Universität Zürich Seminar für Filmwissenschaft

Seminar für Filmwissenschaft (Hg.)

Schlagwörter der Seminar-Videothek Systematik und Glossar

Christine N. Brinckmann Konzept

Philipp Brunner und Ursula von Keitz Texte

© 2004 bei den AutorInnen Editorial

Als eines der wenigen filmwissenschaftlichen Institute im deutschsprachigen Raum verfügt das Zürcher Seminar über eine Filmsammlung, die verschlagwortet ist. Gegenwärtig umfasst der Bestand rund 15'000 Filme auf VHS und DVD. Studierende und Forschende können ihn nicht nur nach Filmtiteln und RegisseurInnen abfragen, sondern auch nach Sachbegriffen, die in einem Schlagwortregister zusammengestellt sind. Das ermöglicht unterschiedlichstes Suchen: nach «exzessiven Melodramen» und «Italowestern», nach «Arztfiguren» und «Täterinnen», nach Filmen der «Tschechoslowakischen Neuen Welle» oder solchen, die im «Dschungel» spielen. Insgesamt zählt das Schlagwortregister des Seminars über fünfhundert Suchbegriffe. Während mehr als zwei Jahren haben wir dieses Register einer umfangreichen Revision unterzogen und durch ein lexikonartiges Glossar erweitert, das nun als Schlagwörter der Seminar-Videothek. Systematik und Glossar vorliegt. Im Unterschied zu ähnlich gelagerten Nachschlagewerken bilden filmische Motive und Figuren hier einen wesentlichen Bestandteil – nicht zuletzt aus dem Befund heraus, dass motiv- und figurenspezifische Nachschlagewerke in der deutschsprachigen Filmwissenschaft bis heute fehlen.

Die Schlagwörter der Seminar-Videothek bestehen aus zwei sich ergänzenden Teilen. Teil I ist als Systematik aufgebaut. Hier sind die Suchbegriffe nach einem Dutzend inhaltlicher Oberbegriffe (, Motive, Figuren, filmhistorische Epochen, Erzählformen etc.) geordnet. Dieser Teil gibt in erster Linie darüber Auskunft, welche Schlagwörter in der Seminarvideothek überhaupt existieren und wonach gesucht werden kann. Teil II ist als alphabetisch geordnetes Glossar konzipiert, in dem jedes einzelne Schlagwort durch eine Definition erläutert und durch Querverweise von benachbarten Begriffen abgegrenzt wird. Jeder Definition sind einige Beispielfilme beigefügt, die sich in der seminarinternen Sammlung befinden. Dieser zweite Teil gibt Aufschluss darüber, was die einzelnen Begriffe bedeuten.

Das neue Nachschlagewerk erfüllt mehrere Funktionen. In seiner doppelten Anlage (Systematik und Glossar) sorgt es für möglichst rasche Orientierung im Dickicht unseres Schlagwortbestandes. Gleichzeitig ermöglicht es die systematische Recherche von Filmen für Vorträge, schriftliche Hausarbeiten, Lizenziatsarbeiten, Artikel etc. Und schließlich soll es auch dies wecken: die Neugier auf die ständig wachsende Filmsammlung des Seminars und die Lust am Schmökern. Allerdings – wie allen derartigen Nachschlagewerken haftet auch den Schlagwörtern der Seminar-Videothek etwas Schillerndes an: Denn sie bieten nicht nur Orientierung, sondern immer auch Verknappung; sie geben Wissen verkürzt wieder, und ihre Grenzen zueinander sind längst nicht so fest, wie es manchmal wünschenswert scheint. So liegt hier also nichts Endgültiges, geschweige denn Erschöpfendes vor, sondern ein hoffentlich griffiges Hilfsmittel unter anderen.

Weder die Revision des Schlagwortbestandes noch das Verfassen des Glossars wären ohne die Hilfe und die Anregungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Seminars für Filmwissenschaft gelungen. Ihnen allen danken wir herzlich: Matthias Brütsch für frühe Entwürfe der Schlagwort- Systematik, Daniela Casanova für Bereinigungsarbeiten in der Filmdatenbank, Thomas Christen für die kritische Durchsicht der filmhistorischen Schlagwörter, Jan Sahli für das Korrektorat, Tereza Smid für die Titelgestaltung und, vor allem, Urs Suter für den Datentransfer. Unser größter Dank gilt Christine Noll Brinckmann, die den vorliegenden Schlagwortbestand, wie so Vieles, überhaupt erst aufgebaut hat.

Zürich, im Frühling 2004 Philipp Brunner, Ursula von Keitz Inhalt

I Systematik (Schlagwort-Register, gegliedert nach Oberbegriffen) ...... 1

Gattungen Genres, Subgenres, Formate Motive, Themen, Stoffe Figuren und Figurenkonstellationen Schauplätze Filmhistorische Epochen, Stilrichtungen, Bewegungen Erzählformen und narrative Aspekte Ästhetische und technische Aspekte Produktions- und Rezeptionsaspekte Verfilmungen, Adaptionen, Aufzeichnungen Andere Kunstformen Weltregionen

II Glossar (Schlagwort-Definitionen, alphabetisch gegliedert) ...... 4 Systematik 1

Gattungen Piratenfilm Musical Actionfilm Backstage-Musical Amateurfilm Arbeiterfilm Rock-Musical Animationsfilm Ausstattungs- und Kostümfilm Neonoir Dokumentarfilm Autobiografie Operettenfilm Essayfilm Bergfilm Phantastik Experimentalfilm Beziehungsdrama Pikareske Industriefilm Biopic Politikerfilm Lehrfilm Historisches Frauenschicksal Polizeifilm Spielfilm∗ Charakterstudie Pornografischer Werbefilm Dramatische Szene Softporno Eastern Problemfilm Ehedrama Quartierstudie Ein- und Zweiakter Querschnittsfilm Erotische Szene Reporterfilm Genres, Subgenres, Formate Familiendrama Revuefilm Amateurfilm Familiensaga Roadmovie Home movie Fantasy Samurai-Film Féerie Schaunummer Animationsfilm Frauenfilm Schlagerfilm Gangsterfilm Science Fiction Computer- Gespenstergeschichte Sexfilm Zeichentrickfilm Gestellte Szene Splatter Tanzfilm Dokumentarfilm Neuer Heimatfilm Thesenfilm Aktualitäten Historische Milieustudie Doku-Drama Historische Rekonstruktion Agententhriller Doku-Porträt Horrorfilm Politthriller Ethnografischer Film Hotelfilm Psychothriller Fiktionalisierender Dokumentarfilm Justizdrama Tierfilm Filmhistorische Dokumentation Katastrophenfilm Vampirfilm Gestellte Szene Komödie Humanitärer Dokumentarfilm Anarchokomödie Cowboywestern Inszenierter Dokumentarfilm Ehekomödie Goldgräberwestern Interview Gaunerkomödie Indianerwestern Investigativer Dokumentarfilm Gesellschaftskomödie Italowestern Kulturfilm Groteske Kavalleriewestern KünstlerInnenporträt Horrorkomödie Problemwestern Kurzdokumentarfilm Komikerkomödie Saloonwestern Langzeitstudie Komische Szene Sheriffwestern MusikerInnenporträt Romantische Komödie Singing Western Nichtfiktionale Szene Spätwestern Oral History Sexkomödie Trapperwestern Pseudo-Dokumentarfilm Situationskomödie Überfallwestern Querschnittsfilm Sketch Wiener Film Semidokumentarfilm Slapstick Tierfilm Sophisticated comedy Wochenschau Tragikomödie Essayfilm Verwechslungskomödie Motive, Themen, Stoffe Politischer Essayfilm Kriegsfilm Antikriegsfilm Absurdismus Experimentalfilm Kriegsdrama Adoleszenz Abstrakter Film Kriegsgefangenenfilm Collage Alltagsbeobachtung Kriegsromanze Alptraumhafte Verstrickung Experimenteller Dokumentarfilm Kriegssatire Alter Experimenteller Spielfilm Kriminalfilm Fensterfilm Anklage und Aufdeckung Wirtschaftskrimi Antike Materialfilm Apartheid Meditation KünstlerInnenfilm Minimalismus Arbeitskampf MusikerInnenfilm Aristrokratie Struktureller Film Kurzspielfilm Armut Underground-Film Märchen Authentischer Fall Spielfilm Bäuerliches Leben Exotisches Melodrama Abenteuerfilm Befreiungskampf Exzessives Melodrama Abenteuerromanze Behinderung Mantel und Degen Mutterdrama Berufswelt Milieustudie Beziehungen im Alltag Militärklamotte Beziehungs- und Familienmord ∗ Der Begriff «Spielfilm» erscheint hier nur Monumentalfilm Coming-out Moralisches Rührstück der Vollständigkeit halber. In der Filmsamm- Coup lung des Seminars für Filmwissenschaft wird Crossdressing er nicht vergeben, da die meisten Filme Dekadenz Spiefilme sind. 2 Systematik

Dritte Welt Rassismus Lesben Duell Reise Mad scientist Emigration Irrfahrt Menacing husband Erlösungs- und Heilsgeschichte Zeitreise Menacing wife Erotik Religion Menschliche Bestie Homoerotik Resozialisierung Monster Erotische Szene Revolte der Natur Outlaw Existenzialismus Revolte der Technik Pathologischer Killer Exotismus Revolution Privatdetektiv Expedition und Schatzsuche Französische Revolution Riesen Faschismus Russische Revolution Schicksalsgemeinschaft Antifaschismus Robin-Hood-Stoff Schmuggler Feminismus Serienmord Schwule Flucht Sexualdelikt Seeleute Generationenbeziehung Inzest Täterin Genozid Sexualität Transsexuelle Holocaust Homosexualität Ungleiches Paar Geschlechterkampf Hörigkeit VagabundIn Gesellschaftskritik Perversion Veteranen Gewalt Sadomasochismus Viereck Heiligenlegende Shakespeare Weiblicher Detektiv Identitätsproblem Spiele und Glücksspiele Weiblicher Verfolger Initiation Spionage Weiblicher Westernheld Intrigenspiel Sport Zirkus und Artisten Jagd Subkultur Zombie Judentum Sucht und Drogen Zwerge Jugendkriminalität Systemkritik Zwillinge Karrierestory Terrorismus Kindheit Teufelsaustreibung Klamauk Tod Klassenverhältnisse Traum Kleinkriminalität Übersinnlicher Horror Schauplätze Kolonialismus Unschuldig beschuldigt City Kommunismus Utopie Dorf Antikommunismus Dystopie Dschungel Konkurrenzkämpfe Endzeitvision Frontier Korruption Verfolgung Gefängnis Krankheit Voyeurismus Institution Krieg Widerstand Kabarett Amerikanischer Bürgerkrieg Zeitgeschichte Kleinstadt Bürgerkrieg Zensur Lager Erster Weltkrieg Landschaft Golfkrieg Provinz Guerilla Psychiatrie Kalter Krieg Schule Spanischer Bürgerkrieg Figuren und Südstaaten (USA) Vietnamkrieg Figurenkonstellationen Theatermilieu Zweiter Weltkrieg AbsteigerIn Trabantenstadt Kulturkontrast Agenten Unterwelt Leidensgeschichte Arztfigur Weltraum Liebesgeschichte AufsteigerIn Wüste Amour fou Ausserirdisches Wesen Zirkus und Artisten Tragische Liebe AussteigerIn Mafia Body snatcher Männerverhalten Buddy-Buddy Massenmedien Diva Mensch-Maschine-Problematik DoppelgängerIn Filmhistorische Epochen, Militär Dreieck Stilrichtungen, Bewegungen Minoritätsprobleme EinzelkämpferIn Mittelalter Avantgarde der 1920er Mythos Abstrakter Film Figurenmosaik Pygmalion-Stoff Konstruktivismus Freak Nationalsozialismus Surrealismus Freundinnenpaar Obsession Black Cinema Gefallene Frau Ökologie Gruppenporträt Perestrojka HeimkehrerIn Politisches Klima Cinéma Beur Hexe Prähistorie Cinema Nôvo IndianerInnen Prostitution Cinéma Vérité Kindliche Protagonisten Psychopathie Direct Cinema Kleine Leute Psychotherapie und Psychoanalyse Künstlergestalt Rache Expressionismus Künstliche Menschenwesen Systematik 3

Film d’Art Ästhetische und Andere Kunstformen technische Aspekte Architektur Formalismus Farbe Art Déco Filmtechnik Fernsehen Frühe Kinematografie Handkamera Fotografie Früher Tonfilm Licht Jazz Fünfte Generation Musik Kabarett Geistige Landesverteidigung Plansequenz Malerei Impressionismus Special Effects Musik Jiddisches Kino Ton Tanz Junger Deutscher Film Trick Videokunst Kammerspiel Voice-over Videoclip Kinematografie der zweiten Epoche Magischer Realismus Neorealismus Neue Sachlichkeit Neue Welle Produktions- und Weltregionen Rezeptionsaspekte Neuer Deutscher Film Lateinamerikanisches Kino Neuer deutscher Frauenfilm Agitation Maghrebinisches Kino Neuer Schweizerfilm All-Star-Picture Schwarzafrikanisches Kino New American Cinema Anschlussprodukt Südostasiatisches Kino New British Cinema B-Picture Vorderasiatisches Kino Beiprogramm Zentralasiatisches Kino Nouvelle Vague Blockbuster Perestrojka Camp Poetischer Realismus Debutfilm Postmoderne Dialektfilm Queer Cinema Exilfilm Radical Cinema Exploitation Rive gauche Familienkino Russischer Revolutionsfilm Faschistischer Film Série Noire Flop Sozialistischer Realismus Fortsetzungsfilm Später Stummfilm Found Footage Strassenfilm Fragment Stummfilm ohne Titel Improvisation Tauwetter Kinderkino Kompilationsfilm Kultfilm Tradition de qualité Laiendarsteller Trümmerfilm Leuzinger Tschechoslowakische Neue Welle Low budget Nationalepos Poetischer Film Prequel Erzählformen und Produktionsbericht narrative Aspekte Propaganda Regierungsfilm Abweichende Erzählmuster Remake Allegorie Schulfilm Politische Allegorie Teenagerkino Apsychologische Erzählweise Trailer Episodenfilm Zensurfall Fremde Erzähltradition Icherzählung Intertextualität Mehrteiler Verfilmungen, Adaptionen, Monodrama Aufzeichnungen Multiple Diegese Parabel Ballettverfilmung Parodie Bibelverfilmung Rückblendenstruktur Comicsverfilmung Satire Dramenverfilmung Politische Satire Konzertaufzeichnung Schwarzer Humor Legendenverfilmung Selbstreflexion Literaturverfilmung Serie Lyrikverfilmung Travestie Musikverfilmung Vorausblende Opernverfilmung Zyklus Tagebuchverfilmung Theateraufzeichnung 4 Glossar

gewissermaßen das Gegenkonzept zur AbsteigerIn ist. A phb Beispiele: Abenteuerfilm. Fiktionales , in dessen Zentrum GREED (Erich von Stroheim, USA 1923) eine meist männliche Hauptfigur steht, die aus ihrem all- BARRY LYNDON (Stanley Kubrick, USA 1975) SANS TOIT NI LOI (Agnès Varda, F 1985) täglichen Lebenszusammenhang hinaustritt und in eine Welt unerwarteter Gefahren, sich überschlagender Ereig- nisse und (oft) exotischer Gegenden gerät. Häufig kom- Abstrakter Film. Stilrichtung des EXPERIMENTAL- men die erzählten Geschichten als AUSSTATTUNGS- UND , die der AVANTGARDE DER 1920ER zuzurechnen KOSTÜMFILM daher, die sich des ROBIN-HOOD-STOFFS ist. Im Vordergrund stehen formale (und weniger inhalt- bedienen oder in denen sich Figuren à la Herkules (vgl. liche oder narrative) Bezugsmöglichkeiten zwischen den ANTIKE), Zorro, Scaramouche und Rob Roy samt ihren einzelnen Einstellungen. Gegenstände oder Menschen Kontrahenten tummeln. Wiederkehrende Motive sind werden nicht aufgrund der «Bedeutung» gefilmt, die FLUCHT und VERFOLGUNG, DUELL, EXPEDITION UND ihnen herkömmlicherweise zugeschrieben wird, sondern SCHATZSUCHE u. ä. Der Abenteuerfilm kann Genres wie in erster Linie um ihrer Form Willen. Entsprechend sind es MANTEL UND DEGEN, PIRATEN- und KRIEGSFILM um- Parameter wie Bildkomposition, Bewegung, FARBE, fassen, hat komische, oft romantisierende Züge (vgl. LICHT und Rhythmus, die die Montagelogik des ABENTEUERROMANZE) und neigt zum EXOTISMUS. Abstrakten Films bestimmen. Eine frühe Richtung des Die Überschneidungen mit dem ACTIONFILM sind zahl- Abstrakten Films ist der so genannte «Absolute Film», reich, allerdings liegt das Interesse des Abenteuerfilms der nicht nur ganz auf jegliches narrative Element ver- weniger auf den Stunts als mehr auf dem persönlichen zichtet, sondern auch darauf, Objekte im Sinn eines foto- Erlebnis der Hauptfigur, die dem (oft männlichen Ziel-) grafischen Abbildes überhaupt zu filmen. Stattdessen be- Publikum als Identifikationsfigur dienen soll. phb schränkt er sich auf «anorganische», meist gemalte Beispiele: Motive, strebt oft «musikalische» Strukturen an und ist MÜNCHHAUSEN (Josef von Baky, D 1943) insgesamt ein experimenteller ANIMATIONSFILM. phb L'HOMME DE RIO (Philippe de Broca, F/I 1963) RAIDERS OF THE LOST ARK (Steven Spielberg, USA 1981) Beispiele: BALLET MÉCANIQUE (Fernand Léger, F 1923) DIAGONAL-SYMPHONIE (Viking Eggeling, D 1924) OPUS III (Walther Ruttmann, D 1924) Abenteuerromanze. Spielart des ABENTEUERFILMS, der durch eine romantische (heterosexuelle) Beziehung angereichert ist: Hier wird in der Regel die Gelegenheit Absurdismus. Als literaturwissenschaftlicher Terminus genutzt, unternehmungslustige und kühne weibliche Fi- geht der Begriff absurd auf die Philosophie des EXISTEN- guren mit ungewöhnlicher Biografie zu präsentieren, die ZIALISMUS im Frankreich der 1950er Jahre zurück oft zunächst als Gegenspielerin des Protagonisten fungie- (Sartre, Camus u. a.) und bezieht sich auf die Texte des ren (vgl. UNGLEICHES PAAR). Dramaturgisch ist die Ro- «Absurden Theaters» (théâtre de l'absurde), in deren manze dem Abenteuer gleichberechtigt und mit ihm ver- Zentrum die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz an schränkt; sie kann der Handlung eine milde oder heitere sich steht. Absurde Filme nehmen eine ähnliche Haltung Note geben. Meist finden Romanze und Abenteuer zum ein, außerdem sind sie mit den Anforderungen der Logik gemeinsamen Happy-End. phb (z. B. Widerspruchsfreiheit) nicht zu vereinbaren und/oder Beispiele: sie schildern Sachverhalte, die mit den Mitteln der TO HAVE AND HAVE NOT (Howard Hawks, USA 1944) Vernunft nicht zu begreifen sind. Auf der Ebene der DAS WIRTSHAUS IM SPESSART (Kurt Hoffmann, BRD 1957) Narration werden Konventionen der Kausalität und Chro- ROMANCING THE STONE (Robert Zemeckis, USA 1984) nologie sowie andere Ordnungsprinzipien außer Kraft gesetzt mit dem Ziel, den irrationalen Zustand der Welt zu charakterisieren. Absoluter Film s. ABSTRAKTER FILM Vgl. dagegen die GROTESKE, die einen tendenziell poli- tischen und weniger philosophischen Anspruch hat und außerdem die Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz nicht AbsteigerIn. Figur im Spielfilm, die durch äußere Um- in Frage stellt. Anders gelagert ist auch die ANARCHO- stände zum Außenseiter wird und innerhalb des sozialen KOMÖDIE, deren Handlung zwar Anarchisches zeigt, die Hierarchiegefüges absteigt. Diese Abwärtsbewegung be- als Struktur jedoch immer im Bereich des Logischen und stimmt den dramaturgischen Bogen des Films und wird Kohärenten bleibt. Schließlich verzichtet der KLAMAUK, typischerweise durch eine Reihe passender Motive ange- die schiere Alberei, ganz auf philosophische Tendenzen. reichert: In der Regel verlässt die Figur berufliche phb und/oder familiäre Bindungen (vgl. FAMILIENDRAMA), oft hat sie mit SUCHT UND DROGEN zu kämpfen oder Beispiele: wird als GEFALLENE FRAU zum gesellschaftlichen misfit. DER NEUE SCHREIBTISCH (Karl Valentin, D 1914) HORSE FEATHERS (Norman Z. Leonard, USA 1932) Gelegentlich wird jedoch der Abstieg als erfolgreicher J'IRAI COMME UN CHEVAL FOU (Fernando Arrabal, F 1978) Einstieg in andere Lebenszusammenhäge erzählt, wo- BRAZIL (Terry Gilliam, GB 1984) durch die Figur Züge der AUSSTEIGERIN erhalten kann. Vgl. dagegen den OUTLAW, der sich außerhalb des Gesetzes bewegt und dessen Außenseitertum weniger Abweichende Erzählmuster. In westlichen Kultur- auf soziale, sondern mehr auf juristische Faktoren zu- zusammenhängen ein narratives Muster in Spielfilmen, rückzuführen ist. Vgl. außerdem die AUFSTEIGERIN, die Glossar 5 deren Dramaturgie als ungewöhnlich und/oder innovativ regelmäßig anzutreffen sind: Dazu gehören JUGEND- empfunden wird. Allerdings, die Frage, was genau als KRIMINALITÄT, GEWALT, SUCHT UND DROGEN, CITY abweichend und innovativ gilt, wird nicht immer gleich und SCHULE, aber auch SEXUALITÄT, HOMOSEXUALITÄT beantwortet, sondern ist von historischen Prozessen und und INZEST. wandelbaren Sehgewohnheiten abhängig. Grundsätzlich Längst nicht bei allen Filmen, die die Adoleszenz jedoch bleibt die Dramaturgie – ganz im Unterschied zum thematisieren, handelt es sich gleichzeitig um TEEN- EXPERIMENTELLEN SPIELFILM – dem formalen Rahmen AGERKINO (das allein durch die Zielgruppe definiert ist). des westlichen Erzählkinos verhaftet, und die Abwei- Ob dort auch tatsächlich Geschichten über die Adoles- chungen selbst sind ein eher punktuelles Phänomen. zenz erzählt werden, ist zweitrangig. Die Wahl eines Abweichenden Erzählmusters geschieht Vgl. die Altersgruppen KINDHEIT und ALTER. phb stets im Bewusstsein dessen, wovon abgewichen wird Beispiele: und birgt insofern immer ein gewisses Maß an Kritik. MÄDCHEN IN UNIFORM (Leontine Sagan, D 1931) Dagegen ist die Wahl einer FREMDEN ERZÄHL- PATHER PANCHALI (Satyajit Ray, IND 1955) TRADITION nicht zwangsläufig an das Wissen westlicher DER JUNGE TÖRLESS (Volker Schlöndorff, BRD/F 1966) Narrationsmuster gebunden, also auch nicht automatisch als Kritik am Westen zu verstehen – obwohl beides natürlich häufig Hand in Hand geht. phb Adult western s. PROBLEMWESTERN Beispiele: PIERROT LE FOU (Jean-Luc Godard, F/I 1965) BLOW UP (Michelangelo Antonioni, GB 1967) Agenten. Figuren im Spielfilm, insbesondere im THE FRENCH LIEUTENANT'S WOMAN (Karel Reisz, GB 1981) AGENTEN- oder POLITTHRILLER, gelegentlich auch im WIRTSCHAFTSKRIMI und in der (Agenten-)KOMÖDIE. Die Filme beziehen ihre Spannung daraus, dass Agenten und Actionfilm. Fiktionales Genre, in dessen Zentrum tem- Spione bedingungslos und außerhalb von Gesetz und poreiche Erzählungen stehen, in denen sich betont Moral agieren «müssen». Sie verfügen über undurch- maskuline Hauptfiguren durch viel physische Action aus- sichtige Beziehungsnetze, spektakuläre Geheimwaffen zeichnen, zu der meist ein hohes Maß an GEWALT und nie versiegende Geldmittel. Sie bewegen sich nicht gehört. Bevorzugt werden KRIMINAL-, GANGSTER-, nur im vertrauten Alltag, sondern zugleich in schäbigen KRIEGS-, KATASTROPHEN-, HORRORFILME sowie Unterwelten, auf dem glamourösen Parkett der inter- EASTERN, und wiederkehrende Motive sind FLUCHT und nationalen Diplomatie und auf der militärischen Chef- VERFOLGUNG, die im Gewand von halsbrecherischen etage länderübergreifender Konflikte. Agenten und Verfolgungsjagden, spektakulären Stunts und zahllosen Spione sind per Definition einsam und jederzeit in Explosionen daher kommen. Insgesamt stehen Dialog Gefahr, so dass in den Geschichten oft eine paranoide und Figurenzeichnung ganz im Dienst der Action. Mit Grundstimmung vorherrscht. Die Anzahl filmischer ihrem überbetonten Männlichkeitsbild richten sich die Agentinnen ist übrigens auffällig klein; wenn sie Filme an ein männliches Zielpublikum (entsprechend überhaupt auftreten, dann meist als Nebenfiguren, die selten sind Actionheldinnen), das stärker physisch als für den männlichen Sympathieträger eine (zeitweilige) psychologisch involviert ist. Bedrohung darstellen. Die Nähe zum ABENTEUERFILM ist zwar groß, doch Eine leichtere, mit zuweilen pubertierendem Humor anders als dieser verzichtet der Actionfilm oft auf psycho- durchsetzte Spielart dieser Figur ist James Bond. phb logisch nachvollziehbare Erlebnisse der Hauptfigur und Beispiele: setzt stattdessen deutlich auf Körperlichkeit und mit tech- NOTORIOUS (Alfred Hitchcock, USA 1946) nischer Bravour vorgeführte Stunts. phb TRIPLE CROSS (Terence Young, F/GB 1966) Beispiele: THREE DAYS OF THE CONDOR (Sydney Pollack, USA 1975) FROM RUSSIA WITH LOVE (Terence Young, GB 1963) THE GETAWAY (Sam Peckinpah, USA 1972) SPEED (Jan de Bont, USA 1994) Agententhriller. Spielform des THRILLERS, dessen zentrales Merkmal der thrill, ein hoch wirksamer Mix aus Nervenkitzel und Spannung ist, der das Publikum bis zur Adel s. ARISTOKRATIE Erzeugung physischer Reaktionen erfasst. Dies geschieht durch eine weitgehend undistanzierte und hautnahe Inszenierung von Angst und Suspense. Hinzu kommt eine Adoleszenz. Motiv im fiktionalen und dokumentari- starke Identifikation mit der Hauptfigur, in diesem Fall schen Film. Im Mittelpunkt steht das Lebensalter zwi- dem Agenten oder der Agentin. Trotz spezieller pro- schen zehn und zwanzig Jahren. Die Spannbreite an fessioneller Ausbildung sind diese Figuren für die sie Genres und Erzählmustern ist groß: Denkbar sind erwartenden Ereignisse nicht immer genügend ACTIONFILME, LEIDENSGESCHICHTEN und MELO- vorbereitet. Oft werden sie UNSCHULDIG BESCHULDIGT, DRAMEN ebenso wie AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜM- geraten in ALPTRAUMHAFTE VERSTRICKUNGEN, drohen FILME, KOMÖDIEN, HORRORFILME und CHARAKTER- in den Maschinerien der INSTITUTION Geheimdienst STUDIEN; das Motiv kann zur GESELLSCHAFTS- oder unterzugehen und scheinen ihren Gegenspielern – SYSTEMKRITIK mit realistischem Anspruch herangezogen AgentInnen aus dem eigenen oder feindlichen Lager werden oder aber zum bloßen pubertären KLAMAUK. sowie AuftragskillerInnen – im Nachteil. In ihrer akuten Auch die Möglichkeiten der Kombination mit anderen Bedrohtheit bleibt ihnen oft nichts anderes übrig, als Motiven sind breit gefächert, selbst wenn sich einige von selber zu töten, wenn sie überleben wollen. Und auch ihnen bevorzugt anzubieten scheinen und erstaunlich wenn ihnen Letzteres regelmäßig gelingt, so schildert der 6 Glossar

Thriller dennoch die Schrecken eines Berufs, der zwar im Beispiele: Gewand unauffälliger Bürgerlichkeit daher kommt, sich ARRIVÉE DES CONGRESSISTES … (Louis Lumière, F 1895) in Wahrheit aber über alle moralischen Grenzen hinweg- CORTÈGE HISTORIQUE … (M. Tollini, M. Pagani, CH 1910) setzt. THE FUNERAL OF VERA KHOLODNAIA (anonym, RUS 1919) Vgl. POLITTHRILLER, PSYCHOTRHILLER. phb Beispiele: Alkoholismus s. SUCHT UND DROGEN THREE DAYS OF THE CONDOR (Sydney Pollack, USA 1975) BLACK WIDOW (Bob Rafelson, USA 1987) THE LONG KISS GOODNIGHT (Renny Harlin, USA 1997) All s. WELTRAUM

Agglomeration s. TRABANTENSTADT All-Star-Picture. Filme, deren Attraktion unter anderem darin besteht, dass sie mit ungewöhnlich vielen Stars aufwarten. Aufsehen erregend ist dabei nicht nur die Agitation. Der Begriff bezieht sich weniger auf Form Menge an Stars, sondern auch der Umstand, dass sie oft oder Inhalt eines Films, sondern in erster Linie auf dessen selbst Nebenrollen besetzen oder gar in cameos, Funktion: Das Publikum soll zu (sozial-)politischem Han- Kurzauftritten, erscheinen (in denen sie nicht selten sich deln gebracht werden, an dessen Ende ein klar selbst spielen). Bevorzugte Genres sind MONUMENTAL-, umrissenes Ziel steht. Aufrüttelnde Wirkung ist wichtiger KRIEGS- und KATASTROPHENFILME, aber auch WHO- als objektive und ausgewogene Information. Dies ge- DUNITS à la Agatha Christie. Als Erzählmuster bieten sich schieht oft in der Form emotionalisierender Rhetorik und vor allem die SCHICKSALSGEMEINSCHAFT, das FIGU- innerhalb eines in der außerfilmischen Welt bestehenden RENMOSAIK sowie das GRUPPENPORTRÄT an. phb Argumentationszusammenhangs. Bevorzugt werden die Genres HUMANITÄRER, INSZENIERTER oder SEMIDOKU- Beispiele: MENTARFILM, EXPERIMENTELLER SPIELFILM sowie der WAR AND PEACE (King Vidor, , USA/I 1956) ARBEITERFILM und das RADICAL CINEMA. Das Spektrum THE LONGEST DAY (Bernhard Wicki et al. USA 1961) der Motive reicht von SYSTEMKRITIK und WIDERSTAND MURDER ON THE ORIENT EXPRESS (Sydney Lumet, USA 1974) über ARBEITS- oder BEFREIUNGSKAMPF bis hin zu KOM- A BRIDGE TOO FAR (Richard Attenborough, GB 1976) PRÊT-À-PORTER (Robert Altman, USA 1994) MUNISMUS und (RUSSISCHER) REVOLUTION. Der Unterschied zur PROPAGANDA ist schwer zu ziehen. Tendenziell jedoch benennt die Agitation ihre Allegorie. Erzähl- oder Darstellungsform, in der der Sinn (linkspolitischen) Positionen und Ziele deutlich und ist durch Verweis auf eine zweite Bedeutungsebene meist konkret handlungsbezogen. Demgegenüber ver- konstituiert wird. Der allegorische Vorgang ist der einer fährt die Propaganda eher manipulativ, ihr Ziel liegt we- Bedeutungsübertragung von der vordergründigen, niger darin, das Publikum zu bestimmten Handlungen zu eigentlichen Ebene auf eine abstrakte, uneigentliche bewegen als vielmehr darin, seine Einstellungen und Hal- Ebene: Figuren, Objekte und Handlungen repräsentieren tungen zu verändern. Die Grenze zwischen den beiden Ideen, Idealtypisches und Qualitäten moralischer, Begriffen bleibt aber fließend. phb religiöser und politischer Art (vgl. POLITISCHE ALLE- Beispiele: GORIE). Dem entspricht, dass die Allegorie typenhafte STATSCHKA (Sergej Eisenstein, SU 1924) Figuren bevorzugt und wenig Wert auf psychologisch KUHLE WAMPE … (Slatan Dudow, Bertolt Brecht, D 1932) ausdifferenzierte Charaktere legt. Entscheidend für das ZÜRI BRÄNNT (anonym, CH 1980) Funktionieren einer Allegorie ist das Bewusstsein von zwei Sprach- oder Bildebenen bei Produzent und Rezipient. Allegorien sind final orientiert, auf ein bestim- Aktualitäten. Dokumentarisches Format der FRÜHEN mtes Ziel hin ausgelegt. Der Schlüssel zu ihrem Verständ- KINEMATOGRAPHIE, das Strukturmerkmale einer Repor- nis liegt in der Erkenntnis dieses Ziels durch die Rezi- tage und der NICHTFIKTIONALEN SZENE aufweist und pientInnen und nicht auf der Darstellungsebene selbst. auf jeweils jüngste, einen Schauwert versprechende Er- Diese liefert höchstens Signale, die auf eine allegorische eignisse auf dem Gebiet der Politik, des SPORTS, der Lesung hinweisen, die vom Publikum erst noch zu leisten Kultur und Technik Bezug nimmt. Das Themenspektrum ist. Sind diese Signale wenig eindeutig, wird die allego- wird den ausdifferenzierten Rubriken der Tageszeitungen rische Lektüre problematisch, und es hängt vom entnommen. Der Mehrwert der filmischen Aktualität be- Vorwissen des Publikums ab, wie weit es zur Ent- ruht gegenüber dem Zeitungsbericht auf einem life- schlüsselung der Doppelaussage in der Lage und willens Effekt, dem «Hier und Jetzt-Dabeisein». Die ersten Film- ist. gesellschaften wie Lumière in Frankreich, Meeßter in Im Unterschied zur Allegorie, die Punkt für Punkt auf Deutschland und LEUZINGER in der Schweiz produzierten zwei Ebenen zu lesen ist, ist in der PARABEL das eigent- eine große Zahl von Aktualitäten. Die einaktigen, in der lich Gemeinte von nur einem Vergleichspunkt aus zu Regel nur mit einem Haupttitel versehenen Filme wurden erschließen. phb in gemischten Programmen im Wechsel mit Landschafts- bildern, kurzen KOMÖDIEN oder Kinodramen nach einer Beispiele: ausgeklügelten Programmdramaturgie vorgeführt. Sie LES VISITEURS DU SOIR (Marcel Carné, F 1942) können als Vorläufer der seit den 1910er Jahren und GYCKLARNAS AFTON (Ingmar Bergman, S 1953) SUPERBIA (Ulrike Ottinger, BRD 1986) verstärkt mit Beginn des ERSTEN WELTKRIEGS pro- duzierten WOCHENSCHAU gelten. uvk Glossar 7

Alltagsbeobachtung. Erzählform in so genannt «klei- THE SHOOTIST (Don Siegel, USA 1976) nen» Filmen, die als unspektakuläre MILIEU-, QUARTIER- IL BACIO DI TOSCA (Daniel Schmid, CH 1984) oder CHARAKTERSTUDIEN daher kommen, auf die große Geste etwa des oder des AUSSTAT- TUNGS- UND KOSTÜMFILMS verzichten und stattdessen Amateurfilm. Gattung von Filmen, die typischerweise in die Beschreibung des Alltäglichen und Beiläufigen, der Super-8, mit Video- oder digitaler Kamera gedreht sind kleinen Dinge des Lebens in den Mittelpunkt des und – ähnlich wie in der Amateurfotografie – private Interesses rücken. Häufig agieren Charakterdarstel- Erinnerungen ohne professionelle Ambitionen oder lerInnen, die bevorzugt KLEINE LEUTE spielen; dagegen Kunstanspruch enthalten. Der Privatheit ihrer Entstehung sind Stars in diesen Filmen selten – abgesehen von entspricht, dass Amateurfilme – besonders die Variante «älteren» Schauspielerinnen (über vierzig), für die Cha- des HOME MOVIES – in der Regel nicht in der rakterrollen nicht nur eine Chance bieten, das ange- Öffentlichkeit gezeigt werden; es sei denn, die Filme- stammte Image zu ändern, sondern überhaupt macherInnen hätten zufällig eine Sensation, ein «histori- weiterzuarbeiten. Insgesamt herrscht in der Alltags- sches Ereignis» erfasst (das Attentat auf John F. Ken- beobachtung ein realistischer Stil vor. Entsprechend kreist nedy, den Anschlag auf das World Trade Center). Außer- die Handlung um BEZIEHUNGEN IM ALLTAG und damit dem kommt es vor, dass professionelle FilmemacherIn- um Gegebenheiten und Konflikte, die auf «natürlichen» nen Amateurmaterial verwenden. Dies gilt nicht nur für Dialogen und psychologischen Beobachtungen beruhen. Spielfilme, sondern auch für EXPERIMENTALFILME (vgl. phb FOUND FOOTAGE, KOMPILATIONSFILM), insbesondere im Fall von AUTOBIOGRAFIEN. phb Beispiele: RYSOPIS (Jerzy Skolimowski, PL 1964) Beispiele: SLAVNOSTI SNEZENEK (Jirí Menzel, CSSR 1983) ONZE INDISCHE REIS (anonym, NL 1924) L'ODEUR DE LA PAPAYE VERTE (Tran Anh Hung, F 1992) RURAL LIFE IN MAINE (E. Woodman Wright, USA ca. 1930) LA STANZA DEL FIGLIO (Nanni Moretti, I/F 2001) MEIN KRIEG (Harriet Eder, Thomas Kufus, BRD 1990)

Alptraumhafte Verstrickung. Motiv und drama- Amerikanischer Bürgerkrieg. Der amerikanische Civil turgische Struktur gleichermaßen. Im Zentrum steht die War (1860–1865) ist Gegenstand zahlreicher fiktionaler fürchterliche Erfahrung einer Figur, dass ein unschein- und dokumentarischer Filme, in denen Nord- und SÜD- bares Ereignis oder ein banaler Fehler zu immer mehr STAATEN kulturell und ikonografisch aufeinanderprallen. und immer schrecklicheren Verwicklungen führt, bis Sie orientieren sich oft an authentischen FOTOGRAFIEN, schließlich alle Elemente des Lebens existenziell bedroht Historiengemälden und überlieferten Berichten, und sie sind. Die Alptraumhaftigkeit des Motivs wird in manchen entwerfen eine dem NATIONALEPOS verwandte Erzähl- Filmen tatsächlich als TRAUM ausgewiesen, aus dem die form, deren Hauptthemen die Person Abraham Lincolns, Protagonisten zwar schweißgebadet, aber immerhin, Sklavenhaltung und -befreiung, militärische und/oder erwachen. Deutlich mehr Angst erzeugen realistischere dynastische Ehre, Galanterie und TOD bilden. Mit dieser Darstellungen, in denen Alptraumhaftes sich im «realen» eher ideologisch-historischen Ausrichtung und ihrer Leben der Figur ereignet, insbesondere dann, wenn es Tendenz zu HISTORISCHER MILIEUSTUDIE oder HISTORI- mit Kapitalverbrechen und dem Motiv UNSCHULDIG SCHER REKONSTRUKTION jenseits der Front sind sie nur BESCHULDIGT gekoppelt ist. In dieser Ausprägung gehö- teilweise dem Genre des KRIEGSFILMS zuzuordnen. ren Motiv und dramaturgische Struktur zu den Grund- Vgl. BÜRGERKRIEG, SPANISCHER BÜRGERKRIEG. uvk formen des THRILLERS und des FILM NOIR. phb Beispiele: Beispiele: THE BIRTH OF A NATION (D. W. Griffith, USA 1914) THE 39 STEPS (Alfred Hitchcock, GB 1935) THE GENERAL (Buster Keaton, USA 1926) THREE DAYS OF THE CONDOR (Sydney Pollack, USA 1975) GONE WITH THE WIND (Victor Fleming, USA 1939) AARON COHEN'S DEBT (Amalia Margolin, IL 1999) DANCES WITH WOLVES (Kevin Costner, USA 1990)

Alter. Motiv in allen filmischen Gattungen und Genres, Amour fou. Motiv in LIEBESGESCHICHTEN, in deren von albernen oder verschmitzten KOMÖDIEN über stille Zentrum ein bedingungs- und rücksichtsloses, meist MELODRAMEN bis hin zu KRIMINALFILMEN und THRIL- selbstdestruktives erotisches Verfallensein zwischen LERN. Besonders häufig sind CHARAKTERSTUDIEN, in gleichberechtigten Partnern steht. Typischerweise ist die denen auf schrille Action und halsbrecherisches Tempo amour fou eine Liebe auf den ersten Blick, ein coup de verzichtet wird zugunsten einer zwar «unspektakulären», foudre, dem oft kein glückliches Ende beschieden ist – aber sorgfältigen psychologischen Ausleuchtung der auch wenn längst nicht jede TRAGISCHE LIEBE eine Figuren – und oft genug deren innere Abgründe. Filme, amour fou ist. Das Motiv ist in der gesamten Filmge- die vom Alter handeln, sind für Schauspieler – und mehr schichte präsent, doch besonders der SURREALISMUS der noch für Schauspielerinnen – oft eine Chance zum Come- 1920er und 1930er Jahre erkennt darin das (erotisch back, nicht selten verbunden mit dem Aufstieg vom aufgeladene) Ideal eines Ausnahmezustandes, der Tabus «niederen» Fach der Komödie hin zum «seriösen» Fach zu brechen und bürgerliche Normvorstellungen und Ver- der Charakterstudie. haltensweisen zu erschüttern vermag. Vgl. die Lebensalter KINDHEIT und ADOLESZENZ. phb Vgl. dagegen die HÖRIGKEIT, die im Unterschied zur Amour fou stets in einer asymmetrischen Beziehung Beispiele: stattfindet, häufig ein einseitiges Machtverhältnis impli- SUNSET BOULEVARD (Billy Wilder, USA 1950) ziert und sich außerdem nicht auf Liebe (allenfalls auf SEXUALITÄT) beziehen muss. Vgl. auch die OBSESSION, 8 Glossar eine pathologische Zwangsidee, deren Gegenstand TRICKFILMS bis hin zu vollständigen COMPUTER-ANIMA- Objekte und Menschen aller Art sein können. phb TIONEN. phb Beispiele: Beispiele: L'ÂGE D'OR (Luis Buñuel, F 1930) HEIDI (Isao Takahata, J 1975) PETER IBBETSON (Henry Hathaway, USA 1935) HOTARU NO HAKA (Isao Takahata, J 1989) LA FEMME D'À CÔTÉ (François Truffaut, F 1981) KOSHOKU ICHIDAI OTOKO (Yukio Abe, J 1992) MESCHUGGE (Dani Levi, CH/D 1999) MANGAKA IN JAPAN (Bruno Edera, F/CH 1997)

Anarchokomödie. Variante der KOMÖDIE, die sich Anklage und Aufdeckung. Motiv, das in Dokumentar- durch Respektlosigkeiten gegenüber inhaltlichen und for- und Spielfilmen auftreten kann und dessen erzählerische malen Normen auszeichnet. Es dominieren Tohuwabohu, Eckpunkte aus der Anklage eines Verbrechens und seiner KLAMAUK und SLAPSTICK-Elemente, außerdem wird Aufdeckung besteht. Dabei geht mit der Aufdeckung einem spezifischen Wortwitz, dem nichts heilig ist, ein nicht selten eine GESELLSCHAFTS- oder SYSTEMKRITIK zentraler Stellenwert eingeräumt. Nicht selten ist die dra- einher. Täter wie Opfer können grundsätzlich Einzel- maturgische Struktur nur ein Vorwand für die Entfaltung personen, Personengruppen oder ganze Völker sein (vgl. der Anarchie, die manchmal, aber keineswegs immer, GENOZID). Im fiktionalen Film ist das Motiv meist der den Anspruch auf GESELLSCHAFTSKRITIK erhebt. phb Grundstein von JUSTIZDRAMEN, wo es von der quasi na- türlichen Dramatik der Gerichtsszene profitiert. Im THRIL- Beispiele: HORSE FEATHERS (Norman Z. McLeod, USA 1932) LER oder KRIMINALFILM dagegen ist es weder an den MONTY PYTHON'S … (Monty Python-Kollektiv, GB 1970) Schauplatz des Gerichtssaals, noch an eine institu- BRITANNIA HOSPITAL (Lindsay Anderson, GB 1980) tionalisierte Rechtssprechung überhaupt gebunden. Oft, aber keineswegs immer, liegt dem Motiv ein AUTHEN- TISCHER FALL zugrunde. phb Android s. KÜNSTLICHE MENSCHENWESEN Beispiele: EICHMANN UND DAS DRITTE REICH (Erwin Leiser, CH 1961) COMA (Michael Crichton, USA 1978) Animationsfilm. Filmische Gattung, die auf einer JFK (, USA 1991) Einzelbildschaltung beruht, mit der unbewegliche Gegen- NOEL FIELD … (Werner Schweizer, CH 1996) stände und Objekte in der Folge von Bewegungsphasen fotografiert werden. Die Objekte werden für jede Aufnah- me in eine neue Haltung oder Position gebracht, so dass Anschlussprodukt. Begriff für den Versuch, den Erfolg ein Bewegungsstadium simuliert werden kann. Die Pro- früherer Filme zu nutzen, indem man mit dem Titel an sie jektion lässt die Bilder schließlich bewegt, eben animiert, anknüpft oder ihr Rezept weitgehend kopiert in der erscheinen. Die Bandbreite animierter Akteure reicht von Hoffnung, dass sich das Publikum an den vormaligen rein geometrischen Objekten und Zeichnungen (vgl. ZEI- Film erinnert und dadurch zum Besuch des neuen CHENTRICKFILM) über Puppen, Knetfiguren und Scheren- verlockt wird. Auf narrativer Ebene ist der Anschluss schnitte bis hin zur COMPUTERANIMATION, bei der tendenziell locker gestaltet: Oft reduziert er sich auf die Bilder und Bewegungen rechnerisch ermittelt werden. Existenz einer gemeinsamen Hauptfigur oder Figuren- Animation, in der Regel ein äußerst aufwändiges Ver- gruppe in beiden Filmen – etwa einem PRIVATDETEKTIV, fahren, ist im Spielfilm und in den verschiedenen Formen eines WEIBLICHEN DETEKTIVS o. ä. –, während die des EXPERIMENTALFILMS gleichermaßen präsent, im Handlungen selbst als je geschlossene konzipiert und für DOKUMENTARFILM dagegen kaum anzutreffen. sich alleine verständlich sind (wogegen sich die Hand- Vgl. die japanische Variante ANIME. phb lungsstränge beim Fernsehformat der SERIE über Dutzende von Folgen erstrecken können und ohne die Beispiele: Kenntnis der einzelnen Folgen nicht zwingend verständ- DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (L. Reiniger, D 1925) SNOW WHITE AND THE SEVEN … (Walt Disney, USA 1937) lich sind). Grundsätzlich ist jedes Anschlussprodukt ein TMA, SVETLO, TMA (Jan Svankmajer, CSSR 1989) Fall von INTERTEXTUALITÄT, außerdem können RE- MAKES als spezielle Form des Anschlusses bezeichnet werden. Anime. Der Begriff ist eine Kurzform von jap. animee- Vgl. dagegen den FORTSETZUNGSFILM, dessen Hand- shon-eiga und bezeichnet eine japanische Variante des lung so strukturiert ist, dass unter Beibehaltung der Pro- ANIMATIONSFILMS, die zugleich oft eine COMICS- tagonistInnen die zeitliche Konsekution über eine Reihe VERFILMUNG (auf der Grundlage von Mangas) ist. Zu- abendfüllender Filme hinweg konsistent weitergeführt nächst als KINDERKINO und oft als SERIE produziert, wird und die Figuren im Bewusstsein der im voran- richten sich seit den späten 1970er und frühen gegangenen Film erlebten Ereignisse altern. phb 1980er Jahren verstärkt an ein erwachsenes Publikum. Beispiele: Der inhaltlichen Vielfalt sind keine Grenzen gesetzt – DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE (Fritz Lang, D 1932) vom MÄRCHEN über den THRILLER bis zum PORNO- AIRPORT 1975 (Jack Smight, USA 1975) GRAFISCHEN FILM ist alles denkbar –, auch wenn im ZENDEGI EDAME ADRAD (Abbas Kiarostami, IR 1992) Westen vor allem Filme gezeigt werden, in denen es um BATMAN AND ROBIN (Joel Schumacher, USA 1997) SCIENCE-FICTION und heroische EINZELKÄMPFERINNEN sowie um SEXUALITÄT und EROTIK geht. Das Spektrum der verschiedenen Herstellungsarten ist breit und reicht von den traditionellen Methoden des ZEICHEN- Glossar 9

