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ISSN 0948–2407 | 67485 | 2,00 Euro DISPUT März 2012

Beate Klarsfeld an die Leser/innen von DISPUT Erwin Schulz, 99: Gewerkschafter, Arbeitersportler, Widerstandskämpfer Der Frauenpreis 2012: Flüchtlingsinitiative STAY und Esther Bejarano geehrt Wahlkampf und Verantwortung an der Saar Peter Sodann und der Bücherberg von Sachsen

Beate Klarsfeld, die mutige Antifaschistin, ist die Kandidatin der LINKEN bei der Bundespräsidentschaftswahl am 18. März. © Erich Wehnert ZITAT 4 KANDIDATUR 31 NACHBELICHTET Ein zeitgemäßes Signal 32 DOKUMENTIERT Der Unterschied zwischen dem richti- 5 KANDIDATUR Gregor Gysi zu den Finanzhilfen für gen Wort und dem beinahe richtigen Beate Klarsfeld an die Leser/innen Griechenland ist derselbe Unterschied wie zwischen von DISPUT dem Blitz und einem Glühwürmchen. 34 INTERNATIONAL Mark Twain 6 ANTIFASCHISMUS Island nach der Notbremsung Dresden nazifrei 2012 35 INTERNATIONAL 8 ANTIFASCHISMUS Demokratischer Aufbruch in Erwin Schulz, 99, Widerstands- Myanmar? kämpfer 36 INTERNATIONAL 11 FEUILLETON Russlands Wahl: Für Stabilität und Sicherheit 12 FRAUENPREIS Esther Bejarano geehrt 38 KULTUR Peter Sodann und der Bücherberg 14 WAHLKAMPF von Sachsen © Erich Wehnert Die Trennungslinie an der Saar 42 GESCHICHTE 16 KOMMUNE Wer Hindenburg wählt … Verantwortung im Rathaus Saarbrücken 43 ARCHIV Die Schatzkammer der Partei- 19 WAHLKAMPF geschichte Unübersehbar in Kiel 44 BRIEFE 20 LINKE 2020 Manfred Sohn: Wortmeldung aus 46 BÜCHER Japan 47 MÄRZKOLUMNE 22 LANDESVERBAND 48 Seite Achtundvierzig Für ein soziales Hamburg Peter Sodann trägt eine Bibliothek des Ostens zusammen. Seite 38 23 DEMNÄCHST 24 MITGLIED Platz für Weltverbesserer: Rainer Lindner (Bayern)

26 FRAKTION Zopf © Torsten Kristina Vogt: LINKE-Politik in Bremen 27 MITGLIED ZAHL DES MONATS Mit Dolmetscher in die Rats- sitzung: Charlotte Lenzen 21 (Niedersachsen)

Der durchschnittliche Bruttomonatsver- 28 POLITISCHE BILDUNG dienst von Frauen liegt in Deutschland Gibt es eine feministische rund 21 Prozent unter dem der Männer. Bildungsarbeit? Das ermittelte das Tarifarchiv der Hans- 29 DROGENPOLITIK Böckler-Stiftung in einer Online-Erhebung Eine Debatte in Zwickau 2011. Rund 21 Prozent der Frauen (Män- Ein breites Bündnis stoppte am ner: knapp 31 Prozent) gaben an, in ihrem 30 KOMMUNE 13. Februar den Naziaufmarsch in Betrieb einmal befördert worden zu sein. Peter Riitter: Konversion konkret Dresden. Seite 6

IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, herausgegeben vom Parteivorstand, und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH, Weydingerstraße 14 – 16, 10178 REDAKTION Stefan Richter, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: (030) 24 00 95 10, Fax: (030) 24 00 93 99, E-Mail: [email protected] GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell DRUCK MediaService GmbH BärenDruck und Werbung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin ABOSERVICE Neues Deutschland, Druckerei und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407 REDAKTIONSSCHLUSS HEFT 3 12. März 2012 DER NÄCHSTE DISPUT erscheint am 19. April 2012

INHALT DISPUT März 2012 2 KARSTEN THÜRLING

Karsten ist 28, lebt in Dresden und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Fraunhofer Institut. Er engagiert sich kommunalpolitisch für DIE LINKE im Ortsbeirat Dresden-Neustadt und geht gern tanzen.

Was hat dich in letzter Zeit am meisten überrascht? Dass ich wieder nicht als Bundespräsident vorgeschlagen wurde. Ich hatte schon beim letzten Mal © privat meine Bereitschaft signalisiert und wäre auch nicht so schnell zurückgetreten. Es hätten jeden Abend Partys im Bellevue stattgefunden, bei freiem Eintritt für alle und Alles aufs Haus! Krieg den Hütten, Schlösser für alle!

Was ist für dich links? Jedem seine/ihre Freiheiten und Freiraum zu lassen (frei nach Kant). Solange ich mit meinen Hand- lungen ausschließlich mir schade, möchte ich das auch dürfen. Linkssein heißt gleichzeitig, Benachteiligten (und das sind nicht nur Rentner und Hartz-IV- Bezieher, sondern vor allem auch Menschen, auf deren Kosten unser Wohlstand basiert) zu helfen, für ihre Rechte zu kämpfen. Das heißt auch, auf Wohlstand zu deren Gunsten zu verzichten. Umverteilen, und zwar richtig! Wer eine Million hat, braucht kein zweite!

Worin siehst du deine größte Stärke? Mich selber nicht so ernst zu nehmen, macht mein Leben echt entspannt.

Wie sieht Arbeit aus, die dich zufrieden macht? Eine Tätigkeit, bei der die Zeit wie im Flug vergeht, die spannend ist, bei der ich dazulernen kann und den Arbeitsinhalt selbst bestimme. Aber lieber nur drei Tage die Woche.

Wenn du Parteivorsitzender wärst ... … würde ich aufhören, die Bild-Zeitung & Co. zu lesen, deren Quatsch nicht beachten, in keiner Form mit denen kooperieren. … würde ich meinen Masterplan den Mitgliedern der Partei kommunizieren, mich von denen kritisieren lassen, meinen Plan verteidigen, zurechtrücken und dann auch einfach mal durchzuziehen, ohne wöchentlich in jeder Talkshow Rechenschaft ablegen zu müssen. … würde ich nicht zu jedem Thema irgendwas sagen, sondern nur zu Themen, von denen ich Ahnung habe.

Was regt dich auf? Dass es Menschen gibt, die nicht wählen gehen. Für dieses Recht haben Leute ihr Leben gelassen.

Wovon träumst du? In letzter Zeit leider viel zu oft von Arbeits-Mistdreck-Scheiß.

Wofür gibst du gerne Geld aus? Partys, saubere Drogen, Kultur, für Lebensmittel in Supermärkten, in denen die Beschäftigten anständig bezahlt werden, die BahnCard, Qualität und faires Preis-Leistungs-Verhältnis.

Möchtest du (manchmal) anders sein, als du bist? Nö, fetzt grad wie Sau!

Müssen Helden und Vorbilder sein? Helden nicht, das ist mir zu abgehoben, jeder kann auch im Kleinen viel bewirken. Vorbilder sind in bestimmten Phasen im Leben wichtig. Wenn man sich an ihnen orientiert, verlieren sie im besten Fall ihre Funktion.

Wann fühlst du dich gut? Eigentlich immer.

Wo möchtest du am liebsten leben? Mal für eine Woche auf der ISS.

Wovor hast du Angst? Vor Krieg, Überwachung, Geheimdiensten, religiösen Fanatikern.

Welche Eigenschaften schätzt du an Menschen besonders? Auf den Punkt zu kommen und nicht ewig um den heißen Brei herumzureden.

3 DISPUT März 2012 FRAGEZEICHEN Ein zeitgemäßes Signal Zur Kandidatur von Beate Klarsfeld für das Bundespräsidentenamt

Die Nominierung von Frau Klars- sen des Rechtsextremismus nicht zu- Gerade die jüngsten Ereignisse feld ist ein gutes, wichtiges und zeit- lassen. Frau Klarsfeld hat seit Jahr- um die Terrorgruppe »Nationalsozialis- gemäßes Signal. Niemand sollte über- zehnten die deutsche Gesellschaft und tischer Untergrund« haben bewiesen, sehen: Die rechtsextreme Szene feiert Politik auf den laxen Umgang mit Na- wie wichtig eine Bundespräsidentin sich und die NSU-Mörderbande unver- zis aufmerksam gemacht. Öffentliche wie Beate Klarsfeld für die Bundesre- hohlen. Und sie verhöhnt die Opfer. Die Ehrungen wurden ihr dafür in Deutsch- publik ist. Sie hat nicht nur nach innen, Gefahr ist mitnichten gebannt. land nicht zuteil, wohl aber in anderen sondern auch nach außen Vorbildwir- Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundes- europäischen Ländern. kung. Und die brauchen wir dringend. tages Prof. Dr. Franz Segbers (Hessen), Steffen Bockhahn, Landesvorsitzender Professor für Sozialethik an der Philipps- Mecklenburg-Vorpommern Es ist gut, dass es eine Alternati- Universität Marburg und Mitbegründer ve zum Kandidaten Joachim Gauck gibt. der Hessischen Sozialforen Die VVN-BdA hat mit ihr immer Viele Gespräche mit Bürgerinnen und am selben Strang gezogen: für ein de- Bürgern haben mir gezeigt, welchen Wir hoffen, dass die Kandidatur mokratisches friedliches Deutschland großen Zuspruch Beate Klarsfeld in der von Beate Klarsfeld mit dazu beiträgt, ohne Einfl uss alter und neuer Nazis. Bevölkerung hat. Ihre Biografi e ist ein dass in Deutschland endlich konse- Mit der Kandidatur von Beate Klarsfeld Beispiel für zivilgesellschaftliches En- quent gegen alte und neue Nazis vorge- wird ihr Kampf gewürdigt und zugleich gagement und für aufrechten Antifa- gangen wird. Dazu gehört auch ein Ver- erhält er neue Impulse. Deutsche Ren- schismus. Wir unterstützen ihre Kandi- bot der verfassungsfeindlichen NPD. ten für SS-Verbrecher im Baltikum und datur von ganzem Herzen. Wenn sie angeblich nicht verboten die Weigerung, die NS-Opfer in Grie- Kreszentia Flauger, Fraktionsvorsitzende werden kann, weil der »Verfassungs- chenland und Italien zu entschädi- Niedersachsen schutz« V-Leute eingeschleust hat, gen und die Täter zu bestrafen, weisen dann verhindert dieser »Verfassungs- ebenso auf weitere antifaschistische Mit der Nominierung von Frau Be- schutz« den Schutz der Verfassung. Aufgaben hin wie der Terror der Neona- ate Klarsfeld setzt DIE LINKE ein deutli- Heidemarie Scheuch-Paschkewitz, zis im Lande. ches Zeichen: Wir dürfen das Anwach- Landesvorsitzende Hessen Ich freue mich, dabei weiter mit Be- © Erich Wehnert

WAHL DISPUT März 2012 4 Liebe Leserinnen und Leser des Disputs, ich bin sehr froh über die Entscheidung der LINKEN, mich als Kandidatin für die Wahl des Bundespräsidenten aufzustellen. Ich betrachte diese Nominierung als Würdigung meiner Arbeit und zugleich als große Chance, das Thema Antifaschismus in den Blickpunkt der aktuellen Debatten zu rücken. Ich möchte Sie alle bitten, nicht nachzulassen in unserem gemeinsamen Kampf für eine soziale, gerechte und friedliche Welt. Ihre Beate Klarsfeld Paris, 8.3.2012

Beate Klarsfeld tritt am 18. März ate zusammenzuarbeiten. Am 18. März Straße gegen Neonazis aktiv bin, ha- bei der Wahl für das Bundespräsi- wie danach sollten wir sie unterstüt- ben jetzt in der Bundesversammlung dentenamt als Kandidatin der LIN- zen. eine Wahl. KEN an. Der Geschäftsführende Par- Ulrich Sander, Nordrhein-Westfalen, Sandro Witt, Gewerkschaftssekretär, teivorstand hat sie am 27. Februar Bundessprecher der Vereinigung der stellvertretender LINKE-Landesvorsitzen- nominiert. Mit der Kandidatin setzt Verfolgten des Naziregimes – Bund der der Thüringen DIE LINKE auch ein Zeichen gegen Antifaschistinnen und Antifaschisten Rechtsextremismus und Naziterror. Frau Klarsfeld steht in überzeu- Die 73-jährige Journalistin Beate Frau Klarsfelds Kandidatur ist gender Weise für die Menschenrech- Klarsfeld, geboren in Berlin, widmet nicht nur eine Alternative für alle, die te ein, sie setzte und setzt immer wie- ihr Leben der Verfolgung von Nazi- Gaucks soziale Kälte und seine Ge- der klare und unmissverständliche Zei- Verbrechen und der Aufarbeitung schichtsvergessenheit ablehnen. Sie chen gegen eine Renaissance des Fa- der nationalsozialistischen Ver- steht auch für sich: Zweimal ist Bea- schismus in Europa. Schließlich – und gangenheit deutscher Politiker. Be- te Klarsfeld für das Bundesverdienst- auch das ist gegenwärtig von großer rühmt wurde sie durch eine schal- kreuz vorgeschlagen worden. Die Au- Bedeutung – ist Beate Klarsfeld eine lende Ohrfeige: Am 7. November ßenminister Fischer und Westerwelle überzeugte Europäerin. 1968 ohrfeigte sie auf einem CDU- haben ihr die Ehrung verweigert. So ist Wulf Gallert, Fraktionsvorsitzender Parteitag in Berlin (West) den da- ihre Nominierung eine Würdigung für Sachsen-Anhalt maligen Bundeskanzler Kurt Georg das jahrzehntelange Engagement ei- Kiesinger und beschimpfte ihn als ner Kämpferin gegen die NS-Täter und Ihr streitbarer Geist, der sie auch Nazi. Mit der Aktion klärte sie über ihre Erben. vor großen Widerständen nicht zurück- die Vergangenheit Kiesingers als Jannine Menger-Hamilton, Landesspre- schrecken ließ, macht sie in meinen NSDAP-Mitglied auf. cherin Schleswig-Holstein Augen ebenso wie ihr Eintreten für so- Ihr größter Erfolg war die Ent- ziale und demokratische Grundsätze deckung und Auslieferung des spä- Ich sehe in der Nominierung die- zu einer geeigneten Kandidatin für die- ter zu lebenslanger Haft verurteilten ser mutigen Frau vor allem auch ein Si- ses Amt. Es würde mich freuen, wenn Klaus Barbie, einem Mann, der den gnal gegen die Kriminalisierung anti- sie auch aus den Reihen anderer Par- Tod unzähliger Frauen, Männer und faschistischen Engagements. Vertreter teien Zuspruch fi ndet. Kinder zu verantworten hatte. von Grünen und Sozialdemokraten, mit Klaus Lederer, Landesvorsitzender denen ich gemeinsam nicht nur auf der Berlin

5 DISPUT März 2012 © Torsten Zopf (2) © Torsten © Björn Kietzmann (2) © Björn Kietzmann

ANTIFASCHISMUS DISPUT März 2012 6 Breiter Widerstand, großer Erfolg

Dresden hat sich im Februar machtvoll gegen Neonazis gewehrt. Am 13. Feb- ruar gelang es erstmalig an einem Wo- chentag, eine Neonazi-Demonstrati- on mit einer Blockade zum Rückzug zu zwingen. Und am 18. Februar traten die Nazis, von denen vor drei Jahren 7.000 aufmarschiert waren, erst gar nicht an – ein Erfolg der Blockaden 2010 und 2011. Stattdessen zogen mehr als 10.000 An- tifaschistinnen und Antifaschisten durch die Stadt. Sie feierten nicht bloß den Erfolg über den einst größten Nazi- aufmarsch in Europa. Sie kritisierten zu- gleich die Kriminalisierung antifaschisti- scher Aktivitäten. Für DIE LINKE war die Mobilisierung in und nach Dresden wieder ein Höhe- punkt. Aus dem gesamten Bundesge- biet reisten Genossinnen und Genossen an, vielerorts organisierten sie Busfahr- ten. Dabei ließen sie sich weder durch Strafverfahren noch durch die Aufhe- bung der Immunität von Abgeordneten einschüchtern. Ein sehr breites Bünd- nis aus Antifa-Gruppen, Gewerkschaf- ten, Organisationen und Parteien hat es mit seinem konsequenten Widerstand in Dresden vermocht, die Neonazis in die Schranken zu weisen.

7 DISPUT März 2012 Bei »Fichte« bin ich groß geworden Erwin Schulz, 99 Jahre, über sein Leben in Gewerkschaft und Arbeitersport, über seinen Kampf gegen Faschismus und Krieg

Im Verlaufe von fast zehn Jahrzehn- nes Liederbuch und eine Zeitschrift he- Ich hatte vorher überlegt, ob ich zu ten hast du außerordentlich viel er- raus, von Widerstandskämpfern gestal- der Vernehmung ins Karl-Liebknecht- lebt, Gutes wie Schlechtes, Freud wie tet. Ein Exemplar des Liederbuches von Haus gehe, und mir gesagt, wenn ich Leid. Was ist dir im Rückblick beson- dort ist in der neuen KZ-Gedenkstätte nicht hingehe, holen sie mich, oder ich ders wichtig? in Esterwegen ausgestellt. Ich sprach muss emigrieren. Also bin ich hinge- Ich bin 1927 in die Gewerkschaft ein- zur Einweihung der Gedenkstätte. gangen. Ein anderer wartete draußen getreten – das war damals so üblich: ab, ob ich wieder rauskomme. Sie ha- Wer in den Arbeitsprozess eintritt, wird »Fichte« und die Gewerkschaft waren ben mich gehen lassen. Vielleicht weil Mitglied. so etwas wie Schulen deines Lebens? (Erwin Schulz holt einen Umschlag Beide Organisationen haben mich mit einer Ehrenurkunde zur 85-jähri- geprägt. Und noch etwas: In der Zeit gen Gewerkschaftsmitgliedschaft, von kam das Buch »Im Westen nichts Neu-

Frank Bsirske unterschrieben und ein es« von Erich Maria Remarque raus. © Erich Wehnert bisschen verfrüht eingetroffen.) Dieses Anti-Kriegs-Buch hat uns Ju- 85 Jahre in der Gewerkschaft, das gendliche – in der Gewerkschaft, bei wird’s künftig wohl nicht mehr geben. den Naturfreunden, der Sozialistischen Es sei denn, die Menschen werden Arbeiter-Jugend, im Kommunistischen 120, 130 Jahre alt. – Und ich war auch Jugendverband – sehr beschäftigt. Wir mit viel Freude im Arbeitersportverein luden uns Teilnehmer am Ersten Welt- »Fichte«. krieg ein, die erzählten uns, was sie an der Somme und vor Verdun erlebten, Warum gerade »Fichte«? und sie berichteten vom Giftgaskrieg. Meine Schwester war bereits Mit- Das hat uns in unserer antimilitaristi- glied, und ich trat 1920 oder 1921 ein. schen Haltung bestärkt. Ebenso wie Bei »Fichte« bin ich großgeworden. Vie- dann die Ausschreitungen der SA, die les von dem, was man als Kind dort er- Kinos verwüsteten, in denen der Film lebt hat, hat einen für das gesamte Le- »Im Westen nichts Neues« lief. ben geprägt: die Ausfl üge, das Turnen, Später, in amerikanischer Kriegsge- das Singen. Wir haben immer am An- fangenschaft, zeigte es sich, dass vie- fang vor dem Turnen und zum Schluss le Antifaschisten aus der ehemaligen gesungen, so hat man viele Lieder ken- Strafdivision 999 – Deutsche, Österrei- nengelernt. cher, Polen … – von Remarques Buch beeinfl usst worden waren. Waren das vorwiegend Turnlieder, Ar- beiterlieder? Warst du damals in einer Partei? Beides. (Erwin Schulz bringt ein klei- Nein, ich habe aber an vielen politi- neres Buch.) Das ist ein »Fichte«-Lieder- schen Veranstaltungen teilgenommen, buch mit einer besonderen Geschichte. besonders an Antikriegsdemonstratio- Ich habe es nämlich aus den USA. Ein nen. Ausgewanderter hatte es uns ins Kriegs- gefangenlager nach Fort Devens, das Wie kam es dazu, dass du Anfang 1933 liegt in der Nähe von Boston, geschickt. von der Politischen Polizei ausgerech- Als das Lager aufgelöst wurde, habe ich net in das von der SA besetzte Karl- es mitgenommen. Im Impressum steht Liebknecht-Haus vorgeladen wurdest? etwas Charakteristisches für die Zeit der Das hatte eine Vorgeschichte: Auch Weimarer Republik: »Wir haben diesen »Fichte« hatte die Auseinandersetzun- Teil unseres Liederbuches selbst zen- gen zwischen Sozialdemokraten, Kom- siert, um eine Beschlagnahme dessel- munisten und anderen Linken zu spü- ben durch die reaktionären Organe der ren bekommen und war aus dem Arbei- deutschen kapitalistischen Demokratie terturn-und-Sportbund ausgeschlos- zu verhindern. Der Abdruck einer … An- sen worden. Um den Jugendfahrschein zahl viel gesungener Kampfl ieder ist be- (50 Prozent Ermäßigung) zu bekom- kanntlich verboten. Alle freien Seiten in men, gründete ein Sportgenosse den diesem Teil bilden eine lehrreiche Wi- Bund Proletarischer Jugendwande- derspiegelung …« Und da ist auch ein rer, ich wurde später Vorsitzender. Die Zensurstempel. Nazis wollten von mir im Februar oder In Fort Devens hatten wir auch eine März ’33 die Mitgliederlisten – es gab Lagerdruckerei und brachten ein eige- keine.

ANTIFASCHISMUS DISPUT März 2012 8 es bei der Polizei zu der Zeit noch So- siker aus, die üben. Ich spielte Mando- ten mussten, in einer anderen Ecke ein zialdemokraten gab; die haben wahr- line, die anderen auch, meine Schwes- Wasserbehälter. Unsere Zuchthausklei- scheinlich auch die Unterlagen ver- ter Geige. Und die Hausbewohner freu- dung und Schuhe mussten wir wegen schwinden lassen. Denn bei meinem ten sich, wenn wir uns zum »Üben« tra- Fluchtgefahr jeden Abend vor die Zel- Prozess 1935 sind sie nicht aufge- fen. lentür stellen. taucht. Verhaftet wurde ich im Januar 1935, 1937 kam ich ins Emsland: nach Bör- der Instrukteur der Landesleitung von germoor, Esterwegen, Aschendorf, wo Wie seid ihr illegal aktiv gewesen? Rot Sport hatte mich verraten. Im Sep- wir als »Moorsoldaten« unter sehr har- Mit anderen »Fichte«-Sportlern ent- tember verurteilte man mich zu fünf ten Bedingungen arbeiten mussten. Ich warfen und vervielfältigten wir Flug- Jahren Zuchthaus. Zuerst kam ich ins wurde zu zwei Monaten Strafkompanie blätter. Wir informierten darüber, was Zuchthaus Luckau: Ich war mit drei Ge- wir über die Verfolgung von Antifaschis- fangenen in einer Zelle, zwei mal sechs ten und über die beginnende Aufrüs- Meter groß, ein Bett unterm Fenster, tung gehört hatten. ein Klappbett an der Wand, der drit- Erwin Schulz, geboren am Dazu trafen wir uns in der Wohnung te schlief auf Matratzen auf dem Fuß- 13. Oktober 1912 in Berlin meiner Eltern, die von unserem Tun boden. In der Ecke am Eingang ein Kü- Vater: Schlosser, nichts wussten. Wir gaben uns als Mu- bel, in den wir unsere Notdurft verrich- Mutter: Blumenbinderin

9 DISPUT März 2012 verurteilt. Abends fi el ich erschöpft auf immer gesagt, solange es geht, können Du bist nicht sehr optimistisch? den Strohsack, die Handgelenke waren die jungen Leute kommen und ich wer- Ne, gar nicht. Die LINKEN werden be- geschwollen vom Schubkarren-Fahren. de für die anderen mit berichten. obachtet – so fängt das an, und dann Dass ich 1940 rausgekommen bin, Mich besuchen auch Freunde von geht’s weiter. Wie viel hingenommen habe ich meiner Schwester zu verdan- der VVN/BdA (Vereinigung der Verfolg- wird! In der Weimarer Republik gab es ken. Jeden Tag hat sie bei der Gesta- ten des Naziregimes / Bund der Antifa- mehr Widerstand. Heute dagegen er- po nachgefragt: Wann lassen Sie mei- schistinnen und Antifaschisten) Berlin- fährt man kaum, wo es Widerstand ge- nen Bruder frei? Nur durch sie bin ich Köpenick … gen etwas gibt. Das wird stillschwei- rausgekommen. Sonst wäre ich wahr- gend beiseitegeschoben. scheinlich im KZ Sachsenhausen ge- … wo du Ehrenvorsitzender bist. landet, und ob ich da überlebt hätte bis Ja. Wir haben in Kürze unsere Mit- Warum bist du Mitglied der LINKEN? ’45, das ist ganz unwahrscheinlich … gliederversammlung. Ob ich da hin- Ende 1946 war ich frei, Krieg und Na- gehe, weiß ich noch nicht. Es fällt mir zi-Terror waren zu Ende, und ich freute Du hast kurz deine Kriegsgefangen- immer schwerer. Das ist ein Problem: mich sehr, meine Angehörigen, Freun- schaft angesprochen. Geistig, kann man sagen, bin ich noch de und Sportkameraden wieder zu se- Im Herbst 1942 wurde ich zur Straf- voll da. Aber körperlich … hen. Aber viele hatten Gefängnis, Kon- division eingezogen, eine harte Zeit. zentrationslager oder Bombenangriffe Ich werde nie vergessen: Wir waren Du bist im Kaiserreich geboren, in der nicht überlebt. erst ein paar Tage zusammen, da wur- Weimarer Republik aufgewachsen, in Mit meiner ganzen Kraft wollte ich de abends ein Kamerad aus der Stube der Nazizeit gepeinigt worden, bist in über Krieg und Faschismus aufklären. rausgeholt und von Offi zieren in einem der DDR am Aufbau einer neuen Ord- Und ich war davon überzeugt, dass Kriegsgericht zum Tode verurteilt. Am nung beteiligt gewesen – und letztlich die Spaltung der Arbeiterbewegung ei- anderen Morgen mussten wir als Kom- wieder im Kapitalismus gelandet. Mit ne Ursache für die Nazi-Herrschaft ge- panie antreten und zugucken, wie der welchen Gedanken blickst du auf die- wesen war. Deswegen wollte ich mich Kamerad, mit dem wir am Abend noch sen Lebensbogen? auch parteipolitisch organisieren. zusammen waren, an einem Pfahl Wir leben im Finanzkapitalismus. nicht erschossen, sondern – so haben Wenn man sieht, wie Hunderte Milli- Was wünschst du dir heute von deiner wir gesagt – ermordet wurde. Ein Offi - arden hin und her geschoben werden, Partei, was sollte sie anders, was ge- zier drohte uns, so würde es jedem er- wie sie dazu ein Theater veranstalten nauso machen wie bisher? gehen, der Anordnungen und Befehle und Sondersendungen bringen, wäh- Wichtig ist: Rückgrat zeigen. Das nicht befolgt. rend ein Arbeitsloser gerade mal zehn wird heute viel komplizierter. Euro mehr bekommt im Monat, kann Ansonsten kann ich schlecht was Du lebst in einer Wohnung, 8. Etage, man pessimistisch werden. Wenn man dazu sagen. Ich stecke ja nicht mehr über den Dächern von Berlin-Köpenick. sieht, wie versucht wird, den Leuten et- so mittendrin in der ganzen Auseinan- Im Wohnzimmer türmen sich viele, vie- was vorzumachen, wie man ihnen ver- dersetzung, da will ich keine Ratschlä- le Bücher und Broschüren, auf dem sucht einzureden, wir Deutschen sind ge geben, das maße ich mir nicht an. Tisch Zeitungen (auch »DISPUT«) und die Besten, aus der Krise kommen wir Was früher war, das ist vorbei. Heu- eine Brille … Wie lange liest du so am wieder raus, die anderen verstehen das te sind andere Umstände, andere Ge- Tag: 30 Minuten, ein Stündchen? bloß nicht … gebenheiten. Länger, je nachdem. Für die Zukunft sehe ich weitere Pro- Vormittags kommt jemand von der bleme. Wir steuern weiter nach rechts Welchen Wunsch hast du vor dem Pfl ege, nachmittags kommt manchmal – man wird das nicht so bezeichnen, »100.«? Besuch. Es gibt nicht mehr allzu viele für viele Dinge fi ndet man eben ande- Jeden Tag quält man sich so rum. Widerstandskämpfer. Darum habe ich re Begriffe. Was das bedeutet, kann kein Außen- stehender ermessen. Bis zum Geburts- tag quält man sich. Da hast du nur den einen Wunsch: wenn es bloß zu Ende wäre.

© Erich Wehnert Viele sagen mir: Mensch, Erwin, das kannst du doch nicht sagen … Aber so ist mein körperliches Empfi nden: Du bist fertig, bist verbraucht. Alles ande- re ist bloß schöne Rederei.

Und das magst du nicht? Ne. Geistig bin ich noch voll da, verfol- ge alles und bringe dann auch meine Meinung zum Ausdruck. Erfreut bin ich über den Widerstand gegen die Nazi- Aufmärsche in Dresden und in anderen Städten. Da möchte ich sagen: Macht weiter so! Lasst nicht nach! Nie wieder Faschismus und Neofaschismus! Nie wieder Krieg!

