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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 22. März 1999 Betr.: Jugendkriminalität, Reitzle, Titel, St. Pauli

as Internat für junge Gangster liegt in Glen Mills im US-Bundesstaat Penn- Dsylvania. Besonders brutale Jugendliche, die gemordet, geraubt, geprügelt haben, werden hier einem sturen Regiment aus Regeln fürs normale Leben unter- worfen. Die Erziehungsmethoden sind nicht un- umstritten, doch sie haben Erfolg, wie SPIEGEL- Redakteur Thomas Darnstädt, 49, feststellen konnte. In Deutschland besuchte Darnstädt Pädagogen und Psychologen, die mittlerweile nach US-Vorbild jun- ge Gewalttäter behandeln. Im Jugendgefängnis von Hameln nahm er zusammen mit Fotografin Monika Zucht hinter Gittern an „Anti-Blamier-Kursen“ teil:

M. ZUCHT / DER SPIEGEL Harte, böse Jungs sollen im Rollenspiel lernen, sich Darnstädt, Häftling zu beherrschen. Mit sichtlicher Genugtuung brachten sie den SPIEGEL-Mann dazu, durch den Raum zu hopsen – „wie auf einem Kindergeburtstag“.Werden so aus brutalen Jugendlichen friedliche Menschen? „Die neue Erziehung wirkt keine Wunder“, sagt Jurist Darnstädt, „aber sie macht Hoffnung“ (Seite 118).

nfang Februar räumte Wolfgang Reitzle, 50, überraschend seinen Arbeitsplatz Aim BMW-Vorstand.Vergangenen Donnerstag verriet der Manager erstmals De- tails der turbulenten Aufsichtsratssitzung (Seite 92).Während SPIEGEL-Redakteur Dietmar Hawranek, 41, mit Reitzle sprach, druckte ein Faxgerät nebenan etliche Sei- ten eines Aktienoptionsplans aus. Absender: Ford, Reitzles neuer Arbeitgeber. Zu gern hätte Hawranek einen Blick darauf geworfen. Schlecht wird das Angebot des amerikanischen Konzerns nicht gewesen sein – kurz nach dem Interview unter- schrieb Reitzle seinen Vertrag.

ährlich lockt der pinkelnde Knabe in Brüssel Tausende Besucher Jan, jetzt ziert er den SPIEGEL-Titel – „Männeken-Piss“. Wie lan- ge er schon in der Altstadt steht und warum, kann niemand genau er- klären. Jeder ahnt aber, was das Männchen (flämisch: Manneken-Pis) allen bedeuten möchte: Ich mache, was ich und wie ich es will. Oder andersherum: Ihr könnt mich mal. Einige EU-Kommissare haben sich davon offenbar inspirieren lassen und durch ihren eigenwilligen, lockeren Umgang mit Geld und Verträgen die Gemeinschaft in die größte Krise ihres Bestehens gestürzt. Die Brüsseler SPIEGEL-Kolle- gen Winfried Didzoleit und Dirk Koch haben Ursachen und Folgen des

Desasters aufgeschrieben, Sylvia Schreiber und Thomas Tuma skiz- DPA zieren die Chronique scandaleuse der EU-Kommission (Seite 176). Männeken-Piss

t. Pauli ist ein Stadtteil Hamburgs, die Ree- Sperbahn führt mitten hindurch. Eine Glitzer- welt voller Gegensätze: Sex und Theater, Kon- zerte, Kriminalität, schrille Unterhaltung, Knei- pen und Drogenhandel. SPIEGEL-Redakteurin Ariane Barth hat hinter die Fassaden geblickt, mit Polizisten, Dominas, großen wie kleinen Kiez- Königen gesprochen. Vor gut einem Jahr hat sie eine Titelgeschichte über die berüchtigtste Straße der Welt geschrieben (50/1997), nun legt sie „Die

M. ZUCHT / DER SPIEGEL Reeperbahn – Der Kampf um Hamburgs sündi- Barth ge Meile“ im SPIEGEL-Buchverlag vor.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 12/1999 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Katzenjammer bei der EU-Kommission...... 176 Abschied von der alten SPD Seiten 22, 30 Italiens Topkandidat Romano Prodi ...... 178 Wie Frankreich seine Wirtschaft abschottet... 182 Doppelrolle für Gerhard Schröder: Die Kommission der Skandale ...... 186 Als Kanzler tourt er durch Europa, SPIEGEL-Gespräch mit dem Pariser in der SPD übernimmt er den Vor- Europa-Minister Pierre Moscovici über die deutsch-französischen Beziehungen ...... 193 sitz. Für die Genossen bricht nach Oskar Lafontaines Rücktritt eine Deutschland neue Zeit an. Die Linke sieht das Ende der Traditionspartei herauf- Panorama: Rau für neues Mahnmal / Doppel-Paß-Gesetz wird nachgebessert ...... 17 ziehen, die Rechte baut auf Schrö- SPD: Sträuben gegen Schröders ders pragmatischen Kurs („Nichts neuen Kurs...... 22 mehr gegen die Wirtschaft“). Die Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer Regierung plant eine großzügige über Lafontaines abrupten Abgang...... 26 Unternehmensteuerreform; zur Fi- Regierung: Die Pläne nanzierung soll die Mehrwertsteuer der rot-grünen Reformer...... 30 REFLEX steigen. Vertreter der Wirtschaft si- Minister: Werner Müller profitiert von Lafontaines Rückzug ...... 33 Schröder, Wiener Kanzler Klima gnalisieren schon Entgegenkommen. Außenpolitik: SPIEGEL-Gespräch mit CDU-Vize Volker Rühe über die EU und das Risiko eines Nato-Einsatzes im Kosovo...... 35 Parteien: Chaos bei den Saar-Grünen...... 40 Spionage: Wie „Stasi-Romeos“ aus einsamen Frauen willfährige Agentinnen machten ...... 44 DDR: Erziehung zum Haß Seite 60 Stasi-Agentin Gabriele Gast rechnet mit den Männern im Geheimdienst ab...... 48 Der westdeutsche Kriminologe Christian Pfeiffer erregt die Ostdeutschen. Seine Computer: Bundestagswahlen per Internet?... 56 These: Gewalt gegen Ausländer eskaliert in den neuen Ländern, weil das SED- Debatte: Der Kriminologe Christian Pfeiffer Regime seine Kinder 40 Jahre lang zu haßerfüllten Duckmäusern erzogen hat. über die Erziehung in der DDR und die Folgen ...... 60 Kommunen: Revolutionärer Vorstoß in Bayern – Geld für jeden aus der Gemeindekasse...... 70 Rauchen: Firmen zahlen Prämien Amerika im Börsenrausch Seite 82 an Aussteiger...... 72 Reemtsma-Entführung: Der vierte Mann Der amerikanische Aktienindex Dow Jones stellte sich...... 76 knackte die magische Marke von 10 000 Punkten, und Amerika feierte: In den USA Wirtschaft ist eine Aktionärsgesellschaft entstanden, Trends: Bahnvorstände müssen gehen / die viele Chancen bietet – und eine Menge Engere Sitze bei der Lufthansa ...... 79 Risiken. Längst hat sich die Börse von der Medien: Mehr Wirtschaft für linke Leser / realen Wirtschaft abgekoppelt. Ein Heer von Star-Wars-Rummel im Internet ...... 80 Spekulanten treibt die Kurse in immer luf- Geld: Japans Aktien holen auf / tigere Höhen, viele von ihnen handeln per Börsenstar Mobilcom fällt ab ...... 81 Internet. Droht nun ein Crash, wie manche Börse: Wall Street im Höhenrausch...... 82 TV-Konzerne: Kirch und Bertelsmann Experten unken? Oder geht es munter wei- AP formieren sich...... 88 ter, wie andere prophezeien? Börsianer in New York Karrieren: Interview mit Ex-BMW-Manager Wolfgang Reitzle...... 92 Unternehmen: Hoechst unter Zeitdruck...... 98 Banken: Die HypoVereinsbank kommt nicht zur Ruhe...... 102 Rohstoffe: Sind die Zeiten Der sanfte Weg zur Freiheit Seite 151 billigen Öls vorbei? ...... 106 Werbung: Fernseh-Stars im Dauereinsatz..... 107 Das 20. Jahrhundert war nicht nur das Zeitalter Gesellschaft von Krieg und Massen- Szene: Liebesbriefschreiber im Internet / vernichtung. Niemals zu- Designermode aus gebrauchter vor in der Geschichte ha- Armeekleidung...... 111 ben Bürgerrechtsbewe- Familie: Glanz und Elend der späten Väter ... 112 gungen soviel für Freiheit Jugendkriminalität: Modellfall Glen Mills – und Demokratie erreicht – ohne neue Methoden im Umgang mit jungen Gewalt. Der Historiker Stefan Gewalttätern...... 118 Wolle beschreibt das Jahrhun- dert Gandhis, Martin Luther Sport Kings, Mandelas und Walesas; Tennis: Der Aufstieg der Schwestern der Dalai Lama mahnt im Venus und Serena Williams ...... 140 AMW SPIEGEL Solidarität mit unter- Fußball: Interview mit Jürgen Kohler über Erich Ribbeck und den Imageverlust der Bürgerrechtler Martin Luther King drückten Völkern an. Nationalelf ...... 144

6 der spiegel 12/1999 Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert der Befreiung: Stefan Wolle über die Bürgerrechtsbewegungen...... 151 Standpunkt: Der Dalai Lama über Mitgefühl und Freiheit ...... 168 Porträts: Menchú, Suu Kyi, Sacharow...... 170

Ausland Panorama: Neue Gewalt in Nordirland / Eritreas Krieg mit Äthiopien...... 173 Kosovo: Stunden der Entscheidung für die Nato ...... 196 Großbritannien: Finanzminister Brown – ein Vorbild für die Deutschen?...... 200 Türkei: Terrordrohungen gegen REUTERS (gr.); J. H. DARCHINGER Serbischer Panzerkonvoi, Präsident Milo∆eviƒ Touristenzentren ...... 202 Kambodscha: Sicherer Hafen für die Roten Khmer...... 206

Aufmarsch im Kosovo Seite 196 Wissenschaft + Technik Auf die Nato-Drohungen, militärisch in den serbisch-albanischen Konflikt einzu- Prisma: Schnäpel im Rhein / greifen, reagiert Belgrad mit einem massiven Truppenaufgebot. Blamiert sich das Kunststoff gegen Kurzsichtigkeit...... 211 westliche Militärbündnis als Papiertiger, oder schlittert es in einen Krieg? Prisma Computer: Mörder in der Datei / Kamera im Hühnerstall ...... 212 Urzeit: Dinosaurier-Funde in Norddeutschland...... 214 Der Körperbau des Riesenreptils Brachiosaurus...... 216 Seite 214 Meeresbiologie: Killeralgen bedrohen Dinos im Harz Mensch und Tier...... 218 Im Nordharz und bei Minden sind in Fortpflanzung: Run auf das 2000-Baby...... 222 Steinbrüchen Knochen von fleisch- Automobile: Unfall durch fehlgezündeten fressenden Echsen und Riesensauriern Beifahrer-Airbag ...... 226 entdeckt worden. Eines der Fossilien – Physik: Kristalle, die das Licht abbremsen.... 232 Atomlaser für schnellere Computer ...... 235 Spezies: unbekannt – hat bananengroße Abenteuer: Ballonfahrt um die Welt ...... 239 Zähne und steckt noch halb im Erd- reich. Um Diebe fernzuhalten, bleibt Kultur

Z. BURIAN die genaue Lage des norddeutschen Dinosaurier (Rekonstruktion) Dino-Friedhofs vorläufig geheim. Szene: Streit um Theatersubventionen / Erica Jong huldigt Henry Miller ...... 241 Autoren: Junge Schriftstellerinnen sind die Überraschung des Frühjahr-Buchmarkts ...... 244 Film: Todd Solondz’ Familiendrama „Happiness“ ...... 248 Seite 112 Theater: Schlingensiefs „Berliner Republik“... 252 Die Hingabe der späten Väter Wohnen: Interview mit dem Architekten Oskar Lafontaine gönnte sich spätes Kinderglück und liegt damit im Trend: Eine wach- Hans Kollhoff über die Lust am sende Zahl von Männern findet immer weniger dabei, im vorgerückten Alter Papa trauten Heim...... 254 zu werden. Psychologen meinen, daß die meisten der Betagten von ihren Frauen zur Fotografie: Die Bilder des Jazzfotografen William Claxton...... 256 Vaterschaft überredet werden, sich dann aber hingebungsvoll den Kleinen widmen. Schlager: Wer darf zum Eurovisions-Grand-Prix? ...... 258 Bestseller...... 259 Pop: Die Kölner Band Can auf Revival-Tournee...... 260 Klassiker: Rummel um die Öffnung des Literarisches Fräuleinwunder Seite 244 Goethe-Sargs zu DDR-Zeiten ...... 262 Es sind vor allem die jungen Interview mit dem Germanisten Frauen, die in diesem Frühjahr Günter Hess über die Geheimakte zur Goethe-Reliquie...... 263 dafür sorgen, daß die deutsch- Fernseh-Vorausschau...... 270 sprachige Literatur wieder ins Gespräch kommt. Schriftstel- lerinnen wie Susanna Grann, Karen Duve und Judith Her- Briefe ...... 8 mann widmen sich weitaus Impressum...... 14, 264 Leserservice ...... 264 unverkrampfter der Erotik Chronik...... 265 W. STAHR W. FOCUS MÜLLER / AGENTUR T. und der Liebe als ihre verzag- PEITSCH P. Register ...... 266 ten männlichen Kollegen. Grann Duve Hermann Personalien...... 268 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 274

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ben. Wo bleibt die Analyse der Auswir- kungen der deutschen Einheit auf den ge- „Beim Lesen wächst die beklemmende meinen Altbundesbürger? Sie können na- Gewißheit: Was Matussek schildert, turgemäß nicht so gravierend und plakativ ist die Realität. Mit spitzem Bleistift nutzbar sein wie die vollständige Um- krempelung aller Lebensbedingungen im überzeichnet, gewiß. Aber doch so ehemaligen Osten. Das größere Deutsch- eindringlich real, daß die Architekten land und seine veränderte Rolle in der Welt, der Wegfall des Gegenübers, dem die rot-roter Bündnisse auf der Überlegenheit des eigenen Systems be- Stelle vor Scham erstarren sollten.“ wiesen werden sollte, die veränderte Par- teienlandschaft – all dies hat sicher auch Gabriel Seiberth aus zum Titelbeitrag von Matthias Matussek die westlichen Bewohner des Landes be- „Zehn Jahre nach dem Mauerfall – wo sind die Täter, wo die Opfer?“ einflußt. Eine solche Analyse ist aber, das SPIEGEL-Titel 10/1999 gebe ich zu, bedeutend schwieriger und erfordert ein differenzierteres Herangehen als das bloße Abbilden von ,,Ostalgie-Ge- Bravo, Herr Schorlemmer, der schleimige fühlen“ (die ich im übrigen nicht teile). Leise, aber um so intensiver Stasi-Oberstleutnant Romanowski lobt Berlin Dr. Xenia Scheitz Nr. 10/1999, Titel: 10 Jahre nach der Wende – Das Ihre „Ehrlichkeit“ zu DDR-Zeiten. Auch Ost-West-Gefühl; Zehn Jahre nach dem IM wurden so gelobt. Wer von Freuden- Aus Ihren Zeilen spricht die völlige Hilflo- Mauerfall – wo sind die Täter, wo die Opfer? feuern mit Stasi-Akten schwärmt, die Leu- sigkeit gegenüber den gesellschaftlichen te seines Schlages entlasten und so aus Prozessen in den sogenannten Neuen Bun- Den Haß der Bielkes und Thieles kann ich den Opfern endgültig „psychopathische desländern. Man kommt zu dem Schluß, nachfühlen und teilen – bitte? natürlich Schwätzer“ machen, denen nie- klammheimlich. Unmittelbare Gefühle für mand mehr glaubt, der ist die- Opfer der Nazis und der Kommunisten sind sen feisten Wende-Gewinnern möglich, wenn man sich nicht abjault im sympathisch. Würden Sie als selbstbefriedenden Betroffenheitsgefasel Pfarrer einem Menschen Abso- der großen Versöhner in Ost und West.Was lution erteilen, der nichts spricht dagegen, Menschen wie die Roma- bereut, Schuld leugnet und sei- nowskis und Gysis mit ihren verderbten ne Opfer verhöhnt? Immer Charakteren zu verachten oder auch – schön systemkonform, ja nicht wenn man noch kann, ohne die Attitüde anecken. der Correctness – zu hassen? Laßt den Op- Erfurt Dr. Günter Römer fern und mir in Großzügigkeit wenigstens den Haß, das laute Wort der Ohnmacht. Ich hätte nicht geglaubt, daß Kreuzau (Nrdrh.-Westf.) Rolf Dieter Zens DDR-Absonderungen, die doch

längst eingetrocknet sein müß- PRESS FROESE / ACTION Was zählt schon das Gelaber der Herren ten wie alter Schneckenschleim, Marx-Engels-Denkmal (Berlin): Eine Art Schrumpf-DDR Harnisch, Schorlemmer und Romanowski noch immer solche Haftfähig- gegen die Lebenswege der Frauen Bielke, keit selbst bei Leuten besitzen, von denen daß das westdeutsche Establishment mit der Thiele und des Herrn Stefan Nau. Uns im ich das zuallerletzt angenommen hätte. Spezies „ehemaliger DDR-Bürger“ völlig Westen fehlen die Informationen über die Nach Matusseks Besuch in Wittenberg überfordert ist. Die Welt ist eben nicht so „stillen Helden“ der ehemaligen DDR. stellt sich mir heute die Frage: Am 4. No- einfach, wie sich das Klein Fritzchen im We- Rösrath (Nrdrh.-Westf.) Siegfried Küsgen vember 1989 auf dem Alex schlug mir ein sten 40 Jahre lang vorgestellt hat. frohgemuter Kirchenmann – für mich eine Halle Dr. Gerold Wustmann Herr Matussek hat große Kreativität be- Lichtgestalt der Opposition – vor dem Ca- wiesen, als er sein subjektives Täterprofil nossa-Gang auf die Rednertribüne ermuti- Ich möchte Herrn Matussek meine Hoch- von einem Stasi-Offizier aus einem Gemisch gend auf die Schulter. Ob der mich damals achtung für diesen Artikel aussprechen. Sel- von Gesprächszitaten, großzügigen Ge- mit Mie-, pardon, mit Mischa Wolf ver- ten wurde auf derart subtile Art und Weise sprächsinterpretationen und falschen Wie- wechselt hat? das Unrechtssystem der DDR in das gehöri- dergaben aus gestaltete. Besonders beein- Rotenburg a.d. F. Günter Schabowski ge Licht gerückt. Ohne lauten Affront, lei- druckt hat mich der offensichtlich hohe Re- se, aber um so intensiver. Wieviel Unrecht chercheaufwand bei meiner Entlarvung als Das „Ost-West-Gefühl“ sollte doch, so kann ein Mensch ertragen? Darf man der- Knochenbrecher. Das zwingt mich zum Ge- meine ich, ein gesamtdeutsches Bild erge- artige Äußerungen eines Herrn Oberstleut- ständnis. Ja, ich habe sechs Knochenbrüche verursacht, fünf bei diversen Sportunfällen bei mir selbst und einen bei einem von mir Vor 50 Jahren der spiegel vom 26. März 1949 begangenen groben Foul gegen einen Fuß- Ost-West-Gespräche in Bad Godesberg Initiator war der Chef des Bau- baller von Traktor Sietow,dem ich bei einem ernverbands, Andreas Hermes. Feind Nummer 1 des Ostblocks: den Spiel 1964 das Schienen- und Wadenbein Kirchen Kampf bis aufs Messer angesagt. Herbert Klein schwimmt Eu- durchtrat. Mit dieser Verletzung mußte er ropa-Rekord auf 100 Meter Gerade erst auf Butterfly umgeschult. Ar- sogar vom Grundwehrdienst bei der NVA nold J. Toynbees „Study of History“ jetzt auf deutsch Werk über Wer- den und Vergehen von Kulturen. Deutsche Filmpremiere „Clara Schu- befreit werden. Diese von mir verursachte manns große Liebe“ Katharine Hepburn ist Clara. Kurt Schätzle aus Schwächung der Verteidigungskraft der Wiesbaden entwickelt Perpetuum mobile „Ein ganz einfaches Ding“. DDR hat mein Gewissen jahrelang belastet. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Teutschenthal (Sachsen-Anhalt) Titel: Die Stuttgarterin Inge Löwenstein als Miss Peter Romanowski

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Werbeseite Briefe nants abdrucken? Ohne noch mehr Haß zu schüren, noch mehr Wut und Ohmacht zu hinterlassen? Ohne den Tätern durch das gedruckte Wort noch mehr Recht ein- zuräumen? Traurig ist, daß Wut und Ohn- macht nur den Opfern bleiben. Jenen, denen zehn Jahre später keiner mehr zuhören will. Düsseldorf Antje Bauer

Können Sie sich vielleicht vorstellen, daß den Bürger des Beitrittsgebiets weniger DDR-Nostalgie bewegt als die Tatsache, daß der hemmungslose neoliberale Kapi-

talismus sich nicht als Alternative zum ab- ECKEL / RETRO J. gewickelten Sozialismus darstellt? Methadonabgabe in einem Krankenhaus Berlin Thomas Ehrlich Legal, sicher, erfolgversprechend

Es ärgert mich als Ostdeutscher, wenn der um 30 Prozent zurück, wobei Frankfurt mit Osten mit der PDS und die Ostler mit de- einem umfassenden Hilfsangebot mit 85 Pro- ren Anhängern verwechselt werden. Es ist zent überproportional beigetragen hat. doch zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Frankfurt am Main Dr. Urban Weber Partei heute nur so um die 20 Prozent der Stimmen bei den Wahlen im Osten be- Methadon eignet sich gut als Überlebens- kommt anstatt 98 Prozent. Die Besinnung hilfe, ist körperlich gut verträglich, erlöst eines Ostlers auf das eigene Leben sollte von dem omnipräsenten und erniedrigenden nicht mit einer Rückschau auf die DDR Beschaffungsstreß und ermöglicht darüber gleichgesetzt werden. Ich zum Beispiel hinaus die soziale Reintegration. Es ist aber habe kein anderes Leben. Ich baue eben, kein Wundermittel zur Heilung der Krank- was auch sonst, auf den 22 Jahren auf, die heit! Ganz im Gegenteil. Der physische Ent- ich in der DDR gelebt habe. Nur mit die- zug von Methadon ist wesentlich schmerz- ser Zeit bin ich heute erklär- und hand- hafter und belastender als eine Entgiftung habbar, auch für mich selbst. von Heroin, die sogar durch den unterstüt- Berlin Frank Buschmann zenden Einsatz kleiner Dosen Methadon bei vielen Patienten als ,,warmer Entzug“, Daß die Zahl derer, die geistig immer noch also weitgehend schmerzfrei, möglich ist. in einer Art Schrumpf-DDR leben – die Nach einem Blitzentzug von Methadon muß Demokratie auf der Zunge, den Sozialis- der Blocker noch Monate weiter einge- mus im Herzen, die D-Mark in der Tasche nommen werden. Da er aber in Verbindung –, trotzdem relativ groß ist, stimmt zwar mit Heroin lebensgefährlich wirken kann, nicht gerade fröhlich, ist aber auch nicht sind Todesfälle unter den Schnellthe- verwunderlich. Hätten Sie 1955 über das rapierten nicht auszuschließen. Es gibt also geistige Erbe des Dritten Reiches ge- eine Methadonfalle, in die der Suchtkranke schrieben, wären Sie kaum auf andere Er- im Angesicht drohender Entzugsschmerzen gebnisse gestoßen; damals präsentierte sich nur zu gern tritt, aus der es aber derzeit kei- die Nation ebenfalls aufgeräumt und von nen begehbaren Ausweg gibt. einer Generalamnesie betäubt, in West und Ludwigshafen Rolf Kaufhold Ost zwar auf sehr unterschiedliche Weise, aber im Ergebnis sehr ähnlich. Unter den Den Abstinenzideologen sind solche Be- Bedingungen der offenen Gesellschaft des richte wie Wasser auf die Mühlen. Wenn Westens brauchte es immerhin eine Gene- eine Studie aus Hamburg von einer hohen ration Abstand, bis die vergangene Dikta- Zahl von „Methadontoten“ spricht , so hat tur in den Mittelpunkt der Debatte rückte. dieser Umstand Ursachen. Eine der Haupt- Im Osten der Republik wird es nun nicht ursachen ist sicherlich der schwarze Markt viel anders sein. und der Beikonsum von anderen Stoffen Leipzig Dirk Schwarzenberg (zum Beispiel der legalen Droge Alkohol). Doch die Schlußfolgerung daraus kann doch nicht die Konsequenz sein, den Ver- Wasser auf die Mühlen gabemodus zu verschärfen, sondern wir Nr. 10/1999, Drogen: Tod durch Methadon müssen uns alle deutlich vor Augen führen, daß das Angebot für die Methadonbe- Natürlich muß auf eine kindersichere Me- handlung immer noch nicht ausreichend thadon-Verpackung geachtet und der Patient vorhanden ist. An erster Stelle einer hu- auf seine Sorgfaltspflicht hingewiesen wer- manen Drogenpolitik muß das Überleben den – genau wie bei anderen Präparaten, der Drogenkonsumenten stehen. Und eine wo Risiko und Nutzen bei der Mitnahmere- der effektivsten Überlebenshilfen seit Jah- gelung abgewogen werden. Der Nutzen ren ist die Substitution mit Methadon. überwiegt bei Methadon ganz eindeutig: Wuppertal Jürgen Heimchen Parallel zur Ausweitung der Verschreibung Bundes Verband der Eltern und Angehörigen gingen die Drogentodesfälle in Deutschland für akzeptierende Drogenarbeit

12 der spiegel 12/1999 Patienten müssen Methadon in legaler, si- cherer und erfolgversprechender Weise be- kommen können. In den USA hat man bis- her diese Binsenweisheit nicht befolgt. Statt dessen ist die Kapazität der Behandlungs- „Programme“ so eingeschränkt worden, daß mehr als 85 Prozent aller Heroinsüchtigen ohne Betreuung ihrem Schicksal überlassen sind. Solange das Augenmerk ausschließlich auf das Angebot und nicht auf die Nachfra- ge von illegalem Methadon gerichtet wird, werden das Elend und die Todesrate bei Me- thadon und Heroin weiter steigen. New York Prof. Dr. Robert G. Newman

Wenn Methadon auf dem Schwarzmarkt nachgefragt wird, ist dies immer ein Indiz für nicht bedarfsgerechte Substitutions- programme; auch in Hamburg kann nicht jeder Suchtkranke Methadon bekommen; vor allem gibt es von seiten der Kranken- kassen erhebliche Schwierigkeiten. Hamburg Dr. Josh C. von Hohenberg v. Soer Suchttherapeut

Rache im Vordergrund Nr. 10/1999, USA: Die verlogene Weltmacht; Menschenrechtsverletzungen am Pranger

Das Verhalten dieser Nation kann nur als pathologisch bezeichnet werden, da es zu- nehmend größenwahnsinnige Züge zeigt. Solingen Andreas Graber

Derselbe Staat, der Länder wie China auf- fordert, die elementarsten Menschenrechte einzuhalten, setzt sich selbst über das ele- mentarste Menschenrecht hinweg: das Recht auf Leben. So wie es keine Entschuldigung für die grausame Tat der Brüder LaGrand gibt, so gibt es auch keine Entschuldigung für die vorsätzliche Tötung derselben. In so einem Moment handelt der Staat nicht an- ders als die Verbrecher, nämlich aus niede- ren Beweggründen. Denn nicht die Bestra- fung steht im Vorder- grund, sondern Rache. N. Müller

Bei all dem Geze- ter um die deutsche Staatsangehörigkeit der Brüder LaGrand sollte nicht übersehen werden, daß sie sich seit frühem Kindesal- ter in den USA aufge- halten haben, von klein auf ,,als Ameri- kaner“ aufwuchsen und ihre Tat im Gel-

DPA tungsbereich der ame- Gaskammer rikanischen Gesetzge- bung verübten. Daß sich die US-Behörden eine Einmischung von außen verbeten haben, ist unter die- sem Gesichtspunkt nur allzu verständlich. Kaltenkirchen Ulrich Ferner

der spiegel 12/1999 Briefe

Im Weißbuch der EU ist das Ziel definiert, Brücken der Versöhnung den Anteil der erneuerbaren Energien an Nr. 11/1999, Register: Yehudi Menuhin der Gesamtstromerzeugung bis zum Jahre 2010 um sechs Prozent auf zwölf Prozent Yehudi Menuhin hat nicht nur als erster zu verdoppeln. Das Ziel für das Jahr 2050 jüdischer Künstler von Rang nach Kriegs- lautet sogar: 50-Prozent-Anteil der erneu- ende im besiegten Deutschland konzer- erbaren Energien an der Gesamtstromer- tiert, wie Sie in Ihrem Nachruf auf den zeugung in Europa! Hierzu soll nach dem Geigenvirtuosen schreiben. Menuhin hat Willen der EU auch der Ausbau der Wind- auch, soviel ich weiß, als erster Richard energie entscheidend beitragen. Die EU-

Strauss in Israel gespielt, der bis dahin we- Kommissionsjuristen konterkarieren mit DPA gen angeblicher Nazifreundlichkeit boy- ihren Feststellungen zum Stromeinspei- Fahrradkuriere (in Hamburg) kottiert worden war. Menuhin hat Brücken sungsgesetz, das wie kein anderes Gesetz Irrwitz des Gesetzes der Versöhnung auf beiden Seiten zu bau- erfolgreich den Ausbau der Windenergie en versucht – in Deutschland, aber auch in in Deutschland und somit folgerichtig auch genannte feste freie Mitarbeiter oder auch Israel. in Europa gefördert hat, das eigene Ziel: selbständige Subunternehmer. Die Neure- Hamburg Beate Weber nämlich den Ausbau der erneuerbaren gelung hat daher erhebliche finanzielle Energien. Diesem Ziel hat sich auch die Konsequenzen, aber auch Auswirkungen Bundesregierung verpflichtet. auf andere Rechtsbereiche, wie zum Bei- Massive Abschreibungshilfen Cuxhaven Timm Weiß spiel das Urheberrecht, für die der Status Nr. 10/1999, Energie: Keine Zukunft für die Windkraft Wirtschaftsverband Windkraftwerke als Arbeitnehmer oder Selbständiger von Bedeutung ist. Die deutsche Windindustrie ist weit davon Bremen Dr. L. Grosskopf entfernt, marktfähig zu sein, was Grund- Erhebliche finanzielle Konsequenzen lage jeder modernen Zukunftstechnologie Nr. 10/1999, Jobs: Das Bonner Gesetz Wir freiberuflichen Musikschullehrer zahlen sein sollte. Schon ertönt der Ruf nach „ko- gegen Scheinselbständigkeit trifft oft die Falschen im Land Hessen circa zehn Millionen stendeckenden“ Preisen bei Solar- und Mark im Jahr in die Rentenversicherung Windstrom. Wirtschaftslenker wie Her- Auch die Volkshochschulen sind von der aufgrund des Künstlersozialgesetzes ein. mann Scheer stehen bereit, die Nachfolge Schnellschuß-Neuregelung zur Schein- Aufgrund desselben Gesetzes zahlen die Günter Mittags anzutreten. selbständigkeit besonders betroffen. Tau- Leistungsverwertungsgesellschaften weitere Vietlübbe (Mecklenb.-Vorp.) L. Kangowski sende spezialisierte Fachdozenten arbeiten zehn Millionen Mark ein. Wird das Gesetz als selbständige Ho- gegen Scheinselbständigkeit auf die freibe- norarkräfte in den ruflichen Musikschullehrer angewandt, müs- Kursen und Semi- sen die Musikschulen diesen Freiberuflern naren der öffentli- kündigen, weil die öffentliche Hand den er- chen Weiterbildungs- höhten Zuschußbedarf nicht finanzieren einrichtung Volks- kann. Dies bedeutet für Hessen, daß 20 Mil- hochschule. Allein in lionen Mark weniger in die Rentenversi- Sachsen sind dies et- cherung eingezahlt werden, aber daß es wa 5000, bundesweit 5000 bis 6000 Sozialhilfeempfänger mehr fast 200000. Und die gibt. Der Irrwitz dieses Gesetzes wird erst Frauenquote ist mit richtig deutlich, wenn man diese Zahlen auf gut 60 Prozent locker die Bundesebene hochrechnet. übererfüllt. Weitaus Frankfurt am Main Stephan Zitzmann die meisten VHS-Do- zenten leben mit die- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu sem Status zufrieden- veröffentlichen. stellend, viele würden eine festere Einbin- dung in die Institution Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine Post- karte des SPIEGEL-Verlages/Abo, Hamburg, beigeklebt. T. RAUPACH / ARGUS RAUPACH T. Volkshochschule ab- Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Bei- Einspeisestation für Windenergie: Steuerzahler belastet lehnen. Sollte auch lagen des Meiniger Verlags, Neustadt, bei. nur bei einem Viertel Sie schreiben: „Dem Staat war die Qua- dieser Fachleute die Scheinselbständigkeit dratur des Kreises gelungen: Er stützte die festgestellt werden, kämen auf die Bil- Ökoenergie, ohne einen Pfennig Steuer- dungseinrichtungen Mehrkosten zu, die nur VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Parteien, Spionage (S. 48), Computer, Debatte, Kommu- geld einzusetzen.“ Dabei werden aber über Gebührenerhöhungen zu begleichen nen, Rauchen, Reemtsma-Entführung: Ulrich Schwarz; für SPD, durch massive Abschreibungshilfen von so- wären. Die aber bezahlen die Nutzer der Minister, Außenpolitik: Dr. Gerhard Spörl; für Regierung, Trends, genannten alternativen Energien Deutsch- Volkshochschulkurse: 75 Prozent Frauen. Medien, Geld, Börse,TV-Konzerne, Karrieren, Unternehmen, Banken, Rohstoffe, Werbung, Titelgeschichte (S. 182, 186): Armin Mahler; lands Steuerzahler jährlich mit mehr als Chemnitz Bernd Staemmler für Tennis, Fußball: Alfred Weinzierl; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: einer Milliarde zusätzlich belastet, weil Sächsischer Volkshochschulverband Dr. Dieter Wild; für Panorama Ausland,Titelgeschichte, Kosovo, Groß- unsere Windenergie-Unternehmen soge- britannien, Türkei, Kambodscha: Dr. Romain Leick; für Prisma, Urzeit, Meeresbiologie, Fortpflanzung, Automobile, Physik, Aben- nannte Anlegerfonds bilden und an ande- Das seit Anfang des Jahres gültige Gesetz teuer: Jürgen Petermann; für Szene, Familie, Autoren, Theater, rer Stelle der Steuerzahler dieses berappen hat auch für Multimedia-Produzenten Wohnen, Fotografie, Schlager, Bestseller, Pop, Klassiker, Chronik, muß. Auch ist der Landschaftsverbrauch große Auswirkungen, von denen in den Fernseh-Vorausschau: Wolfgang Höbel; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rück- natürlich ein Beitrag der Öffentlichkeit. letzten Jahren enorme Impulse für den Ar- spiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Ganz zu schweigen von massiven Gesund- beitsmarkt ausgegangen sind. Multimedia- Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom heitsbeeinträchtigungen der Anwohner. Produzenten beschäftigen in der Regel Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELILLUSTRATION: Nancy Stahl für den SPIEGEL Hamburg Corvin Fischer aber nicht nur Arbeitnehmer, sondern so-

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GEDENKSTÄTTEN Rau für neues Mahnmal ine parteiübergreifende Koalition von ESpitzenpolitikern und Kirchenoberen will die Umsetzung der monumentalen Entwür- fe des amerikanischen Architekten Peter Eisenman für ein zentrales Holocaust-Denk- mal in Berlin verhindern. Die Eisenman-Geg- ner werden dabei vom künftigen ersten Mann im Staate, Johannes Rau, unterstützt. Der SPD-Kandidat für das Bundespräsiden- tenamt teilt intern die Kritik seiner evangelischen Freun- W. STECHE / VISUM de an den bisherigen Ent- Eisenman, Mahnmal-Entwurf würfen. Sie werben für einen Vorschlag des Ost-Berliner gige Vertreter der beiden großen Konfessionen wie etwa der Theologen und früheren Vor- EKD-Ratsvorsitzende Manfred Kock und der Präsident des sitzenden der SPD-Volks- Zentralkomitees der deutschen Katholiken, der sächsische Wis- kammerfraktion Richard senschaftsminister Hans Joachim Meyer (CDU). Die Konstel- Schröder. Der hatte im Ja- lation auf der politischen Seite ist pikant: Rau stellt sich damit nuar in einem Beitrag für die nicht nur gegen den Kulturbeauftragten der Bundesregierung „Zeit“ angeregt, das bibli- Michael Naumann. Er steht auch in einer Reihe mit Minister- sche Tötungsverbot „Nicht präsidenten der Union. Regierender Bürgermeister morden!“ in großen Buch- Eberhard Diepgen (CDU), der vorige Woche im Berliner Senat staben auf Hebräisch und in eine Entscheidung im Wettbewerb zur Mahnmalgestaltung ge- jenen Sprachen zu gestalten, gen die Stimmen der SPD verhinderte, wirbt jetzt mit Bayerns die von den Opfern der na- Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) unter den anderen tionalsozialistischen Juden- Länderchefs für Richard Schröders Vorschlag. Sie verlangen verfolgung gesprochen wur- außerdem eine Mitsprache des Bundesrates über das Denkmal. den. Im Bundestag soll der Alternativvorschlag Schröders von der

Zu den Befürwortern des / OSTKREUZ H. HAUSWALD neuen Mahnmalkoalition als parteiübergreifender Gruppen- Vorschlags gehören hochran- Schröder antrag eingebracht werden.

NATO ALBANER Ermittlern als das Wichtigste. Minde- stens drei weitere Bankverbindungen Erst mal stillhalten Spenden blockiert sollen noch gekappt werden. it einem Brief an seine US-Kolle- ie Bundesregierung will Spenden- Mgin Madeleine Albright hat Außen- Dkonten der Kosovo-Albaner in Zitat minister Joschka Fischer ein heikles Deutschland schließen lassen. Das Bun- Thema vorerst entschärft. Weder vor desaufsichtsamt für das Kreditwesen dem Washingtoner Jubiläumsgipfel zum hat die Banken Ende Februar über Hin- »Ich kann mich nicht daran 50. Geburtstag der Nato im April noch weise informiert, nach denen in der erinnern, in einem jungen auf dem Treffen selbst, versicherte der Bundesrepublik gesammelte Millionen Silicon-Valley-Unterneh- Grüne, werde Deutschland den Erstein- direkt an die Kosovo-Befreiungsarmee satz von Nuklearwaffen zur Sprache UÇK weitergeleitet werden. Zudem men so viele Leute in bringen. Die Streitfrage, von Fischer vermuten die Sicherheitsbehörden, daß Schlips und Kragen gese- selbst im vorigen Herbst angezettelt, über deutsche Konten auch Rechnun- hen zu haben. Deutsch- solle erst später in den zuständigen gen für militärische Güter bezahlt wür- land muß so schnell wie Gremien der Allianz behandelt werden. den. Mit Spendengeldern sollen im möglich seine Kleider- Die Nato-Partner sind sich nun im Prin- großen Stil Feldküchen und Uniformen ordnung ändern, wenn es zip auch einig, Truppen nur „auf der von deutschen Militaria-Händlern be- Grundlage des Völkerrechts und der schafft worden sein. Zwei Spendenkon- Teil des Internet-Zeitalters Uno-Charta“ in Out-of-area-Einsätze ten sind nach dem Warnbrief bereits ge- sein will.« zu schicken. Zudem sollen vorerst keine schlossen worden, unter ihnen das der weiteren Staaten zum Nato-Beitritt ein- „Demokratischen Vereinigung der Alba- Der Chef des Computerkonzerns Sun Micro- systems, Scott McNealy, auf der Cebit geladen werden. nerInnen in Deutschland“. Es gilt unter

der spiegel 12/1999 17 Panorama C. DITSCH / VERSION CDU-Plakat gegen, Demonstration für doppelte Staatsbürgerschaft

mulierungen“ für notwendig, um „ver- bürgert werden, noch bevor sie den fassungsrechtliche Schwierigkeiten“ aus- Rechtsweg ausgeschöpft haben; diesen zuräumen. Das Optionsmodell von SPD, gerichtlichen Schutz garantiert aber das Grünen und FDP, das gegenwärtig im Grundgesetz. Bundestag beraten wird, halte einer ver- Damit diese verfassungsrechtlich an- fassungsrechtlichen Überprüfung noch greifbare Situation nicht entsteht, will nicht stand, gab Innenminister Otto Schi- das Innenministerium jetzt „entspre- DOPPEL-PASS ly (SPD) vergangene Woche im Bundes- chende Präzisierungen“ nachreichen. kabinett zu. Daß Zwangsausgebürgerte bis zum Ver- Nachgebessert wird der umstrittene neue fassungsgericht klagen, wird sich damit Rot-Grün Paragraph 29 des Staatsangehörigkeits- nicht verhindern lassen. Ob die Regelung gesetzes. Es geht dabei um den soge- vor dem obersten deutschen Gericht Be- nannten Optionszwang: Ausländerkin- stand hat, ist ungewiß. Renommierte bessert nach der mit zwei Pässen müssen sich bis zum Juristen halten den vereinbarten „Op- 23. Lebensjahr für eine Staatsangehörig- tionszwang“ generell für verfassungs- ie Bundesregierung korrigiert den keit entscheiden. Wer das nicht tut und widrig. Die Bielefelder Grundgesetz- Dvorliegenden Gesetzentwurf zum auch nicht als Härtefall anerkannt wird, Kommentatorin Gertrude Lübbe-Wolff neuen Staatsangehörigkeitsrecht. Das In- verliert die deutsche Staatsangehörig- sieht eine solche Regelung als „unzuläs- nenministerium hält „ergänzende For- keit. Somit könnten Betroffene ausge- sig“ und „willkürlich“ an.

VERSICHERUNGEN BUNDESWEHR wenig Licht. Zum Glück seien die Cock- pit-Fenster vorerst von der Sparmaß- Unwirksame Klauseln Null Ausblick nahme ausgenommen, spotten Transall- Crews, Fallschirmjäger würden künftig ünftig haben es Versicherungskun- ei der Luftwaffe hat der Sparkurs im wohl „mit Grubenlaternen bewaffnet“, Kden einfacher, sich gegen Änderun- BVerteidigungshaushalt groteske Aus- um die Absprungtüren im Heck finden gen ihrer Verträge zu wehren. Der Bun- wirkungen. In den Transall-Transport- zu können. Von den 86 betagten Trans- desgerichtshof (BGH) hat vergangene flugzeugen werden jetzt fast alle Seiten- portmaschinen sind durchschnittlich nur Woche eine Klausel im Kleingedruckten fenster mit Leichtmetallplatten zuge- etwa 30 einsatzbereit – hauptsächlich, der Arag-Rechtsschutzversicherung für schweißt, weil für den Ersatz schadhaf- weil Ersatzteile fehlen. Etliche Piloten unwirksam erklärt und ausdrücklich ter Glas-Bullaugen das Geld fehlt. In sind bereits zu zivilen Fluggesellschaften darauf hingewiesen, daß dieses Urteil den Fliegern wird es finster, denn die abgewandert, weil sie bei der Luftwaffe für alle Versicherungszweige Bedeutung dünnen Leuchtstoffröhren spenden nur keine Aufstiegschancen mehr sehen. habe. Die Klausel ermöglicht es den Versicherungen, bestehende Vertragsbe- dingungen einseitig zu ändern, um sie einer neuen Rechtslage oder Verwal- tungspraxis anzupassen. Der BGH sieht darin eine „unangemessene Benachtei- ligung“ der Kunden. Verbraucherschüt- zer raten, künftig Änderungswünsche der Versicherungen genau zu prüfen und nachteilige Korrekturen abzuleh- nen. Dann gelte entweder die alte ver- tragliche oder – bei deren Unwirksam-

keit – die gesetzliche Regelung, die für S. SCHULZ / :RETRO den Kunden oft günstiger sei. Transall-Maschinen der Bundeswehr

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TECHNIK Knall“. Das Ding schoß durchs Fenster, durchschlug das Metallgitter, zerfetzte Rakete entsprungen in etwa vier Meter Höhe die Rinde ei- nes Baums – und verschwand im Him- as Deutsche Technikmuseum mel über Berlin. Das Flugobjekt be- D(DTM) in Berlin fahndet nach den schäftigte seither in vertraulichen Run- Überresten eines Raketengeschosses, den Senatsspitzen, Museumsleute und das das Gelände – versehentlich und Sprengstoffexperten der Polizei, die an mit unbekanntem Ziel – verlassen hat. mehreren Stellen nach Treibsatzspuren Ein DTM-Schlosser, der in seiner Frei- forschten. In den mehrere hundert Me- zeit Militaria sammelt, hatte kürzlich in ter entfernten Wohnsilos erkundigten der Werkstatt des Museums Schweiß- sich Beamte diskret nach Raketenschä- arbeiten an einem mitgebrachten deut- den – vom Schwärmer keine Spur. schen Geschoß aus dem Zweiten Welt- Der Schlosser kam mit einer Verwar- krieg durchgeführt – ein Fehler, wie nung seitens des Museums davon. Und sich alsbald herausstellen sollte. Als der auch das Verfahren wegen Verstoßes ge- Betriebsschlosser das immer heißer gen das Sprengstoffgesetz dürfte gegen werdende, 40 Zentimeter lange Werk- ein Bußgeld eingestellt werden – das stück vor ein vergittertes Fenster Corpus delicti ist ja schließlich immer schleppte, gab es „einen fürchterlichen noch abgängig.

KINDERPORNO identifizieren sind. Die Kinderporno- tauscher hatten sich in einem besonde- Scheinbar anonym ren Bereich des Internets getroffen, dem sogenannten Internet Relay Chat. Dort eim Schlag gegen einen Kinder- können Nutzergruppen während des Bpornoring im Internet Mitte vergan- Gespräches Bilddateien hin- und her- gener Woche hat die Polizei davon pro- schieben. Da man dabei keine E-Mail- fitiert, daß die Päderasten sich im Netz Adresse angeben muß, fühlen sich die anonym und sicher fühlten – in Wahr- Päderasten besonders sicher. Die Polizei heit aber vergleichsweise einfach zu kommt ihnen dennoch auf die Schliche: Jeder Nutzer hat eine verdeckte Kenn- ziffer, anhand derer sein Rechner iden- tifizierbar ist. Bisher schützte auch die Internationa- lität der Szene die Täter. Nun aber ar- beiten Polizeibehörden weltweit immer häufiger zusammen. In Deutschland durchsuchten Kripo-Beamte vergangene Woche im Rahmen der „Operation Ba- varia“ 13 Wohnungen. Weitere Verdäch- tige fanden sich in den USA, Großbri- tannien, Kanada, Norwegen, Schweden

DPA und der Schweiz, wo ebenfalls Bilder Internet-Polizist (in München) und Dateien sichergestellt wurden.

POLIZEI Psycho-Fahndung nach US-Vorbild m Vergewaltigern und Serienmördern künftig schneller auf die Spur zu kommen, Uhaben jetzt auch die Landeskriminalämter damit begonnen, Spezialeinheiten nach dem Vorbild amerikanischer „Profiler“ aufzubauen. Darin sollen speziell ausge- bildete Beamte durch genaue Analyse des Tatortes und der Vorgehensweise des Tä- ters ein Persönlichkeitsbild erarbeiten. Das Täterprofil kann Aufschluß über Alter, Ausbildung und Beruf sowie Lebensweise des Gesuchten geben und die Ermittler bei der Fahndung unterstützen. Bislang gibt es solche Einheiten nur beim Bundeskrimi- nalamt und im Polizeipräsidium München. Eine Voraussetzung für den Aufbau der Einheiten ist die gleichzeitige Einführung des Computersystems Viclas (Violent Crime Linkage Analysis System). Es wurde von der kanadischen Polizei entwickelt und enthält 263 Standardfragen, die künftig bei Tö- tungsdelikten oder sexuellen Gewaltverbrechen beantwortet werden müssen. So sol- len Verdächtige und mögliche Tatzusammenhänge schneller erkannt werden.

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Am Rande Heiliger Bimbam Es gibt viele Gründe, dem Papst ein mög- lichst langes Leben zu wün- schen, wobei na- türlich der wich- tigste Grund der ist, daß sich das Gegenteil einfach nicht gehört. Aber schon an zweiter Stelle folgt die Tatsache, daß der Papst drauf

und dran ist, ein Popstar zu wer- ZENIT LANGROCK / AGENTUR P. den: Diese Woche erscheint seine Plenarsaal (im Berliner Reichstagsgebäude) erste CD, „Abba Pater“ heißt sie BUNDESTAG I postiert sind, zu stark – die Folge sind und ist voll mit frommen Gesän- verwackelte Fernsehbilder. Die Fotogra- gen und mehrsprachigen Predig- fen haben mit einer anderen Standort- ten. Ein Videoclip mit dem Vater- Glasiger Blick schwäche zu kämpfen: Sie müssen ihre unser ist in Vorbereitung. Fotos durch die Glasbrüstungen hin- Heiliger Bimbam, ob der Papst er umgebaute Reichstag in Berlin durch schießen. Stehen die Reporter wohl weiß, was er da riskiert? Dmacht es Fotografen und Kamera- auf, um verschwommene Bilder zu ver- Nicht nur, daß Popstars über- leuten schwer, Parlamentarier und Mini- meiden, ist den hinter ihnen sitzenden durchschnittlich oft jung sterben ster ins rechte Bild zu rücken. Bei Tests Besuchern, Journalisten und Diploma- im neuen Plenarsaal stellten sie fest, ten die Sicht versperrt. Die Bundestags- (siehe Jimi Hendrix, John Len- daß unter der hohen Kuppel zu wenig verwaltung hat Abhilfe versprochen. non und Kurt „Kopfschuß“ Co- Licht für ordentlich ausgeleuchtete Auf- Die Brüstungen der sechs Besucher- bain) – Anlaß zur Sorge ist vor al- nahmen ist. Zudem schwingen die weit tribünen sollen ohnehin um 14 Grad lem die Erkenntnis, daß Platten- in den Raum hinausragenden Besucher- nach vorn geneigt werden, um die Aku- firmen postum alles auf den Emporen, auf denen die TV-Kameras stik im Saal zu verbessern. Markt schmeißen, was sich in den Archiven noch so findet.Was mag da wohl auf uns zukommen? Die Marketing-Usancen der Branche BUNDESTAG II zender der Baukommission des Älte- stenrates, „begrenzt überzeugend“, im- lassen Schlimmes ahnen. merhin sei nun „Schluß der Debatte“. Die erste Postum-CD kommt Schluß der Debatte wahrscheinlich noch halbwegs uf dem Hinweisschild am Reichs- würdevoll daher und bietet sämt- Atagsgebäude und auf verwaltungs- Nachgefragt liche Live-Versionen von Urbi et internen Adreßaufklebern soll künftig Orbi seit 1978.Aber dann wird es die Bezeichnung „Plenarbereich kein Halten mehr geben: Aus den Reichstagsgebäude“ stehen. Auf diese Bonner Puzzle „Kalkutta Sessions“ werden die Kompromißformel verständigten sich am vergangenen Donnerstag die parla- Nur knapp die Hälfte der Bundes- „Rosenkranz Tapes“ neu abge- mentarischen Geschäftsführer aller im bürger glaubt laut Emnid noch, daß mischt, mit Mutter Teresa als Bundestag vertretenen Parteien. die rot-grüne Bundesregierung die Special Guest. Es folgt „Rock Zuvor hatte sich während eines mona- ganze Legislaturperiode durchhält. in der Kurie“ – mit Kardinal telangen Disputs bei den Regierungs- Welche Koalition wünschen Sie Ratzingers Solo am Klingelbeutel. fraktionen mehrheitlich der Begriff sich, falls Rot-Grün scheitert? Und am Ende werden die Disk- „Plenargebäude“ durchgesetzt, wäh- rend die Opposition sich übereinstim- SPD/FDP- Große jockeys dieser Welt den Papst Koalition Koalition samplen (zu deutsch: verhack- mend für „Reichstagsgebäude“ stark gemacht hatte. Im zuständigen Älte- 27 55 stücken), und in den Tanztempeln stenrat jedoch, berichten Teilnehmer, werden die jungen Leute herum- herrschte in der vergangenen Woche zucken zu „Do, do, do, Dominus der „Wunsch zu deeskalieren“. Des- vobiscum“. halb konnten die parlamentarischen Jesusmariaundjosef: Lang lebe Geschäftsführer sich im Anschluß an Angaben in Prozent; an hundert fehlende Prozent: keine Angabe; Emnid-Umfrage vom 16. und 17. März; der Papst. die Sitzung rasch einigen. Den neuen rund 1000 Befragte Konsens findet Dietmar Kansy,Vorsit-

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SPD „Die Enkelei hat sich erledigt“ Zum erstenmal seit Willy Brandt bekommt die SPD mit Gerhard Schröder wieder einen Vorsitzenden, der auch Kanzler ist. Die Parteirechte frohlockt, die Linke jammert über das Ende der klassischen Sozialdemokratie.

uf diesen Abend haben sie sich ge- Mit Oskar Lafontaine, der seit 23 Jahren freut: Weil im Bonner Haus der – als Oberbürgermeister, Ministerpräsident ANordrhein-Westfalen kein Platz für und Parteichef – in der ersten Reihe der die regelmäßig vor Bundesratssitzungen deutschen Politik stand, verlor die SPD tagende Runde war, durften die sozialde- den letzten Repräsentanten einer politi- mokratischen Ministerpräsidenten am vo- schen Kultur, die mit staatlicher Fürsorge rigen Donnerstag umziehen. In der saar- die Gesellschaft als Ganzes reformieren zu ländischen Landesvertretung genossen sie können glaubte. die Künste des Meisterkochs Heinz-Peter Nicht sosehr, daß er „links“ war, wie er Koop, den Oskar Lafontaine einst unter pathetisch zum Abschied bekannte, mach- beträchtlichem Wirbel von der Saar an den te „den Oskar“ zur Identifikationsfigur der Rhein geholt hatte. alten SPD. Sein Credo war immer auch: Die Stimmung blieb trotz erlesener Spei- Die Politik muß den Primat gegenüber der sen und Getränke gedämpft. Ein wenig Wirtschaft behalten. Regierungschef Schröder in Brüssel*: „Die SPD „ziel- und ratlos waren wir alle“, berichtete Schröder will andere Prioritäten setzen. ein Teilnehmer hinterher. „Vermutlich“, Der erste SPD-Vorsitzende seit Willy te, die er als neue Mitte ansprach, auf in- spottete ein anderer, „hat man uns nur zu- Brandt, der zugleich als Kanzler die Bun- stabilem Gelände. Wer wie Schröder „je- sammengeholt, um nachzugucken, ob noch desrepublik führt, hat klargemacht, daß er den Sonntag“ eine Wahl gewinnen können alle da sind.“ nicht gegen die Wirtschaft regieren will. will, muß sein Urteil über Erfolg und Es fehlten in der Koordinierungsrunde – Daß er aber tatsächlich im Konsens mit Mißerfolg dem öffentlichen Echo ablau- die dazu da ist, den SPD-Regierungschefs den zuletzt aggressiv auftrumpfenden schen. Gelegenheit zu geben, mit Kanzler und Interessenvertretern der Wirtschaft ein Nach fünf Monaten im Amt hat sich der Parteichef freimütig zu reden – nur die großes Reformrad drehen kann, muß er Machtmensch Schröder einen Ruf als zu- Herren Schröder und Lafontaine. Der eine jetzt unter Beweis stellen (siehe Seite 30). gleich populärer und handlungsschwacher war in Europa unterwegs, der andere ist Die SPD wird ihm zunächst folgen, ganz Kanzler erworben. Er kann sich nun zum jetzt Privatmann. gleich, was er ihr abverlangt. „Die Partei Büttel der Wirtschaft degradieren lassen kann doch nicht ihren ei- und die Volkspartei SPD bis zur Bedeu- genen Kanzler demontie- tungslosigkeit austrocknen. Er kann aber ren“, bekennt selbst der auch – als selbstbewußter Kanzler einer Altlinke und Schröder- neuen dynamischen Gesellschaft – Refor- Skeptiker Johano Strasser. men vorantreiben und der alten Tante SPD Das nötigt zu Disziplin neues Leben einhauchen. und Vernunft. „Wenn die SPD heute von Krise redet Auf den Rückhalt eines und darüber klagt, daß ihre Seele leide, stabilen SPD-Milieus aber dann spricht sie über einen Vorgang, den kann Schröder nicht mehr sie über Jahre selbst verschuldet hat“, sagt rechnen. Es bestehe sogar der Politikberater Peter Grafe, der im die Gefahr, meint der Poli- Kanzleramt über Zukunftsprojekte nach- tologe und SPD-Stratege denkt. „Die Realitätsbeschreibungen in Gerd Mielke, „daß auch dieser Partei hinkten immer hinter den treue Anhänger in hellen tatsächlichen Geschehnissen her.“ Scharen vagabundieren Keiner weiß das besser als Gerhard oder sich in die innere Schröder. Doch was immer er macht – es Emigration zurückziehen“. kann zu seinen Ungunsten ausgelegt wer- So bewegt sich der Me- dienkanzler, der im Wahl- *Oben: am vergangenen Dienstag; unten: im April 1998

MELDE PRESS kampf auf jene Mehrheit bei der Vorstellung eines SPD-Plakats für den Bundes- Parteimanager Müntefering*: Zusätzliche Kompetenzen von Wechselwählern ziel- tagswahlkampf.

22 der spiegel 12/1999 In dessen neuer Mitte wirken die alten Grundwerte der Arbeiterbewegung – Frei- heit, Gerechtigkeit, Solidarität – wie Sou- venirs aus glorreichen Zeiten. Daß Lafon- taine in seinem Abschiedsbrief der Partei noch einmal diese Tugenden anempfahl, empfanden freilich viele enttäuschte Ge- nossen als Zynismus. Die unfrohe Hast, mit der ihr Ex-Vorsit- zender im Berliner Schloß Bellevue bei Roman Herzog seine Entlassungsurkunde abholte, bestärkte den Eindruck, daß er mit dem politischen Leben abgeschlossen hat. So eilig versuchte Lafontaine dem Ri- tual zu entkommen, daß er im Hinaus- gehen das Staatsoberhaupt fast umgerannt hätte. In der Rückschau blühen Legenden. Zwar hat niemand etwas von dem bevor- stehenden Drama geahnt (siehe Seite 26). Aber im nachhinein behauptet fast jeder, der mit dem Chef vertrauten Umgang pflegte, die Gründe seit langem zu kennen. Als Ende Februar die SPD-Ministerprä- sidenten mit Lafontaine und Schröder zu- sammensaßen, sei die Rivalität zwischen Kanzler und Parteichef „fast körperlich“ spürbar geworden, berichtet einer aus der Führungsrunde. Die beiden hätten sich zwar in keinem einzigen Punkt ausdrück- lich widersprochen. Aber jedem, der ge- nau zuhörte, sei klargeworden: „Da paßte überhaupt nichts zueinander.“

J. ROININEN / SYGMA J. Lafontaine habe schon seit geraumer kann doch nicht ihren eigenen Kanzler demontieren“ Zeit vorgehabt, das Handtuch zu werfen,

den. Schnelle Veränderungen wer- den ihm unvermeidlich als Hand- streich gegen die Partei angelastet. Hält er sich zurück, muß er sich des Vorwurfs der Führungsschwäche er- wehren. Also gab Schröder erst einmal die dringliche Order aus: Ruhe bewah- ren, keine überstürzten Handlun- gen. So darf Ottmar Schreiner vor- erst Bundesgeschäftsführer bleiben. Für die Zeit nach dem Sonder- parteitag am 12. April weisen die Planspiele aber in eine andere Rich- tung: Der Vorsitzende braucht in der Zentrale einen starken Neben- mann, der ihm den Rücken freihält. Deshalb soll Franz Müntefering, der Bau- und Verkehrsminister aus Westfalen, zum stellvertretenden Parteivorsitzenden aufrücken. Er wird dann als eine Art Parteimana- ger mit zusätzlichen Kompetenzen

fungieren. Er hat signalisiert, daß A. SCHOELZEL er sich eine Rückkehr in die Ba- Traditionspartei SPD*: Zwang zu Disziplin und Vernunft racke vorstellen kann. Müntefering verfügt über Erfahrung. Er lich versöhnen. Vor allem die Fundis streuten Vertraute des Saarländers. Nach war maßgeblich am Wahlsieg der SPD am unter den Genossen plagt eine Frage: der Wahl Raus zum Präsidenten am 23. 27. September beteiligt, gilt als akzeptabel Wie links bleibt die SPD unter Gerhard Mai sei dafür der beste Zeitpunkt. Dies für Rechte und Linke in der Partei. Schröder? habe er Schröder auch gesagt. Der eher glücklos amtierende Minister Der Kanzler ließ das Gerücht heftig de- steht, anders als Schröder, der Basis nahe * Auftakt zum Bundestagswahlkampf am 22. August mentieren: Es sei „absoluter Unsinn“ (Re- und könnte so die Parteiflügel womög- 1998 in Berlin. gierungssprecher Uwe-Karsten Heye), „er-

der spiegel 12/1999 23 Deutschland stunken und erlogen“ (Schreiner).Wer ge- 1990 erinnert. Damals war Lafontaine, nach Dem Kanzler erfolgreich Paroli zu bieten, sehen habe, wie verdattert der Kanzler das der vernichtenden Niederlage bei der Bun- wird schwerfallen. Kündigungsschreiben seines Finanzmini- destagswahl, tagelang spurlos von der Bild- Einen „hohen Modernisierungsbedarf“ sters angestarrt habe („Warum nur eine fläche verschwunden; zuvor hatte er sich begründete schwammig am vorvergangenen Zeile? Was ist da los?“), der wisse, so sagt im Parteipräsidium über mangelnden Wochenende der linke Frankfurter Kreis und ein Schröder-Mitarbeiter, wie abwegig die- Teamgeist im Wahlkampf beschwert. forderte – nicht weniger wolkig – „den Kurs- se These sei. Das auch jetzt von Lafontaine be- wechsel in der Wirtschaftspolitik“ ein. In den Szenarien der Lafontaine-Ge- schworene „Mannschaftsspiel“ war schon Andere Linke sehen die eigene Rolle kri- folgschaft spielt Kanzleramtsminister Bodo immer Legende. Das Team funktionierte tischer. „Es gab ein Zurücklehnen in der Hombach die tragende Schurkenrolle. Ihm nur so lange, wie Lafontaine selbst die Re- Gewißheit, der Oskar richtet es schon“, traut man inzwischen alles zu – sogar, daß geln bestimmte. vermerkt Fraktionsvize Gernot Erler. Jetzt er es war, der die britische Boulevardzei- Nun versucht die Bonner SPD-Rest- richtet Oskar gar nichts mehr, und Erler tung „Sun“ zu den Hetztiraden gegen La- Mannschaft, sich neu zu organisieren. räumt ein: „Wir müssen uns viele Antwor- fontaine („Der gefährlichste Mann in Eu- Für die Bundestagsfraktion, die bisher ten erst noch erarbeiten.“ ropa“) angestiftet habe. vor allem mit dem Durchpeitschen unfer- Auch die Grünen streben nach neuer Vertraute des Saarländers wollen auch tiger Gesetze beschäftigt war, forderte Verortung. Einige spähten sogleich nach wissen, daß Hombach im vorigen Jahr eine Vormann Peter Struck: „Die Debatten der dem leer gewordenen Platz links von Intrige gegen den vom Parteichef favori- Partei werden künftig in der Fraktion ge- Schröder. Doch links, entsetzte sich Josch- sierten Präsidentschaftskandidaten Johan- führt.“ Ob Rente oder Gesundheitspolitik, ka Fischer, links „gähnt nur der Abgrund“. Fürs Exotische zuständig war wieder einmal Jürgen Trittin. Enttäuscht nannte er das rot- grüne Projekt einen „Irrtum von Romantikern“ und empfahl schwarz-grüne Optionen. Als Anzeichen grassierenden „Rin- derwahnsinns“ diagnostizierte das Joschka Fischer. Die Realo-Strategen verheh- len keineswegs ihre Absichten: Sie wollen, noch ehe Schröder mit seinen Genossen wieder Tritt faßt, „ein Signal an die Wirt- schaft geben, das unsere Position sichtbar macht“ (Schlauch). Schröder gibt sich unbeein- druckt. Er will als Bundesvorsit- zender seine Partei so führen, wie er es als Landeschef in Nie- dersachsen getan hat – ohne Kungeleien mit Unterbezirks- vorsitzenden, ohne vorbereiten- de Telefonseelsorge für Dele- gierte im Stile Helmut Kohls. „Ich gehe“, hat er seine Metho-

K.-B. KARWASZ de in Hannover beschrieben, Grüne Fischer, Schlauch (M.)*: „Links gähnt nur der Abgrund“ „auf den Parteitag, sage, was ich für richtig halte, und kämpfe nes Rau eingefädelt hat. Hombach habe ob Atomausstieg oder Unternehmenssteu- dafür, daß das beschlossen wird, manch- Roman Herzog angestiftet, öffentlich über er – die Bundestagsabgeordneten sollen mal auch mit Druck, keine Frage.“ eine mögliche zweite Amtszeit nachzu- fortan kräftig mitmischen. Struck: „Jede Für ihn hat das Volk, unorganisiert und denken. Die SPD würde ihn mit wählen. Fraktionssitzung ist jetzt ein kleiner Par- in seiner launischen Form als Fernsehpu- Lafontaine, so erzählen seine Freunde, teitag.“ blikum, die Traditionspartei SPD abgelöst. habe dies „zum Kotzen“ gefunden. Die Jungen in der Fraktion sehen neue Das Ziel ergibt sich aus dem „Hand- In der vergangenen Woche brandete der Zeiten heraufziehen. „Die Enkelei hat sich lungsdruck“, den all jene Menschen erzeu- Zorn über Hombach hoch. Doch hätte dem erledigt. Jetzt entsteht ein gewisser Sog für gen, „die arbeiten gehen“: für Schröder die umstrittenen Kanzleramtschef kaum etwas uns“, konstatiert selbstbewußt der Kieler neue Mitte. Die ist den Globalisierungsfol- nützlicher sein können, als daß ausgerech- Abgeordnete Hans-Peter Bartels, 37. In ei- gen ausgesetzt, deren Bedürfnissen gilt es, net die Vorzeigelinke und Juso-Vorsitzen- ner „Standortbestimmung“ merkt er in kri- so Schröder, den Sozialstaat und die Ar- de Andrea Nahles seinen Rücktritt forder- tischer Abkehr von alten Juso-Mustern an: beitsgesellschaft anzupassen. Moderne Po- te. Das machte eine Entlassung unmöglich. „Politik als Protest mag ihre Zeit gehabt litik ist, was „vernünftig“ ist. Ob die links Auch von der anderen Seite werden jetzt haben, die jetzige Zeit ist gut für eigene oder rechts genannt wird, ist Schröder und Rechnungen aufgetischt. Verteidigungsmi- Tätigkeit in den Strukturen.“ seinem Vordenker Hombach ziemlich egal. nister Rudolf Scharping – den Lafontaine Still genossen nur die Parteirechten, lan- Erfolge der Regierung werden nun um so 1995 in Mannheim aus dem Amt des Vor- ge schon auf Schröder-Kurs, ihren Triumph. wichtiger, beim Bündnis für Arbeit und bei sitzenden putschte – fühlt sich an das Jahr Die Linke hingegen, ihres Vordenkers jäh Wahlen – die SPD wird ihren Kanzler und beraubt, fahndet nach neuer Orientierung. Parteichef daran messen. * Mit dem Stuttgarter Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn Sie registrierte mit Erschrecken: Eigene Horand Knaup, Jürgen Leinemann, (l.) auf dem Parteitag am 6. März in Erfurt. schlüssige Konzepte sind nicht vorhanden. Paul Lersch, Hartmut Palmer

24 der spiegel 12/1999 Werbeseite

Werbeseite kann. Die häufigste Spätfolge einer seeli- schen Traumatisierung scheint eine gestei- gerte seelische Verwundbarkeit, verbun- den mit einem Anspruch, sich niemals mit weniger als Perfektion zufriedenzugeben. Es ist für uns alle eine schwer erträgliche Vorstellung, von heute auf morgen aus un- serem Optimismus herausgerissen zu wer- den. Wir stellen es uns nicht gern vor, daß es eine Form seelischer Verletzung gibt, die uns in unserem Weltbezug, unserer Fähig- keit, Versagungen zu ertragen und Krän- kungen hinzunehmen, dauerhaft verändert und unser ebenso hoffnungsvolles wie illu- sionäres Selbstbild zerstört, daß wir mit dem Alter auch reifer und belastbarer wer- den. Zuallerletzt kann der Betroffene selbst akzeptieren, was mit ihm geschehen ist. Die seelische Traumatisierung stellt auch

DPA noch andere Klischees in Frage, mit denen Privatmann Lafontaine*: „Den Intrigen des Alltags nicht mehr gewachsen“ die Alltagspsychologie hantiert. Darin heißt es etwa, es sei gut, sich ein Trauma zu ver- gegenwärtigen, und schlecht, es zu verdrän- gen. Aber in Wahrheit ist Verdrängung oft heilsam und Erinnerung oft sehr qualvoll. Die Qual der Erinnerung Wir alle benötigen eine Grundverdrän- gung, um nicht ständig darunter zu leiden, daß von einem Augenblick auf den ande- Oskar Lafontaines Rücktritt – eine posttraumatische ren Schmerz, Krankheit und Tod in unser Reaktion. Von Wolfgang Schmidbauer Leben eindringen können.Wer einem mör- derischen Angriff (oder einer Vergewalti- Schmidbauer, 57, ist Psy- terschiedlichen Strömungen zu integrieren gung) ausgesetzt war, verliert seine Ge- choanalytiker und lebt in und den Machtwechsel in Bonn voranzu- borgenheit in der Welt. Sein seelisches München. Er forscht seit treiben, hat Lafontaine Qualitäten ent- Trauma macht ihn für eine Weile schutzlos, längerem darüber, wie trau- wickelt, die zu seinem jüngsten Schritt läßt ihn nichts anderes mehr erleben als matische Erlebnisse das Le- nicht zu passen scheinen. Gefahr. Warum gerade ich? Was habe ich ben der Betroffenen und ih- Er wirkte wie jemand, der sich viel auf- getan, daß es gerade mich getroffen hat? rer Familien verändern. Von laden will; kein Zeichen nach außen verriet Habe ich mich, ohne es zu wissen, doch ir-

M. HANGEN Schmidbauer erschien kürz- den Wunsch, den Bettel hinzuwerfen. Daß gendwie schuldig gemacht und so den Zorn lich das Buch: „Ich wußte er jetzt alle Ämter aufgegeben, nicht einmal des Schicksals auf mich gezogen? nie, was mit Vater ist. Das Trauma des das Mandat als Abgeordneter behalten hat, Die Folge gravierender Verluste des see- Krieges“. belegt einen zentralen Wunsch der Trau- lischen Reizschutzes ist panische Angst. matisierten: zu verdrängen, sich nicht mehr Zwangserinnerungen treten auf, die wie er Rücktritt Oskar Lafontaines kam an das erinnern zu lassen, was verletzt hat. ein nicht abschaltbarer Filmprojektor im für fast alle aus heiterem Himmel Wir sind mit unserem Alltagsverstand Gehirn das Trauma wieder und wieder ab- Dund war in seiner Radikalität so un- nicht gerüstet zu verstehen, was in Trau- spielen, ohne daß der Gequälte die Mög- verständlich wie dem Nichtjapaner ein Ha- matisierten geschieht. Beispielsweise wür- lichkeit hat, sich dagegen zu schützen. rakiri. Einen Weg, diesen Entschluß nach- de dieser davon ausgehen, daß Schäuble, Gut wäre eine Form von Erinnerung, die zuvollziehen, eröffnet die Trauma-Psycho- der seit dem Attentat querschnittsgelähmt nicht unsere Seele vergiftet, sondern uns logie. 1990, in seinem ersten Wahlkampf ist und sich mit großer Tapferkeit um seine weise macht, die uns belehrt, wie brüchig um das Amt des Bundeskanzlers, wurde er Arbeit in Partei und Politik kümmert, see- von einer geisteskranken Frau niederge- lisch weit ausgeprägter traumatisiert ist als stochen und lebensgefährlich verletzt. Lafontaine, dessen Verletzung keine blei- Anders als sein späterer Kontrahent benden körperlichen Schäden hinterließ. Wolfgang Schäuble, der ebenfalls einem At- Psychologische Erfahrungen belegen das tentat zum Opfer fiel und seither Gegenteil. Bereits im Ersten Weltkrieg fiel im Rollstuhl sitzt, hat Lafontaine diese psychoanalytisch geschulten Ärzten auf, Attacke ohne körperlichen Schaden über- daß jene Soldaten, die den Grabenkrieg standen; er erholte sich schnell und ent- körperlich weitgehend unverletzt über- wickelte trotz seiner Wahlniederlage gegen standen, von ihren seelischen Verletzun- Helmut Kohl eine beträchtliche Kreativität, gen nicht genesen konnten, während die die beispielsweise zu seinem vielbewun- körperlich schwer Verwundeten psychisch derten Sieg in der Kampfabstimmung um weit weniger auffällig waren. das Amt des Parteivorsitzenden führte. Ich habe in jüngster Zeit viel über Sol- Solange es darum ging, die SPD in Be- daten-Väter geforscht, deren heute längst wegung zu setzen und zu halten, ihre un- erwachsene Kinder es oft als große Er-

leichterung empfinden, wenn ihnen klar M. NAUMANN * Am vorigen Donnerstag in Berlin nach Erhalt seiner wird, daß kein Mensch derart überwälti- Attentatsopfer Lafontaine 1990 Entlassungsurkunde. gende Erlebnisse ohne Folgen verarbeiten „Verlust des seelischen Reizschutzes“

26 der spiegel 12/1999 Deutschland das Eis ist, auf dem wir durch unser Leben gehen, ohne uns den Mut zu nehmen. Aber es dauert oft sehr lange, bis Traumatisier- te eine solche Form der Erinnerung fin- den, und wenn sie es tun, kann es ihr Le- ben grundlegend verändern. Lafontaine wurde mitten in seiner Kar- riere als Politiker, subjektiv auf dem Weg zum einflußreichsten Amt in Deutschland, aus einer jubelnden Masse heraus schwer verletzt. Wir haben nichts vom Wesen der psychischen Traumatisierung verstanden, wenn wir annehmen, nach der erfolgreichen Behandlung der Stichwunde sei ein solches Erlebnis erledigt. Es drückt aus, wie wenig verläßlich Macht, Anerkennung, politischer Erfolg sind; Lafontaine wurde an einem Ort und in einer sozialen Situation getroffen, die ihm bisher nicht nur vertraut waren, son- dern die er auch zu beherrschen glaubte. Damals hat er in übermenschlicher An- strengung die seelische Verletzung ver- drängt, so gut und rasch es eben gehen woll- te. Er tat es wohl, um seine Freunde nicht zu enttäuschen. Jetzt hat sich gezeigt, daß diese Situation tiefere Spuren hinterlassen hat. Lafontaines Rückzug hätten 1990 alle verstanden – heute begreift ihn keiner, es sei denn, er hat schon oft beobachtet, wie Menschen schwere Erfahrungen für Jahre hin ausgleichen können, ohne jemals wie- der so belastbar zu werden wie früher. Es ist zu vermuten, daß der Schwung, den Lafontaine nach seiner Wahlniederlage in die Partei brachte, mit einer kompensa- torischen Anstrengung zusammenhängt. Was er schließlich nicht ertragen konnte, war der Sieg. Ich glaube nicht, daß Neid auf Schröder hier eine zentrale Rolle spielte; es war eher die Tatsache, daß Lafontaine den Schutz einer solidarischen Kampfgemein- schaft verlor. Den Intrigen des Alltags der Politik war er nicht mehr gewachsen. Der subjektiv vom Attentat aus dem Rennen geworfene Kanzlerkandidat von 1990 hatte taktisch richtig und ohne Rück- sicht auf die eigenen Emotionen einem an- deren Kanzlerkandidaten Platz gemacht. Seit dem Wahlsieg war Lafontaine nicht mehr Teil einer Bewegung, sondern Ge- kreuzigter eines Machtsystems, das seine Visionen geringschätzte und seine prakti- schen Bemühungen entwertete. Die Metapher vom fehlenden Teamgeist und dem schlechten Zusammenspiel in der Regierungsmannschaft drückt aus, wie schutzlos er sich gefühlt hat. Der entspannt lächelnde Lafontaine, der mit seinem Söhn- chen auf den Schultern wie ein geläuterter Christophorus der Presse entgegentritt, spielt eine Rolle und drückt darin doch auch eine Lösung seiner Situation aus. Wenn die Partei seinen Schutz nicht wür- digt und der Kanzler seine Visionen nicht braucht, dann kann Lafontaine – selbst va- terlos aufgewachsen – in seinem Sohn und in seiner Familie, Schutz gebend und Schutz erhaltend, eine neue Form der Bewältigung seiner Verletzungen finden. ™

der spiegel 12/1999 Werbeseite

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Werbeseite DPA Unternehmerfreund Schröder (r.), Wirtschaftsvertreter*: Nichts mehr gegen die Wirtschaft?

REGIERUNG Ruck im Reformerlager Die Firmen dürfen wieder hoffen: Wirtschaftsschreck Oskar Lafontaine ist von der Bühne abgetreten, der Kanzler und sein grüner Koalitionspartner wollen nun die längst überfälligen Reformen durchsetzen – auch gegen den Widerstand der Traditions-SPD.

ürgen Schrempp konnte es wieder ein- fene und teils versteckte Widerstand von mal nicht lassen. Eigentlich sollte der Wirtschaftsexperten, SPD-Modernisierern STREITPUNKTE JDaimlerChrysler-Chef eine Laudatio und allen maßgeblichen Wirtschaftsgrößen halten. Geplant waren freundliche Worte gegen den selbsternannten Weltökonomen zum 60. Geburtstag von Michael Rogowski, aus Saarbrücken dürfte dessen Abgang zu- Ex-Vizepräsident des Bundesverbandes mindest beschleunigt haben. Ausstieg aus der Atomenergie der Deutschen Industrie (BDI). Entnervt auch vom mangelnden Rück- Doch ein paar Sprüche zur Lage in Bonn halt beim eigenen Kanzler, der im Kabinett Die Regierung drängt auf ein Ende der mochte der Automann sich am vergange- ein Ende der wirtschaftsfeindlichen Politik Kernkraft – die Stromwirtschaft versucht, nen Montag nicht verkneifen. Am neuen gefordert hatte, trat der ungeliebte Fi- das Tempo des Ausstiegs zu drosseln. Bundeskanzler gefalle ihm, daß er seinem nanzminister zurück. Finanzminister Oskar Lafontaine „die Das einzige, was er seinen enttäuschten Rückkehr ins Saarland ermöglicht“ habe, Anhängern hinterließ, war die gefühlige höhnte Schrempp. Botschaft: „Das Herz wird noch nicht an Auch der Kanzler wurde mit Spott be- der Börse gehandelt, es hat einen Standort, dacht. Gerhard Schröder zeichne sich vor es schlägt links.“ allem durch „Cashmere, Chanel und Cha- Wie zum Hohn schlugen die Märkte in blis“ aus, tönte der Wirtschaftsführer. Bit- Sekundenschnelle zurück. Der Euro er- ter fügte er hinzu: „Mit diesen drei Cs kann holte sich merklich. Die Aktienkurse schos- man Deutschland nicht regieren.“ sen kurzfristig um sechs Prozent in die Die Zuhörer waren begeistert. 300 Ma- Höhe. Lafontaines Herz, so die Botschaft nager und Unternehmer applaudierten, die vom Finanzplatz Frankfurt, mag schlagen, meisten im Stehen. Selbst aus Bonn ange- wo es will, das kalte Herz des Kapitalismus reiste Vertreter der Opposition staunten über schlägt an der Börse – und zwar kräftig. den Groll der Bosse. Erfolg mache süchtig, „Wer regiert die Republik?“ fragte er- glaubt der zum Schrempp-Auftritt geeilte schrocken die „Zeit“. Der linksliberale ita- CDU-Parlamentarier Georg Brunnhuber. lienische „Il Messaggero“ sieht Deutsch- Die wochenlangen Attacken gegen La- Protest gegen Kernkraft (in Stade) fontaine hatten – zur Überraschung der * Siemens-Chef Heinrich von Pierer und BDI-Präsident Konzernchefs – Wirkung gezeigt. Der of- Hans-Olaf Henkel am 9. März im Kanzleramt.

30 der spiegel 12/1999 Deutschland land bereits driften: „Durchbruch für den Doch dem zweiten großen Belastungs- Menschen mit schlechter oder über- Wirtschaftsliberalismus“. Die Unterneh- druck konnte niemand ausweichen: Die haupt keiner Ausbildung, immerhin mer als heimliche Herrscher? Sozialversicherungsbeiträge, die Unter- mehr als ein Drittel der über vier Mil- „Die Wirtschaft soll nicht den Eindruck nehmen für ihre Angestellten und Arbeiter lionen Arbeitslosen, hätten wieder eine erwecken, sie wolle die Regierung vor sich abführen, sind seit 1990 um mehr als drei Chance. hertreiben“, polterte Wirtschaftsminister Prozentpunkte gestiegen, die Pflegeversi- π Auch die Reform der Rente wird neu Werner Müller im Bundestag. Kanzler- cherung wurde sogar neu eingerichtet. angepackt: Nicht mehr Wunschdenken amtsminister Bodo Hombach allerdings be- 1990 führten die Unternehmen rund 299 dürfe das Parteiprogramm bestimmen, zeichnet die These von der Machtüber- Milliarden Mark an die Sozialkassen ab. sondern die Realität, machte Schröder nahme der Wirtschaft als eine Legende: 1998 waren es bereits 440 Milliarden Mark: kürzlich im Parteivorstand deutlich. „Bonn ist eine Käseglocke, unter der so ein Plus von fast 50 Prozent. Die Unzu- π Die zweite und dritte Stufe der Ökobe- mancher Schimmelpilz gedeiht.“ friedenheit der Wirtschaft mit der Kohl- steuerung soll bescheidener ausfallen als Bisher zumindest ist die Schröder-Re- Regierung war am Ende in Feindseligkeit geplant, wahrscheinlich wird nur noch gierung nicht durch allzu große Freund- umgeschlagen; Union und FDP, einst von die Mineralölsteuer erhöht. Der Strom- lichkeiten gegenüber den Firmen und de- den Männern in den Chefetagen als Re- preis gilt im Finanzministerium und ren Verbänden aufgefallen. Vor allem der gierungsparteien herbeigesehnt, hatten aus beim Realoflügel der Grünen als unan- Atomausstieg, für den keinerlei Entschädi- Sicht der Wirtschaft versagt. tastbar. gungen gezahlt werden sollen, regte die Nun setzen die Konzernchefs ihre Hoff- π Zur Bewältigung der Finanzprobleme betroffenen Konzerne auf. nung auf den Pragmatiker Schröder. Schon soll die Mehrwertsteuer steigen. Nach Auch die übrige Wirtschaft blieb vom drehen die allzeit zur Empörung bereiten SPIEGEL-Informationen ist die Anhe- Regierungswechsel nicht verschont. Alle Verbände die Phonzahl wieder nach unten. bung dieser Konsumabgabe, die Firmen Wahlversprechen für die ersten 100 Tage – Berater empfahlen BDI-Präsident Hans- verschont und nur den Käufer trifft, be- Aufhebung der Rentenkürzung, Ökosteu- Olaf Henkel, sich mit weiterer Schelte reits beschlossene Sache. „Wenn man er,Wiedereinführung der vollen Lohnfort- zurückzuhalten. Triumphgeheul schade nur. eins und eins zusammenzählt, dann weiß zahlung, Beseitigung der Abschreibungs- Geht es nach Schröder, sollen die Un- man, daß das kommt“, sagt ein Minister. modelle, Reform der 630-Mark-Jobs – wer- ternehmen künftig keinen Grund zu neu- π Auch die Reform der sozialen Siche- den zum größten Teil aus den Kassen der er Klage bekommen. „Nichts mehr gegen rungssysteme kann nun beginnen. Der Konzerne bezahlt. Auch die Stimmungs- die Wirtschaft“, heißt die Parole in Bonn. neue Finanzminister Hans Eichel prä- barometer der Konjunkturforscher weisen Eine überschaubare Anzahl von Projekten sentierte sich am Donnerstag beim Tref- nach unten. soll angeschoben werden, aber nicht mehr fen mit den SPD-Ministerpräsidenten Schon die Regierung Kohl – anders als im Hauruck-Verfahren. Nach der Stolperei voller Tatendrang: „Wir brauchen einen von Lafontaine behauptet – hatte den Fir- der ersten 100 Tage gelte es nun, so Hom- Kassensturz, der auch die strukturellen men einiges zugemutet. Sie erhöhte seit bach, „die Schrittfolge einzuhalten“: Defizite des Haushalts analysiert“, for- 1990 die Steuern für Bürger und Unter- π Die Unternehmensteuerreform soll al- derte Eichel. Die Folge: „Wir müssen an nehmer kräftig, um die deutsche Einheit zu les Ungemach der bisherigen Steuer- die bestehenden Leistungen ran.“ finanzieren. Nur wer gleichzeitig die Vor- reform wieder wettmachen. Zumindest im Reformerlager der Regie- teile im deutschen Osten nutzte, blieb in π Auf dem verkrusteten Arbeitsmarkt soll rungskoalition herrscht so etwas wie Auf- seiner Steuerbilanz halbwegs ungeschoren. ein Niedriglohnsektor installiert werden. bruchstimmung. „Wir werden jetzt gna-

Arbeitsplätze Unternehmensteuer Die Unternehmen klagen über zusätzliche Ein- Falls die Unternehmen nicht steuerlich entlastet stellungshürden und zu werden, drohen sie, Investitionen – oder hohe – und weiter sogar Konzernzentralen – ins Ausland zu verlagern. steigende – Arbeitskosten. REUTERS AP K. SCHOENE / ZEITENSPIEGEL Gewerkschaftsdemonstration (in Duisburg) DaimlerChrysler-Zentrale in Stuttgart

der spiegel 12/1999 31 Deutschland denlos pragmatisch“, verspricht Schleswig- Schröder erwartet von seinem neuen Fi- Holsteins Ministerpräsidentin Heide Si- nanzminister vor allem die Konzentration monis. „Lafontaine ist Vergangenheit“, as- auf innenpolitische Aufgaben. Nach den sistiert der grüne Haushaltsexperte Oswald irrlichternden Ambitionen Lafontaines, der Metzger. „Die Wirtschaft sollte in die Zu- sich mit der Europäischen Notenbank ge- kunft schauen.“ nauso wie mit US-Notenbankchef Alan Bis zur Entscheidungsreife ist noch Greenspan anlegte, steht nun eine hand- nichts gediehen, doch im vorfrühlingshaft werklich saubere Unternehmensteuer- warmen Bonn knospte in der vergangenen reform auf der Agenda. Woche so manche Idee. In einem elfseiti- Auch in der Niedriglohndebatte läuft gen Grundsatzpapier beschrieben die grü- nichts gegen Eichel. Trauen sich die rot- nen Wirtschaftsexperten ihre „Initiative für grünen Regenten an mehr als ein paar Investitionen, Arbeit und Umwelt“. kleine Modellvorhaben heran, würde der Ihre Kernthese: Die Gerechtigkeitslücke bundesweite Großversuch nach Schät- aus der Ära Kohl sei zumindest teilweise zungen von Experten mindestens 15 Mil- geschlossen worden, jetzt gelte es, der liarden bis 20 Milliarden Mark im Jahr Wirtschaft „ein verläßliches Angebot für kosten. Investitionen“ zu schaffen. Die Grundidee ist nicht neu: Damit es Die Gunst der Unternehmerschaft wol- für geringqualifizierte Arbeitslose attrak- len sie mit einer radikalen Steuersenkung tiver wird, einen Job anzunehmen, soll der gewinnen. Betriebe sollen Staat den Lohn aufstocken vom nächsten Jahr an nur oder einen Teil der Lohn- noch höchstens 35 Prozent nebenkosten übernehmen. Steuern zahlen. Weil die Hombach glaubt, daß in die- Gewerbesteuer darin schon ser Frage ein Konsens mög- enthalten ist, müßte die Kör- lich ist: „Modellprojekte hat- perschaftsteuer von jetzt 40 ten wir genug. Damit kann Prozent auf rund 23 Prozent man ganze Bücher füllen.“ sinken. Daß es ernst wird, merken Bei der Operation wollen mittlerweile auch die Ge- die Grünen auf die soge- werkschaften. In den Vorbe- nannte Gegenfinanzierung, reitungstreffen zum Bündnis vor allem das Streichen von für Arbeit baten deren Ver- Steuervergünstigungen, ver- treter um Aufschub: Erst

zichten. Statt dessen hoffen M. DARCHINGER müßten sie ihre Klientel auf sie darauf, daß sich die Re- Finanzpolitiker Eichel das schwierige Thema ein- form, wenigstens zum Teil, stimmen. selbst finanziert. Das Kalkül: Die Unter- Manchem Reformer in der SPD gehen nehmen werden steuerlich entlastet, das die bisherigen Pläne noch nicht weit ge- mehrt das Wachstum, was wiederum zu ei- nug. So drängt der rheinland-pfälzische nem Plus bei den Steuereinnahmen führt. Arbeits- und Sozialminister Florian Ger- Über die Höhe der Entlastung macht das ster darauf, bei der Modernisierung der Grünen-Papier keine Angaben. Doch Chri- Sozialsysteme „Gerechtigkeit nicht mehr stine Scheel, bündnis-grüne Steuerexpertin über Mehrausgaben zu definieren“. Das und Vorsitzende des Finanzausschusses, Sozialbudget sei dringend zu reduzieren, verrät: „Die Senkung der Tarife kostet den sagt er. „Da hat die Partei noch nicht tief Fiskus 15 Milliarden Mark.“ Im Klartext: genug geschürft.“ Die Wirtschaft wird um genau diesen Be- Simonis sieht jetzt die Chance, vor allem trag entlastet. bei der Rentenreform „einen größeren Auch in der SPD fühlen sich Wirt- Wurf zu wagen“. Ihr Vorschlag: eine steu- schaftspolitiker nach dem Abtritt Lafon- erfinanzierte Grundsicherung, ergänzt taines von Denkverboten befreit. „Lafon- durch private Vorsorge. Auf lange Sicht taine wurde von vielen bei uns verehrt wie kann sich Wirtschaftsexperte Bury sogar ein religiöser Führer“, lästert Hans Martin einen Abschied vom herkömmlichen Um- Bury, der wirtschaftspolitische Sprecher lagesystem Rente vorstellen. der SPD-Fraktion. Einig sind sich die Reformer darin, die Vor allem die ideologisch geführte De- Kurskorrekturen auch gegen die Traditio- batte um feste Wechselkurse, mit denen nalisten in den eigenen Reihen durchzu- Lafontaine den weltweit operierenden setzen. Allein auf die Gewerkschaftsklien- Fondsmanagern das Leben schwermachen tel, den SPD-Stammwähler also, will sich wollte, gilt als beendet. Ein Bonner Mini- die Schröder-Truppe nicht stützen. ster gegenüber seinem besorgten holländi- Ohne die neue Mitte, erkennen immer schen Amtskollegen: „Auch dieses Thema mehr, hat die Koalition bei der nächsten ist zurückgetreten.“ Wahl keine Chance. „Wir haben gehalten, Große Hoffnungen setzen die Reformer was wir versprochen haben“, sagt Bury. auf den neuen Finanzminister, einen um- „Jetzt müssen wir auch halten, was sich gänglichen Mann mit beachtlichem Fach- die Wähler von uns versprechen.“ wissen. „Der ist auch bereit, etwas Neues Alexander Jung, Elisabeth Niejahr, auszuprobieren“, glaubt Scheel. Christian Reiermann

32 der spiegel 12/1999 allzu aufdringlich an der Rampe der Bon- Nun aber, da die Konsensgespräche mit MINISTER ner Bühne plaziert, noch mehr als Dop- den Energiekonzernen festgefahren sind, pelminister auf Zeit. Viel lieber wäre der ist Müller für die angeschlagene Regierung Lieber ehemalige Veba-Manager überhaupt im wieder die zentrale Figur bei dem Versuch, Hintergrund geblieben. Staatssekretär soll- Vertrauen zurückzugewinnen. So sieht das te Müller eigentlich werden, mehr nicht, so auch der Bundeskanzler. im Hintergrund war es abgemacht mit dem Bundeskanzler. Der Machtpolitiker und der Energie-Ex- Als der Computerunternehmer Jost perte lernten sich 1990 kennen. Minister- Gerade eben noch galt Stollmann jedoch in letzter Minute ent- präsident Schröder, mit Gorleben als Pro- nervt absprang, geriet Schröder in Not. Ei- blemfall vor der Tür, suchte Kontakt zu Werner Müller als tapsiger nen Mann aus der Wirtschaft hatte der Ge- PreussenElektra. In der hannoverschen Außenseiter, plötzlich ist nosse für die Bosse als Wirtschaftsminister Unternehmenszentrale hatte aber niemand er ein Star – eine Rolle, die versprochen. Also, entschied er kurzer- Interesse an Diskussionen mit dem roten ihm nicht sonderlich liegt. hand, müsse Müller ran. Nachfolger des Industrie-Freundes Ernst Die fünf Monate im Ministeramt waren Albrecht (CDU). ie dunklen Limousinen rollen dicht für Müller ein Crashkurs in Politik. Nur Schröder wandte sich deshalb an den an die Luftwaffenmaschine. Wa- eine knappe Woche vor seinem souveränen Düsseldorfer Mutterkonzern Veba. Dort Dgentüren fliegen auf, Leibwächter Europa-Auftritt brüllten ihn in Bonn 35000 nahm Müller das Gesprächsangebot an – springen heraus, einer greift sich die schwe- aufgebrachte Atomkraftwerker nieder, als der energiepolitische Stratege, der jahre- re Aktentasche. „Ich brauche kei- nen Kofferträger“, wehrt der Chef ab und nimmt dem irritier- ten Helfer die Tasche wieder weg. Dann klettert er schwungvoll in den Jet. Werner Müller, 52, Minister für Wirtschaft und vorübergehend auch für Finanzen, genießt kon- trolliert seine neue Rolle. Plötz- lich ist er ein Star. Der Bonner Außenseiter, der bis zu Oskar La- fontaines Rückzug als politisches Leichtgewicht galt, ein parteilo- ses Ministerchen von Kanzlers Gnaden, aus dessen Ressort der mächtige Finanzchef mal eben zwei wichtige Abteilungen ab- ziehen konnte, steht unverhofft bestens da. Am Montag vergangener Wo- che leitete der weißhaarige Herr

aus Deutschland die Runde der / MODUS JARDAI europäischen Finanzminister. Ein Doppelminister Müller*: „Der macht seine Spielchen“ bißchen Schadenfreude war zu hören, als er beklagte, der „Herr Lafon- er die Demonstranten als „liebe Kollegin- lang Intimus des mächtigen Konzern- taine“ sei leider „in vielen Punkten nicht nen und Kollegen“ begrüßte: „Aufhören, lenkers Rudolf von Bennigsen-Foerder war. richtig verstanden worden“. aufhören!“, schrie die Menge. Vergeblich Den hatte Müller bei heikelsten Entschei- Will der Wirtschaftsminister nun sofort versuchte Müller zu beschwichtigen: Auch dungen beraten, 1989 etwa, als Bennigsen, die Abteilungen aus dem Finanzressort er habe schließlich über 20 Jahre lang in für die Öffentlichkeit völlig überraschend, zurückhaben? „Das“, wehrt Müller gelas- der Energiewirtschaft gearbeitet. Das die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackers- sen ab, „ist nicht die wichtigste Frage, die brachte die Demonstranten erst richtig in dorf aufgab. im Augenblick zu diskutieren wäre.“ Rage. Sprach der da vorn nicht für die rot- Mit dem Veba-Chef arbeitete Müller in Von allen Seiten prasseln jetzt die Kom- grüne Bundesregierung, deren Atom- schönster Symbiose: Der Analytiker dach- plimente auf ihn ein: ruhender Pol im Ka- ausstiegskurs ihre Jobs in Gefahr bringt? te voraus, der Mann an der Spitze voll- binett, loyaler Berater für Genossen und Die zwielichtige Rolle, in die Werner streckte. So, hoffte Müller, könnte das auch Grüne. „Ein wirklich kluger, uneitler und Müller dank Herkunft und Aufgabe geraten mit Schröder funktionieren. deshalb angenehmer Mann“, urteilt SPD- war, stand plötzlich vor aller Augen: Die Im Herbst 1991 machte Schröder ihn of- Bildungsministerin Edelgard Bulmahn. rot-grünen Parteisoldaten beargwöhnen fiziell zum Berater der niedersächsischen Was gerade eben noch zu beweisen ihn als Trojanisches Pferd der Energie- Landesregierung. Durch drei Energiekon- schien, daß er nicht richtig dazugehört in industrie. Den Stromkonzernen gilt er als sensrunden mit der Regierung Kohl ließ er Bonn, hebt ihn jetzt wohltuend ab vom Trojanisches Pferd der Bonner Ausstiegs- sich von Müller lotsen. Daß die Verhand- Heer der nach Bedeutung hechelnden Bon- koalition. lungen jedesmal scheiterten, störte beide ner Politprofis: Da ist einer, der sich nicht Die Sozialdemokraten sahen schwei- wenig. Hauptsache, der Niedersachse ge- penetrant in den Vordergrund drängelt – ei- gend zu, wenn er sich an Jürgen Trittin wann Profil auf der Bonner Bühne. ner, der es aus der Wirtschaft gewohnt ist, rieb, während die Grünen ihren Umwelt- Das gelang durch Bluff. Schröder zeigte nüchtern Entscheidungen zu treffen. minister stützten, auch wenn sie ihn gar sich bereit, mit der Bundesregierung und Müller kann mit der neuen Aufmerk- nicht begeisternd fanden. den Stromkonzernen auch über einen neu- samkeit umgehen, lieb ist sie ihm nicht. en Atomkraftwerkstyp zu verhandeln. Er Schon mit einem Ministerium fühlte er sich * Am Montag vergangener Woche in Brüssel. wußte von Müller, daß die Energiekonzer-

der spiegel 12/1999 33 ne in absehbarer Zukunft sowie- Meist klammert sich der Wirt- so keine weiteren Milliarden- schaftsminister ans Manuskript, summen in neue hochumstrittene der Gedankenfluß scheint zäh, Atomprojekte stecken würden. seine monotone Stimme schlä- Weshalb der Gegenseite nicht fert ein. zum Schein entgegenkommen? Erst im kleinen Kreis lebt Mül- So ähnlich die beiden Männer ler auf. Da beeindruckt er mit denken, so verschieden sind sie. brillanten Analysen, witzig und „Dienen“ sei seine „Lieblingstu- schlagfertig kontert er Einwän- gend“, bekennt Müller. Schröder de. „Der Müller macht seine hat ihn „gerufen, jetzt will ich intellektuellen Spielchen“, pflegt ihm keine Schande machen“. sich Viag-Chef Wilhelm Sim-

Nur wenn es sich gar nicht ver- DPA son mit einer Mischung aus meiden läßt, stellt sich Müller in Pro-Kernkraft-Demo in Bonn*: Wut auf Rot-Grün Achtung und Unverständnis zu die erste Reihe. wundern. Auf seine erste größere Auslandsreise spontan in den Formel-1-Wagen zu sprin- Intellektuell will sich Müller von nie- nahm der Minister unlängst einen Troß von gen, der auf der Technogerma aufgestellt mandem übertrumpfen lassen. Als Person 120 Unternehmern zur Eröffnung der In- war, nur weil das hübsche Fotos ergibt – aber möchte er trotz alledem undurch- dustriemesse Technogerma in der indone- Präsident Bacharuddin Jusuf Habibie zö- schaubar bleiben. Wenn er Individuelles sischen Hauptstadt Jakarta mit. Fast pein- gerte sowenig, wie es Müllers Chef Schrö- offenbaren soll, verrätselt er sich. „Was ist lich berührt reagierte der Deutsche, als am der getan hätte. für Sie das größte Unglück?“ lautet eine Podium alle Fragen an ihn gerichtet wur- Daß ihm das Talent für öffentliche Auf- der Fragen, die er im berühmten Proust- den: „Ich bin doch nur Gast, ich komme tritte fehlt, erkannte Müller zu seinem schen Fragebogen des „FAZ“-Magazins be- mir ja dominant vor.“ Leidwesen früh. Bis zu sechs Stunden täg- antworten sollte. Müller: „Wenn kein Bier Seine Verlegenheit wuchs, als der Gou- lich übte er als Jugendlicher am Klavier, im Haus ist.“ verneur von Jakarta, ein Militär, die Büh- eine Karriere als Pianist vor Augen. Doch Das klingt laubenpieperhaft bieder, ne betrat und Müller zu Ehren wie ein in- vor öffentlichen Auftritten begannen seine Spießers Alptraum – ein wundersamer donesischer Elvis „Kiss me quick“ träller- Hände zu zittern. Ende der Ambitionen. Kontrast zu Müllers „Traum vom Glück“: te. Und dann schmalzte ein Kinderchor Wenn er heute als Redner vor ein größe- Er möchte nämlich „op. 111“ spielen kön- auch noch: „Wir sind für immer Freunde – res Auditorium tritt, wirkt er gehemmt. nen, Beethovens letzte Klaviersonate, de- danke Mr. Müller!“ ren „melodische Lieblichkeit“ schon Tho- In solchen Momenten leidet er gerade- * Am 9. März vor den Energiekonsensgesprächen im mas Mann pries. zu körperlich. Nie würde Müller einfallen, Kanzleramt. Alexander Jung, Hendrik Munsberg Opposition sitzen, ist das kein Grund, un- sere Prinzipien ad acta zu legen. Wir müs- sen in der Kontinuität jener Europapolitik bleiben, die wir als Regierung betrieben haben. Da darf es keinen Bruch geben. SPIEGEL: CSU-Chef Stoiber ist doch längst erfolgreich dabei, die gesamte Union auf einen europakritischen Kurs zu trimmen. „Deutschland zuerst, das muß auch für Volker Rühe gelten“ wird Ihnen aus Bay- ern vorgehalten. Rühe: Auch die CSU muß erkennen, daß die Union heute in einer völlig veränder- ten strategischen Situation ist. In der Re- gierung hatten wir die Stimmen des Bun- deskanzlers, des Finanzministers Waigel und des Fraktionsvorsitzenden Schäuble mit konstruktiver europäischer Tonlage. Das wurde ergänzt durch kritische Stim- men, etwa der von Edmund Stoiber aus Bayern. Jetzt aber darf nicht eine Neben- stimme, nämlich seine, zur neuen Haupt- stimme der Union werden. Das ist meine feste Überzeugung, und dafür kämpfe ich. SPIEGEL: Durch die Korruptionsskandale der EU-Kommission fühlt sich die CSU in ihrer Aversion gegen die Brüsseler Büro- kraten noch bestärkt. „Je mehr Einfluß die CSU innerhalb der Union ausübt, desto größer ist auch der Erfolg der Union ins- gesamt. Das gilt erst recht für die Europa- wahl“, meint der CSU-Spitzenkandidat Ingo Friedrich. Rühe: Wir sind gut beraten, keinen Wahl-