Antifaschismus. Motiv in allen Filmgattungen, das sich Beispiele: aus der oppositionellen Haltung gegenüber dem HITLERJUNGE QUEX (Hans Steinhoff, D 1933) FASCHISMUS und dem NATIONALSOZIALISMUS defi- FROM RUSSIA WITH LOVE (Terence Young, GB 1963) niert. Die antifaschistische Position eines Films kann sich FURONG ZHEN (Zie Jin, VRC 1987) als explizite SYSTEMKRITIK äußern, in der kritischen Schilderung eines faschistischen POLITISCHEN KLIMAS, in der Erzählung von Aktionen des WIDERSTANDES, aber Antikriegsfilm. Ein problematisches Genre aus zwei- auch als manifeste (Gegen-)PROPAGANDA, gelegentlich erlei Gründen: Einmal, weil viele KRIEGSFILME sich als mit dem Ziel handfester AGITATION. Die politische Antikriegsfilme ausgeben, um dem Publikum eine Recht- Haltung, aus der heraus die Kritik formuliert wird, kann fertigung zu liefern, sich die Greuel des Krieges zur die ganze Skala zwischen konservativ-großbürgerlicher Unterhaltung anzusehen. Zum anderen, weil auch ernst Gesinnung und kommunistischer Überzeugung ab- gemeinte Antikriegsfilme mit der Faszination zu kämpfen decken. uvk haben, die dem Kriegsgeschehen auf der Leinwand eignet. Seriöse pazifistische Filme verzichten daher meist Beispiele: auf Schlachtenbilder, sondern zeigen die Folgen des LA VIE EST À NOUS (Jean Renoir, F 1936) Krieges für Verletzte, Verwaiste und psychisch Zerstörte. BLITZ WOLF (Tex Avery, USA 1942) Vgl. KRIEGSSATIRE. phb FLUCHT IN DEN NORDEN (Ingemo Bergström, BRD/SF 1985) Beispiele: ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (L. Milestone, USA 1930) Antike. Wie jede historische Epoche ist auch die Antike PATHS OF GLORY (Stanley Kubrick, USA 1957) ein Motiv, das mit Vorsicht zu genießen ist: Vieles kommt DIE BRÜCKE (Bernhard Wicki, BRD 1959) im Spielfilm als Antike daher, worüber HistorikerInnen WELCOME TO SARAJEVO (Michael Winterbottom, GB 1997) allenfalls erheitert wären. Der Begriff meint hier weniger den historischen Zeitraum, sondern das, was die Apartheid. Motiv und zugleich eine Form von RASSIS- einzelnen Filme als Antike inszenieren. Dies ist abhängig von der Produktionszeit des Films und hat in der Regel MUS. Der Begriff bezeichnet die zwischen 1950 und 1991 gesetzlich institutionalisierte, strikte Trennung zwi- nur wenig mit dem zu tun, was die Geschichtswis- schen weißer, schwarzer und farbiger Bevölkerung in der senschaft darunter versteht. Typischerweise tritt das Republik Südafrika auf politischer, kultureller und sozialer Motiv in AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜMFILMEN auf, die Ebene – mit dem Ziel einer drastischen Benachteiligung meist zugleich MONUMENTALFILME sind. Im Zentrum aller Nichtweißen. Das Motiv tritt in dokumentarischen stehen kolossale Städte und karge LANDSCHAFTEN; die Geschichten drehen sich um betont maskuline Heroen, und fiktionalen Filmen auf, in denen die Konsequenzen einer Apartheidspolitik aus der Perspektive der Unter- die sich atemberaubende Wagenrennen liefern und um drückten geschildert werden und so die Apartheid selbst schlanke Schönheiten buhlen; die Musikspur zeichnet in harscher SYSTEMKRITIK politisch und moralisch verur- sich durch schmetternde Fanfaren und hymnische Chor- teilt wird. phb gesänge aus. BIBELVERFILMUNGEN verzichten selten auf das Motiv, Beispiele: und gelegentlich kommt es in Genres wie CHARAKTER- CRY FREEDOM (Richard Attenborough, GB 1987) STUDIE, LIEBESFILM oder SEXKOMÖDIE vor. Dagegen A WORLD APART (Chris Menges, GB 1988) sind Versuche, so etwas wie GESELLSCHAFTSKRITIK in JOHANNESBURG (William Kentridge, SA 1989) der Antike darzustellen, die große Ausnahme. phb AUGENBLICKE IM PARADIES (Richard Dindo, CH/F 1996) Beispiele: CLEOPATRA (Cecil B. DeMille, USA 1934) Apokalypse s. ENDZEITVISION BEN HUR (William Wyler, USA 1959) GLADIATOR (Ridley Scott, USA 2000) Apsychologische Erzählweise. Eine narrative Struktur im Spielfilm, die sich bewusst nicht um psychologische Antikommunismus. Motiv in fiktionalen und dokumen- Einblicke in die Figuren bemüht. Subjektivierungen oder tarischen Gattungen, das sich aus der oppositionellen Erläuterungen von Handlungsmotivationen und Ge- Haltung gegenüber dem KOMMUNISMUS definiert. Die stimmtheiten (etwa im Dialog) fehlen ebenso wie das antikommunistische Position eines Films kann als expli- Herausarbeiten psychischer Momente im Verhalten der zite SYSTEMKRITIK geäussert werden, in der kritischen Figuren. Insgesamt geht es nicht, wie im westlichen Kino Schilderung eines links-revolutionären POLITISCHEN KLI- üblich, um eine Fokussierung von außen, die trotzdem MAS bestehen, in der Erzählung von Aktionen des Rückschlüsse auf das Innere einer Figur zulassen, ja WIDERSTANDES, aber auch als manifeste (Gegen-) PRO- daraus ihren Reiz beziehen würde. Vielmehr weigert sich PAGANDA auftreten – etwa im FASCHISTISCHEN FILM die Erzählinstanz, sich auf die inneren Prozesse von des Dritten Reichs, aber auch in Hollywoods stereotypen Figuren einzulassen, sie überhaupt von Belang zu finden. Feindbild-Konstruktionen während des KALTEN KRIEGS. Eine apsychologische Erzählweise ist also in keinem ME- Die politische Haltung, aus der heraus die Kritik formu- LODRAMA zu finden, umso häufiger dagegen in liert wird, kann von konservativ-großbürgerlicher Gesin- gleichnishaften, einen Modellcharakter anstrebenden nung über eine Position des poltischen Liberalismus bis oder verallgemeinernden Erzählformen wie ABSURDIS- hin zum FASCHISMUS oder NATIONALSOZIALISMUS rei- MUS, ALLEGORIE und PARABEL, aber auch in Erzähl- chen. uvk formen, die nicht mit individualisierten (und psychologi- sierten) Charakteren, sondern mit Typen arbeiten wie GROTESKE, PARODIE und SATIRE. phb 10 Glossar

Beispiele: Architekten zu Protagonisten haben. Zahlreiche Spiel- OKTJABR (Sergej Eisenstein, SU 1927) filme verknüpfen das Thema Architektur mit den drama- VIOLANTA (Daniel Schmid, CH 1977) turgischen Möglichkeiten von Stadtlandschaften und HADES (Herbert Achternbusch, D 1994) betonen die konkreten Topographien der CITY. Als Kategorie für Dokumentarfilme wird der Begriff ver- wendet, wenn einzelne Gebäude, das Werk von Archi- Arbeiterfilm. Genre, das die Situation der Arbei- tektInnen oder architektonische Stilrichtungen und Bewe- terInnen von innen zeigen will. Die Figuren bewegen sich gungen thematisieren. uvk in einer Lebenswelt, die als eine ökonomisch, sozial und kulturell spezifische begriffen wird. Dieser Anspruch so- Beispiele: wie das Bestreben nach Authentizität machen viele METROPOLIS (Fritz Lang, D 1926) Arbeiterfilme zu MILIEUSTUDIEN, die vom Publikum häu- THE CITY (Ralph Steiner, USA 1939) fig eine intensive Vertrautheit mit der Wirklichkeit verlan- IL GIRASOLE (Christoph Schaub, CH 1995) gen. Oft stammen FilmemacherInnen und Schauspie- lerInnen selbst aus der Arbeiterschicht und stehen poli- Aristokratie. Motiv in Filmen, die in der sozialen Groß- tisch der Sozialdemokratie, dem Sozialismus oder dem formation der Aristokratie spielen. Dabei kann es sich um KOMMUNISMUS nahe. Der Arbeiterfilm ändert seinen verhältnismäßig schlichten, bürgertumsnahen Landadel Tonfall in dem Maß, in dem sich die Situation der oder um prunkvolle Hocharistokratie handeln. Allerdings, Arbeiter historisch verändert: Der «Proletarierfilm» der 1920er und 1930er Jahre zielt auf Anklage, SYSTEM- was in den Filmen als Aristokratie daher kommt, muss nicht eben viel mit dem sozialhistorischen Gegenstand KRITIK und AGITATION; andere verfahren allgemein hu- Adel zu tun haben. Zahlreich vertreten sind AUSSTAT- manitär. Heute sind die Probleme von (Fremd-) Arbei- TUNGS- UND KOSTÜMFILME, deren Figuren in üppigen terInnen oft gleichzeitig MINORITÄTSPROBLEME, die eng Roben durch prächtige Schlösser lustwandeln und sich in mit den Schwierigkeiten eines KULTURKONTRASTS ver- pikante INTRIGENSPIELE, harmlose LIEBESGESCHICHTEN woben sind. Allen gemeinsam ist aber das bittere Be- oder TRAGISCHE LIEBEN zwischen Fürsten und Bürgerin- wusstsein ungerechter KLASSENVERHÄLTNISSE. phb nen, zwischen Gräfinnen und Gärtnern verwickeln und Beispiele: stets von goldenen Tellern essen. Weniger häufig sind MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK (Piel Jutzi, D 1929) (HISTORISCHE) MILIEUSTUDIEN, die eine SYSTEMKRITIK RISO AMARO (Giuseppe De Santis, I 1949) formulieren, oft indem sie den Fokus auf die INSTI- ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG (R. W. Fassbinder, BRD 1972) TUTION Hofstaat (Versailles, Sans-Souci, Schönbrunn) und seine DEKADENZ richten und realistisch oder als PARABEL die Unzulänglichkeiten eines unheilvoll mächti- Arbeitskampf. Zentrales Motiv in DOKUMENTAR- gen Gesellschaftssegments sowie die Ungerechtigkeit FILMEN, in denen es primär um AGITATION und von KLASSENVERHÄLTNISSEN beleuchten. phb SYSTEMKRITIK geht und die die Thematik des Arbeits- kampfs oft anhand eines Streiks darstellen. Als Motiv des Beispiele: Spielfilms tritt es vor allem im ARBEITERFILM auf, der in LA RÈGLE DU JEU (Jean Renoir, F 1939) MILIEUSTUDIEN die ungerechten KLASSENVERHÄLTNIS- LA PRINCESSE DE CLÈVES (Jean Delannoy, F 1960) SE anprangert und seine Figuren in Lebenszusammen- DANGEROUS LIAISONS (Stephen Frears, USA/GB 1988) RIDICULE (Patrice Leconte, F 1996) hänge stellt, die als ökonomisch, sozial und kulturell spezifisch begriffen werden. Der große Antagonist ist das Bürgertum, das auf politischer, kultureller und öko- Armee s. MILITÄR nomischer Ebene die Definitionsmacht besitzt und das Proletariat weitgehend von den relevanten Diskursen ausschließt. Heute sind die Probleme von (Fremd-) Armut. Motiv im fiktionalen und dokumentarischen ArbeiterInnen oft gleichzeitig MINORITÄTSPROBLEME, Film, dessen Inszenierung stark variieren kann: Roman- die eng mit den Schwierigkeiten eines KULTUR- tisch verklärte Darstellungen, in denen Armut mit Ein- KONTRASTS verwoben sind. Oft stammen Filme- fachheit und Schlichtheit verwechselt wird, stehen neben macherInnen und SchauspielerInnen selbst aus der KARRIERESTORIES und BIOPICS, in denen AUFSTEI- Arbeiterschicht und stehen politisch der Sozialdemokra- GERINNEN sich über die KLASSENVERHÄLTNISSE hinweg tie, dem Sozialismus oder dem KOMMUNISMUS nahe. erfolgreich aus der Armut kämpfen und (doch nie) phb vergessen, woher sie ursprünglich kamen. Schließlich gibt Beispiele: es unzimperliche, ungeschönte (HISTORISCHE) MILIEU- MAT (Wsewolod Pudowkin, SU 1926) STUDIEN, aber auch engagierte HUMANITÄRE DOKU- NORMA RAE (Michael Ritt, USA 1978) MENTARFILME, die die Armut und ihre häufigen YOL (Yilmaz Güney, CH/TR 1982) Begleitumstände und -erscheinungen (Perspektivlosig- THE BIG ONE (Michael Moore, USA 1997) keit, EMIGRATION, Arbeitslosigkeit, JUGENDKRIMINALI- TÄT und TRABANTENSTÄDTE) in schroffer SYSTEMKRITIK anklagen. phb Arbeitslager s. LAGER Beispiele: THE LILY OF THE TENEMENTS (D. W. Griffith, USA 1911) Architektur. Inhaltliche Kategorie für alle Arten von LAS HURDES (Luis Buñuel, E 1932) Filmen, die entweder besonders markante Filmbauten TIRE DIE (Fernando Birri, Argentinien 1959) aufweisen (insbesondere der AUSSTATTUNGS- UND CYCLO (Tran Anh Hung, F/Vietnam 1994) KOSTÜMFILM, aber auch die SCIENCE FICTION), oder Glossar 11

Art Déco. Stilrichtung in Spielfilmen der späten 1920er Beispiele: und frühen 1930er Jahre. Der Begriff ist eine Verkürzung ALL ABOUT EVE (Joseph L. Mankiewicz, USA 1950) von art décoratif und meint eigentlich eine spezifische THE BEST MAN (Franklin Schaffner, USA 1963) (außerfilmische) Form von Design und Kunsthandwerk, LA BANQUIÈRE (Francis Girod, F 1980) die vor allem in Frankreich, Belgien, Großbritannien, den USA und Shanghai gepflegt wurde. Im Film macht sich Art Déco vor allem in der Ausstattung bemerkbar: klare, Außerirdisches Wesen. Figur im SCIENCE FICTION- stromlinienförmige Objekte in Metall und Bakelit, un- Film. Bei der Konzipierung dieser Fantasiekreaturen sind gegenständliche, geometrisierende, abgerundete und ab- der Erfindungsgabe ihrer Schöpfer und den Fertigkeiten geplattete Formen, flache Reliefs und Spiegel mit Alumi- der Maskenbildner kaum Grenzen gesetzt (vgl. SPECIAL niumrahmen sind zu erwähnen, aber auch die zeitge- EFFECTS). Dennoch werden außerirdische Wesen über- nössische New Yorker Wolkenkratzer-ARCHITEKTUR raschend oft mit menschlichen Zügen ausgestattet. So sowie eine gleißende, oft indirekte LICHT-Setzung. phb gesehen, kommt ihnen eine Spiegelfunktion zu, die darin besteht, über die Gattung Mensch zu reflektieren, über Beispiele: menschliche Tugenden und Laster zu räsonnieren. Dabei YINHE SHUANGXING (Tomsie Sze, China 1931) geben sich Außerirdische oft beschämend moralisch, was THE BLACK CAT (Edgar G. Ulmer, USA 1934) wiederum Aussagen über die Normvorstellungen ihrer TOP HAT (Mark Sandrich, USA 1935) MacherInnen erlaubt. Natürlich können außerirdische Wesen auch MONSTER sein, auch wenn längst nicht jedes MONSTER ein außer- ArtistIn s. ZIRKUS UND ARTISTEN irdisches Wesen ist. Und: Strenggenommen sind selbst Engel Außerirdische. Vgl. im Unterschied zum außer- irdrischen das KÜNSTLICHE MENSCHENWESEN. phb Arztfigur. Die Figur des Arztes gehört zum beliebten Personeninventar des MELODRAMAS und des FRAUEN- Beispiele: FILMS. Er kann verschiedene Varianten verkörpern: Als CLOSE ENCOUNTERS OF THE … (Steven Spielberg, USA 1977) gütiger alter Mann ist er Vertrauensfigur und sagt den TOTALL RECALL (Paul Verhoeven, USA 1990) verwirrten ProtagonistInnen, wo es brennt; als männliche INDEPENDENCE DAY (Roland Emmerich, USA 1996) Autorität sieht er nach dem rechten und neigt dazu, kranken Frauen Kuren zu verordnen (die nicht selten im Umfeld eines latenten SADOMASOCHISMUS zu verorten Ausstattungs- und Kostümfilm. Franz. film à grand sind); als erotische Partie wird er meist erst spät von der spectacle. Sammelbegriff für Spielfilme, deren gemein- Heldin entdeckt, weil sie auf Abwegen war und blind für samer Nenner im überdurchschnittlich hohen Aufwand seine Qualitäten; als Idealist muss er seine egoistische für üppige Filmdekorationen, atemberaubende Bauten, Frau vernachlässigen und gerät in Ehekonflikte. Die exquisite Kostüme und Requisiten liegt. Ohne einen An- Arztfigur ist deshalb so beliebt, weil sie durch Konvention spruch auf historische Authentizität zu erheben, sind sie und Mythos reichhaltig aufgeladen ist, daher viele fast ausnahmslos in den oberen sozialen Schichten ver- dramaturgische Funktionen ökonomisch erfüllen kann gangener Epochen angesiedelt, da dieser Rahmen eine und sich als Stütze der (bürgerlichen) Gesellschaft mach- opulentere Prachtentfaltung ermöglicht als die ver- tvoll im sozialen Schnittpunkt von «Gesundheit» und meintlich glanzlose Unterschicht oder Gegenwart. Prunk «Krankheit» befindet. Allerdings kann sie auch die und Pracht sind Programm: Der Gestus – verweilend und Gestalt des fehlgeleiteten, dämonischen MAD SCIENTIST extrovertiert, schwelgerisch und sinnlich – ist wichtiger annehmen, außerdem kommt sie in jüngerer Zeit als eine möglichst ökonomische, stringente Erzählweise, vermehrt in traditionell «unweiblichen» Genres wie KA- so dass die Filme in erster Linie die visuellen (oft auch TASTROPHEN- und ACTIONFILM zum Einsatz. phb eskapistischen) Bedürfnisse des Publikums bedienen. Nicht nur ihre luxuriöse Aufwändigkeit, auch ihre Beispiele: äußerste Kostspieligkeit sollen als solche augenfällig THE COUNTRY DOCTOR (D.W. Griffith, USA 1909) sein; insofern sind sie immer auch Demonstrationen der ICH KLAGE AN (Wolfgang Liebeneiner, D 1941) visuellen Macht und künstlerischen Leistungsfähigkeit der DOCTOR ZHIVAGO (David Lean, USA 1965) Filmindustrie. Manche Genres – MONUMENTAL- und THE FUGITIVE (Andrew Davis, USA 1993) PIRATENFILM, aber auch MANTEL UND DEGEN sowie das MUSICAL – haben eine besondere Affinität zum Aus- stattungs- und Kostümfilm. AufsteigerIn. Figur im Spielfilm, die einerseits im sehr Vgl. dagegen die HISTORISCHE MILIEUSTUDIE und die amerikanischen Motiv from rags to riches – vom Teller- HISTORISCHE REKONSTRUKTION sowie das HISTORI- wäscher zum Millionär – vorkommt, andererseits in SCHE FRAUENSCHICKSAL. phb Geschichten um berufliche Auseinandersetzungen ande- rer Art. Die Dramaturgie ist durch kleinschrittige Span- Beispiele: nungskurven geprägt und orientiert sich an den Erfolgen WAR AND PEACE (King Vidor, USA/I 1956) (und Rückschlägen) in der KARRIERESTORY eines CLEOPATRA (Joseph L. Mankiewicz, USA 1962) Individuums, wobei der berufliche Aufstieg in aller Regel LUDWIG (Luchino Visconti, I/BRD/F 1972) mit einem sozialen einhergeht. Oft hat die Geschichte ELIZABETH (Shekar Kapur, USA/GB 1998) des Aufsteigers (besonders der Aufsteigerin) Züge des MELODRAMAS; in realistischeren Varianten kann die Figur in MILIEUSTUDIEN eingebettet sein. AussteigerIn. Figur im Spielfilm, die aus Überzeugung Zum Gegenkonzept des Aufsteigers vgl. die Figur der AB- und willentlich ihren sozialen Status aufgibt, ihre be- STEIGERIN. phb ruflichen Lebenszusammenhänge verlässt und gele- gentlich sogar ihrer «Zivilisation» den Rücken kehrt, um 12 Glossar

– meist allein – ein andersartiges Leben zu führen. HORS SAISON (Daniel Schmid, CH 1992) Geschichten, die um AussteigerInnen kreisen, enthalten BLUE (Derek Jarman, GB 1993) meist eine gute Portion GESELLSCHAFTS- oder SYSTEM- KRITIK. Die Erfolge und Rückschläge im neu gewählten Leben der Figur können viel Raum einnehmen, außerdem Avantgarde der 1920er. Der Terminus dient als sieht sich die AussteigerIn oft einer Gesellschaft gegen- Oberbegriff für verschiedene, nicht nur film-künstlerische über, die Abweichungen – erst recht gewollte – nicht Bewegungen in Europa zwischen 1918 und 1935. Im toleriert oder bestenfalls misstrauisch beäugt. Gegensatz zum zeitgenössischen erzählenden Film ver- Vgl. die ABSTEIGERIN, die unfreiwillig und aufgrund steht sich der Film der Avantgarde als autonomer Kunst- äußerer Umstände um ihr soziales und berufliches film, der nicht wie die industriell hergestellte «kom- Umfeld gebracht wird; außerdem den OUTLAW, dessen merzielle» Filmproduktion in erster Linie an der Wirkung Außenseitertum weniger auf äußere Umstände oder auf ein Publikum interessiert ist. Vielmehr zeichnet er sich innere Überzeugungen, sondern mehr auf juristische durch den bewussten und, nach dem Desaster des ERS- Faktoren zurückzuführen sind. Aber natürlich können im TEN WELTKRIEGS durchaus politisch verstandenen, Bruch Einzelfall die Grenzen zwischen diesen drei Figuren mit kanonisierten, etablierten Konzepten der (Film-) durchlässig werden. phb Kunst und des Erzählens aus. Sowohl ästhetisch als auch intellektuell sind die Vertreterinnen und Vertreter der Beispiele: Avantgarde ihren Zeitgenossen voraus, und ihre Werke DER LEBENDE LEICHNAM (Fedor Ozep, D/SU 1929) sind in erster Linie Ausdruck des Suchens nach formalen STEINBRUCH (Sigfrit Steiner, CH 1942) LA HAINE (Mathieu Kassovitz, F 1995) und inhaltlichen Neuentwürfen, des Experimentierens mit und Ausprobierens von Bild- und Tonvorstellungen. Zu einzelnen avantgardistischen Stilbewegungen vgl. Authentischer Fall. Spielfilm, der sich auf eine ABSTRAKTER FILM, KONSTRUKTIVISMUS, SURREALIS- historisch verbürgte Begebenheit stützt, ohne ihr unbe- MUS. phb dingt im Detail zu folgen oder die daran beteiligten Beispiele: Personen und Orte namentlich zu identifizieren (vgl. die ENTR'ACTE (René Clair, F 1924) Ermordung der Frankfurter Prostituierten Rosemarie L'ÉTOILE DE MER … (Man Ray, F 1928) Nitribitt, der Prozess des Hamburger Serienmörders Fritz ENTUZIAZM (Dsiga Wertow, SU 1930) Haarmann, der Profumo-Skandal in England u. ä.). Oft LA NATATION PAR JEAN TARIS (Jean Vigo, F 1931) nutzen die Filme den authentischen Fall als bei- spielhaften Anlass, um eine herbe GESELLSCHAFTS- oder SYSTEMKRITIK zu formulieren. Im weiteren Sinn gründen auch BIOPIC, DOKU-DRAMA B und HISTORISCHE REKONSTRUKTION auf authentischen Fällen. Doch während das BIOPIC ein berühmtes Leben B-Picture. Das klassische Hollywood unterschied A- und (oder besser den berühmten Teil eines Lebens) nach- B-Produktionen, je nach Größe des Budgets, Aufwand zeichnet (und weniger eine Begebenheit rekonstruiert), und Einsatz von Stars. Im Kino wurden meist zwei konzentriert sich das DOKU-DRAMA darauf, bekannte Spielfilme zusammen programmiert (double bill), ein zeitgenössische Persönlichkeiten und Ereignisse teil- werbewirksames, prestigeträchtiges A-Picture und ein fiktional zum Leben zu erwecken. Die HISTORISCHE RE- kürzeres, bescheideneres B-Picture. Aus heutiger Sicht ist KONSTRUKTION wiederum konzentriert sich weniger auf es oft schwierig, B-Filme zu erkennen, da manche von (zeitlich und geografisch meist eng begrenzte) Fälle, ihnen gelungener und filmgeschichtlich interessanter sind sondern mehr auf Großereignisse wie die FRANZÖSISCHE als viele A-Filme, und da in manchen auch große Stars REVOLUTION oder die Invasion der Alliierten im ZWEI- auftreten, die zum Zeitpunkt der Produktion noch nicht TEN WELTKRIEG. phb berühmt oder zeitweilig nicht anders einsetzbar waren. Beispiele: Als B-Pictures produziert wurden in den 1930er Jahren DAS MÄDCHEN ROSEMARIE (Rolf Thiele, BRD 1958) insbesondere kurze WESTERN und ANSCHLUSSPRO- NACKT UNTER WÖLFEN (Frank Beyer, DDR 1962) DUKTE (z. B. das «Mr. Moto»-Serial), in den 1940er und DER TOTMACHER (Romuald Karmakar, D 1995) 1950er Jahren Werke des FILM NOIR und FILM GRIS. uvk Beispiele: Autobiografie. Von der gleichnamigen literarischen THE LONELY TRAIL (Joseph Kane, USA 1936) DETOUR (Edgar G. Ulmer, USA 1945) Gattung abgeleitete filmische Form, in der sich der Autor OUTRAGE (Ida Lupino, USA 1950) oder die Autorin auf die eigene Lebensgeschichte be- KILLER'S KISS (Stanley Kubrick, USA 1955) zieht. Im Gegensatz zum Aufzeichnungsmedium der Schrift ist dieses Unterfangen wegen des arbeitsteiligen Charakters von Film schwer zu realisieren. Filmische Au- Backstage-Musical. Variante des MUSICALS, die vor tobiographien sind deshalb häufig EXPERIMENTALFILME allem in den 1930er und 1940er Jahren in Hollywood mit Tagebuch-Charakter, greifen auf HOME MOVIES zu beliebt war. Die ProtagonistInnen sind SängerInnen und rück oder integrieren INTERVIEWS mit Familienangehöri- TänzerInnen von Beruf, so dass einerseits ein Großteil der gen. Handlung backstage spielt, andererseits die Gesangs- Vgl. BIOPIC, TAGEBUCH-VERFILMUNG. uvk und Tanznummern sich zwanglos aus der Handlung erge- Beispiele: ben. Da es oft um das Zustandekommen einer Broadway- DAVID HOLZMAN'S DIARY (Jim McBride, USA 1967) Show geht, sind Proben, Eifersüchteleien und KONKUR- RENZKÄMPFE im THEATERMILIEU, Umbesetzungen und Glossar 13

Lampenfieber weitere (jedoch selten realistisch ins- Befreiungskampf. Schilderung der Emanzipationsver- zenierte) Elemente der Handlung – genauso wie die obli- suche von politisch, sozial, ethnisch oder religiös unter- gate LIEBESGESCHICHTE. Außerdem kommt es immer drückten Kollektiven in Form zumeist gewaltsamer wieder vor, dass die Figuren vor lauter Lebensfreude und (militärischer) Auseinandersetzungen mit den unter- Energieüberschuss auch außerhalb der Bühne zu singen drückenden Machtfaktoren. Ziel ist die Durchsetzung und tanzen beginnen. Da in den Backstage-Musicals der politischer Freiheit durch Aufstand, WIDERSTAND oder kreative Prozess selbst zum Thema wird, weisen die Filme GUERILLA. Das Thema ist häufig präsent in Filmen, die stets eine Form von SELBSTREFLEXIVITÄT auf. phb historisch-politische Zäsuren zum Thema haben: die Christenverfolgung der ANTIKE, die Zurückdrängung der Beispiele: GOLD DIGGERS OF 1935 (Busby Berkeley, USA 1935) napoleonischen Truppen aus den eroberten Ländern SINGIN' IN THE RAIN (Gene Kelly, Stanley Donen, USA 1952) Mittel- und Osteuropas sowie Nordafrikas zu Beginn des CABARET (Bob Fosse, USA 1972) 19. Jh.s, die Abschaffung der Versklavung in den USA (vgl. AMERIKANISCHER BÜRGERKRIEG), die Zurückdrän- gung europäischer Kolonialmächte im 20. Jahrhundert in Ballettverfilmung. Grundsätzlich gibt es zwei Möglich- Afrika, Südamerika und Asien oder ethnische und keiten der Ballettverfilmung. Zum einen kann es sich um religiöse Konflikte innerhalb der Nationalstaaten. abgefilmte Ballettaufzeichnungen handeln, die – analog Vgl. LATEINAMERIKANISCHES, MAGHREBINISCHES, zur KONZERTAUFZEICHNUNG – allenfalls ästhetisierend SCHWARZAFRIKANISCHES sowie VORDERASIATISCHES aufbereitet sind, um sie der Nachwelt zu erhalten. Zum KINO. uvk anderen kann es sich – analog zur LITERATUR- oder Beispiele: DRAMENVERFILMUNG – um zuweilen sehr freie Adap- LE JOUEUR D'ÉCHECS (Raymond Bernard, F 1927) tionen von Balletten handeln, die weit über die bloße CAPTAIN LIGHTFOOD (Douglas Sirk, USA 1955) Aufzeichnung hinausgehen und neue, eigenständige SPARTACUS (Stanley Kubrick, USA 1960) Interpretationen sind, die sich spezifisch filmischer Aus- ADIEU BONAPARTE (Youssef Chahine, F/Ägypten 1985) drucksregister bedienen. Dies kann ohne weiteres in MABO – LIFE OF AN ISLAND (Trevor Graham, AUS 1997) Form eines EXPERIMENTAL- oder ANIMATIONSFILMS geschehen, außerdem sind Verflechtungen von TANZ und anderen Kunst- und Musikformen denkbar. phb Behinderung. Motiv, das bevorzugt in Filmen mit Anspruch auf GESELLSCHAFTSKRITIK, im HUMANITÄREN Beispiel: DOKUMENTARFILM, aber auch in THRILLERN und KRIMI- ROSA (Peter Greenaway, B/F 1994) NALFILMEN behandelt wird. Figuren, deren körperliche oder geistige Beeinträchtigung ihnen die Bewältigung des Alltags oder ein selbständiges Leben erschweren, Bäuerliches Leben. Motiv, das beschreibende Einblicke sind Handlungsträger oder wichtige Nebenfiguren. Im in das Landleben bietet. Der filmische Fokus gilt der MI- Spielfilm sind häufig Behinderungen der Protagonisten LIEUSTUDIE und damit oft auch der Analyse von sozialen durch spezielle Begabungen «ausgeglichen» oder Konflikten, die die bäuerliche Existenz spezifisch betref- werden durch Allmachtsphantasien überkompensiert. Ro- fen, sei es das schwierige Verhältnis von Modernisierung mantisierende Schilderungen stehen neben unge- und Technisierung bäuerlicher Arbeit, sei es die jahr- schönten CHARAKTERSTUDIEN, und freilich ist auch das zehntealte Ungerechtigkeit von Besitzverhältnissen. problematische, auf Attraktion und Sensation ausge- Bäuerliches Leben wird in Form der Idylle im HEIMAT- richtete Konzept des FREAK anzutreffen. uvk FILM und insbesondere im Rahmen der Blut-und-Boden- Ideologie des NATIONALSOZIALISMUS idealisiert und als Beispiele: Gegenentwurf zur städtischen Zivilisation ideologisch REMOUS (Edmond T. Gréville, F 1934) überfrachtet. Narratologisch und dramaturgisch gibt es THE MEN (Fred Zinnemann, USA 1950) eine Affinität zur historischen FAMILIENSAGA, rustikalen BEHINDERTE LIEBE (Marlies Graf, CH 1979) KOMÖDIE und zum Schwank. Einen deutlich spröderen JENSEITS DER STILLE (Caroline Link, D 1994) Tonfall schlägt dagegen der NEUE HEIMATFILM an, der auf Romantisierungen des Motivs weitestgehend verzich- Beiprogramm. Sammelbegriff für verschiedenartige tet. Kurzfilme, die im Kino zusammen mit dem abend- Daneben ist die Beschreibung bäuerlichen Lebens vor füllenden Hauptfilm programmiert werden. Gängiges allem Gegenstand des (HUMANITÄREN) DOKUMENTAR- Programmschema war in vielen Ländern bis in die 1950er FILMS, sowohl in seinen sozialkritischen wie in seinen Jahre hinein die Reihenfolge WOCHENSCHAU – KULTUR- konservativ-kulturfilmhaften oder ethnografischen Va- rianten. FILM oder DOKUMENTARFILM – abendfüllender Spiel- film. Als Beiprogramm ist aber auch der WERBEFILM, der Vgl. DORF. uvk ANMATIONSFILM und der TRAILER zu qualifizieren. Für Beispiele: viele Beiprogramme sind keine Regisseure zu ermitteln. A CORNER IN WHEAT (David Wark Griffith, USA 1909) uvk GENERALNAJA LINJA (Sergej Eisenstein, SU 1926–1929) DIE GOLDENE STADT (Veit Harlan, D 1942) Beispiele: DER ERFINDER (Kurt Gloor, CH 1980) LA FIESTA DE SANTA BARBARA (anonym, USA 1935) ALICE IN MOVIELAND (Jean Negulesco, USA 1940) JOHN NESBITT'S PASSING … (anonym, USA 1930er Jahre) 14 Glossar

Beleuchtung s. LICHT Beispiele: PANE, AMORE E FANTASIA (Luigi Comencini, I 1953) TOKYO MONOGATARI (Yasujiro Ozu, J 1953) Bergfilm. Besondere Form des HEIMAT- oder PATHER PANCHALI (Satyajit Ray, IND 1955) ABENTEUERFILMS, der um Bergsteiger und die Lebens- HIGH HOPES (Mike Leigh, GB 1988) form im Gebirge kreist. Typisch für den Bergfilm sind heroische, selbstbestimmte und naturverbundene Beziehungs- und Familienmord. Motiv in Menschen, häufig EinzelgängerInnen, die der Zivilisation KRIMINALFILMEN, bei denen es nicht um Berufs- entfliehen und auf der Suche nach sich selbst sind. Der verbrecher geht, sondern um Personen, die sich aus «nie- Bergfilm zeigt in der Regel eine aufwändige Natur- drigen Beweggründen» an Menschen vergriffen haben, fotografie, die LANDSCHAFT ist dabei weniger bloße Kulisse als vielmehr elementare Naturgewalt und aktive die ihnen nahestehen. Aus dem Motiv ergibt sich eine Mischung aus MELODRAMA oder auch HORRORFILM, Mitspielerin. Der Bergfilm verwendet eine Metaphorik, die je danach zu klassifizieren ist, ob die Tat selbst und die das Bezwingen von Steilwänden, das Erklimmen von ihre Aufkärung im Zentrum stehen, die psychologischen Gipfeln etc. mit dem menschlichen Existenzkampf an sich Motive und die Situation, die sie ausgelöst haben, oder und der Selbstbehauptung des Menschen in der Natur das Grauen, das aus dem Umschlag von vertrauter Nähe gleichsetzt. Neben dem Heroismus des Einzelnen geht es im Bergfilm auch um das Abgeschnitten- und Auf-sich- zu brutaler Aggression und GEWALT folgt. Beziehungs- und Familienmorde ereignen sich auch in BEZIEHUNGS-, Gestellt-Sein. Die Intensität des Körpereinsatzes und EHE- und FAMILIENDRAMEN – in Konstellationen, in (zumeist männliche) KONKURRENZKÄMPFE bestimmen denen die Partner oder Familienmitglieder einander be- seine Dramaturgie. uvk drohlich gegenüberstehen. Vgl. dazu die Figuren MENA- Beispiele: CING HUSBAND und MENACING WIFE. uvk DIE WEISSE HÖLLE VOM PIZ PALÜ (Arnold Fanck, D 1926) DER BERG RUFT (Luis Trenker, D 1937) Beispiele: LOST HORIZON (, USA 1937) OSSESSIONE (Luchino Visconti, I 1942) HÖHENFEUER (Fredi M. Murer, CH 1985) HOUSE BY THE RIVER (Fritz Lang, USA 1950) DIE INSEL (Martin Schaub, CH 1993) LES DIABOLIQUES (Henri-Georges Clouzot, F 1954) BOYS DON'T CRY (Kimberly Pierce, USA 1999)

Berufswelt. Häufig bearbeiteter Themenkomplex in den Gattungen LEHR- und INDUSTRIEFILM sowie in einigen Beziehungsdrama. Beliebte Spielart von MELODRAMA Bereichen des DOKUMENTARFILMS. Im Zentrum stehen und PSYCHOTHRILLER, bei der die emotionalen Konflikte Informationen über einzelne Berufe und Tätigkeitsfelder der Figuren oft eskalieren, in Exzesse der GEWALT oder aus Industrie, Handwerk und den Dienstleistungs- in Verzweiflungstaten münden (vgl. BEZIEHUNGS- UND sektoren. Die Berufswelt prägt aber auch Spielfilme, die FAMILIENMORD). Anlass bieten Rivalitäten zwischen nach Art einer MILIEUSTUDIE auf realistische Weise Familienmitgliedern, problematische GENERATIONENBE- Strukturen, Atmosphäre und Probleme am Arbeitsplatz ZIEHUNGEN, eine TRAGISCHE LIEBE, aber auch Motive beleuchten. In schwächerer Ausprägung kommt der wie INZEST, AMOUR FOU u. ä. Weniger dramatische Komplex im Angestellten- und Sekretärinnenfilm zum Varianten verfahren stiller und verknüpfen die realitäts- Tragen, hier v. a. als Welt des Büros. uvk nahe Geschichte einer schwierigen Beziehung mit einer CHARAKTERSTUDIE der beiden Partner. Beispiele: Vgl. EHEDRAMA. uvk I WAS A FIREMAN (Humphrey Jennings, GB 1943) MILDRED PIERCE (Michael Curtiz, USA 1945) Beispiele: SPUR DER STEINE (Frank Beyer, DDR 1966) THE CHEAT (Cecil B. DeMille, USA 1915) WELL DONE (Thomas Imbach, CH 1994) LA PEAU DOUCE (François Truffaut, F 1963) L'ULTIMO TANGO A PARIGI (Bernardo Bertolucci, I 1972) LOVE STREAMS (John Cassavetes, USA 1984) Beziehungen im Alltag. Meist thematisiert in so THE PIANO (Jane Campion, NEUS 1992) genannt «kleinen» Filmen, die in unspektakulärem Milieu spielen und Alltagsschicksale ohne große Gesten oder Bibelverfilmung. Besondere Form der LITERATUR- tragische Ausgänge zeichnen. Es herrscht ein realistischer VERFILMUNG, die oft als AUSSTATTUNGS- UND Stil vor. Häufig agieren Charakterdarsteller statt Stars. KOSTÜMFILM sowie als MONUMENTALFILM gleicher- Die Handlung kreist um Konflikte, die auf «natürlichen» maßen daherkommt und die Spiritualität ihres Gegen- Dialogen und psychologischen Beobachtungen beruhen. Im Mittelpunkt steht eine persönliche Beziehung, z. B. stands durch spektakulären Aufwand ersetzt. Selten wird die Bibel als Ganzes verfilmt, stattdessen dienen meist eine vielschichtige, uneindeutige LIEBESGESCHICHTE, die einzelne Bücher als Vorlage (Genesis, Matthäus- verschiedene Phasen durchläuft und oder auch wieder Evangelium etc.). Bearbeitet wird aber nicht nur die abgebrochen wird (keine lodernde Leidenschaft wie im Passion Christi (vgl. LEIDENSGESCHICHTE), sondern auch MELODRAMA). Oder es wird die Geschichte einer alttestamentarische und apokryphe Stoffe (Sodom und Freundschaft erzählt, auch Annäherungs- und Los- lösungsprobleme in GENERATIONENBEZIEHUNGEN. Der Gomorrha resp. Judith etc.). Ein religiöses Publikum empfindet solche Verfilmungen trotz (oder wegen) ihrer abgegriffene Spruch «Geschichten, die das Leben tendenziellen Harmlosigkeit als unseriös, die Kirche schreibt» ist hier meist recht stimmig als Umschreibung. uvk reagiert gereizt und die KritikerInnen gelangweilt (vgl. den Begriff «Sandalenfilm»). Provokative Bibelverfilmun- Glossar 15 gen lösen in der Regel eine breite Welle der Empörung Beispiele: aus, erst recht, wenn es sich um TRAVESTIEN handelt. THE GIRL FROM CHICAGO (Oscar Micheaux, USA 1932) Vgl. dagegen hagiografische Filme, die sich nicht auf bib- SHAFT (Gordon Parks, USA 1971) lische Stoffe, sondern auf HEILIGENLEGENDEN stützen SWEET SWEETBACK'S … (Melvin Van Peebles, USA 1971) BLACK POWER IN AMERICA … (William Greaves, USA 1987) (Franz von Assisi, Jeanne d'Arc etc.). phb DO THE RIGHT THING (, USA 1989) Beispiele: SODOM UND GOMORRHA (Mihály Kertész, A 1922) THE ROBE (Henry Koster, USA 1953) s. BLACK CINEMA; EXPLOITATION IL VANGELO SECONDO MATTEO (Pier Paolo Pasolini, I 1964) THE LAST TEMPTATION OF CHRIST (M. Scorsese, USA 1988) Blockbuster. Amerikanischer Ausdruck für Filme mit ex- plosionsartigem Publikumserfolg und außerordentlichen Biografischer Film s. BIOPIC finanziellen Einspielergebnissen, die nur wenige Wochen nach dem Kinostart die Produktionskosten übertrumpfen. Der Begriff wird auch im Sinne äußerst aufwändiger und Biopic. Der Begriff ist eine verkürzte Form von biogra- kostspieliger Produktionen (mehrere Hundert Mio. US- phical picture und meint das Genre des biografischen Dollar) verwendet. Spielfilms. Vor allem von William Dieterle in den 1930er Vgl. dagegen den KULTFILM, dessen Kultstatus sich Jahren entwickelt, entwirft es die fiktionalisierte Biografie keineswegs in hohen Einspielergebnissen widerspiegeln berühmter Persönlichkeiten (PolitikerInnen, Wissenschaft- muss; außerdem den gewissermaßen umgekehrt gelager- lerInnen, KÜNSTLERGESTALTEN etc.), stellt diese mit ten LOW-BUDGET-Film. uvk dem Anspruch auf Zeittreue in ihren historischen und sozialen Kontext, würdigt ihre Leistungen und arbeitet Beispiele: ihre Bedeutung für die Nachwelt heraus. Selten wird WEST SIDE STORY (Robert Wise, Jerome Robbins, USA 1961) dabei das ganze Leben verfilmt, stattdessen konzentriert JAWS (Steven Spielberg, USA 1975) man sich auf die als zentral erachteten Lebensabschnitte. THE TERMINATOR … (James Cameron, USA 1991) TITANIC (James Cameron, USA 1997) Im Fall von Politikerinnen und Politikern versuchen Biopics oft, der Öffentlichkeit unbekannt gebliebene Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ereignissen zu Body snatcher. Eine der Lieblingsfiguren des HORROR- rekonstruieren. Und: Nicht immer sind die porträtierten FILMS, literarisch als Gestalt vorgeprägt im Roman Fran- Figuren bereits bekannt; manche gelangen erst durch das kenstein oder Der neue Prometheus von Mary Shelley Biopic in den Kanon der Berühmtheiten. (1809): ein nächtlicher Leichenräuber (oft ein MAD Zur Biografie historischer Frauen vgl. HISTORISCHES SCIENTIST), der Gräber öffnet, um Material für die Her- FRAUENSCHICKSAL; außerdem DOKU-PORTRÄT und AU- stellung eines KÜNSTLICHEN MENSCHENWESENS zu be- TOBIOGRAFIE. uvk sorgen. Spätere Versionen umfassen auch weniger primi- Beispiele: tive Raubmethoden. In der Variation des SCIENCE FIC- TSCHAPAJEW (Sergej und Georgij Wasiliew, SU 1934) TION-Genres werden menschliche Körper nicht mehr wie ROBERT KOCH, DER BEKÄMPFER … (Hans Steinhoff, D 1939) in der Urform von Frankenstein aus totem Gewebe und AMADEUS (Milos Forman, USA 1984) Organen zusammengestückelt, sondern «kopiert», FRIDA – NATURALEZA VIVA (Paul Leduc, MEX 1983) «ersetzt», «besetzt» und zu Androiden und so genan- nten Cyborgs transformiert. uvk Black Cinema. Amerikanische Filme, die von Afro- Beispiele: amerikanerInnen für ein afroamerikanisches Publikum FRANKENSTEIN (James Whale, USA 1931) produziert werden. Es lassen sich zwei Phasen unter- BODY SNATCHER (Robert Wise, USA 1945) scheiden: Bereits in den 1920er und 1930er Jahren gibt INVASION OF THE BODY SNATCHERS (Don Siegel, USA 1956) es eine eigenständige afroamerikanische Filmindustrie – von der man wenig weiß, weil sie nicht in die offizielle Bollywood. Der Begriff ist eine verballhornte Kom- Filmgeschichte eingegangen ist. (Davon zu unterscheiden sind Filme, die zwar mit einem all black cast, aber im bination von Bombay und Hollywood. Er bezeichnet die in Bombay als Produktionszentrum ansäßige Industrie herkömmlichen studio system und unter weißen Regis- des indischen Mainstream-Films. Gemessen an seiner seuren produziert wurden.) Grundsätzlich handelt es sich Jahresproduktion von ca. 800 langen Spielfilmen ist es dabei um eine Art Apartheidskino, da dem afroameri- das größte Filmproduktionszentrum der Welt. Bollywood- kanischen Publikum der Zutritt zu «weißen» Kinos in Filme sind dramaturgisch dem MUSICAL verwandt, weiten Teilen der USA verboten war. Die zweite Phase entstand im Zug der Bürgerrechtsbewegung und des zeichnen sich durch streckenweise enormes Tempo, Reiz- flut, opulente Kostüme und Dekors, zahlreiche TANZ-Ein- neuen Selbstbewusstseins amerikanischer Minderheiten lagen und ausgeklügelte Choreographien sowie (meist) seit den 1960er Jahren (vgl. MINORITÄTSPROBLEME). stattliche Überlänge aus. Sie verarbeiten Elemente Dieses Kino ist professioneller als die frühen Ansätze, klassischer westlicher Genres wie MELODRAMA, WES- außerdem findet es auch außerhalb afroamerikanischer TERN und KOMÖDIE. uvk Kulturzusammenhänge Anerkennung. Als sein Start- schuss und einer seiner zentralen Ausformungen gilt das Beispiele: eher kommerziell orientierte blaxploitation cinema (vgl. SHOLAY (Ramesh Sippy, IND 1975) EXPLOITATION). uvk CHANDNI (Yash Chopra, IND 1989) KUCH KUCH HOTA HAI (Karan Johar, IND 1999) 16 Glossar