Interview: Stefan Richter

ANTIFASCHISMUS DISPUT März 2012 10 lle Heimatblätter sind sich einig, Engels ins Berliner Gebüsch und hilft dass ein deutscher BUPRÄ nichts beim Ausbau neuer Militärbasen. Die A zu sagen hat und deshalb viel Familienministerin fördert mit fünf Mil- reden muss. Je besser er reden kann, lionen ein Programm gegen Linksex- umso weniger fällt das dann auf. Umso tremismus und Islamismus. Der Ver- mehr wird er geliebt, denn er verschö- teidigungsminister stärkt die Rollkom- nert den Anstrich unseres Vaterlandes mandos für den US-Weltgendarm. Das – er zwingt Grau raus und Rosa rein. letzte Öl, die größten Gaslager, die sel- Deutschland braucht in dieser Pha- tensten Mineralien müssen gesichert se diesen Kandidaten, denn: Wir sind werden. Und alles auf dem Pulverfass Papst, wir sind die stärkste Merke- des wachsenden Konfl iktes zwischen lei der Welt, wir sind Lokomotive des Arm und Reich. Wachstums, Weltmeister im Export, Es ist hohe Zeit, dass ein wendiger Zahlmeister der EU, Zuchtmeister der Diener Gottes auf den Thron steigt. Da- Griechen und anderer Bankrotteure, her haben sich alle gleichgesinnten Stoßtrupp der NATO, Bollwerk gegen Parteien auf den Einzigartigen geeinigt. Mindestlohn, Entsafter der Arbeitslo- Mit solcher Mehrheit kann man jeden senstatistik. Kurzum: Unsere Lage ist Priester oder Discjockey ins Schloss großartig, aber die Stimmung ist mise- Bellevue bringen. Der Mann ist schon rabel! Das Volk muckt auf, immer öfter, gewählt, ehe er den Saal betritt. Scha- immer lauter. de, dass die Verfassung dabei zum Fuß- Das schreit nach abtreter wird, denn die verlangt für die einem Seelsorger! wirkliche Demokratie eine wirkliche Stichelei zur Nach einem, der die Opposition. Die gibt es nur in Gestalt sieben Todsünden der LINKEN. Aber gerade die wurde ja Gauckelei beherrscht. Der von bei der Nominierungsdebatte ausge- Politik und Ökono- sperrt. mie keine Ahnung Sollte sie nun am Wahltag zu Hau- hat und deshalb den se bleiben? Das wäre feige. Sollte sie in Amtsträgern nicht die Stimmenenthaltung fl üchten? Das Von Jens Jansen reinredet. Nach ei- wäre die Kapitulation vor dem falschen nem, der in fi nsteren Kandidaten. Oder soll sie eine Alter- Stunden nicht zum Wutbürger wird, native aufbieten, die auch den ande- sondern zum Weichspüler. Wie oft ren Abtrünnigen der Kumpanei ein Be- schon haben begnadete Redner das kenntnis gestattet? Klar ist, dass Frau Schicksal unserer Nation verändert? Klarsfeld – nicht trotz, sondern wegen Dennoch haben die Konservativen ihrer Verdienste – als »Hexe« verbrannt gezögert, den Konservativen zu nomi- wird. Wie kann man hier fragen, welche nieren. Drum trat der neoliberale Koa- Art Präsidentschaft willkommener ist: litionspartner der Kanzlerin in den Hin- Mann oder Frau? Retter oder Richter tern. Das war eine Panikattacke vor des Kapitalismus? Der Antikommunist dem Untergang der FDP. Da wollte der oder die Antifaschistin? Schwanz auch mal mit dem Hund wa- Die deutsche Antwort ist klar. Und ckeln. dennoch möchte man sie hören von je- Aber die Bundesrepublik ist ja – bei dem im Saal. aller Größe – auch nur der Schwanz Vielleicht hilft der Mann, der Miel- der atlantischen Supermacht USA. Dort kes Tresore gesprengt hat, auch die Tre- tobt der Wahlkampf. Obama muss weg, sore der westlichen Geheimdienste zu sagen die Republikaner. Der Kerl hat zu öffnen, um endlich festzustellen: Was viele »soziale Visionen«. Der holt aus war da Aktion und was nur Reaktion auf dem gottverdammten Europa die gott- die Aktionen anderer Finsterlinge? Der verdammten »sozialistischen Ideen« Mann, der manche These Sarrazins be- ins Land. Das geht doch nicht! Die Ban- denkenswert fi ndet, kann das nun mal ken wackeln, die Rüstungsfi rmen ste- mit den ausländischen Mitbürgern de- hen auf einem Bein, die Autoindustrie battieren. Und beim Truppenbesuch fährt im Rückwärtsgang, vor der Börse in Afghanistan kann er staunen, wie tobt der Pöbel! Das gab es noch nie. das Land unter der NATO ausgeblutet Reißt das Ruder endlich rechts rum! ist. Da die West-Eliten an allen Fronten Und schon wackelt in Deutschland jämmerlich versagt haben, kommt nun die Kanzlermehrheit. Wann kommt ein weiterer Kopf der Ost-Elite ans Ru- die Vertrauensfrage, wann die Neu- der. Keine Angst, liebe Bayern, der ge- wahl, mit welchen Köpfen für den neu- hörte zu den ersten Wessis im Osten! en Kurs? Der beruft sich gern auf seine Erfah- Der Bundesinnenminister legt die rung mit zwei Diktaturen. Nun kann er Linken an die Kette und gibt Finanz- als Drittes die Diktatur des Kapitals nä- hilfe für Rechtsextremisten. Der Bun- her kennenlernen. Wir wünschen ihm desverkehrsminister stellt Marx und neue Erkenntnisse!

11 DISPUT März 2012 FEUILLETON Clara-Zetkin-Preis 2012 STAY und Esther Bejarano ausgezeichnet

Zum zweiten Mal vergab die Partei DIE ehrt. Das Projekt unterstützt Schwan- LINKE anlässlich des Internationalen gere ohne gültige Aufenthaltspapie- Frauentages den Clara-Zetkin-Frauen- re, es vermittelt kostenlose medizini- preis für herausragende Leistungen sche Betreuung und sensibilisiert die von Frauen in Gesellschaft und Politik. Öffentlichkeit für die Lage von Frauen Auf einer Veranstaltung am 10. März in in der Illegalität. DIE LINKE würdigt da- der Berliner Kulturbrauerei wurde das mit das soziale und politische Engage- Düsseldorfer Projekt »Keine Schwan- ment für eine vergessene Gruppe von gerschaft ist illegal – STAY!« mit dem Frauen in Deutschland. Den Clara-Zet- Clara-Zetkin-Frauenpreis 2012 ge- kin-Preis übergab die Parteivorsitzen-

Esther Bejarano (Bildmitte) an der Seite von Beate Klarsfeld

Die Venuss Brass Band begeisterte. © Erich Wehnert (4)

FRAUENPREIS DISPUT März 2012 12 de Gesine Lötzsch, die eine Festrede Überreicht wurde der Preis durch Umso wichtiger ist es, aufzuklä- zum Thema »Geschlechterverhältnisse Beate Klarsfeld. In ihrer Laudatio sag- ren über Naziverbrechen, jungen Men- im Umbruch« hielt. te sie: »Wir sind auch heute wieder schen den Wert von antifaschistischem Benannt ist der Preis nach der Mit- Zeugen, dass in der BRD von Anfang Widerstand nahe zu bringen. Wir dür- begründerin der proletarischen Frau- an versäumt wurde, die Vergangenheit fen nicht nachlassen in unserem En- enbewegung, die 1910 – zusammen aufzuarbeiten. Es wurde vonseiten der gagement, und vor allem müssen wir mit Käte Duncker – die Einführung des Bundesrepublik wenig getan, um die noch viel mehr werden. Es gibt einen internationalen Frauentages initiiert Täter zu fassen. Nur wenige wurden Satz von Esther Bejarano, der uns allen hatte. Für den mit 3.000 Euro dotier- vor Gericht gestellt, die meisten von zu denken geben sollte: ›Selbst in der ten Clara-Zetkin-Preis hatten sich in ihnen wurden freigesprochen. Das ist Hölle von Auschwitz fanden Menschen diesem Jahr rund 50 Projekte bewor- eine Schande für Deutschland. den Mut, Widerstand zu leisten.‹« ben. Eine siebenköpfi ge Jury wählte die Preisträgerinnen aus. Einen Sonderpreis für ihr Lebens- werk erhielt auf Beschluss des Par- teivorstandes Esther Bejarano. 1924 als Tochter des Oberkantors einer jü- dischen Gemeinde geboren, überleb- te Esther Bejarano den Holocaust als Mitglied des sogenannten Mädchenor- chesters von Auschwitz. Gemeinsam mit Tochter Edna und Sohn Joram gründete sie Anfang der 80er Jahre die Gruppe »Coincidence« mit Liedern aus dem Ghetto sowie jüdischen und an- tifaschistischen Liedern. Esther Beja- rano ist Mitbegründerin und Vorsitzen- de des deutschen Auschwitz-Komi- tees, Ehrenvorsitzende des VVN-BdA und Trägerin der Carl-von-Ossietzky- Medaille.

13 DISPUT März 2012 Die Trennungslinie an der Saar Wahlkampf im Saarland – da passt der Politische Aschermittwoch gut rein

Der Politische Aschermittwoch der LIN- KEN im saarländischen Wallerfangen hat Tradition. Da gibt’s erst Klartext und dann Hering. Das ist so Brauch. Für den © Stefan Richter (4) Richter © Stefan Klartext vor rund 600 Gästen am 22. Februar sorgten der Kabarettist Det- lev Schönauer und der Fraktionsvorsit- zende im Bundestag, Gregor Gysi. Und schließlich der Spitzenkandidat für die Landtagswahl ; hier ein paar Auszüge aus seinem Beitrag:

Wir haben jetzt hier an der Saar eine Wahl, wie es sie in dieser Form noch nicht gegeben hat. Da sind zwei gro- ße Parteien (die eine ist ja wahlmäßig nur so groß wie wir), die sagen: Nach der Wahl wollen wir zusammengehen. Da braucht ihr gar nicht mehr darüber zu entscheiden. Ihr habt eigentlich nur noch darüber zu entscheiden, wer von uns beiden den Titel Ministerpräsident führen kann. Da werden die Wählerinnen und Wähler auf den Arm genommen. Ich sage: Macht denen einen Strich durch die Rechnung! Je stärker DIE LINKE wird, umso wahrscheinlicher wird es, dass dieses Bündnis gar nicht zustan- de kommt. Es müsste in den Mittelpunkt dieser Wahl wenigstens die Frage gestellt wer- den: Was wollt ihr denn machen, wenn ihr zusammen regiert? Und das Problem ist, dass außer der Diskussion um die Ordentlich Zunder gaben Spitzenkandidat Lafontaine, Kabarettist Schönauer (rechts) Große Koalition kaum etwas zu hören und Fraktionsvorsitzender Gysi in Wallerfangen. ist, was die eigentlich machen wollen. Zunächst möchte ich darüber reden, was wir machen wollen. Denn wir ha- halten, ist der, dass wir jetzt diejeni- nicht Renten kürzen oder Löhne kür- ben ein nachvollziehbares Programm, gen zur Kasse bitten, die in den letzten zen oder sonstwas, dann muss man um das Land nach vorne zu bringen. Jahren die Nutznießer einer verfehlten mit drei Prozent beispielsweise dieses Ich beginne mit dem entscheidenden Steuer- und Sozialpolitik waren, näm- Geldvermögen besteuern. Das macht Punkt: Das Land ist völlig überschul- lich die Einkommensmillionäre. Des- nach Adam Riese 66 Milliarden für die det. Das wissen die Saarländerin- wegen sage ich: Unsere Schuldenbrem- Landeskasse an der Saar. Das ist der nen und Saarländer. Wir haben einen se heißt Millionärssteuer. Das ist das einzige Weg, den Schuldenberg abzu- Haushalt von 3,5 Milliarden Euro und Gegenkonzept zu dem Konzept der An- tragen. Alles andere ist Quatsch mit So- wir haben Schulden mittlerweile von deren. ße. (…) 12 Milliarden. Die Frage ist, wie wir die- Wir haben in der Bundesrepublik Warum nenne ich ihn Heiko (Maas) se Schulden wieder abtragen können. 2.000 Milliarden oder zwei Billionen den Wankelmütigen? 2009 wollte er Da gibt es zwei Wege. Der eine Weg Euro Schulden, alle Schulden der öf- noch mit der LINKEN koalieren. Plötz- ist der klassische neoliberale: Wenn fentlichen Hand zusammen. Nur das lich ist ihm der Erzengel Gabriel im es viele Schulden gibt, dann versucht Geldvermögen der Millionäre – nicht Traum erschienen und hat ihm gesagt, man durch Kahlschlag im öffentlichen ihr Betriebsvermögen, nicht ihre Häu- das darfst du nicht. Dienst, dann versucht man durch Ab- ser, nicht ihre Grundstücke –, nur das Noch vor ein paar Monaten wollte er bau von Stellen bei Lehrern, Polizisten, Geldvermögen beträgt 2.200 Milliar- mit uns koalieren, hielt alle unsere Vor- Krankenschwestern usw., diese Schul- den Euro, also mehr. Wenn jetzt die Fra- stellungen für richtig. Im August (2011) den abzutragen und Geld einzusparen. ge ist, wie können wir denn die Schul- haben wir versucht, ihn zum Minister- Der andere Weg, den wir für richtig den abtragen, dann darf man doch präsidenten zu wählen und Annegret

WAHLKAMPF DISPUT März 2012 14 Kramp-Karrenbauer zu stürzen. Und er kann. Es gibt eine Verlässlichkeit ge- scheidungen mehr oder weniger stark hat sich auf uns verlassen. Und wir wa- genüber der großen Mehrheit der Be- zulasten der großen Mehrheit der Be- ren ja auch verlässlich, wir haben ihn völkerung. Und diese Verlässlichkeit völkerung gingen. Und wenn ich jetzt ja auch gewählt. Und jetzt, auf einmal, wollen wir nicht aufgeben. Diese Ver- lese, dass Wolfgang Schäuble schon sagt er, wir seien unzuverlässig. Viel- lässlichkeit heißt, dass wir im Zweifel Pläne in der Schublade hat, um die leicht, um das psychologisch zu erklä- für die Interessen dieser großen Mehr- Schuldenbremse auf Bundesebene ren, hat der Heiko Angst, Ministerprä- heit in den Parlamenten arbeiten und durch Sozialkürzungen einzuhalten, sident zu werden. Das wäre eine Erklä- abstimmen. Und deshalb hätte DIE LIN- dann ist das die Fortsetzung des völ- rung für alles. Ich kann ja verstehen, KE niemals die Hand gereicht für Ren- lig falschen Weges. Und wenn ich jetzt dass die Vorstellungen, ich hätte da tenkürzungen. Unzuverlässig sind an sehe, was in Griechenland passiert, noch irgendwie mitzureden und säße dieser Stelle die SPD, die CDU, die Grü- was in Portugal passiert, was in Spa- da rum und würde die Vorlagen kom- nen und die FDP. nien passiert – dort werden Löhne ge- mentieren, ihn schrecken. Ich geb ja Unzuverlässig sind diese Parteien kürzt, der öffentliche Dienst abgebaut, zu, dass ich manchmal etwas unwirsch bei der Lohnentwicklung. Wer Hartz IV dort werden die Renten gekürzt, und sein kann. Was ich ihm aber übelneh- befürwortet, ist verantwortlich für das dann gibt es in Griechenland teilweise me, ist Folgendes: dass er erklärt, wir Senken der Löhne in Deutschland. Un- schon Hunger und Obdachlosigkeit –, seien nicht regierungsfähig. Also, wenn zuverlässig sind diejenigen, die die binde ich hier das Ganze zusammen: der Lehrling dem Meister sagt, er hät- Leiharbeit zu verantworten haben. In der Öffentlichkeit gibt es immer ei- te das Handwerk verlernt, dann ist das Das war eine der schlimmsten Fehlent- nen Zeitgeist, und dieser Zeitgeist ist eine gewisse Form der Undankbarkeit. scheidungen der rot-grünen Bundesre- immer der Geist der herrschenden In- Noch vor wenigen Monaten hat Hei- gierung. Sie haben der Leiharbeit Tür teressen. Und die herrschenden Inter- ko gesagt: Die Schuldenbremse heißt und Tor geöffnet. Und diese Unzuver- essen in Deutschland und Europa sind weniger Bildung und Sozialstaat, sie lässigkeit geißeln wir, DIE LINKE. Ge- nach wie vor die Interessen der fi nanzi- ist eine Investitions- und Wachstums- genüber den sozial Schwachen müs- ell Starken, der Mächtigen, derjenigen, bremse. Da müssen wir doch fragen: sen wir verlässlich sein. Das ist unser die große Vermögen besitzen. Sie ha- Willst du jetzt weniger Bildung, willst Auftrag, dafür kämpfen wir! (…) ben ja auch die Medien. du jetzt weniger Sozialstaat, willst du Das ist auch die Trennungslinie an Und weil das so ist, weil in ganz jetzt weniger Investitionen und weniger der Saar. Wir haben früher gesagt: Wer Europa eine Philosophie herrscht: Im Wachstum? (…) Grün wählt, wird sich schwarz ärgern. Zweifel holen wir das Geld nicht von Es gibt eine Verlässlichkeit, die noch Heute müssen wir befürchten: Wer SPD den Banken und Reichen, sondern höher ist. Diese Verlässlichkeit gilt ge- wählt, wird sich schwarz ärgern. wir kürzen Löhne, Renten und soziale genüber den Wählerinnen und Wäh- Wir stehen zu unserer Linie, die wir Leistungen, deshalb muss es eine po- lern. Diese Verlässlichkeit heißt, dass seit Jahren vertreten. Wir sind der Mei- litische Kraft geben, die dagegenhält. man vor der Wahl nur das verspricht, nung, dass in den letzten beiden Jahr- Das ist DIE LINKE. Ihr könnt stolz darauf was man nach der Wahl auch einlösen zehnten alle wichtigen politischen Ent- sein, zu dieser Kraft zu gehören.

15 DISPUT März 2012 arald, du hast den längsten ich mich für sie einsetze, dass ich mich Amtstitel – hast du auch die fürs Ehrenamt einsetze – auch im So- H meiste Arbeit im Saarbrücker zialbereich und in anderen Bereichen. Rathaus? Mittlerweile ist es das Normalste der Den Kollegen nach zu urteilen: Ja. Welt, dass dieses Dezernat durch einen Zu den Bereichen Bürgerdienste, Si- von der LINKEN geleitet wird. cherheit und Sport, die mein Vorgän- ger hatte, habe ich noch das Soziale Was heißt für dich linke Politik? dazubekommen. Zu meiner Verantwor- Politik zu machen für die Leute, die tung gehören außerdem ein Kranken- am Rande der Gesellschaft stehen. haus, die Friedhöfe, die Kommunikati- on (Internetanbindung) und ein Berufs- Ein Blick zurück: Wie ist es überhaupt bildungszentrum. Über einen Mangel zur Zusammenarbeit von Rot-Rot-Grün an Arbeit kann ich mich nicht beklagen. in Saarbrücken gekommen? Bei der Kommunalwahl 2009 hat- Was war deine erste Amtshandlung? te es für CDU und FDP nicht gereicht, Durch alle Ämter zu gehen, mich vor- so dass wir gesagt haben: Wir machen zustellen und mit meinen Mitarbeitern das Bündnis Rot-Rot-Grün. Den Grü- Gespräche zu führen. Im ersten Drei- nen auf der anderen Saar-Seite – den vierteljahr habe ich ganz viel zugehört: »Rest-Grünen« um Hubert Ulrich – hat Wo kann ich helfen, was kann ich da- das zwar nicht gepasst, aber sie haben zulernen? es nicht verhindern können.

Und die Mitarbeiter und Amtsleiter wa- Hat sich dieses Bündnis in der Landes- ren gleich begeistert, dass endlich ei- hauptstadt bewährt? ner von der LINKEN das Sagen hat …? Für den Bürger hat es sich insofern Andersherum. Ich bekam schon bewährt, als wir Sachen eingeführt ha- »Vorschusslorbeeren«, da war ich noch ben wie das kostenlose Mittagessen gar nicht im Rathaus. Da gab’s Sprüche an fünf Grundschulen und die Sozial- wie: Herr Schindel, Hände weg von der karte, mit der man ungefähr 40 Prozent Feuerwehr! Ein Linker als Sicherheits- des Fahrpreises beim öffentlichen Per- dezernent, das geht gar nicht! Und: Der sonennahverkehr spart, mit der Kinder Mann aus dem Karl-Liebknecht-Haus, und Jugendliche freien Zutritt in alle Bä- Kofferträger von Lafontaine, Kopier- der haben, die Nutzung der Bibliothe- knecht … Sie haben sich brav an mir ken kostenlos ist und der Besuch des abgearbeitet. Aber sie haben auch re- Zoos nur die Hälfte kostet. lativ schnell verstanden, dass ich mei- Eine große Leistung ist, dass nie- nen Job mache und dass ich primär erst mand im öffentlichen Dienst entlassen einmal für die Stadt arbeite. Die Feuer- wurde. Im Gegenteil: Wir haben beim wehr hat sehr schnell gesehen, dass Personal aufgestockt.

Unter Rot-Rot-Grün gab es auch kei- ne Privatisierung. Ich bin hier der ve- hementeste Kämpfer dafür, dass bei-

© Stefan Richter (2) Richter © Stefan spielsweise die Schwimmbäder erhal- ten bleiben; mittlerweile habe ich auch meine Oberbürgermeisterin davon überzeugt. Daseinsvorsorge bedeutet für mich: Schwimmbäder werden nie hundertprozentig kostendeckend sein, das ist unmöglich. Also muss man se- hen, wie man weniger Verluste macht. Das bedeutet, wir entwickeln jetzt ein Bäderkonzept, mit dem wir das Ganze sinnvoller gestalten wollen, zum Bei- spiel mit Themenbädern. Die wichtigs- te Bedingung ist jedoch, dass die Bä- der nicht privatisiert werden.

Wo kommt das Geld dafür her? Klar ist: Alles, was wir an zusätzlichen Ausgaben haben, müssen wir hinten rum wieder einsparen. Das heißt, dort zu sparen, wie bei der Wirtschaftsförderung oder in anderen Bereichen, wo es nicht den »kleinen Leuten« wehtut.

KOMMUNE DISPUT März 2012 16 VVonon wegenwegen KofferträgerKofferträger … WWieie HHaraldarald SSchindelchindel imim RathausRathaus SSaarbrückenaarbrücken PolitikPolitik machtmacht – aalsls DDezernentezernent ffürür BBürgerdienste,ürgerdienste, Sicherheit,Sicherheit, SSozialesoziales uundnd SSportport

In der Verwaltung haben wir be- Irgendwann kommt beim Optimie- ich aus der Wirtschaft, und da funkti- stimmte Prozesse in der Planung und ren der Punkt, wo man sagen muss, es onieren bestimmte Sachen manchmal Organisation, so durch ein Kopier-Kon- geht nicht mehr. Das hat auch unse- schneller – das hat Vorteile und Nach- zept, optimiert. Außerdem mieten wir re Oberbürgermeisterin im Deutschen teile. Mir hat beides geholfen. Gelernt nicht weiter fremde Gebäude an; statt- Städtetag betont. Und dann müsste es habe ich, was a.d.D. heißt, auf dem dessen sind unsere Mitarbeiter in um- einen Sparkommissar geben, den es Dienstweg: Ich weiß mittlerweile, dass gebaute Gebäude zusammengezogen. aber nicht geben wird. Er ist von unse- ich dort unterschreiben muss. Das hilft uns, Miete zu sparen. rer Landesverfassung nämlich nicht so Ich habe aber auch gelernt, dass es Wir haben die Gewerbesteuer er- einfach zu installieren, weil der Stadt- viele Bürger gibt, die sich direkt an die höht, und wir fordern weiterhin die Ein- rat als demokratisch gewähltes Gremi- Oberbürgermeisterin wenden oder die führung der Bettensteuer für Übernach- um in sich unabhängig ist und uns Wei- mich direkt anrufen und sagen: Herr tungen. Das Land, dem Rot-Rot-Grün in sungen gibt. Schindel, hier liegt Müll vor der Tür, Saarbrücken suspekt ist, verweigert Und sollten sie uns wirklich zur können Sie nicht mal …? Das hat mich dies noch immer; wir werden ziemlich Haushaltsnotstandskommune erklä- überrascht, weil ich das als Bürger nie »boykottiert«. Deswegen ist die Land- ren, würden wir mit jeder Rechnung gemacht hätte. Das fi nde ich toll. tagswahl am 25. März auch eine Hoff- über 5.000 Euro zum Ministerpräsiden- Mir hilft, dass ich ein sehr kommu- nung für die Stadt. Von der Kommunal- ten gehen: Bitte unterschreibe mal! Ich nikativer Mensch bin und ich berufl ich aufsicht ist übrigens die Hälfte einer bin gespannt, wie lange der das durch- vorher viel gesehen habe. Doch der solchen Bettensteuer im Haushalt für hält. größte Vorteil ist, dass ich nicht aus die Stadt bereits anerkannt worden. dieser Stadt bin. Ich bin niemandem et- Wo hast du in deiner jetzigen Verant- was schuldig. Deshalb bin ich auch bei Mietausgaben für eure Büros zu ver- wortung lernen, wo dich unter Umstän- Stellenbesetzungen völlig unverdäch- ringern oder beim Kopieren zu spa- den korrigieren müssen? tig, mich für Leute zu entscheiden, die ren, das ist nur begrenzt möglich. Was Zugelernt habe ich, was die Ver- ich irgendwie unterbringen will, ich gu- kommt danach? waltung angeht. Ursprünglich komme cke nach der besten Qualifi kation.

17 DISPUT März 2012 Gab’s schon Momente, wo du gesagt nen, aber der Maas und die Kramp- hast: Mist!? Karrenbauer sagen, wir tun eh, was wir Die hat’s gegeben. Zum Beispiel, wollen. Da kommen mittlerweile viele wenn ich mich frage, warum ich mich Richter © Stefan Leute auf uns zu, die meinen: So nicht! mit einer Partei darüber streiten muss, Deswegen sagen wir als LINKE im Wahl- ob wir ein kostenloses Mittagessen an kampf: Soziale Gerechtigkeit jetzt nur fünf statt an vier Grundschulen anbie- noch mit uns! ten. Oder wenn jemand aus der Sozial- demokratischen Partei kommt und auf Welche Differenzen gibt es zwischen einmal mit mir redet, als ob er bei der CDU und SPD? CDU ist, denke ich: Halt, Stopp, irgend- Heiko Maas sagt, er will den Min- was läuft hier falsch. destlohn einführen, Kramp-Karrenbau- er sagt: Nicht mit mir. Heiko Maas sagt, Wie klappt die Zusammenarbeit im er will bestimmten Sozialabbau zurück- Rathaus? führen, Kramp-Karrenbauer sagt: Wir Im Wesentlichen gut. Ich nehme müssen sparen. Die widersprechen an der sogenannten Bündnisrunde sich die ganze Zeit. Zwei Jahre lang hat teil, wo sich regelmäßig die Dezernen- Maas gesagt, diese Regierung hat ab- ten und die Fraktionsvorsitzenden aus gewirtschaftet, und jetzt will er mit ihr dem Bündnis treffen und alle Themen auf einmal den großen Sprung machen. durchgehen. Das ist nicht glaubwürdig. Maaß‘ zweites Problem ist: Er hat Und wie klappt es mit der Stadtratsfrak- sich in die »Ypsilanti-Falle« begeben, tion? Stimmen die Erwartungen mit den »Mir hilft, dass ich ein indem er von vornherein verkündet hat, Möglichkeiten in etwa überein? er macht nichts mit der LINKEN. Ich bin bei allen Sitzungen unse- sehr kommunikativer Wir haben gesagt, man kann die rer Fraktion dabei und stehe dort Re- Schuldenbremse akzeptieren, sie ist de und Antwort. Meine Fraktion hält Mensch bin.« nun mal da – aber wir akzeptieren die mir den Rücken frei. Natürlich gibt es Schuldenbremse nicht für Sozialab- hinter den Kulissen immer mal, sozusa- bau. Deshalb muss man die Einnah- gen, Unstimmigkeiten, weil ich primär meseite erhöhen, also Einführung der für die Landeshauptstadt arbeite. Und Vermögenssteuer usw. es gibt immer jemanden, der nicht zu- frieden ist. Aber im Kern ist das eine su- Welche Chancen hat DIE LINKE Saar? per Zusammenarbeit. Und wie kann sie diese Chancen nut- Viele haben verstanden, dass es, Wette gewonnen: Mit meinem Frak- zen? wenn ich meinen Job gut mache, auch tionsvorsitzenden wettete ich im De- Wir müssen die Wähler bis zum gut für die Partei ist. Das merkt man zember, dass es 2012 Neuwahlen ge- Wahltag ansprechen und mobilisieren. an der Akzeptanz. Ein Vorteil dabei ist, ben wird. Die Unstimmigkeiten zwi- Wir müssen ihnen sagen: Es ist wichtig, dass ich ein Dezernat mit ganz vielen schen CDU, Grünen und FDP hat man dass ihr wählt, denn es geht darum, in Außenkontakten habe: den Sozialbe- mitgekriegt. welche Richtung das Saarland abfährt. reich, das heißt die gesamte Gemein- Überraschend kam für uns teilwei- Wenn wir die SPD wieder re-sozialde- wesenarbeit, die Sportvereine … se, dass es nicht direkt zu einer Großen mokratisieren wollen, wie Gregor Gysi Koalition aus CDU und SPD gekommen immer sagt, dann müssen wir raus und Welche Gemeinsamkeiten siehst du ist. Viele dachten, Frau Kramp-Karren- mit den Leuten auf der Straße und in bei den »Kommunalkollegen« im Os- bauer bricht mit Grünen und FDP nur, den Häusern reden. Und das passiert. ten? wenn sie sich in Bezug auf die SPD Die ersten Infostände gab es am Wir haben durch die Bank die glei- ganz sicher ist. Sie hat jedoch die Be- 18. Februar in Saarbrücken und ande- chen Probleme. Ich bin zwar in der deutung der Basis bei den Sozialdemo- ren Städten, danach den Politischen glücklichen Lage, dass ich in einer Lan- kraten unterschätzt. Aschermittwoch und und und. Wir ha- deshauptstadt arbeite, wo ich direk- ben sehr viel Unterstützung aus dem ten Draht zu den Ministern und zu den Dennoch haben Kramp-Karrenbauer Bundesgebiet, es kommen Leute aus Staatssekretären habe. Aber die Prob- und Maas verkündet, miteinander ei- Berlin, aus Nordrhein-Westfalen usw. leme sind alle gleich. ne Koalition eingehen zu wollen. Das Denn diese Wahl hat auch eine Bedeu- Wichtig ist, dass wir nach wie vor lin- riecht nach Langeweile und Wahlver- tung für die Gesamtpartei: Wenn wir ke Kommunalpolitik machen. Für mich drossenheit. Was beobachtest du? hier gut abschneiden, und davon bin wird Kommunalpolitik immer noch un- Es gibt unter den SPD- und CDU- ich überzeugt, kommen wir auch aus terschätzt. Dabei zeigen wir gerade hier Wählern drei Lager. Das eine sagt: dem Tief, das man uns in den Medien den Bürgerinnen und Bürgern unmittel- Okay, wir wollen Ruhe haben, eine Gro- angedichtet hat, wieder raus. Die Um- bar, was DIE LINKE will und was DIE LIN- ße Koalition ist in Ordnung. Das zwei- fragen zeigen ja wieder nach oben. KE bewegen kann. te Lager unter SPD-Leuten sagt: Halt, wenn ich mein Kreuz bei der SPD ma- Deine Prognose? Ohne das Thema Landtagswahl kann che, will ich nicht automatisch die CDU Wir haben immer zehn Prozent mehr das Interview nicht vorübergehen. mit wählen; denn da gibt es ziemliche als der Bundestrend. Wenn wir 17 Pro- Kam der vorgezogene Wahltermin Differenzen. Und dann gibt es die, die zent erreichen, bin ich glücklich. nicht sehr überraschend? fragen, was ist denn das für eine De- Das weiß ich nicht. Ich habe eine mokratie, wenn wir zwar wählen kön- Interview: Stefan Richter

KOMMUNE DISPUT März 2012 18 © Stefan Richter © Stefan

Ein Blick in die Geschichte: Mit diesen Worten reagierte der däni- sche König Christian VIII. auf den Einspruch seines Finanzminis- ters gegen die Erhöhung des Bil- dungsetats (1813). Ein Blick in die Gegenwart: Mit diesem Riesentransparent direkt neben der CDU-Landesgeschäfts- stelle in Kiel kritisierte die DIE LIN- KE die Auswirkungen der Schul- denbremse (16. Februar 2012). Ein Blick in die (nähere) Zukunft: Mit dem Motto »Je stärker DIE LIN- KE, desto sozialer das Land« stre- ben Schleswig-Holsteins LINKE den Wiedereinzug in den Landtag an (6. Mai 2012). Sie freuen sich über Wahlkampfhilfe.

