; aber Sie können sich bemühen!) Wenn heimliche Vaterschaftstests verboten sind – ich plädiere dafür – und dieses Verbot auch Wirkung zeigen „Mater certa, pater semper incertus.“ soll, bietet es sich an, den Vätern, die Zweifel haben, ein (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Gilt heute auch unkomplizierteres Feststellungsverfahren ohne die nicht mehr! Vorbei!) rechtlichen Hürden eines Anfechtungsverfahrens zu er- möglichen. Die FDP hat entsprechend votiert. Für diejenigen in diesem Raum, die das große Latinum wider Erwarten nicht haben sollten, übersetze ich: Die Was die Strafbarkeit betrifft, so ist sicherlich eine ver- Mutter eines Kindes ist bekannt, aber der Vater ist stets nünftige Abwägung nötig; denn ohne Sanktionen – da ungewiss. haben Sie, Herr Gehb, Recht – ist ein Verbot ein stump- (B) (D) fes Schwert. Aber wenn die Verletzung des Briefgeheim- Die neue Technik der DNA-Analyse macht es mög- nisses unter Ehepartnern mit einer Haftstrafe von bis zu lich und ein Blick in das Internet – und nicht nur darauf, einem Jahr belegt werden kann, dann halte ich es für sondern auch auf die Werbetafeln der S-Bahn – genügt, wirklich schwer argumentierbar, dass es bei der heimli- um festzustellen, wie breit und ausufernd das Angebot chen Entnahme genetischen Materials des Kindes nicht solcher Tests mittlerweile ist. so sein sollte. Wenn man das einmal miteinander ver- Die ungewisse Vaterschaft scheint mittlerweile end- gleicht, fragt man sich, warum hier die Empörung so gültig der Vergangenheit anzugehören. Der Putativvater groß ist. kann seine Vaterschaft bzw. Nichtvaterschaft wissen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaftlich nachweisen lassen, zur Not auch heimlich. und bei der SPD) Wie Sie wissen, bereiten wir gerade ein Gendiagnos- Darum geht der Antrag der FDP in die richtige Rich- tikgesetz vor. Die rasante Entwicklung der Biotechnolo- tung. Wir werden ihn beraten. Ich würde mich dafür aus- gie und der Anstieg der Zahl genetischer Untersuchun- sprechen, ein zweistufiges Verfahren vorzusehen: Wil- gen machen es auch notwendig, die Durchführung ligt die Mutter nicht in einen Test ein, könnte ihre solcher Untersuchungen gesetzlich zu regeln. Trotz der Zustimmung durch das Gericht ersetzt werden. Das An- unbestrittenen Vorteile und Chancen dieser Technolo- fechtungsverfahren ist dann erst der zweite Schritt und gien müssen Vorkehrungen getroffen werden, um die wird nur noch in den seltensten Fällen nötig werden; Rechte des Einzelnen auf informationelle Selbst- denn zwischen 80 und 90 Prozent der Tests beweisen, bestimmung zu wahren. dass der Getestete auch tatsächlich der biologische Vater Das Gendiagnostikgesetz wird deshalb auch Regelun- ist. Man sollte es noch einmal klarstellen: Vater ist laut gen über den Umgang mit und den Schutz von geneti- BGB derjenige, der mit der Mutter verheiratet ist oder schen Proben und Daten zur Abklärung der Abstam- der die Vaterschaft anerkannt hat. Dieses Prinzip – wir mung umfassen. Dabei geht es um Fragen des haben es auch im Kindschaftsrecht verankert – dient informationellen Selbstbestimmungsrechts sowohl des dem Wohl des Kindes. Das soll hier die Maxime sein. Kindes als auch der Mutter, sowohl um die berechtigten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Interessen des Vaters als auch um die Praktikabilität bei der Durchsetzung solcher Vorschriften. Auch im Feststellungsverfahren muss gelten, dass es einem Test entgegenstehen kann, wenn er für das Kind Für uns steht schon jetzt fest: Für einen heimlichen eine unverhältnismäßig große Härte bedeutet. Außerdem Vaterschaftstest, so verständlich er im Einzelfall auch 15414 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