British New Wave s. FREE CINEMA MUNGEN – italienische, französische und russische Ro- manliteratur des 19. Jahrhunderts – machen den größten Teil der kalligrafischen Filme aus, eine Tendenz, die der Buddy-Buddy. Filme mit einem Männerpaar, das eine Stilrichtung den (nicht unproblematischen) Vorwurf des starke emotionale und/oder erotische Bindung aufweist, realitätsfernen Eskapismus einbringt. Die Filme nutzen auch wenn den Figuren fast ausnahmslos Heterosexuali- die Gelegenheit zu schwelgerischen Kostümen und De- tät attestiert wird (vgl. HOMOEROTIK). Die Handlung kors und ziehen stimmungsvolle, an Originalschauplätzen kreist um Szenen, in denen beide geschickt gegen den fotografierte LANDSCHAFTEN mit ein, um so das psychi- Rest der Welt kooperieren, sich die Bälle im Dialog zu- sche Verhältnis des Menschen zur Natur auszuloten. spielen, Frauen zugunsten ihrer Freundschaft links liegen Im Unterschied dazu zeichnet sich die Gruppe der zeit- lassen, einander irritieren und wieder versöhnen oder gleichen TELEFONI BIANCHI weniger durch stilistische, auch füreinander sterben. Häufig ist auch ein Um- sondern mehr durch inhaltliche Gemeinsamkeiten aus: schlagen der Männerfreundschaft in Hassliebe. Rar, aber Sie sind leichte GESELLSCHAFTSKOMÖDIEN über die zeit- nicht unmöglich ist die Variante des weiblichen Buddy- genössische mondäne High Society und blenden kon- Buddy-Films. sequent jeden Bezug zu Alltag und Realität im italieni- Vgl. FREUNDINNENPAAR. uvk schen FASCHISMUS aus. phb Beispiele: Beispiele: THE STING (George Roy Hill, USA 1973) PICCOLO MONDO ANTICO (Mario Soldati, I 1940) THE DEER HUNTER (Michael Cimino, USA 1978) MALOMBRA (Mario Soldati, I 1942) THELMA AND LOUISE (Ridley Scott, USA 1991)

Camp. Eine Qualität, die einem Film (oder Text) erst Bürgerkrieg. Bürgerkriege – oft als schlimmste aller durch das Publikum zugeschrieben wird – und die damit Kriegsformen bezeichnet – kommen als unterschiedlich in struktureller Nähe zum KULTFILM steht. Camp ist eine gelagertes Motiv in Spiel- und DOKUMENTARFILMEN spezifische Rezeptionshaltung, hinter der die camp sensi- vor: in KRIEGSFILMEN, die sich auf die Darstellung von bility einer (oft minoritären) Gruppe steht. Diese Haltung Kampfhandlungen und Schlachten konzentrieren; in hat identitätsstiftendes Potenzial und kann zu ganz KRIEGSROMANZEN, in denen der Bürgerkrieg lediglich anderen Interpretationen führen, als dies im Rahmen als Kulisse fungiert, vor deren Hintergrund sich bittersüße einer herkömmlichen, mehrheitsfähig heterosexuellen MELODRAMEN abspielen; in düsteren KRIEGSDRAMEN, Lesart möglich wäre. Sie reagiert vor allem auf in denen es um FLUCHT und zerrissene Familien, aber Stilistisches, Extravagantes, Übertriebenes und Iro- auch um WIDERSTAND und SPIONAGE geht; in (HUMA- nisches, außerdem auf alles Rollenhafte und Inszenierte; NITÄREN) DOKUMENTARFILMEN, die das Entsetzen und Inhalt, Moral oder Tragödie sind dagegen zweitrangig. die katastrophalen Folgen vergangener respektive zeit- Dass es oft SCHWULE und/oder LESBEN sind, die einen genössischer Bürgerkriege für die Bevölkerung Film als Camp lesen, hat mit homosexuellen Lebens- beleuchten. Eine Unterscheidung zwischen verschiedenen logiken zu tun: Der Fokus auf Äußeres und Stil impliziert Arten von Bürgerkriegen zu ziehen – etwa dem politisch die Erfahrung einer Minorität, dass Rollen – insbesondere motivierten (Amerika, Spanien), dem religiös motivierten Geschlechterrollen – ein zwar alltägliches Phänomen (Afghanistan, Algerien, Libanon, Nordirland) und dem sind, das sich aber an der Oberfläche abspielt und daher ethnisch motivierten (Bosnien, Burundi) –, fällt oft immer (auch) eine Frage des Stils ist. schwer, da in den meisten Fällen mehrere Gründe Hand Während Camp als Lesart auf nahezu jeden Film in Hand gehen oder die einen zugunsten der anderen angewendet werden kann, gibt es FilmemacherInnen, instrumentalisiert werden. Genres und DarstellerInnen, die – nicht immer bewusst – Vgl. AMERIKANISCHER BÜRGERKRIEG, SPANISCHER eine Camp-Rezeption begünstigen. BÜRGERKRIEG. phb Vgl. QUEER CINEMA. phb Beispiele: Beispiele: CAL (Pat O'Connor, GB 1984) GOLD DIGGERS OF 1933 (Busby Berkeley, USA 1933) DARKO AND VESNA (Emmanuel Jespers, B 1997) DIE BETTWURST (Rosa von Praunheim, BRD 1970) SAFAR-E GHANDEHAR (Mohsen Makhmalbaf, Iran/F 2001) LA PALOMA (Daniel Schmid, CH/F 1974) LA GUERRE SANS IMAGES … (Mohammed Soudani, CH 2002) VALENTINO (Ken Russell, GB 1976)

Burleske s. SLAPSTICK; SITUATIONSKOMÖDIE Cartoon s. ZEICHENTRICKFILM

Charakterstudie. Genre im Spielfilm, dessen Haupt- C merkmal eine realitätsnahe, psychologisch ausdifferen- zierte Figurenzeichnung ist. Dabei handelt es sich um komplexe und schillernde Figuren – oder im Fall des Calligrafismo. Stilrichtung im italienischen FASCHISTI- UNGLEICHEN PAARS um Figurenpaare –, die keineswegs SCHEN FILM, die vor allem in den frühen 1940er Jahren nur mit positiven Eigenschaften aufwarten und sich wirksam ist und zusammen mit den TELEFONI BIANCHI gerade dadurch von einer typenhaften oder eindimensio- unmittelbar dem NEOREALISMUS vorausgeht. Im Zent- nalen Figurenzeichnung distanzieren. Typischerweise sind rum stehen aufwändige MELODRAMEN mit ausgeprägt die Hauptfiguren keine jungen Hüpfer, sondern haben schönen und liebevoll ausgeleuchteten, opulenten und eine gute Portion Lebenserfahrung hinter sich. Allerdings anspruchsvollen Bildgestaltungen. LITERATURVERFIL- Glossar 17 handelt es sich dabei meist um Männer; weibliche gelegt wird. Anfang der 1970er Jahre wird die Bewegung Figuren sind noch immer selten. Gleichzeitig ist die des Cinema Nôvo durch das brasilianische Militärregime Charakterstudie oft die einzige Möglichkeit für Schau- unterdrückt, die Filmemacher ins Exil vertrieben oder in spielerinnen über vierzig, überhaupt noch zu arbeiten die nun staatlich kontrollierte Filmindustrie eingebunden. (innerhalb der westlichen Kinotradition, die sich auf die Außerdem wird seit den 1960er Jahren in Lateinamerika Körperlichkeit junger Frauen kapriziert und Rollen- (und später weit darüber hinaus) die Bewegung des angebote für «ältere» Frauen äußerst knapp bemisst). THIRD CINEMA bestimmend. phb Das Spektrum an Genres ist breit und reicht von BIOPICS Beispiele: und EHEDRAMEN über TRAGIKOMÖDIEN bis hin zu MI- OS FUZIS (Ruy Guerra, BR 1963) LIEUSTUDIEN und THRILLERN. Die dominierende Geste VIDAS SÊCAS (Nelson Pereira dos Santos, BR 1963) ist jedoch nicht die große, ausladende, sondern die fo- ANTONIO DAS MORTES (Glauber Rocha, BR 1969) kussierende, aufs Detail gerichtete. Entsprechend kom- MACUNAÍMA (Joaquim Pedro de Andrate, BR 1969) men ABENTEUER-, ACTION- und AUSSTATTUNGSFILME kaum vor. phb Beispiele: Cinéma pur s. IMPRESSIONISMUS ANSIKTE MOT ANSIKTE (Ingmar Bergman, S 1975) TROIS COULEURS: BLEU (Krzysztof Kieslowski, F/CH/PL 1993) HEIDI M. (Michael Klier, D 2001) Cinéma Vérité. Seit den frühen 1960er Jahren eine Be- wegung im französischen DOKUMENTARFILM. Der Be- griff geht zurück auf Dsiga Wertows Konzept der kino Cinéma Beur. Kein Genre, sondern seit Mitte der prawda (Kino-Wahrheit) – zugleich Titel einer aktuellen 1980er Jahre eine Bewegung der aus dem Maghreb WOCHENSCHAU, die von 1922 bis 1925 erschien. (Algerien, Marokko, Tunesien) nach Frankreich einge- Cinéma Vérité basiert auf spontanen, nicht inszenierten wanderten NordafrikanerInnen oder der in Frankreich Aufnahmen mit mobiler Kamera und Direktton, einer geborenen Zweitgeneration. Zu den Hauptvertretern ge- damals neuen technischen Errungenschaft im dokumen- hören junge Regisseure wie Mehdi Charef, Rachid Bou- tarischen Bereich. Registriert werden nicht nur Gescheh- chareb, Abdelkrim Bahloul, Karim Dridi u. a. Im Zentrum nisse, die auch ohne die Präsenz der Kamera stattfinden ihrer GESELLSCHAFTSKRITIK stehen die problematischen würden, sondern vor allem solche sozialen Prozesse, die Lebenszusammenhänge, in denen sich in Frankreich durch die Filmarbeit erst angestoßen werden. Insofern lebende junge AraberInnen befinden: Es geht um ADO- hat die Kamera die Funktion eines Katalysators, durch LESZENZ in tristen TRABANTENSTÄDTEN, Arbeits- den sich die Realität selbst dramatisiert. Die Methode des losigkeit und JUGENDKRIMINALITÄT, auseinander Cinéma Vérité wird insbesondere im ETHNOGRAFISCHEN brechende Familien, IDENTITÄTSPROBLEME und RASSIS- FILM umgesetzt. MUS sowie SUCHT UND DROGEN – d. h. um MINORI- Im radikalen Unterschied zum gleichzeitig entwickelten TÄTSPROBLEME und KULTURKONTRASTE, die sich aus amerikanischen DIRECT CINEMA begreift und nutzt den Folgen der EMIGRATION ergeben. Der Tonfall dieses Cinéma Vérité das Kamerabewusstsein der gefilmten Per- eigentlichen Immigrationskinos ist zornig oder ironisch, sonen als konstitutives Element, und die Entstehung des oft ungeduldig, und Schwierigkeiten werden direkt und Films gilt als Film-Enquête, als «Forschungsprozess» für ungeschönt beim Namen genannt – für beschauliche Filmemacher und Gefilmte. phb Sentimentalität ist selten Platz. Das hängt eng damit Beispiele: zusammen, dass die Hauptfiguren nahezu immer junge CHRONIQUE D'UN ÉTÉ (Jean Rouch, Edgar Morin, F 1960) Männer sind und die Geschichten nicht frei von miso- GRAND SOIRS ET PETITS MATINS ... (William Klein, F 1978) gynen und homophoben Untertönen sind. URGENCES (Raymond Depardon, F 1987) Vgl. MAGHREBINISCHES KINO. phb Beispiele: LE THÉ AU D'ARCHIMÈDE (Mehdi Charef, F 1985) City. Motiv und Schauplatz zugleich. Die im Zug der CHEB (Rachid Bouchareb, Algerien/F 1991) Industrialisierung entstandene moderne Großstadt gilt als BYE-BYE (Karim Dridi, F/CH 1995) besonders fotogen, ihr wird eine «natürliche» Affinität zur fotografischen und filmischen Ästhetik zugesprochen, die aus dem Zusammenwirken von ARCHITEKTUR, dyna- Cinema Nôvo. Bewegung im brasilianischen LATEIN- mischem Verkehr, Strömen heterogener Bevölkerungen, AMERIKANISCHEN KINO in den späten 1950er und LICHT- und Wettereffekten erwächst, die sich miteinan- 1960er Jahren, die sich als Opposition gegen den kom- der zur metaphorischen Symphonie orchestrieren lassen. merziellen Film, vor allem gegen den als kolonialistisch Das Motiv ist in allen filmischen Gattungen (Spiel-, DO- empfundenen Hollywoodfilm und die chanchados, KUMENTAR- und EXPERIMENTALFILM) präsent. Inner- Karnevals- und Copacabana-MUSICALS brasilianischer halb des Spiefilms wird es in verschiedenen Genres Prägung, versteht. Besonders beeinflusst wird das (THRILLER, QUARTIERSTUDIE) und Stilrichtungen (STRAS- Cinema Nôvo durch die politischen Ansichten und SENFILM, FILM NOIR) bevorzugt eingesetzt. Seine Inter- ästhetischen Techniken des italienischen NEOREALIS- pretation reicht von lyrischer Euphorie über harsche MUS. Wesensmerkmal ist außerdem das Zusammen- GESELLSCHAFTSKRITIK am Leben in TRABANTENSTÄD- fließen verschiedener inhaltlicher und formaler Elemente: TEN bis hin zu kulturpessimistischer Verurteilung. phb Zusammengeführt werden Bestandteile von Volkskunst Beispiele: (indianische und Karnevalsrituale) und Oper ebenso wie BERLIN – DIE SINFONIE DER … (Walter Ruttmann, D 1927) verschiedene Genres (z. B. MELODRAMA und WESTERN), LADRI DI BICICLETTE (Vittorio de Sica, I 1948) über die oft eine chorische, überindividuelle Struktur MANHATTAN (Woody Allen, USA 1979) 18 Glossar

Collage. Eine Form des EXPERIMENTALFILMS, oft in es sei denn, man verspottet sie unverholen in PARODIEN Gestalt eines ANIMATIONSFILMS, der auf verschiedene oder SATIREN. Stattdessen ist eine Tendenz zum Päda- bereits bestehende Materialien aus filmischen und außer- gogischen oder Didaktischen zu verzeichnen, insofern als filmischen Bereichen gleichermaßen zurückgreift, wobei das für ein schwullesbisches Publikum erzählte Coming die Herstellungstechnik im filmischen Endprodukt als out immer auch die Funktion hat, die eigenen Unsicher- solche stets sichtbar ist. Im Unterschied dazu arbeitet der heiten und Ängste abzubauen. phb (ebenfalls meist experimentelle) FOUND FOOTAGE-Film Beispiele: zwar auch mit vorgefertigtem, jedoch ausschließlich filmi- COMING OUT (Heiner Carow, DDR 1989) schem Material (Archivbilder, Filmabfälle, Amateurauf- SITCOM (François Ozon, F 1998) nahmen etc.). Wieder anders verfährt der KOMPILA- LE PLACARD (Francis Veber, F 2001) TIONSFILM, dessen Grundlagen auch filmische Quellen sind, die aber anders als im FOUND FOOTAGE-Film in der Regel als DOKUMENTARFILM angelegt sind. phb Computer-Animation. Besondere Form eines SPECIAL Beispiel: EFFECTS. Bewegte Bildfolgen, die nicht mit einer Kamera LE BAIN (Florent Mounier, F 2001) fotografiert, sondern in einem Computer geschaffen und errechnet werden. Grundlage sind in der Regel ma- thematische Konstruktionen von Objekten oder aber im Comics-Verfilmung. Eine Variante der LITERATUR- Computer verarbeitete Modelle, Fotos, Film- und Video- VERFILMUNG, die als - oder life bilder. Computeranimierte Bilder werden vorrangig in gestaltet sein kann. Ein wesentlicher Unterschied zu den Bereichen VIDEOKUNST, VIDEOCLIP und EXPERI- Adaptionen rein sprachlicher Texte liegt darin, dass MENTALFILM, aber auch in den fiktionalen Genres Comics immer schon auf der Verbindung von Bild und SCIENCE FICTION und ACTIONFILM sowie in Filmen mit Text basieren, dass ihre Verfilmung also nicht nur für ver- historischen Themen verwendet. Im Spielfilm gelten com- bale Ereignisse neue, spezifisch filmische, Ausdrucks- puteranimierte Bilder oder Bildteile auf Produktionsseite mittel finden muss, sondern auch das zwar vorhandene, oft dann als besonders gelungen, wenn sie vom im Unterschied zum bewegten Film aber statische Publikum nicht mehr als solche erkannt, nicht mehr vom Bildmaterial neu konzipieren muss. Grundsätzlich kann herkömmlich gedrehten Filmmaterial unterschieden wer- das in der herkömmlichen Formensprache des Erzähl- den können. phb kinos geschehen, denkbar sind aber auch formale Beispiele: Verfahrensweisen – außergewöhnliche Einstellungs- SWIETO (VACANCES) (Zbigniew Rybczynski, PL 1981) größen, spektakuläre Kamerawinkel, drastische Farb- VIRTUOSITY (Brett Leonhard, USA 1995) dramaturgie, hohe Schnittfrequenzen u. ä. –, die beson- MELANIE (Claude Barras, CH 1998) ders im klassischen Genrekino undenkbar wären. Inhalt- lich liegt der Schritt zu PHANTASTIK und FANTASY nahe (und damit auch der Griff zu üppigen SPECIAL EFFECTS), Coup. Motiv im KRIMINALFILM, das ein typisches überhaupt die Tendenz zu diegetischen Welten, die nur Erzählmuster nach sich zieht: Es geht – ernsthaft oder geringen oder gar keinen Anspruch auf Realitätsnähe humorvoll – um die Durchführung eines raffiniert geplan- erheben. phb ten Einbruchs oder Raubüberfalls, eines Coups eben. Die Bewunderung für die Professionalität der Ausführenden Beispiele: BARBARELLA (Roger Vadim, I/F 1967) (manchmal auch für ihre schiere Tumbheit) ist beim FRITZ THE CAT (Ralph Bakhsi, USA 1971) Publikum in der Regel größer als die Missbilligung des ASTÉRIX CHEZ LES BRETONS (Pipo van Lamsverde, F 1986) Verbrechens. Typischerweise werden Vorbereitung und WERNER BEINHART (Niki List et al., D 1990) Tat minutiös und Punkt für Punkt gezeigt, oft mit einiger Technikbegeisterung und ohne besondere Psychologisie- rung. Andererseits kann das Erzählmuster des Coups Coming-out. Motiv im Spielfilm, das bisweilen die Di- auch die sich (unter Stress) verändernden Beziehungen mension eines Erzählmusters annehmen und die drama- der Ausführenden untereinander herausarbeiten. So turgische Bewegung eines ganzen Films bestimmen betrachtet, hat die Verbrechergruppe einige strukturelle kann. Im Zentrum steht der freiwillige (gegebenenfalls er- Ähnlichkeit mit dem Muster der SCHICKSALSGEMEIN- zwungene) Schritt einer LESBE oder eines SCHWULEN, zu SCHAFT. ihrer resp. seiner HOMOSEXUALITÄT zu stehen und die Vgl. das ähnlich gelagerte Motiv der EXPEDITION UND eigene SEXUALITÄT nicht länger nur im Versteckten zu SCHATZSUCHE im ABENTEUERFILM. phb leben. Meist sind die Figuren jung, in der ADOLESZENZ Beispiele: oder in den Zwanzigern, dagegen ist die filmische Schil- (John Huston, USA 1950) derung eines Coming outs älterer Figuren weitaus TOPKAPI (Jules Dassin, USA 1964) seltener. Der Prozess selber wird oft als IDENTITÄTS- DIE KATZE (Dominik Graf, BRD 1987) PROBLEM erzählt und in eine LIEBESGESCHICHTE einge- OCEAN'S ELEVEN (Steven Soderbergh, USA 2001) bettet, die je nach Ausrichtung des Films als LEIDENS- GESCHICHTE oder TRAGISCHE LIEBE daher kommen kann, in der Regel aber mit einem Happy-End schließt. Court métrage s. KURZSPIELFILM Seit den 1990er Jahren ist das Motiv verstärkt auch im Mainstream zu sehen, wenn auch keineswegs frei von althergebrachten Klischees und oft begleitet von einer Court room drama s. JUSTIZDRAMA zweifelhaften Komik. Im QUEER CINEMA dagegen verzichtet man weitgehend auf derlei Vereinfachungen – Glossar 19

Cowboywestern. Spielart des WESTERN, in dessen Vgl. dagegen den SCHULFILM, der noch vor der profes- Zentrum die Figur des Cowboys, seine Arbeit mit oft sionellen Karriere und meist als Abschlussarbeit an einer atemberaubend großen Herden und damit auch die Filmhochschule entsteht. phb LANDSCHAFT steht, in der sich beide bewegen. Einerseits Beispiele: sind Cowboys hypermaskulin, wortkarg und trotz ihrer DAS BLAUE LICHT (Leni Riefenstahl, D 1932) Arbeit im Verbund höchst einzelgängerisch; Freund- DER JUNGE TÖRLESS (Volker Schlöndorff, BRD 1966) schaften sind entsprechend selten (vgl. die BUDDY- LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (R. W. Fassbinder, BRD 1967) BUDDY-Konstellation), umso häufiger sind Rivalitäten, AMERICAN BEAUTY (Sam Mendes, USA 1999) bei denen nicht gerade zimperlich vorgegangen wird. Andererseits dient der Cowboywestern auch immer wieder zur vorsichtigen Schilderung mehr oder weniger Dekadenz. Keine eigentliche Filmsorte, sondern inhalt- verhaltener (und mehr oder weniger klischeebeladener) liche Charakterisierung von Filmen, die sich mit luxuriö- HOMOEROTIK – trotz der homophoben Strömungen im sem Sittenverfall, artistokratischem sensuellen Raffine- klassischen Hollywood ein meist risikoloses Verfahren, da ment, Hingabe an entartete Laster, sexueller Devianz, diese Filme auf ein Figurensetting angewiesen sind, das genusshafter Verantwortungslosigkeit etc. beschäftigen, sozusagen aus «natürlichen» Gründen ohne Frauen aus- sei es mit Faszination und Sympathie, sei es in sen- kommt. phb sationeller oder kritischer Absicht. Zur Dekadenz gehört Beispiele: ein Schuss kreativer Ästhetik und Bewusstheit ebenso DUEL IN THE SUN (King Vidor, USA 1946) wie ein Gefühl von Endstimmung, Sinnlosigkeit des Da- RED RIVER (Howard Hawks, USA 1948) seins, Ennui, suizidaler Disposition. Als dekadent inter- THE COWBOYS (Mark Rydell, USA 1972) pretierte Spätphasen politischer Epochen sind häufig im AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜMFILM sowie im MONU- MENTALFILM thematisiert. Meist geht das Motiv mit der Crossdressing. Im Spielfilm bezeichnet der Kleider- Formulierung einer DYSTOPIE oder gar ENDZEITVISION wechsel die zeitweilige und situationsbedingte, irrefüh- einher, außerdem wird es oft mit einer GESELLSCHAFTS- rende oder komische Ausstattung der weiblichen Figur KRITIK verwoben. uvk als Mann oder der männlichen als Frau. Eine Sonderform Beispiele: sind die so genannten Hosenrollen, in denen Darstel- LA DOLCE VITA (, I 1960) lerinnen männliche Figuren verkörpern, seltener dagegen LA CADUTA DEGLI DEI (Luchino Visconti, I/BRD 1969) treten männliche Darsteller in weiblichen Rollen auf. Das CABARET (Bob Fosse, USA 1972) Motiv des Kleiderwechsels taucht vor allem im THRILLER DANGEROUS LIAISONS (Stephen Frears, GB/USA 1988) (wo es oft für schlüpfrige Spannung sorgen soll) und in der VERWECHSLUNGSKOMÖDIE auf (wo es oft etwas er- müdenden Humor verbreiten soll). Die gegengeschlecht- Detektiv s. PRIVATDETEKTIV liche Verkleidung hat tendenziell psychopathische oder lächerliche Züge. Seltener sind die Filme, in denen durch das Motiv die herkömmlichen Geschlechterrollen proble- Detektivin s. WEIBLICHER DETEKTIV matisiert werden. Oft dient das Crossdressing auch zur latenten homosexuellen Erotisierung bestimmter Stars. Auch der Transvestismus, dessen Charakteristik die Über- Dialektfilm. Spiel- oder DOKUMENTARFILM, dessen nahme einer neuen sozialen Identität, eines neuen Dialoge oder Kommentar nicht in einer nationalen Hoch- gender mit dem Mittel der (traditionell gegengeschlecht- lautung, sondern in regionalen gesprochenen Sprachen lichen) Kleidung ist, gehört in diese Kategorie. abgefasst sind. Dialektrede wird dramaturgisch zur Ver- Vgl. dagegen TRANSSEXUALITÄT. uvk stärkung von Authentizität und für ein hohes Maß an Wiedererkennbarkeit sprachräumlicher Faktoren einge- Beispiele: VIKTOR UND VIKTORIA (Reinhold Schünzel, D 1933) setzt. Eine große Nähe zu den Charakteren – in der Regel TOOTSIE (Sydney Pollack, USA 1982) KLEINE LEUTE – und hohe Präzision der Milieuschilde- ORLANDO (Sally Potter, GB 1992) rung kennzeichnen den Stil (vgl. BÄUERLICHES LEBEN, aber auch MILIEU- und QUARTIERSTUDIE). Politische Bedeutung für das Selbstbewusstsein der (Deutsch-) Cyborg s. KÜNSTLICHE MENSCHENWESEN Schweiz gewinnt der auf Schweizerdeutsch gedrehte Film in der Phase der GEISTIGEN LANDESVERTEIDIGUNG ge- gen das nationalsozialistische Deutschland in den 1930er und 1940er Jahren sowie im NEUEN SCHWEIZERFILM. Während der HEIMATFILM einen mehr oder weniger D realitätsfernen Pseudodialekt zelebriert, legt der NEUE HEIMATFILM oft viel Wert auf detailgetreue Dialekt- Debutfilm. Als Debut gilt der erste lange Film (long lautung. uvk métrage) einer Filmemacherin oder eines Filmemachers, der in professionellen Produktionszusammenhängen, also Beispiele: z. B. nach einer Filmausbildung, realisiert und (in der Re- ROMEO UND JULIA … (H. Trommer, V. Schmidely, CH 1941) HÖHENFEUER (Fredi M. Murer, CH 1985) gel) in öffentlichen Kinos gezeigt wird. Dabei kann es DER HERR KARL (Carl Merz, Helmut Qualtinger, A 1961) sich sowohl um fiktionale als auch um dokumentarische DIE SIEBTELBAUERN (Stefan Ruzowitzky, A 1998) Filme handeln. 20 Glossar

Direct Cinema. Anfang der 1960er Jahre in den USA ten: Dreharbeiten on location, der Gebrauch von HAND- entwickelte Stilrichtung und Methode des DOKUMEN- KAMERA und Farbfilmmaterial sind zwingend, während TARFILMS, die durch leichte Kameras (16 mm; in der extradiegetische MUSIK, künstliches LICHT, überhaupt DDR 35 mm) und Magnettonbandgeräte (Nagra) eine Genrekino und die Nennung des Regisseurs im Vor- oder hohe Beweglichkeit der Aufnahmeapparatur für Bild und Abspann verboten sind. Die zentrale Bedeutung der Ton nutzt, um größtmögliche Nähe und Authentizität in SchauspielerInnen ergibt sich aus diesen Forderungen der Darstellung zu erreichen. Zu den Elementen dieser von selbst. Ferner «schwören» die FilmemacherInnen, mit spezifischen Form von GESELLSCHAFTSKRITIK (die später ihren Figuren und Schauplätzen «die Wahrheit» aus- auch im NEW AMERICAN CINEMA weiter gepflegt drücken zu wollen. Außerdem ist bei aller Alltäglichkeit werden wird) gehören die als soziologisch verstandene der Geschichten eine Tendenz zur Thematisierung von Methode der teilnehmenden Beobachtung, die Betonung (bis zum Wahnsinn reichenden) Grenzerfahrungen zu ver- des Unartifiziellen sowie die tendenzielle Ausblendung zeichnen. Publikum und Kritik reagieren unterschiedlich des Filmemachers. Das dokumentarische Material wird auf die Bewegung: Begrüßen die einen sie als überfällige durch keine VOICE-OVER kommentiert, viele Filme des Maßnahme des (europäischen) Kinos, lehnen die anderen Direct Cinema sind Beobachtungen des Alltags und sie wegen ihrer religiösen Metaphorik und ihres thematisieren die BERUFSWELT. Das Erkenntnisinteresse rückwärtsgewandten Impetus ab oder interpretieren sie des Stils weist auch in den ETHNOGRAFISCHEN FILM. In schlicht als PR-Gag. Dennoch sind seither knapp drei Frankreich hat das CINÉMA VÉRITÉ eine ähnliche Dutzend nicht nur dänischer Dogme-Filme entstanden, Funktion, wenngleich es sich in wesentlichen Punkten sondern weltweit Filme, die in Teilen die Dogme- (etwa der Anwesenheit des Filmemachers im Film) vom Forderungen übernehmen. phb gleichzeitig entwickelten DIRECT CINEMA unterscheidet. Beispiele: uvk FESTEN (Thomas Vinterberg, DK 1997) Beispiele: MIFUNES SIDSTE SANG (Søren Kragh-Jacobsen, DK 1998) DON'T LOOK BACK (D. A. Pennebaker, USA 1967) ITALIENSK FOR BEGYNDERE (Lone Scherfig, DK 2001) CHIEFS (Richard Leacock, USA 1968) HIGH SCHOOL (Frederick Wiseman, USA 1968) SALESMAN (A. Maylses, D. Maysles, Ch. Zwerin, USA 1969) Doku-Drama. Eng an wirkliche, dem Publikum wohlbe- kannte Ereignisse angelehnte oder auf einem AUTHEN- TISCHEN FALL beruhende Handlung, in der reale Perso- Diva. Lat.-it. = die Göttliche. Aus der Opern- und Schau- nen von ihnen ähnlichen SchauspielerInnen verkörpert spielkultur des 19. Jahrhunderts (Eleonora Duse, Sarah werden. Bei gleichzeitiger Fiktionalisierung (Darstellung Bernhardt) übernommener Begriff für einen weiblichen von Gefühlen und Gedanken; erfundene, auf den Punkt Darstellungsstil, der durch Exaltiertheit, Exzentrik, ex- gebrachte Dialoge; Hintergrundmusik etc.) wird beson- zessives Ausspielen tragischer oder melodramatischer derer Wert auf authentische Schauplätze oder nachge- Rollen, große Gesten, narzisstische Besetzung der eige- stellte öffentliche Szenen gelegt, die durch Fotos, Film- nen Schönheit, Unnahbarkeit und erotische Macht ge- dokumente oder anderes Quellenmaterial überliefert kennzeichnet ist. Stärker als der weibliche und männliche sind. Beliebtes, gelegentlich als MEHRTEILER konzipiertes Star kultiviert die mehrfach begabte Filmdiva in Schau- Genre des amerikanischen, seit den 1980er Jahren auch spiel, Gesang und TANZ eine Verlängerung ihres auf des deutschen FERNSEHENS. Verwandt mit dieser Form «göttliche» Erhabenheit zielenden Rollenimages in ihre ist der SEMIDOKUMENTARFILM. Vgl. die HISTORISCHE private Sphäre. Vor allem im italienischen und (mit ande- REKONSTRUKTION, die zwar auch vergangene Ereignisse ren Akzenten) deutschen Stummfilm der 1910er Jahre veranschaulicht, aber ohne den Einsatz (filmischer) Quel- auftretend (so bei Francesca Bertini, Wanda Treumann, len auskommt. uvk Asta Nielsen, Fern Andra u. a.), später unter veränderter Perspektive in Hollywood präsent (Greta Garbo, Marlene Beispiele: ABSCHIED VOM FALSCHEN PARADIES (T. Baser, BRD 1989) Dietrich, Liz Taylor). uvk THE HEROES OF DESERT STORM (Don Ohlmeyer, USA 1991) Beispiele: DIE MANNS. EIN JAHRHUNDERTROMAN (H. Breloer, D 2001) MALOMBRA (Carmine Gallone, I 1917) DIE SUMPFBLUME (Viggo Larsen, D 1913) DIE BÖRSENKÖNIGIN (Edmund Edel, D 1918) Doku-Porträt. Häufige Form der filmischen Dokumenta- ASSUNTA SPINA (Gustavo Serena, I 1915) tion, bei der eine bekannte Persönlichkeit oder eine soziale Gruppe durch Selbstzeugnisse, INTERVIEWS mit Zeitzeugen, KONZERT- und THEATERAUFZEICHNUNGEN Dogme 95. Bewegung, als deren Beginn das 1995 ver- sowie schriftliche und bildliche Dokumente aller Art öffentlichte Dogma gilt, das als Keuschheitsgelübde for- beleuchtet wird. Die Zeugnisse ergeben ein Mosaik, das muliert wurde und zu dessen Mitunterzeichnern die däni- den Charakter oder die Biografie der Porträtierten facet- schen Filmemacher Lars von Trier und Thomas Vinterberg tenreich rekonstruiert. Doku-Porträts über Filmschaffende gehören. Hauptziel ist – unter Bezugnahme auf die NOU- werden unter FILMHISTORISCHE DOKUMENTATION auf- VELLE VAGUE und den NEOREALISMUS – eine Erneue- geführt. rung des Kinos, die als Absetzung vom gegenwärtigen Vgl. BIOPIC, KOMPILATIONSFILM. uvk amerikanischen, spektakulären Kino verstanden wird. Damit verbunden ist die Suche nach einem neuen Reali- Beispiele: tätszugriff und die Forderung nach formaler Innovation, DER MENSCH IST EIN … (Rosemarie Stenzel-Quast, BRD 1985) die durch eine als Rückbesinnung begriffene Einschrän- BERUF NEONAZI (Winfried Bonengel, D 1993) WAR PHOTOGRAPHER (Christian Frei, CH 2001) kung der Ausdrucksmittel postuliert wird. Das Manifest gipfelt in einem Katalog von zehn Geboten und Verbo- Glossar 21

Dokumentarfilm. Von dem britischen Kritiker und eine extrem kleinräumige, mikrokosmische Topographie Filmer John Grierson erstmals 1926 geprägter, auf Robert als Schauplatz der Handlung. Dabei ist die Lage des filmi- Flahertys Tahiti-Film Moana bezogener Begriff des nicht- schen Dorfs – oft als «Kaff» oder «gottverlassenes Nest» fiktionalen Films, dessen Aufbau sich nicht an den Regeln bezeichnet – in der Regel entlegen und von der Umwelt der klassischen Dramaturgie oder vorgeformten narra- abgeschnitten. Auffallend oft – und daher problematisch, tiven Mustern orientiert, sondern das «wirkliche Leben» weil klischeebeladen – gilt die Mentalität seiner als mit Menschen auf die Leinwand bringt, die als sie selbst «hinterwäldlerisch» gezeichneten BewohnerInnen als be- vor die Kamera treten (documentary value). Dokumen- schränkt, zurückgeblieben und an überholten Normen tarfilmerInnen sind ZeugInnen von Handlungen, Ereignis- festhaltend. Je nach Erzählhaltung kann diese Mentalität sen oder Phänomenen der ZEITGESCHICHTE, die sie eine besondere Affinität zu gewaltsamen Konflikt- mittels Film erschließen, verdeutlichen, analysieren oder lösungen, ja Exzessen von GEWALT aufweisen (vgl. MI- rekonstruieren, wobei sie als AutorInnen z. B. im INTER- LIEUSTUDIE, FAMILIENDRAMA); oder die Verhaltens- VIEW je nach künstlerischem Konzept als Fragende, Ge- weisen werden als liebevoll-schrullig geschildert. sprächspartnerInnen etc. an- oder abwesend sein kön- Vgl. BÄUERLICHES LEBEN. uvk nen. Die Begriffsbildung des Dokumentarfilms war einer Beispiele: Praxis nachgängig, die bereits seit den Gebrüdern REFLECTING SKIN (Philipp Ridley, GB 1990) Lumière 1895 mit ungeschnittenen single shots nicht- SURE FIRE (John Jost, USA 1990) fiktionale Filme produzierte, in denen sichtbare Vorgänge KARNIGGELS (Detlev Buck, D 1991) der Wirklichkeit aufgezeichnet wurden. Frühe Formen des nicht-fiktionalen Films, v. a. AKTUALITÄTEN und WO- CHENSCHAUEN sind mit journalistischen Arbeitsweisen Drag s. CROSSDRESSING verwandt, während die a-narrativen Landschaftsbilder Vorläufer in der Reisebeschreibung und literarischen To- pografieschilderung des 19. Jahrhunderts haben. Der Do- Dramatische Szene. Sammelbegriff für nicht-komische, kumentarfilm hat verschiedene ästhetische Schulen und narrative Filme der frühen Kinematographie mit Stilrichtungen hervorgebracht: vgl. dazu DIRECT CINEMA ergreifendem, erbaulichem oder spannend-unterhalten- und CINÉMA VÉRITÉ. Ebenso wurden zahlreiche Subgat- dem Inhalt. Die dramatische Szene ist häufig Kern des tungen ausgebildet, wie z. B. das DOKU-PORTRÄT, der fiktionalen EINAKTERS. uvk INSZENIERTE und EXPERIMENTELLE DOKUMENTARFILM sowie die QUERSCHNITTS-DOKUMENTATION. Der IN- Beispiele: VESTIGATIVE DOKUMENTARFILM übernimmt seine Me- FIRE! (James A. Williamson, GB 1901) HISTOIRE D'UN CRIME (Ferdinand Zecca, F 1901) thode vom investigativen, Stellung beziehenden Journa- PIKOWAJA DAMA (Petr Chardynin, RUS 1910) lismus. uvk DEN WENCHANIJA (Ewgenij Slawinskij, RUS 1912) Beispiele: A BRONX MORNING (Jay Leyda, USA 1931) CHRONIQUE D'UN ÉTÉ (Jean Rouch, Edgar Morin, F 1960) Dramenverfilmung. Die Ausgangslage ist fast … AND THE PURSUIT OF HAPPINESS (Louis Malle USA 1986) komplementär zur LITERATURVERFILMUNG: Während STILLEGUNG (Klaus Wildenhahn, BRD 1987) Dialoglastigkeit, Szenenhaftigkeit und auf zwei Stunden zugespitzte Dramatik den Erfordernissen des Films ent- gegenkommen, läuft die Einheit von Ort, Zeit und Hand- DoppelgängerIn. Das Doppelgänger-Motiv ist viel älter lung der filmischen Freizügigkeit eher zuwider und lässt als der Film. Es entspringt der Furcht um die eigene Theateradaptionen künstlich begrenzt erscheinen. Auch Identität – und thematisiert entsprechend eine spezifi- der «theatralische» Schauspielstil wirkt eher antifilmisch. sche Form des IDENTITÄTSPROBLEMS –, wenn sie nicht Dramenverfilmungen verfolgen sehr verschiedene mehr als einzigartig garantiert ist, und spielt insofern mit Methoden, von der mehr oder weniger starren Bühnen- Todesgedanken, als sich auch im TOD die Identität auf- oder THEATERAUFZEICHNUNG bis zur filmischen Neu- löst. Das Motiv ist bevorzugt in PSYCHOTHRILLERN anzu- konzeption, die frei mit der Vorlage umgeht. treffen sowie – in komischer Variante – in VERWECHS- Vgl. MONODRAMA, SHAKESPEARE. uvk LUNGSKOMÖDIEN. ZWILLINGE, sofern sie physisch identisch erscheinen, evozieren die Angst vor dem Dop- Beispiele: pelgänger. Im Film bieten DoppelgängerInnen und Zwil- SHIWOI TRUP (Fedor Ozep, D/SU 1929) GASLIGHT (Thorold Dickinson, GB 1939) linge Gelegenheit für technische TRICKS (split screen, A TASTE OF HONEY (Tony Richardson, GB 1961) Doppelbelichtung etc.) und schauspielerische Bravour. GESCHICHTSUNTERRICHT (J.-M. Straub, D. Huillet, BRD 1972) Echte Zwillinge kommen dagegen vergleichsweise selten DEATH AND THE MAIDEN (Roman Polanski, GB/USA/F 1994) zum Einsatz. uvk Beispiele: THE GREAT DICTATOR (Charles Chaplin, USA 1940) Dreieck. Figurenkonstellation, Motiv und Erzählmuster VERTIGO (Alfred Hitchcock, USA 1958) zugleich. Im Zentrum steht die sprichwörtliche «Drei- KAGEMUSHA (Akira Kurosawa, J 1980) ecksgeschichte», eine meist unentschiedene LIEBESGE- DEAD RINGERS (David Cronenberg, USA 1988) SCHICHTE, die in ROMANTISCHEN KOMÖDIEN zu einem LA DOUBLE VIE DE VÉRONIQUE (K. Kieslowski, PL/F 1991) glücklichen Ende findet, in MELODRAMEN dagegen zur TRAGISCHEN LIEBE wird. Dabei ergibt sich das komische respektive melodramatische Potenzial des Erzählmusters Dorf. Im Gegensatz zur KLEINSTADT oder dem auf eine sozusagen von selbst aus der Figurenkonstellation «Frau größere Region angewandten Begriff der PROVINZ meint zwischen zwei Männern» oder «Mann zwischen zwei das zumeist pejorativ gebrauchte Begriffsfeld des Dorfs 22 Glossar