19 DISPUT März 2012 WAHLKAMPF Wortmeldung aus Japan Im Grunde ein Beitrag zur Diskussion um »LINKE 2020« Von Manfred Sohn

Die Japanische Kommunistische Par- be nicht nur die Abweichungen der so- Der dritte bemerkenswerte Aspekt tei hat einige Unterschiede und eini- wjetischen Partei nach Lenins Tod be- dieser Rede ist, dass dieses feste Wur- ge Gemeinsamkeiten zu unserer Partei ständig kritisiert, sondern auch die Ent- zeln in der eigenen Geschichte und die DIE LINKE. Die Gemeinsamkeiten wer- wicklung sowjetischer Hegemonialpoli- Systematik des Studiums der eigenen den jedem ins Auge fallen, der sich die tik energisch bekämpft, und er folgert: programmatischen Grundlagen die Par- Mühe macht, das im Jahre 2004 verab- »Die Berechtigung dieses Kampfes der tei kollektiv in die Lage versetzt, auch schiedete Programm jener Partei mit JKP wurde deutlich durch den Zusam- Rückschläge gelassen zu analysieren unserem neuen Programm zu verglei- menbruch der Sowjetunion.« und dabei die Gefahr zu vermeiden, sie chen. Die Unterschiede liegen in der hysterisch nur auf eigenes Handeln zu Tradition, der Größe und im Namen »Lektionen« zum Programm beziehen. Das ist der vielleicht bemer- beider Parteien. Die JKP feiert in die- kenswerteste Teil dieser Rede. sem Jahr den 90. Jahrestag ihrer Grün- Zweitens aber verbindet die Partei die- Shii skizziert, dass es – nicht nur, dung. Sie hat knapp 400.000 Mitglie- se Selbstkritik an unserer eigenen in- aber auch im Zusammenhang mit der der, und die von ihr herausgegebene ternationalen Geschichte mit einer klaren Distanzierung von der KPdSU – Parteizeitung »Akahata« (Rote Fahne) marxistischen Grundlagenarbeit, die in den 60er und 70er Jahren einen Auf- erreicht am Wochenende eine Aufl a- uns Deutschen fremd geworden ist – schwung sowohl an Mitgliedern als ge von knapp zwei Millionen. Bei den und dies ist wohl der Hauptgrund, wa- auch an Wählerstimmen für die JKP Wahlen erzielt sie auf nationaler Ebene rum sich diese Partei mit ihren bemer- gab. Als Abwehr dagegen gab es einen seit Jahrzehnten beständig zwischen kenswerten Erfolgen eben nicht auf Zusammenschluss aller anderen Par- sieben und zehn Prozent der Wähler- den Irrweg einer Geringschätzung des teien gegen die JKP insofern – und die stimmen. Sie trägt einen Namen, der Marxismus begeben hat. Es gibt in al- Ähnlichkeit zu unserer heutigen Situ- in Deutschland alle antikommunisti- len »Zweigen« – vergleichbar mit unse- ation ist augenfällig –, als alle Partei- schen Refl exe, die denkbar sind, aus- ren Kreisverbänden oder Ortsvereinen en sich untereinander für koalitionsfä- lösen würde. – regelmäßige »Lektionen« zum Par- hig, die JKP aber als isoliert erklärten. Auch auf diesen Namen ist ihr Vor- teiprogramm. So wird verhindert, dass »In den späten 90er Jahren«, so Shii, sitzender Shii Kazuo Anfang Januar der Beschluss eines Programms zu ei- brach dieses Konzept zusammen, weil 2012 in einer Rede eingegangen, die nem Wegschluss in einem Aktenordner die »Sozialistische Partei« – SP, ver- wie ein ferner Wortbeitrag zu unseren oder einer Schublade wird. Dies wird gleichbar mit unserer SPD – faktisch Debatten um das von unserem Partei- verknüpft mit regelmäßigen Bildungs- kollabierte. vorstand einstimmig verabschiedete abenden und -wochenenden zu den Die Folge dieses Zusammenbruchs Papier »LINKE 2020« klingt. Sie trägt philosophischen, geschichtlichen und beschreibt Shii in historischer Dis- den Titel »90. Jahrestag ihrer Grün- ökonomischen Grundlagen dieses Pro- tanz so: »In den Wahlen von 1996 und dung – Schlagt eine neue Seite in der gramms. 1998 erreichten unsere Stimmen ei- Geschichte der JKP auf, indem ihr die ne Rekordhöhe.« Als Reaktion darauf Lektionen der Vergangenheit lernt und Wurzeln in der Geschichte entstand das Zwei-Parteien-System, nutzt.«1 Bevor wir auf die für unse- durch das sich die Demokratische Par- re laufenden Debatten wichtigen vier Shii beschreibt das so: »Einen positi- tei (DP, die gegenwärtig regiert und in Hauptaspekte dieser Rede eingehen, ven Effekt hatte die Serie von Vorträ- gewisser Weise Nachfolger der SP ist) zitieren wir Shii zunächst zur Frage des gen zum Parteiprogramm und zur klas- und die konservative Liberaldemokra- Namens: »Eine oft gestellte Frage ist sischen Theorie, die wir letztes Jahr be- tische Partei (LDP) ablösten. Die Zu- die, warum die JKP ihren Namen nicht gonnen hatten. Ein Zweig berichtete, spitzung auf diese beiden Alternativen ändert. Aber es ist wichtig, die histori- dass, als die Serie startete, manche Mit- sollte den Zweck haben, die JKP zu mar- schen Gründe zu verstehen, um zu be- glieder dachten, Marx und Engels wären ginalisieren, und Shii konstatiert nüch- greifen, warum die JKP keine Notwen- Vor- und Nachname einer Person. Aber tern: »Seitdem erlitt die JKP in natio- digkeit sieht, ihren Namen zu ändern. indem sie den Mechanismus der Mehr- nalen Wahlen wieder Verluste.« Dieser Unser Name … ist der Beweis, dass wir wertproduktion verstanden, begriffen Effekt schwände aber, so Shii, in dem in der Lage sind, alle Hindernisse zu sie eine Menge weiterer Dinge. Sie sag- Umfang, indem die Austauschbarkeit überwinden.« ten: ›Ich weiß jetzt, warum die großen der Positionen von LPD und DP deut- Dieser Kampf hat sich auch um den Konzerne nicht nur weiterhin Profi t ma- lich werde. Das aber geschehe nicht im Widerstand gegen die Irrungen und Wir- chen, sondern warum sie nicht aufhören Selbstlauf. rungen der Anwendung der marxschen können, so zu handeln.‹ Sie waren be- Lehre gedreht: »In den 1960er Jahren eindruckt von den Vorlesungen über die Das tätige Vorbild der Mitglieder kämpfte die JKP gegen die Einmischun- Theorie der Revolution und sagten, ›nur gen sowohl seitens der KPdSU als auch wenn die Mehrheit der Menschen einer Damit sind wir bei der letzten und wich- der KP um Chinas Mao-Tsetung und war Gesellschaft den Zweck einer Revolution tigsten Lehre dieser 90-Jahr-Feier-Rede erfolgreich in dem Bemühen, dass die versteht, wird sie möglich sein. Um das aus dem fernen Japan für uns zwischen Nachfolger beider Parteien ihre Fehler zu erreichen, sind langwierige und zähe Nordsee und Alpenrand. Ob diese Ein- eingesehen haben.« Seine Partei ha- Aktivitäten notwendig.‹« sicht Platz greife, hänge wesentlich von

PARTEI DISPUT März 2012 20 der Fähigkeit der JKP ab, sie durch eige- Tenno-Regime –, sie war bis in die jet- gesichts ähnlicher Überlegungen in ei- ne Kräfte zu verbreiten – und das ginge zigen Tage immer dann stark und wur- ner noch erfolgreicheren Partei, die in nur durch mehr Mitglieder, eigene Me- de stärker, wenn ihre Mitglieder »den einem großen kapitalistischen Land dien und das tätige Vorbild der Mitglie- Geist in sich trugen, dafür zu arbeiten, wirkt, wohl ganz gut liegen. Zusam- der in der Bevölkerung. den Mühsal der Menschen zu reduzie- mengefasst hat das der japanische Ge- Der Parteivorstand setzt abrechen- ren.« Deutlich geworden sei das bei der nosse in dem schönen Satz: »Wir wer- bare Ziele, die auf die Gliederungen he- praktischen – also nicht nur propagan- den die Stärke der Partei erhöhen, in- runtergebrochen werden: »Wir wollen distischen – Hilfe vieler Parteimitglie- dem wir die drei Grundsätze des Par- einen Anstieg um 50.000 neue Mitglie- der in ihrer Nachbarschaft nach Erdbe- teilebens beherzigen: teilnehmen an der, 50.000 neue Leser unserer Tages- ben, Tsunami und Atomkatastrophe. den Parteiversammlungen, täglich un- zeitung und 170.000 neue Leser unse- Aber auch unterhalb von Katastro- sere Tageszeitung lesen und unseren rer Wochenendausgabe haben, um so phenhilfe entwickle sich die Partei dort Parteibeitrag bezahlen.« Wenn wir das die Grundlagen für einen neuen Auf- am besten, wo ihre Mitglieder sich in erreichen, werden wir dort wie hier or- schwung bei den nächsten Wahlen zu Betrieben und Wohngebieten die Hoch- dentlich vorankommen. legen.« achtung anderer dort lebender Men- Die ganze Rede des Parteivorsitzen- schen erarbeite. 1 In Englisch verfügbar bei: Japan den dreht sich im Kern um die Frage, Press Weekly, [email protected], wie das zu erreichen ist. Er bringt eine Nicht vergessen: Versammlung, ISSN 0287-7112, Special Issue January Reihe von positiven Beispielen und ver- Zeitung, Beitrag 2012, nachfolgende Zitate sind durch allgemeinert das – wiederum mit his- den Autor vom Englischen ins Deutsche torischen Bezügen aus der 90-jährigen Im Grunde wissen wir das seit Bertolt übersetzte Passagen aus dieser Rede Geschichte dieser Partei – grob in fol- Brechts Hinweis, dass sich der Kampf vom 4. Januar 2012. gender Richtung: Egal wie stark die Par- um die Macht im Staat mit dem Kampf tei bekämpft wurde – während des »Pa- ums Teewasser verbinden müsse. Aber Manfred Sohn ist Vorsitzender des zifi schen Krieges« bis hin zur Ermor- es ist beruhigend zu wissen, dass wir Landesverbandes Niedersachsen und dung vieler ihrer Mitglieder durch das mit unserem Konzept »LINKE 2020« an- Landtagsabgeordneter.

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21 DISPUT März 2012 Für ein soziales Hamburg Der wichtigste Schwerpunkt: die drohende wohnungspolitische Katastrophe Von Martin Wittmaack, Landesgeschäftsführer

Mit 6,4 Prozent stellte DIE LINKE bei KE einfordert, ist die Stadt weit ent- DIE LINKE.Hamburg der Hamburger Bürgerschaftswahl am fernt. Auch Scholz‘ Versprechen bei Re- Wendenstraße 6 20097 Hamburg 20. Februar 2011 ihr Wahlergebnis von gierungsantritt: »Wir werden dafür sor- Telefon: 040/3892164 2008 ein. Acht Abgeordnete vertreten gen, dass sich alle das Leben in Ham- [email protected] auch weiterhin unsere Partei im Lan- burg leisten können« klingt wie Hohn in www.die-linke-hamburg.de desparlament. Das eigene Wahlziel, den Ohren der Opfer der tiefgreifenden gestärkt in die Bürgerschaft einzuzie- sozialen Spaltung. hen, konnte nicht erreicht werden. DIE Die Profi teure der Eurokrise und die LINKE hat dennoch, wie gerade in den Banken müssen zur Kasse gebeten Parteientwicklungskonferenz im Janu- folgenden Landtagswahlkämpfen deut- werden! Ohne entschlossenen Kurs- ar 2012 gesetzt. Prof. Michael Vester lich wurde, einen Erfolg erzielt. wechsel in der Steuerpolitik lässt sich eröffnete die Tagung mit einem inter- Die politische Landschaft in Ham- kein Landeshaushalt sanieren. Ham- essanten Referat zum Thema »Aufl ö- burg war im Sommer 2010 in Bewegung burg könnte durch mehr Steuerprü- sung oder Wandel der Klassengesell- geraten: Nach dem Rücktritt des lang- fer, die Millionäre genauer überprüfen, schaft? Differenzierung sozialer Lagen jährigen CDU-Bürgermeisters Ole von mehr Geld einnehmen. Die Politik des und sozialer Mentalitäten«. In Work- Beust und dem gescheiterten Volks- Senats ist jedoch weit davon entfernt. shops wurde engagiert über unsere entscheid für die Einführung einer Mit dem Doppelhaushalt 2011/2012 Politik und weitere Handlungsmöglich- sechsjährigen Primarschule, der von sind die nächsten Runden der konzept- keiten diskutiert. Die Inputreferate von allen Bürgerschaftsparteien inklusi- losen Kürzungspolitik eingeläutet wor- WissenschaftlerInnen, GenossInnen ve der LINKEN unterstützt worden war, den: Gekürzt und gestrichen wird bei oder BündnispartnerInnen boten An- scheiterte im Spätherbst 2010 die ers- Investitionen, der sozialen Infrastruk- lass zu Erfahrungsaustausch und kon- te schwarz-grüne Landesregierung und tur, bei der Beschäftigungspolitik und troversen Diskussionen. Rollenspiele vorgezogene Neuwahlen waren die Fol- beim öffentlichen Dienst. zum Thema Mitgliedergewinnung und ge. Im Ergebnis konnte die SPD unter Kommunikation ließen die Teilnehmer Ex-Arbeitsminister Olaf Scholz mit gut Pluralität muss gelebt werden erkennen, wie viel Spaß Parteientwick- 48 Prozent der Stimmen die absolu- lung bringen kann. te Mehrheit erreichen. Die FDP schaff- Im Gefolge der Bürgerschaftswahlen ist te in dieser Situation mit 6,7 Prozent auch deutlich geworden, dass DIE LIN- Diskussionen führen, Proteste seit mehreren Legislaturperioden erst- KE in Hamburg noch eine junge Partei stärken, Widerstand entwickeln mals wieder den Einzug in die Bürger- ist, die sich fi nden muss. Rücktritte aus schaft, die GAL musste mit 11,2 Prozent dem Landesvorstand im April, nach der DIE LINKE war und ist auch in dieser Le- Verluste hinnehmen. All dies passierte Bürgerschaftswahl, haben deutlich ge- gislatur Opposition aus Überzeugung, noch vor der Katastrophe von Fukushi- macht, dass Klärungsprozesse ange- ohne dass der Anspruch, einen grund- ma, und auch der neue Stern der Pira- schoben werden mussten. Viele partei- legenden Wechsel der Politik durchzu- ten (2,1 Prozent) war noch nicht aufge- interne Debatten, die im ganzen Bun- setzen, aufgegeben werden darf. In der gangen. desgebiet geführt wurden, haben auch Bürgerschaft ist diese Oppositionsrolle Jedes vierte Kind in Hamburg lebt uns nicht gut getan. Die Streitereien um nicht einfacher geworden, weil sich in- in Armut. Die Wohnungsnot wird im- Mauer, Kommunismus oder Antisemi- zwischen mit der CDU, der FDP und der mer schlimmer, es fehlen Sozialwoh- tismus haben zu Austritten geführt und GAL drei konkurrierende Parteien als nungen und die Mieten steigen dra- machen eines deutlich: DIE LINKE kann Opposition zu profi lieren versuchen – matisch. Schulbibliotheken werden – auch im Westen – nur als plurale Par- in der vorigen Legislaturperiode hatte geschlossen, die Fahrkarten für Bus- tei funktionieren, in der die Mitglieder dagegen die SPD als quasi einzige Mit- se und Bahnen werden immer teurer, gegenseitig akzeptieren, dass die welt- Oppositionspartei den Charme einer viele Menschen sind arm trotz Arbeit. anschaulichen Grundpositionen breit Staatspartei für Hamburg nicht aufge- Sie können von ihrem Lohn nicht leben gefächert sein müssen. Die Kunst der geben. In den aktuellen Auseinander- und sind zusätzlich auf Hartz IV ange- Politik der LINKEN muss es sein, in die- setzungen kommt der SPD und ihrem wiesen. Hamburg ist die Hochburg der sem Rahmen eine gemeinsame, mas- Bürgermeister Olaf Scholz genau die- schlecht bezahlten Leiharbeiter/innen. senwirksame Politik für die aktuellen ser Habitus, der es uns einfach mach- Gegenüber Flüchtlingen exekutiert der Auseinandersetzungen zu formulieren: te, uns als die Opposition in Hamburg SPD-Senat eine eiskalte Abschiebepo- von konkreten Reformschritten bis hin zu profi lieren, zugute. Auch wenn vie- litik, die mit dem Anspruch einer welt- zu grundlegenden Alternativen. le der Korrekturen nur halbherzig er- offenen und toleranten Stadt nicht ver- Aber auch die Form, wie wir uns in folgten oder, bis auf Details, eigent- einbar ist. der Gesellschaft bewegen, die Struktu- lich gar keine Korrektur vorgenommen Dies sind Schlaglichter auf die sozi- ren, mit denen wir arbeiten, spiegeln wurde, prallt Kritik in der öffentlichen ale Lage in Hamburg zum einjährigen wider, dass wir lernen müssen, besser Wahrnehmung zumindest auf der Ebe- Amtsjubiläum von Olaf Scholz. Von ei- gemeinsam zu handeln. ne von Umfragen an der SPD ab. Zur- nem grundlegenden Politikwechsel für Einen wichtigen Akzent hat der Lan- zeit scheint die absolute Mehrheit für ein soziales Hamburg, wie ihn DIE LIN- desverband in diesem Bereich mit der die SPD stabil.

LANDESVERBAND DISPUT März 2012 22 Selbstverständlich war DIE LINKE DEMNÄCHST aktiv auf der Straße, um Volksbegehren zu unterstützen und sich an außerpar- lamentarischen Aktivitäten zu beteili- gen. Im Frühjahr 2011 fand wie in vie- len deutschen Städten eine der größ- ten Demonstrationen seit Jahren statt. Mehr als 100.000 Menschen demonst- rierten für den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraftnutzung. Im Sommer gelang es, für die zwei- te Stufe einer Volksinitiative zur Re- Jubiläen und Jahrestage nimmt die erste ostdeutsche Landes- kommunalisierung der Energienetze in verfassung an. 15. März Hamburg mit wesentlicher Unterstüt- Weltverbrauchertag zung der LINKEN über 110.000 Unter- Termine schriften zu sammeln. Der SPD-Senat 18. März 1848 bis 15. März versucht dies dadurch auszubremsen, Vorläufi ger Höhepunkt einer langen Sitzungswoche im Europaparlament revolutionären Entwicklung: Bei einer dass die Stadt sich mit 25,1 Prozent an 17. März Versammlung vor dem Berliner Stadt- den Netzen beteiligt und ansonsten Beratungen der Kreisvorsitzenden, schloss kommt es zum bewaffne- die Macht der Atomkonzerne e.on und Hannover Vattenfall nicht antastet. Die Entschei- ten Kampf zwischen oppositionellen dung in dieser Frage fällt wahrschein- Bürgern und Militär. Heftige Straßen- 18. März lich im Rahmen eines Volksentschei- und Barrikadenkämpfe fordern meh- Wahl der Bundespräsidentin/des des parallel zu den nächsten Bundes- rere hundert Tote. Am 19. März wird Bundespräsidenten tagswahlen. König Friedrich Wilhelm IV. gezwun- 19. bis 23. März Der wichtigste Schwerpunkt, an dem gen, vor den aufgebahrten »Märzge- Sitzungswoche im Bundestag fallenen« seine Mütze zu ziehen. DIE LINKE in Hamburg in den nächsten 24. März Monaten ansetzen will, ist die drohen- 18. März 1962 Kleiner Parteitag Sachsen de wohnungspolitische Katastrophe: Vertrag über Beendigung des Steigende Mieten, das massenhafte Algerienkrieges wird unterzeichnet. 25. März Auslaufen der Sozialbindungen, jahr- Algerien erlangt seine Unabhängig- Landtagswahl im Saarland zehntelange Defi zite im sozialen Woh- keit. nungsbau, leerstehende Büroräume, 18. März 1990 Aufwertung von innerstädtischen Quar- Wahl der letzten Volkskammer der tieren und Verdrängung von MieterIn- DDR Richter © Stefan nen oder last but not least die Nichtan- 20. März 2002 passung der Mietobergrenzen für So- Kabinettsbeschluss macht den Weg zialgeld- und Hartz-IV-Betroffene sind frei fürs Dosenpfand (ab 1.1.2003). Stichpunkte von Themen der Auseinan- dersetzung. 21. März Internationaler Tag zur Beseitigung Gemeinsam mit Initiativen und der Rassendiskriminierung PartnerInnen Welttag der Poesie 23. März Unter unserem Motto »Für ein soziales 26. März Equal Pay Day/Tag der Entgeltgleich- Hamburg« lädt die Bürgerschaftsfrakti- Sitzung Parteivorstand, vorher heit on Ende März zu einer Stadtpolitischen Geschäftsführender Parteivorstand, Berlin Konferenz ein, um gemeinsam mit Bür- 24. März gerInnen, mit Initiativen und PartnerIn- Internationaler Tag für das Recht auf 26. bis 30. März nen aus sozialen Bewegungen – nicht Wahrheit über schwere Menschen- Sitzungswoche im Bundestag rechtsverletzungen und für die nur in diesem zentralen Politikfeld – Al- 28. und 29. März Würde der Opfer ternativen zu diskutieren und gemein- Sitzungstage im Europäischen sam neue Handlungsoptionen zu eröff- 30. März Parlament nen. 100. Todestag von Karl May Ende April wollen wir dann versu- 30. März 2. April 1982 Plenarsitzung Bundesrat chen, die Stränge der Weiterentwick- Beginn des Falklandkrieges lung der Partei und der Politikentwick- 5. bis 9. April (bis 20. Juni) lung auf dem nächsten ordentlichen Ostermärsche Parteitag zusammenzuführen: Nach ei- 4. April 12. und 13. April ner geplanten Satzungsänderung Ende Nationaler Tag der älteren Generation Beratung der Parlamentarischen März, um den Landesvorstand als koor- 7. April Geschäftsführer/innen und der dinierendes Leitungsgremium zu stär- Weltgesundheitstag Fraktionsvorsitzenden, Erfurt ken, stehen dann Vorstandsneuwahlen und ein wohnungspolitisches Aktions- 9. April 1982 14. und 15. April Sitzung Parteivorstand, vorher programm als Schwerpunkte auf der Ta- Robert Havemann stirbt. Geschäftsführender Parteivorstand gesordnung. Auf in die nächste Runde 14. April 1992 für soziale Gerechtigkeit! Der brandenburgische Landtag Zusammenstellung: Daniel Bartsch

23 DISPUT März 2012 Platz für »Weltverbesserer« Wie der Unternehmer Rainer Lindner (Bayern) seinen Weg zur LINKEN fand und seinen Platz in ihr immer wieder neu sucht

Rainer Lindner gründete während des zulernen bei jedem Projekt im Vorder- Klingt verwirrend. Wie kann man akti- Studiums sein erstes Unternehmen grund. Für mich haben Freiheit und ve politische Arbeit und einen zeitlich und arbeitet seither in den Bereichen neue Dinge zu erfahren einen höheren sehr aufwendigen Beruf miteinander Softwareentwicklung, Management- Stellenwert als Vermögen. vereinbaren? training und zuletzt gut zehn Jahre im Überhaupt nicht. Ich bin 2008 mit Consulting. In den Untiefen des Ka- Was treibt jemanden wie dich in die Ar- Mitgliedern der Partei zufällig in Kon- pitalismus verwoben, beschloss vor me einer Partei wie DIE LINKE? takt gekommen. Daraus ergab sich eine knapp drei Jahren der »Klassenfeind« (lacht) Wenn ich meine Lebensge- Zusammenarbeit, sozusagen als »ex- von einst, in DIE LINKE einzutreten. Ei- schichte betrachte, könnte man den- terner Berater mit Honorarverzicht«, ne Zwischenbilanz. ken »Altruismus«. Aber ich meine, es im Bereich Parteiaufbau, Mitglieder- ist eine gehörige Portion Egoismus, werbung und Durchführung politischer Rainer, zunächst bitte kurz etwas zu die letztendlich den Ausschlag gege- Veranstaltungen. So bin ich auch in deiner Person. ben hat. Ich habe, auch wenn es mir Kontakt mit der bayrischen LINKEN ge- Ich bin 46 Jahre alt, verheiratet, selbst relativ gut geht, sehr wohl wahr- kommen, und beim Parteitag 2008 war Oberfranke (Bayreuth), Landesverband genommen, was die amtierenden Re- der Entschluss gereift: Hier kannst du Bayern, Kreisverband Coburg, stolzer gierungen mit »meinem Land« anstel- was bewegen, hier ist so viel Energie Besitzer von gut tausend Stofftieren, len. Ganz besonders unser Sozialsys- und Entschlossenheit spürbar, da kann Nachtmensch, Langschläfer, war in Ju- tem wurde step-by-step auf ein System man sich sinnvoll einbringen. Im Som- gendzeiten Musiker und habe irgend- amerikanischer Prägung hin verscho- mer 2009 war ich dann Parteimitglied. wann mal BWL studiert. ben. Erst die massivste Umverteilung von Vermögen im Zuge der Wiederver- Und dein Beruf? Bist du letztendlich selbst ein Kapita- einigung, dann Gesundheitsreform, Anfangs habe ich beide Aufgaben list? Auslandseinsätze der Bundeswehr und parallel betrieben. Ich habe aber sehr Klares Nein. Für mich waren Gewinn- als Gipfel die Agenda 2010 mit staat- schnell gemerkt, dass beides zusam- streben, Gewinnmaximierung und gar lich sanktionierter Sklavenhaltung men nicht möglich ist: Im Consulting das böse Wort Ausbeutung nie ein The- durch Hartz IV. Als Einzelperson kann gibt es keine festen Arbeitszeiten, man ma. Sicherlich, als Unternehmer muss man relativ wenig dagegen tun, somit ist oft für Monate irgendwo unterwegs. man so viel erwirtschaften, dass man liegt der Anschluss an eine Partei na- Deshalb beschloss ich, meine berufl i- seine Kosten decken, etwas als Over- türlich nahe. Da DIE LINKE die einzige chen Aktivitäten einzustellen. Meine head zurücklegen und selbst mit sei- Partei ist, die sich an der ganzen Mise- beiden Firmen wurden inklusive Mit- ner Familie auch leben kann. Es mag re nicht mitschuldig gemacht hat, war arbeitern von einem guten Freund, der komisch klingen, aber für mich stand klar, dass nur dort der richtige Platz für in der gleichen Branche tätig ist, über- immer der Spaß an der Arbeit, das Hin- einen »Weltverbesserer« sein kann. nommen. Ein Kassensturz hat mir ge- zeigt, bis Ende 2014 kann ich mich voll und ganz der Politik widmen. Quasi als »ehrenamtlicher Berufspolitiker«. © privat (lacht)