M. ZUCHT / DER SPIEGEL kampf gegen Europa zu führen. Die Deut- Europapolitiker Rühe: „Die Osterweiterung nicht auf die lange Bank schieben“ schen wissen, daß sie ihren Wohlstand nicht zuletzt der EU verdanken. Aber wir werden die Mißstände scharf kritisieren: SPIEGEL-GESPRÄCH Die Zentrale in Brüssel hat sich in den letz- ten Jahren vollgesogen mit Kompetenzen. Die Kommissare haben zu viele persönli- „Große Worte, kleine Taten“ che Rechte, sie stellen ihre Apparate un- kontrolliert zusammen. Leider ist dies oft Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Volker Rühe über noch national abgedeckt worden – gerade bei der Kommissarin Edith Cresson. Inso- die deutsche EU-Präsidentschaft, den antieuropäischen Kurs fern trägt Frankreich eine starke Mitver- Stoibers und das Risiko eines Nato-Einsatzes im Kosovo antwortung für diese Krise. Aber auch die deutsche Regierung SPIEGEL: Herr Rühe, bisher haben Sie Eu- hat sträflich versäumt, das ropa aus der hohen Warte der Außen- und Europaparlament beim Sicherheitspolitik betrachtet.Als Kandidat Kampf gegen diese Miß- für das Amt des Kieler Ministerpräsidenten stände zu unterstützen. müssen Sie sich jetzt für Milchquoten und SPIEGEL: Befürchten Sie, Rinderpreise interessieren.Wie verkraften daß jetzt eine neue Pha- Sie diesen Abstieg in die Niederungen der se der „Eurosklerose“, der Landespolitik? Lähmung Europas, be- Rühe: Bestens, denn das ist keine Niede- ginnt? rung. Auch als Verteidigungsminister habe Rühe: Nicht, wenn schnell ich mich immer im Gespräch mit meinen und konsequent reagiert schleswig-holsteinischen Nachbarn am wird. Ich habe selbst als

Deich wohl gefühlt. So wie Joschka Fischer C. LEHSTEN / ARGUM Verteidigungsminister mit als Außenminister inzwischen auftritt, ist Europapolitiker Stoiber*: „Eine Nebenstimme der Union“ wachsender Wut erlebt, der dreimal mehr abgehoben, als ich es je wie Gelder für die Aufbau- war. Ich bin auf Cocktailempfängen in New Rühe: Für mich gilt hier dasselbe wie für die hilfe in Bosnien ein Jahr lang wegen der York nie wirklich glücklich gewesen. gesamte Union: Auch wenn wir – vorüber- Unfähigkeit der Brüsseler Bürokratie nicht SPIEGEL: Wollen Sie sich nun, um Erfolg bei gehend, wie ich anmerken möchte – in der abflossen. Da hilft es nichts, wenn man neue den Marschbauern zu haben, nach Vorbild Wächter und Kontrolleure installiert. Die von Bayerns Ministerpräsident Edmund * Mit Bauern-Präsident Gerd Sonnleitner auf einem beste Kontrolle ist immer noch, daß man ei- Stoiber als Europakritiker aufspielen? Bauernhof bei Bad Tölz. ner Zentrale nicht zu viele Rechte gibt.

der spiegel 12/1999 35 Deutschland

SPIEGEL: Wollen Sie die Gemeinschaft ent- SPIEGEL: Haben Sie denn überhaupt einen in der Agrarpolitik. Man muß sein Pulver machten? geeigneten Kandidaten? bis zum Ende trocken halten. Rühe: Ganz im Gegenteil. Nach einer Stär- Rühe: Mit Sicherheit, aber über Namen re- SPIEGEL: Frankreich hat die Kofinanzierung, kung der Währungspolitik durch den Euro den wir, wenn die Regierung diese gute also die Verlagerung von EU-Subventio- muß in der Außen- und Sicherheitspolitik Idee übernommen hat. nen auf nationale Haushalte, als Anschlag die Kompetenz der EU noch gestärkt wer- SPIEGEL: Diese Woche wollen die Staats- auf die gemeinsame Agrarpolitik und den. Da muß Europa erst Realität werden. und Regierungschefs auf einem Gipfeltref- damit auf die Grundfesten der Europäi- Aber Brüssel hat nicht zu entscheiden, ob fen in Berlin das Reformpaket der Agenda schen Gemeinschaft betrachtet. Daß die ich nur Nordfriesland oder auch Dithmar- 2000 verabschieden – mitten in einer dra- Deutschen nachgaben, hat ihnen wenig schen finanziell fördere. Das kann ich in matischen Krise der Gemeinschaft.Wäre es genützt: stellte milliardenschwere der Region besser beurteilen. Hier sollten nicht besser, die Verhandlungen zu ver- Nachforderungen. Kompetenzen abgeschichtet, die Kontroll- schieben? Rühe: Deutschland als wichtigstes und rechte des Europäischen Parlaments ge- Rühe: Wir haben tatsächlich eine ver- größtes Land hat mit einer unangemesse- stärkt und die politische Kultur in Brüssel hängnisvolle Melange: Europa ist in der nen Sprache das gedeihliche Klima zer- demokratisiert werden – dann gibt es auch Krise, und ausgerechnet die deutsche stört. Jetzt dürfen sich Schröder und Fi- weniger Mißbrauch. Präsidentschaft selbst ist so schwach, daß scher nicht wundern, wenn der Egoismus SPIEGEL: Ist es an der Zeit, daß Deutschland sie Probleme schafft, statt sie zu lösen. abfärbt. als größter Staat in der Europäischen Trotzdem darf nichts aufgeschoben wer- SPIEGEL: Bei der Finanzreform der EU hat Union den neuen Präsidenten der EU- den. Europa muß jetzt aus der Krise geholt Edmund Stoiber die Meßlatte hoch ange- Kommission stellt? werden. legt: Um netto 14 Milliarden Mark jährlich müsse Deutschland künftig entlastet werden. Ist das realistisch? Rühe: Nein. Das haben zwar die Finanzminister der Länder und ihre Mini- sterpräsidenten einschließ- lich Gerhard Schröder 1997 gefordert. Aber man sollte in solchen Fragen keine un- realistischen Positionen be- ziehen, die in Europa nicht durchsetzbar sind. SPIEGEL: Über so viel Nach- sicht wird sich Schröder freuen. Rühe: Wir tun uns als Union keinen Gefallen, wenn wir Schröder erlauben, gegen Dinge zu polemisieren, die er zwar früher leichtsin- nigerweise auch mal be- schlossen hat, die aber nicht realistisch sind. Deutsch- land muß auf seine Inter-

M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV / DAS M. MATZEL essen achten, aber als größ- Deutsche Soldaten in Mazedonien: „Die Nato hat sich in eine Sackgasse manövriert“ tes Land der Gemeinschaft immer auch das Gesamtin- Rühe: Der neue Präsident muß ein poli- SPIEGEL: Und in Berlin setzt sich Gerhard teresse im Auge haben. Deswegen darf man tisches Schwergewicht sein wie etwa Schröder als Erbe des Europäers Helmut nicht überzogen agieren. der Italiener Romano Prodi. Ich glaube Kohl in Szene? SPIEGEL: Wie hoch liegt denn Ihre Meß- nicht, daß wir einen vergleichbaren Kan- Rühe: Diese Form der Erbschleicherei wer- latte? didaten haben. Deutschland sollte sich den wir verhindern. Anders als Helmut Rühe: Ich halte mich an die Linie der al- lieber Mühe geben, bei den Kommissaren Kohl hat diese Regierung keine tragen- ten Bundesregierung, die vom damaligen erste Klasse zu bieten. Das war bisher de Strategie in der Europapolitik. Sie Finanzminister Theo Waigel entwickelt nicht der Fall. schwankt hin und her zwischen neudeut- wurde – das sogenannte Kappungsmodell. SPIEGEL: Martin Bangemann (FDP) ist un- schem Großsprechertum nach dem Motto Damit würde Deutschland um zunächst bescholten aus der Korruptionsaffäre her- „Die in Brüssel verbraten unser Geld“ und sieben Milliarden Mark entlastet. vorgegangen, Monika Wulf-Mathies (SPD) dilettantischem Umgang mit deutschen SPIEGEL: Schröder scheint jetzt nur noch kaum beschädigt. Beide wurden von Hel- Interessen. den Einstieg in den Ausstieg für durch- mut Kohl nach Brüssel entsandt. Trotzdem SPIEGEL: Kann der Berliner Gipfel noch setzbar zu halten. fordern CDU/CSU einen eigenen Posten? platzen? Rühe: Wie üblich folgen auf große Worte Rühe: Die Regierung Schröder sollte mit Rühe: So ist jedenfalls in Europa noch nie kleine Taten. Der Berliner Gipfel wird gutem Beispiel vorangehen und neue verhandelt worden, daß eine Bundesregie- durch die amateurhafte Vorbereitung von Kandidaten nennen. Damit die Europa- rung am Anfang vor Kraft gar nicht laufen Schröder und Fischer im besten Fall kos- politik in Deutschland breit abgesichert kann und dann drei Wochen vor dem Gip- metische Ergebnisse bringen, aber keine ist, wäre es wichtig, einen Vertreter des fel die vielleicht wichtigste Verhandlungs- überzeugende Reform der Europäischen Regierungs- und einen des Oppositions- position selbst vom Tisch fegt: das Verlan- Union. Das ist eine bittere Botschaft an lagers zu nominieren. gen nach einer nationalen Kofinanzierung die beitrittswilligen Länder in Osteuropa:

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Das Ausbleiben einer großen Reform er- Rühe: Die Nato hat sich selbst in eine Sack- schwert die Aufnahme von Polen, Tsche- gasse manövriert. Jetzt müßte sie Angriffe chien und den anderen Ländern, anstatt fliegen, um Milo∆eviƒ zu einem Einlenken sie zu erleichtern. am Verhandlungstisch zu zwingen. Es ist SPIEGEL: Sollte die Osterweiterung deshalb eine Sache, mit Luftschlägen Massaker zu nicht besser verschoben werden, wie viele stoppen. Es ist etwas völlig anderes, eine in der CSU finden? Unterschrift herbeizubomben. Das hat es Rühe: Selbst wenn die deutsche Präsident- in Europa noch nicht gegeben, das ist den schaft ein mageres Ergebnis hervorbringt, Bürgern bei uns wie in Amerika nur sehr, darf die Osterweiterung nicht auf die lan- sehr schwer zu vermitteln. Wenn es jetzt ge Bank geschoben werden. Das Zielda- um den Einsatz von Luftstreitkräften geht, tum muß 2002 bleiben. dann muß man im Auge behalten, wie es SPIEGEL: Führt das nicht zwangsläufig in insgesamt weitergehen soll. Leider haben die Krise, wenn sowohl die EU als auch wir eine Zwischenzeit erlebt, in der die die Beitrittsländer unzureichend auf die Nato zu lange mit dem Einsatz ihrer Luft- Aufnahme vorbereitet sind? waffe gezaudert hat. Rühe: Es geht darum, die Stalinsche Teilung SPIEGEL: Nach dem Massaker in dem Ko- Europas zu überwinden. Die Polen können sovo-Dorf Ra‡ak Anfang dieses Jahres? ja nichts dafür, daß sie nach dem Zweiten Rühe: Ja. Ich hätte mir damals eine schnel- Weltkrieg das Joch des Kommunismus le und harte Reaktion gewünscht. Damals tragen mußten. Deswegen darf es jetzt keinen falschen westeuropäischen Egoismus geben. Neben dieser mora- lischen Verantwortung gibt es auch ein nüchternes öko- nomisches Interesse: Kein Land profitiert mehr von der Osterweiterung der EU als Deutschland. SPIEGEL: Die Angst vieler Bürger, daß nach der Er- weiterung sehr viele bil- lige Arbeitskräfte nach Deutschland kommen, wer- den Sie damit nicht min-

dern. M. ZUCHT / DER SPIEGEL Rühe: Deswegen brauchen Rühe beim SPIEGEL-Gespräch*: „Zu lange gezaudert“ wir ja Übergangsfristen, die länger sind, als es damals jene für Spanien waren es allein die Amerikaner, die eine und Portugal waren. Sondersitzung der Nato einberufen haben. SPIEGEL: Also mindestens zehn Jahre? Die Europäer, allen voran der deutsche Rühe: Die Fristen müssen auf jedes Land in- Außenminister, hatten wieder einmal ge- dividuell zugeschnitten werden.Wenn sich zögert. Die Allianz wirkte schwach, und etwa die Polen schneller entwickeln, wird das war mit Sicherheit das falsche Signal in die EU natürlich auch bereit sein, die Frist Richtung Belgrad. zu verkürzen.Aber erst muß die politische SPIEGEL: Mit dem Ergebnis, daß Milo∆eviƒ Grundentscheidung zur Aufnahme getrof- am Ende triumphieren wird? fen werden. Die EU kann von diesen Län- Rühe: Hier gilt dasselbe wie für die Euro- dern nur Opfer verlangen, wenn sie ihnen papolitik der Bundesregierung. Man darf zugleich ein konkretes Zieldatum nennt. nicht schwanken zwischen mal ein biß- SPIEGEL: Und Sie sind zuversichtlich, daß chen weicher und mal ein bißchen härter. Sie dem Publikum diese komplizierten Zu- Wenn man kein kontinuierliches, strate- sammenhänge vermitteln können? gisch klares Verhalten an den Tag legt, Rühe: Ja, und wissen Sie: Wenn Politiker kommt es zu Fehleinschätzungen auf der aufhören, Zusammenhänge zu vermitteln, anderen Seite – und am Ende zu einer ge- die strategisch wichtig, aber nicht gleich fährlichen Schwächung der eigenen Posi- um die nächste Straßenecke zu sehen sind, tion. Das Ergebnis auf dem Balkan ist, daß wird Europa scheitern. die Gefahr besteht, daß wir uns über den SPIEGEL: Während die EU ihre größte Kri- Einsatz von Luftstreitkräften hinaus mit se erlebt, setzt Jugoslawiens Präsident Bodentruppen in den Konflikt verstricken Milo∆eviƒ ungestraft seinen blutigen Krieg – mit ungewissem Ausgang. Hier wird die im Kosovo fort, die internationalen Ver- Union darauf achten, daß dies unter kei- mittler werden düpiert. Muß die Nato nun nen Umständen geschieht. Es zeigt sich, bomben, um nicht völlig unglaubwürdig wie klug der Bundestag gehandelt hat, als zu werden? er sich die endgültige Entscheidung vor- behalten hat. * Mit Redakteuren Rainer Pörtner, Gerhard Spörl, SPIEGEL: Herr Rühe, wir danken Ihnen für Martin Doerry in der Hamburger SPIEGEL-Zentrale. dieses Gespräch.

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Realo Ulrich, 41, stets verlassen, wenn es In der Fraktion geht es kaum gesitteter PARTEIEN um seine Karriere ging. So stimmten die zu. Anfang März wurde Ulrich als Frak- Grünen-Frauen aus Saarlouis im Januar tionsvorsitzender wiedergewählt – mit sei- Albanische fast geschlossen dafür, bei der Landtags- ner eigenen Stimme. Ohne die hätte es wahl auf eine Spitzenkandidatin zu ver- nicht geklappt. Die Abgeordnete Gabriele zichten. Auf Platz eins wurde gegen alle Bozok nämlich verweigerte ihm die Ge- Verhältnisse parteiinternen Regeln Ulrich (Spitzname: folgschaft. „der Panzer“) gewählt. Sie warf Ulrich öffentlich vor, er habe Die Grünen sorgen sich um Aber der Durchmarsch endete abrupt. sie unter Druck gesetzt: Falls sie nicht er- Vor vier Wochen trat „der Panzer“ als Vor- kläre, seine Autokäufe seien von der Frak- ihre Zukunft im Saarland. sitzender und Spitzenkandidat zurück. Er tion genehmigt gewesen, habe sie im Zu- In der Landespartei herrscht stolperte über eine Dienstwagenaffäre: Ul- sammenhang mit der Dienstwagenaffäre seit Wochen Chaos. rich hatte über seine Fraktion, der beim kaum noch eine Chance auf einen aus- Kauf von Dienstfahrzeugen ein Behörden- sichtsreichen Listenplatz für die nächste iskretion ist Ehrensache bei den rabatt von rund 30 Prozent zusteht, seit Landtagswahl. Der Fraktionschef bestrei- saarländischen Grünen. Geht es 1995 vier Ford Mondeo erworben und auf tet auch dies. Dnach Hubert Ulrich, dem Chef der sich privat zugelassen (SPIEGEL 8/1999). Unterstützt wurde Ulrich bei der Wie- dreiköpfigen Fraktion im Landtag, sind Die Staatsanwaltschaft ermittelt jetzt ge- derwahl dagegen von Andreas Pollack, den selbst die Mitglieder des Landesverbands gen ihn wegen Betrugsverdachts. für Parteifreunde geheim. Doch sein Amt als Vorsitzender der Mini- Viele Saar-Grüne fürchten Der Wirtschaftsingenieur aus Saarlouis Landtagsfraktion mochte Ulrich nicht ab- den Absturz in kann es „gut verstehen“, wenn ein Bäcker geben – zum Ärger seiner Gegner. Die ver- oder Metzger nicht will, daß seine Mit- suchen derzeit mit Hilfe der Zentrale in die Bedeutungslosigkeit gliedschaft offenbart wird. Denn für einen Bonn aufzuklären, wie viele eingeschrie- etablierten Mittelständler könne es durch- bene Grüne es im Saarland tatsächlich gibt. er noch vor wenigen Wochen am liebsten aus „negative wirtschaftliche Folgen ha- Ein Bonner Spitzen-Grüner fürchtet, daß eigenhändig aus der Partei geworfen hätte: ben“, wenn herauskommt, daß er bei den dabei „albanische Verhältnisse“ ans Licht Pollack hatte der Fraktion verschwiegen, Grünen mitmacht. kommen. Die Revisoren wollen auch prü- daß ein Ermittlungsverfahren gegen ihn Ulrich, bis vor vier Wochen auch Vorsit- fen, ob denn auch alle Delegierten aus erst nach Zahlung von 10000 Mark Aufla- zender des rund 2000 Mitglieder starken Saarlouis beim letzten Parteitag wahlbe- ge eingestellt worden war. Landesverbands, sorgte persönlich dafür, rechtigt waren. Ulrich weist sämtliche Vor- Der Grüne hatte 1997 in einem Bau- daß der „Vertrauensschutz“ gewährleistet würfe als „hanebüchenen Quatsch“ zurück. markt drei Badematten nicht bezahlt. Pol- wurde. Parteiinterne Forde- lack beteuert, er sei kein rungen nach Offenlegung Dieb. Seine Glaubwürdig- der Mitglieder- und Bei- keit ist in der Partei aller- tragslisten blockte er stets dings schwer angeschlagen. mit Hinweis auf den Daten- Schon bei seiner ersten schutz ab. Kandidatur für den Landtag Der Ex-Parteichef, arg- hatte der Arzt, gegen den wöhnen die Bonner Grü- ein Parteiausschlußverfah- nen-Oberen, hatte für seine ren läuft, einen Teil seiner Verschwiegenheit womög- Biographie ausgespart: We- lich noch einen anderen gen Versicherungsbetrugs Grund: Die Öko-Partei hat saß er fast drei Jahre im Ge- in der Kleinstadt Saarlouis, fängnis. Ulrichs Ortsverband, sen- Angesichts derart zerrüt- sationell viele Mitglieder. teter Verhältnisse fürchten Von den etwa 31 000 er- viele Saar-Grüne bei der wachsenen Einwohnern Landtagswahl im September sind rund 800 bei den Grü- den Absturz in die Bedeu- nen organisiert – etwa so tungslosigkeit. Bereits 1994 viele wie in der Millionen- hatte es mit 5,5 Prozent nur stadt Köln. knapp gereicht. Der Bun- Nach Recherchen des desvorstand bestellte eine Bundesschatzmeisters Diet- Partei-Abordnung aus Saar- mar Strehl zahlen 20 bis 25 brücken vergangene Woche Prozent der Mitglieder in zum Rapport über die „be- Ulrichs Ortsverband keine sorgniserregenden Ereignis- Beiträge. Auf Landespartei- se“ nach Bonn. tagen stellen die Grünen Ulrichs Einfluß scheint aus der Region Saarlouis im trotz allem ungebrochen. Januar mit mehr als 70 von Nachfolger im Landesvor- rund 150 Delegierten den sitz soll einer seiner Ver- mit Abstand größten Block. trauten werden: der Öko- Auf den konnte sich der nom Christian Molitor, 33, Mitarbeiter der Landtags- * Im Bundestagswahlkampf 1998 in fraktion – und Mitglied im Saarbrücken mit der Grünen-Spit- zenkandidatin Sigrun Krack-Schu- BECKER & BREDEL Ortsverband Saarlouis. mann und Joschka Fischer. Grüner Ulrich (M.)*: Wie viele Mitglieder hat die Partei? Wilfried Voigt

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SPIONAGE Sex für den Frieden Mitarbeiter der Stasi verführten westdeutsche Frauen und schöpften sie ab. Die DDR-„Romeos“ hatten ihren Spaß, waren skrupellos – und erfolgreich. Von Henryk M. Broder

s war nicht alles schlecht in der DDR. Arbeit war für alle da, die Mieten Ewaren billig und die öffentlichen Verkehrsmittel beinah umsonst. Die Volks- armee bewachte die Grenzen, die Volks- polizei sorgte für Ordnung, und das Ministerium für Staatssicherheit hielt die Dissidenten im Zaum. Auch das Erotische kam nicht zu kurz, wer sich im Inland bewährt hatte, wurde zu Sondereinsätzen ins westliche „Opera- tionsgebiet“ geschickt. „Ficken fürs Vater- land“ lautete der Auftrag inoffiziell, amt- lich ging es darum, „für längere Zeit einen weiblichen Vorgang zu führen und intim zu betreuen“. Mielkes Jungs waren nicht nur Schnüff- ler, Erpresser, Fälscher, Zersetzer und De- nunzianten, sie waren, wenn es darauf an- kam, auch tüchtige Liebhaber, die sich in

Stasi-Chef Mielke, Untergebene (1989) „Einen weiblichen Vorgang intim betreuen“ die Herzen und Betten westdeutscher Frauen einschlichen. Er habe, sagte einer der „Romeos“ als Zeuge in einem Verfah-

ren aus, „nur das Angenehme mit dem A. ZELCK Nützlichen verbunden“. Ex-Agentin Gabriele K.: „Meine einzige Liebe, die Liebe meines Lebens“ Die Frauen wurden, so die Buchautorin Elisabeth Pfister, 47, „zu Figuren im Spiel Es war immer derselbe Typ von Frau, hin- Frau ,Danke, ohne mich‘ sagen.“ So gut der Logistiker und Psychoexperten der Sta- ter dem die „Liebeskommandos der Stasi“ wie alle Romeo-Opfer, die von Elisabeth si“, aber auch Opfer ihrer eigenen Naivität her waren: alleinstehend, prüde und sexuell Pfister befragt wurden, seien „völlig apo- – sie „nahmen den geliebten Männern selbst unerlöst, leichte Beute für trainierte Verfüh- litisch“ gewesen, sie hätten „niemals aus die dümmsten Lügengeschichten ab“ und rer, die außer „intimer Betreuung“ auch die ideologischen Gründen“ gehandelt und räumten alles aus dem Weg, „Zweifel, Teilnahme an einem globalen Projekt anbo- auch nie den Hauch einer Ahnung gehabt, Mißtrauen, Verantwortung“, um ihr „klei- ten – dem Erhalt des Weltfriedens. Denn wel- wem sie „unwissentlich“ zuarbeiteten. nes großes Lebensglück nicht zu gefährden, che Legenden die Männer den Frauen auch Eine Ausnahme bildet Gabriele Gast, die um der Einsamkeit … zu entkommen“*. auftischten, am Ende ging es immer darum, Top-Spionin im Bundesnachrichtendienst. mit deren Hilfe einen Krieg zu verhindern. Sie war Agentin erst aus Liebe, dann aus „Frauen und Frieden“, sagt Elisabeth Überzeugung (siehe Seite 48). * Elisabeth Pfister: „Unternehmen Romeo. Die Lie- beskommandos der Stasi“. Aufbau Verlag, Berlin; 208 Pfister, „das ist die perfekte Mischung, das Margarete F., deutsche Mitarbeiterin bei Seiten; 36 Mark. entspricht unserem Wesen, da kann keine der Nato, wurde von 1961 bis 1989 nach-

44 der spiegel 12/1999 einander von drei Romeos beschlafen und abgeschöpft, ohne Verdacht zu schöpfen. Allerdings hatte die streng katholisch er- zogene Frau Schuldgefühle: vor allem „we- gen des außerehelichen Geschlechtsver- kehrs“ mit ihrem ersten Romeo, der sich als Mitarbeiter des dänischen Nachrich- tendienstes bei ihr einführte. Daß sich „Nils Hansen“ heimlich mit ihr verlobte und ihr die Ehe versprach, war nicht genug, sie wollte unbedingt zur Beichte. Und so sorgte die Ost-Berliner Zentrale in einer katholischen Kirche in Kopenhagen für eine perfekte Vorstellung. Ein Stasi-Mitarbeiter wurde als Pfarrer ver- kleidet, Margarete F. bekam die Absolu- tion, nach der sie sich sehnte, und ihr Ro- meo wurde anschließend von Markus Wolf persönlich empfangen und für seine Spit- zenleistung mit der Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee in Silber ausge- zeichnet. Der Chef der für Auslandsaktionen zu- ständigen HVA schien an solchen „zyni- schen Inszenierungen“ (Pfister) besonde- ren Spaß zu haben, sie brachten ein wenig frivole Abwechslung in den grauen Alltag in der Normannenstraße. Und während Margarete F. nach ihrer Verurteilung zu ei- nem Jahr auf Bewährung wegen geheim- dienstlicher Tätigkeit heute „auf Sozialhil- feniveau“ lebt, bezieht ihr Romeo a. D. „Nils Hansen“ eine ordentliche Rente und will an seine Schurkereien im höheren Auf- trag nicht erinnert werden. „Das ist für mich Vergangenheit … Ich bin nicht mehr bereit, darüber zu diskutieren.“ Schließlich hat er seinen Teil zur Auf- klärung der Geschichte geleistet und im Prozeß gegen Margarete F. als Zeuge aus- gesagt. Sie dagegen durfte die Kosten des Verfahrens tragen, wozu auch das Zeu- gengeld und die Reisespesen für ihren Ex- „Verlobten“ gehörten, der keine Hem- mungen hatte, sie ein zweites Mal in die Pfanne zu hauen. Kein Wunder, daß unter solchen Um- ständen die Opfer der Stasi-Romeos nicht vorgeführt werden möchten. „Fast alle die- se Frauen“, schreibt Elisabeth Pfister, „sind nach wie vor auf der Flucht. Sie fliehen vor der Wahrheit, die sich hinter ihren Erleb- nissen verbirgt, sie fliehen vor dem ihnen zugefügten Trauma, und sie fliehen vor der Entdeckung durch die Öffentlichkeit.“ Wie Gabriele K., die von 1977 bis 1984 mit einem Stasi-Mann liiert war, 1996 we- gen Landesverrats zu zwei Jahren mit Be- währung verurteilt wurde und heute als Stoffdesignerin in einer holländischen Kleinstadt lebt, „wo mich niemand kennt und keiner etwas über mich weiß“. Sie be- wohnt ein kleines Reihenhaus, mit sieben Hunden aus fünf verschiedenen Heimen – alles Pflegefälle wie Pauli, der mit ver- krüppelten Vorderpfoten geboren, und Rosa, die vor kurzem an einem Tumor ope- riert wurde. Mit dabei ist eine Taube na- mens Emily. Gabriele K. hat den Vogel vor

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Werbeseite Deutschland Perle aus Pullach Spitzenspionin und Romeo-Opfer Gabriele Gast rechnet mit den Männern im Geheimdienst ab.

n dem kleinen Reihenhaus am Münch- ihr im Interesse der „Firma“, nicht aus Tätigkeit zu sechs Jahren und neun Mo- ner Stadtrand wirken die Dinge ge- Liebe – ein Stasi-Romeo, der gelernt hat- naten Gefängnis verurteilt, dreieinhalb Iordnet. Schrankwand aus deutscher te, einer Frau kalkuliert „das Gefühl“ zu Jahre sitzt sie davon ab. Eiche, passend dazu Eckbank und Flügel: geben, „als gleichberechtigter Partner an- Heute arbeitet die promovierte Polito- Hier lebt die ehemalige Spitzenspionin erkannt, geschätzt und auch geliebt zu login als Allround-Managerin in einem der DDR im Bundesnachrichtendienst werden“ (Stasi-Schulungsmaterial). Architekturbüro. Kaum einem der verur- (BND), Gabriele Gast, 56, seit ihrer Haft- Die emanzipationsbewegte Jungintel- teilten DDR-Agenten gelang es nach der entlassung vor fünf Jahren. lektuelle, Mitglied der CDU und im Ring Haftentlassung, sich so rasch eine solide Gast, Typ brave Bürgerin, Paspelbluse, Christlich-Demokratischer Studenten, Existenz aufzubauen – und keiner hat Glockenrock und Goldrandbrille, ver- war damals besonders empfänglich für sich so intensiv mit Wolfs Rolle im Ge- strömt die wohlmeinende Strenge von diesen Mann: Kurz zuvor hatte ihre heimdienstmilieu beschäftigt. Oberstudienrätinnen, deren Privatleben langjährige Jugendliebe die Heiratspläne Der förderte nicht nur die Anwerbung auf immer ein Mysterium bleibt. storniert, weil Gast ihre Promotion nicht über das vorgetäuschte Liebesverhältnis. 21 Jahre lang hatte die Quelle „Gisela“ für eine Familie aufgeben wollte. Als Gast in Einzelhaft saß und um seine der Stasi Spitzenmaterial geliefert, 17 Jah- Als „Karlicek“, wie sie Schneider zärt- Unterstützung bat, galt ihm, um sich re davon aus dem BND. So erfuhr Markus lich nennt, sich als Stasi-Mann offenbart, selbst zu schützen, auch die stets glühend Wolf, Chef der DDR-Auslandsspionage bleibt ihr, ihn nie wiederzusehen oder beschworene „Solidarität“ nicht viel. HVA,in seinem Arbeitszimmer in Berlin- „ein bißchen mitzumachen“. Fortan in- In Briefen aus der Haft und später in Lichtenberg, was Helmut Kohl im Bonner szeniert das Ministerium für Staatssicher- langen Gesprächen in Wolfs Haus in Pren- Kanzleramt als „Verschlußsa- che“ zu lesen bekam. Mit der gleichen Emsigkeit und Akribie, mit der die „Per- le aus Pullach“ (Agentenjar- gon) Dokumente plünderte, machte sich Gabriele Gast, wieder in Freiheit, an die Auf- räumarbeiten in ihrem eigenen Leben – das Resultat wird in dieser Woche auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt*. Der Titel „Kundschafterin des Friedens“ – so nannte Wolf W. M. WEBER W. seine Agenten – zeugt von Di- M. WEBER W. stanzlosigkeit: Noch heute hält Ex-Agentin Gast, Ex-Romeo Schneider (1991): Von der Stasi inszeniertes Glück Gast ihre Spionagetätigkeit für „strafbar, aber nicht kriminell“. Der heit das Glück der beiden in verträumten den bei Berlin stellte ihn Gast schließlich Lernprozeß war ein anderer: Minutiös Gästehäusern. Es gibt lustige Dinnerpar- zur Rede. Sie wollte wissen, ob sie nur hat die frühere Regierungsdirektorin je- tys, ausgelassene Trinkgelage und tief- „ein Schräubchen im Getriebe“ gewesen nen Kokon durchleuchtet, in den sie, die greifende politische Gespräche. Zwischen sei, „nur ein sachliches Mittel zum Spionin aus Liebe, eingewoben wurde. der kleinen Gruppe von MfS-Mitarbei- Zweck“ – und ob überhaupt alles nur Am Ende erscheinen die vermeintlichen tern und „Gaby“ entstehen enge Bindun- „wertlose Erinnerungen“ seien. Sie er- Freunde von der HVA klein und feige. gen, auch wenn die für die Stasi-Leute am hielt keine befriedigenden Antworten. Geringschätzig beschreibt Gast auch Ar- Ende immer dienstliche bleiben. Heute hat sie mit ihm gebrochen. Der beitsweise, Umgangston und Vorgesetzte Aus der Liebesbeziehung zu Karlicek einst als „Majestix“ Verehrte, der sie bei im Männerladen BND. wird nach sechs Jahren ein kamerad- Geheimtreffen mit selbstgekochten russi- Im Sommer 1968 geriet die damalige schaftliches Verhältnis, da ist Gast längst schen Pelmenis, gemeinsamen Kutsch- Doktorandin auf einer Recherchereise für umgedreht. Die inzwischen glühende fahrten und Badeausflügen bezirzte, ist ihre Dissertation „Die politische Rolle Kommunistin – die sie noch heute ist – für sie ein wendiger Karrierist. Gast der Frau in der DDR“ an den Plauener tritt 1986 sogar in die SED ein. kratzt an seiner Legende, daß er 1986 aus Stasi-Offizier im besonderen Einsatz, Verraten wurde die Agentin „Gisela“ einer frühen Opposition zur SED als Karl-Heinz Schneider, heute 64. Der kräf- im September 1990 von einem frustrier- HVA-Chef ausgeschieden sei. Gast be- tige Blonde mit dem kantigen Gesicht, ten Stasi-Oberst, der sich sein Wissen vom schreibt als Ergebnis ihrer Recherchen, gelernter Kfz-Mechaniker, näherte sich ehemaligen Gegner versilbern ließ – was wie Wolf zum „Sicherheitsrisiko“ gewor- der bestreitet. 15 Monate später wird Ga- den sei, als er seine zweite Frau Christa * Gabriele Gast: „Kundschafterin des Friedens“. Eich- briele Gast vom Bayerischen Obersten verließ – und die daraufhin von einem born-Verlag, Frankfurt am Main; 352 Seiten; 39,80 Mark. Landesgericht wegen geheimdienstlicher BND-Romeo kontaktiert wurde. Dies, so

48 der spiegel 12/1999 internationalen Friedensforschungsinstituts in Wien und München, vor. Daß er in Wirk- lichkeit Rudolf Reck heißt, in Rostock als Laborleiter an einer orthopädischen Kli- nik arbeitet und der Stasi behilflich ist, behält er natürlich für sich. Denn erstens haßt Gabriele K. alles, was nach Osten und Kommunismus riecht, und zweitens arbeitet sie inzwischen als Über- setzerin an der amerikanischen Botschaft in Bonn, im Office of Defense Cooperation, hat also Zugang zu wichtigen Dokumen- ten. Und auf die hat es Frank Dietzel ab- gesehen. Es beginnt, was Gabriele K. heu- te einen „programmierten Vergiftungspro- zeß“ nennt. „Ich frage mich nicht: Wie ist die Stasi auf mich gekommen? Diese Fra- ge ist auch im Prozeß gestellt und nicht beantwortet worden. Ich frage mich: Was hab’ ich so Elendes an mir, daß man mich hat so benutzen können?“ Spionin Gast, HVA-Chef Wolf (1982 in Dresden): „Wertlose Erinnerungen?“ Doch erst einmal ist Gabriele K. glück- lich. Sie hat einen „Verlobten“, um den sie Gast, habe Wolfs „schmähliche Entlas- sechs Jahren vor dem Ertrinken aus einem alle ihre Kolleginnen beneiden würden, sung“ bewirkt. Kanal gerettet. wenn sie ihn nur vorzeigen könnte. Aber Auch Romeo Karlicek wird nicht ge- Gabriele K. hat Deutschland adieu ge- Frank Dietzel mag nicht. Er trifft sich alle schont. Erst durch die Ermittlungsakten sagt, liest keine deutschen Zeitungen paar Wochen mit Gabriele K. heimlich in erfuhr Gast, daß sie 20 Jahre seinen Ge- („außer Fachzeitschriften über Textilkunst“) Hotels, „meistens in dem Dreieck Aachen- burtstag an einem fingierten Datum ge- und will gar nicht wissen, was in Deutsch- Lüttich-Maastricht“, wo die beiden tolle feiert hatte, daß selbst die Verlobung in- land los ist. Manchmal fährt sie nach Kleve Tage und geile Nächte miteinander ver- szeniert war. Er hat seither „keinen Brief, zum Einkaufen („…weil so was im Ausland bringen. „Er hat alles bestimmt, wann, wo keine Ansichtskarte“ geschickt, weder zu Spaß macht“), im letzten Herbst hingen und wie oft. Er war der beste Liebhaber, Weihnachten noch zum Geburtstag. „Be- überall Plakate mit einem Mann drauf, den den ich je hatte, es wird auch nie einen an- kanntlich ist ein solches Verhalten von sie nicht kannte. „Dieser Schröder, wer ist deren geben. Und das wußte er auch, er Männern, das Abtauchen vor persönli- das? Er soll inzwischen Kanzler sein.“ war sich seiner Qualitäten sehr bewußt, er cher Verantwortung, nichts Ungewöhnli- Oskar Lafontaine dagegen ist ihr kein Un- sagte immer, er wäre ein Hexenmeister.“ ches“, resümiert Gast, und: „Ein Ge- bekannter: „Der hat so eine blonde Frau.“ Bei jedem Treffen wird das nächste Tref- heimdienstler ist, wenn es zum Schwur Gabriele K. lebt eine Autostunde von fen verabredet, Frank Dietzel plant lang- kommt, zuallererst ein Mann.“ Deutschland entfernt, „aber in einer ganz fristig voraus. Zwischen den Treffen pas- Selbst als sie Karlicek aus dem Ge- anderen Welt“. Nur ihre eigene Geschich- siert nichts. Er schreibt nicht, er ruft nicht fängnis heraus bittet, sich um das zehn te ist ständig präsent. Die Erinnerung ist an, er bleibt einfach weg. Gabriele K. hat Jahre lang von ihr betreute behinderte stärker als der Wunsch, sie loszuwerden. keine Adresse, keine Telefonnummer, nicht Pflegekind, damals 15, zu kümmern, er- „Vergessen werde ich es nie, verstehen wer- einmal eine Poste-restante-Nummer, an die hält sie keine Antwort. Der Junge kommt de ich es auch nicht.“ sie schreiben könnte. „Ich hab’ ihn ange- in ein Heim, die Beziehung zwischen den Gabriele K., Anfang 1945 in Heyde- fleht, mir seine Adresse zu geben, er sagte beiden ist seither zerstört. breck/Oberschlesien geboren, ist das, was dann, wenn du damit nicht aufhörst, gehe Am Ende verschafft sie sich auch bei man ein gebranntes Kind nennt. Ihren Va- ich. Und einmal ist er wirklich gegangen.“ Karlicek Gewißheit, wie die Dinge da- ter hat sie nie gesehen, er ist in sowjetischer Danach hat sie Ruhe gegeben. mals wirklich waren. Nach der Haftent- Gefangenschaft verhungert. Der Haß auf Gabriele K. sucht Trost und Rat in einer lassung fährt Gabriele Gast nach Plauen, „die Russen“ ersetzt daheim das tägliche „Psychogruppe“: „Ich hab’ da gesagt, ich um von ihm selbst zu hören, daß alles Gebet. Nach dem Abitur und der Ausbil- weiß gar nicht, wer mein Verlobter ist, das nur Täuschung und Lüge war. Doch davon dung zur „Fremdsprachenkorresponden- macht mich ganz krank, der kommt und ist steht nichts im Buch, das erzählt sie nur. tin“ wandert sie 1966 nach Kanada aus und wieder weg, er will mir seine Adresse nicht Zuletzt knöpft sie sich Karl-Christoph kehrt acht Jahre später nach Deutschland geben. Daraufhin hat die Psychologin ge- Großmann, 69, ihren Verräter vor. Viele zurück. Da hat sie schon eine „katastro- sagt, es gebe eben solche Männer, die ex- Male steht sie in Berlin vor seiner Plat- phale Ehe“ mit einem schizophrenen Mann treme Beziehungsängste hätten …“ tenbauwohnung – bis sie es eines Tages hinter sich, leidet an Depressionen und er- Dietzel spricht von einer Art Prüfung, wagt, ihn mit seiner Aussage beim BND wartet nichts mehr vom Leben. die Gabriele K. bestehen müsse, wenn sie zu konfrontieren. Der frühere Vizechef Bis sie eines Tages – „es war der 7.7.77“ ihn wirklich haben wolle. Zugleich ver- der Abteilung IX, Gegenspionage, weicht – in einem Bonner Gartenlokal ihrem spricht er immer wieder, sie zu heiraten, aus, ist beschämt, würde ihr gern Geld an- „Traummann“ begegnet. „Er war groß, will ein Kind von ihr. So hält er sie hin, mit bieten, um sich von seiner Schuld freizu- stark, blond, blauäugig, sah aus wie ein Wi- kleinen Kränkungen und großen Verspre- kaufen. Sie blafft ihn an: „Glauben Sie kinger, für mich war er der Fels in der chen. Einmal fährt sie nach München, läuft etwa, ich würde von Ihrem dreckigen Brandung, nach dem ich mich immer ge- die Dachauer Straße auf und ab, wo das Geld auch nur einen Pfennig nehmen?“ sehnt habe.“ „internationale Friedensinstitut“ seinen Als sie das Haus verläßt, ist ihr Was wie ein zufälliges Treffen aussieht, Sitz haben soll, aber „diese Straße ist so wohler. Susanne Koelbl ist von der Stasi genau recherchiert und irre lang, ich hab’s nicht gefunden“. eingefädelt worden. Der Supermann stellt Gabriele K. leidet, aber sie wird für ihre sich als „Frank Dietzel“, Mitarbeiter eines Leiden belohnt, wann immer sie und ihr

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„Verlobter“ sich treffen. „Das war nicht wie stand er zu mir als Mensch, hat er mich nur der Mann, das ist der Mann, das wird wirklich geliebt?“ Doch die Stasi-Männer für mein ganzes Leben der Mann sein, der wollen oder können ihr nicht helfen. „Die einzige Mann, den ich wirklich liebe, alle sagten nur: ‚Zu der Zeit waren wir woan- anderen Männer würde ich immer mit ihm ders‘. Oder: ‚Das war vor unserer Zeit.‘ “ vergleichen …“ Immerhin erfährt sie, daß Dietzel im Jah- Dem Mann ihres Lebens und auch dem re 1984 für seinen Romeo-Einsatz mit dem Weltfrieden zuliebe holt sie im Laufe der Vaterländischen Verdienstorden in Bronze Jahre viele Dokumente aus der amerikani- ausgezeichnet wurde. schen Botschaft, fotografiert sie mit einer Am 1. August 1996 wird Gabriele K. zu Kamera, die Frank Dietzel ihr besorgt hat zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Sie und übergibt die Filme an ihren Verlobten, nimmt das Urteil sofort an, „es war das der sie nach Ost-Berlin befördert, zusam- Beste, was Deutschland mir geben konn- men mit den Briefen, die Gabriele K. ihm te“. Von den Richtern und der Staatsan- schreibt, wenn sie allein ist, und die sie ihm wältin verabschiedet sie sich mit Hand- zusteckt, wenn sie zusammen sind. Die schlag, „die waren alle sehr nett zu mir“, Briefe landen in ihrer Akte und dienen als der Vorsitzenden Richterin schenkt sie ein psychologisches Lehrmaterial für die Ent- selbstbemaltes Seidentuch. wicklung von Romeo-Maßnahmeplänen. Das Verfahren hat sie über 200000 Mark Nach sieben Jahren, im August 1984, gekostet und in die Isolation getrieben. macht Gabriele K. mit Frank Dietzel „Ich bin jetzt total allein, es ist nicht ein Schluß, nicht weil sie rausgekriegt hat, wer einziger Mensch übriggeblieben. Alle ha- er wirklich ist, sondern weil er einen Hei- ben sich abgewandt.Wenn es noch die Stei- ratstermin wieder abgesagt hat. „Ich wollte nichts ande- res als den Frank heiraten, ich hab’s mir vorgestellt, wir hei- raten, und dann bin ich so glücklich, daß ich tot umfal- le.“ Auch nach dem tränen- reichen Finale verschwindet er nicht ganz aus ihrem Le- ben.Alle paar Monate taucht er auf und macht sich über ihr spießiges Leben lustig. Zuletzt, sie weiß es ganz ge- nau, am 17. Januar 1990, nach dem Fall der Mauer, aber noch

zur Zeit der sich reformieren- I. RÖHRBEIN den DDR. Da will er die Be- Öffnung der Berliner Mauer 1989: Überläufer mit Akte ziehung wieder aufnehmen, spricht von den Fehlern, die er gemacht hat, nigung gäbe, wäre ich heute tot, in diesem und von einer gemeinsamen Zukunft, er kleinen elenden Dorf bei Bonn.“ Sie lebe, müsse nur noch ein paar Dinge erledigen. so sagt sie, „mit einer schweren Behinde- Dann geht er wieder, diesmal für immer. rung, die man nicht sehen kann“. Wollte er sie noch einmal quälen, oder war Frank Dietzel, „meine einzige Liebe, die es ein Versuch, sich ein Asyl zu sichern? Liebe meines Lebens“, lebt in ihr weiter. Gabriele K. wird es nie erfahren. Und sie „Ich werde niemals mit ihm fertig werden, fragt sich, warum er sie nicht gewarnt hat. er ist ein Teil von mir und wird es immer „Wenn er mich wirklich geliebt hätte, hät- bleiben.“ Sie hat „furchtbar viel Kraft ver- te er gesagt: Pack deine Sachen und ver- loren“, fühlt sich „von innen her extrem schwinde, du bist in Gefahr.“ müde“ und verzweifelt an dem Gedanken, Am 13. März 1991 stehen BKA-Beamte daß sie 20 Jahre ihres Lebens an eine Illu- vor ihrem Haus in Arzdorf bei Bonn und sion vergeudet hat. „Ich habe mich immer zeigen einen Haftbefehl vor. Ein Überläu- danach gesehnt, daß der Himmel aufgeht, fer der Stasi hat ihre Akte mit in den We- ein Mann herunterschwebt und sagt: Ich sten gebracht. Da sie geständig ist und mit sorge mich um dich. Jetzt weiß ich: Es wird den Ermittlern kooperiert, wird der Haft- nie mehr passieren.“ befehl nach zwei Tagen außer Vollzug ge- An einer Wand der Wohnung von Ga- setzt. Und dann muß sie fünfeinhalb Jah- briele K. hängt ein Foto ihres Vaters und re auf den Beginn des Verfahrens vor dem ein handgeschriebenes „Wiegenlied“, das Düsseldorfer Oberlandesgericht warten. er für seine noch ungeborene Tochter im Zugleich mit der Vorladung bekommt sie November 1944 geschrieben hat. Die letz- die Mitteilung, daß Frank Dietzel bei einem te Zeile heißt: „Schlaf ein und träume! Autounfall ums Leben gekommen ist. Er soll- Morgen erwachst du im Licht!“ te als Zeuge der Anklage gegen sie aussagen. Irgendwann, hofft Gabriele K., wird der Im Prozeß stürzt sie sich auf die als Zeu- Alptraum vorbei sein. Aber so richtig hell gen vorgeladenen Führungsoffiziere und wird es in ihrem Leben wohl nicht mehr will von ihnen wissen, „wer der Mann war, werden. ™

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COMPUTER Sicher wie Fort Knox? Ein Forscherteam aus Osnabrück erprobt im Auftrag der Bundesregierung Wahlen per Internet. Größte Gefahr: Hacker könnten die Wahlergebnisse fälschen.

ahrzehntelang lagerten hinter der ton- nannte FTP-Nachricht auf kürzestem Weg nenschweren Stahltür im Tresorraum vom Stimmberechtigten zum Computer Jder einstigen Poppnietenfabrik Ge- hinter der Tresortür in Osnabrück sendet, brüder Titgemeyer in Osnabrück Lohngel- statt die Meldung über zahllose Rechner zu der und Patente. Heute verstauben dort verschicken – wie im World Wide Web Akten des Fachbereichs Sozialwissen- weltweit üblich. Ähnlich wie beim Brief- schaften der Universität Osnabrück, die wahlverfahren haben die Computer- vor Jahren in das Verwaltungsgebäude des spezialisten außerdem eine Technik ent- Unternehmens einzog.Von Mitte nächsten wickelt, die elektronische Nachricht des Monats an aber wird in den zimmergroßen Wählers quasi in einen Umschlag und den Safe die Zukunft einziehen. eigentlichen Stimmzettel zu trennen. „Das Ding wird so sicher wie Fort Beim sogenannten Blinding-Verfahren Knox“, verspricht der Sozialforscher und überträgt der erste Teil der Nachricht die Internet-Spezialist Dieter Otten. Ein Bio- Daten des Abstimmenden, nicht aber die scanner soll die Fingerabdrücke der Ein- Parteien, die er wählt. Damit kann abge- laßberechtigten ablesen, erst dann wird glichen werden, ob der Absender über- sich die metallicsilberne Stahltür öffnen haupt wahlberechtigt ist. Der Stimmzettel und den Weg freigeben zum Zentralrech- selbst wird anschließend im Zentralcom- ner eines Projekts, das, so Otten, „Demo- puter gelesen, das Ergebnis an einen wei- kratie und Wirtschaft dieses Landes ver- teren, separaten Computer weitergereicht, ändern wird“. „damit auch hinterher persönliche Daten Mit 1,4 Millionen Mark Fördergeldern und Stimmverhalten getrennt bleiben“, so aus dem Bundeswirtschaftsministerium sol- Otten. len Otten und sein Universitätsteam Kom- Erste Erfahrungen haben die Wissen- munal-, Landtags- und Bundestagswahlen schaftler bereits bei der Bundestagswahl via Internet ermöglichen. Jeder Wähler, so im vergangenen Jahr gesammelt. Per In- die Vision, soll seine Stimme per Mausklick ternet riefen sie zur Wahlwette über die abgeben können, statt im Wahllokal seinen Chancen einer rot-grünen Koalition auf. Stimmzettel auszufüllen oder einen Brief zu schicken. Für die Umsetzung dieser Vision muß Ottens 19köpfige Forscher- gruppe noch allerhand technische Hürden überwinden. So braucht der 500000 Mark teure Zentralcomputer im Tresor der Uni ein Glasfaserka- bel, das rund 500000 elektronische Meldungen gleichzeitig transportie- ren kann. Die gigantische Kapazität entspricht 3000 parallelgeschalteten ISDN-Leitungen der Telekom. Weit schwieriger aber wird es sein, die virtuellen Wahlen ebenso anonym und sicher abzuwickeln wie beim Auszählen der Stimmen per Hand. „Das World Wide Web oder E-Mails können wir dafür nicht ge- brauchen“, so Otten. In beiden Sy- stemen seien Meldungen „etwa so geheim wie eine Nachricht per Post- karte“. Hacker könnten das Stimm- verhalten einzelner Wähler mögli- cherweise ablesen oder sogar unbe- merkt verändern. Die Forschungsgruppe hat des- halb ein Verfahren gewählt, das die elektronische Wählerpost als soge- Internet-Forscher Otten: „Wirtschaft und Demokratie

56 der spiegel 12/1999 zur Identifikation der Wahl- berechtigten, Personalnum- mern, mit denen sie sich beim virtuellen Votum aus- weisen können. Gerade die- se Identifikation ist die größte Hürde für die erste politische Wahl im Internet, die Ottens Team für ausge- suchte Gemeinden bei Bür- germeisterwahlen in Bran- denburg im Herbst 2001 anpeilt. Bis dahin, so der Plan, sollen die Bürger, die sich ähnlich wie bei der Brief-

DPA wahl in ihren Gemeinden Bundestagswahl 1998 (in Berlin): Bis zu 13 Mark pro Stimme dann als „Internet-Wähler“ registrieren lassen, eine Art Knapp 17000 Wähler beteiligten sich. Er- „elektronischer Unterschrift“ hinterlegen gebnis: Schon im August, einen Monat vor können. Die codierte Signatur, verschlüs- der Wahl, lagen die Computerforscher nur selt durch eine 2048stellige Primzahl, soll 1,1 Prozentpunkte neben dem tatsächli- auf einer persönlichen Chipkarte gespei- chen Wahlausgang Ende September. chert werden. Diesen Schlüssel zum virtu- Weitere Tests sind bereits für dieses Jahr ellen Wahllokal kann der Besitzer daheim geplant: Zusammen mit Mitgliedern der in einen der handelsüblichen Kartenleser Techniker Krankenkasse will Otten bei stecken, der seinen Besitzer dann via Com- der Sozialwahl zur Selbstverwaltung der puter und Internet beim Osnabrücker Zen- Versicherten im Mai parallel zur ech- tralcomputer identifiziert. ten Stimmabgabe mehrere zehntausend „Ob sich die Bundesregierung dazu Stimmzettel per Internet einsammeln. durchringt“, so Otten, „jedem Wahlbe- Nächste Stationen: Personalratswahl beim rechtigten im Lande einen solchen Chip Statistischen Landesamt in Brandenburg, zu finanzieren, bleibt ihr Problem.“ Doch gleichfalls als Test. Die erste echte Internet- die sogenannte Smartcard könnte noch Wahl soll dann im Januar 2000 die Zusam- weit lukrativere Zwecke erfüllen, als nur mensetzung des Studentenparlaments an den Gang ins Wahllokal zu ersetzen: Der der Osnabrücker Uni bestimmen. persönliche Bürgercode ließe sich, ent- Vorteil der Kooperation mit Behörden sprechend erweitert, auch als Kennkarte oder Krankenkassen: Deren Angestellte für Einkäufe im Internet nutzen oder zur sind bereits registriert und haben, wichtig Antragstellung bei Finanz- oder Einwoh- nerämtern, wodurch Bürgern viele unge- liebte Behördengänge erspart würden. Das Codierungsprinzip wird bereits im Kundenverkehr von Banken und bei der in- ternen Kommunikation von Großunter- nehmen wie DaimlerChrysler erprobt, doch noch gibt es keine zentrale Registra- tur aller Chipkarten in Deutschland, die jede einzelne unverwechselbar und uni- versell einsetzbar machen würde. Das wäre „der Schlüssel für eine flächendeckende und einheitliche Verbreitung“ der Smart- card, sagt Isabel Münch, Mathematikerin beim Bundesamt für Sicherheit in der In- formationstechnik. Die Kosten für die Bestückung der kom- pletten bundesdeutschen Wählerschaft mit den Chipcards schätzt das Osnabrücker Forscherteam auf rund 250 Millionen Mark, die Kartenleser (Stückpreis der- zeit: ab 80 Mark) müßten die Bürger selbst kaufen. Auf Dauer, so hofft Computer- spezialist Otten, werde sich die Investi- tion allerdings lohnen. Denn das übliche Wahlverfahren für politische Entscheidun- gen koste den Staat pro Stimmzettel bis zu 13 Mark. Der virtuelle Urnengang im In-

F. STOCKMEIER / ARGUM STOCKMEIER F. ternet komme gerade auf eine Mark pro dieses Landes verändern“ Stimme. Hans-Jörg Vehlewald

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DEBATTE Anleitung zum Haß Der Kriminologe Christian Pfeiffer über das Erziehungssystem der DDR und die Folgen Gewalttaten gegen Dazwischen liegen acht Jahre, in denen zu hören, was sie schon immer gesagt Ausländer sind im sich eines immer wieder von neuem ge- hatten: Solche Taten würden sich in den Osten weit häufiger zeigt hat: Derartige Überfälle auf Auslän- neuen Bundesländern deswegen öfter als im Westen, weil die der ereignen sich im Osten, bezogen auf ereignen als im Westen, weil die jungen Sozialistische Einheits- die Bevölkerungszahl, erheblich häufiger Menschen dort häufiger von Armut partei 40 Jahre lang als im Westen. Im Jahr 1997 waren es in den und Arbeitslosigkeit betroffen seien und Untertanen statt mün- neuen Bundesländern 4,7mal so viele. Die schlechtere Lebensperspektiven hätten. diger Bürger gezüch- Zahl der Tatverdächtigen dürfte sogar das Doch nach den Erkenntnissen der Poli- tet hat. Diese These Fünf- bis Sechsfache des Westniveaus zei und der Forschung ist die große Mehr-

C. AUGUSTIN des Kriminologen Chri- erreichen. Eine im Auftrag des Bundes- heit der fremdenfeindlichen Täter im We- stian Pfeiffer, 55, macht jugendministeriums durchgeführte Daten- sten wie im Osten nicht unmittelbar von derzeit in den neuen Ländern Furore. Seit analyse hat nämlich gezeigt, daß junge Armut oder Arbeitslosigkeit betroffen. Ihr Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen In- ostdeutsche Täter derartige Delikte fast häufigster sozialer Standort ist das Milieu stituts Niedersachsens in Hannover, vor durchweg aus Gruppen heraus begehen. der Arbeiter, der Auszubildenden, der un- 1200 Ostdeutschen in Magdeburg seine Vor- Bei jungen Westdeutschen traf das nur in teren Angestellten mit einem eher niedri- würfe gegen das Erziehungssystem der der Hälfte der Fälle zu. gen Bildungsgrad. DDR öffentlich gemacht hat, wird er mit Dabei müssen die Jugendlichen in den Aber wenn es nicht so sehr der Frust wütenden Briefen und Anrufen überhäuft. neuen Bundesländern oft richtig suchen, über eine aktuelle Notlage ist, was erklärt wenn sie ihre feindlichen Gefühle gegen- dann, daß die Jugendlichen und Heran- m Jahr 1990 wurde der Angolaner Ama- über einem Fremden ausleben wollen. Der wachsenden im Osten soviel häufiger Aus- deu Antonio in einer brandenburgi- Anteil der Ausländer an der Wohnbevöl- länder überfallen? Die Gegenthese lautet: Ischen Kleinstadt von rechten Jugendli- kerung lag 1997 im Osten nur bei 1,8 Pro- Hauptursache ist die autoritäre Erziehung chen zu Tode geprügelt. Er war nach der zent gegenüber 10,2 Prozent im Westen. der DDR. Viel zu früh und für viel zu lan- Wende das erste Todesopfer fremden- Doch dort wurden, statistisch gerechnet, ge Zeit seien die Kinder von ihren Eltern feindlicher Gewalt im Osten. Das vorerst nur 2,1 von 100000 Ausländern Opfer frem- getrennt worden und in Krippen, Kinder- letzte ist der Algerier Omar Ben Noui. Er denfeindlicher Gewalt, im Osten dagegen gärten, Schulen und Jugendorganisationen kam vor fünf Wochen zu Tode, nachdem 57,4 – also 27mal so viele. ständig einem hohen Anpassungsdruck an ihn ein gutes Dutzend Jugendlicher durch Wie ist der gravierende Unterschied zu die Gruppe ausgesetzt gewesen. die Straßen der Kleinstadt Guben gehetzt erklären? Nach dem Tode des Algeriers Der DDR-Psychiater und Psychothera- hatte. Ben Noui war von ostdeutschen Politikern peut Hans-Joachim Maaz hat bereits 1990 ACTION PRESS ACTION Ausländerfeindliche Krawalle in Rostock (1992): Milieu der Arbeiter, Auszubildenden und unteren Angestellten

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Werbeseite Deutschland auf diesen Zusammenhang hingewiesen Erziehung zum Feindbild. Noch deutlicher ideologie der SED geprägt worden. Es gab und damals vorausgesagt, daß sich die wurde das im Lehrbuch „Pädagogik“, soziale Nischen und intakte Familien, die emotionalen Probleme der DDR-Kinder dem Standardwerk der DDR für Lehramts- auszugleichen versuchten, was die staat- und Jugendlichen später in aggressiven prüfungen, den zukünftigen Lehrern ans liche Pädagogik angerichtet hatte. Es Ausbrüchen gegenüber Fremden und Herz gelegt: „Die Schüler müssen den gab auch Kindergärtnerinnen und Lehrer, Schwächeren entladen würden. Gibt es für Feind durchschauen und ihn überall ent- die den Anpassungsdruck gemildert und seine Analyse inzwischen empirische Be- larven können. Auf diese Weise entstehen die Feindbild-Erziehung nicht mitgemacht lege oder zumindest klare Indizien? politisch-ideologische Wertorientierungen, haben. Noch zu DDR-Zeiten hatten sich die So- die Haß gegen die imperialistische Aus- Und schließlich darf nicht übersehen zialwissenschaftler Karl Zwiener und Diet- beutung und Unterdrückung einschließen. werden, daß die DDR-typische Erziehung mar Sturzbecher wissenschaftlich mit der Die Heranwachsenden müssen lernen, in der Gruppe für die Betroffenen das Erziehung in DDR-Krippen und Kinder- feindliche Auffassungen zu erkennen und Risiko von Mißhandlungen im Elternhaus gärten auseinandergesetzt. Damals landeten zu bekämpfen.“ reduziert hat – ein Belastungsfaktor, der etwa vier Fünftel der Klein- generell die Gewaltbereit- kinder spätestens mit zwölf schaft von Jugendlichen er- Monaten in den Ganztags- höht. kinderkrippen. Man sei Das ändert allerdings dort, so die Erkenntnis der nichts an dem Gesamtbild. beiden, nur wenig auf die Die vom Partei- und Staats- Bedürfnisse der Kinder ein- apparat der DDR gesteuer- gegangen und habe zu we- te Erziehung hat Ein- nig Raum für deren Entfal- flußfaktoren gesetzt, die tung gelassen. bei vielen Kindern und Ju- Der Tagesablauf folgte gendlichen Folgen haben: relativ starren Regeln. Die eine starke Verunsicherung Erzieherinnen und Erzie- des Individuums, hohe An- her dominierten, bestimm- passungsbereitschaft an ten Zeitpunkt und Art Gruppen sowie ausgepräg- kindlicher Spiele. Sie gin- te Ausländerfeindlichkeit. gen nicht vom individuel- Für diese These gibt es eine len Erleben des Kindes, von Reihe von empirischen Be- seinem Entwicklungsstand legen: aus, sondern von ideolo- π Sozialwissenschaftliche gisch vorgegebenen Erzie- Untersuchungen kurz hungszielen. Auch enga- nach der Wende haben

gierte Kindergärtnerinnen JÜRGENS PHOTO FOTOS: gezeigt, daß bereits konnten daran offenbar Krippen-Kinder in der DDR: Emotional nicht satt geworden damals ein beachtlicher wenig ändern, weil schlicht Anteil der Jugendlichen das Personal fehlte, um sich dem einzelnen Welcher Zusammenhang besteht zwi- in der DDR ausländerfeindlich war. So Kind intensiver zuwenden zu können. schen einem derartigen Erziehungsstil und stimmten 1990 bei einer Befragung 42 Natürlich haben viele Eltern und Groß- der Entstehung von fremdenfeindlichen Prozent der Jugendlichen der Aussage eltern versucht, den institutionellen Man- Einstellungen und Verhaltensweisen? Ant- zu: „Mich stören die vielen Ausländer gel an persönlicher Zuwendung auszuglei- worten darauf haben viele gegeben: Theo- bei uns“, im Westen waren es nur 26 chen. Aber auch das ist oft nicht gelungen, dor W. Adorno ebenso wie Maaz und zu- Prozent. Eine 1997 vom Deutschen Ju- weil es in DDR-Familien besonders häufig letzt die Hildesheimer Sozialwissenschaft- gendinstitut (DJI) durchgeführte Reprä- Trennungs- und Scheidungskonflikte gab. lerin Christel Hopf. Ihr gemeinsames Fazit: sentativbefragung von 16- bis 29jährigen Viele DDR-Kinder sind deshalb emotional Wer in Kindheit und Jugend einer auto- kommt zu einem ähnlichen Befund. So nicht satt geworden an Zuwendung durch ritären Gruppenerziehung ausgesetzt ist stimmten im Osten 19 Prozent der Aus- feste Bezugspersonen. und zu wenig an individueller Zuwendung sage zu: „Es wäre am besten, wenn alle Margot Honecker, die Volksbildungsmi- und Förderung erfährt, ist in der Entwick- Ausländer Deutschland verlassen wür- nisterin der DDR, wird das nicht gestört lung eines gelassenen Selbstvertrauens be- den“, im Westen waren es 7 Prozent. haben, weil für sie die Einordnung in die hindert. Im Vergleich zu einem jungen Insgesamt ließen 36 Prozent der im Gruppe und nicht die freie Entfaltung der Menschen, dem in seiner Sozialisation bes- Osten Befragten ein hohes Maß an Aus- Persönlichkeit das oberste Erziehungsziel sere Chancen zur freien Entfaltung seiner länderfeindlichkeit erkennen gegenüber war. Kinderkrippen und Kindergärten wur- Persönlichkeit geboten wurden, wird er 18 Prozent im Westen. den von ihr ausgezeichnet für vorbildliche Fremde viel eher als bedrohlich erleben π Der polizeilichen Kriminalstatistik läßt Disziplin, Ordnung und Sauberkeit. Die und als Feinde definieren. sich entnehmen, daß Jugendliche im DDR hat hier an die Tradition des preußi- Wenn er dann noch erlebt, daß die Osten ihre Delikte wie Raub und Kör- schen Obrigkeitsstaats angeknüpft – also Schuld an Mißständen der eigenen Welt perverletzung weit häufiger als im We- an ein Leitbild der Erziehung junger Men- ständig einem externen Sündenbock zu- sten aus Gruppen heraus begehen. Dies schen zu Untertanen und nicht zu mündi- geschrieben wird, verstärkt dies die Nei- bestätigt auch eine 1998 durchgeführte gen Bürgern. gung, später selbst nach diesem Muster zu Repräsentativbefragung von Schülern Hinzu kommt: Die SED hat die Kinder verfahren: Wer die Schülerinnen und neunter Klassen. Junge Gewalttäter aus und Jugendlichen ständig mit einem idea- Schüler zum Haß auf den politischen Geg- Leipzig gaben zu 55 Prozent an, daß sie lisierten Bild der eigenen Welt überzogen ner aufruft, darf sich nicht wundern, wenn ihre Taten aus Gruppen heraus begangen und für die offenkundigen Mängel des Sy- solche Feindbilder auf alles Fremde über- hatten, in Stuttgart waren das nur stems immer wieder den Klassenfeind ver- tragen werden. 20 Prozent. Es überrascht deshalb nicht, antwortlich gemacht. Bereits von den Kin- Natürlich sind nicht alle Kinder und daß rechte Gruppen mit ihrem starken dergärtnerinnen verlangte das Regime die Jugendlichen von der Erziehungs- Zusammenhalt und ihren klaren Feind-

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bildern besonders für ostdeutsche Ju- macht zu Recht auf eine andere Beson- logen über ein fremdes Volk geforscht und gendliche hohe Anziehungskraft ent- derheit der DDR aufmerksam, die – abge- darüber dann intern diskutiert. Die weni- falten. schwächt – auch heute noch besteht: Die gen ostdeutschen Experten, die zu ganz π Auch Christel Hopf gelangt in einer Stu- Kinder und Jugendlichen in der DDR ähnlichen Einschätzungen gelangt sind, die, die demnächst veröffentlicht wird, wuchsen in einer abgeschotteten, ethnisch werden zwar im Westen hoch geachtet, fin- zu der Einschätzung, daß die Kinder der homogenen Welt auf, in der es kaum Aus- den aber bei ihren ehemaligen Landsleuten DDR durch Mangel an individueller Zu- länder gab. Die gegenüber Fremden ent- im Osten kaum Gehör. wendung emotional stark belastet wa- standenen Vorurteile konnten nie durch Wird die aktuelle Diskussion daran et- ren. Die Verunsicherung der Kinder und Alltagserfahrung überprüft und abgebaut was ändern? Meine Sorge ist, daß sie Jugendlichen sei mit dem Zusammen- werden. Daran hat sich bis heute nur we- nur einen kurzzeitigen emotionalen Effekt bruch der DDR noch angewachsen, weil nig geändert. haben wird, wenn es nicht gelingt, an die Stelle von Überschaubarkeit Und schließlich verdient ein Aspekt Be- sie stärker im Bewußtsein der Menschen und Geborgenheit durch staatlich fest- achtung, der deutlichen Bezug zur Gegen- im Osten zu verankern. gelegte Lebenswege der Dies aber wird kaum ge- Zwang zu individueller schehen, solange in erster Lebensplanung trat. Die Linie sogenannte Besser- Folge sei eine Bewälti- Wessis die Träger der kriti- gungsstrategie, die eige- schen Botschaft sind. Pro- ne Unsicherheit weg- minente Bürger aus den schiebt und Auslän- neuen Bundesländern sind der zu Sündenböcken gefragt, die den Mut haben, macht. das Tabu zu brechen und In den letzten Wochen über ihre Erfahrungen und hatte ich oft Gelegenheit, Einsichten mit dem Erzie- mit Ostdeutschen über hungssystem der DDR zu diese Befunde zu disku- sprechen.Wenn etwa Henry tieren. Einer meiner Maske, Katarina Witt, Fried- Gesprächspartner konter- rich Schorlemmer oder die te: „Die Angreifer des Präsidentschaftskandidatin Algeriers in Guben waren Dagmar Schipanski in die beim Untergang der DDR Debatte einsteigen würden, erst sieben bis zehn Jah- wäre viel gewonnen. re alt. Ihr heutiges Verhal- „Wer vor der Vergangen- ten kann man doch nicht heit die Augen verschließt, mehr der Margot Honecker wird blind für die Gegen- und ihrem Erziehungs- wart“, hat der frühere Bun- system in die Schuhe Jugend-Festival in Ost-Berlin (1984): Hoher Anpassungsdruck despräsident Richard von schieben.“ Weizsäcker in seiner be- Wirklich nicht? Zum einen ist zu beach- wart hat: Bei der DJI-Befragung im Jahr rühmten Rede zum 40. Jahrestag des ten, daß gerade die Erfahrungen in der 1997 haben 37 Prozent der jungen Men- Kriegsendes formuliert. Und eindringlich Kindheit die Entwicklung der Persönlich- schen aus den neuen Bundesländern fol- hat er hervorgehoben, wie wichtig das ehr- keit prägen. Zum anderen ist zu bezwei- gender These zugestimmt: „Wenn Arbeits- liche Erinnern für die Gestaltung des eige- feln, daß der DDR-typische Erziehungsstil plätze knapp werden, sollte man die Aus- nen Lebens ist. sofort mit der Wiedervereinigung ver- länder wieder in ihre Heimat schicken“; Aber es geht nicht nur um das Verstehen schwunden ist. Die Lehrer und Erzieher im Westen waren es 15 Prozent. Das Ge- der eigenen Sozialisationsgeschichte. Die blieben erst einmal die alten. fälle erklärt sich teilweise daraus, daß die Frage sollte dann auch gestellt werden, ob Vor allem aber: Kinder und Jugendliche jungen Menschen im Osten stärker durch denn die heutige Erziehung von Kindern werden in ihren Einstellungen und ihrem Arbeitslosigkeit bedroht sind. Auch wenn und Jugendlichen den dargestellten Er- Verhalten gegenüber Ausländern auch von die ostdeutschen Täter fremdenfeindlicher kenntnissen Rechnung trägt. Und es wäre dem geprägt, was ihnen ihre Eltern und Delikte ganz überwiegend nicht unmittel- zu erörtern, welche negativen Einflußfak- andere Erwachsene vorleben. bar im sozialen Abseits stehen, haben sie toren sich belastend auswirken können – Eine Untersuchung des Sozialwissen- doch häufiger Anlaß zur Sorge, dorthin zu ganz gleich, ob sie Relikte aus der DDR- schaftlichen Forschungszentrums Berlin- geraten. Vergangenheit sind oder problematische Brandenburg hat dazu einen interessanten Ich habe kürzlich versucht, diese Bot- Importe aus dem Westen. Befund erbracht: Im Vergleich zu Jugend- schaft in der Pauluskirche von Magdeburg Eine konkrete Hoffnung gibt es immer- lichen und jungen Erwachsenen aus Sach- 1200 ostdeutschen Besuchern zu vermit- hin. Ostdeutsche und westdeutsche Bür- sen-Anhalt hat von den Befragten, die teln. Bei der überwiegenden Mehrheit der ger haben kürzlich in Berlin gemeinsam älter waren als 27, ein deutlich höherer Zuhörer bin ich damit auf massive emo- die Amadeu-Antonio-Stiftung ins Leben Anteil fremdenfeindliche Einstellungen tionale Ablehnung gestoßen. Die vorran- gerufen. Sie wird sich in beiden Teilen offenbart. Die Autoren gelangen deshalb gige Orientierung der DDR-Erziehung an Deutschlands für eine Kultur der Toleranz zu dem Schluß, daß Jugendliche, die im Disziplin, Ordnung und Gruppenanpas- einsetzen und möchte auch dazu beitra- Osten Ausländer überfallen, sich durchaus sung wurde engagiert verteidigt. gen, die Diskussion über die Entstehung als Vollstrecker einer weitverbreiteten Auffallend war, daß meine Gedan- von Ausländerfeindlichkeit zu fördern. Volksmeinung verstehen können. kengänge den meisten völlig fremd schie- Vielleicht gelingt es ja auf diesem Wege, Damit soll freilich nicht behauptet wer- nen. Der breite Diskurs, der zu diesem breite Unterstützung einzuwerben und mit den, daß die Erziehung in der DDR allein Thema seit Jahren im Westen geführt wird, langem Atem dazu beizutragen, daß der dafür verantwortlich zu machen ist, daß ist offenbar an der Bevölkerung der neuen Zusammenhang von autoritärer Erziehung ausländerfeindliche Gewalttaten im Osten Bundesländer fast spurlos vorübergegan- und ausländerfeindlicher Gewalt in Ost weit häufiger sind als im Westen. Hopf gen – als hätten westdeutsche Anthropo- und West erörtert werden kann. ™

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Vom Plus in seiner Kasse sollen nach KOMMUNEN Deffners Willen „die Bürger als Anteils- eigner des Unternehmens Stadt nun mit Echtes einer Dividende profitieren“. Die rest- lichen drei Millionen Mark möchte er in die Rücklage stecken, die schon heute Schlitzohr höher ist als der Schuldenberg der Ge- meinde. Ende April soll die CSU-Mehrheit Jedem Bürger will ein bayerisches im Stadtrat den Plan genehmigen. Die Gersthofener Opposition – SPD, Stadtoberhaupt 100 Mark aus Grüne, FDP,Bürgerunion und Freie Wähler der Gemeindekasse spendieren, – spricht von „Populismus“ und möchte weil es dem Ort so gut geht. statt dessen Gemeindesteuern und Ge- bühren senken. Es gebe, findet Deffner da- ie revolutionäre Idee kam dem gegen, „derzeit nichts, wofür wir das Geld CSU-Politiker beim Lesen der „Er- sonst sinnvoll ausgeben können“. 15 Mil- Dinnerungen“ Ronald Reagans. Der lionen Mark will die Stadt in diesem Jahr habe während seiner Zeit als Gouverneur ohnehin investieren, unter anderem in den von Kalifornien einmal 100 Millionen Neubau eines Kindergartens und die Sa- Dollar ans Wahlvolk zurückgegeben, weil nierung zweier Schulen. in der Staatskasse ein Überschuß war. Das, Dabei verfügt Gersthofen, im nördlichen dachte Siegfried Deffner, 53, werde er auch „Speckgürtel“ der 250 000-Einwohner- tun, wenn er einmal in diese Lage komme. Stadt gelegen, schon heute über Die Lage ist da. Als Bürgermeister der eine Infrastruktur, von der andere Kom- schwäbischen Stadt Gersthofen im Kreis munen nur träumen können. Rund die Augsburg will Deffner zwei Millionen Hälfte der bebauten Gemeindefläche ist Mark aus dem Gemeinde- säckel an seine Bürgerinnen und Bürger auszahlen. Jeder Schritt durch die Talsohle? der 20000 Einwohner, egal ob Die Finanzsituation der Kommunen in Deutschland, Greis oder Kind, soll dem- in Milliarden Mark nächst einen Hundertmark- schein erhalten. 300 282,4 Das spektakuläre Vorha- AUSGABEN ben ist bundesweit einmalig. 260 277,5 „So etwas“, staunt der Präsi- EINNAHMEN dent des Bundes der Steuer- 220 zahler, Karl Heinz Däke, „hat 180 es noch nicht gegeben.“ Gesamtdeutschland Anlaß für den aufsehener- regenden Vorstoß ist das vor- 1988 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 läufige Ergebnis des Haus- haltsabschlusses 1998, das dem Bürgermeister seit Mitte Überschuß und Defizit 4,9 März vorliegt. Demnach hat 0,7 Gersthofen voriges Jahr nicht wie geplant 4,3 Millionen Mark als Kredite aufnehmen –3,8 –5,9 müssen, sondern ein Plus von Quelle: Statistisches –7,9 Bundesamt, bereinigte –11,4 5 Millionen erwirtschaftet – Daten vor allem durch höhere Ge- –16,2 bühren. 1988 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 Mit diesem erfreulichen Überschuß steht die Stadt keineswegs allein. Erstmals seit der Wiedervereinigung hätten alle Kommunen zu- sammen – auch aufgrund strikter Sparmaßnahmen und Gebührenerhöhungen – 1998 mehr Geld eingenommen als ausgegeben, stellte das Stati- stische Bundesamt vergange- ne Woche fest. Doch außer dem Schwaben ist noch kein Kommunalpolitiker auf die Idee verfallen, den Über-

schuß an die Einwohner M. WEBER W. zurückzugeben. Bürgermeister Deffner: Neues Wir-Gefühl

70 der spiegel 12/1999 Gewerbegebiet. 1447 Betriebe bieten mehr als 11000 Menschen Arbeit und steuerten vergangenes Jahr 18 Millionen Mark Ge- werbesteuer zum 80-Millionen-Etat der Kommune bei. Die Verkehrsanbindung ist optimal: Die Autobahn München–Stuttgart führt, mit eigener Ausfahrt, über Gemein- degrund, der Bahnhof liegt an der Strecke Augsburg–Nürnberg, der Augsburger Flug- hafen ist nur drei Kilometer entfernt. Seit Beginn der neunziger Jahre hat Gersthofen über 100 Millionen Mark ins Ortszentrum gesteckt: 36 Millionen in den Bau eines Rathauses samt Tiefgarage, 40 Millionen in eine neue Stadthalle, 14 Mil- lionen in ein neues Freibad und 12 Millio- nen in die Umgestaltung der Ortsdurch- fahrt. Für alle Kinder im Ort gebe es, so der Rathauschef stolz, einen Kindergartenplatz. Während der Beifall für des Bürgermei- sters Pläne in der Bevölkerung groß ist, rümpfen Kollegen die Nase. „Höchst unso- lidarisch“ gegenüber Augsburg findet der Vorsitzende des Bayerischen Städtetags, der Landshuter Oberbürgermeister Josef Deimer (CSU), Deffners Verhalten. Schließ- lich nutze die Gersthofener Bevölkerung reichlich die Infrastruktur der benachbarten Großstadt – Theater, Schulen, Verkehrs- mittel –, ohne daß ihre eigene Stadtkasse dadurch belastet werde.Außerdem erwecke der Bürgermeister ein „völlig falsches Bild“ von der finanziellen Lage der Kommunen. Irritiert ist auch der schwäbische Regie- rungspräsident Ludwig Schmid. Er habe zunächst „an einen Scherz geglaubt“, be- kennt der Ober-Beamte. Ihm obliegt, nach dem Augsburger Landrat, die Rechtsauf- sicht über die Stadt Gersthofen. Über bei- den wacht das Innenministerium. Schmid argwöhnt, daß Deffner „ein ech- tes Schlitzohr“ sei. Die Bayerische Ge- meindeordnung nämlich besagt: „Die Ver- schenkung und die unentgeltliche Überlas- sung von Gemeindevermögen sind un- zulässig.“ Gemeinsam mit Ministerium und Landratsamt wird Schmid die Zulässigkeit der Bürgermeister-Spende prüfen müssen. Deffner, seit 15 Jahren im Amt und früher selbst Jurist im bayerischen Land- wirtschaftsministerium, beteuert seine Lauterkeit. Er werde ja nichts verschen- ken, sondern „der Bevölkerung etwas von dem zurückgeben, was sie vorher bezahlt hat“. Notfalls, darauf will er seine CSU- Fraktion einschwören, soll die Stadt vor Gericht ziehen, wenn die Rechtsaufsicht das Vorhaben rüge. Er mache „schließlich kein Kasperltheater“, Populismus sei ihm „völlig fremd“. Ihm gehe es um ein neues „Wir-Gefühl“ in der Bevölkerung und eine „engere Bindung Bürger/Stadt“. Von außerhalb Bayerns hat das rührige Gemeindeoberhaupt schon viel Zuspruch bekommen. Mitte vergangener Woche bot ihm die baden-württembergische CDU eine Oberbürgermeisterkandidatur im Großraum Stuttgart an. Deffner lehnte, dankend, ab. Wolfgang Krach

der spiegel 12/1999 lich-braunen Nikotin- RAUCHEN schleier an den Tapeten derart, daß er seinen Tausender Angestellten, die auf die Qualmerei verzichten, prompt einen Tag Mehr- auf die Hand urlaub zubilligte. Stefan Apfel, 32, Ge- Mit findigen Methoden machen schäftsführer der Apfel GmbH in Dossenheim bei Unternehmer aus passionier- Heidelberg, denkt bei der ten Kettenrauchern Abstinenzler. Zahlung seiner Nichtrau- cherprämie nur an die Ef- eval ohne Filter, 60 Stück pro Tag, fizienz der Firma. „Sucht- qualmte der gestreßte Manager aus freie Angestellte sind Rdem nordbadischen Eppelheim bei tüchtige Angestellte“, Heidelberg. Gleich stangenweise schlepp- hofft der Jungunterneh- te Hans-Peter Wild, 58, die Zigaretten auf mer. In seinem metallver- seinen Geschäftsreisen mit. arbeitenden Betrieb (20 Wild hat seine Nikotinsucht inzwischen Beschäftigte) erhalten überwunden und wurde zum Missionar ge- Nichtraucher eine Mark gen den blauen Dunst. Heute zahlt der mehr pro Stunde. Neben Chef der Rudolf-Wild-Werke, die Grund- der „Verbesserung des stoffe für Nahrungsmittel herstellen, sei- Betriebsklimas“ regi- nen Mitarbeitern eine Prämie, wenn auch striert Apfel auch eine sie den Ausstieg schaffen. Er bietet jedem „erhebliche Steigerung

seiner 1100 Beschäftigten an: „Wer aufhört HADERER der Produktivität“. zu rauchen, bekommt 1000 Mark auf die Rauchers Alptraum stern Betriebe, in denen Rau- Hand“ – allerdings erst nach sechsmonati- cher aus Sicherheitsgrün- ger Probezeit. Wer rückfällig wird, muß treten. Die Idee hatte der Firmenchef, den nur draußen vor der Tür ihrer Sucht 2000 Mark „Vertragsstrafe“ zahlen. nachdem ein 16jähriger Lehrling wegen frönen dürfen, kostet die Qualmerei eine Wie Wild versuchen immer mehr Un- Gefäßverengung an einem Schlaganfall in Menge Geld. Im statistischen Schnitt fällt ternehmer in Deutschland, Rauchern am der Badewanne gestorben war. Von 14 ein Raucher pro Zigarette sechs Minu- Arbeitsplatz den Verzicht auf Nikotin Azubis raucht derzeit nur einer in der ten aus. schmackhaft zu machen. „Niemand hört Firma. Im Siegburger Ingenieurbüro Strunk + allein wegen des Geldes auf“, glaubt der Bei der Bicycles Räder AG in Bielefeld Partner errechneten die 25 Beschäftigten Fabrikant, „aber wer den Kampf gegen das kassieren abstinente Mitarbeiter monatlich gemeinsam die Kosten, die acht Raucher Rauchen bereits im Kopf gewonnen hat, eine Zusatzprämie von 100 Mark. Ge- dem Unternehmen verursachten. Bei ei- läßt sich vielleicht mit Geld zur letzten Zi- schäftsführer Axel Böse, 30, geht es um das nem Stundensatz von 65 Mark kamen sie garette motivieren.“ ökologisch-sportliche Ansehen des Unter- auf jährlich 104000 Mark. Daraufhin wur- Der Dortmunder Bauunternehmer Wal- nehmens. „Rauchen paßt halt nicht zu den für jeden Nichtraucher 1000 Mark aus- ter Derwald, 87, spendiert seinen Auszu- Fahrrädern“, sagt er. gelobt. Alle Mitarbeiter sitzen heute in bildenden zusätzlich 45 Mark monatlich, In Leverkusen ekelte sich der Chef einer rauchfreien Räumen und sind nach Ein- wenn sie seinem „Nichtraucher-Club“ bei- Kommunikationsagentur vor dem gelb- schätzung der Firmenleitung „motivierter und leistungsbereiter“. Das Ingenieurbüro spart zusätzlich 79000 Mark pro Jahr. Ganz so harmonisch geht es nicht immer zu. Bei der Firma Emitec in Lohmar bei Bonn wird Rauchern die verqualmte Zeit vom Gehalt abgezogen. Die Kontrolle er- folgt durch Stechuhren. Entwöhnungswil- ligen zahlt die Firmenleitung die Kosten für eine Entziehungstherapie. Ein Mitarbeiter des Hamburger Unter- nehmens Philips Chipfabrik Semicon- ductors wehrte sich vor Gericht gegen ein Rauchverbot innerhalb der Betriebsräume. Nur im separaten Unterstand auf dem Hof- gelände war die Qualmerei noch gestattet. Dadurch sollten die Nichtraucher geschützt und die Verunreinigung hochempfindlicher Mikrochips verhindert werden. Der Klä- ger argumentierte, das Verbot verletze sein Persönlichkeitsrecht. Das Bundesarbeitsgericht in Kassel wies die Klage ab. Begründung: Die „Freiheits- beschränkung“ sei „nicht unverhältnis- mäßig“, da sie Nichtraucher vor Schäden Unterstand für Raucher (bei der Philips Chipfabrik in Hamburg): Klage abgewiesen bewahre. Tanja Fischer-Jung, Felix Kurz

72 der spiegel 12/1999 Werbeseite

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Komplizen Wolfgang Koszics als Muskel- REEMTSMA-ENTFÜHRUNG mann angeheuert. Noch bevor das Lösegeld gezahlt wor- Reuiger Sünder den war, tauchte der Mann, den Drach als „Victor“ kannte, am 11. oder 12. April mit Im letzten Moment kam der seinem Honorar nach Spanien ab. Seinen Schlägerlohn wechselte er in Barcelona ge- vierte Reemtsma-Entführer, der gen eine Million spanischer Peseten (gut Pole Piotr Laskowski, seiner 10000 Mark) ein. Verhaftung zuvor: Er stellte sich Nach seiner Abfuhr bei Anwalt Schwenn den deutschen Behörden. wandte sich Laskowskis Rechtsbeistand an

den „Stern“, der am Dienstag vergange- PRESS ACTION enn Burkhard Immel an seinen ner Woche vorab meldete, der letzte der Anwalt Schwenn, Mandant Reemtsma Mandanten Piotr denkt, ergreift Reemtsma-Entführer wolle sich der deut- Absurdes Ansinnen Wden Frankfurter Anwalt Mitge- schen Justiz ergeben, und veröffentlichte fühl. Mit 1,84 Meter Größe und 115 Kilo- am Donnerstag die Geschichte vom geläu- fred Hölter und Gunnar Ziebeil nach Po- gramm Gewicht sei der Pole zwar „ein bul- terten Helfer des Haupttäters Drach. So len. Sie vernahmen die junge Frau, deren liger Typ“, aber dabei „sehr sensibel“, wie lange indes hatte Piotr Laskowski es nicht Nummer Piotr so eifrig angewählt hatte. ein lieber, „großer Junge“ eben. ausgehalten: Am Dienstag abend vergan- Doch die mochte den Ermittlern nicht Piotr, 32, mußte geholfen werden. Nur gener Woche war er, begleitet von seinem helfen: Sie habe den Mann nur als Piotr in wie? Am 16. Februar rief Immel, 44, den Anwalt, im Hamburger Polizeipräsidium einer Disco kennengelernt. Dort sei es zu- Anwalt des Hamburger Millionenerben erschienen. dem so dunkel gewesen, daß sie ihn nicht und Mäzens Jan Philipp Reemtsma, Johann Auch Immel beteuert, sein Mandant einmal beschreiben könne. Schwenn, an. Er habe, erklärte er dem Kol- habe sich aus schierer Reue bei der Kripo Die zweite Nummer führte zu einem Po- legen, einen Klienten, der im Zusammen- eingefunden. Niemand, so der Advokat, sei len-Quartett in Berlin. Richard, Jacek, hang mit der Reemtsma-Entführung von seinem Mandanten in Spanien auf der Spur Marek und Miroslaw werden von Ermitt- der deutschen Justiz gesucht werde und gewesen. Er habe sich nicht stellen müssen. lern der Autoschieberszene zugerechnet. sich freiwillig stellen wolle. Ob Schwenn Da irrt Immel. Während der Geiselhaft Doch auch diese Spur brachte zunächst Möglichkeiten sehe, Mittel aus der ausge- Reemtsmas hatte Laskowski zwei Spuren nichts. lobten Belohnung für die Verteidigung sei- hinterlassen, die ihm letztlich zum Ver- Das änderte sich, als Reemtsmas priva- te Ermittler von der Wiesbadener Sicher- heitsfirma Espo Ende vergangenen Jahres die Polen-Spur aufnahmen.Anders als ihre LKA-Kollegen sind die Espo-Leute nicht auf offizielle Rechtshilfegesuche angewie- sen. Sie können reisen, wann und wohin sie wollen und vor Ort auch mit nicht zur Po- lizei gehörenden Rechercheuren zusam- menarbeiten. Laskowskis polnische Freundin Malgor- zata, 27, war inzwischen aus Nowa Sól aufs Land nahe Danzig gezogen. Dort lebt sie bei ihrer Großmutter. Zu Laskowski hielt sie über eine Telefonzelle Kontakt. Zwei Zellen finden sich in der Nähe der großmütterlichen Wohnung. Da eine von Vandalen verwüstet worden war, blieb ihr nur die zweite Zelle. Die aber war bereits ans digitale Netz angeschlossen. Allen Te- lefonaten aus dem Häuschen konnten die von der Frau angewählten Nummer zuge-

TNC ordnet werden. Reemtsma-Entführer Laskowski, Anwalt Immel (r.): Angst vor dem Polen-Quartett? Die Anrufe führten zu Anschlüssen in Barcelona.Anfang vergangener Woche rief nes Mandanten durch ihn, Immel, bereit- hängnis wurden. Aus dem Haus in Garl- Malgorzata dort auch die Nummer an, un- zustellen. stedt bei Bremen, in dem der Millionär ter der Piotr zuletzt zu erreichen war – Schwenn lehnte das ihm absurd erschei- 1996 gefangengehalten wurde, führte er und lieferte damit den Fahndern die Adres- nende „Ansinnen, daß ein Opfer für die zwischen dem 21. März und dem 10. April se, nach der sie seit langem suchten. Seiner Verteidigung des Täters aufkommt“, em- 14 Telefongespräche. Elfmal rief er eine prompten Verhaftung durch die spanische pört ab. Nummer in der westpolnischen Kleinstadt Polizei entging Laskowski nur, weil er sich Der Pole Piotr Laskowski ist der von der Nowa Sól an, dreimal einen Anschluß in Hamburg stellte. Polizei seit fast drei Jahren gesuchte vier- in Berlin. Piotrs Kapitulation wurde wohl nicht te Mann der Reemtsma-Entführer. Er war Da die Beamten des Landeskriminal- nur durch Reue verursacht, ausschlag- es, der den Millionär am 25. März 1996 zu- amts Hamburg Hunderte von Spuren und gebend war offenbar die Angst vor dem sammen mit dem Initiator des Verbrechens, Tausende von Telefonnummern abzuar- polnischen Quartett. Die vier aus der Thomas Drach, im Park der Reemtsma- beiten hatten, blieben diese Anrufe lange illegalen Autobranche, so wissen Fahn- Villa gekidnappt hat. Drach, dem in Ar- unbeachtet. Erst im Herbst vergangenen der, wollten den Gejagten endlich los gentinien die Auslieferung an die deutsche Jahres, Drach saß schon in Argentinien im sein, um Ruhe vor den Ermittlern zu Justiz droht, hatte Laskowski über seinen Gefängnis, reisten die LKA-Fahnder Man- haben. Ulrich Jaeger

76 der spiegel 12/1999 Werbeseite

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Werbeseite Trends Wirtschaft

Braunkohle- für Wirtschaftsforschung im Auf- kraftwerk in trag von BDI und Bundesum- Sachsen-Anhalt weltministerium kürzlich abschloß. Erst nachdem die Forscher Ein- flüsse der Witterung und Sonder- konjunkturen einzelner Branchen herausgerechnet hatten, ermittel- ten sie eine CO2-Minderung von 2,5 Millionen Tonnen gegenüber 1996. BDI-Präsident Hans-Olaf

P. LANGROCK / ZENIT P. Henkel versprach 1995, die Indu- strie werde den Kohlendioxid-Aus- INDUSTRIE stoß von 1990 bis 2005 um bis zu 20 Prozent verringern. Kanz- ler Helmut Kohl ließ daraufhin Pläne für eine Ökosteuer fal- len. In der Glas-, Kalk- sowie Nichteisen-Metallbranche stiegen Umweltziel verfehlt 1997 die CO2-Emissionen sogar trotz der RWI-Rechentricks. Ei- nige Wirtschaftszweige haben das 20-Prozent-Soll dagegen er Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hält eine längst übererfüllt – beispielsweise Kali-, Zucker-, Chemie-, Pa- Dernüchternde Bilanz seiner Klimaschutz-Selbstverpflich- pier- und Ziegelindustrie. Grund: Durch den Zusammenbruch tung unter Verschluß: Um 8 Millionen Tonnen auf 170,3 Mil- der maroden DDR-Wirtschaft war das Minderungsziel bereits lionen schwoll 1997 der industrielle Ausstoß des Treibhausga- zum Zeitpunkt der Selbstverpflichtung annähernd erreicht. ses Kohlendioxid (CO2) an. Das geht aus dem zweiten Moni- Das RWI fordert diese Branchen auf, die „Ziele neu und an- toring-Bericht hervor, den das Rheinisch-Westfälische Institut spruchsvoller“ festzulegen.

LUFTHANSA DEUTSCHE BAHN Enge Holzklasse Rausschmiß ufthansa-Kunden in der billigeren geplant LEconomy-Klasse müssen künftig für größeren Komfort in der Business-Klas- eit Anfang des Jahres ist die se noch enger zusammenrücken. Das Sneue Konzernstruktur der berichtet die Mitarbeiterzeitschrift des Deutschen Bahn mit fünf Be-

Konzerns. So werden zunächst in der reichs-AG in Kraft, jetzt gibt LANGROCK / ZENIT P. Holzklasse der Boeing 747-400 Bord- es Ärger um die Berufung von ICE küchen herausgerissen oder verkleinert rund 20 Bereichsvorständen. und neue Müllpressen eingeführt. In Die Manager wurden zwar schon zu Betroffen sind zumindest drei Manager den hinteren Rängen, wo so 18 neue Zeiten der Kohl-Regierung im Frühjahr bei der neugeschaffenen DB Regio AG Plätze untergebracht werden, sitzen 1998 vom Aufsichtsrat gebilligt. Nun und bei der DB Reise & Touristik AG. Passagiere damit noch enger als die aber stellt sich die rot-grüne Bundesre- Die vermeintlichen Versager arbeiten gierung als Eigentümer quer: Mehrere seit vielen Jahren im Konzern, Bahn- designierte Bereichsvorstände, hat Ver- chef Johannes Ludewig (CDU) selbst kehrsminister Franz Müntefering (SPD) hatte die neuen Vorstandskandidaten angedroht, müßten ihre Büros räumen. vorgeschlagen.

BESCHÄFTIGUNGSPOLITIK Später Sieg? x-Finanzminister Oskar Lafontaine steht offenbar ein später Sieg bevor. Grund: Economy-Klasse der Lufthansa EDas Kanzleramt sucht dringend nach einem Erfolg für den EU-Gipfel zum ge- planten Europäischen Beschäftigungspakt (EBP). EU-Ratspräsident Gerhard Schrö- Kunden der Charter-Tochter Condor. der weiß inzwischen, daß er die bislang von seinem Amt bekämpften EBP-Initiativen Die Verdichtung ist angeblich notwen- Lafontaines aufgreifen muß, will er beim Kölner EU-Gipfel wenigstens einen Akzent dig, um erwartete Umsatzeinbußen von seiner Präsidentschaft setzen. Lafontaine hatte vorgeschlagen, die EU-Staaten sollten 60 Millionen Mark aus der großzügige- an der Produktivitäts- und Preisentwicklung orientierte Lohnleitlinien („weiches ren Gestaltung der Business-Klasse aus- lohnpolitisches Monitoring“) vereinbaren. Schröder will diese Pläne zwar abmildern. zugleichen. Zusätzliche Sitze sollen Ihm ist aber klargeworden, daß zumindest ein „sozialer Dialog“ zwischen Finanzmi- auch in der Boeing 747-200 und in den nistern, Europäischer Zentralbank und Tarifpartnern, wenn überhaupt, als einziger kombinierten Passagier- und Frachtma- Fortschritt seiner Präsidentschaft übrigbleiben könnte. Die EU-Finanzminister haben schinen eingebaut werden. deshalb für Mai eine weitere EBP-Sondersitzung beschlossen.

der spiegel 12/1999 79 Medien

PUBLIC RELATIONS ters Roland Berger 600 Millionen Mark kosten könnte, soll als „Familienereig- Offensive für die Expo nis“ für ein „Massenpublikum“ ver- marktet werden. Vor allem bei großen it einem „Maßnahmenplan zur Anlässen wie der DaimlerChrysler- MKommunikation“ soll die Weltaus- Roadshow oder beim Münchner Okto- stellung Expo 2000 in Hannover aus den berfest soll pro Expo getrommelt wer- Negativschlagzeilen geholt und der den. Im Fernsehen wollen sich die PR- Ticketverkauf angekurbelt werden. Es Strategen an zehn Sendungen mit Max müsse bis Jahresende gelingen, „das öf- Schautzer beteiligen sowie an je zwei fentliche Ansehen positiv zu wenden“, ARD- und ZDF-Shows. Insgesamt sind heißt es in einem internen Konzeptpa- für die Marketingmaßnahmen, zu denen

THOMAS & THOMAS THOMAS pier. Die Veranstaltung, die den Steuer- die Komposition einer „Expo-Hymne“ Schautzer zahler nach einer Schätzung des Bera- gehört, 11,8 Millionen Mark eingeplant.

ZEITUNGEN FERNSEHEN Börsentips für Beamte Lewinsky umsonst irtschaft sei für sie nichts anderes Wals Betriebsratsarbeit – diesen al- it einer Welle von Fernsehinterviews ten Vorwurf an ihre Adresse will die Mder berühmtesten Ex-Praktikantin „Frankfurter Rundschau“ jetzt ausräu- der Welt will der Ullstein-Verlag das Buch men. Als eine der letzten großen Tages- „Monica Lewinsky – ihre wahre Ge- zeitungen verstärkt das linksliberale schichte“ vermarkten. Während RTL An- Blatt nun seinen Finanzteil. Wirtschafts- fang März noch geschätzte 300000 Mark journalist Christian von Hiller, von der für ein Mini-Interview zahlen mußte, ist „Welt“ abgeworben, soll zusammen mit die Lewinsky inzwischen umsonst zu ha- einem anderen neuen Kollegen den ben. Fest vereinbart sind bisher Auftritte zahlreichen Studienräten und Beamten im Sat-1-Frühstücks-TV am kommenden unter den Lesern Tips für die Kapitalan- Montag und bei „Boulevard Bio“ (Thema: lage bieten. „Selbst der Feuilleton- „Ist der Ruf erst ruiniert…“). Weitere TV- redakteur bei uns ist heute an Geldthe- Interviews sind geplant, wenn auch die Ge- men interessiert“, sagt Wirtschaftsres- sprächsdauer inzwischen auf Wunsch Le- sortleiter Jürgen Klotz. Die Ausweitung winskys drastisch verkürzt worden ist. soll helfen, den Auflagenstillstand bei Clintons Ex-Gespielin war bei ihrer Si- knapp 190000 Exemplaren zu überwin- gnierstunde im Londoner Edelkaufhaus den. Dem Springer-Blatt „Welt“ hat der Harrods in Tränen ausgebrochen, nachdem vor Monaten ausgebaute Finanzteil be- über 200 Fotografen und Reporter sie mit reits geholfen. Das habe „große Binde- intimen Fragen bedrängt hatten. Die Ver- kräfte“ geschaffen, sagte Chefredakteur anstaltung mußte unterbrochen werden. Matthias Döpfner intern auf einer Sit- Für ihre fünftägige Verkaufstour durch zung. Nach einer langen Stagnation Deutschland hat der Ullstein-Verlag zehn

werde das Blatt im ersten Quartal am Bodyguards engagiert, die Lewinsky vor B. BEIRNE / SYGMA Kiosk und bei Abonnenten 10000 Ex- den zudringlichen Massen schützen sollen. Lewinsky emplare mehr als im Vorjahr verkaufen.

