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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

ARD-Themenwoche „Der mobile Mensch“ Urknall der Mobilität Freiherr von Drais’ Fahrmaschine ohne Pferde

Autor: Pia Fruth Regie: Maria Ohmer Redaktion: Udo Zindel Erst-Sendung am Dienstag, 27. April 2010, 8.30 Uhr, SWR2 Wissen Wiederholung am Freitag, 27. Mai 2011, 8.30 Uhr, SWR2 Wissen

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-6030

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ZITATOR: Damit mein Schritt recht rasch und ungebunden Und ich mir soviel Zeit erspare Kauft ein Gefährt ich, das in jenem Jahre Herr Drais in hat erfunden.

OT Stimmen zur Draisine: Wenn ich gemütlich durch die Gegend laufen möchte, etwas bequemer, dann ist die Draisine durchaus interessant. Ich sitz quasi und stoß mich immer nur mit den Beinen ab, ohne dass ich in die Pedale treten muss... Und man muss versuchen, gleichmäßige Schritte zu machen. Es macht unheimlich Spaß, und man kriegt auch richtig Fahrt drauf....

ZITATOR: Die Schnelligkeit meiner Maschine gleicht auf ebenen harten Wegen fast ganz der des Schlittschuhfahrens. Bergab aber werden die besten Pferde auf langen Strecken übertroffen.

Atmo – Don’t Stop it

ANSAGE: Urknall der Mobilität – Freiherr von Drais’ „Fahrmaschine ohne Pferde“. Eine Sendung von Pia Fruth.

ZITATOR: Bei dieser Gelegenheit grüße ich alle meine Freunde herzlich und reiche jedermann freundlich die Hand, der unparteiisch sich bestrebt, die Wahrheit zu untersuchen, um das Gute zu befördern. Freiherr Karl Friedrich Ludwig Christian Drais von Sauerbronn.

Atmo – Draisinenrennen

ERZÄHLERIN: Ein Wochenende im letzten Sommer. Der Verkehr um den Richard-Wagner-Platz in wird seit dem Morgen umgeleitet. Eine Band spielt, Besucher stehen am Straßenrand und feuern Sportlerinnen und Sportler in Fahrrad-Trikots an. Doch obwohl es auf den ersten Blick so scheint, wird hier kein Radrennen ausgetragen. Drei Tage fahren Laufräder ohne Pedale, so genannte „Draisinen“, auf einem Rundkurs um eine Grünanlage.

OT Mini-Anweisung: Drei, vier Schritte .... drei, vier Schritte und einfach die Beine hoch ....

ERZÄHLERIN: Schülerinnen, Studenten, sogar Hochschulprofessoren lauf-radeln in der Geburtsstadt des Freiherren von Drais um die Wette. Manche schaffen sogar volle 40 Runden, was einer „Badischen Meile“ entspricht: genau 8 Kilometern und 889 Metern. Vor einigen Jahren, zum Stadtgeburtstag 2002, organisierte Wolf Peter Höfel mit seiner Event-Agentur zum ersten Mal ein Draisinen-Rennen in Karlsruhe. Als Reminiszenz an einen der berühmtesten Söhne der Stadt. Damals allerdings blitzten die Laufräder noch nicht in edlem Gold oder sportlichem schwarz-rot. Sie waren auch 3 nicht aus superleichtem Hartschaum und Glasfaser gebaut wie heute. Was 2002 ins Rennen geschickt wurde, waren drei originalgetreue Nachbauten der ersten „Fahrmaschinen“ von 1817.

OT Wolf Peter Höfel Am Anfang sind wir ja mit diesen Holzdraisinen gefahren. Und dann haben wir experimentiert hier und haben gesagt: "Jetzt müssen wir aber eine sportliche bauen". Und jetzt haben wir eigentlich eine Rennmaschine – ein Formel 1. Und es ist eine Weiterentwicklung aus der ganz einfachen Draisine, die im Prinzip zwei Räder hatte und einen Holzbalken oben drüber. Natürlich ist das ein Spaßobjekt, ganz klar. Aber es kommt sehr gut an. Und man muss eben auch mal was Neues probieren.