Also eine Politkarriere als zweites Standbein? Defi nitiv nicht. Als Abgeordneter hat man – betreibt man den Job ernsthaft – locker 50 Wochenstunden, fast kei- ne freien Wochenenden, Arbeitszei- ten werden von Sitzungsplänen vorge- geben. Das ist nicht unbedingt meine Welt. Ich bin seit über 20 Jahren selb- ständig und konnte meine Arbeitszeit immer frei einteilen. Ich bin schein- bar (noch) Kapitalist genug, dass ich mir den Job eines Abgeordneten für Unsere Partei ist die geltenden Diäten nicht antun wür- defi nitiv anders. de. Dann lieber weniger Geld, aber frei Sie ist verrückt, und zufrieden sein. Leider gibt es in un- teilweise chao- serer Partei noch genügend Leute, die tisch, hat aber das für Koketterie halten. Da ist es egal, sehr viel spürbare wie oft man sein Statement wiederholt, Seele. man wird als Konkurrent um Listenplät-

MITGLIED DISPUT März 2012 24 ze betrachtet und – leider – oft auch so Ich höre da viel Resignation. Ist die tions- und Informationsstrukturen zu behandelt. Karriere schon beendet? reformieren. Im Kreisvorstand Coburg Defi nitiv nein. Ich bin in die Partei bin ich für Medien, Kommunikation, Du bist nicht mit offenen Armen in der eingetreten, um dort bis Ende 2014 ak- Mitgliederbelange und Vorbereitungen Partei empfangen worden? tiv zu bleiben. Je stärker manche ver- der Wahlkämpfe 2013/14 zuständig. In den ersten Wochen schon. Solan- suchen, mir durch Ausgrenzung die Im Vorstand der Landesarbeitsgemein- ge man schön abnickt was andere vor- Freude zu nehmen, desto stärker wird schaft Laizismus versuche ich, die Tren- sagen, ist man Everybody’s Darling. meine Motivation. Wer gut 15 Jahre nung Staat von Kirchen in Bayern mit Zeigt man jedoch, dass man sehr wohl Consulting im internationalen Umfeld voranzutreiben, und ansonsten arbei- ein eigenes Gehirn hat, dieses auch übersteht, dem können fünf Jahre DIE te ich noch in einigen Arbeitskreisen in zum Denken und Handeln benutzen LINKE bestimmt nicht aus der Ruhe diversen Landesverbänden mit. kann, und trägt man dann auch noch bringen. Manche GenossInnen sehen das seine Unabhängigkeit als Aushänge- Wenn ich in einen Raum komme, schon als unerlaubte Ämterhäufung schild herum, wird man sehr schnell weiß ich nach fünf Minuten die Dinge, an. Eventuell werde ich im April noch zum Feindbild erklärt. Zuerst ist man die dort nicht stimmig sind oder ver- einmal für den Landesvorstand kandi- der »kapitalistische Klassenfeind«, bessert werden könnten. Je länger ich dieren, da ich absolut davon überzeugt dann mutiert man zum Mitarbei- dort verweile, desto länger wird die Lis- bin, dass in Bayern in Bezug auf Struk- ter des Verfassungsschutzes bis hin te. Ähnlich ist es mit unserer Partei. An- tur, Transparenz und Medien noch sehr zum »Zerstörer im Auftrag bestimm- fangs war die Liste vielleicht eine Sei- viel getan werden muss, um Chancen ter Strömungen« innerhalb der Partei. te lang, mittlerweile füllt sie drei Bü- auf einen Landtagseinzug zu haben Es kostet sehr viel Zeit und Energie, cher. Dumm ist, ich zeige diese Bücher (meine Prognose steht bei 5,7 Prozent). diese per Mundpropaganda verbrei- in meiner Heimat jedermann und biete teten Botschaften bei den GenossIn- Verbesserungen an. Man sagt manch- Was ist dein Fazit nach zweieinhalb nen wieder zu korrigieren. Glücklicher- mal brav Danke, legt das Buch weg und Jahren DIE LINKE? weise kann man diese »Imagekampa- macht weiter wie bisher. Sehr unbefrie- Unsere Partei ist defi nitiv anders. gne« mit vielen Gesprächen in der Ba- digend, weniger für mich als für die Par- Sie ist verrückt, teilweise chaotisch sis leicht entlarven. Aber ein schönes tei. (nicht unbedingt im negativen Sinne), Gefühl ist das nicht, wenn man grund- hat aber sehr viel spürbare Seele. Es los an vielen Ecken ausgegrenzt und Zur Politik: Was sind deine Ziele, dei- gibt viele Meinungen, eine in weiten ignoriert wird. ne Positionen? Teilen gesunde und produktive politi- Ich verfolge die Ziele, die in unse- sche Streitkultur und eine sehr sozia- Dann war das somit eine Wandlung rem Parteiprogramm defi niert sind. In le Ausrichtung. Sie hat das Potenzial, vom Saulus zum Paulus? Detailfragen (der Weg zum Ziel) gibt es das Bewusstsein unserer Bevölkerung Ich habe mich ja nicht verändert. Ich marginale Abweichungen. Würde ich dahingehend zu verändern, die Begrif- bin so, wie ich bin. Mein soziales Ge- nicht für diese Ziele eintreten wollen, fe sozial, miteinander und Solidarität wissen verdanke ich meiner Erziehung. wäre ich nicht in der Partei. wieder mit Leben und Inhalten zu fül- Loyalität und Solidarität sind schon im- Mein politischer Schwerpunkt ist len. Besonders in einigen westlichen mer Grundpfeiler meines Lebens gewe- ganz klar das Gesundheitssystem. Ge- Landesverbänden fehlt noch eine funk- sen, egal in welchen Bereichen. sundheit vom individuellen Vermögen tionierende Grundstruktur und oftmals abhängig zu machen ist für mich unter- auch der Wille, diesen Status quo über- Das verkannte Genie …? lassene Hilfeleistung. Dicht dahinter haupt zu ändern. Nein, ich bin ein Teamplayer. Ich kommt die Abschaffung der in weiten Nicht so gut gefällt mir das in eini- strapaziere da immer ein wenig meine Teilen menschenunwürdigen Behand- gen Landesverbänden permanent vor- musikalischen Wurzeln. Politik ist wie lung von Hartz-IV-Beziehenden. Wie so handene Misstrauen untereinander. In ein Orchester. Ein hervorragender Gei- etwas mit Demokratie und Menschen- vielen Bereichen der Partei steht mei- ger und eine exzellente Flötistin brin- rechten vereinbar sein soll, entzieht nes Erachtens der Machtanspruch und gen was, reißen einen aber nicht vom sich meiner Fantasie. Danach kommen die Schaffung von Machtstrukturen zu Hocker. Also nehme man noch Blä- die Themen Kampf gegen Nazis, Um- sehr im Vordergrund. Ich stehe da auf ser, ein Harfe, ein paar Violinen und ei- weltpolitik und Regulierung der Finanz- dem Standpunkt: Lasst uns zuerst ei- ne gute Percussion dazu, dann klingt und Kapitalstrukturen. Ich vermeide nen Kuchen backen und dann um die das schon besser. Noch eine Solistin den Begriff »Finanzmärkte«, da die Ur- Stückchen streiten, anstelle schon und einen profunden Chor, voila: er- sachen keineswegs im Marktumfeld bei den Zutaten um einzelne Krümel freut das Herz. Ähnlich sehe ich Par- gesteuert werden, sondern es sich hier- zu kämpfen. So bekommt man näm- teiarbeit. Jeder hat bestimmte Fähig- bei um eigenständige, von den Märk- lich nie einen Kuchen, um beim Bild zu keiten, die Kunst besteht darin, diese ten isolierte Machtstrukturen handelt. bleiben. zu bündeln und dann im Team »erklin- Das Bedingungslose Grundeinkommen Ich vermisse häufi g die Offenheit. gen« zu lassen. Dann kommt man vor- sehe ich als erstrebenswertes Endziel Transparenz ist ein wichtiger Bestand- wärts. Ich bediene einige Instrumen- unserer Politik, und eine grundlegen- teil für gute Leistungen. In Führungspo- te meiner Meinung nach sehr gut, war- de Reform der Bildungspolitik ist uner- sitionen wird zu oft an die eigene Karri- um soll man mich dann nicht mitspie- lässlich. Selbstredend hat unsere Bun- ere gedacht und dementsprechend kin- len lassen, wenn es die Instrumente im deswehr außerhalb der Landesgrenzen dische Ausgrenzung von GenossInnen Orchester noch nicht gibt? Und jeder nicht zu kämpfen. gefördert. Diese Energie sollte lieber spielt eben das, was er kann – bringt zum Wohle der gesamten Partei einge- somit seine Stärken ein, die Schwä- Was sind deine aktuellen/zukünftigen setzt werden. Aber alles in allem fühle chen des Einzelnen kompensiert weit- Aufgaben? ich mich hier sehr wohl und bin tief von gehend das Team. Es könnte so einfach Ich bin im Landesvorstand und ver- dem Engagement und der Motivation sein. suche dort redlich, die Kommunika- der vielen GenossInnen beeindruckt.

25 DISPUT März 2012 Das kleine gallische Dorf LINKE-Politik in Bremen. Die Bürgerschaftsfraktion in ihrer zweiten Runde Von Kristina Vogt

Am 22. Mai 2011 muss nun jährlich 120 Millionen Euro LINKE-Fraktion in der Bremer ist der LINKEN in einsparen, um die Neuverschuldung Bürgerschaft Bremen erstmals bis 2020 auf Null zu senken. Im Koali- Tiefer 8, 28195 Bremen in den Westbun- tionsvertrag wurde folgerichtig ein Kür- Telefon: 0421/2052970 © DIE LINKE.Bremen desländern nach zungsprogramm für den öffentlichen www.linksfraktion-bremen.de einer vollen Le- Dienst beschlossen, was die Leistun- gislatur der Wie- gen mittelfristig auf ein nicht mehr halt- dereinzug in ei- bares Minimum reduziert. In den kom- nen Landtag ge- munalen Kliniken, in Schulen, Uni und in Bremen besondere Brisanz: Bremen lungen. Allerdings erhielt DIE LINKE Hochschulen, in Kitas, bei Feuerwehr, ist nicht nur das ärmste Bundesland, nur noch 5,6 Prozent der Stimmen. Von Polizei, aber auch im Stadtamt soll in sondern auch das Bundesland mit der den fünf Abgeordneten sind drei neu dieser Legislatur noch mehr Personal zweithöchsten Millionärsdichte. dabei. Der Stimmenverlust ist auf ei- eingespart werden. In den vergangenen neun Mona- nige Faktoren zurückzuführen: In Bre- Die Koalition ist dabei nicht zwin- ten ist uns viel gelungen: Der Kontakt merhaven verlor DIE LINKE ihr Mandat, gend homogen: Während die SPD wider zu den genannten Organisationen und dort wurde die Fünfprozenthürde nicht besseren Wissens öffentlich von höhe- politischen Gruppen in Bremen ist gut, mehr erreicht. Das neue personalisier- ren Einnahmen nach der nächsten Bun- unsere Arbeit wird von den Medien te Wahlrecht hat insbesondere der LIN- destagswahl fabuliert, kürzen die Grü- häufi g und positiv aufgenommen. Es KEN geschadet. Zudem ist die Wahlbe- nen durchaus aus politischer Überzeu- gibt Bereiche, in denen die Fraktion die teiligung in den armen Ortsteilen auf gung. Weniger Staat ist bei ihnen Pro- öffentliche Debatte bestimmt. Gleich 40 Prozent gesunken, hier hat auch DIE gramm, folgerichtig schleuderte mir zu Beginn der Legislatur versuchte die LINKE die Menschen nur noch zum Teil die grüne Finanzsenatorin während ei- Bildungssenatorin, 60 Lehrerstellen zu erreicht. Neben der bundespolitischen ner Fernsehdebatte im Wahlkampf ent- kürzen. Wir haben uns unverzüglich Großwetterlage gab es hausgemachte gegen, sie könne unser Gejammer über mit Gewerkschaftern, Eltern und Kom- Probleme: Die Parteifi ndung war nach Armut nicht mehr hören. Die Regierung munalpolitkerInnen getroffen, parla- 2007 mühselig und die alte Fraktion in Bremen verwaltet den Mangel und hat mentarische Initiativen abgesprochen in der vorangegangenen Legislatur zu resigniert; die zweite Oppositionspar- und ein Bündnis von SchülerInnen, El- wenig außerhalb des Parlaments ak- tei, die CDU, ist in sich zerstritten und tern und LehrerInnen angeregt. Dieses tiv. Gerade die letzten beiden Faktoren konzeptlos. Es ist also unsere Aufgabe, Bündnis hat zusammen mit dem eben- spielen in der politischen Neuorientie- die Regierung zu treiben. Die Bedingun- falls neu gegründeten Schüler/innen- rung der Fraktion eine große Rolle: Wie gen wurden seitens der Bürgerschaft kollektiv FortBildung Demonstrationen erreichen wir in Bremen die Menschen erschwert: Koalition und CDU haben gegen die Bildungspolitik des Senats wieder, die seit Jahren ausgegrenzt gleich zu Anfang unsere Fraktionsmittel organisiert. Die Schüler/innen haben sind, und wie intensivieren wir die Zu- im Vergleich zu den zuletzt fünf Abge- über Monate hinweg Schulen besetzt sammenarbeit mit Organisationen, Ver- ordneten der vorigen Legislatur um ein und Aktionen durchgeführt. Die Frakti- bänden und Gewerkschaften? Viertel gekürzt. Der Mangel an Ressour- on hat die Aktionen auf der Straße und Die politische Großwetterlage in cen macht sich natürlich bemerkbar. mit Anträgen in der Bürgerschaft be- Bremen ist festgefahren: Jede dritte Auf Grund der Wahlanalyse, der Tat- gleitet und steht seitdem im regelmä- Bremerin, jeder dritte Bremer ist ein- sache, dass unsere Anträge eh immer ßigen Austausch mit den Beteiligten. kommensarm, 120.000 Bremer/innen abgelehnt werden und das Parlament Auf Druck der Fraktion wurde in der sind zum Teil seit zwei Generationen angesichts der Haushaltslage faktisch Bürgerschaft das Hafenbetriebsgesetz auf Sozialleistungen angewiesen. Bre- sowieso nichts mehr zu entscheiden geändert, um einen Teil der Atomtrans- men ist bundesweit die Hochburg der hat, haben wir uns zu Beginn der Le- porte über bremische Häfen zu stop- Leiharbeit, jede zweite offene Stelle ist gislatur komplett umorientiert. Parla- pen. DIE LINKE wird weiterhin mit an- eine Leiharbeitsstelle. Ein Viertel aller mentarische Initiativen besprechen deren Organisationen daran arbeiten, Bremer/innen sind Migranten, viele wir mit Organisationen, Personalräten dass Atomtransporte überhaupt nicht von ihnen leben in verfestigter Armut. und Gewerkschaftern, der Fokus ist da- mehr stattfi nden. Demnächst wird ein Die Einnahmenseite ist prekär, gleich- bei mehr denn je darauf gelegt, aus der von uns initiiertes Volksbegehren star- zeitig ist Bremen das Bundesland mit Bürgerschaft hinauszuwirken. Zudem ten. Auch in der Friedenspolitik und in dem höchsten Schuldenstand. In 12 betrachten wir es auch als unsere Auf- der Debatte um Neonazis und den Ver- Jahren großer Koalition wurde viel Geld gabe, eine öffentliche Diskussion um fassungsschutz bestimmt die Frakti- für unsinnige Investitionsruinen ver- die Umverteilung gesellschaftlichen on das Geschehen. Im Sommer hat die pulvert, und zur Refi nanzierung wur- Reichtums voranzutreiben. Denn vor Fraktion die Debatte um die Zivilklau- den mal eben 2.000 Lehrerstellen ab- allem jüngere Menschen bewerten öf- sel und Stiftungsprofessuren von Rüs- gebaut. Die seit 2007 regierende rot- fentliches »Sparen« positiv, die Diskus- tungsfi rmen aufgegriffen und sich mit grüne Koalition hatte nichts Besseres sion um gerechtere Verteilung wird oft dem Friedensforum, dem AStA der Uni zu tun, als die Schuldenbremse aktiv in als Neiddebatte diffamiert. Diesen Dis- und anderen Gruppen zusammenge- den Bundesrat einzubringen. Bremen kurs öffentlich anders zu gestalten, hat setzt. Resultat ist eine von der Frakti-

FRAKTION DISPUT März 2012 26 on mit herausgegebene Broschüre zum insgesamt weniger stromlinienförmig menarbeit mit dem Landesverband Rüstungsstandort Bremen. Die Fraktion verhält, wird allenthalben begrüßt. deutlich konstruktiver als bisher. Es hat mit großem Medienecho in der Bür- Im Dezember hat die Fraktion in Ko- gibt gemeinsame Arbeitsplanungen, gerschaft debattierte Anfragen zu Bun- operation mit der Landtagsfraktion aus wichtige politische Diskussionen führt deswehr an Schulen und Forschungs- Niedersachsen eine Idee der GenossIn- die Fraktion nicht isoliert, sondern mit aufträgen Bremer Rüstungsfi rmen an nen aus Hannover umgesetzt und in der Partei gemeinsam. Unsere nächs- Uni und Hochschulen gestellt. Nach- Bremen und Bremerhaven eine eben- ten Schwerpunkte werden im Bereich dem bis zum Sommer 2011 Nazis un- falls erfolgreiche Aktion zum Mindest- Gesundheitspolitik, sozialer Woh- gestört mehrfach und bundesweit be- lohn durchgeführt. Da die SPD Ende nungsbau und Kitabetreuung liegen. achtet aufmarschieren durften, Anti- 2011 angekündigt hatte, einen Gesetz- In der Bürgerschaft können wir ange- faschistInnen kriminalisiert und vom entwurf für einen Landesmindestlohn sichts der Mehrheitsverhältnisse we- Verfassungsschutz angesprochen wur- in Höhe von 8,50 Euro in die Bürger- nig ausrichten. Wir werden weiterhin den, hat die Fraktion Anfragen gestellt, schaft zu bringen, stellte die Fraktion versuchen, die öffentliche Diskussion die in den Medien ebenfalls Beachtung ihr Abstimmungsverhalten in der Bür- zu beeinfl ussen und die rot-grüne Re- fanden und den Druck auf die Innenbe- gerschaft dem Landesparteitag zur Dis- gierung in Erklärungsnöte zu bringen. hörde erhöht haben. Im Dezember kam kussion. Die Fraktion hielt sich an das Der Wille und die Kraft sind da. es in der Bürgerschaft zu Tumulten, als Votum des Parteitages (Enthaltung), wir in der Debatte um den NSU-Terror nachdem in der Bürgerschaft zuvor un- Kristina Vogt ist die Vorsitzende der auf die Situation in Bremen hingewie- ser Änderungsantrag auf zehn Euro ab- LINKE-Fraktion in der Bremer Bürger- sen hatten. Dass die neue Fraktion sich gelehnt wurde. Sowieso ist die Zusam- schaft.

nen und klarzustellen, dass sich die AWG von deren Gedankengut distan- Mit Dolmetscher in die ziert. Ansonsten verliere die Wählerge- meinschaft jegliche Glaubwürdigkeit Ratssitzung und politische Legitimation. »Anstatt die Arbeit von LINKEN-Politikern durch Charlotte Lenzen (Niedersachsen): unverschämte Bespitzelung zu behin- Erste Erfahrungen in der Kommunalarbeit dern, sollte der Verfassungsschutz sich besser mit derlei unzumutbaren Gege- benheiten befassen«, betonte Charlot- te Lenzen. Im August-Heft 2011 hatte DISPUT Char- stellen zu können – das konnte Stun- DIE LINKE im Landkreis Leer hatte lotte Lenzen als Kommunalkandidatin den dauern. Ab sofort können sich Ein- durch einen engagierten Wahlkampf im Landkreis Leer (Niedersachsen) vor- wohnerinnen und Einwohner jeweils ihr Kommunalwahlergebnis um 1,1 Pro- gestellt. Am 11. September ist sie dann zu Beginn und zum Ende einer Sitzung zent erhöhen und die Zahl ihrer kom- in den Kreistag und in den Rat ihrer Hei- je 15 Minuten mit ihren Hinweisen und munalen Mandate verfünffachen kön- matgemeinde Westoverledingen ge- Fragen beteiligen. nen, seit September 2011 hat sie eine wählt worden. Was hat sie in ihrer neu- Ebenfalls auf Antrag der LINKEN eigene Kreistagsfraktion. en Funktion erlebt, was war ihr seither nahm der Kreistag die Pfl egebetreu- In ihrer Heimatgemeinde Westover- besonders wichtig? ung in die Entschädigungssatzung mit ledingen sorgte die neue Abgeordne- auf. Dadurch wurde direkt die Stunden- te Ende des vorigen Jahres für einen Im Kreistag Leer pauschale von 12 auf 17 Euro erhöht. Hauch von internationaler Politik im

© privat mischt DIE LIN- Mehrere Gemeinden nahmen sich an Rathaus. Da traditionell die letzte Sit- KE kräftig mit. der Kreistagsentscheidung ein Beispiel zung eines Jahres in plattdeutscher Die Fraktionsvor- und zogen nach. Sprache abgehalten wird, fand diese sitzende Charlot- Die LINKE-Fraktionsvorsitzende ent- Sitzung – wie sonst bei internationa- te Lenzen nahm deckte den Namen eines Politikers der len Tagungen – mit einem Dolmetscher durch ihren An- AWG (Allgemeine Wählergemeinschaft) statt. Denn die neue, im Rheinland ge- trag, die Bürge- auf einer Spendenliste für die NPD und borene Ratsfrau hatte Verständnisbe- rinnen und Bür- reagierte sofort. Für Charlotte Lenzen denken angemeldet: »Im Plattdeut- ger stärker in Entscheidungen einzu- ist die Spende des AWG-Mannes ein schen fühle ich mich nicht so sicher, binden, pressewirksam die Parteien in Skandal. »Nachdem bereits das AWG- dass ich guten Gewissens Entscheidun- die Pfl icht, ihre Wahlversprechen auch Kreistagsmitglied Gerd Koch mehrfach gen treffen könnte«, gestand sie und einzulösen: »Den Forderungen der Bür- durch rassistische Äußerungen und scherzte: »Im Notfall müsste ich mich gerinnen und Bürger nach mehr Trans- zuletzt durch Beleidigungen hinsicht- ohne Übersetzer der Stimme enthal- parenz, Demokratie und Bürgerbetei- lich der Homosexualität des ehemali- ten.« Bürgermeister Lüpkes lenkte ein ligung muss Rechnung getragen wer- gen Wehrbeauftragten Reinhold Robbe und freute sich: »Ich fi nde es toll, dass den. Sie dürfen keine leeren Worthül- in Erscheinung getreten ist, wird jetzt Frau Lenzen sich auf meine Idee mit sen bleiben.« ein AWG-Politiker als Spender für die dem Dolmetscher einlässt. Sie hätte Mit großer Mehrheit folgten die Ab- faschistische NPD geoutet«, empör- auch verlangen können, dass wir Hoch- geordneten dem Antrag und regelten te sie sich. In einer Presseerklärung deutsch sprechen, aber dann wäre die- die Einwohnerfragestunde neu. Früher forderte sie im Namen ihrer Fraktion se tolle Plattdeutsch-Tradition wohl ein mussten Zuhörer der Kreistagssitzung die weiteren gewählten AWG-Politiker für alle Mal verloren gegangen. Herzli- bis zum Schluss warten, um Fragen auf, sich von solchen Leuten zu tren- chen Dank, Frau Lenzen!«

27 DISPUT März 2012 MITGLIED Veränderter Blickwinkel Gibt es eine feministische Bildungsarbeit? Von Annegret Gabelin

DIE LINKE versteht sich als feministi- tischen Bildungsarbeit ist eine Quer- Nächstes Seminarangebot sche Partei und hat diesen Gedanken schnittsaufgabe. Das heißt für uns für Teamerinnen der innerparteilichen in ihrem Programm verankert. Der kon- auch zu klären, welche Zielgruppen wir Bildungsarbeit: »Frauen fi t für Vor- krete Zustand der Partei verlangte aber, konkret ansprechen und welche Be- stände – Vorstände fi t für Frauen?« ein Konzept zur Herstellung von Ge- dürfnisse diese haben (Insbesondere 31.3./1.4.2012, Buntes Haus Bielefeld, schlechtergerechtigkeit in der LINKEN wenn Frauen sich engagieren, ist im- Anmeldungen: [email protected], auf den Weg zu bringen, um den femi- mer auch der private Bereich betrof- Telefon: 030/24009351 nistischen Zielen auch ebensolche Ta- fen). Der Zusammenhang von Inhalt ten folgen zu lassen. und Methode mit dem Ziel der Selbst- Auf einem Treffen der Arbeitsgrup- veränderung und Selbstermächtigung pe Frauen in der Kommission für poli- ist ein wichtiger Ansatzpunkt. Überarbeitung die Erfahrungen aus un- tische Bildung im Februar stellten wir Die Frage ist weniger, wie wir die serem ersten Pilotseminar im Novem- uns die Frage, was Inhalt feministischer Frauen einbeziehen, sondern wie DIE ber eingefl ossen sind. Zu Beginn die- Bildungsarbeit ist und ob wir mit unse- LINKE sich insgesamt verändert, da- ses Seminars, für das wir Teamerinnen ren Angeboten auch die spezifi schen mit sie für Frauen attraktiv wird. Es gilt, der innerparteilichen Bildungsarbeit Bedürfnisse von Frauen ansprechen. die Bereitschaft zur Beschäftigung mit ausbilden, gehen wir der Frage nach, Feministische Bildungsarbeit verste- linkssozialistischem Feminismus zu warum sich Frauen in Vorständen en- hen wir als gesellschaftskritischen An- stärken und dabei auch Anregungen gagieren und was sie davon abhält. satz. Daraus ergibt sich auch die Not- von nichtsozialistischen Positionen zu Wir überlegen gemeinsam, was für uns wendigkeit, jegliche Diskriminierung in verarbeiten. politische Arbeit ist und wie wir ihre der Bildungsarbeit sofort zu refl ektie- Ganz wichtig ist uns, Differenzen ver- Schwerpunkte bestimmen. Wir entwi- ren, weil sonst Lernblockaden entste- schränkt zu bearbeiten. Keine Teilneh- ckeln ein großes Mindmap, das die Auf- hen können. merin ist nur Frau allein! Kein Teilneh- gaben von Vorständen darstellt. Über eine geschlechterrefl ektieren- mer ist nur Erwerbsloser allein! Keine Anhand konkreter Textausschnitte de Betrachtung unserer politischen Bil- Teilnehmerin ist nur Migrantin allein. befassen wir uns dann mit dem Kon- dungsarbeit werfen wir zugleich Kern- Geschlechterverhältnisse und andere zept zur Herstellung von Geschlechter- probleme der politischen Bildung ins- Diskriminierungs- und Herrschaftsver- gerechtigkeit in der LINKEN und spre- gesamt auf. Bisherige Diskussionen hältnisse sind eng miteinander verwo- chen über die Aufgaben, die sich dar- konzentrieren sich vor allem auf sozi- ben. Mit der Kategorie Geschlecht ver- aus insbesondere für die Landes- und ale, wirtschafts- und fi nanzpolitische, ändert sich die Analyse des Themas. Kreisverbände ergeben. außenpolitische und andere Fragen, Jedes Thema politischer Bildungsar- Eine wichtige Bedingung erfolgrei- denen »Frauenthemen« untergeordnet beit ist ein explizites Geschlechterthe- cher Vorstandsarbeit ist eine gelin- werden. Uns geht es darum, jede poli- ma. Dabei geht es auch darum, unzu- gende Kommunikation zwischen allen tische Frage in Politik, Bildung und Pra- lässige Verkürzungen zu entlarven, Beteiligten. Mit Hilfe eines Kommuni- xis vom geschlechterreflektierenden zum Beispiel »wir Frauen« oder »die kationstestes kommen wir dem eige- Standpunkt her zu betrachten. Hartz-IV-Empfangenden«. nen Kommunikationsstil auf die Spur In unserer Diskussion kamen wir und fi nden heraus, was wir selbst än- An Alltagserfahrungen anknüpfen schließlich zur Erkenntnis, dass letzt- dern können, um unsere Kommunika- endlich unser Verständnis von feminis- tion mit den Mitgliedern zu verbessern. Das Geschlecht ist grundlegend für die tischer Bildungsarbeit emanzipatori- Ausführlich sprechen wir über Erforder- Identität eines Menschen. Was wissen sche Bildungsarbeit bedeutet. nisse kollektiver Arbeit und darüber, wir von den Frauen, an die wir unse- Wir haben damit begonnen, Semi- wie wir das praktisch hinbekommen. re Angebote richten? Wie erfahren wir narkonzepte der innerparteilichen Bil- Schließlich wird auch das Thema Kon- von Frauen in der Partei, was sie für dungsarbeit unter dem Blickwinkel ge- fl ikte nicht ausgespart. Wir lernen, wie eine Bildungsarbeit möchten? Mit ge- schlechterrefl ektierender Bildungsar- wir gut mit ihnen umgehen können. schlechterrefl ektierendem Blick unse- beit zu überarbeiten. Für unser Neu- Nicht zuletzt ist ein großer Gewinn re gesamte Bildungsarbeit abzuklopfen mitgliederseminar bedeutet das zum für alle Teilnehmerinnen, dass sie hier bedeutet, immer danach zu fragen, an Beispiel, im Komplex Geschichte den mit Genossinnen aus verschiedenen welche Alltagserfahrungen von Frauen Kämpfen von Frauen und ihrer Lebens- Landesteilen über ihre Erfahrungen wir mit unseren Bildungsangeboten an- welt wesentlich mehr Raum zu geben. sprechen können. Viele Frauen schät- knüpfen, und den Raum zu öffnen für In der Auseinandersetzung mit der zen auch das gegenseitige Verständ- eine Bildungsarbeit, in die Frauen sel- Ideologie des Neoliberalismus haben nis, die gelebte Solidarität und nut- ber sich aktiv einbringen können. Das wir bisher nur mit Fallbeispielen gear- zen jede Gelegenheit, an zentralen Bil- bedeutet keinen Ausschluss von Män- beitet, die sich auf Männer beziehen. dungsveranstaltungen der LINKEN teil- nern, sondern eine Veränderung des Speziell für Frauen haben wir ein zunehmen und im Ergebnis das dort Blickwinkels von allen für alle. Seminarkonzept entwickelt, das nun Gelernte an die Genossinnen und Ge- Die Umsetzung eines geschlechter- »Frauen fi t für Vorstände – Vorstände nossen in den Kreisverbänden weiter- refl ektierenden Ansatzes in der poli- fi t für Frauen?« heißt und in dessen zugeben.