KINO her 20th Century Fox stellte, wohl erst- rungen im Kino waren extrem erfolg- mals in der Filmvermarktung, gleich ei- reich: Viele Zuschauer kamen nur we- Ansturm aufs Internet nen ganzen Trailer (www.starwars.com) gen der Vorschau und schenkten sich ins Netz. Dort können Zuschauer vorab den Hauptfilm. Die Vermarktung der ber 16 Jahre mußten sich die Fans einen Blick auf Raumschiffe und Robo- Kultreihe setzt „Star Wars“-Schöpfer Üder „Krieg der Sterne“-Filme seit ter werfen. Auch erste Trailer-Vorfüh- George Lucas geschickt in Szene. Er hat dem letzten Teil („Die Rück- offenbar aus dem Flop des kehr der Jedi-Ritter“) gedulden. „Godzilla“-Remakes gelernt. Jetzt stürmen Millionen Anhän- Dessen Macher wollten die ger schon Wochen vor dem Ki- Neugier der Zuschauer durch nostart von „Star Wars – Epi- eine strenge Nachrichtensperre sode 1: The Phantom Menace“ beim Dreh und nur ein einzi- das Internet, um erste Häpp- ges Foto – von der Pfote des chen zu ergattern. Der Verlei- Ungetüms – schüren. Verge- bens: Der Film enttäuschte

Filmszene aus „Star Wars“ FILMLUKAS an den Kinokassen. 80 Geld

16 268,11 11 850 1430 1200 12 000 16 000 Nikkei-Index NTT 1150 Sony 1400 NEC Aktien in 11 000 Aktien in Yen Aktien in Yen 1100 Tausend Yen 1300 15 000 10 000 1200 1000 9000 14 000 8000 1100 900 855 Quelle: Datastream 13 000 13 232,74 7000 7390 1000 1019 Januar Februar März Januar Februar März Januar Februar März Januar Februar März

BÖRSE kappen wollen. Allgemeine Entwar- nung ist damit nicht gegeben. Für Ken Okamura, Anlage-Stratege bei Aufschwung in Tokio? Dresdner Kleinwort Benson in To- kio, deutet kaum etwas auf „eine war brach der japanische Aktienmarkt Ende voriger Woche stabile Erholung der Gesamtwirt- Zwieder ein. Viele Zeichen weisen aber nach oben; erstmals schaft“ hin: „Was bisher sichtbar ist, seit Sommer vergangenen Jahres übersprang der Nikkei-Index wurde durch riesige Beträge öffentli- deutlich die Marke von 16000 Punkten. Vor allem ausländische cher Gelder erkauft.“ Infolgedessen Anleger steigen in japanische Aktien ein. „Das könnte der Be- sei Japans Staatsverschuldung auf

ginn einer grundlegenden Wende sein“, sagt Tatsuro Inoue, „ein gefährliches Maß“ gestiegen. / SABA WAGNER T. Analyst beim japanischen Wertpapierhaus Daiwa in Tokio. Der strukturelle Umbau in den Fir- Idei Händler begründen ihren Optimismus mit praktisch auf Null men könnte zudem die Zahl der gesenkten Zinsen und dem schwachen Yen. Als Zugpferd der Arbeitslosen weiter in die Höhe treiben. Das dürfte die flaue Börsenerholung sieht Daiwa-Analyst Inoue vor allem Telekom- japanische Binnenkonjunktur zusätzlich dämpfen. Als weiterer Werte wie NTT. Auch Elektronik-Titel wie Sony und NEC le- Unsicherheitsfaktor für die Börse gilt am Markt die Entwick- gen kräftig zu: Die Ankündigung schmerzhafter Sanierungs- lung des Yen. Ausgerechnet die Erholung der Börse treibt den maßnahmen – Sony-Chef Nobuyuki Idei will weltweit 17000 Yen gegenüber dem Dollar „auf perverse Weise“ (Okamura) in und NEC 15000 Stellen abbauen – begrüßt der Analyst als Hin- die Höhe. Denn um in Tokio zu investieren, müssen ausländi- weis, daß Nippons Firmen nunmehr ernsthaft Überkapazitäten sche Anleger zunächst Yen kaufen.

NEUER MARKT Telefonaktien am Neuen Markt GELDANLAGE in Euro Star mit Phantasie 450 Tatwaffe Telefon och vor kurzem zogen die Tele- 400 Mobilcom eratung per Telefon ist grundsätz- Nkommunikationswerte den Neuen 350 Blich verboten. Das bestätigte der Markt nach oben, jetzt drücken sie 300 Bundesgerichtshof (BGH) in der ver- den Index der Wachstumsbörse eher 250 gangenen Woche. Nach dem höchstrich- nach unten. Mobilcom, einer der Stars terlichen Urteil sind sogar Klauseln, in 200 dieses Börsensegments, verlor seit dem denen sich Bankkunden mit einer tele- Höchstkurs im Januar 38 Prozent, auch 150 fonischen Beratung einverstanden er- die Kurse von Teldafax (minus 22 Pro- 200 klären, unzulässig. „Besonders schwer- zent) und Drillisch (minus 29 Prozent) wiegend“ sei die Beeinträchtigung der gaben nach. „Der Wettbewerb wird 180 Drillisch verfassungsrechtlich geschützten Pri- langsam ernst“, meint Harald Schmidt, 160 vatsphäre, begründen die Richter, die Analyst bei der Commerzbank, „und 140 Anrufe seien „ein grober Mißbrauch“ im Zweifelsfall hat die Telekom den län- des Telefonanschlusses. Die Angerufe- 120 geren Atem.“ Für die wettbewerbswich- nen könnten sich „häufig nur unter Ver- tigen Ferngespräche genehmigte die Re- 100 letzung der Regeln der Höflichkeit“ ei- gulierungsbehörde der Telekom gerade 80 ner „massiven Einflußnahme“ entzie- erst neue Billigtarife. Derartige Kampf- Quelle: hen. Das Urteil erschüttert eine schnell preise sind in den Augen der Analysten 60 Datastream wachsende Branche. Immer häufiger zwar zumindest für die Mobilcom nicht versuchen Firmen, über „Call-Center“ 50 existenzbedrohend – jedoch könnten Teldafax ahnungslosen Kunden oftmals riskante sie die Gewinne des Unternehmens 40 Geldanlagen aufzuschwatzen. Auch deutlich schmälern. Die kleineren Fir- wenn die Telefonwerbung unzulässig men Teldafax und Drillisch haben mehr 30 ist, sind die Überrumpelten zumeist an zu kämpfen. Sollte die Telekom ihre die mündlich geschlossenen Verträge 20 Niedrigpreispolitik fortsetzen, ist deren 1998 1999 gebunden. Bei einem Widerruf gilt die Substanz als erstes aufgebraucht. JASONDJFM kurze Frist von einer Woche.

der spiegel 12/1999 81 Wirtschaft

BÖRSE „Wie in einer Lotterie“ Ein beispielloser Börsenboom treibt die amerikanischen Aktienkurse in immer neue Höhen – und weite Teile der Bevölkerung spekulieren mit. Die Euphorie hat sich längst von der Realität abgekoppelt, die Gefahr eines Rückschlags wächst.

ie Trader auf dem Handels- parkett rissen die Arme Dempor, von der Balustrade der New Yorker Börse rieselte Konfetti. In den Banktürmen ne- benan jubelten die Manager, im ganzen Land ließen Tausende die Champagnerkorken knallen: Wie- der war Amerika um ein paar hundert Millionen Dollar reicher geworden. So war es vergangenen Dienstag jenseits des Atlantiks, als der Dow- Jones-Börsenindex erstmals die 10 000-Marke erreichte. Daß der Dow zum Wochenende unter der magischen Marke schloß, störte da nur wenig. So geht es nun schon seit 17 Jah- ren: In einem beispiellosen Boom treiben Aktionäre die Kurse an der Wall Street von einem Rekord zum nächsten, als gebe es für sie nur eine Richtung: nach oben. Brauchte es noch 76 Jahre, um den wichtigsten Kapitalismus-In- dikator der Welt auf 1000 Punkte zu bringen, schaffte das Börsen- volk den nächsten großen Meilen- stein in lediglich 27 Jahren.Als hät- ten die Börsianer ihre eigene Mill- ennium-Party bereits hinter sich, begannen sie vergangene Woche mit einer neuen Zeitrechnung: der Ära nach Dow 10000. Was für viele lediglich wie eine neue Zahlenfolge im Börsenkasino aussieht, war für die Aktienge- meinde ein historischer Gipfellauf: „Es war, wie den Mount Everest zu stürmen“, erklärt der Vermö- gensverwalter David Sowerby aus Detroit: „Du guckst runter und sagst dir: Ich bin verdammt hoch in den Bergen. Und dann wirst du ziemlich nervös.“ TV-Sender, Zeitungen und In- ternet-Programme begleiteten den Sturmlauf, als ging es um ein Foot- ball-Endspiel. Mit heiseren Stim- men berichteten Reporter vom Tradingfloor. Nie zuvor gab es ei-

* Am Dienstag vergangener Woche, als der M. ERWITT Dow-Jones-Index erstmals auf 10000 stieg. Jubelnde Händler an der Wall Street*: „Amerika schäumt über“

82 der spiegel 12/1999 nen solchen Rummel um ein Finanz-Ju- senberg beeinflussen über die biläum. Höhe der Leitzinsen Wachstum Magische Punkte Der Höhenrausch der Wall Street mar- und Börsenwohlstand in der Die Entwicklung kiert einen weiteren Schritt auf dem Weg ganzen Welt. Längst definie- des Dow-Jones-Index in ein neues Wirtschaftszeitalter. Drama- ren sie die Richtung der Fi- tisch hat sich in den vergangenen Jahren nanzpolitik – und nicht das Herrschaftsgefüge in Politik und Öko- mehr Minister. Doch mehr nomie verschoben. Noch nie gab es so vie- und mehr beeinflussen auch le Aktionäre – und noch nie hatten Ak- entfesselte Spekulanten die tionäre soviel Macht. Finanzmärkte. Vergangene Noch 1984 hatten gerade 18 Prozent der Woche forderte die Bundes- Amerikaner ihr Geld in Aktien oder Fonds bank eine stärkere Kon- gesteckt, heute spekuliert fast die Hälfte trolle der sogenannten der Nation. Um über zehn Billionen Dollar Hedge-Fonds, der be- 8000 stieg das Aktienvermögen in dieser Zeit, 34 sonders risikoreichen Millionen neue Jobs und nahezu 11 Millio- Fonds wohlhabender nen neue Unternehmen entstanden. Zocker, die manch- 7000 Ein regelrechter Börsenrausch ließ die mal innerhalb von Aktienfonds und Depots anschwellen. Minuten Milliar- 6000 den Dollar Umsatz, 29000 Mitarbeiter), ist Selbst im vergangenen Jahr, als die halbe den Dollar anle- heute rund 435 Milliarden Dollar wert, Welt in der Krise versank, steckten Ame- gen und wie- 5000 mehr als die großen deutschen Konzerne rikaner noch 159 Milliarden Dollar in Ak- der abzie- Telekom, DaimlerChrysler, Mannesmann, tienfonds, 27mal soviel wie 1984. hen. SAP, Bayer, Metro, Siemens und Hoechst Wie ein riesiger Magnet zieht der Ak- 4000 gemeinsam (zusammen 387 Milliarden tienmarkt neue Millionen an. Dollar Umsatz, 1,3 Millionen Mitarbeiter). Die großen Lebensversi- 3000 Schon einmal gab es in der vergange- cherer müssen Geld in nen Dekade ein ähnliches Ungleichge- Aktien stecken. 2000 wicht: als das Gelände um den Kaiserpalast in Tokio soviel wert war wie ganz Kalifor- 1000 nien. Ein paar Monate später war es mit Quelle: Datastream dem Spekulantenrausch in Japan vorbei, die Wirtschaft sackte in die Rezession, die 1980 1985 1990 1995 1999 Aktienkurse sanken über neun Jahre. Der amerikanische Boom hat nicht nur Die früher üblichen Anlagen in Anleihen Was der Börse schadet, hemmt Wohl- dem Microsoft-Gründer Bill Gates ein reichen nicht mehr für eine anständige stand und Fortschritt, lautet die oberste Vermögen von rund 90 Milliarden Dol- Rendite. Immer neue Länder, zuletzt Ka- Leitlinie der neuen Politik, und auf den er- lar verschafft, er hat auch Millionen nada, koppeln Teile der Altersversorgung sten Blick scheint die Rechnung aufzuge- Kleinaktionäre reich gemacht, die nun ei- an die Börse, um die Renten zu sichern – hen: Während die Wirtschaft in Europa weitere Milliarden für Aktien. lahmt, in Asien und Südamerika Rezession Eine gewaltige Industrie ist heute damit herrscht, läuft die Wirtschaft im Mutter- beschäftigt, die Börsenkurse nach oben land der Aktionäre auf höchsten Touren. zu treiben. Investmentbanker drängen Vier bis fünf Prozent Wachstum pro- Konzernchefs zu Großfusionen und ver- phezeien die Ökonomen den Amerikanern dienen nicht nur an den Gebühren, son- für das erste Viertel dieses Jahres, über dern auch noch am Kursgewinn. Ein Heer eine halbe Million neue Arbeitsplätze wer- von Börsenanalysten steht ihnen zur Sei- den wohl entstehen, und das Ganze fast te, eine zuweilen obskure Spezies, die mit ohne Inflation: Amerika, du hast es besser? Ratings und Kaufempfehlungen das Bör- Doch was aussieht wie ein neues Wirt- senfieber anheizt. schaftswunder, steht auf zunehmend wack- Eine neue Aktionärsgesellschaft ent- liger Basis. Die derzeit stärkste Ökonomie steht, sie verspricht schnellen Reichtum, der Welt wird vorangetrieben von einer aber auch erheblich mehr Ungleichheit. Börseneuphorie, die längst ein Eigenleben „Gegen diese Herausforderung“, sagt Jes- entwickelt hat. Das Geschehen an der Wall sica Mathews, Chefin der einflußreichen Street gleicht zusehends einem Kasinobe- US-Denkfabrik Carnegie Endowment, trieb, nur daß die Profis hier nicht Hundert- „war die industrielle Revolution eine Dollar-Jetons bewegen, sondern Millio- Kleinigkeit.“ nenbeträge. Im „Zeitalter des Kapitals“ („News- „Wie in einer Lotterie“ gehe es an der week“) gewinnt eine neue Kaste von Fi- Börse zu, warnte vor einigen Wochen be- nanzmonarchen, kaum demokratisch kon- reits Zentralbankchef Greenspan, doch sei- trolliert, immer mehr Macht. Direktoren ne Mahnung blieb ohne Wirkung. Seit Jah- mächtiger Aktienfonds dirigieren Strate- ren wachsen die Kurse schneller als die gie, Budgets und Arbeitsplätze in Kon- Gewinne der Unternehmen, immer rea- zernen, die Manager müssen sich beugen litätsferner wird die Bewertung amerika- oder gehen. nischer Firmen – aber aussteigen will of-

Finanzbürokraten wie der amerikani- fenbar kaum jemand. OSSENBRINK F. sche Zentralbankchef Alan Greenspan Das teuerste Unternehmen der Welt, der Zentralbankchef Greenspan oder sein europäischer Kollege Wim Dui- Software-Konzern Microsoft (14,5 Milliar- Mahnungen ohne Wirkung

der spiegel 12/1999 83 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft nen Teil ihrer Gewinne wieder ausgeben. Minuten oder ein paar Stunden später wie- verbiestert an ihren Mahnungen fest, ob Längst treibt das Kursgeschehen an der der ab, um an minimalen Kursschwankun- sie nun gerechtfertigt sind oder nicht. Ed Wall Street die Wirtschaft des Landes gen zu verdienen. Was die Firmen produ- Yardeni, Chefökonom der Deutschen Bank voran und nicht umgekehrt – wie es ei- zieren oder ob sie Gewinne machen, in- in New York und sein Kollege Barton Biggs gentlich in einer gesunden Ökonomie der teressiert sie nicht, entscheidend ist das von Morgan Stanley warnen seit langem Fall sein sollte. „Momentum“, der Schwung hinter einer vor einem Börsencrash und einem Kurs- Das Wachstum jenseits des Atlantiks kurzfristigen Kursbewegung. rückgang von bis zu 30 Prozent – doch wer wird derzeit fast ausschließlich von der Die Stimmung wird angeheizt von ob- deshalb seine Aktien verkaufte, hat einen Kaufwut der Konsumenten angetrieben. skuren Online-Gurus, die ihre Tips in In- großen Teil des Booms verpaßt. Noch nie haben die Amerikaner, die tradi- ternet-Chat-Rooms verbreiten und damit Sollte es tatsächlich, wie die Pessimisten tionell wenig sparen, sowenig Geld zur Sei- Meuten von Online-Tradern, darunter zu- prophezeien, schon in der zweiten Hälfte te gelegt wie heute. Nahezu sämtliche Ein- nehmend auch Schüler, in Bewegung set- dieses Jahres zu einem dramatischen Kurs- künfte werden sofort wieder aus- gegeben: für Häuser,Autos, Reisen und immer wieder Aktien. Der Konsumrausch kommt nicht nur der US-Ökonomie zugute, son- dern allen Exportnationen der Welt. Noch nie war das amerika- nische Handelsdefizit so hoch wie im vergangenen Jahr (168,6 Mil- liarden Dollar) – und noch immer steigt es weiter. „Amerika schäumt über“, warn- te bereits vor knapp einem Jahr der britische „Economist“. Seitdem sind die Aktienkurse um weitere zehn Prozent hochgeklettert, ha- ben die Warnsignale für ein abrup- tes Ende der Börsenparty weiter zugenommen: zweifelhafte Fusio- nen und eine rasch wachsende Geldmenge, für Ökonomen ein wichtiger Risikoindikator. Eine Orgie der Spekulation ist in Gang gekommen, in die sich im- mer mehr Amerikaner hineinzie- hen lassen. Täglich kündigen An- gestellte ihren Job und widmen TV-Reporterin an der New Yorker Börse: Sogar in Fitneßzentren flimmern die Kursdaten sich fortan dem Börsenhandel per Internet, einer vermeintlich lukrativeren zen – auf daß sich die Kurse in die ge- abstieg kommen, könnte das fatale Folgen Methode des Broterwerbs. wünschte Richtung bewegen. Sie geben haben. Noch nie war die Weltwirtschaft so Sieben Millionen Amerikaner handeln sich Namen wie Tokyo-Park, oder sie ge- abhängig von der Wall Street. bereits online von ihrem Schreibtisch aus, hen noch zur Schule – wie der 15 Jahre Ein länger anhaltender Kursrückgang wo ein Mausklick hunderttausend Dollar alte Daniel Miller, der eine eigene Aktien- könnte die amerikanischen Konsumenten bewegen kann, sekundenschnell und na- Seite im Internet betreibt und seine rasch verschrecken. Statt munter Geld auszuge- hezu ohne Gebühren. Standen früher noch wachsende Fan-Gemeinde in den Unter- ben, würden sie plötzlich sparen – und da- vor jedem Deal professionelle Broker, die richtspausen mit Tips versorgt. mit die Umsätze der Unternehmen ab- den Anleger vor allzu erratischen Manö- Immer wichtiger wird schiere Psycholo- würgen. Die Börsenkurse würden weiter vern warnen konnten, nehmen heute im- gie, immer empfindlicher reagieren die sinken – eine fatale Abwärtsspirale könn- mer mehr das Geschäft in die eigene Hand. Börsianer, immer absurder werden ihre In- te in Gang kommen, deren Folgen in der Aktienhandel ist Popkultur geworden wie dikatoren und immer spekulativer ihr Ge- ganzen Welt zu spüren wären. die Rolling Stones, Apple-Computer oder schäft. TV-Kameras verfolgen Zentral- Wenn der Dollarstrom aus Amerika ver- Coca-Cola – nur daß immer mehr davon bankchef Greenspan vor jeder wichtigen siegt, droht eine weltweite Rezession un- süchtig werden. Sitzung seines Gremiums auf dem Weg zur geahnten Ausmaßes. Eine gigantische Medienmaschine treibt Arbeit – um den „Aktentaschenindikator“ Börsenhistoriker verweisen auf die Ge- den Hype an. TV-Sender berichten rund zu ermitteln. schichte: Als der Dow-Jones-Index im Ja- um die Uhr von den Weltfinanzmärkten, Trägt der mächtigste Bankier der Welt nuar 1966 für wenige Minuten erstmals die Tageszeitungen und Geldmagazine mit eine prallgefüllte Mappe mit sich, deutet 1000-Punkte-Grenze überschritt, dauerte Millionenauflage versorgen das Spekulan- dies auf eine turbulente Sitzung hin, so es weitere 16 Jahre, bis der Index stetig tenheer mit Informationen. Sogar in Fit- interpretieren Wall-Street-Astrologen. über der Marke lag. Das könnte sich, so un- neßzentren flackern Monitore mit aktuel- Prompt geraten die Kurse in Bewegung. Ist ken einige, nun wiederholen. len Kursdaten, auf den Straßen der Metro- die schwarze Tasche flach, beruhigt sich Der Ökonom Lawrence Kudlow hält da- polen tragen viele Taschenempfänger am die Stimmung: Mit einer Zinsänderung sei gegen ein anderes Szenario für wahr- Gürtel: Sie zeigen Aktienkurse und pie- nicht zu rechnen. scheinlich: „Im Jahr 2020 wird der Index pen bei abrupten Ausschlägen. In dem wirren Marktgeschrei helfen 50000 Punkte erreichen, die 10000-Marke Zehntausende betätigen sich mittler- auch die Profis immer seltener weiter. Bro- wird dann lediglich ein kleiner Strich in weile als sogenannte Daytrader. Sie stecken ker und Analysten widersprechen sich, än- einer langen Reihe sein.“ Geld in Aktien und ziehen es Sekunden, dern munter ihre Prognosen oder halten Mathias Müller von Blumencron

der spiegel 12/1999 85 Werbeseite

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Mehrheit, die CLT-Ufa begnügt sich mit fünf Prozent. Und auch darauf handelte TV-KONZERNE sie eine Verkaufsoption aus. Prompt machte Kirch, der Premiere aus Hamburg verlagern und mit seinem defi- Ende einer Ehe zitären, viel kleineren Pay-Unternehmen DF 1 (320 000 Kunden) verzahnen will, Spektakuläre Scheidung im deutschen Fernsehen: Leo Kirch neue Partnerschaften fest. In sein Reich steigen Berlusconis Kon- setzt mit neuen Partnern auf Pay-TV, der bisherige Verbündete zern Fininvest sowie der saudische Prinz Bertelsmann dagegen auf werbefinanziertes Fernsehen. Al-Walid ein, ein finanzstarker Investor, der unter anderem am Disneyland in Paris n diesen Tagen sitzen die wichtigsten übernahme bei Super RTL und RTL 2. beteiligt ist. Sie übernehmen für zusam- Manager des deutschen Privatfernse- Kirch hingegen sieht das Abonnentenfern- men 750 Millionen Mark 6,4 Prozent der Ihens noch öfter als gewohnt im Flug- sehen als neues Schwergewicht: mit rund Holding Kirch Media, in der Free-TV, Pro- zeug. Für Gespräche mit Geschäftspart- vier Millionen Kunden in fünf Jahren, die duktion und Filmhandel organisiert sind. nern,Anwälten und Kartellwächtern jetten für exklusive Programme wie etwa Ten- Knapp 400 Millionen investiert Berlus- sie durch die Gegend. nisspiele aus Wimbledon oder Vorabpre- conis Fernsehtochter Mediaset in eine neue Am vergangenen Mittwoch zum Beispiel mieren von Kinohits extra Geld bezahlen. Gemeinschaftsfirma mit Kirch Media, die waren Emissäre des Gütersloher Medien- Schon am Freitag der vorvergangenen zum europäischen TV-Konzern reifen soll. konzerns Bertelsmann und des Münchner Woche wurden die entscheidenden Signa- Sie übernimmt beispielsweise 29 Prozent Filmkaufmanns Leo Kirch beim Bundes- le für den Weg in die deutsche TV-Zukunft von Kirchs Sender Sat1 sowie die Produk- kartellamt in Berlin. Sie informierten die gesetzt. Da besiegelte Bertelsmann – per tions- und Lizenzfirma Beta Film, eine 6. Beschlußabteilung über ihre Pläne. Unterschrift unter ein „shortform agree- Keimzelle des Kirch-Konzerns. Freitags düsten die Kirch-Leute allein ment“ – den Ausstieg aus dem Pay-TV,das Alte Anlaufverluste von zwei Milliarden nach Mailand zu ihrem Freund Silvio Fernsehvorstand Michael Dornemann Mark beim deutschen Abonnentenfernse- Berlusconi, dem Herrscher über Italiens noch 1998 als wichtigen Wachstumsmarkt hen muß Kirch wohl abschreiben. Der schon Privatfernsehen. Diese Woche, beim No- ansah. Nun übernimmt Kirch beim bislang so oft für fast pleite erklärte Medienunter- tartermin im schweizerischen Basel, sind gemeinsam gehaltenen Abo-Kanal Pre- nehmer, der Banken rund drei Milliarden die Bertelsmänner dann wieder dabei. miere (1,7 Millionen Abonnenten) die Mark schuldet, beginnt kurzerhand noch Das Ergebnis der Vielfliegerei mal von vorn: mit zwei Millionen ist eine grundlegende Neuord- Abonnenten und neuem Kapital nung der deutschen TV-Land- von Berlusconi & Co. schaft. 15 Jahre nach Start des „Wir setzen weiter auf den Kommerzfernsehens haben sich zukunftsträchtigen Markt“, sagt endgültig zwei riesige Blöcke for- Kirchs Vizechef Dieter Hahn. Es miert, die den Markt dominieren. werde eine Verschiebung attrak- Bertelsmann setzt mit seinem tiver Inhalte ins Pay-TV geben: Luxemburger 50-Prozent-Ableger „Die Vielfalt im werbefinanzier- CLT-Ufa ganz auf das herkömmli- ten Fernsehen geht zurück.“ In che werbefinanzierte Fernsehen Kirchs Imperium, zu dem etwa („Free-TV“). Es soll zum profita- auch das Deutsche Sport-Fernse- belsten Geschäftsfeld im Konzern hen gehört, können Film- und ausgebaut werden, mit einer neu- Sportrechte nun wie Steine bei

en Senderfamilie rund um RTL in EINBERGER / ARGUM T. DPA einem Mühlespiel hin und her ge- Köln. Geplant ist die Mehrheits- TV-Unternehmer Kirch Konzernchef Middelhoff schoben werden. Und: Da sein Sohn Thomas weitere TV-Statio- Die Ufa-Stars Fernsehsender im Besitz der CLT-Ufa nen wie Pro Sieben kontrolliert, kommt ein Hollywood-Studio Anteil derzeit 33,4%, geplant über derzeit 50%, geplant 89% 50% 100% 24,9% beim Verkauf von Filmen kaum an Kirch vorbei. RTL2 bislang Diese Einkaufsmacht ist das Bauer Verlag 32,2% Hauptproblem für die Bertels- Sonstige Eigner: Tele München Bet. bislang News Corporation männer. Da im Filmhandel die BW TV und Film KG (Disney/Kloiber) 32,2% Buena Vista TV (Rupert Murdoch) 49,9% GmbH (Bertels- Burda 1,1% Investments Canal plus 24,9% „All-rights-deals“ zunehmen, bei mann und WAZ) 11% FAZ 1,1% (Disney) 50% DCTP 0,3% denen die Gesamtrechte von Vi- deo über Pay-TV bis hin zum Start 1984. Erster Start 1993. Überwie- Start 1995. Zielgruppe: Start 1993. Ursprüng- normalen Fernsehen auf einen deutscher Privatsender. gend Zweitverwertung von Kinder und Eltern, ent- lich als anspruchsvolles Schlag verkauft werden, müssen 1993 bis 1997 Markt- RTL-Serien und Spielfilmen. sprechendes Familien- Nachrichten- und Informa- sie Kirchs Kette fürchten. führer. Eigenproduktionen wie programm, sehr viele tionsprogramm konzipiert, Um von Hollywood nicht völ- 330 Reportage- und Erotik- Disney-Produktionen. hat Vox den Schwerpunkt 290 magazine. auf Unterhaltung verlagert. lig abgeschnitten zu werden, han- delte die Konzerntochter CLT- 204 169 Geschäftsergebnis Ufa einen Zehn-Jahres-Vertrag 143 vor Steuern, *Angaben für 1999 geschätzt, für Lieferungen von Filmen und in Millionen Mark* 14 17 Ergebnisse bei Vox nach Steuern Fußballrechten an Kirchs Abon- –47 –50 nentenfernsehen aus. So kann –65 –61 –76 –63 –61 –6 –89 –81 –10 –96 –29 Vorstand Dornemann auch künf- 95 96 97 98 99 95 96 97 98 99 95 96 97 98 99 95 96 97 98 99 tig bei den US-Filmriesen mit ei-

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Werbeseite Wirtschaft ner eigenen Pay-Verwertungsschiene auf- ler noch bessere Zahlen. Bei dem Boule- warten. vardsender, den Zeilers Vorgänger Helmut Doch an die ganz große Zukunft des Thoma einst wie ein Fürst regiert hatte, Abonnentenfernsehens in Deutschland gilt inzwischen eiserne Kostendisziplin. glauben die Bertelsmänner nicht mehr. „Es Das Programm richtet Zeiler ganz auf ist zu einem hochriskanten Glücksspiel die von der Werbewirtschaft hofierten 14- geworden“, sagt CLT-Ufa-Vorstandschef bis 49jährigen aus – selbst um den Preis, Rolf Schmidt-Holtz. Erst in fünf, sechs Jah- daß die 1998 an die ARD verlorengegan- ren mache Kirch im Pay-TV Gewinn. gene Marktführerschaft bei allen Zu- Der Sender Premiere, der 1991 immer- schauern wieder verfehlt wird. hin von Bertelsmann initiiert wurde, sei im Seiner Bilanz hilft auch die engere An- Geschäftsfeld des Konzerns nur ein „klei- bindung an RTL 2 und Super RTL. Die ner Fliegendreck“, rutschte es Vorstands- nahmen RTL 1998 Programme im Wert von chef Thomas Middelhoff öffentlich heraus. 120 Millionen Mark ab, etwa die „Dirk- Er hatte die ständige Kabale mit Kirch und Bach-Show“ oder „Miami Vice“. den Ärger mit den Kartellbehörden satt Künftig sollen die drei Sender in einer und betrieb das Ende der zerrütteten Ehe. Familie eng kooperieren – bei der Planung Die Zukunft liegt für ihn im Internet. von Programmen, dem Einkauf von Rech- Die Übertragungstech- nik soll in drei, vier Jah- Premiere für Kirch ren so weit entwickelt sein, daß am Computer CLT-Ufa Leo Kirch Thomas Kirch Bewegtbilder in guter Pro Sieben Qualität zu empfangen neu: neu: 58,4% sind – und die Kunden 5% über 50% Media AG auf diesem Weg gegen (vorher 37,5%) (vorher 25%) Gebühr Spielfilme abru- fen. Über AOL TV,einem PRO geplanten Ableger im SIEBEN 100% Online-Bereich von Ber- TV Berlin telsmann, sollen Dutzen- 40% de von Fernsehkanälen TV München angeboten werden. So beschloß Middel- 100% 59% hoff den Ausstieg. Dem anderen Hauptgesell- schafter von CLT-Ufa, 100% dem belgischen Finan- Deutsches Sportfernsehen zier Albert Frère, waren die Lasten beim Aufbau des Pay-TV ohnehin viel zu hoch gewesen. ten und dem Verkauf von Spots an Werbe- Die CLT-Ufa kassiert von Kirch, zahlbar in kunden. Monatelange Gespräche der CLT- zwei Raten bis Jahresende, rund 1,2 Mil- Ufa mit dem Disney-Konzern und dem liarden Mark für 32,5 Prozent der Premie- Filmhändler Herbert Kloiber über den Er- re-Anteile. Bei Anlaufverlusten der Ber- werb von Anteilen an Super RTL und telsmänner von 600 Millionen Mark im Pay- RTL2 sollen bald zum Erfolg führen. Da- TV sei das eine „profitable Desinvestition“, mit wäre die Bertelsmann-Mehrheit gewiß. sagt Dornemann. Im Klartext: Der Ausstieg Der Konzern könnte zentral drei Sender zahlt sich aus. lenken. Die so möglichen „hohen Ver- Die vom teuren Bezahlfernsehen be- bundgewinne“ sind von der Luxemburger freite CLT-Ufa will nun aus 40 Millionen CLT und der Bertelsmann-Firma Ufa bei Mark Gesamtverlust innerhalb von drei ihrer Fusion vor fast drei Jahren unter dem Jahren über eine halbe Milliarde Mark Ge- Stichwort „Optimierung der Senderfami- winn machen – und künftig etablierte Fir- lie“ ausführlich beschrieben worden. Nach men akquirieren, etwa Fußballclubs. „Die dem Investitionsantrag des Bertelsmann- Trennung von Premiere macht unser Leben Vorstands vom Juli 1996 könne künftig „die einfacher“, sagt CLT-Ufa-Chef Schmidt- Zielgruppenorientierung der Sender Su- Holtz: „Wir können verläßlicher planen.“ per RTL, RTL 2 und auch Vox besser auf- Vor allem bei ihrem Hauptsender RTL einander abgestimmt werden“. Nun soll sehen die Bertelsmänner noch reichlich schon bald in Köln rund um RTL der neue Spielraum. Die Berater von McKinsey ha- Fernsehriese entstehen, ohne Vox, wo Ber- ben für ein solches etabliertes Vollpro- telsmann nur Juniorpartner ist. gramm eine leicht mögliche Umsatzrendi- Für das Programm – Seifenopern, Rühr- te von zehn bis zwölf Prozent errechnet. serien, Kinofilme und Talkshows – wollen Die verfehlte der Kanal früher. 1998 aber die Bertelsmänner selbst sorgen. Der weit- kam er mit 290 Millionen Mark Vor-Steu- aus größte Teil sei „homemade“, sagt CLT- er-Gewinn bei einem Nettoumsatz von 2,34 Ufa-Vorstand Ewald Walgenbach: „Wir Milliarden Mark in die Zielzone. Und für sind unabhängiger von Kaufprodukten ge- 1999 signalisierte RTL-Chef Gerhard Zei- worden.“ Hans-Jürgen Jakobs

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KARRIEREN „Das tut richtig weh“ Automobilmanager Wolfgang Reitzle über seinen abrupten Abgang bei BMW und seinen neuen Job bei Ford

Reitzle, 50, war 13 Jahre lang BMW-Vor- aufklären, wie es zu dem überraschenden stand und wird künftig von London aus Ergebnis kam? die Luxusmarken des US-Automobilher- Reitzle: Nein, nicht wirklich, denn bei der stellers Ford leiten. Diskussion von Personalangelegenheiten im Aufsichtsrat sind Vorstandsmitglieder SPIEGEL: Herr Reitzle, fahren Sie noch ei- nicht dabei. Wir haben stundenlang in an- nen BMW, oder haben Sie sich schon ein deren Büros gesessen und auf das Ergebnis Modell aus der Palette Ihres neuen gewartet. Arbeitgebers Ford herausgesucht, einen SPIEGEL: Warum sind Sie zurückgetreten? Jaguar oder einen Volvo? Reitzle: Weil mir dargelegt wurde, daß es Reitzle: Ich fahre immer noch einen eine Blockade in der Diskussion des Auf- BMW M5, den ich am liebsten behalten sichtsrats gegeben hat. Nachdem der Vor- würde, weil es ein Traumauto ist. Und ich standsvorsitzende Bernd Pischetsrieder

habe noch ein sechs Jahre altes BMW- zurückgetreten war, haben sich die Ar- R. BRAUN Coupé, an dem ich sehr hänge. beitnehmer gegen meine Berufung zum Ford-Manager Reitzle SPIEGEL: Das klingt nach einem versöhnli- Vorstandsvorsitzenden ausgesprochen. „Für mich zählt die Herausforderung“ chen Abschied. Und dann sah ich keine andere Möglich- Reitzle: Die Trennung von einer so einzig- keit, als den Rücktritt einzureichen. Denn Zusammenarbeit von Vorstand und Be- artigen Firma wie BMW nach 23 Jahren jede andere Konstellation, die Ernennung triebsrat. Den Konzern gegen den Willen tut richtig weh. Da werden alle Fasern eines anderen Vorsitzenden, wäre für mich der Arbeitnehmervertreter zu führen wäre plötzlich zertrennt, die einen Jahrzehnte nicht akzeptabel gewesen. Schließlich ha- gerade in einer schwierigen Phase kaum mit seinem Umfeld auch emotional ver- ben intern wie extern so gut wie alle mit möglich gewesen. Mich hat die Situation bunden haben. Das kann man schwer be- meiner Ernennung gerechnet. überrascht, weil ich nie den Eindruck hat- schreiben. SPIEGEL: Warum hat der Aufsichtsratsvor- te, daß mein Verhältnis zum Betriebsrat SPIEGEL: Der 5. Februar, als nach einer sitzende Eberhard von Kuenheim Sie nicht schlecht war. chaotischen Aufsichtsratssitzung der bis- mit seinem Doppelstimmrecht durchge- SPIEGEL: Ist es nicht nachvollziehbar, daß herige BMW-Chef Bernd Pischetsrieder setzt? die Arbeitnehmervertreter gegen Sie und Sie das Unternehmen verließen, gilt in- Reitzle: BMW ist ein im Konsens geführtes waren, weil Sie einen harten Sanierungs- tern als „schwarzer Freitag“. Können Sie Unternehmen mit einer hervorragenden kurs für Rover forderten, der sogar die Schließung des Werks Longbridge mit 14000 Arbeitsplätzen beinhaltete? Reitzle: Mein Sanierungsplan für Rover sah keineswegs die Schließung des Werks vor, wohl aber ein starkes Herunterfahren. Die Probleme bei Rover müssen gelöst wer- den, weil sie das Ergebnis des gesamten Konzerns enorm belasten. Und da ist es besser, konsequent heranzugehen, als die Schwierigkeiten immer wieder nur zuzu- decken. Das ist wie bei einer schweren Krankheit. Notfalls muß man auch eine Operation oder gar Amputation durch- führen, um das Leben zu retten. SPIEGEL: Hatten Sie das Angebot von Ford schon in der Tasche und haben bei BMW bewußt hoch gepokert: entweder Chef oder gar nichts? Reitzle: Absolut nicht. Ich habe mich an diesem Freitag nur auf eines eingestellt, was mir Tage zuvor unmißverständlich signalisiert worden war … SPIEGEL: … daß Sie Vorstandsvorsitzender würden … Reitzle: … und habe ein komprimiertes Strategiepapier für die Lösung der Proble- me mit in die Aufsichtsratssitzung genom-

DPA men, um es dort zu präsentieren. Ich habe Aston-Martin-Präsentation: „Edelmarken brauchen Freiraum“ an nichts anderes als an BMW gedacht.

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SPIEGEL: Was wird Ihre Aufgabe im Ford- Konzern sein? Reitzle: Ich werde eine neue Division lei- ten, die Premier Automotive Group, die ihren Sitz in London haben wird.Von dort werden die vier Luxusmarken des Ford- Konzerns, Lincoln, Aston Martin, Jaguar und Volvo, gesteuert. Ich werde Chairman von Jaguar, wozu auch Aston Martin gehört, und von Volvo sein. SPIEGEL: Ihr neuer Arbeitgeber hat in der Oberklasse bislang kaum eine Rolle ge- spielt. Der Ford Scorpio wurde eingestellt, Jaguar erwirtschaftete jahrelang nur Ver- luste, und Aston Martin verkaufte im ver- gangenen Jahr gerade mal 600 Sportwa- gen. Wie will der Konzern gegen BMW oder Mercedes-Benz antreten? Reitzle: Jaguar hat den Turn-around längst geschafft, ist in Qualität und Zuverlässig- keit hervorragend, hat dies nur noch nicht nachhaltig genug kommuniziert. Aston Martin war für mich schon lange die fein- ste Sportwagenmarke der Welt. Das Poten- tial dieser Marke geht weit über die heuti- gen Stückzahlen hinaus. Und Volvo hat eine klare Identität, steht für Sicherheit, Zuverlässigkeit, Robustheit. Die Voraus- setzungen für eine gute Entwicklung sind gegeben. SPIEGEL: Warum drängen Massenhersteller wie VW durch die Übernahme von Bent- ley und Lamborghini oder Ford mit Jaguar in die Luxusklasse? Reitzle: Im Massengeschäft gibt es einen massiven Verdrängungswettbewerb, der von einem Preisverfall begleitet ist. Hier verdient heute fast keiner ausreichend Geld. Rentabel sind Marktnischen wie die der Geländewagen, Pick-ups, Minivans und Sportwagen und die Premiummarken wie Mercedes-Benz, BMW, Audi und Volvo. Jeder will deshalb seinen Anteil am Pre- mium- und Nischengeschäft erhöhen. SPIEGEL: Bislang hat es Massenhersteller nur viel Geld gekostet, wenn sie Edelmar- ken übernommen haben: General Motors hat mit Saab kaum etwas verdient, Fiat mit Ferrari und Maserati ebenfalls nicht. Ge- neral Motors hat die Sportwagenfirma Lo- tus sogar wieder verkauft.Warum ist kaum einem der Aufstieg in die Oberklasse ge- lungen? Reitzle: Generell gilt: Mit den Erfolgsre- zepten des Massengeschäfts kann dieses Geschäft nicht betrieben werden. Edel- marken können innerhalb eines großen Unternehmens nur erfolgreich sein, wenn sie genügend Freiraum bekommen. Man muß die Vorteile der Größe nutzen und Gleichteile verwenden, wo der Kunde kei- ne Nachteile verspürt. Aber geht man da einen Schritt zu weit, geht die Marken- identität verloren. Dann fragt sich der Kun- de, warum er für ein Auto mehrere tausend Mark mehr zahlen soll, das lediglich einen anderen Kühlergrill und einen anderen Markennamen trägt. Das ist ein sehr sen- sibles Spiel, bei dem es auf das Gespür der-

94 der spiegel 12/1999 jenigen ankommt, die Produktentwicklung und Marketing betreiben. SPIEGEL: In der Hierarchie bei BMW waren Sie zumindest die Nummer zwei, für viele sogar der „Mr. BMW“. Bei Ford sind Sie einer von fünf Group-Vice-Presidents un- ter Konzernchef Jacques Nasser. Ist das ein Abstieg? Reitzle: Wenn es ein Abstieg wäre, würde ich es kaum machen. Ford ist der zweit- größte Autohersteller der Welt. Er spielt in einer anderen Kategorie. Und dort die Ge- samtverantwortung für vier der sieben Marken des Ford-Konzerns zu haben ist eine Faszination für jeden Automann. SPIEGEL: Hängt die Faszination vielleicht auch damit zusammen, daß Ford seinen Spitzenmanagern ein Vielfaches deutscher Vorstandsgehälter zahlt und Jahresver- dienste von zehn Millionen Mark schnell möglich sind? Reitzle: Überhaupt nicht. Geld ist für mich nicht das Motiv. Es ist allenfalls eine Be- stätigung für meinen Marktwert, mehr nicht. Für mich zählt die Herausforderung. Außerdem hängen die teilweise höheren Gesamtbezüge amerikanischer Manager AP Jaguar XK 8 „Es kommt auf das Gespür an“ nur damit zusammen, daß die Aktien und damit auch die Aktienoptionen, die Teil der Tantieme sind, in den vergangenen Jah- ren stark an Wert gewonnen haben. Es ist unwahrscheinlich, daß dies in dem Maße immer so weitergeht. SPIEGEL: Bei BMW irritierte manche, daß bunte Blätter oft über den Privatmann Reitzle berichteten, über Ihre Lebensge- fährtin Nina Ruge und Ihr Golfhandicap. Ist Ford da toleranter? Reitzle: Ford hätte mich sicher nicht einge- stellt, wenn man den Eindruck hätte, ich verbringe die meiste Zeit auf dem Golf- platz oder dem Tanzparkett. Ford-Chef Jacques Nasser weiß, daß ich ein Arbeits- tier bin. Im übrigen habe ich mich nicht in die Zeitungen gedrängt. Im Gegenteil. Und an meinem neuen Arbeitssitz London wer- de ich es genießen, daß man dort auch mal in ein Lokal gehen kann, ohne daß es am nächsten Tag in der Zeitung steht. Interview: Dietmar Hawranek der spiegel 12/1999 95 Werbeseite

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rige Planung, die Industriechemie-Töchter UNTERNEHMEN von Hoechst, Celanese und Ticona zusam- mengefaßt werden. Ein Vorstand wurde be- Alles oder nichts reits bestellt, im neuen Unternehmen soll- te schnell ein Wir-Gefühl entstehen. Hoechst-Chef Dormann muß die Nun aber sei es vonnöten, referierte Dormann im Aufsichtsrat, auch das Cela- Fusion mit dem französischen nese-Projekt erneut „zu betrachten“. Den Konzern Rhône-Poulenc beschleu- Vorstand der geplanten AG traf die Volte nigen – ein riskanter Kraftakt. völlig unvorbereitet. „Die sind mächtig ent- täuscht“, so ein Dormann-Mitarbeiter. ürgen Dormann ist immer wieder für Selbst dem Hoechst-Chef ist noch nicht eine Überraschung gut. Der Mann, der recht klar, was mit dem Rest seines Impe- Jsich zum Ziel gesetzt hat, seinen Kon- riums geschehen soll, der nicht zur großen zern zu zerschlagen und den Traditions- Life-science-Strategie paßt. namen Hoechst zu tilgen, überraschte ver- Binnen weniger Wochen müssen die Be- gangene Woche mit einer neuen Variante. teiligungen an Messer Griesheim, Wacker Die Hoechst-Aktionäre erwarteten, er- Chemie und Clariant entsorgt werden. läuterte der Vorstandschef vorigen Dienstag Ohne diese Bereinigung hätte Hoechst in seinem Aufsichtsrat, „daß wir schneller, di- dem Pakt mit den Franzosen sonst ein rekter und stärker in Richtung Life-science Übergewicht von rund zehn Milliarden gehen“. Im Klartext: Das Ge- Mark Umsatz – und der „merger schäft mit Pharma und Pflan- of equals“, den Dormann zuge- zenschutz soll im Rekordtempo sagt hat, wäre nicht möglich. neu geordnet werden. Bereits Völlig im unklaren ließ der zum Jahresende sollen diese Hoechst-Chefstratege seine Ak- Kernbereiche der Hoechster mit tionäre vorige Woche auch dar- dem französischen Partner über, wie sie vom eventuell Rhône-Poulenc zur Holding anfallenden Verkaufserlös der Aventis mit Sitz in Straßburg nicht mehr benötigten Beteili- verschmolzen werden. Dormann gungen profitieren sollen. Dor- wollte sich damit ursprünglich mann unbestimmt: „Da gibt es

zwei bis drei Jahre Zeit lassen. AP mehrere Optionen.“ Schweigend lauschte Chalid Aktionär Buhamra „Alles hängt wieder in der Buhamra dem Vortrag. Der Luft“, klagte ein Banken-Ana- Vertreter des mit 24,5 Prozent größten lyst, nachdem er von Dormann informiert Hoechst-Aktionärs, der Kuwait Petroleum worden war – „und alles soll in ein paar Corp. (KPC), widersprach auch nicht, als Wochen geklärt sein.“ Denn spätestens im Dormann versicherte, die Kuweitis wür- Juli soll eine außerordentliche Hauptver- den die deutsch-französische Ehe nunmehr sammlung Dormanns Deals absegnen. gutheißen. „Kuweit macht mit“, sagt Rai- Unter dem Druck der Kuweitis, die ner Kumlehn, für die Chemie-Gewerk- nicht hinnehmen wollten, daß ihre Be- schaft BCE im Aufsichtsrat, „das ist ein- teiligung während einer mehrjährigen deutig.“ Fusionsphase unwägbaren Risiken ausge- Das ist so ungefähr das einzig Eindeuti- setzt wird, hat sich der Konzernchef für va ge, was von Dormanns ursprünglichen Fu- banque entschieden, für alles oder nichts. sionsplänen noch übriggeblieben ist. Scheitert er, zerbricht auch sein Life- Einst sollten in der zukünftigen Celanese science-Traum. Dann stehen Aufkäufer be- AG, so die erst wenige Monate alte bishe- reit, die den gesamten Hoechst-Konzern übernehmen wollen. In dem Fall, kommentierte Bayer-Chef Manfred Schneider die Turbu- lenzen, würde man auch in Le- verkusen „neu nachdenken“. Die Börse nahm solche Mög- lichkeiten schon vorweg. Gegen den Trend stieg das Hoechst-Pa- pier. Die Börsianer spekulierten auf das mögliche Kaufinteresse ominöser Dritter. Alle angebo- tenen Aktien werden deshalb aufgesammelt, so ein Händler. Für Dormann, den umstrit- tensten deutschen Manager, ist die Beschleunigung der Fusion mit Rhône-Poulenc ein Spiel mit höchstem Einsatz: Es geht auch

T. EINBERGER / ARGUM T. um sein Schicksal. Konzernstratege Dormann: „Direkter und schneller“ Heiko Martens

98 der spiegel 12/1999 Werbeseite

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Die Kritik entzündet BANKEN sich am Firmenkunden- geschäft. Die alte Ver- Leichen im einsbank hatte Unterneh- men wie etwa der mitt- lerweile konkursreifen Keller Reha-Gruppe „Klinik Ba- varia“ allzu großzügig Die HypoVereinsbank kommt Kredite gewährt, jetzt muß sie 3,2 Milliarden nicht zur Ruhe: Ein Mark statt der ursprüng- ehemaliger Manager wurde ver- lich geplanten 2 Milli- haftet, die Führung wackelt. arden wertberichtigen. „Der Schmidt hat doch ie Ermittler hatten es eilig.Am Frei- selbst jede Menge Lei-

tag abend vorletzter Woche präsen- N. NORDMANN chen im Keller“, erregt Dtierten sie einem ehemaligen Gene- Hypo-Bank-Zentrale (1997): Ermittlungen ausgedehnt sich ein Kapitalvertreter ralbevollmächtigten der Hypo-Bank den im Aufsichtsrat. Haftbefehl. Der Banker durfte noch das tuts, das in den vergangenen beiden Jahren Am Freitag vergangener Woche wollten Nötigste einpacken, dann chauffierten ihn für faule Immobilien-Kredite insgesamt die Schmidt-Gegner sogar öffentlich zum die Beamten nach Stadelheim, dem Ge- fünf Milliarden Mark zurückstellen mußte Gegenschlag ausholen. Für diesen Tag fängnis der bayerischen Landeshauptstadt. – in etwa der Betrag, den die Bank als stil- hatte HypoVereinsbank-Aufsichtsratschef Das ganze Wochenende verbrachte der le Reserve in die Fusion mit der Vereins- Klaus Götte eine Rücktrittserklärung vor- Beschuldigte hinter Schloß und Riegel. Ihm bank einbrachte. bereitet, in der Schmidt schwer angegriffen wird im Zusammenhang mit der Vergabe Am darauffolgenden Montag packte der werden sollte. von Immobilien-Krediten neben Untreue Banker aus und belastete die ehemalige Götte, 66, zuvor Chef-Aufseher der auch Bestechlichkeit vorgeworfen. Führung des Finanzhauses, aber auch Kol- Hypo-Bank, hatte das mehrseitige Papier Auf die Spur des Bankers kam die legen und Untergebene schwer. Prompt tagelang mit den Anwälten eines Großak- Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Er- weitete die Staatsanwaltschaft die Ermitt- tionärs abgestimmt. Schmidt, so der Ent- mittlungen gegen vier Vorstände des Insti- lungen stark aus. wurf, habe bereits im vergangenen Som- Durch die Aussage des Beschuldigten ist mer von den Milliardenrisiken der Hypo- der Druck auf Ex-Hypo-Chef Eberhard Bank gewußt. Martini und seinen ehemaligen Finanzvor- Im letzten Moment jedoch zuckte Göt- stand, den jetzigen Chef der Hamburger te zurück.Am Freitag abend entschärfte er Vereins- und Westbank, Werner Münster- seine Erklärung – und in der Nacht zum mann, noch stärker geworden. Gegen die Samstag kündigte er seinen Rücktritt an. beiden wird – wie auch gegen die Ex-Vor- Schmidt kann sich dennoch nicht in Si- stände Hans Fey und Klaus Heiss – wegen cherheit wiegen. Hinter den Kulissen zim- Untreue und Bilanzfälschung ermittelt. mern die Großaktionäre Allianz, Münche- Doch an Rücktritt denken Münstermann ner Rück, Viag und der Freistaat Bayern, und Martini offenbar nicht. der noch rund sieben Prozent der Anteile Den Großaktionären, vor allem der Al- hält, schon an einer neuen Führungsspitze lianz, kommt die Affäre denkbar ungele- für das angeschlagene Institut. gen. Ihr Zorn richtet sich gegen den Vor- Wenn Götte endgültig abtritt, soll BMW- standschef der HypoVereinsbank,Albrecht Finanzvorstand Volker Doppelfeld die Füh- Schmidt. Der ehrgeizige Banker hatte das rung des Aufsichtsrats übernehmen. Lehnt Verfahren Ende Oktober ausgelöst, indem der ab, ist BASF-Vorstand Max Dietrich er Altlasten der Hypo von 3,5 Milliarden Kley als Ersatz eingeplant. Mark öffentlich anprangerte. Die Ermitt- Auch Martini soll gehen. Er nervt die lungen gegen die ehemalige Hypo-Spitze, Kapitalvertreter durch seine verbalen fürchten die Kapitalvertreter, könnten das Ausbrüche, und die Arbeitnehmer werfen gesamte deutsche Finanzgewerbe in Miß- ihm vor, die ehemaligen Hypo-Mitarbei- kredit bringen. ter gegen die neue Bank aufzubringen. Die Staatsanwälte bringen aber auch die Schmidt selbst, dessen Vorstandsver- ehemaligen Aufsichtsräte der Hypo, die heu- trag erst im Januar verlängert wurde, soll te teilweise die HypoVereinsbank kontrol- nur dann noch eine Chance erhalten, lieren, in die Bredouille. Sie müssen sich un- wenn es ihm gelingt, das affärengeplagte angenehme Fragen gefallen lassen: Haben Institut aus den Schlagzeilen zu bringen sie die ungedeckten Risiken gekannt? Wenn und in diesem Jahr ein besseres Ergeb- ja, dann sind sie Mitwisser.Wenn nein, dann nis zu erwirtschaften. „Sonst“, prophe- haben sie ihre Aufsichtspflicht sträflich ver- zeit ein Allianz-Manager, „wird es eng nachlässigt. Keine angenehme Situation. für ihn.“ Bei der nächsten Sitzung des Kontroll- Schmidt scheint das zu wissen. Er hat gremiums am Mittwoch dieser Woche wol- sich in den vergangenen Monaten, wenn len Vertreter der Kapitalseite den Bankchef überhaupt, nur sehr dünnlippig zu dem zur Rede stellen. Zudem wollen sie von Schlamassel geäußert. Seit der Durchsu-

VARIO-PRESS Schmidt wissen, warum der Gewinn im chung am vorvergangenen Mittwoch ist er Bankchef Schmidt vergangenen Geschäftsjahr deutlich gerin- vollends verstummt. Drohung vom Großaktionär ger ausgefallen ist als erwartet. Dinah Deckstein, Wolfgang Reuter

102 der spiegel 12/1999 Werbeseite

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den. „Wir sind uns einig, daß wir alles tun wären die Energiepreise nicht so niedrig. ROHSTOFFE werden, um den Verfall des Ölpreises zu Im April startet die erste Stufe der Steuer- stoppen“, sagt der iranische Außenmini- reform und fällt damit genau in den Beginn Schmerzlich ster Kamal Charrasi, „und dazu müssen der Opec-Initiative. wir alle Opfer bringen.“ Nun hängt alles davon ab, ob die För- Auf solche Nachrichten haben die Märk- derländer tatsächlich Ernst machen. Wenn getroffen te lange gewartet. Der Preis für Rohöl zog die gemeinsame Drosselung klappt, könn- in den vergangenen Wochen merklich an, ten die Preise bis auf 20 Dollar klettern, Die Opec-Länder wollen ein Barrel der Sorte Brent kostet mittler- vermutet der Bostoner Ölexperte Phillip weile wieder etwa 14 Dollar. Lange nicht Verlegger.Allerdings wäre der Erfolg wohl die Produktion drosseln und mehr wurde eine Opec-Sitzung mit solcher nur von kurzer Dauer: Dann würde es sich so den Preisverfall von Spannung erwartet: Kann das Wiener Tref- wieder lohnen, die Pumpen auch in teure- Rohöl stoppen. Sind die Zeiten fen die Wende einleiten? Sind die Zeiten ren Förderregionen wie der Nordsee und billiger Energie vorbei? billiger Energie vorbei? dem Kaspischen Meer auf Touren zu brin- Seit 1983 hat Rohöl rund zwei Drittel gen. Die Folge: Das Angebot steigt wieder, och mal machen die Ölminister die- an Wert verloren, seit 1997 ist sein Preis die Preise fallen – ein Teufelskreis. sen Fehler nicht. Als sie sich vor regelrecht abgestürzt. Das Zudem sind die Erfahrun- Nvier Monaten auf der Opec-Konfe- milde Weltklima, die seit gen mit solchen Förderbe- renz trafen, ließen sie trotz des gewaltigen der Asienkrise stagnierende schränkungen wenig vielver- Überangebots am Markt leichtfertig die Nachfrage, vor allem aber sprechend. Immer wieder sind Chance verstreichen, eine Drosselung der das globale Überangebot Staaten wie Iran oder Vene- Ölförderung auszuhandeln. Prompt stürz- machen den Förderländern zuela ausgeschert; sie konn- ten die Preise auf ein 13-Jahres-Tief, zeit- schwer zu schaffen: Die Welt ten der Versuchung nicht wi- weise kostete ein Barrel (159 Liter) weni- schwimmt förmlich in Öl. derstehen, um des schnellen ger als zehn Dollar. Falls es der Opec gelänge, Dollar willen die Produktion An diesem Dienstag tagt die Opec-Run- diesen Trend umzukehren, erneut hochzufahren. de erneut, diesmal wollen die Ölbarone hätte das gewaltige Konse- Schon hat der Irak an- nichts dem Zufall überlassen. quenzen für die Abnehmer- gekündigt, seine Förderung Seit Wochen schon sind sie weltweit un- länder. nicht zu reduzieren; immer-

terwegs, um auszuloten, wie sie weiter vor- Nach wie vor ist Rohöl der DPA hin habe Saudi-Arabien davon gehen. Es ist die Not, die sie eint: Staaten, Schmierstoff, der die Wirt- Kronprinz Abdullah profitiert, daß der Irak auf- die in grenzenlosem Reichtum schwelgten, schaft in Bewegung hält. Sein grund der Wirtschaftssanktio- sind plötzlich tief verschuldet. „Der Verfall Preis beeinflußt maßgeblich, wie sich die nen für Jahre als Ölförderer praktisch ausfiel. des Ölpreises hat uns alle schmerzlich ge- Konjunktur entwickelt. In Deutschland „Bei den Schwierigkeiten der Ölprodu- troffen“, klagt der saudiarabische Thron- läge die Inflationsrate um 0,4 Prozent- zenten ist keine einheitliche Linie zu er- folger Prinz Abdullah, „wir sind alle Zeu- punkte höher, wäre Öl nicht so billig ge- warten“, sagt Wolfgang Wilke, Rohstoff- gen eines beispiellosen Erdbebens.“ worden. Insgesamt mußte Deutschland für experte der Dresdner Bank, skeptisch. Er Nur gemeinsam, das wissen die Poten- Ölimporte 1998 rund sechs Milliarden Mark hält es sogar für denkbar, daß der Ölpreis taten, können sie diese Schockwelle mei- weniger aufbringen als im Vorjahr. auf sieben bis fünf Dollar abgleitet und die stern. Saudi-Arabien, weltgrößter Erdöl- Verbraucher und energieintensive Bran- Opec womöglich auseinanderbricht. produzent, will seine Förderung um fast chen spüren die Folgen unmittelbar. Wer Am Ende könnte Saudi-Arabien als In- 600000 auf unter acht Millionen Barrel täg- Ende 1998 3000 Liter Heizöl orderte, zahl- itiator der neuen Offensive sogar schlech- lich drücken – sowenig wie seit dem Golf- te im Schnitt 1160 Mark, ein Jahr zuvor ter dastehen als heute: „Drosselt das Land krieg 1990 nicht mehr – und setzt damit ein waren es noch rund 400 Mark mehr. Die die Förderung, während andere weiterpro- klares Signal. Inzwischen haben sich mit Lufthansa sparte 1998 etwa 250 Millionen duzieren wie bisher, fallen die Öleinnah- Mexiko und Norwegen sogar Nicht-Opec- bis 300 Millionen Mark, weil sich der Preis men noch geringer aus“, fürchtet Scheich Länder dem Vorstoß angeschlossen. Insge- für Kerosin fast halbiert hat. Ahmed Saki el-Jamani, bis 1986 Erdöl- samt, so wollen die Ölminister in Wien be- Die Effekte billigen Öls reichen noch minister von Saudi-Arabien: „Das ist ein schließen, sollen von April an täglich zwei weiter: Die Einführung der Ökosteuer verdammt großes Risiko.“ Millionen Barrel weniger gefördert wer- stieße gewiß auf größeren Widerstand, Adel S. Elias, Alexander Jung

36,25 September 1980 Kriegsbeginn zwischen Iran und Irak Überangebot an den globalen Ölmärkten; Opec verliert 30 Kontrolle über die Preise Ölkrise August 1990 1979/80 Irak marschiert in Kuwait ein 20

18. März. 99 März 1989 13.45 Abgeschmiert Tankerunglück der 10 Rohölpreise in Dollar Valdez; Ölknappheit pro Barrel wird befürchtet Quelle: Datastream, BP

Öl-Raffinerie in Saudi-Arabien 1978 80 85 90 95 99 AGENTUR FOCUSAGENTUR

106 der spiegel 12/1999 Raab (Katjes, LTU) und Guildo Horn (Fer- fone oder Versicherungen? Wöltje: „Am WERBUNG rero), Iris Berben (ACC akut) und Günther Ende weiß keiner mehr Bescheid.“ Jauch (SKL Lotterie) – sie alle verwandeln Viele Werber werden zudem vom arro- Arrogantes ihre TV-Prominenz in klingende Münze. ganten Auftreten und dreisten Forderungen Selbst Blödelbarde Mike Krüger wirbt mit der Stars und ihrer Agenten genervt. Ge- seinem Allerweltsnamen für die Geträn- wiefte Talkmaster übertragen schon ihr Auftreten kemarke Krüger. Sechs- bis siebenstellige Vertragsmodell aus dem Privatfernsehen Honorare sind die Regel. auf die Werbewirtschaft und machen dop- Die Werbewirtschaft setzt auf Promi-Werbung ist nicht neu – neu ist je- pelt Kasse: ein lukrativer Werbevertrag mit doch ihre seuchenartige Ausbreitung. Seit dem Hersteller, garniert mit lukrativen Pro- bekannte Gesichter. Fernseh-Stars 1995 hat sich der Anteil der Star-Spots am duktionsaufträgen für die eigene Firma, kassieren für TV-Spots Millio- Gesamtmarkt mehr als verdoppelt, Ten- die den Werbespot teuer inszeniert. nengagen. Nur: Wer erinnert sich denz weiter steigend.Werbewirtschaft und Andere fühlen sich dagegen schon ge- am Ende noch ans Produkt? Agenturen setzen auf bekannte Gesichter. schmeichelt, wenn sie, wie Peter Scholl- „Promis lenken fast automatisch alle Latour, 75, zum erstenmal gefragt wer- it dem Image seiner Ware hatte Blicke auf das Produkt“, jubelt etwa den. Der Altjournalist macht jetzt mit der Lars Gerber bis vor kurzem ein Achim von Kirschhofer. Der Chef der Hamburger Agentur Jung von Matt, für MRiesenproblem. In der Nachbar- Münchner Imas International verdient sein wenige zehntausend Mark Honorar und schaft von Kartoffeln und Spiegelei sah Geld, indem er den Agenturen Beliebt- verfilmt von Wim Wenders, Stimmung für der Produktmanager von Langnese-Iglo heitsnoten („sehr sympathisch“) der TV- die Bahn. bisher seinen Rahmspinat. Altbacken. Stars überspielt. Ganz vorn auf seiner Li- Manche Stars, oder ihre Agenten, mel- Und spießig. ste: ZDF-Moderator Johannes B. Kerner den sich sogar ungefragt für bestimmte Dann kam Verona Feldbusch. Mal im (JBK). Der Schwiegermutter-Schwarm Kampagnen. Nachmittags-Talker Hans Bademantel, mal tief dekolletiert, rührt könnte schon wie ein Formel-1-Pilot auf- Meiser, 52, freilich holte sich gerade eine die Ingrid Steeger des Privatfernsehens treten, den Anzug bestickt mit bunten Wer- Abfuhr bei der Bahn. „Wir möchten unse- („Peep“, „Veronas Welt“) neuerdings ver- belogos: Für Autos, Banken, Bekleidung re Kampagne verjüngen“, heißt es in der sonnen in Iglos grüner Pampe. „In unserer und Fruchtsaft hat JBK laut Imas eine Werbeabteilung der Bahn. kurzlebigen Zeit“, sagt Günter Sendl- „überdurchschnittliche Werbeeignung“. In der zweiten Reihe stehen weitere meier, Chef der Hamburger Iglo-Agentur Kerner begnügt sich zwar vorerst, als Kandidaten bereit. Mit Grit Boettcher, McCann-Erickson, suchten die Verbrau- Nachfolger von Berti Vogts, im Löffeln von Claus-Theo Gärtner oder Ivan Rebroff gibt

Feldbusch Raab Kerner Werbung mit Prominenten: „Spricht Verona jetzt über Spinat oder Telegate?“ cher nach Persönlichkeiten, „an denen sie Danone-Joghurt. Doch das muß so nicht etwa der Starvermittler Andreas A. Sutter sich orientieren können“. bleiben. „Wir können nicht feststellen, daß („Essen. Los Angeles. Paris“) einen tiefen Ein Fall für Feldbusch. Die gibt nicht nur einzelne Promis zuviel werben“, sagt Einblick in seine triste Kartei. im Spinatmarkt Orientierung; auch bei Au- Kirschhofer. Richtig stolz ist Sutter auf sein wohl äl- tos (Daewoo) und im Dschungel der Tele- Wirklich? Kampagnen mit Prominenten testes Gesicht: Annemarie Wendl, 76. Die fonwelt weiß die Frau mit dem Dativ-Pro- „machen oft Werbung für die Stars, nicht Else Kling der ARD-Serie „Lindenstraße“ blem, wo’s langgeht: „Wählen Sie 11880 – fürs Produkt“, sagt Sebastian Turner, Chef streicht mit Werbeverträgen für Waschmit- da werden Sie geholfen.“ der Berliner Agentur Scholz & Friends, tel (Lenor) und elektrostatische Binden Geholfen hat’s vor allem Verona. Eine die das Problem in ihrer Kampagne für die noch je sechsstellige Honorare ein. Million Mark kassierte sie allein für die „Frankfurter Allgemeine“ einfach gelöst Nur Modern-Talking-Star Dieter Boh- drei Iglo-Spots. Jetzt kann sie es sich sogar hat: Die Promis sind hinter dem aufge- len ist offenbar schwer vermittelbar. Er hat- leisten, auf die Sendung, die sie bekannt schlagenen Blatt gar nicht erkennbar. te einst seiner Ex-Frau Verona mangelnde machte, zu verzichten: „Peep“ schadet „Teuer, austauschbar, beliebig“, lautet Kochkunst vorgeworfen – und ihr so indi- ihrem Image als Ulknudel der Nation. auch der Vorwurf von Gregor Wöltje, rekt zum Iglo-Vertrag verholfen. Für ihn Gnadenlose Selbstvermarktung: kaum Gründer der Münchner Agentur Start Ad- selbst hat Thomas Wischnewski von der ein TV-Kollege, der nicht gern Veronas Vor- vertising. „Spricht Verona jetzt über Spinat Agentur XXL Media Company („Wir son- bild folgte.Arabella Kiesbauer (Cerec) und oder Telegate?“ fragt der Münchner; wirbt dieren noch“) bis jetzt keinen Werbepart- Jürgen von der Lippe (Berentzen), Stefan Manfred Krug gerade für Schnaps, Tele- ner gefunden. Frank Hornig

der spiegel 12/1999 107 Werbeseite

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Werbeseite Szene Gesellschaft

KOMMUNIKATION Hilfe für MODE Liebes-Legastheniker Der flickende Holländer Der professionelle Liebesbriefschrei- chwerter zu Pflugscharen – ber Jens Rosenthal, 32, aus Hannover San diesen Slogan hält sich über seine Arbeit im Internet neuerdings auch der in Paris lebende Modemacher Josephus SPIEGEL: Herr Rosenthal, Sie schreiben Thimister, 36. Seine eleganten für andere Menschen Liebesbriefe ge- Abendroben läßt der Hollän- gen Honorar. Sind Sie geschäftstüchtig der fast ausschließlich aus oder ein Schwärmer? gebrauchter Armeekleidung Rosenthal: Verliebte interessieren mich schneidern. Feld-Ponchos und einfach. Es ist faszinierend zu beobach- Khaki-Hosen, Zeltbahnen und ten, wie Menschen sich in diesem Zu- Plastikplanen werden in 200- stand verändern. Sie sind bis ins Detail stündiger Handarbeit zerschnit- verunsichert. ten, neu zusammengesetzt und SPIEGEL: Bis in welches Detail? mit zerschredderter Spitze ver- Rosenthal: Es ist ihnen zum Beispiel un- ziert. Unter Kleiderkunst ver- klar, wie oft sie auf den Anrufbeant- stehe er die Kombination nobler worter ihres Liebesobjekts sprechen und einfacher Stoffe, so der dürfen, bevor es peinlich wird. Ich Recycler, deren Mischung er- möchte helfen, Freiräume zu schaffen. zeuge eine eigene Schönheit: SPIEGEL: Wer nimmt denn Ihre im Inter- „Das ist wirkliche Couture, net angebotenen Dienste überhaupt in nicht diese Ballkleider mit am

Anspruch? Hintern aufgestickten Federn.“ MOORE CHRISTOPHER Rosenthal: Ausschließlich Männer. Die haben mit dem Schreiben von Liebes- briefen größere Schwierigkeiten. Man- che verstecken sich hinter der Behaup- tung, sie hätten keine Zeit, selbst einen Brief zu verfassen. Andere sind so in ihren Emotionen gefangen, daß sie zum Liebes-Legastheniker werden und gar nichts mehr zu Papier bringen. N. LE CORRE / GAMMA STUDIO X Thimister, Abendkleid aus Zeltbahn

EINKAUFEN stüms glatt im grünen Bereich blieb. Über 5000 der Detektoren will der Her-

DPA Schwindel blinkt rot steller laut Geschäftsführer schon ver- Rosenthal kauft haben. Als Beweis für die Funkti- in Lügendetektor versetzt derzeit onstüchtigkeit des Geräts dient ihm ein SPIEGEL: Ihre Kunden versorgen Sie mit ELondons Verkäufer in Schrecken. Lauschangriff auf Tony Blair: Bei einem Informationen über die Angebetete. Wie Das „Porkie Talkie“, das sich der vom Fernsehauftritt des Labour-Chefs blink- bringen Sie sich selbst in Stimmung? CIA im Kalten Krieg angewandten te es gelegentlich. Rosenthal: Mit Klaviermusik, und schon Technologie verdankt, blinkt rot, wenn geht’s los. es Streß in einer menschlichen Stimme SPIEGEL: Ein befriedigender Job? entdeckt. Mit dem Gerät in der Tasche Rosenthal: Noch nicht ganz. Ich plane, sollen Kunden herausfinden, ob Verkäu- meine Erkenntnisse der Werbeindustrie fer die Wahrheit sagen. Reporter der zu vermitteln. „Sunday Times“ stellten nach einem SPIEGEL: Was fehlt der? Test Londoner Gebrauchtwagenhänd- Rosenthal: In der Werbung werden aus- lern sowie Grundstücksmaklern ein schließlich junge Verliebte gezeigt. Es schlechtes Zeugnis aus – der Detektor wird ignoriert, daß sich auch Menschen hörte kaum mehr auf zu blinken. Auf-

über 60 neu verlieben, und zwar heftig. atmen kann eine Boutique-Verkäuferin TIMES THE SUNDAY Da ist noch was zu tun. in West-End, die beim Loben eines Ko- Kundin mit Porkie Talkie, Verkäuferin

der spiegel 12/1999 111 Gesellschaft

FAMILIE Wiegenlieder bis zur Bahre Nicht nur Politiker wie Oskar Lafontaine und Theo Waigel gönnen sich voller Stolz das Kinderglück der späten Jahre. Familienforscher bescheinigen den betagten Erzeugern pädagogische Hingabe – und verweisen auf Nachteile der Vaterschaft im Opa-Alter.

rech wie Oskar, eben ganz der Vater: unter der Erde zu liegen, wenn die Söhne kein Medienkind, ließ er verlauten, aber Carl-Maurice, 2, streckt der Fotogra- und Töchter heiraten. In Deutschland ha- dann waren Presse und Fernsehen doch Ffenmeute die Zunge heraus. Das ben bereits zehn Prozent aller ehelichen dabei, wenn ihn der Vaterstolz angesichts Schlüsselbild zum Lafontaine-Rücktritt, ein Neugeborenen einen Vater über 40, und des kleinen Konstantin packte: „Die Augen Kindermund tut Wahrheit kund: Seht her, die Gruppe der späten Daddys ist nicht hat er von der Irene, und die Stimme dürf- wenn wir uns haben, könnt ihr uns alle. nur statistisch, sondern durch zunehmend te wahrscheinlich von mir sein.“ Die Szene vor dem Saarbrücker Heim selbstsicheres Auftreten auch in der Öf- Der stellvertretende SPD-Fraktionschef des gerade als Finanzminister und SPD- fentlichkeit auf dem Vormarsch. Rudolf Dreßler bekam Sohn Tim 55jährig, DPA Lafontaine mit Sohn Carl-Maurice Kroetz mit Töchtern Josefine und

Chef zurückgetretenen Politikers die Tochter des PDS-Man- wirkt wie eine Demonstration ge- nes Gregor Gysi, 51, ist ge- gen den Menschenfresser Hochlei- rade erst zwei – wie im stungsgesellschaft. Ein Kind kann Falle Waigel stammen alle über die Karriere eines Mannes diese Kinder aus der zwei- siegen, kann ihm die Welt bedeu- ten Runde. Dreßler: „Bei ten. Lafontaines Herz mag links der Geburt meiner Toch- schlagen, das Vaterherz schlägt ter Simone war ich 21 Jah- höher. re alt. Da habe ich das Der niederländische Schriftstel- Wunder, das da passierte, ler Harry Mulisch, 71, der sich im nicht begriffen.“ vorgerückten Alter noch einmal als Nun im fortgeschritte-

Vater an den Wickeltisch stellte, OSSENBRINK F. nen Alter wirken die Kin- sieht das Glück mit der Weisheit Waigel mit Sohn Konstantin, Ehefrau Irene der wie ein Schutzschild der späten Jahre: „Ein Kind zeigt, gegen die rauhe Politiker- daß es im Leben immer weitergeht.“ Nicht Alter Vater zu sein ist heute nichts mehr, welt und werden wie Augäpfel gehütet. zuletzt in dem des greisen Erzeugers: Wer was man schamhaft verschweigt. Mit er- Dreßler: „Heute bin ich sieben Tage die Wiegenlieder singt, wenn die Bahre nicht hobenem Grauhaupt schieben gereifte Woche für 24 Stunden Vater. Kinder ha- mehr so weit ist, übertönt die oft be- Männer den Kinderwagen.Allen voran die ben heißt nein sagen lernen im Job.“ drückende Stille des Alters. Politiker.Als Ex-Finanzminister Theo Wai- Sein Parteikollege Johannes Rau – er Eine wachsende Zahl von Männern fin- gel vor fast vier Jahren mit 56 erneut Va- wurde mit 52 zum erstenmal Vater, heute det immer weniger dabei, spät zu freien, ter wurde, ließ der CSU-Mann die Nation zählt das jüngste der drei Rau-Kinder 12 Kinder zu zeugen und nicht zu bereuen, an der Freude teilhaben: Er wolle zwar Lenze – ist kein ganz so konsequenter

112 der spiegel 12/1999 Neinsager: Mit 68 Jahren jagt der ehema- rig von seiner halb so alten Frau ein Kind ker gegen die Verführungen der Karriere. lige NRW-Landeschef ungebrochen seinem geboren worden war, inszenierte er in der Meist können sie auch im Konkurrenz- Lebenstraum Bundespräsident hinterher „Bunten“ einen Seelenstriptease: „Wie ich kampf mit der Mutter um die Gunst des und macht Termine im ganzen Land. „Die mein Baby bekam.“ Kindes nachgeben. Sie sind dankbar für Kinder haben eine viel zu große Hoffnung Schwarzwald-Kliniker Klausjürgen Wus- jede Minute in der Nähe der Kleinen, denn auf meine jetzt entstehende Freizeit“, ver- sow nutzte die Geburt des kleinen Benja- sie wissen, daß ihre Zeit beschränkt ist. kündete Rau schon beim Rückzug aus dem min zur Übertragung des Serienschmalzes Späte Väter begeben sich nach den Er- Amt als Ministerpräsident. kenntnissen des Frankfurter Psychoanaly- Doch geprägt haben den tikers Michael Lukas Moeller auf die Suche bibelfesten Protestanten nach ihrer verschütteten Lebendigkeit. Die die Kinder schon. Sein Witwe des Dichters Heiner Müller, Brigit- langjähriger Regierungs- te Maria Mayer, erinnert sich: „Nach der sprecher Wolfgang Lieb Geburt der Tochter Anna bekam er einen verrät, der Politiker sei wirklichen Arbeitsschub, schrieb auch nach durch seinen Nachwuchs langer Zeit zum erstenmal wieder Lyrik. toleranter und geduldiger Die drei Jahre, die er mit Anna lebte, wa- geworden – „ein völlig ren für ihn eine sehr produktive Zeit.“ verändertes Weltbild“. Auch die Kinder, da ist die Witwe sicher, Rau habe plötzlich Wert würden von der späten Vaterschaft profi- darauf gelegt, nach aus- tieren: „Kinder von alten Vätern erben wärtigen Terminen noch mehr als Kinder von jungen, weil sich auch spät nach Hause zu kom- die erworbenen Eigenschaften vererben.“ PEOPLE PICTURE FOTOS: INTER TOPICS (li.); PEOPLE IMAGE (re.) (li.); PEOPLE IMAGE INTER TOPICS FOTOS: Magdalena, Ehefrau Marie-Theres Quinn mit Tochter Antonia (l.) und Sohn Ryan, Ehefrau Kathy Wussow mit Sohn Benjamin, Ehefrau Yvonne Späte Väter: Kinder als Schutzschild gegen die rauhe Welt

men, um wenigstens mit den Kindern früh- auf die Wirklichkeit: „Kinder sind ein Zei- Als Rudolf Zwirner, 65, bis 1992 einer stücken zu können. chen des Friedens. Jedes Baby, das auf die der bekanntesten deutschen Galeristen, sei- In die öffentliche Feier des späten Kin- Welt kommt, zeigt uns, daß die Erde noch ne beiden jüngsten Kinder bekam, nahm er dersegens mischt sich freilich Skepsis, wenn atmet und lebendig ist.“ die Erziehung als große Herausforderung man sieht, wie manche prominente Zeit- Charlie Chaplin nahm man nicht übel, an. Er benahm sich so, wie es die Ratge- genossen ihre Vaterschaft zelebrieren – als daß er als 54jähriger eine 17jährige heira- berbücher fordern und damit vom Berufs- ginge es da um den Beweis senilitätsüber- tete und dieser Ehe drei Söhne und fünf streß geplagten Jungeltern ein schlechtes windender Potenz. „Verzeih“, bat 78jährig Töchter entstammen ließ.Aber bei Woody Gewissen bereiten. Der Galerist gab sein der Schauspieler Anthony Quinn („Alexis Allen und Mia Farrow wurden die Zweifel Kunstgeschäft auf und konzentriert sich seit Sorbas“) seine Frau, „ich mußte es noch immer größer, als die Zustände in dem sieben Jahren auf Julius und Louise. einmal probieren.“ Mit seiner Ex-Se- trotz vorrückenden Lebensalters unge- Das Leben hatte ihn gelehrt, daß „es am kretärin hatte der unverwüstliche Sirtaki- bremst adoptionsbereiten Heim bekannt wichtigsten ist, den Kindern traditionelle Tänzer ein Töchterchen gezeugt, drei Jah- wurden. Werte mitzugeben“. Zu Zwirners Pädago- re später noch einen Sohn, als wären sie- Doch solche Eindrücke täuschen über gik gehört: eine maßvolle Ration Kunst. Er ben eheliche und vier uneheliche Zeu- die Wirklichkeit. Dem späten Vater gewin- tritt mit seinen Kindern regelmäßig vor die gungskraft-Beweise nicht genug. nen Familienforscher und Psychologen po- Bilder alter und neuer Meister – „aber im- Die Nerven der Öffentlichkeit strapa- sitive Seiten ab. Harald Werneck, Wiener mer nur eine halbe Stunde, länger ist zu- zieren auch andere späte Väter – sie gehen Väterforscher, hat festgestellt, daß sich die viel“. Portionsweise, aber nachdrücklich mit Geburten nicht nur bewußter um, sie ergrauten Papas mehr Zeit für die Kinder auch die literarische Schulung: Keineswegs wissen um deren symbolischen Mehrwert. nehmen. Auch sind sie eher bereit als ihre traktiert Zwirner seinen neunjährigen Julius Kurz nachdem dem bayerischen Dichter- jungen Vaterkollegen, Emotionen zu inve- mit Schillers Bildungs-Oldie „Lied von der Enfant-terrible Franz Xaver Kroetz 42jäh- stieren – die Lebenserfahrung feit sie stär- Glocke“ – aber drei Strophen Morgenstern

der spiegel 12/1999 113 Gesellschaft sollen es schon sein. In seinem neuen ziehungsanstrengungen wie die Kompen- Hauptberuf als Erzieher hat der Spät- sation alter Fehlleistungen. Sie tragen un- Erzeuger die größte Gefahr der alten Va- bewußt eine Schuld ab – und können da- terschaft erkannt: Verwöhnung und allzu her zwanghafte Züge des Unbedingt-bes- große Milde. „Ich erwische mich oft dabei, ser-machen-Wollens annehmen. mit einem Großvaterblick auf meine Kinder Der alte Vater muß oft mit den Vorwür- zu gucken und sie dauernd zu bewundern. fen seiner älteren Kinder aus früheren Be- Aber ich kann es mir nun mal nicht leisten, ziehungen leben. Längst nicht alle Erstge- sie dauernd mit Bonbons vollzustopfen.“ borenen bieten sich begeistert als Babysit- Der Zürcher „Tagesanzeiger“ widmete ter an, wie es Waigels Kinder für Konstan- in seinem Magazin den späten Vätern eine tin angeblich tun. lange Reportage, in der der bedingungs- Der Hamburger Psychoanalytiker Hans lose Wille zur erzieherischen Perfektion Naumann kennt Fälle, in denen Eifersucht deutlich wird. Da opfern 65jährige Nacht- das Verhältnis zwischen Halbgeschwistern menschen ihren Biorhythmus für Fünf- verschiedener Generationen vergiftet. Da jährige, um rechtzeitig hölzerne Segel- geht es dann nicht nur um materielles, son- schiffchen auf dem Teich zu wassern, da dern auch um psychisches Erbe. Die Älte- wickeln knallharte Unternehmer hinge- ren beneiden Papas neue Lieblinge. bungsvoll ihre kleine Tochter und sprechen Doch auch die Jungen haben ihr vom größten Glück ihres Lebens. Päckchen zu tragen. Den ersten Liebes- Für ihre jüngeren Kollegen haben die kummer erleben sie möglicherweise, wenn Oldtimer allenfalls Mitleid übrig. Der Ber- der Vater zum Pflegefall wird. Für das per- liner Rundfunkredakteur Wolfgang Paul, 58, Vater des fünfjährigen Valentin: „Männer mit Mitte 20 sind von Kindern in der Regel überfordert. Ich beobachte oft, wie sie die Kleinen herumkommandieren.“ Allerdings: Die meisten hätten sich ihre neue pädagogische Karriere nicht träumen lassen. Mei- stens waren es die jünge- ren Frauen, die das Kind wollten. Rudolf Zwirner: „Meine 30 Jahre jüngere Frau hatte einen großen Kinderwunsch, den ich als Mann nicht übergehen wollte.“ Der 63jährige Heiner Müller freute sich erst auf seine Tochter, als er ihr Ultraschallbild sah.

Redakteur Paul wollte ei- INTER-TOPICS gentlich nie Kinder, „ein Chaplin-Clan (1973): Psychologische Untiefen Unfall“ mit 53 brachte ihn in das Reich der Kinderseligkeit. In den sönlichkeitsfördernde, pubertäre Messen psychologischen Untiefen zwischen spät mit der Macht des Vaters bleibt aus Rück- entflammtem Mann und jüngerer Frau mag sicht auf die Gebrechen des alten Men- es anders aussehen: Ein Kind bindet die schen kein Platz.Auf einen Großvater müs- jüngere Frau. Das Kind ist bleibender Aus- sen sie sowieso verzichten. druck der Liebe, wenn irgendwann den Doch im Zeitalter des postfamiliären Mann die Potenz verläßt. Flickenteppichs, in dem das Aufwachsen Die Biologie begünstigt nicht gerade alte bei den leiblichen Eltern immer seltener Elternschaft. Eine französische Studie be- wird und Kinder durch Trennungen meh- legt, daß die Babys von Vätern, die über 39 rere Vaterfiguren kennenlernen, ist so ein Jahre alt sind, ein dreifach höheres Risiko Schicksal gar keine Ausnahme. einer Behinderung haben als diejenigen, Das Lebenslego, die Kombination von die von jüngeren Vätern abstammen. immer mehr Partnermöglichkeiten, spielt Chromosomendefekte nehmen deutlich zu den späten Vätern zu. Nach einer osteu- – in Kalifornien beispielsweise ist das höch- ropäischen Studie kommen 60jährige Män- ste Alter für Samenspender 34. ner bei Frauen aller Altersgruppen am Schatten in die besonnte späte Vaterwelt besten an. fällt auch aus psychologischen Gründen. Als Wirtschaftstheoretiker mag Lafon- Häufig haben die Oldies offene Rechnun- taine gescheitert sein – seinem Familien- gen mit den Kindern aus früheren Bezie- modell gehört die Zukunft. hungen. In diesem Sinne wirken ihre Er- Susanne Beyer, Nikolaus von Festenberg

114 der spiegel 12/1999 Werbeseite

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JUGENDKRIMINALITÄT Angriff auf die bösen Jungs Was tun mit raubenden, prügelnden, mordenden Kindern? In Glen Mills im US-Staat Pennsylvania wenden Erzieher neue, harte Methoden an, um den Gewalttätern die Regeln fürs normale Leben beizubringen. Vorbild für Deutschland? Von Thomas Darnstädt

n der Schule für Musterknaben gibt es Regeln für alle Fälle. „Wir stecken hier Idas Hemd in die Hose.“ „Wir tragen hier unseren Kamm in der Brusttasche.“ „Wir halten hier beim Sprechen Blickkontakt.“ Niklas, 17, hat das Hemd in der Hose, den Kamm auf dem rechten Fleck – und wenn einer über den Rasen geht, blickt er ihn an und sagt freundlich: „Wir gehen hier auf den Wegen.“ Ein Jahr haben sie gebraucht, bis sie den stämmigen Blonden aus Dortmund soweit hatten. Nun steht er da, ein Siegertyp, al- les um ihn ist aufgeräumt. In Dortmund wartet eine Lehrstelle als Koch auf ihn, er hilft den Damen aus dem Mantel und, wenn sich die Gelegenheit bie- tet, alten Mütterchen über die Hauptstraße. Niklas, dieser Gangster. Ein gutes Jahr ist es her, da saß er im Jugendknast von Iser- lohn bei den hoffnungslosen Fällen, weil er mit seiner Gang 16 Raubüberfälle durchge- zogen hatte. Solchen Leuten geben die Ju-

gendhelfer keine Chance: Über 90 Prozent FOCUS / AGENTUR CHIEN-CHI CHANG / MAGNUM ist die Rückfallquote. Verlorene Kinder. Jugendliche in Glen Mills bei Dienstbesprechung: „Die Jungs sind ja nicht schlecht“ Wo also ist er gewesen? Kann man Men- schen so verwandeln? Leute. Haben sie hier das Rezept gefunden „Unbedingt nachmachen“, empfiehlt Die Frage beschäftigt die ganze Bran- für die erfolgreiche Behandlung hoff- der Bielefelder Gewaltforscher und Päd- che. Sozialarbeiter, Jugendrichter, Exper- nungsloser Fälle, für den richtigen Umgang agogikprofessor Klaus Hurrelmann. „Ge- ten aus dem Bonner Justizministerium mit jugendlichen Gewalttätern? hirnwäsche“, warnen Jugendschützer, sei haben sich auf den Weg gemacht, das In- Das ferne Internat für Nachwuchsver- das Geheimrezept von Glen Mills, jeden- stitut zur Verbesserung kleiner Monster brecher bietet auch einigen deutschen falls sei es bedenklich, wenn nicht gar ver- zu besuchen. Jungs Plätze an. Zu Tagessätzen, die deut- fassungswidrig, junge Delinquenten ein- Mit dem Auto über die Dörfer aus lich unter denen deutscher Jugendhaftan- fach umerziehen zu wollen. weißen Holzhäuschen, durchs milde Hü- stalten liegen, werden hier böse Buben Seelen-McDonald’s für kleine Men- gelland hinter Philadelphia im US-Bun- friedlich gemacht. Die Rückfallquote, wirbt schen, giften Sozialarbeiter. desstaat Pennsylvania, einen Kontinent Glen Mills, betrage allenfalls ein Drittel Die feine Firma in Pennsylvania gibt es entfernt vom Muff deutscher Jugendämter: der deutschen. seit Jahren. Und ihr Chef, Sam Ferrainola, Da geht es nach Glen Mills. Besucher verlassen die Anstalt dennoch ein Ex-Gangster aus Pittsburgh, hat Vor- Backsteinernes Traditionsgemäuer, Ju- mit gemischten Gefühlen. Pädagogen und träge über seine Methoden überall in der gendstil, alles ist tipptopp wie frisch aus- Juristen schwanken zwischen Faszination Welt gehalten: wie er den haßerfüllten Kids gepackt, als wäre es für die Kinder reicher und Empörung. „ihr Lächeln zurückgibt“. Gute Zähne, Jugendliche Gewalttäter

Mord für 220 Mark Beim Einbruch überrascht Zwei Jugendliche, 16 Ein vorbestrafter 16jähriger und 17 Jahre alt, brach- erstach in Mannheim einen ten am 29. Juni 1998 Polizeiobermeister, 31, der ihn im Hamburger Stadtteil beim Einbruch in einen Super- Tonndorf den Lebens- markt überrascht hatte. Der mittelhändler Willi Täter war kurz zuvor auf Dabelstein, 73, um. Bewährung aus der Haft ent- R. KWIOTEK / ZEITENSPIEGEL R. KWIOTEK Beute: 220 Mark. DPA lassen worden.