Christoph Strässer (A) erscheinen mag, werden genetische Daten des Kindes Was ist das … für eine Gesellschaft, die behauptet, (C) genutzt. Damit liegt immer eine Verletzung des Grund- den Einzelnen zu respektieren, die auf der einen rechts auf informationelle Selbstbestimmung desjenigen Seite aber heimliche Tests toleriert und deren Er- vor, dessen genetische Daten ohne Einwilligung unter- gebnisse sogar öffentlich in Talkshows verkündet? sucht werden. Dass dies in der Form nicht zulässig sein Wir befürworten deshalb die Überlegungen, die von kann, kann sicherlich jedem verständlich gemacht wer- Frau Zypries heute vorgetragen worden sind, auch wenn den. sie noch weiterentwickelt werden müssen. Der an seiner (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vaterschaft zweifelnde Mann muss die Möglichkeit ha- DIE GRÜNEN) ben, die Klärung in einem formalisierten Verfahren her- beizuführen, das die Rechte aller Beteiligten absichert. Der Bundesgerichtshof hat diese Auffassung Anfang des Jahres bestätigt. Heimliche Tests sind daher zu un- Dabei könnte es in der ersten von zwei Stufen darum tersagen. Dabei soll es nach unserer Überzeugung auch gehen, einen Anspruch auf Zustimmung zur Durchfüh- bleiben. Wir wollen selbstverständlich auch, dass die rung eines privaten genetischen Vaterschaftstests mit der Väter Gewissheit über ihre Vaterschaft bekommen kön- Möglichkeit einer gerichtlichen Ersetzung durchzufüh- nen, und zwar in einem geregelten, von uns zu regelnden ren. Die Vorteile einer solchen Lösung liegen für uns auf Verfahren. der Hand: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wir Erstens. Der Vater muss sich nicht vom Kind lossagen stimmen mit Ihnen überein, dass insbesondere nach die- und seine Vaterschaft sofort und unmittelbar anfechten. ser Entscheidung des BGH über vereinfachte Verfah- ren zur Feststellung der Vaterschaft nachzudenken ist. Zweitens. Wir glauben auch, dass die vorgesehene Ihr Antrag bietet dafür einen diskussionswürdigen An- Zustimmung die Anzahl der Klagen auf Ersetzung der satz. Aber wie vonseiten des Bundesjustizministeriums Zustimmung vermutlich senken würde. vorgetragen wurde, können wir uns auch andere Lösun- Drittens. Wir glauben, dass es sich hierbei um ein gen vorstellen, beispielsweise ein zweistufiges Verfah- niedrigschwelliges und praktikables Verfahren handeln ren, das nicht zwingend mit einem gerichtlichen Verfah- könnte. ren beginnt. Ich werde später noch kurz darauf zurückkommen. Erst in einem zweiten Schritt käme – sofern dies doch notwendig werden sollte – die gerichtliche Anfechtungs- Wir widersprechen aber in jedem Fall den Vorschlä- klage zum Tragen. gen, die zum Teil aus den Bundesländern an uns heran- (B) getragen werden. Das gilt insbesondere für den In den in Ihrem Antrag vorgesehenen Regelungen er- (D) Vorschlag aus Baden-Württemberg. Der dortige Justiz- kenne ich noch einige Ungereimtheiten. Erstens würde minister, Ulrich Goll, hat erklärt, dass Väter und Mütter durch das Instrument der Feststellungsklage die Zahl der mit gesetzlichem Segen auch heimliche Vaterschaftstests Gerichtsverfahren anders als nach unseren Vorschlägen durchführen lassen dürften. Dem halte ich in aller Deut- stark ansteigen. lichkeit entgegen – ich denke, in dieser Frage gibt es keine Kompromisse –: Dies ist der falsche Weg, den wir Zweitens. Sie fordern, dass die Anforderungen an die auf keinen Fall mitgehen werden. Glaubhaftmachung eines Zweifels beim Vater niedriger anzusetzen sind. Über Details schweigen Sie sich jedoch Väter sollen die ihnen zustehenden Rechte bekom- aus. men. (Otto Fricke [FDP]: Das hat Frau Schewe- (Zuruf von der CDU/CSU: Aber wie?) Gerigk schon gesagt!) Das ist unbestritten. Wir haben hier schon sehr oft über Dabei müssten Sie an dieser Stelle viel konkreter wer- Männer und Väter und ihre Rechte gesprochen. Im Vor- den. dergrund steht aber eindeutig das Wohl des Kindes. Das Familienrecht hat sich in den vergangenen Jahren durch Ich glaube, dass wir, wenn es um die Fragen der Ver- das Bestreben ausgezeichnet, Kinder als Persönlichkei- jährung und Verwirkung des Anspruchs auf Feststellung ten wahrzunehmen. Jeder heimliche Vaterschaftstest der Vaterschaft geht, auch darüber nachdenken müssen, stellt eine Missachtung der Würde des Kindes dar. die Zweijahresfrist durch eine Einrede zu ersetzen, um auch nach Ablauf der Frist eine einvernehmliche Rege- In allen Bereichen propagieren wir das Selbstbestim- lung zu ermöglichen. mungsrecht des Einzelnen. Gestern haben wir in diesem Hohen Hause lang und breit und überwiegend sachlich Es gibt also eine Reihe offener Fragen, die wir disku- über die Patientenverfügung diskutiert. Sollten wir heute tieren werden. Ich hoffe, dass wir in diesem Zusammen- das Selbstbestimmungsrecht der Kinder aushebeln? Das hang und im Rahmen unserer Beratungen über das geht nach meiner Auffassung nicht an. Gendiagnostikgesetz vernünftige, vielleicht sogar ge- meinsame Regelungen schaffen können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank. Dabei halte ich es mit Spiros Simitis, dem Vorsitzen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den des Nationalen Ethikrates – ich zitiere –: DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15415