POLITISCHE BILDUNG DISPUT März 2012 28 Stoff zur Kontroverse Drogen und Drogenpolitik. Eine Debatte in Zwickau Von Simone Hock und René Jalass

»Freigabe von Drogen – richtig oder un- Umgangsweise mit Substanzen wis- plant – in Abendtalkshows. Das war für verantwortlich?«, so lautete am 23. Fe- senschaftliche Erkenntnisse ins Ge- ihn ein Ziel, von dem er eigentlich an- bruar der Titel einer Veranstaltung der spräch, trumpfen die Gegner mit emo- nahm, es frühestens gegen Ende sei- Reihe »poliTTisch« im »politiKKontor« tional berührenden Argumenten auf. nes aktuellen Bundestagsmandats er- in Zwickau (Sachsen). Zu Gast war der Sie sind sogar dann noch resistent, reicht zu haben. Festzustellen ist hier drogenpolitische Sprecher der Bundes- wenn – wie am Beispiel einer Studie auch, dass DIE LINKE derzeit die einzi- tagsfraktion, Frank Tempel. Die Mode- zur diamorphingestützten Behandlung ge Partei ist, die sich intensiv mit Dro- ration übernahm René Jalaß, Mitglied von schwerst Opiatabhängigen – die genpolitik beschäftigt. Die Piraten ha- im sächsischen Landesvorstand und Ergebnisse eindeutig für eine kontrol- ben die Forderung nach einer Canna- dort Sprecher für Drogenpolitik. lierte Abgabe sprechen. Der Bundestag bislegalisierung auch gestellt, diskutie- Frank Tempel, ursprünglich aus dem selbst, von den Ergebnissen der Studie ren intern aber noch heftig. Und selbst Bereich der Rauschgiftkriminalität der überzeugt, machte 2009 per Gesetz die Grünen nahmen sich in den letzten Kripo kommend, machte gleich zu An- den Weg für diese Behandlungsoption Jahren stark zurück. Renate Künast ließ fang deutlich, dass das bestehende frei. Leider ist sie bislang nicht fl ächen- sogar vernehmen, dass die Forderung Cannabisverbot für die Polizei schlicht- deckend eingeführt worden. Betroffe- nach einer Cannabislegalisierung eine weg nicht durchsetzbar sei. Man könn- ne, gleich welche Substanz sie konsu- Diskussion »aus dem letzten Jahrhun- te die Personaldecke sogar um das mieren, laufen unter diesen Bedingun- dert« sei. Dreifache erhöhen und würde den gen täglich Gefahr, Stoffe verkauft zu Die dabei entstehenden kontrover- hochkriminellen Schwarzmarkt den- bekommen, die bis aufs Äußerste mit sen Diskussionen sind durchaus ge- noch nicht »in den Griff« bekommen. Streckmitteln versehen sind. Das dient wollt und eine Unterscheidung in kurz-, Andererseits betrachtet er den reinen der Gewinnmaximierung des Schwarz- mittel- und langfristige Schritte ist er- Konsum von Drogen auch mehr als ge- marktes, dem es im Übrigen völlig egal forderlich, so Tempel. So steht es auch sundheitspolitisches denn als straf- ist, ob ein Kind oder ein Erwachsener im Programm der LINKEN. Ein aktuel- rechtliches Thema. seine »Produkte« konsumiert. Und so ler Brennpunkt ist zum Beispiel die Er- Dass er selbst einmal solche Forde- kommen von den einschlägigen Be- forschung möglicher Anwendungsge- rungen, wie zum Beispiel die Legalisie- ratungsstellen stets neue Warnungen biete von Cannabis im medizinischen rung von Cannabis, aufstellt, hätte sich über Beimischungen von Blei, Glas, Bereich. Frank Tempel hofft, dass sich Frank Tempel zu Beginn seiner Zeit als Beton, Tierkot oder sogar hochgiftigen auch in Deutschland die Wissenschaft drogenpolitischer Sprecher nicht den- Klebstoffen. endlich stärker diesem Komplex wid- ken können. Doch er näherte sich, wie Mit dem Beschluss des Erfurter Par- met. Gab es hierzulande kaum aktive er selbst sagt, dem Thema in »krimina- teitages 2011, den Absatz zur Drogen- Forschung auf diesem Gebiet, konnte listischer Kleinstarbeit«. Seine Erkennt- politik im Parteiprogramm zu veran- er verzeichnen, dass mittlerweile im- nisse, die sich auch mit seinen Berufs- kern, gelang ein medialer Aufschlag merhin ausländische Ergebnisse ange- erfahrungen als Kommissar decken, und brachte das Thema – sogar frü- fordert und gelesen würden. Ein Teiler- sind eindeutig: Das Verhältnis der Re- her als eigentlich von Frank Tempel ge- folg linker Drogenpolitik. pression an den präventiven Bemü- hungen der Bundesregierung kann, wie auch weltweit der Kampf gegen die Dro- gen (»war on drugs«), als gescheitert

betrachtet werden. In Europa wird viel © Simone Hock Geld für repressive Mittel gegen den Drogenkonsum ausgegeben. Deutsch- land verschlingt für diese Aufgaben fast die Hälfte des im gesamten euro- päischen Raum aufgebrachten Bud- gets. Wenn dann, so Tempel, die Situ- ation bestenfalls stagniert, laufe etwas gehörig falsch. Überhaupt nehme der Anteil der Mittel, die für eine repressi- ve Drogenpolitik aufgewandt werden, in Deutschland fast 84 Prozent ein. Le- diglich 16 Prozent würden für Aufklä- rung, Prävention oder für sozialarbei- terische Angebote genutzt. Die Auseinandersetzung mit der Thematik wirkt immer polarisierend: Bringen die Befürworter/innen einer aufgeklärten und selbstbestimmten Drogen freigeben? lautete die Diskussionsfrage im Zwickauer »politiKKontor«.

29 DISPUT März 2012 DROGENPOLITIK Konversion konkret Militär-Standortschließungen als Chance? Erfahrungen aus Stavenhagen (Mecklenburg-Vorpommern) Von Peter Ritter

Im Erfurter Programm heißt es: »DIE minister Helmut Holter begannen, Pro- immer wieder ein Bundeskonversions- LINKE setzt sich für eine schrittweise gramme zu entwickeln. Dabei wurde programm einfordern und sich selbst Abrüstung der Bundeswehr ein … Die schnell klar, dass es nicht reicht, sich darüber im Klaren sein, dass Stand- Abrüstung ist zu begleiten durch Kon- nur Gedanken über die zivile Nachnut- ortschließungen, Abbau der Bundes- versionsprogramme für die Beschäftig- zung der Kaserne zu machen. Die Prog- wehr und Konversion zunächst einmal ten in der Rüstungsproduktion, für die nosen für die Stadtentwicklung waren viel Geld kosten. Einsparungen im Ver- Soldatinnen und Soldaten und für die deprimierend und haben sich zumeist teidigungshaushalt sollten daher vor- Liegenschaften der Bundeswehr.« So bestätigt. Heute hat die Reuterstadt dergründig in einen Konversionshaus- weit, so gut – oder so unzureichend. noch knapp 6.200 Einwohnerinnen halt überführt und zweckbestimmt ein- Denn Standortschließungen bedeu- und Einwohner, eine Grund- und eine gesetzt werden. ten auch und vor allem für die betrof- weiterführende Schule sowie zwei Ki- Heute, nach zehn Jahren Konversi- fenen Standortkommunen enorme tas. Das Krankenhaus ist geschlossen, on in Stavenhagen, können wir feststel- Umstrukturierungen. Konzepte für die ein Wohngebiet fast komplett zurück- len: Der Prozess ist noch längst nicht zivile Nachnutzung von Kasernen und gebaut. Das bedeutete auch: Ertrags- abgeschlossen. Konversion braucht Übungsplätzen sind wichtig, ohne Kon- verluste für die Handwerker, Kaufkraft- Kontinuität und Verlässlichkeit. Der Re- zepte für einen Stadtumbau aber wir- verluste in Millionenhöhe, Verlust an gierungswechsel 2006 im Land brach- kungslos. Lebensqualität. te eine Unterbrechung, und es bedurf- Meine Heimatstadt, die Reuter- Auf Initiative der PDS-Fraktion wurde te erneut unserer Initiativen im Land- stadt Stavenhagen, ist seit 1975 Gar- der Arbeitskreis »Lebenswerte Reuter- tag, um der Konversionspolitik wie- nisonsstadt. Die NVA hatte in der Ka- stadt« gegründet, der Einwohnerinnen der Leben einzuhauchen. Eine weitere serne, ich der auch ich bis September und Einwohner zur Mitarbeit einlud. wichtige Erkenntnis: Man darf mit dem 1990 meinen Dienst versah, mehrere Gemeinsam wurden und werden Ideen Konversionsprozess nicht erst begin- Truppenteile mit über 5.000 soldati- und Strategien entwickelt, um die sozi- nen, wenn die Bundeswehr die Kaser- schen Dienstposten und Zivilbeschäf- alen, ökonomischen und ökologischen ne besenrein übergibt. In Stavenhagen tigten stationiert. Bis 1989 wuchs die Folgen der Standortschließung zu kom- wurde dazu das Konzept der »Gleiten- Stadt auf mehr als 9.000 Einwohnerin- pensieren. Die Hauptlast liegt jedoch den Konversion« entwickelt: Von der nen und Einwohner. Es gab vier Schu- bei Stadtvertretung und -verwaltung. Bundeswehr nicht mehr benötigte Flä- len, vier Kindergärten, ein Kranken- Allein im Jahr 2002 mussten zur Be- chen und Gebäude wurden noch bei haus. Zwei Plattenbaugebiete wurden wältigung des Konversionsprozesses Anwesenheit der Truppe für eine zivile aus dem Boden gestampft. Das örtli- 25 Beschlüsse vorbereitet und gefasst Nachnutzung vorbereitet. Heute haben che Handwerk und der Handel profi - werden. Die Stadt bestellte einen Kon- sich Unternehmen der Metallverarbei- tierten. Nach der Wende übernahm die versionsmanager, der wesentlich vom tenden und der Lebensmittelindustrie Stadt vom Bund 800 Wohnungseinhei- Land fi nanziert wurde. Ebenso wurden angesiedelt, einer der größten Solar- ten im Vertrauen darauf, dass der Ar- vom Land Sonderförderprogramme für parks des Landes ist entstanden. meestandort bleibt. Schließlich inves- alle knapp 30 Konversionskommunen Es ist hier nicht der Platz, alle Prob- tierte die Bundeswehr viele Millionen aufgelegt. Förderungen bis zu 90 Pro- leme und Ergebnisse der Konversions- DM Steuergelder. zent wurden ermöglicht unter anderem politik darzustellen. Erfahrungsaus- Zum Jahresbeginn 2001 verkünde- für Bauleitplanungen, die Aufl age von tausch vor Ort ist die sinnvollste Inves- te dann der damalige Verteidigungsmi- Stadtentwicklungskonzepten, die Stär- tition. Deshalb bin ich Anfang Februar nister die Schließung des Standortes kung der Infrastruktur. Höhepunkt des gern der Einladung des Kreisverbandes Basepohl. Widerstand regte sich, ei- Prozesses war die Unterzeichnung ei- der LINKEN nach Plön (Schleswig-Hol- ne fünf Kilometer lange Menschenket- ner Konversionspartnerschaft zwischen stein) gefolgt. Die Genossinnen und te forderte den Erhalt des Standortes. der Landesregierung, den Konversions- Genossen dort hatten als erste zur öf- Die PDS und ihre Kommunalpolitike- kommunen, der Bundesanstalt für Im- fentlichen Debatte über die Zukunft rinnen und -politiker reihten sich nicht mobilenangelegenheiten und der Bun- des Standortes Lütjenburg eingela- ein. »Zieht doch fort, wenn euch das deswehr. Nicht nur der Vollständigkeit den. Die Resonanz war groß, und die Schicksal der Stadt egal ist«, schallte halber will ich erwähnen, dass all die- Veranstaltung machte deutlich: Ob ein es uns entgegen. Wir sind geblieben. se Entscheidungen in die Zeit der rot- Konversionsprozess gelingt, steht und Heute stellen wir die stärkste Fraktion roten Landesregierung fi elen, die we- fällt mit einer transparenten Planung in der Stadtvertretung und den Stadt- sentlichen Weichenstellungen auf un- und Umsetzung. Das heißt: umfassen- präsidenten. Denn wir haben nach Al- sere Initiative hin – oft gegen den Wi- de Einbeziehung der Öffentlichkeit. Wir ternativen gesucht und sie gefunden. derstand der SPD – entwickelt und haben in Plön gemeinsam verdeutlicht: Auf Initiative der Landesarbeitsge- umgesetzt wurden. Ein Leben ohne Bundeswehrstandort meinschaft »Frieden und internatio- Als wesentlicher Mangel erwies sich ist möglich und machbar. Wir haben nale Sicherheit« der PDS fand Anfang damals und erweist sich heute, dass dazu die richtigen Konzepte! 2002 die erste Konversionskonferenz sich der Bund als Verursacher all die- statt. Fachleute, Kommunal- und Lan- ser Probleme aus jeglicher Verantwor- Peter Ritter ist Landtagsabgeordneter in despolitiker wie der damalige Arbeits- tung stiehlt. Deshalb muss DIE LINKE Mecklenburg-Vorpommern.

KOMMUNE DISPUT März 2012 30 © Gert Gampe

NACHBELICHTET

Von Arthur Paul Keine Angst, der triert, diskriminiert, ignoriert. Und wa- dahin fl ankieren über 5.000 Soldaten- will nur spielen! Das Kanonenrohr ist rum? gräber, das Vielfache an zerstückelten ein Ofenrohr. Das Kriegsfahrzeug ist Sie haben nicht hingenommen, was Zivilisten und Milliardenverluste im ein Friedensfahrzeug. Die graue Tarn- ihnen eingeredet wird von Politikern, Etat, die aus den zivilen Bereichen er- farbe ist durch bunte Comics ersetzt. Presseleuten, Panzergeneralen, Ge- presst werden. Natürlich könnten mit Wer das macht, will nicht aufrüsten, neralsekretären und Generalauftrag- dem Stahl der Waffen auch Kochtöpfe, sondern abrüsten. Wie jene Karawa- nehmern der Rüstungsindustrie: »Un- Schienen und Windräder gebaut wer- nen, die vor einigen Jahren zum Gipfel- sere Freiheit wird am Hindukusch ver- den. Aber die halten dann Jahrzehnte, treffen der kriegführenden Großmächte teidigt!«, »Da gibt es Schurkenstaaten, ehe neuer Profi t winkt. Hingegen ha- nach Heiligendamm zogen, um die Auf- die uns an die Gurgel wollen!«, »Unse- ben Bomben und Granaten den uner- rüster zu belagern. re Waffen sind Friedenstifter!«, »Denkt hörten Vorteil, dass sie in Sekunden Da kamen Linke und Liberale, Chris- an die Arbeitsplätze in der Rüstungsin- explodieren und alle Kochtöpfe, Schie- ten und Pazifi sten, Teenies und Gruf- dustrie!«, »Ohne strategische Ölreser- nen und Windräder am Einsatzort zer- tis, In- und Ausländer. Damals riefen ven wird die Autobahn zur Fußgänger- stören. Das bringt Maximalprofi t! Da sie: »Raus aus Afghanistan und dem zone!«. Jeder Weg zum Krieg ist mit Lü- trieft der Zahn. Aber den kann man zie- Irak!«, »Schluss mit der Militarisierung gen gepfl astert. hen! Zur Betäubung helfen auch Witze der Außenpolitik!«, »Frieden schaffen Inzwischen geloben die beteiligten gegen Waffen. ohne Waffen!«. Spießgesellen der NATO: »Raus aus Selten waren mir Graffi tisprayer so Dafür wurden sie schikaniert, regis- Afghanistan und dem Irak!«. Den Weg sympathisch!

31 DISPUT März 2012 Die Griechen brauchen Marshall Zur Regierungserklärung Finanzhilfen für Griechenland. Aus der Rede von Gregor Gysi am 27. Februar 2012 im Bundestag

Frau Bundeskanzlerin, im ersten Satz hen für 70 Milliarden Euro von den Pri- ten Zinssatz von einem Prozent gewährt Ihrer Rede haben Sie gesagt, es han- vatbanken aufgekauft. Das sind – es tut – und das Ganze für drei Jahre. Jetzt be- dele sich um eine Staatsschuldenkri- mir leid, Frau Bundeskanzlerin – Euro- kommen die großen privaten Banken se. Ich fi nde, das ist nicht die Wahrheit. Bonds. Weil diese Staatsanleihen ent- von der Europäischen Zentralbank noch Die Wahrheit ist, dass die Staatsschul- weder unserer Notenbank oder der Eu- einmal 500 Milliarden Euro, wieder für den zugenommen haben, als wir eine ropäischen Zentralbank gehören, haften ein Prozent und wieder für drei Jahre. Finanzkrise, ausgelöst durch Banken dafür allein die Steuerzahlerinnen und Das ist doch abenteuerlich: Eine Billi- und Spekulanten, hatten. Das müssten Steuerzahler der Euro-Zone und in be- on Euro nur für die Liquidität der Ban- Sie hinzufügen. Ansonsten denkt man, sonderem Maße die deutschen Steuer- ken. Kein Mensch fragt, woher das Geld die Staaten seien schuld. Nein, erst ein- zahlerinnen und Steuerzahler. kommt. Es wird doch gedruckt, Frau mal sind es die Banken und Spekulan- Ich habe es einmal ausgerechnet, Bundeskanzlerin, um es einmal im Klar- ten, auf die die Staaten allerdings völlig Frau Bundeskanzlerin: Wenn wir alles text zu sagen. Woher wollen Sie es denn falsch reagieren. (Beifall bei der LINKEN) zusammennehmen – beide Rettungspa- sonst nehmen? (Beifall bei der LINKEN) Beim ersten Rettungspaket ging es kete und die Euro-Bonds –, dann geht Die Frechheit besteht doch darin, um 110 Milliarden Euro; das war im Mai es um ein Gesamtpaket in Höhe von 345 dass die Banken im Geld schwimmen. 2010. Man muss heute sagen: Das erste Milliarden Euro. Die Deutschen haften in Wenn sie jetzt Staatsanleihen zum Bei- Rettungspaket ist gescheitert. Das Ziel spiel von Irland, Portugal oder Spani- war damals, dass Griechenland bis 2014 en kaufen, dann verlangen sie mindes- wieder auf eigenen Kreditbeinen steht. Egal ob ich an den tens drei bis vier Prozent Zinsen. Aber Davon ist heute überhaupt keine Rede Afghanistan-Krieg, sie müssen nur ein Prozent Zinsen zah- mehr. len. Was ist mit den Bürgerinnen und Nun soll das zweite Rettungspaket die Agenda 2010 oder Bürgern? Wenn sie ihren Dispokredit in beschlossen werden; es ist zwar ein fal- Anspruch nehmen, dann müssen sie 13 scher Begriff, aber das tut hier nichts zur die Griechenland- oder 18 Prozent Zinsen zahlen. Aber die Sache. Es geht um weitere 165 Milliar- Banken zahlen an uns nur ein Prozent. den Euro. Hinzu kommen 24,4 Milliar- pakete denke: Immer Das ist eine Unverschämtheit, um es den Euro aus dem ersten Rettungspa- einmal klipp und klar zu sagen. ket, die noch nicht verbraucht wurden. herrscht zwischen (Beifall bei der LINKEN) 35 Milliarden Euro, die die Verluste von Union, SPD, FDP und Es geht auch um eine schwerwie- Banken ausgleichen sollen, kommen gende Verletzung des Eigentumsrechts. ebenfalls hinzu. Auch das zahlen die Grünen eine Konsens- Jetzt wundern Sie sich sicher, dass ich Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. die Verletzung des Eigentumsrechts rü- Wie lautet das Ziel jetzt? Die Schulden soße. ge. Ich will es Ihnen erklären: Normaler- sollen bis zum Jahr 2020 von 164 Pro- weise haftet jede Eigentümerin und je- zent auf 120 Prozent der Wirtschaftsleis- der Eigentümer für ihr oder sein Eigen- tung abgebaut werden. Das ist völlig un- einem Umfang von 100 Milliarden Euro. tum. Das heißt, man kann Gewinn da- realistisch. (Beifall bei der LINKEN) Wenn wir wenigstens sagen könnten, raus erzielen, aber wenn man Verluste Die Überwachungstroika – Übrigens, dass wir dadurch Griechenland helfen oder Schulden hat, haftet man auch da- Herr Brüderle, Sie sprechen das Wort würden, dann machte das Ganze Sinn. für. Das gilt für jede Bürgerin und jeden Troika richtig aus, während es die meis- Aber wir helfen Griechenland nicht mit Bürger sowie für sämtliche Wirtschafts- ten in der Union falsch aussprechen. einem einzigen Euro. Insofern setzen wir unternehmen. Man sagt nicht Tro-i-ka; denn das Wort das Geld in den Sand. Das gilt sowohl Fragen Sie einmal einen Bäckermeis- kommt aus dem Russischen. Fragen Sie für Griechenland als auch für Deutsch- ter, der Schulden hat, ob er sich an die die Bundeskanzlerin; sie wird mir recht land. (Beifall bei der LINKEN) Regierung wenden kann und sie ihm geben. (Beifall bei der LINKEN) Ich habe es schon gesagt: Auch die dann einen zinsgünstigen Kredit zu ei- Abgesehen davon, die Überwa- 165 Milliarden Euro werden für die dro- nem Prozent gibt, damit er das Ganze chungstroika glaubt selber nicht an ei- henden Verluste der privaten Banken zurückzahlen kann. nen solchen Schuldenabbau, wie man und Hedgefonds eingesetzt. Alles wird Fragen Sie einmal den Eigentümer einem internen Papier entnehmen kann. sozialisiert, und die Steuerzahlerinnen eines Grundstücks, ob er eine solche Das Rettungspaket ist also auch dies- und Steuerzahler haften dafür. Chance hat. Die Einzigen, die überhaupt mal nicht für die Griechinnen und Grie- (Sigmar Gabriel (SPD): Für Sozialisie- kein Risiko eingehen, sind die Banken, chen geschnürt, sondern ausschließ- rung seid ihr doch auch!) denn sie bekommen immer die Ge- lich für Banken, Vermögensanleger und Außerdem kommt Folgendes hinzu, winne und die Profi te, haften aber nie- Hedgefonds. Sie bekommen das Geld, was hier so gut wie gar nicht themati- mals für die Schulden, weil das immer und kein anderer. siert wird: Weihnachten 2011 hat die Eu- die Steuerzahlerinnen und Steuerzah- Außerdem haben die Europäische ropäische Zentralbank den großen Pri- ler übernehmen. Das verletzt das Eigen- Zentralbank und auch die nationalen vatbanken in Europa ein Darlehen von tumsrecht schwerwiegend. Notenbanken griechische Staatsanlei- 500 Milliarden Euro zu dem traumhaf- (Beifall bei der LINKEN)

DOKUMENTIERT DISPUT März 2012 32 Ich darf daran erinnern: 480 Milliar- ten Schwierigkeiten. Sie sind öffentlich- – gerade im Westen – waren viel klüger den Euro haben wir in einem Rettungs- rechtlich und sehr sinnvoll. und beschlossen geringe Reparationen schirm für die Banken zur Verfügung (Beifall bei der LINKEN) und den Marshallplan zum Aufbau. Sie gestellt. Darüber redet ja schon keiner Jetzt komme ich noch einmal zum machen bei Griechenland Versailles. Die mehr, weil es drei Jahre her ist. Jetzt Paket für Griechenland. Das, was Sie Griechen brauchen aber Marshall. Das wird der Rettungsschirm wiederbelebt, in diesem Zusammenhang verlangen, ist das Entscheidende. Genau das fi n- es wird wieder Geld daraus gezahlt. ist derart unsozial, dass es in mir mehr det nicht statt. Ich habe bereits von der einen Billi- als Erstaunen auslöst. Wie Sie, Herr Brü- (Beifall bei der LINKEN) on Euro gesprochen, die um Weihnach- derle, in diesem Zusammenhang von Wir gefährden die Solidarität inner- ten und jetzt, im Februar, den Banken einem Wohlstandsstaat sprechen kön- halb einer Gesellschaft und zwischen gewährt wurde. Man muss sich einmal nen, zeugt von abenteuerlicher Arro- den Gesellschaften. Das ist zerstöre- überlegen, welche Beträge in die Ban- ganz. risch für Griechenland und die EU. Wir ken fl ießen. Für all das haften die Steu- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Ab- gefährden auch die Demokratie. Wenn erzahlerinnen und Steuerzahler. Das ist geordneten der SPD) zwei Männer, die in Banken Funktionen eine Unverschämtheit und zerstört übri- Was machen wir denn? Wir sagen: hatten, jetzt die Chefs in Griechenland gens auch das gesamte Wirtschaftssys- Der Mindestlohn in Griechenland muss und Italien sind – und das auch noch tem. Wir brauchen keine Banken, die von 751 Euro auf 586 Euro gekürzt wer- ohne Wahlen –, dann finde ich das sich jedes Risiko leisten können, weil für den. Das ist für Sie ein Wohlstands- schon abenteuerlich; ich will gar nicht jeden Verlust die Steuerzahlerinnen und staat? Die Löhne müssen um 22 Pro- darüber reden. Steuerzahler haften und nicht sie selbst. zent gekürzt werden. 15.000 Menschen Herr Schäuble schlägt den Griechen (Beifall bei der LINKEN) müssen in diesem Jahr und 150.000 vor, die Wahlen zu verschieben, weil sie Deshalb ist unsere Forderung völlig Menschen müssen bis 2014 aus dem öf- ihm nicht passen. Ich sage nur: Wo le- berechtigt: Wenn die Steuerzahlerin- fentlichen Dienst entlassen werden. Die ben wir denn eigentlich? nen und Steuerzahler schon sämtliche Renten sollen in den nächsten drei Jah- (Beifall bei der LINKEN) Schulden der Banken bezahlen, dann ren um 14 Milliarden Euro gekürzt wer- Und Innenminister Friedrich will Grie- müssen diese öffentlich-rechtliches Ei- den. Und da sprechen Sie hier von ei- chenland aus dem Euro drängen. (…) gentum werden. Ich möchte, dass die nem Wohlstandsstaat? Jetzt komme ich leider nicht mehr Steuerzahlerinnen und Steuerzahler (Zuruf von der LINKEN: Pfui!) zum Fiskalvertrag; ich sage hierzu aber dann auch die Gewinne und die Profi te Die Konsequenzen der bisherigen kurz Folgendes: Der Fiskalvertrag ist bekommen – und nicht nur die Schul- Politik, der Kürzung von Löhnen, Ren- deshalb eine Katastrophe, weil Sie die den. Genau das muss sich ändern. ten und Sozialleistungen sowie der Pri- Schuldenbremse in ganz Europa einfüh- (Beifall bei der LINKEN) vatisierungen sind die folgenden: Seit ren. Diese macht aber die Politik hand- Außerdem sind die großen privaten drei Jahren gibt es eine Wirtschaftskri- lungsunfähig. Banken zu groß. Wir müssen sie verklei- se. Es gibt einen Rückgang der Investi- (Norbert Barthle (CDU/CSU): Im Ge- nern. Ich nenne Ihnen nur einen Grund: tionen in Griechenland um 50 Prozent. genteil!) Frau Kohl, die abends im Fernsehen von Die Arbeitslosigkeit ist von neun Prozent Damit werden die Zustände immer der Börse berichtet, sagte zu mir bei auf 21 Prozent gestiegen. Die Jugendar- undemokratischer. Egal welche Regie- Jauch: Wenn Sie deutscher Kanzler wä- beitslosigkeit ist auf 50 Prozent gestie- rung an der Macht ist, sie kann nicht ren - ich räume ein, eine unwahrschein- gen. Es gibt weniger Steuereinnahmen mehr verantwortungsbewusst handeln. liche Vorstellung; sie hat es aber gesagt und ein Minuswachstum. Und Sie, Frau Sie übertragen jetzt den falschen Weg, –, Bundeskanzlerin, sprechen von Fort- den Deutschland mit der Agenda 2010 (Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Gu- schritten. Welche Fortschritte in Grie- und mit der Schuldenbremse einge- te Idee! – Dr. Frank-Walter Steinmeier chenland sind denn damit verbunden? schlagen hat, auf ganz Europa. An un- (SPD): Gott behüte!) Es gibt doch nicht einen einzigen Fort- serem Wesen werden die Leute nicht ge- müssten auch Sie die Deutsche Bank schritt. (Beifall bei der LINKEN) nesen. (Beifall bei der LINKEN) kurz vor einer Insolvenz retten. Die Schulden sind um 50 Milliarden Wir müssen in Bezug auf Europa end- (Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grü- Euro angestiegen. Wir haben jetzt nicht lich klüger werden. nen): Die Frau hat recht! Das sollte Ih- mehr eine Schuldenquote von 130 Pro- Zum Schluss sage ich Ihnen noch Fol- nen zu denken geben!) zent der Wirtschaftsleistung, sondern gendes: Ich habe die tapfere Oppositi- Da sagte ich: Daran sehen Sie, dass von 170 Prozent der Wirtschaftsleistung. onsrede von Herrn Steinbrück gehört, sie zu mächtig ist. Wenn man sieht, dass diese ver- jetzt wird auch Frau Künast eine tapfere Wieso sind wir alle erpressbar? Wir heerende und rigorose Kürzungspolitik Oppositionsrede halten, und dann stim- müssen die Banken verkleinern. Auch nicht dazu führt, dass wir Griechenland men Sie der Regierungsvorlage wieder eine Bank muss in Insolvenz gehen retten, sondern, ganz im Gegenteil, da- zu. Das ist immer dasselbe. können. Wir können immer noch die zu, dass wir Griechenland immer weiter (Thomas Oppermann (SPD): Aber Sparguthaben der Leute retten, aber in die Katastrophe führen, dann muss dass Ihre Rede jetzt vorbei ist, da kön- wir müssen nicht die Bank retten. Wenn man sich doch korrigieren. nen wir froh sein!) wir das müssen, dann ist sie zu mäch- (Beifall bei Abgeordneten der LIN- Egal ob ich an den Afghanistan-Krieg, tig. Deshalb sage ich: verkleinern, un- KEN) die Agenda 2010 oder die Griechenland- bedingt regulieren und öffentlich-recht- Wir kennen das doch. Die Sieger- pakete denke: Immer herrscht zwischen lich gestalten – so wie die Sparkassen. mächte des Ersten Weltkrieges haben Union, SPD, FDP und Grünen eine Kon- Aber nicht wie die Landesbanken; denn in Versailles einen Vertrag beschlossen, senssoße. Aber zum Glück gibt es noch die waren gegenüber den Finanzminis- der Deutschland bis ins Mark gedemü- DIE LINKE und damit eine Kraft, die den tern weisungsgebunden. Das will ich tigt hat. Das war nicht der einzige, aber Mut hat, Nein zu sagen. nicht. Ich will, dass sie wie die Spar- einer der Gründe, weshalb der Verbre- (Anhaltender Beifall bei der LINKEN kassen ausgestaltet werden. Mit diesen cher Hitler und die NSDAP so stark wur- – Thomas Oppermann (SPD): Gut, dass hatten wir in der Krise nicht die gerings- den. Die Sieger des Zweiten Weltkrieges die Rede vorbei ist!)