118 der spiegel 12/1999 auffällig. Die Übergriffe, sagt der Ex- perte, hätten immer öfter „filmreife Qualität“. Soziale Desintegration, Massenar- beitslosigkeit, Langeweile als Lebens- perspektive: „Die Fieberkurve der Gesellschaft“, sagt der hannoversche Kriminologe Christian Pfeiffer, zeich- ne sich im rapiden Anstieg der Kinder- und Jugend-Delinquenz ab. Die Ge- waltkurve wird immer steiler. Um fast 20 Prozent stieg die Zahl der deut- schen Raubverdächtigen unter 18 in den alten Bundesländern allein 1997. Der Staat, der sich die Sorge für Schutz und Erziehung seiner Jüng- sten ins Grundgesetz geschrieben hat, gibt schwierige Kinder und Jugend- liche mittlerweile auf wie alte Autos. Die kaputten Kids bleiben am Stra- ßenrand liegen, als Straßenkinder be- völkern sie die Bahnhofsviertel. Oder die Obrigkeit setzt sie, wenn sie kei- nen deutschen Paß haben, in der Fremde aus, wie im vergangenen Jahr den kriminellen Münchner Jungtür- ken Mehmet, damals 14. „Wir stehen hilflos da“, räumte der liberale Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig ein, als er noch im Amt war. Die Nachfolger sind nicht klüger. „Wir haben zu lange über die Ursachen der Kriminalität nach- gedacht und zuwenig über deren Bekämpfung“, sagt Kanzler Ger- hard Schröder. Seine SPD hat

CHIEN-CHI CHANG / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR CHIEN-CHI CHANG / MAGNUM ein „Bündnis gegen Gewalt“ an- Hissen der US-Flagge in Glen Mills: „Wir nehmen hier niemandem seine Würde“ gekündigt. Um bitte was in etwa zu tun? guter Umgang, gutes Benehmen, gute Aus- noch die Hälfte, keine Reise scheint zu weit Das Land mit der größten Richterdichte bildung, ganz einfach. auf der Suche nach neuen Rezepten. der Welt hat weder Methoden noch Ideen, Die Deutschen hören erst hin, seit die So offenkundig hilflos sind die traditio- was etwa mit Heitem geschehen soll, der Jugendgewalt hierzulande amerikanische nellen Instanzen der deutschen Jugendhil- über Monate mit Raubüberfällen, Gewalt- Ausmaße angenommen hat. Nun gibt es fe gegenüber den kleinen Arschlöchern. taten, Messerstechereien die Kölner Polizei sogar einen Verein – „German Mills“ –, Die Schule? Wird plattgemacht. Sozialar- in Atem gehalten hat. der Zöglinge wie Niklas zu Ferrainola ver- beiter? Werden ausgelacht. Jugendrichter? Heitem hat das Schicksal vieler Groß- mittelt. Und unter umständlichen deut- Sollen früher aufstehen. stadtkinder. Seine Mutter muß arbeiten, schen Bezeichnungen – „Anti-Aggressi- Die Zahl der Gewalttäter unter Kindern seinen Vater kennt er nicht. Er lebt prak- vitäts-Training“ – machen Glen-Mills-Me- und Jugendlichen hat sich seit 1985 ver- tisch auf der Straße. Die Polizei, die den thoden in deutschen Städten Schule. dreifacht. Selbst auf dem platten Land in Knaben allenfalls ein paar Stunden fest- Was hilft noch gegen die Saat der Gewalt Schleswig-Holstein sind 60 Prozent der halten kann, wandte sich, weil er noch nicht in den Städten, die kleinen Monster auf Räuber jünger als 21. Ein harter Kern von mal 14 war, hilfesuchend ans Jugendamt. deutschen Schulhöfen, die Gangs, die rau- mittlerweile 15 Prozent der Kids zwischen Doch die Jugendhelfer wissen auch bend und prügelnd durch die Vorstädte zie- 10 und 17, so schätzt Forscher Hurrelmann, nicht, wohin mit rabiaten Kindern. Ge- hen? Bedenken zählen neuerdings nur werde „mit schweren Formen der Gewalt“ schlossene Heime gibt es kaum noch. Also

Serientäter mit 14 Vergewaltigt und ermordet Mehr als 60 Straftaten hatte Ein 16jähriger vergewaltigte Mehmet begangen, ehe er 14 und ermordete die 11jährige und damit strafmündig wurde. Christina im Mai in einem Im Oktober wurde der in Waldstück bei Doberstau. Das München geborene Türke nach Gericht in Leipzig verurteilte Istanbul abgeschoben. Sein ihn zu neuneinhalb Jahren Anwalt beantragte die Rück- Haft und ordnete die Einwei- S. KIENER nahme der Ausweisung. sung in die Psychiatrie an. DPA

der spiegel 12/1999 119 Gesellschaft FOTOS: CHIEN-CHI CHANG / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR CHIEN-CHI CHANG / MAGNUM FOTOS: Schlangestehen fürs Mittagessen in Glen Mills: Dichtes Geflecht von Normen

Glen Mills, Lektion eins: positiv sein. ist, kann Rang und Privilegien in der Grup- Große Tafeln, eine Spalte für jeden penhierarchie erlangen, Mitglied im „Bulls- Schüler, registrieren in den Wohnblocks Club“ werden oder gar als Oberbulle eine der Jungs den Stand der Dinge. Positiv- Art Schulsprecher. punkte und Negativpunkte für jeden Zög- Schnell, bedrohlich schnell macht sich ling. Positiv ist grün, negativ ist rot, rote die Gruppe Neuankömmlinge gefügig. Pro- Punkte fressen grüne Punkte. tokoll eines Aufnahmeritus: Es gibt hier keine Gitter, keine Schlösser George aus Baltimore, ein Schwarzer, oder Zäune auf dem elf Hektar großen ein Brutalo und Chef einer Vorstadt-Gang, Areal von Glen Mills, auch keine richtigen tritt auf, das gerade ausgehändigte Kör- Strafen. Aber es gibt ein dichtes Geflecht perpflegeset noch unter dem Arm: „Glotzt von Normen für gutes Leben, Normen, wie nicht so blöd, ihr Weicheier.“ sie ein halbwegs glücklicher US-amerika- Mike aus der Gruppe zeigt sich be- nischer Mittelstandsbürger in einem der leidigt. Er fordert George auf, sich zu vielen kleinen Holzhäuschen schon immer entschuldigen. George fixiert den kör- hochgehalten hat. perlich Unterlegenen: „In Baltimore Den Normen kommt keiner aus. Die fliegt so was wie du ins Hafenbecken.“ Football-Training in Glen Mills Gruppe sorgt für ihre Durchsetzung. Die Mike: „Du drohst mir, Mann, das ist ein Trophäen aus dem ganzen Land Kids verkünden bei Normbruch die Stra- verdammter Fehler.“ fen: Tausendmal schreibst du „Wir verlei- Mittlerweile stehen vier Jugendliche um wandte sich das Jugendamt hilfesuchend an hen und leihen hier keine Sachen.“ Und den Neuen. „Was bildest du dir ein?“ – die Kinderpsychiatrie. wenn du das nicht pünktlich lieferst, ver- „Ich fühle mich mißachtet.“ – „Du hast Die Kölner Kinderpsychiatrie ist keine doppelt sich die Strafe. mir meine Würde genommen!“ Verwahranstalt für kleine Monster, schon Die Gruppe ist positiv: Das ist der Trick. George: „Ja spinnt ihr alle? Was wollt weil die Wände viel zu dünn sind: „Der „Die Jungs sind ja nicht schlecht“, sagt ihr? Verpißt euch!“ tritt einmal gegen unsere Rigipswand, dann Sam Ferrainola, der alte Patriarch mit dem Jetzt stehen 20 um ihn herum. George ist der wieder draußen“, erläuterte ein vergnügt-tyrannischen Kinderblick, „sie hat im Rücken die Wand. Die Jungen be- Pfleger in der „Frankfurter Rundschau“. waren nur in schlechter Gesellschaft und ginnen leise zu schimpfen, werden immer Die Jugendpsychiatrie in Viersen hat haben sich darum falsch entschieden.“ lauter: „Am Arsch sollen wir dich lecken, dickere Wände. Und der Jugendamtmann Ferrainola hat seine Erfahrungen als komm, Bulle, zeig ihn her!“ – Laut, leise, in Köln beschloß, dem Terrorknaben „end- Bandenmitglied weiterverarbeitet als Pro- freundlich, boshaft, ein Gewitter. lich eine Grenze“ zu setzen. fessor für Pädagogik an der Uni, und nun Ein Pädagoge beendet die Konfronta- Das Kind wurde, an Händen und Füßen zwingt er seinen Jungs eine Gegengesell- tion: „George, du hast alle beleidigt. Hol angeschnallt, in einen Rettungswagen ge- schaft auf: „Um akzeptiert zu werden, be- deine Klamotten und geh.“ schoben und per Sondereinsatz nach Vier- folgen sie die Normen und Er wird in ein anderes sen gefahren. Und endlich, endlich hatten Anforderungen ihrer Gruppe. Haus gebracht. Dort ist der die Grenzensetzer vom Jugendamt ihr Ziel Und das tun sie, seien die An- Gruppenleiter bereits telefo- erreicht: Heitem, das böse Kind, heulte. Ei- forderungen nun kriminell nisch informiert und begrüßt nen Tag später war er wieder draußen, kurz oder legal.“ ihn: „Du hast ziemlichen Är- darauf überfiel er mit seiner Bande einen Die Gruppen, das sind ger gehabt. Nun sei erst mal Zwölfjährigen und schlug ihn zusammen. Wohneinheiten in den Häu- willkommen.“ George ist ir- „Wir kämpfen hier nicht.“ – „Wir lügen sern mit den klingenden Na- ritiert und erleichtert. Er hier nicht.“ – „Wir nehmen hier nieman- men amerikanischer Erfolgs- steckt in einer Normenkrise. dem seine Würde.“ – „Wir geben hier zu, menschen wie Abraham Lin- Ein paar Wochen weiter, wenn wir etwas falsch gemacht haben.“ – coln. Die Gruppe verleiht und Typen wie George sind so „Wir rauchen hier nicht im Büro der Kran- Macht und Ansehen wie im positiv drauf, daß sie anfan- kenschwester.“ richtigen Leben: Wer positiv Glen-Mills-Chef Ferrainola gen zu dichten. In der Schul-

120 der spiegel 12/1999 Werbeseite

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Seine „ressourcenorientierte“ der Gefängnismauer, und vor dem Fenster Erziehung hält Ferrainola dem aalen sich Katzen in der Sonne. Man kann traditionellen Erziehungskonzept sie beim Freigang sogar streicheln. der Alten Welt entgegen, das er Bis er 14 war, also strafmündig wurde, ha- bissig das „klinische Modell“ ben sie ihn gewähren lassen – jahrelang. nennt: Die Jugendhilfe stelle auf Körperverletzung, Raubüberfälle, Straßen- die delinquente, defizitäre Per- karriere. Draußen mußte er vor nieman- sönlichkeit der kleinen Gangster dem Angst haben, nicht mal vor den ab. Das erfordere „den teuren Russengangs: „Ich bin mit den Türken ver- Einsatz von Sozialarbeitern und bündet.“ Bei den gängigen Auseinander- Therapeuten, geschlossenen Ein- setzungen zwischen Türken- und Russen- richtungen,Aufsicht und Zwang“. gangs bleiben die Türken meistens Sieger. „Diese Leute“, schnaubt der Christian kann sich nicht an seine El- Alte, „zerstören unsere Kinder.“ tern erinnern, „sie sind tot“, sagt er. Auf- gewachsen ist er unter der Obhut von Ju- ie Zerstörung läuft systema- gendbeamten und Pflegeeltern. Die Schu- Dtisch und mit großem Einsatz le ist mit ihm nicht fertig geworden, die an Personal. Die dunklen Regeln, Sozialarbeiter haben ihn aus den Augen die der Klientel im Laufe vieler verloren, irgendwann ist er am Bahnhof in Jahre hineingeprügelt worden Hannover untergetaucht. sind, betet der Gefängnisdirektor Nun sitzt er, endlich 14, das karierte Mu-

S. SAUER / LICHTBLICK Hans-Jürgen Eger aus Hameln mit ster der Sonnenstrahlen durchs Gitterfen- Crash-Kid (r.), Betreuer*: Teure Experimente leiser, erbitterter Stimme herun- ster auf dem Kindergesicht. Ein Richter hat ter: „Kannst nichts. Taugst nichts. „Härte gezeigt“. Und für Christian ist klar, zeitung werden die schönsten Ergebnisse Wollen dich nicht. Brauchen dich nicht. Lie- wie es hier drinnen jetzt weitergeht: „Ich gedruckt. Student William schreibt: ben dich nicht.“ bin hier mit den Türken verbündet.“ Die Idee unserer Liebe 325 Leute braucht Eger, um die 630 ka- Es ist gar nicht gesagt, daß Christian bleibt in meinem Herzen putten Kids hinter der sechs Meter hohen wirklich eine Haftstrafe bekommt. Ratlose und ich habe schon gebetet Mauer bewachen zu lassen. Um es ordent- Richter stecken kleine Monster in U-Haft, daß du mich niemals verlassen wirst. lich zu machen, sagt Eger, müßte er etwa um denen endlich mal einen Schrecken Der amerikanische Traum, alles wird 170 Leute mehr haben – „aber wenn ich das einzujagen. Und wenn man den Wissen- gut. Der Glaube an die Machbarkeit des in meinem Ministerium erzähle, erklären schaftlern folgt, die seit Jahren die Wir- guten Lebens wird Ferrainolas Kindern den die mich für verrückt“. kungen des Jugendstrafrechts auf die De- ganzen Tag lang nahegebracht. So ein Tag Was kann Eger denn seinen Oberen linquenten untersuchen, dann ist es auch beginnt morgens um halb sieben und endet auch anbieten fürs Geld? Jeder weiß, daß ganz egal, welche Strafe Christian schließ- um 23 Uhr, wenn alle ganz fertig von den der Knast gewalttätige Jugendliche ge- lich bekommt. guten Lehren in ihre Betten fallen. walttätiger, nicht friedlicher macht. „Die Kriminologen wie der Tübinger Pro- Glen Mills bietet Schulabschlüsse auf je- Jugendstrafe erzieht nicht zum rechtschaf- fessor Jürgen Kerner vertreten die The- dem Niveau – für die meisten Zöglinge fenen Lebenswandel, son- se von der „Gleichwirkung“ geht es darum, erst mal lesen und schrei- dern sie verstärkt abweichen- der Sanktionen. Was auch ben zu lernen. Die Sportmannschaften des des Verhalten“, lehrt der immer man mit einem ju- Internats kassieren überall im Lande bei Jugendkriminologe Horst gendlichen Delinquenten an- Wettkämpfen die begehrtesten Trophäen. Schüler-Springorum. stelle, so die kurze Zusam- In den Lehrwerkstätten der Schule wird so Darum ist es eine richtige menfassung, es bringe alles präzise gearbeitet, daß New Yorker Mode- Drohung, was Eger hervor- gleich viel. Nämlich: nichts, firmen hier fertigen lassen. stößt: „Alle Insassen werden ergänzen manche von Ker- „Alles, was ich im Leben Gutes erfahren entlassen.“ Irgendwann. ners Kollegen. habe, verdanke ich Glen Mills. Es war der Trotzdem: Egers Knast, der Kerners Zahlen jedenfalls erste Platz, an dem ich mich sicher fühlte“: sich rühmt, der modernste sind entmutigend.Von denen, Das Bekenntnis des Ferrainola-Schülers Europas zu sein, brummt. Es die unter 20 schon einmal Robert Rivera veröffentlichte die „New ist viel zu voll hier. Die Wel- eingesperrt waren, so das York Times“. Und René aus Bremen, der le der Neueingänge ist kaum schwarze Fazit, sind 92,2 Pro-

auch in Glen Mills landete, redet nicht viel zu verkraften. „In der Ge- / ARGUS H. SCHWARZBACH zent binnen fünf Jahren nach anders: „Wir sind hier alle auf einem Weg, sellschaft gibt es halt einen Sozialarbeiterin Guder der Entlassung rückfällig ge- den wir nicht mehr verlassen.“ Bewußtseinswandel zugun- worden. 76,6 Prozent langten René ist auch als „student of the month“ sten härterer Maßnahmen – und der setzt erneut so schwer zu, daß sie wieder in den im Bulls-Magazin abgebildet. Er hat seine sich in den Köpfen der Richter fort“, sagt Bau mußten. Lehre in der Töpferwerkstatt mit einer der Direktor. Christian, der kleine Blonde mit den bö- Lehmbüste von Papa Ferrainola gekrönt. Den Trend zur Härte bekam Christian, sen Fäusten, kann tun, was er will: Vor Ker- Die Büste bleibt da, der Zögling ist 14, zu spüren. Er ist der Jüngste hinter der ners Statistik ist er verloren. zurück in Bremen. Der beglückte Patriarch Sechs-Meter-Mauer und nur als Untersu- Verlorene Kinder – daß es so etwas ge- spendierte ihm ein Steinmetzstipendium. chungshäftling hier. Die Sonne wirft durchs ben könnte, hat manche Kriminologen Ein bißchen dicke ist das schon. Aber Fenster ein kariertes Muster auf den nicht etwa entsetzt, es hat sie beflügelt. die Büste dient nun als Beweisstück für weißen Teller mit Essensresten in seiner Wenn man die unverbesserlichen Übeltä- Ferrainolas Credo: „In den Jungs steckt Zelle. Als U-Häftling wird man viel her- ter, die Früchtchen, rechtzeitig heraussu- alles drin.“ Dichter oder Bildhauer – „man umgeschoben. Drum hat er keine bunten chen und wegsperren könnte, so die Idee, muß es nur herausholen“. Mädchen an den Wänden. würde die Welt vielleicht besser. Aber ansonsten: „Gar nicht so schlecht Die Früchtchen-Theorie hat ihren Ur- * Beim Abenteuerurlaub auf den Kanarischen Inseln. hier.“ Enten paddeln im Wassergraben an sprung nahe Glen Mills, in Philadelphia. Da

122 der spiegel 12/1999 Werbeseite

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Werbeseite Gesellschaft untersuchten Kriminologen die Verbre- schwierige Kundschaft. Die Sozialarbei- perten aus Glen Mills, in die deutschen chenskarrieren von fast 30000 Jugendlichen terin wirbt, vermittelt und betreut in Jugendknäste auf und wählt aus: Mehr- und kamen in den Siebzigern zu einem ver- Deutschland schwere Jungs für Glen Mills. fachauffällige, gruppenorientierte Ge- blüffenden Ergebnis: Fast drei Viertel aller Ihr Auftraggeber ist der Verein „German walttäter mit brauchbarem Intelligenz- Raub- und Tötungsdelikte wurden von ei- Mills“, der aus engagierten Jugendrichtern, quotienten können sich melden, keine nem kleinen harten Kern von sechs Prozent Sozialarbeitern und Professoren besteht. Psychopathen, keine Sexualtäter, keine der jugendlichen Täter begangen, Frücht- Der Verein hat ein Abkommen mit dem Heroinsüchtigen. chen wie Christian eben, den „Wenn wir kommen“, sagt „chronic offenders“. Frau Guder, „stehen die Jungs In bundesdeutschen Landes- auf der Matte und fragen: Kann kriminalämtern machten sich ich mit?“ Experten auf die Suche nach Jeder Bewerber muß einen „Intensivtätern“ und nach Ra- etwa zweistündigen Test beste- stern, sie rechtzeitig herauszu- hen. Und die Besten unter den sieben. In Großbritannien ent- Bösen werden, wenn der Rich- wickelten Kriminologen alsbald ter es genehmigt und die Justiz ein Computerprogramm fürs es bezahlt, von Frau Guder an Kinderscreening, um schon die Hand genommen und in der unter den Siebenjährigen die Holzklasse nach Amerika ge- künftigen Berufsverbrecher ent- flogen. „Am Anfang muß man decken zu können. sich um die Kandidaten küm- Das Problem: Ob einer sich mern, die können ja meistens zum Intensivtäter entwickelt, kein Wort Englisch.“ weiß man erst, wenn er es schon Er habe „erst mal kein Wort ist. Bis heute haben die Krimi- verstanden“, sagt Niklas, als nologen keine seriöse Theorie er die Neue Welt von Glen

anbieten können, die es erlaubt, M. ZUCHT / DER SPIEGEL FOTOS: Mills betrat. Im Fernsehraum einem Kind anzusehen, ob es Häftlingswerkstatt in Hameln: „Kannst nichts, taugst nichts“ mußte er am Anfang mit dem ein Früchtchen wird. Und inter- Rücken zum TV-Gerät sitzen. national renommierte Experten Dafür sagten ihm jeden Abend wie der Tübinger Kerner sind si- die Mitschüler geduldig einer cher, daß das auch nicht geht. nach dem anderen die Nor- Die Früchtchen-Theorie ist men auf, auf englisch natür- in den Köpfen all derer, die – lich. Die erste Norm, die er ver- wozu es auch immer gut sein stand, erzählt Niklas, war: „No soll – fürs Einsperren plädieren. graffiti.“ Die Münchner CSU-Regierung „Wir gehen hier nicht ohne plant eine „flächendeckende Er- Erlaubnis in das Administra- weiterung bestehender Einrich- tionsgebäude.“ – „Wir lachen tungen um eine geschlossene hier nicht in der Gruppe.“ – Abteilung“ für Minderjährige. „Wir stellen hier die Fernseher In ihrem „Positionspapier zur vor dem Schlafengehen aus.“ – inneren Sicherheit“ schlug auch „Wir haben hier unsere Betten die SPD schon „geschlossene um 8.30 Uhr fertig.“ – „Wir Heime“ für Jugendliche vor, schreiben hier nicht auf Mö- „die durch hochgradig krimi- beln ohne Unterlage.“ – „Wir nelles Verhalten auffallen“. reden hier nicht, wenn wir Doch wen will man wann da- Schlange stehen.“ hinschicken – und vor allem: Häftling Christian in Hameln: Verlorene Kinder Glen Mills, Lektion zwei: der wie lange? Apparat. Ob einer ein Früchtchen wird, ob er wie Glen-Mills-Patron Ferrainola und kassiert Es macht Spaß, Diktator zu sein. Ferrai- der Darmstädter Jugendamtsschreck Chri- für seine Bemühungen bei Jugendhilfe und nola schnürt durch die Waschräume und stopher 160 Raubtaten begeht, bevor er zum Justiz. 15 Betten in Glen Mills sind ständig kontrolliert die Spiegel über den Wasch- teuren Abenteuerurlaub nach Argentinien mit deutschen Jungs belegt. becken: „Ein Wasserfleck genügt“, sagt er geschickt wird, entscheidet sich von Fall zu Petra Guder sieht mit gegelten schwar- fröhlich, „und ich flippe aus.“ Fall neu. Und wie es sich entscheidet, hängt zen Haaren, grellroten Lippen und ihrem Ferrainola flippt nicht aus, es gibt keine von den Leuten ab, die mit ihm zu tun ha- dynamisch schwarzen Hosenanzug jeden- Flecken in Glen Mills. Die Tische in der ben. Das sind selten seine Eltern, meistens falls nicht so aus, wie sich die Amerikaner Bibliothek sind 14 Jahre alt. Sie sehen aus, seine Freunde; und fast immer eine experi- deutsche Sozialarbeiter mit ihrem Helfer- als wären sie noch nie benutzt worden. mentierfreudige Anzahl von Sozialarbei- look vorstellen. Und sie redet auch nicht so. Alle blicken allen in die Augen und he- tern, Pädagogen und Jugendrichtern. Jugendämter, sagt sie, sollten wie jede ben, wenn sie einander begegnen, die Hand anständige Firma mal „ordentliche Ziel- zum Gruß: „Hi, how do you do?“ Alles ist ardcore-Jugendliche“, sagt Petra Gu- vereinbarungen“ machen, Maßeinheiten wie aufgezogen, alles klappt. Hder, 38, seien ihr Geschäft. Und sie für den Nutzen der eigenen Aktivitäten In weißen Elektrowagen, wie man sie habe, natürlich, „auch Totschläger im Pro- entwickeln und mit den Kosten verglei- vom Golfplatz kennt, fahren die 350 An- gramm“. chen, die sie verursachen. „Total quality gestellten auf dem Riesenareal zwischen Dafür ist sie in ganz Deutschland unter- management“ eben. den rund 1000 Studenten herum, abrupt wegs, erreichbar überhaupt nur im Auto Zielgruppenorientiert macht sich die bremsend, wenn es gilt, eine widernatür- über Handy, ständig auf Achse für die Sozialarbeiterin Guder, im Schlepptau Ex- liche Zigarettenkippe vom Weg aufzule-

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Werbeseite Gesellschaft sen. Die Angestellten haben mit ihren Fa- milien in einer eigenen Siedlung auf dem Internatsgelände ihr Zuhause mit Schwimmbad und Bowlingbahn. Sie ver- dienen wenig und sind praktisch immer im Dienst. „Total quality management“, würde Pe- tra Guder sagen, die hier auch ein Apart- ment besitzt. Und tatsächlich hat sich Fer- rainola Unternehmensberater und Wirt- schaftsmanager ins Haus geholt. Das Management des charismatischen Di- rektors bestand am Anfang im wesentlichen aus Rausschmeißen: „Ich habe, als ich das In- stitut übernahm, alle Sozialarbeiter wegge- schickt und alle Security-Leute auch.“ Glen Mills war, bevor Ferrainola kam, eine Kinderquälanstalt. Die Wohnhäuser und Schulgebäude waren mit unterirdi- schen Tunnels verbunden, durch die die Gefangenen gebückt von Haus zu Haus ge- trieben wurden. So bekamen sie zwar kei- ne frische Luft ab, dafür aber sparte man

sich eine Mauer um die Anlage. FOCUS / AGENTUR CHIEN-CHI CHANG / MAGNUM Menschen statt Mauern: Heute können Glen-Mills-Zöglinge beim Anstreichen: „Die erwirtschaften ein Vermögen“ sich die Schüler völlig frei bewegen. Aber es kommt nur ganz selten vor, daß der schüchtern“. Die Hälfte der Mitarbeiter schenmenschliche ist suspekt. Glen-Mills- diensthabende Erzieher nicht weiß, wel- sind Handwerker, manche waren Profi- Norm: „Wir können hier keine Freund- chen Schritt ein Schützling gerade tut. sportler, auch ehemalige Gangleader aus schaften durch dick und dünn gebrauchen.“ Ferrainola reißt die Klassentür auf, 30 Chicago finden sich hier. Sie alle müssen Sam Ferrainolas Neue Welt ist ein wilde Kerle sitzen da und buchstabieren sich der Philosophie der Menschenverbes- menschlicher und sozialer Reinraum: „Kli- die amerikanischen Bundesstaaten. „Wel- serung bedingungslos unterwerfen. Ferrai- nisch subkulturfrei.“ Wer aus der Firma ches ist die schönste Schule der Welt?“ nola sagt: „Warum soll ich Leute beschäf- wieder herauskommt, ist ein total ordent- fragt der Alte in den Klassenraum mit lei- tigen, die alles kritisieren?“ lich tickender Durchschnittsmensch. Das ser, listiger Stimme. Hier geht keiner so raus, wie er rein- „Marketingprodukt“, sagt Frau Guder, sei kommt. „Wir schieben hier den Stuhl un- „Entstigmatisierung und Habilitation de- ter den Tisch, wenn wir aufstehen“, lautet linquenter Jugendlicher“. die Norm. Nur drei Monate habe es ge- Das Uhrwerk läuft so glatt, daß es wenig dauert, berichtet Gruppenleiter Jack, bis er braucht.Verglichen mit deutschen Heimen auch zu Hause beim Aufstehen den Stuhl ist der Personaleinsatz bescheiden, in den unter den Tisch geschoben habe. Gruppen schnurrt die Selbstkontrolle. Die Ferrainolas Firma ist eine Art Großver- guten Jungs produzieren im internen Wett- such über Unternehmenskultur mit über- bewerb (Internatsziel: „beste Schule der aus schwierigen Versuchskaninchen. Frau Nation“) hochwertige Produkte, die sich Guder, die auch noch Betriebswirtschaft gut verkaufen lassen. für öffentliche Unternehmen studiert Die Einnahmen fließen so reichlich, daß hat, drückt das so aus: „Ziel ist die Kon- Ferrainola eine perfekt ausgerüstete Sport- gruenz von formeller und informeller halle und die schickste Arena weit und Normstruktur.“ breit bauen lassen konnte: „Das haben wir In jeder Firma gibt es ein Set von Nor- alles selbst verdient“, sagt der Chef.

Y. ARSLAN / DAS FOTOARCHIV ARSLAN / DAS Y. men, an denen sich die Mitarbeiter orien- „Die erwirtschaften ein Vermögen in Glen-Mills-Absolvent Niklas tieren, ohne daß sie in irgendeinem Ar- Glen Mills“, weiß Dagmar Vieten-Groß, „Mit 90 durch die Kurve“ beitsvertrag stehen. Diese Normen ent- Jugendrichterin aus Dortmund, die natür- stehen von selbst in der Kantine, in den lich auch Mitglied im Verein „German „Glen-Mills-School.“ Klos und auf den Gängen. Und je stärker Mills“ ist. Und natürlich drängt sich da für „Lauter…“ die informellen Normen von den offi- Petra Guder „der Gedanke geradezu auf, „Glen-Mills-School!“ ziellen Regeln der Geschäftsführung ab- ob sich das Modell nicht auch auf deut- „Lauter.“ weichen, desto schlechter läuft der Laden. sche Gegebenheiten übertragen läßt“. „Glen-Mills-School!!!“ Alles klar? Der German-Mills-Verein hat es im- „Ich bin der Direktor. Ich kann hier ma- Ferrainolas Apparat basiert auf einem merhin schon geschafft, Ferrainola die Eh- chen, was ich will. Denn jeder weiß: Ich lie- totalitären Normensystem: Es gilt für alle, rendoktorwürde der Fachhochschule von be meine Jungs.“ Er tätschelt sie tatsächlich es gilt von selbst, und es gibt nichts außer Lüneburg zu verschaffen. am Kopf. Direktors Löwendressur. den Normen, die es gibt. Und die Aktiven schauen eifersüchtig Die Leute von Glen Mills sind keine Alles, was geeignet wäre, Gegennormen auf die Niederlande, wo in der Nähe von Sozialarbeiter, keine Wachleute, keine wachsen zu lassen, ist strengstens verboten. Deventer mit staatlicher Förderung auf ei- Pädagogen und schon gar keine Juristen. Gruppenbildung außerhalb des offiziellen nem ehemaligen Militärgelände das er- Sie sind irgendwie alles zusammen. Bulls-Club ist verboten. Schmuck und Klei- ste europäische Glen Mills entsteht: In Die Stellenbeschreibung lautet: „Sport- dung, die Zugehörigkeit zu Cliquen signali- Deutschland ist so etwas vorerst nicht lich, hilfsbereit, zuverlässig, nicht einzu- sieren könnten, sind verboten. Alles Zwi- drin. So totalitär, blauäugig und hemdsär-

128 der spiegel 12/1999 melig, würde man in Glen Mills sagen, „machen wir hier in Deutschland keine Jugendarbeit“.

ie deutsche Jugendhilfe ist wahr- Dscheinlich ein Sauhaufen, sie läßt ihre Klientel verkommen, ist desorganisiert und hält verbissen an den Erziehungsidealen der siebziger Jahre fest. Aber nicht einmal das kann man mit Sicherheit sagen. Niemand hat einen Überblick, niemand kennt Zahlen oder Quoten. Die Fürsorge- leute entziehen sich seit Jahrzehnten je- der Beurteilung. Die Streitmacht zur Rettung gewalttäti- ger Jugendlicher und verwahrloster Kin- der sitzt verteilt in den ärmlichsten Ecken der deutschen Rathäuser, in den Hinter- zimmern karitativer Einrichtungen, in den Wohnbüros gutwilliger Selbsthilfeinitiati- ven. Dazwischen wieseln geschäftstüchtige Privatunternehmer mit Blitzangeboten fürs Familienmanagement herum. Keiner weiß, was der andere macht, was das Ganze ko- stet, was es bringt – oder schadet. Das größte gesellschaftliche Problem an der Schwelle zum dritten Jahrtausend ist nicht die Mafia, sind nicht die Ausländer, es sind die verlorenen, hilflosen, brutalen Kin- der und Jugendlichen und ihre meist gleichaltrigen Opfer. Seine Lösung wurde herunterdelegiert auf die unterste Ebene, zu den Kommunen und freien Trägern der Wohlfahrt, dorthin, wo es weder politische Verantwortung noch Geld gibt. Was Forscher der Uni Tübingen, ausge- stattet mit Geld aus dem Bundesfamilien- ministerium, in den Aktenschränken von Jugendämtern entdeckten, ist entmutigend. 284 Jugendamtsakten, eine Stichprobe aus drei alten Bundesländern, filzten die Experten. Die Bilanz: Nur in gut der Hälf- te der Fälle trafen die Prüfer auf „Min- deststandards“ fachlicher Jugendarbeit. Sie stießen auf Akten wie die über einen Jungen, der 13 Jahre lang in einem Heim untergebracht war. Über die ersten 8 Jah- re findet sich überhaupt nichts in den Behördenunterlagen. Dann einige Akten- vermerke, dann das Kündigungsschreiben der wirtschaftlichen Jugendhilfe, das war’s. Die Wurstelei der Jugendhelfer, kriti- siert der Bremer Professor für Sozial- pädagogik Jürgen Blandow, „reproduziert das, was sie zu bekämpfen vorgibt“. Im hilflosen Wunsch, zu helfen, „vernachläs- sigen sie vitale Bedürfnisse von schwie- rigen Kindern und Jugendlichen: nach Sicherheit, Eindeutigkeit und Überschau- barkeit“. Das Netz öffentlicher Fürsorge ist ein Gestrüpp, das Kinder verschlingt. Je hef- tiger sie zappeln, desto mehr verstricken sie sich. „Mangelhaft ausgestattete und schlecht funktionierende Jugendhilfeein- richtungen“, kritisiert der Leipziger So- zialpädagogikprofessor Christian von Wolf- fersdorff, wüßten sich nur dadurch zu hel- fen, daß sie die schwierigen Jugendlichen

der spiegel 12/1999 Gesellschaft in Heime abschieben, wo sie auf noch orientiert. „Das Chaos der obrigkeitlichen Sonderschule, wenn sie dort zuviel stören, schwierigere Jugendliche treffen. Fürsorge“ müsse ein Ende haben. werden sie, wie das in den modernen Dort sind die Experten dann ebenfalls Das Versagen der Jugendhilfe wiegt um Schulgesetzen heißt, vom „weiteren Schul- schnell überfordert und wissen sich nur da- so schwerer, weil die beiden anderen besuch dauerhaft beurlaubt“. durch zu helfen, daß sie die schwierigsten Hilfstruppen der Gesellschaft sich hilflos Von Glen Mills lernen: „Die Spielregeln Fälle weiter abschieben in wieder andere zeigen: die Lehrer und die Juristen. der Mehrheitsgesellschaft“, sagt Hurrel- Einrichtungen, wo die Bräuche noch härter Die Schulen ruhen sich großenteils noch mann, werden Ferrainolas Jungs beige- sind und zufällig ein Platz frei ist. So geht immer auf einer Tradition der Unzustän- bimst, das sei die Kompensation für ka- das immer weiter, die Opfer landen schließ- digkeit aus. Fürs Wissen, nicht fürs Wohl putte Elternhäuser. Das sei „das amerika- lich in der Psychiatrie oder auf der Straße. der Kinder seien die Lehrer da. nische Geheimnis“: Normen setzen und Hanna Permien vom Deutschen Jugend- Dieser ignorante Lehrsatz fußt in darüber reden. institut in München ist monatelang Berliner Deutschland auf der Bildungseuphorie der Als Agentur der Gesellschaft zur Durch- Straßenkindern hinterhergestiegen, um siebziger Jahre. Die Idee, gleiche Lern- setzung der Regeln des richtigen Lebens fungiert hierzulande allein die Justiz. Und das sei auch gut so, sagt Jürgen Fröhlich, 54, Jugendrichter am Amtsgericht in Frankfurt am Main: „Den Pädagogen fehlt die Ver- bindlichkeit, wir aber können anordnen.“ Erziehung ist nicht. Fröhlich, ein Jurist, der von Anwälten wie Richterkollegen glei- chermaßen als vorbildlicher Richter aner- kannt ist, beharrt darauf: „Früher wollten Richter bessere Menschen machen. Aber man muß sich darauf zurücknehmen, die Jugendlichen von weiteren Straftaten ab- zuhalten.“ Rechtsstaatlichkeit, Verhältnis- mäßigkeit, Tatangemessenheit – das seien, sagt Fröhlich, seine Maximen. Heribert Ostendorf, Jugendstrafrechtler und ehemals Generalstaatsanwalt in Schles- wig-Holstein, sieht es so ähnlich: „Wir be- strafen nicht, um zu resozialisieren, son- dern wenn wir bestrafen müssen, versu- chen wir auch zu resozialisieren.“ Doch da die Resozialisierung fast nie ge- lingt, stellt sich die Frage, wozu dann die Jugendjustiz gut sein soll. Es bleiben allein Sühne und Abschreckung. „Normverdeutlichung“ nennt Fröhlich das: „Wir, die Gesellschaft, sagen dir: Das

K. MÜLLER / DAS FOTOARCHIV K. MÜLLER / DAS lassen wir nicht zu, was du da machst.“ Häftlinge im Jugendstrafvollzug in Neustrelitz: „Wir stehen hilflos da“ Die Justiz ist ein Riese mit dicken Fin- gern: Der droht, aber macht nichts deutlich. ihre traurigen Geschichten zu rekonstruie- chancen für Kinder aller Schichten zu or- Für schnelle Reaktionen gegen die Attacken ren. Die Expertin kommt zu dem Ergebnis, ganisieren, war faszinierend genug, alle Res- der jungen Gewalttäter ist der Apparat viel daß ein großer Teil der Kinder durch die sourcen der Schule fürs Lernen zu binden. zu groß. „Es stellt sich die Frage nach dem Schuld der Jugendämter auf der Straße ist. Die Schulgesetze der Länder wurden Sinn des Unternehmens“, gibt Ostendorf zu Mit ihrem Hin und Her hätten die seitdem so umgeschrieben, daß selbst er- bedenken, „wenn sechs Monate und später Behörden die Kinder ganz verrückt ge- ziehungsbewußte Pädagogen kaum noch erst die Reaktion auf die Tat folgt.“ macht: „Einer Phase der Verharmlosung“ über Mittel verfügen, aufsässige Schüler Mit der eigenen Langsamkeit plagt sich ihrer Probleme sei nicht selten „eine Pha- zur Räson zu bringen. Der Pauker, der zur die Jugendjustiz allerorten. „Unterbeset- se massiver Intervention“ gefolgt – und Hofaufsicht eingeteilt ist, wurde zur Lach- zung“, klagt der Hamburger Jugendrichter umgekehrt: ein „fatales Ineinandergreifen nummer. In einer Bremer Schule haben sie Joachim Katz, sei schuld. Doch es gibt in unzureichender Hilfsangebote“. schon für die große Pause bewaffnete Be- Deutschland im Vergleich zu anderen Län- Außer „guter Absicht“ sei da nichts ge- amte vom nahe gelegenen Polizeirevier für dern zu viele Richter, nicht zu wenige. wesen: „Konfliktlinien zwischen den Fach- den Ordnungsdienst bestellt. Nach Ansicht von Fröhlich liegt es an der kräften“, „segmentierte Verantwortlichkei- Doch auch zu Hause fand sich immer Konstruktion des Ermittlungsapparats. ten in den Abteilungen“ hätten verhindert, seltener jemand, der die Erziehung der Von der Staatsanwaltschaft in Frankfurt daß den Kindern, die oft schon im Kinder- Kinder übernehmen konnte. Massenar- zum Amtsgericht kann man sich notfalls garten, dann in der Schule aus der Bahn beitslosigkeit und soziale Not ließen Fa- mit lautem Rufen verständigen, es steht da geworfen worden seien, geholfen werde. milien zerbrechen. „Die Eltern als Instanz alles dicht beisammen. Doch manchmal Bis zu 15 Fachleute, so stellte Permien zur Vermittlung gesellschaftlicher Spielre- dauert es mehr als zwei Monate, bis eine fest, doktern an einem Straßenkind her- geln fallen immer häufiger aus“, registriert Akte für Fröhlich diesen kurzen Weg ge- um, oftmals ohne voneinander zu wissen. der Pädagoge Hurrelmann. nommen hat. Von Glen Mills lernen: Die deutsche Die Kinder, die das nicht beherrschen, Erfolgreicher, weil schneller, ist da oft Jugendhilfe, sagt der Bielefelder Gewalt- was Hurrelmann „die Spielregeln fürs nor- die Polizei mit eigenen Konzepten. Der Köl- forscher Hurrelmann, müsse sich als Dienst- male Leben“ nennt, die schließlich ag- ner Polizeipräsident Jürgen Roters etwa bot leistungsapparat vollkommen neu organi- gressiv und gewalttätig werden, sortiert das nach New Yorker Vorbild als erster „Mit- sieren: streng zweckrational und ergebnis- Schulsystem aus. Erst kommen sie in die ternachtsbasketball“ für gelangweilte Ju-

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Werbeseite Gesellschaft gendgangs an. Hamburgs Polizeiinspekteur im Gericht, Heckenschneiden im Park, Protagonisten vor ihren eigenen Mißerfol- Wolfgang Sielaff verblüffte die Justiz der Graffiti-Beseitigung auf der Straße – egal gen, sie ist Voraussetzung für das Spiel von Hansestadt mit einer altmodischen Art von was, nur: sofort. Unzuständigkeit und Verantwortungs- Selbstjustiz: Polizisten klingeln schon am Mancher Kleinkriminelle kommt da, losigkeit. nächsten Tag bei den meist ahnungslosen abends verurteilt, verarztet, geläutert und Mühsam, aber immerhin versuchen die Eltern raubverdächtiger Jungen und ma- mit einem neuen Job nach Hause. Mutigen der Branche traditionelle Grenzen chen richtig Stunk. Ganz und gar unmöglich. Rechtsstaat, zu überwinden. Der Versuch, randalieren- Diese Art der „Normverdeutlichung“ Datenschutz, Gewaltenteilung, das halbe de Schüler mitsamt ihrer Klasse und ihrem hilft offenbar. Im Herbst 1998 meldete Sie- Grundgesetz steht solchen fixen Klassenlehrer zu behandeln, wird laff, die Zahl der Raubüberfälle unter Ju- Lösungen in Deutschland ent- in München vorangetrieben. gendlichen sei gegenüber dem Vorjahr um gegen. Für knapp über tausend Mark fast die Hälfte zurückgegangen. Aber ein bißchen Manhattan bietet dort das erzbischöfliche Ju- In Stuttgart plant die Polizeiführung ein könnte es schon sein. Der ehe- gendamt mehrtägige Seminare im „Haus des Jugendrechts“. Vorbild ist der malige Stuttgarter Polizeichef Grünen – Schüler und Lehrer aus Midtown Community Court in New York. Volker Haas, der das „Haus des Problemklassen lernen da, war- Kleine Rechtsbrecher, die ihre Taten zu- Jugendrechts“ initiiert hat, ver- um es bei ihnen knallt und wie geben, werden in Manhattan durch eine spricht sich viel davon, Richter, sich das gruppendynamisch ver- Art gesellschaftlicher Schnellwaschanlage Staatsanwälte, Polizisten und Ju- hindern läßt.

geschoben. gendhelfer für die schnelle All- / ARGUS H. SCHWARZBACH Die Kirchenleute bieten zudem Gleich nach der Festnahme geht es zum round-Behandlung junger Krimi- Weidner Kurse für Konfliktschlichter un- Computer. Alle Sozial-, Gesundheits- und neller zusammenzuspannen. ter den Schülern an. Konflikt- Justizdaten des Delinquenten werden ab- Ein Urteil, ein Arbeitsplatz, eine The- schlichtung versuchen auch andere Schulen gerufen, abgeglichen, aktualisiert. Welche rapie, eine Entschuldigung beim Opfer mittlerweile: Ältere Mitschüler werden Behandlung für den Täter die richtige ist, er- der Tat. „Binnen weniger Tage“, so Haas, trainiert, in der großen Pause für Deeska- gibt sich so meist schon am Bildschirm. müßte das auch in Deutschland zu schaf- lation zu sorgen. Zwei Räume weiter, im Gerichtssaal, gibt fen sein. Nach dem Vorbild des niederländischen es schnell ein Urteil, dann ab zur Arbeits- Der Charme solcher Experimente liegt Jugendhilfeprogramms „Instap“ planen So- vermittlung, aus der Suppenküche zwi- im Bruch mit einer traditionellen Gewal- zialhilfeexperten vom „Rauhen Haus“ in schendrin eine Hühnersuppe, bei Bedarf tenteilung. Die Schule bildet, die Fürsorge Hamburg in mehreren Städten eine Art Ju- eine Mütze voll Schlaf oder auch Aku- erzieht, die Richter bestrafen. Jeder für gendhilfe-SEK: Professionelle Helferteams punktur. Mediziner, Sozialberater, Juristen, sich, ohne Rücksicht auf das Ergebnis. stürzen sich für ein paar Monate auf Pro- alle stehen bereit. Die Schnellstrafe wird Doch diese Gewaltenteilung dient nicht blem-Kids und organisieren für sie vor Ort noch am selben Tag vollstreckt: Putzdienst dem Schutz der Bürger, sie schützt die ein selbsttragendes Netzwerk von Fach- Freundliche Geste Nonverbaler Hinweis auf den Normverstoß. leuten aus Jugendhilfe, Sozialverwaltung, Geste wird wiederholt Mit ernstem Ge- Die sieben Stufen der Justiz, Schule und Polizei. sichtsausdruck aber immer noch stumm. Konfrontation in der Die Welt ist voller Ideen, läßt man nur Anstalt von Glen Mills einmal die asketische These auf sich beru- „Freundlich-verbale“ Aufforderung hen, daß der Zweck staatlicher Strafe nicht Bitte sei so gut! die Erziehung sein dürfe und der Zweck der staatlichen Erziehung nicht die Ver- „Barsche“ Aufforderung Befehlston erlaubt. besserung des Menschen. Glen Mills, sagt Alarm („support“) Der Ermahnende ruft alle erreichbaren Personen seiner Umgebung der Pädagogikprofessor Hurrelmann, erin- zu Hilfe. Die Pflicht zum support ist auch eine Norm. Der Konfrontierte wird umzingelt. nere nicht zufällig „an ein sehr gutes In- Volksgemurmel, Friedlichkeit nach Lage. Pflicht des Konfrontierten, Blickkontakt zu halten. ternat“. Dabei ist es ja eigentlich ein Knast ohne Mauern. Oder nicht doch eher eine Nase an Nase Um die Aufmerksamkeit des Jugendlichen zu erzwingen, darf nun ein Mit- Art nach innen geschlossenes Heim für arbeiter – und nur ein Mitarbeiter – den Konfrontierten berühren, seinen Kopf mit Kraft auf Schwererziehbare? Blickkontakt drehen und ihn im Millimeterabstand beschimpfen, bis er sich entschuldigt. Glen Mills, das ist das Unheimliche an Matratze Sehr selten. Wehrt sich der Konfrontierte, werfen ihn so viele Mitarbeiter wie dieser Firma, ist nichts von dem – und dient nötig zu Boden und halten ihn nieder, bis er sich beruhigt. Abwandlung: Der Delinquent zugleich der Erziehung, der Strafe und der wird von der Gruppe mit einer Turnmatte an die Wand gedrückt. Die Konfrontation ist Menschenverbesserung. Das Amerikani- beendet, wenn das Opfer heult oder sich entschuldigt. sche daran: Kein Mensch hat sich darüber je Gedanken gemacht. „Wir spielen hier nicht mit den Händen, Das Spiel mit den gegenseitigen Be- In seinem Standardwerk über „Kinder, wenn wir Feedback kriegen.“ – „Wir ma- schuldigungen hat seine Grundlagen in die hassen“ – mit drei Jahrzehnten Ver- chen hier keine Gesten und Grimassen in der psychoanalytischen Schule, die der spätung auch in den Bücherschränken der Gruppe.“ – „Wir akzeptieren hier Kon- Wiener Pädagoge Fritz Redl schon in den deutscher Sozialpädagogen – entwickelt frontation.“ – „Wir bilden hier keine Sub- vierziger Jahren in seinem Heim für ge- Redl über 20 Strategien, das „delinquente gruppen.“ – „Wir gehen nicht durch die walttätige Kinder im US-amerikanischen Ich“ zu zertrümmern. Mitarbeitertür.“ Detroit probierte. Ein paar davon werden täglich auf dem Glen Mills, Lektion drei: die Methoden. Aufbauend auf den Lehren der Anna Campus von Glen Mills ausprobiert – in Wer etwas werden will in Glen Mills, Freud, isolierte Redl bei seinen kleinen netter Form. Die „sieben Stufen der Kon- muß sich umtun. 14 Tage lang täglich min- Monstern das „delinquente Ich“, das lar- frontation“ gehören zum Grundgesetz der destens 17 Normverstöße monieren, regi- moyant und verlogen ständig Strategien Anstalt, von der „freundlichen Geste“ bis strieren und vom Übeltäter gegenzeichnen entwickelt, wie ein Übeltäter vor sich zur körperlichen Unterwerfung (siehe Ka- lassen. So wird man „Bull“. selbst bestehen kann. sten). Sie könnten das Leben auf manchem Gesellschaft

Schulhof und in mancher Familie schlag- artig verändern. Jeden Morgen zwischen neun und zehn Uhr gibt es wahre Konfrontationsgewitter – da ist „heißer Stuhl“. Das ist schlimmer als Gottesdienst und Beichte zusammen. Alle Sünden müssen raus. Einer aus der Gruppe muß seine Geschichte erzählen, wie er lebt, was er angestellt hat, was er er- reichen möchte. Die anderen, etwa 15, die um ihn sitzen, machen ihn ein bißchen fer- tig: „Erzähl doch keine Scheiße, lüg hier nicht rum. Was bildest du dir ein, wer bist du eigentlich? Das kannst du doch nicht machen.“ Wenn einer losheult, ist Pause. Der Gruppenleiter, ständiger Betreuer und meist auch Trainer der Wohngruppe, moderiert und provoziert, darf aber nicht befragt oder gar beschimpft werden. Am Schluß beschließt die Gruppe eine Sanktion, die der Gruppenleiter genehmi- gen muß. Das kann der Verlust von Privi- legien sein oder eine Strafarbeit. Niklas aus Dortmund hatte zugeben müssen, daß er Zigaretten verschenkt hat- te („Wir verschenken hier nichts“). Das kostete ihn den Rang als „Bull“. Nicht nur die Zerstörung des „delin- quenten Ich“, auch die Nivellierung eines schädlichen Wir soll in den täglichen Grup- pensitzungen erreicht werden. Gruppen- strukturen, wie sie sich nahezu unver- meidlich in jedem Heim, in jedem Knast, in jeder Wohngruppe bilden, blockieren pädagogische Erfolge und verfestigen de- linquentes Verhalten. Die Stunde von neun bis zehn – Tag für Tag –, das, sagt Niklas, sei „voll das Här- teste in Glen Mills“. Soll es ja auch.

ie wilden Kerle von der Frankfur- Dter Ahornstraße galten mal als die ge- fährlichsten der Republik. Raubende Ju- gendbanden, brennende Autowracks, Steinhagel auf Polizeiwagen, schließlich ein erschossener 19jähriger: Szenen, die das Bild der „Frankfurter Bronx“ prägten, ei- nes sozialen Brennpunkts im Kleinbürger- Stadtteil Griesheim. Seit sich Polizei und Sozialarbeiter in- tensiv um die Bewohner in den Schlicht- wohnungsblocks kümmern, ist es immerhin friedlicher geworden. Gartenzwerge zie- ren manche Vorgärten, einer herzt eine Ente, einer spielt Ziehharmonika. Doch die grinsende Keramik täuscht nur notdürftig darüber hinweg, daß die Stim- mung in der Gegend um die Ahornstraße instabil ist. Fast 40 Prozent der Bewohner leben von der Sozialhilfe, mehr als 70 Pro- zent der Jugendlichen hier haben keinen deutschen Paß, fast ein Drittel sind Fälle für die Jugendgerichtshilfe. Gegen das häßliche Gewerbegebiet kommen tausend Gartenzwerge nicht an. Von den Höfen der Speditionsunterneh- mer dröhnen und pesten die rangierenden Lastzüge.An den Straßenrändern gammeln

134 der spiegel 12/1999 Autowracks. Es gibt mehr Schrottplätze hier als Spielplätze. Wer sich an dem Bürobau aus tristem Waschbeton vorbeidrückt und über den Hof spaziert, gelangt in einen weiß- getünchten Schuppen. Da steht es groß an der Wand: „Wir sprechen hier höflich und ruhig miteinander.“– „Müll gehört in den Behälter.“ – „Keine Gewalt.“ – „Niemand wird ausgelacht.“ Und: „Akzeptiere im- mer die Konfrontation.“ Insgesamt 20 Normen stehen an der Wand, und auch: „Sechs Stufen der Kon- frontation“, von „Erstens freundliche Ge- ste“ bis „Sechstens Support“. M. TÜREMIS / LAIF Mitternachtsbasketball in Köln Ein bißchen Manhattan

Glen Mills in Frankfurt-Griesheim. Es gibt auch eine Punkte-Liste: rote Punkte für Normverstöße, grüne für gute Leistun- gen. Ein roter frißt drei grüne, jeden Tag Punktebesprechung. Der Schuppen auf dem Hinterhof gehört der Caritas, die hier, am sozialen Brenn- punkt, mit Methoden aus der Neuen Welt Frieden bringen will. Der Pädagoge Stefan Schanzenbächer, 33, betreut Jungs aus der Gegend um die Ahornstraße, die mehrfach als Gewalttäter verurteilt wurden. Mit Go-Karts, den kleinen kinderleich- ten Rennwagen, lockt Schanzenbächer die Kids in seinen Schuppen, dann werden Ver- träge gemacht: Wer hier mitmacht und re- gelmäßig kommt, darf Go-Kart fahren. Wer sich den Gruppennormen unter- wirft, bekommt Schulunterricht, etwas zu essen. Die Besten dürfen in der Werkstatt unter Aufsicht von Kfz-Mechanikern an kleinen Rennwagen herumbasteln. Die Jungs aus der Ahornstraße sitzen im Kreis, ein paar Sozialpädagogen dabei, ebenso „Co-Trainer“, das sind ehemalige Gewalttäter, die nun auf der guten Seite mithelfen dürfen. Einer aus der Runde der Delinquenten muß auf den „heißen Stuhl“ in der Mitte. Die um ihn herum haben die Aufgabe, ihn auf die Palme zu bringen. Dazu konfrontieren sie den Gewalttä- ter mit seinen eigenen Verbrechen, mit seinen Fehlern, machen sich über seine Ausreden lustig, über seine Rechtfer- tigungsversuche fallen sie her: ein Gene- ralangriff auf das „delinquente Ich“. Der der spiegel 12/1999 135 Gesellschaft

Täter bekommt einen Mordsschreck vor gendhilfe auf und organisieren das Trai- übelnehmen. Nur darf er seine Faust nicht sich selbst. ning nach Weidners Rezept. Am Boden- erheben. Er will da durch. Wie war das, als du zugestochen hast? see, in Rüsselsheim, in Hamburg. Sogar in „Man wird da schon richtig niederge- Hast du den Türken rechts geschlitzt oder einer Bochumer Schule haben sie es schon macht“, sagt er hinterher, „aber ich halte links? Was war das für ein Geräusch, als versucht. Und der Professor spornt seine das aus.“ Wenn er ein Jahr gewaltfrei war, ihm das Messer in den Leib fuhr? Hat er ge- Trainer an: „Es muß richtig krachen.“ darf er selbst konfrontieren: als Co-Trainer schrien? Was hat er geschrien? Kam gleich „So’n Scheißgelaber, was du hier von sogar für ein paar Mark Honorar. Blut? Los, gib’s zu, du kannst kein Blut se- dir gibst, das ja da Hamma.“ So klingt das hen. Dir ist übel geworden. Sag was, in Elmshorn, einem gewaltgeplagten Städt- ie kleine Mansardenwohnung ist holz- Mensch. Du stinkst aus dem Mund. Lüg chen im Kreis Pinneberg. Auf dem heißen Dgetäfelt, Polster überall, Polster auf doch nicht. Also: Hat er geschrien? Stuhl sitzt Kai, 22, Punkfrisur, zwei Katzen, dem Sofa, selbst der Klodeckel ist bunt ge- So etwa, zwei geschlagene Stunden lang. Ringe in der Nase, Jugendstrafe wegen ver- polstert. Nippes in den Regalen, Zitronen- Der Kreis rückt immer enger zusammen. suchten Totschlags. bonbons auf dem Tisch. „Willste ’n Kara- Der Delinquent wird angefaßt, die Brille Die Angriffe der Trainer richten sich ge- malz?“ fragt Mario. wird ihm von der Nase gerissen. gen Punk-Kai, weil der soeben eine eher Danke. Lieber die Geschichte, wie du Wenn einer es nicht mehr aushält, kann dümmliche Nummer gebracht hat. Kai hat die Spielhalle überfallen hast. er „stopp“ sagen. Dann ist sofort Ruhe. aus dem Entschuldigungsbrief vorgelesen, Also: „Kurz vor elf war ich der letzte Aber er ist dann ein Verlierer. den er im Auftrag der Gruppe an sein Op- Kunde. Mütze übern Kopf, mit der Waffe Der Caritas-Mann, ein Verfechter der fer schreiben mußte. rumgefuchtelt.“ neuen „konfrontativen Pädagogik“, ist sel- Der reuige Kai schrieb: „Nichts für un- Was hast du gesagt? ber in die Ahornstraße gezogen. Nun wohnt gut, hätte ja schlimmer für Dich ausgehen „Na, was sagt man, Hände hoch, Klap- er, wie Ferrainola, mitten unter seinen können.“ pe halten, Geld her.“ Jungs, zählt die Zwerge in den Vorgärten Hätte schon. Kai hat den 14jährigen – Eine Stunde später schon hatten sie ihn. („Es werden immer mehr“) und sammelt „weil der meine Freundin angemacht hat“ Neun Monate U-Haft, dann fünfeinhalb Erfolge von der Straße auf. Ermahnt ein – auf dem Jahrmarkt verprügelt und ihn Jahre Jugendstrafe. Türkenjunge den anderen: „Wir reden hier dann mit dem Kopf dermaßen gegen eine Nur noch die Tätowierungen erinnern ruhig und freundlich miteinander.“ Hauswand geknallt, daß die Ärzte um sein an Marios unbürgerliche Vergangenheit. Die Ideen von Glen Mills hat Jens Weid- Leben fürchten mußten. „Ich habe ihm Heute lebt er in dem Städtchen am Rande ner in Deutschland eingeschleppt, ein So- eine geditscht“, heißt das in Kais Sprache. des Harz in einem Fachwerkhaus unterm Dach mit Freundin und Hund und Malz- bier. Er lernt Kraftfahrer – „damit mein Sohn mal sagen kann, mein Vater ist Be- rufskraftfahrer“. Alles wird gut, im wesentlichen wegen Jens Weidner. Dem Professor verdankt Ma- rio, daß er „diese Wut los ist“. Eine Art Jäh- zorn sei das gewesen, „ich spüre noch heu- te, wenn das kommt“. Und dann? „Totlabern statt totschlagen.“ Das ist einer von Weidners smarten Sprü- chen, und Mario kann labern ohne Ende. Er kann so gut reden, daß er schon bei Mar- garete Schreinemakers im Fernsehen auf- getreten ist. Der ideale Kandidat für Talk- shows: „Man merkt, daß man die Leute mit Labern auf die Palme bringen kann.“ Mario hat Weidners Anti-Aggressivitäts- Training im Jugendknast von Hameln mit- gemacht. Dort probierte der Wissenschaft-

FOTOS: M. ZUCHT / DER SPIEGEL FOTOS: ler seine Glen-Mills-Erfahrung erstmals Anti-Aggressivitäts-Training in Hameln: „Ekel vor Gewalt“ aus. „Der heiße Stuhl“, erinnert sich der zialpädagoge mit Lehrstuhl in Hamburg. Der Junge widerspricht den Der blonde, sanfte Gewaltexperte hat Beschimpfungen nicht. Er duckt selbst eine Lehrzeit bei Ferrainola ver- sich auf dem Stuhl, unter den bracht und gilt mittlerweile in Deutschland Sätzen des Teams, dann der ent- als der Guru vom heißen Stuhl. scheidende Vorstoß: Ein Trainer Der Professor ist ständig unterwegs, packt Kai am Arm. den Kollegen die Methoden fürs Anti-Ag- „Ja nicht anfassen“, hatte der gressivitäts-Training beizubringen. Beim Kandidat die Trainer im Elms- Frankfurter Institut für Sozialarbeit gibt er horner Jugendhilfeverein extra Kurse, wo Sozialpädagogen wie Schan- gewarnt. Anfassen ist für ihn das zenbächer das Einmaleins der Provoka- schlimmste. „Da knall’ ich euch tion lernen: „Wir bieten den Schlägern eine“, da fliegt die Faust ins Ge- die Konfrontation, die sie immer gesucht sicht des Gegenüber schneller, haben.“ als er denken kann. Weidners heiße Stühle stehen mittler- Kai geht nicht hoch. Er weiß, weile nicht nur in Frankfurt-Griesheim. nein, er fühlt: Er kann alles sa- Überall machen sich freie Träger der Ju- gen, und niemand wird es ihm Fischwasser-von Proeck, Heilemann: „Mit dem Skalpell“

136 der spiegel 12/1999 Zwei, drei Brutalos unterm Arm, erscheinen die Gewalt- experten immer häufiger bei Fernsehdiskussionen, sogar beim Bundespräsidenten wa- ren sie neulich. Dort – auch das gehört zum Programm – geben die Ex-Schläger öffent- lich Bekenntnisse gegen Ge- walt ab. Der Kurs dauert acht Mo- nate, maximal 8 der 630 Knackis von Hameln können daran teilnehmen. „Gerne drei oder vier Kurse“, sagt Gefängnischef Eger, würde er veranstalten. Aber so viele Heilemänner gibt es eben nicht. Der einzige Heilemann ar- beitet an ständig neuen Kon-

K. MÜLLER / DAS FOTOARCHIV K. MÜLLER / DAS zepten. Der ganze Jugend- Häftling beim Kraft-Training in Neustrelitz: „Die Härtesten der Harten“ strafvollzug, strahlt der Psy- chologe, sei „ein großer Irr- junge Mann, „das ist die Katastrophe. Die Fischwasser-von Proeck zu einem Allround- tum“: Das Personal sei der Meinung, es können einen da verrückt machen.“ Programm für Gewalttäter ausgebaut. leiste Dienst am Täter. In Wahrheit gehe es „Die fassen dir ins Gesicht, die ziehen Von Glen Mills gelernt? Ach was, „welt- um „Dienst am Opfer“. dich an der Nase.“ Manchen Jugendrich- weit einzigartig“, freut sich der eloquente Der Täter, lehrt Heilemann, „ist nicht tern wie dem Hamburger Joachim Katz Heilemann, sei das Programm: „Ein Ge- mein Kunde, er ist mein Produkt“. Das geht so etwas zu weit. „Der Persönlich- neralangriff auf die Identität der Täter.“ Produkt müsse „massiv eingekerkert wer- keitskern“, sagt Katz, werde von solcher Wer sich seinem Programm stelle, ver- den“, damit es schnell und willig unter das Pädagogik angekratzt. spricht der Psychologe, dem mache er „mit Messer des Psychiaters kommt. Ach was, sagt Mario, es sei ja alles frei- dem Skalpell“ seiner Methoden an der Per- Von 125 Produkten, die er in der Ge- willig. „Und hinterher gab es immer Kaf- sönlichkeit herum, „aus notorischen Ge- sellschaft wieder abgeliefert hat, seien nur fee und Kuchen.“ walttätern werden Friedensapostel“. vier erneut vor Gericht gebracht worden: Kaffee und Kekse gibt es im Hamelner Die Psychologen wollen alles anders ma- „Aber sie wurden freigesprochen.“ Und Knast immer noch. Da treffen sich in dem chen, als es immer gemacht wurde: „Nicht dabei waren es doch, prahlt Heilemann, mit Sofas und Sesseln möblierten Grup- die Veränderung der Lebensumwelten ist „die Härtesten der Harten“. penraum dienstags ab 16 Uhr lauter nette der Hauptauftrag der Prävention, sondern Jungs, um über ihre Schandtaten zu reden. die Veränderung des Machtanspruchs des iklas, der Netteste der Harten, ist wie- Da sitzt Kerem, 20, den Kaffeetopf in Täters.“ Der Täter, so Heilemann, soll ei- Nder da. Die schönen Tage von Glen der Hand: Die Belegschaft einer ganzen nen „Ekel vor Gewalt“ bekommen, sou- Mills sind vorüber. Es regnet, und es ist Getränkefirma hat er als Geiseln genom- verän werden und schließlich als „Frie- kalt in Dortmund. men, um an den Tresor mit dem Lohngeld densbringer“ in Freiheit Streit schlichten. Frau Guder, nicht das Jugendamt, nicht zu kommen. Mit dem MEK haben sie ihn Die wöchentlichen Sitzungen mit meist das Arbeitsamt, hat ihm eine Lehrstelle als herausgeholt, wie einen Terroristen. acht Teilnehmern beginnen mit Locke- Koch beschafft. Sie hat einen Restaurant- Kekse knabbernd: Stefan, 19, aus Vechta. rungsübungen wie etwa einem „Antibla- Führer genommen und die Läden einfach Ein milder blonder Schmalhans. Seine Op- mier-Training“ – dazu gehört auch das durchtelefoniert, bis es klappte. fer hat er mit dem Schraubenzieher nie- Toaster-Spiel. In der „Konfrontationspha- Die Lehrstelle ist er schon wieder los. dergestochen. se“ geht es dann auf den obligatorischen Dafür hat er jetzt einen großen Hund und Kerem, er fungiert in der Gruppe als Tu- heißen Stuhl. einen tiefergelegten Manta, „damit ich tor, macht Toast im Toaströster vor: hopst Weiter im Programm: Heilemanns Agen- auch mit 90 durch die Kurven komme“. immer hoch, weil er schön braun geröstet ten nehmen Kontakt mit den Opfern oder Wir fahren hier nicht mit 90 durch die ist. Stefan und ein Mithäftling bedienen – ihren Angehörigen auf. Die sollen den Tä- Kurven. Jiep-jiep-Geräusch – die quietschende tern Aufgaben stellen oder auf Tonband Niklas zieht zum Schutz gegen den Re- Drucktaste des imaginären überdimensio- sprechen, wie es ihnen heute geht. Tot- gen den Kopf zwischen die Schultern und nalen Toaströsters. schlägern unter seinen Klienten gibt Hei- rettet sich ins Trockene, Warme, Helle zu Knackis am Rande des Nervenzusam- lemann schon mal auf, den Freigang für McDonald’s im Bahnhof. menbruchs. Das Psychologenteam Michael Grabpflege zu nutzen. Hier ist das Leben beleuchtet, klar und Heilemann und Gabriele Fischwasser-von In inszenierten Provokationen sollen die freundlich und eindeutig. Bei McDonald’s Proeck rollen Direktor Egers Haftanstalt Jungs lernen, auch bei ungerechtester Be- wird alles quadratisch, praktisch einge- von innen auf: „Jeder Tag, an dem hier handlung richtig zu reagieren: weglaufen packt. Wir werfen hier keine Cola-Becher nichts passiert“, sagt Heilemann selbstbe- statt zuschlagen. in die Ecke, wir werfen sie hier in die be- wußt, „ist für die Gesellschaft ein verlore- Während des Freigangs, nach der Ent- reitstehenden Müllboxen.Wir rauchen hier ner Tag.“ lassung sogar, geht der Streß weiter. Hei- nicht an den Nichtraucher-Tischen. Alle Die Knacki-Knacker machen in Hameln lemann nimmt seine Jungs in Hardcore- Flecken werden hier pausenlos wegge- Furore, die Kandidaten für das Training ste- Kneipen mit, in Türken-Discos, überallhin, wischt. hen hinter Gittern Schlange. Anti-Aggres- wo es nach Gewalt riecht. „Als Body- Glen Mills, wenn man es nur sucht, ist sivitäts-Training haben Heilemann und guards und Streitverhinderer“. überall. ™

der spiegel 12/1999 137 Werbeseite

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TENNIS Show, Satz und Sieg Die Schwestern Venus und Serena Williams drängen mit ihrem Power-Stil und einem perfekten Image an die Spitze der Weltrangliste: Sie sind schwarz und kommen aus dem Ghetto – und von den Konkurrentinnen werden sie gehaßt.

s ist Zeit, sagt der Schiedsrichter, das Spiel kann beginnen. Wie immer Emacht Venus Williams den ersten Big point bereits vor dem ersten Aufschlag: Sie führt ihren neuesten Einteiler vor. Das wespengelbe Tenniskleid, das unter der Trainingsjacke zum Vorschein kommt, ist sehr knapp, sehr eng, sehr raffiniert und offensichtlich auch sehr bewegend. Selbst die Herrschaften in den teuren Logen der Eilenriedehalle von Hannover johlen ent- hemmt und trampeln mit den Füßen, als Venus Williams auf das Feld stolziert. Nur eine ist nicht amüsiert. Steffi Graf, die Gegnerin des Tennis-Models, steht be- reits eine kleine Ewigkeit an der Grundli- nie. Mit beiden Händen nestelt sie an ihrem Pferdeschwanz herum, und nun will sie an- fangen; sie pflegt seit 15 Jahren das Tempo vorzugeben. Diesmal aber muß sie warten, und dann verliert sie das Match. Die Zeitenwende im Frauentennis ist vollzogen. Steffi Graf, 29, ist nur noch da, nicht mehr oben. Die Zukunft ist jung und wild – und in die Spitze der Bewegung ha- ben sich die Williams-Schwestern aus den USA katapultiert, deren Körper Muskel- pakete sind, deren Köpfe kunstvoller Per- lenschmuck ziert und denen die Fachwelt Grandioses prophezeit: Bald sollen sie die Weltrangliste anführen. Der Stil der Power-Girls aus Nordame- rika ist schon jetzt wegweisend. Wer mo- dern sein will im Frauentennis, drischt ge- gen den Filzball wie ein Mann, hat Ego- manie zum Lebensprinzip erhoben und ist keiner noch so schrägen Selbstdarstellung abgeneigt – Show, Satz und Sieg Williams. Gewinnen reicht nicht mehr, um richtig reich zu werden. Als vor Jahren die Spon- soren des Damentennis absprangen und die Quoten fielen, begriffen die jüngsten Spie- lerinnen zuerst, daß sie gute Geschichten er- zählen müssen, um interessant zu werden. Seitdem mimt die Schweizerin Martina Hingis, 18, aus dem Örtchen Trübbach die pferdeliebende Unschuld vom Lande; und die Russin Anna Kournikowa, 17, widmet sich mit Hingabe der Rolle der Center- Court-Lolita. Doch keine kann mithalten mit der Story der Geschwister Williams. Denn die kommen aus dem Ghetto und sind die einzigen Schwarzen in der Elite

des weißen Sports. Nun mischen sie das AFP / DPA Establishment auf. Williams-Schwestern Serena, Venus: Egomanie zum Lebensprinzip erhoben

140 der spiegel 12/1999 Venus, 18, hat sich mit Siegen wie vor Denn „seit wir geboren wurden“, so Ve- vier Wochen in Hannover gegen Graf be- nus, „wurde uns Disziplin eingeimpft. Ich reits auf Position 6 der Weltbestenliste vor- mußte immer das machen, was man mir geprügelt, Tendenz steigend. Vorige Woche sagte“. Es ist die schlichte, alte Pädagogik reiste sie nach Key Biscayne (Florida), um der Vorkriegszeit: „Wenn du tust, was dir ihren Titel zu verteidigen. Serena, 17, mo- gesagt wird, kommt am Ende das Beste da- mentan auf Platz 16 notiert, gewann in die- bei heraus.“ Der Beweis sind natürlich Sie- sem Jahr ihre ersten beiden Turniere, zuletzt ge: Im Kid’s Circuit spielt die elfjährige Ve- vor einer Woche gegen Graf in Indian Wells. nus 63 Matches gegen Gleichaltrige, und Die letzte Stufe, so verkündet Venus, 63mal gewinnt sie. werde nach Plan im Jahr 2000 erklommen: Das ist der Zeitpunkt, zu dem Richard „Dann führe ich die Weltrangliste an – und Williams sich entschließt, die Kunde von meine einzige wirkliche Rivalin wird mei- seinen zwei Wunderkindern in die Welt ne Schwester sein.“ Ihr Aussehen, ihr tragen zu lassen. „Sports Illustrated“ ist schnoddriger Akzent, ihr kreischender vor Ort, und sogar die „New York Times“ Witz machen sie in der keimfreien Welt macht sich schlaue Gedanken. des Tennis schon jetzt zu Superstars. Nicht alle, die die Stücke von den pro- Venus, die Gedämpftere der beiden, zi- grammierten Heroinnen lesen, lassen sich tiert gern Sinnsprüche, die sie an ihre Her- blenden. Der ehemalige Daviscup-Spieler kunft erinnern. Einer davon lautet: „Egal, Dennis Ralston fragt: „Wie soll Venus ir- wo du herkommst – du mußt es in deinem gend etwas genießen, was eine Zehnjähri- Herzen tragen, daß du stark bist.“ Ein an- ge genießen sollte?“ Venus selbst meint al- derer: „Das Leben ist hart – aber ich er- lerdings, sie habe ohnehin nur „die Comics warte nicht, daß die Dinge einfach sind.“ im Fernsehen am Nachmittag“ verpaßt. Schillernd sind nicht ihre Interviews; da Und wen interessiert Kritik überhaupt wirkt sie, als bete sie Glaubensbekennt- bei diesen Perspektiven? Ein großgewach-

nisse herunter. Schillernd ist ihr Auftritt. SPORT / ACTION G. M. PRIOR / ALLSPORT sener Impresario mit getönten Brillenglä- In Hannover haben die beiden Schwe- Jungstar Kournikowa sern und Igelfrisur macht den Williams’ sei- stern für 10 000 Mark Schmuck gekauft. Hingebungsvolle Center-Court-Lolita ne Aufwartung. Er fährt mit einer dicken Dann hat Venus sich umgezogen. Und nun Limousine in Compton vor, chauffiert die sitzt sie mit Hunderten weißer Perlen im Haus am Rand des Dominguez Park. gesamte Bagage in ein Restaurant in L. A. Haar, mit goldenen Ringen am Schlagarm Compton, eine Stadt im Großraum Los An- und schwadroniert Salbungsvolles über und mit einem hautengen Trainingsdreß in geles, ist ein ziemlich mieses Pflaster: In Black Power. Es ist Don King, einer der einem schäbigen Hotelfrühstücksraum und zwölf Monaten zählten die Cops 78 Mor- ganz Gewieften, wenn es im Boxsport erzählt ihr Märchen. de. Der öffentliche Tennisplatz gehört zum Dollarmillionen abzuzapfen gibt. Sie berichtet von ihrem Vater Richard Revier von „Leutnant Kool-Aid“ und sei- Doch Daddy ist nicht überzeugt. Auch Williams, 56, den sie für den Antreiber der ner Gang. Venus ist vier Jahre alt, als sie die Emissäre der Agenturen IMG, Proserv steilen Karrieren hält. Daddy ist ein Mann, zum erstenmal dort spielt: „Weil Daddy es und Advantage, die sich um Venus und Se- der heute dies und morgen das Gegenteil so wollte.“ rena reißen, läßt er abblitzen: „Sie sehen verkündet, beides mit gleichem Pathos. So Daddy zahlt Schutzgeld, damit beim die beiden als Dollarzeichen.“ mixt er Dichtung und Wahrheit, und ir- Training kein Blutbad geschieht. Er bringt Williams vertraut die Rechte an seinen gendwann entstand sein genialer Slogan: Venus und Serena bei, bäuchlings in Si- Töchtern Keven Davis an, einem unbe- „Cinderellas aus dem Ghetto“. cherheit zu robben, wenn die Drogendea- kannten Anwalt aus Seattle, und Larry Bai- Jahrelang hatte sich Richard Williams ler ihren Streit mit der Knarre austragen. ley, einem unbekannten Steuerberater aus durchs Leben geschlagen. Von Shreveport Den „East Compton Hills Country Oakland. „Ihnen geht es um unsere Fami- (Louisiana), wo seine Mutter als Baum- Club“, wie er gern spöttelt, erklärt Richard lie“, so Williams, „nicht um unser Geld.“ wollpflückerin arbeitete, zog es ihn nach Williams später zur Schule fürs Leben: Und als Venus und Serena für den Trai- Los Angeles; er schlief im Freien, ehe er ei- „Wir kommen aus dem Ghetto – Leuten ner-Vater zu spielstark werden, ernennt er nen kleinen Wachdienst gründete; und er aus dem Ghetto ist nichts fremd.“ Und Rick Macci, der eine renommierte Tennis- heiratete Oracene, eine Krankenschwester, Kinder aus dem Ghetto sind hart im Neh- die er in einer Kirche kennengelernt hatte. men. „Wenn ich weinte“, erzählt Venus, Das Märchen beginnt, als Williams im „dann ließen sie mich weinen und sagten: Jahr 1979 vor dem Fernseher hockt. Eine ‚Hey, du mußt stärker sein.‘“ Tennisspielerin erhält nach einem Turnier- Vater Williams ist Autodidakt, der bis sieg einen Scheck über 48000 Dollar, und zum 39. Lebensjahr von Tennis keine Ah- Williams, der seinen Augen kaum traut, ist nung hatte; was er die Mädchen lehrt, ent- angetan von dem Gedanken, daß dies nicht nimmt er einer Do-it-yourself-Anleitung der schlechteste Weg sei, zu Wohlstand und von Arthur Ashe – der ist schwarz wie er Ruhm zu kommen. Daher beschließt er, und außerdem Wimbledonsieger. fortan Tennisstars zu züchten. Die besonderen Fähigkeiten der gedrill- So funktioniert Fortschritt im Spitzen- ten Schwestern sprechen sich herum. Jim- sport. Peter Graf entwarf Steffis Karriere my Evert, der Vater der berühmten Chris, erst, als die bereits laufen konnte. Vater trainiert mit Venus und staunt: „Sie spielt Williams steigt mit seinem Konzept schon Volleys, die andere Kinder in dem Alter zum Zeugungsakt ins Ehebett. Bald stehen nicht spielen.“ Und Pete Fischer, der Men- zwei Töchter für das einzigartige Experi- tor von Pete Sampras, schwärmt: „Venus ist

ment zur Verfügung: Venus und Serena. wunderbar zu trainieren. Sie hört zu, sie ist PRESS M. LAMPE / ACTION Doch noch ist das Geld knapp, und die wahnsinnig konzentriert bei der Arbeit.“ Altstar Graf Familie lebt in Compton in einem grünen Das war sie immer. Nur noch da, nicht mehr oben

der spiegel 12/1999 141 Werbeseite

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Akademie in Florida führt, zu ihrem Coach Training, Venus?“), hält aber fest an der auf Probe. Zunächst muß Macci ein peni- Wagenburgmentalität des Williams-Clans, bles Vorstellungsprocedere über sich erge- der vornehmlich aus Schwarzen besteht. hen lassen. Williams zeichnet Trainings- „Die beiden sollen sich unter ihren eigenen stunden und Gespräche auf. Das Material Leuten wohl fühlen“, sagt sie, „du kannst läßt er von einem Psychologen analysieren. das in dieser Welt nicht vergessen.“ „Ich wollte nur wissen, ob dieser Mann log Rassismus ist allgegenwärtig im weißen oder aufrichtig war“, sagt er, „schließlich Sport Tennis. Früh müssen Venus und Se- sollte er ein Teil unserer Familie werden.“ rena hören, daß sich die Eltern ihrer Geg- Venus ist elf, als die Familie nach Flori- nerinnen empören: „Wie konntest du ge- da umzieht. In den kommenden vier Jah- gen die kleinen Nigger verlieren?“ „Es gab ren trainieren die zwei Mädchen sechs Tage diese Trennung“, sagt Venus, „die Weißen pro Woche, sechs Stunden pro Tag. Sie mes- hatten sogar eigene Duschen.“ sen sich mit hart schlagenden Männern, Zudem grenzt die Williams-Family sich arbeiten mit einem Profiboxer, lernen wegen ihres Glaubens ab. Sie sind Zeu- Taekwondo, spielen Football – nur die Tur- gen Jehovas und wollen unter sich bleiben. niere des Junior World Circuit meiden sie. „Ich möchte wirklich nicht“, verfügt der Trainer Macci regi- Vater, „daß sie Freunde striert nach zwei Jahren außerhalb der Familie Fortbildung unter den haben.“ Wer hat Jenni- Bedingungen einer Iso- fer Capriati mit Mari- lationshaft mit Schau- huana versorgt? Freun- dern: „Die Art und de, eben. Weise, wie Venus und Der etablierte Ten- Serena gegeneinander nisbetrieb grollt. „Venus spielen, sieht nach scheint mit niemandem Straßenkampf aus.“ von uns zu reden“, mo- Macci beharrt auf Tur- kiert sich beispielsweise nierteilnahmen, doch Lindsay Davenport, Vater Richard bleibt „einmal habe ich sie ge- stur. Er fürchtet, seine grüßt, und sie sagte nur Töchter könnten ähn- ,puuuh‘.“ Immerhin, lich scheitern wie die Venus kann das be- frühzeitig gestrandeten gründen. „Wir sind de-

Wunderkinder Andrea GAMMA / STUDIO X finitiv anders als der Jaeger, Tracy Austin Vater Williams, Töchter Rest. Wir sind süße oder Jennifer Capriati. Mädchen, spielen gut, Also liegt es an Venus, gegen ihre Eltern jeder schaut uns zu.“ Und wer will schon durchzusetzen, daß sie im Oktober 1994 in Lindsay Davenport sehen? Oakland ihr erstes Profiturnier spielt. Ihr Gelegentlich verschärft sich der Tonfall. Vater opponiert, aber nur ein bißchen, Als die US-Amerikanerin Brenda Schultz- denn er ist wechselhaft, „wie der Wind“, so McCarthy ihrer Kontrahentin Venus Wil- Venus, könne er seine Richtung ändern. liams die Hand schütteln will, zischt die: Da ist etwas dran. Bereits nach ihrer Tur- „Faß mich nicht an!“ Ähnlich ergeht es der nier-Premiere, die in Runde zwei beendet Französin Alexia Dechaume nach einem ist, unterzeichnet Richard Williams, dem Sieg gegen Serena in Indian Wells 1997. es immer um „Liebe und nicht um Geld“ Beim Handschlag raunzt Williams, die jün- ging, einen hochdotierten Werbevertrag gere: „Nächstes Mal krieg’ ich dich!“ mit Reebok. Drei Millionen Dollar jährlich Und als bei den U. S. Open 1997 die sind dem Sportartikelhersteller die Wer- Rumänin Irena Spirlea mit Venus zusam- berechte an dem 14jährigen Neuling wert. menstößt, poltert der Papa: „Spirlea ist ein Sich selbst läßt Vater Williams fortan von weißer, fetter, großer, häßlicher Truthahn.“ einem Psychologen überwachen. Das Pro- Natürlich ist die Konkurrenz froh über blem: Papi ist cholerisch. Der Experte emp- jede Pleite der ungeliebten Schwestern.Als fiehlt Distanz, was allen Beteiligten logisch die Polin Magdalena Grzybowska 1997 in erscheint. Williams sagt seiner Tochter, sie der ersten Runde von Wimbledon Venus solle künftig „für sich spielen und für ihren Williams schlägt, kann sie sich vor Gratu- Hund“, und außerdem geißelt er sich: „Vä- lationen kaum retten. Grzybowska: „Es ter sind schlecht für das Tennis.“ war wirklich lustig.“ Das ist die Erkenntnis, die den Unter- Die meistbeklatschte Variante ist die, schied zu all den gebrochenen Mädchen daß eine Schwester die andere aus dem ausmacht. Peter Graf, Stefano Capriati Wettbewerb befördert wie letztes Jahr in oder Jim Pierce haben die Karrieren ihrer Melbourne. Doch die wird sich, außer bei Töchter erst gefördert und dann blockiert. Grand Slams, nicht wiederholen. Weil die Richard Williams dagegen gelingt der Ab- Williams-Clique „immer zusammensteht sprung; er gibt seine Kinder frei. und wir uns gegenseitig helfen“, beschloß Seitdem führt seine Frau Oracene die der Familienrat: Wo die eine auftritt, schaut Entourage an. Die zeigt sich zwar sanfter die andere künftig zu. als er bei Zurufen („Erinnerst du dich ans Klaus Brinkbäumer, Michael Wulzinger

der spiegel 12/1999 143 SPIEGEL: Talentierte Spieler langfristig auf- zubauen gehört aber offenbar nicht zum Konzept des Deutschen Fußball-Bundes. Sie plädieren für einen Neuaufbau – mit dem Risiko, die EM-Endrunde zu verpassen? Kohler: Das ist in unserer erfolgsorientier- ten Gesellschaft zwar schwierig, aber war- um können wir es als Nation nicht mal in Kauf nehmen, bei einem größeren Turnier nur Zuschauer zu sein? Wir Deutsche soll- ten nicht so hohe Ansprüche stellen und ei- ner jungen Mannschaft die Chance geben, sich richtig zu entwickeln.Wollen wir wirk- lich mal wieder ein attraktiv spielendes Team sehen, müssen wir diese Geduld auf- bringen.Wir alle sind als Fußballnation ge- fordert. Die Franzosen, die bei den Welt- meisterschaften 1990 und 1994 nicht dabei waren, haben es vorgemacht. SPIEGEL: DFB-Präsident Egidius Braun hält das in Deutschland nicht für mehrheitsfähig. Kohler: Den Druck haben Präsident und Mannschaft auch deshalb, weil sie ihn sich selbst auferlegen. Wir brauchen im Ver- band dann allerdings auch Leute, die nicht gleich umkippen, wenn’s mal schlecht läuft. SPIEGEL: Ribbeck hat vom DFB den Auftrag erhalten, die EM-Qualifikation 2000 zu schaffen. Ist das zu kurz gedacht? FIRO Dortmunder Profi Kohler (r.)*: „Ich habe mich innerlich gelöst“

FUSSBALL „Daum wäre der Richtige“ Der ehemalige Nationalspieler Jürgen Kohler, 33, über den idealen Bundestrainer, hochgejazzte Jungprofis und seinen Verzicht auf ein Comeback

SPIEGEL: Herr Kohler, im allgemeinen Ent- deshalb muß man ihnen das Vertrauen setzen über die Auftritte der Nationalelf im schenken, ihnen Fehler zugestehen. Man Februar in den USA wurden Sie von eini- kann sich als Profi und als Persönlichkeit gen Experten zum Comeback aufgefordert. nur weiterentwickeln, wenn man perma- Ehrt Sie das? nent im Scheinwerferlicht steht – und nicht

Kohler: Das macht einen natürlich irgend- Angst haben muß vor irgendeinem Rück- WINTER / WENDE O. wo stolz, wenn einen die Leute wieder se- kehrer.Wenn einer zu lange an Bord bleibt, DFB-Teamchef Ribbeck, Rückkehrer Matthäus hen wollen. kann das bei dem einen oder anderen in „Kürzer kann man nicht denken“ SPIEGEL: Dennoch muß die Elf diese und der Mannschaft die Entwicklung behin- nächste Woche bei ihren Qualifikations- dern. Das will ich nicht. Kohler: Kürzer kann man nicht denken. Ein spielen in Nordirland und gegen Finnland SPIEGEL: Den 38jährigen Lothar Matthäus Bundestrainer benötigt allein zwei bis drei ohne den Manndecker der Nation aus- plagen derlei Skrupel nicht. Bremst er die Jahre, um der Nationalmannschaft seine kommen. Warum mögen Sie nicht mehr? Entwicklung des Liberos Jens Nowotny? Handschrift zu verleihen. Kohler: Ich habe mich innerlich gelöst. Der Kohler: Lothar ist überhaupt kein Vorwurf SPIEGEL: Wer könnte diese Langfristauf- Drang, nach 105 Länderspielen noch un- zu machen. Teamchef Erich Ribbeck hat gabe lösen? bedingt dabeisein zu wollen, ist weg. sich nun mal festgelegt und gesagt: Ich Kohler: Christoph Daum wäre der Richtige, Außerdem glaube ich, daß wir für meine baue auf den Libero Matthäus. Der Preis ist davon bin ich überzeugt.Aber er müßte die Position genügend Alternativen haben. womöglich, daß Leute wie Jens Jeremies Zeit bekommen, um die Elf über drei, vier SPIEGEL: Die aber zuletzt ein heilloses Ab- oder Nowotny gehemmt werden. Jahre in eine Richtung zu führen. Daum wehrchaos hinterlassen haben. SPIEGEL: Ribbeck hält Nowotny mit der hat, wie auch Ottmar Hitzfeld, das Händ- Kohler: Ist doch klar, daß ein Markus Bab- Aussicht auf einen Posten im Mittelfeld chen, mit sogenannten Stars umzugehen. bel, Marco Rehmer oder Christian Wörns oder als Vorstopper bei Laune. Ist das SPIEGEL: Es gab Zeiten, da freuten sich noch nicht die Reife haben. Und genau nichts? manche Spieler auf die Nationalelf, weil Kohler: Nowotny ist für mich kein defensi- sie für einige Tage dem Ballyhoo in ihren * Im Zweikampf mit Nationalspieler Michael Preetz ver Mittelfeldspieler. Auch kein Mann- Vereinen entkamen. Jetzt ist es eher von Hertha BSC Berlin. decker. Er ist ein moderner Libero. umgekehrt: Torwart Oliver Kahn murrte

144 der spiegel 12/1999 Werbeseite

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Werbeseite Sport jüngst, im DFB-Team bekomme man „nur von 1989 bis 1991. Ich war damals beim be- was aufs Dach“, und zeigte Verständnis für sten Club, habe ganz gut verdient – da den Kollegen Stefan Effenberg, der auf übermannt einen eine gewisse Zufrieden- Länderspiele verzichtet. Ist das Natio- heit.Wenn ich jetzt noch mal mit dem Wis- naltrikot nicht mehr erstrebenswert? sen von heute als junger Spieler zu den Kohler: Früher kam man an die hochdo- Bayern käme, dann wäre ich dort einer der tierten Verträge nur als Nationalspieler ran. Stärksten, die es da jemals gab. Zumindest Heute überträgt das Fernsehen jedes Ver- von Einstellung und Lebenswandel her. einsspiel, man steht also immer im Blick- SPIEGEL: Wie haben Sie aus solchen Moti- punkt. Um seinen Marktwert zu steigern, vationskrisen herausgefunden? reicht ein Superspiel gegen Real Madrid. Kohler: Ich hatte glücklicherweise immer SPIEGEL: Die Champions League hat einen gute Trainer. Solche, die auf den Typus höheren Stellenwert als der Adler auf der Jürgen Kohler standen. Klaus Schlappner, Brust? Daum, Jupp Heynckes. Dann Giovanni Kohler: Es hat sich alles ein bißchen ver- Trapattoni bei Juventus Turin. Mir wur- schoben. Früher hast du die National- de sehr viel Vertrauen entgegengebracht, mannschaft gebraucht, sonst hätte man und ich habe mich gefragt, wie kannst dich zwar zu Hause in deinem Dorf er- du das zurückgeben? Im Prinzip nur über

kannt, aber nicht draußen in der Welt. FIRO Leistung. SPIEGEL: Der Münchner Kollege Thomas Trainer Daum SPIEGEL: Sehr gute Trainer machen aus mit- Helmer hat bei manchen jüngeren Profis „Drei, vier Jahre in eine Richtung führen“ telmäßigen Spielern gute Profis? beobachtet, daß es denen nahezu gleich- Kohler: Schlappner war ja für mich bei gültig ist, ob sie vom Bundestrainer nomi- Rasen fühlt er sich unter Wert eingesetzt. Waldhof Mannheim nicht nur Trainer, son- niert werden oder nicht. Sie haben immer Was raten Sie ihm? dern auch so eine Art Ersatzvater. Der hat betont, die Nationalelf sei für Sie auch eine Kohler: Diese Entwicklung, die er jetzt mit- immer geguckt, was ich zum Beispiel mit Herzensangelegenheit gewesen. macht, ist für ihn ganz wichtig. Er spielt auf meinem Geld mache. Damals habe ich 1200 Kohler: Bei mir war es so: Ich bin mit 18 Jah- einer Position, die gar nicht seine Position Mark brutto verdient, und davon sollte ich ren zum erstenmal in eine deutsche Aus- ist. Aber als ich damals anfing, ging es mir noch sparen. Da war der hinterher, er hat wahlmannschaft gekommen – die U 18, das genauso. Bei der U 21 war der Armin Kraaz meine Bankbelege kontrolliert. war für mich das Höchste. Danach kam ich Vorstopper. Berti Vogts kam vor einem EM- SPIEGEL: Derlei Fürsorge lassen sich die in die U 21, da habe ich nicht an das Geld Qualifikationsspiel in Lissabon auf mich zu heute zu Popstars hochgejazzten Profis gedacht, es war einfach etwas Besonderes. und fragte: Kannst du auch rechter Vertei- wohl von ihren Beratern nicht bieten? Erst dann habe ich gemerkt: Hoppla, ich diger spielen? Ja, sicher, habe ich gesagt und Kohler: Ach, die Berater. Was machen die habe das Zeug dazu, noch höhere An- ganz begeistert getan. Kraaz spielte da nicht heute schon? Die haben doch oft 10, 20 sprüche an mich selbst zu stellen. so gut, und wir verloren 1:2.Vor dem Rück- Profis unter Vertrag. Meines Erachtens SPIEGEL: Die Halbwaise Kohler aus Lambs- spiel gegen Portugal in Karlsruhe kommt kann man höchstens zwei Spieler beraten, heim, deren Mutter auf dem Feld arbeite- der Berti: Kannst du auch te, um die vier Kinder zu ernähren, hat im in der Mitte spielen – Vor- Fußball plötzlich das Vehikel zum sozialen stopper? Ich sage, Trainer, Aufstieg erkannt? wenn ich Vorstopper spie- Kohler: Ich begriff: Das ist eine einmalige le, machen die kein Tor. Chance in meinem Leben. In meiner Kind- Wir haben 2:0 gewonnen. heit hat man sich eben noch einen Fußball Von dem Zeitpunkt an war gewünscht, wenn man gefragt wurde, was ich immer Vorstopper. man zum Geburtstag geschenkt haben will. SPIEGEL: Sie konnten sich Wenn du heute ein Kind fragst, bekommst auf die Arbeit konzentrie- du zur Antwort: einen PC, aber mit mög- ren, während heutzuta- lichst vielen Megabyte. ge jungen Hoffnungsträ- SPIEGEL: Ihr ehemaliger Nationalelfkollege gern wie den Kaiserslau- Stefan Kuntz beklagt, daß es vielen Talen- terern Michael Ballack ten an der totalen Hingabe für den Fuß- und Marco Reich mit an- baller-Beruf fehlt. Stimmen Sie zu? geblichen Millionen-Of-

Kohler: Warum spielen denn in unseren Ju- ferten von Bayern Mün- / BONGARTS A. HASSENSTEIN FOTOS: gendmannschaften so viele Ausländerkin- chen schon der Kopf ver- Deutsche Talente Reich, Ballack: „Nicht nur Geld im Sinn“ der? Weil die nichts haben außer Sport. dreht wird. Und deshalb sind sie mit mehr Biß dabei. Kohler: Die beiden sollten mit 21 und 22 alles andere ist unseriös. Denn beraten Andererseits haben es die Jungprofis heu- Jahren nicht nur das Geld im Sinn haben, heißt für mich nicht nur herumzutelefo- te auch schwerer als zu meiner Zeit. Ich sondern sich die Frage stellen: Wo kann ich nieren, daß mein Junge das beste Angebot machte mit 20 mein erstes Länderspiel. am besten mein Leistungspotential her- bekommt, sondern auch Betreuung. Aber deshalb wurde kein Brimborium ver- auskitzeln? Das geht ganz selten bei Top- SPIEGEL: Wenn Ihnen das Manager-Gewer- anstaltet, die Medien kümmerten sich um clubs. Wenn ich Ballack oder Reich wäre, be schon suspekt ist: Können Sie sich denn Matthäus, Schumacher, Völler, Allofs. Der würde ich die nächsten zwei, drei Jahre in vorstellen, nach dem Karriere-Ende eine Kohler war der kleine Pimpf, der im Wind- Kaiserslautern bleiben. Da haben sie die Clubmannschaft zu trainieren? schatten der großen Stars reifen konnte. nötige Ruhe, sich zu entwickeln. Rück- Kohler: Trainer? Allenfalls im Jugendbe- SPIEGEL: Ihr Dortmunder Mitspieler Lars schläge in Form von Selbstüberschätzung reich. Bei den Profis ist mir das zuviel Ricken leidet offenbar darunter, im Zeital- kommen früh genug. Streß. Gucken Sie sich mal an, wie die ter von „Bravo Sport“ zum Mädchen- SPIEGEL: Wie meinen Sie das? Trainer aussehen. Die haben ja alle tiefe schwarm hochstilisiert zu werden. In der Kohler: Ich hatte auch Phasen des Still- Falten. Jugendpresse wird er vergöttert, auf dem stands, vor allem in meiner Münchner Zeit, Interview: Jörg Kramer, Alfred Weinzierl

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Werbeseite IV. Das Jahrhundert der Befreiung: 1. Die Emanzipation der Frau (9/1999); 2. Die Ökologie-Bewegung (10/1999); 3. Die Entstehung der Volksparteien (11/1999); 4. Gewaltfreier Widerstand (12/1999); 5. 1968, das Jahr der Rebellion (13/1999) N. PERSSON / GAMMA STUDIO X SYGMA CZARNECKI / GAMMA STUDIO X GETTY / GAMMA STUDIO X HULTON Gandhi (1932); ANC-Wahlveranstaltung (1994); Solidarnos´ƒ-Demonstration (1981); Martin Luther King beim „Marsch auf Washington“ (1963)

Das Jahrhundert der Befreiung Gewaltfreier Widerstand Der Inder Mahatma Gandhi zeigte der Welt, daß durch zivilen Ungehorsam eine Großmacht besiegt werden kann. Friedlicher Protest als Waffe im Kampf für Bürgerrechte erzwang in Amerika die rechtliche Gleichstellung der Schwarzen und brachte in Osteuropa den Kommunismus zum Einsturz.

der spiegel 12/1999 151 Das Jahrhundert der Befreiung: Gewaltfreier Widerstand S. MARTIN / CIVIL RIGHTS MOVEMENT / ABBEVILLE / CIVIL RIGHTS MOVEMENT S. MARTIN Konfrontation zwischen weißen Polizisten und schwarzen Bürgerrechtlern*: „Wir müssen unsere weißen Brüder lieben“

Spiegel des 20. Jahrhunderts „We Shall Overcome“ Von Stefan Wolle

rgend etwas gibt es im Menschen, das plötzlich ihre Kraft verloren. Nicht einmal große Persönlichkeiten wie Mahatma stärker ist als ihr“, hält in George Or- die regierenden Kommunisten scherten Gandhi, Martin Luther King, Nelson Man- Iwells Roman „1984“ Winston Smith auf sich mehr um ihre eigene Geschichtsmy- dela oder Lech Walesa, aber auch Durch- der Folter seinem Peiniger O’Brien entge- thologie, die den kompromißlosen Kampf schnittsmenschen, die irgendwann Zivil- gen. „Was ist denn dieses Prinzip, das un- der Klassen gepredigt hatte. Müde schlich courage zeigten und dadurch die Steinchen sere Macht zerstören wird?“ höhnt dieser. der furchteinflößende Leviathan zum Ab- lostraten, die zur Lawine werden sollten. „Der menschliche Geist“, entgegnet der grund und stürzte sich hinab. So war es auch in den achtziger Jahren Gequälte verzweifelt, aber er spürt, daß Es mangelt auch am Ende des Jahrhun- in der DDR. Gerade als die Weltgeschich- seine Argumente schwach und hilflos wir- derts nicht an großen und kleinen Dikta- te das kleine Land zwischen Oder und Elbe ken. Am Ende des Romans wird auch er toren. Es wird gefoltert und gemordet, endgültig vergessen zu haben schien, han- akzeptieren, daß zwei plus zwei fünf sind, Menschenrechte werden mit Füßen getre- delte ein verlorenes Häuflein von „Bür- wenn die Partei dies will. ten, und die Freiheit wird unterdrückt. Am gerrechtlern“, wie man inzwischen gern Und doch wurde Orwells düstere Vision Horizont der Geschichte zeichnen sich sagt. Die neunmalgescheiten Strategen al- von der Geschichte widerlegt. Das „Jahr- neue totalitäre Herausforderungen ab – ler Couleur predigten die kluge Anpas- hundert der Wölfe“, wie der russische und dennoch bleibt es dabei: Alle politi- sung, die Wahrung von Stabilität, die vor- Dichter Ossip Mandelstam das 20. nach schen Systeme und Ideologien, die Men- sichtige Evolution, die Einsicht in die Not- Christi Geburt in einer Gedichtzeile aus schenrechte und staatsbürgerliche Freihei- wendigkeit als höchste Freiheit.Wider alle dem Jahre 1931 genannt hat, endete mit ten einschränken oder gar vernichten woll- Klugheit wagten einige als naive Spinner dem großen und unerwarteten Wunder ei- ten, sind gescheitert. verschriene Außenseiter die Rebellion. ner friedlichen Revolution. Darin mag man im Sinne der Aufklärung Für einen winzigen historischen Augen- Fast lautlos brach das kommunistische ein Fortschreiten von Vernunft und Hu- blick war es wichtig, ob sich der einzelne System in Osteuropa und der DDR zu- manität sehen. Dennoch bedarf auch die von seiner Sofaecke erhob, den Fernseher sammen. Ein gewaltiges Repressionssystem nach einem höheren Gesetz ablaufende ausschaltete und sich auf den Weg zu ir- versagte in der Stunde der Entscheidung. Geschichte der Tat des einzelnen. Es waren gendeiner Kirche, einer Demonstration Eine seit Jahrzehnten auf die Menschen machte. Dies meinte Hegel mit seinem einhämmernde Massenideologie hatte * 1965 in Selma (Alabama). „Weltgeist“, der auf dem Wege der Selbst- „Ich habe einen Traum, daß eines Tages kleine schwarze Jungen und schwarze Mädchen sich mit kleinen weißen Mädchen und weißen Jungen die Hände schütteln wie Schwestern und Brüder.“ Bürgerrechtler Martin Luther King, 1963

152 der spiegel 12/1999 verwirklichung durch die Zeiten und Län- bar. Im dunklen Hausflur lungerten zwei frei. Mit einem knappen „Bitte!“ erhielt der wandere.Wenn das Wirken des einzel- betont unauffällige Stasi-Leute. In dem Be- der junge Mann seinen Ausweis zurück und nen mit der allgemeinen Tendenz des Welt- reich, der durch die Schaufenster erleuch- setzte seinen Weg fort, auf die Kirche zu. geschehens übereinstimmt, lehrt der Phi- tet war, stand ein grimmiger Volkspolizist Die Szene enthält im Kern die Grund- losoph, verwirklicht sich Geschichte als in grüner Uniform, die Beine energisch ge- konstellation des Konflikts, an dessen Ende Fortschreiten der Vernunft. spreizt, die Hände auf dem Rücken. der ruhmlose Untergang des totalitären Wenn dies so ist, dann stieg der so ge- Es war nicht sehr mutig, aber durch die Systems stehen sollte. Das resignierte wandete Weltgeist am frühen Abend des Umstände geboten, einen kleinen Schlen- Schulterzucken der Staatsdiener wurde 27. November 1987 am Ost-Berliner Zions- ker zu machen und sich scheinbar in die zum Grundgestus der Macht der folgen- kirchplatz gegenüber der Tierhandlung Auslagen des Zoo-Ladens zu vertiefen. den drei Jahre. Die Situation vor der Zions- Badstübner aus der Straßenbahn. Er moch- Klopfenden Herzens versenkte ich mich in kirche beleuchtet überdies die Grund- te so um die 30 sein, trug lange blonde den Anblick eines possierlichen Goldham- elemente des gewaltfreien Kampfes für Haare und einen Bart. Angetan war er mit sters, der unbeeindruckt an den metallenen Bürgerrechte in unserem Jahrhundert. dem Bürgerrechtler-Outfit: grünem Parka, Gitterstäben seines Käfigs nagte. Die Taktik aller Bürgerrechtsgruppen – zerfransten Jeans, einem Umhängebeutel So ging der Langmähnige mit dem ob in Osteuropa, Indien, Amerika oder aus Naturfasern über der Schulter und ei- schlurfenden, wiegenden Gang an mir vor- Südafrika – bestand darin, vorhandene le- nem Palästinensertuch, das er malerisch bei und schnurstracks auf den Repräsen- gale oder halblegale Spielräume auszu- um den Hals geschlungen hatte. Der Weltgeist betrat die sich amphi- theatralisch um den neogotischen Klinker- bau der Zionskirche gruppierende, von bröckelnden Fassaden der Jahrhundert- wende umgebene Szenerie des Zions- kirchplatzes. Die schmutzigen, notdürftig erhellten Straßen waren schon am frühen Abend fast menschenleer. Nur rund um den Platz hatte sich die Szene seit dem Vortag auf wundersame Weise belebt. Dies hatte gute Gründe. In der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 waren Stasi-Leute mit vorgehaltenen Waffen in den Keller der Zionsgemeinde eingedrun- gen und hatten die anwesenden Bürger- rechtler verhaftet. Das war kein Übergriff untergeordneter Instanzen gewesen, son- dern der Versuch der SED, die im Schutze der Kirche aufkeimende Opposition mit Gewalt zu zerschlagen. Nun passierte etwas, womit offenbar niemand gerechnet hatte. Einige Dutzend junger Leute bildeten eine Mahnwache

und stellten sich mit Kerzen vor die Kir- R. DRESCHER chentür. Die ungeheure Wirkung dieses Mahnwache in Ost-Berlin im Herbst 1989: Weltgeist im grünen Parka Vorgangs kann wohl nur ermessen, wer in der Diktatur gelebt hat. Das allgemeine tanten der Staatsmacht zu. Der Schutz- schöpfen, um einen moralischen Appell zu Schweigen im Inneren des Landes war mann grüßte mit einer flüchtigen, aber kor- formulieren. Bei aller Unterschiedlichkeit durch die Mahnwache gebrochen. Der rekten Handbewegung zum Mützenschirm der Bewegungen, die im 20. Jahrhundert Staat reagierte mit einem Riesenaufgebot und schnarrte „Deutsche Volkspolizei.Wei- für Bürgerrechte eintraten, gibt es bezüg- an Sicherheitskräften, wagte es angesichts sen Sie sich aus!“ Diese unfreiwillig dop- lich der Strategie und der Aktionsformen der nun hergestellten Öffentlichkeit aber peldeutige Formel meinte, die zu kontrol- durchgehende Traditionslinien und zahl- nicht, brutal zuzuschlagen. lierende Person möge ihr Personaldoku- reiche direkte Anknüpfungspunkte. In den Hausfluren rings um den Zions- ment vorzeigen, welches stets bei sich zu So war es kein Zufall, daß der politische kirchplatz standen paarweise sportliche führen und auf Verlangen vorzuzeigen je- Wandel – ob er nun die indische Unab- junge Männer in Nylonkutten, ausgerüstet der DDR-Bürger gesetzlich gehalten war. hängigkeit, die Anerkennung schwarzer mit koketten Gelenktäschchen, in denen Dann buchstabierte er wie ein Abc-Schüt- Amerikaner oder Südafrikaner als Voll- sich Sprechfunkgeräte verbargen. Im Hin- ze Namen und Anschrift des Bürgers. bürger oder das Recht auf Selbstorganisa- tergrund parkten Mannschaftswagen der „Wo wollen Sie hin?“ fragte er schließ- tion in freien Gewerkschaften im kommu- Bereitschaftspolizei und Pkw der Marken lich in strengem Amtston. Die Antwort war nistischen Osteuropa zum Ziel hatte – sei- Lada oder Wartburg, in denen schweigend, verblüffend. Mit sanfter Stimme sagte der nen Ausgangspunkt in den Kirchen, ge- aber aufmerksam jeweils zwei junge Män- Blondmähnige, er wolle zur Andacht in die nauer in der Religion hatte: dem Hinduis- ner saßen.Volkspolizisten in Uniform stan- Zionskirche. Mir stockte der Atem. Ich er- mus Gandhis, dem Protestantismus Martin den auf dem Gehweg und hielten gele- wartete einen kurzen Wink des Uniformier- Luther Kings, Bischof Tutus oder der DDR- gentlich Passanten an, die ihnen verdäch- ten. Eines der bereitstehenden Autos wür- Bürgerrechtler, dem Katholizismus eines tig erschienen. de heranpreschen, Bremsen würden quiet- Lech Walesa. Das feindliche Objekt im Parka stieg hin- schen, Autotüren knallen, Handschellen Einige Minuten nach der Begegnung vor ter mir aus der Straßenbahn, und fast ge- zuschnappen. Nichts von alledem geschah. dem Zoo-Laden begann in der Zionskirche meinsam gingen wir vorbei am Zoo-Laden Der Polizist warf einen fragenden Blick zu der Gottesdienst. Der Pfarrer im schwar- in Richtung Zionskirche. Der Zusammen- den Kurzgeschorenen im Hausflur. Ein un- zen Ornat predigte über Jesus und den rö- stoß zweier Welten war nun unvermeid- merkliches Schulterzucken gab den Weg mischen Landpfleger Pontius Pilatus: „Wer

der spiegel 12/1999 153 Das Jahrhundert der Befreiung: Gewaltfreier Widerstand

wüßte heute noch den Namen des einst so die Haare kurzgeschoren. Mit einer kreis- Zum Schlüsselkonflikt wurde schließlich mächtigen Statthalters Roms zu nennen. runden Nickelbrille im Gesicht und einem das Salzmonopol der Kolonialherren. Laut Keine andere Quelle überliefert seinen Na- langen Bambusstab in der Hand schritt er Gesetz durfte Salz nur in Regierungsläden men als die Evangelien. Vom Ruhm und seinen Anhängern voran. verkauft werden. Im Frühjahr 1930 zog dem Glanz des Römischen Reiches kün- 1914 kehrte Gandhi nach Indien zurück. Gandhi, dem der indische Nationaldichter den nur noch Ruinen. Die Kirche des Ge- Zum Abschied schenkte er seinem Haupt- Tagore den Ehrentitel Mahatma („Große kreuzigten aber ist lebendig. Welch ein gegner General Jan Smuts, dem Komman- Seele“) gegeben hatte, an der Spitze einer Aberglaube, daß Macht und Gewalt die deur der Kolonialtruppen, ein Paar von je- immer größer werdenden Volksmenge quer Weltgeschichte regieren. Die Botschaft der nen Ledersandalen, die er im Gefängnis durch das Land zum Meer und sammelte Feindesliebe und der Vergebung ist stär- angefertigt hatte. Trotz der vielen Jahre dort am Strand symbolisch eine Hand- ker als jede Macht.“ der Auseinandersetzungen hatte sich zwi- voll Salzkristalle auf. An Indiens endloser Auf die Bergpredigt wurde damals in ei- schen dem General und dem Anwalt ein Meeresküste wateten fortan Menschen mit ner Art Bezug genommen, als handele es Vertrauensverhältnis herausgebildet. Eine Pfannen und gewannen entgegen dem Re- sich um eine aktuelle Broschüre, die gera- – oft fragwürdige – Nähe zu den jeweiligen gierungsverbot das wertvolle Mineral. de erst gedruckt worden sei. Sie war auch Machthabern ist eine immer wieder zu be- Eine praktische Bedeutung hatte die Ak- eine wichtige Quelle für Mahatma Gandhi, obachtende Folge der Ideologie der Ge- tion nicht, aber der moralische Erfolg in der den ersten großen Bürgerrechtler des Jahr- waltfreiheit, die den Gegner nicht besie- ganzen Welt war ungeheuer. Winston hunderts, der in der DDR offiziell zu den gen, sondern überzeugen will. Churchill schimpfte auf den „halbnackten Ikonen des „antiimperialistischen Kamp- Am 13. April 1919 richteten britische Fakir“ und unterstrich damit nur die mo- fes“ gezählt wurde und auf dessen Ethik Truppen in Amritsar ein Blutbad unter der ralische Niederlage der Kolonialmacht. sich darum auch Bürgerrechtler in 1931 reiste Gandhi zu einer der DDR bis zu einem gewissen Round-Table-Konferenz über die Grad ungefährdet berufen konnten. Unabhängigkeit Indiens nach Lon- Gandhi hatte die Bibel als Jura- don. Nur mit Sandalen und Len- student in London gelesen. Der da- denschurz bekleidet, erschien er mals noch etwas dandyhaft wir- beim ordensbehängten König zum kende junge Mann aus einer wohl- Tee. Als er von einem Reporter ge- habenden indischen Familie hatte fragt wurde, ob er nicht ein bißchen sich in den drei Jahren seines Stu- zu wenig anhabe, antwortete er: diums in England intensiv mit der „Dafür hatte der König ein bißchen europäischen Kultur beschäftigt. zu viel an.“ Gandhi reiste durch Doch einen Tag nachdem er am England, und nicht nur die Presse-