ZITATOR: Durchlauchtigster Großherzog, allergnädigster Souverän! Nachdem ich das hohe Glück hatte, Eurer Königlichen Hoheit meine Erfindung einer Fahrmaschine ohne Pferd untertänigst vorführen zu dürfen, wage ich folgende zwei untertänigste Bitten: Erstens: Mir in Gnaden das Privilegium zu erteilen, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre bloß der von mir erkaufte Gebrauch der Maschinen gestattet werde. Zweitens: Mir zu schnellern Ausführung eines noch vollkommeneren und schönen Exemplars meiner Erfindung eine Geldunterstützung gnädigst zu verleihen. Karlsruhe, den 27. Oktober 1813.

ERZÄHLERIN: Elf Tage nach der Völkerschlacht bei Leipzig, der entscheidenden Schlacht gegen , schreibt Karl Drais, Sohn des obersten Richters in Baden, an seinen Namensvetter Großherzog Carl I. Drais selbst ist studierter Forstmeister, Beamter des Großherzogs, hat vom Großherzog aber kein Forstamt zugewiesen bekommen. Darum will er jetzt als Erfinder im Großherzogtum arbeiten. Im Laufe seines Lebens wird er nicht nur die Grundlagen für den Individualverkehr auf der ganzen Welt legen, er erfindet auch einen Klavierrekorder, ein neues Rechensystem, einen Holzsparherd und die Tastenschreibmaschine. Doch zunächst einmal muss er im Jahr 1813 den Souverän von Baden um Unterstützung für seine neueste Erfindung bitten. In Mannheim hat Drais einen vierrädrigen Wagen entwickelt, der nicht von Pferden gezogen, sondern mit menschlicher Muskelkraft betrieben wird: die „Fahrmaschine I“, den Vorläufer der späteren „Draisine“.

ZITATOR: Badisches Magazin. 5. Januar 1814: Ein Wagen auf vier Rädern, der ohne Pferde läuft, zwei bis vier Personen fortbringt, keines aufzuziehenden Uhrwerks mit Zeitverlust und Gebrechlichkeit bedarf, sondern durch den leichten Druck des Fußes, oder, wenn man ihn dazu einrichten will, der Hand eines insitzenden Menschen vor- und rückwärts sich mit Pferdeschnelle treiben lässt. Der auch mäßige Hügel im Hinauffahren bezwingt – ein solcher Wagen ist von dem Freiherrn von Drais erfunden worden.

ERZÄHLERIN: Der 27-jährige Großherzog Carl führt seit zwei Jahren die Regierungsgeschäfte in Baden. Zwar ist er mit einer Adoptivtochter verheiratet, trotzdem hat er sich vom Bündnis mit dem französischen Kaiser losgesagt und auf die gegnerische 4

Seite geschlagen. Schwierige Zeiten also in Baden. Nicht nur politisch. Schon zum zweiten Mal in Folge kommt es zu Missernten, die Haferpreise steigen. Damit wird der Unterhalt von Pferden ständig teurer. Die neue Fahrmaschine des Freiherrn von Drais kommt also gerade zur rechten Zeit, sollte man meinen. Doch dem ist nicht so, weiß der Koblenzer Technikhistoriker Hans-Ewald Lessing:

OT Hans-Ewald Lessing 1812 begann schon die erste von einer Kette von insgesamt fünf schlechten Ernten. Und seine vierrädrigen Muskelfahrzeuge waren bereits eine Reaktion auf diese erste schlechte Ernte. Aber offenbar war der Haferpreis noch nicht hoch genug, dass die reichen Leute sagten: Um Gottes Willen, jetzt müssen wir uns aber nach etwas anderem umschauen. Das ist ja wie mit dem Benzinpreis heute. So lange er noch einigermaßen im erschwinglichen bleibt, macht man nix.

ERZÄHLERIN: Bevor der Großherzog Zugeständnisse macht, sollen zwei Gutachter den Nutzen der Drais’schen Fahrmaschine prüfen – der Oberbaudirektor Friedrich Weinbrenner und der Ingenieur und Rheinbegradiger Johann Gottfried Tulla.