Frauen»: Es geht um die Schwierigkeiten, sich zu ent- Beispiele: scheiden und/oder um das Risiko, entdeckt zu werden; es TARZAN, THE APE MAN (Willard S. Van Dyke II, USA 1932) gibt zwei Schuldige und ein Opfer. Nur selten handeln JUNGLE BOOK (Zoltan Korda, GB 1942) die Geschichten vom Spezialfall der ménage à trois, bei LA CHÈVRE (Francis Veber, F/MEX 1981) dem alle drei Beteiligten voneinander wissen und meist GORILLAS IN THE MIST (Michael Apted, USA 1988) auch zusammen leben. Noch viel seltener sind freilich schwule, lesbische oder bisexuelle Dreiecksgeschichten – Duell. Im engeren Sinn ein streng ritualisierter männli- diese Handlungsmuster scheinen keinen Platz in einem cher Zweikampf, der auf eine Ehrverletzung oder eine mehrheitsfähigen Vorstellungskanon zu haben. andere fundamentale Normverletzung hin ausgetragen Das Motiv kann um einen Pol mehr zum VIERECK erwei- wird. Ab dem späten 19. Jh. wird die Wahl der Waffen tert werden. phb (Degen oder Pistolen) demjenigen überlassen, der Satis- Beispiele: faktion gibt. Duellierende rivalisieren um die begehrte LA HABANERA (Detlef Sierck, D 1937) Frau oder tragen Standeskonflikte nach gezielter verbaler MADAME DE ... (Max Ophüls, F/I 1953) Provokation (seit den Duellierverboten auch außerhalb IL DESERTO ROSSO (Michelangelo Antonioni, I/F 1964) des sozialen Raums) aus. Die Gegner gehören in der Re- CABARET (Bob Fosse, USA 1972) gel den sozialen Oberschichten (vgl. ARISTOKRATIE) an KEEPING THE FAITH (Edward Norton, USA 2000) und/oder sind Angehörige des MILITÄRS. Im weiteren Sinn ein Zweikampf als definitive Konflikt- lösung, indem entweder einer der Kontrahenten oder Dritte Welt. Im DOKUMENTARFILM behandeltes The- beide sterben. Häufiges Motiv in AUSSTATTUNGS- UND ma, das den spezifischen wirtschaftlichen, politischen, KOSTÜMFILMEN sowie vor allem in MANTEL UND sozialen oder auch ökologischen Problemen der Dritten DEGEN-Filmen mit DREIECKS-Konstellationen. Die Waf- Welt gilt. Behandelt wird auch das Verhältnis und der Umgang Europas respektive der ehemaligen Kolo- fen (Hieb- und Stichwaffen vom antiken Schwert über den Degen des 18. und 19. Jh. bis zu den Schusswaffen nialmächte oder der USA mit den selbständigen Staaten. im 19. und 20. Jh.) wechseln mit den historischen Epo- Im Unterschied zum historischen Kolonialfilm werden chen, in denen die Stoffe angesiedelt sind. uvk Konflikte nicht aus eurozentrischer respektive westlicher Perspektive dargestellt, sondern eher ein analytischer, Beispiele: auch FREMDE ERZÄHLTRADITIONEN berücksichtigender LIEBELEI (Max Ophüls, D 1933) Standpunkt eingenommen. Das Thema wird häufig von RASHOMON (Akira Kurosawa, J 1950) Filmemachern bearbeitet, die aus den Herkunftsländern THE DUELLISTS (Ridley Scott, GB 1977) vertrieben wurden und sich in kritischer Distanz mit den GLADIATOR (Ridley Scott, USA 2000) Regionen beschäftigen. Filme zum Thema können aber auch von einheimischen Teams produziert werden. uvk Dystopie. Motiv im fiktionalen Film. Während UTOPIEN Beispiele: wie auch immer gelagerte Idealvorstellungen menschli- AKALER SANDHANE (Mrinal Sen, IND 1980) chen Zusammenlebens, positive Zukunftsvisionen formu- AN FINZAN (Cheik Oumar Sissoko, Mali 1989) lieren, verfahren Dystopien sozusagen umgekehrt: Ihr LA FIÈVRE MONTE A EL PAO (Luis Buñuel, F/MEX 1959) Grundton ist pessimistisch, sie entwerfen und beklagen LA CAPTIVE DU DESERT (Raymond Depardon, F 1989) den sich abzeichnenden oder gar fortschreitenden Niedergang menschlicher Zivilisation und Moralvorstel- lungen. Dies kann im Gewand verschiedener Genres Drittes Kino s. THIRD CINEMA geschehen (SCIENCE FICTION, KRIEGSDRAMA, ESSAY- FILM, selten in der KOMÖDIE) und unter Rückgriff auf unterschiedliche Erzählformen (PARABEL, ALLEGORIE, Drogen s. SUCHT UND DROGEN aber auch SATIRE). Dystopien sind insofern von GESELL- SCHAFTS- oder SYSTEMKRITIK durchzogen, in dem sie den Zustand von Welt und Menschheit beklagen. Dschungel. Ein im ABENTEUERFILM und im TIERFILM häufig vorkommender tropischer Vegetationsraum Afri- Vgl. die ENDZEITVISION, ein beklemmend düsterer Ex- tremfall der Dystopie, in dessen Zentrum nicht einfach die kas, Lateinamerikas und Südostasiens, der seine dramati- Verschlechterung der Welt, sondern ihr apokalyptischer schen Qualitäten durch Undurchdringlichkeit, Unüber- Untergang steht. phb sichtlichkeit, die in ihm lauernden Gefahren (Raubtiere etc.) und den ihm zugeschriebenen EXOTISMUS gewinnt. Beispiele: Die Topographie ist als Raum einer gesteigerten Natur- METROPOLIS (Fritz Lang, D 1926) aktivität eingeführt, welche alle menschlichen Sinne an- FAHRENHEIT 451 (François Truffaut, GB 1966) spricht, Orientierung verweigert und die körperliche wie LA MORT EN DIRECT (Bertrand Tavernier, F/BRD 1979) geistige Kondition der in ihm fremden Akteure heraus- STRANGE DAYS (Kathryn Bigelow, USA 1995) fordert. Ähnlich wie das Hochgebirge im BERGFILM, aber auch die WÜSTE, ist der Dschungel durch seine topo- grafische Struktur weniger Umwelt der Handlung denn als spezifische LANDSCHAFT selbst antagonistische Mit- spielerin. Im Tonfilm ist ihm eine polyphone akustische Dimension aus Geräuschen und Tierstimmen zugeordnet. Außerdem ist der urwüchsige Raum ein beliebter Schau- platz für die EXPEDITION UND SCHATZSUCHE und bietet Gelegenheit, sich vor VERFOLGUNG zu schützen. uvk Glossar 23

temporären Trennungen und glücklichen Wiedervereini- E gungen des Paars führen. phb Beispiele: Eastern. Im weiteren Sinn ein fiktionales Genre, in dem WENN WIR ALLE ENGEL WÄREN (Carl Froelich, D 1936) «Asiatisches» oder «Fernöstliches» mit Stilmerkmalen DESIGNING WOMAN (Vincente Minnelli, USA 1957) des amerikanischen Kinos zusammentrifft. Im engeren MÄNNER (Doris Dörrie, BRD 1985) GROSSESSE NERVEUSE (Denis Rabaglia, CH 1994) Sinn eine Spielart vor allem des Hongkong-Kinos seit den ausgehenden 1960er Jahren. Es geht um Martial-arts- Filme, die die Dramaturgien und Figurenkonzeptionen vor Ein- und Zweiakter. Standardformat des frühen allem des amerikanischen ACTIONFILMS und WESTERNS, fiktionalen Films bis etwa 1910/12, wobei die Filmlängen aber auch des THRILLERS und des FILM NOIR aufgreifen zwischen ca. 100 bis 250 m bei Einaktern, 500 bis 750 und mit der Ästhetik fernöstlicher Kampfkünste verbin- m bei Zweiaktern liegen. Ein- und Zweiakter sind häufig den. Im Zentrum stehen temporeiche und gewalttätige noch Elemente eines Nummernprogramms, bestehend Spektakel, deren heroische EINZELKÄMPFERINNEN als aus Film, Laterna Magica-Projektion und nicht-fiktionalen einsame RächerInnen auftreten und ihren GegnerInnen in Kurzfilmen (LANDSCHAFTS-Bild, AKTUALITÄT etc.). Der atemberaubend choreografierten Kampfszenen begeg- Aufbau der Narration folgt zumeist der klassischen Regel nen. Zu den Stars des Eastern gehören vor allem Jackie von der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung (mit Chan, Jet Li und Bruce Lee, aber auch Chow Yun Fat und signifikanten Ausnahmen wie z. B. Der Schatten des Michelle Yoeh. Seit den 1990er Jahren beeinflusst der Meeres, D 1912) sowie von einem zentralen Konflikt. Die Eastern in einer Art Rückbewegung zunehmend die Äs- monothematisch ausgelegten Filme präsentieren eine thetik des US-Actionkinos und hinterlässt in immer mehr schmale Zahl von Handelnden. Das Format lebt fort in BLOCKBUSTERN seine Spuren. den Spielfilmen der AVANTGARDE DER 1920ER Jahre Vgl. den japanischen SAMURAI-FILM. phb und im Kurzfilm. In seiner nichtfiktionalen Variante fließt Beispiele: er in den KULTURFILM der 1920er bis 1950er Jahre so- LONG ZHENG HU DOU (Robert Clouse, HK/USA 1973) wie in den DOKUMENTARFILM ein. uvk SINNUI YUAMAN (Ching Sui-Tang, Tsui Hark, HK 1987) CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON (A. Lee, VRC/USA 2000) Beispiele: L'ÉCLIPSE (Georges Méliès, F 1902) Ehedrama. Oft eine Variante des MELODRAMAS, deren THE GREAT TRAIN ROBBERY (Edwin Porter, USA 1903) THE LONEDALE OPERATOR (David Wark Griffith, USA 1911) zentrales Motiv – der emotional aufgeladene zwischen- UN CHIEN ANDALOU (Luis Buñuel, Salvador Dalí, F 1929) menschliche Konflikt – zwischen Eheleuten angesiedelt ist. Ehedramen nehmen vielfach die Perspektive der weiblichen Figur ein (vgl. FRAUENFILM) und erzählen re- EinzelkämpferIn. Figur in Spielfilmen, deren Narration gelmäßig die Geschichte einer schwer geprüften Liebe, wesentlich geprägt ist von (fast immer männlichen) Hel- die auf ein verhaltenes Happy-End zusteuern kann. Häu- den, die schweigsam, eigenhändig und entgegen widri- figer ist jedoch die TRAGISCHE LIEBE, die durch Verzicht ger Umstände den Kampf mit einem (scheinbar) über- und Entsagung gekennzeichnet ist und nicht selten mit mächtigen Gegner aufnehmen. Meist hypermaskulin, dem Tod einer der beiden Ehepartner oder gar einem verfügen sie über athletische Staturen und bewegen sich BEZIEHUNGS- UND FAMILIENMORD endet. Wie beim in körperbetonten Genres wie ACTION- oder ABENTEU- MELODRAMA sind auch hier starke Emotionalisierung ERFILM, aber auch im SHERIFFWESTERN. Die Geschich- und Sentimentalisierung charakteristisch, dominieren ten richten sich an ein mehr physisch als psychologisch Gefühls- über Handlungsmomente, sind wechselbad- involviertes, männliches Zielpublikum – Einzelkämpferin- artige Zuspitzungen und polarisierende Figurenzeichnun- nen sind selten – und enden mit dem Sieg des Helden gen üblich. Weniger melodramatische Varianten verzich- über die Gegenseite. Jetzt erst erlangt er, oft aus niede- ten jedoch auf sentimentale Überfrachtung und setzen ren sozialen Schichten stammend, jene gesellschaftliche stattdessen im Sinn einer CHARAKTERSTUDIE auf eine Anerkennung, die ihm anfänglich versagt bleibt. Die möglichst nüchterne (und gerade deshalb verstörend rea- Dreieckskonstellation «Einzelkämpfer-Gesellschaft-Schur- listische) Beobachtung vom schmerzhaften Zerfall einer ken» löst sich auf, die Bösen verschwinden und eine den Beziehung. Helden inkorporierende, neue Gemeinschaft wird gebo- Vgl. die Varianten BEZIEHUNGS- und FAMILIENDRAMA. ren. phb Einzelkämpfer sind stets Außenseiter und rücken damit in Beispiele: die Nähe von OUTLAWS, sind aber im Gegensatz zu SERENADE (Willi Forst, D 1937) diesen höchstens notgedrungen kriminell, im Kern aber A STAR IS BORN (George Cukor, USA 1954) moralisch durch und durch integer. phb SCENER UR ETT ÄKTENSKAP (Ingmar Bergman, S 1973) MADAME BOVARY (Claude Chabrol, F 1991) Beispiele: HIGH NOON (Fred Zinnemann, USA 1952) RAMBO – FIRST BLOOD (George P. Cosmatos, USA 1985) Ehekomödie. Beliebte Spielart der KOMÖDIE, deren DIE HARD (John McTiernan, USA 1988) ERIN BROCKOVICH (Steven Soderbergh, USA 2000) zwei Haupttendenzen in der Darstellung älterer grotesker oder aber junger attraktiver Paare liegen. Dabei geht es im ersten Fall mehr um das eheliche Rollenspiel und sei- Emigration. Motiv in Spiel- und DOKUMENTARFILMEN, ne Nichterfüllung (z. B. bei Pantoffelhelden), im zweiten in deren Zentrum die problematischen Lebensbedingun- Fall dagegen verstärkt um Missverständnisse, die zu gen Emigrierender stehen: Das POLITISCHE KLIMA zu 24 Glossar

Hause, Arbeitslosigkeit und ARMUT gehören zu den Omnibusfilme). Außerdem können sie im Gewand unter- Gründen, die zur Emigration führen, und oft genug ist sie schiedlicher Genres daher kommen. Omnibusfilme sind mit VERFOLGUNG durch die Staatsgewalt und lebens- besonders im italienischen Kino der 1950er und 1960er gefährlicher FLUCHT verbunden. In den neuen, meist Jahre beliebt. phb urbanen Lebensbedingungen, treten häufig MINORI- Beispiele: TÄTSPROBLEME, KULTURKONTRASTE und bisweilen JU- DER MÜDE TOD (Fritz Lang, D 1921) GENDKRIMINALITÄT in den Vordergrund, außerdem PAISÀ (Roberto Rossellini, I 1947) brechen familiäre und freundschaftliche Bindungen aus- BOCCACCIO 70 (Vittorio De Sica et al. I/F 1961) einander. Gelegentlich relativiert die (nicht immer frei- DEUTSCHLAND IM HERBST (R. W. Fassbinder et al., BRD 1977) willige) Zugehörigkeit zu einer SUBKULTUR oder einer SCHICKSALSGEMEINSCHAFT die Isolierung und Einsam- keit in der fremden Umgebung. Das Motiv kann in vielen Erlösungs- und Heilsgeschichte. Eine zumeist in Genres vorkommen, von rührseligen MELO- oder FAMI- ihrem Werthorizont religiös grundierte Form der Narra- LIENDRAMEN über nüchterne MILIEU- und QUARTIER- tion, in der die Figuren oder ein soziales Kollektiv außer- STUDIEN bis hin zu beißenden POLITISCHEN SATIREN mit gewöhnlich leidvolle Erfahrungen durchleben, durch Anspruch auf GESELLSCHAFTS- oder SYSTEMKRITIK. Die KRANKHEIT oder Epidemien, durch exzessive GEWALT von EmigrantInnen selbst gedrehten Filme sind in der Re- oder Schicksalsschläge. Ihr Verlangen nach Rettung oder gel einem Realismus verpflichtet, der sich durch spröde Heilung von diesem Zustand gründet in tiefer Erschüt- Härte und Lakonik, aber auch durch einen anklagenden terung und im Glauben an eine rettende Figur, die, darin Gestus auszeichnen kann. Für einige Traditionen, etwa dem biblischen Modell von Jesus Christus verwandt, das CINÉMA BEUR, ist das Motiv konstitutives Element. messianische Züge trägt. phb Vgl. LEIDENSGESCHICHTE. uvk Beispiele: Beispiele: ANGST ESSEN SEELE AUF (R. W. Fassbinder, BRD 1973) KÖRKARLEN (Viktor Sjöström, S 1921) LE THÉ AU HAREM D'ARCHIMÈDE (Mehdi Charef, F 1985) ORDET (Carl Theodor Dreyer, DK 1955) REISE DER HOFFNUNG (Xavier Koller, CH 1990) A. I. – ARTIFICIAL INTELLIGENCE (S. Spielberg, USA 2001)

Endzeitvision. Motiv im fiktionalen Film. Anders als die Erotik. Genreunabhängiges filmisches Thema, das als DYSTOPIEN, die den Niedergang menschlicher Zivilisation Beobachtungsfeld beschreibbar ist: Es werden darunter skizzieren, gehen Endzeitvisionen einen Schritt weiter Filme versammelt, die – ohne SEX- oder gar explizite und entwerfen drastische, apokalyptische Weltunter- PORNOGRAFISCHE FILME darzustellen – eine starke ero- gangsszenarien. Das geschieht meist in den Genres tische Komponente haben, sei es in der Handlung oder SCIENCE FICTION, HORROR- oder KATASTROPHENFILM, im Figurenverhalten, sei es in der Art der Fotografie. Im gelegentlich aber auch unter Rückgriff auf komplexere Gegensatz zu den beiden erwähnten Genres präsentiert Erzählformen wie PARABEL, ALLEGORIE oder GROTESKE. sich Erotik subtiler und bezieht sich mehr auf den Vor allem im Hollywood der 1950er Jahre setzt eine Wel- Ausdruck des Begehrens und der Verführung (z. B. durch le von Filmen ein, in denen ein MONSTER (als Symbol für Unterstreichung von Körperformen und -bewegungen den KOMMUNISMUS) den Weltuntergang (beinahe) her- oder durch eine Ästhetik des Verschleierns) als auf den beiführt. In den frühen 1970er Jahren dagegen (als die Vollzug sexueller Handlungen. Dennoch können auch USA den VIETNAMKRIEG bereits verloren hatten) tritt das erotische Filme oder Filmstellen ohne weiteres zu ZEN- Motiv in Verbindung mit Katastrophen auf. Biblische oder SURFÄLLEN werden. Allerdings, die Codierung des Eroti- pseudobiblische Untertöne fehlen jedoch in beiden Strö- schen ist stark kulturabhängig und historischen Verände- mungen fast nie: Mit der Anknüpfung an die Geschichte rungen unterworfen. von Sodom und Gomorrha wird im «reinigenden Bad» Zu lesbischer oder schwuler Erotik vgl. HOMOEROTIK; des Weltuntergangs die Geburt einer neuen, «geläu- außerdem EROTISCHE SZENE. uvk terten» Weltgemeinschaft beschworen, oder, je nach Tonlage, gefeiert. phb Beispiele: EKSTASE (Gustaf Machaty, CSR/A 1933) Beispiele: LA PISCINE (Jacques Deray, F/I 1969) WEEKEND (Jean-Luc Godard, F 1967) THE BIG EASY (Jim McBride, USA 1987) ERASERHEAD (David Lynch, USA 1978) SI LE SOLEIL NE REVENAIT PAS (Claude Goretta, CH/F 1987) Erotische Szene. Variante der GESTELLTEN SZENE und ein kaum oder wenig narratives Genre der frühen Kine- Episodenfilm. Genre, in dem mehrere in sich matographie. Das Zeigen einer intimen, als erotische geschlossene KURZSPIEL- oder KURZDOKUMENTAR- (nicht: pornografische) Attraktion verstandenen Hand- FILME durch ein gemeinsames Merkmal in Beziehung zu- lung (z. B. eines Kusses oder einer sich entkleidenden einander gesetzt werden und zusammen die ungefähre Frau) ist konstitutiv für diese Variante des single shot Länge eines Langspielfilms ergeben. Das gemeinsame oder des kurzen EINAKTERS. Häufig wird auch eine (zu- Merkmal kann in einer Rahmenhandlung bestehen oder meist männliche) Beobachterfigur integriert. im selben Autor verschiedener Kurzgeschichten oder aber Vgl. dagegen den PORNOGRAFISCHEN FILM. uvk in einem bestimmten prop, einer Requisite, die als Verbindungsglied genutzt wird etc. Dabei können die Beispiele: einzelnen Episoden von ein und demselben oder von A KISS IN THE TUNNEL (George Albert Smith, GB 1899) UNTERBROCHENES IDYLL (Prod.: Pathé, F 1905) verschiedenen RegisseurInnen stammen (so genannte LEBENDER MARMOR (anonym, A 1906–1911) Glossar 25

Erster Weltkrieg. Darstellung von Ereignissen und Exilfilm. Eine Kategorie, die sich nicht über inhaltliche Handlungen im fiktionalen und nicht-fiktionalen Film, die oder formale, sondern über produktionsspezifische Krite- in mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang mit rien definiert: Im weiteren Sinn die Werke von Filmschaf- dem Ersten Weltkrieg 1914–1918 (Maschinisierung krie- fenden, die wegen eines totalitären Regimes und seiner gerischer Auseinandersetzung, Stellungskrieg etc.) ste- ZENSUR außerhalb ihrer Ursprungsländer arbeiten müs- hen. Das Motiv respektive diese Periode wird im KRIEGS- sen. Im engeren Sinn ist das deutsche Filmexil gemeint, FILM (Dominanz der Kampfhandlungen als Schauwerte, d. h. der Exodus eines Drittels der deutschen (und öster- Soldatenideale), im ANTIKRIEGSFILM (Desillusionierung reichischen) Filmindustrie während des NATIONAL- des Ideals heldenhaften Verhaltens und Entlarvung des SOZIALISMUS. Rund 2000 Regisseure, Produzenten, KRIEGS als Massen-TOD), in der PROPAGANDA (u. a. Autoren, Kameraleute, Ausstatter, Kostümbildner, Schau- zum Kriegseintritt der USA 1917), im zeitgenössischen spieler und Techniker mussten ins Ausland emigrieren, DOKUMENTARFILM sowie in den WOCHENSCHAUEN wo sie oft ohne behördliche Erlaubnis arbeiteten und bearbeitet. uvk nicht im Vorspann genannt wurden. Als Exilfilme gelten jene, die von einem emigrierten deutschen Produzenten, Beispiele: THE BATTLE OF THE SOMME (anonym, GB 1916) Regisseur und/oder Drehbuchautor gestaltet wurden ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (L. Milestone, USA 1930) (Emigranten konnten nicht selten alle drei Positionen PATHS OF GLORY (Stanley Kubrick, USA 1957) besetzen). Die Filme wurden in der Sprache des Exil- landes gedreht und richteten sich, anders als Exilliteratur und -publizistik, nicht speziell an deutschsprachige Emig- Essayfilm. Als Autorenfilm par excellence ist diese rantInnen, sondern and das Publikum im Exilland. Außer- filmische Gattung nicht verpflichtet, zwischen den Ele- dem wurden meist einheimische SchauspielerInnen menten des DOKUMENTAR- oder Spielfilms, des LEHR- besetzt. Auf inhaltlicher Ebene schlägt sich oft die Erfah- FILMS oder INTERVIEWS zu unterscheiden, da er alle in rung der EMIGRATION und der damit verbundenen sich enthalten kann – selbst unter Einbezug weiterer MINORITÄTSPROBLEME nieder: in einem sensibleren Ge- Künste wie MUSIK, TANZ und FOTOGRAFIE. Der spür für Themen, die mit Angst und FLUCHT, mit POLITI- Essayfilm ist ein Versuch (essay), ein Thema zu SCHEM KLIMA oder VERFOLGUNG zu tun haben – aber erschließen. Er verzichtet auf kausal begründete Hand- auch in einer Perspektive auf die Gastländer, die mehr lungen, durchgehende Figurenzeichnungen oder argu- oder weniger dankbar oder skeptisch ist. Nach Kriegs- mentative Stringenz. Dagegen ist er bewusst frag- ende kehrte nur ein Bruchteil der EmigrantInnen nach mentarisch, erzeugt Verunsicherung und bindet das Deutschland zurück, je nach politischer Auffassung in die Publikum in die Deutungsarbeit mit ein. Seine Offenheit DDR oder in die BRD. phb erlaubt es, ein Thema aus vielen Perspektiven zu reflek- Beispiele: tieren und zu disparaten – inhaltlichen und formalen – YOSHIWARA (Max Ophüls, F 1937) Elementen zu greifen. Typischerweise stellt er einen DIE MISSBRAUCHTEN LIEBESBRIEFE (L. Lindtberg, CH 1940) überpersönlichen, räumlich und zeitlich unbegrenzten Zu- HANGMEN ALSO DIE (Fritz Lang, 1943) sammenhang dar. Er arbeitet mit Polarisierungen und Analogien, ist oft nach dem Prinzip der Reihung struk- turiert oder folgt Assoziationen und Kontrasten. Existenzialismus. Von der insbesondere in Frankreich Vgl. die Variante des POLITISCHEN ESSAYFILMS. phb und Deutschland zwischen den 1930er und 1950er Jahren beherrschenden philosophischen Richtung beein- Beispiele: CÉSARÉE (Marguerite Duras, F 1979) flusste Filme, für die die Annahme der Unbegreiflichkeit SANS SOLEIL (Chris Marker, F 1982) der realen Welt durch den Menschen konstitutiv ist. Der SCHWULER MUT … (Rosa von Praunheim, D 1997) Existenzialismus repräsentiert sich direkt in den DRAMEN- und LITERATURVERFILMUNGEN ihrer französi- schen Hauptvertreter Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Ethnografischer Film. Als ethnografische Filme (mit Deren Protagonisten erscheinen innerlich zerrissen, sind Nähe zur visuellen Anthropologie als dokumentarischer mit einer Welt der Disharmonie und Fragwürigkeit Methode, zum LEHRFILM und zum CINÉMA VÉRITÉ) wer- konfrontiert, die ihnen den Weg zu ihren «wahren» den nicht-fiktionale Filme bezeichnet, welche die Lebens- Seinsmöglichkeiten verwehrt. Sie sind häufig einsame, in praktiken, d. h. sozialen Beziehungen, Riten, Gebräuche unaufhellbare Situationen gestellte Charaktere, die nicht und MYTHEN, religiösen Zeremonien, Künste, Techniken in allgemeingültigen, von ihrer sozialen Umwelt vertrete- der Verarbeitung natürlicher Ressourcen, Landwirtschaft nen Erkenntnissen und Lebensansichten Ruhe zu finden. etc. mit wissenschaftlichem Anspruch aufzeichnen und Das auf sich selbst gestellte Subjekt ist gezwungen, sich darstellen. Je nach Position des Autors wird der KULTUR- in jedem Augenblick zu entscheiden. Es weiß sich absolut KONTRAST zu den westlichen technischen Zivilisationen verantwortlich für sein Tun und seinen Charakter, obwohl betont. Eine Nähe zum HUMANITÄREN DOKUMENTAR- es diesen nicht selbst gemacht hat und nicht gefragt FILM besteht dann, wenn das Anliegen bedrohter wurde, ob es in der Welt sein will. Zuspitzungen auf sol- Ethnien (indigener Völker) auf Erhaltung ihrer Lebens- chermaßen «existenzielle» Entscheidungssituationen fin- grundlagen und ihre Schutzwürdigkeit betont werden. den sich häufig in FAMILIENDRAMEN und im GANGS- uvk TERFILM. uvk Beispiele: Beispiele: U PODNSCHIJA SMERTI (Wladimir Schaiderow, SU 1928) LO STRANIERO (Luchino Visconti, I/F 1967) CANNIBAL-TOURS (Dennis O'Rourke, AUS 1987) SUR (Fernando E. Solanas, Argentinien 1988) JOHANNA D'ARC OF MONGOLIA (Ulrike Ottinger, BRD/F 1989) KARHOZAT (Béla Tarr, H 1988) HAPPY TOGETHER (Wong Kar-Wai, HK 1997) 26 Glossar

Exorzismus s. TEUFELSAUSTREIBUNG KING SOLOMON'S MINES (C. Bennett, A. Morton, USA 1950) RAIDERS OF THE LOST ARK (Steven Spielberg, USA 1981)

Exotisches Melodrama. Variation des MELODRAMAS, die im DSCHUNGEL, am Amazonas, in der WÜSTE oder Experimentalfilm. Neben Spiel- und Dokumentarfilm anderen exotischen Schauplätzen spielt und dieses Am- eine der großen Filmgattungen. Der Begriff «Experimen- biente als Symbol für die entfesselten Gefühle nutzt. talfilm» ist jedoch irreführend, weil er an Vorläufiges Auch die oft nur mäßig realitätsnahe Inszenierung der oder an naturwissenschaftliche Versuche ohne jeden fremden Kultur dient den Zwecken des melodra- künstlerischen Anspruch denken lässt. Das «experi- matischen, d. h. emotionalen Konflikts und seiner farbi- mentelle» dieser Filme liegt darin, dass sie nicht auf eine gen Orchestrierung. konventionalisierte Filmsprache zurückgreifen (wie der Das exotische Melodrama ist dann gleichzeitig ein EX- Spielfilm), und dass die Gestaltung nicht im Dienst des ZESSIVES MELODRAMA, wenn die Inszenierung emotio- Realitätsbezugs steht (wie beim Dokumentarfilm). Der naler Wechselbäder und Umschwünge in einer maxima- Experimentalfilm muss seine eigene Form finden, die da- len Orchestrierung formaler Parameter daher kommt. phb rüber hinaus entscheidenden Anteil an seinem Inhalt hat. Wiederkehrende Elemente sind assoziative Fügungen, Beispiele: SELBSTREFLEXIONEN, rhythmisch-musikalische Abstrak- THE GARDEN OF ALLAH (Richard Boleslawski, USA 1936) tionen, Verfremdungen durch Bildmanipulation, Darstel- THE NUN'S STORY (Fred Zinnemann, USA 1959) A PASSAGE TO INDIA (David Lean, GB 1984) lungen von Bewusstseinsprozessen, LANDSCHAFTS- Studien etc. Experimentalfilme entstehen in der Regel außerhalb von und oft in bewusster Opposition zu in- Exotismus. Motivkomplex, der häufig in Verbindung mit dustriellen Produktionszusammenhängen. einer REISE der Protagonisten in einen außereuro- Zu Varianten und Stilrichtungen vgl. ABSTRAKTER FILM, päischen Kulturraum eingeführt wird oder als ethnisch AUTOBIOGRAFIE, AVANTGARDE DER 1920ER, COLLA- fremdes Elemente in der eigenen (westlichen) Kultur GE, EXPERIMENTELLER SPIEL- oder DOKUMENTARFILM, handlungsrelevant wird. Charakteristika exotischer FENSTERFILM, FOUND FOOTGE, MATERIALFILM, MEDI- menschlicher Verhaltensweisen, ARCHITEKTUR, Klei- TATION, MINIMALISMUS, NEW AMERICAN CINEMA, dung, Gegenstände, religiöser Riten etc. werden mit STRUKTURELLER FILM, UNDERGROUND-FILM. phb deutlicher Betonung des KULTURKONTRASTES zwischen Beispiele: Herkunfts- und fremdem Raum als Faszinosum darge- L'ÂGE D'OR (Luis Buñuel, F 1930) stellt. Dabei kann das Exotische als das moralisch Besse- MESHES OF THE AFTERNOON (Maya Deren, USA 1943) re, Unschuldige, dem zuzugehören man sich sehnt, oder DIE BASIS DES MAKE-UP (Heinz Emigholz, BRD 1984) als das Primitive und (sexuell) Bedrohliche, das es zu überwinden gilt, erscheinen. Vgl. DSCHUNGEL, EXOTISCHES MELODRAMA, KOLONI- Experimenteller Dokumentarfilm. Spielart des DO- ALISMUS, WÜSTE. uvk KUMENTARFILMS, die zwar in gattungstypischer Weise Informationen über die Wirklichkeit vermittelt und zur Beispiele: Bewusstseinsveränderung anregen will, dies jedoch mit DIE SKLAVENKÖNIGIN (Mihály Kertész, A 1924) Fomen des EXPERIMENTALFILMS versucht. Wesensmerk- TABU (Friedrich Wilhelm Murnau, USA 1929–1931) THE MUMMY (Stephen Sommers, USA 1999) male sind hohe Formalisierung oder ästhetische Ab- straktion, Einbezug lyrisch-subjektiver Partien oder aber fiktionaler Erzählmuster, Ambivalenz der Bilder, SELBST- Expedition und Schatzsuche. Motiv im Spielfilm, vor REFLEXION etc. phb allem in den Genres ABENTEUER- und PIRATENFILM, Beispiele: aber auch in der ABENTEUERROMANZE sowie in gele- TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM (Dsiga Wertow, SU 1929) gentlichen Abstechern in den Bereich der FANTASY. Im ABOUT ME: A MUSICAL (Robert Frank, USA 1941) Zentrum der Geschichten steht – ähnlich wie beim struk- ICH DENKE OFT AN HAWAII (Elfi Mikesch, BRD 1978) turell verwandten COUP – die Durchführung einer Ex- pedition, so dass die Dramaturgie ganz auf das Gelingen oder Scheitern dieses meist gefahrvollen Unternehmens Experimenteller Spielfilm. Eine Variante des EXPERI- ausgerichtet ist. Zum bevorzugten Figureninventar ge- MENTALFILMS, der zwar fiktionale Strukturen aufweist, hören zimperliche Städterinnen, die ungewollt an die dessen Schwergewicht jedoch nicht (nur) auf der erzähl- Seite rauhbeiniger und unerschrockener Abenteurer gera- ten Handlung, sondern (mindestens ebenso) auf der ten, mit denen sie nach anfänglichen Schwierigkeiten in formalen Originalität liegt. Oft wird mit lyrischen, eine LIEBESGESCHICHTE geraten; ausgesprochene Fies- dokumentarischen, verfremdenden, gattungsübergreifen- linge übernehmen außerdem den Part der üblen Wider- den und anderen, dem Erzählkino fremden, Strukturen sacher. Oft dient das Motiv auch zur facettenreichen gearbeitet. APSYCHOLOGISCHE ERZÄHLWEISE und Darstellung einer SCHICKSALSGEMEINSCHAFT. Zu den ABWEICHENDE ERZÄHLMUSTER sind daher häufig, typischen Schauplätzen gehören exotische Gegenden al- außerdem kann man zahlreiche Passagen als SELBST- ler Art – von Südseeinseln über WÜSTEN bis hin zu REFLEXION lesen. phb DSCHUNGEL und ewigem Eis –, die keineswegs immer Beispiele: on location aufgenommen werden, aber stets die Gele- JONAS (Ottomar Domnick, BRD 1957) genheit zu farbenprächtigen Inszenierungen bieten. phb L'ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (Alain Resnais, F/I 1960) JEANNE DIELMAN ... (Chantal Akerman, B/F 1975) Beispiele: WITTGENSTEIN (Derek Jarman, GB 1993) THE GOLD RUSH (Charles Chaplin, USA 1925) Glossar 27

Exploitation. Weniger ein Genre als vielmehr eine lose sequenzen oder gar Widersprüche auf, die aber auf der Gruppe von Filmen, deren gemeinsamer Nenner in einer Ebene des emotionalen Haushalts der Figuren durchaus reißerischen Grundidee besteht, die in einem Höchstmaß gerechtfertigt sein können. an visuellen Schauwerten umgesetzt wird. Dabei trägt Vgl. demgegenüber das EXOTISCHE MELODRAMA, das der wertend gemeinte Begriff (engl. exploitation = Aus- sich nicht über formale Parameter definiert, sondern über beutung) dem Umstand Rechnung, dass die (nicht immer, die Exotik des Schauplatzes. phb aber oft) AUTHENTISCHEN FÄLLE in der filmischen Ins- Beispiele: zenierung spekulativ ausgeschlachtet werden. Typischer- ORPHANS OF THE STORM (D. W. Griffith, USA 1921) weise stehen Themenbereiche im Zentrum, die auf Unter- DOCTOR ZHIVAGO (David Lean, USA 1965) drückungs- und Zwangssituationen basieren (vgl. PROS- HÉCATE (Daniel Schmid, F/CH 1982) TITUTION, LAGER, GEFÄNGNIS, PSYCHIATRIE). Aller- dings geht es kaum um nüchtern-seriöse MILIEUSTUDIEN mit Anspruch auf GESELLSCHAFTSKRITIK. Viel öfter die- nen die Themen als Vorwand zur Darstellung von (mehr oder weniger erotisch gemeinten) Schlüpfrigkeiten oder F aber von exzessiven Repräsentationen von SEXUALITÄT, SEXUALDELIKTEN oder anderweitiger GEWALT. Oft erge- Familiendrama. Oft eine Variante des MELDORAMAS, ben sich unzusammenhängende Filmreihen, die nach- deren zentrales Motiv der emotional aufgeladene Konflikt träglich als eine Art Subgenre behandelt werden (Non- unter den Mitgliedern einer Familie ist. Im Vordergrund nenfilme, Frauenlagerfilme u. ä.). Andere dagegen, wie stehen schmerzhafte GENERATIONENBEZIEHUNGEN der SPLATTER oder das blaxploitation cinema im Bereich (und nicht, wie im Melodrama sonst üblich, von Verzicht des BLACK CINEMA, sind von Anfang an enger und be- und Entsagung gekennzeichnete Liebesbeziehungen). Zu wusster miteinander verflochten. phb den wiederkehrenden Motiven gehören ADOLESZENZ, SUCHT UND DROGEN, immer wieder der INZEST und in Beispiele: selteneren Fällen der BEZIEHUNGS- UND FAMILIEN- BAD GIRLS GO TO HELL (Doris Wishman, USA 1965) MORD. Allerdings müssen die Geschichten nicht zwangs- CRUISING (William Friedkin, USA 1980) SCHLOCK! … (Ray Greene, USA 2001) läufig tragisch enden; je nach Tonfall schließt der Film mit einem mehr oder weniger verhaltenen Happy-End. Familiendramen sind oft GRUPPENPORTRÄTS und bedie- Expressionismus. Stilrichtung in Deutschland, die – nen sich der Möglichkeit, (emotionale) Sachverhalte aus parallel zum Expressionismus in Literatur, Theater und der Perspektive der verschiedenen Familienmitglieder zu bildender Kunst – das Filmschaffen der späten 1910er beleuchten. sowie der 1920er Jahre prägte. Expressionistische Filme Vgl. dagegen die FAMILIENSAGA, die breiter und lang- arbeiten insbesondere mit Ausstattung und LICHT: bizarr atmiger angelegt ist und die Geschichte eines Clans über gestaltete Kulissen mit verzerrten Perspektiven, stark ge- mehrere Generationen hinweg erzählt, während das Fa- schminkte DarstellerInnen mit Schlagschatten, miliendrama eher als Momentaufnahme konzipiert ist. Chiaroscuro-Effekte (massive Hell-dunkel-Kontraste) so- Vgl. außerdem das FAMILIENKINO, das sich allein über wie punktuelle Beleuchtung. Mit der bewusst künstlichen die Zielgruppe Familie definiert. phb Gestaltung gehen Inhalte einher, die Übernatürliches, Beispiele: Triebhaft-Psychopathisches oder Geisterhaftes betonen, CAT ON A HOT TIN ROOF (Richard Brooks, USA 1958) ohne jedoch psychologische Erklärungen anzustreben. Zu VAGHE STELLE DELL'ORSA (Luchino Visconti, I 1964) den Ausformungen des expressionistischen Films zählen RANG-E KHODA (Majid Majidi, IR 2000) das KAMMERSPIEL und der STRASSENFILM. Als Stilrichtung verklingt der Expressionismus mit dem Aufkommen des Tonfilms und der Emigration deutscher Familienkino. Für den gemeinsamen Kinobesuch einer Filmschaffender in die USA (vgl. EXILFILM). Expres- Großfamilie tauglicher Film, dessen Protagonisten typi- sionistische Elemente finden sich jedoch in vielen späte- scherweise alle (zumeist aber drei) Generationen über- ren Filmen, insbesondere in der LICHT-Setzung des ame- spannen und dessen in der Regel harmlose Konflikte so rikanischen FILM NOIR der 1940er Jahre. phb gewählt sind, dass auch Kinder der Handlung folgen können (ohne vielleicht alles zu verstehen), während Beispiele: Erwachsene sich allenfalls milde langweilen. Viele DAS CABINET DES DR. CALIGARI (Robert Wiene, D 1919) ZEICHENTRICKFILME (v. a. Walt Disneys Klassiker) und DER GOLEM, WIE ER … (Paul Wegener, Carl Boese, D 1920) FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE (F. W. Murnau, D 1926) HEIMATFILME der 1950er Jahre adressieren ein generationenübergreifendes Publikum und thematisieren innerfamiliäre Konflikte ohne gesteigerte dramatische Exzessives Melodrama. Als melodrama of excess wird Verwerfungen (wie sonst beim FAMILIENDRAMA üblich). im Amerikanischen eine Variation des MELODRAMAS be- Häufig stehen auch KINDLICHE PROTAGONISTEN im Mit- schrieben, in der das Wechselbad der Gefühle und die telpunkt der Handlung. Umschwünge von Beziehungen mit einer maximalen Vgl. HOME MOVIE. uvk Orchestrierung der formalen Parameter einhergehen: mu- Beispiele: sikalische Untermalung, üppige Farbdramaturgie, emo- IT'S A WONDERFUL LIFE (Frank Capra, USA 1946) tional aufgeladene Schauplätze und Wetterlagen, Wech- OBERSTADTGASS (Kurt Früh, CH 1956) sel zwischen statischen und dynamischen Szenen etc. CHENG NAN JIU SHI (Yigong Wu, VRC 1982) Nicht selten fallen exzessive Melodramen auf der Ebene YAABA (Idrissa Quedraogo, Burkina Faso/F/CH 1989) der Handlung durch Interessensverschiebungen, Inkon- 28 Glossar

Familiensaga. Genre des fiktionalen Films. In episch einlagen, der Einsatz von Filtern und farbigem LICHT, low breiten, meist langatmigen (gelegentlich mehrteiligen) color, Computerkolorierung usw. uvk Filmen wird die Geschichte einer Familie über mehrere Beispiele: Generationen hinweg erzählt. Zu den wiederkehrenden DANSEURS ESPAGNOLS (anonym, F 1898) Motiven gehören die GENERATIONENBEZIEHUNGEN, die JUDITH OF BETHULIA (David Wark Griffith, USA 1913) oft spannungsreich sind und in KONKURRENZKÄMPFE DIE GOLDENE STADT (Veit Harlan, D 1942) zwischen einzelnen Familienmitgliedern oder ganzer Fa- IL DESERTO ROSSO (Michelangelo Antonioni, I/F 1964) milienzweige ausarten können. Außerdem steht das JUDOU (Zhang Yimou, VRC 1991) wirtschaftliche Schicksal eines Clans oft im Vordergrund. Der Reiz solcher GRUPPENPORTRÄTS liegt in der Mög- lichkeit, zahlreiche Figuren unterschiedlich zu gestalten Faschismus. Begriff für Filme, die nicht aus dem Geist und sie auf engem Raum aufeinander treffen zu lassen. des Faschismus entstanden sind, sondern ihn zum Ge- Dieses Erzählmuster wirkt organisch und natürlich, weil genstand (Machtapparat, Alltag, POLITISCHES KLIMA alle Figuren in das übergreifende System der Familie ein- etc.) haben. Das Thema kann Hintergrund einer Spiel- gebettet sind. Viele Familiensagen sind LITERATURVER- handlung und Motivation einzelner Figuren sein, Bezugs- FILMUNGEN, aber längst nicht jede ist gleichzeitig ein punkt der zeitgenössischen Gegen-PROPAGANDA oder FAMILIENDRAMA. auch Gegenstand dokumentarischer Reflexion (insbe- Die Familiensaga ist nicht zu verwechseln mit dem FAMI- sondere mit Hilfe von KOMPILATIONEN zur ZEITGE- LIENKINO, das sich nicht über seinen Inhalt, sondern SCHICHTE) und Analyse, die oft mit einer Argumentation allein über sein Zielpublikum definiert – Familiensagen gegen den Faschismus bzw. NATIONALSOZIALISMUS sind in den seltensten Fällen als FAMILIENKINO auf- verbunden ist. Zu unterscheiden ist der Komplex von FA- bereitet. phb SCHISTISCHEN FILMEN, d. h. von Filmen aus der Zeit des Faschismus in Europa (Italien, Spanien, Ungarn, Kroatien Beispiele: LA CADUTA DEGLI DEI (Luchino Visconti, I/BRD 1969) etc.). Ein Film wie Riefenstahls Triumph des Willens the- HEIMAT (Edgar Reitz, BRD 1984) matisiert demnach den Faschismus nicht, auch wenn sich ANTONIA (Marleen Gorris, NL 1995) an ihm der Faschismus gut analysieren lässt. Zum faschistischen System in Deutschland vgl. NATIO- NALSOZIALISMUS. uvk Fantasy. Der anglo-amerikanischen Tradition folgende, Beispiele: dem ABENTEUERFILM und MÄRCHEN verwandte Erzähl- ROMA, CITTÀ APERTA (Roberto Rossellini, I 1945) struktur, innerhalb derer gegen Grundannahmen des Re- OBYKNOWENNY FASCHISM (Michael Romm, SU 1965) alitätsbegriffs der westlichen Kultur verstoßen wird (v. a. LACOMBE LUCIEN (Louis Malle, F 1974) in Bezug auf Raumkonsistenz und Zeitunumkehrbarkeit), UNDERGÄNGENS ARKITEKTUR (Peter Cohen, S 1989) ohne dass in der Regel Erklärungsmuster für diese Ver- stöße herangezogen werden. Innerhalb der dargestellten Welt werden sie vielmehr von den ProtagonistInnen hin- Faschistischer Film. Filme aus der faschistischen Zeit genommen. Die Stoffe kreisen um außer- oder über- Deutschlands, Spaniens und Italiens, in denen die ent- irdische Vorgänge und Figuren: beliebt sind Gestal- sprechende Ideologie und klare politisch-gesellschaftliche twandel, Mensch-Tier-Verwandlungen etc. Das geschürte Wertevermittlung vorherrschen. Merkmale sind insbeson- Affektpotenzial ist weniger angstzentriert als beim HOR- dere gesteigerter Ordungssinn, die Inszenierung von RORFILM, da es mehr um das Imaginative, Bizarre oder Menschen als Ornament, die Aufhebung des Einzelnen in auch um Action und das Ausstellen von SPECIAL EF- der Volksgemeinschaft oder sein Verschwinden in der FECTS geht, weniger um Schrecken oder Blutrünstigkeit. formierten Masse, die Exponierung von Männerbünden, Im Gegensatz zur SCIENCE FICTION, die auf wissen- die Naturhaftigkeit des Gesellschaftlichen. Ferner verbin- schaftliche Erklärungsmuster für die nicht dem zeitge- det sich damit die Mythisierung geschichtlicher Ereignis- nössischen Realitätsbegriff entsprechenden Ereignisse zu- se, Irrationalisierung von Autorität und Macht, Polarisie- rückgreift, zieht die mit der Fantasy verwandte euro- rung der Geschlechtscharaktere, Blut- und PROPAGAN- päische PHANTASTIK gern okkultes Wissen heran. uvk DA, Brutalität und RASSISMUS sowie Heroisierung von Führerpersönlichkeiten mit spezifischen Opfer- und Ver- Beispiele: zichtsmodellen. In Italien verkörpert sich die faschistische THE WIZARD OF OZ (Victor Fleming, USA 1939) THE LORD OF THE RINGS (Ralph Bakshi, USA 1977) Ära in den Stilrichtungen des CALLIGRAFISMO und den STAR WARS (George Lucas, USA 1977) ästhetischen Codes der TELEFONI BIANCHI. uvk THE COMPANY OF WOLVES (Neil Jordan, GB 1984) Beispiele: HITLERJUNGE QUEX (Hans Steinhoff, D 1933) SCIPIONE L'AFRICANO (Carmine Gallone, I 1937) Farbe. Nur die wenigsten Farbfilme arbeiten kreativ mit TRIUMPH DES WILLENS (Leni Riefenstahl, D 1935) der Farbe, meist ist sie nur beiläufig, im Sinne realisti- scher Farbgebung vorhanden. Unter der Kategorie Farbe werden einerseits intensive und originelle Farbkom- Féerie. Beliebtes narratives Genre in der (vor allem fran- positionen, dezidierte Farbdramaturgie, eigens für den zösischen) FRÜHEN KINEMATOGRAPHIE bis zu Beginn Film entworfene Paletten, experimentelle Farbbehand- der 1910er Jahre. Vornehmlich werden MÄRCHEN und lung oder spezifische Mischungen von Schwarzweiß und Geschichten aus dem Bereich der PHANTASTIK adaptiert, Farbe gesammelt. Andererseits sind technische Beson- bei denen jedoch weniger die Handlung, sondern mehr derheiten gemeint wie Handkolorierung, interessante Vi- die Ausstattung und vor allem die atemberaubenden ragierungen und Tonungen, 2-Color-Technicolor, Farb- TRICKS und FARBEN im Vordergrund stehen: Die Filme Glossar 29 sind oft besonders schön im Schablonenverfahren kolo- Femme fragile s. FEMME FATALE riert. Insgesamt gilt das Genre als typisch für das zeitge- nössische «Kino der Attraktionen». Als Meister der Féerie gilt Georges Méliès. uvk Fensterfilm. Richtung des EXPERIMENTALFILMS. Der Film, oft als STRUKTURELLER FILM angelegt, wird aus- Beispiele: schließlich oder über weite Strecken aus einem Fenster VOYAGE À TRAVERS L'IMPOSSIBLE (George Méliès, F 1904) LA PEINE DU TALION (Gaston Velle, F 1906) gefilmt. Dabei liegt der Reiz in den ästhetischen und ALADIN OU LA LAMPE … (Prod.: Pathé Frères, F 1906) inhaltlichen Möglichkeiten, die sich durch die Limitatio- nen der Drehsituation ergeben: Die Kamera verharrt (fast) bewegungslos, und durch die Rahmung des Fensters ent- Feminismus. Politische und geistige Haltung und als steht sozusagen auf natürliche Art eine zweite Kadrie- solche ein filmisches Motiv oder aber die Auslöserin für rung im filmischen Bild. Der Blick aus dem Fenster kann die Enstehung von Filmen. Im Zentrum steht – Unterschiedliches erfassen – die Spannbreite reicht vom unabhängig von den politischen Systemen – die Forde- Kornfeld über LANDSCHAFTEN anderer Art bis hin zum rung nach Gleichberechtigung und Emanzipation der geschäftigen Boulevard einer CITY, der im Sinn einer Frau in allen Gesellschaften, die sich spätestens in der QUARTIERSTUDIE ins Bild geholt wird. Unterschiedliche FRANZÖSISCHEN REVOLUTION (olympe de gouches) öf- Witterungen, aber auch verschiedene technische Be- fentlich artikuliert. Grundlage feministischen Denkens ist dingungen wie FARBE, Masken, Zeitlupe, Tiefenschärfe, die Überzeugung von der Gleichwertigkeit der Geschlech- LICHT etc. sind weitere Gestaltungsmittel. Typischerweise ter und die Diagnose vielfältiger Beschränkungen kommt der Spielfilm – wenn überhaupt – nur punktuell weiblicher Existenz durch männlich geprägte Institu- als Fensterfilm daher, sei es in Gestalt einzelner Se- tionen und Formen direkter (körperlicher) und indirekter quenzen oder als Teile eines EPISODENFILMS. phb GEWALT. Charakteristisch ist die Rekonstuktion und Beispiele: Analyse von Unterdrückung und (sexueller) Ausbeutung REAL ITALIAN PIZZA (David Rimmer, USA 1971) von Frauen in den verschiedenen Gesellschaften und WINDOWS (Peter Greenaway, GB 1975) Epochen, wie das Streben nach Überwindung beste- KOPFSTÜCK 1:3:1 (Dietmar Brehm, A 1986) hender Ausbeutungsverhältnisse und realer Benach- teiligung von Frauen auf den Feldern Bildung/Beruf, Politik/Recht, Ökonomie und SEXUALITÄT. Der Femi- Fernsehen. Sammelkategorie für Beispiele typischer nismus westlicher Prägung strebt die Lockerung resp. Fernsehsendungen und Formate wie Tagesschau, Wort Aufhebung der patriarchalen, geschlechterpolaren Aufga- zum Sonntag, SPORT-Berichterstattung, Quiz, Show etc. benteilung in Ehe und Familie (strikte Trennung von Aber auch das Fernsehen als Thema ist gemeint und da- Erwerbs- und unbezahlter Hausarbeit, Privatsphäre und mit ein Aspekt von meist kritisch beleuchteten MAS- öffentlicher Sphäre etc.) zugunsten partnerschaftlicher SENMEDIEN und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft. Beziehungen (mit gemeinsamer Verantwortung bei der Insofern wird hier die INSTITUTION Fernsehen zum Ge- Erziehung der Kinder) sowie allgemein eine verstärkte genstand der Reflexion oder zum Schauplatz von Kon- Repräsentation von Frauen in öffentlichen Ämtern (Par- flikten gemacht. uvk lament, Regierung), Kultur, REGLIGION und Wirtschaft Beispiele: an. uvk VIDEOGRAMME EINER … (H. Frarocki, A. Ujica, BRD 1992) Beispiele: RAUMPATROUILLE ORION (H. Braun, Th. Mezger, BRD 1967) LA SOURIANTE MADAME BEUDET (Germaine Dulac, F 1923) GHOST WATCH (Lesley Manning, GB 1992) NANIWA ELEGI (Kenji Mizogushi, J 1936) DANCE, GIRL, DANCE (Dorothy Arzner, USA 1940) IL VALORE DELLA DONNA … (Gertrud Pinkus, BRD/CH 1980) Fetischismus s. PERVERSION; PSYCHOTHERAPIE UND PSYCHOANALYSE