Spiegel des 20. Jahrhunderts 11. Juni 1891 beim High Court als fotografen waren von dem exoti- Rechtsanwalt registriert worden schen Gast begeistert. Die Augen war, trat er die Heimreise nach der Weltöffentlichkeit waren nun Bombay an. Trotz seiner hohen auf die indische Autonomiebewe- Qualifikation hatte Gandhi in In- gung gerichtet. Unter dem Jubel dien keinen Erfolg als Anwalt. Nach Hunderttausender kehrte Gandhi zwei Jahren brotloser Tätigkeit nach Indien zurück. übernahm er eine Stelle im eben- Je näher die staatliche Selbstän- falls britischen Südafrika. digkeit Indiens rückte, desto deut- Kaum in Afrika angekommen, licher wurde der interne Konflikt hatte Gandhi ein Schlüsselerlebnis, zwischen Hindus und Muslimen. das für seinen weiteren Weg be- Sofort nach der Ausrufung der Un- stimmend werden sollte. Er stieg in abhängigkeit am 15. August 1947 den Nachtzug nach Pretoria und kam es zu fürchterlichen Massa- nahm in einem Abteil der ersten kern, welche die bis dahin größte Klasse Platz. Als ihn ein Weißer Fluchtbewegung der Weltgeschich- durch die Polizei hinauswerfen ließ, te auslösten. Über zwölf Millionen

beschloß David, den Kampf für / SYGMA KEYSTONE Menschen verließen ihre Heimat, gleiche Rechte gegen den Goliath Anwalt Gandhi (um 1905): David gegen Goliath etwa eine Million Tote waren zu britisches Empire aufzunehmen. beklagen. Gandhi blieb von 1893 bis 1914 in Süd- Bevölkerung an. Für Gandhi war dies eine In dieser Situation begann Gandhi sei- afrika. Der dortigen schwarzen Urbevöl- fürchterliche Warnung. Es begann jene nen letzten großen Kampf. Wenigstens in kerung und den vorwiegend aus Indien Gratwanderung, die knapp 30 Jahre später der Millionenstadt Kalkutta wollte er den stammenden Kontraktarbeitern standen die Unabhängigkeit Indiens, aber auch den Massenwahn der allgemeinen Mordbren- die seit dem Burenkrieg (1899 bis 1902) un- andauernden blutigen Konflikt zwischen nerei allein mit seiner moralischen Auto- tereinander verfeindeten burischen Siedler Hindus und Muslimen bringen sollte. rität zum Stillstand bringen. Er trat in einen und die britische Oberschicht gegenüber. Die wichtigste Waffe der von Gandhi Hungerstreik. „Entweder gibt es Frieden in In dieser Atmosphäre der Gewalt wurde propagierten Politik des zivilen Ungehor- Kalkutta, oder ich werde sterben“, ließ der die Strategie des zivilen Ungehorsams ge- sams war der Boykott britischer Produkte. fast 78jährige erklären.Am dritten Tag des boren, die zur wichtigsten Kampfform der Bald brannten im ganzen Land Scheiter- Hungerstreiks war sein Puls so schwach Bürgerrechtsbewegungen in der ganzen haufen mit britischen Importwaren, be- geworden, daß jederzeit der Tod eintreten Welt werden sollte. Damals wurde auch sonders mit Kleidung. Die Nationalbewe- konnte. jener Gandhi geboren, den die Welt seither gung forderte die Rückkehr zu einheimi- Und das „Wunder von Kalkutta“ ge- kennt: angetan mit Sandalen und einem schen Produkten. Gandhi selbst führte bei schah: Auf die Nachricht vom drohenden weißen, knielangen Lendenschurz, entwe- all seinen Vortragsreisen ein Spinnrad mit Tod des Idols kehrte in die Elendsviertel der mit nacktem Oberkörper oder, bei kal- sich, an dem er in Mußestunden saß und an der Millionenstadt die Vernunft zurück. tem Wetter, mit einem schlichten Umhang, dem er sich gern fotografieren ließ. Gemeinsame Prozessionen von Hindus

154 der spiegel 12/1999 cation“ für verfassungswidrig er- klärt, die Rassentrennung in den Schulen aufgehoben worden. Das Urteil gab den schwarzen Ameri- kanern Mut, ihre Rechte in allen Bereichen einzufordern. Im Dezember 1955 weigerte sich in Montgomery (Alabama) die schwarze Näherin Rosa Parks, ihren Sitzplatz im vorde- ren Teil des Busses einem weißen Fahrgast abzutreten. Der Busfah- rer holte die Polizei. „Ich bin ein- fach müde“, sagte die Frau. „Mei- ne Füße schmerzen. Ich habe den ganzen Tag schwer gearbeitet.“ Rosa Parks wurde verhaftet. Doch was unzählige Male hinge- nommen worden war, entfachte nun einen Sturm der Entrüstung in der Stadt. Wieder war es die scheinbar unbedeutende Tat ei- nes einzelnen, welche die Welt- geschichte in Bewegung setzte. Rosa Parks sollte am 5. De-

ROGER-VIOLLET / GAMMA STUDIO X zember 1955 vor Gericht stehen. Demonstration für die Unabhängigkeit Indiens (1930): Moralische Niederlage des Empire Für den Tag der Verhandlung be- schloß eine Versammlung von und Muslimen erschienen beim Mahatma hen Sie doch bitte auf einen der hinteren ungefähr 50 Schwarzen den Boykott der und baten ihn, seine Fastenaktion einzu- Plätze.“ „Wir haben an den Plätzen nichts Busgesellschaft. Und noch eine weitere stellen. Ganze Mördertrupps erschienen auszusetzen“, hatte sein Vater gesagt. „Es wichtige Entscheidung wurde an diesem an seinem Lager, gestanden zerknirscht tut mir leid“, antwortete der Angestellte, Tag getroffen. Die Versammlung wählte ihre Schuld und baten um Strafe. Gandhi „aber hier kann ich Sie nicht bedienen.“ den Baptistenprediger Martin Luther King bat sie, für Ruhe zu sorgen – tatsächlich Fast hundert Jahre nach der Abschaf- Junior zu ihrem Sprecher. Der schwarze hörten die Massaker auf. fung der Sklaverei war es in den Südstaa- Prediger, gerade in Theologie promoviert, Der Ruhm Gandhis hatte nun fast my- ten der USA in den fünfziger Jahren noch entschied sich in diesen Tagen zwischen thische Dimensionen erreicht. Täglich er- immer schlecht bestellt um die Bürger- einer bürgerlichen Karriere und dem schienen Tausende zum Gebet. Am 30. Ja- rechte der Schwarzen. Gemäß der 1896 Kampf für die Menschenrechte. nuar 1948 drängte sich einer der Betenden vom Obersten Gerichtshof proklamierten Am Tage des Prozesses gegen Rosa plötzlich vor, zog eine Pistole und feuerte Formel „separate but equal“ hingen in öf- Parks stieg in Montgomery kein Schwarzer dreimal. Ein Hindu-Fanatiker, der Gandhis fentlichen Einrichtungen, Geschäften, Ki- in den Bus. Zu Fuß, per Anhalter oder auf Botschaft der Versöhnung mit den Musli- nos, Schwimmbädern, Toiletten und sogar dem Pferd kamen die Kinder zur Schule men ablehnte, hatte die „Große Seele“ aus- an Parkbänken Schilder mit dem Hinweis und die Erwachsenen zur Arbeit. Rosa gelöscht. „Whites Only“. Parks wurde zu einer Geldstrafe von zehn Im Todesjahr Gandhis hörte der schwar- 1954 endlich war diese Doktrin vom Dollar verurteilt. Doch es ging nun um das ze Theologiestudent Martin Luther King Obersten Gerichtshof der USA im berühm- Prinzip. Für die nächsten 13 Monate sorg- während eines Vortrags in Philadelphia ten Fall „Brown v. Topeka Board of Edu- te ein Bürgerkomitee für die Organisation erstmals Genaueres von den Lehren des des Transports, und die Busgesellschaft ver- Inders. „Seine Botschaft war so tiefgründig lor 65 Prozent ihrer Einnahmen. und begeisternd, daß ich nach der Ver- Entsprechend stark war der Haß, der sammlung ein halbes Dutzend Bücher über Martin Luther King von weißen Rassisten Gandhis Leben und Werk kaufte. Wie die entgegenschlug. Am 30. Januar 1956 explo- meisten Leute hatte ich von Gandhi gehört, dierte auf der Veranda seines Hauses eine hatte ihn aber nie ernstlich studiert. Ich Bombe.Wie Gandhi und andere Propheten war fasziniert von seinen Feldzügen ge- der Gewaltlosigkeit sah sich King nun nicht waltlosen Widerstands.“ mehr allein mit der Gewalt seiner Gegner Wie Gandhi entstammte auch Martin konfrontiert, sondern auch mit Stimmen Luther King respektablen Verhältnissen. aus den eigenen Reihen, die mit Gegenge- Sein Vater war Pfarrer und lebte in Atlan- walt reagieren wollten. Eine entsetzte und ta (Georgia) in einem hübschen Häuschen. wütende Menge von Schwarzen lief vor Und wie Ghandi erzählte er später von sei- seinem ausgebrannten Haus zusammen. ner traumatischen Erfahrung mit dem all- Doch King beschwichtigte die aufgebrach- täglichen Rassismus. Mit seinem Vater hat- ten Menschen: „Bitte geht nach Hause und te er sich einmal in einem Schuhladen auf legt eure Waffen weg. Wir können dieses einen der Stühle gesetzt, um Schuhe an- Problem nicht durch Vergeltung lösen. Wir zuprobieren. Der Verkäufer war gekom- müssen der Gewalt mit Gewaltlosigkeit be-

men und hatte verlegen gemurmelt: „Ge- SYGMA gegnen.Wir müssen unsere weißen Brüder Gandhi, britische Kolonialherren* lieben.“ Einem weißen Polizisten entfuhr * Vizekönig Mountbatten und Ehefrau 1947. „Halbnackter Fakir“ daraufhin: „Ohne den Nigger wären wir

der spiegel 12/1999 155 Das Jahrhundert der Befreiung: Gewaltfreier Widerstand

jetzt alle tot.“ Die Auseinandersetzungen gingen weiter. Die Busgesellschaft verklag- te King auf Schadensersatz. Doch mitten in die Gerichtsverhandlung platzte eine Ent- scheidung des Supreme Court, die auch die Rassentrennung in Bussen für verfassungs- widrig erklärte. Der Erfolg von Montgomery löste eine Kettenreaktion im ganzen Land aus. In den Vereinigten Staaten begann ein frischer Wind zu wehen. Eine neue Generation hielt dem Establishment die Ideale der Gründerväter vor. Die Studentenbewegung begann sich zu formieren; Künstler wie die Protestsänger Joan Baez und Bob Dylan solidarisierten sich. Das Sit-in als Aktions- form wurde geboren. Aus Protest setzten sich junge Leute an die Theken von Im- bißstuben und Schnellrestaurants, die kei- ne Schwarzen bedienen wollten, und san- gen gemeinsam Lieder. Zu einer der Hym- nen der Bewegung wurde das berühmte „We Shall Overcome“, das sich über die ganze Welt verbreitete. Am 28. August 1963 fand die friedliche Bewegung für Bürgerrechte der farbigen Amerikaner mit dem „Marsch auf Wa- shington“ ihren historischen Höhepunkt. Eine viertel Million Menschen, darunter vie- le Weiße, zogen vom Washington Monu- ment zum Lincoln Memorial. In brütender Sommerhitze stand Martin Luther King vor der unübersehbaren Menschenmenge, 3Spiegel des 20. Jahrhunderts wohl wissend, daß Millionen von Menschen in ihm den „moralischen Führer der Na- tion“ sahen. Einer unmittelbaren Eingebung folgend legte er sein Manuskript zur Seite und hielt seine berühmte Rede, die über weite Pas- sagen immer wieder mit jenem legendär gewordenen „I have a dream“ begann: „Ich habe einen Traum, daß meine vier

kleinen Kinder eines Tages in einer Nation B. FITCH STAR / BLACK leben werden, in der man sie nicht nach ih- Schwarzenführer King, Vorbild Gandhi (1966): „Faszinierende Feldzüge“ rer Hautfarbe, sondern nach ihrem Cha- rakter beurteilen wird … Ich habe einen Martin Luther King im Hospital. Die Hin- eines Häuptlings und Nachfahre eines Kö- Traum, daß eines Tages kleine schwarze tergründe des Attentats auf King sind bis nigs aus der Dynastie der Thembu geboren. Jungen und schwarze Mädchen sich mit heute nicht restlos aufgeklärt. Als Häuptlingssohn erhielt Mandela, im kleinen weißen Mädchen und weißen Jun- Die Methoden des gewaltlosen Kampfes Unterschied zu vielen seiner schwarzen gen die Hände schütteln wie Schwestern waren von Gandhi zum erstenmal in Süd- Altersgenossen, eine gute Schulbildung. Er und Brüder.“ afrika entwickelt und erfolgreich prakti- konnte die Universität besuchen und wur- Wie sein Vorbild Gandhi fiel Martin Lu- ziert worden. Doch auch die Grenzen der de, wie Gandhi, Rechtsanwalt. ther King durch Mörderhand. Am 4. April Strategie strikter Gewaltlosigkeit wurden Und wie dieser wurde er fast zwangs- 1968 stand King mit seinen Mitarbeitern schließlich nirgendwo deutlicher als in Süd- läufig in die Politik hineingestoßen. Nach nach einem arbeitsreichen Tag in einem afrika. Dort waren es nicht allein friedliche dem Wahlsieg der rassistischen Nationa- Motelzimmer in Memphis (Tennessee). Sie Mittel, die zur Überwindung der Apart- len Partei im Jahre 1948 führte Südafrika wollten gemeinsam zum Abendessen ge- heid führen sollten – wenngleich am Ende das Prinzip der strengen Rassentrennung hen. King trat einen Moment auf den Bal- der Entwicklung ein Sieg der Vernunft („Apartheid“) ein. Der 1912 gegründete kon. In diesem Augenblick fiel ein Schuß. stand, an den viele Menschen in Südafrika Afrikanische Nationalkongreß (ANC), die Eine Gewehrkugel zerschlug den Kiefer nicht mehr geglaubt hatten. größte Interessenvertretung der schwarzen und den Hals des Opfers. Vergebens ver- 1918, vier Jahre nachdem Gandhi Süd- Südafrikaner, versuchte friedlichen Wider- suchten seine Freunde, das Blut zu stillen. afrika verlassen hatte, wurde in einem Dorf stand zu leisten. Etwa eine Stunde nach dem Attentat starb in der Transkei Nelson Mandela als Sohn 1952 organisierte der ANC die „Mißach- tungskampagne“: Massenhaft sollten die Apartheidgesetze gezielt übertreten wer- „In den entscheidenden den. Schwarze stiegen in die für „Eu- Augenblicken ist man meistens allein.“ ropäer“ reservierten Zugabteile oder gin- gen nach Anbruch der Sperrstunde spa- Der polnische Gewerkschaftsführer Lech Walesa, 1980 zieren; als viele von ihnen verhaftet wur-

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Werbeseite Das Jahrhundert der Befreiung: Gewaltfreier Widerstand

den, zogen andere mit dem Ruf „Wir wol- Steinschleudern und Ben- len hinein“ vor die Gefängnistore. zinbomben gegen eine Die Lehren Gandhis wurden innerhalb ebenso brutale Polizei. Das des ANC kontrovers diskutiert, zumal ei- Markenzeichen der Ju- ner der Söhne des Mahatma in Südafrika gendbanden wurde eine lebte und im streng pazifistischen Flügel besonders grausame Hin- der Bewegung aktiv war. Doch das Prinzip richtungsmethode, die der Gewaltlosigkeit um jeden Preis konn- „Halskrause“: Tatsächli- te sich nicht durchsetzen. Mandela schrieb chen oder angeblichen darüber in seiner Autobiographie: „In In- schwarzen Kollaborateuren dien hatte Gandhi es mit einer ausländi- des Rassistenregimes wur- schen Macht zu tun, die letztendlich reali- de ein mit Benzin gefüllter stischer und weitsichtiger war. Das war bei Autoreifen übergeworfen den Afrikaanern in Südafrika nicht der und in Brand gesteckt. Fall. Gewaltloser passiver Widerstand ist Nun erinnerte sich die so lange effektiv, wie der Gegner sich an Regierung ihres inzwi- dieselben Regeln hält wie man selbst. Trifft schen weltweit populären ein friedlicher Protest jedoch auf Gewalt, Gefangenen. In einer An- so ist seine Wirksamkeit zu Ende. Für mich sprache vor dem Parla-

war Gewaltlosigkeit kein moralisches Prin- ment erklärte Ministerprä- AP zip, sondern eine Strategie.“ sident Frederik Willem de Angeklagte Busbenutzerin Parks (1956) Die weiße Minderheit Südafrikas ver- Klerk 1990 die Bereitschaft „Ich bin einfach müde“ teidigte ihre politischen und sozialen Pri- der Regierung, Mandelas vilegien mit allen Mitteln. Nach Jahren Freilassung „unter der Bedingung in Er- dete vor dem Wahllokal, in dem er gerade immer neuer Verhaftungen und Gerichts- wägung zu ziehen, daß Mr. Mandela sich zum erstenmal überhaupt seine Stimme verfahren und einem Leben in der Illega- voll und ganz verpflichtet, sich nicht der abgegeben hatte, in die laufenden Fern- lität wurde Mandela des Hochverrats an- Planung,Anstiftung oder Vollstreckung von sehkameras: „Wir beginnen eine neue Ära geklagt und 1964 zu lebenslanger Haft ver- Gewaltakten schuldig zu machen“. Man- der Hoffnung, der Versöhnung und der urteilt. dela wurde in seiner – freilich inzwischen Gründung einer Nation.“ Insgesamt 27 Jahre verbrachte er im Ge- recht komfortablen – Gefängniszelle zur In Indien ging es politisch um die natio- fängnis, die ersten 18 Jahre auf der ge- Schlüsselfigur für die Lösung der politi- nale Unabhängigkeit, in den USA und in fürchteten Gefängnisinsel Robben Island. schen Grundsatzfrage Südafrikas. Südafrika um rechtliche und soziale

Spiegel des 20. Jahrhunderts Dem Apartheidregime gelang es, die Es kam jetzt mehr denn je darauf an, Gleichstellung der Schwarzen – in Polen schwarze Bürgerrechtsbewegung durch sich nicht vom Apartheidregime mißbrau- war das Ziel die Befreiung von der kom- strenge Gesetze niederzuhalten. Doch chen zu lassen. Seine Tochter Zindzi hatte munistischen Diktatur und der sowjeti- nachdem 1975 militante Befreiungsbewe- bereits am 10. Februar 1985 im Stadion von schen Vorherrschaft. gungen in Angola und Mosambik die Soweto eine Erklärung ihres Vaters verle- „Ich fuhr allein mit der Straßenbahn Macht übernommen hatten, wendete sich sen, die mit den Worten endete: „Nur freie zum Streik“, schrieb Arbeiterführer Lech das Blatt. Im Gefolge des Auf- Walesa in seinen Erinnerungen. „In den stands im Johannesburger Schwar- entscheidenden Augenblicken ist man zen-Ghetto Soweto verließen im meistens allein.“ Wieder ist da dieses folgenden Jahr mehrere tausend Moment der einsamen Entscheidung Jugendliche Südafrika und be- vor dem Kampf. Auch das Motiv der scherten dem ANC einen nicht seltsamen Begegnung zwischen dem versiegenden Strom von Rekruten Alltag und der Weltgeschichte taucht in für den bewaffneten Kampf. Sie den Erinnerungen der Beteiligten im- wurden in Militärlagern der Nach- mer wieder auf: „Ich hatte die Sirenen barländer, in der DDR oder der schon zu Hause gehört und gewußt, Sowjetunion zu Guerrillas ausge- daß alles anfing. Aber ich konnte nicht bildet. früher weg, weil ich noch aufräumen 1976 begann der ANC mit einer mußte“, so Walesa. Serie von Bombenanschlägen auf Der Gewerkschafter fuhr an diesem Polizeiwachen, Bahnstationen, 14. August 1980 von Geheimpolizisten Elektrizitätswerke. Von 1980 an Protestsänger Baez, Dylan (1964) beschattet zum Tor II der Danziger Le- wählte man ehrgeizigere Ziele. Solidarische Künstler nin-Werft, seiner alten Arbeitsstelle, Guerrilleros des ANC jagten Öl- wo er allerdings seit Jahren Hausverbot tanks in die Luft, feuerten Raketen auf Mi- Menschen können verhandeln. Gefangene hatte. Dort traf er auf eine aufgeregte Men- litärbasen ab und versuchten 1982 gar, das können keine Verträge abschließen.“ schenmenge und viele Sicherheitskräfte. im Bau befindliche Atomkraftwerk Koe- Ein gefährlicher politischer Seiltanz be- In der ganzen Stadt waren Flugblätter ver- berg in der Nähe von Kapstadt zu spren- gann, der den Ex-Häftling Mandela gut teilt worden, die den Streik ankündigten. gen. 1983 explodierte vor einem Militärge- vier Jahre später ins Präsidentenamt der Polizisten kontrollierten scharf das Werk- bäude in Pretoria eine Autobombe, die 19 Republik Südafrika führte. Immer wieder tor. Walesa, der sich hier gut auskannte, Menschen tötete und über 200 verletzte. drohte der Prozeß des friedlichen Über- bog nach rechts ab, erreichte an einer un- Seit 1984 spitzte sich die Lage weiter zu, gangs an den radikalen Kräften beider Sei- bewachten Stelle das Betriebsgelände und der vom ANC geforderte Boykott Südafri- ten zu scheitern.Auch innerhalb des Lagers kletterte über die Mauer. kas durch fast die gesamte Welt traf die der Schwarzen herrschte keineswegs Ein- Mit der Überwindung dieser Mauer er- Wirtschaft schwer. Gewalt flammte auf und tracht. Doch im April 1994 geschah schließ- hielt die seit einigen Wochen schwelende griff auf immer neue Städte über. Grup- lich das Wunder einer fast friedlichen Wahl. politische Krise eine neue Dynamik, be- pen schwarzer Jugendlicher kämpften mit Ein strahlender Nelson Mandela verkün- gann eine gefährliche Gratwanderung, die

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Werbeseite Das Jahrhundert der Befreiung: Gewaltfreier Widerstand SELECT Aufmarsch des ANC (in King Williams Town, 1992): Ein nicht versiegender Strom

das Sowjetimperium in seine letzte große um die Errichtung eines Denkmals für die Forderungen zu erfüllen. Die Streikenden Systemkrise vor dem endgültigen Unter- 1970 erschossenen Arbeiter und um eine mußten sich vor Provokateuren hüten und gang stürzen sollte. relativ bescheidene Lohnerhöhung. Wale- vor Leuten, denen das alles zu langsam Der gewaltlose Massenprotest der Jahre sa wurde zum Streikführer bestimmt, weil ging. Im Dezember 1970 waren nicht nur 1980/81 in Polen war Resultat eines müh- er als Elektriker auf der Werft bekannt war die Polizeiwachen und Parteikomitees, son-

Spiegel des 20. Jahrhunderts seligen Lernprozesses. Dort hatte der und die Sprache der Arbeiter sprach. Am dern auch die Schnapsbuden geplündert Kampf gegen fremde Herren eine lange zweiten Tag schlossen sich die Danziger worden.Aufgrund dieser Erfahrungen hat- Tradition. Seit 1795 hatte das Land sich im- Bus- und Straßenbahnfahrer dem Streik te das Streikkomitee ein strenges Alkohol- mer wieder vergebens gegen die Teilungs- an, der nun im Stadtbild unübersehbar war. verbot erlassen. mächte Rußland, Österreich und Preußen Auch in den Häfen stand alles still, auf der Am Sonntag, dem 17. August 1980, trug erhoben. Die polnische Hymne „Noch ist Reede von Danzig und Gdingen lagen Walesa ein riesiges Holzkreuz zu jener Polen nicht verloren“ ist der symbolische zahlreiche Schiffe, die nicht entladen wer- Stelle vor dem Werktor, an der im De- Reflex auf diese nationale Erfahrung der den konnten. zember 1970 die Miliz auf die Arbeiter ge- immer wiederkehrenden Niederlagen. Die In anderen polnischen Städten flacker- schossen hatte und an der nun ein Denk- polnische Tradition war geprägt vom heroi- ten ebenfalls Streiks auf. Es fehlte nicht mal gebaut werden sollte. Anschließend schen Pathos der Niederlage, nicht vom an Drohgebärden der Regierung, doch in fand ein Gottesdienst statt. Die Bilder von gewaltlosen Widerstand. Zuletzt hatten im Warschau war man geneigt, den Konflikt Priestern in vollem Ornat, die auf dem Dezember 1970 die Arbeiter in den Indu- friedlich auszutragen und einen Teil der Werksgelände knienden Arbeitern die strie- und Hafenstädten an der Ostseeküste Beichte abnahmen, gingen um die Welt. gegen die kommunistische Herrschaft re- Von einer „Revolution auf den Knien“ war belliert; der Aufstand war vom Militär blu- die Rede. Wie man die Rolle der Kirche tig niedergeschlagen worden. auch letztlich beurteilen mag, sie war in je- Walesa, der als junger Arbeiter diese nen Tagen ein stabilisierender Faktor. Tage in Danzig miterlebt hatte, wollte zu- In der Nacht zuvor war ein „Überbe- sammen mit seinen Freunden einen ande- triebliches Streikkomitee“ gegründet wor- ren Weg gehen. Seit Mitte der siebziger den, das einige Tage später die berühmten Jahre bereiteten sie die Gründung einer „21 Forderungen“ formulierte. Es handel- unabhängigen Gewerkschaft vor. Frontale te sich dabei um eine Mischung aus rein Angriffe auf die Macht und gewaltsame ökonomischen und gemäßigten politischen Konfrontationen sollten vermieden wer- Forderungen wie Freilassung politischer den. Insofern war das Prinzip der Gewalt- Gefangener und Zulassung unabhängiger losigkeit ein Gebot der praktischen Ver- Gewerkschaften. Vom Sturz der Partei- nunft, zudem geprägt von einer strengen herrschaft oder der Herauslösung Polens katholischen Religiosität. aus dem östlichen Bündnissystem war So trat das Danziger Streikkomitee an- nicht die Rede. Dennoch unterzeichneten fangs mit relativ bescheidenen Forderun- die Regierungsvertreter erst nach zähen gen an. Zunächst erlangte es die Wieder- Verhandlungen am 31. August 1980. einstellung der aus politischen Gründen Mit der Anerkennung der unabhängigen entlassenen Kranführerin Anna Walenty- Gewerkschaft „Solidarnos´ƒ“ akzeptierte

nowicz, später wurde die Forderung auf ARCHIVE PHOTOS erstmals eine regierende kommunistische zwei weitere Kollegen ausgedehnt, von de- Häftling Mandela (1964) Partei die Einschränkung ihres Machtmo- nen einer Lech Walesa war. Weiter ging es „Nur Freie können verhandeln“ nopols. Dieses „Wunder von Danzig“ war

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Werbeseite Das Jahrhundert der Befreiung: Gewaltfreier Widerstand APESTEGUY-BULKA / GAMMA STUDIO X Polnischer Gewerkschaftsführer Walesa, streikende Arbeiter bei der Beichte*: „Revolution auf den Knien“

auf friedlichem Weg durchgesetzt worden. der Gethsemanekirche im Ost-Berliner rung an die eigenen Leute, sich nicht pro-

Spiegel des 20. Jahrhunderts Walesa dankte allen, „die es nicht zuge- Stadtbezirk Prenzlauer Berg friedlich die vozieren zu lassen.Viele flohen zurück auf lassen haben, diese Frage mit Gewalt zu Kirche verließen, um nach Hause zu gehen, die Stufen der Kirche, wo seit Tagen die entscheiden“, und erklärte: „Wir haben ertönten plötzlich scharfe Polizeipfiffe.Aus Kerzen einer Mahnwache brannten. Dort uns ausschließlich in Gesprächen und Ver- Lastkraftwagen sprangen Bereitschaftspo- sangen sie mit demonstrativer Betonung handlungen, mit kleinen Zugeständnissen, lizisten und begannen, das gesamte Ter- der Textzeile „Die Internationale erkämpft verständigt, so wie ein Pole mit dem an- rain um die Kirche abzuriegeln. Aus den das Menschenrecht“ das Lied von den deren, und so sollte es immer sein.“ Lautsprechern der Polizeiautos tönte es „Verdammten dieser Erde“. Doch es blieb nicht immer so. 16 Mona- immer wieder blechern: „Sie befinden sich Und als die knüppelnde Polizei sich te später verhängte General Jaruzelski in einer nichtgenehmigten Demonstration. zurückzog, hoben sich die Hände zum Sie- das Kriegsrecht, verbot die Solidarnos´ƒ, Räumen Sie die Straße!“ geszeichen, und die Menge stimmte den ließ Walesa und Tausende andere Gewerk- Das hätten die meisten nur zu gern ge- Song der amerikanischen Bürgerrechtsbe- schaftsfunktionäre und Sympathisanten tan, doch in alle Richtungen war der Weg wegung an: „We Shall Overcome“. verhaften. Aber der Verfall des Sozialis- versperrt.Als sei dies beabsichtigt gewesen, mus war nicht mehr aufzuhalten; im Fe- stauten sich zu beiden Seiten der Ab- bruar 1989 wurde in Polen der erste Run- sperrketten die Menschen und brachten Der Autor de Tisch einberufen. Und wieder diente als den Verkehr auf der Schönhauser Allee Stefan Wolle, 49, ist Integrationsfigur Lech Walesa. Ein Regime, zum Erliegen. Dann begann eine Prügel- Historiker und war das seit Dezember 1981 seine Macht auf orgie der Polizei. In das Geschrei der 1989/90 an der Auf- Ausnahmegesetze gründete, war gezwun- aufgebrachten Menge und die ständi- lösung der Stasi be- gen worden, den Weg friedlicher Verhand- gen Polizeidurchsagen mischte sich das teiligt. Von 1991 an lungen mit der Opposition einzuschlagen. Glockengeläut der Gethsemanekirche. lehrte er an der Hum- Auch für alle jene, die in der DDR auf Ver- Immer wieder riefen die Menschen boldt-Universität, seit änderungen hofften, waren diese Nach- „Keine Gewalt!“ Das war an die Gegen- 1998 ist er Referent richten aus Polen ein gutes Zeichen. seite gerichtet, doch auch eine Aufforde- bei der Stiftung DDR-

Als am Abend des 8. Oktober 1989 die D. ANDREE Aufarbeitung. Teilnehmer einer Informationsandacht in * Auf dem Gelände der Danziger Lenin-Werft 1980.

L I T E R A T U R buchverlag, Frankfurt am Main 1983; 300 Seiten – Zu- Ehrhart Neubert: „Geschichte der Opposition in der Larry Collins, Dominique Lapierre: „Um Mitter- sammenstellung autobiographischer Texte, ein Klas- DDR 1949–1989“. Christoph Links Verlag, Berlin 1997; nacht die Freiheit“. Bertelsmann Verlag, München siker der Idee des gewaltfreien Widerstands. 960 Seiten – Erste wissenschaftliche Gesamtdarstel- 1976; 608 Seiten – Spannende Schilderung der Ereig- Jerzy Holzer: „Solidarität. Die Geschichte einer frei- lung des gewaltlosen Widerstands in der DDR. nisse um die Unabhängigkeitserklärung Indiens und en Gewerkschaft in Polen“. C. H. Beck Verlag, Mün- Gerd Presler: „Martin Luther King Jr.“. Rowohlt die Ermordung Gandhis. chen 1985; 442 Seiten – Die bisher umfassendste und Taschenbuch Verlag, Reinbek 1998 (9. Aufl.); 160 Louis Fischer: „Gandhi. Prophet der Gewaltlosigkeit“. ausgewogenste Darstellung der Solidarnos´ƒ. Seiten – Kurzbiographie mit Bildern, Zeittafeln und Wilhelm Heyne Verlag, München 1998 (14. Aufl.); 288 Martin Meredith: „Nelson Mandela. Ein Leben für Literaturhinweisen. Seiten – Immer noch äußerst lesenswerte Gandhi- Frieden und Freiheit“. Lichtenberg Verlag, München Lech Walesa: „Ein Weg der Hoffnung“. Zsolnay Verlag, Biographie aus dem Jahr 1950. 1998; 704 Seiten – Aktuelle Biographie Mandelas vom Wien/Hamburg 1987; 440 Seiten – Lesenswerte Mahatma Gandhi: „Mein Leben“. Suhrkamp Taschen- Ex-Afrika-Korrespondenten des „Observer“. Autobiographie des polnischen Arbeiterführers.

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STANDPUNKT Mit Gefühl zur Freiheit Vom Dalai Lama ie Menschheit hat aus den Er- in unser aller Interesse, für eine neue Mitgefühl ist seinem Wesen nach fried- fahrungen dieses Jahrhunderts Vision des Zusammenlebens aller Men- lich und zurückhaltend, aber es ist Dgelernt. Es gab eine Zeit, in der schen einzutreten: eine Gesellschaft, in gleichzeitig sehr machtvoll. Es ist ein wir dachten, daß Wissenschaft und der Krieg als Mittel der Konfliktlösung Zeichen wahrer innerer Stärke. Um es Technologie alles seien. Bis vor kurzem keinen Platz hat, sondern in der Ge- zu erlangen, müssen wir unsere ei- glaubten wir auch, daß sich die meisten waltlosigkeit ein alle zwischenmensch- gentlichen menschlichen Qualitäten unserer Probleme durch militärische lichen Beziehungen prägender Wert ist. entwickeln. Macht lösen lassen würden Die friedlichen Revolutionen in und daß wir die Ressourcen Osteuropa und anderswo haben der Erde hemmungslos ver- uns viele große Lektionen gelehrt. schleudern könnten. Religiöse Eine ist der Wert der Wahrheit. Intoleranz, Rassismus und die Die Menschen mögen es nicht, Ausbeutung der Armen und von anderen Individuen oder ei- Schwachen waren akzeptiert nem System bedrängt, betrogen und weit verbreitet. und belogen zu werden. Solches All dies ändert sich. Wir Verhalten läuft dem Innersten des sind reifer geworden. Ich ha- menschlichen Geistes zuwider. be Vertrauen in die Zukunft, Die Wahrheit ist der beste Garant nicht zuletzt wegen der dra- und die eigentliche Grundlage matischen Veränderungen, die von Freiheit und Demokratie. Ob die Welt in den vergange- du schwach oder stark bist und

Spiegel des 20. Jahrhunderts nen Jahren gesehen hat. Der ob dein Anliegen wenig oder vie- Kommunismus ist fast über- le Anhänger hat: Die Wahrheit all in der Welt zusammenge- wird siegen. brochen, und der Drang des Wenn wir akzeptieren, daß an- menschlichen Geistes nach dere das gleiche Recht auf Frie- Demokratie und Freiheit hat den und Glück haben, das wir für einen großen Schub erhalten. uns in Anspruch nehmen: Ha- Abgesehen von einigen Aus- ben wir dann nicht auch die Ver- nahmen hat sich dieser Wan- pflichtung, denen in Not zu hel- del friedlich vollzogen. fen? Das Streben nach Erfül- Das Ergebnis ist größerer lung der elementaren Menschen- Respekt gegenüber Freiheit, rechte ist für die Völker Afrikas Demokratie und Menschen- und Asiens ebenso wichtig wie rechten in der Welt. Ein neues für die Europas oder der beiden Bewußtsein formt sich. Das Amerikas. Aber natürlich sind Streben unterdrückter Völker gerade jene, denen ihre Rechte und Nationen nach Freiheit vorenthalten werden, am wenig- und Demokratie, ihr Wunsch sten in der Lage, sie für sich selbst nach Selbstbestimmung, ist in einzuklagen.

jüngster Zeit erneut kraftvoll PRESS SIPA Die Verantwortung, dies zu und eindringlich zu Tage ge- Dalai Lama tun, liegt bei denjenigen von uns, treten. die Freiheit bereits erlangt haben. Millionen von Menschen jene Frei- Unser Endziel sollte die Entmilitari- Freiheit, so lehrt uns die Erfahrung, heit genießen zu sehen, welche ihnen sierung des gesamten Planeten sein. sollte man teilen und gemeinsam mit jahrzehntelang vorenthalten wurde, er- Aber dazu ist es notwendig, mit einer anderen genießen – und sie nicht ein- füllt mich mit Freude. Ihr Triumph inneren Abrüstung zu beginnen. Der fach für sich selbst behalten. zeigt, daß das menschliche Verlangen Schlüssel zum äußeren Weltfrieden ist nach Freiheit schließlich siegen wird, innerer Frieden, gegründet auf ge- Der Dalai Lama, 63, ist geistliches unabhängig davon, wie lange ihm die- genseitigen Respekt füreinander als und weltliches Oberhaupt der Tibeter. se Freiheit vorenthalten wurde. menschliche Wesen, auf Mitgefühl Seit dem erfolglosen Aufstand gegen Wichtiger noch: Er beweist, daß die und Liebe. die chinesischen Besatzer, der sich am notwendige Machtübergabe ohne Ge- Einige mögen diesen Weg des Mit- 10. März zum 40. Male jährte, lebt er im walt vonstatten gehen kann. gefühls für nicht praktikabel und un- indischen Exil. 1989 erhielt er für seinen Einen wirklichen Weltfrieden zu er- realistisch halten. Ich glaube, er ist gewaltlosen Einsatz für die Rechte reichen bleibt die große Aufgabe. Es ist der einzige Weg zum Erfolg. Das seines Volkes den Friedensnobelpreis.

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PORTRÄTS Zivilcourage und Zähigkeit Rigoberta Menchú to der 53jährigen Aung San Suu Kyi, die 1991 für ihren gewaltlosen Einsatz für die Die Umstrittene Freiheit der Burmesen den Friedens- Lange schien die Maya-Indianerin Rigo- nobelpreis erhielt. berta Menchú die perfekte Symbolfigur Sechs Jahre Hausarrest (1989 bis 1995) im Kampf der Unterdrückten Latein- haben den eisernen Willen dieser zierli- amerikas gegen Diktatoren und Ausbeu- chen Frau nicht brechen können, auch ter. Während das Militär in ihrer Heimat die tägliche Repression nach ihrer Frei- Guatemala im Kampf gegen die Guerril- lassung 1995 nicht: Ihr Telefon wird ab- la ganze Indianerdörfer ausrottete, stritt gehört, die Leitung oft gekappt. Faxgerät, die rundliche kleine Frau unermüdlich Kopierer, Computer – verboten. Der mi- für die Rechte der Ureinwohner. litärische Geheimdienst schirmt ihr Haus Von Morddrohungen ließ sie sich nicht streng ab. Ihr britischer Mann darf sie schrecken; für ihre Mission nahm sie das nicht besuchen. Exil in Kauf und verzichtete lange auf die Aung San Suu Kyi, Generalsekretärin Gründung einer eigenen Familie. Ihre er- der „Nationalen Liga für Demokratie“ schütternde Autobiographie „Rigoberta (NLD), ist mit Zivilcourage und Zähigkeit

Menchú. Leben in Guatemala“ zählte zur PRESS SIPA zum Symbol der Hoffnung in Burma ge- Pflichtlektüre der Lateinamerika-Solida- Menchú worden. Die Tochter des Unabhängig- ritätsgruppen in Europa und den USA. keitshelden Aung San scharrte die nach Im Kolumbus-Jahr 1992, 500 Jahre nach lissen hat sie bei den Rebellen für mehr jahrzehntelanger Militärdiktatur ge- der Entdeckung Amerikas, erhielt Rigo- Flexibilität geworben, für die konservati- schwächte und zerstrittene burmesische

Spiegel des 20. Jahrhunderts berta Menchú den Friedensnobelpreis, ve Regierung war sie eine verläßliche Opposition um sich. stellvertretend für alle Opfer der Con- Partnerin. Immer wieder verlangt sie von der Jun- quista. Niemand überprüfte die Biogra- Eine unabhängige Wahrheitskommis- ta, die demokratischen Wahlen vom Mai phie der Lichtgestalt Menchú auf ihren sion hat die Greuel der Militärdiktaturen 1990 anzuerkennen und mit ihr über die Wahrheitsgehalt. Wer an ihrem Image in Guatemala jetzt öffentlich gemacht. Zukunft des Landes zu reden – damals kratzen wollte, hätte gegen die „political Der Bericht belegt den Völkermord an hatte die NLD über 80 Prozent der Sitze correctness“ verstoßen. den Indianern im Detail und nennt die gewonnen. Seit kurzem jedoch ist Menchús Heili- Schuldigen. Er ist auch eine späte Ge- Aung San Suu Kyi hatte in Rangun und genschein verblaßt. Der amerikanische nugtuung für Rigoberta Menchú: Ihre Au- Neu-Delhi die Schule besucht, wo ihre Anthropologe David Stoll, ein ausgewie- tobiographie mag in Teilen erfunden sein, Mutter Botschafterin Burmas war. Sie stu- sener Kenner Guatemalas, stieß bei Re- das Leid ihres Volkes schilderte sie zwei- dierte in Oxford Philosophie, Politik und cherchen auf Ungereimtheiten in ihrer fellos zutreffend – ohne Übertreibungen. Wirtschaft, arbeitete bei der Uno in New Biographie. Details ihrer Familienge- York und in Bhutan. Später lebte sie mit schichte habe sie erfunden, um „die An- ihrem Mann, einem Tibeto- forderungen der revolutionären Organi- Aung San Suu Kyi logen, und ihren zwei Söh- sation zu erfüllen, der sie angehörte“. Die Aufrechte nen in England. Frau Menchú war Mitglied der Kleinbau- Ihre Hartnäckigkeit und ihre Doch sie ahnte, daß sie ernorganisation CUC, die enge Verbin- Überzeugung, im Recht zu eines Tages das Erbe ihres dungen zur Guerrilla unterhielt. sein, haben sie mehrmals fast Vaters antreten würde. „Sie Der Streit wirft ein spätes Schlaglicht das Leben gekostet: 1989 vergaß niemals, daß sie auf den ideologischen Kampf, der paral- schritt sie unerschrocken die Tochter des National- lel zu den Bürgerkriegen im Mittelame- auf Soldaten zu, die ihre helden Burmas ist“, sagt ihr rika der siebziger und achtziger Jahre tob- Gewehre auf sie angelegt Mann. te. Guerrilla, Militär und Regierungen hatten. 1988 kehrte sie nach Ran- lieferten sich eine Propagandaschlacht, 1998, als die Polizei ihr gun zurück, um ihre tod- Wahrheit und Legende waren kaum von- Auto auf der Fahrt zu Par- kranke Mutter zu pflegen. Es einander zu trennen. In Europa und den teifreunden blockierte und war das Jahr, als das Militär USA diente Rigoberta Menchús Biogra- sie sechs Tage in tropischer Tausende von Demonstran-

phie dazu,Verständnis für die Guerrilla zu Hitze schmoren ließ, kehrte M. ROBIN / GAMMA STUDIO X ten erschoß, die gegen die wecken. Dabei hielt sie es offenbar für le- sie dennoch nicht um. Si- Suu Kyi Willkür des Regimes auf die gitim, ihre Lebensgeschichte mit Greueln cherheitskräfte kaperten Straße gegangen waren. anzureichern, die andere erlitten hatten. schließlich das Fahrzeug – freiwillig wäre Oppositionspolitiker baten sie um Unbestreitbar ist, daß Rigoberta Men- sie wohl nie nach Rangun zurückgekehrt. Hilfe. Neugierig strömten Zehntausende chú zum Ende des Bürgerkriegs in ihrer „Auf das Beste hoffen, auf das herbei, als sie ihre erste Rede an der Heimat beigetragen hat. Hinter den Ku- Schlimmste vorbereitet sein“ ist das Mot- Schehwedagon-Pagode in Rangun hielt.

170 der spiegel 12/1999 „Die Lady“, wie sie von Freund und trat er immer wieder für Menschenrech- Feind genannt wird, macht die Generäle te und Gewaltfreiheit ein. mit ihrer Beharrlichkeit nervös. Immer Als Physiker hatte er in jungen Jahren brutaler schlagen sie auf die Opposition am streng geheimen Atomprogramm Sta- ein, immer enger wird der Spielraum der lins mitgearbeitet. Nach der Explosion Dissidentin. Zahlreiche Vertraute Aung der ersten sowjetischen Wasserstoffbom- San Suu Kyis sitzen im Gefängnis, jüngst be wählte ihn die Akademie der Wissen- landeten wieder Dutzende von Studenten schaften 1953 zum jüngsten Vollmitglied. mit hohen Strafen hinter Gittern. Die KP ehrte ihn, der niemals in die Par- Systematisch zwingt die Junta derzeit tei eintrat, mit höchsten Orden. die NLD-Mitglieder zum Austritt, die Doch Sacharow geriet bald in Oppo- staatliche Presse geifert über die „Schlan- sition zu den Kremlführern. Er sträubte ge“, die wegen ihres britischen Eheman- sich dagegen, die nukleare Kriegstechnik nes eigentlich gar keine Burmesin sei. weiterzuentwickeln, warnte vor der Zer- störung der Umwelt und kämpfte gegen eine Rehabilitierung Stalins. Andrej Sacharow 1968, wenige Wochen bevor sowjeti- Der späte Sieger sche Truppen den Prager Frühling been- Als Andrej Dmitrijewitsch Sacharow an deten, veröffentlichte Sacharow seine kri- einem Wintermorgen im Dezember 1986 tischen „Gedanken über Fortschritt, fried- auf dem Jaroslawler Bahnhof in Moskau liche Koexistenz und geistige Freiheit“ – aus dem Zug stieg, war klar: Der damali- und verlor prompt Posten und Privile- ge Parteichef Michail Gorbatschow mach- gien. Als er 1975 den Friedensnobelpreis te Ernst mit der „Perestroika“ (Umge- erhielt, ließen ihn die sowjetischen Be- staltung) der diktatorischen Sowjetunion. hörden nicht ausreisen. Seine Frau und Sacharow galt als einer der Hauptfein- Mitstreiterin, Jelena Bonner, nahm die de der roten Supermacht. Der Geheim- Auszeichnung für ihn in Oslo entgegen. dienst KGB hatte allein über ihn 550 Bän- Zunehmend bedrängt von der Obrig- de mit vermeintlich belastendem Material keit und abgeschnitten von Gleichge- gesammelt. Nun durfte er nach fast sie- sinnten, kämpfte Sacharow mit Memo- randen, Hungerstreiks, Petitionen und of- fenen Briefen weiter für seine Sache, etwa gegen die Zwangsbehandlung von Häft- lingen in psychiatrischen Kliniken und gegen den sowjetischen Einmarsch in Af- ghanistan. Deshalb landete er schließlich 1980 als Verbannter in Gorki. Immerhin sperrte man ihn nicht in ein sibirisches Arbeitslager – davor bewahr- ten ihn die Mitgliedschaft in der Akade- mie der Wissenschaften und seine Popu- larität im Westen.

SIPA PRESS SIPA Der neue Parteichef Gorbatschow ent- Sacharow (1986) deckte schließlich eine gewisse Geistes- verwandtschaft mit dem Deportierten. So benjähriger Verbannung in die Provinz- rehabilitierte er den alten Herrn und ließ stadt Gorki, dem heutigen Nischni Now- ihn öffentlich für eine schnellere Demo- gorod, in die Hauptstadt zurückkehren. kratisierung der Sowjetunion werben. Der bieder und zuweilen scheu wir- Sacharow wurde Volksdeputierter. Kurz kende alte Herr mit dem grauen Haar- nach einem Rededuell mit Gorbatschow kranz war einer der lautesten Rufer nach über die Führungsrolle der Partei starb er einer demokratischen Sowjetunion. Mit am 14. Dezember 1989 mit 68 Jahren an geradezu atemberaubender Zivilcourage Herzversagen.

DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. DAS JAHR- HUNDERT DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAH- RE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPI- TALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR

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Werbeseite Panorama Ausland REUTERS Straßenschlacht im nordirischen Portadown

NORDIRLAND ben überdies den Empfang neuer Waffenlieferungen bekannt- gegeben. Die Führung der katholischen Irish Republican Army IRA rechnet mit einem „kurzen, heftigen Kampf“, so ein In- Rückkehr zur Gewalt sider, falls der bewaffnete Konflikt wiederaufgenommen wird. Nordirische Polizisten wollen beobachtet haben, daß IRA- egleitet von blutigen Unruhen nach der Ermordung einer Späher bereits Attentatsziele auskundschaften. Bis zum Bprominenten katholischen Rechtsanwältin, bereiten sich Karfreitag hat London den nordirischen Politikern Zeit gege- die Terrororganisationen beider Seiten auf ein Ende des Waf- ben, den Friedensprozeß wieder aus der Sackgasse herauszu- fenstillstands vor, falls das Friedensabkommen am Karfreitag, führen. Doch selbst wenn es gelingen sollte, eine Regierung ein Jahr nach seinem Abschluß in Belfast, scheitern sollte. Of- unter Einschluß der politischen IRA-Vertreter zu bilden und fen werben die beiden großen protestantischen Kampfgrup- so die derzeitige Krise zu entschärfen, ist die Aufbruchstim- pen, die Ulster Defence Association UDA und die Ulster mung in der Unruheprovinz längst verflogen. Eine Mehrheit Volunteer Force UVF, neue Rekruten an. UVF-Mitglieder ha- der Protestanten lehnt das Abkommen inzwischen ab.

RUSSLAND rist seinen Rücktritt Intri- nem Konflikt mit dem Fö- gen und Erpressung zu. Der derationsrat und dem bis- Ein Video für den Chef von Boris Jelzins Prä- herigen Oberermittler be- sidialamt soll Skuratow An- reit. Die Jelzin-Clique hat Staatsanwalt fang Februar mit dem Hin- möglicherweise Grund zur weis auf Belastungsmaterial Furcht vor dem Chefanklä- ie russischen Fernsehzuschauer zum Rücktritt gedrängt ha- ger. Der forschte nach ille- Dkonnten in der Nacht zum Don- ben. Nur Stunden nach galen Geldern auf Konten nerstag vergangener Woche im staatli- Skuratows spektakulärem russischer Bürger bei chen Kanal RTR einen Mann bewun- Widerruf vor dem Födera- Schweizer Banken. Zu den dern, der sich mit zwei Prostituierten tionsrat sendete RTR den Verdächtigen, auf die sich

im Bett vergnügte. Er sah dem bisheri- Videomitschnitt. Der Skan- AP die Ermittlungen laut Sku- gen Generalstaatsanwalt des Landes dal droht zum Initialzün- Skuratow ratow konzentrierten, verblüffend ähnlich. Chefankläger Jurij der für eine heftige innen- gehörten zwei frühere Vi- Skuratow war Anfang Februar zurück- politische Konfrontation zu werden. zepremiers, derzeitige und ehemalige getreten, angeblich „aus gesundheitli- Nahezu alle Gegner des russischen Prä- Kabinettsmitglieder sowie „einige gut chen Gründen“. Nun hat er sich eines sidenten – vom Moskauer Bürgermei- bekannte Oligarchen“, wie Skuratow anderen besonnen. Vor dem Födera- ster Luschkow bis zum Kommunisten- mit deutlicher Anspielung auf einen tionsrat, der Länderkammer, die nach führer Sjuganow – scharen sich um Sku- zwielichtigen Geschäftsmann sagt, der der Verfassung Skuratows Demission ratow. Jelzin und sein Regierungschef bis vor kurzem als enger Vertrauter Jel- hätte bestätigen müssen, schrieb der Ju- Jewgenij Primakow sind dennoch zu ei- zins galt.

der spiegel 12/1999 173 Panorama

KAUKASUS Terror der Profis er Bombenanschlag auf dem Marktplatz Dim nordkaukasischen Wladikawkas am vergangenen Freitag, bei dem mehr als 60 Menschen getötet und über 100 schwer ver- letzt wurden, geht nach Einschätzung von Experten des russischen Inlandsgeheim- dienstes FSB höchstwahrscheinlich auf das Konto tschetschenischer Extremisten. Die wegen blutiger Anschläge und skrupello- ser Entführungen berüchtigten Freischärler kämpfen seit Jahren in der benachbarten Krisenregion gegen Moskau. Der Anschlag in der Hauptstadt Nordossetiens sei „profes- sionelle Arbeit“, so ein russischer Spezia- list, der bereits in der Terrorabwehr des KGB diente. Die Methode des Gewaltakts in Wladikawkas sei dieselbe wie beim Bom- benattentat am Bahnhof im nordkauka- sischen Pjatigorsk im April 1997, bei dem 2 Menschen starben und über 20 verletzt wurden. Bei den Attentätern von damals handelte es sich um zwei Tschetscheninnen, die im Februar zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Ganz bewußt hätten die Bombenleger dies-

mal die Hauptstadt von Nordossetien als An- AP schlagsziel gewählt, vermuten russische Si- Bombenopfer in Wladikawkas cherheitsexperten. Die überwiegend christ- liche Bevölkerung der kleinen Republik (660000 Einwohner), die nen Rückhalt gefunden. Der Bombenanschlag von Wladikawkas in diesem Jahr ein neues Parlament wählt, steht loyal zu Ruß- verschärft Rußlands Sicherheitsprobleme an der Südflanke. Die land. Und bei der muslimischen Minderheit haben die islami- beiden GUS-Republiken Aserbaidschan und Georgien wollen schen Fundamentalisten, die aus dem benachbarten Tsche- den im April auslaufenden Pakt über kollektive Sicherheit mög- tschenien nach Nordossetien ausschwärmen, bislang auch kei- licherweise nicht verlängern.

KENIA BOLIVIEN Opfer fordern Geld von den USA Drogentest für Beamte ast vier Milliarden Mark soll ip Musolino vertritt 100 Geschä- räsident Hugo Bánzer verordnet Kokaintests Fdie Regierung in Washington digte. Die Sammelklagen vor US- Pfür alle Staatsbediensteten, um die Öffentlich- für Schäden bezahlen, die bei dem Gerichten, wo Geschworene im- keit von seiner umstrittenen Drogenpolitik zu verheerenden Bombenanschlag mer wieder gigantischen Scha- überzeugen. Die enge Zusammenarbeit mit der auf die US-Botschaft in Nairobi densersatzansprüchen stattgeben, US-Rauschgiftbehörde DEA bei der Ausrottung am 7. August vergangenen Jahres haben durchaus Aussicht auf Er- von Koka-Plantagen und entstanden sind. 258 Menschen folg. Denn inzwischen wurde be- pausenlose Razzien ha- wurden dabei getötet und über kannt, daß die beim Anschlag ben Tausende Kleinbau- 5000 verletzt, fast allesamt Afrika- selbst verletzte Botschafterin Pru- ern gegen die Regierung ner. Das Geld fordern zwei ameri- dence Bushnell frühzeitig, aber aufgebracht. Deswegen kanische Staranwälte. John L. Bur- vergebens das Washingtoner will Bánzer nun Härte ris, bekannt geworden durch die Außenministerium auf die erhebli- auch im eigenen Haus de- Verteidigung des Schwarzen Rod- chen Sicherheitsmängel ihrer Ver- monstrieren: Koksende ney King, der 1991 in Los Angeles tretung hingewiesen hatte. Noch Beamte sollen ihrer Äm- vor laufender Amateurkamera von arbeiten die amerikanischen Juri- ter enthoben und zum Polizisten krankenhausreif geprü- sten kostenfrei. Im Erfolgsfall kas- Zwangsentzug verurteilt gelt worden war, sicherte sich mit sieren sie jedoch gewaltig ab: Ein werden. Auch Justizange- Hilfe kenianischer Korrespondenz- Drittel des Schadensersatzes steht stellte und Parlamentarier

anwälte das Mandat von über 2300 den Anwälten zu – im Höchstfall REUTERS müssen sich dem Massen- Attentatsopfern. Sein Kollege Phil- 1,3 Milliarden Dollar. Bánzer test stellen.

174 der spiegel 12/1999 Ausland

NORDKOREA provozieren lassen. Tatsächlich bestand dem Totenbett priesen viele den Führer 1993, als Pjöngjang den Austritt aus Kim. „Seoul in dem Atomwaffensperrvertrag verkünde- SPIEGEL: Warum trifft der mächtigste te, die Gefahr eines Krieges. Vor Mann Nordkoreas keine ausländischen Schutt und Asche“ zwei Jahren lag das Kriegsrisiko bei Politiker? 50 Prozent. Hwang: Kim zieht es vor, hinter den Ku- Der ehemalige SPIEGEL: Hat Nordkorea Atomwaffen lissen zu herrschen. Sein Vater Kim II Chefideologe oder die Fähigkeit, solche herzustellen? Sung trat ihm schon von 1974 an nach Hwang Jang Yop, Hwang: Was ich über diese brisante Fra- und nach die Macht ab. Dadurch hat 75, der sich 1997 ge weiß, darf ich leider nicht sagen, Kim II Sung einen Staatsstreich seines in den Süden ab- das mußte ich den Amerikanern ver- Sohnes verhindert. Und der Sohn hat gesetzt hat, über sprechen. mit dem Charisma des Vaters seine ei- die Lage in seiner SPIEGEL: Nordkorea liegt wirtschaftlich gene Macht gesichert. Heimat unter am Boden. Ist Kims 1,2-Millionen- SPIEGEL: Kim Il Sung hatte also schon Kim Jong Il Mann-Armee überhaupt noch einsatz- lange nichts mehr zu sagen? fähig? Hwang: Richtig. Für viele Verbrechen SPIEGEL: Wie groß Hwang: Der Norden ist stark genug, um des Regimes – zum Beispiel für das

ist die Kriegsge- / SABA WAGNER T. die südkoreanische Hauptstadt Seoul Bombenattentat auf mehrere südkorea- fahr in Korea? und ihre Umgebung in Schutt und nische Kabinettsmitglieder 1983 in Ran- Hwang: Kim Jong Il will Südkorea durch Asche zu legen. Allerdings läßt die gun – ist allein Kim Jong II verantwort- Krieg erobern. Zur Zeit aber schließe Fähigkeit Pjöngjangs immer mehr nach, lich. Die häufigen militärischen Provo- ich die Möglichkeit eines Angriffs aus. die Armee voll zu mobilisieren. kationen am 38. Breitengrad gehen alle SPIEGEL: Pokert Kim, um dem Westen SPIEGEL: Warum rebelliert das hungern- auf seine Befehle zurück. Unterstützung abzuringen? de Volk nicht gegen die Führung? SPIEGEL: Wie gut ist Kim über die Lage Hwang: Ja. Weil er glaubt, daß die west- Hwang: Die Dynastie der Kim hat das in Korea und in der Welt informiert? lichen Kapitalisten nichts so sehr fürch- nordkoreanische Volk noch straffer un- Hwang: Er liest jeden Tag bergeweise ten wie einen Krieg, schraubt er die mi- terworfen als Hitler das Dritte Reich. Berichte aller Parteiorganisationen, die litärische Bedrohung immer höher. Schon zu meiner Zeit konnte über die für ihn ganz allein bestimmt sind. Aus- SPIEGEL: Wie lange kann das riskante Hälfte der 500000 Arbeiter in den gewählte Informationen daraus faxt er Spiel gutgehen? Rüstungsbetrieben wegen Hungers an die jeweils zuständigen Funktionäre Hwang: So lange, wie sich die USA nicht nicht arbeiten, und 2000 der besten weiter. Außer Kim besitzt also niemand zu einem militärischen Präventivschlag Ingenieure starben. Aber noch auf ein vollständiges Bild.

IRAK am Mittellauf des SICHUAN HUBEI Jangtse. Schon vor- Saddams Bombe her hatten Zeitungen die Verhaftung von innen Jahresfrist könnte Saddam Drei- über hundert korrup- BHussein einsatzfähige Atomwaffen Jangtsekiang Schluchten- ten Funktionären ge- besitzen, sobald seine Wissenschaftler Staudamm meldet, die aus dem wieder über waffenfähiges Nuklearmate- Umsiedlungspro- rial verfügen. Das meint ein Experte der gramm rund 28 Mil- Internationalen Atomenergieorganisa- Yichang lionen Dollar in die tion in Wien. Der Irak habe wesentliche eigenen Taschen ge- Elemente seines Atomrüstungspro- CHINA steckt hatten. Die gramms bei allen Uno-Inspektionen ver- Jangtsekiang Veröffentlichungen in heimlichen können, so der stets gut in- 100 km den streng kontrol- formierte US-Experte Kenneth Timmer- lierten Medien geben man im „Wall Street Journal“. Seit vier offenkundig wach- Jahren habe Washington Hinweise auf sende Zweifel in der zwei irakische Projekte, die Bagdad Ma- CHINA chinesischen Führung bis hinauf zu terial für Atomwaffen liefern könnten. Premierminister Zhu Rongji an dem bis Dabei soll es sich um eine Urananreiche- Zweifel am Damm zu 72 Milliarden Dollar teuren Vorha- rungsanlage für Bombenmaterial han- ben wieder. Kritiker befürchten unter deln sowie um Vorbereitungen für einen er Bau des von chinesischen und anderem, der Damm sei zu instabil, geheimen Reaktor, in dem Plutonium für Dinternationalen Umweltschützern und der gigantische Stausee werde zu Raketensprengköpfe gewonnen werden und Experten heftig bekämpften Drei- schnell verschlammen. Außerdem kön- könnte. Dennoch wurden mutmaßliche Schluchten-Damms wird nun auch von ne die Umsiedlung von insgesamt drei Produktionsstätten für Saddams Massen- Chinas staatlichen Medien kritisch be- Millionen Menschen soziale Unruhen vernichtungswaffen im Dezember aus urteilt. Das KP-Organ „Volkszeitung“ auslösen. Bereits bei der Entscheidung den Ziellisten der Operation „Desert und die Nachrichtenagentur Xinhua be- über das Projekt 1992 hatten überra- Fox“ herausgenommen. Das Pentagon richteten jüngst über schwere techni- schend viele Abgeordnete des Nationa- fürchtete, bei einem Angriff könne es zu sche und finanzielle Probleme bei der len Volkskongresses, Pekings Schein- einer weiträumigen Verseuchung oder Konstruktion des riesigen Wehrs und parlament, gegen die Regierungsvorla- Verstrahlung in der Region kommen. des größten Wasserkraftwerks der Welt ge gestimmt.

der spiegel 12/1999 175 Titel Das Beben von Brüssel Der tiefe Fall der Europäischen Kommission löste Katzenjammer, aber auch Genugtuung aus. Der Druck, auf dem Berliner EU-Gipfel tiefgreifende Reformen zu beschließen, nimmt deutlich zu. Kanzler Schröder will für Europa eine neue Ära einläuten.

ie zierliche Emma Bonino, 51, Mitten im Aufruhr saß, richtig zufrie- fauchte vor Wut. „Zur Hölle“ soll- den, Edith Cresson und sagte nichts. Am Dten Gerhard Schröder und Tony schwersten von allen Kommissionsmitglie- Blair fahren, „arrogant und undankbar“ dern wegen Unregelmäßigkeiten und würden sich die beiden aufführen, empör- Günstlingswirtschaft gebrandmarkt, hatte te sich die italienische Kommissarin vori- sie persönliche Konsequenzen stur ver- gen Mittwoch in Brüssel auf der ersten weigert und so wesentlich dazu beige- geschäftsführenden Sitzung der EU-Kom- tragen, daß die gesamte Kommission un- mission nach deren Sammelrücktritt. terging. Ihr blieb im allgemeinen Rück-

Es sei eine „unerträgliche Heuchelei“, DPA trittsgetümmel der peinliche Einzelabgang fuhr die radikale Linke fort, wie der deut- Kommissionspräsident Santer erspart. sche und der britische Regierungschef „Gekränkt und schockiert“ Ehe die Versammlung völlig außer Rand den verdienten Kommissionspräsidenten und Band geriet, schaffte es Präsident San- Jacques Santer, und mit ihm das ganze Gre- formwerk nicht mehr rechtzeitig in Geset- ter, die Kollegen einigermaßen zur Räson mium, verächtlich machten – trotz ausge- zestexte umsetzen. zu bringen.Auch er sei „tief gekränkt“ und zeichneter Leistungen bei der Einführung Auch Mario Monti optierte für das Cha- „schockiert“ über die Umstände, die zum des Euro, bei der Osterweiterung und der os. „Nichts mehr tun“, riet Frau Boninos vorzeitigen Ende seines Regiments führ- Finanzreform. Landsmann. Kaum minder bizarr der Bei- ten, beklagte sich der Luxemburger Christ- Die Sünde der beiden Obergenossen: trag Erkki Liikanens. So gar nicht im Ein- demokrat, selbstgerecht wie eh und je. Sie hatten erklärt, Santer müsse weg und klang mit der üblichen Forderung aus Dann aber beschwor er die Kollegen, jetzt sei durch ein „politisches Schwergewicht“ Skandinavien nach mehr Transparenz in nur ja nicht die Krise der Kommission um- zu ersetzen – für die Brüsseler Runde auch Europa verlangte der Finne, die Kommis- schlagen zu lassen in eine Katastrophe für nach dem Sturz offenbar noch so etwas sion solle sich für den Rest ihrer Amtszeit die gesamte Europäische Union. wie eine Majestätsbeleidigung. von der Öffentlichkeit abkapseln. So kön- „Keinen Augenblick länger als notwen- Die Italienerin forderte Rache: Die ne man es den Medien heimzahlen, die dig“ wolle man amtieren, schlug der ge- streng vertraulich tagenden Kollegen müß- täglichen Pressekonferenzen im Keller des demütigte Präsident vor, er werde die Mit- ten einen Boykott verabreden. Um den Kommissionsgebäudes „Breydel“ gehör- gliedstaaten „dringend“ ersuchen, eine Sondergipfel der europäischen Staats- und ten abgeschafft. neue Kommission zu bestellen, „ohne Ver- Regierungschefs diese Woche in Berlin sol- Szenen wie aus dem Tollhaus: Das Kom- zug“.Aber die demissionierte Kommission le man sich gar nicht mehr kümmern, son- missarskollektiv, machtversessen und werde ihre Vertragsobliegenheiten erfül- dern „lieber geschlossen in Urlaub gehen“. machtvergessen, gerade unter Schimpf und len und „laufende wie dringliche Geschäf- Die Agenda 2000, mit der in Berlin der Schande aus dem Amt gejagt, aber ohne te erledigen“ – die Agenda 2000 also nicht neue Finanzrahmen der Europäischen Uni- Einsicht und Schuldbewußtsein, führte sich den Bach hinuntergehen lassen. on für die Jahre 2000 bis 2006 verabschie- auf, als wolle es im nachhinein die schlim- Und weil Santer seine Kumpane kennt, det werden soll, sei „dann eben im Eimer“. me Anklage noch einmal bestätigen, keinen setzte er gleich noch durch, daß die Kom- Denn ohne Kommission ließe sich das Re- Funken Verantwortungsgefühl zu haben. mission keinerlei Personalentscheidungen

Schröders Europareise Fünf-Tage-Tour durch 14 Hauptstädte DPA FOTOS: M. LLOYD / SIPA PRESS (li.); DPA (re.) PRESS (li.); DPA / SIPA M. LLOYD FOTOS: Mit Göran Persson in Stockholm Mit Tony Blair in London Mit Viktor Klima in Wien

176 der spiegel 12/1999 B. BOSTELMANN / ARGUM Europaparlamentarier bei der Abstimmung: Kompletter Neuanfang, und zwar sofort mehr treffen darf. Die hochmögenden Eu- allerletzt erwarteten Totalrücktritt seiner Denn der Untergang der Kommission rokraten sollen nicht in Versuchung gera- Mannschaft bekanntgab, ist in der Ge- wirkte ja wie ein Fanal: Zerbrochen scheint ten, in letzter Minute Mitarbeiter aus ihren meinschaft nichts mehr wie vorher. Nach die Vision der Gründerväter und Einheits- persönlichen Kabinetten auf gutdotierte 41 Jahren scheinbar unaufhaltsamer In- kämpfer Schuman, De Gasperi und Ade- Brüsseler Beamtenposten zu befördern. tegration, nach Vorschriften über die ma- nauer, die vor dem Hintergrund des Zwei- War das nun wirklich die schlimmste ximale Lautstärke von Rasenmähern, den ten Weltkriegs den Zusammenschluß Eu- Krise aller Zeiten in der Geschichte der größten gerade noch erlaubten Gestank ropas für unausweichlich hielten. Sie ist Gemeinschaft, muß der zur Unzeit mit auf Bauernhöfen und die Ausmaße von erstickt an der Selbstsucht nationalistischer dem Ratsvorsitz geschlagene Schröder, ein Traktorsitzen, hatte erstmals eine Kom- Rentabilitätsrechnungen, beerdigt unter Neuling im europäischen Geschäft, die Er- mission – Herz und Motor der Union – ihr widerlicher Korruption, Nepotismus und lösung bringen? Ist Europa überhaupt noch schmähliches Ende gefunden. Verachtung für die elementarsten Regeln zu retten? Erschütterung und Getöse sind Die Brüsseler Exekutive, oft als Nukleus des öffentlichen Lebens. groß. Oder ist alles doch nicht so schlimm, einer gesamteuropäischen Regierung ge- Träume und Hoffnungen zerschellten an wie der Kanzler hofft, weil es jetzt auch priesen, wurde nicht mehr als Triebfeder den niederen Realitäten. Die Pharaonen „neue Chancen“ gebe? des Fortschritts wahrgenommen, sondern von Brüssel hatten Pyramiden aus Getrei- Fest steht: Seit dem großen Knall am wie ein Denkmal der Sinnlosigkeit – die de, Butter und Rindfleisch aufgetürmt, sie Dienstag voriger Woche, 00.42 Uhr, als ein Möchtegerngroßmacht Europa im Manne- ließen den Wein in Strömen fließen. Und bleicher Santer den von ihm offenbar zu- ken-Pis-Format. doch entstand kein Schlaraffenland für FOTOS: AP FOTOS: DPA Mit Massimo D’Alema in Rom Mit António Guterres in Lissabon Mit Chirac und Jospin in Paris

der spiegel 12/1999 177 Titel

Europas Bürger, die sahen eher einen büro- kratischen Moloch heranwachsen, unkon- trolliert, unheimlich, inkompetent. Die haarsträubende Arroganz der Kommissare Aufstieg des kleinen Pfaffen noch im Augenblick ihrer Schande geriet zum Symbol für die Verderbtheit im Her- Der ehemalige italienische Ministerpräsident zen Europas. Romano Prodi gilt als Favorit für den Spitzenjob in Brüssel. Folgerichtig verglich der linksliberale britische „Guardian“ die Demission der ony Blair mag ihn, Gerhard servativen Medienzaren Silvio Berlus- Kommissare mit nichts Geringerem als der Schröder findet ihn „eindrucks- coni antreten. Für den Gelehrten aus Französischen Revolution: Santer als Lud- Tvoll“. Helmut Kohl schätzte ihn, der Provinz Emilia Romagna war die wig XVI., Cresson als Marie Antoinette, und auch bei den deutschen Wirt- Offerte verführerisch – eine Chance, die das Parlament als die Generalstände und schaftsbossen kam der frühere Mini- in Dutzende von Grüppchen zersplit- die Medien als Guillotine. sterpräsident Italiens gut an. Selbst der terte Parteienlandschaft zu planieren Die Schadenfreude war allenthalben Europanörgler Edmund Stoiber mußte und durch ein Zwei-Lager-Modell nach unübersehbar – nur bei den Regierungs- ihm meist recht geben: Romano Prodi, amerikanischem Vorbild zu 59, der heiße Favorit für das Amt des ersetzen. Der Wirtschaft woll- EU-Kommissionspräsidenten, streicht te er einen „germanischen Beifall von allen Seiten ein. Kapitalismus“ verordnen. Dabei ist Prodi im Grunde der An- Prodis sogenannte Öl- tityp des modernen, telegenen Politi- baum-Allianz gewann gegen kers. Im Fernsehen nuschelt er fast un- Berlusconi. Doch im Okto- verständlich, aber auch bei klarer Ar- ber 1998 erlebte auch der tikulation wäre seine komplizierte Sieger eine Niederlage. Sein Sprache kaum zu verstehen. Er doziert Haushaltsgesetz fiel im Par- professoral und immer leicht pathe- lament mit nur einer Stim- tisch. Italiener verspotten ihn gele- me durch, Prodi trat zurück. gentlich als „preticiattolo“, den klei- Seit Anfang dieses Jahres nen Pfaffen. ist er wieder da. Bürgermei- „Ich bin eben kein Rattenfänger“, ster aus vielen italienischen kontert Prodi Kritiker. Schon gar nicht Städten,Wissenschaftler und wolle er sich als „Kommunikations- Regierungspräsidenten grün- Matador“ präsentieren: „Worte, große den eine politische Bewe- Reden, verbale Kunststücke interessie- gung, genannt „Democrati- ren mich nicht.“ ci“ („Die Demokraten“). Ihr Das ist nicht der schlechteste Vor- Vormann: natürlich Romano satz für den Spitzenjob in Brüssel. Das Prodi. Zeug, die Europäische Kommission zu Zur gleichen Zeit schiebt führen, könnte Prodi schon deshalb ha- ihn die Regierung D’Alema ben, weil er auch Englisch und Franzö- auf die internationale Bühne sisch gut beherrscht. Der demissionier- – als Kandidaten für das te EU-Chef Jacques Santer würde ihn Chefamt in Brüssel. Man will gern auf seinem Sessel sehen: „Einen ihn auf elegante Weise los- besseren Mann gibt es dafür nicht.“ werden, denn über Nacht Prodis Regierungszeit im römischen sind Prodis Democratici ge- Palazzo Chigi (1996 bis 1998) war eine fährliche Konkurrenten ge- der erfolgreichsten. Die Inflationsrate worden. ging von 5,6 auf 1,4 Prozent zurück, und Das EU-Amt reizt den

auch das Haushaltsdefizit schrumpfte Herrn Professor. Aber die REUTERS bemerkenswert. Italien nahm, womit Aussicht, sich für Brüssel zu EU-Kandidat Prodi: Erfahren und integer nur wenige gerechnet hatten, gleich bewerben, schreckt ihn auch. im ersten Anlauf die Hürden zur Eu- Er weiß, daß die vermeintlich sicher- chefs nicht, dem Aufsichtsrat der Kommis- ropäischen Währungsunion. sten Kandidaten für den Spitzenjob in sion, die nun mit den Folgen der Bruch- Ein Mann mit Prinzipien – und einer Brüssel diesen nur selten bekommen. landung fertig werden müssen. Topausbildung. Prodi studierte Jura, „Sehen Sie sich doch die Geschichte Vorwürfe wegen Amtsmißbrauchs, Vet- dann Ökonomie an der London School an“, meint er; vor allem das Beispiel ternwirtschaft und Korruption waren seit of Economics und an den US-Univer- des Niederländers Ruud Lubbers. Des- Monaten mit immer neuen Details durch sitäten Stanford und Harvard. Er wur- sen Kür schien 1994 absolut sicher. Ge- die Presse gegangen – eine unendliche de Professor in Bologna und gründete wählt wurde am Ende jedoch nicht der Skandal-Chronik (siehe Seite 186), aber an ein Wirtschaftsforschungsinstitut. Holländer, sondern der blasse Kom- der Hartleibigkeit der Kommissare schien 1995 begeisterte ihn der Ex-Kommu- promißkandidat Santer, weil die Deut- alles abzuprallen. nist Massimo D’Alema, Anführer der schen Lubbers eine kritische Rede zur Nun jedoch fällte das eingesetzte Gre- „Demokratischen Linken“, für ein hi- Wiedervereinigung verübelten. „Kohl mium unabhängiger Weisen in seinem storisches Projekt: Prodi sollte an der hat ihn wie einen Hahn aufgespießt“, Bericht ein vernichtendes Urteil über die Spitze eines Bündnisses von 13 Links- erregt sich Prodi. „Soll ich genauso Santer-Truppe: Ihr sei die politische Kon- und Zentrumsparteien gegen den kon- enden?“ Hans-Jürgen Schlamp trolle über das Treiben der Bürokratie und einiger Kommissare abhanden ge- kommen.

178 der spiegel 12/1999 Wer in der EU regiert ... EUROPÄISCHER RAT und MINISTERRÄTE unterbreitet „Der Gesetzgeber“ Anhörungen, Vorschläge begrenzte Auf ihren Gipfeltreffen bestimmen Mitentscheidung die 15 Staats- und Regierungschefs die Richtlinien der Politik. Weitere Ausarbeitung erfolgt durch den Mi- nisterrat, der in wechselnder Besetzung mit erläßt den jeweiligen Fachministern der 15 Mit- Rechts- gliedstaaten tagt. Stellung- vorschriften nahmen H. WAGNER EU-Kommissar Van Miert EU-KOMMISSION EU-PARLAMENT „Ich weiß, wie meine Beamten schuften“ Stellung- „Die Regierung“ nahmen „Die Volksvertretung“ Zu Recht empören sich die Bürger quer Die Kommissare setzen die Entschei- Alle fünf Jahre, das nächste Mal über den Kontinent; der Schaden für die dungen des Rates um und können im Juni 1999, wählen die Bürger in Europäische Einigung, für das Ansehen al- durch eigene Gesetzesvorschläge die den EU-Ländern 626 Abgeordnete. ler europäischen Institutionen, auch des Europapolitik lenken. Sie überwa- Verabschiedung und Kontrolle des EU-Haushalts Parlamentes und des Rates, ist nicht ab- chen die Einhaltung des EU-Rechts. Beschränkte Mitwirkung bei der Gesetzgebung sehbar. Für das gewagte, zukunftsorien- 20 Kommissare: Deutschland, Frankreich, Frage- und Anhörungsrecht tierte Experiment der Europäischen Uni- Großbritannien, Italien und Spanien entsen- Vetorecht bei der Ernennung der on traf plötzlich zu, was der nationalisti- den jeweils zwei Kommissare, die anderen Anfragen, EU-Kommissare EU-Staaten jeweils einen. Mißtrauens- sche deutsche Historiker Heinrich von votum Treitschke einst über das 1806 unterge- gangene Heilige Römische Reich Deut- scher Nation geschrieben hatte: „In kei- ... und kontrolliert nem Staat der modernen Welt ist so be- die Reform der Agrar- harrlich und feierlich von Amts wegen EUROPÄISCHER EUROPÄISCHER politik im wesentlichen gelogen worden.“ GERICHTSHOF RECHNUNGSHOF steht, die Landwirt- Rechtsradikale Europagegner wie der schaftsausgaben sollen Österreicher Jörg Haider triumphieren. 15 unabhängige Richter und Er prüft alle Ausgaben und bei reichlich 40 Milliar- Der FPÖ-Chef verlangt, die Kommission 9 Generalstaatsanwälte Einnahmen der EU. Er legt den Euro pro Jahr ge- ganz abzuschaffen. Edmund Stoibers CSU sichern die Wahrung des EU- nach jedem Haushaltsjahr ei- kappt werden. rechnet fest mit einem Zustrom von Pro- Rechts und ahnden nen Bericht vor und erstellt Ähnlich groß war die testwählern, die sie in Bayern bei der Eu- Verstöße seitens der Sonderberichte zu Zuversicht, auch bei ropawahl wieder über die 50-Prozent-Mar- Mitgliedstaaten. speziellen Fragen. den Struktur- und Ko- ke spülen soll. häsionsfonds zur An- Aber so paradox es aussieht, die Chancen gleichung der Lebens- des Kanzlers stehen keineswegs schlecht, Bei der Fünf-Tage-Tour des amtieren- verhältnisse in den EU-Staaten eine den Berliner Gipfel zum Erfolg zu führen, den EU-Ratspräsidenten durch die 14 einvernehmliche Lösung zu finden. Schrö- auch ohne Schönfärberei. Ausgerechnet Hauptstädte Europas bekam Schröder der darf hoffen, nach dem Gipfel wenig- der Europaskeptiker Schröder, der kürzlich überall zwischen Helsinki und Madrid zu stens eine leicht sinkende Kurve bei den noch die SPD-Parlamentarier in Straßburg hören, die Krise der Kommission habe auf deutschen Nettozahlungen vorweisen zu wissen ließ, sie hätten ihre Welt und er alle Beteiligten den Druck heilsam erhöht, können. habe die seine, könnte als Retter der EU sich über die Agenda 2000 zu einigen. Be- Dennoch bleiben enorme Risiken. Die groß herauskommen. reits vorigen Mittwoch schien klar, daß deutsche Präsidentschaft ist mitten hinein- geraten in eine Wachstumskrise der De- mokratie in Europa. Der Rücktritt der Wer wird Santers Nachfolger? Kommission, seit langem überfällig, ist EU-Kandidaten auch ein Indiz, daß es schließlich doch vor- angeht mit den demokratischen Gebräu- chen in der Brüsseler Zentralmacht, nur nicht glatt, sondern holterdiepolter. Jahrzehntelang hatten die Vorgängerin- nen der jetzigen Kommission, obwohl es immer wieder schon alarmierende Hin- weise auf Korruption und Mißwirtschaft gab, hochmütig jeden weitreichenden Kon- trollanspruch des Europäischen Parlaments abgewiesen. Es herrschte eine schiefe Machtbalance zwischen den EU-Institu- tionen: zwischen der Kommission als In- F. DARCHINGER F. U. BAUMGARTEN / VARIO-PRESS BAUMGARTEN U. J. DIETRICH / NETZHAUT DIETRICH J. haberin des Initiativrechts und Wächterin Wim Kok (Niederlande) Felipe González (Spanien) Javier Solana (Spanien) über die Einhaltung der europäischen Ver- träge, dem Ministerrat als Legislativorgan

der spiegel 12/1999 179 Titel

Deutsche Konkurrenten Grüne oder Schwarze – wer kommt in die Kommission? M. DARCHINGER FRIEDRICHSON / PRESSEBILD F. SCHULZ FRIEDRICHSON / PRESSEBILD F. A. SCHOELZEL IMO Antje Vollmer (Grüne) Renate Kuenast (Grüne) Matthias Wissmann (CDU) Horst Seehofer (CSU) der EU-Staaten und dem Parlament mit der Rat der EU der letzte Gesetzgeber der Das noch amtierende Parlament bestehe seinen spärlichen Befugnissen. Welt, der geheim tagt.“ im übrigen darauf, so der Spanier, im April Jetzt stellt sich das Gleichgewicht end- Doch vorerst sind die Personalfragen so und im Mai über den Santer-Nachfolger lich halbwegs her. Das Parlament, Vertre- heikel, daß der Kanzler von Dienstag an samt dessen neuer Mannschaft bereits nach tung des obersten Souveräns, der Wähler nur noch unter vier Augen mit den be- den neuen Regeln zu befinden.Von dem im Europas, erhält erheblich mehr Macht.Vor- suchten Regierungschefs reden wollte. Sei- Juni neu gewählten Parlament müsse sich aussichtlich zum 1. Mai tritt der Vertrag nen Troß, darunter den Außenamts-Staats- die Kommission dann selbstverständlich von Amsterdam in Kraft. Das 1997 von den minister Günter Verheugen, schickte er das Mandat bis 2005 neu erteilen lassen – Staats- und Regierungschefs unterzeichne- nach Hause, „zum Arbeiten“. Auch die 15 mit allen Prozeduren, den Hearings und te Artikel-Sammelsurium zur Ergänzung Ratsherren Europas stehen, das ist für sie Wahlen, die dazugehörten. Und mit der des europäischen Vertragswerks beseitigt eine ganz neue Erfahrung, von nun an un- Gefahr, daß eine neue Mehrheit des Parla- zwar längst nicht alle Demokratiedefizite, ter dem Druck des Parlaments. Vorbei die ments einzelne Kommissare oder sogar den rückt die Vertretung der europäischen Völ- Zeiten, als sie allein Spitzenpersonalien Präsidenten nicht mehr akzeptiert. ker jedoch ein ganzes Stück weiter in Rich- Schröder und Kollegen stek- tung eines richtigen Parlaments. EU-KOMMISSION ken in der Klemme. Sie haben Wie bei einer Kanzlerwahl muß sich keinen Kandidaten, der sich künftig der Kandidat der Regierungschefs dies alles antun möchte und für das Amt des Kommissionspräsidenten Initiativrecht im Gesetz- den Anforderungen gerecht dem Europäischen Parlament zur Bestäti- gebungsverfahren würde, wie sie der Kanzler am gung stellen. Auch die Kommission als Als „Hüterin der Verträge“ Dienstag in Brüssel öffentlich Generaldirektionen Ganzes ist – nach Anhörungen der einzel- 24 Überwachung der Einhaltung beschrieb: überzeugter Euro- nen Anwärter – von den Abgeordne- des Gemeinschaftsrechts päer, politisch erfahren, von Bedienstete ten abzulehnen oder gutzuheißen. Dar- 21 000 Durchführung bzw. Umsetzung hinreichendem ökonomischem über hinaus wird das Mitentscheidungs- der im Ministerrat beschlos- und administrativem Sachver- recht erheblich ausgeweitet – auf fast alle 20 Kommissare senen Rechtsakte stand, persönlich „absolut in- Gesetzgebungsbereiche, in denen im Mi- teger“. Verwaltung der Gemein- nisterrat keine Einstimmigkeit erforder- schaftsmittel Beim Zwischenstopp an- lich ist. EU-HAUSHALT 1999 derntags in Rom warb der Große Bereiche der Kommission und ih- In weitem Umfang Vertretung italienische Ministerpräsident rer Generaldirektionen blieben bisher ab- 86,35 Milliarden Euro der Gemeinschafts- Massimo D’Alema für seinen geschottet – künftig wird sich der zustän- (169 Milliarden Mark) interessen nach außen Vorgänger, den parteilosen Ro- dige Haushaltskontrollausschuß nicht mehr mano Prodi (siehe Seite 178). damit abfinden, daß Akten verspätet oder auskungelten, abends am Kamin oder in Großbritanniens Tony Blair und auch unvollständig ausgehändigt werden und rauchgeschwängerten Hinterzimmern. Frankreichs Lionel Jospin hätten dessen mundfaule Beamte die Auskunft verwei- Parlamentspräsident José María Gil- Kandidatur für den Präsidentenjob bereits gern. Die neue Kommission wird sich, Robles, ein spanischer Konservativer, möch- für gut befunden. Italien, Gründungsmit- wenn sie vom Parlament bestätigt werden te dem Kanzler und seinen Kollegen die glied der Gemeinschaft, so D’Alema, habe will, zu uneingeschränkter Transparenz mannigfache Geringschätzung des Parla- erst einmal, und das auch nur für kurze und Offenlegung ihres Verwaltungsgeba- ments heimzahlen: Die Regierungschefs hät- Zeit, den Kommissionspräsidenten gestellt: rens verpflichten müssen. ten, so die Vorgabe von Gil-Robles vorige mit Franco Maria Malfatti von 1970 bis 1972. Das könnte die Grundlage für eine rich- Woche, schleunigst einen neuen Kommis- Außerdem wäre gemäß den ungeschriebe- tige europäische Verfassung werden. Der sionspräsidenten zu präsentieren. Der müs- nen internen Spielregeln der 15 nach dem frische Wind von Glasnost wird auch den se das Mandat der alten Kommission bis kleinen Luxemburg im Norden ein größe- Rat durchlüften. „Neben dem Zentral- Ende 1999 übernehmen und anschließend rer Staat des Südens an der Reihe. komitee der chinesischen KP“, spottet der auch für die neue fünfjährige Amtszeit vom Prodi, ein Mann der Mitte, so gab Ex- CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok, „ist 6. Januar 2000 an zur Verfügung stehen. Kommunist D’Alema dem SPD-Kanzler zu

180 der spiegel 12/1999 bedenken, habe auch im zweiten Durch- posten mit einer Grünen zu besetzen, etwa verlangt den kompletten Neuanfang, und gang gute Chancen, wenn das neugewähl- der Bundestagsvizepräsidentin Antje Voll- zwar sofort. te Europaparlament mit womöglich kon- mer oder der Berliner Fraktionsvorsitzen- Die Abgeordneten verfügen über ein er- servativer Mehrheit erneut über die Kom- den Renate Kuenast? Führende SPD-Euro- hebliches Erpressungspotential. Das Reform- mission abstimme. paabgeordnete und Bonner Spitzendiplo- paket der Agenda 2000 braucht in wichtigen Dem Kanzler wäre ein Sozialist als Kom- maten in Brüssel haben schon dringliche Teilen die Zustimmung des Hohen Hauses missionspräsident zwar lieber, aber er Warnungen an die Regierung in der Heimat noch in der jetzt auslaufenden Legislatur- weiß, daß Prodi vermutlich bessere Chan- gerichtet: Würde der Job nicht, wie früher periode. Scheitert die Verabschiedung, weil cen haben wird als etwa der Niederländer üblich, an einen Vertreter der Opposition den Wünschen des Parlaments für die San- Wim Kok. Gegenüber D’Alema legte er vergeben, könnte die grüne Kandidatin oder ter-Nachfolge nicht entsprochen wird, steht sich nicht fest, er spielt lieber auf Zeit. gar die ganze neue Kommission im Parla- die Europäische Union beim Eintritt ins Schröder möchte den Spitzenjob mit in die ment am Widerstand der mächtigen christ- neue Jahrtausend ohne geordnete Finanzen Verhandlungsmasse von Berlin einbringen. demokratischen EVP-Fraktion scheitern. da. Der Euro, der die jetzige Krise mit leich- Es könnte ja darum gehen, etwa Spanien Bei den Unionschristen stünden drei Kan- ten Kurssprüngen überstand, könnte dann in für finanzielle Einbußen zu entschädigen – didaten zur Auswahl: Matthias Wissmann, große Turbulenzen geraten. sowohl Felipe González, der frühere spa- der frühere Verkehrsminister und jetzige Schröder sucht bereits Auswege. Auf ei- nische Regierungschef, als auch der amtie- Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im nem Sondertreffen kurz nach dem Berliner rende Nato-Generalsekretär Javier Sola- Bundestag, der ehemalige Gesundheitsmi- Gipfel, bei einem Abendessen in Bonn, sol- na, beide Sozialisten, haben in diskreten nister Horst Seehofer, ein gemäßigter CSU- len die Staats- und Regierungschefs sich Gesprächen ihr Interesse am Job des Kom- Mann, über den sich auch der wilde Stoiber auf den neuen Kommissionschef verstän- missionspräsidenten bekundet. Fraglich ist einbinden ließe, und der CDU-Abgeordne- digen. Mit den Anführern der sozialisti- nur, ob der konservative spanische Pre- te Brok, ein gewiefter Pragmatiker mit be- schen und der konservativen Großfraktio- mier Aznar sie unterstützen würde. sten Verbindungen in ganz Europa. nen des Parlaments wäre abzuklären, daß Auch wer die deutschen Vertreter in der Am liebsten möchte der Bundeskanzler dem Kandidaten die Zustimmung sowohl künftigen Kommission sein sollen, weiß deshalb in Berlin nur das weitere Verfahren vor wie nach der Europawahl sicher ist. Schröder noch nicht. Läßt sich die zwei- festlegen und die Bestellung der neuen Ein riskantes Unterfangen. fellos tüchtige Kommissarin Monika Wulf- Kommission auf die Zeit nach der Europa- Auch der neue Kommissionspräsident Mathies wieder präsentieren? Im Europa- wahl verschieben. Für die Restlaufzeit bis soll bereits seine neuen Rechte aus dem wahlkampf könnte die SPD-Frau zum Pro- Ende 1999 würde er gern eine Interims- Amsterdamer Vertrag nutzen können: Er blem werden, wird sie doch im Bericht des Kommission unter dem respektierten bel- braucht nicht mehr jeden Kandidaten zu Wahrheitskomitees unter den Inkriminier- gischen Sozialisten Karel Van Miert ein- akzeptieren, den ein Mitgliedsland für ei- ten genannt. Ein enger Kanzler-Vertrauter setzen. nen Kommissarsposten vorschlägt. Zukünf- glaubt: „Sie hat keine Chance mehr.“ Die Kalkulation des Kanzlers enthält al- tig wird es in seiner Macht liegen, welchen Und läßt sich die Zusage aus dem Bonner lerdings ein Wagnis: Sie könnte die EU in Zuständigkeitsbereich er einem Kommissar Koalitionsvertrag halten, den zweiten der die wirklich totale Paralyse stürzen. Das gibt oder – gegebenenfalls – entzieht. Die Bundesrepublik zustehenden Kommissars- Parlament will nämlich nicht mitziehen. Es Prozedur wird dauern. Santer und Co. AFP / DPA Bauernprotest in Frankreich: Verheddert im Gestrüpp der gemeinsamen Agrarpolitik

der spiegel 12/1999 181 Titel Furcht vorm weißen Ritter Trotz Euro-Land und Globalisierung: Die Franzosen versuchen noch immer, ihre Wirtschaft abzuschotten – vor allem vor deutschen Einflüssen.

er aktuelle Held der deutschen Wirtschaft, mußte für die Ab- französischen Wirt- sprache mit den Engländern büßen. Bei Dschaft heißt Michel Pe- der Emission französischer Staatspapiere béreau. „Papas Kapitalismus ist wurde die Deutsche Bank nicht mehr als tot“, sagt der Chef des Pariser führendes Emissionshaus berücksichtigt. Kreditinstituts Banque Natio- Eilig reiste Deutsche-Bank-Chef Rolf nale de Paris (BNP). Um ge- Breuer, der auch den Aufsichtsrat der genüber der ausländischen Deutschen Börse AG leitet, zu Strauss- Konkurrenz zu bestehen, will Kahn nach Paris. Doch seine Erklärung, er mit den beiden Banken Pa- daß die Frankfurter Börse wie ein pri- ribas und Société Générale das vatwirtschaftliches Unternehmen geführt größte Finanzinstitut der Welt wird, paßt nicht so recht in das Weltbild schaffen. des Finanzministers. „Wir müssen den ausländi- Lange Zeit hatten die Franzosen eine schen Geschöpfen in die Augen substantielle Zusammenarbeit ihrer Bör- sehen“, erklärt BNP-General- se mit der Konkurrenz in Frankfurt direktor Baudouin Prot, der blockiert, weil sie sich allein für stark ge- wie Pebéreau an der Eliteschule nug hielten. Nach der Kooperationsver- École nationale d’administra- einbarung London-Frankfurt kam plötz- tion (Ena) studiert und dann lich Bewegung in die Sache. Nun soll es dem Staat als Finanzinspektor eine paneuropäische Börse unter Ein- gedient hat. Die französischen schluß von Paris geben. Firmen würden es schätzen, Seit Jahren versucht die Deutsche eine große nationale Bank an Bank, in Frankreich ein Kreditinstitut zu ihrer Seite zu wissen. kaufen. Es ist ihr bisher nicht gelungen, zu Noch wehren sich die beiden groß ist der Widerstand der französischen betroffenen Banken, die ihrer- Elite. Frustriert gab Breuer vor einigen seits untereinander fusionieren Wochen bekannt, daß er nun eigene Fi- wollen, gegen den feindlichen lialen im Nachbarland aufbauen will. Nur Eroberer aus dem eigenen wenn sich die französischen Bankchefs Land. Doch die französische nicht einig werden, könnte die Deutsche Regierung hat den Deal bereits Bank als sogenannter weißer Ritter ein- gutgeheißen. steigen. Doch das werden die Politiker Finanzminister Dominique mit aller Macht verhindern wollen. Strauss-Kahn bearbeitet die „Bercy findet es gut, daß es eine mäch- Kontrahenten aus den drei tige französische Bank geben wird“, sagt Banken, sich doch um Himmels Banker Prot. Mit Bercy ist das Finanz-, In- willen zu einigen. Das „natio- dustrie- und Wirtschaftsministerium ge-

nale Interesse“ sei zu beach- PRESS ACTION meint. BNP-Generaldirektor Prot glaubt, ten, hieß es in einem in dieser BNP-Zentrale in Paris: „Nationales Interesse“ daß die Banker der drei Institute inner- Art einmaligen gemeinsamen halb weniger Stunden die wichtigsten Kommuniqué des Finanzministeriums Land konkurrenzfähig zu bleiben, ent- Entscheidungen treffen können: „Paris ist und der Zentralbank. In einem Leitartikel stehen unter dem sanften Druck der Re- ein Dorf, wir kennen uns alle seit Jah- erklärt der konservative „Figaro“ seinen gierung immer größere Gebilde. ren.“ So wie Prot und Pebéreau besuch- Lesern, wie notwendig es sei, daß sich Vor allem in der Finanzindustrie ten auch die wichtigsten Manager der bei- die Chefs der französischen Großunter- mißtrauen die Franzosen den Kräften des den anderen Banken dieselben Pariser nehmen zusammen mit den nationalen Marktes. Als vor wenigen Monaten die Eliteschulen. Alle drei haben lange Jahre Aktionären an einem Tisch versammeln. Frankfurter und Londoner Börse eine Al- als hochrangige politische Beamte dem Wann immer es geht, versuchen die lianz eingingen, reagierten die Franzosen französischen Staat gedient. Franzosen – trotz Globalisierung und ge- höchst verärgert. Der damalige Finanz- Obwohl der direkte Einfluß des Staates meinsamer europäischer Währung –, den minister Oskar Lafontaine mußte seinem durch die vielen Privatisierungen der ver- ausländischen Einfluß auf ihre Wirtschaft französischen Kollegen erklären, daß hin- gangenen Jahre zurückgeht, kommen im- zurückzudrängen. Vor allem die deut- ter dieser Verbindung keine industriepo- mer noch gut 40 Prozent der Chefs der schen Unternehmen sollen im zusam- litischen Absichten steckten. 200 größten Unternehmen aus dem öf- mengewachsenen Europa keine domi- Die Deutsche Bank, Symbol der in den fentlichen Sektor. Die Spitzenleute der nante Position erlangen. Um im Euro- Augen der Franzosen viel zu mächtigen Eliteschulen Ena oder École Polytech-

182 der spiegel 12/1999 könnten so wider Willen doch noch viele Wochen provisorisch amtieren. nique wechseln munter Das Aus war für den Luxemburger, zwischen Ministerien und trotz aller warnenden Vorzeichen, über- Privatwirtschaft. raschend gekommen. Am vorletzten „Das läuft wie in einem Sonntag war der Präsident noch guter Serail“, sagt ein Beobach- Dinge. Beim Treffen der Außenminister ter. Diese formierte Ge- im Schloß Reinhartshausen im Rheingau sellschaft erleichtert Ab- strahlte Santer Zuversicht aus. Wenn es sprachen, Ausländer fin- Vorwürfe der Weisen gegen einzelne den in den engen Zirkeln Kommissare gebe, werde er die Sünder

der Macht keinen Zutritt. PRESS R. MEIGNEUX / SIPA zum Rücktritt drängen, versprach er dem „Das führt zu Inzucht“, Euro-Einführung*: Hilfe vom Staat Bonner Staatsminister Verheugen. warnt eine Studie der ame- Was denn sei, wenn die Expertengruppe rikanischen Investmentbank Salomon Chrysler schreckte vor dem Deal zurück, der ganzen Kommission die Schelle anhän- Smith Barney. weil die Verschuldung bei den Japanern ge, hakte Verheugen nach. Er rechne nicht „D’abord la France“, halten die Indu- zu unübersichtlich ist. mit dem „worst case“, beruhigte Santer ihn. striepolitiker aller Parteien dagegen. „Das Globalisierung ist gut – solange sie es Santers Optimismus beruhte auf Ge- französische Volk kann nicht leben wie französischen Konzernen erlaubt, ihre Po- sprächen mit Kollegen, die von den Weisen ein Volk, dessen Schicksal es wäre, unter sition auf dem Weltmarkt auszubauen. einvernommen worden waren, und auf ei- den anderen aufzugehen“, sagt Premier- Der Noch-Strommonopolist Electricité de genem Erleben. Er hatte die Passagen über minister Lionel Jospin. France (EdF) darf jedes Jahr mindestens Vorwürfe gegen sich selbst gelesen und Die Rüstungskonzerne Aérospatiale, vier Milliarden Francs für Investitionen empfand den Text als Weißwaschung. Vol- Matra und Dassault kündigten unter ak- im Ausland ausgeben. In diesem Jahr wol- ler Zuversicht verließ der Luxemburger tiver Mitwirkung des Staates eine Fusion len die Franzosen bei der Stromversor- die Außenminister und strebte nach Brüs- an, nachdem die deutsche Dasa Ge- gung in Baden-Württemberg einsteigen. sel, um ein Präsidenten-Privileg zu nutzen. spräche mit der British Aerospace starte- Die EdF rechnet damit, daß die Preise Er als einziger durfte bereits am Sonntag te. Wenn die europäische Rüstungsindu- wegen deutlicher Überkapazitäten auf im Ratsgebäude den 126seitigen Text des strie konsolidieren muß, dann wollen die dem europäischen Strommarkt ins Rut- Berichts vor der offiziellen Veröffentli- Franzosen als größter Partner bestimmen, schen kommen werden. Die Franzosen chung am Tag darauf studieren. wo es langgeht. Um dem Privatunter- wollen zu denjenigen gehören, die am Die zweistündige Lektüre bestärkte ihn nehmen Dassault die Zustimmung zu Markt überleben. Der Staat leistet wert- in dem Glauben, seine angeschlagene Kom- dem Deal zu erleichtern, bestellte die volle Anschubhilfe, indem die Liberali- mission könne glimpflich davonkommen. französische Luftwaffe schnell noch 48 sierung in Frankreich möglichst lange hin- Als einzige belasteten die Prüfer wie er- Kampfflugzeuge. ausgezögert wird. wartet die französische Kommissarin Cres- Im Streben nach internationaler Größe Natürlich hat auch EdF-Finanzdirek- son schwer, warfen ihr Vetternwirtschaft, scheuen die Franzosen auch riskante tor Jacques Chauvin bei der Ena studiert laxe Aufsicht und Geldverschwendung vor. Käufe nicht. Renault, immer noch zu rund und dann lange Jahre als Beamter ge- Der Fall, glaubte Santer zuversichtlich, 43 Prozent in Staatsbesitz, will mit vielen dient. Jeden Monat muß er im Industrie- sei durch einen Rauswurf erster Klasse zu Milliarden Mark beim notleidenden Au- ministerium und im Schatzamt die Pro- regeln. tokonzern Nissan einsteigen. Daimler- jekte der EdF vorstellen. Am nächsten Tag um 17 Uhr drückte Und da findet der Mann, der im Inland André Middelhoek, Vorsitzender des Ex- * EU-Kommissionspräsident Jacques Santer, Zentral- sein Monopol halten und im Ausland vom pertenteams, dem Kommissionspräsiden- bankchef Wim Duisenberg und der französische Fi- nanzminister Dominique Strauss-Kahn am 31. De- Schleifen der Monopole profitieren will, ten dann offiziell seinen Prüfbericht in die zember 1998 in Brüssel. stets Verständnis. Christoph Pauly Hand. Und plötzlich sah alles ganz anders

