DEUTSCHLAND

Bad Kleinen „Sog. Griff zur Entwindung“ Ein Gutachten des Düsseldorfer Rechtsmediziners Wolfgang Bonte kommt zu einem sensationellen Ergebnis: Bevor der RAF-Terrorist Wolfgang Grams in Bad Kleinen an einem aufgesetzten Kopfschuß aus der eigenen Pistole starb, sei ihm die Waffe entwunden worden. „Fremdtäterschaft“ könne nicht ausgeschlossen werden.

n den Semesterferien ging Professor Fest steht: Grams erschoß Michael ge Schmauchspuren, Blut- oder Gewebe- Wolfgang Bonte, 54, einer unge- Newrzella, 25, einen Beamten der Son- spritzer verschwanden im Abfluß. Spu- Iwöhnlichen Beschäftigung nach: Er dereinheit Grenzschutzgruppe 9 (GSG ren am Tatort wurden nur schleppend ge- verletzte sich absichtlich. 9). Dann stürzte der Terrorist auf die sichert. Noch Tage nach der Schießerei Der Direktor des rechtsmedizini- Gleise und starb nach einem aufgesetz- sammelten Beamte Hülsen und Ge- schen Instituts der Universität Düssel- ten Kopfschuß – aus seiner eigenen schoßteile aus dem Gleisschotter, sogar dorf hielt eine durchgespannte Pistole Waffe. an der Stelle, wo Grams gelegen hatte. vom Typ Bruenner Modell CZ 75 in Wer jedoch diesen Schuß abfeuerte, Obendrein informierten die Behörden der rechten Hand. Seinen Assistenten blieb lange im dunkeln. Keiner der am Parlament und Öffentlichkeit nur zöger- forderte der Wissenschaftler auf, ihm Einsatz beteiligten Beamten will den lich über das Debakel. Die Angaben wa- das Schießeisen möglichst gewaltsam zu Schützen gesehen haben. Die Ermittler ren zunächst unvollständig und teilweise entwinden. gingen schließlich davon aus, Grams ha- falsch. Der Mitarbeiter packte die Waffe be sich selbst umgebracht. Der damalige Bundesinnenminister fest am Lauf, bog sie heftig nach oben Die Gewißheit der Strafverfolger ver- (CDU) trat zurück, Gene- und drehte sie zugleich im Uhrzeiger- wunderte. In Bad Kleinen war nur das ralbundesanwalt sinn. Dabei schabte der zurückgespann- Chaos eine verläßliche Größe. Ein Un- wurde zwangspensioniert, Polizeiführer te Schlaghammer der Pistole über den tersuchungsbericht der Bundesregie- erhielten ihre Versetzung, der wahr- Handrücken des Wissenschaftlers. Zwi- rung zählt 17 derbe Fehler auf – ein scheinlich wohl einzige V-Mann, den die schen Daumen und Zeigefinger blieb Sammelsurium von schier unglaublichen Sicherheitsbehörden je an den mutmaßli- eine blasse Schürfwunde zurück. Pannen. chen Kern der RAF heranspielen konn- Im Laufe einer Stunde verfärbte sich Dem getöteten Grams wurden zu früh ten, warenttarnt und damitunbrauchbar. die Verletzung zu einer leichten Rö- Gesicht und Hände gewaschen – wichti- Der Chef des Bundeskriminalamtes, tung. Mit einer Nahaufnah- Hans-Ludwig Zachert, ver- me wurde die Wunde im Bild niedlichte den verheerenden festgehalten. Später wechsel- Einsatz als „Desaster“. ten die Wissenschaftler die Zur Staatskrise wäre es Rollen. Bontes Assistent gekommen, wenn sich her- zückte die Waffe, der Profes- ausgestellt hätte, daß, wie sor entwand sie ihm. Auch lange geraunt wurde, Beam- diesmal entstand die Schürf- te der GSG 9 den auf den wunde, unübersehbar. Gleisen liegenden Grams Die Tests dienten der Vor- aus nächster Nähe erschos- bereitung eines bisher unver- sen und die Spuren beseitigt öffentlichten Gutachtens, hätten. Monatelang ermit- das der