OT Hans-Ewald Lessing Diese Rolle des "Weißer-Kragen-Erfinders", der also irgendwas machen lässt und dann versucht, davon zu leben – das war ja überhaupt nicht vorgesehen in der damaligen Gesellschaft. Und das einzige Recht war eigentlich, dass man das Privileg bekam vom Fürsten, etwas allein im Fürstentum verkaufen zu dürfen. Das war aber bei Drais nicht so günstig. Weil er war ja Beamter und noch dazu bei vollen Bezügen beurlaubt. Und da hat man schon damals nicht so gern gesehen, dass er Nebentätigkeiten ausübt. Und deswegen hat er also auch zunächst diese Privilegien nicht bekommen auf diese vierrädrige Fahrmaschine.

ZITATOR: Wenn wir nun nach dem allgemeinen Begriff einer Maschine voraussetzen, dass uns dieselbe einen übergewöhnlichen Zweck leisten soll, so möchte diese Fahrmaschine wohl nicht von großer Erheblichkeit und Nutzen sein, weil jedermann, der Füße hat, dieselben für eine Ortsveränderung weit besser auf einen natürliche Art gebrauchen kann.

OT Hans-Ewald Lessing Das war eben der gewaltige Sprung, den man sich damals noch gar nicht so richtig vorstellen konnte. Es gibt einen Zukunftroman "Ini – Das 21. Jahrhundert", der konnte sich wirklich nur alles mit Tierkraft vorstellen: von einem Adler gezogene Mongolfièren und von einem Wal gezogene Treibinseln. Aber irgendwelche Mechanik war noch nicht in den Köpfen.

ERZÄHLERIN: Die Wende kommt erst einige Jahre später mit der schlimmsten Hungersnot des 19. Jahrhunderts. Eine Naturkatastrophe verändert das Wetter in weiten Teilen der Welt – und damit auch das Verkehrswesen, kurz nachdem die Fürsten Europas auf dem Wiener Kongress um Napoleons Hinterlassenschaften geschachert haben. Im April 1815 bricht auf der indonesischen Insel Sumbawa der Vulkan Tambora aus, die verheerendste Eruption in geschichtlicher Zeit. Die Explosionen werden selbst auf der 2.000 Kilometer entfernten Insel Sumatra noch gehört. Drei Tage lang verdunkelt 5

Ascheregen die Sonne über Indonesien. Gase und Stäube, die mit den Winden um die Erde herum verwehen, verändern das Wetter. Das darauffolgende Jahr geht als „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte ein, sagt der Technikhistoriker Hans-Ewald Lessing.

OT Hans-Ewald Lessing 1800 and froze to death – haben sie in Amerika gesagt. Also – das war schon weltweit. In Bengalen, hinten in Indien, da ist die Cholera entstanden und dann in Pilgerschritten 1831 im Westen angekommen. Das war alles diese Vulkanfolge.

ERZÄHLERIN: Die ohnehin schon hohen Haferpreise in Baden steigen ins Unermessliche. Pferde zu halten wird selbst für reiche Menschen sehr kostspielig. Weniger Wohlhabende schlachten darum ihre Tiere, um selbst zu überleben. Die Zeit prunkvoller Gespanne scheint zu Ende. Da tritt im Jahr 1817 erneut Karl Drais mit seiner Idee von der mechanischen Fahrmaschine auf die Bühne. Seinen vierrädrigen Wagen hat er inzwischen mehrmals überarbeitet. Der neueste Prototyp hat jetzt statt vier nur noch zwei hintereinander laufende Räder, einen Sitz, davor ein Brettchen, um die Arme aufzustützen, und einen Lenker aus Holz.

ZITATOR: Nachdem man sich auf die Maschine gesetzt hat, lege man mit etwas vorgerichtetem Körper die Arme mit weit voneinander entfernten Ellenbogen, fest auf das Balancierbrett auf. Und suche sich dadurch mit der Maschine im Gleichgewicht zu erhalten, indem man immer da sanft hinunterdrückt, wo das Brettchen anfangen will, in die Höhe zu steigen. Alsdann mache man, mittelst leichtem Aufsetzen der Füße, große aber anfangs langsame Schritte. Erst nach hinlänglicher Fertigkeit im Balancieren und Dirigieren schiebe man sich schneller und halte meistens beide Füße zugleich in der Höhe, um auszuruhen, während man in voller Schnelligkeit fortrollt.