Femme Fatale. Mythische Überhöhung einer Frauen- gestalt, die verführt und zerstört. Als eigentlich unnah- Figurenmosaik. Erzählmuster, bei dem keine Einzelfi- bare und kalte Figur verfügt sie über eine ihre männli- gur im Zentrum steht, sondern ein komplexes Gefüge vie- chen Partner «kastrierende» SEXUALITÄT und verleitet ler verschiedenartiger Figuren, die sich nur zum Teil ken- sie dazu, sich selbst zu schaden, sei es durch tödliche nen und begegnen. Der Reiz des Musters besteht darin, KONKURRENZKÄMPFE in der Konstellation des die Geschicke der Charaktere parallel zu erzählen, sie in erotischen DREIECKS oder der AMOUR FOU, sei es durch INTRIGENSPIELE miteinander zu verschränken, auf ge- Aufgaben, deren Bewältigung zum Scheitern verurteilt meinsame Nenner zu bringen etc. Figurenmosaike sind ist. Die Femme Fatale ist als Männerphantasie des späten häufig anzutreffen im HOTEL- und KRIEGSFILM, aber 19. Jh. und als Gegenkonzept zur a-vitalen Femme Fra- auch das GEFÄNGNIS sowie INSTITUTIONEN überhaupt gile typischerweise undurchdringlich, d. h. sie bleibt in sind privilegierte Orte zufälligen Aufeinandertreffens. Fer- ihren psychischen Reaktionen hermetisch. Häufig als Soli- ner bildet das Mosaik eine Variante der SCHICKSALS- tärfigur konzipiert, ist sie egoistisch, grausam, pro- GEMEINSCHAFT, bei denen der Zusammenhang zwi- miskuitiv und von betörender Schönheit. Ihre moderni- schen den Figuren durch örtliche Zwangsgemeinschaft sierte Variante ist das bad girl im FILM NOIR. uvk oder einen gemeinsamen Auftrag gestiftet wird. uvk Beispiele: Beispiele: DIE BÜCHSE DER PANDORA (Georg Wilhelm Pabst, D 1929) THE WOMEN (George Cukor, USA 1939) BLONDE VENUS (Josef von Sternberg, USA 1932) HA CHAYIM ALPY AGFA (Assi Dayan, IL 1992) DOUBLE INDEMNITY (Billy Wilder, USA 1944) SHORT CUTS (Robert Altman, USA 1993) 30 Glossar

Fiktionalisierender Dokumentarfilm. Im Gegensatz Film Noir. Amerikanische Filme von den 1940er bis in zum DOKUDRAMA und SEMIDOKUMENTARFILM (re)ins- die späten 1950er Jahre, die von einer grundsätzlich pes- zeniert das dokumentarische Subgenre nicht in Quellen simistischen Weltsicht geprägt sind, was nicht zuletzt als überlieferte reale Ereignisse oder kombiniert und verwebt Spiegel einer desillusionierten Nachkriegsgesellschaft ge- dokumentarisches mit fiktivem Material, sondern bedient lesen werden kann. Der Film Noir ist kein Genre, sondern sich einer (geschriebenen) Fiktion und sucht dazu reale eine Stilrichtung, die sich in verschiedenen Genres Bilder, wobei sowohl der fiktionale Text (in Form von Ta- manifestiert, allen voran dem MELODRAMA und dem feln oder VOCIE-OVER-Zitat), als auch die dokumentari- KRIMINALFILM, insbesondere dem GANGSTER- und schen Aufnahmen als solche in ihrer Spannung transpa- POLIZEIFILM. Im Zentrum stehen zynische Detektive, ob- rent bleiben. uvk sessive Polizisten oder paranoide Reporter, die ein Verbrechen aufklären sollen, dabei aber oft in eine ALP- Beispiele: MAX FRISCH JOURNAL I–III (R. Dindo, CH/BRD/A 1978–80) TRAUMHAFTE VERSTRICKUNG geraten. In dieser Situa- THE WRITTEN FACE (Daniel Schmid, CH 1995) tion existenzieller Unsicherheit definiert sich auch das MEIN LAND WIRD DEINES SEIN … (A. Skarmeta, BRD 1988) Verhältnis zwischen Mann und Frau: Die selbstbewusste FEMME FATALE setzt ihre EROTIK kühl berechnend ein und stürzt die verletzlichen Männer – am Ende aber auch Film d'Art. Zwischen 1908 und 1912 verstärkte Bemü- sich selbst – ins Unglück. Schauplatz ist die (in Außen- hung der französischen Filmproduktion, vorab der Com- und Nachtaufnahmen fotografierte) CITY und ihre Rand- pagnie des Films d'Art, ferner von Pathé und Gaumont, zonen: Fabrikgelände und Bars, schäbige Hotelzimmer das Kino durch DRAMENVERFILMUNGEN und Dreh- und regennasse Straßen. Die herausragende ästhetischen bücher bekannter literarischer Autoren sowie durch Konvention ist eine low key-Beleuchtung, in der Schwär- Besetzung der Rollen mit prominenten Theaterschau- ze, Dunkelheit und Schatten dominieren und Figuren und spielerInnen (Sarah Bernhardt u. a.) seriös zu machen. Gegenstände nur partiell beleuchtet sind. Die Erzähl- Die Richtung wurde später als cinéma impur und film- struktur ist oft labyrinthisch verschachtelt, durch eine ästhetisch wenig innovativ kritisiert. Sie steht im Zusam- RÜCKBLENDENSTRUKTUR gerahmt und als ICHERZÄH- menhang mit einer auch in Deutschland um 1912 erfol- LUNG konzipiert. Sowohl die Ästhetik als auch die Er- genden Nobilitierungsbemühung um den Film, die darauf zählstrukturen sind maßgeblich beeinflusst durch die aus zielt, durch neue, dem klassischen Literaturkanon zuge- Deutschland immigrierenden Filmschaffenden, die zuvor hörende oder historische Stoffe bislang filmferne, bür- im deutschen EXPRESSIONISMUS tätig waren, aber auch gerliche Publikumsschichten zu erreichen und v. a. in durch die so genannte hardboiled fiction, die amerikani- Deutschland der Kritik am Kino als Trivial- respektive sche Krimiliteratur der 1930er Jahre. «Schmutz und Schund»-Medium zu begegnen. uvk Vgl. den NEONOIR, der sich an stilistischen Merkmalen des Film Noir orientiert, außerdem den (semidokumen- Beispiele: tarischen) FILM GRIS sowie das französischen Gegen- L'ASSASSINAT DU DUC DE GUISE (André Calmette, F 1908) stück der SÉRIE NOIRE. phb KNIAZHNA TARAKANOVA (K. Hansen, A. Maître, RUS 1910) Beispiele: THE MALTESE FALCON (John Huston, USA 1941) Film de cape et d’épée s. MANTEL UND DEGEN MURDER, MY SWEET (Edward Dmytryk, USA 1944) DOUBLE INDEMNITY (Billy Wilder, USA 1944) TOUCH OF EVIL (Orson Welles, USA 1957) Film Gris. Stilistische Tendenz im amerikanischen Spiel- film der 1940er und 1950er Jahre. Typischerweise als B- PICTURE produziert, ist der Film Gris als KRIMINALFILM Filmhistorische Dokumentation. Sammelbegriff für angelegt, der viel Wert auf Authentizität und Faktizität ein dokumentarisches, v. a. als Auftragsproduktion des legt und aus der Sicht staatlicher INSTITUTIONEN wie FERNSEHENS entwickeltes Format, das alle möglichen Polizei, Strafvollzug, Spionageabwehr etc. berichtet. Dies Aspekte der Filmgeschichte personen- oder sachbezogen geschieht in der Regel auf moralisierend-didaktische Art thematisiert. Die Themen und Formen variieren vom be- und ist meist als SEMIDOKUMENTARFILM angelegt. Ent- liebten DOKUPORTRÄT von RegisseurInnen, deren Leben sprechend liegt der Akzent auf der Darstellung von und Œuvre beschrieben werden, über Personenporträts Methoden und Arbeitsprozessen von Behörden und von SchauspielerInnen und anderen Filmschaffenden, anderen BERUFSWELTEN. Firmengeschichten, ästhetische Richtungen und Stilen bis Vgl. den FILM NOIR, mit dem der Film Gris zwar stilisti- zum so genannten, mehr oder weniger werblichen sche und thematische Gemeinsamkeiten teilt; dennoch ist making of (vgl. PRODUKTIONSBERICHT), in dem über die der Film Gris entschärft und verblasst (daher gris), außer- Dreharbeiten zu einem einzelnen Film berichtet wird. dem verzichtet er auf die zynischen Zweischneidigkeiten Themen sind häufig auch die Beziehung zwischen Film und den beklemmenden Pessimismus, die faszinierend und Politik sowie Entwicklungslinien der FILMTECHNIK komplexen Charaktere und die labyrinthischen Erzähl- (vgl. FARBE, HANDKAMERA, LICHT, MUSIK, PLAN- muster des Film Noir. phb SEQUENZ, SPECIAL EFFECTS, TON, TRICK, VOICE-OVER). Meist werden Filmausschnitte kompiliert und mit Kom- Beispiele: mentar versehen und in INTERVIEWS Zeitzeugen, Weg- CALL NORTHSIDE 777 (Henry Hathaway, USA 1948) gefährten und Verwandte der Porträtierten befragt. uvk OUTRAGE (Ida Lupino, USA 1950) CRIME WAVE (André de Toth, USA 1954) Beispiele: DEUTSCHLAND ERWACHE … (Erwin Leiser, BRD 1968) RUDOLPH VALENTINOS … (A. Kluge, M. Hansen, BRD 1990) Film im Film s. SELBSTREFLEXION MARGUERITE, TELLE QU'EN ELLE-MÊME (D. Auvray, F 2002) Glossar 31

Filmtechnik. Dieses Schlagwort wird (samt einer in Formalismus. Begriff für eine Stilrichtung der bildenden Klammer gesetzten Spezifizierung) vergeben, wenn bei Kunst, des Theaters und des Films, die vom russischen einem Film auf der Ebene der Technik interessante Be- Formalismus der 1920er Jahre beeinflusst ist. Dazu wer- sonderheiten festzustellen sind oder es sich um eine den insbesondere Vertreter des RUSSISCHEN REVOLU- FILMHISTORISCHE DOKUMENTATION handelt, die tech- TIONSFILMS (Eisenstein, Pudowkin, Wertow u. a.) und nische Informationen zur Filmproduktion gibt. Vgl. die der französischen und deutschen AVANTGARDE DER Unterkategorien FARBE, HANDKAMERA, LICHT, MUSIK, 1920ER (Vigo, Ruttmann u. a.) gezählt, in deren Werken PLANSEQUENZ, TON, TRICK und VOICE-OVER. uvk durch spezifische Montageformen, v. a. die Parallel-, Kontrast- und Assoziationsmontage, Beziehungen und Beispiele: DIE ACHSE (Thomas Mauch, BRD 1984) Zusammenhänge zwischen Objekten und Personen her- THE LIGHT ON THEIR FACES … (Martine Jouanda, F 1996) gestellt werden, die im konventionellen realistischen Er- LICHT UND SCHATTEN … (Ralph Christians, D / IS 1991) zählkino nicht vorkommen. Der Film ist privilegiertes Erkenntnisinstrument der sichtbaren Welt, darüber hinaus ist das Filmbild Träger einer analytischen Welt- Final girl s. SPLATTER sicht mit deutlicher Betonung der Autorschaft und des kinematographisch Artifiziellen. Die Kombinatorik der Bilder führt zur Sinnebene des Unsichtbaren, zu einer Flash forward s. VORAUSBLENDE Rhetorik des Films, wobei Beziehungen metaphorischer oder metonymischer Art vom Zuschauer zu erschliessen sind. In der Sowjetunion wurde die formale Schule unter Flashback s. RÜCKBLENDENSTRUKTUR Stalin als unpolitisch und geschmäcklerisch verworfen und vom SOZIALISTISCHEN REALISMUS abgelöst. uvk Beispiele: Flop. Film, der auf kommerzieller Ebene beim Publikum GENERALNAJA LINJA (S. Eisenstein, G. Alexandrow, SU 1926) durchgefallen ist. Die Gründe für das Scheitern decken BERLIN – DIE SINFONIE DER … (Walter Ruttmann, D 1927) ein sehr breites Spektrum ab und reichen von der An- SEMLJA (Alexander Dowschenko, SU 1933) spruchs- und Phantasielosigkeit langweiliger REMAKES oder ANSCHLUSSPRODUKTE über inhaltliche Überforde- rungen des Publikums in Spätwerken bis hin zu veränder- Fortsetzungsfilm. Begriff für eine narrative Seg- ten politischen Produktionsbedingungen. Freilich ist ein mentierung, bei der im Gegensatz zum TV-Format der kommerzielles Scheitern nicht gleichbedeutend mit ästhe- SERIE die Handlung so strukturiert ist, dass unter Beibe- tischem Missglücken – auch wenn ästhetische Kriterien haltung der ProtagonistInnen die zeitliche Konsekution für den Misserfolg mitverantwortlich sein können. So ist (mit geringen Lücken, die Leerstellen bleiben) über eine es möglich, dass ein Flop später, unter Umständen erst Reihe abendfüllender Filme hinweg konsistent weiter- Jahrzehnte nach seiner Premiere, wieder- oder besser geführt wird. Die Figuren altern, leben fort mit einem neu entdeckt wird (und vielleicht sogar zum KULTFILM Bewusstsein und Gedächtnis, das um Erlebnisse und avanciert). In solchen Fällen spricht man von einem Ereignisse, die im vorvergangenen Film stattgehabt ha- sleeper, einem vom Schlaf Erwachten. phb ben, weiß. Die Haupthandlung jedes Films kommt sehr wohl zu einem Ende, die Nebenhandlungen allerdings Beispiele: MONPTI (Helmut Käutner, BRD 1957) sind in der Regel offen komponiert. Häufig findet sich das THE QUIET AMERICAN (Joseph L. Mankiewicz, USA 1958) epische Format in der FAMILIENSAGA. DUNE (David Lynch, USA 1984) Im Unterschied zum Fortsetzungsfilm ist das AN- SCHLUSSPRODUKT weniger zwingend. Hier sind die Be- züge lockerer Art, und hier reduziert sich der Anschluss – Flucht. Die Flucht ermöglicht als eines der beliebtesten und damit die gemeinsame Element zwischen zwei Motive der Filmgeschichte überhaupt eine nahezu unbe- Filmen – oft auf eine einzige Figur. uvk grenzte Vielfalt von dramatischen Situationen, so dass es Beispiele: die Struktur ganzer Filme zu fundieren vermag. Der THE GODFATHER I–III (Francis Ford Coppola, USA 1971–1991) ABENTEUERFILM mit seiner Bewegungsdynamik und sei- nen raschen Schauplatzwechseln bedient sich seiner be- sonders häufig. Vorbereitung von Fluchtversuchen, Schei- Fotografie. Begriff für Filme von oder über Fotografen, tern, Gelingen, erneute Verhaftung, erneute Flucht, Wett- Filme, die Fotografie als konstitutives Merkmal einbezie- lauf, knappes Entkommen, vermeintliche Sicherheit, hen, oder solche, die stilistisch einer fotografischen – Verrat, Überrumpelung, Hilfe, Versteck und Verkleidung, nicht kinematografischen – Tradition verpflichtet sind. Erkennen, Resignation, Zur-Strecke-Bringen, Sich-Aus- Häufig haben der DOKUMENTARFILM und der liefern, Siegen, Verlieren und viele andere (binäre) EXPERIMENTALFILM einen reflektierten Bezug zur Foto- Momente gehören zu den Stationen des Flucht- und VER- grafie als Technik der Bildaufnahme. uvk FOLGUNGS-Szenarios. Das Thema findet sich in vielen Genres und sorgt genreübergreifend für eine analoge Beispiele: Spannungskurve, innerhalb derer Erfolg und Misserfolg FILM AND FOTO LEAGUE … (anonym, USA 1931–1934) BLOW UP (Michelangelo Antonioni, GB 1967) klar messbar sind. uvk LES ANNÉES DECLIC (Raymond Depardon, F 1983) Beispiele: UN CONDAMNÉ À MORT S'EST ÉCHAPPÉ (R. Bresson, F 1956) WOMAN IN HIDING (Michael Gordon, USA 1949) Found Footage. Filme oder Teile von Filmen, die aus MIDNIGHT EXPRESS (Alan Parker, GB 1977) found footage, aus gefundenem Material bestehen, das 32 Glossar von anderen FilmemacherInnen in anderen Zusammen- verordneten TERRORISMUS, die terreur, ins Zentrum, hängen gedreht wurde und aus allen erdenklichen problematisieren die Massenhinrichtungen (insbesondere Quellen bezogen wird: Archivbilder, Filmabfälle und - der ARISTOKRATIE) oder versuchen, die Perspektive KLEI- reste, AMATEURFILME, HOME MOVIES etc. In jedem Fall NER LEUTE einzunehmen. Wieder andere verfahren im stammen die Bilder ursprünglich aus anderen Kontexten Sinn eines BIOPICS und beleuchten – mehr oder weniger und erreichen durch die Integrierung in neues Film- glorifizierend oder dämonisierend – das Leben einzelner material neue Bedeutung. Vor allem der EXPE- Personen wie Louis XVI., Danton, de Sade, Robespierre, RIMENTALFILM arbeitet mit Found Footage, wobei die Saint-Just oder des jungen Bonaparte. formal-ästhetische Beschaffenheit des gefundenen Vgl. REVOLUTION sowie RUSSISCHE REVOLUTION. phb Materials im Vordergrund steht und weniger dessen in- Beispiele: haltliche Seite. NAPOLÉON (Abel Gance, F 1926) Vgl. den KOMPILATIONSFILM, der zwar auch mit Found LA MARSEILLAISE (Jean Renoir, F 1937) Footage arbeitet, dies aber in erster Linie im DOKU- DÉSIRÉE (Henry Koster, USA 1954) MENTARFILM tut und ähnlich wie die Geschichts- DANTON (Andrzej Wajda, F/PL 1982) wissenschaft sein Material als historische Quelle nutzt. Vgl. außerdem die experimentellen Genres MATERIAL- FILM und COLLAGE, die beide auch, aber längst nicht nur Frauenfilm. In der Regel von männlichen Regisseuren mit Found Footage arbeiten. phb für ein weibliches Publikum gedrehtes Genre mit weib- Beispiele: lichen Protagonisten, die überwiegend in Opferpositionen A MOVIE (Bruce Connor, USA 1958) agieren. Insbesondere in der US-Produktion der 1930er SCORPIO RISING (Kenneth Anger, USA 1964) und 1940er Jahre, aber auch in Filmen während des ALL YOU CAN EAT (Michael Brynntrup, D 1993) NATIONALSOZIALISMUS weist das Genre dem MELO- DRAMA eng verwandte Strukturen auf: seine Kern- themen und -motive sind Liebe, Ehe, Familie, Mutterrolle, Fragment. Der Begriff kann erstens Bruchstücke ur- (erotische) Konkurrenz, Verzicht und Leiden. Im Engli- sprünglich vollständiger Filme meinen, zweitens (und schen heißt das Genre wegen seiner Tränenseligkeit auch allgemeiner verstanden) unabgeschlossene Filme über- weepie. Aber der Frauenfilm gibt auch Gelegenheit für haupt, also auch solche, die es nie anders als in unvoll- die Darstellung abweichenden Verhaltens, der Solidarität ständiger Form gab. Gründe für Fragmentizität können zwischen Frauen, von Mutter-Tochter-Beziehungen etc., auf Produktions-, Rezeptions- und Konzeptionsebene lie- und er bearbeitet verschiedene Ausuferungen des Patriar- gen. Zu den produktionsabhängigen Faktoren gehören chats, zeitweilig sehr treffend und sehr kritisch. uvk der Wechsel oder oder Verlust von AuftraggeberIn oder Beispiele: FilmproduzentIn, Verschiebungen von Medienstrukturen, JEZEBEL (William Wyler, USA 1938) politische Machtwechsel oder KRIEGE, technologische GION BAYASHI (Kenij Mizoguchi, J 1946) Veränderungen sowie vor allem Veränderungen in der SUMMER MADNESS/SUMMERTIME (David Lean, US 1955) Crew-Besetzung (durch Todesfall o. ä.). Rezeptions- abhängige Unvollständigkeiten beruhen auf unterschied- lichen Modi in Tradierung und Distribution, auf Makulie- Freak. Das englische Wort freak bezeichnet eine Person rung oder gar Vergessen von Filmteilen, können aber mit angeborenen körperlichen BEHINDERUNGEN und auch als ZENSURFALL gekürzt worden sein. Schließlich Anomalien – ZWERGE, siamesiche ZWILLINGE, Elefan- kann es im Realisierungsstadium zum Abbruch einer tenmenschen u. ä., die als Attraktionen auf Jahrmärkten Filmproduktion kommen, etwa weil sich die Konzeption in so genannten freak shows präsentiert wurden. Aber als überkomplex, zu banal oder uneinlösbar erweist. phb auch stark verstümmelte Personen oder sogar psychisch Beispiele: «Abnorme» gehören in diese Kategorie. Ihr Auftreten im QUE VIVA MÉXICO (S. Eisenstein [G. Alexandrow, USA/GB Film ist vom Mehrwert des Authentischen begleitet, d. h. 1930/39]) sie spielen – ähnlich wie KINDLICHE PROTAGONISTEN I, CLAUDIUS (Fred Zinnemann [Bill Duncalf, GB 1967]) und LAIENDARSTELLER – sich selbst und wecken damit SHIVA UND DIE ... (H. Steinhoff, D 1945 [H. G. Andres, M. zusätzliches voyeuristisches Interesse. Ein Freak kann al- Krützen, D 1993]) lerdings auch durch Maskenbildnerei erzeugt werden und sensationelle Effekte erzielen. uvk

Französische Revolution. Motiv im Spielfilm, das die Beispiele: FREAKS (Tod Browning, USA 1932) grundlegenden gesellschaftlichen, politischen und kultu- THE ELEPHANT MAN (David Lynch, USA 1980) rellen Umwälzungen in Frankreich 1789–1799 umfasst POLYESTER (John Waters, USA 1981) oder aber einzelne Ereignisse aus dieser Periode. Die Unterschiede in Gewichtung und Verfahren sind groß und entsprechend breit das Spektrum an möglichen Va- Free Cinema. Mitte der 1950er Jahre in England ent- rianten: AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜMFILME setzen standene Bewegung, deren Vertreter – L. Anderson, K. vor allem auf das Schauwert-Potenzial des Motivs und Reisz, T. Richardson – Filmemacher und Kritiker waren, damit auf luxuriöse Roben, mächtige Karrossen, Mas- die für Sequence und Sight and Sound schrieben. Sie senaufmärsche und prächtige Kulissen, vor deren Hinter- forderten ein sozialdokumentarisches Kino, das sich in grund LIEBESGESCHICHTEN und MELODRAMEN erzählt DOKUMENTAR- und Spielfilmen den Problemen der werden. MONUMENTALFILME schildern die zum Mythos Alltags vor allem der Arbeiterklasse zu stellen habe. überhöhte REVOLUTION als mehrheitsfähiges NATIO- Dieses politische Konzept wurde mit einem ästhetischen NALEPOS. Realistischere Varianten stellen den BEFREI- verbunden: Im Mittelpunkt stand der Anspruch auf einen UNGSKAMPF gegen das ancien régime oder den staatlich Glossar 33 persönlichen, oft poetischen Zugang zu den Problem- Frontier. Symbolisch aufgeladener, topographischer konstellationen, aber auch die Einforderung schöpferi- Raum in den USA, der die Grenze zwischen Wildnis und scher Individualität durch einen Filmemacher, der sich Zivilisation markiert. Im WESTERN ist die frontier gleich- nicht länger der kommerziellen und konservativen Kultur- bedeutend mit der jeweiligen Grenzsphäre, welche die produktion unterwarf, und schließlich die Forderung an Landnahme und Besiedelung des nordamerikanischen die Filmemacher, in politischen Angelegenheiten Stellung Halbkontinents im Lauf des 18. und 19. Jh., in deren Ge- zu beziehen. Im fiktionalen Bereich, der in Anlehnung an folge die kriegerische Zurückdrängung bzw. Vernichtung die französische NOUVELLE VAGUE auch British New der indianischen Bevölkerung steht, erreicht (vgl. GENO- Wave genannt wird, entstanden stimmungsvoll foto- ZID). Im ROADMOVIE bezeichnet der Grenzraum der grafierte, schwarzweiße MILIEUSTUDIEN über KLASSEN- frontier jenen Punkt, bei dessen Überschreitung die Pro- VERHÄLTNISSE, die in so genannten kitchen sink-Filmen tagonisten nicht mehr in den zivilisierten Raum zurück- mit viel GESELLSCHAFTSKRITIK den harten Alltag KLEI- kehren können. uvk NER LEUTE inszenierten. Oft handelt es sich um DRA- Beispiele: MENVERFILMUNGEN, die in enger Zusammenarbeit mit NORTHWEST PASSAGE (King Vidor, USA 1940) den Exponenten der Erneuerungsbeweung im britischen ACROSS THE WIDE MISSOURI (William A. Wellman, USA 1951) Theater (Joe Orton, Allan Sillitoe u. a.) entstanden. In THE LAST FRONTIER (Anthony Mann, USA 1956) den frühen 1960er Jahren endet die Bewegung des Free Cinema; ihr Einfluss auf das britische Kino – etwa das NEW BRITISH CINEMA – ist jedoch bis heute spürbar. Frühe Kinematographie. Der Begriff bezeichnet Pro- phb duktionen der ersten Phase des Films von 1895 bis ca. Beispiele: 1911. Von eingen Ausnahmen abgesehen, handelt es LOOK BACK IN ANGER (Tony Richardson, GB 1959) sich um EIN- UND ZWEIAKTER mit einer Laufzeit von SATURDAY NIGHT AND SUNDAY … (Karel Reisz, GB 1960) unter 10 Minuten, die aus einer einzigen (single shot) THIS SPORTING LIFE (Lindsay Anderson, GB 1963) oder aber mehreren Einstellungen bestehen. Nicht- fiktionale und narrative Formen stehen noch gleich- berechtigt nebeneinander. Dagegen zeichnet sich ab Fremde Erzähltradition. Aus außereuropäischen und 1911 – im Gleichklang mit der Institutionalisierung des außer(nord)amerikanischen (literarischen) Mustern abge- Kinos – eine zunehmende Dominanz narrativer Genres ab leitete, von der westlichen Kultur unabhängige Sicht- und sowie die verstärkte Hinwendung zu längeren und um- Erzählweise. Zwar finden sich gänzlich unbeeinflusste, fangreicheren Stoffen. «indigene» Produktionen kaum mehr, dennoch weichen Zum Formenspektrum der Frühen Kinematographie gehö- zahlreiche afrikanische und asiatische Filme hinreichend ren neben dem phantom ride, dem Landschaftsbild resp. von westlichen Erzählstandards ab, um als Gegenbeispiel der Ansicht und der AKTUALITÄT die NICHTFIKTIONALE zu dienen und die Allgemeingültigkeit und Hegemonie SZENE, DRAMATISCHE SZENE, KOMISCHE SZENE, ERO- westlicher Kultur zu hinterfragen. TISCHE SZENE, GESTELLTE SZENE sowie die FEERIE. uvk Vgl. dagegen das ABWEICHENDE ERZÄHLMUSTER, das innerhalb westlicher Kulturzusammenhänge entsteht und Beispiele: ROUGH SEA AT DOVER (Birt Acres, GB 1895) stets im Bewusstsein der hiesigen herkömmlichen Mus- SORTIE D'USINE (Louis Lumière, F 1895) ter, z. B. bezüglich Raum-Zeitorganisation und Kohärenz, THE GREAT TRAIN ROBBERY (Edwin S. Porter, USA 1902) geschaffen und oft genug als Kritik an diesen Mustern LES CARTES VIVANTES (Georges Méliès, F 1904/05) verstanden wird. uvk Beispiele: AKALER SANDHANE (Mrinal Sen, IND 1980) Früher Tonfilm. Der Umbruch von Stummfilm zum STUPEN (Alexander Rekviaschwili, SU 1986) Tonfilm vollzieht sich in den verschiedenen Filmländern DAS LIED DER STEINE (Michel Khleifi, Palästina 1990) uneinheitlich: in Hollywood kommen abendfüllende Ton- filme schon 1927, in den meisten europäischen Ländern um 1930, in der Sowjetunion Anfang der 1930er, in Ja- Freundinnenpaar. Weibliches Pendant des im BUDDY- pan erst Mitte der 1930er Jahre in die Kinos. In jedem BUDDY-Modell etablierten heterosexuellen Doppelprota- Fall führt die technische Umstellung infolge voluminöser gonisten. Im Mittelpunkt der Handlung stehen zwei an- und entsprechend unbeweglicher Tonkameras sowie kur- nähernd gleichrangige weibliche Figuren, deren Charak- zer Mikrofonreichweiten zunächst zu Beschränkungen in tereigenschaften oft im Sinne eines UNGLEICHEN PAARS Kameraarbeit und Montage und zu einem Bruch mit dem komplementär bzw. konträr zueinander stehen und deren ausgereiften visuellen Stil des späten Stummfilms. Aber äußere Erscheinung ebenfalls (durch Stilmerkmale von der frühe Tonfilm ist gleichzeitig ein interessantes Kleidung, Frisur etc.) deutlich unterschieden ist. Häufig ästhetisches Experimentierfeld ersten Ranges, weil neue wird die Frauenfreundschaft, die auch eine SCHICK- Lösungen gefunden werden müssen und sich noch keine SALSGEMEINSCHAFT sein kann, durch das Auftreten ei- ästhetischen Konventionen der Ton-Bildbeziehung und ner männlichen Figur, die als potentieller erotischer Part- der Dialogregie verfestigt haben. ner auftritt, auf die Probe gestellt. uvk Vgl. den SPÄTEN STUMMFILM, also Filme, die auch nach der Einführung des Tonfilms stumm gedreht wurden. uvk Beispiele: LE AMICHE (Michelangelo Antonioni, I 1955) Beispiele: GIRLFRIENDS (Claudia Weill, USA 1978) THE JAZZ SINGER (Alan Crosland, USA 1927) ANTONIA AND JANE (Beeban Kidron, GB 1990) DESERTIR (Wsewolod Pudowkin, SU 1930) ABGESCHMINKT! (Katja von Garnier, D 1992) SOUS LE TOITS DE PARIS (René Clair, F 1930) M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (Fritz Lang, D 1931) 34 Glossar

Fünfte Generation. Der Begriff bezieht sich auf die chi- Gaunerkomödie. Variante der KOMÖDIE, deren dra- nesische Praxis, die eigene Filmgeschichte nach Gene- maturgische Spannungskurve der Ausführung eines ge- rationen zu periodisieren. Die Fünfte Generation umfasst planten COUPS folgt, die stets durch missliebiges Eingrei- eine Gruppe von Regisseuren (Zhang Yimou, Chen Kaige fen oft etwas tumber Polizisten gefährdet scheint. Sym- u.a.), die nach der Wiedereröffnung der Filmakademien pathiefiguren sind natürlich die Gauner, Gaunerpaare in den 1980er Jahren Filme drehten, die (auch) als Ant- oder Gaunergruppen, insbesondere dann, wenn es sich wort auf die Zeit der Kulturrevolution (1966–1976), den um KLEINE LEUTE handelt, die mit Gerissenheit und staatlich befohlenen kulturellen Kahlschlag, zu lesen Schläue vorgehen. Möglich ist aber auch die Variante des sind. Zu den Wesensmerkmalen gehören der Einfluss des eleganten graumelierten Edelganoven, der mit Charme, europäischen Kinos und westlicher Filmtheorie, eine für profundem Wissen und vorzüglichen Manieren operiert. den chinesischen Film neue formale Expressivität sowie Gauner – Gaunerinnen sind insgesamt seltener – treten die vorsichtige, hauptsächlich in Form von ALLEGORIEN kaum je als Kriminelle auf, sondern als Menschen, die in thematisierte Kritik der offiziellen Positionen und Direk- der Welt der großen Fische, der tatsächlich Kriminellen, tiven der Kommunistischen Partei Chinas. Die zentralen sich verdientermaßen ein kleines Stück vom Kuchen Werke entstehen zwischen 1983 und 1989. Im euro- sichern. päischen Ausland mit Begeisterung gefeiert und mit Vgl. im Unterschied dazu das tendenziell ernste und Preisen überhäuft, wurden (und werden) die Regisseure einem gewissen Realismus verpflichtete Genre des der Fünften Generation im Inland mit dem Vorwurf kon- GANGSTERFILMS. phb frontiert, ihre Filme seien den Bedürfnissen des chine- Beispiele: sischen Massenpublikums nicht angemessen. Spätestens QUATORZE JUILLET (René Clair, F 1932) seit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Frie- TOPKAPI (Jules Dassin, USA 1964) dens 1989 versuchen die Filmemacher vermehrt, mit RAISING ARIZONA (Joel Coen, USA 1987) internationalen Koproduktionen die Finanzierung ihrer KATZENDIEBE (Markus Imboden, CH 1996) Projekte zu sichern. phb Beispiele: DAOMA ZEI (Tian Zhuangzhuang, VRC 1986) Gay and Lesbian Cinema s. QUEER CINEMA HAI ZI WANG (Chen Kaige, VRC 1987) JUDOU (Zhang Yimou, VRC 1990) Gefallene Frau. Figur im MELODRAMA, aber auch in FRAUENFILMEN und MUTTERDRAMEN melodramati- scher Prägung, bei denen es sich nicht selten um LITE- RATURVERFILMUNGEN handelt. Im Zentrum stehen die G aus (klein-)bürgerlichen Lebenszusammenhängen «ge- fallene» Frau, eine TRAGISCHE LIEBE oder das Problem Gangsterfilm. Ein in erster Linie amerikanisches Genre des Ausgehaltenwerdens durch einen reichen Verführer, des KRIMINALFILMS, das vom Aufstieg und Fall eines das meist durch äußere Umstände erzwungene Abgleiten oder mehrer Berufsgangster innerhalb des organisierten der Protagonistin in das Verbrechen oder die PROSTITU- Verbrechens erzählt (vgl. MAFIA). Bereits während der TION sowie die Möglichkeiten der Rehabilitation durch Stummfilmzeit produziert Hollywood Filme über UNTER- die Ehe (vgl. MORALISCHES RÜHRSTÜCK). Das Motiv ist WELT und Bandenwesen, aber erst der Tonfilm macht nicht nur, aber insbesondere in den frühen 1930er Jahren den Gangsterfilm populär und verleiht ihm eine neue, beliebt und wird oft mit Verständnis für die betroffenen realistischere Qualität. Kennzeichen des Genres sind Frauen behandelt. Allerdings, und das ist das pro- lakonische Dialoge, eine Zelebrierung des Slang, die blematische daran, wird die Grundsituation oft genug als ständige Bereitschaft der Gangster zu physischer Aktion eine schlüpfrige dargestellt und als solche auch ausge- und GEWALT im Großstadtdschungel sowie ein insge- kostet. phb samt rüder Tonfall. Ziel der Figuren ist die (stets bedrohte) Sicherung der eigenen Position in der Unter- Beispiele: welthierarchie. Die Zeit der Prohibition und der Welt- TAGEBUCH EINER VERLORENEN (G. W. Pabst, D 1929) wirtschaftskrise bildet den historischen Bezugsrahmen ANNA KARENINA (Clarence Brown, USA 1935) STELLA DALLAS (King Vidor, USA 1937) des klassischen Gangsterfilms. Zahlreiche Filme stammen FONTANE EFFI BRIEST (R. W. Fassbinder, BRD 1974) aus dieser Periode selbst, in später produzierten Filmen wird sie regelmäßig dargestellt. Nach 1945 tendiert das Genre zu einer umfassenderen Psychologisierung der Fi- Gefängnis. Motiv und Schauplatz im fiktionalen und do- guren, und erst ab 1956 erlaubt es der so genannte Hays kumentarischen Film. Wie andere INSTITUTIONEN im Code, auch real existierende Gangster in BIOPICS zu por- Film bietet auch das Gefängnis die Gelegenheit zur Dar- trätieren. In Frankreich, Japan und Großbritannien ent- stellung einer Reihe unterschiedlichster Charaktere, sei es stehen jeweils eigene Traditionen des Genres. als SCHICKSALSGEMEINSCHAFT, sei es als FIGUREN- Vgl. den POLIZEIFILM, in dessen Zentrum die Gegenfigur MOSAIK. Das Spektrum an möglichen Genres und Erzähl- des Gangsters steht. phb formen ist groß und reicht vom ABENTEUER- und Beispiele: KRIEGSGEFANGENEN-FILM über die (POLITISCHE) SATI- LITTLE CAESAR (Mervyn LeRoy, USA 1930) RE bis hin zur MILITÄRKLAMOTTE. Entsprechend unter- SCARFACE (Howard Hawks, USA 1932) schiedliche Motive können vorkommen: Spektakuläre A BOUT DE SOUFFLE (Jean-Luc Godard, F 1960) FLUCHT- und Ausbruchsversuche, Misshandlungen der THE GODFATHER (Francis Ford Coppola, USA 1971) Gefangenen durch das Wachpersonal, aber auch (oft recht prekäre) Darstellungen von HOMOSEXUALITÄT. Auch die Ansprüche der Filme können weit ausein- Glossar 35 anderdriften: Realistischere Varianten – CHARAKTER- Genozid. Motiv, das in engster Nachbarschaft zum RAS- STUDIEN eines einzelnen Gefangenen oder MILIEUSTU- SISMUS steht. Gemeint ist der systematische (partielle DIEN und DOKUMENTARFILME über die Bedingungen oder vollständige) Völkermord, der im Film meist unter des Gefangenseins – können eine bittere GESELL- Rückgriff auf historische Verbrechen und innerhalb eines SCHAFTS- oder SYSTEMKRITIK formulieren; andere Va- breiten Spektrums an Gattungen und Genres verarbeitet rianten erschöpfen sich dagegen in flauem KLAMAUK. wird. Dies kann vom HUMANITÄREN DOKUMENTARFILM Vgl. das Motiv des LAGERS, mit dem oft ähnlich ver- über die HISTORISCHE REKONSTRUKTION bis hin zum fahren wird, das aber in einem deutlich schmaleren JUSTIZDRAMA und zum (ANTI-)KRIEGSFILM reichen. Ne- Spektrum von Genres angesiedelt ist und – im Fall von ben mehr oder weniger einfühlsamen Darstellungen von Konzentrations- oder Arbeitslagern – kaum je in KOMÖ- Seiten der Außenstehenden stehen Selbstdarstellungen DIEN vorkommt. phb der Betroffenen. Zum Genozid am europäischen JUDENTUM während des Beispiele: UN CHANT D'AMOUR (Jean Genet, F 1950) ZWEITEN WELTKRIEGS vgl. HOLOCAUST. phb PAPILLON (Franklin Schaffner, USA 1973) Beispiele: O BEIJO DA MULHER ARANHA (Hector Babenco, USA/BR 1985) SOLDIER BLUE (Ralph Nelson, USA 1969) THE KILLING FIELDS (Roland Joffé, GB 1983) SERTSCHAWAN (Beatrice Michel, Hans Stürm, CH 1992) Geistige Landesverteidigung. In der Schweiz um 1938 einsetzende kulturelle Abwehrbewegung gegen den FASCHISMUS und NATIONALSOZIALISMUS im In- Gerichtsfilm s. JUSTIZDRAMA und vor allem Ausland. Die staatliche Unterstütztung (und damit Festlegung) der «einheimischen» Kultur führt zu einer Beschwörung des «Traditionellen» und «Ur- Geschlechterkampf. Motiv, das insbesondere das EHE- sprünglichen». Kennzeichen sind eine Skepsis gegenüber DRAMA, den FRAUENFILM und gelegentlich den PSY- dem Urbanen und Intellektuellen, eine Betonung des CHOTHRILLER grundiert und dessen Kern emotional hoch Ländlich-Alpinen sowie eine mythische Verklärung der aufgeladene Macht- und KONKURRENZKÄMPFE Vergangenheit. Das Kino zelebriert den DIALEKTFILM, zwischen Männern und Frauen innerhalb intimer widmet sich dem MILITÄR und den KLEINEN LEUTEN, (sexueller) Beziehungen in der patriarchalisch verfassten setzt auf Regionalismus und verweist auf das historisch- Gesellschaft bilden. Dabei können Konflikte bis zum literarische Erbe. Insgesamt soll das Konstrukt der Wil- BEZIEHUNGS- UND FAMILIENMORD eskalieren. Ge- lensnation Schweiz ins rechte Bild gerückt und der da- schlechterkämpfe reflektieren die starren Rollenmuster raus hervorgehende «eidgenössische Geist» gestärkt des Patriarchats mit seiner Konstruktion männlicher Do- werden. Es entsteht eine Flut von Spiel-und Dokumentar- minanz bzw. weiblicher Inferiorität und finden sowohl filmen, die ganz auf den einheimischen – in aller Regel zwischen individualisierten Figuren, paradigmatisch in deutschschweizer – Markt ausgerichtet ist, außerdem Scheidungs- und Trennungssituationen und im Szenario wird ab 1940 die Schweizer Filmwochenschau produ- «Kampf ums Kind», als auch zwischen Gruppen (zumeist ziert. phb in Berufswelten) statt. Freilich existieren – in EHEKOMÖ- DIEN und vor allem SCREWBALL COMEDIES – auch die Beispiele: FÜSILIER WIPF (Leopold Lindtberg, Hermann Haller, CH 1938) komischen, bisweilen hinreißend ironischen Varianten S' MARGRITLI UND D' SOLDATE (August Kern, CH 1940) des Motivs. uvk GILBERTE DE COURGENAY (Franz Schnyder, CH 1941) Beispiele: SALOME (Charles Bryant, USA 1922) GILDA (Charles Vidor, USA 1946) Generationenbeziehung. Kernthema der Genres FA- ROTE SONNE (Rudolf Thome, BRD 1969) MILIENSAGA und FAMILIENDRAMA, in deren Mittel- TRISTANA (Luis Buñuel, F/I/E 1970) punkt intergenerative Beziehungen zwischen Verwandten stehen. Je nach Drehbuchkomplexität, dargestellten Zeit- dimensionen und Nähe zum Realismus können sich diese Gesellschaftskomödie. Spielart der KOMÖDIE, die über zwei Generationen (als Eltern-Kind-Beziehungen), nicht so sehr einzelne Figuren, sondern ein ganzes gesell- wie dies häufig beim intimer konzipierten FAMILIEN- schaftliches Segment porträtiert mit dem Ziel, die Hand- DRAMA der Fall ist, oder über drei und mehr Generatio- lungsmuster, Verhaltensstrategien und Wünsche der Pro- nen (mind. Großeltern- bis Enkelgeneration), wie sie die tagonistInnen (und des Kinopublikums) augenzwinkernd weitschweifig erzählende FAMILIENSAGA etabliert, ins Lächerliche zu ziehen oder aber in einer SATIRE zu erstrecken. Die Generationenbeziehung kann dabei aus karikieren. Insofern ist die Gesellschaftskomödie oft eine Vater-, Mutter- oder Kindperspektive thematisiert sein, mit den Mitteln des Komischen arbeitende Variante der im einen Fall stehen Konflikte und Probleme der Eltern- GESELLSCHAFTSKRITIK, die in vielerlei Gestalt – vom und sozialen Geschlechterrolle im Mittelpunkt, im ande- MÄRCHEN bis zur MILIEUSTUDIE – daher kommen kann. ren Probleme der Selbstfindung und Abgrenzung, für die Bevorzugte Figurenkonstellationen sind GRUPPENPORT- KINDHEIT konstitutive Leiden und Lüste oder die Ent- RÄT und FIGURENMOSAIK. phb wicklungsschritte Pubertät bzw. ADOLESZENZ. uvk Beispiele: Beispiele: TARTÜFF (Friedrich Wilhelm Murnau, D 1925) DER POSTMEISTER (Gustav Ucicky, D 1940) THE WOMEN (George Cukor, USA 1939) BANSHUN (Yasujiro Ozu, J 1949) KVINNODRÖM (Ingmar Bergman, S 1955) DAS ZWEITE GLEIS (Joachim Kunert, DDR 1962) MANHATTAN (Woody Allen, USA 1979) 36 Glossar