1,20 20. Januar 18. Februar 1,1562 1,1198 EU-Kommissar Yves-Thibault de Silguy kündigt Nach der Teilnahme an der Sitzung des Rates der 1,18 die Herabstufung der Wachstumsvorhersage Europäischen Zentralbank spricht sich Lafontaine für 1999 an gegen zusätzliche staatliche Einsparungen aus 6. Februar 1,1260 1,16 11. März Lafontaine spricht sich 26. Februar 1,1032 1. Januar für eine Revision des Stabilitätspakts aus 1,1025 Lafontaine tritt 1,1827 zurück 1,14 Einführung des Euro Der Deutsche Industrie- und Handelstag revi- diert seine Wachstums- 16. März 1,0966 1,12 prognose für Deutsch- 29. Januar land auf 1,5% für 1999 Rücktritt der 1,1360 12. Februar EU-Kommission Bekanntgabe 1,1292 1,10 der Wachstums- Ende des Amtsent- zahlen in den hebungsverfahrens USA für 1998 gegen Bill Clinton 3. März 1,08 (3,9%) 19. März 1,0888 4. März 1,0915 Das Europäische System der Zentral- 1,0812 Wackeliger Start banken interveniert erstmals am Verabschiedung der Steuer- Quelle: Wert des Euro in Dollar Devisenmarkt zugunsten des Euro reform im Bundestag Datastream JANUAR FEBRUAR MÄRZ

der spiegel 12/1999 183 aus. Santer entdeckte, daß das Konvolut steres Bild für den Fall, daß nun auch noch nunmehr 135 Seiten hatte. Die hinzuge- der Berliner Gipfel scheitern würde. Kä- fügten, ihm am Vortag noch vorenthaltenen me es nicht zu soliden Beschlüssen über „Abschließenden Bemerkungen“, die Agrar- und Strukturreform sowie über die „Konklusion“ der Weisen, trafen ihn wie Finanzierung der Union, habe Europa end- ein Hammerschlag. „Die Unwissenheits- gültig den Beleg für seine Unfähigkeit zu beteuerungen“ der Kommissare, so laute- geschlossenem Handeln geliefert. Den te das Generalurteil, seien „gleichbedeu- Rücktritt der Kommission hätten die Ak- tend mit einem Eingeständnis, daß sie die teure auf den Finanzmärkten noch ohne Kontrolle über die Verwaltung verloren ha- Wimpernzucken hingenommen. Ein Gip- ben“. Das gelte für die gesamte Kommis- feldesaster aber werde gewiß nicht ohne sion: „Es wird schwierig, irgendeine Person Folgen für die junge Euro-Währung blei- zu finden, die sich auch nur im geringsten ben, warnte Schröder, die Beitrittskandi- verantwortlich fühlt.“ daten in Mittel- und Osteuropa wären ver- Einen ähnlichen Schock wie Santer er- unsichert, die Folgen für den alten Konti- litten auch die anderen Kommissare.Wulf- Mathies gestand: „Da bin ich ganz schön in die Knie gegangen.“ Van Miert empörte sich: „Ich kann das unter gar keinen Um- ständen akzeptieren.“ Es gebe General- direktionen, die krank seien, aber die mei- sten leisteten ausgezeichnete Arbeit: „Ich weiß, wie meine Beamten schuften und wie ich meine Verantwortung gegenüber Unternehmen und Regierungen wahrge- nommen habe.“ Inzwischen beugten sich im Parlaments-

gebäude auch die Abgeordneten über den REUTERS brisanten Text der Weisen.Am wichtigsten EU-Kommissarin Bonino für die Kommission war das Votum der So- „Unerträgliche Heuchelei“ zialisten, der stärksten Partei im Europäi- schen Parlament. In deren Fraktionssitzung plädierte die britische Vorsitzende Pauline Green zunächst noch für einen begrenzten chirurgischen Schnitt. Wenn die Skandal- Kommissarin Cresson und der Präsident gingen, dürften die übrigen bleiben. Doch die deutschen Sozialdemokraten verlang- ten den Rücktritt aller Kommissare. Green willigte ein und verkündete das Verdikt ge- gen zehn Uhr im Fernsehen. Der gemeinsame Untergang stimmte die der Einzelverurteilung entronnene Fran- zösin Cresson heiter. „Es war sehr ruhig“, schilderte sie hinterher die entscheidende Sitzung, man habe den Kommissaren kal- te Platten vorgesetzt, und „alle aßen in tiefstem Schweigen. Es fiel kein Wort. Das war schon beeindruckend“. Die große Mehrheit fügte sich in ihr Los. Nur die Dänin Ritt Bjerregaard, der Italie- ner Mario Monti und der Brite Neil Kin-

nock wollten auch da noch standhalten. A. SCHOELZEL Die Schuldzuweisung der Weisen sei un- EU-Kommissarin Wulf-Mathies gerecht, dem dürfe man sich nicht beugen, „Ganz schön in die Knie gegangen“ trotzte Bjerregaard. Wenn man sich unter- werfe, hätten vor allem die Kommissare nent ließen sich vielleicht nicht mehr den Schaden, die eine weitere Amtszeit beherrschen. anstrebten, denn das Parlament habe jetzt In den meisten Hauptstädten stimmte Blut geleckt. Der scharfzüngige Sir Leon man ihm zu. Ein enger Berater Jospins ana- Brittan maulte, das Unheil wäre zu ver- lysierte in Paris, das Fiasko der Kommis- hindern gewesen, wenn man rechtzeitig sion könne „als Beschleuniger wirken“. drakonische Maßnahmen ergriffen hätte. D’Alema bescheinigte dem daheim nicht Jeder wußte, was er meinte: Santer und gerade als Supermann dastehenden Schrö- Cresson hätten schon vor Wochen aufge- der „übermenschliche Anstrengungen“, ben sollen. die bereits zu erheblichen Fortschritten ge- In Luxemburg wie in Rom, in Den Haag führt hätten. und London malte der von Santer sofort Der wichtigste: Alle Regierungschefs bis telefonisch unterrichtete Schröder ein dü- auf einen haben akzeptiert, daß das von

184 der spiegel 12/1999 Titel den Landwirtschaftsministern in Brüssel nen Willen, und die Reform wird, entgegen men zu bemessen, sondern am Bruttoso- geschnürte Agrarpaket in Berlin nicht wie- allen festen Vorsätzen, nur mal so eine Mil- zialprodukt. Das kostet die Italiener 800 der aufgezupft werden dürfe. Wenn auch liarde Euro teurer. Millionen Euro, verringert aber, welch ein nur ein Teilnehmer seine Sonderwünsche Bei den Struktur- und Kohäsionsfonds, Glück, die Bonner Europarechnung um wieder auf den Tisch lege, so der Kanzler, die den armen Mitgliedstaaten aufhelfen runde 400 Millionen Euro. Schröder würden alle anderen nachziehen, und man sollen, sind die Einigungschancen während braucht diesen Erfolg, weil er die Minde- habe sofort wieder Forderungen in Höhe Schröders Städtetour deutlich besser ge- rung der deutschen Nettozahlungen in von 25 Milliarden Euro zu verkraften. worden. Weil Finanzminister Oskar Lafon- Höhe von jetzt elf Milliarden Euro zur Die gewichtige Ausnahme ist Jacques taine sich selbst aus dem Weg geräumt hat, Conditio sine qua non gemacht hat. Chirac, ausgerechnet. Tage bevor Schrö- durfte Außenminister Fischer den Euro-Län- Doch noch hat er die karge Ernte nicht der am Freitag in Paris erschien, hatte dern Spanien und Portugal endlich den teu- in der Scheune. Zweiter Profiteur der Bei- Frankreichs Staatschef bereits hinter ihm ren Erhalt des Kohäsionsfonds versprechen. tragsreform nämlich wären die Briten – die her telefoniert: Er werde auf jeden Fall Der sollte nach Lafontaines strenger In- aber haben schon einen von Margaret That- Korrekturen durchsetzen. Der Herr des terpretation eigentlich wegfallen, weil die cher 1984 erkämpften milliardenschweren Elysée, ehemaliger Landwirtschaftsmini- beiden Länder durch Erfüllung der Euro- Rabatt, den ihnen alle anderen neiden. ster und Repräsentant von In harten Verhandlungen „La France rurale“, drang in London machte Blair ganz tief ins Gestrüpp des dem deutschen Ratspräsi- Agrarregelwerks ein. Die denten klar, er habe innen- Bullenprämie dürfe nicht politisch kaum Bewegungs- höher sein als die Mutter- spielraum. Seine europa- kuhprämie, murrte der feindliche Boulevardpresse oberste Franzose, der Inter- heize ihm ein; wenn er Tei- ventionspreis für Rind- le des Rabatts opfere, sei je- fleisch dürfe nicht trickreich der Versuch, Stimmung für weiter abgesenkt werden, Londons Beitritt zur Wäh- verlangte Chirac – im vita- rungsunion zu machen, len Interesse Frankreichs zum Scheitern verurteilt. natürlich. Europa absurd. Doch auch die Briten Schröder blieb fest. Er wissen, daß sie sich bewe- will es in Berlin darauf an- gen müssen. So hat London kommen lassen und Paris intern die Bereitschaft an- nur in einem Punkt entge- gedeutet, die Lasten der an- genkommen, der für die stehenden EU-Osterweite- Franzosen allerdings ent- rung ganz ohne Abschlag zu scheidend ist. Sie haben ein schultern. nationales Gesetz zur För- Trotz dieser Zugeständ- derung ländlicher Regionen nisse kann Londons Außen- beschlossen, doch Bauern- minister Robin Cook mit minister Jean Glavany be- Recht behaupten: „Ich den- kam kein Geld dafür bewil- ke, daß wir aus Berlin mit ligt. Die Milliarden für We- einem ebenso guten Rabatt gebau oder Tourismuswer- nach Hause kommen.“ bung in der Auvergne oder Helmut Kohl, der sich in im Languedoc soll er sich in seiner europäischen Gesin- Brüssel holen. nung bekanntlich nie von ir- Die Franzosen wissen gend jemandem übertreffen auch schon, wie. Die direk- lassen wollte, pflegte bei sei- ten Hilfen für Bauern sol- nen häufigen Besuchen in 10 len allmählich gesenkt, das Downing Street gern im so gesparte Geld könnte Treppenhaus vor der Ah- dann wenigstens zu einem nengalerie der britischen

Teil für ländliche Struktur- BREWSTER P. Premierminister stehenzu- politik verwendet werden. TIME bleiben. Am liebsten be- Der zuständige österreichi- trachtete er das Porträt des sche EU-Kommissar Franz Fischler soll bis Kriterien bewiesen hätten, daß sie zur großen William Gladstone, zwischen 1868 zum Gipfel vier Modelle ausrechnen. Oberliga gehörten und keine Almosen und 1894 viermal Regierungschef. Im Bonner Kabinett fragte Außenmini- mehr bräuchten. Insgesamt soll die EU zur Zu der ruppigen Margaret Thatcher be- ster Joschka Fischer den Landwirtschafts- Förderung der Nachzügler in den nächsten merkte er dabei einmal: „Von dem habe ich kollegen Karl-Heinz Funke, was er denn sieben Jahren etwa 216 Milliarden Euro mir als Geschichtsstudent ein Zitat ge- davon halte. Gar nichts, erwiderte Funke, spendieren – deutlich weniger, als die Kom- merkt: ,Großbritannien kennt keine Fein- der seiner Klientel nicht noch weitere Ein- mission verlangt hatte, aber auch deutlich de, Großbritannien kennt keine Freunde, kommenseinbußen zumuten will: „Wir mehr, als die nordische Sparfraktion unter Großbritannien kennt nur Interessen!‘“ Deutschen kommen in jedem Fall ins kurze Bonns Führung bewilligen wollte. Kohl wußte nur zu genau, daß diese Ma- Gras.“ Einen Erfolg fürs Heimpublikum fuhr xime auf ein EU-Land ganz gewiß nicht Den Bonnern ist aber klar, daß Chirac in Schröder in Rom ein. D’Alema erklärte sich anwendbar ist – die Bundesrepublik. Sein diesem Punkt nicht zurückstecken wird. im Prinzip damit einverstanden, von 2002 Nachfolger Gerhard Schröder ist gerade Deswegen richtet man sich längst auf den an die Beiträge für die EU-Kasse nicht dabei, es zu lernen. bequemsten Ausweg ein. Paris kriegt sei- mehr nach dem Mehrwertsteueraufkom- Winfried Didzoleit, Dirk Koch

der spiegel 12/1999 185 Titel Hauptberuflich ahnungslos Der erste Bericht vom „Rat der fünf Weisen“ über die Zustände in der EU-Kommission löste die größte Krise aus, die europäische Gremien je erlebt haben. Fazit: Keiner wußte von nichts, aber an allen Ecken wurde abkassiert. Der zweite Teil wird bereits vorbereitet.

uropa ist ein Haus. Sehr groß und Seitenscheitel, wurde der Kommissar wie- Erklärungen. Die Flure wollen nicht en- unglaublich häßlich. Ein verwasche- der hinausgeschoben von seinen Adlaten, den. Tür folgt an Tür. An manchen kleben Ener Plattenbau an der Avenue durch die Katakomben gezogen zu den schlecht kopierte Beamten-Karikaturen d’Auderghem 45 in Brüssel. Hier arbeitet Aufzügen, die hinauffuhren in das giganti- mit Sprechblasen der Sorte: Unmögliches die EU-Kommission, wenn sie arbeitet. Mo- sche Verwaltungslabyrinth, das längst zum wird sofort erledigt,Wunder dauern etwas mentan hat sie mit Korruption, Vettern- tiefen Sumpf deklariert wurde. länger. Die meisten Zellen gähnen offen wirtschaft und Rücktrittserklärungen al- Man kann dort nicht untergehen, höch- ihre Leere hinaus. Die Mittagspause lerdings schon genug zu tun. stens ersticken. Paletten voller Packpapier scheint bis in den späten Abend zu dauern. Europa ist ein Verwaltungsklotz. Drau- liegen auf der dreckig-roten Auslegeware. Das also ist Europa: ein elfstöckiges muf- ßen vor den Glastüren steht ein Stangen- Rollwägelchen trotzen den schweren Sta- figes Elend, in dem sich die Verwaltung im wald lustlos herunterhängender Flaggen, peln aus Drucksachen, Formblättern und besten Fall selbst verwaltet. Nur im zwölf- in denen sich nicht einmal der Wind verfangen mag. Drinnen Die EU-Kommissare Ritt Erkki Liikanen wartet ein Trupp verschlagener Bjerregaard Verwaltung Security-Hiwis in schlammfar- Ihr Ruf und die Rückkehrprognose Umwelt und und Personal benen Uniformen darauf, daß Rückkehr ist... denkbar, ungewiß, unwahrscheinlich atomare Sicherheit Dem finnischen Sozialdemo- Touristen sich in ihre Metall- ? Die sozialdemokratische kraten, einem anerkannten schleusen verirren. Sie trinken Dänin hat anfängliche Haushaltsexperten, wurde Karel Van Miert Padraig Flynn Vorbehalte („fehlende das Engagement seiner Frau Kaffee und rauchen. Sie feixen. Sachkennntnis“) durch für die EU vorgeworfen. Der Sie langweilen sich. Wettbewerb Arbeit Der belgische Sozialist gilt und Soziales Fleiß und konsequente Untersuchungsbericht sprach Europa ist für Urlauber nicht als Star in der EU-Spitze. Un- EU-Umweltpolitik ihn von jeder Kritik frei: Wenn der ehemalige irische „nicht stichhaltig“. interessant. Sie machen sich beugsam kämpft er gegen Minister nicht zurückkäme, wettgemacht. kein Bild und keine Schnapp- unzulässige Fusionen und würden sich viele über schüsse von diesem mysteriö- Wirtschaftskartelle. Er kann einen Schwadroneur sen Begriff oder seinem Beton- in fast jede wichtige wirt- weniger freuen. schaftspolitische Entschei- bunker. dung der Mitglieds- Nicht einmal Ansichtskarten länder eingreifen. werden angeboten. Das Atomi- um ist imposant, die Altstadt adrett, das Manneken Pis put- Manuel zig und das Konfekt von Go- Marín diva sehr süß. Europa ist ge- Außenbeziehungen schmacklos. Wie schmecken und Entwicklungshilfe Der Spanier klärte den Ver- schon Butterberge? Und wo bleib verschwundener Millio- sind die überhaupt? nen aus den Mittelmeerpro- Europa ist für jeden woan- grammen seines Amtes nicht ders, also nirgends. So konnte es nachdrücklich genug auf sich hier einmauern rund um und ließ „schwerwiegende Interessensvermischungen“ den zentralen Pressesaal, wo zu. Als Vorgänger von Frau der EU-Kommissar Karel Van Bonino wird ihm auch Dul- Miert am vergangenen Mitt- dung dubioser Praktiken im woch erklären mußte, wie es EU-Amt für humanitäre nun weitergeht, obwohl es ei- Hilfe vorgeworfen. Franz Fischler gentlich nicht weitergehen Landwirtschaft kann. Die Blitzlichter gewitter- Der Österreicher, ten, die Journalisten brüllten Vater der Agenda 2000, wird zu den Besten in der Mann- laut durcheinander, und die Hans van Leon Brittan schaft gezählt. Der Konserva- Anita Gradin Dolmetscherinnen oben in den den Broek Außenhandel tive leidet aber darunter, daß Betrugs- Glaswaben schafften es kaum, Beziehungen Der stellvertretende Kom- ein großer Teil der verplem- bekämpfung den vielsprachig-sprachlosen zu Osteuropa und den missionspräsident gilt als perten und verschwundenen Die Schwedin, ehemals Redeschwall, der über sie her- Staaten der Ex-UdSSR strikt europäisch denkender acht Milliarden Mark, die der Außenministerin, gilt als Der Niederländer hat die „Mr. Free Trade“. Der Brite – Europäische Rechnungshof nicht besonders kompe- einbrach, zu kanalisieren. Osterweiterung der EU vor- zuweilen brillant, häufig aber allein für 1997 errechnete, tent, noch dazu oft so Als auch die letzte Reporte- angetrieben. Gleichwohl auch etwas realitätsfern – in der Landwirtschaft und bei schlecht vorbereitet, daß rin ihren O-Ton hatte, der letz- wird er als blaß und entscheidet mit, ob es den Exportsubventio- sie nicht einmal te Fotograf sein Bild von Van ineffektiv eingestuft. zum Bananenkrieg nen versickerte. die eigenen Vor- Mierts beruhigend betoniertem ? mit den USA kommt. lagen kenne.

186 der spiegel 12/1999 Middelhoek, sechs Wochen lang in einem verdeckten Zwischentrakt des Europäi- schen Parlaments verschanzt, Aktenberge geordert und zum Verhör geladen. Ihre Bilanz wurde zur Abrechnung. Die schmallippige Kommissarin Edith Cresson: der Vetternwirtschaft überführt. Der Rest der hochbezahlten Mannschaft: schuldig, weil hauptberuflich ahnungslos. Die EU-Kommission ist eine Art eu- ropäische Regierung. Ihr Präsident führt 19 Kommissare, die mit jährlich rund 170

REUTERS Milliarden Mark und knapp 21 000 Be- Übergabe des Untersuchungsberichts*: Die Bilanz wurde zur Abrechnung diensteten 200 Förderprogramme und Tau- sende von Projekten finanzieren. ten Stock, wo der Kommissionspräsident Am Montag vergangener Woche legte In Wahrheit ist es ein Selbstbedienungs- Jacques Santer ganz allein residiert, sind der vom Europäischen Parlament berufene laden, eine Gesellschaft ohne jede Haf- die Teppiche weicher, die Lampen teurer „Rat der fünf Weisen“ seinen „Ersten Be- tung, deren erster wirklicher Schritt in die und die Mienen ein bißchen ernster viel- richt über Anschuldigungen betreffend Be- richtige, weil falsche Richtung führte: zu- leicht, aber nicht erschüttert. trug, Mißmanagement und Nepotismus in rück. In der Nacht zum Dienstag trat die der Europäischen Kommission“ vor. Fünf Kommission geschlossen ab. * EU-Kommissionspräsident Jacques Santer, José María Juristen und Budgetfachleute hatten sich Seither zuckt das vollklimatisierte Herz Gil-Robles, Präsident des Europaparlaments, und Andre Middelhoek, Chef des „Rates der fünf Weisen“, unter Führung des ehemaligen Präsidenten Europas nur noch im Tickertakt der Nach- am 15. März in Brüssel. des Europäischen Rechnungshofs, Andre richtenagenturen. Die bleich gewordenen

Neil Kinnock Martin Jacques Santer Marcelino Oreja Monika Verkehr Bangemann Präsident der Kommunikation Wulf-Mathies Der frühere Industrie und Kommission und Medien Regionalpolitik radikale britische Labour- Telekommunikation Dem luxemburgischen Christde- Der ehemalige General- und Kohäsionsfonds Führer und brillante Redner Der deutsche FDP-Politiker mokraten, der 1995 nur als Kom- sekretär des Europarats ist Die deutsche Ex-ÖTV-Chefin kommt in Brüssel nicht so gilt als Faulpelz mit „medi- promißkandidat auf den Chefses- auch zuständig für die Be- hat ihren Ruf als kompeten- recht zur Geltung. Gilt vielen terraner Arbeitsweise“ – sel rückte, werden mangelnde ziehungen zum Europaparla- te Kommissarin durch die als zu opportunistisch. Dienst nach Gutdünken. Aufsicht über den ihm unterste- ment. Der Spanier agiert fragwürdige Anstellung ei- Bekannt für „privat- henden EU-Sicherheitsdienst und unauffällig und gilt nes befreundeten Juristen dienstliche“ Reisen eine generelle Führungs- manchen als eine angekratzt. Die Beschäfti- mit EU-Fahrzeugen. schwäche angelastet. Nummer zu klein. gung sei zwar „der Sache ? nach nicht unstatthaft“, er- Generalsekretär gab die Prüfung, aber David Williamson politisch „unange- messen“. ?

Emma Bonino Verbraucherschutz und humanitäre Hilfe Die Italienerin, in Brüssel mehr als gekonnte Selbst- darstellerin denn als kompe- tente Politikerin geschätzt, soll dubiose Praktiken bei der europäischen Katastro- phenhilfe und dem EU-Amt für humanitäre Hilfe (Echo) übersehen haben. ? DPA

Edith Cresson Christos Wissenschaft Mario João de Deus Yves- Papoutsis und Forschung Monti Pinheiro Thibault Tourismus und Energie Die französische Ex-Premiermini- Binnen- Beziehungen zu de Silguy Der ehemalige sozialistische sterin ist das schwarze Schaf der markt und Finanzen Afrika, den Karibik- und Wirtschaft Europa-Abgeordnete steht Kommission. Sie wird etwa für Der fleißige und kennt- Pazifikstaaten und Finanzen im Ruf, an Europa nicht son- „Unregelmäßigkeiten und betrüge- nisreiche Ökonomie- Der Portugiese beschäftigt sei- Der französische Absol- derlich interessiert zu sein. rische Praktiken“ beim Berufsbil- Professor aus Italien nen Schwager als gutdotierten vent einer Elite-Uni war Dem Griechen wird vorge- dungsprogramm Leonardo da wird als ruhiger und Berater – laut Prüfern formal verantwortlich für die ge- worfen, Fälle von verschleu- Vinci verantwortlich gemacht. effektiver Technokrat korrekt und im EU-Interesse, lungene Einführung des derten EU-Geldern für Touris- Außerdem werden der selbstge- geschätzt, seine Amts- sie rügten aber, daß nahe Ver- Euro. Sein Ressort musprojekte und rechten Sozialistin „Günst- führung blieb wandte „in keinem Fall“ verliert jetzt womög- „unzulässige Zahlun- lingswirtschaft“ und Miß- ohne Makel. im eigenen Kabinett be- lich an Bedeutung. gen“ mangelhaft management vorgeworfen. schäftigt werden sollten. ? ? aufgeklärt zu haben.

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Beschuldigten wenigstens hatten sich als- gen“ vorgenommen worden, die der Ver- nommen wurden vor allem Fahrer und bald wieder gefangen und jammerten wie gabebeirat nie gebilligt habe. Das Papier Gärtner. eine Klasse von Schulstrebern, man müsse blieb ohne Folgen. π Da es weder einen Stellenplan gab noch doch auch mal die Anständigen unter ihnen In der Wachtruppe konnte schon früher genaue Vergütungsvorschriften, lasse erwähnen. ein ausrangierter ultrarechter Gendarme- sich nicht klären, wie viele „Phantom- Die deutsche Kommissarin Monika Wulf- rieoberst Karriere machen. An dessen Ef- Bedienstete“ wann in der Kommission Mathies ließ keinen Zweifel daran, wieder fizienz begannen die Verantwortlichen erst wirklich herumstanden. antreten zu wollen. Mit ihm habe keiner ge- zu zweifeln, als er während des Golfkriegs Im September des vergangenen Jahres redet, schimpfte der Österreicher Franz nicht einmal in der Lage war, die Gebäu- durfte die IMS Group 4 Securitas ihren ei- Fischler. Hätten sie vielleicht mal machen desicherung zu verschärfen. genen Untersuchungsbericht vorlegen.Ver- sollen, die Weisen. Die Abteilung des jetzi- Selbst der damalige Kommissionspräsi- fasser: die Beratungsfirma Farleigh Pro- gen Agrarkommissars steuerte seit 1990 dent wunderte sich, als er 1992 bei der jects International Ltd., an der die Wach- eine beispielhafte Kampagne zur Vertu- Weltausstellung in Sevilla gleich zehn sei- firma beteiligt ist. Der Bericht kam natür- schung der Rinderseuche BSE. Und Ma- ner eigenen Sicherheitsbeamten traf, ob- lich zu dem Ergebnis, daß alle Vorwürfe dame Cresson räumte für ihr Wachsfigu- wohl die spanischen Behörden das Areal „unbegründet“ seien. renkabinett zwar „gewisse Fehler“ ein. „Ich bestens im Griff hatten. Die aus Brüssel Das System funktionierte wunderbar: war vielleicht unvorsichtig, aber was ich ge- abbeorderten Hilfspolizisten sicherten aber Das BdS war längst zum Tummelplatz ab- tan habe, habe ich im allgemeinen Interes- auch nichts, sondern hatten die Füße auf gehalfterter Polizisten und belgischer Ul- se getan.“ dem Tisch und soffen sich gen Feierabend. trarechter verkommen. Zum einen hielten

Brüsseler Spitzen Verharmlosen, vertuschen, verdrängen ACTION PRESS ACTION / LAIF E. HERCHAFT / REPORTERS Verbrennung BSE-verseuchter Rinder Kommissionsopfer van Buitenen Vernichtung von

Spesenreiterei und Vetternwirtschaft, la- sie angeblich sogar Generaldirektoren bei tenter Mißbrauch öffentlicher Gelder und Laune, indem sie deren Strafzettel für Postengeschacher gehören längst zur ge- Falschparken oder Trunkenheit am Steuer hobenen Korruptionskultur in Brüssel – annullieren ließen. Zum anderen hielten oben vom Präsidenten Santer ignoriert, sie Kommissionsmitglieder auf Distanz, in- unten sogar vom Sicherheitsdienst weidlich dem sie Dossiers über sie anlegten.

ausgenutzt. M. HEUBERGER Jahrelang soll ein Ultrarechter in der Das kommissionsinterne „Bureau de EU-Berater Perry Wachfirma eine Geheimtruppe aufgebaut Sécurité“ (BdS) ist direkt dem Präsidenten haben, die die verschiedensten Dienststel- unterstellt und soll für die innere und äuße- Danach verschwand mal Büromaterial, len der Kommission aushorchte. Die bel- re Sicherheit der Verwaltungsgebäude sor- mal Mobiliar. Das zuständige Mitglied im gische Neonazi-Miliz „Westland New gen.Weil derlei von den Beamten natürlich Kabinett des Präsidenten gab später zu Post“ weist den Mann als einen der wich- nicht allein geleistet werden kann, heuer- Protokoll, die Zustände im Sicherheits- tigsten Kontaktmänner aus. ten sie im Herbst 1992 das private Wach- dienst seien „katastrophal“, er habe ihnen Die Weisen enttarnten „eine Art ‚regel- unternehmen IMS Group 4 Securitas an. aber keine besondere Aufmerksamkeit ge- freie Zone‘, in der die bestehenden Geset- Der Ärger begann, denn schon bei der Aus- widmet. Erst im August 1997 geriet das BdS ze und Vorschriften als lästige Hindernisse schreibung wurde derart heftig gemau- in die Schlagzeilen. Wieder vergingen ein für manche willkürlichen Aktionen be- schelt, daß das BdS neun Monate später ei- paar Monate, dann zog die interne Schnüf- trachtet wurden“. Es sei „zu fragen, wie nen vernichtenden Prüfungsbericht von feltruppe Uclaf Bilanz: sich in einer öffentlichen europäischen Ver- der Generaldirektion bekam. π Vermeintliche Vertragsmanipulationen waltung eine solche Substruktur ent- Im Sicherheitsbüro gebe es keine funk- seien wahrscheinlich, ließen sich aber wickeln und ausbreiten konnte, ohne daß tionierende Haushaltskontrolle. Die Kon- nicht prüfen, weil die Wachfirma ihre sie von innen aufgedeckt wurde“. trollsysteme seien „unzulänglich“. Und am Unterlagen nicht herausrücken wolle. Ein „Staat im Staate“ sei entstanden, Vertrag mit der IMS Group 4 Securitas sei- π Etliche Wachmänner seien an andere Di- ein Kontrollapparat außer Kontrolle. Und en nachträglich „erhebliche Veränderun- rektionen ausgeliehen worden. Gern ge- der Verantwortliche für die Haus- und Per-

188 der spiegel 12/1999 sonenschützer, Kommissionspräsident San- direktoren. Doch auch die kamen bislang von Irland aus nach Brüssel zurückpump- ter, habe schlicht weggeschaut. ungeschoren davon. Disziplinarverfahren te und damit das heimliche Kommissions- „Wir haben nichts gewußt“, diesen Satz wurden kaum eingeleitet: Die Beamten personal bezahlte. bekamen die Weisen von vielen der Kom- konnten sich „hocherhobenen Hauptes mit Am verschwiegenen System verdienten missare zu hören, wann immer sie danach einer komfortablen Entschädigung“ ver- viele: Der Umweg über Irland sparte Steu- fragten, weshalb die obersten Chefs nicht abschieden, bemerkten die Kontrolleure. ern. Nebenbei fielen von den Mitteln, die härter durchgriffen. Vertrauliche Gesprä- Schnell geht es mit dem Rausschmiß nur, für Bosnien und Afrika bestimmt waren, che zwischen ihren höchsten Beamten und wenn ein Nestbeschmutzer wie Paul van auch Provisionen für Perry ab. Die Ehefrau den internen Prüfdiensten gab es genü- Buitenen erkannt ist. Der kleine Finanz- des Echo-Mannes erhielt bei ihm einen lu- gend. Erste Warnungen und kritische Be- fachmann hatte als einer der ersten inter- krativen Übersetzervertrag, selbst Freunde richte tauchten bei sämtlichen jetzt akri- ne Korruptionspapiere publik gemacht, die des Beamtensohns fanden Jobs. Allzweck- bisch beschriebenen Skandalen schon vor allem das Cresson-Kabinett in Verruf waffe Perry half mit Barem für klamme Jahre früher auf. Doch so notorisch die Si- brachten. Nun sitzt er in seinem hypothe- Amtmänner aus oder zeigte sich mit Ein- gnale waren, so hartnäckig kenbelasteten Brüsse- trittskarten für die Formel 1 und Reise- hörte die Brüsseler Hier- ler Vorort-Häuschen, tickets gefällig. archie weg. wartet auf immer neue Auch Edith Cresson, die oberste Affären- Die Weisen sprechen Journalisten und bangt Kommissarin und einstige Schülerin von von „Vertuschungsstrate- um seine berufliche François Mitterrand, verschaffte einem gu- gien“, „Abschottung“ und Zukunft. ten alten Freund, dem Zahnarzt René Ber- W. v. CAPPELLEN / REPORTERS / LAIF / REPORTERS CAPPELLEN v. W. Proteste in Brüssel GEERAERTS / GAMMA STUDIO X GEERAERTS ACTION PRESS ACTION EU-Überproduktion Kommissar Bangemann

„feudalen Strukturen“. Sie belegen die Beispielhaft für die Konspiration und die Kommissare mit dem vernichtenden Ver- Korruption im Brüsseler Filz ist das hu- dikt: völliger Verlust der Kontrolle über die manitäre Hilfsprogramm Echo. Mit Echo Verwaltung. machte sich die EU zu einem der größten Noch 1976 zählte die „Frankfurter Rund- Samariter der Welt. Seit 1992 gibt sie jähr- schau“ fast ein bißchen enttäuscht nur lich rund 600 Millionen Euro für Nah-

„eineinhalb Skandälchen“ im wuchernden rungsmitteltransporte und Aufbauhilfen in PRESS SIPA Wald der Eurokratie: Der gewaltsame Tod Katastrophengebieten aus. Doch weil zur Mitterrand, Cresson (1991) einer Beamtin hatte mit ihrem Privatleben Programmabwicklung in Brüssel die Leu- zu tun statt mit ihren „dienstlichen Oblie- te fehlten, griff der verantwortliche Refe- thelot, 1995 den ersten Anstellungsvertrag genheiten“. Ein andermal verhaftete die ratsleiter zu einem alten Trick: Er schich- in Brüssel bei Perry. Mit Madame ging man belgische Gendarmerie einen Beamten we- tete Gelder für die Hilfsmittel um und fi- zum Essen, bei Lammkoteletts und Böhn- gen angeblichen Geheimnisverrats und nanzierte damit Personal – „U-Boote“ in chen wurde man sich einig. mußte ihn kurz darauf voll rehabilitieren. einer externen Zelle. Später schleuste sie den Zahnarzt mit Entweder sei der Brüsseler Apparat „un- Behilflich war der Luxemburger Bera- Zeitverträgen in die Kommission ein. Unter tadelig oder absolut wasserdicht“. tungsunternehmer Claude Perry, der seit anderem arbeitete er für Cresson eine Spätestens seit Beginn der neunziger Jahren mit 16 Generaldirektionen zusam- belanglose Regionalstudie in Poitou- Jahre wuchsen zwar die Verwaltungsbe- menarbeitete. Die EU-Kommission führte Charentes aus. 13 Dienstreisen auf Kosten fugnisse der Kommission. Doch im glei- seine Kurzwahlnummer sogar im internen der Steuerzahler unternahm Berthelot ins chen Maße verkümmerte ihr administrati- Telefonbuch. dort gelegene Städtchen Châtellerault, wo ves und finanzielles Fingerspitzengefühl. Mit Perry schloß der Echo-Mann seit Cresson Bürgermeisterin war. Die meisten Kommissare sehen sich oh- 1993 vier fiktive Verträge. Offiziell gingen Ähnlich familiär führte die frühere fran- nehin nur für die politischen Beschlüsse die Hilfsgelder an Gesellschaften mit Sitz zösische Premierministerin ihr Bildungs- verantwortlich, die Zuständigkeit für deren in Dublin. Tatsächlich waren es Briefka- programm Leonardo aus dem Jahr 1995, Durchführung liege bei ihren General- stenfirmen von Perry, der die Millionen das ihre Vertrauten und Bekannten mit

der spiegel 12/1999 189 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Aufträgen versorgte. Einen 300 Seiten die nicht in ihrem Heimatland arbeiten, dicken Bericht der internen Finanzkon- erhalten eine Auslandsvergütung von 16 trolle vom Juni 1998 über die byzantini- Prozent. Sekretärinnen können sich über schen Verhältnisse bei Leonardo hielt die eine „Sekretariatszulage“ freuen. Nur Kommission vor dem Europaparlament ge- noch eine Frage der Zeit, bis die Beamten heim. Die Abgeordneten mußten damals auch eine Beamtenzulage oder einen Anti- über eine Verlängerung des Projekts ent- Korruptions-Bonus fordern. scheiden. Angesichts derart angenehmer Arbeits- Für den „Rat der fünf Weisen“ ist ihr bedingungen wundert es nicht, daß sich im Bericht erst der Anfang. „Die Magazine vergangenen Herbst rund 30000 Kandida- sind noch nicht leer“, orakelt ein Mitarbei- ten um einen der 475 neuen Kommissions- ter von Noch-Präsident Santer. Es mehren posten bewarben. Der „Concours“, das sich Hinweise, daß über die kaum kontrol- zentrale Auswahlverfahren für den höhe- lierbaren Beraternetze auch verdeckte Par- ren Dienst der EU-Regierung, findet nur teienfinanzierung in ganz Europa betrie- alle drei, vier Jahre statt. Entsprechend ben wurde. groß war der Andrang. Während der kurzen Amtszeit des Aus- Allein in einer Messehalle des Brüsseler schusses wurden ihm „mehrere andere Fäl- Heysel-Stadions tummelten sich 5500 le, darunter einige ganz neue, zur Kenntnis Aspiranten. Voraussetzung waren gute gebracht, die eine weitere Prüfung verdie- Sprachkenntnisse und ein Universitäts- nen“, erklären die Weisen. abschluß. Es winkten Einstiegsgehälter Der zweite Teil der Chaos-Chronik soll von 7000 Mark, lebenslange Jobgarantie im Juli folgen. Potentielle Hauptdarsteller und eine solide Grundausbildung in Sa- der Brüsseler Spitzen-Tragödie könnten chen Postenschacher und Vetternwirt- schon bereitstehen. schaft, die manche schon vorher mit- Der spanische Kommissar Manuel brachten. Marín war für ein Millionen-Projekt im Etliche Anwärter hatten sich von Lands- Gazastreifen zuständig, wo Häuser für leuten innerhalb der Behörde den Frage- Palästinenser „mit bescheidenem oder bogen „zur Übung“ besorgt. „Zumindest niedrigem Einkommen“ gebaut werden italienische Testbögen sind durch ein Leck sollten. Die neuen Mieter könnten sich nach außen gedrungen“, jammerte der zu- über Kabelfernsehen, Sprechanlagen und ständige Kommissar Erkki Liikanen, dessen Granitstein aus Italien freuen. Könnten, Direktorat ohnehin schlampigst gearbeitet denn die Mieten sind un- hatte. An mehreren Or- erschwinglich. Zu den er- ten häuften sich die Kla- sten Bewohnern der ele- gen über fehlende Über- ganten Apartmentanlage wachung. zählten prompt ein Ge- In Mailand wurden neral und ein Minister. mehr als tausend Bewer- Der deutsche Kommis- ber zu einer falschen sar Martin Bangemann Adresse eingeladen. In nutzte Dienstreisen nach Rom fehlten 150 Test- Polen gern dazu, in Dan- bögen und mußten nach- zig den Bau der von kopiert werden. In Brüssel ihm mitfinanzierten Pri- ließen sich die Probanden vatjacht „Mephisto“ zu vom Klo aus über Handy überwachen. Die Heim- die richtigen Antworten reise mußte er allerdings einflüstern. Prompt wur- zweimal per Flugzeug de das 2,4 Millionen Mark antreten, weil ihm mal teure Auswahlverfahren ein schwerer Mercedes, annulliert und die obliga- mal ein BMW geklaut torische Untersuchung ge- worden war. startet.

Schon 1993 steuerte die REUTERS So was kann dauern, EU-Kasse für einen ein- EU-Kommission in Brüssel bis die Kommission vor- stündigen Bangemann- aussichtlich im Jahr 2002 Vortrag vor ostdeutschen Unternehmern wieder ihren eigentlichen Sitz bezieht: Die 75000 Mark bei. Das Honorar bekam er einschüchternde Betonschachtel Berlay- zwar nicht selbst. Doch für die Vermittlung mont wird seit fast zehn Jahren von des Gastes kassierte Bangemanns Duz- und Asbest-Altlasten gesäubert. Segelfreund, der Frankfurter PR-Profi Mo- Momentan schützt eine weiße Pla- ritz Hunzinger, 40000 Mark. stikplanen-Haut die Nachbarn im Schat- In Brüssel ist noch niemand verhungert. ten des 13stöckigen Klotzes vor dem Gift Ein Generaldirektor (Besoldungsgruppe der Vergangenheit. Gebäude verraten viel A1) verdient 32671 Mark brutto pro Monat. über ihre Bewohner. Im Berlaymont könn- Selbst ein Amtsbote schafft es noch auf te Europa endgültig seine Seele verlie- 8000 Mark. Dazu kommen Zulagen wie ren, so groß ist der Komplex. Und so Schulgeld von maximal 359 Mark für jedes unglaublich häßlich. Kind bis zum 26. Lebensjahr. EU-Beamte, Sylvia Schreiber, Thomas Tuma

192 der spiegel 12/1999 Titel

SPIEGEL-GESPRÄCH „Manchmal schnauzt man sich an“ Der französische Europa-Minister Pierre Moscovici über die Krise der EU, den Berliner Gipfel, die Agenda 2000 und die deutsch-französischen Beziehungen

zu führen, und wir werden ihr dabei helfen. Moscovici: Beim Start der neuen Bonner Europa muß seine Finanzen in Ordnung Regierung entstanden auf beiden Seiten bringen, wenn es politisch vorankommen einige Mißverständnisse, aber die sind aus- will. Ein Mißerfolg würde die Stimmung geräumt. Die Deutschen haben unsere der Bürger drastisch verschlechtern, und Hauptsorge verstanden – die Ausgaben der das drei Monate vor den Europa-Wah- EU für den gemeinsamen Agrarmarkt und len. Ein Gelingen liegt auch im Interesse für die Strukturpolitik unter Kontrolle zu der deutsch-französischen Beziehungen. bringen und die nationalen Budgets nicht Schröder bietet sich die große Chance, sich noch weiter zu belasten. Eine stabile Aus- als Ratspräsident unter schwierigsten Be- gabenpolitik liegt ja mehr in der deutschen dingungen zu bewähren. als in der französischen Tradition. SPIEGEL: Mit Lafontaine haben die franzö- SPIEGEL: Hat Frankreich den Agrarkom-

J.-M. ARMANI / RAPHO / AGENTUR FOCUS ARMANI / RAPHO AGENTUR J.-M. sischen Sozialisten ihren besten Verbün- promiß denn schon akzeptiert? Europa-Minister Moscovici deten in Bonn verloren. Wird die Verstän- Moscovici: Für uns existiert noch kein „Für uns existiert kein Agrarkompromiß“ digung nun noch schwieriger? Agrarkompromiß. Unser Landwirtschafts- Moscovici: Sicher, mit Lafontaine haben minister hat eine Reihe von Vorbehalten SPIEGEL: Herr Minister, der Rücktritt der uns lange und besonders freundschaftliche angemeldet, die der Europäische Rat be- EU-Kommission hat Europa dramatisch Beziehungen verknüpft, er stand uns nahe, rücksichtigen muß, bevor er eine Ent- verändert. Ist die EU in der entscheidenden politisch, kulturell, sprachlich. Aber das scheidung fällt. Eine endgültige Regelung Phase der Beratungen über die Agenda deutsch-französische Verhältnis steht über kann es nur im Gesamtrahmen der Agen- 2000 noch handlungsfähig? persönlichen Bindungen. da 2000 geben. Wir bestehen darauf, daß Moscovici: Der Rücktritt war ein Schock, SPIEGEL: Hat der Streit ums Geld das die Agrarausgaben auf maximal 40,5 Mil- aber auch ein Zeichen, daß die Demokratie deutsch-französische Paar entfremdet? liarden Euro pro Jahr begrenzt bleiben. in der EU funktioniert. Wir sind entschei- Moscovici: Das glaube ich nicht.Wir haben SPIEGEL: War es böser Wille der Bundesre- dungsfähig, die Kommission bleibt vorläufig diese Ehe zu lange als Idyll geschildert, in gierung, daß sie die Kofinanzierung auf im Amt und wird der deutschen Präsident- dem alles klappen muß. Aber wie bei dem Agrarsektor forderte, obwohl sie wuß- schaft beim Gipfeltreffen zur Seite stehen. jedem Paar gibt es auch hier Turbulenzen. te, daß eine teilweise Kostenübertragung SPIEGEL: Aber sie ist entmannt. Manchmal schnauzt man sich eben an. auf die nationalen Budgets für Frankreich Moscovici: Die Agenda 2000 liegt nicht SPIEGEL: Aber diesmal wird ums Haus- unannehmbar sein würde? mehr so sehr in den Händen der Kommis- haltsgeld gezankt, und Bonn will den lie- Moscovici: Es ging wohl eher um die Me- sion als in denen des Europäischen Rats. ben Frieden nicht länger erkaufen. thode.Wir hatten anfangs gesagt, alles sol- Ich sehe keinen Grund, warum wir sie nicht unter Dach und Fach bringen sollten. Wir werden in Berlin die Einsetzung einer neuen Kommission vorbereiten. SPIEGEL: Wann wird die amtieren? Moscovici: Auf jeden Fall soll der neue Kommissionspräsident spätestens bei der Sitzung des Europäischen Rats am 3. und 4. Juni in Köln benannt werden. SPIEGEL: Ist es für Frankreich nicht beson- ders peinlich, daß Edith Cresson, eine frühere Regierungschefin, letztlich den Untergang der Kommission bewirkt hat? Moscovici: Trotz diverser persönlicher Ver- fehlungen stand die kollektive Verantwor- tung der Kommission auf dem Spiel. SPIEGEL: Die Kommission desavouiert, der deutsche Finanzminister zurückgetreten, die deutsch-französischen Beziehungen an- gespannt – ist das alles nicht zuviel auf einmal für den amtierenden Ratsvorsit- zenden Gerhard Schröder? Moscovici: Ich halte die deutsche Regie- rung für stark genug, den Gipfel zum Erfolg REUTERS * Am 18. März in Bonn. Außenminister Védrine, Cook, Fischer*: „Neue Generation an der Macht“

der spiegel 12/1999 193 Titel le auf den Tisch, und die Deutschen rung wird bald nach Berlin umziehen, das haben das ein bißchen zu wört- hat ähnliche psychologische Auswirkun- lich genommen. Die Kofinanzierung gen auf die Franzosen wie die Wiederver- blieb für sie eine Hypothese unter einigung. Bei Ihnen ist eine neue Genera- anderen, für uns ist sie weniger eine tion an der Macht, die sich nicht mehr Frage des Geldes als des Prinzips: scheut, nationale Interessen offen zu ver- Eine Renationalisierung der Agrar- treten. Kohl war der letzte Kanzler, für den politik darf nicht in Frage kommen. unser Verhältnis auf der Pflicht zur Aus- Daß Bonn den Vorschlag zurückge- söhnung beruhte. zogen hat, war für uns eine bedeut- SPIEGEL: Also Schluß mit der Sentimenta- same Geste. lität und den Symbolen? SPIEGEL: Welche Gegenleistung gibt Moscovici: Ja, weniger Sentimentalität, ob- es für den deutschen Rückzug? wohl ich positive Gefühle durchaus wün- Moscovici: Das war kein Rückzug, schenswert finde, nicht so sehr zwischen sondern Einsicht. Ich habe als erster den Regierungen, sondern zwischen den französischer Minister offen gesagt, Völkern. Aber für symbolische Gesten daß der deutsche Beitrag in den EU- bleibt Schröder noch viel Zeit. Topf anormal groß sei, wofür ich in SPIEGEL: Bisher galt die deutsch-französi- Frankreich Prügel bezogen habe. sche Zusammenarbeit innerhalb der EU SPIEGEL: Müssen sich nach dem Rück- als unverzichtbar.Wird sie in einem größe- tritt Lafontaines die linken französi- ren Europa nur noch eine von mehreren schen Minister von dem Plan verab- Möglichkeiten sein? schieden, ein politisches Gegenge- Moscovici: Eine Zweier-Diplomatie gibt es wicht zur Europäischen Zentralbank nicht mehr. Aber ohne den deutsch-fran- zu schaffen – die sogenannte EU- zösischen Motor läuft auch künftig nichts Wirtschaftsregierung? in Europa. Im Wahlkampf hat Schröder die

Moscovici: Wir leben in der Welt, wie / GAMMA STUDIO X FRANCOLON Idee geäußert, den deutsch-französischen sie ist, nicht wie wir sie gern hätten. Mitterrand, Kohl in Verdun (1984): „Kein Mythos“ Freundschaftsvertrag von 1963 zu erneu- Die Zentralbank muß unabhängig ern. Ob das wünschenswert ist, weiß ich sein und darf nicht unter Pressionen gera- habe Schröder gut kennengelernt, er wird nicht, aber richtig ist, daß unser Verhältnis ten, auch nicht durch eine europäische seinen Kurs schon finden. von Grund auf durchdacht werden muß. Wirtschaftsregierung. Alle Modelle einer SPIEGEL: Der britische Premier Tony Blair SPIEGEL: Wie kann man den Motor wieder staatlich verwalteten oder gelenkten Wirt- und Schröder sprechen gern von einem in Gang bringen? schaft sind Vergangenheit. dritten Weg zwischen Neoliberalismus und Moscovici: Mit gemeinsamen Initiativen zur SPIEGEL: Elf der 15 EU-Staaten, die von Lin- klassischem Sozialismus. Sie auch? europäischen Sicherheitspolitik, einer Re- ken regiert werden, wollen Europa sozia- Moscovici: Unser dritter Weg liegt zwischen form der Institutionen, mit abgestimmter listischer machen. Bremst der Rückschlag klassischem Liberalismus und Kommunis- Sozialpolitik, dem Kampf gegen Arbeits- für den linken Flügel der deutschen So- mus. Was SPD und Labour wollen, verste- losigkeit und der EU-Erweiterung. zialdemokraten diesen Ehrgeiz? hen wir nicht immer so recht. Wenn damit SPIEGEL: Denken Sie nicht manchmal no- Moscovici: Nun, wir haben nie von einem gemeint sein sollte, die Sozialdemokratie stalgisch an die Jahre mit dem Christdemo- sozialistischen Europa gesprochen. nach rechts zu rücken, dann sind wir nicht kraten Helmut Kohl zurück, als die Bezie- SPIEGEL: Es gibt doch wohl eine Art Korps- dabei. In einer Arbeitsgruppe versuchen hungen über alle Zweifel erhaben waren geist unter Genossen. Kanzleramtsminister Bodo Hombach, der und Europa beflügelten? Moscovici: Nicht wirklich, dafür bestehen Blair-Beauftragte Peter Mandelson und ich, Moscovici: Man sollte aus der Epoche Kohl zu viele Unterschiede in Tradition, Menta- nationale und geistige Unterschiede wie keinen Mythos machen. Auch damals hat lität und Ideologie. Spanien und Irland wer- Gemeinsamkeiten auszuloten. es deutsch-französische Probleme gegeben. den sowieso von Konservativen regiert, SPIEGEL: Das Klima zwischen Deutschland Kohls Anfang als Kanzler war nicht gera- und die müssen auch gehört werden. und Frankreich hat sich verändert. Seit sich de brillant, die deutsche und die französi- SPIEGEL: Mit einer Koalition aus Soziali- Schröder weigerte, am 11. November 1998 sche Presse mokierten sich über den ver- sten, Grünen und Kommunisten steht die in Frankreich an den Feiern zum Ende des meintlichen Tolpatsch aus der Provinz. Ge- Regierung Lionel Jospins theoretisch viel Ersten Weltkriegs teilzunehmen, scheinen rade der SPIEGEL wird das wohl kaum weiter links als diejenige Schröders. War- die Beziehungen frostiger zu sein. bestreiten können. um wirkt Ihr Bündnis dennoch geschlosse- Moscovici: Die Veränderung reicht weiter SPIEGEL: Freuen Sie sich demnach über den ner als das in Bonn? zurück, Schröders Absage hat niemanden Neubeginn in Bonn? Moscovici: Unser System funktioniert an- wirklich aufgeregt. Wir leben in einer glo- Moscovici: Als Minister habe ich noch 17 ders. Gegensätze werden von Anfang an balisierten Welt, in der die Beziehungen Monate mit der vorigen Bundesregierung offengelegt, dann wird im Kabinett disku- zwischen den Nationen fragiler und kon- zu tun gehabt. Kohls Koalition hatte ja tiert, entschieden und alles geschlossen kurrierender werden. Die deutsche Regie- nicht einmal mehr Lust zu regieren, ihr nach außen vertreten. Frankreich ist noch gingen die Ideen aus, der Wechsel immer ein Zentralstaat, in dem der Regie- war überfällig. Jetzt arbeite ich mit rungschef viel mehr Autorität über seine Frauen und Männern um Gerhard Minister ausübt als ein deutscher Kanzler. Schröder zusammen, deren politi- SPIEGEL: Jospin hat seinen Weg gefunden, sche Grundeinstellung wir teilen und Schröder sucht noch? die die Energie haben, Deutschland Moscovici: Die deutsche Linke war seit 16 zu verändern, so wie wir Frankreich Jahren nicht mehr an der Macht. Da ist es verändern. Vielleicht sind wir dabei normal, daß sie anfangs herumtastet. Ich einfach ein Stück voraus.

J.-M. ARMANI / RAPHO / AGENTUR FOCUS ARMANI / RAPHO AGENTUR J.-M. SPIEGEL: Herr Minister, wir danken * Mit Redakteuren Romain Leick und Lutz Krusche. Moscovici (M.) beim SPIEGEL-Gespräch* Ihnen für dieses Gespräch.

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Werbeseite REUTERS Serbische Panzerkolonne bei Pri∆tina: Den Westen vor die Wahl zwischen Pest und Cholera gestellt

KOSOVO Marsch in die Sackgasse Showdown auf dem Balkan: Nach dem Scheitern der Friedenskonferenzen von Paris steht die Nato vor der schweren Entscheidung, das Morden im Kosovo notfalls mit einem Militäreinsatz zu beenden. Die Allianz befindet sich in Zugzwang, die Serben provozieren weiter.

eit jenem schrecklichen Tag Mitte Ja- Leichen untersuchten,Walkers Vermutung maskierten Kämpfern, sie halten das Ge- nuar scheint die Zeit in Ra‡ak still- bestätigt. Doch an den eilig ausgehobenen wehr im Anschlag. Die Soldaten heben ent- Szustehen. Die meisten Häuser sind Gräbern für die Opfer trauert niemand. lang der Straße Schützengräben aus. Ge- zerstört und ausgebrannt. Noch immer be- Ra‡ak ist wie so viele Dörfer im Kosovo tarnt unter grüngesprenkelten Planen, rich- deckt in der Moschee mit dem silbernen fast menschenleer. ten die Panzer ihre Kanonenrohre drohend Minarett eine blutverschmierte Plastikpla- Nur ein einzelner Mann stapft zwischen auf die gegenüberliegenden Waldränder. ne den Fußboden des Gebetsraums. streunenden Hunden den Weg hinauf zu Dort werden Widerstandsnester der Alba- Verwesungsgeruch hängt in der Luft. In seinem Haus. Drinnen liegt der Inhalt ner vermutet. einem Nebenzimmer sind Schafsfelle sorg- sämtlicher Schränke über den Boden ver- „Wann kommt die Nato endlich, um uns fältig aufeinandergestapelt, daneben liegt, streut. Feriz Brahimi sagt, die Serben hät- zu beschützen?“ fragt Brahimi verzwei- zusammengeknüllt, eine riesige, rote alba- ten vor allem nach Geld und Gold gesucht. felt. Für das mächtigste Militärbündnis der nische Fahne mit dem Doppeladler – sie Sie fanden 25000 Mark, versteckt in der Welt, das schon so oft gedroht hat, dann hatte die Leichname bedeckt. Wäsche. Zwei Tage verwüsteten die An- aber doch immer wieder zurückzuckte, Nach einer serbischen Offensive waren greifer das Haus des Albaners. könnte schnell die Stunde der Wahrheit in diesem Dorf über 40 tote und verstüm- Trotz frostiger Kälte wagt Brahimi es schlagen. Wie es der Westen verlangte, hat melte Albaner entdeckt worden. Der Lei- nicht, Feuer in den gußeisernen Öfen zu ter der OSZE-Beobachtermission im Ko- schüren. Denn aus den offenen Klappen sovo, der Amerikaner William Walker, ragen Drähte und Kabel – vielleicht haben sprach sofort von einem Massaker an die Serben die Heizstellen ja mit Spreng- Wehrlosen. Die empörten Serben wollten stoff präpariert. Brahimi will nicht in Ra‡ak ihn deswegen ausweisen und schafften die bleiben, niemand werde zurückkommen: Leichen über Nacht zur Obduktion nach „Sehen Sie die Panzer nicht auf den um- Pri∆tina, um ihre Version bestätigen zu las- liegenden Bergen und Hügeln?“ sen: Die Albaner hätten ein Verbrechen Die serbische Armee hat vergange- vorgetäuscht, bei den Toten handele es sich ne Woche im Kosovo und an den Grenzen um gefallene Kämpfer der albanischen Be- der Krisenprovinz massive Verstärkungen

freiungsarmee UÇK. zusammengezogen. Auf der Hauptstraße PRESS / SIPA NIKO Inzwischen haben finnische Gerichts- nach Pri∆tina rollen unablässig Militärko- Serbischer Präsident Milutinoviƒ mediziner, die im Auftrag der OSZE die lonnen und Lastwagen, dichtbeladen mit „Warum wollen die uns bombardieren?“

196 der spiegel 12/1999 Ausland Aviano Istrana KROATIEN Vicenza Spiel mit dem Feuer Truppenaufmarsch auf dem Balkan BOSNIEN- Piacenza HERZEGOWINA JUGO- SLAWIEN JUGOSLAWIEN Cervia KOSOVO Belgrad BOSNIEN- bis zu 21 000 Soldaten ITALIEN MAZE- HERZEGOWINA Jugoslawiens sind an Brindisi DONIEN der Grenze zum Kosovo Neapel aufmarschiert Nato-Luftwaffen- ALBANIEN Sarajevo stützpunkte Giola del Colle KROATIEN Jugoslawiens Armee Adr iat Kosovo isc Pri∆tina he 238 Kampfflugzeuge s M bis zu 18000 e Über 400 Nato-Flugzeuge, er Soldaten der jugo- 1270 Kampfpanzer darunter Langstrecken- und slawischen Armee sind im Kosovo 114 000 Soldaten Tarnkappenbomber, Skopje die Deutschen sind mit Die 6.US-Flotte, bestückt stationiert Tetovo 14 „Tornados“ vertreten mit Marschflugkörpern MAZEDONIEN und von einem französi- schen Flugzeugträger unter- 10000 Nato-Soldaten stehen in Mazedonien, ITALIEN stützt, kreuzt im Mittelmeer Tirana darunter rund 3000 Deutsche 100 km ALBANIEN die Delegation der Kosovo-Albaner vori- macht, Fristen verlängert, Ultimaten aus- Großbritannien, Frankreich, Italien und gen Donnerstag in Paris das Abkommen gesetzt. erstmals auch Deutschland haben eine über eine weitgehende Autonomie unter- Andererseits könnte Milo∆eviƒ diesmal Luftstreitmacht aus über 400 Kampfflug- zeichnet. so hoch gepokert haben, daß ein Waffen- zeugen und ein knappes Dutzend Kriegs- Doch der serbische Präsident Milan Mi- einsatz unvermeidlich ist. Wochenlang schiffe mit Marschflugkörpern zusammen- lutinoviƒ erklärte die Verhandlungen zu ei- setzte er darauf, daß auch die Albaner ihre gezogen. Dazu gehören 14 deutsche „Tor- nem „Schwindel“. Die Albaner hätten ein Unterschrift verweigern würden. Denn mit nados“, die im italienischen Piacenza sta- Dokument unterschrieben, das es gar nicht der Unterzeichnung des Abkommens be- tioniert sind. In der mazedonischen Grenz- gebe, höhnte er. Und nichts deutet darauf gruben sie schweren Herzens den Traum region um Kosovo bezogen an die 10000 hin, daß sein oberster Boß, Slobodan von der Selbstbestimmung im eigenen Nato-Soldaten Stellung, darunter 3000 Milo∆eviƒ, sich während der „allerletzten“ Staat – ein Recht, das die internationale Mann der Bundeswehr – 5500 deutsche Bedenkzeit anders besinnen und dem Ver- Staatengemeinschaft den Slowenen, Kroa- Soldaten sollen es am Ende werden. tragspaket zustimmen wird. ten, Bosniern und Mazedoniern nach dem Diesem Aufgebot stehen im Kosovo Serbien rüstet sich zum Krieg um Koso- Zerfall des kommunistischen Jugoslawien schon 14000 bis 18000 serbische Soldaten vo, und Milo∆eviƒ hat eine feine Witterung 1991 zugestanden hatte. Wären beide Sei- und 10000 Polizisten gegenüber. Nach Er- für den Angstschweiß des Gegners. Er ten unnachgiebig geblieben, hätte die Nato kenntnissen des US-Verteidigungsministe- weiß, daß die Zeit mittlerweile mehr für nicht bombardieren können. riums wurden in den vergangenen Tagen ihn als für die Nato arbeitet. In Brüssel Nur die Hoffnung, den Westen endlich bis zu 21000 Mann in einem Umkreis von wächst die Sorge vor einem Marsch in die voll auf ihre Seite ziehen zu können, ver- 80 Kilometern unweit der Krisenprovinz in Sackgasse. Kaltblütig setzt Milo∆eviƒ alles anlaßte deshalb die Albaner in letzter Mi- Kampfbereitschaft versetzt. Zur Ausrü- daran, den Westen in diese ausweglose nute zur Unterschrift in Paris. Nun steht stung gehören über 1200 Panzer, 1000 ge- Lage zu manövrieren. Milo∆eviƒ allein am Pranger. Bewegt er sich panzerte Mannschaftswagen, schwere Ar- Die Strategie der Europäer und der nicht, muß die Nato handeln, wie US-Prä- tillerie und Raketenwerfer. USA, mit Angriffen zu drohen, obwohl sie sident Bill Clinton vorigen Freitag bekräf- „Es ist nicht einfach, die jugoslawische um beinahe jeden Preis eine militärische tigte: „Wenn wir zögern, erteilen wir den Luftabwehr auszuschalten“, räumte vori- Intervention vermeiden wollten, hat ver- Serben eine Lizenz zum Töten.“ gen Freitag der Pentagon-Sprecher Ken- sagt. Die Zweifel im Westen, wie es nach Wie einst beim Aufmarsch im Januar neth Bacon ein, „jede Menge russisches den ersten Bomben weitergehen soll, blie- 1991 gegen Saddam Hussein versammelt Material haben die Serben mittlerweile in ben Belgrad nicht verborgen. Allzuoft sich wieder eine internationale Interven- Stellung gebracht, darunter tragbare Flug- haben die Vermittler Zugeständnisse ge- tionstruppe gegen den Feind. Die USA, abwehrraketen und vermutlich über 2000 konventionelle Flugabwehrkanonen.“ Überdies bieten Luftangriffe allein kei- ne Gewähr dafür, daß Milo∆eviƒ nachgibt. Militärischen Vertretern der Nato mißfällt die Vorstellung, Mittel einzusetzen, deren Wirkung zweifelhaft ist. Auch Saddam Hussein konnte nach einem wochenlangen Luftkrieg erst mit dem Einsatz von mehr als einer halben Million Soldaten aus Ku- weit vertrieben werden. Doch die Politiker schließen bislang einen Kampfeinsatz von Bodentruppen auf dem Balkan aus.

AP Vorsorglich wurden vorigen Freitag die Albaner bei Vertragsunterzeichnung in Paris: „Bereit, für die Freiheit zu sterben“ meisten westlichen Botschaften in Bel-

der spiegel 12/1999 197 Ausland grad geschlossen. Die OSZE zog ihre un- daß er diese Unterhändler auch weiterhin bewaffneten Beobachter aus der Krisenre- gegeneinander ausspielen kann. gion ab. Die serbische Propaganda stimmt die ei- In Abwesenheit des Bundeskanzlers trug gene Bevölkerung mit Widerstandsparolen Außenminister Joschka Fischer am Mitt- auf das große Ringen ein, als lebte man im woch im Bonner Kabinett vor, es gebe nur Jahr 1914. „Um das Serbenvolk als Inbe- zwei Alternativen. Die erste: „Nichts tun, griff des Bösen zu stigmatisieren“, kom- schlagt euch doch die Köpfe ein.“ Dem mentierte Radio Belgrad, „scheuen jene Gemetzel tatenlos zuzusehen sei unver- finsteren Kräfte vor Verleumdungen nicht antwortlich, das könne der Westen sich zurück, die ganz Europa ihrer Herrschaft nicht leisten. Die zweite: „Aus der Luft unterwerfen wollen.“ eingreifen, bevor Milo∆eviƒ die letzten Dör- Doch nicht nur ideologisch hat sich Bel- fer der Albaner zerstört und die Bewohner grad auf ein mögliches Eingreifen der Nato vertreibt.“ Die Flüchtlingsströme würden in den Kosovo-Krieg gut vorbereitet. Ser- dann letztlich auch Deutschland erreichen. bische Militärstrategen, die die Konfronta- Das Risiko aber liegt darin, daß die Ser- tion der internationalen Allianz mit dem ben trotz der Luftschläge mit großer Wucht Irak sehr genau beobachten, beschreiben gegen die albanische Befreiungsarmee und den möglichen Gang der Ereignisse etwa die Bevölkerung vorgehen könnten. „Wir so: Mit Marschflugkörpern und Kampfflug- haben die Wahl zwischen Pest und Cho- zeugen, darunter auch deutschen „Torna- lera“, resignierte ein Kabinettsmitglied. dos“ – was propagandistisch hervorragend Niemand wisse, wie Milo∆eviƒ sich verhalten werde. Das ist das Dilemma der Allianz: Die Nato ist für die Serben bere- chenbar, der Autokrat Milo∆eviƒ aber für den Westen nicht. Das Bündnis wollte den Serbenführer in die Falle tappen lassen und steckt jetzt mit ihm drin. Wenn die Nato nicht schnell kommt, werden zudem die Albaner den Kampf wiederaufnehmen. „Wir sagen offen, wir sind bereit, für unsere Freiheit zu sterben“, er-

klärte Hashim Thaçi, politischer Spre- AFP / DPA cher der UÇK und albanischer Dele- Opfer in Ra‡ak: „Wann schützt uns die Nato?“ gationsleiter bei den Friedensge- sprächen von Rambouillet und Paris. Die auszuschlachten wäre –, greift die Nato kosovo-albanischen Hitzköpfe, da sind sich Radarstellungen und Militärflugplätze an. die Friedensmakler einig, könnten mit ei- Danach wartet sie zunächst einmal ab. nem Funkenschlag das Pulverfaß ethni- In diesem Augenblick aber hätten die scher Zwietracht auf dem südlichen Balkan serbischen Polizei- und Armeeverbände zur Explosion bringen. Die Nachbarrepu- freie Hand, mit ihrer ganzen versammelten blik Mazedonien, nach deren Territorium Feuerkraft gegen die UÇK vorzugehen. die Anrainer begehrlich schielen, geriete Noch mehr Albaner-Siedlungen stünden in unweigerlich in den Konflikt hinein: Dort Flammen, Massenflucht und Tod wären die leben 420 000 Albaner. Und das Mutter- Folge – alles, was die internationale Staa- land Albanien könnte für die bedrängten tengemeinschaft vermeiden wollte. Die Landsleute im Kosovo militärisch Partei Verkündung des Ausnahmezustands würde ergreifen – ein allgemeiner Balkankrieg auch formal alle rechtlichen Hemm- wäre dann kaum zu verhindern. schwellen beseitigen. Der Chauvinismus der Serben und der Anschließend könnte der Endkampf ge- Fanatismus der Albaner schaukeln die Ge- gen den vermeintlichen „inneren Feind“ fühle auf beiden Seiten immer weiter hoch. beginnen, den der Kommandeur der für Dem obsessiven Nationalstolz vieler Ser- das Kosovo zuständigen dritten Armee, Ge- ben, ihrem Selbstverständnis als Opferna- neralleutnant Neboj∆a Pavkoviƒ, schon of- tion – umringt von Feinden – scheint die fen angedroht hat: Alle „Separatisten“, die Radikalisierung der Albaner sogar gelegen sich der serbischen Ordnung entgegen- zu kommen. Zumindest Milo∆eviƒ glaubt stellten, würden als Verräter und „Söldner noch immer, aus diesem Bruderkrieg als des auswärtigen Feindes“ eliminiert. Sieger hervorzugehen. Serbiens Präsident Milutinoviƒ versteht Er hat den Vorteil, es nicht mit einem die ganze Aufregung nicht. Er sieht sein entschlossenen Widerpart zu tun zu ha- Volk als unschuldigen Sündenbock des ag- ben, sondern mit einer ganzen Reihe von gressiven Westens und der gerissenen Balkan-Vermittlern, die teilweise unter- Albaner. „Warum nur“, fragt der Serbe einander uneins sind. Nato, EU, OSZE, Bal- scheinheilig, „wollen die uns bloß bom- kan-Kontaktgruppe, Uno und mitunter die bardieren, wegen eines Massakers in USA-Diplomatie entsenden immer neue Ra‡ak, das gar keines war?“ Emissäre, und Milo∆eviƒ geht davon aus, Renate Flottau, Roland Schleicher

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erreform entlastete Familien, geringer Ver- wunderbar.“ Tony Blair: „Danke sehr, GROSSBRITANNIEN dienende und Alte. Erleichterungen gab es danke.“ ebenfalls für kleine und mittlere Betriebe. So auffallend manche Ähnlichkeiten Duell mit der Dafür belastete er den Energieverbrauch zwischen dem Briten und dem Deutschen mit Ökosteuern, die einen Teil seiner sind, so unterschiedlich waren allerdings Großzügigkeiten finanzieren sollten. Und ihre Ausgangspositionen. Während sich Handtasche für all das heimste er – da diese Geschich- Blairs New-Labour-Regierung im Mai 1997 te in Großbritannien und nicht in Deutsch- über kräftige Wachstumsraten und sinken- Vieles, was Lafontaine sich land spielt – Lob von fast allen Seiten ein. de Arbeitslosenzahlen freuen konnte, muß- In derselben Woche, in der in Bonn ten die deutschen Sozialdemokraten mit vorgenommen hatte, Oskar Lafontaine, 55, alle Ämter nieder- dem Bonner Reformstau fertig werden. kann sein britischer Kollege legte, genoß der britische Schatzkanzler Doch das britische Modell – eiserne Sta- verwirklichen – ganz Gordon Brown, 48, nach der Vorstellung bilitätspolitik, flexiblerer Arbeitsmarkt, ohne Streit und Resignation. seines dritten Haushalts am vorletzten Umbau des Sozialstaats sowie eine insge- Dienstag Beifall wie selten zuvor. samt moderate Umverteilung von oben ine Geschichte aus zwei Welten: Es Colin Perry vom britischen Unterneh- nach unten – mochte Lafontaine so nicht war einmal ein Finanzminister, dem merverband CBI konnte „nichts ent- übernehmen. Kein Wunder, daß die beiden EFreunde wie Gegner Anfälle düsterer decken“, was er schlecht fand. Der Lon- Kollegen mit der frommen Vergangenheit, Frustration nachsagten. Als einer, der sel- doner Börsenindex kletterte auf eine neue Jesuitenzögling der eine, Pastorensohn der ber gern Regierungschef geworden wäre, Höchstmarke. Und nur Transportunter- andere, nicht gut miteinander konnten. fühlte er sich abgehängt von einem Bruder nehmer, nicht aber Versicherer und Ener- Als Lafontaine im Dezember in der Bar Leichtfuß, dem Meinungsforscher und gieproduzenten, drohten wegen der neuen eines Brüsseler Hotels die Handtasche ei- Wahlkampfstrategen bestätigten, zwar bei Steuern mit Auswanderung. ner Mitarbeiterin griff, sie in Browns Rich- den Wählern besser anzukommen, aber auf Auf der linken Seite war die Freude tung schwang und dabei in fröhlicher Imi- dem Weg zur Macht sozialdemokratische womöglich noch größer. Dies sei „ein tation Margaret Thatchers krähte: „Ich will Grundsätze verloren zu haben. Haushalt zugunsten der Kinder“, jubelte mein Geld zurück“, ließ der Brite etwas Das Finanzministerium war daher für die Child Poverty Action Group. Die neu- säuerlich verkünden, er „vermute“, daß es den Unterlegenen nur die zweitbeste Lö- en Ökoabgaben, so die grünen Friends of sich um eine Demonstration von „Oskars sung. Trotzdem nutzte er sie nach Kräften. the Earth, entwickelten sich zum „Motor Sinn für Humor“ handele. Nach mehr als eineinhalb Jahrzehnten der wichtigsten Wirtschaftsreform seit der Nach Browns Ansicht gefährdete der konservativer Umverteilungspolitik konn- Einführung des Sozialstaats“. Keynes-Anhänger Lafontaine die Moder- nisierung der EU, ohne die ein Beitritt Großbritanniens zur gemeinsamen Wäh- rung undenkbar bleibt. „Ich habe unsere Gegensätze nie verheimlicht“, kommen- tierte er den Abgang seines deutschen Kollegen. Brown, eher von protestantischem Ar- beitsethos und idealistischem Gerechtig- keitsempfinden als von marxistischer Theo- rie geprägt, predigt genau wie Blair schon seit Jahren, daß sich Labour neue Wähler- schichten erobern müsse. Die Ankündi- gung von Steuererhöhungen, früher ein ständiges Wahlkampfversprechen, ver- schrecke nur die umworbene Mitte. Doch während Blair seine Blitzkarriere der Wir- kung nach außen verdankte, blieb der Mo- dernisierer Brown ein Mann der Partei. Er wäre wohl auch Labour-Chef gewor- den, wenn er im entscheidenden Moment etwas schneller und ruchloser gehandelt hätte. Als der Parteivorsitzende und Men- tor John Smith 1994 an einem Herzinfarkt starb, schrieb sein designierter Erbe Brown

FINANCIAL TIMES noch Nachrufe, während Blair schon längst Finanzminister Brown, Chef Blair*: „Eine wunderbare Familie“ Wahlkampf für sich machte. So muß sich der noch immer ehrgeizige te er das Auseinanderdriften der Gesell- Als wollten sie das Elend der Bon- Brown mit der Hoffnung begnügen, der- schaft stoppen und den Trend umkehren. ner Genossen noch vergrößern, schluckten einst Nachfolger seines Freundes und Jüngst privatisierte Großunternehmen Regierungschef und Finanzminister allen Rivalen zu werden. Öffentlich hat Blair schröpfte er mit einer einmaligen, dafür Rivalengroll hinunter, traten gemein- bislang nur über Pläne für zwei Legis- saftigen Steuer, um arbeitslosen Jugendli- sam in einer Radio-Talkshow auf, priesen laturperioden gesprochen. Der frühere chen eine Chance zu geben. Er kündigte die „engste Freundschaft, die es in der Labour-Premier James Callaghan tröstete an, Milliarden in den Öffentlichen Dienst britischen Politik gibt“, und bedachten Brown, er selber sei auch erst mit 64 Re- zu investieren, und das Gesundheitswesen einander mit exquisiten Komplimen- gierungschef geworden. und die Schulen zu verbessern. Seine Steu- ten. Brown über seine Wohnungsnachbarn Nach zwei Blair-Amtszeiten, etwa 2006, in der Downing Street: „Ich muß schon wäre Gordon Brown ein knappes Jahr- * Bei der Radio-Talkshow am 11. März. sagen, eine wunderbare Familie, ganz zehnt jünger. Hans Hoyng

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TÜRKEI Granaten statt Golf Der türkischen Riviera droht ein heißer Sommer: Zum Prozeßbeginn gegen Kurden-Chef Öcalan kündigt die PKK Terror gegen Touristenzentren an. ach einem Blick auf die Bilder mit dem toten Taxifahrer beschloß der NHotelier Cem Uzan, für ein paar REUTERS Tage aufs Fernsehen zu verzichten.Vor ei- Bombenanschlag in Istanbul: „Seit 20 Jahren Erfahrung mit der Terrorbekämpfung“ nem Istanbuler Kaufhaus war eine Bombe explodiert, die Nahaufnahmen vom zer- Das Ziel der jüngsten Offensive, glaubt Die schon im letzten Jahr schwer ge- fetzten Körper des Fahrers nahmen Uzan das Bundeskriminalamt, bestehe auch dar- troffenen türkischen Hoteliers und Reise- mit: „Da wußte ich, jetzt geht’s los.“ in, lediglich eine „wirksame Drohkulisse“ veranstalter wie Vural Öger fürchten um Über 200 Stornierungen ängstlicher Tou- aufzubauen, um Touristen abzuschrecken. die Branche. Der Hamburger Unterneh- risten hatte der Manager des luxuriösen Allerdings gehen die Sicherheitsexperten mer, mit 800000 Türkeiurlaubern führend, Gloria-Golf-Resorts im südtürkischen Be- davon aus, daß die PKK immer mal wie- wollte vergangene Woche im Gloria-Hotel lek gleich nach der spektakulären Ent- der Anschläge „in Städten mit hoher Tou- „nur ein paar Runden Golf spielen“. führung des PKK-Chefs Abdullah Öcalan rismusdichte“ begehen werde, um ihre Doch nach den Drohungen der PKK durch eine türkische Sondereinheit hin- „Ernsthaftigkeit“ zu beweisen. Erst am machte sich Öger auf den Weg nach An- nehmen müssen. Seit am 13. März bei vergangenen Donnerstag forderte ein An- kara zum Gespräch mit Ministerpräsident einem Anschlag in einem Istanbuler Ein- schlag mit Handgranaten in Istanbul er- Bülent Ecevit. Vor allem die Art und Wei- kaufszentrum 13 Menschen ums Leben ka- neut Opfer und nährte Ängste in Almanya. se, wie türkische Spezialteams den Kur- men, folgten mehr als 1000 weitere Absa- Zu den Aktionen bekennen sich Gruppen, denführer auf Fotos und Videos in demüti- gen, Tendenz steigend. die unabhängig von der PKK agieren und genden Posen vorgeführt hätten, so Öger, Die ganze Türkei, hatte das „Haupt- sich „Kurdische Nationale Rachebrigade“ sei eine „völlig unnötige Provokation“. quartier der Volksbefreiungsarmee Kurdi- oder, nach der Kurzform von Abdullah, Das könne sich eine diktatorisch regier- stans“ am vergangenen Montag verlautba- „Die Rachefalken Apos“ nennen. te „Bananenrepublik leisten, nicht aber ren lassen, sei von nun an „Kriegs- ein Land, das an der Schwelle zu Eu- gebiet“ – Touristenzonen einge- ropa steht“. schlossen. Prompt meldeten sich al- Die erste Verhandlung gegen Öcalan soll lein beim Kölner Reiseveranstalter bereits am Mittwoch beginnen – falls der ITS binnen 24 Stunden 400 Kunden Gerichtssaal auf der Gefängnisinsel Imrali und baten um Umbuchung. Bran- fertig wird.Womöglich wird der PKK-Chef chenriesen wie TUI, NUR und LTU für die ersten Prozeßtage aber auch vor sahen sich gezwungen, kostenlose das Staatssicherheitsgericht nach Anka- Änderungen zu akzeptieren. ra gebracht. In jedem Fall, behauptet Tou- Da die deutsch-türkischen Be- rismusminister Ahmet Tan, seien die Ur- ziehungen durch den Streit um die laubsgebiete sicher: Sein Land habe „20 rechtsstaatliche Behandlung des Jahre Erfahrung in der Terrorismusbe-

„europäischen Problems“ Öcalan REBOIS / GAMMA STUDIO X kämpfung“. (Bundeskanzler Gerhard Schröder) Touristen in Pamukkale*: Schwacher Trost Die Schuld an dem Einbruch in einem angespannt sind, mochte das Bon- der wichtigsten Wirtschaftszweige sieht Tan ner Auswärtige Amt noch nicht ge- im laxen Umgang des Westens mit der nerell vor Reisen in die Türkei war- Gefährdetes Idyll 2339 2234 PKK: Würden der in Großbritannien an- nen. Die Diplomaten rieten ledig- Zahl der deutschen 2142 sässige Kurdensender Med-TV, die PKK- lich, Sicherheitshinweise der Ver- Türkei-Urlauber nahe Nachrichtenagentur DEM aus Köln anstalter „unbedingt zu befolgen“. und die in Frankfurt am Main erscheinen- in Tausend 1656 Für die verunsicherten Urlauber de Zeitung „Özgür Politika“ nicht täglich ist es nur ein schwacher Trost, daß vor Türkeireisen warnen, brauchten sich die deutschen Experten nicht mit 1165 1119 die Hoteliers in Marmaris, Bodrum und gezielten Anschlägen auf Touristen 994 Antalya keine Sorgen zu machen. rechnen, vorerst zumindest. Die 780 Am vergangenen Donnerstag wurden PKK, die sich in Europa seit den Anschläge auf Touristenzentren: der deutsche Botschafter Hans-Joachim Krawallen nach Öcalans Festnah- 5 insgesamt 1 Toter, 43 Verletzte Vergau und sein britischer Kollege ins tür- me zurückhält, hofft auf politische kische Außenministerium bestellt. Ankara Unterstützung der Europäischen 5 2 Tote, 33 Verletzte verlangt, daß London und Bonn die Kur- Union. Da verbieten sich Attentate. denpresse zum Schweigen bringen – Ter- 1991 92 93 94 95 9697 98 rorbekämpfung auf türkisch. * In den Kalkterrassen. Georg Mascolo, Bernhard Zand

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Werbeseite AFP / DPA Edelsteinschleifer in Pailin: Statt spartanischer Revolutionsideale Profit mit Prostitution, Drogen und Diamanten

KAMBODSCHA „Die Roten Khmer sterben nie“ In ihrer Hochburg Pailin haben sich Kambodschas Massenmörder zur Ruhe gesetzt. Die Veteranen des Völkermords wollen ungestört Geld verdienen. Bleibt ihnen ein internationales Tribunal erspart?

atürlich sollten sie vor Gericht ge- lein. Die Stadt ist Kambodschas Zentrale Behörden in Phnom Penh. So müssen die stellt werden“, sagt Sai Nuon, 60. der Massenmörder. Hier haben viele ideo- ehemaligen Guerrilleros keine Steuern ab- N„Sie müssen für ihre Verbrechen logische Wegbereiter des Genozids Zu- führen. Pailin darf Waren aus Thailand zoll- büßen.“ 20 Jahre hat der Veteran den flucht gefunden, und hier leben einige der frei importieren. Erst am Schlagbaum auf Mund gehalten und mitgemacht, doch jetzt grausamsten Schergen, wie der Komman- der staubigen Dschungelstraße zur Stadt bricht „unendliche Wut“ auf jene mörde- dant des Vernichtungslagers S-21. Battambang kassieren blau uniformierte rischen Roten Khmer hervor, die Schuld Als sich der Außenminister des Roten Zöllner der kambodschanischen Regierung am Tod seiner Eltern tragen: „Sie schickten Khmer-Regimes, Ieng Sary, 1996 von Pol Abgaben. mich in den Kampf an die vietnamesische Pot lossagte, dankte König Sihanouk es Nirgendwo trifft das Urteil des Pol-Pot- Grenze, und als ich zurückkam, hatten sie ihm mit einer Amnestie. Ieng Sary durfte Biographen David Chandler besser zu als meine Mutter und meinen Vater verhun- weiterhin über die Hochburg der Roten in der Enklave Pailin: „Die Roten Khmer gern lassen.“ Khmer mit ihren 36000 Einwohnern herr- sterben nie. Sie machen immer weiter – Sai Nuon aber blieb weiter bei der Trup- schen – ohne Einmischung durch die nur in einer anderen Art und Weise.“ pe, die für den Tod von rund zwei Millio- nen Kambodschanern verantwortlich ist. 100 km Als die Vietnamesen 1979 die Roten Khmer THAILAND aus Phnom Penh vertrieben, war sein Haß LAOS auf die Fremden stärker als der Zorn auf den Bruder Nummer Eins, Pol Pot. Er floh mit den Führern des unbarmherzigen Re- KAMBODSCHA gimes in den Dschungel an die thailändi- Phroum Battambang sche Grenze. Pailin Von Pailin im Nordwesten Kambodschas aus kämpfte Sai Nuon gegen die vietna- g mesischen Besatzer „und ihre kambo- on ek dschanischen Marionetten“, immer als Phnom M kleiner Soldat, oft an vorderster Front und Penh VIETNAM stets in Lebensgefahr.

Jetzt, nachdem alles vorbei ist, verlangt REGLAIN / GAMMA STUDIO X F. er Gerechtigkeit. Doch mit diesem Wunsch Golf Gedenkstätte mit Opfern der Roten Khmer steht der alte Soldat in Pailin ziemlich al- von Thailand Beweise für den Genozid

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Als sie zur Regierung überliefen, verab- schiedeten sie sich vom Sozialismus, ge- standen „historische Fehler“ ein, sagten „sorry“ und nennen sich „Demokratische Nationale Einheitsbewegung“. Die grünen Ballonmützen und chinesischen Drillich- hosen haben die Dschungelkrieger abge- legt, die rote Fahne mit den fünf gelben Türmen des Tempels Angkor Wat ist ein- geholt. Nun tragen die 12000 Soldaten der Roten Khmer Uniformen der Königlichen Armee, allenthalben weht die National- flagge. Panzer verrosten am Straßenrand, am Ortsende grast Pailins heiliger Ochse: ein Tier mit gespaltenem Vorderbein, von dem man sich Schutz gegen Kugeln und Minen verspricht. Im Zentrum entstehen neben verschim- melten Ruinen Villen, Hotels und Tank- stellen. Am Markt prangt eine große Kon- dom-Reklame: „Ich liebe ihn, weil er Nr. 1 benutzt.“ Seit einiger Zeit hat Pailin wieder ein Gericht, mit einem früheren Major der Ro- ten Khmer als Vorsitzenden. Gestraft wird nach altem Brauch, wie Einwohner er- zählen: durch einen Schuß ins Genick. Die Häftlinge seien leider entwichen, heißt es dann offiziell. Das zwischen bewaldeten Hügeln gele- gene Städtchen, bis in die sechziger Jahre ein beliebter Luftkurort, ähnelt einer Wild- weststadt. In der Umgebung wächst wert- volles Edelholz, die Erde birgt Rubine und Saphire. Schon in der Vergangenheit sorg- ten Verträge mit thailändischen Holz- und Schürfunternehmen für eine reichlich ge- füllte Kriegskasse der Roten Khmer. Auch heute transportieren Thai-Laster Tag und Nacht Erdreich zu knarzenden Wasch- anlagen am Hang unterhalb der Häuser. Tausende Edelsteinsucher, die sich in Strohhütten und Bretterbuden ansiedel- ten, wühlen verbissen im Boden oder ver- suchen, von den thailändischen Schürfern Säcke mit Erde zu stehlen. Ganze Familien sieben ihre Beute in schlammigen Wasser- löchern. Die Funde verkaufen sie an Händ- ler, die mit ihren Lupen und Waagen vor den Cafés an der Hauptstraße sitzen. Jetzt hoffen Pailins Herren auf eine neue Einnahmequelle: Gold. Amerikanische Ex- perten sollen schon bald den Boden nach Vorkommen absuchen. Wieviel die Roten Khmer an den Kon- zessionen verdienen, hüten sie wie ein Staatsgeheimnis, aber thailändische Firmen asphaltieren als Gegenleistung einige Straßen, für zwei Millionen Baht (rund 96 000 Mark) entsteht derzeit ein neues Hospital, und am Ortsausgang mauern Arbeiter einen neuen Tempel. Den alten Funktionären geht es gut. Der Gouverneur und Bürgermeister von Pai- lin, Y Chhean, ein ehemaliger Truppen- kommandeur, läßt sich mitten in der Stadt eine feine Villa im Thai-Stil bauen – es ist schon seine zweite. Ieng Sary hat mit sei- ner Frau, der früheren Sozialministerin

der spiegel 12/1999 Ausland

von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Phnom Penh, „wird das Klima der Straflo- sigkeit durchbrochen.“ Dem aber verdankt Hun Sen, unter dessen Herrschaft Dut- zende politischer Gegner entführt, gefol- tert und ermordet wurden, seine Macht. „Hun Sen wird deshalb niemals ein Tribu- nal zulassen“, meint Schier. Nur einer soll, stellvertretend für alle, büßen müssen: Ta Mok, 72, der letzte Kom- mandeur der Steinzeitkommunisten, den Regierungssoldaten Anfang März an der thailändischen Grenze faßten.Als Pol Pots Vertreter in der Südwestzone hat er Mas- saker an Tausenden von vermeintlichen Verrätern befohlen. Gegenüber seinen Hä- schern beteuerte er, nur ein kleines Licht gewesen zu sein. Doch selbst wenn ein Uno-Tribunal ein- gerichtet würde – aus dem Zufluchtsort Pailin mit seinen vielen Schlupfwinkeln wären die Roten Khmer nur schwer her-

AFP / DPA auszuzerren. Ministerpräsident Hun Sen (2. v. l.), Rote-Khmer-Überläufer*: „Die Vergangenheit vergessen“ Khieu Samphan und Nuon Chea sind inzwischen im Dorf Phroum unterge- Khieu Thirith, ein einfaches Holzhaus ge- richt gestellt werden, forderte US-Präsi- taucht, mitten in einem Bambuswäldchen, gen ein mehrstöckiges Steingebäude ge- dent Bill Clinton. Die Uno plädiert jetzt für nur einen Steinwurf von der Grenze nach tauscht. Er besitzt zudem das Hotel „Pai- ein internationales Tribunal, das über „20 Thailand entfernt. Seit ihrer Ankunft ist lin“, dessen Symbol ein funkelnder Dia- bis 30“ führende Köpfe der Roten Khmer der Ort streng abgeriegelt. Im Busch, so mant ist. Sarys Töchter betreiben eine Pri- richten soll. Die niederen Chargen des Völ- berichten Anwohner, liegen Minen ver- vatklinik und eine Eisfabrik. kermords sollten sich vor einer Wahrheits- graben. Den einzigen Zugang versperrt ein Vergessen sind die spartanischen Revo- kommission nach dem Vorbild Südafrikas Schlagbaum, der mit einigen Granaten be- lutionsideale, für die einst die Roten Khmer verantworten. schwert ist. An einem hölzernen Wach- ihre Mitbürger erschlugen. In Pailins älte- An Beweisen für den Genozid mangelt häuschen weht die blau-rot-blaue Fahne stem Bordell, dem „Gasthaus Chhumno“, es nicht. In braunen Pappordnern lagern im Kambodschas. Soldaten der Roten Khmer bedienen Prostituierte für 200 Baht (knapp Büro des von der amerikanischen Yale-Uni- lassen die Schranke nur für Bewohner von zehn Mark) ihre Kunden hinter Sperrholz- versität unterstützten „Dokumentations- Phroum hoch, Besucher werden barsch platten. Direkt an der Grenze floriert die zentrums“ in Phnom Penh 350000 Akten- zurückgewiesen. Freiluft-Spielhalle „Flamingo“, an ihren seiten aus der Zeit der Terrorherrschaft „Ich habe Khieu Samphan und Nuon Gewinnen soll Y Chhean beteiligt sein. Im zwischen 1975 und 1979 – überwiegend Chea früher bei politischen Versamm- „Caesar International“-Kasino an der durch Folter erzwungene Geständnisse von lungen gesehen“, erinnert sich der Mönch Hauptstraße rollt ebenfalls die Roulette- Häftlingen des berüchtigten Tuol-Sleng- Van Seng in der alten Pagode am Orts- Kugel. Hier kostet eine Flasche Whisky 150 Gefängnisses, die beschuldigt wurden, eingang von Pailin. Van Seng war einst Dollar – rund neun Monatsgehälter eines Spione oder Konterrevolutionäre zu sein. Bataillonskommandeur der Roten Khmer kambodschanischen Lehrers. Auf den Papieren stehen unter anderen die und verbringt seinen Lebensabend in Im Killer-Refugium Pailin haben sich vor Namenskürzel Nuon Cheas, Ieng Sarys Frömmigkeit. „Ob sie verurteilt wer- kurzem zwei Neubürger niedergelassen: und, seltener, Khieu Samphans. den oder nicht, ist mir völlig egal. Haupt- Khieu Samphan, 66, ehemaliger Staatschef Der Chef des Zentrums, Youk Chhang, sache, daß in Kambodscha wieder Frieden und von 1985 an offizieller Nachfolger Pol ist sicher: „Das reicht selbst für den dümm- herrscht.“ Pots an der Spitze der Roten Khmer, sowie sten Ankläger. Es wäre eine Schande, wenn Sein zahnloser Bruder Nhek Sip, 77, der geheimnisumwitterte Bruder Nummer die Dokumente nicht genutzt würden.“ auch er einst Soldat der Roten Khmer, hält Zwei, Nuon Chea, 71. Sie ergaben sich Doch in Kambodscha entscheiden nicht von einem Tribunal für seine ehemaligen Ende letzten Jahres, als der Widerstand der Juristen oder gar die Opfer über Schuld Vorgesetzten wenig: „Die haben von sich Rebellen in den Dangrek- und Sühne, sondern allein aus aufgegeben. Man sollte die Vergan- Bergen an der thailändischen der starke Mann des Landes: genheit vergessen. Strafe macht die Toten Grenze sinnlos geworden Regierungschef Hun Sen. nicht lebendig.“ war. Und der ist an einer Aufar- Geschickt schüren die Roten Khmer die Seit dem Seitenwechsel beitung der Vergangenheit Ängste der Kambodschaner vor einem der grausamen alten Männer wenig interessiert. neuen Bürgerkrieg, der ausbrechen könn- werden die Rufe nach Hun Sen, selbst bis 1977 te, falls sie vor Gericht gestellt würden. Vergeltung immer energi- Regimentskommandeur der Die Einwohner von Pailin möchten in Ruhe scher. Alle für die „monströ- Roten Khmer, hat den über- gelassen werden, sie sind vollauf damit sen Menschenrechtsverlet- gelaufenen Kameraden von beschäftigt, sich eine neue Existenz zu zungen“ verantwortlichen einst als Gegenleistung ver- schaffen. Funktionäre müßten vor Ge- mutlich Straffreiheit zugesi- Auch der Soldat Sai Nuon kann seinen chert. „Wenn er die Roten Lebensabend ohne materielle Sorgen ge- * Der frühere Staatschef Khieu Sam- Khmer vor Gericht stellen nießen, seit seine Tochter das Hotel „Sang phan, der ehemalige Chefideologe

Nuon Chea, Ex-Vizepremier Ieng PRESS SIPA läßt“, erläutert der Kambo- Phirun“ eröffnet hat. Er sagt: „Ich werde Sary. Ex-Kommandeur Ta Mok dscha-Experte Peter Schier nie wieder kämpfen.“ Andreas Lorenz

208 der spiegel 12/1999 Werbeseite

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100 Kilometer Mendoza ASTROPHYSIK Den Astrophysikern ist Santiago bislang schon „die bloße Pazifik ARGEN- Existenz“ dieser Teilchen Suche nach rätselhaft, ebenso wie ihre TINIEN Entstehung und Herkunft. CHILE Pro Jahr trifft nur eines kosmischen Quellen Wassertank-Areal der besonders energierei- chen Teilchen auf einen und 1600 Wassertanks, jeder mit einem Durchmesser El Sosneado Quadratkilometer Erd- von 3,4 Metern und 1,2 Meter hoch, sollen in den Argen- oberfläche. Mit dem groß- R tinien nächsten Jahren in gleichmäßigen Abständen auf 3200 flächigen Pampa-Projekt Quadratkilometern Pampa nahe der argentinischen Stadt hoffen die daran beteilig- Mendoza errichtet werden: eine gigantische Auffanganla- Malargue ten Forscher aus weltweit ge, von der sich die Astrophysiker in aller Welt Aufklärung 53 Instituten und 19 Na- erhoffen, woher die energiereichsten Atomkerne des Uni- tionen, innerhalb von drei versums stammen. Ein Rahmenvertrag für das internationale Jahren über 9000 „Ereignisse“ registrieren und die Herkunft der Großprojekt wurde letzte Woche unterzeichnet. Die Erde, dafür kosmischen Strahlung klären zu können. Die Atomkerne aus hatte der österreichische Physiker Victor Hess schon 1911 An- dem All erzeugen in der Atmosphäre eine Teilchenkaskade, ei- zeichen gefunden, wird aus dem Weltall ständig von Atomker- nen Schauer von Sekundärteilchen, der wiederum einen Schau- nen bombardiert. Darunter sind Teilchen mit hundertmillio- er neuer Teilchen produziert.Aus den registrierten Daten kann nenmal höheren Energien, als sie mit den großen Teilchenbe- die Energie und Einfallsrichtung der ursprünglichen Atom- schleunigern (etwa bei Cern in Genf) erreicht werden können. kerne erschlossen werden.

KREBS den Lehren Rudolf Steiners geprägte an- MEDIZINTECHNIK throposophische Medizin wurde die Mi- Überprüfung der stel in den letzten Jahren erneut hof- Hornhaut abgeflacht fähig. Vor allem in der Krebsnachsorge Mistel-Saga und zur Dämpfung von Nebenwirkungen in Plastikimplantat, das leichte Fälle der Chemotherapie wurden Mistel-Ex- Evon Kurzsichtigkeit (minus 1,0 bis anchem Anhänger der Naturheilme- trakte eingesetzt. Ob sie in der Lage minus 3,5 Dioptrien) dauerhaft beheben Mdizin muß es wie die Verbrüderung sind, Tumorzellen abzutöten, ist noch im- soll, steht in den USA kurz vor der mit Beelzebub erscheinen: Das Phar- mer umstritten. Dem Madaus-Toxikolo- behördlichen Zulassung. Das von der maunternehmen Madaus will ein Mistel- gen Hans Lentzen ist es nun gelungen, Präparat, dem eine krebshemmende Wir- zusammen mit der Biotechnikfirma kung zugeschrieben wird, künftig gen- Brain das Mistel-Lektin – den nach An- technisch herstellen. Die immergrüne sicht der Forscher entscheidenden Ei- Schmarotzerpflanze galt schon bei den weißstoff der Pflanze – gentechnisch von Kelten, deren Druiden sie mit goldenen manipulierten Kolibakterien erzeugen zu Sicheln von den Bäumen schnitten, als lassen. Die klinische Erprobung des wirkmächtiges Heilkraut. Durch die von Präparats soll im Sommer beginnen.