ERZÄHLERIN: Diesmal trifft Drais den Nerv der Zeit. Das Schlittschuhlaufen kommt gerade in Mode und damit die allgemeine Freude am Balancieren.

OT Hans-Ewald Lessing Das Schlittschuhlaufen hat glaube ich sehr stark auf diese Erfindung eingewirkt, weil: Also auf zwei Rädern zu balancieren, das war ja absolut unerhört. Das konnte man also wirklich nur den Schlittschuhläufern zumuten. Und das waren ein paar wenige, wagemutige junge Männer. Und der Rest der Bevölkerung hat da also nur Bauklötze gestaunt.

ERZÄHLERIN: Als Drais am 12. Juni 1817 mit seiner neuen Fahrmaschine auf Jungfernfahrt von Mannheim nach geht, ist seine Erfindung bald in aller Munde. Um im Gespräch zu bleiben, organisiert Drais in den Sommermonaten 1817 eine zweite Probefahrt. Sie führt in die Kurstadt Baden, das heutige Baden-Baden. Halb Europa ist dort zur Sommerfrische versammelt. Als der Erfinder mit seinem Zweirad den Schwarzwaldpass zwischen Gernsbach und Baden unter die Räder nimmt, horcht die Öffentlichkeit auf.

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ZITATOR: Karlsruher Zeitung vom 1. August 1817: Der Forstmeister Freiherr Karl von Drais, welcher nach glaubwürdigen Zeugnissen mit der neuesten Gattung seiner von ihm erfundenen Fahrmaschinen ohne Pferd von Mannheim bis an das Schwetzinger Relaishaus und wieder zurück gefahren ist, hat mit der nämlichen Maschine den steilen, zwei Stunden betragenden Gebirgsweg von Gernsbach nach Baden in ungefähr einer Stunde zurück gelegt, und auch hier mehrere Kunstliebhaber von der großen Schnelligkeit dieser sehr interessanten Fahrmaschine überzeugt.

Atmo – Don’t Stop it

ERZÄHLERIN: Karlsruhe im Jahr 2010. Durch die langen Flure der Fakultät für Ingenieurswissenschaften hallen die Schritte der Studierenden. Ein Mann im Ringelpullover mit halblangem grauen Haar kommt die Treppe herunter: Jürgen Walter, Professor für Mechatronik. Seit dem ersten Karlsruher Draisinenrennen im Jahr 2002 hat er sich einer neuen Idee verschrieben: Gemeinsam mit Kollegen anderer Fakultäten, mit Studenten und Schülern entwickelt er die Holzdraisinen des 18. Jahrhunderts weiter – zu hochmodernen Leichträdern aus Hartschaumblöcken, ummantelt mit epoxidharzverstärkten Kohle- oder Glasfasermatten. An einer Betonwand des Instituts lehnt ein schwarz schimmerndes Laufrad:

OT Prof. Jürgen Walter Dieser Nachbau, den Sie jetzt hier sehen, ist genau der Nachbau der Draisine wie sie Karl Drais konstruiert hat, aber mit modernen Werkstoffen. Lediglich die Materialien wurden geändert. Und das heißt: Man ist von einem Gewicht von 40 oder 45 Kilogramm oder noch höher jetzt runter gekommen auf 9 Kilogramm.

ERZÄHLERIN: Den Mechatroniker interessiert neben der Entwicklungsgeschichte der Draisine natürlich vor allem deren Funktionsweise. Und die findet er selbst im 21. Jahrhundert noch so einfach wie genial. Mit Schwung klappt er den Lenker des schwarzen Schmuckstücks nach vorne und kann die Hightech-Draisine jetzt wie an einer Deichsel hinter sich herziehen.