33 DISPUT März 2012 Nach der Notbremsung Wie Islands Linksregierung die Konsolidierung der Finanzen fortsetzt – durchaus mit sozialen Akzenten Von Andreas Günther

Am 6. März begann in der isländischen tung mehr gedeckt werden konnten, in- len Akzenten. Klar war, dass angesichts Hauptstadt Reykjavik ein Prozess, der teressierte kaum einen. Im Gegenteil: der steigenden Arbeitslosigkeit auch europaweit in der jüngeren Geschich- Trotz erster Warnsignale wie der »Mini- die Sozialausgaben steigen würden, te seinesgleichen suchen dürfte: We- krise« 2004 wurde 2006 mit der Aufl a- aber auch die Zukunftsinvestitionen gen Verletzung der Amtspfl ichten im ge des Onlinefonds Icesave das Kasi- in Erziehung und Bildung wurden ge- Zusammenhang mit dem Zusammen- no weiter internationalisiert. So blähte steigert. Der Internationale Währungs- bruch des Bankensystems im Oktober sich das Bilanzvolumen der drei islän- fonds zeigte sich dabei kooperativer 2008 wird der Ex-Ministerpräsident dischen Großbanken bis zum Zehnfa- als erwartet. Gleichzeitig wurde das Geir Haarde vom Parlament vor dem chen des Bruttoinlandsproduktes auf. bisherige Niedrigsteuersystem durch Landsdómur angeklagt. Damit wird Kurz nach dem Beginn der Wirt- ein progressives Steuersystem und ei- erstmals seit der Unabhängigkeit des schaftskrise brach der Bankensek- ne Vermögenssteuer ersetzt, das heißt Landes dieses Sondergericht für Regie- tor zusammen. Der isländischen Poli- bei gleichbleibender Belastung der ge- rungsmitglieder nach Artikel 14 d der tik war schnell klar, dass eine Rettung ringen Einkommen wurden Mittel- und Verfassung in Anspruch genommen. der verstaatlichten Banken, wie in Großverdiener stärker belastet. Wenige Wochen zuvor hatte ei- Deutschland wenig später, angesichts Die Besucher stellten fest, dass in ne Delegation um die Bundestagsab- dieser enormen Lasten unmöglich war. Island viele der Maßnahmen, die DIE geordneten Klaus Ernst, Vorsitzender Um die Guthaben der einfachen Sparer LINKE in Deutschland fordert, in Reak- der LINKEN, und Axel Trost Island be- zu retten, wurden diese an neue Ban- tion auf den Zusammenbruch des neo- sucht, um sich über die Vorgänge, die ken übertragen und die Altbanken in liberalen Entwicklungsmodells in Is- zum Zusammenbruch des isländischen den Konkurs geschickt. Die Aufarbei- land durchgesetzt werden. Gleichzei- Bankensystems und in der Folge zum tung der Konkursmasse dauert bis heu- tig bietet die Regierungsbeteiligung Beinahe-Staatsbankrott Islands und te an, und noch immer kann niemand auch die Möglichkeit, andere Inhal- zur Ablösung der Regierung führten, die Verluste genau beziffern. te linksgrüner Politik zu verwirklichen, zu informieren. Ebenso galt das Inte- Klar sind hingegen die volkswirt- wie Parlamentarier der LGB bei einem resse der Politiker den Rettungs- und schaftlichen Auswirkungen: Die Re- Treffen darlegten: So wurden ein kom- Konsolidierungsarbeiten, die nach der alwirtschaft brach ein, die Arbeitslo- plett neues Schulprogramm mit Beto- Bildung der rot-grünen Übergangsre- sigkeit stieg von einem auf zehn Pro- nung auf Menschenrechte und Nach- gierung am 1. Februar 2009 und auch zent, der Absturz der isländischen Kro- haltigkeit eingeführt, die Stipendienfi - nach den Neuwahlen am 25. April 2009 ne führte zu Preissteigerungen um bis nanzierung des Studiums erweitert und in der Verantwortung des damaligen Fi- zu 20 Prozent, die verfügbaren privaten eine Frauenquote eingeführt. Eine CO2- nanzministers Steingrímur Jóhann Sig- Einkommen gingen um 18 Prozent zu- Steuer dient zwar auch, aber nicht nur fússon lagen. Er ist zugleich Vorsitzen- rück. Dass private Kredite, die zu Zei- der Konsolidierung der Finanzen. der des kleineren Koalitionspartners ten der Blase in Fremdwährungen auf- Natürlich sind in einer solchen Situ- Linksgrüne Bewegung (LGB). Und na- genommen worden waren, mit einer ation nicht allein Erfolge zu erwarten. türlich interessierten sie sich für die Er- nun deutlich schwächeren Krone getilgt Die Regierungen Großbritanniens und gebnisse dieser Bemühungen und ihre werden müssen, führte zur Überschul- der Niederlande bestanden auf Ersatz Auswirkungen auf das Leben der Men- dung vieler privater Haushalte. der ihnen durch die Entschädigung ih- schen in Island. Dazu trafen die Gäs- rer Icesave-Anleger über die Garantie- te mit Parlamentariern der LGB, mit der Aus dem Amt gejagt summe hinaus entstandenen Kosten. Leitung der Bankenaufsicht, der Zent- Ein Gesetz über die Modalitäten der ralbank, Vertretern des Wohlfahrtsmi- Da verloren auch die traditionell kon- Rückzahlung der ca. 3,8 Milliarden Eu- nisteriums und dem Vorsitzenden des sensorientierten Isländer die Fassung. ro wurde vom Präsidenten durch sein Gewerkschaftsbundes zusammen. Mit Massenprotesten wurde die Regie- Veto dem Volk zur Abstimmung vorge- Rückblende: In den Jahren ab 1994 rung Haarde aus dem Amt gejagt, bei legt (eine weitere interessante Beson- hatten die isländischen Politiker von den Neuwahlen wurde die Übergangs- derheit der isländischen Verfassung). liberal-konservativer Unabhängig- regierung aus sozialdemokratischer Al- Das Volk entschied sich in dieser Ab- keits- und liberaler Fortschrittspartei lianz und Linksgrüner Bewegung erd- stimmung und einer weiteren über ein die isländische Finanzwirtschaft von rutschartig bestätigt: SDA: 29,8 Pro- neu verhandeltes Abkommen gegen Beschränkungen und Kontrollen na- zent (+ 3,0), LGB 21,7 Prozent (+ 7,4). diese Sozialisierung der Verluste. Die hezu völlig befreit. Die Banken be- Schon im Oktober 2008 hatte die Frage beschäftigt nun Gerichte. gannen daraufhin – in enger Verfl ech- Regierung mit der De-facto-Verstaatli- Offen ist auch die Frage des EU-Bei- tung mit der Politik – einen wahnwit- chung der Großbanken und einer Be- tritts. Auf Drängen der Sozialdemokra- zigen Wettlauf gegenseitiger Kreditver- schränkung des Kapitalverkehrs die ten wurden die Verhandlungen auf- gabe, die früher oder später nur noch Notbremse gezogen. Die neue Linksre- genommen, wobei Einigkeit darin be- durch das Anlocken ausländischen Ka- gierung setzte nach dem Motto »If we steht, dass das Ergebnis dem Volk zur pitals durch hohe Zinsversprechen ge- don’t pay it now, someone has to pay Entscheidung vorgelegt werden soll. deckt werden konnte. Dass diese Ver- it later« die Konsolidierung der Finan- Wie diese Entscheidung ausfällt, lässt sprechen durch keine Wirtschaftsleis- zen fort, allerdings durchaus mit sozia- sich schwer vorhersagen.

INTERNATIONAL DISPUT März 2012 34 Das Land der »Lady« Demokratischer Aufbruch in Myanmar? Von Caren Lay

Noch vor einem Jahr durfte der Name mentariergruppe des Bundestages im politische Gefangene, Zensur, ein be- der »Lady«, der Friedensnobelpreisträ- März waren wir uns aber schnell frakti- schränkter Zugang zum Internet, über gerin und Oppositionsführerin Aung onsübergreifend einig, dass die bishe- den ohnehin nur etwa ein Prozent der San Suu Kyi in Myanmar, hierzulande rige Sanktionspolitik nicht fortgesetzt Bevölkerung verfügen, sowie eine Ver- besser als Birma bekannt, nicht aus- werden sollte. Denn erstens treffen die- fassung und ein Wahlgesetz, die da- gesprochen werden. Inzwischen ist die se Sanktionen die Zivilbevölkerung. zu geführt haben, dass die Partei von Frau, die von der Militärjunta 15 Jahre Myanmar ist als eines der ärmsten Län- Aung San Suu Kyi noch 2010 die Wah- lang abwechselnd unter Hausarrest ge- der der Welt, in dem zum Beispiel nur len boykottiert hat. stellt oder ins Gefängnis gesperrt wur- 25 Prozent der Bevölkerung über eine Trotzdem geht es darum, den Re- de, ein Pop-Star auf den Titelbildern regelmäßige Stromversorgung verfü- formprozess jetzt aktiv zu unterstützen birmesischer Zeitungsstände. Was ist gen, mit einer steigenden Analphabe- und zu beschleunigen, statt das Land passiert? Und: Wie nachhaltig ist der tenrate und in dem eine gute Trinkwas- dem Selbstlauf zu überlassen oder demokratische Aufbruch in Myanmar? serversorgung auf dem Land eher die mit der Fortsetzung der Isolationspo- Ausnahme als die Regel darstellt, auf litik die alten Mächte zu stärken. Kriti- Verhaltener Optimismus internationale Hilfe dringend angewie- sche Begleitung und Rechtsstaatsdia- sen. Außerdem muss es jetzt darum ge- log sind hier die richtigen Stichworte. Die neue Regierung von Myanmar hat hen, die Reformkräfte durch internati- Dass Aung San Suu Kyi, die zur unter dem Präsidenten Thein Sein im onale Anerkennung zu unterstützen – Nachwahl am 1. April dieses Jahres an- letzten Jahr ein Reformtempo vorge- und damit die Hardliner unter den Mili- tritt, auch tatsächlich gewählt wird, gilt legt, das viele Beobachter in Staunen tärs zu schwächen als sicher. Diskutiert wird derzeit sogar versetzt und Anlass für verhaltenen die Übernahme eines Regierungsam- Optimismus bietet: Ein Gespräch zwi- Wirtschaftliche Interessen tes durch die »Lady«. Ob sie in dieser schen dem neuen Präsidenten und der Funktion aber dann noch eine charis- prominentesten Dissidentin des Lan- Freilich sind die wirtschaftlichen und matische Oppositionsführerin und Re- des, Aung San Suu Kyi, und die Zulas- geopolitischen Interessen, die China, formerin bleiben kann, wage ich zu be- sung ihrer Partei, der National League die die umliegenden ASEAN-Staaten zweifeln. Die Gefahr, im Zuge einer Um- for Democracy (NLD), zur Nachwahl und die der Westen hat, unüberseh- armungsstrategie handlungsunfähig sind die symbolträchtigsten Schritte bar. Deshalb gibt sich auch eine Dele- gemacht zu werden, erscheint mir groß. gewesen. Doch auch andere Maßnah- gation nach der anderen die Türklinke men zählen dazu: die Freilassung von in Myanmar in die Hand, die Goldgrä- Wohin geht die Reise? politischen Gefangenen, darunter pro- berstimmung in einem mit Rohstoffen, minenter Anführer der Studentenbewe- kulturhistorischen Stätten und land- Denn selbst wenn sie mit ihrer Partei gung 1988 sowie der Mönchsproteste schaftlicher Schönheit gesegneten, alle 40 Sitze gewinnen würde, ändert 2007, und ein vereinbarter Waffenstill- aber völlig heruntergewirtschafteten es die Mehrheitsverhältnisse nicht. Im stand mit der ethnischen Minderheit Land sind unübersehbar. Genau des- April werden nur 48 der 440 Sitze im der Karen. Gewerkschaften werden halb müssen unsere Forderungen als Unterhaus neu gewählt. Aber es wäre erstmals zugelassen, die Zensur wird LINKE auch lauten: Armutsbekämp- ein symbolischer Sieg. Und ich bin mir gelockert. Und schließlich stoppte The- fung, Bildung und Gesundheit müssen sicher, dass die kluge, redegewandte in Sein ein in der birmesischen Bevöl- oberste Priorität haben. Man kann nur und durchsetzungsstarke »Lady« die kerung ungeliebtes Staudammprojekt hoffen, dass kluge Investitionsgeset- birmesische Parlamentskultur ordent- der Chinesen im Norden des Landes. ze dafür sorgen, dass die Wertschöp- lich aufmischen würde. Die eigentliche Und da wären wir auch schon bei fung aus Rohstoffquellen und Investiti- Schlacht wird ohnehin erst geschlagen, der Frage der Gründe für diesen Re- onen im Land bleibt und nicht – wie es wenn das Parlament im Jahr 2015 kom- formprozess. Eine größere wirtschaftli- beim gigantischen Staudammprojekt plett neu gewählt wird und der bishe- che Unabhängigkeit von China scheint geplant war – aus dem Land exportiert rige Präsident möglicherweise nicht für das isolierte und mit Sanktionen be- wird. Und schließlich braucht Myan- mehr antritt. legte Land eines der wesentlichen Mo- mar auch eine Landreform, insbeson- Wohin die Reise mit Aung San Suu tivationen zu sein. Hinzu kommen Be- dere im Süden des Landes, wo 70 Pro- Kyi geht, wenn sie erst einmal in das strebungen innerhalb der bisherigen zent der Landbevölkerung über kein ei- Parlament gewählt ist, ist ungewiss. Eliten, ein weiteres Machtzentrum ne- genes Land verfügen. Programmatisch scheint mir vieles in ben dem Militär zu etablieren. Und die der lange verbotenen Partei noch nicht Entwicklung deutet auf Differenzen in- Reformprozess unterstützen ausgereift. Zweifellos sind Demokratie, nerhalb der Militärs hin, die die Re- Bildung und Entwicklung zentrale An- former offenbar zunächst für sich ent- Auch im Bezug auf die Demokratie blei- liegen. Die soziale Frage wird im gegen- schieden haben. ben erhebliche Defi zite. Die genann- wärtigen Wahlkampf betont. Schlech- Ob dieser Reformprozess nachhaltig ten Reformschritte machen aus Myan- ter als bisher geht es kaum. Und: Ein ist, wird die Zukunft entscheiden. Auf mar noch keinen Staat, der demokra- Gewinn für die Demokratie wäre ein der Delegationsreise der ASEAN-Parla- tischen Standards genügt. Es bleiben Sieg von Aung San Suu Kyi allemal!

35 DISPUT März 2012 INTERNATIONAL Für Stabilität und Sicherheit Russlands Wahl Von Wolfgang Grabowski

Die Würfel sind gefallen. Wie in un- nem jüngsten Buch »Der kalte Freund. des Ausgleichs und der Gewaltlosig- zähligen Umfragen in Russland, auch Warum wir Russland brauchen«. keit, gleichfalls seine souveräne, auch durch das kremlkritische Lewada-In- Ein weiterer Grund für das Wahler- manchmal kantige Haltung bei Unzu- stitut, ziemlich genau vorausgesagt gebnis: Putin lag richtig, als er sich im mutbarem (Rede auf der Münchner Si- wurde, hat sich Wladimir Putin durch- Wahlkampf nicht auf die oberfl ächli- cherheitskonferenz 2007). gesetzt, und das mit ziemlicher Deut- chen Wahlduelle im Fernsehen einge- lichkeit. Die große Mehrheit der Bevöl- lassen, sondern inhaltliche Positions- Nach der Wahl kerung wünscht Stabilität, soziale und papiere zu den akuten Herausforderun- äußere Sicherheit – Umbrüche und Ge- gen vorgelegt hatte. Für eine Mehrheit Putin hat sich einen Tag nach der Wahl walt will man nicht. in der Bevölkerung festigte sich der Ein- mit seinen Konkurrenten getroffen. Er Viele der älteren und mittleren Ge- druck, dass nur Putin in der Lage ist, schlug diesen eine enge Zusammenar- nerationen erinnern sich noch gut an die anstehenden gewaltigen Probleme beit vor. Der Vorsitzende der KPRF, Gen- die Wirren der Jelzin-Zeit, an die wil- zu schultern. Zu dünn, teilweise popu- nadij Sjuganow, blieb dem Treffen lei- de Privatisierung und den Niedergang listisch-marktschreierisch war das An- der fern. Eine konstruktiv-kritische Aus- Russlands. Wer kann schon vergessen, gebot seiner Konkurrenten. Die sieben einandersetzung mit den Strategiepa- dass in kurzer Zeit zweimal sämtliche Artikel Putins, die in mehreren Zeitun- pieren Putins und der künftigen Politik Ersparnisse verloren gegangen waren: gen erschienen sind, stellen ein kom- des Kreml dürfte aber in der Gesell- 1991/92 und während des Zusammen- plexes, pragmatisches Arbeitspro- schaft eine positive Resonanz fi nden bruchs der Staatsfi nanzen 1998. Ren- gramm dar. Putin hat es geschafft, ei- und würde sicher dem zu beobachten- ten und Gehälter wurden oft nicht ge- ne diskussionsfähige Vorlage für einen den Prozess verstärkter linker Entwick- zahlt. Russland wurde ein hoch ver- gesellschaftlichen Dialog zu formulie- lungen förderlich sein, die in der Fern- schuldeter, mit Kernwaffen ausgerüs- ren. Er hat diesen Dialog faktisch noch sehdebatte zur Wahlauswertung wie teter, gefährlicher Notfall. vor der Wahl angestoßen, und die Leu- auch im Primakow-Beitrag angemerkt Mit Putin trat 1999 die Wende ein. te begrüßen das. wurden. Sie würde ein produktives Kor- Er setzte die Anstrengungen fort, die Viel diskutiert wird Putins Wirt- rektiv sein. Ein vorurteilsfreier, sachbe- der von Jelzin notgedrungen eingesetz- schaftsstrategie. Mehrheitsfähig sind zogener Positionsvergleich dürfte nicht te, im Kreml verhasste Premierminister seine Überlegungen über die weitere wenige Schnittstellen offenbaren: die Jewgenij Primakow zur Abwendung des Stärkung des Staates in der Wirtschaft, »Luxussteuer«, das angekündigte Vor- Absturzes Russlands eingeleitet hatte. über eine Industriepolitik, zur Trans- gehen gegen die »Offshore Aristokra- Dieser auch heute noch hoch geachte- parenz bei der Vergabe staatlicher In- tie«, die Rolle des Staates in der Wirt- te, links-zentristische Politiker brachte vestmittel, zur sozialen Funktion des schaft, die Industriepolitik, die Zurück- in einer Rede im Merkurij-Klub am 13. Staates, über die »Luxussteuer«, seine weisung der NATO-Osterweiterung und Januar die Meinung einer großen Mehr- »Kampfansage« an die Offshore-Aristo- der Antiraketenpläne und der Domi- heit der Wähler auf den Punkt: »Putin kratie, wie sich Michail Deljagin, Direk- nanzbestrebungen der USA, von Einmi- halte ich für die optimale Figur für die- tor des Instituts für Probleme der Glo- schungsversuchen, die Ablehnung des se Wahlen. Wie bei jedem Politiker gab balisierung und Arbeitspartner der Ro- westlichen Vorgehens im Nahen Osten es auch bei Putin Fehlleistungen, die sa-Luxemburg-Stiftung in Moskau, in sowie die Überlegungen zur Schaffung besonders in der Kaderpolitik zu spü- der »Nesawissimaja Gaseta« am 2. Fe- einer Eurasischen Union im postsow- ren waren. Aber entscheidend ist, dass bruar ausdrückte. Volle Unterstützung jetischen Raum, die Vertiefung der Zu- Putin sich eindeutig als Kämpfer gegen fi ndet die Hervorhebung der Reinteg- sammenarbeit mit China, der Schang- den Terrorismus, für die territoriale In- ration des postsowjetischen Raums, haier Organisation für Zusammenarbeit tegrität unseres Landes, für eine evolu- was von »unseren westlichen Konkur- und der BRICS (Brasilien, Russland, In- tionäre Fortentwicklung ohne jegliche renten und damit vom liberalen Klan dien, China und Südafrika). ›bunte Revolutionen‹, für wirtschaftli- (in Russland), kategorisch abgelehnt Über diesen Weg könnten auch die che Stabilität unter den Bedingungen wird« (M.D.). Bestrebungen an Kraft gewinnen, sich der Krise in der Welt, für die Verbesse- Putin hat auch mit seinem Papier von rechten, neoliberalen Kräften in rung des Lebens der Bevölkerung, für über die Stärkung der Streitkräfte den der Protestbewegung zu distanzieren. die Sicherheit Russlands bewährt hat. Nerv seiner Wähler getroffen. Man teilt Es zeichnet sich ab, dass Putin be- Ihn zeichnet aus, dass er einerseits die Beurteilung der Gefahren aus der müht sein wird, den Dialog über die Konsequenz bei der Verteidigung prin- NATO-Osterweiterung und der Statio- von ihm vorgelegten Sachvorstellun- zipieller Positionen an den Tag legt, nierung der US-Raketenabwehr. Einmi- gen rasch in Gang zu setzen und, so und andererseits ist ihm Starrköpfi g- schung, so durch den neuen Botschaf- weit wie möglich, inhaltliche Angebo- keit fremd, wenn das Leben neue An- ter der USA, und »bunte Revolutionen« te mit einzubinden. Für die Arbeit da- sätze zu von ihm getroffenen Entschei- kommen nicht an, auch nicht der Vor- nach hatte er bereits vor einiger Zeit Ka- dungen erforderlich macht.« wurf der Angstmache mit dem Westen, derveränderungen herbeigeführt. Neu- Ähnliche Auskunft über die Verän- der von den neoliberalen Prowestlern er Chef der Präsidentenadministration derungen nach Jelzin gibt Alexander vorgebracht wird. Viel Unterstützung ist Sergej Iwanow, ein enger Vertrauter Rahr in einem ND-Interview und in sei- fi ndet sein außenpolitisches Programm noch von der KGB-Zeit her. Dieser sitzt

INTERNATIONAL DISPUT März 2012 36 mit Stäben von Spezialisten am Fein- mit ohnmächtiger Wut die Blaulichtka- schliff für die wichtigsten Arbeitsvor- rossen vorbeifl iegen sieht? Ich abonniere haben. Zentral werden zunächst die Die Krise hat nicht wenigen von ih- Baustellen sein, die für viel Unmut un- nen ungewohnte Schwierigkeiten ge- DISPUT ter der Bevölkerung, darunter der eige- bracht. Im ganzen Land sollen rund nen Wählerschaft, gesorgt haben. Putin fünf Millionen Hochschulabsolventen hatte ja im Wahlkampf genügend Gele- mit Job und Einkommen unzufrieden genheit gehabt, auch gesucht, sich die- sein, und manche würden lieber aus- sem zu stellen: Korruption, Machtmiss- reisen. 57 Prozent der 25- bis 35-Jäh- brauch, Verquickung des Beamtenap- rigen haben Hochschulabschluss, 80 parates und von Funktionsträgern mit Prozent der bis 30-Jährigen. Das gibt Name, Vorname der Privatwirtschaft zum Zwecke der es nur noch in Kanada, Südkorea und Schaffung von Monopolstellungen, Japan. In den nächsten zehn bis fünf-

Vetternwirtschaft, Behinderung krea- zehn Jahren müssen für die Hochschul- Straße, Hausnummer tiver, unternehmerischer Tätigkeit von absolventen zehn bis fünfzehn Millio- Mittelständigen durch korrupte Beam- nen Arbeitsplätze geschaffen werden. te, geringe Durchsetzungskraft getrof- Das ist aber nur möglich, wenn die PLZ, Ort fener Entscheidungen (Anti-Korrutions- durchgehende Modernisierung der In- gesetz), Kritik am Gesundheitswesen, dustrie endlich greift. Mit einer einsei- gravierende Probleme der Kommunal- tigen Ressourcen-Wirtschaft, so wich- Ich bestelle ab sofort Exemplar(e) und Hauswirtschaft, die vor allem die tig der Riesenbesitz an Naturreichtü- der Zeitschrift DISPUT im Mittelschichten auf die Palme bringen. mern für das Land und die Behauptung Putin war offensichtlich über das in der internationalen Auseinanderset- Halbjahresabonnement zum Preis von Ausmaß der Protestbewegung über- zung auch ist, kann das nicht gepackt 12,00 Euro inkl. Versandkosten rascht und nimmt sie sehr ernst. Wirk- werden. Sorge bereitet, dass unter die- liche Gefahr geht nicht von den neoli- sen Jungen westliche Einfl üsse beson- Jahresabonnement zum Preis von beralen Altoppositionellen wie Nem- ders stark sind, Geschichtsbewusst- 21,60 Euro inkl. Versandkosten zow, Kasjanow, Kasparow, Ryschkow sein nicht sehr entwickelt ist. aus, die versucht hatten, sich an die Putin konnte sich im Wahlkampf auf und nutze den vorteilhaften Bankeinzug Spitze der Bewegung zu stellen. Extre- die Arbeiterschaft, die Gewerkschaften me Aufrufe, wie den von Kasparow an und die Bevölkerung auf dem fl achen die USA, mit Russland wie mit Libyen Land verlassen. Das hob er hervor, als umzugehen (Infox.ru, 22.11.2011), fi n- er sich als erstes bei den Arbeitern in Geldinstitut den in der Gesellschaft keinerlei Ver- einem Rüstungsbetrieb im Ural in einer ständnis. Die Neoliberalen haben kei- Video-Sendung bedankte. nen ernsthaften Widerhall, sie haben Bankleitzahl sich durch ihr Versagen in der Vergan- Kampf um junge Mittelschicht genheit und ihren Dienst für Jelzin ver- schlissen, sind nicht mehr wählbar. Es Aber der Kampf um die junge, aufstre- geht auch nicht um den vom Westen bende Mittelschicht und die Industrie- Kontonummer hochstilisierten Blogger Alexej Nawal- revolution sind die Herkules-Heraus- nij, trotz seiner gefährlichen, vor allem forderungen für Putin und seine Mann- oder gegen die Kaukasier gerichteten chau- schaft. Hier wird sich entscheiden, ob vinistischen Attacken. er in den sechs Jahren seine Mission er- bitte um Rechnungslegung (gegen Es geht um die vielen jungen Leute, füllen kann. Gebühr) an meine Adresse. gut Ausgebildete und Anspruchsvolle Er wird bestrebt sein, dass auch in- (mehr als 70 Prozent der Demonstran- ternational abzusichern. Man weiß ten am 24. Dezember 2011 haben einen im Westen natürlich, dass Putin ein Hochschulabschluss), die spüren, dass berechenbarer Partner ist. Und man Das Abonnement verlängert sich automatisch um den sie etwas durchsetzen können. Sie sind braucht ihn und Russland, in Krisen- angegebenen Zeitraum zum gültigen Bezugszeitraum, falls ich nicht 15 Tage (Poststempel) vor dessen Ablauf keine Straßenkinder, wie Putin es in zeiten allemal. Aber wann hört man schriftlich kündige. seiner Arbeiterfamilie war, sondern le- endlich auf, alberne Belehrungen und ben in mehr oder weniger gehobenem Voreingenommenheiten, gar Feindbil- Wohlstand in den Großstädten. Sie der abzusondern. Helmut Schmidt hat sind Kinder der ganz Reichen, mehr- ja Recht, wenn er in seinem Buch »Au- Datum, 1. Unterschrift heitlich aber des neuen, vom Kreml ge- ßer Dienst« klarstellt, dass wir Deut- wollten Mittelstandes (etwa 25 bis 30 sche nun überhaupt kein Recht haben, Ich habe zur Kenntnis genommen, dass ich die Bestellung Prozent der Bevölkerung); sie und de- uns gegenüber Russland so zu verhal- innerhalb von 10 Tagen widerrufen kann. ren Eltern sind Nutznießer der mit Putin ten. Putin stellte in seiner Rede im Bun- Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung des eingetretenen Stabilisierung und Ent- destag die Vertrauensfrage. Sie endlich Widerrufs. wicklung des Landes. 29 Prozent ha- zu beantworten und mit Russland eine ben ein Auto, 50 Prozent können sich Politik der Gleichheit und gleichen Si- alle Informations- und Haushaltstech- cherheit zu betreiben, müsste eigent- Datum, 2. Unterschrift nik, Datschen leisten. Auslandsreisen, lich Staatsräson sein. Das Fenster des Coupon bitte senden an: Parteivorstand DIE LINKE, Restaurant- und Diskobesuche sind Ausverkaufs russischer Interessen wie Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin. kein Problem. Aber was nutzt das Au- zur Jelzin-Zeit hat sich unter Putin fest Bestellungen auch möglich unter: www.die-linke.de to, wenn man im Dauerstau steht und geschlossen.