UMWELT Kunststoffimplantat Rückkehr der kalifornischen Firma Keravision Inc. entwickelte Produkt besteht aus zwei Schnäpel winzigen transparenten Kunststoffplätt- chen. Diese flachen bei Kurzsichtigen

ine der letzten früher im / OKAPIA A. HARTL die Hornhaut gerade so weit ab, daß die ERhein heimischen und bis- Nordseeschnäpel Sehfähigkeit normalisiert wird. Der nur lang noch vermißten Wander- zehn Minuten dauernde Eingriff kann in fisch-Arten ist in den Strom zurückgekehrt. Zwei geschlechtsreife Exemplare des der Praxis eines Augenarztes unter lo- Nordseeschnäpels fanden sich in den Siebrechen des Atomkraftwerks Philippsburg kaler Betäubung vorgenommen wer- bei Karlsruhe, das sein Kühlwasser dem Rhein entnimmt. Den überraschenden Fund den. Während der klinischen Erpro- melden Biologen des Heidelberger Instituts für Umweltstudien (IUS). Laut IUS-Pro- bungsphase sind die „Intacs“ rund 2000 jektleiter Uwe Weibel wanderte der Nordseeschnäpel, ein naher Verwandter des im Kurzsichtigen implantiert worden, Preis Bodensee vorkommenden Blaufelchens, früher flußaufwärts bis Straßburg, war aber pro Implantat: 2500 Dollar. Andere US- jahrzehntelang selbst im Niederrhein verschollen. Die bis zu knapp einem halben Firmen entwickeln und erproben der- Meter großen Fische leben im Meer, steigen aber zum Laichen in Fließgewässer auf. zeit implantierbare Kunststofflinsen, mit Der Fund gilt als ein weiterer Beleg für die wieder passable Wasserqualität im ganzen deren Hilfe auch andere Formen der Verlauf des Rheins. Von den früher dort heimischen Marathonschwimmern fehlt nun Fehlsichtigkeit dauerhaft korrigiert wer- nur noch der Atlantische Stör. den können.

der spiegel 12/1999 211 Prisma Computer

P. FÖRSTER „Bio-Hühner online“ im Kaufhaus

INTERNET ein PC-Bildschirm im Dekorations-Nest, der den prüfenden Blick ins Gehege erlaubt. Erfahrungen mit High-Tech auf dem Ökohof hat die Schweizer Lebensmittelgroßhandelsfirma Coop Kamera im Hühnerstall schon seit fast zwei Jahren. Zur Zeit speisen dort zwei Biolie- feranten, der Bifänglihof und der Brüederhof, unter it Hilfe moderner Technik wollen deutsche Ökobauern das „www.coop.ch“ Bilder vom Melkstand und aus der Schweine- MVertrauen der Kundschaft wecken.Auf ihrer Hühnerfarm box ins Netz. Der Schweizerische Bauernverband geht noch ei- in Mahndorf nahe Magdeburg montierten Eierproduzenten nen Schritt weiter. Per Internet kann der Kunde (unter der „Bergquell Naturhöfe“ vergangene Woche eine Video- „www.agri.ch/huhn“) aus einer Auswahl von 25 Höfen ein kamera, die Live-Aufnahmen aus dem Hühnerstall ins Internet Huhn „leasen“; er erwirbt damit Exklusivrechte an sechs Ei- speist (www.bergquell.de). Auch in den Lebensmittelabtei- ern dieses Tieres pro Woche. Kleingedrucktes im Vertrag: „Muß lungen ausgewählter Kaufhäuser können Kunden die Produ- das Huhn ersetzt werden, wird das Leasing automatisch auf das zenten bei der Arbeit sehen: Neben der Eier-Frischware liegt neue Huhn übertragen.“

BÖRSE einsatzbereit. Mit Hilfe eines neurona- len Netzes sortiert das System auf ei- Ohr an der Basis nem handelsüblichen PC automatisch Fundstücke und Indizien von über 5000 ktienkurse sind häufig die geldwer- Delikten aus der amerikanischen Ver- Ate Summe aller Gerüchte über ein brechensdatenbank „Hits“. In dem Unternehmen. „eWatch“ ist das Wust scheinbar unzusammenhängender empfohlene Werkzeug zur systemati- Spuren findet Catch Übereinstimmun- schen Beobachtung von börsenrelevan- gen und visuali- tem Klatsch und Tratsch im Internet. siert sie. Auf die-

Die Webseite, mit- DPA se Weise rubri- gegründet von Spurensuche im Mordfall ziert das System James Alexander, eine große Zahl einem früheren KRIMINALISTIK von Fällen nach Fernsehproduzen- besonderen Tat- ten, und dem Pro- Mörder in der Datei Software Catch merkmalen, die grammierer Charles sich dann, wenn Lukaszewski, durch- rei Kriminalisten vom US-amerika- sie wiederholt auftreten, möglichen www.ewatch.com forstet im Internet Dnischen Pacific Northwest National Tätern zuordnen lassen. Neben der täglich 250000 Mel- Laboratory testen zur Zeit im Auftrag Software für die Suche nach Mördern dungen in Diskussions-Foren nach fir- des National Institute of Justice die er- ist auch eine Programmvariante für menrelevanten Schlüsselworten und ste elektronische Suchhilfe zum Auf- die Fahndung nach Serienvergewalti- stellt das Ergebnis der Recherche auf spüren von Serienmördern. Die Pro- gern im Test. Das FBI zeigte Interesse den Rechnern von „eWatch“ graphisch beläufe für das System Computer Aided an dem Verfahren: Der Bedarf an aussa- dar. Der Gerüchte-Monitor ist offenbar Tracking and Characterization of Homi- gekräftigen Täterprofilen ist groß. erfolgreich – die Internet-Firma inve- cides, kurz Catch genannt, werden in Schätzungsweise 200 bis 400 Serienmör- stierte zwei Millionen Dollar in die wenigen Wochen abgeschlossen sein, der sind derzeit in den USA unerkannt technische Aufrüstung des Systems. dann ist der elektronische Kommissar unterwegs.

212 der spiegel 12/1999 Werbeseite

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Rekonstruktion eines Allosaurus: Haushohe Fleischfresser stapften durch die Norddeutsche Tiefebene

URZEIT Godzilla im Schlick Echsenknochen im Ostharz, Saurierskelette bei Hannover – Paläontologen melden spektakuläre Fossilienfunde aus dem Norden Deutschlands. In einem Steinbruch bei Minden wird derzeit ein 160 Millionen Jahre altes Raubreptil freigelegt.

er Tip am Telefon klang verlockend. die „Einzigartigkeit des Fundgebiets“ klar. herrscht in der Republik „Bone rush“, Ein privater Fossiliensammler sei Das Terrain, so Broschinski, „birgt minde- Knochenfieber. Paläontologen sind zwi- Dim Nordharz auf einen riesigen stens drei eingeschwemmte Leichen von schen Harz und Wiehengebirge auf er- Saurierfriedhof gestoßen. „20 Zähne hat Camarasauriern“. staunliche Relikte aus der Urzeit gestoßen, er schon geborgen“, so der Anrufer, „wir Eine Sensation? Noch niemals wurden in darunter Flugechsen, Vogelsaurier und müssen sofort handeln.“ Deutschland große Sauropoden entdeckt. schwimmende Panzerreptilien. Hastig ging Annette Broschinski, Paläon- Die Gattung Camarasaurus erreichte Län- Drei Erdzeitalter lang, vom Beginn der tologin vom Landesmuseum Hannover, der gen von 20 Metern und war bislang nur Trias (vor 245 Millionen Jahren) bis zum Spur nach. Im weinroten Jeep sauste ihr aus den USA bekannt. Dort stapften die Ende der Kreidezeit (vor 65 Millionen Jah- Team am letzten Dienstag über die Auto- dickleibigen Vegetarier im Oberjura (vor ren), beherrschten die Dinosaurier den Pla- bahn A 2 Richtung Nordharz. Nach kurzer 157 bis 145 Millionen Jahren) in großer neten. Die Echsen trotzten Überschwem- Fahrt war die beschriebene Schädelstätte Zahl durch die Farn- und Ginkgowälder. mungen und Phasen mit verstärktem Vul- erreicht. Sie liegt in einem Kalksteinbruch, Zurück in Hannover, grübelte die Grup- kanismus. Selbst das Auseinanderbrechen aus dem Schaufelbagger 150 Millionen Jah- pe über Maßnahmen für eine Rettungsber- des Großkontinents Pangäa konnte ihren re alte Meeressedimente herausbrechen. gung. „Wir müßten mindestens sechs Me- Siegeszug nicht stoppen. Der Trupp kraxelte in Gummistiefeln ei- ter Erdreich wegsprengen“, sagt Bro- Gefiederte Modelle und solche mit Flug- nen Steilhang hoch, aus dem schwarz- schinski.Aus Angst vor Raubgräbern bleibt häuten eroberten die Lüfte. Manche Gat- schimmernde Knochenreste hervorragten. die Lage der Fundstelle vorerst geheim. tungen stoben mit Hammerköpfen und ge- Die Forscher zückten kleine Hämmer und Mutiert das plattdeutsche Flachland zum zackten Hornpanzern über Land. Bei eini- Schaber. Schon nach kurzer Prüfung war Jurassic Park? Schon seit einigen Monaten gen Spezies war das Rückenmark in Hüft-

214 der spiegel 12/1999 höhe kugelförmig verdickt – ein flachen, massiven Kopf. Im Kiefer zweites Hirn am Hintern? An- Skelette aus dem Jura steckten Zähne, groß wie Bana- dere Echsen verfügten über ein Dinosaurier-Funde in Norddeutschland Skandinavisches nen. Einige der Beißer sind über „Drittes Auge“. Wahrscheinlich Festland 20 Zentimeter lang und schlund- diente das Organ als Lichtsen- wärts gekrümmt. „Anatomisch sor zur Regelung der Körper- Pompeckjsche Schwelle erinnert das Reptil an einen Al- temperatur. losaurus“, sagt Lanser. Diese Nordsee- Solche Kenntnisse über die Becken Fünf-Tonnen-Echse lief aufrecht bizarre Anatomie und Formen- auf zwei stämmigen Hinterbei- vielfalt der Dinosaurier stam- Fossilien- nen. Ihre Beute packte sie mit men meist aus Übersee. Fundorte den Stummelärmchen. Dann Lo Mit Sehnsüchtig schielten die nd teld wurde das Opfer im Rachen zer- on eut Oberharz- Sudetische -Br sc Paläontologen aus der Nord- ab he Schwelle Insel knackt. an S deutschen Tiefebene auf die fer- ter ch Daß solche blutrünstigen Ti- M we as l nen Dino-Dorados in China,Ar- siv le tanen einst auch durchs platt- gentinien oder Colorado. Das ei- deutsche Land streiften, hat die Böhmische gene Terrain schien nichts zu Insel Zunft überrascht. Niedersachsen bieten. Kieselschwamm- und Nordrhein-Westfalen stan- Nun wendet sich das Blatt. und Korallen- den im Jura weitgehend unter Riffgürtel Angestoßen durch den Saurier- vor 150 Millio- Wasser. Die neuen Saurierfossi- experten Raymund Windolf, der Tethys-Becken nen Jahren lien sind allesamt in Meeresse- 1993 das Buch „Dinosaurier in Zentral-Massiv Festland dimente eingeschlossen. Deutschland“ schrieb, beackert Meer Wie aber – großes Kopfzer- die Zunft wieder lustvoller den In der erdgeschichtlichen Epoche des Oberjura, vor brechen – gerieten große Land- heimischen Grund. 13 neue rund 150 Millionen Jahren, noch bevor sich die Alpen auffalteten, reichte lebewesen in den Ozeanschlick? Fundstellen hat Windolf bislang das Ur-Mittelmeer („Tethys“) bis weit nach Mitteleuropa. Außer dem Skan- Die Forscher haben mögliche ausgemacht – die Tips kamen dinavischen Festland ragten nur „Schwellen“ und Inseln aus dem Wasser. Antworten parat. „Wahrschein- meist von Hobby-Gesteins- Die neuen Dinosaurier-Fossilien wurden allesamt im norddeutschen Flach- lich ragten viel mehr Eilande sammlern. Auf der nächsten land entdeckt und sind in Meeressedimenten eingeschlossen. aus dem jurassischen Urmeer als Paläontologentagung in Karls- ZEIT DER SAURIER bislang angenommen“, vermu- ruhe will Windolf die Knochen- TRIAS JURA KREIDE tet Broschinski. Vielleicht konn- Fundorte offenlegen. 245 208Millionen Jahre 145 65 ten die dickleibigen Ungetüme Einige Details sickerten be- sogar über weite Strecken reits durch. So haben Experten durchs Flachwasser waten und vom Naturkunde-Museum in Münster ein Das Museum verhängte eine Nachrich- zwischen den Eilanden hin und her pen- gewaltiges Raubreptil („Theropode“) ge- tensperre und ordnete eine sofortige deln. ortet, das in einem stillgelegten Steinbruch Grabung an. Selbst ein Kontakt mit den amerikani- bei Minden liegt. „Ein absoluter Knüller“, Blockweise wurde das schräg im Erd- schen Landmassen scheint nicht ausge- bestätigt Klaus-Peter Lanser von der reich liegende Skelett aus dem Gestein ge- schlossen. Vor 150 Millionen Jahren war paläontologischen Abteilung auf Nach- brochen und ins Labor verfrachtet. Rip- der zerbrochene Großkontinent Pangäa frage. „Das Tier gehört einer unbekann- pen, Wirbel, Fußwurzelknochen und ein noch kaum auseinandergedriftet. Das Ge- ten Spezies an.“ Wadenbein konnten die Präparatoren frei- biet der heutigen USA lag nur wenig von Bereits am 14. Oktober letzten Jahres legen. Dann setzte Schneefall ein. Die Ak- Europa entfernt. Furten oder Inselketten war der herausgewitterte Schädel der tion zur Bergung des Godzillas aus dem könnten als Verbindung gedient haben. Echse bei einer Routinebegehung des Wiehengebirge mußte gestoppt werden. Die Fauna der beiden Erdteile jedenfalls Geländes entdeckt worden. „Ein Mitar- Auf das Knochenpuzzle kann sich Lanser ähnelte sich auf verblüffende Weise. Auch beiter stand plötzlich auf einem knir- bislang keinen Reim machen. Der Thero- im heutigen Deutschland stapften Stego- schenden Saurierschädel“, erzählt Lanser. pode, etwa zwölf Meter groß, besaß einen saurier (bei Ahrensburg nahe Hamburg entdeckt) und schlanke Dryosaurier durchs Gehölz. Selbst der Brachiosaurier, ein 100- Tonnen-Riese (Hauptfundort: Colorado), konnte jetzt an der jurassischen Waterkant nachgewiesen werden. Den Beweis für diesen Dino-Clou Num- mer drei hat der Fossiliensammler Harry Breitkreuz geliefert. Bei einem Rundgang im Steinbruch Nettelstedt waren dem Pri- vatmann „drei betonartige Geröll-Linsen“ aufgefallen, wie er erzählt. Breitkreuz schleppte die Sedimentfladen nach Hause.Auch einen 4,6 Meter langen

Mindener

J. SIEGMANN J. Dinosaurier-Zahn Fossiliensammler Breitkreuz: Mit dem Zahnarztbohrer in die Echsenwelt Größe einer Banane A. HUB-RÖSNER / LAIF

der spiegel 12/1999 215 216 nceaaye rae,daßdasEx- Knochenanalysen ergaben, Modell ineinenComputereingespeist. abgetastet undalsdreidimensionales Meßpunkten miteinemLaserscanner 000 wurde dasSkelett zuerst an600 Naturkundemuseum Berlin. in Tansania entdecktund stehtheuteim wurde imJahr 1911 es ist23Meterlang, DasFossil, nes Brachiosaurus brancai. weit ambestenerhaltene–Skelett ei- jekt dientedenForschern das–welt- AlsStudienob- der Jurazeit erstellen. Steckbrief dieserSchwergewichte aus ten sieerstmalseinenanatomischen Mit einemneuartigen Verfahren konn- den Spekulationen einEndebereitet. logen Hanns-ChristianGunga haben für übertrieben. wichtsschätzungen von über50 Tonnen dere Paläontologen hieltenKörperge- Fleischmassen erdrückt zuwerden.An- umnichtvon deneigenen ser lagen, daß dieReptilienüberwiegend im Was- Einige Expertenglaubten, ge einRätsel. war lan- schen Mähmaschinenaussah, gewesen sein“. „könnte etwa 45Meterlang Carpenter, glaubt derUS-Paläontologe Kenneth Dasvollständige Tier, wirbel zutage. monströser 2,4Metergroßer Rücken- Im vorletzten Jahr kambeiDenver ein „50 bis100 Tonnen“ geschätzt wird. deren Gewicht auf „Argentinosaurus“, José Bonaparte die40-Meter-Echse Jahr 1993 beschrieb derSüdamerikaner Im ten wohl nochwuchtigere Arten. Doch esexistier- von über30Metern. Ererreichte Längen Staat Colorado). lange der„Supersaurus“(Fundort: US- ler Zeiteneingestuft. – werden alsgrößte Landlebewesen al- peitschenartige Schwänze lange Hälse, Diese pflanzenfressenden Monstren – wicklung waren dieBrachiosauriden. Gipfel derEnt- galomanie inMode. InderFauna kamdieMe- Wettrüsten. V Bluthochdruck Für dielebensnahe Rekonstruktion Mediziner umdenBerliner Physio- Wie dasInnenleben dieserarchai- Als Rekordhalter derGruppegalt Riesenreptils Brachiosaurus bislang schwer erklärbaren – begann dieNatur miteinem– or rund150MillionenJahren Echse mit Der Körperbau des wurde enträtselt. Wissenschaft Brachiosaurus-Skelett imMuseumfürNaturkunde,Berlin Brachiosaurus-Skelett imMuseumfürNaturkunde,Berlin Grenze desGrößenwachstums.“ naheanderbiologischen ges Reptil, Fazit: „Brachiosaurus war einbehäbi- Gungas mal pro MinuteLuftzuholen. 516 Liternbrauchte derRiesenurdrei- ten Autoreifen. Druck ineinemschlechtaufgepump- vergleichbar dem 0,9 barerzeugen, mußtedasHerz einenDruckvon gen, zen sitzenden Kopf mitBlutzuversor- acht MeterüberdemHer- Umden Kleiderschrank. Lunge war größer alsein die Badewannen voll Blut, In seinen Adern wogten 26 74 Tonnen aufdie Waage. Lebzeiten einGewicht von ager von Berlin brachte zu ches Bild:DerDino-Teen- werks ergab einerstaunli- exakt berechnen. wechsel von Lebewesen Organgröße undStoff- lassen sichKörpermasse, matischen Standardformeln Mitdiesenmathe- tionen. ter allometrischerFunk- die Medizinersogenann- Alter von etwa 20Jahren. Esstarbim wachsen war. emplar nichtganz ausge- Bei einem Atemzugsvolumen von Das Resultat desZahlen- Sodann bedientensich der spiegel der spiegel Nahrungsbedarf Lungenvolumen Hautoberfläche Gesamtgewicht Brachiosaurus brancai Höchsttempo Blutvolumen Herzgewicht 12/1999

A. HUB-RÖSNER / LAIF Paläontologe Lanser, Mitarbeiter*: Skelett 10 bis15Km/h rien proTag Kilokalo- 344000 3659 Liter 360 Kilogramm Blättern entspricht drei AtemzügeproMinute proMinute 15 Schläge 386 Kilogramm 139 Quadratmeter 74,4 Tonnen 11,5 Tonnen 5,8 Kubikmeter erzeugte Fermentationswärme war sogroß, Diebeider VerdauungGrünzeug pro Tag. saurier verdrückten mindestens 360Kilo Ausgewachsene Brachio- rechnet haben. Klinikum BenjaminFranklin inBerlin er- wieMedizinervom Spezies war ungeheuer, Der Appetit der Nahrung finden konnte. rier indieser Wasserwelt überhauptgenug wurde. reißenden FlüsseninsMeerhinausgespült * MiteinemKnochen desMindenerRaubsauriers. bnal titgit wiederBrachiosau- Ebenfalls strittigist,

P. HENDRICKS/AGENTUR FOCUS einer Inselstarbundvon daßesauf bar wäre auch, Denk- in ein Wasserloch. bei einer Wattwanderung weder plumpstedas Tier Ent- zwei Todesszenarien. tieren dieExpertenderzeit disku- Biotop zuerklären, losses ineinemmarinen len stapften. durch Nordrhein-Westfa- Erdgeschichte einstauch größten Landtiere der daßdie Beweis dafür, Fossilschutt –einklarer nes Brachiosaurus ausdem Schienbein undKlaueei- Schließlich schälte Breitkreuz Zähne, Vorschein. krötenpanzer kamenzum dilschädel undSchild- Kroko- von Flugsauriern, Röhrenknochen schaffen. backenen Gesteinzu an demzusammenge- chen undZahnarztbohrer Enthusiast mitHämmer- ne Garage. wuchtete derManninsei- petrifizierten Baumstamm Um diePräsenz desKo- Dann machtesichder Plumpsten Raubsaurier ins Plumpsten Raubsaurier daß sich die Geschöpfe in Wasserlachen abkühlen mußten (siehe Kasten Seite 216). Auch über das Wachstum der Gigan- ten liegen neue Erkenntnisse vor. Der Bonner Paläontologe Martin Sander hat Brachiosaurierknochen aufgebohrt und die Wachstumsringe gezählt. Sein Resul- tat: „Die Reptilien schossen in den ersten elf Jahren extrem schnell in die Höhe.“ Dann verlangsamte sich das Tempo, wohl wegen der einsetzenden Geschlechtsrei- fe. Ausgereift waren die Titanen mit 25 Jahren. Ihr Höchstalter lag bei etwa 50 Jahren. Anatomisch bringen solche biologischen Großsysteme allerlei Malaisen mit sich. Viele pflanzenfressende Großsaurier be- saßen starre Arterien, um den Blutdruck abzufangen. Bei ihren Wanderungen be- wegten sich die Tiere wie in Zeitlupe. Der Grund: Bei abrupten Bewegungsänderun- gen hätten die Fleischmassen sonst die eigenen Knochen gebrochen. Dennoch führte die Natur den Riesen- wuchs auch bei der fleischfressenden Kon- kurrenz ein. Der Allosaurus wog minde- stens fünf Tonnen. Sein berühmter Nach- fahr Tyrannosaurus Rex, er erschien erst kurz vor dem Massentod der Dinos, hätte mit einem Haps einen Ochsen verschlingen können. In den neuen Szenarien der Paläontologen agiert die schreckliche Echse allerdings nur noch als Aasfresser. Die Forscher hegen Zweifel, ob sich das feiste Wesen über- haupt zur Beutejagd eignete. „Schon bei einer Geschwin- digkeit von 36 km/h wäre je- der Bauchklatscher tödlich gewesen“, meint der US-For- scher James Farlow. Strau- chelnde Tiere wären vom ei- genen Leib erdrückt worden. Daß die Reste solcher Mon- stren nun auch in Deutsch- land auftauchen, vernimmt die ausländische Kollegen- schaft mit Verwunderung.Vor allem der exotische Godzilla aus dem Juragestein bei Min- den gibt zum Staunen Anlaß. Urmeer? Das Raubtier lebte vor etwa 160 Millionen Jahren; sein Gebiß ist in noch keinem Lehrbuch be- schrieben. Die Experten aus Münster brennen dar- auf, bald mehr Details über die Bestie zu er- fahren. Noch liegt das Fossil halb verborgen im Erdreich. Die Landesregierung hat 50 000 Mark für eine „große Grabungs- maßnahme“ bewilligt. Für diesen Montag wurde eine Pressekonferenz anberaumt. „Unsere Präparatoren sind bereit“, sagt Lanser, „wenn das Wetter mitspielt, schla- gen wir nächste Woche los.“ Matthias Schulz

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Verglichen mit Burkholders neu ent- decktem Mikroorganismus erscheinen der- MEERESBIOLOGIE lei Kreaturen nahezu harmlos. Denn Pfie- steria piscicida, wie die Forscherin ihren Fund taufte, ist nicht bloß eine giftige Alge Vampir unter Wasser – sie ist ein Raubtier. Aktiv stellt der rund ein hundertstel Millimeter große Einzeller Vor der nordamerikanischen Küste tötet eine Einzellerart ausgewachsenen Fischen nach; seine Gift- mixtur enthält neben einem hochwirksa- Millionen von Fischen. Experten gelten solche men Neurotoxin einen Stoff, der mark- Giftalgenblüten als Symptom für das Siechtum der Weltmeere. stückgroße Löcher in die Haut der Opfer frißt. In diese Wunden schiebt Pfiesteria en plötzlichen Tod seiner 50 La- In weiteren Experimenten tötete es Gold- ihren Saugrüssel und labt sich vampirgleich borfische konnte sich Stephen fische, Streifenbarsche, afrikanische Tila- an den Körpersäften ihrer Beute. DSmith, Doktorand an der North pias, manchmal binnen Minuten. Stets ver- In Hungerzeiten kann Pfiesteria jahre- Carolina State University, nicht recht er- fielen die Opfer in tänzerische Zuckungen, lang als eingekapselte Zyste auf dem Ge- klären. Die Wasserqualität schien in Ord- bevor sie krepierten. Und immer tauchten wässergrund ausharren. Ziehen dann nung; auffällig waren nur die Wolken win- wie aus dem Nichts die rätselhaften Mikro- Fischschwärme vorbei, wecken vermutlich ziger Einzeller, die sich im Aquarium tum- organismen auf, um nach kurzer Zeit wie- ihre Ausscheidungen den Appetit des melten. Der Forscher wechselte das Wasser der zu verschwinden. scheintoten Einzellers. Insgesamt tritt der und setzte neue Fische aus. Kurz darauf Schließlich erkannte eine Kollegin, die Verwandlungskünstler in mindestens 24 verendeten auch sie. Botanikerin JoAnn Burkholder, den Ein- Lebensformen auf. Mal mutiert er zur sta- Was immer sich in Smiths Aquarium ein- zeller als Geißeltierchen einer bislang un- chelbewehrten Amöbe, mal raubt er an- genistet haben mochte, es war mörderisch. bekannten Spezies. Unter den sogenannten deren Algen ihre Energiefabriken, die Chloroplasten, und lebt von Photosynthese; in manchen Stadien ähnelt er einem Tier, dann wieder einer Pflanze. So bizarr erscheint der Mi- kroorganismus, daß kaum je- mand Burkholders Beobach- tungen Glauben schenken mochte.Als die Biologin über- dies warnte, die Killeralge sei nicht nur Ursache des alljähr- lichen Fischsterbens in North Carolina, sondern gefährde auch Menschenleben, wurde sie von Kollegen und Umwelt- bürokraten als hysterisch be- schimpft. Ihre Studien wurden verrissen, Fördergelder blie- ben aus. Burkholders Kampf um wissenschaftliche Aner- kennung gleicht einem Krimi; jetzt ist die Geschichte als Buch erschienen**. Am eigenen Leib erfuhren Burkholder und ihr Assistent

FIRST / ZEFA Howard Glasgow, wie tückisch Algenschaum am Nordseestrand: Lachszüchter an den Rand des Ruins gebracht das Algengift wirkt. Da das Lüftungssystem in ihrem La- Dinoflagellaten, skurrilen Geschöpfen, die bor mangelhaft funktionierte, atmeten bei- mit Hilfe ihrer Geißeln gleichsam propel- de über längere Zeit kleinste Tröpfchen lergetrieben durchs Wasser flitzen, sind ei- der Pfiesteria-Kulturen ein. Bald litten sie nige Arten als Giftschleudern bekannt. an Atembeschwerden, Schwindel und Ge- Erst im letzten August standen Muschel- dächtnislücken. „Vor dem Laborunfall“, fabriken in Nordfriesland mehrere Wochen erinnert sich Burkholder, „hatte ich ein ge- lang still: Die Ware war durch den Einzel- radezu fotografisches Gedächtnis. Jetzt ist ler Dinophysis acuminata verdorben, dessen es nicht mehr dasselbe.“ Gift Erbrechen auslöst. Andere Dinoflagel- Schlimmer noch traf es Glasgow, dessen laten sind Verursacher der weit gefährliche- Persönlichkeit sich zu verändern begann: ren „roten Tide“, die das Meer blutrot oder Er wurde reizbar, brach in unkontrollierte braun färbt und delikate Schalentiere in Wutanfälle aus und fand schließlich den eine Henkersmahlzeit verwandeln kann. Heimweg von der Arbeit nicht mehr. Über ähnliche Symptome klagten Ang-

DPA ler und Wassersportler, die während eines * 1988 vor der norwegischen Küste. Fischsterben nach Algenblüte* ** Rodney Barker: „Killeralgen“. Scherz Verlag, Bern; Fischsterbens mit verseuchten Fluten in Normal wie Giftpilze im Wald? 352 Seiten; 39,90 Mark. Berührung gekommen waren. Seit Jahren

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Werbeseite Wissenschaft krepieren Sommer für Sommer in North Zwar existiert die tückische Pfiesteria in eu- Carolina Millionen von Fischen; 1997 war ropäischen Gewässern nicht, doch tötete auch im Bundesstaat Maryland die Chesa- 1988 die Giftalge Chrysochromulina poly- peake Bay betroffen. lepis vor den Küsten Skandinaviens Aber- Doch das Wüten der „Cell from Hell“, tausende von Fischen und brachte norwe- wie US-Medien den Einzeller getauft ha- gische Lachszüchter an den Rand des Ruins. ben, ist nur das spektakulärste Symptom Um die Muschelindustrie lahmzulegen, einer Krankheit, die Gewässer in aller Welt reichen mitunter, wie im vergangenen infiziert hat. „Überall haben sich die Pro- Sommer, schon kleinere Vorkommen der bleme durch blühende Giftalgen in den fiesen Einzeller – sie bescherten, schätzt letzten beiden Jahrzehnten verschärft“, Elbrächter, der Branche eine halbe Million sagt Donald Anderson vom Ozeanogra- Mark Verlust. Da die Muscheln durch stren- phischen Institut in Woods Hole. ge Kontrollen ausgesondert wurden, be- Wissenschaftler der Harvard Medical stand für Menschen keine Gefahr. In Ent- School stellten kürzlich eine Studie vor, wicklungsländern dagegen erkranken all- die eine Häufung von Epidemien unter jährlich Tausende von Menschen durch al- Wasser dokumentiert. Neben den ver- genvergiftetes Meeresgetier. mehrten Giftattacken durch Algen traten in Auch wenn es Killeralgen schon immer den letzten Jahren mehrere neuartige Ko- gegeben hat – sicher ist, daß die Überdün- rallenkrankheiten auf, dazu Infektionen, die Seegraswie- sen dahinraffen, und merk- würdige Geschwüre an Mee- resschildkröten. Vielen Experten gelten die submarinen Seuchen als Zei- chen für den kritischen Zu- stand der Weltmeere insge- samt. Geschwächt durch Schadstoffströme, Überfi- schung und rücksichtslose Er- schließung der Küsten, sei der gesamte Lebensraum von

chronischem Siechtum be- CAROLINA UNIVERSITY OF NORTH droht. Möglicherweise wirkt Biologin Burkholder: Morddrohungen am Telefon sich auch die Klimaerwär- mung verhängnisvoll aus: Die Harvard- gung von Flüssen und Küstengewässern ihr Studie lege „einen signifikanten Einfluß Wachstum begünstigt. So wies JoAnn des Klimas auf das Zusammenspiel von Burkholder nach, daß Pfiesteria vor allem Krankheitserregern, Wirten und Umwelt“ in Flußmündungen ihr Unwesen treibt, die nahe, sagt Mitverfasser Paul Epstein. stark durch Abwässer aus Schweinefabri- „Der Ozean ist in Bedrängnis“, mahnt ken und Geflügelfarmen verschmutzt sind. Sylvia Earle, Star der US-Meeresforschung. Dies trug ihr telefonische Morddrohungen Harvard-Forscher Eric Chivian fragt: „Sind ein – die Schweinemast gehört zu den ein- die Meeresorganismen für uns heute das, träglichsten Industrien North Carolinas. was einst die Kanarienvögel in den Berg- Kein Wunder, daß Burkholders War- werken waren“ – Indikatoren für herauf- nungen bei den Behörden des Bundesstaats ziehende Gefahr? jahrelang ins Leere liefen. Obwohl Urlau- Nicht alle Meeresbiologen teilen derlei ber in der Algenbrühe paddelten und Befürchtungen. „Toxische Algen sind ein schwammen, weigerten sich die Umwelt- völlig normales Phänomen“, meint Malte bürokraten, Flußufer zu sperren, wenn der Elbrächter vom Alfred-Wegener-Institut in Unterwasser-Vampir sein Unwesen trieb. Bremerhaven, „wie Giftpilze im Wald.“ Eine Gefahr für die menschliche Gesund- Schon die Bibel beschreibt offenbar eine heit sei schließlich nicht nachgewiesen. Algenblüte: „Und alles Wasser wurde in Erst als eine Studie aus Maryland Pfie- Blut verwandelt“, heißt es im Zweiten steria-Opfern Gedächtnisverlust und Lern- Buch Mose, „die Fische starben, und der probleme bescheinigte, lenkten die Behör- Strom stank, so daß die Ägypter das Was- den ein. Bald darauf würdigte die US-Wis- ser aus dem Nil nicht trinken konnten.“ senschaftsgesellschaft AAAS Burkholders Denkbar sei, vermutet Elbrächter, daß Hartnäckigkeit mit einem Forscherpreis. den Killeralgen heute einfach mehr Auf- Damit war die als Querulantin geschol- merksamkeit geschenkt werde als früher, tene Biologin rehabilitiert. Bezahlt hat weil sie – eine Folge des Booms von Fisch- sie für diesen Triumph einen hohen Preis: farmen und anderen Aquakulturen – Pfiesteria schädigt möglicherweise dauer- größere wirtschaftliche Schäden anrichten. haft ihr Immunsystem. „In den letzten fünf Auch in der Nordsee wuchern jeden Jahren hatte ich 13 Lungenentzündungen“, Sommer die Algen. Es sei, so Elbrächter, klagt Burkholder, „im Durchschnitt „nur eine Frage der Zeit, bis sich wieder schlucke ich an 120 Tagen im Jahr Anti- eine toxische Art massenhaft vermehrt“. biotika.“ Alexandra Rigos

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chen des Kindes und auf seiner Wiege ver- lung macht, finden Rat auf der Website von FORTPFLANZUNG kaufen. BabyCenter. Interessierten Eltern bietet Wenn es was abzustauben gibt und wenn der Online-Versand dort ein „Millennium- Mindestens frivol Kameras in der Nähe sind, verstärkt das of- Empfängnis-Set“ für 49,99 Dollar an. Das fenbar den gezielten Kinderwunsch: Kistchen mit der neckischen roten Schlei- Die Millennium-Vorfreude π In China machte das Gerücht die Run- fe enthält alle Zutaten, die das Paar nicht de, die Weltgesundheitsorganisation selber beisteuern muß, um dem Jahrhun- beginnt für manche WHO werde den Müttern von Neujahrs- dert-Ei auf die Sprünge zu helfen: einen Paare schon Anfang April – kindern Preise verleihen – mehrere Chi- Führer mit Instruktionen zur optimalen dann müssen Jahrtau- nesinnen brachen daraufhin bestehen- Begattungsplanung, ein Eisprung-Vorher- send-Kinder gezeugt werden. de Schwangerschaften ab, um das Timing sage-Kit, einen Schwangerschaftstest, zu verbessern. außerdem zwei rote Kerzen, handgezogen, n den Abenden um den 9.April her- π In Christchurch, Neuseeland, hält die und Massageöl mit Schlüsselblumenduft. um könnte es ruhig werden in den Radiostation 91ZM für das erste Jahr- All das wird den Möchtegern-Millen- AStädten dieser Welt – eine erwar- tausend-Baby Geschenke bereit: Win- nium-Müttern indes nicht helfen, wenn tungsvolle Stille, die nur gelegentlich deln, Kinderwagen, Wiege. Die Organi- ihre Eizelle nicht im richtigen Zyklus durchschnitten wird von einem Juch- satoren wollen ein „Liebesnest“ errich- springt. Nur Frauen, die am 27. März ihre zer, Schrei oder Seufzer, der aus den Fen- ten, eine Art Zeltdorf für mehr als 20 Periode bekommen, werden zum 9. April stern hinaus in die leeren Straßen hallt. Paare, die gewillt sind, dort am 9. April fruchtbar sein – falls ihre Biologie einem Der Grund dafür, daß so viele regelmäßigen 28-Tage-Rhythmus Menschen zu Hause bleiben: Sie folgt. machen Liebe, ohne Pille und Zwar kann mit gezielter Ein- Kondom. Ihr Ziel: das Millenni- nahme einiger Antibabypillen die um-Baby zu zeugen; ihr Sproß soll Menstruation vorgezogen und da- seinen ersten Atem am 1. 1. 2000 mit der Zyklus künstlich um- in die Welt brüllen, genau zu Be- gestellt werden, aber solche Ma- ginn des neuen Jahrtausends. Und nipulation hätte schon Monate dafür müssen die Eltern am 9. zuvor geschehen müssen und ga- April den Keim legen. rantiert keineswegs einen termin- Der „Guardian“ berichtet von gerechten Eisprung, da ein einmal einer geschätzten Steigerung der gestörtes Bio-Uhrwerk nicht etwa Geburtenrate im Jahr 2000 um 1,5 mit größerer Akkuratesse läuft. Prozent. Eine Kundenbefragung Eine pünktliche Ovulation vor- der britischen Ladenkette Tesco ausgesetzt, bietet die BabyCenter- ergab, daß eines von zehn Paaren Website technische Tips zu der innerhalb der nächsten Wochen Frage, wie die Begattung selbst probieren wird, das Millennium- zum Erfolgserlebnis wird – Kind zu produzieren. Laut der einschließlich Hinweisen darauf, Umfrage eines kalifornischen On- daß man es nicht „weiblich-domi- line-Versandhauses (www.baby- nant“ von oben oder im Stehen center.com) finden 45 Prozent der treiben sollte, sondern am besten 440 Befragten, daß dies eine in der Missionarsstellung und mit „ziemlich tolle und lebensbeja- Kissen unter der Hüfte. hende Art ist, eine neue Ära ein- „Das ist totaler Blödsinn“, sa- zuleiten“. gen Fortpflanzungsmediziner wie Wie viele interessierte Paare es Christo Zouves von den Pacific auch geben mag – der Baby-Hype Fertility Centers in San Francisco. läuft weltweit schon auf vollen Selbst wenn die Paare vom Ei- Touren. In England füllen Läden sprung bis zur Zellverschmelzung ihre Regale mit Schwanger- die Biologie komplett beherrsch- schaftstests und Accessoires für ten, erläutert der Arzt, sei nicht ge- werdende Jahrtausend-Mütter. In sagt, daß das Millennium-Ei exakt Deutschland bewirbt die Firma das Mittel von 266 Tagen braucht, Much ihren Eisprungtest Clear- um sich zum Neujahrs-Schreihals blue mit den sinnigen Worten „Al- zu entwickeln. „Es kann nach 37

les clear fürs Baby 2000“. / GAMMA STUDIO X XINHUA Wochen auf die Welt kommen Eine weitere US-amerikanische Neugeborene (in China): „Lebensbejahend in die neue Ära“ oder erst nach 42 Wochen – das ist Website, Everything2000, hat be- die normale Spanne der Natur.“ reits eine Liste von Freiwilligen ins Inter- „ins Bett zu hopsen“ (Pressetext). Auch Zouves findet, wie die meisten seiner net gestellt: Bei ihnen soll die Millennium- der britische Fernsehsender ITV plant Kollegen weltweit, das Rennen ums Millen- Babymacherei von der Zeugung bis zur im April eine „Bumsnacht“. nium-Baby völlig irrsinnig. „Die Wahr- Geburt dokumentiert werden. π Yorkshire Television hat das „Geburten- scheinlichkeit, das Kind tatsächlich am 1. 1. Ein Arzt, der in London Fruchtbarkeits- rennen 2000“ ausgerufen, eine Doku- 2000 zu gebären, liegt, selbst wenn man al- behandlungen durchführt, berichtete dem mentation über Millennium-Eltern und les richtig macht, im einstelligen Prozent- „Mirror“, daß ein Paar ihn gebeten habe, deren Kinder: Sie sollen durchs Leben bereich“, erklärt Zouves. es bei der Produktion eines Jahrtausend- begleitet werden – wie der Held in dem „Das ist mindestens ein frivoles Unter- Babys ärztlich zu unterstützen – die Eltern Film „Truman Show“. fangen“, sagt der Gynäkologe. „Auf jeden in spe wollen, sollte das gelingen, Anzei- Paare, die noch nicht recht wissen, wie Fall aber zumeist ein vergebliches.“ genplatz auf den Stramplern und Hemd- man ein termingerechtes Kind auf Bestel- Rafaela von Bredow

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worfen. Sie erscheinen zu wenig plausibel, während eine andere Theorie der Ermitt- ler zunehmend an Boden gewinnt. Sie zielt auf eine Schwäche im System und könnte Hersteller und Zulieferer arg in Bedräng- nis bringen. Für die Elektronik herrschen an Bord eines Automobils extrem schlechte Ar- beitsbedingungen. Temperaturschwankun- gen, Nässe und Erschütterungen kön- nen ständig die Schaltkreise stören und Fehlfunktionen auslösen. Aus diesem Grund vollzieht das gesamte Programm im Steuergerät des Airbag-Systems, ein- schließlich der nachträglich eingegebe- nen Daten zur Stillegung des Beifahrer- Prallsacks, eine ununterbrochene Selbst- kontrolle. Tritt bei diesem Quersummen-Check ein Fehler auf, schaltet das Gerät sofort auf ein Notlaufprogramm um; dazu bedient es sich der fest in die Steuerplatte einge- brannten Basisdaten. Die Entwickler spre- chen hier vom „Read-Only-Memory“, kurz „Rom“. Beifahrer-Airbag im Crashtest: „Jeden Moment kann etwas Saublödes passieren“ Auf dieser Behelfsebene existiert jedoch nur noch ein simpler Steuerbefehl: Im Fal- le eines Aufpralls werden alle Airbags ge- AUTOMOBILE zündet. Die einprogrammierte Deaktivie- rung ist dann Makulatur. So kann das Si- gnal aus dem Rom-Datenspeicher für das Vom Retter erschlagen Kind im Reboard-Sitz zur tödlichen Bot- schaft werden. Der fehlgezündete Beifahrer-Airbag eines VW Golf Wenn ein solcher Ablauf theoretisch möglich ist, dann – so meint ein Airbag-Ex- tötete ein Kind. Die Ermittler fragen sich: perte eines anderen Herstellers – sei den Ist ein „Denkfehler“ in der Software die Ursache? Entwicklern des deaktivierbaren Golf- Prallsacks womöglich „ein m ersten Weihnachtsfeiertag kehr- grundsätzlicher logischer te der Dachdecker Andreas P. mit Fehler“ unterlaufen. VW Aseiner Familie von den Eltern in Er- und Siemens geben, solan- ding zurück. Seine Frau Andrea saß im ge die Ermittlungen an- Fond, die drei Monate alte Tochter Fran- dauern, keine Stellung- ziska vorn in einem gegen die Fahrtrich- nahme dazu ab. tung eingebauten Kleinkindersitz. Festzustellen ist jedoch, Um 15.50 Uhr prallte der VW Golf fron- daß andere Hersteller, tal mit einem entgegenkommenden Pkw etwa Ford und Opel, zusammen. Vater und Mutter überlebten grundsätzlich keine sol- mit leichten Verletzungen. Das Kind wur- chen Deaktivierungen vor- de getötet, erschlagen von der Wucht des nehmen. Sie verweisen Beifahrer-Airbags. Reboard-Kindersitze kate- Die Eltern traf keine Schuld. Sie wußten, gorisch auf die hintere daß rückwärtsgewandte Sitzschalen für Sitzbank.

Säuglinge nur dann vorn eingebaut werden / ARGUS R. JANKE Mercedes und BMW le- dürfen, wenn das Auto keinen Prallsack Reboard-Kindersitz: Der Prallsack wird zur Keule gen den Beifahrer-Prall- auf der Beifahrerseite hat oder dieser ab- sack auf Wunsch der Kun- geschaltet wurde. In einer Fachwerkstatt, klärungsmodelle an: Der tödliche Impuls den still, trennen ihn dann aber vollständig ganz nach VW-Vorschrift, hatten sie den könne entweder von der Hauptstromleitung ab, womit Airbag deaktivieren lassen. Er zündete π „durch eine Spannungsspitze im Bord- sämtliche Gefahren einer Fehlauslösung trotzdem. netz aufgrund einer während des gebannt sind.Auch VW bietet seit dem Er- Seit inzwischen drei Monaten sucht die Crashs zerstörten Batterie“ oder dinger Unglück diesen Eingriff an – ein Staatsanwaltschaft Landshut nach der Ur- π „durch elektrostatische Entladungen in Eingeständnis, daß die schlichte Software- sache der Fehlzündung. Volkswagen und Gegenden mit elektrischen Feldern un- Lösung Risiken birgt? der Zulieferer Siemens, der die Airbag- zulässig großer Feldstärke“ erzeugt wor- Lediglich die von Mercedes eingeführte Elektronik für den Golf III entwickelte, ha- den sein. automatische Kindersitzerkennung, bei der ben keinen Zugang zu dem beschlag- Beide Theorien werden von den Exper- der Airbag durch ein Funksignal aus der nahmten Auto und beschränkten sich bis- ten der Technischen Universität München, Sitzschale abgeschaltet und bei ihrem Aus- her auf vage Ferndiagnosen. VW bot in ei- die den Unfall-Golf im Auftrag des Staats- bau automatisch wieder geschärft wird, ner öffentlichen Stellungnahme zwei Er- anwalts untersuchen, voraussichtlich ver- wirkt ausschließlich auf die Software, weil

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Werbeseite Technik es sich technisch nicht anders lösen läßt. Die Unfallforscher im Gesamtverband Um tödliche Fehlauslösungen zu verhin- der deutschen Versicherungswirtschaft dern, wurde hier jedoch eine „Fail-Safe- untersuchten den Tod einer Taxipassagie- Logik“ mit anderen Vorzeichen ange- rin nach einem vergleichsweise leich- wandt, sagt Ingo Kallina, Leiter der Si- ten Aufprall auf eine Straßenbahn. Ergeb- cherheitsentwicklung bei Mercedes-Benz: nis: Die „relativ kleine Frau“ saß „viel Auf der Rom-Ebene, in die das System bei zu nah vor dem Airbag“ und erlitt ei- Störungen zurückschaltet, werde bei die- nen Wirbelsäulenbruch. Daß der Her- sem System der Beifahrer-Airbag grund- steller entsprechend weite Verstellmög- sätzlich nicht gezündet. lichkeit des Sitzes überhaupt zuläßt, Das Debakel um den Golf-Airbag trifft kritisierten die Experten der Versiche- einen Zweig der Automobilentwicklung, rer nicht. der sich „seit Jahren gegen konstruktive Die Entwickler haben das Problem sehr Kritik abschottet“, wie der Freiburger Un- wohl erkannt. Das zeigt sich an einer fallsachverständige Ulrich Löhle behaup- jüngst eingeführten Innovation, in deren tet. „Verletzungen durch Airbags wurden Genuß allerdings vorerst nur Kunden immer auf das Fehlverhalten der Insassen extrem teurer Luxusautos kommen wer- zurückgeführt und nicht auf technische den. In der neuen S-Klasse (Preise ab Unzulänglichkeiten.“ Beharrlich warnt der 114260 Mark) bietet Mercedes als erster promovierte Physiker vor einer naiven Hersteller eine zweistufige Airbag-Akti- Prallsack-Euphorie, die statt dringend nöti- vierung auf der Beifahrerseite an. Steht ger Verbesserungen eine wilde Diversifi- der Sitz weit vorn, füllt sich der Sack nur zierung vorantreibt. mit einer kleineren Gasladung. Auch Sein Vorwurf: Statt die Technik von Fahrer- und Beifahrer-Airbag gründ- licher abzusichern, ver- folgten die Hersteller – eindruckheischend – die Entwicklung von Seiten- Airbags, deren Schutzwir- kung schon wegen der kleineren Deformations- zonen Grenzen hat. Kriti- ker, sagt Löhle, würden oft „in eine unseriöse Ecke gedrängt“, weil sie ein im Prinzip segensreiches Instrumentarium attak-

kieren. G. HERKNER Doch diese Abwehrhal- Unfall-Golf bei Erding: Die Eltern traf keine Schuld tung lenke vom Kern der Diskussion ab. Daß die Luftsäcke im tägli- andere Anbieter, etwa die Ford-Tochter chen Unfallgeschehen weit mehr Leben Visteon, haben Systeme mit dosierter retten als vernichten, sei völlig unstrittig. Zündung inzwischen zur Serienreife ent- Dennoch gebe es keinen Grund, die – wenn wickelt. auch wenigen – Fälle von Airbag-Tötun- Airbag-Kritiker Löhle sieht hier einen gen schicksalsergeben hinzunehmen, denn klaren Fortschritt. Gleichwohl wirft er den sie seien meist Ergebnisse technisch ver- Herstellern vor, die Kunden nie ausrei- meidbarer Systemschwächen oder man- chend über die Gefahren aufgeklärt zu ha- gelnder Kundeninformation. ben. Eine Störung im Airbag-System wird Zu den Opfern zählen nicht nur Kin- dem Fahrer zwar durch eine Warnleuchte der. Löhle hat zwei Unfälle untersucht, bei gemeldet. Doch niemand sagt ihm deut- denen erwachsene Insassen, ein Fahrer lich, daß er dann mit einem lebensbedroh- und ein Beifahrer, höchstwahrscheinlich lichen Risiko unterwegs ist. durch zu spät zündende Airbags erschla- Sollte der Rechner des Unglücks-Golfs gen wurden. Die tödlichen Verletzungen, von Erding tatsächlich auf das Notpro- ein Schädel-Hirn-Trauma und ein Genick- gramm zurückgeschaltet und die Deakti- bruch, waren anders nicht plausibel zu er- vierung außer Kraft gesetzt haben, müßte klären. Der verspätet, aber nicht minder die Warnlampe angegangen sein. explosionsartig aus dem Armaturenbrett Für die Staatsanwaltschaft ergeben sich jagende Sack trifft den durch die Auf- daraus zwei Fragen: Hat der Fahrer die prallwucht bereits zu weit nach vorn Warnlampe gesehen? Und wußte er über- geneigten Passagier mit der Schlagkraft haupt, was das für ihn und sein Kind be- einer Keule. deuten kann? In akuter Lebensgefahr befinden sich Unfallforscher Löhle: „Wenn die Airbag- auch Autoinsassen, die den Sitz ganz nach Lampe aufleuchtet, kann jeden Moment et- vorn gestellt haben: Die Wucht des Luft- was ganz Saublödes passieren – und kaum sacks kann sie töten. jemand weiß das.“ Christian Wüst

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Werbeseite Wissenschaft PIXEL & ZEICHEN Physiker Wixforth, Experiment zur Lichtspeicherung: „Wie lange das geht, müssen wir erst noch herausfinden“

menprallen und ihr kurzes Leben unter PHYSIK Aussendung eines Lichtblitzes wieder aus- hauchen. Wixforth und seine Mitarbeiter fanden U-Haft im Kristall einen Weg, die spontane Vereinigung zu verhindern: Sie lassen eine Schallwelle Münchner Physiker fanden einen Trick, mit durch den Kristall laufen. Dabei nutzen sie aus, daß Galliumarsenid piezoelektrisch ist dem sich Licht auf einen Bruchteil seiner – es verformt sich unter dem Einfluß elek- normalen Geschwindigkeit herunterbremsen läßt. trischer Felder (siehe Graphik Seite 230). Fingerförmige Elektroden auf seiner und 300000 Kilometer legt ein Licht- vorübergehend in Untersuchungshaft neh- Oberfläche lösen unter dem Einfluß einer strahl je Sekunde zurück – zum men läßt. Wechselspannung von etwa einer Milliar- RGlück. Denn bräuchte ein Schimmer Von „Photonenförderbändern“ und de Schwingungen pro Sekunde eine Art vom Moment des Entstehens zum Be- „surfenden Elektronen“ spricht Achim Mini-Beben in dem Kristall aus. Wie eine trachter nach Alltagsmaßstäben nennens- Wixforth, 42, wenn er die Experimente Falte durch ein kräftig gebeuteltes Bettla- werte Zeit, wäre ein Augenblick nicht so erklärt, die die Fachwelt in Erstaunen ken läuft die angeregte Schwingung als kurz wie ein Augenblick. setzen. Er benutzt die trickreiche Kombi- Welle über die Oberfläche. Auch Ingenieure freuen sich über das nation verschiedener physikalischer Ef- Die Wellen sind winzig. Ihre Kämme Tempo, denn so können Lichtimpulse un- fekte, etwa die Veränderung eines Kristalls sind nur einige millionstel Millimeter hoch, geheure Informationsmengen mit aberwit- durch Schallwellen, um das Licht einzu- Berge und Täler liegen rund einen tau- zigen Geschwindigkeiten übermitteln. Un- fangen. sendstel Millimeter auseinander, doch der zählige Kilometer von Glasfaserkabeln Knapp 400000stel Sekunden Speicher- Effekt ist enorm: Das Beben knetet den werden darum Tag für Tag in der Erde ver- zeit konnte er mit seinen Methoden schon Halbleiter mit Drücken von 10 000 Bar graben, um die Datennetze der Zukunft erzielen – nach Lichtmaßstäben eine Ewig- durch, und mit der Welle rast ein elektri- zu knüpfen. keit: Ungehindert wäre das Leuchten in sches Feld von einigen tausend Volt je Zen- Doch bisweilen bereitet die Hurtigkeit dieser Zeit schon zehn Kilometer davon- timeter Stärke durch den Kristall. des Lichts arges Kopfzerbrechen, denn sei- geeilt. Dieses Feld reißt jene Ladungen ausein- ne Strahlen können nicht anders als mit Wixforths Lichtfalle besteht aus einem ander, die durch einfallende Lichtblitze Maximalgeschwindigkeit herumsausen. wenige Millimeter messenden Kristall aus entstehen, und zwingt sie, wie Surfer mit Gern würden Telekommunikationsexper- verschiedenen Galliumarsenid-Verbindun- der Schallwelle über den Kristall zu rei- ten die Lichtnachrichten in optischen Da- gen. Solche sogenannten Quantentöpfe sen. Im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit tennetzen auch ohne Umweg durch elek- sind die Basis vieler Halbleiter-Bauele- bewegen sich die Ladungen nun geradezu tronische Schaltungen weiterverarbeiten, mente, zum Beispiel auch des Lasers, der im Schneckentempo: Während jener Zeit, Informatiker träumen von unvorstellbar im CD-Player die Platten abtastet. in der ein Lichtstrahl schon einen Kilome- schnellen „optischen Computern“ – doch Im Quantentopf sind die Elektronen in ter zurückgelegt hätte, kommen die sur- das scheint utopisch, weil die flüchtigen einer hauchdünnen Schicht unter der fenden Ladungen gerade mal einen Zenti- Lichtblitze sich bisher nicht zum Sortieren Oberfläche des Kristalls gefangen. Trifft meter voran. und Verrechnen einfangen lassen. Licht auf den Halbleiter, entstehen positi- Ein dünner Metallfilm am anderen Ende Münchner Physiker haben einen Aus- ve und negative Ladungen, die normaler- des Kristalls beendet die Untersuchungs- weg aus diesem Dilemma entdeckt: Sie weise unmittelbar, der Kraft ihrer wech- haft. Läuft die Welle auf diesen Strand, fanden eine Methode, mit der sich Licht selseitigen Anziehung folgend, zusam- schließt der Metallbelag das elektrische

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Werbeseite Licht Licht in der Falle Schichtsystem aus Funktionsweise des Galliumarsenid- Metall- erzeugten Ladungen ihrerseits die Aus- Verbindungen belag Photonenspeichers breitung der Schallwelle beeinflussen, läßt sich aus der Analyse des Schalls das Licht- Wechsel- spannung muster auf dem Halbleiterkristall rekon- struieren. Wie ein Computertomograph aus Schatten im Röntgenbild ein Bild des Schall-Erreger Körperinnern errechnet, haben die For- scher in ersten Experimenten schon ein- fache, auf die Probe projizierte Buchstaben Licht Ein Lichtpuls erzeugt Feld kurz – prompt stürzen sich die positive und negative per Computer wieder sichtbar gemacht. gefangenen Ladungen aufeinander Ladungen in einer Selten ist der praktische Nutzen eines und setzen den gespeicherten Schicht eines Gallium- neuen physikalischen Effektes so offen- Lichtblitz wieder frei. arsenid-Kristalls, dem sichtlich wie im Fall des Münchner „Es gibt keinen offensichtlichen Quantentopf. Das elek- Lichtspeichers. Die Forschungslabors der trische Feld einer physikalischen Grund, der der Spei- Schallwelle fängt diese großen Telekommunikationskonzerne ar- cherzeit Grenzen setzt“, erläutert Ladungen ein und trans- beiten seit Jahren daran, die Kapazität der Wixforth, „wie lange das geht, müs- portiert sie weiter. Datenstrecken zu erhöhen – an Lichtwel- sen wir erst noch herausfinden.“ len als Übertragungsmedium führt kein Schon die bereits erreichte Haft- Quantentopf Weg vorbei. zeit ist sensationell lang. Bisher Schallwelle Wixforth erhielt für seine Entdeckung bleibt Technikern ohne Zuhilfe- Metallbelag letztes Jahr den Walter-Schottky-Preis der nahme von Elektronik nichts an- Deutschen Physikalischen Gesellschaft, ders übrig, als kilometerlange doch auch wenn Hochschulpolitiker in Glasfaserumwege, die meist auf Grundsatzreden immer wieder mehr An- klobige Spulen gewickelt sind, in wendungsnähe von den Universitäten for- ihre Netze zu schalten, wenn Licht- dern – Unterstützung für die Weiterent- impulse auch nur millionstel Se- Schallwelle erreicht den Metallbelag wicklung seiner Idee zur Praxisreife fand kunden verzögert werden sollen. Erreicht die Schallwelle der Physiker bisher nicht. Wixforths Kristall-Surfsee könnte den Metallbelag, wird Die Gebühren für mehrere deutsche Pa- die Aufgabe in einem kompakten das elektrische Feld tente auf die Technik zahlten die Forscher Bauelement erfüllen. kurzgeschlossen, die aus eigener Tasche. Den nächsten Schritt, Der Phantasie sind kaum Gren- Ladungen treffen zu- ein Weltpatent, das mit Anwaltsgebühren zen gesetzt: Die in der Schallwelle sammen, und der ge- etwa 100000 Mark kosten würde, können speicherte Lichtpuls gefangenen Lichtblitze lassen sich wird wieder freigesetzt. sie sich nicht leisten. nach Belieben herumschubsen. So Selbst eigens gegründete Patentbera- können zwei Schallwellen, die den tungsstellen für Hochschulforscher geben Kristall im rechten Winkel zueinander umlaufende Schallwellen das eingesperrte Entwicklungen, die auch nur einige Jahre durchqueren, das Licht an beliebige Orte Licht im Kreis bugsieren. „Vielleicht kön- von der Anwendung entfernt sind, kaum auf dem Halbleiter transportieren, bevor nen wir Impulse dann sogar für eine Se- eine Chance: Solche Gremien, so mußte sie es wieder freilassen. So ließen sich Da- kunde festhalten“, mutmaßt Doktorand der Wissenschaftler inzwischen mehrfach ten zwischen verschiedenen Glasfasern Martin Streibl. feststellen, interessierten sich meist nur für hin- und herschalten. Streibl hat, einer spontanen Idee fol- marktreife Bauelemente, „bei denen man Als nächstes wollen die Forscher einen gend, auch noch eine Art Kamera nach nur noch über die Farbe des Gehäuses Kristall präparieren, in dem verschieden diesem Prinzip gebaut.Weil die vom Licht nachzudenken braucht“. Jürgen Scriba Wissenschaft

Fachleute staunten über die Wunderlam- groß wie ein Floh, zusammen. Statt wie PHYSIK pen, mit denen erstmals scharf gebündelte normal kreuz und quer herumzutorkeln, Lichtstrahlen erzeugt werden konnten, die tanzen die Atome auf einmal alle im glei- Eisige Tropfen alle mit gleicher Wellenlänge und Phase chen Takt. Ketterle: „Wenn sie ein solches schwangen. Heute sind Laser ein Massen- Kollektiv bilden, lassen sie sich perfekt „Atomlaser“ heißt die neueste produkt wie Glühbirnen. kontrollieren.“ Atomlaser dürften kaum eine ähnliche Nun sorgen die Physiker nur noch dafür, Erfindung aus den Labors. Verbreitung finden; dafür ist ihre Herstel- daß die im Magnet-Käfig eingesperrten Mit der Teilchenkanone könnten lung technisch zu aufwendig. Um die Ato- Atome geordnet entkommen können. Da- schnellere Computer und me, die Bausteine der Materie, dazu zu zu werden die Magnetfelder mit Radio- genauere Uhren gebaut werden. bringen, sich gleichförmig zu bewegen, wellen angebohrt. Wie bei einer angesto- werden sie erst einmal in einen Magnet- chenen Milchtüte fließt sodann ein eisiger olfgang Ketterle herrscht über ein Käfig gesperrt und dann mit Laserstrahlen Teilchenstrahl heraus. Millionenheer. Allerdings sind trickreich abgebremst. Auf diese Weise Bei Zimmertemperatur flitzen Luftmo- Wseine Truppen so klein, daß man leküle normalerweise so schnell wie Ge- sie mit bloßem Auge nicht erkennen kann. wehrkugeln im Raum umher. Die extrem „Mit dieser Apparatur zwinge ich Atome tief gekühlten Atome aus dem Laser hin- dazu, sich wie Soldaten im Gleichschritt gegen rieseln so langsam wie Sandkörner zu bewegen“, sagt der deutsche Physiker, herab; nur aufgrund der Erdschwere wer- der derzeit am Massachusetts Institute of den sie beschleunigt. Technology forscht. Vor zwei Jahren hat Je nach der Massenkonzentration im Bo- er in seinem Labor den ersten Atomlaser den an einem jeweiligen Standort weist die der Welt gebaut: Das raumfüllende Gerät Erdanziehung feine Unterschiede auf. Die sendet nicht Licht, sondern Materie aus. US-Marine fördert deshalb Versuche, die Der Prototyp litt zwar unter Lade- fallenden Atome als hochempfindliche hemmungen. Ketterles Atomlaser glich ei- Massen-Meßgeräte einzusetzen. Solche nem tropfenden Wasserhahn, aus dem die Detektoren sollen etwa dazu dienen, ver- Partikel nur nach und nach herausfielen. borgene Öllagerstätten aufzuspüren. Auf Dennoch war die Erfindung ein Startschuß. U-Booten könnten Atomlaser als Navi- Etliche Physikerteams entwickeln seither gationshilfe vor Kollisionen mit unter- eigene Atomlaser. „Alle wollen dabei- seeischen Gebirgen warnen. sein“, schwärmt Ketterle. „So einen Gold- Strahl eines Atomlasers (blau) Physiker Ketterle wiederum hat die Idee, rausch erlebt man in seinem Forscherleben Die Bausteine der Materie … mit Atomlasern noch genauere Zeitmesser nur einmal.“ Einen weiteren Durchbruch meldeten Wissenschaftler aus München letzte Wo- che auf der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Das Tüftler- Team um Theodor Hänsch vom Max- Planck-Institut für Quantenoptik hat einen Materie-Laser konstruiert, der nicht mehr tropft, sondern einen kontinuierlichen Strahl von Atomen aussendet. „Im Experiment haben wir einen haar- feinen Strahl erzeugt, der aus einer halben Million Rubidiumatomen bestand“, be- richtet Hänsch. Nach einem Wimpern- schlag war der Laser allerdings leer und mußte erst wieder mit Gasatomen nach- geladen werden. Als nächstes wollen die Forscher ihre Teilchenkanone so weit ver- bessern, daß sie mindestens eine Minute lang ohne Unterbrechung feuert. Der Münchner Physikprofessor liefert

auch gleich einen Vorschlag, was sich mit EINBERGER / ARGUM T. dem Atomlaser anstellen ließe. „Eine reiz- … tanzen im gleichen Takt: Physiker Hänsch, Atomlaser volle Anwendung bestünde darin, auf Schaltkreisen einzelne Atome abzulagern“, wird die Teilchenwolke immer weiter ab- zu konstruieren. Heutige Atomuhren, bei erklärt Hänsch. „Auf diese Weise könnten gekühlt – bis in die unmittelbare Nähe des denen die Schwingungsfrequenz von Cä- wir hundertmal kleinere Chipstrukturen absoluten Nullpunktes der Temperatur. siumatomen den Takt vorgibt, gehen in ei- schaffen als heute – und damit noch schnel- Dieser nie erreichbare Tiefpunkt liegt bei ner Million Jahren höchstens um eine Se- lere Computer.“ minus 273,15 Grad Celsius; jegliche Be- kunde vor oder nach. Das reicht den Phy- Aber bis dahin ist es ein weiter Weg. wegung von Teilchen würde dort auf- sikern noch lange nicht. „Auch bei den optischen Lasern hat es hören. „Wenn Atome so weit verlangsamt wer- Jahrzehnte gedauert, bis sie einen prakti- Doch kurz bevor die Atome in vollkom- den, daß sie fast stillstehen, läßt sich ihr in- schen Nutzen boten“, sagt Atomlaser-Pio- mener Bewegungslosigkeit erstarren, bil- nerer Zeittakt viel besser als bisher ab- nier Ketterle. In den sechziger Jahren wuß- den sie plötzlich einen völlig neuen Zu- lesen“, so Ketterle. „Dann hätten wir die te noch kaum jemand etwas mit den neuar- stand von Materie: Millionen von Teilchen genaueste Uhr geschaffen, die man sich tigen Lichtverstärkern anzufangen. Nur die schließen sich zu einem Superatom, fast so überhaupt vorstellen kann.“ Olaf Stampf

der spiegel 12/1999 235 Werbeseite

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Werbeseite S. FEVAL / SYGMA S. FEVAL AP Ballonfahrer Piccard, Jones, Erdumrundungsballon „Breitling Orbiter 3“*: Eine Mücke flog mit um die Welt

fenförmigen Ballons (Fassungsvermögen: men mußte: 1997 war sein Ballon, von ei- ABENTEUER 18 Millionen Liter) sicher sachkundig ein- ner Bö erfaßt, ohne ihn davongeschwebt. ordnen können: Piccard ist Psychiater. Nach Bransons letzter Bruchlandung vor Schnelle Winde Darüber hinaus zählt er zu den Ex- drei Monaten hofften zwei Briten, die am zeßtätern unter den Aerostatikern, die in 17. Februar gestartet waren, auf den Re- Rekordflug des „Orbiter 3“: den letzten drei Jahren so zahlreich wie nie kord. Doch während die Natur für Piccard zuvor mit ihren Jumbo-Blasen durch die und Jones tat, was die „Neue Zürcher“ Von Kälte und Depressionen Lüfte mäanderten. Als könnte das Jahr- von ihr gefordert hatte („Schnelle Winde geplagt, schwebten die tausend nicht zu Ende gehen, bevor die sind vonnöten“), schneiten ihre Konkur- Ballonpiloten Piccard und Jones Erde auch noch im Ballon umrundet ist, renten regelrecht ein: Von der Flockenlast zum ewigen Ruhm. waren oft zwei, mitunter sogar drei Aero- beschwert, mußten sie 80 Kilometer vor state zugleich unterwegs – zeitweise ver- der japanischen Küste notwassern. er Papst als Sangeskünstler auf CD, mochten nur noch Eingeweihte nachzu- Am neunten Flugtag des „Orbiter“ erlitt die Queen Mother mit Millionen in vollziehen, welches Team gerade wo in der der Kapitän eines Flugzeuges auf dem Weg Dden Miesen, Goethes Leichnam Bredouille war. von Neu Delhi nach Bangalore den heimlich mazeriert und mit DDR-Fein- Von bis dahin 20 Starts zum Round-the- Schreck seines Lebens, als sich plötzlich waschmittel abgeschrubbt – es schien, als World (RTW) endeten alle weit vor dem sein Cockpit mit kehlig schnatternden böten die Großen dieser Welt, ob tot oder Ziel, meist unsanft im Wasser, in einer Menschen füllte. Entgegen seiner anfängli- gerade noch lebendig, letzte Woche nichts Wüstenei oder in schwer zugänglichen Auf- chen Befürchtung handelte es sich nicht als traurige Rekorde. faltungen der Erdkruste wie dem Kara- um Entführer, sondern um eine Delegation Dann aber kam am Freitag abend doch korum. Drei Piloten brachen sich den Hals. der Schweizer Tourismusbehörde, die noch Nachricht von einer Gipfelleistung Nicht allzu groß war daher die Zuversicht, Piccards Ballon in der Ferne gesichtet hat- der erhebenden Art – vollbracht vom Trä- als der Schweizer Piccard, te und nun eine Gruß- ger eines großen Namens: „Wir haben es 41, und sein britischer Ko- adresse an ihn abzusetzen beinahe geschafft“, frohlockte Bertrand pilot Brian Jones, 51, am 1. 1. März: Start wünschte. Piccard an Bord der Kapsel seines Ballons März in dem Waadtländer Mitte letzter Woche „Breitling Orbiter 3“, in der er und sein Alpendorf Château d’Oex schließlich hatte der „Orbi- Kopilot dem Ruhm entgegensausten – im bei leicht böigem Wind ab- ter“, ein Zwitter aus Heli- Vollbewußtsein der Chance, als erste hoben – samt einem blin- 19. März: Orbiter 3 um- und Heißluftballon, die Menschen den Erdball im Ballon zu um- den Passagier, den Piccard vor der afrikani- mexikanische Küste er- runden. in sachkundiger Tierliebe schen Küste reicht. Dort sprang der Bal- Mit der Stunde um Stunde näherrücken- mit seinem Blute nährte. lon unkontrolliert aus dem den Küste Afrikas gewann eine Pioniertat „Die Mücke kommt mit uns um die Jetstream, worauf sich an Bord Kälte, Dü- Konturen, vor der sich die Welt und ihre Welt“, beschloß Piccard, dessen Vorfahren sternis und Depression ausbreiteten. Presse respektvoll beugten: Fast bestan- selber berühmte Ersttäter waren: Groß- Während die Meteorologen hektisch den sei „die letzte Herausforderung der vater Auguste stieg 1931 im Ballon in die nach einer neuen Windautobahn suchten, Erde“, rühmte etwa der „Evening Stan- Stratosphäre auf, Vater Jacques tauchte massierten die Ballonfahrer-Gattinnen die dard“ und lobte den britischen Kopiloten 1960 im U-Boot 11000 Meter tief. Seelen ihrer Männer per Funk – ungefähr Brian Jones, weil der die Kapsel in 2000 Schon zweimal vorher, 1997 und 1998, das einzige, was Frauen in der RTW-Avia- Meter Höhe über der Sahara so mutig mit war Piccard zu einer RTW-Tour gestartet – tik dürfen. Denn die Luftfahrer folgen in dem Hackebeil vom Eise befreit habe. einmal kam er nur ein paar hundert Kilo- der Frauenfrage dem Postulat des postum Sogar die Iren, die der Welt noch nie ei- meter weit, das andere Mal immerhin von so malträtierten Goethe („Das Weib taugt nen Pionier bescherten, nahmen gedank- der Schweiz bis nach Burma. für die Höhe nicht“), der im übrigen der lich Anteil an dem säkularen Ereignis, Vor Hawaii hingegen endete im Dezem- Überzeugung war, vor allen anderen an das wenn auch auf landesübliche Weise: „Wie- ber letzten Jahres das Team um Richard Prinzip der Ballonfahrt gedacht zu haben. viel Whiskey“, so lautete die Frage bei ei- Branson, einen milliardenschweren Hekti- Seinen Hader brachte er, sich an den nem Radio-Quiz, „würde die Hülle des Or- ker aus England, der die bislang größte Aufstieg einer frühen Montgolfiere erin- biter-Ballons fassen?“ Schmach im Rundfahrt-Zirkus hinneh- nernd, elf Jahre vor seinem Tode zu Pa- Die benebelte Antwort des Kandidaten pier: „Wie nah bin ich dieser Entdeckung – „100 Prozent!“ – hätte der Pilot des trop- * Nach dem Start in der Schweiz am 1. März. gewesen.“ Henry Glass

der spiegel 12/1999 239 Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur

LITERATUR Sex erleuchtet FOTOGRAFIE ast jeder Schriftsteller hinterläßt et- Leiche auf der Landstraße Fwas, das gegen ihn verwendet wer- den kann: seine Bücher. in Blick auf die schäbige Hütte, die Schlampe am Türpfosten und den Säufer am Henry Miller starb im Jahre 1980 im Al- ETisch genügt – und sofort wird klar, daß die hübsch-adrette Frau im Vordergrund ter von 88 Jahren. Aus dem Brooklyn- aus diesem schmierigen Milieu verschwinden sollte. Tatsächlich macht sie sich auf Boy, dem Pariser Sex-Maniac und Skan- den Weg, selbst ihr Liebhaber kann sie nicht aufhalten. Aber ihr Aufbruch endet dal-Autor („Wendekreis des Krebses“) abrupt: Auf einer war schließlich ein fröhlicher Buddha einsamen Land- geworden. Und als solchen lernte ihn straße findet sich Erica Jong kennen, sechs Jahre vor sei- ihre Leiche. Erzählt nem Tod. wurde das fiktive Miller hatte der Kollegin – Jongs Free- Drama von der Sex-Roman „Angst vorm Fliegen“ war australischen Foto- gerade erschienen – einen enthusiasti- künstlerin Tracey schen Brief geschrieben. Eine Brief- und Moffatt, 38 – und Berufsfreundschaft entstand, eine See- zwar in neun, meist lenkonkordanz; und schließlich Jongs schreiend bunten Buch über einen „der am wenigsten Bildern. „Fotos“, verstandenen sagt sie, „müssen Schriftsteller“: Hen- Gewalt, Sex und ry Miller. Glamour zeigen.“ Das neue Jong- Ihr deutscher Kol- Buch, essayistisch, lege Jörg Sasse, 36, erzählend, erhel- knipst gar nicht lend, handelt von mehr selbst; er be- ihm wie von ihr. arbeitet längst nur

„Henrys Geschichte noch fremde Ama- MOFFATT T. und meine eigene“, teurfotos, nimmt Moffatt-Werk „Something More“ (1989) schreibt sie, „haben ihnen die Rest- vor allem eines ge- schärfe oder reduziert sie auf banale Details, auf den Asphalt und die Leitplanke meinsam: das Rin- statt auf die Landschaft dahinter. Mit ihrer Schau „Das Versprechen der Fotogra- gen um den Mut, ein Schriftsteller zu fie“ will von Samstag an die hannoversche Kestner Gesellschaft Tendenzen und Ge- sein.“ Und das heißt auch, nach Miller, gensätze in der Fotografie der letzten Jahrzehnte dokumentieren – und zeigt ne- „all das aufzuzeichnen, was in Büchern ben Arbeiten von Kamera-Ikonen wie Cindy Sherman auch Bilder von Nebenbei- weggelassen wird“. Fotografen wie Robert Rauschenberg oder Joseph Beuys (bis 24. Mai). Ein Großteil von Millers Hinterlassen- schaft wird von Puritanern immer noch als Perversion, von Feministinnen als KULTURPOLITIK SPIEGEL: Können die Bühnen nichts Pornographie geschmäht. Erica Jong, die mehr einsparen? leicht spirituelle Nachlaßverwalterin, „Total verlogen“ Schitthelm: Nein. Spielraum gab es sieht das anders: „Der Sex in seinen Bü- nur im Künstlerischen. Aber der ist aus- chern hat die gleiche Funktion wie die Jürgen Schitthelm, 59, Präsident des geschöpft. Deshalb drohen jetzt Spiritualität: zu wecken, zu erleuchten.“ Deutschen Bühnenvereins und Direktor Schließungen wie in Frankfurt an der Deshalb könne es sich „am Ende erwei- der Berliner Schaubühne, über die Oder beim Kleist Theater oder an ande- sen, daß Miller dem Feminismus weit- Tarifabschlüsse im Öffentlichen Dienst ren Häusern in Brandenburg. Im Osten aus stärkere Impulse gibt als dem haben viele Theater ihren Künstlern so- männlichen Chauvinismus“. Jedenfalls SPIEGEL: Herr Schitthelm, jedes Jahr wieso schon das 13. Monatsgehalt und war der Miller, den sie kennenlernte, jammern die Bühnen über die Tarifab- Teile des Urlaubsgeldes vorenthalten. kein Macho, sondern „voller Bewunde- schlüsse. Alles nur Theaterdonner? Das ist nicht hinzunehmen. rung für kreative und intellektuelle Schitthelm: Nein. Es gibt nur noch weni- SPIEGEL: Was werfen Sie der Politik vor? Frauen“. Erica Jong inklusive. ge Theater, denen die steigenden Lohn- Schitthelm: Es ist Wahnsinn, daß die In einer Theaterszene läßt sie den Toten kosten von den Kommunen ersetzt wer- Arbeitgeber im Öffentlichen Dienst die- auferstehen und mit „Erica“ einen den. Die anderen se Abschlüsse aushandeln und sicher „imaginären Dialog“ führen. Henry, müssen sehen, wo sein können, ihren Mehrbedarf finan- lamentierend über seine Verächter: „Sie sie bleiben. Die jetzt ziert zu bekommen. Dieses Geld wird verstehen immer noch nicht, worum es beschlossenen 3,1 beschafft. Nur die 100 Millionen für mir geht.“ Erica: „Nach diesem Buch Prozent Lohner- die Theater, die sind angeblich nicht werden sie das ganz bestimmt.“ Keine höhung machen al- da. Das ist total verlogen. Eine kleine Angst mehr vorm Fliegen. lein bei den Thea- Rechnung: Wenn man nur mit 3,07 Pro- tern und Orchestern zent abgeschlossen hätte statt wie jetzt einen Mehrbedarf mit 3,1, dann hätte man 116 Millionen Erica Jong: „Der Teufel in Person. Henry Miller und ich“. Deutsch von Angelika Bardeleben. Hoffmann HIMSEL / GHOST P. von 100 Millionen Mark gespart, die den Theatern nun und Campe, Hamburg; 384 Seiten; 44,90 Mark. Schitthelm Mark im Jahr aus. fehlen.

der spiegel 12/1999 241 Szene

THEATER Bochum betet iel Glück war der Intendanz von VLeander Haußmann, 39, am Bochu- mer Schauspielhaus bislang nicht be- schieden: Nach künstlerisch durchwach- senen Leistungen mochten die Bochu- mer seinen Vertrag nicht verlängern. Nun, gut ein Jahr vor dem Ablauf seiner Amtszeit, bekommt der einstige Jung- star unter Deutschlands Regisseuren doch noch höhere Weihen. Um für die Premiere des Botho-Strauß-Stücks „Groß und klein“ zu werben, ließ das Theater ein Plakat mit dem Bild einer barbrüstigen, gekreuzigten Schauspiele- rin über dem Portal aufziehen. Dies er- zürnte einen Gottesmann: Propst Wil-

U. MYRZIG U. helm Sternemann rief „alle wachen und Ackermann zeugnisbereiten Christen“ dazu auf,

AUSSTELLUNGEN Servus, Kuschelkunst!

ls „Judenpech“ wurde früher eine bunte Fassung der Isar-Hauptstadt – „ein Abestimmte Art von Asphalt bezeich- bißchen bedrohlich, ein bißchen heiter“. net. „Travertin/Judenpech“ ist jetzt ein Ausgerechnet in München, dem Hoch-

60 Quadratmeter großes Teersiegel beti- glanzhort der Kuschelkultur, wollen der- PRESS ACTION telt, mit dem der Künstler Gustav Metz- zeit 30 Künstler herausfinden, ob „eine Haußmann, ger, der 1939 vor den Nationalsozialisten kritisch reflektierende künstlerische Pra- Bochumer fliehen mußte, den Travertinboden vor xis im öffentlichen (Kunst-)Raum noch Theater-

Hitlers Lieblingsmuseum, dem Münchner möglich“ sei. Am radikalsten prangert SCHAUSPIELHAUS BOCHUM plakat Haus der Kunst, hermetisch verplombt der Kölner Stefan Römer die „Einverlei- hat. Im Museum Villa Stuck dokumen- bung“ städtischer Räume durch Medien „schweigend“ vor dem Theater zu er- tiert die türkische Künstlerin Ay≠e Erk- und Werbung an. Damit stellt er zugleich scheinen. Anschließend bat er zu einer men auf großformatigen Folien die die ganze in Anlehnung an die Touris- „Sühneandacht in der St.-Meinolphus- Klatschspalten-Liebe zwischen Gunter muswerbung „Dream City“ getaufte kirche“. Der derart in die Christen- Sachs und Brigitte Bardot. Und im Kunst- Schau in Frage: Denn die wird von vier pflicht genommene Intendant erwog verein errichtet der in Berlin lebende etablierten Münchner Kunstinstitutionen seinen sofortigen Rücktritt, ging in sich Oberbayer Franz Ackermann seine laut- gestaltet (bis 20. Juni). – und blieb, halleluja, im Amt.

Kino in Kürze

„Lang lebe Ned Devine!“ Der Titel ist ein freundlicher, wenn- auch die Zuschauer nimmt gleich paradoxer Trinkspruch, denn der irische Fischer Ned De- der Film offenbar nicht für vine ist schon eine Weile tot, als dieser Toast im Pub von Tully- voll: Einen kauzig-liebens- more auf ihn ausgebracht wird – gestorben war der Alte vor werten Gutmenschen kann Schreck, als er begriff, daß ihn der Hauptgewinn der Lotterie er- Williams inzwischen auch eilt hatte. Wie zwei pfiffige, zielstrebige Rentner (Ian Bannen unter Narkose spielen; sei- und David Kelly) aus Tullymore versuchen, den anreisenden nen Auftritt hier dürften Lotto-Fritzen auszutricksen, um an das Vermögen des Toten zu nicht einmal Fans mit kommen, erzählt diese Schnurre des britischen Regisseurs Kirk Schauspielkunst verwech- Jones mit vielen verspielten Details: Wer je einen nackten Greis seln. Das Drehbuch krankt auf einem Motorrad sehen wollte, darf jubeln – es brausen an einer Überdosis Pathos, gleich zwei FKK-Fahrer übers irische Moor. und Kunstfehler unterlau- Williams (l.) in „Patch Adams“ fen offenbar nicht nur Me- „Patch Adams“. Sage noch einer, nur deutsche Studenten seien dizinern (Regie: Tom Shadyac). Eigentlich müßte der ganze Film zu alt: Robin Williams, 46, Hollywoods wandelndes Helfersyn- dringend in die Notaufnahme – wären da nicht die Kostüme (von drom, spielt den Medizinstudenten Patch, der kranken Kindern Judy Ruskin-Howell): Williams’ Hemden sind von so ausge- den Clown macht und seine Professoren zum Narren hält.Aber suchter Scheußlichkeit, daß es eine wahre Freude ist.

242 der spiegel 12/1999 Kultur

für die Fangemeinde, wieder einmal in wahre Mannoma- Am Rande nie zu verfallen: Es erschei- nen neue Biographien des schwermütigen Schreibers, Aus die Maus der sich 1949 in Cannes ver- giftete; Klaus Manns Roman Zum Abschied macht es „Mephisto“ wird zum Hör- leise „blubb“. Deutsch- buch, sein „Vulkan“ zum Ki- land, ein Rück- nofilm umgearbeitet. Und tritts-Märchen. am Donnerstag dieser Wo- Am vergangenen che wird im Münchner Kul- turzentrum Gasteig eine Sonntag abend mode- groß angelegte Klaus-Mann- rierte Verona Feldbusch Ausstellung eröffnet, für die zum letztenmal „Peep!“, emsig Fotos, Briefe, Tage- die Sendung für die Maus bücher, Typoskripte und im Mann. Schluß mit dem Handschriften zusammenge- Schweinkram. Oskar Lafontaine,

LITERATURARCHIV D. MONACENSIA, MÜNCHEN D. MONACENSIA, LITERATURARCHIV tragen wurden. „Ruhe gibt Klaus Mann (2. v. r.) mit Eltern und Geschwistern (1924) es nicht, bis zum Schluß“ der Mann mit dem kleinen blonden heißt die Schau, zu der ein Mäuserich auf den Schultern, sagt AUTOREN gleichnamiges Buch erscheint (Uwe das gleiche: Schluß mit der Politik. Naumann, Hrsg.; Rowohlt Verlag, Rein- Die Europäische Kommission sagt: Mann bleibt Mann bek; 352 Seiten; 98 Mark). Anrührend Schluß mit uns allen! Die sturz- sind vor allem die Bilder, die die Mann- freudige Kunsteisnymphe Tanja r war homosexuell, er war süchtig, Exegeten ausgesucht haben – viele da- Eer war der Sohn Thomas Manns: Ein von waren bisher nie veröffentlicht Szewczenko sagt: Schluß mit dem „dreifach Geschlagener“, bedauerte worden. Eigentümlich verkrampft steht angezogenen Rittberger und zeigt einst der Literaturkritiker Marcel Reich- Klaus auf einem Bild, das 1924 in der sich nackt im „Playboy“. Die radi- Ranicki den Schriftsteller Klaus Mann. Sommerfrische auf Hiddensee entstand, kalste Form des Rücktritts vom In diesem Jahr hat der Sohn des „Zau- neben seinem eleganten, entspannt da- schlechten Gegenwärtigen aber, das berers“ – so nannten die Kinder ihren sitzenden Vater: ganz so, als fürchte er Harakiri eines großen Weltüber- Vater – seinen 50. Todestag; ein Anlaß die Nähe des Patriarchen. drüssigen, das konnte nur von ei- nem grünen Oberfuzzi der ökoso- zialistischen Glaubenskongregation FILMMUSIK mera etwas werden will, muß sich nicht kommen – Jürgen Trittin. Er sagt: nur auf die Schauspielerei verstehen, Rot-Grün ist tot. Zwar laufe ich Bollywood, wie es sondern auch gut bei Stimme sein. Die noch voller Spannkraft am Rhein Millionen Inder, die sich täglich vor der singt und swingt Leinwand versammeln, erwarten näm- entlang und lasse meine wilden lich, daß die hochdramatischen Kinoge- Haare im Frühlingswind wehen, irgendwo auf der Welt werden so zwar sehe ich noch munter aus mit Nviele Filme gedreht wie in Bombay. meinem süßen Schnauzer, aber mei- Und wer in „Bollywood“ vor der Ka- ne Politik ist erledigt. Ja, ist denn heut’ schon Weihnach- ten? fragen wir da mit Franz Beckenbauer, ja, lösen sich denn „Juha“. Daß auf der Leinwand zuviel alle Probleme wie von selbst? gequasselt wird, ärgert den Finnen Aki Leider nein. Immer noch fehlen die Kaurismäki – selbst ein großer Schwei- Rücktritte von Heribert Faßbender, ger und Säufer vor dem Herrn – schon Angela Merkel, Otto Rehhagel, Kar- länger. Um Reinheit und Unschuld der CD-Cover Bilder wiederzugewinnen, hat er jetzt dinal Ratzinger, Udo Jürgens und einen alten Stummfilm-Stoff in klassi- schichten auch üppig mit Sang und Susan „Vorvertrag“ Stahnke. schem Schwarzweiß neu verfilmt: Klang untermalt werden. Eine äußerst Erst dann wäre ein Einstieg in den Junge Frau heiratet älteren Bauern, unterhaltsame Zusammenstellung indi- Ausstieg aus dem deutschen Ver- verliebt sich in einen dekadenten Be- scher Filmmusiken ist nun unter dem hängnis möglich, und wir könnten sucher und folgt ihm in die Großstadt, Titel „Doob Doob O’Rama – Filmsongs wo er sie ins Bordell steckt. Das ist from Bollywood“ auf CD erschienen. frei nach Goethe rufen: „Solch eine zeitlos, expressiv und elegisch in Sze- Indische Folklore, Westerngitarren, Bar- Leere möcht’ ich sehn, Auf freiem ne gesetzt – doch fehlen Kaurismäki jazz und Operngesänge werden da zu Grund mit freiem Volke stehn.“ nicht nur die Worte, sondern auch die einem fabelhaften Soundtrack-Mix ver- Dann würden auch Veronas Worte Bilder, um seine trotzige Idee zu einem woben: Bollywood, wie es singt und endlich wahr: „Da werden Sie ge- wahren Melodram reifen zu lassen. swingt. Wer will da noch die bonbon- holfen.“ bunten Filme sehen?

der spiegel 12/1999 243 Kultur

AUTOREN Ganz schön abgedreht Die deutsche Literatur ist wieder im Gespräch und im Geschäft: Neue Autoren und vor allem Autorinnen fabulieren ohne Skrupel. Sie haben Spaß an guten Geschichten – und keine Angst vor Klischees und großen Gefühlen.

ie Damen fackeln nicht lange: Dem Beginn unbekümmert sein Spiel mit den brutalen Preisboxer und seinem Jahrhundertgrößen Robert Musil und Dmiesen Adlatus, der gerade die jun- Thomas Mann: Da findet sich neben der ge Frau im Nachbarhaus vergewaltigt hat, Wetterangabe wie im „Mann ohne Eigen- wird kein Pardon gegeben. Die Nachba- schaften“ auch gleich eine dem berühmten rinnen, zwei Schwestern, kommen dem „Buddenbrooks“-Auftakt nachempfun- Opfer und dem hilflos-feigen Ehemann zu dene Eingangsfrage („Was sagst du? Hilfe und rücken mit einem schulterbaren Mini-Flammenwerfer an, den sie im Gerä- teschuppen gefunden haben. Ehe die beiden Peiniger recht kapieren, wie ihnen geschieht, und bevor sie noch die Pistole ziehen können, liegen sie schon ge- krümmt und halb verkohlt auf dem Boden des Landhauses. „Tot wie ein Brikett“ wer- den sie alsbald nebenan im Moor entsorgt. Das entstammt keinem angelsächsischen Horrorkrimi, sondern junger Literatur aus Deutschland: Die in Hamburg geborene Au- torin Karen Duve, 37, heute in einem Dorf bei Dannenberg ansässig und schon mit ein paar eigenwilligen Prosastücken aufgefal- wechselt rasant die Perspektive, len, gebärdet sich in ihrem Debüt „Regen- schaut ihren Personen so weit in roman“ als Neue Wilde der Erzählkunst. die Köpfe, wie es gerade nötig ist, Sie läßt ein frisch verheiratetes Paar aus zeigt die Szenerie zur Abwechs- Hamburg Ruhe in der Einsamkeit suchen lung auch einmal aus dem Blick- und dabei nicht nur vom Regen in die Trau- winkel des Hundes, der mit der fe geraten, sondern gleich ganz im Morast Tatenlosigkeit seines Herrchens versinken – körperlich und seelisch. Dabei Leon gar nicht zufrieden ist – und haben sich beide, der wenig erfolgreiche sie vermag nicht nur einen bru- Schriftsteller Leon Ulbricht und seine zar- talen Überfall, eine Vergewalti- te Frau Martina, alles so idyllisch vorge- gung, sondern auch eine schein- stellt: Er wollte hier die bei ihm bestellte bar harmlose Familienszene mit und schon angezahlte Biographie über den anschließendem Bulimie-Exzeß berüchtigten Boxer Pfitzner schreiben, sie bis an die Ekelgrenze zu schil- ihm ein schönes Zuhause bereiten. dern: eine Erzählerin, die sich et- Doch das überstürzt erworbene Anwe- was traut und neugierig auf die sen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Welt ist. erweist sich als Bruchbude, die Auftrags- Wird die deutsche Literatur arbeit am Schreibtisch stagniert, das Ehe- Autorin Barth: Lust am Aufbruch am Ende des Jahrhunderts doch paar kommt auch sexuell in die Krise – noch munter? Der Verleger Ar- und überall Nässe, Schnecken, Sumpf. So- Was … ?“). Auch Wolf Wondratschek, vor nulf Conradi äußerte sich gerade erst in gar jene beiden Damen aus dem einzigen Jahren Romanbiograph einer Münchner einem Interview mit dem Berliner „Tages- Nachbarhaus, die am Ende so beherzt und Unterweltgröße („Einer von der Straße“), spiegel“ optimistisch. Jahrelang hätten sich rettend zum Brenner greifen, haben durch- wird später verwurstet. unsere Autoren für „klar und gut erzählte aus etwas Schlüpfrig-Verschlingendes. Damit allerdings erschöpft sich das bei Geschichten“ nicht interessiert, so Conra- Es ist verblüffend, wie sicher die Auto- der Kritik so beliebte postmoderne Wie- di, zudem herrsche Angst vor Kitsch und rin Duve über Töne und Erzählhaltungen dererkennungsspiel: Sonst schreibt die „großen Gefühlen“, eine Angst, die von verfügt. Ihr „Regenroman“ treibt schon zu Duve auf eigene Rechnung. Und wie! Sie den Kritikern genährt worden sei. Das Aus-

244 der spiegel 12/1999 Autorin Duve gen gehen deutsche Kritiker gern nach: Hat Erstaunliche Intimkenntnis er seine Frau vielleicht umgebracht? Oder der Krebskranken den Leidensweg ver- Rede, von einem „versierten kürzt? Erstlingsroman“, einem „per- Leider gereicht die künstlich erzeugte fekten Debüt“ oder gar einem Unklarheit dem Debüt des talentierten Au- der „besten deutschen Roman- tors eher zum Schaden: Die scheue Lie- debüts der letzten Jahre“. Sage bes- und Verlustgeschichte nämlich droht also niemand, die Kritiker wür- unter dem altklugen Vor- und rätselhaften den die Debütanten nicht Seitengeplänkel begraben zu werden – nur freundlich begrüßen. selten vermag sich das Buch da noch zu an- Zu Recht? Zunächst einmal: schaulicher Erzählung aufzuschwingen. Peters’ Debüt hat mit Conradis Ist es Zufall, daß die weiblichen De- durchaus plausiblem Wunsch bütanten zumeist weniger verzagt und um- nach neuer erzählerischer „Nai- standskrämerisch als ihre männlichen Kol- vität“ nicht das geringste zu legen daherkommen – ohne die erzähl- tun. Der Roman mit dem schö- technischen Absicherungsstrategien, die nen, einem Kinderspiel entlie- doch längst geläufig und in diesem Jahr- henen Titel „Stadt Land Fluß“ hundert beliebig verfügbar sind? ist im Gegenteil durch und durch Das literarische Fräuleinwunder ist je- geprägt von jener selbst- denfalls augenfällig. Plötzlich gibt es in reflexiven Bedachtheit, die deutscher Prosa wieder ganz hinreißende große Teile der deutschen Kriti- Kurzgeschichten, wie die der hochbegab- kerschar traditionell bewundern. ten jungen Berlinerin Judith Hermann, 28 Eine streng durchgehaltene (SPIEGEL 50/1998). Für ihren zu Recht Erzählperspektive ist da Vor- hochgelobten und auch beim Publikum er- aussetzung. Und auch das Vor- folgreichen Debütband „Sommerhaus, wort eines fiktiven Autors ist später“ erhielt sie vor kurzem in Bremen immer gern gesehen. Und die einen Förderpreis, und die Autorin be- Rätselpartie! Peters bietet das schwor in ihrer Dankrede den Augenblick alles. Daß sich sein Held, ein des unbefangenen Anfangs, „das rück- Kunsthistoriker, besonders für sichtslose Schreiben in ein Nichts hinein, in die Zentralperspektive interes- dem man sich selbst oder den zukünftigen siert, läßt aufhorchen und könn- Leser oder die Geschichte an sich erst viel te Rückschlüsse auf den Blick- später erkennt, wenn überhaupt“. winkel des Ich-Erzählers erlau- Naiv ist das nur in einem äußerst raffi- ben. Wie verläßlich ist sein Be- nierten Sinn – wie schließlich auch die poe- richt über die Ehe mit Hanna, tische Unbefangenheit der Erzähler-Frauen einer Zahnärztin, die offenbar nicht mit jener literarischen Unbedarftheit

FOTOS: T. MÜLLER / AGENTUR FOCUS MÜLLER / AGENTUR T. FOTOS: verschwunden ist? Solchen Fra- zu verwechseln ist, die in den Frauenro- manen nach dem Muster von Gaby Haupt- land habe sich daraufhin von der manns „Suche impotenten Mann fürs Le- deutschen Literatur abgewandt. ben“ oder Hera Linds „Das Superweib“ Doch allmählich hätten manche Au- vorherrscht. Allerdings ist nicht auszu- toren jene Naivität wiedergewon- schließen, daß der anhaltende Erfolg gera- nen, die zum Erzählen gehöre. Con- de dieser Bücher – manche mit glatter Mil- radis Prognose: „Es wird wieder lionenauflage – den Boden für eine neue spannende deutsche Autoren ge- Erzählkultur in Deutschland insofern be- ben, die etwas zu erzählen haben.“ reitet hat, als Verleger und Buchhändler es Die Gegenrede ließ nicht auf sich wieder für möglich halten, mit deutscher warten. Ein Kritiker der „Berliner Literatur Geschäfte zu machen. Zeitung“ glaubt in Conradis Äuße- Nicht wenige der jungen Erzählerinnen rungen „Demagogie“ zu ent- können ebenfalls eine recht stolze Ver- decken, die er gegen alles Kritische kaufsbilanz vorweisen: Von Judith Her- und das Denken überhaupt gerich- manns erst vor wenigen Monaten publi- tet sieht. Anders als Conradi meint ziertem Erzählungsband sind fast 100000 er, es werde heute eher zu viel als Exemplare verkauft, der Debütroman „Das zu wenig gelobt, und verweist auf Blütenstaubzimmer“ (1997) der Schweize- die aktuellen Rezensionen eines an- rin Zoë Jenny hat diese magische Marge deren Debütromans: „Stadt Land längst erreicht – in beiden Fällen hat auch Fluß“ von Christoph Peters, 32. ein reges Medieninteresse geholfen. Diesem Buch ist in der Tat mit Der Preis dafür ist freilich, daß die foto- großer Einhelligkeit gehuldigt wor- genen Jungautorinnen oft wichtiger schei- den, quer durch die Feuilletons: nen als ihre Literatur: Die heute 25jährige Von der „literarischen Überra- Jenny dürfte mittlerweile einen Rekord hal- schung des Frühjahrs“ war da die ten, was die Anzahl der Porträts in Zeit- schriften und Magazinen angeht – erstaun- Autorin Hermann lich angesichts des eher schmalen Erstlings.

Gekonnt karge Erzählweise MAHLER U. Erfreulich bleibt dennoch: Anspruchsvolle

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Benjamin Lebert in dem autobiogra- Schuldienst übernommen wurde: „Ich will phischen Roman „Crazy“ vor allem Pro- nur sagen, wir müssen doch auch drunter bleme mit sich und der Ehekrise seiner leiden, wenn er überall seine Zivilcourage Eltern. raushängen läßt.“ Bei Barth geht es um Die Enkelgeneration tritt an. Während Mode- und Stilfragen: „Das hatte sie auch die vor und während des Krieges gebore- bei ihrer Mutter und den anderen Alt- nen deutschen Schriftsteller – wie Monika 68ern nie verstanden. Keiner von denen Maron, Martin Walser oder Christa Wolf – hatte auch nur annähernd Geschmack.“ derzeit ihre Rückschaubemühung, ihr In Barths Roman „Abgedreht“ läßt sich Nachdenken über deutsche Befindlichkei- die Lust am Aufbruch studieren: Vier jun- ten eher noch intensivieren, scheinen vie- ge Deutsche, alle Mitte 20, zwei Frauen, le der nach 1960 geborenen Autoren diese zwei Männer, versuchen ihr Glück in Beschwernis abschütteln zu können. Los Angeles – als Schauspieler, als Ka- meramann, als Drehbuchautorin. Das ist dialogreich und mit Vergnügen an den De- tails erzählt, bisweilen etwas zu geschwät- zig – ganz im Gegensatz etwa zu der ge- konnt kargen Erzählweise einer Judith Hermann.