OT Prof. Jürgen Walter Er hat ja einen Leiterwagen genommen, in der Mitte auseinander geschnitten sozusagen und dann die Grundprinzipien übernommen, wie die Lagerung hier. Oder dann beispielsweise genau dieses Prinzip des Ziehens. Wenn ich einen Leiterwagen hinter mir herziehe, dann ist genau dieses Prinzip hier übernommen worden.

ERZÄHLERIN: Inzwischen sind auch zwei Kollegen von Jürgen Walter eingetroffen: Frank Pöhler, Professor für Kunststofftechnologie, und Ewald Düser, Professor für Maschinenbau. Alle drei arbeiten gemeinsam mit Studenten und verschiedenen Berufsschulen am ehrgeizigen Projekt „Drais 300“. Zum 300. Geburtstag der Stadt Karlsruhe im Jahr 2015 wollen sie 300 Hightech-Draisinen bauen, die dann in einer Sternfahrt zum Karlsruher Schloss lauf-radeln sollen.

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OT Prof. Jürgen Walter Durch die Weiterentwicklung des Laufrades entsteht natürlich eine ganz andere Möglichkeit der Zusammenarbeit. Das heißt: zwei Studiengänge – die Mechatronik und der Maschinenbau – wachsen hier zusammen an dem Projekt Drais. Und wenn man gemeinsam ein Projekt macht, dann entsteht was Neues ...

ERZÄHLERIN: Den Prototypen haben die Karlsruher Professoren inzwischen konstruktiv nachgebessert und mit Scheibenbremsen und Leichtmetallteilen ausgestattet, erzählt Ewald Düser. Für das neueste Modell, eine bisher noch unlackierte Draisine, haben sie eine breite Auflagefläche für die Brust des Fahrers entwickelt. Ein zuschaltbarer Elektromotor bringt das Gefährt locker auf die Geschwindigkeit eines Mofas. Möglicherweise sollen irgendwann auch ein Navigationssystem und ein moderner I- Pod eingebaut werden. Aber noch sind die Professoren mit dem Fundament der Maschine nicht ganz zufrieden. Als sich Jürgen Walter auf die neue Elektro-Draisine setzt, um eine schnelle Runde durch den Flur der Hochschule zu drehen, runzelt Kollege Düser die Stirn.

OT Prof. Ewald Düser Es ist auch so: Man hat ja nicht die Möglichkeit, die Füße irgendwo abzustützen. Das heißt, wir werden in Zukunft auch irgendwelche Fußrasten in der Art anbringen, dass man während der Fahrt die Füße aufsetzen kann. Und das ist auch gewohnheitsbedürftig, weil die ersten hatten ja keine Bremsen. Und man bremst automatisch immer noch mit den Füßen. Man nutzt die Scheibenbremsen wenig.

OT Prof. Ewald Düser Ja, man merkt, dass man irgendwie Muskeln hat, die man beim Fahrradfahren überhaupt nicht benutzt. So nach kürzester Zeit hat man dann schon – also ich zumindest, weil ich nur sporadisch fahre – Konditionsprobleme. Also das ist nicht so wie beim Fahrrad, dass man sich drauf setzt und sagt: So, ich fahr jetzt mal zehn Kilometer ... Also ich bin mit der Renndraisine mal vom Schloss bis hierher gefahren, und das war eigentlich schon genug, muss ich sagen. Das hat mir gereicht.

ERZÄHLERIN: Als Professor Walter mit wehenden Haaren wieder neben den beiden Kollegen zum Stehen kommt, lacht er. Er, der Draisinen-Vielfahrer weiß genau, was die Kollegen meinen. Wenn man länger auf den historischen Modellen à la Drais lauf-radelt, tun zuerst die Oberschenkel weh, erklärt er. Und dann – er deutet auf Gesäß und Schritt.

OT Prof. Jürgen Walter Also ich glaube Karl Drais war schon ein sehr guter Sportler und hart gesotten. Mir ist es inzwischen auch klar, warum er keine Kinder hatte. Weil wenn man die Draisine fährt, gibt es doch enorme Belastungen. Einmal aufs Gesäß und dann auch auf andere wichtige Teile. Und insofern machen wir natürlich wesentliche Verbesserungen, insbesondere beispielsweise: Wie muss ich das anpassen, dass ich gemütlich oder sehr gut drauf sitzen kann ohne Schmerzen.