weltweit angesehene telte die Staatsanwaltschaft Gerichtsmediziner vorigen Schwerin gegen zwei Mit- Monat abschloß. Mit der glieder der Elitetruppe we- Waffe in der Hand hatte gen des Verdachts der vor- Bonte nachgestellt, was, Sterbender Grams: „Rückschluß auf Selbsttäterschaft . . . sätzlichen Tötung. wenn seine Version zutrifft, Im Januar stellte die Be- am 27. Juni 1993 im mecklen- hörde das Verfahren ein, burgischen Bad Kleinen ge- womöglich vorschnell. schah. „Grams selbst“ habe sich, so An jenem Sonntag lief auf die Strafverfolger, nach sei- dem Provinzbahnhof ein Po- nem Sturz auf das Gleis 4 im litkrimi ab: Eine halbe Hun- Bahnhof von Bad Kleinen dertschaft Polizisten, auf die „in Suizidabsicht mit der von Fährte gebracht von dem V- ihm mitgeführten Pistole Mann Klaus Steinmetz, soll- den tödlichen Kopfdurch- te die als Terroristen der Ro- schuß zugefügt“. Selbst eine ten Armee Fraktion (RAF) „versehentliche Schußauslö- gesuchten , sung“, etwa „während des heute 37, und Wolfgang Sturzes oder beim Aufpral- Grams, 40, festsetzen. Die len auf das Schotterbett“ des Aktion endete mit einer töd- Gleises, schlossen die Er- lichen Ballerei. . . . wissenschaftlich nicht haltbar“: Gutachter Bonte mittler aus.

30 DER SPIEGEL 23/1994 Grams-Hand mit Druckstelle: „Enger, gewaltsamer und unfreiwilliger Kontakt mit dem Schlaghammer“

Innenminister Manfred Kanther zeig- dung. „Die Schürfung te sich mehr als zufrieden über das Er- Der Entwindungsgriff Polizist an der rechten Hand gebnis. Zu Unrecht, so der christdemo- des Grams“, schloß kratische Politiker, hätten Beamte sei- Bär, sei womöglich ner Anti-Terror-Einheit GSG 9 im Ver- „durch den Schlagham- dacht gestanden, den mutmaßlichen Der Rechtsmediziner mer am Waffenrücken Terroristen „hingerichtet“ zu haben. Bonte untersuchte eine der CZ 75 infolge eines Der Düsseldorfer Mediziner Bonte bogenförmige Hautab- sehr engen, gewaltsa- hingegen hegt trotzdem Zweifel. Er hält schürfung auf der Hand Schlaghammer men und eventuell un- nahezu alle Ermittlungsergebnisse der des getöteten Terroristen freiwilligen Kontakts Staatsanwaltschaft für mangelhaft. Der Grams. Die Ursache laut der rechten Hand des Rechtsmediziner, im vergangenen Jahr Bonte: Ein Polizist riß die Grams mit diesem Präsident der weltweiten „International Waffe am Lauf nach hin- Schlaghammer ent- Association of Forensic Sciences“, ten, um sie dem RAF- standen“. Es sei „da- kommt in einem Gutachten, das er im Mann aus der Hand zu bei auch an einen Auftrag der Grams-Anwälte Andreas drehen. Dabei schabte sog. ,Griff zur Entwin- Groß und Thomas Kieseritzky erstellt der gespannte Schlag- dung der Waffe‘ hat, zu dem Ergebnis: Es sei „weder hammer über den Hand- (= Entwindungsgriff) Selbsttäterschaft bewiesen noch Fremd- rücken und verletzte aus der Hand zu den- täterschaft ausgeschlossen“. die Haut. Grams ken“. Bonte geht noch einen Schritt weiter: Die Expertise lande- Ein ausschließlicher „Rückschluß auf te bei der Schweriner Selbsttäterschaft ist wissenschaftlich Experiment in „weitestgehender Annä- Staatsanwaltschaft, von der Bär beauf- nicht haltbar“. herung“ reproduziert. Bonte zum SPIE- tragt worden war, Leichenteile von Der Wissenschaftler glaubt experi- GEL: „Es hat einen Entwindungsgriff Grams auf Spuren zu untersuchen. Das mentell nachweisen zu können, daß die gegeben.