C. PETERS Über Erotik und Liebe, die Grundme- Schriftsteller Peters lodie dieser Bücher, schreiben die jungen Huldigungen für eine Rätselpartie Autorinnen allesamt nüchtern und ohne Illusionen. „Er war wild, ungezügelt, aber Literatur deutscher Sprache ist wieder im es hatte nicht viel mit ihr zu tun“, heißt Gespräch und im Geschäft. Wo unbekann- es in „Abgedreht“: „Sex ohne Tiefe, te Autoren früher auf minimale Tausen- schnelle Befriedigung, falsche Erleichte- derauflagen gefaßt sein mußten, gehen heu- rung. Sie vermißte die langen Blicke zwi- te leicht 30000 und mehr Exemplare über schendurch, das glucksende Lachen, die den Ladentisch. Kleine und mittlere litera- Freude.“ rische Verlage leben davon – Taschenbuch- Bei Karen Duve, der neben Judith Her- lizenzen für junge deutsche Literatur wer- mann begabtesten literarischen Debütan- den inzwischen schon mal mit sechsstelli- tin, gehen die Heldinnen noch ganz anders

gen Beträgen gehandelt. STAHR W. zur Sache. Isadora, eine der beiden Schwe- Natürlich tritt da neben Autorinnen wie Autorin Langer stern aus dem „Regenroman“, lockt den Hermann und Jenny – oder Christa Hein Verdruß über die Eltern-Ideale verhinderten Schriftsteller Leon in ihr („Der Blick durch den Spiegel“), Sibylle Haus. „Du willst, daß ich dich ficke? Ist es Mulot („Die unschuldigen Jahre“), Kathrin Drei junge Erzählerinnen lassen das ei- das, ja?“ fragt der Ehemann der schönen Schmidt („Die Gunnar-Lennefsen-Expedi- gene Land in ihren neuen Romanen rasch schlanken Martina ungläubig die überge- tion“) und Birgit Vanderbeke („Alberta hinter sich: Tanja Langer, 36, Richtung wichtige Nachbarin. empfängt einen Liebhaber“) – auch eine Côte d’Azur („Cap Esterel“), die ebenfalls Die antwortet seelenruhig: „Ich würde Reihe männlicher Schriftsteller an, die seit 1962 geborene Susanna Grann Richtung diesen Ausdruck nicht benutzen, aber ich Mitte der neunziger Jahre Furore gemacht Kanarische Inseln („Weit von hier“) und glaube, wir meinen das gleiche.“ Leon je- haben. Dazu zählen Ingo Schulze („Simple Nadine Barth, 34, Richtung Hollywood denfalls muß erleben, daß er bisher wenig Storys“), Thomas Brussig („Helden wie („Abgedreht“). über die Lust und sich selber wußte – die wir“), Marcel Beyer („Flughunde“), Bern- Die Romanheldinnen hadern eher mit Autorin Karen Duve läßt den armen Mann hard Schlink („Der Vorleser“) und Hans- den linken Idealen der Elterngeneration mit einem boshaften Vergnügen und er- Ulrich Treichel („Der Verlorene“). als mit den Untaten der Großeltern. Bei staunlicher Intimkenntnis der männlichen Besonders diese Autoren sind es, auf die Grann ist es der Vater, der als Autonomer Psyche ins Netz gehen. Und sie läßt ihn sich vorerst das Augenmerk ausländischer zum Verdruß der Tochter nicht in den zappeln. Volker Hage Verlage richtet – und das hat gewiß auch damit zu tun, daß in den Büchern immer Nadine Barth: Karen Duve: Susanna Grann: noch das deutsche Thema „Abgedreht“. „Regenroman“. „Weit von hier“. im Vordergrund steht: die Goldmann Verlag, Eichborn Verlag, Pendo Verlag, beiden Diktaturen und ihre München; Frankfurt am Main; Zürich; Folgen. 256 Seiten; 304 Seiten; 176 Seiten; Bei den Debüts dieses 20 Mark. 36 Mark. 32 Mark. Frühjahrs dagegen spielt die deutsche Vergangenheit kaum noch eine Rolle. Während in dem Roman Judith Hermann: Tanja Langer: Christoph Peters: „Faserland“ (1995) des 1966 „Sommerhaus, „Cap Esterel“. „Stadt Land Fluß“. geborenen Christian Kracht später“. Verlag Volk und Frankfurter Verlags- dem Erzähler einige ältere Fischer Taschen- Welt, Berlin; anstalt, Zeitgenossen noch wie KZ- buch Verlag, 144 Seiten; Frankfurt am Main; Aufseher oder „komplette Frankfurt am Main; 28 Mark. 280 Seiten; Nazis“ erscheinen wollten, 192 Seiten; 38 Mark. hat der Held des jetzt gefei- 20 Mark. erten 17jährigen Jungautors

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Solondz-Film „Happiness“*: So eindringlich und den Menschen so nah, daß einem beim Zuschauen der Atem stockt

dann grußlos unter Mitnahme ihrer Ste- FILM reoanlage – schließlich hatte er ihr gleich gesagt, daß er nebenher als „freischaffen- der Dieb“ (ohne Mafia-Verbindungen) tätig Anleitung zum Unglücklichsein sei. Schicksal, Schicksal, und doch hat die- se rührende, immer betrogene, ganz und Keine einzige Oscar-Nominierung – und doch gar untüchtige Joy, wenn sie allein auf ih- rer Gitarre herumklimpert, ein Talent, das ist „Happiness“ von Todd Solondz ein Meisterstück. kostbar und unzerstörbar scheint: das Ta- lent zum Glücklichsein. as für eine widerspenstige Ge- Drei Schwestern um die 30: die Paten- Helen heißt die dritte der Schwestern, schichte, die sich in keinen Rah- te, die Verträumte, die Überspannte. Um die überspannte, die mondäne, die allseits Wmen und kein Raster fügen will! dieses Trio herum – weißer Mittelstand in begehrte. Sie ist schön, sie schreibt Lyrik, Ziemlich schrecklich, ziemlich komisch, New Jersey, wo alles besonders medioker sie hat (wie sie behauptet) jede Menge be- ziemlich gut, in dieser Rangfolge, weil auch und provinziell wirkt, weil New York zum ster Bodybuilder im Bett und beklagt doch das Publikum nichts geschenkt kriegt. Falls Greifen nah scheint – entfaltet Solondz pathetisch die Kälte und Leere ihres Da- es etwas gibt, das mit einem gewissen sein episodenreiches Panora- seins, den profunden Mangel Anspruch die Bezeichnung „menschliche ma bürgerlicher Überlebens- an Poesie, Erschütterung, Ek- Komödie“ verdient, dann dieser Film: ein mühsal. Die erste, die Paten- stase. Ach, sie möchte nichts Gewebe ganz und gar banaler Liebesle- te, ist Trish, die als Hausfrau weniger und nichts mehr als bensereignisse; eine verführerische Anlei- und Mutter in jeder Wasch- um ihrer selbst willen geliebt tung zum Unglücklichsein; ein Reigen ver- mittelwerbung eine gute Fi- sein – aber was ist das? Ist quälter Orgasmen, in dem sich die Sexua- gur machen könnte, bis sich da was? lität als eine überwiegend mißliche, wenn eines Abends, als man eben Wie sollte es anders kom- nicht unheilträchtige Angelegenheit dar- gemütlich beim Essen sitzt, men: Der einzige Mann, der stellt – was Kenner der Bibel oder der Welt- der Abgrund vor ihr auftut. sich ihr eine Sekunde lang literatur kaum überraschen wird. Die zweite, die Verträumte, um einen Zentimeter nähert, Nicht einmal die von Woody Allen ver- genannt Joy, ist ein Schäfchen ist der Nachbar in ihrem tretene These, ein Vorzug der Selbstbe- im gehäkelten oder geblüm- trostlosen Apartmenthaus, friedigung sei es, daß man dabei mit einer ten Folklorelook, und das Le- dieser fettige, verschwitzte Person zu tun habe, die man mag, hält dem ben meint es, wie man so Angestellten-Nobody, der sie Blick des so sanften wie beharrlichen Feld- sagt, nicht gut mit ihr. Der im Fahrstuhl schon so oft an- forschers Todd Solondz stand. Kein Druck weinerliche Kollege aus dem Regisseur Solondz gestiert hat: Seine einzige von außen lähmt und zerquetscht die Fi- Telefonmarketing-Großraum- substantielle Feierabendbe- guren, denen er als Erzähler seine Auf- büro, dessen Anträgen sie sich entzog, be- schäftigung besteht, wie sich nun zeigt, merksamkeit zuwendet, sondern, mehr als geht die Rücksichtslosigkeit, sich umzu- darin, daß er fremde Frauen als anonymer sonst etwas, Selbsthaß.Wie man aber weiß: bringen. Und der nette Taxifahrer russi- Telefonwichser mit seinen Gewaltphanta- Um in der sogenannten Seele glücklich zu scher Herkunft, dem Joy in ihrer Wohnung sien terrorisiert. Also nicht gerade ein sein, genügt es, sich dafür zu halten. eigentlich nur einen Tee anbieten wollte, Mann für Helen, da ihr ja im Grunde nicht macht sich mit ruck, zuck zupackender einmal das Beste gut genug ist; doch in ih- * Mit Lara Flynn Boyle. Zärtlichkeit über sie her und verdrückt sich rer schwesterlich-zerstörungslüsternen Ly-

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Werbeseite Kultur rikerinnenseele sagt sie sich: Für Joy, die- finanziert hatte, diesen keinesfalls in die erinnert, sei er vollkommen glücklich ge- ses barmherzige Lamm, könnte er genau Kinos bringen, vielmehr gegen Kostener- wesen. Der Träumer – er heißt Bill und ist der Richtige sein. stattung an die Urheber nach New Jersey von Beruf Psychotherapeut – wird in jeder Todd Solondz, Jahrgang 1960, der kleine, oder sonstwohin zurückspedieren. Der Suburbia der Welt als fürsorglicher Fami- natürlich in New Jersey aufgewachsene fil- Entschluß kann nicht ganz leicht gefallen lienvater und hilfsbereiter Nachbar Wert- mische Unfriedensstifter, der hinter dicken, sein, da doch „Happiness“ kurz zuvor, im schätzung genießen.Wir sehen, wieviel ihm übergroßen Brillengläsern noch immer wie Mai 1998, einen der Hauptpreise beim Fe- an der zärtlichen Zuneigung seiner Frau ein sitzengebliebener Hauptschüler aus- stival in Cannes gewonnen hatte, doch of- liegt (allerdings nicht an ihren sexuellen sieht, hatte sich vor zehn Jahren nach ei- fenbar sah man keine Wahl. Das Schlag- Avancen); und wir sehen, wie sensibel er nem offenbar mißratenen Erstlingswerk wort, das solche Panik auslöste, heißt Pä- der Aufklärungslektion nachhilft, die sein (mit sich selbst in der Hauptrolle) für im- dophilie. Elfjähriger (der älteste der drei Söhne) wohl mer von der Filmkunst abwenden wollen. Todd Solondz, mancherlei Kummer ge- in einer Schulhofecke erhalten hat. Zeitweise schlug er sich (wie nun auch sein wöhnt, hat sich dazu entschlossen, auch Wir sehen leider allerdings auch, wie Bill tapferes Stehaufmädchen Joy) in New York den Widerstand, dem sein Film begegnet, in seinem Auto sitzend hastig masturbiert mit einem Job als Sprachlehrer für russi- als Anerkennung zu nehmen: Wer hätte (was wir lieber nicht gesehen hätten); und sche Einwanderer durch, doch die Kino- gedacht, daß ein so winziges Produkt mit wir begreifen irgendwann mit Entsetzen, Versuchung erwies sich als stärker: Mit einem Zwergenetat von wenig mehr als daß dieser rundum freundliche, weiche Bill dem Film „Welcome to the Dollhouse“, drei Millionen Dollar überhaupt in den bei günstiger Gelegenheit zwei der Schul- der Leidensgeschichte eines kurzsichtigen, Wahrnehmungsradius so großer Herren ge- freunde seines Jungen mit Medikamenten betäubt und vergewaltigt hat. Da ist er, der nette Un- hold von nebenan – ach, hätten wir ihm doch nie ei- nen guten Tag gewünscht! Todd Solondz blickt sei- nen Figuren direkt ins Ge- sicht. Die Schauspieler – darunter mit Absicht kein großer Star, den man gleich erkennen und mit einem Image verbinden würde – haben in Interviews die Ar- beit mit Solondz als pein- voll bis zur Erschöpfung beschrieben; wozu er sie aber gebracht und befreit hat, das ist in seiner Ex- pressivität außerordentlich. Er erzählt vorausset- zunglos, frei von allen Kunst-Umständlichkeiten, so eindringlich und für Au- genblicke den Menschen so nah, daß einem beim Zu- schauen der Atem stockt. Szene aus „Happiness“*: „Wo Leben ist, da ist Hoffnung“ Als Chronist bürgerlicher Beziehungsmiseren zeigt er übergewichtigen und ungraziösen elfjähri- riete? Kurz entschlossen hat die kleine Pro- eine Schärfe des Zugriffs wie Ingmar Berg- gen Mädchens aus New Jersey, traten 1996 duktionsfirma „Good Machine“ das Werk man zu seiner besten Zeit. Wer aber die sein eigenwilliges Talent und seine Lei- auf eigene Faust in die US-Kinos gebracht. Liebe nicht wahrhaben will, die Solondz denschaft unübersehbar hervor. Kein Zweifel: „Happiness“ gehört zu den noch dem getretensten Wurm in seiner Natürlich weiß jemand, der in seiner Ar- überragenden amerikanischen Filmen des Jämmerlichkeit zuwendet, wird darin (wie beit so nuanciert und geradezu tüftelig stil- Jahres, doch er ist – auch da siegte offen- bei Bergman oder Buñuel) nur die Grau- sicher wie Solondz ist, daß er an Schmerz- bar die Berührungsangst – nicht einmal für samkeit des Vivisekteurs sehen wollen. grenzen operiert, doch er weiß ebenso, da den geringsten aller Oscars nominiert. Am Ende, zu einem Thanksgiving-Din- bekanntlich nur Lügen balsamisch wirken, „The pursuit of happiness“, die Jagd ner als Epilog, finden sich die drei Schwe- daß eine Wahrheit sich eben daran erweist, nach dem Glück, haben die Amerikaner stern bei ihren Eltern zusammen, die sich, daß sie weh tut. sich als Grundrecht in ihre Verfassung hin- wie so viele New-Jersey-Rentner, zum lan- Es gibt Leute, denen das unerträglich und eingeschrieben, was als humane Geste gen letzten Akt ihres Ehedramas ins mil- unzumutbar erscheint. In Los Angeles zum nach wie vor gefällt, obwohl Fachkundige dere Florida zurückgezogen haben. Man Beispiel, in der Führungsetage der Firma inzwischen zu der Ansicht neigen, im prostet sich zu mit dem Spruch „Wo Leben Universal, befand man, man wolle sich mit großen Heilsplan der Evolution stehe ist, da ist Hoffnung“, und die Kamera ver- diesem Ärgernis namens „Happiness“ die Glücklichsein nicht auf dem Programm. zeichnet auf dem Gesicht des jüngsten Tra- Finger nicht schmutzig machen, und also In „Happiness“ sehen wir, wie ein Mann gikomödien-Teilnehmers einen Augenblick solle das Tochterunternehmen, das bedau- eine belebte, sonnige Parkwiese betritt, ein realen Glücks. Im übrigen: Wer Glück will, erlicherweise den Film in der Hauptsache Maschinengewehr in Anschlag bringt und und zwar sofort, greife zu Mozart. Auch die Menschen rundum niederschießt. In das zeigt „Happiness“: Grausamer, schnei- * Mit Ben Gazzara, Lara Flynn Boyle, Jane Adams, diesem Augenblick, so sagt der Mann am dender ist mozartscher Jubel im Kino nie Louise Lasser und Cynthia Stevenson. andern Morgen, als er sich an diesen Traum ertönt. Urs Jenny

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innern an die Nachkriegstraditionen des Po- lit-Brettls, sondern auch die Scherze dieses THEATER Abends: Es wird, wie im politischen Kaba- rett üblich, viel mit dem Kanzler telefoniert, es wird Schabernack mit den Gehilfen des Scheitern als Chose Chefs getrieben (Bodo Hombach ist, so wie Michael Klobe ihn spielt, ein sabbelnder Christoph Schlingensiefs jüngstes Volksbühnen- Derwisch), und es gibt lustige Anspielungen auf Topaktuelles wie Lafontaines Rücktritt. Spektakel „Die Berliner Republik“ macht Gerhard Schröder Theoretisch ist Schlingensiefs Version zum Theaterhelden – und versinkt selig im Chaos. der „Berliner Republik“ von hübscher

ie hat ein herbes, kan- tiges Gesicht, das nur Ssehr selten eine Re- gung zeigt, auch ihr langer, blasser Körper wirkt seltsam steif, und wann immer sie in den Filmen Rainer Werner Fassbinders ihren schmalen Mund aufmacht, klingt es wie ein Aufruf zur Ernüch- terung: Wie keine andere schafft es Irm Hermann, die Anti-Illusionistin unter den deutschen Schauspielerin- nen, noch den leidenschaft- lichsten ihrer Sätze zu einer Variation des Brechtschen Kampfslogans „Glotzt nicht so romantisch!“ zu machen. Die Berliner Volksbühne gilt als Ort, an dem der Theaterdirektor Frank Ca- storf den Zuschauern in den letzten Jahren das romanti-

sche Glotzen mit roher DRAMA FOTOS: Gründlichkeit ausgetrieben Schlingensief-Schauspieler Schütz, Alice Nambatya, Hermann: Angst vor dem Verlust der Angst hat – in Wahrheit jedoch hat sich im Publikum der Volksbühne bloß ein Konsequenz. Denn ist nicht der ganze neuer Schwärmergeist fürs (echt oder ver- deutsche Theaterfortschritt der neunziger meintlich) Wilde, Provokante, Unfertige Jahre in Wahrheit ein einziger Siegeszug etabliert. Und so stakst nun Irm Hermann der Kleinkunst? Haben nicht Kabarett und durch einen Theaterrausch namens „Berli- Pantomime, Stand-up-Comedy und Revue ner Republik“, in dem alle Menschen um die besten Aufführungen von Castorf und sie herum agieren, als seien sie auf Droge Christoph Marthaler, von Leander Hauß- oder sturzbesoffen, wo verwegene Gestal- mann und sogar von Einar Schleef viel ten wie Preisboxer tänzeln und wie Bier- mehr geprägt als die philosophischen Ein- kutscher brüllen und dazu blechernes gebungen aus Dekonstruktivismus und Gerät übers Parkett schleudern. Postmoderne? Sind nicht die aus ihren Rol- Irm Hermann aber, eine kalte Diva in len herauslümmelnden Schauspieler, die rotem Ballkleid, steht starr inmitten Sänger und Tänzer in den Aktualisierungen des Gefechts und stellt mit schneidender alter Texte allesamt Wiedergänger aus dem Krankenschwesterstimme jene Ausnüchte- Fundus der Kellerbühnen und Varietés? rungsfrage, die alle Irrsinnigen und Irr- In der Praxis ist Schlingensiefs Kanzler- sinns-Seligen für ein paar Schrecksekunden runde allerdings ein Desaster; manchmal auf den Boden der Tatsachen zurück- ein grandioses, oft ein erschütternd läppi- plumpsen läßt: „Sind wir hier im Kasperle- sches. Der Premierenabend am vergange- theater?“ nen Mittwoch präsentierte einfach ein paar Nein, wohl eher in der Hölle des politi- Regisseur Schlingensief, Mitspieler ulkige Gestalten auf der Bühne, die all- schen Kabaretts. Denn für Christoph Schlin- Schabernack nach Kabarettistenart mählich im Chaos einer ziemlich grundlo- gensiefs jüngsten Volksbühnen-Streich „Die sen Raserei versinken. Neben Schröder, Berliner Republik“ haben sie nicht nur den nung in Berlin auf die Bühne gebaut: eine Hombach und Irm Hermann in der Rolle Schauspieler Bernhard Schütz in einen Ger- Wohnwüste im Sechziger-Jahre-Design mit der Doris Schröder-Köpf gibt es einen Mar- hard-Schröder-Anzug gesteckt und ihm eine integriertem Pförtnerhäuschen, einem Müll- tin-Walser-Darsteller, eine Haushälterin Gerhard-Schröder-Krawatte und eine Ger- sofa, vielen gläsernen Balustraden und einer namens Freia und eine schwarze Goethe- hard-Schröder-Frisur verpaßt, sondern die Holztreppe hinauf zum Kanzlerbalkon. Instituts-Leiterin. Es treten ein paar rhyth- Bühnenbildnerin Anna Viebrock hat auch Wie geht es so zu bei Kanzlers zu Hau- musbegabte afrikanische Gäste auf und ein ihren Traum von der Bundeskanzler-Woh- se? Nicht nur solch existentielle Fragen er- paar von Schlingensiefs Behinderten-Mit-

252 der spiegel 12/1999 streitern, darunter ein Rollstuhlfahrer, der von sich sagt, er sei Helmut Schmidt. Wie jeder mittelbunte Kabarettabend bietet auch dieser ein paar mittelmutige Frechheiten zum Nacherzählen: So zerrt der Martin-Walser-Darsteller, vorgestellt als „das Enfant terrible der FAZ“, Porno- kassetten aus einer Plastiktüte; so übt der Theater-Schröder mit einem Afrikaner den Fußball-Doppelpaß; auch wird ein Video- band eingespielt, auf dem Oskar Lafon- taine zwei Tage vor seinem Rücktritt bei einem Berlin-Besuch mit dem Kanzlerdar- steller Schütz und der Kanzlergattin-Dar- stellerin Hermann plaudert. Nur leider bringen all diese Gags das Spiel nicht in Gang. In den besten Schlin- gensief-Arbeiten wie „Rocky Dutschke, ’68“ oder dem Wahlspektakel „Chance 2000“ animierte der stets auf der Bühne mitspie- lende Regisseur sein Team zu wunderba- rem Aktionstheater, bei dem Zuschauer ihre wertvollsten Körperteile bereitwillig in Milch badeten und in dem die Politik als große Schmierenshow mehr gefeiert als ent- larvt wurde. Das alles war gespeist von Schlingensiefs heiliger Wut, die der Regis- seur nicht nur gegen die 68er und Helmut Kohl, sondern auch und vor allem gegen den Theatermacher Schlingensief selbst richtete: Jede Inszenierung ein Akt der Au- toaggression, jeder Geistesblitz das Fanal einer symbolischen Selbstverbrennung. In der „Berliner Republik“ aber ist keine Wut zu spüren und keine Verzweiflung, sondern nur eine milde Verwirrung: „Schei- tern als Chance“ hieß ein Motto des „Chan- ce 2000“- und Anti-Kohl-Wahlkämpfers Schlingensief, nun zeigt er Scheitern als Chose. Und beweist dabei eigentlich nur: Schröder ist (noch) nicht kabarettfähig Die Show hangelt sich mühsam an der Idee entlang, den Kanzler der neuen Mit- te nach Afrika zu schicken, auf der Suche nach dem Ring des Nibelungen, wahrem Deutschtum und der Angst: „Ich hab’ so Angst, weil ich keine Angst mehr hab’“, läßt Schlingensief seinen Kanzler ächzen. Tatsächlich aber dient die Afrika-Ex- kursion vor allem dem Zweck, Schlingen- siefsche Filmbilder von einem Urlaub im ehemaligen Deutsch-Südwest vorzufüh- ren, sein Staunen über die Wunder des Schwarzen Kontinents und die politischen Bizarrerien im ehemaligen Kolonialgebiet. Hin und wieder kommt dabei auch ein son- niger, gut gelaunter Schlingensief ins Bild, der offenbar von all seinen Obsessionen und Allergien geheilt ist – der Mann ist ab- solut angstfrei, so scheint’s. Das ist die gute Nachricht. Wir müssen uns Schlingensief, diesen bislang bei aller Freundlichkeit so tollwütigen jungen Hel- den, als glücklichen Menschen vorstellen. Das wilde Genie als fideler Jedermann – ein rührendes, durch und durch erfreuliches Bild, aber (und das ist die schlechte Nach- richt) keines, das zwei Stunden Theater- glotzen lohnt. Wolfgang Höbel

der spiegel 12/1999 Kultur

WOHNEN „Das sind plumpe, abstrakte Kisten“ Der Berliner Star-Architekt Hans Kollhoff über seine Kritik an der Reiselust der Deutschen und die Unfähigkeit seiner Kollegen, die Lust am eigenen Heim zu fördern

SPIEGEL: Herr Kollhoff, die Deutschen sind Kollhoff: Das glaube ich sofort. Wenn man reiselustig und ausgehfreudig wie nie – und mal das ganze Erdenrund abgegrast hat, Sie forderten jüngst bei einem öffentlichen kommt die Sehnsucht, irgendwo zu bleiben Auftritt, die Menschen sollten öfter zu und es sich – ja, ich benutze das verpönte Hause bleiben. Wieso? Wort – gemütlich zu machen. Aber wenn Kollhoff: Ich finde die Reiselust fragwürdig. ich meine Studenten bitte, eine Woh- Freiheit und Fortschritt dieser Gesellschaft nungseinrichtung zu entwerfen, raten Sie bestehen offensichtlich darin, noch den mal, was denen einfällt: Galerieräume mit größten Banausen für drei Mark fünfzig in weiß gekalkten Wänden. Es gibt von Ikea die unberührteste Ecke der Welt zu fliegen. mehr Einrichtungsimpulse als von der ge- Aber offenbar halten es die Leute in ihrem samten deutschen Architektenschaft. Zuhause nicht mehr aus, und dieser Tat- SPIEGEL: Die Studenten haben offenbar die bestand muß mich peinlich berühren. falschen Lehrmeister. Es war Ihre Genera- SPIEGEL: Hat Ihr Berufsstand versagt? tion, die Kargheit gefordert hat. Kollhoff: Ja, leider. Die Architekten waren Kollhoff: Das stimmt. Ich war dem Un- unredlich. Sie wollten den Leuten mit kar- gemütlichkeitswahn verfallen: Matratze gen, schlichten Häusern Enthaltsamkeit auf den Boden, Glühbirne an die Decke. verordnen, sind aber selbst in verschnör- Das galt als revolutionär. So unpersönlich kelte Altbauwohnungen gezogen und ha- wie wir uns eingerichtet haben, haben wir ben sich da einen opulenten Gründerzeit- dann auch gebaut. Heute geht es darum, tisch reingestellt. Klar, daß die Leute uns die Knastzellen, die wir selbst errichtet ha- nicht mehr trauen, lieber in Fertighäuser ben, wieder bewohnbar zu machen. ziehen und im Urlaub davonfliegen. SPIEGEL: Postmoderne Architekten predi- SPIEGEL: Was spricht gegen die Ent- gen schon seit langem historische Besin- deckungslust? nung. Haben die auch alles falsch gemacht? Kollhoff: Unser Zuhause verwahrlost – und Kollhoff: Die Analyse der Postmoderne obendrein zerstören wir unsere Ur- stimmt, aber sie scheitert an einer Theorie- laubsziele. Bald sieht es bei den Papua so lastigkeit, die typisch ist für unser Jahr- aus wie in Bottrop. Erst wenn wir erfahren, hundert: Vor lauter Konzepten ist der wie anstrengend es ist, unser eigenes Zu- sichtbare Gegenstand abhanden gekom- hause in Ordnung zu bringen, erst dann bringen wir die notwendige Sensibilität im Umgang mit dem Gastland auf. SPIEGEL: Was also tun die Archi- tekten, um die Leute zu Hause zu halten? Kollhoff: Bisher nicht viel. Sie för- dern sogar den Fluchtinstinkt. Ich frage Sie: Wann ist in Deutsch- land das letztemal ein Einfami- lienhaus gebaut worden, das wohnlich ist und das man als ar- chitektonischen Beitrag vorwei- sen kann? Das war in den frühen

sechziger Jahren. N. MICHALKE / IMAGES.DE SPIEGEL: Sie sprechen vom Architekt Kollhoff: „Knastzellen bewohnbar machen“ Fluchtinstinkt – Zeitgeistapostel reden aber auch von „Cocooning“ und men. Wir müssen endlich verstehen, daß „Nesting“ und sagen, daß sich gerade wir uns mit Blümchentapeten zu beschäf- die Aktiven nach einem Zuhause sehnen, tigen haben, ohne die Nase zu rümpfen. in dem sie sich von der Reiserei erholen SPIEGEL: In Amsterdam haben Sie einen können. Wohnkomplex gebaut und 300 Wohnun-

254 der spiegel 12/1999 W. HUTHMACHER / ARCHITEKTON HUTHMACHER W. Kollhoff-Wohnkomplex in Amsterdam: Sehnsucht nach dem Verqueren gen in ein einziges Gebäude gepackt. Ist SPIEGEL: Früher war also alles besser? das Ihr Beitrag zur Gemütlichkeit? Kollhoff: Unter handwerklichen Gesichts- Kollhoff: Für diesen Beitrag haben wir im- punkten schon. Sehen Sie mal: In ehe- merhin den holländischen Architekturpreis maligen LPG-Schweineställen am Rande gewonnen. Außerdem war das sozialer Berlins werden heute Bauteile von Ab- Wohnungsbau, und da muß man einfach rißhäusern gelagert. Das müssen Sie sich mit großen Zahlen fertig werden.Aber die einmal anschauen. Da kommen Ihnen die Erfahrung in Holland war wohltuend. Tränen. Treppengeländer von einer Schön- Während in Deutschland immer noch ver- heit, die heute überhaupt nicht mehr be- sucht wird, die ideale Wohnung für die zahlbar ist. Durchschnittsfamilie massenhaft zu pro- SPIEGEL: Sie haben zwar nostalgische An- duzieren, gibt es in Amsterdam kommu- wandlungen, Ihre bekanntesten Projekte nale Vermittler, die darauf spezialisiert in Berlin sind aber Hochhausbauten. Eines sind, die unterschiedlichen Sehnsüchte der soll an den Zoo, für den Alexanderplatz Suchenden aufzunehmen. Wir haben dort planen Sie gleich dreizehn. Die Projekte über hundert unterschiedliche Woh- sind bei den Berlinern umstritten. Schlagen nungstypen entwickelt, interessanterwei- auch Sie die Leute in die Flucht? se waren die verquersten die beliebtesten. Kollhoff: Das glaube ich nicht. Die Men- SPIEGEL: Der soziale Wohnungsbau ist am schen reisen nach New York und Chicago Ende. Ist er trotzdem Ihr Zukunftsmodell? und sind gerade von den Hochhäusern be- Kollhoff: Nein. Der soziale Wohnungsbau geistert. Die sehen da aber auch anders hat sich überlebt, und das hat Gründe: Die aus. Hier sind es meist plumpe, abstrakte Häuser gehören niemandem wirklich, und Kisten, bei denen die unteren Bereiche das sieht man. Sie werden lieblos geplant, durch Fluchtwege und Lüftungstechnik gebaut und behandelt. Damit keine verhunzt sind. Nehmen Sie dagegen das Mißverständnisse aufkommen: Wir brau- Rockefeller Center: Das hat mit seinen chen nach wie vor öffentlich geförderten gestaffelten Turmensembles eine charak- Wohnungsbau, aber das beste ist, wenn teristische Form und stiftet einen emotio- daraus Eigentum entsteht. Man behandelt nalen Bezug. Und wenn Sie durch die eine Sache anders, wenn sie einem gehört. Straße gehen, kommen Sie an Schau- SPIEGEL: Sie klagen, Architekten könnten fenstern vorbei und vergessen, daß die keine Einfamilienhäuser mehr bauen.War- Häuser noch 300 Meter aufsteigen. um entwerfen Sie selbst kaum welche? SPIEGEL: Wie sieht es denn beim Heimelig- Kollhoff: Wir bauen ja Einfamilienhäuser, keitsfan Kollhoff zu Hause aus? Ist die Ma- stellen aber fest, daß sich die Bereitschaft, tratze vom Boden auf dem Müll gelandet? dafür Geld auszugeben, in Grenzen hält. Kollhoff: Die Matratze ist auf einem Bett- Bei unseren Lohnkosten kann man eben gestell gelandet – das ist allerdings noch für 300000 Mark nichts Vernünftiges bau- ein schlichtes Bauhausmodell. Aber die en. Das Gerede vom Bauen, das noch bil- Glühlampe ist verschwunden. liger werden müsse, führt geradewegs in SPIEGEL: Und was hängt da jetzt? die Wegwerfarchitektur. Mit kultiviertem Kollhoff: Ich war in Lampengeschäften und Wohnen hat das nichts zu tun. Aber ich fand alles unausstehlich. Was macht man sag’ ja: Wenn die Leute ihr Geld lieber für da, wenn man weiß, wie aufwendig es ist, Reisen ausgeben, sind sie gezwungen, ein den besseren Leuchter selbst zu entwer- Haus von der Stange zu kaufen. Wer auf fen? Ich wählte einen venezianischen Lü- Qualität achtet und es sich leisten kann, er- ster, dessen Lichtstimmung mit keinem mo- wirbt ohnehin ein altes Haus – zum Leid- dernen Gerät zu ersetzen ist. wesen unseres Berufsstandes. Interview: Susanne Beyer

der spiegel 12/1999 255 Kultur

FOTOGRAFIE Das Auge des Jazz Er machte den Trompeter Chet Baker zum lasziven Idol und verwandelte Musiker in Models. Nun präsentiert ein opulentes Werk die Meisterstücke des Fotografen William Claxton.

s war 1952, in Kalifornien herrschten einem optischen Ausdruck für den Tonfall Jazz-Goldgräberzeiten, als William und den Rhythmus der Musik, und seine EClaxton einen Auftritt des Gerry-Mul- Bilder des lasziven und trägen Baker mach- ligan-Quartetts fotografierte – mit einem ten den Trompeter, der später zum Inbild klapprigen Kasten, einer „Speed Graphic“. des Jazz-Junkies verfiel, in den Fünfzigern Nach der Show sprach ein Mann den foto- zum James Dean des Jazz. grafierenden Fan an und erkundigte sich, ob „Fotografie ist Jazz fürs Auge“, lautet er dessen Bilder für ein Plattencover ver- Claxtons berühmtes Diktum. Und doch fo- wenden könne. Der Fotograf fragte zurück, tografierte er mit seiner Rolleiflex – die ob der Unbekannte etwa Besitzer einer erste bekam er bei einem Besuch in New Plattenfirma sei. Die Antwort: „Noch nicht, York von Richard Avedon geschenkt – bald aber morgen früh hab’ ich eine.“ auch für die hippe Modeszene. Er zeigte Der Fremde hieß Richard Bock und seine Ehefrau, das Model Peggy Moffitt, in Billie Holiday 1957 gründete 1952 das legendäre Label „Pacific einem „topless swimsuit“ und verwandel- Jazz Records“, das unter anderem den te Jazzmusiker in Models. Mitunter foto- Cool-Jazz-Saxophonisten Mulligan und grafierte er auch jazzferne Pophelden wie den lyrischen Trompeter Chet Baker welt- den Sänger Chris Isaak – immer in jenem berühmt machte. Der junge Mann mit der weichen Licht, das Körper und Instrument Kamera aber wurde zum bekanntesten Fo- der Porträtierten sanft umschmeichelt. tografen der Jazzgeschichte. Manche Kritiker warfen Claxton Schön- Über 250 Fotografien Claxtons versam- färberei vor, doch scheint es, als ließe ge- melt der aufwendige Bildband „Jazz seen“, rade die altmodische Mischung aus Hinga- der nun im Kölner Taschen Verlag er- be, Lauterkeit und Professionalität seine scheint: größtenteils legendäre Fotos aus Bilder überdauern. Auf den frühen Chet- den Jahren 1951 bis 1998. Mitunter scheint Baker-Porträts etwa sieht man den Trom- es, als stehe in Claxtons Bildern die Zeit peter oft ein wenig lächeln, aber kein still; so sehr ähneln die Porträts heutiger einziges Mal lachen. Erst später wurde Stars wie die des großartigen Pianisten bekannt, daß Baker schon damals ein Vor- Brad Mehldau oder des Trompeters Roy derzahn fehlte. „Es ließ ihn ein wenig ver- Haygrove denen von Russ Freeman oder wahrlost aussehen“, berichtet der Fotograf. Miles Davis aus den fünfziger Jahren. Doch Niemals hätte Claxton eines dieser Fotos ist es nur Claxtons Stil, der sich in den letz- veröffentlicht. Konrad Heidkamp Russ Freeman 1954 ten fünf Jahrzehnten kaum verändert hat, oder ist es der Jazz selbst? Claxton, 1927 im kalifornischen Pasa- dena geboren, revolutionierte die Jazz-Iko- nographie. Statt die Musiker von den Rauchschwaden der Clubs umwölkt zu präsentieren, wo schweißtropfende Ge- sichter von der Ekstase der Musik erzähl- ten, ließ er seine Idole von der kaliforni- schen Sonne bestrahlen. Die Jazzwelt rea- gierte verblüfft. Warum stand der drogen- abhängige, eben aus dem Knast entlassene Altsaxophonist Art Pepper idyllisch hin- term Baum? Warum posierte der süchtige Sonny Rollins mit Cowboyhut und Halfter neben dem Kaktus? Es war reinstes Hol- lywood mit all seiner Inszenierung und dem Josef-von-Sternberg-Feeling, das da im Jazz Einzug hielt – und doch war es mehr als Pin- up-Glätte: Denn Claxton verstand sich als „Fotograf, der die Musik liebt – und die Leute, von denen die Musik gemacht wird“. Schon Claxtons Fotos vom jungen Chet Baker belegen, daß sich der Fotograf am Chris Isaak 1996 liebsten unsichtbar machte. Er suchte nach Claxton-Bilder: Optischer Ausdruck für Tonfall und Rhythmus der Musik

256 der spiegel 12/1999 FOTOS: W. CLAXTON, L. A., 1999 CLAXTON, W. FOTOS: Chet Baker mit Ehefrau Helima 1955

Charlie Parker 1951 Tony Bennett 1958

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SCHLAGER Singender Wahnsinn Die Disqualifikation der blinden Sängerin Corinna May macht den Schlager-Grand-Prix erneut zum Medienereignis – zur Freude der Musikbranche.

unden gibt es immer wieder: Ein Auch Michael Kucharski, Promotionlei- Außenseiter gewinnt die deut- ter bei Mays Plattenfirma Polydor, ist nicht Wsche Vorausscheidung zum Euro- glücklich: „Wir hätten vor 1,5 Milliarden visions-Grand-Prix, Freudentränen fließen, Menschen auftreten können.“ Doch auch die Vorbereitungen für das internationale so starte May „granatenmäßig“. In dieser Wettsingfinale laufen. Und dann das: Das Woche kommt ihre CD in die Charts. Siegerlied war ein paar Jahre zuvor schon „Für den Werbeeffekt hätten sie sonst einmal veröffentlicht worden – ein klarer mindestens 800 000 Mark hinblättern müs- Verstoß gegen die Grand-Prix-Regeln. Der sen“, sagt der Münchner Musikverleger Künstler wird nachträglich disqualifiziert. Hans R. Beierlein („Naabtal-Duo“), ein in Der gescheiterte Sieger hieß Tony Mar- Fachkreisen hochgeschätzter Zyniker. „Die shall, der Rauswurf liegt 23 Jahre zurück: sollten das Geld einem wohltätigen Zweck 1976 schied der Schunkel-Barde wegen des zuführen – vielleicht einem Fonds für blin- Formfehlers aus. Zum Finale fuhren statt de Sängerinnen.“ Beierlein zufolge war die dessen die zweitplazierten Les-Humphries- Affäre das beste, was der May passieren Singers. Und ihr Produzent – Ralph Siegel. konnte: „Glückliche Corinna, man hat dich Jetzt wiederholt sich die Farce als Tragö- daran gehindert zu verlieren.“ die. Die Opferrolle ist besetzt mit Corinna Aber auch Siegel habe mit seiner Com- May. 230217 Anrufer hatten die blinde Sän- bo im Finale keine Chance, glaubt Beier- gerin zur Siegerin der Vorausscheidung lein. „Welcher Ire steht schon auf deutsch- gekürt, und hinter der Bühne freuten sich türkische Zweipaß-Nabeltänzerinnen?“ Boulevardreporter: „Eine blinde Blondine Dabei war bis zum vergangenen Freitag, – für Deutschland in Israel, perfekt.“ Doch dem Meldeschlußtag für das Wettsingen in dann wurde May, 28, letzte Woche vom Israel, noch nicht mal sicher, ob Siegel dort Veranstalter der Schla- ger-Sause, dem NDR, ausgemustert – weil der Komponist ihre Schnul- ze „Hör den Kindern einfach zu“ zwei Jahre zuvor schon einmal ver- öffentlicht hatte. Im Nachrückverfah- ren rutschte die tür- kisch-deutsche Forma- tion Sürpriz auf Platz 1 und soll jetzt Deutsch- land beim Finale Ende Mai in Israel vertreten. Sürpriz ist neu, ihr Pro- duzent ein alter Be- kannter: Grand-Prix-

Veteran Ralph Siegel HAESELICH / FOTEX J. („Ein bißchen Frie- Grand-Prix-Gruppe Sürpriz: Die Konkurrentin weint den“), inzwischen 53. Auch Wunder gibt es eben immer wieder, überhaupt antreten darf: Auch er wird be- doch wundersam war nicht so sehr das Co- schuldigt, einen eigenen Uralt-Titel recy- meback des ewigen Siegel. Vielmehr celt zu haben; trotz der Vorwürfe ist Sür- frohlockten die Grand-Prix-Macher, daß priz nominiert worden.Allerdings heißt es ihre Freakshow auch im Jahre eins nach beim NDR: „Wir prüfen weiter.“ Guildo Horn viele Deutsche in einen Ge- Doch egal, was noch passiert, der Nord- fühlsrausch aus echter Begeisterung, Ekel deutsche Rundfunk steht schon jetzt als und Mitleid versetzt. Mögen Finanzmini- Gewinner fest. Seit drei Jahren betreut der ster und EU-Kommissare zurücktreten – die NDR-Redakteur Jürgen Meier-Beer die Masse fühlt mit Verlierern, die richtig trau- vorher zur bedeutungslosen Zombie-Büh- ern können. „Blinde Corinna weint und ne heruntergekommene Grand-Prix-Sen- weint“, rapportierte „Bild“. dung. Die Musik ist seitdem nicht besser

258 der spiegel 12/1999 geworden, dafür läuft jetzt die PR-Maschi- „Das Ziel ist erreicht“, sagt Meier-Beer, ne drumherum wie geschmiert.Am Freitag der Grand Prix habe wieder „den Rang, der vorvergangener Woche verfolgten am Ende ihm zukommt“, womit er irgendwie recht 7,6 Millionen Zuschauer die Vorausschei- hat. Die Chronik des singenden Wahnsinns dung – trotz oder gerade wegen Auftritten hat er jedenfalls professionell verarbeitet: wie dem von Megasüß und ihrem Tampon- „Nur weil ich mit Verrückten zu tun habe, Titel „Ich habe meine Tage“. Menstruation muß ich ja nicht selbst einer werden.“ für Millionen? Konstantin von Hammerstein, Martin Wolf

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich Bestseller ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Belletristik Sachbücher 1 (3) John Irving Witwe für ein Jahr 1 (1) Waris Dirie Wüstenblume Diogenes; 49,90 Mark Schneekluth; 39,80 Mark

2 (2) Henning Mankell Die fünfte Frau 2 (3) Corinne Hofmann Zsolnay; 39,80 Mark Die weiße Massai A1; 39,80 Mark 3 (1) Marianne Fredriksson Simon W. Krüger; 39,80 Mark Von den Bergen in den Busch: 4 (4) Minette Walters Wellenbrecher Die Liebe einer Schweizerin zu einem Goldmann; 44,90 Mark Massai-Krieger

5 (–) John Grisham Der Verrat 3 (2) Jon Krakauer In eisige Höhen Malik; 39,80 Mark Hoffmann und Campe; 44,90 Mark 4 (4) Klaus Bednarz Ballade vom Vom Büro-Tower unter die Brücke: Ein Baikalsee Europa; 39,80 Mark Karriere-Anwalt entdeckt sein Herz für 5 (5) Dale Carnegie Sorge dich Obdachlose nicht, lebe! Scherz; 46 Mark

6 (5) Marianne Fredriksson 6 (6) Jon Krakauer Auf den Gipfeln Hannas Töchter W. Krüger; 39,80 Mark der Welt Malik; 39,80 Mark

7 (7) David Guterson Östlich der Berge 7 (7) Monty Roberts Shy Boy Berlin; 39,80 Mark Lübbe; 49,80 Mark

8 (6) Donna Leon Sanft entschlafen 8 (8) Sigrid Damm Christiane und Diogenes; 39 Mark Goethe Insel; 49,80 Mark

9 (8) Martin Walser Ein springender 9 (9) Helmut Schmidt Auf der Suche Brunnen Suhrkamp; 49,80 Mark nach einer öffentlichen Moral DVA; 42 Mark 10 (10) P. D. James Was gut und böse ist Droemer; 39,90 Mark 10 (10) Monty Roberts Der mit den Pferden spricht Lübbe; 44 Mark 11 (9) Ingrid Noll Röslein rot Diogenes; 39 Mark 11 (11) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch Berlin; 39,80 Mark 12 (12) Nicholas Evans Im Kreis des Wolfs C. Bertelsmann; 46,90 Mark 12 (12) Jürgen Grässlin Jürgen E. Schrempp Droemer; 39,90 Mark 13 (11) Heidenreich/Buchholz Am Südpol, denkt man, ist es heiß 13 (13) Caroline Alexander Hanser; 25 Mark Die Endurance Berlin; 49,80 Mark

14 (14) Marlo Morgan Traumreisende 14 (14) Peter Kelder Die Fünf Goldmann; 39,90 Mark „Tibeter“ Integral; 22 Mark

15 (13) Barbara Wood Das Haus der 15 (–) Harriet Rubin Machiavelli für Harmonie W. Krüger; 49,80 Mark Frauen W. Krüger; 34 Mark

der spiegel 12/1999 259 Kultur

POP Krauts wider Willen Die Veteranen der Pionierband Can, neuerdings auch von jungen Fans umschwärmt, gehen gemeinsam auf Tour – doch auf der Bühne spielt jeder für sich. s ist nicht leicht, den Ruf einer Avant- gardeband zu verwalten, wenn man Edas Vorruhestandsalter erreicht hat. Und deshalb hütet sich Irmin Schmidt, 61, vor allem Schwelgen in vergangenen Zei- ten. „Nostalgie und Wehmut sind uns fremd“, sagt er entschieden. Von Ehrfurchtsbezeugungen altgedien- ter Fans bleiben Schmidt und die anderen Musiker der Kölner Band Can in ihrem Kölner Popband Can (1998): Musik, die am Ende Alltagsleben ohnehin weitgehend ver- schont. Denn viel vehementer als in der sisten Holger Czukay, dem Jazz-Schlag- Heimat feiern Kritiker und Fans in London, zeuger Jaki Liebezeit und dem Beat-Gi- New York und Tokio Can als Pioniere des tarristen Michael Karoli gründete Schmidt intelligenten Pop. Die Londoner „Times“ im Jahr 1968 Can. Dazu sang anfangs der schwärmte zu Jahresbeginn: „Can waren Amerikaner Malcolm Mooney und nach ihrer Zeit weit voraus, und keiner hat mit dessen depressionsbedingtem Ausscheiden ihnen jemals gleichziehen können.“ der Musiker Kenji „Damo“ Suzuki. Den 30. Geburtstag der Band zelebrie- Die Band fand in einer Zeit zusammen, ren nun auch, ein wenig verspätet, die vier in der bundesdeutsche Pop- und Rock-Mu- Kölner selbst: Vor ein paar Wochen siker sich meist darauf beschränkten, die erschien eine „Can Box“, deren zwei CDs Stars aus den britischen Top ten nachzu- unveröffentlichte Can-Werke aus früheren leiern. Genau das aber kam für Can nicht Jahren präsentieren – und dazu eine Bio- in Frage. Weil Rock’n’Roll in Deutschland graphie und eine Video-Dokumentation. keine Tradition besaß, beschlossen sie, bei Zudem sind die Musiker seit vergangener Null anzufangen. Täglich trafen sie sich, Woche unter dem Motto „Can – Solo Pro- um neue Klänge und Konzepte zu erar- jects live“ auf einer kurzen Deutschland- beiten. Und kombinierten dabei ihre Tournee. Dabei musizieren die Can-Vete- Kenntnisse und Vorlieben im Jazz, in der ranen jeweils solo und hintereinander weg; Neuen Musik, in Rock’n’Roll und Folklore. schon um zu vermeiden, daß doch irgend- Spannung sollte erzeugt werden, und wer im Publikum sentimental wird. das glückte ihnen so gut, daß auch im Stu- Eine Reunion, die Wiederbelebung von dio die Fetzen flogen. Noch heute genügt Can im herkömmlichen Sinne, ist nicht ge- ein mißverständlicher Satz von Czukay, plant. „Das widerspräche dem Can-Geist. um den gewöhnlich verstockten Jaki Lie- Wir reproduzieren nicht“, behauptet bezeit kurz, aber heftig „Ne, ne, ne“ brül- Schmidt. Trotzdem ist ein gemeinsames len zu lassen – so will der Schlagzeuger den Musizieren auf der Konzertbühne keines- Bassisten sogar einmal mit einem Beil um wegs auszuschließen: Letztlich zeichnet die Verstärker gejagt haben. Doch weil die der vielbeschworene Can-Geist sich vor Musiker in diesen aufreibenden Arbeits- allem durch Unberechenbarkeit aus. In den kämpfen auch zu erstaunlicher Harmonie vergangenen 30 Jahren war es geradezu fanden und sich nie in drögen Schlagzeug- ein Prinzip des Viererbundes, daß keiner oder Gitarrensoli verloren, gelang ihnen jeweils genau wußte, was die anderen ge- Musik, die am Ende dieses Jahrtausends rade vorhatten. genauso geheimnisvoll und wahrhaftig „Wir passen eigentlich überhaupt nicht zeitlos klingt wie vor 30 Jahren. zusammen, das ist die Herausforderung“, Anerkennung fanden Can schon damals sagt Schmidt, der mal Waldhorn und Klavier zuerst in Großbritannien – dort kürte man studierte, sich unter Ligeti und Stockhausen Can nach Alben wie „Monster Movie“ mit Neuer Musik befaßte, dann aber die bereits in den Siebzigern zu einer der „be- Karriere in der sogenannten Hochkultur deutendsten europäischen Bands“ („Me- sausen ließ, weil er „mit dem klassischen lody Maker“). Allerdings ordneten die Konzertpublikum nichts anfangen konnte“. britischen Verehrer die Can-Musik wie Mit dem Stockhausen-Mitschüler und Bas- nahezu alles, was zu jener Zeit aus der

260 der spiegel 12/1999 des Jahrtausends genauso geheimnisvoll und zeitlos klingt wie vor 30 Jahren

schaft die Welt, nahm noch ein paar Platten auf und befand 1978, daß es nach „zehn Jah- ren totaler Hingabe“ genug sei. Seitdem versuchen sich alle Can-Ehemali- gen an wechselnd er- folgreichen Solo-Un- ternehmungen, produ- zieren Opern, Filmmu- sik und Techno. Und registrieren seit eini- gen Jahren mit Erstau- nen, wie der Ruhm von Can spektakuläre Blüten treibt. Heute rotieren Can-Platten in Can-Musiker (1974): „Zehn Jahre totale Hingabe“ britischen Clubs und amerikanischen Col- Bundesrepublik herübertönte, dem Genre lege-Buden, und vor zwei Jahren erschien „Krautrock“ zu: ein Label, das Schmidt die Doppel-CD „Sacrilege“, auf der pro- und seinen Mitstreitern seither anhängt minente Fans wie Westbam, Sonic Youth und das sie erbost. Für Holger Czukay ist und Brian Eno Can-Songs überarbeiteten. schon Rock ein Schimpfwort. „Da dreht So schmeichelhaft der Trubel ist, so ent- sich alles um das Wiederkäuen gebrauch- schieden lehnen die Kölner Angebote für ter Ideen, es ist das absolute Gegenteil zu gemeinsame Auftritte, etwa vor kurzem Innovation. Nein, danke.“ für eine „Greatest Hits Show“ in London, In Deutschland gelang den Can-Musi- ab: Instrumente wie Baß und Gitarre, mit kern Anfang der Siebziger ihr größter Er- denen Can einst antraten, seien mittler- folg: Zu dem mehrteiligen Krimi „Das weile „schon klanglich total veraltet“, er- Messer“ nach Francis Durbridge lieferten läutert Schmidt. sie mit „Spoon“ die Musik – und landeten Drei der Can-Musiker sind über 60; in der Hitparade.Ansonsten blieben Can in wenn er Gleichaltrige treffe, sehe er mei- ihrer Heimat ein Fall für Eingeweihte, von stens „nur Wüste“, klagt Czukay. Der war denen einige bis heute behaupten, daß jüngst noch mit dem jungen Kölner Tech- nach Damo Suzukis Ausstieg die beste Zeit no-Musiker Dr. Walker auf Tournee – der Band vorüber gewesen sei. Die Zurück- „ein echtes Trash-Manöver“, wie er sagt. gebliebenen beschlossen, den Sänger nicht Das zumeist jugendliche Publikum jubelte, zu ersetzen, und lehnten auch prominente und das findet auch Czukay „viel besser, Bewerber wie den Sex-Pistols-Sänger John als stumpfsinnig die alten Zeiten zu Lydon ab. So bereiste die Rumpfmann- feiern“. Christoph Dallach

der spiegel 12/1999 261 Kultur FOTOS: FOTOARCHIV / DAS BABOVIC T. (kl.) AKG (gr.); Schriftsteller Goethe, Goethe-Ruhestätte Fürstengruft in Weimar: „Sie kamen bei Nacht und hebelten den Sarg auf“

habe den „Faust“ gar nicht selber ge- schrieben. Das Bemühen der DDR-Kultur- KLASSIKER verwalter, Goethes Überreste zu erhalten, wurde zum definitiven Beweis für die Ver- kommenheit des ganzen Systems erklärt. „Alles zum Deibel“ „Sie kamen in der Nacht und hebelten den Sarg auf“, empörte sich die „Bild“- Goethes Leichnam wurde im Jahre 1970 ans Licht geholt und Zeitung; „Endlich kommt Schwung ins Goethe-Jahr“, freute sich die „Abendzei- konservatorisch behandelt. Aus Angst vor Kritik aus dem Westen tung“ und berichtete von einer „sprich- erklärte man die Prozedur zur geheimen Staatsaktion. wörtlichen Nacht- und Nebelaktion“, als habe die Stasi den toten Geheimrat an ei- unkel war’s, der Mond schien helle, Wochen nach der ersten Öffnung des Sar- ner Republikflucht gehindert. Was da an Schnee lag auf der grünen Flur, als kophages, wurden Goethes Überreste er- Ungeheuerlichem ans Licht gebracht wur- Dein Wagen blitzesschnelle langsam neut im Handwagen zurück in die Für- de, lud geradezu ein zu dringenden Nach- um die Ecke fuhr: Bis auf die schneebe- stengruft gebracht, Stück für Stück wieder fragen bei der Gauck-Behörde: Steckte deckte Flur entsprach die Szene an jenem zusammengesetzt und sorgfältig ver- womöglich das Mielke-Ministerium hinter 2. November 1970 dem beliebten Kinder- schlossen. Das Totenhemd des Dichters, der Knochenarbeit? Doch dafür fand sich reim. Sieben Herren machten sich im mit dessen Restaurierung man nicht recht- nicht einmal der Hauch eines Belegs. Schutz der Dunkelheit auf den Weg zur zeitig fertig wurde, blieb allerdings Hauptgrund für die Geheimnistuerei der Fürstengruft auf dem Historischen Friedhof draußen – und wird seither separat im DDR war die Angst vor dem Westen: Man in Weimar: Museumsleute, Mediziner, Ar- Schillermuseum verwahrt. fürchtete den Vorwurf, sich nicht liebevoll chäologen und Restauratoren. Der Vorgang wurde diskret behandelt, und wissenschaftlich korrekt um die Über- Ihr Ziel war der Sarkophag des Dichters allerdings penibel protokolliert. Die „Son- reste des Dichterfürsten gekümmert zu ha- Johann Wolfgang von Goethe, der 138 Jah- derakte Mazeration Goethe“, eine Kladde ben. Ohnedies beobachtete die Welt arg- re zuvor gestorben war. Die Herren mach- aus Papier und Leinen, ruhte seitdem im wöhnisch den Umgang der DDR mit Goe- ten den Sargdeckel auf und eine erstaunli- Goethe-Nationalmuseum, allgemein zu- thes Werk und Leichnam. „Man fürchtete, che Entdeckung: Goethes Leichnam be- gänglich und bei Experten wohlbekannt daß aus der Sache eine kulturpolitische fand sich im Zustand der fortgeschrittenen (siehe Interview) – und doch weithin un- Bombe wird, nach dem Motto, in dem Land Verwesung, selbst der Lorbeerkranz auf bemerkt, bis sie ein Redakteur der „Frank- verfault Goethe“, erinnert sich der Jenaer dem Kopf des Dichters war nicht mehr furter Allgemeinen“ zu Gesicht bekam und Pathologieprofessor Franz Bolck, 80, einer ganz frisch. Nach eingehendem Studium auswertete. Letzte Woche füllte die „Son- der Beteiligten, an die Aktion. klappten die Experten den Sarg wieder zu derakte Goethe“ zwei volle „FAZ“-Sei- Bolck vermutet, daß der damalige Ge- und zogen sich zur Beratung zurück. ten, die kuriose Ausgrabung gipfelte in der neraldirektor der „Nationalen Forschungs- Bald darauf betraten sie erneut die Für- Feststellung: „Das Merkwürdige, das zu- und Gedenkstätten der klassischen deut- stengruft, packten Goethes Gebeine in ei- tiefst Irritierende an diesen Ereignissen schen Literatur in Weimar“, Helmut Holtz- nen Handwagen und brachten sie in das liegt darin, daß sie sich überhaupt zuge- hauer, die Sargöffnung nicht auf eigene Museum für Ur- und Frühgeschichte. Der tragen haben.“ Faust befahl: „So etwas wurde ganz oben Leichnam wurde „mazeriert“, das Skelett Noch irritierender freilich war die Auf- entschieden.“ Die Geheimnistuerei beka- mit einem Feinwaschmittel bearbeitet und regung, die daraufhin in den Medien ein- men auch Bolck und Kollegen zu spüren, konserviert.Am 21. November, knapp drei setzte, so als sei entdeckt worden, Goethe Holtzhauer verweigerte ihnen Abzüge der

262 der spiegel 12/1999 am offenen Sarg gemachten Fotos. Bolck drängte, protestierte sogar schriftlich: Man brauche das Material dringend für das Gut- achten. Holtzhauer lehnte ab. Während die Gräber normaler Sterbli- „Makaber und komisch“ cher nach 15 bis 40 Jahren aufgelassen wer- den, sollte Goethes Grab, so vermuten nun Der Germanist Günter Hess über das Reliquienverständnis journalistische Literaturexperten, „für die der DDR und Goethes Scheu vor dem Tod Ewigkeit“ konserviert werden, damit das SED-Regime „das humanistische Erbe der Hess, 58, lehrt an Hess: Auf jeden Fall. Tilman Spengler Weimarer Klassiker für seine ideologi- der Universität hat in seinem Roman „Lenins Hirn“ schen Zwecke“ mißbrauchen konnte. Würzburg. Seit Jah- geschildert, wie krude die Konservierer Doch was hätten die Ankläger von heute ren erforscht er die dachten. 1970 bei Goethe ging es gar 1970 geschrieben, wäre damals bekannt Wirkungsgeschichte nicht mehr um wissenschaftliche Er- geworden, das SED-Regime würde sich der Weimarer Klas- kenntnis, abgesehen von der Feststel- nicht um Goethes Grabstätte kümmern? sik und ihre Ge- lung, daß der Schädel 1550 Milliliter Genau diese Befürchtung scheint der denkkultur. faßte – als ob das Häufchen eingefüll- Grund der Konservierungs-Maßnahme ge- ter Sand die Spur des Genies zeige. So wesen zu sein. Man habe, so Bolck, schon SPIEGEL: Herr Pro- etwas hatte es in der zuvor stets be-

Jahre zuvor „nachgeforscht“ und festge- A. SMAILOVIC fessor Hess, 1970 ha- hutsamen Weimarer Totenverehrung stellt, daß „der Zustand der Leiche von ben DDR-Konserva- noch nicht gegeben. Goethe hoffnungslos schlecht“ war. toren klammheimlich Goethes Sarg SPIEGEL: Goethe als Trophäe? Um „wenigstens das Skelett zu retten“, geöffnet, die Leiche mazeriert, also die Hess: Mehr noch: als materialistische mußten die „Schäden durch Bakterien und Gewebereste bis auf die Knochen ent- Reliquie. Es ist schon bizarr. Immerhin Pilzbefall“ saniert werden. „Wenn wir da fernt – und darüber eine Dokumenta- hat Goethe selbst mit der Reliquien- was retten sollten, dann gab es keinen an- tion mit vielen Fotos angefertigt. Ken- verehrung angefangen: Denken Sie an deren Weg, als zu mazerieren, sonst geht al- nen Sie die Akte? sein Gedicht auf Schillers Schädel. les zum Deibel.“ Man habe aus der Sache Hess: Ja, seit einigen Jahren. Ich erin- SPIEGEL: Aber daß sein Sarg alle paar „ein Staatsgeheimnis“ gemacht, aber „das nere mich auch sehr gut daran, wie ich Jahre geöffnet werden würde – ver- war gar nicht nötig. Es wurde geheimge- die Abzüge der Filme zum erstenmal mutlich nach dem Krieg, dann 1959, halten wie so vieles, ob mit oder ohne sah. Ich empfand zugleich Schauder 1963, 1970 und wohl noch zweimal da- Grund, ist ja auch wurscht“. und Mitleid bei dem Anblick. Es kam nach –, hätte ihn wohl entsetzt. Die Mazerierung verteidigt der Patho- mir obszön vor.Wie beflissen hatte die- Hess: Sicher. Es liegt ja Welten von dem loge bis heute: „Wir haben gerettet, was zu se Mannschaft von Präparatoren und entfernt, was 1832 geschah: Der Wei- Funktionären gear- marer Oberbaudirektor Coudray hatte beitet! zur Aufbahrung im Erdgeschoß des SPIEGEL: Was war so Goethehauses einen richtigen An- verstörend? dachtsraum inszeniert. Hinter der Bah- Hess: Ich hätte zum re stand ein Altar mit goldener Leier, Beispiel nie gedacht, links und rechts waren ein goldener daß Goethes Haupt Lorbeerkranz und Goethes Ehrendi- noch so gut erhalten plome auf Postamenten ausgestellt, sein könnte, mitsamt Coudrays Tochter hatte den Lorbeer- dem Lorbeerkranz kranz geflochten. vom März 1832. Das SPIEGEL: Weshalb hat Goethe eigent- hatte doch etwas lich nicht verfügt, daß er nach seinem sehr Authentisches Tod eingeäschert werden sollte? und Anrührendes. Hess: Es gab damals noch gar keine Und dann dagegen Krematorien. Solche Vernichtung und hinterher das völlig Auslöschung wäre ihm auch bedroh- freipräparierte Ske- lich vorgekommen – wie Grabriten lett – es sah maka- überhaupt. Goethe hat mit voller Ab- ber und komisch zu- sicht niemals an den Begräbnissen sei- gleich aus. ner großen Zeitgenossen teilgenom- SPIEGEL: Wurde des- men, nicht einmal an dem seiner Frau, halb die Aktion da- denn er meinte, der Tod sei „ein sehr mals so geheimge- mittelmäßiger Portraitmaler“. Und als halten? der Plan aufkam, im Poseckschen

ARD / TAGESSCHAU Hess: Schwer zu sa- Landschaftsgarten ein gemeinsames Foto-Dokument vom Goethe-Skelett: „Schlechter Zustand“ gen. Es hätte wohl Mausoleum für Schiller und ihn zu bau- Empörung gegeben en, dachte er daran allein im ästheti- retten war.“ Bolck, längst pensioniert, kann über die brutale Störung der Toten- schen Sinne. Von der Sache sprach er die ganze Aufregung um den 29 Jahre alten ruhe. nur in Fremdwörtern: Vom „lieu de re- Fall nicht verstehen. „Laßt das doch mal SPIEGEL: Im Ostblock existierte ja eine pos“, wo seine „Exuvien“ ruhen soll- ruhen, das bringt doch für Goethe nichts.“ eigene Tradition der Leichenkonser- ten. Das Leichenwesen war für ihn Und er erinnert sich, „wie der Mann da vierung, wie das Beispiel Lenin zeigt. regelrecht tabu. drin lag in seinem gelben Kleidungsstück, Da war doch schon System am Werk. Interview: Johannes Saltzwedel diese verehrungswürdige Gestalt“, das war „außerordentlich eindrucksvoll“.

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264 der spiegel 12/1999 Die Woche 13. bis 19. März 1999 Chronik

SAMSTAG, 13. 3. THEATER Der Münchner Stadtrat be- TERMINE ruft Frank Baumbauer zum neuen In- 22. bis 28. März 1999 TERROR Bei einem Brandanschlag kur- tendanten der Münchner Kammer- discher Separatisten auf ein Einkaufs- spiele. MONTAG, 22. 3. zentrum in Istanbul sterben 13 Men- schen. CHAMPIONS LEAGUE Bayern München KRISEN Der Parteirat der Grünen erörtert deklassiert Kaiserslautern: 4:0-Sieg in Bonn die aktuellen rot-grünen Turbu- DOPPEL-PASS Die CDU/CSU-Fraktion auf dem Betzenberg. lenzen. annonciert eine Verfassungsklage ge- gen das geplante neue Staatsbürger- KRIMINALITÄT Ein Korruptionsskandal DIENSTAG, 23. 3. schaftsrecht von SPD, Grünen und erschüttert die Münchner Polizei. FDP. Drei Beamte werden wegen Ver- SPITZENGESPRÄCH In München trifft sich strickung in Organisierte Kriminalität Bundeskanzler Schröder mit Führungs- SONNTAG, 14. 3. verhaftet. kräften der deutschen Wirtschaft. LEBENSZEICHEN Oskar Lafontaine bricht sein Schweigen. Vor Journali- DONNERSTAG, 18. 3. MITTWOCH, 24. 3. sten, die seit Tagen sein Haus umla- ENTLASSUNG Im Schloß Bellevue über- RECHTSCHREIBUNG Das Bundesverwal- gern, erläutert er die Hauptursache reicht Bundespräsident Herzog dem tungsgericht in Berlin verhandelt über seiner Flucht aus dem Bundesfinanz- Vorruheständler Oskar Lafontaine die die Klage gegen die Rechtschreibreform. ministerium – das „schlechte Mann- Entlassungsurkunde. schaftsspiel“ der Regierung Schröder. KONFERENZ Sondergipfel der EU-Regie- BERLIN Nach wochenlangen Debatten rungschefs in Berlin. MONTAG, 15. 3. über einen offiziellen Namen für den Reichstag einigt sich der Ältestenrat DONNERSTAG, 25. 3. KOSOVO In Paris beginnt ein neuer des Bundestages auf die Bezeichnung Verhandlungsmarathon. Die Serben „Plenarbereich Reichstagsgebäude“. MESSE Eröffnung der Leipziger Buchmes- verweigern hartnäckig die Stationie- se, Schwerpunktthema: Bulgarien. rung einer Nato-Friedenstruppe. FREITAG, 19. 3. KURDEN Die PKK droht mit neuen FREITAG, 26. 3. AUSREISE Wegen der gescheiterten Anschlägen auf türkische Ferienorte. Kosovo-Konferenz und erhöhter ENTSCHÄDIGUNGEN Die deutsche Bauindu- KOMMUNISTEN Der chinesische Volks- Kriegsgefahr empfiehlt die Bundesre- strie berät in Berlin über eine Beteiligung kongreß verabschiedet eine Verfas- gierung den rund 800 Deutschen in am Entschädigungsfonds für NS-Zwangs- sungsänderung, die den Weg zu mehr Jugoslawien, das Land zu verlassen. arbeiter. Marktwirtschaft ebnet. PARTEIEN Rot-Grün verliert weiter an SAMSTAG, 27. 3. DIENSTAG, 16. 3. Wählergunst. Die SPD liegt laut ZDF- Umfragen mit 40 Prozent deutlich PARTEITAG Die französischen Sozialisten EUROPA Nach Vetternwirtschafts-Vor- hinter der CDU/CSU, die auf 45 Pro- diskutieren in Paris über Europa. würfen tritt die Europäische Kommis- zent kommt. Die Grünen erreichen sion geschlossen zurück. nur noch fünf Prozent. SONNTAG, 28. 3. BÖRSE US-Aktienmarkt auf Rekord- ANKÜNDIGUNG Bis zum 6. April will FESTIVALS In der Staatsoper Unter den kurs: Der Dow-Jones-Index über- Libyen die mutmaßlichen Attentäter Linden beginnen die Berliner Opern- und springt erstmals die 10000-Punkte- der Lockerbie-Katastrophe ausliefern. Konzert-„Festtage 1999“. Marke. HOLOCAUST-MAHNMAL Der Berliner Se- nat will den Wettbewerb um das Mahnmal aussetzen und Grundsatz- Entscheidungen des Bundestages ab- warten. GROSSBRITANNIEN Das britische Unter- haus beschließt die Abschaffung des automatischen Sitz- und Stimmrechts für den Erbadel im Oberhaus.

MITTWOCH, 17. 3. OLYMPIA Die IOC-Vollversammlung schließt sechs Komitee-Mitglieder we- gen Bestechlichkeit aus und spricht Präsident Samaranch das Vertrauen aus. KOALITION Umweltminister Trittin er- klärt das rot-grüne Reformprojekt für Im australischen Melbourne proben die „tot“ und hält „mittelfristig“ eine Akrobaten des kanadischen „Cirque du Soleil“ für ihre große Tournee durch schwarz-grüne Allianz für denkbar. REUTERS Australien und Ostasien.

der spiegel 12/1999 265 Register

Gestorben Garson Kanin, 86. Ohne ihn wären Katharine Hepburn und Spencer Tracy nie Boleslaw Barlog, 92. Der Patriarch des als großes Leinwandpaar in die Film- Berliner Nachkriegstheaters war für zahl- geschichte eingegangen. Kanin schrieb reiche Schauspieler, Autoren und Regis- für die puritanische Geistesaristokratin seure Entdecker und Ziehvater, bewundert und den bärbeißigen irischstämmigen Sauf- vor allem für seine leidenschaftliche Iden- kopf jene fabelhaften Dialog-Duelle, die tifikation mit den Bühnen der Stadt: „Auf sie sich 1942 in ihrem den Knien meines Herzens flehe ich alle ersten gemeinsamen musisch Gesinnten unter Ihnen an, ver- Film lieferten, der Ehe- hindern Sie den geplanten Mord“, schrieb und Emanzipations- der einstige Generalintendant an die Ber- geschichte „Woman of liner Abgeordneten, als sie 1993 beschlos- the Year“. Zusam- sen, das Schiller Theater zu schließen. Bar- men mit seiner Frau log, 1906 in Breslau geboren, wurde 1937 Ruth Gordon verfaßte Regieassistent bei der Ufa, drehte kurze der Drehbuchautor Zeit danach erste Filme, eröffnete 1945 das später zwei weitere

Schloßpark-Theater und übernahm fünf große Hepburn- und AP Jahre später die Intendanz der Staatlichen Tracy-Sparringsrunden, Schauspielbühnen. Barlog hat immer be- „Adam’s Rib“ (1949) und „Pat and Mike“ tont, er sei kein Theoretiker, seine Lei- (1952). Kanin, stets ein Mann der zweiten denschaft für die Bühne sei eher eine Sa- Reihe, erlebte in Hollywood und am Broadway eine lange, erfolgreiche Karriere als Regisseur und Autor. Daß er in seinem Erinnerungsband „Tracy and Hepburn“ auch Details aus dem Privatleben des famosen Paars ausplauderte, hat ihm die Hepburn allerdings nie verziehen. Garson Kanin starb am 13. März in Manhattan.

Bidú Sayão, 96. Ihre Karriere war ein Mär- chen aus alter Zeit: Da debütiert eine blut- junge Brasilianerin in einem rumänischen Konzertsaal, steht 1926, mit 24, in Rom erst- mals auf der Opernbühne, folgt elf Jahre später dem Ruf der New Yorker Met, er-

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN obert mit ihrer zauberhaften „Manon Lescaut“ über Nacht das amerikanische che naiver Begeisterung. Dennoch förder- Publikum, bleibt dort 15 Jahre Darling al- te er nie nur bequeme Erfolgsstücke, er ler Stimmfreaks und lernt, lernt, lernt un- bemühte sich vielmehr, immer wieder ermüdlich weiter – keine Allüren, nur Fleiß. neue Talente aufzuspüren. Der Theater- Schon für die Rolle der Manon hatte sich Prinzipal gilt als Entdecker von Samuel die lyrische Sopranistin mit der virtuosen Beckett („Warten auf Godot“), Edward Al- Koloraturtechnik Tips bee („Wer hat Angst vor Virginia Woolf“) bei der Sängerin der und John Osborne („Blick zurück im Uraufführung geholt; Zorn“) für deutsche Bühnen. Er förderte sie wollte nicht nur Regiegrößen wie Fritz Kortner und Erwin Töne produzieren, son- Piscator und feierte mit Charakterdarstel- dern Charakter zeigen. lern wie Bernhard Minetti und Martin Bellinis „Nachtwandle- Held Triumphe. 27 Jahre lang prägte Bar- rin“ studierte sie des- log das Berliner Theaterleben maßgeblich, halb mit einer rollener- für über hundert Inszenierungen war er fahrenen Kollegin aus

verantwortlich. Auch nachdem er 1972 als der Mailänder Scala AP dienstlängster Generalintendant zurück- ein, für die Traviata trat, blieb er einflußreich und berüchtigt nahm sie Maß bei Gemma Bellincioni, die für seine Impulsivität: Einmal drohte Bar- Verdi selbst noch in dieser Partie bewundert log öffentlich mit dem Vorhaben, einem hatte. Kein Wunder, daß diese Diva ohne Senator eine Holzlatte mit rostigen Nä- Dünkel, die sich Ende der fünfziger Jahre geln über den Kopf zu hauen, später hielt zurückzog, für den modernen Opernzirkus er auf ebenjenen Mann als guter Freund wenig übrig hatte: Heute bestimmten „die die Totenrede. In den neunziger Jahren Regisseure, danach die Dirigenten“ die Sze- äußerte sich der Theatermann frustriert ne, und die Sänger gestalteten ohne Per- angesichts knapper Kulturetats und spar- sönlichkeit: „Sie sind keine Künstler. Ich wütiger Politiker: „Das Theater geht vor mag kein Geschrei, sondern nur schönen die Hunde.“ Boleslaw Barlog starb ver- Gesang.“ Bidú Sayão starb am 12. März in gangenen Mittwoch in Berlin. ihrer amerikanischen Wahlheimat Maine.

266 der spiegel 12/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

sen. Völlig ungehindert von ihren Bo- hung des höchsten belgischen Ordens dyguards war ein anderer Skifahrer auf „Großkreuz mit Schulterband des Leo- den Hängen von Utah über die Enden pold-Ordens“, verbunden mit Besuchen der Skier von Mrs. Clinton gefahren. beim belgischen König und bei Premier Die Präsidentengattin stürzte und ver- Jean-Luc Dehaene am 10. März, stellte letzte sich am Rücken. Nun will sich Hombach dem Ex-Kanzler einen deut- Mrs. Clinton schonen für eine Reise schen Amtsjet. Es gehe nicht an, so schmei- nach Afrika mit Tochter Chelsea. Wie chelte Hombach dem Ordensempfänger, das Magazin „Time“ definitiv weiß, wird der Präsident die beiden dabei nicht begleiten.

Wolfgang Huber, 56, Bischof von Berlin-Brandenburg und evangelischer Sozialethiker, hat sich mit einer PR- Aktion blamiert. Huber wollte am kommenden Sonntag einen ganz unkonventionellen Gottesdienst hal-

V. SICHOV / SIPA PRESS / SIPA SICHOV V. ten, nicht etwa im Berliner Dom Rostropowitsch oder in der Marienkirche, sondern im „Dussmann-KulturKaufhaus“ in der Mstislaw Rostropowitsch, 71, gefeier- Berliner Friedrichstraße. Im Anschluß an ter russischer Cellist, will nie wieder in sei- den Gottesdienst sollte über das Thema nem Heimatland ein Konzert geben. In ei- „Protestantismus und Kultur“ diskutiert nem Interview mit der Zeitschrift „Wek“ werden. Die Aktion wurde nun kurzfristig beklagte sich der Künstler über die Re- abgeblasen. Der Grund: Peter Dussmann, zensionen seines Auftritts zu Ehren des 80. Eigentümer des Kaufhauses, kämpft gegen Geburtstages von Alexander Solschenizyn. das Ladenschlußgesetz und will sein Ge- „Nun ist es endgültig aus“, empörte sich schäft auch am heiligen Sonntag öffnen. der Künstler, „ich gebe nur mehr dort Ausgerechnet am Ostersonntag will der als Konzerte, wo mich die Leute auch hören „Sklavenhalter mit Telefon“ verschrieene wollen, und nicht, wo man sagt, ich hätte Unternehmer, der mit seinem Dienst- meine Glanzzeit hinter mir.“ leistungskonzern Millionen scheffelt, eine Volksbefragung zum Thema starten. Die Hillary Clinton, 51, Ehefrau des treulosen Kirchen hingegen wollen den arbeitsfreien US-Präsidenten Bill Clinton, hat nicht nur Sonntag retten. Der findige Kaufmann hat- Pech in der Liebe, auch beim Skifahren te den Gottesdienst mit Huber bereits in seine Strategie im Kampf für die Sonn- tagsarbeit miteinbezogen – als einen Anlaß, das Kaufhaus auch am Sonntag zu öffnen. Dazu wollte sich Huber nun nicht her- geben.Aus der PR-Aktion für die Kirche, so fürchteten die Kirchenoberen, wäre allein eine PR-Aktion für Dussmann geworden.

Bodo Hombach, 46, Kanzleramtsminister, hat sich mit noblen Gesten einen gewich- tigen Sympathisanten geschaffen: Alt- kanzler Helmut Kohl (CDU). Zur Verlei-

Geri Halliwell, 26, Sängerin und ehe- maliges Spice Girl, teilte in einem Inter- view mit dem Magazin „Jane“ ihren Tee- nie-Fans mit, daß sie nun wohl erwach- sen geworden sei. Als erstes gab sie eine Empfehlung ab zur politischen Zukunft ACTION PRESS ACTION R. EGAN / SYGMA der US-Präsidentengattin Hillary Clin- Hillary Clinton ton. „Sie sollte sich um das Präsidenten- Halliwell amt bewerben“, sagte die früher als Gin- klappt es nicht so recht. Als Gerüchte um- ger Spice bekannte Künstlerin, „sie ist einfach großartig.“ Auch Späße mit hoch- gingen, die First Lady habe an der Mittel- mögenden Herrschaften will sie sich künftig verkneifen. „Ich könnte mich noch im- amerikareise ihres Mannes nicht teilge- mer dafür ohrfeigen, daß ich so was getan habe, wie Prince Charles in den Hintern nommen, weil sie über ihn wütend war, zu zwicken.“ Kurzum: „Je auffälliger du dich benimmst, desto unsicherer bist du, bestätigten Geheimdienstleute, der eigent- und das war ich.“ Beruhigen dürfte die Fangemeinde auch ihre Mitteilung, daß sie liche Grund sei ein beim Skifahren wieder weder Scientologin noch schwanger ist. aufgetretenes altes Rückenproblem gewe-

268 der spiegel 12/1999 daß er immer mit auslän- dischen Maschinen fliege. Hombach hatte erfahren, daß Kohl im Januar zur Verleihung des Oranje-Or- dens „Niederländischer Löwe“ in Den Haag von ei- nem Flugzeug des hollän- dischen sozialdemokra- tischen Regierungschefs Wim Kok in Bonn abgeholt worden war. Hombach re- vanchierte sich mit der

Überlassung eines Fliegers A. BRUTMANN auch für Beistand in einer Tyohar für den Schröder-Intimus peinlichen Situation. In der Tyohar, 30, Nachwuchs-Bhagwan aus Israel, distan- Haushaltsdebatte am 24. ziert sich von der Sanyasin-Kommune im indischen Februar hatte Oppositions- Poona. „Ich weiß, daß sie mich dort nicht mögen, sie chef Wolfgang Schäuble fühlen sich von mir bedroht“, sagt der Jung-Guru auf den hohen Zeitauf- mit dem bürgerlichen Namen Moshe Kastiel, der sich wand des Kanzleramts- in der Tradition des 1990 verstorbenen Meisters Bhag- chefs für die Beschäftigung wan Shree Rajneesh (später: „Osho“) sieht: „Ich habe mit Problemen bei „der Fi- mit Poona nichts zu tun.“ Für seine eigene inter- nanzierung seines Eigen- nationale Anhängerschaft will „Tyohar“, was soviel heims“ angespielt. Hom- bedeutet wie „Fest der Liebe“, deshalb ein neues bach hatte deswegen bei Zentrum in Costa Rica eröffnen. In Israel unterhält Schäuble protestiert und der spirituelle Lehrer bereits eine „Tyohar-Osho“- ihm angeboten, auch ihn Stiftung mit Meditationshaus. Drei Monate im Jahr mit Belegen über seinen ins verbringt der Guru in Israel, doch ideell verbindet ihn Zwielicht geratenen Haus- mit seinem Geburtsland nichts mehr. „Ich habe zwar bau Mitte der achtziger den Paß, aber ich bin kein Israeli, kein Jude“, sagt Jahre zu versorgen. Auch Tyohar, der gern weiße Frotteehosen trägt und in der aus der Umgebung Kohls Tat eher Jesus-Darstellungen ähnelt: „Meine Heimat war scharfe Kritik an ist das Universum.“ Die Aufenthalte in der Luxus- Schäubles Aussagen ge- wohnung seiner Eltern in Herzliyya bei Tel Aviv kommen: Hombach habe genießt er, wie derzeit, gleichwohl: „Ich versuche, so den Altkanzler stets hono- bequem und so schön wie möglich zu leben.“ rig behandelt.Am 17. März berichtete „Bild“-Kolum- nist Mainhardt Graf Nayhauß über einen das neue SPD-Fraktionslogo. Nach Vorga- Besuch Kohls im Büro des im Zusammen- be der SPD-Fraktionsspitze sollte das neue hang mit Oskar Lafontaines Rücktritt in Firmenzeichen der Genossen Parlamenta- den Verdacht der Indiskretion geratenen rier die Kuppel des Reichstages und die Schröder-Helfers. Nayhauß zitierte Kohl: Parlamentsbestuhlung symbolisch wieder- „Ich mag Sie“. geben. Das Ganze war auszuführen in der SPD-Farbe HKS 13, was für Rot steht, Susanne Kastner, 52, Parlamentarische und in der Farbe Grau. Zu sehen ist nun Geschäftsführerin der SPD-Fraktion im unter den Großbuchstaben S, P und D eine Bundestag, zeigte sich hoch erfreut über graue von waagerechten und geschwunge- nen Linien sowie einer Senk- rechten durchzogene Teilansicht einer Kreisfläche. „Ein gelun- genes Werk“, jubelte die Genos- sin bei der Übergabe, wenige Tage nach dem Blitzabtritt von Oskar Lafontaine: „Aufstrebende Linien symbolisieren auch die neugewonnene Stärke der So- zialdemokratie.“ Das alte Fir- menschild kommt nun nicht etwa in die Rumpelkammer, sondern „gehört“ nach dem Willen von SPD-Fraktionschef Peter Struck „ins Haus der Geschichte als

M. URBAN Erinnerung an die Bonner Re- Kastner mit altem und neuem SPD-Logo publik“.

der spiegel 12/1999 269 Fernsehen

Montag, 22. März

15.00 – 16.00 UHR PRO SIEBEN Andreas Türck „Heuchler! Zeig endlich dein wahres Ge- sicht“. O. k.: Welches soll es für diese Talk- show sein?

20.15 – 21.15 UHR RTL Dr. Stefan Frank – Der Arzt, dem die Frauen vertrauen In der Ärzteserie geht es heute um ein Kind, das am Möbius-Syndrom leidet, ei- ner Krankheit, welche die Gesichtszüge er- starren läßt. Das Leiden soll sehr selten auftreten, aber wer Serien und Soaps sieht, Szene aus „Die Liebenden von Pont-Neuf“ mit Lavant, Binoche weiß, daß es sich um eine unter Mimen weit verbreitete Seuche handelt. 1991) verführt den Zuschauer in die Welt wußtsein der Öffentlichkeit zu reanimie- der großen Gefühle, der Farbenpracht, der ren. Heute ein Zweiteiler aus der Biogra- 20.15 – 21.45 UHR ZDF Magie von Sprache und Musik. phie des Dichterfürsten – Auftakt zu einer Schwerpunktreihe. Ein großes Ding 21.00 – 21.45 UHR ARD Dieser zuvor auf Arte gelaufene Zweiteiler 23.45 – 0.30 UHR ARD (Regie: Bernd Schadewald) ist mehr als Report eine Rekonstruktion der Gladbecker Gei- Aus Mainz: SPD nach Oskar – Wo ist, was Eiskunstlauf-WM selnahme: eine moderne Tragödie über den will die Linke? / EU-Agrarmarkt pervers – Wer stolpert so spät übers Eis und ge- Irrsinn der Gewalt und ein packendes Wie aus Einkommensbeihilfen für Bauern winnt? Ach, Vater, siehst du die Kampf- Stück Fernsehen. Zweiter Teil morgen. Subventionen für Großgrundbesitzer wer- richter nicht? den / Genitalverstümmelung bei Frauen – 20.45 – 22.45 UHR ARTE Erste Ermittlungen in Deutschland / Tur- 0.35 – 1.00 UHR RTL botherapie – Warum eine erfolgreiche Dro- Die Liebenden von Pont-Neuf gentherapie ignoriert wird. 10 vor 11 Amour fou in Paris zwischen der jungen, Hast du schon zur Nacht gebetet, Zu- vom Erblinden bedrohten Malerin (Juliette 22.25 – 23.10 UHR 3SAT schauer? Wenn nicht, dann sieh die In- Binoche) und dem Gelegenheitsfeuer- szenierung der Verdi-Oper „Othello“, die schlucker Alex (Denis Lavant), der alles Johann Wolfgang von Goethe Frank Castorf in Basel besorgte, und laß daransetzt, die rettende Augenoperation zu Die DDR stöberte in seinem Sarg herum, den Dolch stecken, wenn du nicht ver- verhindern, um seine schöne Geliebte nicht das kulturbeflissene Fernsehen sorgt mit stehst, was „Othello als Nachricht“ be- zu verlieren. Léos Carax’ Film (Frankreich Übereifer dafür, den großen Alten im Be- deutet.

Dienstag, 23. März 22.25 – 23.50 UHR 3SAT hat. Nun nistet er sich bei seinem Bruder und dessen Frau (Sandrine Bonnaire) ein, 20.15 – 22.15 UHR SAT 1 Mistkerle die in einem französischen Kaff leben, Wegen Brandstiftung saß Roland (Jean- fordert sein Recht und stört den Ehefrie- Umarmung mit dem Tod François Stévenin) im Knast, einer Tat, de- den. Das Regiedebüt von Patricia Mazuy … ist meistens ein frustrierendes Liebes- (Frankreich 1989) fand die Zustim- erlebnis. In diesem TV-Movie (Buch: Karl mung der Kritiker. Heinz Willschrei, Regie: Kaspar Heidel- bach) geht es um ein Callgirl (Andrea Sa- 23.15 – 0.15 UHR SAT 1 watzki), das aus dem Job aussteigen will, um eine Boutique zu eröffnen. Ein Ex-Kun- Die Harald Schmidt Show de (Ulrich Gebauer) ist als Bürge zur Fi- Das Highlight der vergangenen Wo- nanzierung des Ladens vorgesehen, doch che war die Geldverteilung an das er will nicht. Die abgewiesene Ex-Prosti- Publikum. Nach Ossis und Wessis ge- tuierte läßt daraufhin ein Gemälde von trennt, standen die Zuschauer vor ei- Egon Schiele aus der Wohnung des Bürgen nem Schreibtisch auf der Bühne an entwenden, das Unheil nimmt seinen Lauf. und bekamen einen Hundertmark- schein überreicht. Schräger Sinn der 22.15 – 22.45 UHR ZDF großzügigen Aktion: Der Kölner Schalk will Oskar Lafontaines Wirt- 37°: Violettas schönster Tanz Bonnaire, Spiesser, Stévenin in „Mistkerle“ schaftsüberzeugung überprüfen, wo- Wolfram R. Bauer begleitete vier Frauen, nach mehr Geld in der Hand des die in einem Berliner Wohnsilo für bessere ren Strafe er, wie er weiß, auch für seinen Volkes die Wirtschaft ankurbelt. Ob es die- Bedingungen kämpfen. Bruder (Jacques Spiesser) mit abgesessen se Woche wieder so herrlich blöde zugeht?

270 der spiegel 12/1999 22. bis 28. März 1999

Mittwoch, 24. März ändert: Der Mann hat ein Kind aus einer verheimlichten Liaison mit einer Kollegin. 20.15 – 22.05 UHR RTL Nun ist sie in Indien gestorben, der Sohn soll zu seinem Vater. Es dauert lange, bis Florian – sich Maria durchringt, das Kind aufzuneh- Liebe aus ganzem Herzen men – um so größer ist das Entsetzen, als Kinder mit Down-Syndrom haben zur Zeit sie am Flughafen Florian (Dennis Bartel- im Fernsehen Konjunktur – sie rühren an niewöhner) empfangen: Der Sohn aus In- die Schuldgefühle einer Gesellschaft, wel- dien hat das Down-Syndrom. Die weiteren che die Schwachen ausgrenzt. Daß es hier Abschnitte des Films handeln von den nicht um Ausbeutung billigen Mitleids geht, Schwierigkeiten der neuen Eltern, mit Flo- beweist dieser eindrucksvolle Film (Buch: rian zurechtzukommen, mit eigenen Vor- Rodica Döhnert, Regie: Dominique E. urteilen, mit den Widerständen der Schu- Othenin-Girard), der nicht mit Emotionen le, der Sturheit des Jugendamts. Dank des „Holstein Lovers“-Szene mit Tiller, Nils Nelessen spart, ohne in Sentimentalität abzugleiten. präzisen Spiels aller Akteure entfaltet der Maria (Bojana Golenac), eine Kunstre- Film einen emotionalen Sog, in dessen Mit- le im Geist der Nostalgie zu überwinden: stauratorin, und der Herzchirurg Peter (Ti- te anrührend ernst und verletzbar das be- Eine Frau von Welt (mit milder Grandezza: mothy Peach) führen zusammen mit ihrer hinderte Kind steht. Nadja Tiller) und ihr Ex-Lover (Günther Tochter Sophie (Sina Tkotsch) ein glückli- Schramm) beschließen, auf einem Gutshof ches Leben, bis eine Nachricht alles ver- 20.15 – 21.40 UHR ARD ein Seminar zu veranstalten, in dem Bau- ernlümmel zu Latin Lovers geschliffen wer- Holstein Lovers den sollen.Wozu das gut sein soll und war- Wollte man ungerecht sein, könnte man es um die moderne Liebeskultur das macho- als weiteres Indiz für die sich verkehrende hafte Gebalze von einst eigentlich heute Fernsehlandschaft nehmen: Während sich noch braucht, macht der Film nicht klar. RTL mit Außenseitern auseinandersetzt, Die hergeholte Geschichte soll wohl auch beschäftigt sich die öffentlich-rechtliche nur als Folie dienen, superschöne Bilder Anstalt ARD mit Luxusproblemen altern- zu zeigen. Und das gelingt vollauf: So der Gutsschloßbesitzerinnen. Aber auch farbenprächtig und so oft wie hier unter die TV-Kunst ist frei. Die Geschichte der der Regie von Uwe Janson geht selten im NDR-Fernsehspielchefin Doris Heinze Fernsehen die Sonne unter. Schade, daß (Buch) hat mit sozialer Wirklichkeit wenig jede Glaubhaftigkeit gleich mit unter- Golenac, Bartelniewöhner in „Florian“ zu tun, sie entspringt dem Willen, das Rea- gehen mußte.

Donnerstag, 25. März der schwierige Versuch unternommen Kerze an und schlägt dann, ohne zu zö- wird, mit Rechtsextremen ins Gespräch zu gern, der Nachbarin, seiner Frau und dem 16.00 – 17.00 UHR RTL kommen. Sohn den Schädel ein. Am nächsten Mor- gen finden ihn Kollegen erhängt am Fen- Hans Meiser 0.15 – 2.00 UHR VOX sterkreuz vom Firmen-Klo. Herr R. soll „Vergewaltigung in der Ehe gibt es nicht“. kein Amokläufer sein, sondern einer, der Auf jeden Fall durch die Ehe. Warum läuft Herr R. Amok? die Trostlosigkeit des Kleinbürgerlebens Der technische Zeichner Kurt R. (Kurt begriffen hat. 20.45 – 0.55 UHR ARTE Raab) hat Feierabend und entspannt sich und Michael Fengler, die Regisseure dieses vor dem Fernseher, während seine Frau deutschen Filmdramas (1970), stellen ihre Themenabend: mit der Nachbarin über den letzten Skiur- Geschichte minutiös und lähmend lang- Rechtsradikalismus in Europa laub schnattert. Das Kind liegt schon im sam dar. Mit den Aufnahmen aus einem Unter anderem mit einer französischen Bett. Gemächlich steht Herr R. auf, greift Spießerleben wollen sie zeigen: Sinn liegt Dokumentation (Beginn 20.45 Uhr), in der nach einem schweren Leuchter, zündet die nur in der Verzweiflungstat.

Freitag, 26. März allerdings der realen Person des Täters der Zuschauer zu wissen, wer der Schuft nicht näher. In diesem Erotikthriller (Buch: ist: der kahlköpfige Vater (Christian Ber- 13.00 – 14.00 UHR RTL David Gilman, Regie: Peter Patzak) glaubt kel) der schönen Sophie (Cosma Shiva Hagen). Deren Schulfreundin wurde beim Ilona Christen Akt gemeuchelt, und Papi war in der Nähe. „Der Mann für den kleinen Hunger zwi- Ein ermittelnder Kommissar, jung und ero- schendurch“. Heißt er Teddy und mit Vor- tisch (Heikko Deutschmann), drängt sich namen Gummi? mächtig in Sophies Leben, und die Span- nung steigt beträchtlich. Die Szenen dieses 20.15 – 22.20 UHR PRO SIEBEN Films drängen in die Hitze der Nacht, lie- ben das Leichtbeschürzte und kommen Sweet Little Sixteen zum Höhepunkt, wenn das die schönen Der Mörder ist immer der Gärtner, selbst Menschen auch tun.Was braucht man sich wenn er keine Harke in der Hand hält, so da noch um die Motive des Bösen zu sche- hat er doch stets im Garten des Bösen ge- ren, Mörder sind, und sei’s im metaphori- jätet. Mit solchen Weisheiten kommt man Deutschmann, Hagen in „Sweet Little …“ schen Sinne, sowieso immer die Gärtner.

der spiegel 12/1999 271 Fernsehen

Samstag, 27. März SPIEGEL TV 15.30 – 18.00 UHR ZDF Szene aus Berghaus’ „Freischütz“ DONNERSTAG 22.00 – 22.55 UHR VOX Fußball 20.15 – 22.45 UHR 3SAT Gregg-Beton gegen Seeler-Dynamit lautet SPIEGEL TV EXTRA eine in ältere Fußball-Hirne einprogram- Der Freischütz Flitterwochen in Cancún mierte Schlagzeile, und sie meint jenes le- 1993 inszenierte die 1996 verstorbene Ruth Zahlreiche amerikanische und europäi- gendäre WM-Spiel, bei dem der deutsche Berghaus in Zürich Carl Maria von We- sche Paare fliegen zum Heiraten in die Mittelstürmer Uwe Seeler das vom nord- bers romantische Oper und wurde für die Karibik. Das mexikanische Cancún ent- irischen Keeper Harry Gregg gehütete Tor szenische Gestaltung gefeiert. wickelt sich so zum Mekka für Speku- mit Schüssen eindeckte. Heute geht es auf lanten, Animateure, Barkeeper und Im- der Grünen Insel für die Deutschen wieder 22.10 – 23.00 UHR ARD mobilienmakler. Keine andere Stadt in gegen Nordirland, diesmal um die WM- Mexiko wächst so schnell – auf der Qualifikation. Die Profis – Strecke bleibt die Kultur des Landes. Die nächste Generation 20.15 – 21.45 UHR ARD Gleich in der ersten Folge dieser neuen, 13 SAMSTAG Episoden starken englischen Serie salutiert 22.00 – 23.00 UHR VOX Nur ein toter Mann ist der Chef der Eliteeinheit CI5, Harry Ma- ein guter Mann lone (Edward Woodward), vor dem Por- SPIEGEL TV SPECIAL … meint Frauenbuchautorin Gaby Haupt- trät seines Vorgängers. TV-Kenner erinnert Expedition zum Loch Ness – mann. In dieser Verfilmung ihres Bestsel- das Bild an die legendäre Serie „Die Pro- dem Ungeheuer auf der Spur lers spielt Thekla Carola Wied die Ehefrau fis“, in der mit viel Ironie und Witz ermit- Bereits in den siebziger Jahren hatte eines Unternehmers. Nach dessen Tod telt wurde und in welcher der 1990 ver- eine kleine Forschertruppe versucht, blüht die Witwe auf und kommt hinter die storbene Schauspieler Gordon Jackson den Nessie auf die Spur zu kommen – jetzt Machenschaften ihres verstorbenen Gat- Chef gab. Die neuen Folgen basieren auf reiste sie erneut zum legendären Ge- ten. Da müssen sich manche Männer warm der gleichen Grundidee wie die früheren anziehen – Thekla Carola kennt kein „Profis“ – eine kleine Einheit operiert un- Pardon. abhängig gegen böse Attentäter.

Sonntag, 28. März ten kommen ans Licht. Der junge Autor Michael Gruber schrieb das Buch, Regie 19.45 – 21.15 UHR BAYERN III führte Erich Neureuther.

Der grade Weg 20.15 – 21.45 UHR ARD Statt auf den ausgetretenen Wegen des üb- lichen Sonntag-Fernsehabends zu wan- Tod eines Festmachers SPIEGEL TV deln, bietet sich hier dem Zuschauer zu Fastmoker – plattdeutsch für Festmacher – Loch-Ness-Forscher ungewöhnlicher Zeit eine zünftige Tour ins gehören zum Hamburger Hafen wie das Bayerische. Die „Heimatgeschichte“ – der Buddelschiff in die Flasche. Sie vertäuen wässer in den schottischen Highlands, Sender vermeidet die schollenschwere Vo- die Ozeanriesen und sind stolz auf die Tra- um ihr Lebenswerk zu beenden. kabel Heimatfilm – handelt vom verlore- dition. In diesem Krimi (Buch: Raimund nen Sohn Sebastian (Hans Kitzbichler), der Weber, Regie: Andreas Thiel) bedroht Bil- SONNTAG ligkonkurrenz die Arbeiter. Carla Behle 21.55 – 22.45 UHR RTL (Donata Höffer), Chefin eines Hamburger Traditionsunternehmens, gerät mit ihrem SPIEGEL TV MAGAZIN Familienbetrieb mehr und mehr in die Gewalt, Drogen, Anarchie – Die multi- wirtschaftliche Krise, schließlich droht ihr nationale Knastgesellschaft in Deutsch- der Ruin. Ein Konkurrent will mit viel Geld land / Kreditkarte statt Taschengeld – einen Mann der verschworenen Festma- Schuldnerberatung bei Jugendlichen. cher-Gemeinschaft abwerben. Der ver- meintliche Verräter (Kai Maertens) be- 23.10 – 23.40 UHR SAT 1 kommt von den Kameraden Prügel und wird später tot aus einem Hafenbecken ge- SPIEGEL TV REPORTAGE zogen. Recherchen ergeben, daß der Tote Gesunken vor New York – in illegale Fleischgeschäfte verwickelt war, Rätsel um ein deutsches U-Boot und der Zuschauer wünscht sich bald Fest- Als vor sieben Jahren vor der Küste von Filmszene aus „Der grade Weg“ macher für den immer stärker herumflat- New York ein deutsches U-Boot-Wrack ternden Handlungsfaden. aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden nach acht Jahren in sein Dorf zurückkehrt. wurde, wußte niemand, wie es dort hin- Man hatte ihm die Verantwortung für den 22.15 – 23.20 UHR RTL 2 gekommen war. Eine Gruppe von Tau- Tod des Bürgermeistersohns gegeben, weil chern begann daraufhin die abenteuer- Sebastian als bester Bergsteiger bei einem Peep! liche Suche in 70 Meter Tiefe nach Hin- Ausflug zu dritt dessen Tod nicht hatte ver- Peep, peep, Mäuschen, Verona bleibt zu weisen auf die Identität des mysteriösen hindern können. Doch der Berg ruft bald Häuschen. Wer will schöne Sendung ma- Schiffes. ein zweites Mal, und verborgene Wahrhei- chen, der muß haben Sadosachen.

272 der spiegel 12/1999 Werbeseite

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Aus der „Westfälischen Rundschau“: „Das Zitate Ministerium verlangte allerdings Klarstel- lungen zugunsten einiger homöopathischer Der „Mannheimer Morgen“ Mittel und der außerordentlichen Anwen- zum Rücktritt Oskar Lafontaines dung bestimmter Medikamente bei Be- von seinen Ämtern: handlung von Krebs, Aids und Kindern.“ Drei Tage verkroch er sich grollend in sei- nem Saarbrücker Haus, gestern mittag meldete sich Oskar Lafontaine auf der po- litischen Bühne zurück … Seinen ersten Auftritt nach dem plötzlichen Rückzug als Aus dem „Tagesspiegel“ Finanzminister und SPD-Chef hatte La- fontaine sorgfältig inszeniert. Nach ersten Andeutungen am Samstag abend kündig- te der Lafontaine-Kenner und Bonner SPIEGEL-Redakteur Klaus Wirtgen die klärenden Worte in der ARD-Sendung „Presseclub“ an. Kaum war die Fernseh- diskussion beendet, öffnete sich in Saar- brücken die Haustür, und Lafontaine trat vor die Kameras. Mit vom mittäglichen Beeren-Nachtisch blauen Zähnen warb er Aus dem Hagener „Wochen Kurier“ zuerst um Verständnis für sein tagelanges Schweigen: „Ich habe natürlich einen ge- wissen Abstand zu meiner Entscheidung gebraucht.“ Schon bald folgte die harsche Kritik an den Gegenspielern im Kanzler- amt. Aus einer Ankündigung des Fortbildungs- forums Pharmazie Die „Zeit“ zu den Protesten gegen das Vorhaben des Hamburger Senats, zur Erweiterung des Werks- geländes von DaimlerChrysler Aerospace AG einen Teil der Elbland- schaft zuzuschütten, und zum SPIEGEL-Bericht „Stadtplanung – Hamburg opfert das ‚Mühlenberger Loch‘“ (Nr. 7/1999):

Wachstum, Wachstum. Und natürlich hat es auch die mitregierende sogenannte Grünalternative Liste längst industrieser- TV-Ankündigung aus der „Badischen Zei- vil abgenickt, und alles ginge wie immer tung“ und in aller Stille und im engsten Filz- & Freunderlkreis – wenn, ja, wenn sich die- ser schöne Winkel, Mühlenberger Loch ge- Aus der „Ärztlichen Praxis“: „Bei man- nannt, nicht ausgerechnet just gegenüber chen genügt eine einzige Impfserie, um le- den Elbvororten befände, Blankenese, benslangen Schutz zu garantieren. Imp- Nienstedten, da, wo die Reichen wohnen fungen richten keinen Schaden an. Ledig- und die CDU die Wahlen gewinnt. Da lich mit vorübergehenden Schmerzen an herrscht nun helle Empörung, Kaschmir- der Stichstelle, Tötung oder Verhärtung ist pullis beben, Perlenketten zittern vor Ent- zu rechnen.“ rüstung: die herrliche Aussicht, die schöne Landschaft – verbaut und verschandelt von 14 Stockwerke hohen Montagehallen und Depots! Die Industrie- und Wachs- tumsfraktion, die sich sonst so gern über Wachtelkönigschützer und Feldhamster- kämpfer lustig macht, ist außer sich. Und selbst der SPIEGEL, der für Ökos und grü- Aus einer Stellenanzeige der „taz“ ne Aktivisten oft genug nur zeitgeistdevo- te Häme übrig hat, barmt plötzlich, Aus- gabe 7/99, sechs Seiten breit über die Zer- Die Zeitschrift „Gala“ über die Wohnung störung eines „einzigartigen Rückzugs- von Hans-Olaf Henkel: „Die Wohnung ist winkels seltener Vogel- und Fischarten“ liebevoll eingerichtet, und doch zeigt sie und geißelt den „Wahn der Technokra- die nicht vorhandenen Spuren des Unbe- ten“ um Hamburgs Wirtschaftssenator wohntseins.“ Mirow.

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