ERZÄHLERIN: Als die ersten Fahrmaschinen im Jahr 1817 die deutschen Gehwege bevölkern, haben die Menschen zunächst ganz andere Sorgen. Immer wieder kommt es beim Balancieren auf dem neuen Zweirad zu schweren Stürzen und Unfällen, erklärt der 8

Koblenzer Technikhistoriker Hans-Ewald Lessing. Und Frauen blieben vom Fahr- oder Laufvergnügen zunächst sowieso ausgeschlossen.

OT Hans-Ewald Lessing Ja, das war von vornherein klar, dass die nicht ... Weil die durften ja auch nicht Schlittschuhfahren wegen der Gefahr des unschicklichen Hinfallens. Die konnten nicht rittlings auf irgendwas sitzen, das wäre ja extrem obszön gewesen. Pferde hatten diese Seitwärts-Damensättel, wo man mit beiden Beinen auf einer Seite drauf saß. Die Frauen sind wirklich erst in großer Zahl 1890 rum aufs Zweirad gegangen. Und auch da wiederum nur die Reichen, die Mittelstandsfrauen. Und die Arbeiterinnen erst 1920, wenn's gut ging.

ERZÄHLERIN: Dennoch tritt die „Draisine“, auch „Velociped“ genannt, bald ihren Siegeszug um die ganze Welt an. Ein Nürnberger Mechaniker schreibt 1817 voll Begeisterung:

ZITATOR: Es scheint, als habe der Erfinder der Fahrmaschine mit dem Entdecker von Amerika das gleiche Schicksal, indem diese Sache, wenn man sie gesehen hat, ebenso leicht ist, wie das Kunststück des Kolumbus, ein Ei mit der Spitze auf den Tisch zu stellen und sich mancher wundert, es nicht schon lange erfunden zu sehen: Ein neuer Beweis, dass der Mensch vom Einfachen sich schnell entfernt und am Ziele vorbeirennt.

ERZÄHLERIN: Endlich bekommt Karl Drais eine Art Patentschrift vom Badischen Landesvater. Fortan sollten Draisinen-Fahrer direkt beim Erfinder eine Plakette kaufen und diese als Lizenz-Nachweis am Holzrahmen ihrer Fahrmaschinen annageln. Doch Drais’ Versuch, seine Maschine im großen Stil vor Nachahmern zu schützen, scheitert.

OT Hans-Ewald Lessing Die reichen Fürsten haben also diese Plaketten gekauft. Und er hat auch ein Verzeichnis geführt, wer da also berechtigter Lizenziat sozusagen ist. Aber die anderen Handwerker haben da keinerlei Unrechtsbewusstsein gehabt, das also sofort nachzubauen. Schon allein wegen der Zeitungsnachrichten damals. Und das zeigt also schon den Leidensdruck der Leute, die sagten: "Um Gottes Willen, was machen wir bloß? Wir haben ja keine Pferde mehr und müssen doch irgendwie vorwärts kommen."

ERZÄHLERIN: Doch langsam erholt sich das Wetter wieder weltweit. Die Ernten werden reicher, im Straßenbild tauchen wieder Pferde auf. Und das Fahren mit Draisinen auf den Gehwegen ist den Obrigkeiten schon lange ein Dorn im Auge.

OT Hans-Ewald Lessing Die Obrigkeit war prinzipiell allergisch gegen alles Neue. Die Französische Revolution war ja gerade einmal 20 Jahre her. Und diese Verbote sind eben sofort gekommen, nachdem diese Hungerkrise vorbei war. Also mit der ersten guten Ernte 1817 war abzusehen: Hoppla, also diese Pferdenot wird ein Ende haben. Und dann gab's schon in Mannheim die ersten Verbote, auf Gehwegen zu fahren.

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ERZÄHLERIN: Nicht nur in Mannheim werden die Anfänge des Individualverkehrs vorübergehend abgewürgt. Auch in Großbritannien, in Frankreich, ja sogar im indischen Kalkutta.