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- (C) Ich schließe die Aussprache. destages auf Mittwoch, den 16. März 2005, 13 Uhr, ein. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen Drucksache 15/4727 an die in der Tagesordnung aufge- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch den Zuhö- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit rerinnen und Zuhörern auf der Tribüne ein schönes Wo- einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- chenende. sung so beschlossen. Die Sitzung ist geschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. (Schluss: 14.46 Uhr)

Berichtigungen 162. Sitzung, Seite 15160 (A), der fünfte Absatz ist wie folgt zu lesen: „Es geht um die berühmten Marker- gene und die Resistenzen, die dabei entstehen könnten. An dieser Stelle geht es genau darum, diese auszuschlie- ßen.“ Seite 15160 (A), der zweite Absatz ist wie folgt zu le- sen: „Ich weiß von den Gesprächen mit Putin oder ande- ren Vertretern der russischen Regierung, dass immer ge- fragt wird, wie die Schritte zur Stabilisierung im (B) nördlichen Kaukasus, insbesondere Tschetschenien, aus- (D) sehen, und dass auf diesem Thema eindringlich beharrt wird.“

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15417

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich

entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Rühe, Volker CDU/CSU 11.03.2005

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 11.03.2005 Scharping, Rudolf SPD 11.03.2005 DIE GRÜNEN Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 11.03.2005 Andres, Gerd SPD 11.03.2005 Schröder, Gerhard SPD 11.03.2005 Barthle, Norbert CDU/CSU 11.03.2005 Seib, Marion CDU/CSU 11.03.2005 Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ 11.03.2005 DIE GRÜNEN Singhammer, Johannes CDU/CSU 11.03.2005

Bettin, Grietje BÜNDNIS 90/ 11.03.2005 Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/ 11.03.2005 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN

Bierwirth, Petra SPD 11.03.2005 Streb-Hesse, Rita SPD 11.03.2005

Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 11.03.2005 Strothmann, Lena CDU/CSU 11.03.2005

Brunnhuber, Georg CDU/CSU 11.03.2005 Dr. Thomae, Dieter FDP 11.03.2005

Eickhoff, Martina SPD 11.03.2005 Tillmann, Antje CDU/CSU 11.03.2005

Feibel, Albrecht CDU/CSU 11.03.2005 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 11.03.2005 DIE GRÜNEN (B) Frechen, Gabriele SPD 11.03.2005 (D) Violka, Simone SPD 11.03.2005 Göppel, Josef CDU/CSU 11.03.2005

Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 11.03.2005 Anlage 2 Freiherr von und zu CDU/CSU 11.03.2005 Guttenberg, Karl- Zu Protokoll gegebene Rede Theodor zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum Bürokratieabbau (Tagesordnungspunkt 20) Haack (Extertal), Karl SPD 11.03.2005 Hermann Ulrich Kelber (SPD): Aus der Werbewirtschaft ken- nen wir das Prinzip, ein positiv besetztes Wort inflatio- Hilsberg, Stephan SPD 11.03.2005 när zu nutzen und mit völlig sachfremden Inhalten zu verbinden. Das Gleiche versucht die Mehrheit im Bun- Hochbaum, Robert CDU/CSU 11.03.2005 desrat mit dem Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten. Die Überschrift des Gesetzes heißt Dr. Küster, Uwe SPD 11.03.2005 Bürokratieabbau. Der Inhalt ist ein anderer, ein ganz an- Lanzinger, Barbara CDU/CSU 11.03.2005 derer. Es geht der Mehrheit im Bundesrat gar nicht um we- Michelbach, Hans CDU/CSU 11.03.2005 niger Regelungen, es geht in den meisten Punkten des Gesetzentwurfes nur darum, dass die Bundesländer die Minkel, Klaus CDU/CSU 11.03.2005 Dinge selbst regeln wollen. Darüber kann man ja reden. Aber weniger Bürokratie ist das nicht, schon gar nicht, Mortler, Marlene CDU/CSU 11.03.2005 wenn die Regelungen von Bundesland zu Bundesland, von Gewerbegebiet zu Gewerbegebiet, kurz, von Lan- Dr. Pinkwart, Andreas FDP 11.03.2005 desgrenze zu Landesgrenze unterschiedlich sind. Hier ist die Gefahr sehr groß, dass wichtige Regelungen aus Probst, Simone BÜNDNIS 90/ 11.03.2005 Konkurrenzgründen zwischen den Bundesländern ver- DIE GRÜNEN wässert werden. 15418 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005

