Beeinträchtigte Arbeitskraft
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Alan Canonica Alan Canonica Beeinträchtigte Arbeitskraft Konventionen der beruflichen Eingliederung zwischen Invalidenversicherung und Arbeitgeber (1945–2008) Alan Canonica Beeinträchtigte Arbeitskraft Konventionen der beruflichen Eingliederung zwischen Invalidenversicherung und Arbeitgeber (1945–2008) Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Weitere Informationen zum Verlagsprogramm: www.chronos-verlag.ch Umschlagbild: Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F 5086-Fb-188. © 2020 Chronos Verlag, Zürich Print: ISBN 978-3-0340-1562-2 E-Book (PDF): DOI 10.33057/chronos.1562 5 Inhalt Vorwort und Dank 7 Beeinträchtigte Arbeitskraft – Einleitung 9 Arbeitsintegration unter liberalen Vorzeichen 9 Theoretischer Rahmen: die Ökonomie der Konventionen 19 Die Institutionalisierung der beruflichen Eingliederung (1945–1959) 25 Praktiken der beruflichen Eingliederung in der Nachkriegszeit 25 Menschen mit Behinderung als potenzielle Arbeitskräfte 26 «Der rechte Mann am rechten Platz»: Berufsberatung für Menschen mit Behinderung 32 «Produktive Glieder des Volkskörpers» 38 Die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zwischen ökonomischem Kalkül und bürgerlicher Wohltätigkeit 44 Berufliche Eingliederung ohne sozialstaatliche Einmischung 44 Die systematische Anwerbung von Menschen mit Behinderung durch Unternehmen 47 Die Invalidenversicherung: Regulierungen eines Eingliederungskonzepts der «Freiwilligkeit» 55 Die Realisierung des Projekts Invalidenversicherung 55 Die IV als Eingliederungsversicherung 61 Die Arbeitgeberverbände im Entstehungsprozess der IV 67 Die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung in der Hochkonjunktur (1960–1973) 73 Die Invalidenversicherung als Erfolgsmodell 73 Erste Vermittlungserfahrungen der IV-Regionalstellen 74 Ausbau des Eingliederungsapparats 77 1. IVG-Revision: Der beruflichen folgt die soziale Integration 80 Mobilisierung der «Arbeitskraftreserven» 84 Akuter Arbeitskräftemangel in der freien Wirtschaft 84 Der Aufbau innerbetrieblicher Integrationsstrukturen 88 Latente Krisendiskurse und Wandel des Arbeitsmarkts 95 Kontingentierung ausländischer Arbeitskräfte als Chance? 95 Probleme im Vollzug des IVG 100 Erste Indizien für eine erschwerte Arbeitsintegration 107 6 Krisendebatten, Reformagenden und Sparkurse «nach dem Boom» (1974–1991) 109 Die «Arbeitskraftreserven» scheiden aus dem Arbeitsmarkt aus 109 Vermittlungsschwierigkeiten bei veränderten Arbeitsmarktbedingungen 110 Die Behörden ergreifen Massnahmen 114 2. IVG-Revision: Viertelrenten anstelle von «Soziallöhnen» 121 Die Arbeitgeber unter öffentlichem Druck 125 Der Arbeitsmarkt rückt in den Fokus der behindertenpolitischen Debatten 125 Der gute Wille der Arbeitgeber schwindet 129 Bedeutungsverlust der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung für die Unternehmen 135 Die ersten Krisendiskurse 142 Freiwilligkeit versus Behindertenquoten 142 Die Kritik an der IV nimmt zu 145 Erklärungen und Responsibilisierung für die Schwierigkeiten der IV 149 Berufliche Eingliederung im Zeichen der Wirtschaftlichkeit (1992–2008) 155 Die IV wird reformiert 155 3. IVG-Revision: Reorganisation mit kantonalen IV-Stellen 156 4. und 5. IVG-Revision: Die IV erfindet sich neu 160 Die IV als ökonomisierte Sozialversicherung 167 Arbeitsmarktliche Herausforderungen in einem schwierigen Umfeld 170 Umbruch im Schweizer Wirtschaftssystem 170 Psychische Erkrankungen als neues Leitthema 175 Wandel in den Konzeptionen unternehmerischer sozialer Verantwortung 178 Arbeitgeberverbände: vom persönlichen Engagement zur sozialstaatlichen Kooperation 178 Unternehmen zwischen Management und sozialer Verantwortung 184 Schlussbetrachtung 189 Thematisch gegliederte Ergebnisse 189 Ausblick und Forschungsdesiderata 197 Forschungsdesign, Methoden und Quellen 201 Abkürzungen 204 Quellen und Literatur 207 7 Vorwort und Dank Die vorliegende Dissertation am Departement Geschichte der Universität Ba- sel wurde betreut und begutachtet von Prof. Martin Lengwiler (Departement Geschichte, Universität Basel), Prof. Eva Nadai (Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz) und Prof. Caroline Arni (Departement Ge- schichte, Universität Basel). Ich möchte mich für die grosszügige Unterstützung bedanken, die ich im Verlauf der Promotionsarbeit erfahren durfte. Zunächst geht mein Dank an mei- nen Betreuer Prof. Martin Lengwiler und meine Betreuerinnen Prof. Eva Nadai und Prof. Caroline Arni, die mir stets mit wertvollen Ratschlägen beigestanden und massgeblich zum erfolgreichen Abschluss meiner Dissertation beigetragen haben. Ich bin für die finanzielle Unterstützung des Schweizerischen National- fonds, des Forschungsfonds Nachwuchsforschende der Universität Basel und der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel sehr dankbar. Ich bedanke mich bei denjenigen Personen, die auf meine historischen Fragen eingegangen sind und mir aus ihren Erinnerungen wichtige Impulse für meine Arbeit gegeben haben. Ein Dank gebührt allen Mitarbeitenden in den konsultierten Archiven so- wie denjenigen Personen, die mir mit ihrem Engagement den Zugang zu privaten Archiven ermöglicht haben. Im Besonderen möchte ich mich bei Heike Bazak und Jonas Bürgi vom PTT-Archiv sowie bei Ursula Stutz vom SBB-Archiv be- danken, die mir mit ihren Recherchen zu den benötigten Archivunterlagen sehr geholfen haben. Schliesslich spreche ich Miriam Baumeister und Patrick Moser einen herzlichen Dank aus, die die Dissertation gegengelesen haben und mit ih- ren Anregungen und Korrekturen die inhaltliche und sprachliche Qualität der Arbeit verbessert haben. 9 Beeinträchtigte Arbeitskraft – Einleitung Arbeitsintegration unter liberalen Vorzeichen Sehr geehrter Herr Bundesrat, Ich gelange mit einer grossen Bitte an Sie. Ich befinde mich in einer gewissen Zwangs- lage. Ich bin voll arbeitswillig, aber leider für uneingeschränkte Tätigkeit körperlich behindert. Laut Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichtes […] gilt mein körperlicher Gesundheitsschaden nicht als Invalidität im Sinne des IVG. Andererseits bin ich nach AlVG + AlVV [Arbeitslosenversicherungsgesetz und Vollzugsverord- nung] nicht vermittlungsfähig meines körperlichen Gesundheitsschaden wegen. Unser Staatswesen verpflichtet durch kein Gesetz die Privatwirtschaft, behinderte Arbeitnehmer ins Erwerbsleben einzugliedern. Ich verstehe die wirtschaftlichen Gründe der Arbeitgeber gut – auch wenn ich sie im Blick auf meine soziale Situation nicht gutheissen kann. Der soziale Dienst der Stadt B. bezahlt mir nun seit Jahren den Ausgleich. Ich bin aber gewillt nach Massgabe meiner Möglichkeiten erwerbstätig die Mittel selber zu schaffen – sofern ich einen Arbeitgeber finde. Die Privatwirtschaft vermag mir keine zumutbare Tätigkeit, sei es als Kurier, sei es als Magaziner (ohne schwere Hebearbeiten) oder sonst welche Hilfstätigkeit, anzu- bieten. Und da ich nicht weiter die öffentlichen Mittel in Anspruch nehmen möchte, ersuche ich Sie, Hoher Herr Bundesrat, Ihre zuständigen Departementsstellen anzuweisen, dass diese meine Angelegenheit prüfen und mir – hoffentlich – eine Erwerbstätigkeit zuweisen können.1 Dieser Brief, datiert vom 4. Juli 1980, gelangte an Bundesrat Hans Hürlimann, der damals als Vorsteher des Departements des Innern (EDI) amtete. In wenigen Zeilen schildert der Autor dieses Schreibens das Schicksal zahlreicher Menschen mit Behinderung, die arbeitslos sind: Er fühlt sich sowohl vom Sozialstaat als auch von der Wirtschaft im Stich gelassen. Auf der einen Seite lehnen die Sozial- versicherungen eine Zuständigkeit für seinen Fall ab, da er für die Invalidenversi- cherung (IV) zu wenig invalid, gleichzeitig aber für die Arbeitslosenversicherung (ALV) zu wenig vermittelbar ist. Auf der anderen Seite erhält er von der Wirt- schaft – obschon er seinen Arbeitswillen beteuert – keine Chance, seine Fähigkei- ten in einem Unternehmen einzubringen, was er auf seine körperlich bedingten Leistungseinschränkungen zurückführt. Er fällt deswegen durch die Maschen 1 Brief an Bundesrat Hans Hürlimann vom 4. Juli 1980, in: BAR, Behinderte. Allgemeines 1978– 1987, E7175C#1995/259#685*. 10 des Netzes sozialer Sicherung und ist «seit Jahren» auf die Unterstützung der Sozialhilfe angewiesen. Der Brief fasst in komprimierter Form zentrale Themen der Arbeitsintegra- tion von Menschen mit Behinderung in der Schweiz zusammen. Kennzeichnend ist die liberale Grundhaltung. Wie der Verfasser anmerkt, existiert «kein Gesetz», das die Privatwirtschaft dazu verpflichtet, behinderte Arbeitskräfte anzustellen. Für die Sicht der Unternehmen bringt er zwar Verständnis auf, gutheissen kann er den Sachverhalt aber nicht, weil sich die fehlenden Vorschriften zu seinem Nachteil auswirken. Für eine erfolgreiche Arbeitsintegration sind Betroffene und der Sozialstaat in der Schweiz auf den guten Willen der Arbeitgeber ange- wiesen. Ein Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderung gibt es nicht. Die IV kann lediglich berufliche Massnahmen verfügen, die der Verbesserung der Be- schäftigungsfähigkeit der versicherten Personen dienen. Der Zeitpunkt, an dem die Zuschrift formuliert wurde, steht in der Schweiz für eine Wende im Bereich der beruflichen Eingliederung. Nach den Trente Glo- rieuses und im Zuge der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er-Jahre hatte sich die Situation für Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert. Sie galten nun als schwer vermittelbar und wiesen ein hohes Risiko der Lang- zeitarbeitslosigkeit auf. Häufig blieb aufgrund der durch eine körperliche, geis- tige oder psychische Behinderung verursachten