“ Ergebnis sorgte bei den Strafverfolgern Bruenner-Pistole Grams entwunden Der Professor steht mit seiner Schluß- für einige Verwirrung. Keiner der zuvor wurde und nicht etwa nach dem Kopf- folgerung nicht allein. Die von ihm be- beauftragten Gutachter hatte sich Ge- schuß zu Boden fiel, wie die von der merkte Spur war bereits dem Schweizer danken über die Abschürfung gemacht. Schweriner Staatsanwaltschaft beauf- Gerichtsmediziner Walter Bär von der Als Bärs Expertise eintraf, arbeiteten tragten Experten angenommen hatten. Universität Zürich aufgefallen. die Ermittler schon an den ersten Ver- Hat Bonte recht, stellt sich erneut die Der hatte im Sommer vergangenen satzstücken für die Abschlußverfügung. Frage, wie Grams zu Tode kam. Jahres zwei Hände, „feucht“, „abge- Arbeitsthese: Selbstmord. Auf dem rechten Handrücken von trennt im Handgelenk“, von Wolfgang Eilig beauftragten sie daraufhin den Grams bemerkte Bonte eine „bogenför- Grams untersucht. Bärs Augenmerk fiel Bonner Rechtsmediziner Karl Sellier, mige Hautabschürfung und -rötung“. bald auf eine „streifige, halbovale, ober- sich mit Bärs These auseinanderzuset- Diese Spur lasse sich „widerspruchsfrei flächlich geschürfte Hautveränderung zen. Der Experte für forensische Balli- durch einen streifenden Kontakt mit von circa 4 cm maximaler Schenkellänge stik hatte zuvor schon irritiert bemerkt, dem Hahnende“ der Waffe des RAF- und circa 4 mm Breite“. daß die Untersuchungen im Falle Grams Mannes „im Rahmen eines Entwin- Auch der Schweizer Wissenschaftler so lange dauerten. dungsgriffes erklären“. Aussehen und bringt die Verletzung mit dem Schlag- Wenige Tage später hatte er die Ent- Form der Hautveränderung habe er im hammer der Grams-Waffe in Verbin- windungsthese weggewischt. Die Ver-

DER SPIEGEL 23/1994 31 letzungen seien „durch Berührungen hat, kommt zu einem für die Zunft des Handrückens mit dem Schotter“ verheerenden Ergebnis. Die Gutachten auf den Bahngleisen entstanden. seien „durch strategische Fehler“ ohne Grams sei bei den Rettungsversuchen Aussagekraft. Die Brinkmann-Ausfüh- schließlich mehrfach gewendet worden. rungen seien in wesentlichen Punkten Das leuchtete der Staatsanwaltschaft „nicht zwingend“, in anderen „abwe- sofort ein. Bonte hingegen fand die gig“ oder schlichtweg „falsch“. Der These „abstrus“. Er besorgte sich ver- Gutachter sitze „einer durch nichts be- schiedene Schottersteine vom Tatort legten Fiktion“ auf. und versuchte, sich mit deren Kanten Präzise notiert Bonte auf 80 Seiten und Spitzen Schürfwunden beizubrin- die für ihn entscheidenden „Fehler“ gen. Ergebnis: Auch mit aller Macht der Gerichtsmediziner. konnte er sich die gewünschten Verlet- Nach Ansicht von Brinkmann soll zungen nicht zufügen. sich Grams die Pistole senkrecht auf Eine Hautabschürfung durch Schot- den Kopf gesetzt und dann abgedrückt ter sehe wesentlich anders aus, als die haben. Dadurch sei im gleichen Mo- bei dem Toten festgestellten Befunde ment eine „atonische Lähmung“ einge- ergeben hatten, bilanzierte der Wissen- treten. Grams’ Hand habe die Waffe schaftler. Die „gleichmäßig breite ober- freigegeben, und diese sei so schnell zu flächliche Hautabschürfung oder Rö- Boden gefallen, daß die nach oben ex- tung und viertelellipsige Schürffigur“ plosionsartig wegspritzenden Blut- und sei an dieser Stelle der Hand durch ei- Gewebepartikel auf die Waffe herab- nen Schotterstein nicht erklärbar. rieseln konnten. Schludereien bei den Ermittlungen, Bonte weist diese Erklärung zurück. Widersprüche unter den Experten und „Die Annahme einer sofortigen Läh- Lücken in den Untersuchungsberichten mung“ sei „keineswegs gerechtfertigt“, charakterisieren das Verfahren Grams. weil völlig untypisch. Die Waffe müs- Auch die Zeugen halfen nicht weiter: se, so Bonte, „im Augenblick des Ein- Bei der Vernehmung verwickelten sich schusses bespritzt“ worden sein. „Alle besonders die Elitepolizisten der GSG Gegenargumente“ wertet der Wissen- 9 immer wieder in Widersprüche. Kei- schaftler als „sicher widerlegbar“. ner der rund 150 vernommenen Zeugen So seien die Blutspritzer nicht will zudem gesehen haben, wie Grams gleichmäßig auf dem Schießeisen zu sich die tödliche Kugel gab. finden: Sie fehlten genau an den Stel- Fachleute für Schuß und Schmauch len, die üblicherweise zugedeckt wer- verfolgten die Ermittlungsarbeiten mit den, wenn die Waffe in die Hand ge- Grausen. Der Kriminalwissenschaftler nommen wird – ein für Bonte eindeuti- Wolfgang Lichtenberg bemängelte die ges Indiz. dilettantische Spurensicherung: „Wenn Auch die „Lage des Kopfes bei Schußerhalt“ sei von Brinkmann falsch berechnet worden, moniert Bonte. Das „Wir wollen genau gelte auch für die Flugbahn der weg- wissen, was in spritzenden Blutpartikel. Und: Eine „sichere Bestimmung“ Bad Kleinen geschah“ der weiteren fünf Körper- und Kleider- treffer, die Grams erhalten hatte, sei Haare entfernt oder gewaschen wer- durch die von den Gutachtern ange- den“, wie bei Grams geschehen, „ent- wandten Methoden nicht möglich ge- spricht das einer Spurenvernichtung.“ wesen. Die von der Staatsanwaltschaft Sellier hatte zunächst bemängelt, beauftragten Wissenschaftler hatten daß an der Leiche von Grams nicht so- angenommen, daß außer dem Kopf- fort eine Schmauchspurenanalyse vor- schuß alle Schüsse auf Grams aus min- genommen worden sei. „Für mich“, destens anderthalb Meter Entfernung wetterte er, „ist das Ganze ein Rät- abgegeben worden seien. Bonte sel.“ kommt zu dem Ergebnis: „Schüsse aus Für die Wissenschaftler des rechts- wesentlich kürzerer Distanz sind kei- medizinischen Instituts der Züricher neswegs auszuschließen.“ Universität und des Wissenschaftlichen Mit dem neuen Gutachten wollen Dienstes der Züricher Stadtpolizei hat- die Anwälte der Eltern von Wolfgang te sich die Spurensuche mühsam ge- Grams diese Woche die Schweriner staltet. Asservate waren verschwunden Staatsanwaltschaft zur Wiederaufnah- oder durch schlampige Vorermittlun- me der Ermittlungen bewegen. Grams- gen kaum noch verwertbar. Anwalt Groß: „Unser Ziel ist nicht ei- So beschränkten sie sich zwangsläu- ne Verurteilung der Polizisten. Wir fig auf die Untersuchungsergebnisse wollen genau wissen, was in Bad Klei- des von der Staatsanwaltschaft zuvor nen geschehen ist.“ beauftragten Gerichtsmediziners Bernd Für Bonte steht fest: „Die Staatsan- Brinkmann aus Münster. waltschaft ist trotz aller Arbeiten heute Bonte, der monatelang alle Gutach- nicht einen Schritt weiter als am An- ten der Kollegen sorgfältig ausgewertet fang.“ Y

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