OT Hans-Ewald Lessing Das müssen irgendwelche britischen Kolonisten gewesen sein, und die sind dann halt durch die Einkaufsmärkte durchgestürmt. Und dann gab's sofort wieder ein Verbot. Und in England war's dann so, dass die Kindermädchen und ihre Kinderwagen angefahren worden sind auf dem Gehweg. Und sie fuhren halt immer auf den Gehwegen, weil die Fahrbahnen zu zerfurcht waren. Und da konnte man nicht balancieren. Wenn Sie heute in ein Straßenbahngleis geraten mit dem Fahrrad, dann haut Sie's auch runter.

ERZÄHLERIN: Am 23. März 1819 ermordet ein radikaler Burschenschaftler in Mannheim den antinapoleonischen Schriftsteller und Goethe-Kritiker . Der Mörder wird gefasst und hingerichtet, was auch dem Erfinder Drais um ein Haar zum Verhängnis wird. Denn den Schuldspruch über den Kotzebue-Mörder fällt der Oberste Richter Badens: Karl von Drais, der Vater des Erfinders. Sein Sohn wird daraufhin von Anhängern des verurteilten Mörders so massiv bedroht, dass er für sechs Jahre nach Brasilien auswandert.

OT Hans-Ewald Lessing Das war sozusagen der erste politische Mord in Deutschland. Und wenn halt die halbe Bevölkerung das ganz toll fand, dass er diesen Schurken, den Kotzebue umgebracht hat, dass das eine patriotische Tat war. Und dann kommt Ihr Vater her und sagt: Rübe ab, wir kennen kein Pardon! Dann verlockt das wahrscheinlich doch sehr viele Zeitgenossen, da zu sagen: Na, dann rächen wir uns halt an dem Sohn, wenn wir dem Alten nichts anhaben können. Aber es war halt Mord. Der Junge hat sich da um Kopf und Kragen geredet, weil er erzählt hat, er habe vorher am Skelett geübt, wie er da die Stiche zu setzen hat. Und das kann man dann beim besten Willen nicht mehr als Spontantat werten.

ERZÄHLERIN: Auch als der Erfinder Drais wieder zurück in Mannheim ist, hören die Probleme nicht auf. Er engagiert sich öffentlich für die Demokratie und wird daraufhin beinahe Opfer eines Mordanschlags. Drais flüchtet erneut: diesmal in den Odenwald. 1848 endlich scheinen sich seine Hoffnungen zu erfüllen: badische Revolutionäre kämpfen mit Waffengewalt für Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit. Deutschland soll zu einer Republik werden. Doch preußische Truppen schlagen die Aufstände nieder.

Als 1849 die in der Frankfurter Paulskirche beschlossene, erste demokratische Verfassung Deutschlands abgelehnt wird, kommt es zu heftigen Soldatenaufständen im ganzen Reich, vor allem in Karlsruhe und Rastatt. In einer Anzeige der Karlsruher Zeitung legt der überzeugte Demokrat Karl Drais seinen Adelstitel öffentlich nieder.

ZITATOR: Ich Freiherr Karl Friedrich Ludwig Christian Drais von Sauerbronn erkläre hiermit feierlichst und angesichts der deutschen souveränen Nation, dass ich auf den Altar des Vaterlandes, der Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität, alle und jede aus dem Feudalrechte, dessen tausendjähriger Druck Deutschlands Freiheit in Fesseln 10 schlug, entspringenden Vorrechte verzichte. Dieses erklärt, Karlsruhe, den 11. Mai 1849 Drais, Professor, Bürger und Mitglied des souveränen deutschen Volkes.