37 DISPUT März 2012 Der Bücherberg von Sachsen Peter Sodann eröffnet im Mai seine DDR-Nationalbibliothek – mitten in der Provinz, im sächsischen Staucha

Staucha heißt das Dorf mit etwa 800 gut mit Klostersaal, toskanischen Säu- Ehrlicher-Kommissar, als Kandidaten Seelen, nordwestlich von Meißen und len, Stallungen, Scheunen. EU-Mittel, für den Bundespräsidenten 2009 (91 südlich von Riesa, inmitten der ehema- Gemeindegelder und Spenden sind Stimmen) und als ehemaligen Inten- ligen Kornkammer Sachsens oder der gefl ossen, und es steckt verdammt viel danten des Neuen Theater Halle (bis Lommatzscher Pfl ege. Etwas Heimat- Arbeit, Idealismus und Kreativität drin. 2005), wo die politische Administrati- kunde muss schon sein, um den exoti- Der Mann, der dieses Sisyphus-Unter- on ihn nicht mehr haben wollte: zu un- schen Standort für eine DDR-National- nehmen losgetreten hat und unermüd- bequem, linker Querulant eben. bibliothek überhaupt zu verstehen, das lich noch weitere Pläne verfolgt, heißt Jetzt war es an der Zeit – denn am 12. ganze Anwesen, ein ehemaliges Ritter- Peter Sodann. Wir kennen ihn alle: als und 13. Mai 2012 soll die Eröffnung der © Erich Wehnert (3)

Die fl eißigen Mit- arbeiterinnen er- fassen akkurat alle Publikationen. Noch liegen Tau- sende Bücher un- sortiert im Lager. Und täglich kom- men Kartons hinzu.

KULTUR DISPUT März 2012 38 Bibliothek sein –, ihn in Staucha auf- Friedrich Dürrenmatt aus »Die Physi- Anfang genommen? Und wie waren die zusuchen, in der Provinz, um den Bü- ker«; die Rolle habe ich mal gespielt. Mühen der Ebene? cherberg zu sichten und Fragen loszu- Dieser Satz heißt: »Was einmal gedacht Seinen Anfang hat es 1989 genom- werden. wurde, kann nicht mehr zurückgenom- men, als der Westen über uns kam. Wir men werden.« Jetzt, im Moment nimmt hatten ihn gerufen. Er ist auch schnell Lieber Peter, wir sind nach dem Rund- man viele Sätze der damaligen Zeit zu- gekommen. Da kam ein Mädchen zu gang durch die Bibliothek stark beein- rück oder versucht, sie zu verunstalten. mir – ich war noch Leiter des »Neu- druckt, weil wir uns das nicht erträumt Aber es gibt einfach vernünftige Sätze haben, als wir auf dieses Dorf zuge- nun mal auch in dem Gedicht über die fahren sind, was hier für ein Kultur- Bürde des Kommunismus: »Es ist das Peter-Sodann-Bibliothek e. V. gut lagert. Das Wort Projekt magst du Einfache, was schwer zu machen ist.« Thomas-Müntzer-Platz 8 ja nicht. Wie würdest du denn dieses 01594 Staucha ganze Unternehmen bezeichnen? Dieses Unternehmen – weil man ja www.psb-staucha.de Als eine Werterhaltung für etwas, nicht nur Idealist sein darf, sondern Spenden an: was Menschen gelebt haben und si- auch unternehmerische Fähigkeiten Peter-Sodann-Bibliothek e. V. cherlich in irgendeiner Weise weiterle- entwickeln muss, denn das wird hier Sparkasse Meißen ben werden. Im Moment anders, aber ja nicht vom Staat gesponsert und ge- Konto: 3150005000 ich kenne den berühmten Satz von fördert –, wie hat es eigentlich seinen Bankleitzahl: 85055000

39 DISPUT März 2012 en Theater« – und sagte: Meine Eltern gonnen habe, das »Neue Theater« in umstritten ist. Also man hat ja immer schicken mich, Sie möchten doch bit- Halle zu bauen. Damals hat man mich bei solchen Geschichten – diese ist ja te mal zum Gewerkschaftshaus fahren auch als Idiot oder Dummkopf bezeich- erfolgreich – Leute, die neidisch sind ... Dort trugen Arbeiter die Bücher, Ton- net. Wie willst du denn das machen? oder sich gestört fühlen. bandgeräte und alles, was in der Bib- Nach 25 Jahren hatte ich es dann fer- Im »Hamlet« heißt es: »… und unter- liothek der Gewerkschaft war, heraus tig. Leider haben die Stadtmütter und nahmen hohen Flugs und Ziels und Ge- und warfen es auf die LKWs, um damit -väter entschieden, dass ich die Stadt danken drehen ab vom Kurs und verlie- auf die Müllkippe nach Lochau zu fah- verlassen soll. ren den Armen Tat.« So ist es auch hier. ren. Ich habe mich der Dinge nicht er- Es hatte mich dann der Bürgermeis- Bei Maxim Gorki steht doch – ich kann wehren können, sonst hätten sie mich ter, Herr Robrecht, von Merseburg auf- mich an den Text nicht mehr genau er- verprügelt. Ich habe natürlich alle Or- genommen, der schon den Maler Sit- innern: Wenn mal einer eine gute Idee ganisationen zur Wende angerufen, te aufgenommen hatte Er bot mir die hat, gibt es sofort einen, der sie nicht aber keiner hatte Interesse daran, die Orangerie an, und es war alles schon so liebt. Also man züchtet doch, indem Bücher zu erhalten. Da habe ich mir beisammen, dass man sagen konnte, man irgendetwas bastelt, sofort seinen geschworen: Das geht nicht, denn sie das wäre ein Werdegang. Leider muss- eigenen Feind immer heran. Das ist in werfen ja mein Leben weg. te dieser Bürgermeister zurücktreten. einem Dorf wie auch in einer Stadt ge- Ich will jetzt nicht auf das Buch »Wie Der neue Bürgermeister von der CDU nauso. Die Dummheit ist unendlich. der Stahl gehärtet wurde« zurückkom- hatte überhaupt gar kein Interesse. Es gibt auch schöne andere Sätze, men. Dennoch ist einer der wertvolls- an die ich mich halte. Mein Wille ist ja ten Sprüche in diesem Buch drin: »Das Also musstest du da auch wieder raus. nicht nur, die Bibliothek zu gründen. Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist Ja, man bot mir eine Turnhalle an, Zu dieser Bibliothek gehört noch et- das Leben. Es wird ihm nur ein einzi- wo die Vögel durchfl ogen und es auch was anderes. Da gehört eine Lehraus- ges Mal gegeben.« Dann habe ich an- sehr feucht war. Irgendwie musste ich bildung dazu, also ein kleines Inter- gefangen zu sammeln, weil ich mein- eine Rettung fi nden. Dann habe ich nat. Da gehört ein Restaurant dazu. te, die Bücher werden wir doch, wenn mich mit einer Bitte an die Bevölkerung Ich weiß, viele Menschen möchten das auch nicht alle, brauchen. In vielen Bü- ins Internet gestellt, wer denn wo etwas auch irgendwann mal sehen und möch- chern, die ich gelesen habe, sind doch hätte oder wer mich aufnehmen könn- ten sich hier Bücher ausleihen. Also, es vernünftige Gedanken drin, wenn ich te. Da boten sich Leute, die sich ein al- wird schon eine Bachelorarbeit. an »Frühlingsstürme« von Walentin tes Schloss gekauft hatten, an. Aber sie Die Menschen interessieren sich Owetschkin denke. Meine Weisheit ha- wollten immer, dass ich Geld mitbrin- schon langsam dafür, wenn ich jeman- be ich ja damals aus der sogenannten ge. Doch ich habe ja kein Geld. den fragen will, wie denn das Leben in Antiliteratur, Bauernliteratur oder wie Der Bürgermeister hier von diesem der DDR wirklich war. Denn die Histo- wir sie genannt haben geschöpft. Nun kleinen Dorf rief mich an, ob ich denn riker, die ich zurzeit Hysteriker nenne, bin ich eben so weit gegangen, dass ich mal vorbeikommen würde. Da sah ich schreiben ja nicht das, was man eigent- alle Bücher vom Tag der Befreiung 1945 den Kuhstall. Der war ordentlich herge- lich will. Sie können ja nicht mal richtig an bis zu Schabowskis Spruch »Die richtet. Da wusste ich, der Bürgermeis- die Akten lesen. Mauer ist gefallen« sammle. Aber das ter hat was drauf. Er behandelt dieses ist nicht der genaue Termin, sondern es Dorf mit Liebe. Er hat gesagt, wenn wir Du hast bei deinem Tun ja auch einen ist der der Vereinigung Deutschlands, Geld brauchen, dann müssen wir wel- Verein, du bist jetzt nicht nur Einzel- der 3.10.1990. An dem Tag ist das ja ge- ches auftreiben. Dann haben wir hier kämpfer ... feiert worden. oben angefangen zu bauen. Ich bin Einzelkämpfer. Im Moment Bis dahin sammle ich alle Bücher Ich habe mich über die Bürgermeis- lebe ich unter dem Motto: Was du nicht und Zeitschriften der über 300 Verla- ter dieser einzelnen Orte – es sind 21 selber tust, tut für dich kein Anderer. ge, die in der DDR erschienen sind und kleine Dörfer, die hier zusammenge- Das war schon immer mein Motto im die über und unter dem Ladentisch ver- fasst sind – gewundert und gefreut. Leben. Aber ich weiß, dass dies ein fal- kauft worden sind. Da staunt man nun Die 21 haben einstimmig die Hand ge- sches Motto ist. Insofern braucht man auf einmal, was doch in Wirklichkeit al- hoben, dass sie das wollen. Das muss viele Andere, die mithelfen. les gedruckt worden ist, was für West- man erst einmal fi nden. Sie haben Ei- Ich bin ich gerade dabei, dies alles literatur im Osten gedruckt worden genmittel selbst aufgebracht. Das war so langsam stetig aufzubauen, damit ist, was für Ostliteratur nicht im Wes- schon erstaunlich. nicht ein Dummer kommt. Es gibt doch ten gedruckt worden ist. Dann kriegt Ich bin ja auch durch Umberto Eco immer den sogenannten Aber-Men- man auch Achtung vor der Leistung der beraten. Nicht, dass ich ihn persönlich schen. Da quatscht immer einer dazwi- Bevölkerung dieses Landes und auch kenne, aber er hatte in seinen Büchern schen. Das möchte ich nicht. vorm Humor dieses Landes. geschrieben, dass man, wenn man et- Da ich aber auch kein Geld habe, was anfängt, vielleicht doch die Dör- ist es schwierig. Ich brauche normaler- Aber von 1989 bis 2012 ist ja ein langer fer mehr berücksichtigen sollte als die weise einen Bibliothekar. Dann brau- Weg bestritten worden. Jetzt lassen wir Städte. Jetzt gibt es auch ein paar Ar- che ich einen Hausmeister. Dann brau- mal die Rolle des Don Quijote als Ide- beitskräfte – ein paar Bürgerarbeits- che ich noch dies und das. Aber wo soll alisten beiseite, sondern mehr des – kräfte, ein paar Entgeltarbeitskräfte. Es ich hingehen? Also da wird man nicht auch wieder ein fürchterliches Wort – gibt auch etliche Freiwillige, die hierher gleich mit freudigen Armen aufgenom- Managers oder des Unternehmers: Wie kommen. So helfen sie, die Bibliothek men, jetzt, wo alle sagen, wir haben so- hast du über die Jahrzehnte hinweg in langsam aufzubauen. Ich möchte auch, wieso kein Geld. Wenn mir der Bundes- großen Schritten das geschafft, jetzt dass es langsam geschieht. präsident rät, ich soll mir Sponsoren an diesem Ort anzukommen? suchen, dann muss ich ja nicht mehr Erst mal stehst du ja mit dieser gan- Das klingt alles sehr durchdacht. Trotz- mit ihm sprechen, weil jeder diesen zen Geschichte immer allein da. Ich er- dem könnte ich mir vorstellen, dass im dummen Gedanken hat. innere mich daran, dass ich 1980 be- Dorf dieses Unternehmen vielleicht Was das Dort anbelangt, bin ich

KULTUR DISPUT März 2012 40 frohen Mutes. Aber dazu gehört eben »Als er siebzig war und war gebrechlich bereit ist. Wir leben in einer gewissen noch viel anderes. Ein Hotel gehört Drängte es den Lehrer doch zur Ruh. Versklavung in dieser Zeit. hierher. Ein Restaurant gehört hierher. Denn die Güte war im Lande wieder Ich habe das bis auf die Spitze getrie- einmal schwächlich Wie geht es weiter? Wie sieht dieses ben, aber nur in meiner Phantasie: Hier Und die Bosheit nahm an Kräften wieder Jahr aus? Was sind so die nächsten gehört ein Theater hin. Aber die größte einmal zu Schritte? Geschichte wäre ein Golfplatz für Arme. Und er gürtete den Schuh.« Am 12. und 13. Mai ist die Eröffnung. Das möchte ich wenigstens der Öffent- Ist das jetzt ernst gemeint? Ich sage noch: Wie soll man etwas fi n- lichkeit sagen. Wir haben auch jetzt Das ist ernst gemeint. den, wenn man keine Frage hat? Die schon jeden Tag, außer Samstag und Politik von Parteien und Regierung, die Sonntag, von 8.00 bis 14.00 Uhr offen. Da gibt es hier die Flächen? wir jetzt haben, treibt den Leuten die Aber dann will ich gerne sehen, Die Flächen gibt es. Man kann hier Fragen aus. dass ich jeden Tag hier geöffnet habe. einen wunderbaren Golfplatz herrich- Hier hinten steht die Schule. Das ist Die Leute bringen ja Bücher und holen ten, aber nicht für die, die mit 100.000 die alte Dorfschule. Die ist stillgelegt. mal eins. Es kommen natürlich mehr Euro einsteigen. Die gibt es ja auch sel- Die möchte ich gerne als ein Haus aus- Bücher an, als geholt werden. Das ist ten im Osten. bauen. Weil: Es haben sich ungeheu- auch klar. er viele Leute angekündigt. Was heißt: Zu dieser Zeit will ich dann wenigs- Das ist eine interessante Idee. ungeheuer viel? Aber viele ältere Leute tens eine kleine Bühne dort drüben ha- Das geht schon. Aber da muss man kommen und sagen: Wenn wir hier ein ben, dass die Leute langsam den Sinn natürlich auch den Willen haben. Was Hotel hätten oder wenn wir hier woh- und Zweck verstehen, der hier ist. Die- machen wir denn mit den vielen Ar- nen könnten, dann könnten wir Ihnen ses Jahr will ich noch mein Restaurant beitslosen, wenn wir sie alle nicht auch helfen, die Bibliothek zu katalogi- da vorne haben, also eine kleine Gast- mehr brauchen? Das hat mit dem Golf- sieren und ähnliches. Wir würden dann stätte oder ein Cafe, wo alles zusam- platz für Arme gar nichts zu tun. Ich ha- einen Monat Urlaub machen. Dann men ist und wo man gut essen kann. Es be immer mal einen Spruch geprägt, würden wir ein bisschen mit dem Rad melden sich auch schon Reisegesell- der hieß: Nicht jeder kann das werden, rumkutschen. Es ist eine wunderschö- schaften an, die gern mal hier vorbei- was er möchte. Aber er kann eines wer- ne Gegend. Ein Tal und ein Berg. Ich lie- fahren würden. Ich denke schon, das den, was er eigentlich ist: ein Mensch. be diese Gegend. Ich brauche hier auch ist zu machen. Man muss natürlich vie- Im Theater habe ich immer gesagt: Die eine Jugendgruppe. le Menschen dazu überzeugen. Wenn Menschwerdung des Affen ist noch man kein Geld hat, ist das alles ganz nicht zu Ende. Das war mein Motto. Das Stichwort Jugendgruppe ist gefal- schwer bei einer freihändigen Arbeit. len. Warum ist es so schwierig – oder Aber der macht das einmal, und dann Mit dem Golfplatz für Arme hast du ist es nicht schwierig? –, an jüngere hat er gefroren an dem Tag. Das Durch- dich ja schon irgendwie verquatscht. Leute ranzukommen, die bei so einer haltevermögen der Menschen, etwas Das ist die exotische Variante. Bibliothek mitmachen? zu leisten, ist geringer geworden, als Das ist eine exotische Variante. Man Es haben sich ja schon welche ge- es einstmals war. Das weiß ich. Das ist kann ja für das Internet plädieren oder meldet. Ich habe da eigentlich über- erst mal die Vorplanung. für irgendwas. Ich plädiere mehr für ei- haupt keine Probleme, mit jungen Leu- Zur Ruhe setzen werde ich mich so- ne Bibliothek. ten auszukommen. Sie werden auch wieso nicht. Bis zum letzten Atemzug Im Internet suche ich. Aber wenn nicht nur das Facebook in die Hand oder wenn mir die Knochen so wehtun, ich keine Frage habe, werde ich auch nehmen oder das Internet. Sie werden dass ich nicht mehr aus dem Bett kom- nichts fi nden. Von den Leuten werden auch schon wieder mal ein Buch in die me, dann geht es sowieso nicht mehr. durch Begriffe automatisch die Fra- Hand nehmen. Die Sehnsucht ist doch gen ausgetrieben. Wo kann ich besser da. Vielen Dank. Es ist so viel gesagt wor- shoppen? Wo kann ich besser das? – Das ist das Gleiche, wenn ich in ein den. Diese Fragen existieren. Aber wir hat- Museum gehe. Ich war vor Kurzem ge- ten mal im Leben einen vernünftigen rade in Weimar bei Goethe. Das klingt Interview: Gert Gampe Gedanken gehabt. Jetzt wird es schon jetzt ein bisschen blöd. Aber ich hät- schwieriger. Oder: Wer ist Theodor te, wenn ich da reingehe, auch natür- Storm? Nur mal so. Wer ist das? Den lich ungeheure Lust gehabt, mich auf kennt keiner. Was alles so verlorenge- den Stuhl von Goethe zu setzen. Und

gangen ist. das darfst du nicht. Ich fi nde, alles, was © Erich Wehnert Ich trat in der »Distel« auf. Das Pub- man macht, braucht auch das Sinnli- likum wollte eine Zugabe. Da habe ich che. Wenn das Sinnliche wegkommt gesagt: Na gut, ich kann euch noch ein und wenn man den Leuten einredet, Gedicht vorlesen, eines, was mir gefällt dass man sich verstöpseln muss, dass und was ich zu meinem 20. Geburts- man mit dem Zug fahren muss und tag vorgelesen habe. Aber ihr werdet nur noch auf den Computer guckt und das nicht kennen. Oder kennt ihr das nicht nach draußen ... Die wissen gar Gedicht? Ich sage euch mal den Titel: nicht, dass es Winter ist. Die gucken gar »Die Legende von der Entstehung des nicht raus. Die kennen ja auch keinen Buches Taoteking auf dem Weg des La- Specht. Das ist aber Absicht, behaupte otse in die Emigration«. Kennt es je- ich. Das ist eine sogenannte Klimaan- mand? Von all den Zuschauern kann- gelegenheit des Geldverdienens oder te es kein Schwein. Es ist von Bertolt die Menschheit zu Dingen bereit zu ma- Brecht. Dort heißt es: chen, zu denen sie eigentlich gar nicht

41 DISPUT März 2012 »Wer Hindenburg wählt ...« Vor 80 Jahren wurde Reichspräsident von Hindenburg wiedergewählt – als Kandidat der SPD Von Ronald Friedmann

Im Frühjahr 1932 war allen politischen eigenen Kandidaten verzichtet und da- Der erste Wahlgang fand am 13. März Beobachtern klar, dass die Weimarer mit begonnen, die Mitgliedschaft auf ei- 1932 statt. Um die Wahl bereits in dieser Republik vor ihrer Endkrise stand. Der ne bedingungslose Unterstützung Hin- ersten Runde zu entscheiden, hätte ei- Reichstag war in allen Fragen der tägli- denburgs zu orientieren, um so – getreu ner der Kandidaten die absolute Mehr- chen Politik längst entmachtet und zum der beinahe schon traditionellen sozi- heit der abgegebenen Stimmen erhal- nahezu willenlosen Anhängsel für eine aldemokratischen »Politik des kleine- ten müssen. Doch Hindenburg kam nur Reichsregierung verkommen, die nur ren Übels« – Hitler zu verhindern. Ernst auf 49,6 Prozent. Hitler lag mit 30,2 Pro- noch mit Notverordnungen des Reichs- Heilmann, ein führender Sozialdemo- zent deutlich abgeschlagen auf dem präsidenten regierte. In dieser Situation krat, der 1940 im KZ Buchenwald ermor- zweiten Platz. Thälmann, gegen den die war Reichskanzler Heinrich Brüning, ein det wurde, hatte dazu öffentlich erklärt, Führung der SPD mit der Losung ange- Politiker der rechtskonservativen, ganz dass die Sozialdemokratie »alles zu tun treten war, jede Stimme für Thälmann überwiegend katholischen Zentrums- [habe], um die Wahl eines Nazireichs- sei eine Stimme für Hitler, hatte respek- partei, bestrebt, die nach Ablauf der präsidenten zu verhindern, eine Wahl, table 13,2 Prozent erzielt. Theodor Dues- siebenjährigen Amtszeit anstehende die für Deutschland ebenso wie für die terberg, der Kandidat der »Reste« der Neuwahl des Reichspräsidenten zu um- Arbeiterklasse den Untergang bedeute- vormaligen »Harzburger Front«, spielte gehen. Seine Idee war es, durch einen te, und alles dran zu setzen, dass in der mit 6,8 Prozent keine Rolle. Beschluss des Reichstages die Amtszeit Wilhelmstraße ein verfassungstreuer Bereits am 10. April 1932 fand der des greisen Generalfeldmarschalls Paul Reichspräsident amtet. Das ist das Ziel, zweite Wahlgang statt. Hindenburg hat- von Hindenburg um eine unbestimmte und alles andere ist Nebensache.« te mit einer Notverordnung alle politi- Zeit zu verlängern oder zumindest seine Die Möglichkeit eines breiten anti- schen Veranstaltungen für die Ostertage (indirekte) Wiederwahl durch eine einfa- faschistischen Bündnisses mit einem verboten, so dass sich der Wahlkampf che Mehrheit der Reichstagsabgeordne- gemeinsamen Kandidaten, der eine Al- auf die knappe Woche vor dem Wahl- ten zu sichern. Doch dazu war eine Än- ternative sowohl zu Hitler als auch zu tag konzentrierte. Bei einer Wahlbetei- derung der Weimarer Verfassung erfor- Hindenburg gewesen wäre, hatte die ligung von 83,4 Prozent erhielt Hinden- derlich, und Brüning sah keine Chance, Führung der SPD von Anfang an ausge- burg nun 53,1 Prozent der Wählerstim- eine entsprechende Mehrheit sicher- schlossen. Für die KPD gab es unter die- men, auf Hitler entfi elen 36,7 Prozent. zustellen. Insbesondere Hitler spielte sen Umständen nur die Möglichkeit, ei- Thälmann konnte sein Ergebnis aus sich als Hüter der Verfassung auf, denn nen eigenen Kandidaten aufzustellen: dem ersten Wahlgang nicht wiederho- er selbst wollte für das Reichspräsiden- Sie nominierte ihren Parteivorsitzenden len und erreichte nur noch 10,1 Prozent. tenamt kandidieren und so seinen Weg Ernst Thälmann. Den Wahlkampf führte Die Führung der SPD feierte den Er- an die Spitze des deutschen Staates die KPD unter der bis heute berühm- folg Hindenburgs als ihren Sieg. Der vollenden. Dass er dabei das Ausein- ten Losung »Wer Hindenburg wählt, bereits zitierte Ernst Heilmann verstieg anderbrechen der erst wenige Monate wählt Hitler, wer Hitler wählt, wählt den sich sogar zu der Behauptung, dass zuvor mühsam zusammengezimmer- Krieg.« Es gehört zur Tragik in der Ge- die Wiederwahl des einstigen kaiser- ten rechtsextremistischen »Harzburger schichte der KPD, dass sich gerade die- lichen Generalfeldmarschalls »ein gro- Front« aus Nazipartei, Deutschnatio- se Losung, im Gegensatz zu vielen an- ßer Sieg der Partei, ein Triumph der De- naler Volkspartei (DNVP), »Stahlhelm« deren, die mit großer Kraft und Begeiste- mokratie« gewesen sei. Nur zehn Mo- und weiteren kleineren Gruppierungen rung vertreten wurden, mit aller schreck- nate später wurde der tödliche Irrtum riskierte, spielte für ihn keine Rolle. Er lichen Konsequenz als richtig erwies. der SPD auch für die letzten sozialde- glaubte sich stark genug, das Ziel allein mokratischen Un- erreichen zu können. ANZEIGE terstützer Hinden- Am 1. Februar 1932 konstituierte sich burgs unüberseh- in Berlin der großbürgerliche sogenann- bar. Am 30. Janu- te Hindenburg-Ausschuss, dem unter 16.+17.6.2012 ar 1933 ernannte anderen der Vorsitzende des Reichsver- KULTURBRAUEREI Hindenburg, ge- bandes der deutschen Industrie, Carl BERLIN-PRENZLAUER BERG drängt von ein- Duisberg, angehörte. Dieser Ausschuss fl ussreichen Kräf- hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ein ten aus Politik Bündnis zu formieren, das die Wieder- und Wirtschaft, wahl Hindenburgs sicherstellen soll- die verborgen, te. Dazu waren allerdings nicht nur die aber wirksam Stimmen der vielen Wähler der Zent- im Hintergrund rumspartei erforderlich, die 1925 Hin- agierten, Hitler denburg noch mehrheitlich abgelehnt POLIT-TALK. KONZERTE. zum Reichskanz- hatten, sondern auch die Stimmen der INTERNATIONALE GÄSTE. ler. Das dunkelste sozialdemokratischen Wähler. LITERATURWERKSTATT. Kapitel der deut- KINDERFEST. ND-PRESSEFEST. Der Parteivorstand der SPD hatte be- WWW.LINKSFRAKTION.DE schen Geschichte reits sehr früh auf die Benennung eines begann.