Gesellschaftskritik. Im Gegensatz zur SYSTEMKRITIK, Gewalt. Seit Beginn der Filmgeschichte ein Motiv in die ihren Fokus auf die Hinterfragung von politischen sämtlichen Filmgattungen. Entsprechend unterschiedlich Institutionen und deren Praxis richtet, welche für eine be- sind seine Einbettungen und Darstellungen: Unzählige stimmte politische Herrschaftsform in einer spezifischen Schlägerein im WESTERN, ACTION- und historischen Situation charakteristisch sind, ziehlt die ABENTEUERFILM; fragwürdige Kombinationen von GESELLSCHAFTSKRITIK allgemeiner auf Machtver- Gewalt und SEXUALITÄT in alltäglichen sex and crime- hältnisse und ihre Legitimation, die Darstellung von Un- Geschichten; Darstellungen psychischer Gewalt im PSY- gerechtigkeit, klassen- bzw. schichtspezifischer Ungleich- CHOTHRILLER; nicht weiter begründete, orgienhafte heit und den daraus resultierenden Konflikten (vgl. KLAS- Eskalationen physischer Gewalt im SPLATTER; schmerz- SENVERHÄLTNISSE), die Diskrepanz von ARMUT und hafte Auseinandersetzungen aus der Sicht von Gewalt- Reichtum, die soziale Determiniertheit von GEWALT-Ver- opfern (vgl. SEXUALDELIKT); die erschreckende Verbin- hältnissen, auf ethnischer oder geschlechtlicher Diskri- dung von Gewalt und Staat; hoch ästhetisierte und bis minierung etc. GESELLSCHAFTSKRITIK als Autoren-Hal- zur GROTESKE gesteigerte Gewalträusche in den Filmen tung ist wesentlich für viele DOKUMENTARFILME, aber der POSTMODERNE etc. Immer wieder sorgt das Motiv auch für sozial-analytische Spielfilme. Die komische für medienkritische, moralische und ethische Kon- Variante der GESELLSCHAFTSKRITIK ist die GESELL- troversen, die um folgende Fragen kreisen: Ist es statt- SCHAFTSKOMÖDIE, die prinzipiell dieselben Themen be- haft, die Anwendung physischer und/oder psychischer arbeitet, aber in komödiantischer Form abfedert und ent- Gewalt an Anderen oder sich selbst zu zeigen? Woher lastend wirkt. uvk rührt die prekäre Faszination medial vermittelter Gewalt? Inwiefern sind kritische Darstellungen überhaupt mög- Beispiele: LOS OLVIDADOS (Luis Buñuel, MEX 1950) lich? Wie weit dürfen Gewaltdarstellungen gehen, ohne SHADOWS (John Cassavetes, USA 1959/60) dass ein Film zum ZENSURFALL wird? Und: Nicht zuletzt PROSCHTSCHANJE S MATJORI (Elem Klimow, SU 1979/80) seit der explosionsartigen Verbreitung des FERNSEHENS seit den 1950er Jahren wird immer wieder versucht, das Verhältnis zwischen medial vermittelter und außer- Gespenstergeschichte. Aus der gleichnamigen, v. a. filmischer Gewalt im Alltag zu bestimmen. Dabei erweist der britischen Tradition zugehörenden Literaturgattung sich die Argumentation jedoch in vielen Fällen als zu übernommener Begriff, der zum ästhetisch-narrativen kausal. phb Spektrum der PHANTASTIK gehört. Das Genre beschert Beispiele: als Stoff- und Motivquelle dem Film zahlreiche Möglich- BONNIE AND CLYDE (Arthur Penn, USA 1967) keiten, technische TRICKS und SPECIAL EFFECTS einzu- SALÒ … (Pier Paolo Pasolini, I/F 1975) setzen. Die Gespenster – nicht zur ewigen Ruhe gekom- DEATH AND THE MAIDEN (Roman Polanski, GB/USA/F 1994) mene Tote –, die durch vielfältige Zeichen mit den Leben- BOWLING FOR COLUMBINE (Michael Moore, USA 2002) den in Kontakt treten und bisweilen volle körperliche Präsenz annehmen, können sowohl als Protagonisten, als auch als Antagonisten auftreten. Nicht jede filmische Glasnost s. PERESTROJKA GESPENSTERGESCHICHTE ist zugleich ein ÜBERSINNLI- CHER HORRORFILM, denn das Potential tödlicher Bedro- hung der Lebenden entfällt zumeist, und gutartige Geis- Gleichnis s. PARABEL ter prägen das Genre. Gespenster gehören auch zum Figureninventar von KOMÖDIEN, wenn diese mit dem Übersinnlichen als Glaubensinhalt spielen. uvk Glücksspiel s. SPIELE UND GLÜCKSSPIELE Beispiele: THE CANTERVILLE GHOST (Jules Dassin, USA 1944) THE GHOST AND MRS. MUIR (J. L. Mankiewicz, USA 1947) Goldgräberwestern. Bereits im Stummfilm beliebte A CHINESE GHOST STORY (Ching Sui-Tang, HK 1987) Variante des WESTERNS mit zwei typischen Schauplätzen THE SIXTH SENSE (USA 2000) und Figurensets: Da sind einerseits die goldsuchenden, goldschürfenden Einzelgänger in der Wildnis, die mit der Natur (dazu werden meist auch INDIANERINNEN ge- Gestellte Szene. Bezeichnung für aus einer oder zählt) ringen oder einander in zähem Zweikampf auf mehreren Einstellungen bestehende Filme der FRÜHEN Leben und Tod zu Leibe rücken. Da ist andererseits die KINEMATOGRAPHIE, bei denen Raumdetails und Figuren schnelllebige Goldgräberstadt mit SPIELEN UND eigens für die Kamera eingerichtet werden. Wegen ihres GLÜCKSSPIELEN sowie PROSTITUTION, deren Einwohner Schau- oder dokumentarischen Wertes werden Ereignisse sich kapitalistisch-kriminell verhalten oder verzweifelt für die Kamera nachgestellt (z. B. eine Königskrönung versuchen, Ordnung und Moral herzustellen. Manchmal oder Unfälle); die Szenen bleiben dabei ohne deutlichen sind beide Formen kombiniert, mit LIEBESGESCHICHTEN narrativen Gehalt (z. B. die Kinderszenen). Der Methode oder Versatzstücken des ABENTEUERFILMS angereichert. des Arrangierens bedienen sich später auch der INSZE- phb NIERTE DOKUMENTARFILM und der PSEUDO-DOKU- Beispiele: MENTARFILM. uvk JUST GOLD (David Wark Griffith, USA 1918) THE TREASURE OF THE SIERRA MADRE (J. Huston, USA 1947) Beispiele: THE HANGING TREE (Delmer Daves, USA 1959) ATTACK ON A CHINA MISSION (J. A. Williamson, GB 1900) LA REVOLUTION EN RUSSIE (Lucien Nouquet, F 1905) DAY IN THE LIFE OF … (P.: Kineto Production Co., GB 1910) Glossar 37

Golfkrieg. Motiv im dokumentarischen und fiktionalen HEILT HITLER (Herbert Achternbusch, BRD 1986) Film, das drei KRIEGE am Persischen Golf meint: Den TRAGÉDIE BURLESQUE (Goran Markovic, F/BG 1995) ersten zwischen Iran und (dem damals von den USA unterstützen) Irak 1980–1988, der wesentlich durch die Islamische REVOLUTION im Iran ausgelöst wurde; der Gruppenporträt. Erzählmuster, bei dem keine Einzel- zweite und dritte Golfkrieg, die beide zwischen den figur im Zentrum steht, sondern ein (zählenmäßig eher westlichen Alliierten unter der Führung der USA und dem kleines) Kollektiv, das aus einem mehr oder weniger Irak im Frühjahr 1991 respektive 2003 stattfanden. Im komplexen Gefüge verschiedenartiger Figuren besteht. iranischen Kino wurden und werden KRIEGSDRAMEN ge- Der Reiz des Musters besteht darin, diese Ver- zielt gefördert (und von der ZENSUR in Schach gehalten). schiedenartigkeit zu nutzen, die Charaktere gegen- Im Vordergrund steht zwar die «Heilige Verteidigung» einander auszuspielen, miteinander zu verweben oder der Islamischen Republik, doch die Filme legen wenig dem Vergleich auszusetzen. Oft wird die Gruppe in einer Wert auf Schlachtengemälde. Stattdessen werden die MILIEUSTUDIE ausgeleuchtet oder sie bildet eine Kriegsfolgen ins Zentrum gerückt: das Fehlen einer gan- SCHICKSALSGEMEINSCHAFT, die womöglich in INTRI- zen Generation von Männern, die physische und GENSPIELE verwickelt ist; außerdem sind die meisten FA- psychische Zerbrochenheit der Kriegs-HEIMKEH- MILIENDRAMEN und FAMILIENSAGEN Gruppenporträts. RERINNEN und die damit verbundenen Schwierigkeiten Vgl. dagegen das Muster des FIGURENMOSAIKS, bei der RESOZIALISIERUNG, die spirituelle Anwesenheit der dem sich nicht alle Beteiligten kennen und das nicht so Vermissten und Gefallenen. Die filmische Verarbeitung sehr ein Kollektiv meint, sondern eher das Neben- des zweiten Golfkriegs fand und findet in den USA in einander, die Parallelität verschiedener Figuren, deren zum Teil massiv gefilterten, erschreckend verharmlosen- Anzahl tendenziell höher ist als beim Gruppenporträt und den DOKUMENTARFILMEN und pathetischen die sich an zahlreicheren und weiter entfernten Orten be- KRIEGSFILMEN statt, bislang jedoch kaum in ANTI- finden. phb KRIEGSFILMEN. Dabei reicht die zum Ausdruck kom- Beispiele: mende politische Haltung von (seltener) Ablehnung des KATZELMACHER (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969) Kriegs und der Rolle des Westens bis hin zu manifester DIE WEISSE ROSE (Michael Verhoeven, BRD 1980) PROPAGANDA (vgl. etwa die so genannten embedded LAMORTE (Xaver Schwarzenberger, A 1996) journalists). phb TOUT VA BIEN, ON S'EN VA (Claude Mouriéras, F 2000) Beispiele: ARUSI-YE KHUBAN (Mohsen Makhmalbaf, IR 1989) DESERT STORM I … (CNN Special Reports, USA 1991) Guerilla. Motiv im dokumentarischen und fiktionalen LES FEUX DU SATAN (Werner Herzog, D/F/E 1992) Film, das auf vielfältige Weise umgesetzt werden kann. Das Spektrum ist breit und reicht vom EXPERIMENTEL- LEN DOKUMENTARFILM über das DOKUPORTRÄT bis hin Gore film s. SPLATTER zu BIOPICS, KRIEGSROMANZEN und SATIREN. Wie im Fall des KRIEGS kann dem Guerillamotiv eine prekäre Faszination eignen, besonders wenn es als explizites Großstadt s. CITY Kriegsgeschehen auf der Leinwand ausformuliert ist und sich die Schauwertigkeit von Kampfszenen zu Nutze macht. Gelegentlich ist eine problematische Tendenz zur Groteske. Variante der KOMÖDIE, die nach drastischer Romantisierung und Heroisierung einzelner Guerilleros Kombination von Heterogenitäten strebt: Ornamentales und Guerilleras oder ganzer REVOLUTIONEN zu be- und Monströses, Grauen und Verspieltheit, Derbkom- obachten. Herbere Varianten verzichten dagegen auf isches und Dämonisches. Mittel dazu ist ein Wechselspiel Schönfärberei und beziehen stattdessen auch die sozialen sich störender, ja inkompatibler Perspektiven, Modi und und wirtschaftlichen Schattenseiten der Guerilla mit ein Diskurse, das sich in der Rezeption wiederholt als ver- oder erzählen von der Eigendynamik einer Bewegung, die störende Irritation, als Oszillieren zwischen Illusions- und sich rasch in TERRORISMUS verwandeln kann. Desillusionsbildung äußert. Die Groteske setzt auf Ver- Vgl. WIDERSTAND, BEFREIUNGSKAMPF, BÜRGERKRIEG. fremdung, deren Spektrum vom Skurrilen über das Ob- phb szöne und Makabre bis hin zum Bedrohlichen reicht, vom Beispiele: Närrischen bis zur apokalyptischen ENDZEITVISION. Im BANANAS (Woody Allen, USA 1971) Einzelfilm kann die Groteske punktuell oder episodisch THE MADONNA AND THE DRAGON (Samuel Fuller, USA 1989) hervortreten; möglich ist aber auch eine den Gesamtfilm ERNESTO «CHE» GUEVARA … (Richard Dindo, CH/F 1994) dominierende Struktur. Ziel ist eine antibürgerliche Zivi- lisations- und SYSTEMKRITIK, die frivole Elemente nutzt und oft im Gewand der TRAVESTIE, PARODIE oder SATI- RE daher kommt. Bevorzugt werden typenhafte Figuren H und damit eine tendenziell APSYCHOLOGISCHE ERZÄHL- WEISE. Hagiografischer Film s. HEILIGENLEGENDE Bei aller Heterogenität der Elemente verzichtet die Gro- teske nicht auf die filminterne Kohärenz; dies unter- scheidet sie vom tendenziell philosophischeren ABSUR- Handkamera. Filmtechnischer und stilistischer Begriff DISMUS, der Sinnhaftigkeit grundsätzlich negiert. phb gleichermaßen. Mit der Entwicklung kleiner und leichter Beispiele: Kameras war es seit Mitte der 1920er Jahre möglich, Ein- PROVA D'ORCHESTRA (Federico Fellini, I 1979) stellungen mit einer von Hand gehaltenen, also nicht auf 38 Glossar einem Stativ fixierten, Kamera zu filmen. Doch die (zu- Pseudodialekt, viel Volksmusik und touristische Attraktio- mindest anfangs) außerordentlich schwere und schwer- nen gekennzeichnet. Die Geschichten, LIEBESGESCHICH- fällige Tonfilmkamera setzte dem zunächst ein Ende. Erst TEN und FAMILIENDRAMEN, gleichen sich bis zur Aus- mit dem Aufkommen des CINÉMA VÉRITÉ in den frühen tauschbarkeit: Junge ahnungslose StädterInnen kommen 1960er Jahren sowie der Entwicklung leichter 16mm- ins Dorf, wo sie erst mal lernen, wie es auf dem Land Kameras und Nagra-Tonbandgeräten, die synchron zum zugeht. Oder es geht um verfeindete Clans und GENE- Film laufen konnten, wurde die Handkamera wiedera RATIONENBEZIEHUNGEN, die durch abtrünnige Mitglie- aktuell und zum wesentlichen Bestandteil verschiedener der belastet sind und wieder ins Lot gerückt werden müs- Methoden des DOKUMENTARFILMS. Im Spielfilm dage- sen. Heimatfilme sind nur selten KOSTÜMFILME, meist gen galt sie zunächst als unperfekt und amateurhaft und spielen sie in der Nachkriegsgegenwart – auf die sie je- wurde strikt gemieden. In die Ästhetik der verschiedenen doch allenfalls im Dialog, aber nie im Bild Bezug neh- NEUEN WELLEN floss sie jedoch immer wieder ein – ein men. Seit den 1980er und 1990er Jahren gibt es die Prozess, der durch die Erfindung der steadicam in den Tendenz des NEUEN , der als ungeschönte 1980ern weiter getragen wurde, bis die Ästhetik der Auseinandersetzung mit sperrigen Figuren und ihrem Handkamera in den 1990ern ganz in den Spielfilm inte- entbehrungsreichen BÄUERLICHEN LEBEN daher kommt griert wurde – meist mit der Funktion, den Eindruck von und insofern immer auch eine Kritik an der schnulzigen Authentizität und/oder körperlicher Sinnlichkeit zu erzeu- Naturseligkeit der älteren Filme beinhaltet. phb gen. phb Beispiele: Beispiele: GRÜN IST DIE HEIDE (Hans Deppe, BRD 1951) CLUBBED TO DEATH (Yolande Zauberman, F 1996) SISSI (Ernst Marischka, A 1955) THE BLAIR WITCH PROJECT (D. Myrick, E. Sanchez, USA 1999) DER JÄGER VOM FALL (Gustav Ucicky, BRD 1956) DER FELSEN (Dominik Graf, D 2001)

HeimkehrerIn. Figur im Spielfilm (häufig im deutschen Hardcore s. PORNOGRAFISCHER FILM TRÜMMERFILM) oder porträtierte Gruppe resp. Einzel- person in DOKUMENTARFILMEN, die durch eine spezi- fische Problemlage der Desintegration in ihr soziales Um- Heiligenlegende. Spielart des BIOPICS und der LEGEN- feld gekennzeichnet ist. Häufigste Heimkehrerveriante ist DENVERFILMUNG gleichermaßen. Im Zentrum steht die die des Kriegsheimkehrers (seltener in der weiblichen in mehr oder weniger gesicherten Fakten überlieferte Vita Form), des überlebenden, häufig auch durch eine Kriegs- eines oder einer Heiligen der katholischen Kirche. Dabei verletzung gezeichneten Mannes, der in seinen ursprüng- entspricht es dem hagiografischen Zugang, dass christ- lichen sozialen und geografischen Raum zurückkehrt und liche RELIGION, tiefe Frömmigkeit, Märtyrertum und dort veränderte Verhältnisse mit z. T. traumatisierenden Wundertätigkeit im Zentrum stehen. Freilich sind nicht Folgen vorfindet (vgl. VETERANEN). So kann die Bezie- alle Heiligenlegenden als AUSSTATTUNGS- UND KOS- hung zur Ehepartnerin, zu Familie und Kindern gestört TÜMFILME konzipiert, die die Wunder der Heiligen un- oder brüchig geworden sein (vgl. EHE- und FAMILIEN- kommentiert hinnehmen. Viele Filme gewinnen ihren DRAMA) und können Erinnerungen an schreckliche Reiz aus dem Anspruch, psychologisch ausdifferenzierte Erlebnisse im KRIEG Bewusstein und psychische CHARAKTERSTUDIEN zu sein, die die quasi mythische Konstitution massiv bedrängen, so dass eine RESOZIALI- Verehrung der Heiligen und ihrer Wundertätigkeit hinter- SIERUNG in das Zivilleben erschwert oder verunmöglicht fragen und insofern eine SYSTEMKRITIK an der katho- ist. Eine Variante des Themas ist die Remigration exilier- lischen Kirche implizieren. Oder aber sie wagen die Grat- ter Personen (v. a. in der frühen Nachkriegsära nach wanderung zwischen realistischem Duktus und der Schil- 1945) in das Ursprungsland, aus dem sie als politisch derung von Gegebenheiten, die die Realität hinter sich und/oder ethnisch Verfolgte fliehen mussten. Mit der lassen. phb Rückkehr ist zumeist eine bewusste Entscheidung und der Wille verknüpft, ein neues Leben am «alten Ort» zu Beispiele: LA PASSION DE JEANNE D'ARC (Carl Theodor Dreyer, F 1928) beginnen. uvk FRANCESCO, GIULLARE DI DIO (Roberto Rossellini, I 1949) Beispiele: THÉRÈSE (Alain Cavalier, F 1986) DER RUF (Josef von Baky, D 1949) JEANNE D'ARC (Luc Besson, F 1999) LE RETOUR D'AFRIQUE (Alain Tanner, CH/F 1973) TAXIDI STA KITHIRA (Theo Angelopoulos, GR 1984)

Heilsgeschichte s. ERLÖSUNGS- UND HEILSGESCHICH- TE Heritage film s. NEW BRITISH CINEMA

Heimatfilm. Wertkonservatives, vor allem bundes- Hexe. Aus populären abergläubischen Vorstellungen im deutsches und österreichisches Genre, das in der ersten Europa des späten MITTELALTERS und der Frühen Neu- Hälfte der 1950er Jahre seine Blütezeit erlebt. Die vom zeit bis ins 18. Jh. entwachsene Vorstellung von Frauen ZWEITEN WELTKRIEG unberührte LANDSCHAFT spielt die und (seltener) Männern, die durch einen Teufelsbund Hauptrolle: Schwarzwald, Alpen und Heide signalisieren übernatürliche Kräfte gewinnen und Schadenszauber Kontinuität und heile Natur, in der typenhafte Figuren ausüben. Die Zuschreibung «Hexe/Hexer» bezieht sich fest verankert sind in einem System jahrhundertealter auf nahezu alle Vorkommnisse oder Phänomene, zu der Bräuche, die durch den NATIONALSOZIALISMUS nicht ins die jeweilige Kultur keine rationale Erklärung findet: So Wanken geraten mussten. Die jeweilige Region ist durch gelten Individuen als «verhext», die abweichendes Ver- Glossar 39 halten an den Tag legen, ferner bezieht sich das Prädikat struieren. Hinter der Methode des Rekonstruierens steht auf erkrankte Tiere, unfruchtbare Frauen, erotisch ver- der (grundsätzlich problematische) Anspruch auf (mehr führte Männer etc. Hexengeständnisse werden häufig mit oder weniger erreichte/erreichbare) Authentizität und De- GEWALT und Folter erpresst, Hexenprozesse enden in der tailtreue – was die Historische Rekonstruktion keines- Regel mit der Verurteilung zum TOD auf dem Schei- wegs vor großem Pathos oder didaktischer Besserwis- terhaufen. Viele Filme benutzen das Motiv zeichenhaft, serei schützt. Wählt sie jedoch einen nüchterneren (und um das Funktionieren ideologischer Verblendung oder fa- genaueren) Tonfall, dann rückt sie in die Nähe der HIS- natischer RELIGION darzustellen und auf diese Art SYS- TORISCHEN MILIEUSTUDIE (in deren Fokus allerdings ein TEMKRITIK zu üben. uvk vergangenes Milieu, nicht aber ein verbürgtes Ereignis liegt). Ist sie in oberen und obersten sozialen Schichten Beispiele: HÄXAN (Benjamin Christensen, S 1922) angesiedelt – etwa in der INSTITUTION eines königlichen LA PASSION DE JEANNE D'ARC (Carl Theodor Dreyer, F 1928) Hofs –, dann kann sie auch in Richtung AUSSTATTUNGS- ANNA GÖLDIN – LETZTE HEXE (Gertrud Pinkus, CH 1991) UND KOSTÜMFILM ausschlagen. Gelegentlich verbindet sie beides, die Lust am Prunk mit der scharfsinnigen Ana- lyse vergangener sozialer Prozesse: Dann eröffnet die High key s. LICHT Historische Rekonstruktion Einsichten in ansonsten ab- strakt bleibende Strukturen – Ränke, INTRIGENSPIELE und Strategien der Macht, die seit je fernab der Öffent- Historienfilm s. HISTORISCHE MILIEUSTUDIE; HISTO- lichkeit funktionieren. RISCHE REKONSTRUKTION Zur Rekonstruktion ganzer Biografien (im Unterschied zu den hier gemeinten Ereignissen) vgl. das BIOPIC und das HISTORISCHE FRAUENSCHICKSAL; außerdem das typi- Historische Milieustudie. Eine MILIEUSTUDIE, deren scherweise im FERNSEHEN anzutreffende DOKU-DRAMA, Handlung in der Vergangenheit spielt, gleichgültig, ob es das zwar ebenfalls verbürgte Ereignisse veranschaulicht, sich dabei um gegenwartsnahe ZEITGESCHICHTE oder aber eine andere Methode wählt, indem es sich in der entfernte Epochen wie MITTELALTER oder ANTIKE han- Regel bereits bestehender (oft filmischer) Quellen delt. Charakteristisch ist die Neigung zu querschnitt- bedient. phb haftem Erzählen, zur Schilderung von Milieus, von be- Beispiele: stimmten sozialen Segmenten und ihren typischen Figur- LA PRISE DE POUVOIR PAR LOUIS XIV (R. Rossellini, F 1966) en in Form von GRUPPENPORTRÄTS – entsprechend geht DIE WEISSE ROSE (Michael Verhoeven, BRD 1982) es nicht um effektvolle Spannungskurven oder (melo-) SCHINDLER'S LIST (Steven Spielberg, USA 1993) dramatisch zugespitze Einzelschicksale. Stattdessen ist Atmosphärisches von zentraler Bedeutung, und oft ver- suchen die Filme, das Lebensgefühl einer Zeit (oder die Historischer Film s. HISTORISCHE MILIEUSTUDIE; HIS- Vorstellung davon) möglichst authentisch wieder- TORISCHE REKONSTRUKTION zugeben. Ausstattung, Kostüm und Requisite spielen da- bei eine wichtige Rolle; meist werden sie mit Akribie (die sich zur Detailversessenheit steigern kann) recherchiert Historisches Frauenschicksal. Biografie einer histo- und inszeniert. Dabei kann die Historische Milieustudie risch belegten Frau und damit immer eine Form des BIO- durchaus die Grandezza und Extravaganz eines AUS- PICS und/oder des DOKU-DRAMAS. Als solches entwirft STATTUNGS- UND KOSTÜMFILMS annehmen. Ebenso oft es die fiktionalisierte Biografie berühmter Frauen (Köni- verzichtet sie jedoch bewusst auf solche großen Gesten ginnen, Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen, KÜNSTLER- und schildert – freilich mit derselben Genauigkeit – in GESTALTEN etc.), stellt sie in ihren historischen Kontext, einer GESELLSCHAFTSKRITIK das Lebensgefühl von sozia- würdigt ihre Leistungen und arbeitet ihre Bedeutung für len Umfeldern, die sich fernab von Prunk und Pracht be- die Nachwelt heraus. Dabei wird selten das ganze Leben finden. Außerdem birgt sie das Potenzial zur PARABEL, verfilmt, stattdessen konzentriert man sich auf die als die Vertrautes im Unvertrauten und zeitgenössische zentral erachteten Lebensabschnitte. Und: Nicht immer Konflikte in Konstellationen vergangener Zeiten zu ver- sind die porträtierten Frauen bereits bekannt; manche stecken vermag. gelangen erst durch die Verfilmung ihres Lebens in den Vgl. dagegen die HISTORISCHE REKONSTRUKTION, die Kanon der Berühmtheiten. Der Unterschied zur «männli- sich an einem verbürgten historischen Ereignis oder ei- chen» Variante des Biopics besteht darin, dass die nem AUTHENTISCHEN FALL orientiert und versucht, ihn Frauenfiguren – analog zur jahrhundertealten männli- im Format eines (mehr oder weniger auf Authentizität chen Geschichtsschreibung – auffallend oft an der Seite ausgerichteten) Spielfilms wiederzugeben. phb «bedeutender» Männer stehen, während das Umgekeh- rte weitaus seltener der Fall ist. Außerdem tendieren die Beispiele: DANGEROUS LIAISONS (Stephen Frears, USA/GB 1988) Verfilmungen der Frauenschicksale mehr zu AUSSTAT- THE AGE OF INNOCENCE (Martin Scorsese, USA 1993) TUNGS- UND KOSTÜMFILM sowie MELODRAM und THE ICE STORM (Ang Lee, USA 1997) betonen das Private, wogegen Männerschicksale eher als CHARAKTERSTUDIEN daher kommen, die das Öffentliche der Figur ausloten. So oder so ist das historische Frauen- Historische Rekonstruktion. Spielfilm, dessen Handl- schicksal eines der wenigen Formate, das Charakter- ung sich an einem verbürgten historischen Ereignis oder schauspielerinnen – besonders jenen über Dreißig – einem AUTHENTISCHEN FALL orientiert und der versucht, große Rollen anbietet. phb dieses Geschehnis (die Krönung Napoleons, die Invasion Beispiele: in der Normandie o. ä.) mit filmischen Mitteln zu rekon- QUEEN CHRISTINA (Rouben Mamoulian, USA 1933) 40 Glossar

SISSI (Ernst Marischka, A 1955) wendet wird, wenn der vermeintlich anstößige Begriff der ROSA LUXEMBURG (Margarethe von Trotta, BRD 1985) HOMOSEXUALITÄT durch ein Wort ersetzen werden soll, ARTEMISIA (Agnès Merlet, F/D/I 1997) das weniger nach explizitem Sex und mehr nach harm- loser Schwärmerei klingt; gemeint ist freilich meist das- selbe. Hier gilt er für das unterschwellige, indirekte Holocaust. Motiv in allen filmischen Gattungen. Der Be- Evozieren gleichgeschlechtlichen Begehrens. HOMO- griff meint allgemein den systematisch betriebenen Mord SEXUALITÄT ist in diesen Filmen zwar gemeint (selten im an einer großen Zahl von Menschen oder eines ganzen positiven, oft im negativen Sinn), aber niemals direkt Volkes, insbesondere aber die Shoah, den GENOZID am ausgesprochen – sei es aus Angst davor, zum ZENSUR- europäischen JUDENTUM in der Zeit des NATIONAL- FALL zu werden oder davor, das gutbürgerliche Main- SOZIALISMUS und während des ZWEITEN WELTKRIEGS. stream-Publikum vor den Kopf zu stoßen. Negative Das Spektrum an Genres ist breit und reicht von HUMA- Schilderungen dieses Begehrens richten sich an ein NITÄREN und INSZENIERTEN DOKUMENTARFILMEN heterosexuelles Publikum, beschränken sich auf gängige über KOMPILATIONSFILME, von JUSTIZDRAMEN über Vorurteile und haben abschreckende Funktion. Positive (ANTI-)KRIEGSFILME, von LITERATUR- über LYRIKVER- Schilderungen richten sich an ein schwules und/oder les- FILMUNGEN zu ICHERZÄHLUNGEN und AUTOBIO- bisches Publikum, sind im Mainstream vorsichtigt dosiert GRAFIEN. Die moralischen Anforderungen an die filmi- und tendeziell hoch codiert. Sie funktionieren im Sinn sche Behandlung des Themas sind besonders hoch, und einer zweiten Lesart, die nur dann rezipiert werden kann, der Grundton bleibt – bei aller Verschiedenheit der Zu- wenn das Publikum über die entsprechenden visuellen gänge und von einzelnen Entgleisungen abgesehen – in und verbalen Codes verfügt. der Regel sehr ernst. Gleichzeitig gilt es als äußerst hei- Vgl. dagegen die HOMOSEXUALITÄT, die hier als explizit kel, das Entsetzen des Holocaust in komischen Genres zu geführter Diskurs verstanden wird, sei es auf sprachlicher thematisieren. phb oder visueller Ebene. phb Beispiele: Beispiele: NUIT ET BROUILLARD (Alain Resnais, F 1955) REBECCA (Alfred Hitchcock, USA 1940) NACKT UNTER WÖLFEN (Frank Beyer, DDR 1962) MEPHISTO (István Szabó, H/BRD/A 1980) HOTEL TERMINUS … (Marcel Ophüls, F 1988) INTERVIEW WITH THE VAMPIRE (Neil Jordan, USA 1994)

Home movie. Eine Variante des AMATEURFILMS, die Homosexualität. Motiv in allen Filmgattungen, ver- wie dieser außerhalb professioneller Produktionsbedin- standen als explizit geführter Diskurs über gleichge- gungen entsteht. Home Movies gelangen kaum je außer- schlechtliche SEXUALITÄT, sei es auf visueller oder verba- halb eines privaten Rahmens zur Aufführung. Ihre ler Ebene. Die Art, wie das geschieht, sagt etwas aus zentrale Funktion ist die der privaten Erinnerung, ihr über die in einer (heterosexuellen) Gesellschaft kursie- Gegenstand die Familie zu Hause und im Urlaub, in mehr renden Vorstellungen und Vorurteile. Jahrhundertelang oder weniger humorvollen, alltäglichen oder pikanten als Bedrohung männlicher Heterosexualität (und also der Situationen. Gedreht wird seit den 1920er Jahren auf 16- Gesellschaft) begriffen, wird der filmische Diskurs über mm- und 9,6-mm-Material, seit den 1960er Jahren auf Homosexualität für Jahrzehnte verboten, gemieden oder Super-8 und schließlich mit Video- und digitalen Ka- auf Klischees reduziert, deren Verkörperung der effe- meras. Neuere theoretische Ansätze gehen davon aus, minierte SCHWULE und die maskuline LESBE sind. Mit dass Home movies und Amateurfilme für ihr Zielpublikum Beginn der Schwulen- und Lesbenbewegung (besonders (Familie, Freundeskreis) funktionieren, nicht obwohl, son- Stonewall 1969) hat sich die Rigorosität der Vorurteile dern weil sie unter professionellen Gesichtspunkten aufgeweicht, obschon manche sich lediglich ins Positive «schlecht» gemacht sind. Gerade dadurch treten sie mit gekehrt haben und andere sich hartnäckig halten. Seit den tatsächlichen Erinnerungen des Publikums nicht in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren entsteht im Konflikt und ermöglichen den Beteiligten, Erlebtes nach Rahmen des QUEER CINEMA ein Kino, das abseits des eigenem Ermessen zu erinnern – wogegen eine höhere Mainstream von Schwulen und Lesben für Schwule und Professionalität der Bilder die eigentlichen Erinnerungen Lesben gemacht wird und in dessen Zentrum homo- in den Hintergrund rücken würde. Im sozialhistorisch en- sexuelle Lebenslogiken und Erfahrungshorizonte stehen. gagierten DOKUMENTARFILM und EXPERIMENTALFILM Nicht in jedem dieser Filme steht der Diskurs über Homo- werden Home movies (oft als FOUND FOOTAGE) in sexualität im Vordergrund: Zunehmend entstehen selbst- KOMPILATIONSFILME integriert. Der Spielfilm bedient bewusste LIEBESGESCHICHTEN, CHARAKTERSTUDIEN, sich besonders dann der (nun sehr professionell ange- DOKUMENTARFILME und KOMÖDIEN, in denen sich gangenen) Formensprache des Home movies, wenn es schwule und lesbische (Haupt-)Figuren bewegen dürfen, etwa in PARODIEN und SATIREN gilt, (Klein-)Bürgerliches ohne dass ihre Existenz gerechtfertigt werden müsste, auf die Schippe zu nehmen. wie es im Mainstream geschieht, indem man sie an tap- Vgl. FAMILIENKINO. phb fere GESELLSCHAFTSKRITIK, politisch korrekte THESEN- Beispiele: FILME oder MORALISCHE RÜHRSTÜCKE bindet. MES PARENTS UN JOUR D'ÉTÉ (François Ozon, F 1990) Vgl. HOMOEROTIK, die das unterschwellige, indirekte ALPSEE (Matthias Müller, D 1994) Schildern gleichgeschlechtlichen Begehrens meint. phb PHOTO DE FAMILLE (François Ozon, F 1998) Beispiele: CABARET (Bob Fosse, USA 1972) UNE ROBE D'ÉTÉ (François Ozon, F 1996) Homoerotik. Der Begriff blickt auf eine problematische SCHWULER MUT (Rosa von Praunheim, D 1997) Geschichte zurück und ist im Alltag bis heute eine Art terminologische Verlegenheitslösung, die dann ver- Glossar 41

Hörigkeit. Motiv im Spielfilm, das oft als wesentliches re, das mit starken Reizen operiert – denn schon der Merkmal einer furiosen AMOUR FOU fungiert oder in HORRORFILM bewegt sich oft an der Grenze zwischen BEZIEHUNGS- oder EHEDRAMEN das Zusammenleben seriösem Grauen und einer PARODIE seiner selbst. phb zweier Figuren charakterisiert, die in tiefer ein- oder ge- Beispiele: genseitiger Abhängigkeit zueinander stehen und in aller THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW (Jim Sharman, GB 1974) Regel eine TRAGISCHE LIEBE leben. Allerdings muss Hö- GREMLINS (Joe Dante, USA 1984) rigkeit nicht zwingend im Kontext von SEXUALITÄT ste- hen – auch wenn sie das in filmischen Darstellungen oft (und oft aus schlüpfrigen Gründen) tut. Im Vordergrund Horse opera s. SINGING WESTERN kann auch die Geschichte über ein fundamentales IDEN- TITÄTSPROBLEM stehen, das den Protagonisten oder die Protagonistin bis zur Selbstaufgabe führt. Bei asymme- Hotelfilm. Genre, das sich über seinen Schauplatz und trischen Abhängigkeitsverhältnissen ist eine Tendenz zum dessen besondere ARCHITEKTUR definiert und das – wie SADOMASOCHISMUS zu verzeichnen, außerdem werden der Hotelroman – vor allem im Europa der 1930er Jahre diese Fälle gern mit der Figur des MENACING HUSBAND, beliebt war. Das Hotel bietet die Möglichkeit spezifischer der MENACING WIFE oder der FEMME FATALE gekop- Figurenkonstellationen wie GRUPPENPORTRÄT oder pelt. Die Hörigkeit von Frauen gegenüber Männern wird SCHICKSALSGEMEINSCHAFT: Die Mischung von Hotel- nicht selten als etwas (für das männliche Zielpublikum) personal, das immer in die Handlung eingebunden ist, Prickelndes inszeniert, während der umgekehrte Fall für und Hotelgästen, deren VertreterInnen oft etagenweise deutlich mehr Verängstigung sorgen soll. nach Preisklassen sortiert sind und sich in Aufzügen und Vgl. die OBESSION, die eine pathologische Zwangsidee Gesellschaftsräumen begegnen, gibt Anlass zu einem ist, deren Objekt die verschiedensten Dinge und Sachver- Querschnitt durch unterschiedlichste soziale Schichten. Es halte sein können. phb geht um AUFSTEIGERINNEN, DIVEN und GEFALLENE Beispiele: FRAUEN, um KÜNSTLERGESTALTEN, entmachtete Prin- OSSESSIONE (Luchino Visconti, I 1942) zen, ARZTFIGUREN und PRIVATDETEKTIVE. Ihre Funktion IL PORTIERE DI NOTTE (Liliana Cavani, I 1973) besteht darin, die einzelnen, parallel geschalteten Hand- AI NO CORRIDA (Nagisa Oshima, J 1976) lungsstränge zu verzahnen, die als BEZIEHUNGSDRAMA, VERWECHSLUNGSKOMÖDIE, WHODUNIT oder anderes daher kommen können. phb Horrorfilm. Mit Beginn des Tonfilms voll entfaltetes Genre, das auf Elemente der PHANTASTIK aus dem Beispiele: SAVOY-HOTEL 217 (Gustav Ucicky, D 1936) deutschen Stummfilm zurückgreift. Zentrales Merkmal ist PALACE HOTEL (Leonard Steckel, Emil Berna, CH 1952) die Erzeugung von Angst vor dem Unbekannten, Über- HORS SAISON (Daniel Schmid, CH 1992) mächtigen und Destruktiven. Dies geschieht durch eine bestimmte Ästhetik, Handlungsmuster, Orte, Figuren und Motive – und stets im Einverständnis mit dem Publikum, Humanitärer Dokumentarfilm. Variante des DOKU- an dessen Angstlust letztlich appelliert wird. Figuren- MENTARFILMS, dessen Hauptanliegen darin besteht, auf typen wie Vampire und KÜNSTLICHE MENSCHENWESEN das grundsätzlich Gute im Menschen zu verweisen und sind freilich schon im deutschen EXPRESSIONISMUS der zu zeigen, wieviel Kreativität, Intelligenz, Güte und Hu- 1920er Jahre vertreten. Die Klassiker des Genres ent- mor, aber auch Leidensfähigkeit in ihm vorhanden sind. stehen jedoch im Hollywood der 1930er Jahre, wo MAD Der Fokus liegt oft auf gesellschaftlichen Außenseiter- SCIENTISTS, Werwölfe, MONSTER, Katzenmenschen, gruppen und auf damit verwobenen Motiven. Entspre- ZOMBIES, PATHOLOGISCHE KILLER u. ä. hinzu stoßen. chend positiv werden Minderheiten und SUBKULTUREN Die Angst auslösende Bedrohung kann unmittelbar an porträtiert und Fragen über MINORITÄTSPROBLEME, diese Figuren gebunden oder als ungreifbare Atmosphäre KULTURKONTRASTE und EMIGRATION, aber auch HO- inszeniert sein. Oft werden Elemente des Horrorfilms und MOSEXUALITÄT, GENERATIONENBEZIEHUNGEN, BEHIN- der SCIENCE FICTION miteinander verschmolzen, etwa DERUNG, BÄUERLICHES LEBEN etc. einfühlsam geschil- wenn das Unheimliche als Ergebnis unkontrollierten tech- dert. Außerdem werden soziale und politische Miss- nischen Fortschritts in den Alltag einbricht. stände angeklagt, die das Potenzial des Menschen Vgl. die Varianten ÜBERSINNLICHER HORROR, HORROR- schmälern: das Leben in TRABANTENSTÄDTEN, Arbeits- KOMÖDIE und VAMPIRFILM. phb losigkeit, KRIEG, PROSTITUTION, APARTHEID, JUGEND- Beispiele: KRIMINALITÄT etc. Die Wirkungsabsicht der Filme FRANKENSTEIN (James Whale, USA 1931) besteht darin, ethnozentrische, schichtspezifische u. a. PEEPING TOM (Michael Powell, GB 1960) Vorurteile und Chauvinismen abzubauen und zur Grün- JAWS (Steven Spielberg, USA 1975) dung einer family of man aufzurufen. Insofern beinhalten humanitäre Dokumentarfilme immer ein gewisses Maß an SYSTEMKRITIK. Horrorkomödie. Mischung aus KOMÖDIE und HOR- Eine Nähe zum tendenziell wissenschaftlichen ETHNO- ROFILM, in der es im Gegensatz zu gemütlich-gruseligen GRAFISCHEN FILM besteht dann, wenn das Anliegen be- Fromen wie GESPENSTERGESCHICHTEN um echten drohter Ethnien auf Erhaltung ihrer Lebensgrundlagen Schrecken in Gestalt von toten oder lebenden Leichna- und ihre Schutzwürdigkeit betont werden. phb men, Kannibalismus, Irresein und andere PERVERSIONEN geht. Angstlust entsteht zwar, wird aber jeweils durch Beispiele: ENLIGT LAG (Peter Weiss, Hans Nordenstrom, S 1956) Humor gebrochen, bevor die Angst zu stark wird. BEHINDERTE LIEBE (Marlies Graf, CH 1979) Horrorkomödien sind insgesamt ein relativ schrilles Gen- LES VIVANTS ET LES MORTS DE SARAJEVO (R. Tadic, F 1993) 42 Glossar