(A) Auch im Bereich des Umweltschutzes hat der Gesetz- persönlich könnte sogar auf sehr viele Gesetze und Ver- (C) entwurf der Bundesratsmehrheit keineswegs den Abbau ordnungen im Umweltschutz verzichten, wenn wir statt- von Bürokratie, sondern nur den Abbau von Umwelt- dessen für alle Bereiche Grenzwerte festlegen und ein schutz zur Folge. Das mag ja erklärtes Ziel von CDU/ verschärftes Haftungsrecht für Umweltsünder und -ver- CSU und FDP sein; dass Sie dabei aber auch bereit sind, schmutzer umsetzen würden. Ich bin überzeugt, dass ein am laufenden Band gegen geltendes EU-Recht zu ver- solches Haftungsrecht zu viel mehr Umweltschutz füh- stoßen und damit saftige Geldstrafen zu riskieren, kön- ren würde, als jedes Gesetz dies vermag. nen Sie weder mir noch uns noch den Bürgerinnen und Bürgern erklären. Haben die Bundesländer versteckte Haushaltstöpfe entdeckt, aus denen sie Strafen bezahlen Anlage 3 wollen? Wenn ja, sagen Sie uns, wo; wir hätten da eine Amtliche Mitteilungen Menge guter Ideen, wie man damit in die Bildung unse- rer Kinder investiert. Die Abgeordneten Marga Elser, Ulrike Mehl und Hans-Joachim Hacker haben darum gebeten, bei dem Aber zurück zu dem so genannten Bürokratieabbau, Antrag Die Regionalentwicklung in Brandenburg und der hier betrieben werden soll. An mehr als einer Stelle Mecklenburg-Vorpommern braucht Klarheit – Die würden die Vorschläge eher zu mehr Bürokratie als zu zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide ist über- weniger führen, so zum Beispiel beim Kreislaufwirt- fällig auf Drucksache 15/4792 nachträglich in die Liste schaftsgesetz oder bei den Vorschlägen zum SGB IV. der Antragsteller aufgenommen zu werden. Am verheerendsten aber wäre dieser Gesetzentwurf der Bundesratsmehrheit im Bereich der Beteiligungsrechte Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben der Bürgerinnen und Bürger. Beim Bundes-Immissions- mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 schutzgesetz soll die Öffentlichkeitsbeteiligung, sollen der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den die Anhörungsrechte der betroffenen Bürgerinnen und nachstehenden Vorlagen absieht: Bürger in das Gutdünken der Länder gestellt werden. Ich persönlich habe noch nie etwas davon gehört, dass Luft- verunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und Auswärtiger Ausschuss Ähnliches sich in Nordrhein-Westfalen anders anfühlen – Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik und auswirken als in Bayern oder Berlin. Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Werfen wir mal einen ganzen oberflächlichen Blick Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Euro- auf diesen Gesetzentwurf: Da werden 25 Artikel zur Än- parates vom 26. bis 30. April 2004 in Straßburg derung bestehender Gesetze aneinander gereiht. Sechs (B) – Drucksachen 15/4082, 15/4290 Nr. 1.1 – (D) dieser Vorschläge stimmt die Bundesregierung zu und sagt zu, sie in zukünftigen Gesetzentwürfen zu berück- – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- sichtigen. Bei drei Vorschlägen wird deutlich, dass diese mentarischen Versammlung des Europarates eher zu mehr Bürokratie als zu weniger führen. Bei vier Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Euro- weiteren Änderungsvorschlägen handelt es sich um parates vom 21. bis 25. Juni 2004 in Straßburg solche, in denen Bund und Länder bereits in der Abstim- – Drucksachen 15/4083, 15/4290 Nr. 1.2 – mung bzw. Überprüfung sind bzw. gerade erst gemein- sam andere Beschlüsse gefasst haben, Beispiel Kreis- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen laufwirtschaftsgesetz. Elf Vorschläge verstoßen gegen EU-Richtlinien und Beschlüsse. Haben Sie mitgezählt? – Unterrichtung durch die Bundesregierung Es bleibt einer! Einer, wo wir tatsächlich anderer Mei- Straßenbaubericht 2004 nung sind als Sie und das betrifft den Jugendarbeits- – Drucksache 15/4609 – schutz. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Ich denke, allein mit diesem Kurzüberblick auf den mitgeteilt, daß der Ausschuss die nachstehenden EU- Gesetzentwurf wird schon deutlich, was er ist: purer Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Aktionismus. Ich kann wirklich nur hoffen, dass sich Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- Frau Merkel und Herr Stoiber bis nächste Woche etwas tung abgesehen hat. mehr einfallen lassen, wenn Sie mit dem Bundeskanzler auch über Bürokratieabbau reden wollen. Auswärtiger Ausschuss Wie geht Bürokratieabbau wirklich? Die Bundes- Drucksache 15/4458 Nr. 2.27 regierung hat mit ihrem Masterplan Bürokratieabbau in einem Jahr bereits mehr als 75 Projekte umgesetzt, und dies in Zusammenarbeit mit Wirtschaftsverbänden und Rechtsausschuss -instituten. Sie wird dort auch weiter konsequent voran- Drucksache 15/4085 Nr. 1.15 gehen. Drucksache 15/4085 Nr. 1.17 Drucksache 15/4213 Nr. 2.34 Im Bereich der Umweltschutzgesetzgebung wäre es Drucksache 15/4213 Nr. 2.44 aus unserer Sicht ein lohnender Versuch, die vielen Ge- Drucksache 15/4213 Nr. 2.47 Drucksache 15/4296 Nr. 1.3 setze und Verordnungen in ein stringent und übersicht- Drucksache 15/4458 Nr. 2.18 lich gestaltetes Umweltgesetzbuch zu überführen. Ich Drucksache 15/4458 Nr. 2.22 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 164. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. März 2005 15419

(A) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (C) Drucksache 15/103 Nr. 2.93 Landwirtschaft Drucksache 15/2447 Nr. 2.42 Drucksache 15/4780 Nr. 2.5 Drucksache 15/2519 Nr. 2.22 Drucksache 15/4567 Nr. 1.3 Drucksache 15/4705 Nr. 1.16 Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Drucksache 15/4705 Nr. 2.3 Drucksache 15/4705 Nr. 2.9 Drucksache 15/4705 Nr. 2.28 Drucksache 15/4705 Nr. 2.11 Drucksache 15/4780 Nr. 2.13 Drucksache 15/4705 Nr. 2.14 Drucksache 15/4705 Nr. 2.16 Drucksache 15/4705 Nr. 2.17 Ausschuss für Bildung, Forschung und Drucksache 15/4705 Nr. 2.20 Technikfolgenabschätzung Drucksache 15/4705 Nr. 2.21 Drucksache 15/4705 Nr. 2.23 Drucksache 15/4705 Nr. 2.26 Drucksache 15/4705 Nr. 2.31 Drucksache 15/4780 Nr. 2.1 Drucksache 15/4780 Nr. 2.6 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Drucksache 15/4780 Nr. 2.7 Entwicklung Drucksache 15/4780 Nr. 2.10 Drucksache 15/4780 Nr. 2.15 Drucksache 15/4780 Nr. 2.16

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980