GESCHICHTE DISPUT März 2012 42 Schatzkammer der Parteigeschichte Das Archiv Demokratischer Sozialismus – erste Adresse für Forschungen zur Partei DIE LINKE und zur Idee eines Demokratischen Sozialismus Von Christine Gohsmann

Archive werden gern als Schatzkam- Rosa-Luxemburg-Stiftung Regelmäßig erfolgen Aktenüberga- mern der Historie bezeichnet, die zu Archiv und Bibliothek ben aus dem Archiv beim Parteivor- bestimmten Anlässen die Tore öffnen Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin stand. Dabei arbeiten die Mitarbeiter/ und ihre Schätze präsentieren. Welche Telefon: 030/44310121 bzw. –131 innen des ADS eng mit dem Archivar zu- Schätze beherbergt das Archiv Demo- [email protected] sammen und beraten gemeinsam Fra- kratischer Sozialismus (ADS), und wem gen der elektronischen Aktenführung öffnet es seine Tore? und der Langzeitarchivierung. Das ADS ist das Parteiarchiv, des- Zum Zwecke einer sinnvollen Ergän- sen Aufgabe in der Sicherung und Be- Nutzung durch die interessierte Öffent- zung der im ADS vorhandenen Unterla- wahrung der Dokumente und Quel- lichkeit. Dazu werden die Unterlagen gen führen Mitarbeiter/innen des ADS len zur politischen Grundströmung des nach der Übernahme erschlossen und vor Ort Konsultationen und Sichtungs- Demokratischen Sozialismus besteht. zugänglich gemacht. Ergebnis dieser reisen durch und beraten die Landes- Der Aufbau des ADS begann 1999. En- Arbeiten sind die Findbücher, sie sind verbände und Landtagsfraktionen zu de 2011 umfasste das Archiv mehr als gedruckt und online verfügbar und er- Fragen der Aktenbildung und -struktu- 1.000 laufende Meter Akten. Gemein- möglichen den Interessenten vor dem rierung. sam mit der Bibliothek bildet es den Archivbesuch eine Orientierung in den Um die Arbeit und den Service be- Bereich Archiv und Bibliothek der Ro- verschiedenen Beständen. Das ADS öff- kannt zu machen, beteiligt sich das ADS sa Luxemburg Stiftung e. V. Im ADS ar- net allen seine Tore, die ein berechtigtes am Tag der Archive, der alle zwei Jahre beiten fünf Archivarinnen und Archiva- Interesse an einer Akteneinsicht nach- vom Verband deutscher Archivarinnen re; seit dem Herbst 2011 bildet das ADS weisen können. Dazu zählen zahlreiche und Archivare veranstaltet wird. So bot auch aus. Wissenschaftler/innen aus dem In- und das ADS am 3. März 2012 zwei Führun- Um die Entstehung und Entwicklung Ausland und Journalisten. Im Vorfeld ei- gen durch das Archiv an. Interessenten der Partei DIE LINKE und ihrer Quellorga- ner Akteneinsicht ist ein Benutzungsan- müssen jedoch nicht bis zum nächsten nisationen PDS und Wahlalternative Ar- trag zu stellen. Die Mitarbeiter/innen Tag der Archive 2014 warten. Sie kön- beit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) des ADS sind gern bei den Recherchen nen sich beim ADS melden und einen umfassend dokumentieren zu können, behilfl ich. Grundsatzdokumente zur Ge- Termin für ein Gespräch oder eine Füh- übernimmt das ADS die Akten schichte der Partei sind zum Download rung (vorzugsweise für Gruppen) ver- – des Parteivorstandes und der zentra- auf der Website hinterlegt. Diese Aus- einbaren. Dem ADS sind alle Benutzer len Untergliederungen, wahl wird ständig erweitert. Außerdem willkommen, die sich für die Geschichte – aus der Arbeit der Fraktionen auf Bun- ist auf der Website auch eine Übersicht und die Entwicklung der Partei DIE LIN- des- und Landesebene, (Wegweiser Bestände) zu fi nden, in wel- KE, ihrer Quellorganisationen und der – der Landesverbände und ausgewähl- chen Archiven und Einrichtungen weite- Idee des Demokratischen Sozialismus ter Kreisorganisationen sowie re Unterlagen zu fi nden sind. interessieren. – Personenbestände (Nachlässe und Seit dem Jahr 2000 lädt das ADS in je- Mit speziellen Projekten bemüht sich Deposita) und baut Sammlungen wie dem Herbst die Archivverantwortlichen das ADS um die Erweiterung seines An- die Sammlung Kleine Zeitungen der Par- beim Parteivorstand, der Bundestags- gebotes. So steht die Vorbereitung ei- tei DIE LINKE und ihres Umfeldes auf. fraktion, der Landesverbände, der Land- nes Bestandes mit Fernsehbeiträgen Die ältesten Unterlagen sind jene tagsfraktionen sowie der Landesstiftun- über die PDS/DIE LINKE vor dem Ab- vom Sonderparteitag der SED/PDS im gen und Vereine zu einem Treffen ein. schluss und wird dann im ADS nutzbar Dezember 1989. Alle Unterlagen der Die meist ehrenamtlich tätigen Archiva- sein. Dieser Bestand kann für Forschun- SED vor diesem Stichdatum sind in den rinnen und Archivare und die Mitarbei- gen zur medialen Präsenz der PDS/DIE zuständigen Archiven (Stiftung der Par- ter/innen des ADS beraten dann Proble- LINKE herangezogen werden. Ein wei- teien und Massenorganisationen der me und Herausforderungen der archiv- teres Projekt soll die Speicherung und DDR im Bundesarchiv und andere) zu fachlichen Arbeit wie den Umgang mit Auswertung der Webauftritte der Partei fi nden. Ins ADS werden auch jene Un- zunehmend elektronischen Unterlagen. DIE LINKE, der Fraktionen und ihrer Ab- terlagen von Persönlichkeiten der Partei Das ADS möchte an dieser Stelle ins- geordneten ermöglichen. übernommen, die seit Dezember 1989 besondere jene Mitglieder von Bundes- Zuletzt ein Wort in eigener Sache: in Wahrnehmung von Parteifunktionen und Landesvorständen der WASG, die Häufi g wird vermutet, dass das Archiv entstanden sind. Die Fraktionsakten Unterlagen aus der Geschichte der Or- Demokratischer Sozialismus auch den werden durch die Materialien der einzel- ganisation verwahren, ermuntern, die- Nachlass der Namensgeberin der Stif- nen Bundestagsabgeordneten und de- se an das ADS abzugeben. Gemäß dem tung – Rosa Luxemburg – verwahrt. ren Büros ergänzt. Gleiches gilt für die Beschluss des Parteivorstandes vom 14. Dies ist nicht der Fall. Bei diesbezüg- Unterlagen der Mitglieder der Landtage Februar 2009 zur Überführung der Un- lichen Anfragen können wir zwar die und ihrer Mitarbeiter/innen. Insgesamt terlagen der WASG an das Archiv Demo- Durchsicht der in der Bibliothek bereit- ermöglichen sie einen guten Einblick in kratischer Sozialismus möchte das ADS gestellten Arbeiten von und über Rosa die parlamentarische Arbeit. seinen Beitrag leisten, um die Entwick- Luxemburg und ihre Weggefährten an- Ziel aller archivarischen Tätigkeit ist lung der Quellorganisation WASG um- bieten, Archivdokumente gibt es im ADS die Bereitstellung der Unterlagen für die fassend zu dokumentieren. jedoch nicht.

43 DISPUT März 2012 ARCHIV BRIEFE

Ein Beispiel aus Magdeburg-Ol- cher ein klares Votum . Doch mehr als Nutzen venstedt: Wir wohnen in einem Stadt- die Hälfte der Mitglieder hat sich nicht betr.: DISPUT 1/2012, »Klares Votum« teil, der im Vollzug des Stadtumbau- beteiligt und damit dem Programm Viele Magdeburger LINKE dürfen Ost Tausende Wohnungen aus DDR- auch nicht zugestimmt. Nun wird nie- »unser« Programm sagen, haben sie Zeiten verloren hat. Städtebauliche mand behaupten, dass das alles Nein- doch nach Diskussionen an dem Text Aufwertungen sind bisher selten er- Stimmen waren. Aber es war doch nur mitgewirkt, der auf dem Erfurter Partei- folgt. Nun besteht die Chance, einen erforderlich, einen Zettel auszufüllen tag und mit dem folgenden Mitglieder- See im Stadtgebiet zur Aufwertung des und den in den Briefkasten zu werfen entscheid in Kraft gesetzt wurde. Nun Wohnumfeldes zu nutzen. Unter Regie oder werfen zu lassen. Eine solche In- kommt es darauf an, das Programm in des Stadtplanungsamtes beteiligen aktivität der Mitgliedermehrheit beim der widerspruchsvollen Praxis zu nut- wir uns als LINKE in einer Bürgeriniti- wichtigsten Dokument sollte ernsthaf- zen und öffentlichkeitswirksam zu ma- ative an der Gestaltung und späteren te Besorgnis über den Zustand der Par- chen. In Magdeburg wollen wir uns im Nutzung des Sternsees. Unser Stadt- tei auslösen. Stadtverband bei der Diskussion von rat Bernd Krause stellt dazu die Verbin- Kurt Laser, Berlin Programmschwerpunkten auf den Be- dung zwischen der Basis und der städ- griff der Transformation konzentrieren. tischen Kommunalpolitik her. Ein Projekt der Rosa-Luxemburg-Stif- Damit ist natürlich kein Transfor- Richtigstellung tung Sachsen-Anhalt kann für 2012 un- mationsprojekt in Richtung demokra- betr.: DISPUT 1/2012, »Wegweiser« terstützend wirken. Transformation ist tischer Sozialismus fertiggestellt, aber Im Beitrag »LINKE 2020« ist ein Be- unseres Erachtens als Auftakt einer le- der Einstieg in aktive Demokratie für griff von mir falsch gewählt und das Ge- bendigen Diskussion geeignet, denn bessere Lebensbedingungen im Alltag meinte darum missverständlich gewor- oftmals ist der Einstieg, der Beginn ei- vieler Menschen, der auch für andere den: Im vorletzten Absatz ging es da- ner schöpferischen Debatte entschei- Projekte Vorbild sein kann. Die Öffent- rum, ob eine Hauptamtlichen-Struktur dend. Unser Projekt soll zu schöpfe- lichkeitswirkung bei kommenden Wah- der Partei aufgabenbezogen (beim Lan- rischen Diskussionen auf verschiede- len für DIE LINKE sollte nicht gering ge- desverband sind Fachleute für Öffent- nen Foren in Sachsen-Anhalt führen, ei- schätzt werden, Infostände und Flug- lichkeitsarbeit, für Politische Bildung, ne abschließende Konferenz fi ndet im blätter allein reichen heute nicht mehr für Finanzen, für Mitgliedergewinnung November 2012 statt. Dazu haben wir bei dem Gegenwind aus anderen Par- etc. beschäftigt, die ihre Aufgaben bis eine Wegleitung erarbeitet, die Theo- teien bis hin zu Verbotsandrohungen auf die Basisebene erledigen) oder re- rie und Praxis dialektisch zu verbinden und geheimdienstlichen Beobachtun- gionalbezogen (in den Regionen oder sucht und auch öffentlich anziehend gen. Kreisverbänden gibt es Hauptamtliche, sein kann. Sie wird auch für Basisor- Dr. Heinz Sonntag, die jeweils für alle diese Aufgaben glei- ganisationen angeboten. Methodisch Magdeburg-Olvenstedt chermaßen zuständig sind) sein soll. geht es uns darum, Grundfragen einer Statt »fachgerecht« wäre der Begriff Transformationspolitik von der Theorie Die Zustimmung des Parteitages und »fachspezifi sch« oder »aufgabenbezo- und der Praxis anzugehen. (…) durch den Mitgliederentscheid war si- gen« eindeutiger gewesen. Jedenfalls

432 rote Punkte im ganzen Land: Klaus H. Jann aus Wülfrath hat sei- ne Wette (DISPUT berichtete) gewon- nen: Am 3. März vertrat DIE LINKE an 432 Infoständen ihre Positionen zu Finanzmarktkrise, Mindestlohn, Ge- sundheitspolitik … Die gewonnene Wette beschert der Solidaritätsakti- on »Milch für Kubas Kinder« ein er- kleckliches Sümmchen – und der Partei einen Gemeinschaftserfolg in der Öffentlichkeitsarbeit. Für die kommenden Wochen gibt es wichti- ge Gelegenheiten, dies fortzuführen: Die Wahlkämpfer/innen im Saarland und in Schleswig-Holstein freuen sich über Unterstützung. Hamburg

DISPUT März 2012 44 wollte ich die vielen Allrounderinnen handen, die eigentlich nicht bezahlt schen für ein Taschengeld eingesetzt. und Allrounder unter den Mitarbeiterin- und als solche anerkannt wird. Arbeit So wird Arbeit für die Gesellschaft als nen und Mitarbeitern der Partei nicht ist eine Tätigkeit, die der Gesellschaft Hobby betrachtet, obwohl diese Tätig- diffamieren. Im Gegenteil weiß ich ih- nützt und den Menschen, Tieren und keiten immer mehr gebraucht werden. re Kompetenz und ihr Engagement sehr der Umwelt Vorteile bringt, ob bezahlt Hier sind Tausende Arbeitsplätze, zu schätzen. oder unbezahlt. wo Menschen bei einem vernünftigen Claudia Gohde Schauen wir uns doch mal einige Lohn ihr Auskommen fi nden. Hier stel- Tätigkeiten von Ehrenamtlichen oder le ich mir auch das Grundeinkommen der Familie an. So werden von Famili- vor, welches vom Staat bezahlt wird. Empörung enangehörigen geistig oder körperlich Viele Tätigkeiten helfen anderen Men- Ich bin empört und zornig, dass Kran- Behinderte betreut, gepfl egt und erzo- schen, ihren Beruf ausüben zu können. kenkassen einerseits Milliarden zu- gen, ohne dafür einen Lohn zu bekom- Also ist Arbeit da, und sie muss als sol- lasten Kranker und von Pflegekräf- men. Kinder werden durch ältere Bür- che anerkannt werden. Die Arbeit, wie ten erwirtschaften und andererseits ger betreut, dabei lernen sie viel von sie früher einmal war, gibt es bald nicht Schwerstkranke kränker und zu Tode den Fähigkeiten und Fertigkeiten so- mehr. An ihrer Stelle muss auch solche sparen, indem medizinisch notwen- wie von ihrem Wissen. Auch werden im- Tätigkeit rücken. Der Mensch soll durch dige Heilmaßnahmen verweigert wer- mer mehr Aufgaben der Betreuung von ein Grundeinkommen selbst entschei- den. Wo bleibt der Aufstand jener, die Menschen in diesen Bereich gelegt. den, wie lange er tätig sein und was die Verletzung der Menschenwürde an- Zum Beispiel die »Grünen Damen« er noch tun möchte. Damit wird auch prangern? und »Grünen Herren« im Krankenhaus, die Frage der Rente anders gestellt. Je- E. Pracht, Bielefeld die sich mit den Patienten unterhalten. der sollte selbst entscheiden, wann er Dies ist für ihr seelisches Gleichgewicht ins Rentenalter eintreten möchte. Dies sehr wichtig und hilft, die Heilung zu sollte nach 35 Arbeitsjahren gesche- Arbeit unterstützen. Bei der Bahnhofsmission hen. Diese Arbeitsjahre müssen nicht Ich habe den »DISPUT« das erste Mal werden Reisende, nicht nur mit körper- im Stück sein, sondern auch nach Pau- und möchte sagen, er ist für meine Ar- lichen Schäden, unterstützt. Ehemalige sen; auch muss zu den Arbeitsjahren beit gut, da ich Infos bekomme, die ich Lehrer unterstützen lernschwache Kin- die Arbeitslosigkeit mit berechnet wer- brauche. der dabei, ihren Schulabschluss zu ma- den. Diese Arbeitslosigkeit sollte nicht Ich möchte meine Gedanken zum chen oder einen Beruf zu erlernen. Die mehr zeitlich begrenzt werden, son- Thema Arbeit aufschreiben und hoffe, Aufzählung ließe sich fortführen. dern nach drei Jahren in ein Grundein- dass sich Genossen mit einem besse- Was bekommen sie für einen Lohn? kommen münden. Da aber viele Men- ren Wissen beteiligen. Wer bezahlt diese Arbeit? Niemand. schen sich andere Tätigkeiten suchen, Wenn man von Arbeit redet, ist im- Es wird als selbstverständlich hinge- um in der Gesellschaft ihren Platz zu er- mer bezahlte körperliche und geistige nommen. So auch das freiwillige sozi- halten, wird das Grundeinkommen gar Arbeit gemeint, die zeitlich begrenzt ale Jahr. Hier werden im Pfl egebereich nicht so oft gebraucht wie gedacht. ist. Aber es ist auch andere Arbeit vor- Arbeitskräfte gespart und dafür Men- Wir sollten in der Partei diese Ge- danken diskutieren. In den Basisgrup- pen ist ein großes Potenzial, was für die Partei zu sehr vernachlässigt wird, und die Genossen lassen es mit sich geschehen. Gerade solche Genossen sollten den Mut haben, in den Partei- zeitschriften Probleme anzusprechen. Ich weiß, es gibt Mitglieder, die über diese Probleme mehr wissen, ich wür- de es gern annehmen und weiter dis- kutieren. Über solche Diskussionen können wir auch mehr Sympathisan- ten und neue Mitglieder gewinnen. Die Diskussionen müssen in der Öffentlich- © DIE LINKE.Hamburg/DIE LINKE.Thüringen/Simone Hock © DIE LINKE.Hamburg/DIE LINKE.Thüringen/Simone keit geführt werden, und darin darf es kein Tabu geben – auch wenn manches nicht in unserem Sinn ausfällt. Man wird immer dazu lernen, und wir wol- len das. Nur mit dem Bürger werden wir seine sozialen und menschlichen Pro- Erfurt Zwickau bleme lösen. D. Bach, Dessau-Roßlau

45 DISPUT März 2012 BÜCHER

scheint in der Familiengeschichte auf. nen Genossen nicht als 100-prozentig Familiengeschichten Dabei geht es um die Beziehung zwi- zuverlässig, was sich mit der Entwick- als Zeitgeschichte schen Vätern und Söhnen in drei Gene- lung seiner drei Söhne zu bestätigen rationen und die Legenden, mit denen schien. So führte für ihn keine Leiter Zwei lesenswerte Debüts erzählen sie aufwuchsen. Erzählt wird vom »nor- geradewegs in den Funktionärsolymp. von dem, was das eigene Leben erklärt. malen« Leben während und nach zwei Dennoch stand er wie ein Soldat zu Gelesen von Ingrid Feix Weltkriegen im Grenzgebiet zwischen seiner Partei, duldete dogmatisch kei- Deutschland und Polen, unter ständi- ne Abweichung von der Linie. Seine un- ass das wahre Leben die besten gem Wechsel der Machtverhältnisse in abdingbare Treue zur Partei trieb einen Geschichten erzählt, ist eine Bin- einem Gebiet, in dem mal Polen Deut- Keil zwischen ihn und seine Söhne, von D senweisheit, die sich allerdings sche und mal Deutsche Polen waren. denen sich jeder auf seine Weise von gerade in jüngster Zeit auf dem Buch- Noch der Vater des Erzählers, 1946 im der Familie löste. Der Konfl ikt zu sei- markt wieder bestätigt. Ebenso wie niedersächsischen Fürstenau zur Welt nem ältesten und rebellischsten Sohn, die Tatsache, dass die eigene Famili- gekommen, hat diesen Konflikt als dem Schriftsteller Thomas Brasch, ist engeschichte manchen zum Schreiben Kind zu spüren bekommen. Sein Vater, durch dessen Roman »Vor den Vätern drängt. Nicht nur der deutsche Buch- ein Pole, der mit der britischen Armee sterben die Söhne« lange bekannt. preisträger des vergangenen Jahres, den Krieg in Deutschland mit beendet Dass eigentlich beide, Vater und Sohn, Eugen Ruge, hat sich in seinem De- hatte, verließ schließlich die Familie, eine sozial gerechte, menschliche Ge- büt mit der eigenen Familiengeschich- um nach Polen zurückzukehren … sellschaft als Ziel im Sinn hatten, zeigt te befasst, auch die beiden vorliegen- Kolja Mensing erzählt diese Ge- hier exemplarisch die Tragik in der Ent- den Bücher sind nicht bloß Erstlings- schichte in einer angenehm sachli- wicklung der DDR im Einzelnen. werke, sondern auch ganz besondere chen, uneitlen und doch emotional be- Die Erzählerin Marion Brasch be- Familiengeschichten in gesellschaftli- wegenden Sprache. Ein sehr überzeu- schreibt ohne Scheu und sachlich di- chen Umbrüchen. gendes Buch, das durchaus auch als rekt von familiären Verlusten, dem frü- Kolja Mensing, Jahrgang 1971, hat Roman bezeichnet werden kann. hen Tod der Mutter, die mit dem reg- Politikwissenschaft studiert und ar- lementierten Leben in der DDR eben- beitet als Redakteur für verschiedene on vornherein als Roman bezeich- so wenig glücklich wurde wie ihre Medien. Sein Buch ist die Suche nach net die Radiomoderatorin Mari- Kinder, vom plötzlichen Tod des mitt- der Geschichte seines Vater und seines V on Brasch, Jahrgang 1961, ihre leren Bruders, der gerade erste Erfol- polnischen Großvaters. »In Romanen, Geschichte, in der es auch um einen ge als Schauspieler feierte … Doch es gesellschaftlichen Konflikt, der zwi- schen dem Vater und seinen Söhnen, das heißt ihren Brüdern ausgetragen © Repro (2) © Repro wird. Die wichtigen Personen in diesem Marion Brasch Kolja Mensing Buch werden so auch mit Beschreibun- Ab jetzt ist Ruhe Die Legende der Väter gen, aber eben nicht mit ihren Klarna- Roman meiner Eine Suche men bezeichnet. Koketterie ist ganz be- fabelhaften Familie Aufbau Verlag stimmt nicht im Spiel. Deshalb ist das S. Fischer Verlag 240 Seiten so in Ordnung, denn es geht um mehr 400 Seiten 18,99 Euro als nur die Ablichtung einer konkreten 19,99 Euro DDR-Szenerie von Künstlern und Intel- in denen es um Familien und ihre Ge- lektuellen, und es entsteht auch ein geht auch um den Verlust der Überzeu- schichten geht«, schreibt er, »wird ger- Stück DDR-Bild, das jenseits sich ver- gungskraft des sozialistischen Experi- ne ein bestimmter Moment beschrie- breitender Klischees von Widersprü- ments auf die Nachgeborenen. Die Au- ben, an dem der Erzähler unvermittelt chen und ihrer Normalität erzählt. Ma- torin selbst beschreibt ihr Dasein als Einsicht in eine dunkle Vergangenheit rion Brasch, die Jüngste der Familie, ist das einer, die sich eher treiben lässt, erhält. … Ich habe diesen Moment nie am längsten und engsten mit dem Va- Widerständen lieber aus dem Weg erlebt.« Fast nebenbei erfährt er als ter verbunden, der in der DDR ein hö- geht, die den Vater nicht auch noch Kind von seinem Vater etwas von der herer Funktionsträger war. Als ein zum enttäuschen möchte. Die Beschrei- Existenz seines polnischen Großvaters. Katholizismus und dann zum Kom- bungen ihrer kleinen »Rebellionen« Als Erwachsener macht er sich auf die munismus konvertierter Jude hatte er sind allerdings manchmal etwas zu Suche nach dessen Lebensgeschich- seine Jugend im englischen Exil ver- ausgedehnt, dennoch hat sie ein sehr te und fi ndet die Geschichte einer Fa- bracht, dort seine erste Frau, die dann lesenswertes Buch geschrieben. Mari- milie, die zunächst wenig mit seinem die Mutter seiner Kinder wurde, ken- on Braschs Sprache ist dabei ebenfalls Leben zu tun zu haben scheint. Aufge- nengelernt, bevor er nach dem Krieg in völlig unprätentiös und glaubhaft ehr- wachsen wie sein Vater in Niedersach- den Osten Deutschlands ging, um ei- lich, und entstanden ist eine familiäre sen, werden plötzlich polnische Wur- ne neue Gesellschaftsordnung aufzu- wie gesellschaftliche Verlustgeschichte zeln sichtbar, ein Stück Zeitgeschichte bauen. Als Westemigrant galt er sei- aus ihrer Sicht und Erfahrung.

DISPUT März 2012 46 ereits im frühen 19. Jahrhundert darüber nachgedacht, was zu tun sei, kämpften Vertreter des Libera- wenn führende Akteure der Politik dem B lismus dafür, dass nicht Einzel- Druck der Straße nicht mehr standzu- ne, sondern vom Bürgertum gewählte halten vermögen und zu sozialen Zuge- Volksvertretungen über grundlegende ständnissen an die protestierende Be- Fragen der Gesellschaft zu bestimmen völkerung bereit sind. Dabei werden al- haben. Die Kerngedanken liberaler De- le möglichen Auswege diskutiert, dar- mokratie- und Gesellschaftstheorie unter auch – wie man am Beispiel des und das allgemeine Wahlrecht, maß- »Forbes«-Artikels erkennen kann – geblich erkämpft von der damals star- Optionen, die Demokratie und Rechts- ken Arbeiterbewegung, finden sich staatlichkeit primär als Störfaktor für heute in der deutschen wie auch in vie- den freien Markt betrachten. len anderen Staatsverfassungen wie- Gefährliche Entwicklungen zeichnen der. Nach einer von der Bundeskanzle- sich in diesem Zusammenhang derzeit rin Angela Merkel jüngst verkündeten auch in Großbritannien ab, welches in Auffassung solle dies nunmehr ganz der Thatcher-Ära der 80er Jahre schon anders werden. Danach werde man einmal Ausgangspunkt für die neolibe- künftig Wege fi nden, »die parlamen- rale Wende in Europa gewesen ist. Mit tarische Mitbestimmung so zu gestal- der Begründung, das Staatsdefi zit sen- ten, dass sie trotzdem auch marktkon- ken zu wollen und sich fi t für die Finanz- form ist«. Mit anderen Worten: Nicht märkte zu machen, soll dort unter dem mehr die von der Be- Slogan »Big Society« der Einfl uss des

völkerung gewählten Staates in allen Bereichen auf ein Mini- LINKE © DIE Marktkonforme Politik Volksvertretungen, mum zurückgedrängt werden. Im Kern sondern die Märkte geht es dabei um die radikale Privatisie- sollen darüber be- rung nicht nur des Gesundheitssystems fi nden, wie die poli- und sozialstaatlicher Bereiche, sondern tischen Entscheidun- – ähnlich wie in den USA – auch um die gen auszufallen ha- gesellschaftlich bedeutsamen Bereiche ben. Was dies in der der Justiz und der Polizei. Private Unter- Von Sahra Wagenknecht Praxis bedeutet, wird nehmen sollen sich fortan stärker um ganz aktuell am Bei- die öffentliche Sicherheit »kümmern«. spiel Griechenland vorexerziert. Dort Die Frage der öffentlichen Sicherheit in wird – gänzlich an den Interessen der die Obhut von gewinnorientierten Pri- Bevölkerung vorbei – Politik einzig und vatfirmen, die ihrerseits oftmals mit allein im Sinne der Banken, Vermögen- großen Konzernen verfl ochten sind, zu den und Spekulanten gemacht. übertragen, würde Tür und Tor für all je- Über noch weitreichendere »Lösun- ne öffnen, die nicht länger an geltende gen« scheint man inzwischen in hohen rechtsstaatliche Standards gebunden Kreisen der Finanzwelt nachzudenken. sein wollen. Nicht nur parlamentarische Als etwa der damals noch amtierende Entscheidungsprozesse, sondern auch griechische Ministerpräsident Geor- die rechtsstaatlich sensiblen Berei- gios Papandreou unter dem Eindruck che Polizei und Justiz werden in zuneh- wütender Protest- und Streikwellen in menden Maße und vielfältiger Hinsicht seinem Land ein Referendum über das marktkonform zurechtgestutzt – auch in »Euro-Rettungspaket« vorschlug, ver- Deutschland. öffentlichte die bekannte Wirtschafts- Die schleichende Erosion der mo- zeitschrift »Forbes Magazine« einen dern-westlichen Demokratien bleibt Artikel, der den skandalösen Titel »Die auch manchen Journalisten nicht ver- wahre griechische Lösung: Ein Militär- borgen. So fragte jüngst Frank Schirr- coup« trug, der aber – nach zahlrei- macher in der FAZ zu Recht: »Sieht chen Leserprotesten – nachträglich ge- man denn nicht, dass wir jetzt Rating- ändert wurde. Für viele Griechinnen Agenturen, Analysten und irgendwel- und Griechen wurden hierbei bittere chen Bankenverbänden die Bewer- Erinnerungen an die brutale Militärdik- tung demokratischer Prozesse über- tatur der Obristen wachgerüttelt, deren lassen?« Unbegrenzte Marktmacht zer- erfolgreicher »Militärcoup« noch nicht stört die Fundamente von Demokratie allzu lange zurückliegt. Im Jahre 1967 und Rechtsstaat. Wer diese verteidi- putschte sich das griechische Militär an gen will, muss sich deshalb mehr denn die Macht. Für die Bevölkerung begann je gegen die Allmacht der Rating-Agen- damals eine Zeit von Angst und Schre- turen, Hedgefonds und transnational cken, die erst 1974 ihr Ende fand. agierenden Konzerne wehren, so wie War der ursprüngliche Titel des es etwa die Occupy-Bewegung tut. Es »Forbes«-Artikels möglicherweise nur geht um nichts weniger als um die Neu- ein peinliches Versehen? Wohl kaum. begründung der Demokratie, in der die Denn in elitären Wirtschafts- und Poli- Bevölkerungsmehrheit bestimmt, wo- tikkreisen wird bereits seit längerer Zeit hin es gehen soll.

47 DISPUT März 2012 MÄRZKOLUMNE Auslese

Tom Bullough

Die Mechanik des Himmels

© Verlag C. H. Beck München, 2011 232 Seiten, 18,95 Euro ISBN 978–3–406– 62998–3

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