Introspektionen, Beschreibungen psychischer Prozesse und subtiler Stimmungen im Vordergrund, die vor allem I mit den formalen Mitteln der mobilen Kamera, mit Dop- pelbelichtungen, Zerrbildern u. a. optischen Effekten Icherzählung. Analog zur Literaturwissenschaft ge- erreicht werden (vgl. TRICK). Dennoch, bei aller fasster narratologischer Begriff. Grundsätzlich fällt es antiliterarischen Grundhaltung des Impressionismus blei- dem Spielfilm schwer, eine eigentliche Ichperspektive zu ben die Filme in ihrer Grundform narrativ und erzählen verwirklichen, weil er – wie das Drama, aber im Unter- Geschichten – ganz im Unterschied zur AVANTGARDE schied zum Roman – nicht über eine persönliche Er- DER 1920ER, die auf das Erzählerische weitgehend ver- zählinstanz verfügt, die von einer Ichfigur eingenommen zichtet. phb werden könnte. Konsequenterweise behilft er sich mit Annäherungen, die im individuellen Film stellenweise Beispiele: vorgenommen werden und in ihrer Gesamtheit dem Film ROSE-FRANCE (Marcel L'Herbier, F 1918) den Charakter einer Icherzählung verleihen. Man verfährt FIÈVRE (Louis Delluc, F 1921) über eine Ichstimme, die sich als VOICE-OVER ab und zu LA SOURIANTE MADAME BEUDET (Germaine Dulac, F 1923) LA ROUE (Abel Gance, F 1923) über die Bilder legt, oder arbeitet verstärkt mit LA CHUTE DE LA MAISON USHER (Jean Epstein, F 1928) subjektiver Kamera. Diese Art der filmischen Icherzählung ist durchaus gängig und deckt die unterschiedlichsten Genres ab. Der literarischen Icherzählung vergleichbare Improvisation. Eine Form des Schauspiels oder der sze- «absolute» Ichfilme sind dagegen äusserst selten; sie nischen Gestaltung, bei der der Dialog, die Bewegungen müssten von einem (fiktionalen) Filmemacher gedreht zu im Raum oder der Umgang mit Objekten nicht durch das sein scheinen, auf dessen Konto die gesamte filmische Drehbuch vorgegeben sind. Die Szene oder die Handlung Artikulation ginge. Absolute Ichfilme sind daher in der der Figuren ist allenfalls grob skizziert, und der Regisseur Regel EXPERIMENTELLE SPIELFILME. Vgl. das ähnlich ge- lässt den DarstellerInnen – oft, aber keinesfalls immer lagerte Problem der AUTOBIOGRAFIE. phb LAIENDARSTELLER – freie Gestaltungsmöglichkeit, eine Beispiele: Szene konkret umzusetzen. Filme sind oft nicht als Gan- LADY IN THE LAKE (Robert Montgomery, USA 1947) zes improvisiert, sondern enthalten improvisierte Sequen- DAVID HOLZMAN'S DIARY (Jim McBride, USA 1967) zen. phb UNE LIAISON PORNOGRAPHIQUE (F. Fonteyne, B/F/L/CH 1999) Beispiele: WARUM LÄUFT HERR R. AMOK? (R. W. Fassbinder, BRD 1969) HUSBANDS (John Cassavetes, USA 1970) Identitätsproblem. Motiv in Spielfilmen, die Wert auf DER RUF DER SIBYLLA (Clemens Klopfenstein, CH 1985) psychologisch ausdifferenzierte Figuren legen und oft IDIOTERNE (Lars von Trier, DK 1998) einen ernsten oder gar düsteren Ton anschlagen: allen voran die CHARAKTERSTUDIE, aber auch das MELO- DRAM oder der PSYCHOTHRILLER. Im Zentrum steht die IndianerInnen. Figuren vor allem im WESTERN (insbe- als problematisch empfundene Unsicherheit über die sondere dem INDIANERWESTERN), aber auch in HISTO- eigene – soziale, sexuelle, politische, psychische – Identi- RISCHEN MILIEUSTUDIEN und REKONSTRUKTIONEN und tät, die verschieden ausformuliert werden kann: Ideal- MONUMENTALFILMEN. Natürlich stammt kaum einer typisch, da sozusagen «natürlich» sich ergebend, wenn dieser Filme von indianischen RegisseurInnen, ent- mit den Motiven ADOLESZENZ und (HOMO-) SEXUALI- sprechend wenig verwundert die jahrzehntelange, oft TÄT verbunden; zugespitzt, wenn mit KRANKHEIT (etwa grotesk verzerrte Sichtweise: IndianerInnen werden als Amnesie oder Schizophrenie) und PSYCHIATRIE ver- die wilden Anderen dargestellt, ihre dramaturgische knüpft; metaphorisch, wenn als PARABEL konzipiert und Funktion erschöpft sich in der Bedrohung, allenfalls im mit REISEN oder IRRFAHRTEN verwoben (vgl. ROAD- exotischen Reiz, und ihre regelmäßige Niederlage zum MOVIE). ZWILLINGE und DOPPELGÄNGER stellen inso- Filmende wird als Happy-End inszeniert. Dieser Blick fern eine Steigerung der Identitätsproblems dar, als sie ändert sich im PROBLEMWESTERN, der behutsamer und die tief verankerte Angst vor der Einzigartigkeit und Un- kritischer vorgeht. Eine massive Veränderung in der versehrtheit der eigenen Identität verkörpern. phb Inszenierung von IndianerInnen geschieht jedoch vor Beispiele: allem außerhalb des Western, in Filmen von indianischen POPOL I DIAMENT (Andrzej Wajda, PL 1958) FilmemacherInnen selbst: In HUMANITÄREN DOKUMEN- CLÉO DE 5 À 7 (Agnès Varda, F 1961) TARFILMEN, häufig im Rahmen des ETHNOGRAFISCHEN ABRE LOS OJOS (Alejandro Amenábar, E/F/I 1997) FILMS, werden endlich kulturelle Eigenständigkeiten ins Blickfeld gerückt und/oder allzu lange verschwiegene Themen wie GENOZID, KULTURKONTRAST und MINO- Impressionismus. In Anlehnung an die gleichnamige RITÄTSPROBLEME erfasst. phb Stilbewegung in der französischen MALEREI des späten 19. Jahrhunderts benannte Stilrichtung der 1920er Jahre. Beispiele: ITAM HAKIM, HOPIIT (Victor Masayesva, USA 1984) Zu ihren HauptvertreterInnen gehören Germaine Dulac, KA-HEY. ICH GRÜSSE DICH (Elfi Mikesch, D 1999) Jean Epstein, Abel Gance, Marcel L'Herbier und Louis COMING TO LIGHT ... (Anne Makepeace, USA 2000) Delluc, die den Film aus den Fesseln der Literatur befreien wollen; insofern sind ihre Werke auch als Ge- genreaktion zur Bewegung des FILM D'ART zu verstehen. Indianerwestern. Eine der zentralen Spielarten des In ihrem Zentrum steht das fragmentierte subjektive WESTERN. Traditionellerweise werden die INDIANERIN- Moment, das gerade nicht in konventionelle Modelle fil- NEN als die Wilden, die Anderen dargestellt. Ihre dra- mischer Erzählung übertragen wird. Stattdessen stehen Glossar 43 matische Funktion ist die der Bedrohung und Störung, schaften, GEFÄNGNISSE, Arbeitsämter, SCHULEN etc. ihre Niederlage wird als Happy-End gezeigt. Eine subjek- werden in ihren spezifisch hierarchischen Strukturen und tive Perspektive wird ihnen selten zugestanden, Phanta- in ihrer Alltagsfunktion vorgestellt, im Rahmen einer siegebilde ersetzen ethnografische Details, und kaum GESELLSCHAFTSKRITIK analysiert oder zum Schauplatz jemals wird mit indianischen SchauspielerInnen gearbei- eines querschnitthaft zusammengestellten EPISODEN- tet. Eine differenziertere oder authentischere Sicht bleibt FILMS gemacht. Die Dramaturgie solcher Filme entspricht bis in die 1960er Jahre die Ausnahme. Seitdem hat sich nicht selten dem Prinzip der Reihung, ihr Stil ist oft einem das politische Bewusstsein und damit das Gesicht des Realismus verpflichtet. Das Motiv ist regelmässig in der Genres so stark gewandelt, dass Indianerwestern heute MILIEUSTUDIE anzutreffen, wobei gelegentlich mit meist indianische Protagonisten, aber auch folkloristische LAIENDARSTELLERN gearbeitet wird. Die Institution – Komponenten aufweisen. phb besonders die des Fürstenhofs – kann jedoch auch die Voraussetzung für die INTRIGENSPIELE eines sich darin Beispiele: THE MASSACRE (David Wark Griffith, USA 1913) bewegenden FIGURENMOSAIKS sein. phb STAGE COACH (John Ford, USA 1939) Beispiele: THE UNFORGIVEN (John Huston, USA 1960) LA DENTELLIÈRE (Claude Goretta, CH 1976) HOMBRE (Martin Ritt, USA 1967) BRITANNIA HOSPITAL (Lindsay Anderson, GB 1982) IL BACIO DI TOSCA (Daniel Schmid, CH 1984) IL NOME DELLA ROSA (Jean-Jacques Annaud, BRD/IF 1986) Industriefilm. Filmische Gattung, die abseits von Kino DIE BÖSEN BUBEN (Bruno Moll, CH 1993) oder FERNSEHEN existiert und in erster Linie die eigent- liche Zielgruppe erreicht: Angehörige, Aktionäre und Kunden bestimmter Industriezweige, die mithilfe filmi- Inszenierter Dokumentarfilm. Eine hybride Film- scher Dokumentationen über technische und wirt- gattung insofern, als ein mehrheitlich ungestellter DO- schaftliche Entwicklungen unterrichtet werden sollen. Da KUMENTARFILM Anteile aufweist, die eigens für ihn Industriefilme in der Regel von der porträtierten Firma inszeniert worden sind. Dies geschieht etwa dann, wenn oder Gesellschaft selbst finanziert wird, kommt ihnen Sachverhalte illustriert werden sollen, zu denen kein Bild- häufig eine dem WERBEFILM ähnliche Promotions- material existiert. Dabei werden zum Beispiel vergangene funktion zu. Allerdings gibt es – auf der Produktionsseite Ereignisse nachgestellt, möglichst mit den Beteiligten – Überschneidungen mit anderen filmischen Formen: Der und am authentischen Schauplatz oder auch als Neu- Industriefilm bedient sich durchaus dokumentarischer schöpfung mit SchauspielerInnen. Die inszenierten An- oder sogar experimenteller Darstellungsformen, außer- teile sind grundsätzlich von der Absicht getragen, das dem bietet er FilmemacherInnen anderer Sparten oft vor- Publikum auf die Realität zurückzuverweisen (und nicht übergehend Arbeit. phb etwa vom Wunsch, sie in eine fiktionale Illusion ein- tauchen zu lassen). Beispiel: Vgl. im Unterschied dazu den PSEUDO-DOKUMENTAR- LA FABRICATION DE L'HORLOGERIE … (anonym, CH 1926) DIE REICHSBAHN UNTERFÄHRT BERLIN (anonym, D 1935) FILM, der zwar behauptet, ein Dokumentarfilm zu sein, in Wahrheit aber ein Spielfilm ist, der sich «lediglich» der Konventionen des Dokumentarfilms bedient und (meist) Initiation. Motiv, dessen Dramaturgie sich an außer- als solcher wahrgenommen werden will. Anders als der filmischen Initiationsriten orientiert: Es geht um die an inszenierte Dokumentarfilm ist der PSEUDO-DOKUMEN- bestimmte Eingangsprüfungen geknüpfte Aufnahme in TARFILM sozusagen eine Fälschung. Ähnlich verhalten eine Gruppe, wobei die Prüfung meist eine sadistische sich die GESTELLTEN SZENEN in der frühen Kinemato- Grundnote aufweist (vgl. SADOMASOCHISMUS). Dabei grafie. phb stehen die neu Aufzunehmenden der bereits etablierten Beispiele: Gruppe gegenüber, ihre Naivität und Verletzlichkeit kon- FEIND IM BLUT (Walter Ruttmann, CH 1931) trastiert mit deren Abgeklärtheit, Sicherheit und ge- UMBRUCH – DIE SCHWEIZER BAUERN … (CH 2002) gebenenfalls Grausamkeit. Identifikationsfiguren sind dabei typischerweise die InitiandInnen. Initiationsriten finden sich besonders häufig im TEENAGERKINO, wo die Intertextualität. Eigentlich der Bezug zwischen Texten. Protagonisten mehrheitlich männlich sind. Weibliche Davon ausgehend existieren zwei konkurrierende Vor- Figuren finden sich dagegen häufig im (SOFT-)PORNO, stellungen. (1) Die poststrukturalistische Konzeption wo (junge) Frauen den von Männern definierten Initia- (Kristeva, Barthes, Derrida) geht davon aus, dass jeder tionsriten zugeteilt werden. phb Text in all seinen Elementen intertextuell ist, d. h. auf an- dere Texte verweist oder aus Echos anderer Texte be- Beispiele: steht. Es gibt also nicht mehr von Subjekten verfasste YOU'RE A BIG BOY NOW (Francis Ford Coppola, USA 1966) THE GRADUATE (Mike Nichols, USA 1967) Texte, sondern nur noch einen umfassenden Intertext. (2) LAURA, LES OMBRES DE L'ÉTÉ (David Hamilton, F 1979) Demgegenüber beschränkt sich ein enger gefasster STAND BY ME (Rob Reiner, USA 1986) Begriff auf nachweisbare Bezüge zwischen Texten. So sind hier bewusste oder unbewusste Bezugnahmen ver- schiedener Werke aufeinander gemeint, seien diese aus Institution. Schauplatz und Motiv im DOKU- demselben medialen Bereich oder intermedial. Im Film MENTARFILM, aber auch in Spielfilmen, die dem Konzept hat diese Art von Intertextualität seit den 1980er Jahren folgen, nicht psychologisch motivierte Einzelschicksale sprunghaft zugenommen, da mit Fernsehen, Video und und Konflikte zu porträtieren, sondern Leben und Wesen Programmkinos die gesamte Filmgeschichte verfügbar – einer Institution: Krankenhäuser, Flüchtlings-LAGER, Bot- und damit zitierbar – geworden ist. Intertextualität ist bei 44 Glossar jeder PARODIE und TRAVESTIE, jeder LITERATUR-, Investigativer Dokumentarfilm. Variante des DOKU- LYRIK- und TAGEBUCHVERFILMUNG, jedem REMAKE, MENTARFILMS, dessen Ziel in erster Linie darin besteht, TRAILER und PREQUEL gegeben. Weniger systematische einen wenig bekannten Sachverhalt aus neuer Perspek- Verfahrensweisen setzen auf Zitate früherer Rollen der tive zu beleuchten oder überhaupt erst ans Tageslicht zu SchauspielerInnen, wörtliche Übernahmen von Dialog- bringen. Anders als der HUMANITÄRE DOKUMENTAR- passagen, MUSIK-Zitate, formale Anklänge an Kamera- FILM, der auf das grundsätzlich Gute im Menschen ver- bewegungen, Verwendungen erkennbarer Handlungs- weist, und im Unterschied zur LANGZEITSTUDIE, die Versatzstücke etc. langsame, mehrere Generationen übergreifende Verän- Vgl. POSTMODERNE. phb derungen und Verschiebungsprozesse beobachtet, hat der investigative Dokumentarfilm einen anklagenden Beispiele: SINGIN' IN THE RAIN (Gene Kelly, Stanley Donen, USA 1952) Ton: Er fokussiert einzelne Ereignisse meist aus der ZEIT- À BOUT DE SOUFFLE (Jean-Luc Godard, F 1960) GESCHICHTE und will über sie und ihre Hintergründe auf- 8 FEMMES (François Ozon, F 2002) klären – womit er (im Fall von politisch brisanten The- men) oft auch gleichzeitig die Verschleierungspolitik der Behörden anklagt und damit GESELLSCHAFTS- oder gar Interview. Methode vor allem im DOKUMENTARFILM SYSTEMKRITIK übt. Insofern stehen sein Zugang und sei- und natürlich Wesensmerkmal des ursprünglich aus der ne Methoden in beabsichtigter Nähe zum Journalismus, Sozialgeschichte stammenden Vorgehens der ORAL HIS- und wie dort steht seriöse Aufklärung neben sensa- TORY. Über das Mittel des Gesprächs werden Facetten tionsheischender Enthüllung. phb eines Themas, einer Person (vor allem im DOKU-PORT- Beispiele: RÄT oder in der FILMHISTORISCHEN DOKUMENTATION) DER KUNDE IST KÖNIG (Josy Meier, CH 1991) oder einer historischen Epoche (vor allem der ZEITGES- BERUF NEONAZI (Winfried Bonengel, D 1993 CHICHTE) ausgelotet. Das Ziel des Interviews kann unter- ONE DAY IN SEPTEMBER (Kevin Macdonald, CH/D/GB 1999) schiedlich gelagert sein: Während manche mit Blick auf die «großen» Ereignisse der Personen- oder Politik- geschichte angelegt sind, verzichten andere bewusst auf Inzest. Motiv, das in vertikaler (zwischen Generationen) eine solche Ausrichtung und orientieren sich stattdessen oder horizontaler Ausprägung (zwischen Geschwistern) in an einer Gesichte des Alltags – um so entlegene oder je unterschiedlichen Filmsorten erscheint. Der vertikale lange Zeit vernachläßigte Gebiete der Geschichte in den Inzest wird tendenziell in den Genres FAMILIENDRAMA, gesellschaftlichen Fokus zu rücken. Je nach Interview- TEENAGERFILM, FRAUENFILM behandelt und oft im Konzept geht es dabei nicht immer um harte Fakten. realistischen Stil der GESELLSCHAFTSKRITIK umgesetzt. Viele Gespräche sind so aufgebaut, dass sie den Inter- Der horizontale Inzest begegnet eher im Kontext von DE- viewten viel Raum (zum Nachdenken, Abschweifen, Aus- KADENZ und HÖRIGKEIT, tritt oft in LITERATURVER- führen) lassen, und oft gibt das Nicht-Gesagte, Ausge- FILMUNGEN auf oder in Autorenfilmen mit ABWEICHEN- sparte oder Mitgemeinte mehr Aufschluss über einen DEN ERZÄHLMUSTERN, subjektivierender oder psycholo- Sachverhalt als das eigentlich Gesagte. phb gisierender Darstellung. Mit den ihm eigenen Zielsetzun- gen bedient sich oft auch der (SOFT-)PORNO des Motivs. Beispiele: COMIZI D'AMORE (Pier Paolo Pasolini, I 1963) In der KOMÖDIE dagegen ist es selten anzutreffen. In ROMY – PORTRÄT EINES … (H.-J. Syberberg, BRD 1965) Zeiten empfindlicher Zensurbehörden werden inzestuöse IM TOTEN WINKEL … (A. Heller, O. Schmiederer, A 2002) Verhältnisse allenfalls indirekt suggeriert. phb Beispiele: VAGHE STELLE DELL'ORSA (Luchino Visconti, I 1964) Intrigenspiel. Motiv und Handlungsmuster zugleich, HÖHENFEUER (Fredi M. Murer, CH 1985) das eigentlich für die Bühne entworfen wurde, wo bevor- FESTEN (Thomas Vinterberg, DK 1997) zugt Intrigen in höfischen Zusammenhängen gezeigt wurden. Voraussetzung für Intrigenspiele ist ein Milieu oder eine INSTITUTION mit spezifisch hierarchischem Ge- Irrfahrt. Motiv und Erzählmuster zugleich. Als Gründe füge oder jedenfalls ein überschaubares FIGUREN- für eine Irrfahrt sind FLUCHT und VERFOLGUNG denkbar, MOSAIK oder GRUPPENPORTRÄT von konkurrierenden ALPTRAUMHAFTE VERSTRICKUNGEN oder IDENTITÄTS- Individuen, die sich gegenseitig zu Fall bringen wollen PROBLEME, die die Figuren zu einer besonderen Art der und dabei mit- und gegeneinander paktieren. Zu den REISE antreiben. Im weiteren Sinn sind Irrfahrten tenden- wiederkehrenden, für Intrigen geradezu prädisponierten ziell offen und ohne Ziel; insofern können sie die Gestalt Motiven gehören das THEATERMILIEU (im Grunde aber einer DYSTOPIE oder gar ENDZEITVISION annehmen. Da- Künstlerberufe überhaupt), die ARISTOKRATIE, aber auch gegen ist eine «Odyssee» im engeren (und meta- die oberen Etagen von Finanz und Politik. Weitere Merk- phorischen) Sinn eher auf ein Ziel, ein Heimkehren aus- male sind die oft stattliche Menge gleichberechtigter gerichtet, obschon dies den Reisenden nicht immer Hauptfiguren, die Tendenz zur Dialoglastigkeit der Hand- bewusst sein muss. Das Motiv eignet sich zum einen für lung sowie die Ambivalenz der Sympathiebildung, da In- CHARAKTERSTUDIEN von Figuren, die an geografische trigantInnen typischerweise schillernde Charaktere sind. und seelische Randregionen geführt werden; zum ande- phb ren aber auch für ALLEGORIEN und PARABELN, die an- Beispiele: hand der Irrfahrt einer Einzelfigur über die prekäre LES LIAISONS DANGEREUSES (Roger Vadim, F 1959) Orientierungslosigkeit, das fundamentale Suchen einer FARAON (Jerzy Kawalerowicz, PL 1965) Gesellschaft oder einer Epoche nachdenken. DANGEROUS LIAISONS (Stephen Frears, GB/USA 1989) Zum griechischen Stoff der Odyssee vgl. MYTHOS; außer- dem die REISE, die typischerweise geplant und organi- Glossar 45 siert ist und von Anfang an ein Ende, d. h. ein Ziel hat; Jazz. Musikalische Stilrichtung, die Ende des 19. Jh. aus schließlich das ROADMOVIE, das «maskuliner» daher einem Verschmelzungprozess von Elementen afroameri- kommt, mehr Gewicht auf das Ausbrechen der Figuren kanischer Volks-MUSIK (Blues, Worksong, Spiritual) mit aus herkömmlichen sozialen Zusammenhängen legt und solchen europäisch-amerikanischer Marsch-, Tanz- und insofern die Reise als eine intendierte schildert, während Populärmusik entsteht. Einerseits hat der Jazz drei (sich Irrfahrten in der Regel unbeabsichtigt sind. phb oft überkreuzende) Verwendungszusammenhänge und findet als Unterhaltungs- und Tanzmusik, als Kunstmusik Beispiele: O THIASOS (Theo Angelopoulos, GR 1975) sowie als Ausdruck sozialen Protests (ähnlich wie der LA TREGUA (Francesco Rosi, I/F/D/CH 1996) Steptanz) statt. Andererseits bildet er verschiedene his- HICBINYERDE (Tayfun Pirselimoglu, TR 2002) torische Ausformungen aus: tendenziell afroamerikani- sche Stile (New Orleans-Jazz, Bebop, Hardbop) stehen neben weißen Richtungen (Dixieland, Chicago-Stil, Italowestern. Oft auch genannte Va- Swing, Cool Jazz). Im Film wird Jazz unterschiedlich ein- riante des WESTERN, die in Italien, Jugoslawien oder gesetzt: als wesentlicher Bestandteil von MUSIKERIN- Spanien gedreht wird und darüber hinaus spezifische sti- NENFILMEN über JazzerInnen, zur Vermittlung rauchig- listische Merkmale aufweist: Italowestern nehmen wenig cooler Atmosphäre (in MILIEUSTUDIEN über die Jazz- Rücksicht auf die amerikanischen Mythen, Legenden und Keller von Paris und Rom in den 1950er Jahren), zur Ver- heroischen Gesten, sondern sind Fantasiegebilde aus mittlung eines spezifischen (nahezu immer urbanen) Action, Brutalität, KLAMAUK und Ironie. Formal brillieren Lebensgefühls, als musikalischer Ausdruck des Protests in sie mit rasanten Zooms, schwelgen in Zeitlupen u. ä. der Schilderung von MINORITÄTSPROBLEMEN etc. Inner- Effekten, die dem klassischen Western zu schrill wären. halb der herkömmlichen Filmmusik, die vor allem die Dennoch hat seit den 1960ern ein spürbarer Einfluss des Emotionen von Figuren und Publikum unterstreicht, gilt Italowestern auf die amerikanische Westernproduktion es als schwierig, den Jazz und seinen auf der Logik von stattgefunden. phb Improvisation und Wiederholung gründenden Fluss zu adaptieren. Beides widerstrebt dem Bedürfnis der filmi- Beispiele: schen Erzählung nach Variation, Verschiebung und Tem- ¿QUIEN SABE? (Damiano Damiani, I 1966) poveränderung. Jazz wird daher meist in die musikalische IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO (Sergio Leone, I 1967) ONCE UPON A TIME IN THE WEST (Sergio Leone, I/USA 1968) Sprache der Spätromantik eingebettet oder sein Einsatz IL GRANDE SILENZIO (Sergio Corbucci, I/F 1969) wird auf einzelne Sequenzen begrenzt, in denen er für Stimmung zu sorgen hat. phb Beispiele: CABIN IN THE SKY (Vincente Minnelli, USA 1943) ASCENSEUR POUR L'ÉCHAFAUD (Louis Malle, F 1957) J BIRD (Clint Eastwood, USA 1988) Jagd. Motiv und Spielart der VERFOLGUNG. Gemeint ist zum einen die Jagd auf Tiere in ABENTEUERFILMEN, vor Jiddisches Kino. Zwischen 1910 und 1940 entsteht in allem in solchen, die sich durch einen Hang zum EXOTIS- Russland und später in der Sowjetunion, aber auch in MUS auszeichnen und im DSCHUNGEL, in der Steppe Österreich und den USA sowie vor allem im Polen der oder an ähnlichen Orten spielen, die als Gefahr für (den 1930er Jahre eine Reihe von Filmen in jiddischer Sprache westlichen) Mensch und (seine) Zivilisation inszeniert von sehr unterschiedlicher Qualität. Mit minimalen Pro- werden. Nicht immer ist der Mensch bei diesen Jagden duktionsmitteln realisiert und kaum exportiert, sind sie der Überlegene: Vor allem in THRILLERN kann sich das an ein jüdisches Publikum gerichtet und knüpfen an kul- Verhältnis umkehren, werden aus Jägern Gejagte, die turelle Traditionen an: Neben EIN- und ZWEIAKTERN ent- ums Überleben kämpfen müssen, auch wenn am Ende stehen LEGENDEN- und DRAMENVERFILMUNGEN. Oft das Tier regelmäßig unterliegt. Die Jagenden sind fast vorzügliche SchauspielerInnen, viel Phantasie, Humor immer Männer; Frauen sind typischerweise schutz- und MELODRAMA kennzeichnen die Filme. Die Ausrot- bedürftige Begleiterinnen oder überhaupt abwesend. tung europäisch-jüdischer Kultur durch den HOLOCAUST Aber nicht nur Tiere werden von Menschen gejagt, son- führt zum gewaltsamen Ende auch des jiddischen Kinos – dern auch Menschen, denen der Status als gleich- und zur Zerstörung vieler jiddischer Filme – von dem es berechtigte Subjekte in einem Akt ethischer und politi- nach Kriegsende in den USA letzte Ausläufer gibt. Ge- scher Entgleisung aberkannt wird. In systematischem messen an seinem (marginalen) Stellenwert innerhalb der Kalkül oder panischer Hysterie werden sie verfolgt – und Filmgeschichte ist das jiddische Kino außerordentlich gut wenn möglich ermordert («vernichtet»). Dies kann Einzel- erforscht; dies widerspiegelt das Interesse der Gege- personen ebenso wie Gruppen betreffen (vorzugsweise nwart, die zu diesem Kino in einem Verhältnis des Ge- Minderheiten) oder ganze Völker im Rahmen eines GE- denkens steht. Seit den 1970er Jahren taucht Jiddisch, NOZIDS. Einen Extremfall leisten sich jene HORROR- wenn überhaupt, in unabhängigen Kleinproduktionen FILME, deren Jagd auf Menschen in der PERVERSION des und in DOKUMENTAR- und EXPERIMENTALFILMEN auf, Kannibalismus gipfeln. phb in Arbeiten der Kinder von Überlebenden, die sich mit Beispiele: dem Schicksal ihrer Eltern auseinandersetzen. phb HATARI! (Howard Hawks, USA 1963) Beispiele: JAWS (Steven Spielberg, USA 1975) JIDISCHE GLIKN (Alexander Granowskij, SU 1925) HASENJAGD (Andreas Gruber, D 1994) YIDL MIT'N FIDL (Joseph/Józef Green, PL 1936) DER DYBUK (Michay Waszinsky, PL 1937) GRINE FELDER (Edgar G. Ulmer, Jacob Ben Ami, USA 1937) 46 Glossar

Journalism drama s. REPORTERFILM Junger Deutscher Film. Sammelbegriff für (aus- schließlich) bundesdeutsche Filme einer Generation jun- ger, linksintellektueller FilmemacherInnen, deren Karrie- Judentum. Motiv im fiktionalen und dokumentarischen ren nicht mehr im NATIONALSOZIALISMUS beginnen und Film. Grundsätzlich werden die unterschiedlichsten Facet- die dem bedeutungslos gewordenen westdeutschen ten jüdischen Lebens dargestellt, sei es aus jüdischer Spielfilm wieder zu internationalem Ansehen verhelfen. oder nichtjüdischer Perspektive, sei es in einem philo- Den Auftakt zum Jungen Deutschen Film bildet das oder antisemitischen Zugang. Aus diesen Herangehens- Oberhausener Manifest von 1962, worin die Unter- weisen ergibt sich eine Vielzahl inhaltlicher Akzentuie- zeichnenden das Kino der alteingesessenen Branche aus rungen, verschiedener Darstellungsformen und zahl- ökonomischen, inhaltlichen, politischen und ästhetischen reicher Kombinationsmöglichkeiten: Sie äußert sich in Gründen verwerfen und nachdrücklich die Einrichtung den Selbstdarstellungen des europäischen und ameri- von Filmakademien sowie die staatliche Förderung von kanischen JIDDISCHEN KINOS vor 1945; in der anti- DEBUTFILMEN fordern. Ihre eigenen Filme drehen sie mit semitischen Hetze, die während des kleinem Etat und außerhalb der Studios. Interessante NATIONALSOZIALISMUS in rassistischen PROPAGANDA- Schauplätze und natürliche Sprache sind Kennzeichen, FILMEN forciert wurde; in der seit dem Ende des ZWEI- aber auch ein gewisser Hang zu formalen Mätzchen und TEN WELTKRIEGS entstandenen Flut von Versuchen, den eine zuweilen verkrampfte Originalität. Ab 1966 auf den GENOZID am europäischen Judentum durch den HOLO- Festivals von Cannes, Venedig und Berlin enthusiastisch CAUST bzw. die Shoah filmisch zu bewältigen; die in gefeiert und mit Preisen überhäuft, etabliert sich der HISTORISCHEN REKONSTRUKTIONEN und AUSSTAT- Junge Deutsche Film zu Beginn der 1970er Jahre und TUNGS- UND KOSTÜMFILMEN wiederkehrende LEIDENS- wird zum NEUEN DEUTSCHEN FILM. phb GESCHICHTE über die Jahrtausende alte VERFOLGUNG Beispiele: und Diaspora des Judentums; in der besonders im isra- ABSCHIED VON GESTERN (Alexander Kluge, BRD 1966) elischen Kino thematisierten Diskrepanz zwischen (ultra- DER JUNGE TÖRLESS (Volker Schlöndorff, BRD 1966) orthodoxer) jüdischer RELIGION und weltlichen Formen MAHLZEITEN (Edgar Reitz, BRD 1966) jüdischen Lebens; in den seit den 1990er Jahren zu- nehmenden Anzahl an KOMÖDIEN sowie MILIEU- und QUARTIERSTUDIEN im amerikanischen und französischen Justizdrama. Genre im fiktionalen Film (engl. court Kino, die selbstbewusst ein betont gegenwärtiges jüdi- room drama oder trial drama). Im Zentrum steht der be- sches Leben inszenieren und damit nicht zuletzt ver- reits im Theater beliebte Schauplatz des Gerichtssaals, suchen, aus der Opferrolle hinauszutreten. phb der von seinem inhärenten, «natürlichen» Potenzial zur Beispiele: Dramatik profitiert. Zahlreiche KRIMINALFILME und PO- DIE STADT OHNE JUDEN (Hans Karl Breslauer, A 1924) LITTHRILLER, EHE- und FAMILIENDRAMEN, aber auch EXODUS (Otto Preminger, USA 1960) komische Genres wie EHE- und GAUNERKOMÖDIEN ver- MINA TANNENBAUM (Martine Dugowson, F 1993) lagern sich in den Gerichtssaal, wo sich die Möglichkeit des konzentrierten Schlagabtauschs und des eingeübten Rollenspiels zwischen Richter, Ankläger und Verteidiger Jugendkriminalität. Motiv im Spiel- und DOKUMEN- bietet. Moralische, mit viel Pathos angerührte (und ent- TARFILM, vor allem in MILIEU- und QUARTIERSTUDIEN sprechend bedenkliche) Zuspitzungen und Wertungen sowie weiteren, einem grundsätzlich realisitischen Duktus finden hier ebenso statt wie nüchterne querschnitthafte verpflichteten Genres; entsprechend selten tritt es in KRI- Sozialstudien – sei es im Zeugenstand, auf der Geschwo- MINAL-, GANGSTER- oder ACTIONFILMEN auf. Oft wird renenbank oder auf den Publikumsrängen. Über- nach den Gründen gefragt, die Jugendkriminalität be- raschende Enthüllungen sorgen für Wendepunkte in einer günstigen können – was mit der Formulierung einer GE- eher statisch orientierten Grundsituation, rhetorische SELLSCHAFTSKRITIK einhergeht –, und entsprechend fal- Dialoge und emotionale Krisen bieten den Darstel- len die Filme durch eine Reihe wiederkehrender Motive lerInnen besondere Gelegenheit zu CHARAKTER- auf. Dazu gehören der Mangel an Perspektiven, hohe Ar- STUDIEN. Häufig dient eine RÜCKBLENDENSTRUKTUR beitslosigkeit und ARMUT, eine ADOLESZENZ in anony- der analytischen Aufarbeitung der Vergangenheit, außer- men TRABANTENSTÄDTEN, MINORITÄTSPROBLEME und dem kann sie die Monotonie des Schauplatzes und die KULTURKONTRASTE, die Entwurzelung der zweiten damit verbundene Tendenz zur Dialoglastigkeit des Generation als Folge der EMIGRATION, IDENTITÄTS- Genres auflockern. phb PROBLEME sowie schwer belastete GENERATIONENBE- Beispiele: ZIEHUNGEN. LA PASSION DE JEANNE D'ARC (Carl Theodor Dreyer, F 1928) Das Motiv verhält sich über weite Strecken wie das der ADAM'S RIB (George Cukor, USA 1949) KLEINKRIMINALITÄT, bevorzugt in der Kombination je- MUSIC BOX (Constantin Costa-Gavras, USA 1989) doch andere Motive und kommt darüber hinaus weitaus seltener in KOMÖDIEN vor. Im dokumentarischen Bereich sind DOKU-PORTRÄTS über einzelne Jugendliche oder ganze Banden zu verzeichnen, aber auch gesell- schaftskritische Beleuchtungen staatlicher INSTITUTIO- K NEN wie Jugenstrafanstalten etc. phb Kabarett. Ein dem THEMATERMILIEU ähnliches Motiv Beispiele: sowie Schauplatz und INSTITUTION gleichermaßen. LOS OLVIDADOS (Luis Buñuel, MEX 1950) Kleinkunstbühne, auf der Chansons, Gedichte, Balladen 491 (Viktor Sjöman, S 1963) RAGAZZI FUORI (Marco Risi, I 1985) und Conférencen, aber auch Pantomimen, Gesangs- und TANZ-Nummern vorgetragen werden. Der Tonfall ist Glossar 47 meist humoristisch-satirischer Art, häufig entschieden po- naturalistischen Theaterinszenierungen Max Reinhardts litisch und hat eine Tendenz zu (harscher) GESELL- geprägt. SCHAFTSKRITIK. Die Inhalte sind in der Regel pointiert Vgl. den zeitgleichen STRASSENFILM. phb und komprimiert, reagieren meist auf die aktuelle Tages- Beispiele: politik und können frivole bis derb-erotische Einlagen SCHERBEN (Lupu Pick, D 1921) haben. Die oft temporeiche formale Gestaltung bedient DER LETZTE MANN (Friedrich Wilhelm Murnau, D 1924) sich bei PARODIE, SATIRE, GROTESKE, KLAMAUK sowie MICHAEL (Carl Theodor Dreyer, D 1924) TRAVESTIE; musikalische Formen sind Chanson, Couplet ABSCHIED (Robert Siodmak, D 1930) und Song. Das ganze Programm eines Kabaretts folgt ei- ner Nummern-Dramaturgie. Im deutschen Sprachgebrauch wird oft unterschieden Karrierestory. Erzählmuster in Spielfilmen, deren Hand- zwischen «Kabarett» und «Cabaret», das nightclub- lungsstruktur sich aus Aufstieg und Fall einer Berufs- mäßiges, in der Regel schlüpfriges Entertainment für karriere ergibt. Zu den Kennzeichen gehören der zeitlich Männer (Table-Dance, Striptease u. ä.) meint; im Engli- ausgedehnte Handlungsbogen sowie ein doppeltes schen und Französischen wird dieser begriffliche Unter- Interesse: an der Hauptfigur ebenso wie am beruflichen schied (samt seinen inhaltlichen Konsequenzen) so nicht Kontext. In der Karrierestory treffen CHARAKTERSTUDIE gezogen. phb und Informationen über einen gesellschaftlichen Bereich Beispiele: zusammen, wobei das dargestellte Berufssegment in sich FREILICHE KAPTSONIM (Zygmunt Tukow, PL 1937) bereits Faszination ausübt: KÜNSTLERGESTALTEN, DER APFEL IST AB ... (Helmut Käutner, D 1948) Sportler, Gangster, Erfinder, Entdecker etc. Häufig finden CABARET (Bob Fosse, USA 1972) sich Verschränkungen von Karrierestory und BIOPIC, d. h. die Hauptfigur ist historisch verbürgt und berühmt. Im klassischen Hollywood wird die Karrierestory gern mit Kalligrafismus s. CALLIGRAFISMO dem – ideologisch aufbereiteten – Mythos des AUFSTEI- GERS (from rags to riches) kombiniert. Vgl. demgegenüber das Motiv der BERUFSWELT, das oft Kalter Krieg. Motiv, das die politische Geisteshaltung im Rahmen einer MILIEUSTUDIE mehr Gewicht auf die nach dem ZWEITEN WELTKRIEG bis in die Siebzigerjahre realistische Schilderung von Strukturen, Problemen und meint, die durch systematisches, intolerantes Missver- Atmosphäre am Arbeitsplatz legt und die Hauptfigur ten- stehen und eine feindselige Polarisierung von Ost und denziell in den Hintergrund rückt. phb West geprägt war. Der Kalte Krieg fand auf beiden Seiten Beispiele: in Hetze und PROPAGANDA Ausdruck, die bei der Be- THE JAZZ SINGER (Alan Crosland, USA 1927) völkerung zu einem POLITISCHEN KLIMA von Angst, BLOOD AND SAND (Rouben Mamoulian, USA 1941) ideologischer Verhärtung und Militarismus führte. Filme, RAGING BULL (Martin Scorsese, USA 1980) die den Kalten Krieg spiegeln, reichen vom AGEN- STRICTLY BALLROOM (Baz Luhrman, AUS 1991) TENTHRILLER zur SCIENCE FICTION (Bedrohung durch fremde Welten), vom MELODRAMA über Republikflucht und Familientrennung zum SOZIALISTISCHEN REALIS- Katastrophenfilm. Genre, das oft als MONUMENTAL- MUS. Nicht immer ist das Motiv offen genannt: Extreme FILM daher kommt und mithilfe aufwändiger TRICKS und Feindbilder, schwelende Angst und stereotype Versatz- SPECIAL EFFECTS historische oder fiktive Großstadtkata- stücke der Polarisierung sind Kennzeichen einer symbo- strophen schildert oder aber Katastrophen, die sich an lischen Verweisart auf den Kalten Krieg. phb bekannten (und beliebten) Schauplätzen abspielen. In diesen Fällen wird bewusst auf den Nervenkitzel gesetzt, Beispiele: HIMMEL OHNE STERNE (Helmut Käutner, BRD 1955) dass diese erfundenen Katastrophen echt oder wahr- TOPAZ (Alfred Hitchcock, GB 1968) scheinlich sein könnten. Neben den Schauwerten und der THE SHOE (Laila Pakalnina, Lettland 1997) Action lebt die Dramaturgie von einer Gruppe verschie- denartiger Charaktere (einer SCHICKSALSGEMEIN- SCHAFT oder eines FIGURENMOSAIKS) und der Frage, Kammerspiel. Bevorzugte Stilrichtung im deutschen wer von ihnen sterben wird und auf welche Weise. phb EXPRESSIONISMUS der frühen 1920er Jahre. We- Beispiele: sensmerkmale sind eine Hinwendung an das psycho- SAN FRANCISCO (Willard S. Van Dyke, USA 1936) logische Drama, eine Konzentration auf wenige Figuren IKIMONO NO KIROKU (Akira Kurosawa, J 1955) sowie die Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Der innere, THE DAY AFTER (Nicholas Meyer, USA 1983) oft als zwanghaft und unentrinnbar erscheinende Konflikt TITANIC (James Cameron, USA 1997) der Figuren rückt damit in den Vordergrund. Entspre- chend arbeiten die Filme in erster Linie mit nahen bis großen Einstellungen und spielen fast ausschließlich in Kavalleriewestern. Variante des WESTERN, die eigent- wenigen Innenräumen, außerdem verzichten sie weit- lich eine Mischung zwischen KRIEGSFILM und INDIANER- gehend auf Zwischentitel. Dass unter diesen Bedin- WESTERN ist: Die Protagonisten sind Angehörige des gungen die Schauspielkunst der DarstellerInnen von zent- MILITÄRS in einem Fort, entsprechend geht es um Hierar- raler Bedeutung ist, gehört ebenso zu den stilistischen chie, Drill, Freizeit-Galanterie, Bewährung, Heldentum, Prinzipien des Kammerspiels wie die symbolische Auf- TOD auf dem Feld der Ehre u. ä. Typischerweise treffen ladung einzelner Objekte und Gegenstände. Die neue Soldaten aus dem Osten auf Scouts, Trapper und Bezeichnung «Kammerspiel» wurde in Anlehnung an die Halbblut-Indianer, die ihnen die Grenzen ihrer Weisheit klar machen, sowie auf die Realität der indianischen Ge- 48 Glossar genwehr. Die (als Errungenschaften verstandenen) Ver- HEIT (die nicht so sehr das Kind als Figur, sondern mehr haltensmuster westlicher Zivilisation werden anhand der das soziale Phänomen Kindheit meint) sehr fließend. Zum weiten LANDSCHAFT und der Fremdartigkeit der INDIA- anderen werden kindliche ProtagonistInnen in aller Regel NERINNEN auf die Probe gestellt. phb auch von kindlichen DarstellerInnen (meist LAIENDAR- Beispiele: STELLER) gespielt. Dies ist insofern stets problematisch, THE MASSACRE (David Wark Griffith, USA 1913) weil Kinder anders als ihre professionellen erwachsenen FORT APACHE (John Ford, USA 1948) KollegInnen schonend eingesetzt werden müssen und GERONIMO: AN AMERICAN LEGEND (Walter Hill, USA 1993) noch kein volles Verständnis für ihre Rolle haben. Ver- schiedene FilmemacherInnen gingen und gehen sehr unterschiedlich mit den daraus erfolgenden Limitationen Kinderkino. Für die Zielgruppe Kinder geschaffene Fil- um. phb me, die die kindliche Aufmerksamkeitsspanne und Welt- orientierung berücksichtigen (oder mindestens einen sol- Beispiele: chen Anspruch erheben) und Aufregungen vorsichtig A COUNTRY CUPID (D. W. Griffith, USA 1911) dosieren. Bedeutsam gerade auch in Bezug auf die his- MOI IVAN, TOI ABRAHAM (Yolande Zauberman, F/PL 1992) torischen Veränderungen in der Vermittlung von sozialen VATER LIEBER VATER (Leopold Huber, CH 1994) und politischen Wertvorstellungen, zu bevorzugenden Handlungsalternativen und Geschlechterstereotypen. Kinematographie der zweiten Epoche. Häufig als ANIMATIONSFILM und/oder (Kinder-) LITERA- TURVERFILMUNG realisiert. Längst nicht in allen Fällen Kunstperiode des vorrevolutionären russischen Films, die an die erste Phase der Filmproduktion in Russland an- dreht sich die Geschichte auch um KINDHEIT, entspre- schließt, in der vor allem die Dépendancen französischer chend stehen nicht immer KINDLICHE PROTAGONISTEN Firmen, Pathé u. a., den Markt beherrschten. Ab ca. im Zentrum. 1912 bildet sich ein künstlerisches Kino heraus, das bis Für Filme, deren Zielpublikum sich aus Kindern und Er- 1918 prägend ist. Es pflegt insbesondere die Adaption wachsenen zusammensetzt, vgl. FAMILIENKINO. phb von Stoffen der klassischen russischen Literatur (Pusch- Beispiele: kin, Tolstoj), aber auch von westlichen Autoren (z. B. DUMBO (Walt Disney, Ben Sharpsteen, USA 1941) Oscar Wilde). Ausgefeilte Dekorationen charakterisieren DAS DOPPELTE LOTTCHEN (Josef von Baky, BRD 1950) den frühen Studio-Stil, ferner ein differenziertes weib- MITT LIV SOM HUND (Lasse Hallström, S 1985) liches Spiel, das von den russischen DIVEN, v. a. Vera Cholodnaja beherrscht wird. Der Schauspielstil ist stark vom Moskauer Künstlertheater beeinflusst. uvk Kindheit. Motiv in allen filmischen Gattungen und Genres, vom albernen KLAMAUK über hoch emotionale Beispiele: MELODRAMEN bis hin zu herben MILIEUSTUDIEN mit DOCH KUPTSA BASCHKIROWA (Nikolai Larin, RUS 1913) Anspruch auf GESELLSCHAFTSKRITIK. Im Zentrum stehen ANTOSCHU KORSET POGUBIL (Eduard Puchalskij, RUS 1916) jeweils unterschiedliche (und historisch wandelbare) fil- ZA SCHASTEM (Ewgenij Bauer, RUS 1917) mische Entwürfe des sozialen Phänomens Kindheit, und die Verwendung des Motivs lässt Rückschlüsse über Kitchen sink film s. FREE CINEMA Mentalitäten und ideologische Konzepte zu: Kindheit als Paradies oder Ort der Unschuld oder aber Kindheit als Zeit des Ausgeliefertseins, der Unterdrückung etc. Auf Klamauk. Eine spezifische Erzähl- und Humorform in formal-ästhetischer Ebene rückt die Realisierung von KOMÖDIEN. Gemeint ist die Tendenz, in Clownerie, «kindlichen» Point-of-View-Strukturen in den Vorder- Alberei und Chaos zu verfallen und sich in einen Klamauk grund, auf extradiegetischer Ebene kommen schauspiel- hineinzusteigern, der sich verselbständigt, die Handlung spezifische Aspekte wie KINDLICHE PROTAGONISTEN und LAIENDARSTELLER zum tragen. In einzelnen kinema- sistiert oder ihren Stellenwert für die Dauer einer oder mehrerer Sequenzen in den Hintergrund rückt. Im un- tografischen Traditionen, etwa dem iranischen Kino, ist zimperlichen Wortwitz von ANARCHO- und KOMIKER- das Motiv geradezu Wesensmerkmal. KOMÖDIEN sowie beim größtenteils stummen, aber kör- Längst nicht bei allen Filmen, die die KINDHEIT the- perbetonten SLAPSTICK ist der Klamauk derart kon- matisieren, handelt es sich auch um KINDER- oder stitutiv, dass er eigene Traditionen der Darstellung und FAMILIENKINO, die beide allein über ihre Zielgruppe defi- niert sind; ob darin tatsächlich auch Geschichten über die der Publikumserwartung entwickelt hat. Vgl. dagegen den SCHWARZEN HUMOR, dessen Komik Kindheit erzählt werden, ist aus dieser Perspektive zweit- aus dem Missverhältnis zwischen gravierenden Anlässen rangig. und deren leichtfüßigen Behandlung entsteht, dessen Ziel Vgl. die Altersgruppen ADOLESZENZ und ALTER. phb nicht im befreienden Lachen besteht und der sich meist Beispiele: an der Grenze des «guten Geschmacks» bewegt. Vgl. IN THE STREET (Helen Levitt, USA 1952) außerdem den ABSURDISMUS, dessen philosophische CHILDREN (Terence Davies, GB 1976) Überlegungen über die Sinnlosigkeit der menschlichen KHANEH-JE DOOST KOJAST (Abbas Kiarostami, IR 1988) Existenz sich kaum je in Klamauk äußern und der auf narrativer Ebene die Konventionen von Kausalität und Logik außer Kraft setzt. phb Kindliche Protagonisten. Kindliche ProtagonistInnen können in allen Genres des fiktionalen Films auftreten. Beispiele: Zum einen sind sie aufschlussreich in Bezug auf die SCHABERNACK … (E. W. Emo, D 1936) Frage, welche Art Kindertypus in welcher Epoche wie THE PINK PANTHER (Blake Edwards, USA 1963) inszeniert wird. Auf dieser Ebene ist die Grenze zur KIND- LES VISITEURS (Jean-Marie Poiré, F 1992) Glossar 49