ERZÄHLERIN: Diese Erklärung wird den Demokraten und Erfinder Drais von nun an verfolgen. Als Preußische Regimenter die Revolution niederschlagen und Baden besetzen, wird seine ganze Beamtenpension gestrichen. „Um die Revolutionskosten zu bezahlen“, heißt es offiziell. Auch hat Drais in der Vergangenheit eine Sozialutopie veröffentlicht, die den Besatzern ein Dorn im Auge ist. Titel: „Vorschlag von einem Badener für Emporhebung der Volkskraft und Bereicherung der Staatskasse mittelst großer guter Erziehungsanstalten und hoher Belebung des Ehrgefühls.“ Dieser überzeugte Demokrat soll mundtot gemacht werden. Im April 1850 droht nach einem amtsärztlichen Gutachten die Entmündigung:

ZITATOR: Freiherr von Drais, angeblich 65 Jahre alt, von untersetzter Statur und früher stets einer festen körperlichen Gesundheit sich erfreuend, nahm seit einem halben Jahr auffallend an Körperkraft ab, bekam ein verfallenes, abgelebtes Aussehen. In psychischer Hinsicht gehört von Drais seit vielen Jahren durchaus nicht zu den Gesunden, des vollkommenen ruhigen Gebrauchs ihrer Geisteskräfte Mächtigen, sondern seit langem in die Kategorie der Halbnarren. Bei seiner sehr beschränkten Urteilskraft hält er sich für eine große Genialität und trägt sich insbesondere fortwährend mit der fixen Idee, große, wichtige oder gemeinnützige Erfindungen zu machen und verschwendet Zeit und Geld an seine meist läppischen, unsinnigen Pläne.

ERZÄHLERIN: Am 10. Dezember 1851 stirbt Karl Drais in Karlsruhe, alleine und mittellos. Doch seine wichtigste Hinterlassenschaft, die Draisinen, rollen weiter.

OT Hans-Ewald Lessing hat 1870 so ein zweites Kurbel-Velociped, wo man also bereits Pedale trat, aber am Vorderrad, sich gekauft und da seinen Geschwindigkeitsrausch, seinen individuellen, erlebt. Er wollte vorher immer eine Straßenlokomotive bauen, also praktisch die Eisenbahn auf die Straße setzen. Und durch dieses Zweirad hat er gemerkt: Hoppla, ich muss was Individuelles machen und es muss leicht werden.

ZITATOR Da hatte ich ja mein Ideal, und sogar in vereinfachter Form. Jetzt konnte ich pferdelos über die Landstraße dahineilen und bedurfte nicht einmal des kostspieligen Betriebes einer Kraftmaschine, sondern nur meiner eigenen Kraft. Das heißt, vorläufig konnte ich noch nicht! Aber nach 14 Tagen hatte ich es doch erlernt. Wer war stolzer als ich! War das eine Sensation, als ich durch Straßen pedalierte, und war das eine Sensation, wenn ich irgendwo auf der Straße nach einem Gasthause einkehrte!

OT Hans-Ewald Lessing Also das Fahrrad hat sogar die Anfänge des Automobils in Deutschland heftig bedrängt. Bis dann die reichen Leute irgendwann merkten: Hoppla, also jetzt fährt jedes Greti und Pleti Fahrrad, jetzt müssen wir uns einfach was Neues suchen.

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OT Szene Band beim Draisinenrennen: So, wir spielen jetzt das Stück "Don't stop it". Und das wünsch ich dem netten Herrn Professor und seinem gesamten Team und den Nachwuchs-Draisinen-Fahrern. Hört nicht auf, das hat Zukunft hier, das macht große Freude.

Atmo – Don’t stop it

OT Prof. Jürgen Walter Dieser Geist des Erfinders, der schwebt natürlich schon irgendwo hier. Wir haben in Karlsruhe etliche Leute wie Drais, Heinrich Hertz, Benz – das sind alle Leute aus Karlsruhe. Und das ist schon eine gewisse Tradition, die dann auch schon verpflichtet, immer neue Dinge zu erschaffen und auch so ein bisschen der Daniel Düsentrieb unseres Jahrhunderts zu sein.

OT Hans-Ewald Lessing Und wir leben heute in einer Demokratie und haben heute die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, diese frühen Demokraten nicht mehr zu verkackeiern, sondern sie hoch zu loben.

ZITATOR: Und so grüße ich auch heute alle meine Freunde herzlich und reiche jedermann freundlich die Hand, der unparteiisch sich bestrebt, die Wahrheit zu untersuchen, um das Gute zu befördern. Freiherr Karl Friedrich Ludwig Christian Drais von Sauerbronn.

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