Klassenverhältnisse. Motiv im Spielfilm, das den Ge- GAUNERKOMÖDIEN – liebevoll-ironisch ihre meist etwas gensatz zwischen einzelnen Klassen, Schichten oder dusseligen Hauptfiguren, die sich in der Regel ziemlich Sozialformationen ins Zentrum rückt. Dabei geht es weni- ungeschickt anstellen und den großen COUP, von dem ger um das umfassende Ausloten einer einzelnen Sozial- sie fortwährend träumen, nur selten landen. phb formation (z. B. des Proletariats im ARBEITSKAMPF). Im Beispiele: Vordergrund steht eher das Aufeinanderprallen oder PORTE DES LILAS (René Clair, F 1957) Auseinanderdriften verschiedener Klassen, das immer PAPER MOON (Peter Bogdanovich, USA 1972) kulturelle Implikationen hat, sozialpolitischen Sprengstoff LA PETITE VOLEUSE (Claude Miller, F 1988) birgt und gegebenenfalls in eine GUERILLA, eine REVO- LUTION oder einen BÜRGERKRIEG führt. Thematisiert wird also das Klassensystem als solches und damit nahe- Kleinstadt. Motiv und (mehr oder weniger stereotyper) zu immer eine SYSTEMKRITIK, die sich in realistischen Schauplatz im fiktionalen und dokumentarischen Film. Im MILIEUSTUDIEN über den Feudalismus oder das Gefälle HEIMATFILM ist die Kleinstadt behütetes Idyll und Ort zwischen ARISTOKRATIE und Bürgertum, zwischen Bil- einer als authentisch und moralisch integer empfundenen dungsbürgertum und Arbeiterschaft etc. äußern kann. oder zumindest propagierten Kultur, deren zentrale Außerdem geht es um die Unmöglichkeit sozialer Mobili- Werte der Stolz auf die eigene Einfachheit und der be- tät, in MELODRAMEN um klassenbedingte Ehehindernis- wusste Verzicht auf alles «Großstädtische» sind. Das ME- se und in POLITTHRILLERN und JUSTIZDRAMEN um zwei- LODRAMA dagegen betont die erstickende physische und erlei Maß in der Justiz («Klassenjustiz»). Freilich bedienen psychische Enge sowie die tendenziell massive Sozial- sich nicht nur die ernsten Genres des Motivs; auch kontrolle, die zu Ausbruchsversuchen der Protago- KOMÖDIEN, vor allem aber SATIREN und PARODIEN nistInnen führt und sie zu AUSSTEIGERINNEN aus der nehmen immer wieder zur Problematik Stellung. phb öden PROVINZ (und damit oft genug zu GEFALLENEN Beispiele: FRAUEN) macht. KRIMINALFILM und THRILLER wiederum BRONENOSEZ POTJOMKIN (Sergej Eisenstein, SU 1925) setzen kleinstädtische Ruhe und Sicherheit in schroffen LA RÈGLE DU JEU (Jean Renoir, F 1939) Kontrast zum plötzlichen Einbruch des Bösen und der GE- LA HORA DE LOS HORNOS (F. Solanas, Argentinien 1968) WALT, die die BewohnerInnen unvorbereitet trifft – und die auffallend oft aus der Großstadt stammt. MILIEU- und QUARTIERSTUDIEN schließlich verfahren realistischer Kleine Leute. Figurengruppe im fiktionalen und doku- und versuchen, ähnlich wie der DOKUMENTARFILM, vor mentarischen Film. In der Regel wird das Leben so allem die sozialen Aspekte der Kleinstadt einzufangen – genannt kleiner Leute im Rahmen einer ALLTAGS- und damit nicht selten eine GESELLSCHAFTS- oder gar BEOBACHTUNG erzählt, die entweder als KOMÖDIE da- SYSTEMKRITIK zu formulieren. her kommen kann, in der mit leichter Hand, aber nicht Vgl. CITY, DORF, TRABANTENSTADT. phb respektlos über das Leben kleiner Leute geschmunzelt Beispiele: wird. Oder aber es entsteht ein GRUPPENPORTRÄT, BRIEF ENCOUNTER (David Lean, GB 1945) häufig mit dem Anspruch einer MILIEUSTUDIE oder einer BLUE VELVET (David Lynch, USA 1986) GESELLSCHAFTSKRITIK, die den Fokus auf soziale, wirt- DAS SCHRECKLICHE MÄDCHEN (M. Verhoeven, BRD 1990) schaftliche und kulturelle Unzulänglichkeiten im Leben kleiner Leute richtet. In beiden Fällen wird auf die Dar- stellung des Pompösen, Spektakulären und Grandiosen Kollektiv s. FIGURENMOSAIK; GRUPPENPORTRÄT meist verzichtet; statt dessen handelt es sich um eher stille Berichte, die den kleinen Außergewöhnlichkeiten, den unauffälligen Tragödien oder eben dem ganz nor- Kolonialismus. Motiv im fiktionalen und dokumen- malen Wahnsinn eines kleinen Lebens nachspüren. Zu tarischen Film. Im Zentrum steht entweder die Zeit des den bevorzugten Schauplätzen gehören einzelne Stadt- Kolonialismus selbst – und damit eine Zeit der wirt- viertel (vgl. QUARTIERSTUDIE), die TRABANTEN- oder schaftlichen Ausbeutung sowie der politischen, kulturel- KLEINSTADT oder aber die PROVINZ. phb len und sozialen Unterdrückung der so genannten dritten Beispiele: Welt durch europäische Kolonialmächte. Oder aber die LA FEMME DU BOULANGER (Marcel Pagnol, F 1938) postkolonialistische Zeit der Unabhängigkeit – und damit LISSY (Konrad Wolf, DDR 1957) eine Zeit wirtschaftlicher und sozialer Misere, die in aller DAS LEBEN IST EINE BAUSTELLE (Wolfgang Becker, D 1997) Regel die direkte Folge der traumatischen Zustände während des Kolonialismus ist. Filme aus (ehemals) unterdrückten Ländern thematisieren neben dem Kolo- Kleinkriminalität. Motiv im fiktionalen Film. Die Prota- nialismus oft auch AGITATION, REVOLUTION und KLAS- gonistInnen sind nicht von Berufs wegen VerbrecherIn- SENVERHÄLTNISSE, oft unter Rückgriff auf eine für den nen (und schon gar keine eleganten Edelganoven) wie im Westen FREMDE ERZÄHLTRADITION. Westliche Filme da- GANGSTERFILM, sondern KLEINE LEUTE, die als gegen bedienen sich des Themas beschämend häufig nur GelegenheitsdiebInnen auftreten (müssen). Zwei Mög- aus Gründen der Exotik und hoher Schauwerte, die sich lichkeiten der Akzentuierung zeichnen sich ab: Entweder aufgrund ferner und südlicher Schauplätze sozusagen tendieren die Filme in Richtung MILIEU- und QUAR- von selbst ergeben. TIERSTUDIE und erheben einen Anspruch auf mitunter Vgl. EXOTISCHES MELODRAMA, ABENTEUERFILM. phb scharfe GESELLSCHAFTSKRITIK; in diesen Fällen verhält Beispiele: sich das Motiv über weite Strecken ähnlich wie das der BOHWANI JUNCTION (George Cukor, USA 1956) JUGENDKRIMINALITÄT. Oder aber die Filme gehen in LUMUMBA (Raoul Peck, BRD/CH/Haiti 1991) Richtung KOMÖDIE und porträtieren – ähnlich wie die THE PIANO (Jane Campion, NZ 1992) 50 Glossar

Komikerkomödie. Spielart der KOMÖDIE, die immer SOY CUBA (Michail Kalatosow, Kuba/SU 1964) auch Starvehikel ist. Sie wird weniger vom Stil des Regis- LE COMPLOT (Agnieszka Holland, F 1988) seurs geprägt – der letztlich als austauschbarer Hand- JAHRESTAGE … (Margarethe von Trotta, D 2000) werker fungiert – als von der intensiven Persönlichkeit des Komikers oder der Komikergruppe (Karl Valentin, Mae West, Marx Brothers etc.). Die Komiker spielen ei- Komödie. Der Begriff meint weniger ein Genre als einen gentlich keine fiktionalen Rollen, sondern verkörpern ihre in zahlreichen Genres vorkommenden Tonfall, der sich in einmal gefundene Persona immer wieder. Die übrigen spezifischen Handlungsstrukturen äussert, die vor- DarstellerInnen sind Staffage, die Handlung meist nur ein wiegend heiter sind, für lustige oder lächerliche Situa- Rahmen. Viele Komiker schreiben ihre Drehbücher selbst tionen und Scherze Platz haben und meist glücklich oder arbeiten ihre eigenen Gags aus. phb enden. Das komische Element im Film ist so alt wie das Medium selbst und deckt die ganze Skala von der Beispiele: leichten, versöhnlichen Stimmung über alberne und THE PAWNSHOP (Charles Chaplin, USA 1916) hysterische Varianten bis hin zum bitteren, schwarzen DER ANTENNENDRAHT (Joe Stöckel, D 1938) und sadistischen Duktus ab. Außerdem ist wie in Lite- TRAFIC (Jacques Tati, F/I 1969/71) ratur und Theater auch im Film die Komödie ein ge- eignetes (oft das einzig mögliche) Gefäß, politisch heikle Inhalte zur Sprache zu bringen. Komische Szene. Narratives Genre der FRÜHEN KINE- Im Lauf der Filmgeschichte haben sich zahlreiche Genres MATOGRAPHIE, bei der die Einheit des Ortes eingehalten wird und das zumeist einer deutlich ausmachbaren, tra- unterschiedlichster Couleurs ausgebildet. Manche von ihnen sind in ihrer Entstehung und Existenz eng an histo- ditionellen Dreigliederung aus Exposition, Höhepunkt rische Perioden oder aber an ihre DarstellerInnen gebun- und Katastrophe/Auflösung folgt. Die Komik beruht oft den (SCREWBALL COMEDY, SLAPSTICK, SOPHISTICATED auf einem burlesken oder grotesken Umgang mit dem COMEDY, KOMIKERKOMÖDIE, SEXKOMÖDIE). Andere Körper und dessen Funktionen. In den kurzen Filmen, die dagegen gründen auf zeitlosere Strickmuster und über- auch aus nur einer Einstellung bestehen können, finden sich Anfänge des SLAPSTICK und der KOMI- dauern historische Prozesse (ANARCHO-, EHE, GAUNER-, HORROR-, SITUATIONS- und ROMANTISCHE KOMÖDIE, KERKOMÖDIE. Auch treten erste Stars auf: Max Linder MILITÄRKLAMOTTE). Wieder andere vermengen sich mit und Prince Rigadin oder der Kinderkomiker Willi. uvk ernsten oder politischen Arten des Tonfalls und sind an Beispiele: den Außenbereichen der Komödie zu situieren (TRA- ARROSEUR ET ARROSÉ (Louis Lumière, F 1896) GIKOMÖDIE, PARODIE, GROTESKE, SATIRE, TRAVESTIE). DAS LIEBESBAROMETER (Prod.: Pathé, F 1898) Insgesamt ist die Zahl an komischen Genres derart üppig, THOSE AWFUL HATS (David Wark Griffith, USA 1909) dass man die meisten Filme weniger der Komödie an sich als vielmehr einer der spezifischen Varianten zuordnen wird. phb Kommentar s. VOICE-OVER

Kompilationsfilm. Ein ganz oder überwiegend mit Aus- Kommunismus. Politisches Konzept und als solches ein schnitten aus bereits existierenden Filmen zusammen- Motiv in allen Filmgattungen. Entsprechend ist die gestelltes Werk, das – oft mit Zwischentiteln oder einem Spannbreite groß und reicht von verhaltenen MILIEU- kommentierenden VOICE-OVER versehen – eine neue STUDIEN zu opulenten MELODRAMEN, von scharfen SA- Kohärenz erlangt. Die entscheidende Leistung besteht im TIREN zu seichten KOMÖDIEN, von verschachtelten FA- Zusammenfügen von Material aus unterschiedlichen Kon- MILIENSAGAS zu verklärenden NATIONALEPEN. Außer- texten mit ursprünglich verschiedenen Funktionen. Ent- dem sind ESSAY- ebenso wie EXPERIMENTALFILME sprechend entsteht der Kompilationsfilm in der Montage, denkbar und natürlich die Formate des DOKUMENTAR- wo die einzelnen Teile auf sinnstiftende Art neu ver- FILMS. Wie der Kommunismus im Einzelfall bewertet bunden werden. In der Regel als DOKUMENTARFILM wird, hängt – bei aller Unterschiedlichkeit der Zugänge – konzipiert, nutzen Kompilationsfilme – ähnlich wie die davon ab, in welchem POLITISCHEN KLIMA der Film ent- Geschichtswissenschaft – ihr Ausgangsmaterial als Quel- steht. Filme aus dem kapitalistischen Westen geben zwar le, auf deren Basis sie historische, politische und/oder immer wieder vor, den Kommunismus zu thematisieren, soziale Themen behandeln. Freilich kann die Art dieser sind – besonders in Zeiten des KALTEN KRIEGS – in Behandlung die ganze Bandbreite von SELBSTREFLEXION Wahrheit aber Ausdruck eines kaum verhüllten ANTI- über AGITATION bis hin zu massivster PROPAGANDA ab- KOMMUNISMUS. Andere beschwören in schwärmeri- decken. Mit bereits bestehendem Filmmaterial arbeitet schen UTOPIEN eine gerechtere Gesellschaft fernab des auch der (tendenziell experimentelle) FOUND FOOTAGE- Konsums. Filme aus kommunistischen Ländern wiederum Film, allerdings steht dort die formal-ästhetische Beschaf- sind bei allzu kritischer Haltung oft mit dem Risiko kon- fenheit der Quellen im Vordergrund, während der Kompi- frontiert, zum ZENSURFALL zu werden. Hieraus resultie- lationsfilm deren inhaltliche Seite fokussiert. Vgl. außer- ren filmische Deklamationen der Linientreue oder kom- dem die COLLAGE, deren Basis zwar auch bereits vorge- plexe ALLEGORIEN und PARABELN, die den gut ge- fertigtes, aber längst nicht nur filmisches Material ist. phb tarnten Versuch einer SYSTEMKRITIK wagen. Vgl. AGITATION, PERESTROJKA, RUSSISCHER REVOLU- Beispiele: TIONSFILM, SOZIALISTISCHER REALISMUS, TAUWETTER. OBYKNOWENNY FASCHISM (Michael Romm, SU 1965) phb UNDERGÄNGENS ARKITEKTUR (Peter Cohen, S 1989) VIDEOGRAMME EINER … (H. Farocki, A. Ujica, D 1992) Beispiele: NINOTCHKA (Ernst Lubitsch, USA 1939) Glossar 51

Konkurrenzkämpfe. Motiv im fiktionalen Film, dem MusikerInnen ins Zentrum stellt – auch wenn es oft Ele- eine sozusagen natürliche Dramaturgie inne wohnt: Der mente von Konzertaufzeichnungen enthalten kann. phb Konkurrenzkampf zweier (unter Umständen mehrerer) Fi- Beispiele: guren ist gekennzeichnet von wechselnden Machtver- WOODSTOCK (Michael Wadleigh, USA 1970) hältnissen; er ist erst dann ausgefochten, wenn die MARLENE IN LONDON (anonym, GB 1973) jeweilige Konkurrenz ausgeschaltet ist – egal, ob sich die KontrahentInnen durch moralische Integrität oder durch hinterlistige Winkelzug-Politik auszeichnen. Grund- Korruption. Motiv im fiktionalen und dokumentarischen sätzlich kann das Motiv in unterschiedlichsten Genres – Film. Besonders in POLIZEI- und POLITIKERFILMEN ist ACTIONFILM, FAMLIENSAGA, KRIMINALFILM, KOMÖ- das Motiv gegenwärtig, wird in polizeilichen und politi- DIE, SATIRE etc. – vorkommen. Im beruflichen oder poli- schen INSTITUTIONEN angesiedelt, oft mit dem Motiv der tischen Umfeld ausgetragen, ist der Konkurrenzkampf oft MAFIA verwoben und in eine mitunter ungeschönt for- Teil einer KARRIERESTORY mit GESELLSCHAFTSKRITIK, mulierte SYSTEMKRITIK an einem POLITISCHEN KLIMA auf amourösem Gebiet dagegen ist er als GESCHLECH- eingebettet. Denkbar sind aber auch CHARAKTER- TERKAMPF Teil einer LIEBESGESCHICHTE. phb STUDIEN über die KARRIERESTORYS über rücksichtslose Beispiele: AUFSTEIGERINNEN, die sich in ungute oder glücklose HANNERL UND IHRE LIEBHABER (Werner Hochbaum, A 1936) KONKURRENZKÄMPFE verstricken. Schließlich bestimmt DON CAMILLO (Julien Duvivier, I/F 1952) das Motiv immer wieder und nachhaltig die düsteren Vi- NETWORK (Sydney Lumet, USA 1976) sionen des FILM NOIR. Auch der politisch engagierte STRICTLY BALLROOM (Baz Luhrman, AUS 1992) ESSAYFILM widmet sich dem Thema Korruption, was je nach politischen Umständen aber ein heikles Unterneh- men sein und zu ZENSURFÄLLEN führen kann. phb Konstruktivismus. Sowjetische Kunstbewegung inner- halb der AVANTGARDE DER 1920ER, die kurz nach der Beispiele: RUSSISCHEN REVOLUTION einsetzte und das Kunst- THE BIG SLEEP (Howard Hawks, USA 1946) CADAVERI ECCELLENTI (Francesco Rosi, I/F 1975) schaffen – Skulptur und ARCHITEKTUR (Tatlin), MUSIK THE BIG EASY (Jim McBride, USA 1982) und MALEREI (Malewitsch, Lissitzky), Film und Theater THE GODFATHER III (Francis Ford Coppola, USA 1990) (Meyerhold) – der 1920er Jahre prägte. Grundlage der Bewegung ist das bewusste Bekenntnis zur modernen Technik und die Überzeugung, wonach der Künstler Kosmos s. WELTRAUM gleichsam als Ingenieur fungiert, in dessen Verantwor- tung es liegt, unter Verwendung moderner Technik Kunstwerke zu konstruieren, die für die Gesellschaft – Kostümfilm s. AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜMFILM und das heißt, für die neue sozialistische Gesellschaft – nützlich sind. Im Film übernehmen Regisseur, Kamera- mann und Cutter die Ingenieurrolle, und ihre Werke fei- Krankheit. Motiv, das vor allem in ernsten Genres, ern die immense Bedeutung und Notwendigkeit von häufig als LEIDENSGESCHICHTE, MELODRAMA und/oder Technik und Maschinerie im sowjetischen Alltag. In dem MORALISCHES RÜHRSTÜCK, vorkommt. Dabei ist die Maß, in dem der Konstruktivismus als Wegbereiter der Inszenierung der Krankheit immer davon abhängig, wie neuen sozialistischen Gesellschaft verstanden und gelebt tabuisiert der Diskurs über Krankeit(en) – insbesondere wird, ist er eine durchaus politisch motivierte Kunst- deren visuelle Darstellung – zur Produktionszeit eines je- bewegung, der darüber hinaus didaktische Ansprüche weiligen Films ist. Den Darstellungen sexuell übertrag- eingeschrieben sind. In den frühen 1930er Jahren ver- barer Krankheiten (seit den Achtzigerjahren vor allem klingt sie, beeinflusst in Deutschland jedoch nachhaltig Aids) kommt insofern ein besonderer Stellenwert zu, als das Programm des Bauhauses. phb die Krankheit oft nur als Vorwand dient: sei es zu Beispiele: schlüpfrigen oder klischeebeladenen Thematisierungen SOVIET TOYS (Dsiga Wertow, SU 1924) von (HOMO-)SEXUALITÄT, sei es zur Vermittlung bürger- TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM (Dsiga Wertow, SU 1929) licher Sexualmoral und Hygienevorstellungen. Dies gilt selbst dann, wenn ein Film sich als LEHRFILM versteht. Im EXPERIMENTALFILM und EXPERIMENTELLEN SPIEL- Konzentrationslager s. LAGER FILM dagegen wird das Motiv (gerade in seiner Aus- prägung Aids) sehr viel unverkrampfter und freier von Doppelmoral umgesetzt. Konzertaufzeichnung. Abgefilmtes Konzert, das – Zu Suchtkrankheiten vgl. SUCHT UND DROGEN, zu psy- wenn überhaupt – dokumentarisch oder ästhetisierend chischen Krankheiten vgl. PSYCHIATRIE, PSYCHOTHERA- aufbereitet ist, um es für die Nachwelt festzuhalten. Der PIE UND PSYCHOANALYSE. phb Begriff referiert also nicht so sehr auf das Medium Film, Beispiele: vielmehr liegt der Schwerpunkt auf der benachbarten FEIND IM BLUT (Walter Ruttmann, D 1931) Kunstform MUSIK. Strukturell ähnlich verfahren THE- INTERRUPTED MELODY (Curtis Bernhardt, USA 1955) ATERAUFZEICHNUNGEN, außerdem OPERNVERFILMUN- PHILADELPHIA (Jonathan Demme, USA 1993) GEN – beide jedoch nur dann, wenn es sich tatsächlich «nur» um Abfilmungen und nicht um für den Film neu er- dachte Inszenierungen handelt. Krieg. Motiv im dokumentarischen und fiktionalen Film, Anders als die Konzertaufzeichnung verfährt das MUSI- das auf vielfältigste Weise (und keineswegs nur im KERINNENPORTRÄT, das nicht das Konzert, sondern die KRIEGSFILM) umgesetzt werden kann. Das Spektrum ist 52 Glossar breit und reicht vom ernst zu nehmenden ANTI- MILITÄR ein zentrales Motiv und damit oft eine besonde- KRIEGSFILM, der die Entsetzlichkeit von Kriegen in re Form von MÄNNERVERHALTEN und GEWALT. Gestalt einer GESELLSCHAFTS- oder SYSTEMKRITIK an- Vgl. AMERIKANISCHER BÜRGERKRIEG, BÜRGERKRIEG, klagt, über die manifeste und den Krieg verherrlichende ERSTER WELTKRIEG, GOLFKRIEG, GUERILLA, SPANI- PROPAGANDA, bis hin zur KRIEGSROMANZE, in der der SCHER BÜRGERKRIEG, VIETNAMKRIEG, ZWEITER WELT- Krieg nur noch bloßer Hintergrund ist, sowie zum KRIEG. phb MONUMENTALFILM, der sich die Schauwertigkeit ge- Beispiele: waltiger Schlachtsequenzen zu Nutze macht. Grund- ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (L. Milestone, USA 1930) sätzlich eignet dem Motiv eine prekäre Faszination, be- ICH WAR NEUNZEHN (Konrad Wolf, DDR 1969) sonders wenn es als explizites Kriegsgeschehen auf der SAVING PRIVATE RYAN (Steven Spielberg, USA 1998) Leinwand ausformuliert ist; dies gilt auf irritierende Wei- se selbst im ANTIKRIEGSFILM. Vgl. AMERIKANISCHER BÜRGERKRIEG, BÜRGERKRIEG, Kriegsgefangenen-Film. Englisch P.O.W. films (pri- ERSTER WELTKRIEG, GOLFKRIEG, GUERILLA, KALTER sonner of war films). Variation des KRIEGSFILMS, in des- KRIEG, SPANISCHER BÜRGERKRIEG, VIETNAMKRIEG, sen Zentrum das Motiv der SCHICKSALSGEMEINSCHAFT ZWEITER WELTKRIEG. phb und der Schauplatz eines Kriegsgefangenen-LAGERS Beispiele: steht: Das Genre bietet Gelegenheit zur Darstellung von ROMA, CITTÀ APERTA (Roberto Rossellini, I 1945) sadistischen Verhaltensweisen (vgl. exzessive GEWALT OBYKNOWENNY FASCHISM (Michael Romm, SU 1965) und SADOMASOCHISMUS) und von oft misslingenden FULL METAL JACKET (Stanley Kubrick, USA /GB 1987) Ausbruchsversuchen und FLUCHTEN. Anders als beim THE TROUBLES WE'VE SEEN (Marcel Ophüls, F 1995) Schauplatz des GEFÄNGNISSES gehört im Kriegs- gefangenen-Film das (vorwiegend männliche) Figuren- personal meist dem MILITÄR an. Darüber hinaus hat er Kriegsdrama. Variante des KRIEGSFILMS, die meist als meist ein Interesse an gegeneinander auszuspielende (gelegentlich EXZESSIVES) MELODRAMA konzipiert ist. nationale Charakteristika sowie am Entwurf von Feind- Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund eines tosen- bildern. phb den Kriegs, aber im Mittelpunkt stehen weniger die Sol- daten, sondern mehr die Auswirkungen des Geschehens Beispiele: LA GRANDE ILLUSION (Jean Renoir, F 1937) auf die Zivilbevölkerung, insbesondere die Familien der MORITURI (Eugen York, D 1948) Soldaten. Es geht um FLUCHT und damit verbundenes STALAG 17 (Billy Wilder, USA 1953) Flüchtlingselend, Einquartierung, Anstrengungen an der THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI (David Lean, USA 1957) Heimatfront, aber auch immer wieder um WIDERSTAND und SPIONAGE. Vgl. dagegen den KRIEGSFILM, der die militärischen Aus- Kriegsromanze. Variante des KRIEGSFILMS. Im Mittel- einandersetzungen sehr viel stärker in den Vordergrund punkt steht die romatische LIEBESGESCHICHTE, die vor rückt und entsprechend auf opulent und spektakulär dem Hintergrund eines tosenden KRIEGES spielt. Beson- inszenierte Schlachtenbilder setzt. Einen milderen ders beliebt ist die Figur der Krankenschwester, aber (bisweilen süßlichen) Tonfall wählt die KRIEGSROMANZE: auch Fraternisierungen kommen vor oder Beziehungen Hier ist der Krieg oft nur dekorative Kulisse, im Zentrum von Soldaten zu Offizierstöchtern u. ä. Typischerweise ist dagegen steht eine meist TRAGISCHE LIEBE. phb das Ende ungewiss, und beide Liebespartner scheinen Beispiele: gefährdet. Doch obwohl die militärische Pflicht den Ge- MRS. MINIVER (William Wyler, USA 1942) liebten an die Front ruft, ist es oft die Geliebte, die nicht A TIME TO LOVE AND A TIME TO DIE (Douglas Sirk, USA 1956) überlebt. ONIBABA (Kaneto Shindo, J 1965) Vgl. dagegen den KRIEGSFILM im engeren Sinn, der die WELCOME TO SARAJEVO (Michael Winterbottom, GB 1997) miltärischen Auseinandersetzungen massiv in den Vor- dergrund rückt und mit opulent inszenierten Schlachten aufwartet. Wieder anders und tendenziell weniger ver- Kriegsfilm. Sammelbegriff für eines der ältesten Genres, harmlosend als die Kriegsromanze verfährt das KRIEGS- das als dokumentarische Kriegsberichterstattung ent- DRAMA, dem es nicht in erster Linie um eine Liebesge- stand, dem aber bereits um 1900 grosse Fiktions- schichte geht. phb würdigkeit zugeschrieben wurde: Sei es, dass ein KRIEG die Handlung selbst ist, sei es, dass er den situativen Beispiele: CASABLANCA (Michael Curtiz, USA 1942) Kontext bildet, der Handlung und Dramaturgie nachhaltig FOR WHOM THE BELL TOLLS (Sam Wood, USA 1943) beeinflusst (vgl. KRIEGSDRAMA, KRIEGSROMANZE und MARTHE OU LA PROMESSE DU JOUR (J.-L. Hubert, F 1997) KRIEGSGEFANGENEN-FILM). Auch wenn Kriege schon immer geführt wurden, bezieht sich der Begriff in der Re- gel auf Filme, die so genannt moderne, seit dem 19. Jh. Kriegssatire. Variante des KRIEGSFILMS, die sich der geführte Kriege thematisieren. Während eines Kriegs pro- Erzählform der SATIRE bedient und mit den Mitteln des duzierte Filme gelten nur dann als KRIEGSFILM, wenn sie oft SCHWARZEN HUMORS, der Ironie sowie des Sar- den Krieg auch explizit thematisieren. Die politisch- kasmus, gelegentlich aber auch des Zynismus eine bittere ideologische Haltung, die in Kriegsfilmen zum Ausdruck Kritik am KRIEG formuliert. Wie die Satire hat sie kein be- kommt, kann von Pazifismus über WIDERSTAND bis hin freiendes, geschweige denn versöhnliches Lachen zum zu massiver PROPAGANDA reichen; davon abhängig ist Ziel, sondern eines, das angesichts der Thematik im Hals der jeweils vermittelte Grad an Kriegsbegeisterung re- stecken bleiben soll. In der Regel verweigert sie die Mög- spektive -ablehnung (vgl. ANTIKRIEGSFILM, KRIEGS- lichkeit der (emotionalen) Identifikation, ausserdem ver- SATIRE). In vielen, aber längst nicht in allen ist das Glossar 53 zichtet sie bewusst auf psychologische Konflikt- Kulturfilm. Dokumentarisches Format in der Weimarer entwicklungen. Republik und im Dritten Reich (der Ausdruck «Doku- Vgl. die strukturell verwandte POLITISCHE SATIRE. Die mentarfilm» war in Deutschland bis 1945 nicht geläufig). Kriegssatire ist nicht zu verwechseln mit der MILITÄR- Im Mittelpunkt stehen unterhaltsam verpackte, ästhe- KLAMOTTE, die nicht kritisieren will, sondern auf alber- tisierend aufbereitete Informationen über «kulturelle» nen, selten anspruchsvollen KLAMAUK setzt sowie auf Themen, die in didaktisch-feuilletonistischer Manier ein dämliche Witzeleien, mit denen vor allem ein männliches breites Publikum ansprechen sollen: Das Spektrum reicht Zielpublikum unterhalten werden soll. phb von BERUFSWELT und Körperkultur über Kunstproduk- tion bis hin zum TIERFILM. Von einigen abendfüllenden Beispiele: MASH (Robert Altman, USA 1969) Produktionen abgesehen, sind Kulturfilme meist nicht THE BIG RED ONE (Samuel Fuller, USA 1978) länger als dreißig Minuten. In der Filmpolitik des NATIO- GOOD MORNING, VIETNAM (Barry Levinson, USA 1987) NALSOZIALISMUS haben sie ihren festen Platz als Teil des BEIPROGRAMMS: Jede Kinovorstellung besteht aus einer WOCHENSCHAU, einem Kultur- und einem Spiel- Kriminalfilm. Oberbegriff für eine Vielzahl fiktionaler film – sich nur den Spielfilm anzuschauen, ist verboten. Genres, deren Gemeinsamkeit in der zentralen Rolle Nach 1945 gerät der Kulturfilm in der BRD in eine Krise, eines Verbrechens liegt. Die einzelnen (Sub-)Genres defi- von der er sich nicht mehr erholt. In der DDR wird der nieren sich nach der Verschiedenheit der Akzentuierung, Begriff «Kulturfilm» schon gar nicht mehr übernommen, etwa danach, ob Täter, Opfer oder Polizei und Justiz als sondern duch den des «populärwissenschaftlichen Films» Identifikationsfiguren im Vordergrund stehen oder ob die ersetzt. Insgesamt steht der Kulturfilm in großer Nähe zu Tat in der UNTERWELT, bei Berufsverbrechern, im zivilen DOKUMENTARFILM und ETHNOGRAFISCHEM FILM, Alltag oder im internationalen Agentenmilieu etc. ange- kommt aber ohne die bewusstseinsbildende Motivation siedelt ist. Weitere Kriterien der Kategorisierung sind der des ersteren und den wissenschaftlichen Anspruch des gewählte Ton (tragisch, realistisch, parodistisch etc.) so- letzteren aus. Auch mit dem LEHRFILM ist er eng ver- wie die Atmosphäre und das Ausmaß von Angst und wandt, wird jedoch nur im Kino und nicht, wie dieser, an Terror, von Intellektualität, sozialer Kritik, Action, Humor Bildungsinstituten gezeigt. phb etc. Beispiele: Vgl. JUSTIZDRAMA, THRILLER, GANGSTERFILM, POLIZEI- WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT (Wilhelm Prager, D 1925) FILM, WHODUNIT und WIRTSCHAFTSKRIMI. phb DIE SPHINX VON ZERMATT (Luis Trenker, BRD 1952) Beispiele: DIAL «M» FOR MURDER (Alfred Hitchcock, USA 1953) SHAFT (Gordon Parks, USA 1971) Kulturkontrast. Motiv im DOKUMENTARFILM und in INSOMNIA (Erik Skjoldbjærg, N 1997) unterschiedlich gelagerten Genres des fiktionalen Films. Im Zentrum stehen Angehörige zweier verschiedener Kul- turen (eines oder mehrerer Länder), die aufeinander pral- Kultfilm. Kein Genre, sondern eine lose Anzahl unter- len und sich, aus mangelndem Verständnis füreinander, schiedlichster Filme, die für eine große Gruppe von Zu- in Konflikte verstricken. Das Motiv kann in so verschiede- schauerInnen ein spezifisches Lebensgefühl – häufig in nen fiktionalen Genres wie KOMÖDIE, MELODRAMA, Form einer UTOPIE – exakt auf den Punkt bringen. Kult- MUSICAL, KRIMINALFILM, REPORTERFILM, WESTERN filme werden immer wieder gesehen, durch fetischi- etc. auftauchen. Auch die Kombinationsmöglichkeiten sierende Objekte zelebriert und zum festen, identitäts- mit anderen thematischen Motiven sind breit gefächert stiftenden Bestandteil einer Kultur – die oft genug eine und reichen von MINORITÄTSPROBLEMEN in multikultu- SUBKULTUR ist. Manche Filme, die zunächst FLOPS sind, rellen Gesellschaften und historischen Konflikten des KO- werden erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung zum Kult- LONIALISMUS über die EMIGRATION bis hin zum EXO- objekt, andere haben lediglich regionalen Kultstatus oder TISMUS und der LIEBESGESCHICHTE über kulturelle Bar- werden ausschließlich von bestimmten Alters- oder ande- rieren hinweg. Für manche Filmbewegungen, wie das ren gesellschaftlichen Gruppen erwählt. Der Kultstatus an CINEMA BEUR, ist der Kulturkontrast geradezu konsti- sich ist nicht vorherkalkulierbar, auch wenn dies von Pro- tutives Element. duktionsfirmen bei der Lancierung neuer Filme, insbe- Im Fall des Dokumentarfilms vgl. besonders den ETHNO- sondere BLOCKBUSTER, gerne vorgegaukelt wird – Kult- GRAFISCHEN FILM und den HUMANITÄREN DOKUMEN- filme werden vom Publikum gemacht. Damit eignet ihnen TARFILM. phb eine strukturelle Verwandtschaft mit der spezifischen Re- Beispiele: zeptionshaltung oder Lesart des CAMP, mit der Zuschau- DER DSCHUNGEL RUFT (Harry Piel, D 1934) erinnen und Zuschauer einem Film begegnen (und der oft OUT OF ROSENHEIM (Percy Adlon, BRD 1987) gerade dadurch zum Kultfilm wird). phb BOLLYWOOD IM ALPENRAUSCH … (Christian Frei, CH 2000) Beispiele: DER BLAUE ENGEL (Josef von Sternberg, D 1930) JOHNNY GUITAR (, USA 1953) Kung-Fu-Film s. EASTERN SCORPIO RISING (Kenneth Anger, USA 1964) BLOW UP (Michelangelo Antonioni, GB 1967) THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW (Jim Sharman, GB 1974) Künstlergestalt. Figur im Spielfilm, insbesondere im BLUE VELVET (David Lynch, USA 1986) KÜNSTLERINNEN- oder MUSIKERINNENFILM, der oft in Gestalt eines BIOPICS, seltener als EXPERIMENTELLER SPIELFILM daher kommt. In der Regel steht die Existenz als KünstlerIn im Vordergrund. In diesen Fällen orientiert 54 Glossar sich die Spannungskurve an den Höhen und Tiefen der anderen KünstlerInnen, ihre wirkungsvolle und ausge- künstlerischen Laufbahn (vgl. KARRIERESTORY). Außer- klügelte Performance bei Proben, Vernissagen o. ä. sowie dem wird oft einiges Gewicht auf die Darstellung kreati- durch fotogene Arbeitsinstrumente und -accessoirs, Orts- ver Prozesse gelegt: Dies bedeutet nicht nur im Fall von wechsel und Tourneereisen, schrille Nebenfiguren, hys- KünstlerInnen aus dem filmischen Bereich oft eine meta- terische Fans etc. Die im Porträt zusammengefügten phorische Form der SELBSTREFLEXION. Die Künstlerexis- Dokumente aller Art ergeben ein Mosaik, das den tenz kann aber auch im Hintergrund stehen, eine aus- Charakter und/oder die Biografie der Porträtierten facet- tauschbare Facette der Figur sein und letztlich nur dazu tenreich rekonstruiert. Je nach Intention der Filmema- dienen, ihr ein meist klischeehaftes Bohémien-Kolorit zu cherInnen besteht der Tonfall des Porträts in unver- verleihen. Natürlich gibt es Künstlergestalten auch im hohlener Lobhudelei oder in einer kritischen – und DOKUMENTARFILM, insbesondere in KÜNSTLERINNEN- besonders im Zusammenhang mit politischen Fragestel- und MUSIKERINNENPORTRÄTS, die wie die Spielfilme in lungen bisweilen unbequemen – Auseinandersetzung mit ihrem Aufbau meist den Stationen der porträtierten Bio- einer Künstlerexistenz. grafie folgen – auch wenn das dokumentarische Format Vgl. dagegen den fiktionalen KÜNSTLERFILM, der meist in Auswahl und Präsentation dieser Stationen erheblich ein BIOPIC über eine KÜNSTLERGESTALT ist. phb anders vorgeht. Beispiele: Für DOKU-PORTRÄTS über Filmschaffende vgl. die FILM- LE MYSTÈRE PICASSO (Henri-Georges Clouzot, F 1956) HISTORISCHE DOKUMENTATION. phb ROMY – PORTRÄT EINES … (H.-J. Syberberg, BRD 1965) Beispiele: UNE SUISSE REBELLE … (Carole Bonstein, CH 2000) MICHAEL (Carl Theodor Dreyer, D 1924) INGE MORATH – LETZTE REISE (Regina Strassegger, A 2003) LE SANG D'UN POÈTE (Jean Cocteau, F 1930) CAMILLE CLAUDEL (Bruno Nuytten, F 1988) Künstliche Menschenwesen. Figur insbesondere im SICENCE FICTION- und HORRORFILM, wobei grundsätz- KünstlerInnenfilm. Fast immer ein BIOPIC oder ein lich die Möglichkeit des Cyborgs (halb Mensch, halb Ma- HISTORISCHES FRAUENSCHICKSAL, also eine fiktionali- schine) und des Androids (synthetischer Mensch) besteht. sierte Biografie berühmter KÜNSTLERGESTALTEN aus der Künstliche Menschenwesen können, ähnlich wie die Kunstgeschichte. Das Spektrum reicht von opulenten, auf AUSSERIRDISCHEN WESEN, eine Spiegelfunktion haben, Schauwerte bedachte AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜM- indem sie (in oft beschämend moralischer Weise) über FIMLEN bis zu psychologisch ausdifferenzierten CHARAK- die Gattung Mensch, ihre Tugenden und Laster räson- TERSTUDIEN. Selten wird dabei das ganze Leben der nieren. Sie können in besonderer Weise die MENSCH- KünstlerInnen verfilmt, stattdessen konzentriert man sich MASCHINE-PROBLEMATIK verkörpern oder – in Ge- auf die als zentral erachteten Lebensabschnitte und schichten, die in der Zukunft angesiedelt sind – für düs- Schaffensphasen. Meist sind dies die (dramatisch gestei- tere DYSTOPIEN oder gar ENDZEITVISIONEN stehen. gerten) Hochs und Tiefs einer künstlerischen Laufbahn Denkbar ist auch die Variante, in der nicht so sehr das (vgl. KARRIERESTORY), die Frage nach (genügend) Ta- künstliche Menschenwesen selbst, als vielmehr seine Ma- lent, das Hin- und Hergerissensein zwischen künstleri- cher, meist MAD SCIENTISTS und BODY SNATCHERS, im scher und bürgerlicher Existenz (vgl. IDENTITÄTS- Vordergrund stehen. In diesen Fällen wird stets auch die PROBLEM) und natürlich immer wieder der künstlerische Frage nach der Überheblichkeit des Menschen gestellt, Prozess selbst, der oft als metaphorische Form der der sich als Schöpfer neuen Lebens aufspielt. Schließlich SELBSTREFLEXION gelesen werden kann. Nicht immer kann die Beziehung Schöpfer-Kreatur auch als Variante sind die Hauptfiguren einem breiten Publikum bekannt: des PYGMALION-STOFFS durchgespielt werden. phb Manche gelangen erst durch ihre filmische Aufbereitung Beispiele: in den Kanon der Berühmtheiten. Und: KünstlerInnen- FRANKENSTEIN (James Whale, USA 1931) filme müssen nicht Biopics sein (auch wenn sie das in der BLADE RUNNER (Ridley Scott, USA 1982) Regel sind), sondern können auch von frei erfundenen Fi- THE FIFTH ELEMENT (Luc Besson, F 1997) guren erzählen. Vgl. die Variante des MUSIKERINNENFILMS, außerdem das dokumentarische Format des KÜNSTLERINNENPORT- Kurzdokumentarfilm. Ein DOKUMENTARFILM, dessen RÄTS. Porträts über FilmemacherInnen gelten als FILM- Hauptkriterium – ähnlich wie beim KURZSPIELFILM – zu- HISTORISCHE DOKUMENTATION. phb nächst seine Länge bzw. Kürze ist. Allerdings bestehen Beispiele: verschiedene Ansichten darüber, wie kurz oder lang ein ALL ABOUT EVE (Joseph L. Mankiewicz, USA 1950) solches Exemplar ist oder sein soll. Für die Videothek hier GOYA (Konrad Wolf, DDR 1971) am Seminar gilt, dass Dokumentarfilme bis 30 Minuten MEPHISTO (István Szabó, H/BRD/A 1980) Länge als Kurzdokumentarfilme bezeichnet werden. Die ARTEMISIA (Agnès Merlet, F/D/I 1997) Kategorie wird freilich erst von dem Moment an aus- sagekräftig, von dem es lange DOKUMENTARFILME gibt. Frühe dokumentarische Formate (vgl. AKTUALITÄTEN, KünstlerInnenporträt. Wie das MUSIKERINNENPORT- NICHTFIKTIONALE SZENE, KULTURFILM) werden trotz RÄT eine Spielart des DOKU-PORTRÄTS und damit ein gelegentlich ähnlicher Kürze nicht als Kurzdokumentar- häufiges Format im DOKUMENTARFILM. KünstlerInnen filme bezeichnet. phb scheinen sich besonders zur filmischen Porträtierung zu Beispiele: eignen: durch ihr geläufiges, gelegentlich exzentrisches DIE SCHWULEN TRÄUME DES … (Walter Hastert, D/USA 1999) Auftreten in der Öffentlichkeit, ihre oft effektvolle ROMEO UND JULIA IN BELGRAD (Darko Jakovljevic, D 2000) Selbststilisierung in INTERVIEWS oder Begegnungen mit PEIDEN … (Mattias Caduff, CH 2002) Glossar 55

Kurzspielfilm. Ein Spielfilm, dessen Kriterium zunächst Ansätze, Laien einzusetzen, finden sich vor allem dort, seine Länge ist. Allerdings bestehen verschiedene Ansich- wo GESELLSCHAFTSKRITIK und semidokumentarische ten daüber, wie kurz oder lang ein solches Exemplar ist Authentizität angestrebt wird – am konsequentesten im oder sein soll. Für die Videothek hier am Seminar gilt, NEOREALISMUS –, aber auch in vielen EXPERIMEN- dass Spielfilme unter 60 Minuten Länge als Kurzspiel- TELLEN SPIELFILMEN und LOW-BUDGET-Produktionen filme bezeichnet werden. In der französischen Filmtheorie sowie grundsätzlich in Filmen, in denen es um KINDHEIT spricht man dagegen von court métrage (30–40 min), und ADOLESZENZ, MINORITÄTSPROBLEME und BEHIN- moyen métrage (60–70 min) und long métrage (länger DERUNG geht. als 60–70 min). Kurzspielfilme sind oft SCHULFILME, die Vgl. KINDLICHE PROTAGONISTEN. phb als Abschlussarbeiten an Filmschulen entstanden und Beispiele: daher deutliche Merkmale ihrer Produktionsbedingungen MENSCHEN AM SONNTAG (Robert Siodmak et al., D 1929) aufweisen. Sie sind jedoch keine DEBUTFILME, womit der PAISÀ (Roberto Rossellini, I 1946) erste professionell produzierte Langspielfilm einer Regis- TAKHTE SIAH (Samira Makhmalbaf, IR/I 2000) seurin oder eines Regisseurs gemeint ist. phb Beispiele: WHILE AMERICA SLEEPS (Fred Zinnemann, USA 1939) Landschaft. Schauplatz im fiktionalen und dokumen- THE BIG SHAVE (Martin Scorsese, USA 1967) tarischen Film. Die Funktion der Landschaft variiert von AFTA (Kornél Mundruczo, H 2001) Film zu Film: Auf REISEN und IRRFAHRTEN, in ROAD- MOVIES und CHARAKTERSTUDIEN, aber auch in ESSAY- und EXPERIMENTELLEN DOKUMENTARFILMEN wird sie zur veräußerlichten ALLEGORIE über die innere Verfas- sung reisender Figuren und Personen; im BERG- und L HEIMATFILM sowie gelegentlich im TIERFILM ist sie der zutiefst emotional besetzte Ort einer Sehnsucht nach Un- Lager. Schauplatz und Motiv im fiktionalen und doku- versehrtheit und damit eine UTOPIE; im NEUEN HEIMAT- mentarischen Film. Ob Konzentrations-, Vernichtungs-, FILM dagegen wird sie zur harten, oft gegnerischen Da- Arbeits-, Kriegsgefangenen- oder Flüchtlingslager: Immer seinsbedingung eines BÄUERLICHEN LEBENS; in ABEN- wieder werden die elenden Lebensbedingungen der TEUERFILMEN und auf EXPEDITIONEN UND SCHATZ- Insassen, ihre willkürliche Anonymisierung und Ent- SUCHEN etwa in der WÜSTE oder im DSCHUNGEL kämp- menschlichung durch die AufseherInnen, das entsetzliche fen kühne Männer gegen sie an. In all diesen (und Morden in der INSTITUTION Lager wachgerufen. Der An- zahlreichen weiteren) Varianten pendelt der Stellenwert spruch der Filme variiert erheblich: MELODRAMEN ste- der Landschaft zwischen geschmäcklerisch fotografierter hen neben bitteren TRAGIKOMÖDIEN und schnörkel- Kulisse und einer selber zur Protagonistin werdenden losen, schmerzhaften Versuchen der Vergangenheits- Örtlichkeit, die den formalen und inhaltlichen Verlauf des bewältigung. Im Zusammenhang mit dem HOLOCAUST Film wesentlich (mit-)bestimmt. phb stehen filmische Lager-Schilderungen vor denselben Problemen wie literarische: Es geht immer auch um die Beispiele: Frage, ob nach «Auschwitz noch Gedichte möglich sind», L'HOMME DU LARGE (Marcel L'Herbier, F 1920) ob die künstlerische Auseinandersetzung mit dieser The- AGUIRRE – DER ZORN GOTTES (Werner Herzog, BRD 1973) matik überhaupt denkbar oder erlaubt ist – nicht nur an- GREAT CENTRAL VALLEY, CALIFORNIA (J. Benning, USA 2000) gesichts von Unbeschreibbarkeit und Sprachlosigkeit gegenüber den eigentlichen Schauplätzen, sondern auch LandstreicherIn s. VAGABUNDIN angesichts der Schwierigkeiten mit der in künstlerischen Auseinandersetzungen unhintergehbaren Ästhetisierung an sich. phb Langzeitstudie. Dokumentarisches Format, in dem die Beispiele: Biografien von Menschen über einen längeren Zeitraum NUIT ET BROUILLARD (Alain Resnais, F 1955) bis zu mehreren Jahrzehnten mithilfe des Films verfolgt BENT (Sean Mathias, GB 1996) werden. Es wird dabei je nach Konzept entweder eine ALEFBAY-E AFGHAN (Mohsen Makhmalbaf, IR 2002) relativ geschlossene Diachronie betrachtet oder iterativ vorgegangen und längere Zeitphasen ausgespart. Wie der Terminus «Studie» andeutet, verbindet sich mit Laiendarsteller. Verschiedene Spielfilmtraditionen ar- dieser Methode ein wissenschaftlichen Prinzipien ver- beiten mit Laien, sei es aus ästhetischer Überzeugung pflichtetes historisches, ethnologisches, soziologisches oder weil für bestimmte Rollen geeignete Schau- oder (entwicklungs-)psychologisches Interesse. Gegen- spielerInnen fehlen. Daraus ergeben sich Möglichkeiten stände von dokumentarischen Langzeitstudien können und Limitationen: Einerseits spielen Laien meist sich sowohl Individualbiografien als auch Prozesse bei selbst oder Personen, die ihnen ähnlich sind; dabei sozialen Gruppen sein, die durch Arbeit oder räumliches führen die physischen Spuren des Alltags, die Prägung Zusammenleben verbunden sind. Die Autoren von Lang- durch eine spezifische Kultur oder der Dialekt zu einer zeitstudien entwickeln ein besonders enges Verhältnis zu Authentizität, Direktheit und Unverbrauchtheit, die den ProtagonistInnen, so dass diese die aufzeichnende ausgebildete SchauspielerInnen nicht unbedingt errei- und beobachtende Kamera häufig «vergessen». uvk chen. Andererseits sind die mangelnde Professionalität und die fehlende Technik von Laien zu verzeichnen, das Beispiele: tendenzielle Unvermögen, längere Passagen zu sprechen, DREHBUCH: DIE ZEITEN (W. u. B. Junge, DDR/D 1961–1992) Rollen in sich stimmig und bruchlos zu interpretieren oder RITUALE DER DOGON (J. Rouch, G. Dieterlen, F 1966–1968) emotional zwischen Rolle und Realität zu unterscheiden. MEMORIES AND DREAMS (M. Llewelin Davies, GB 1974–1981) 56 Glossar

Lateinamerikanisches Kino. Der Begriff bezieht sich Vermittlung von Wissen oder die Darstellung exempel- allein auf die geografische Zuordnung von Filmen zu ei- hafter Verrichtungen (v. a. materieller Herstellungs- ner Weltregion und schließt Produktionen von Mexiko bis prozesse) zielende Form. Oberste Norm ist die Anschau- Argentinien, von Kuba bis Brasilien mit ein. Er dient als lichkeit, entsprechend charakterisiert ihn ein auf die grobmaschiges Ordnungskriterium, ist bewusst verall- Gedächtnisfunktion bezogener, moderater Schnittrhyth- gemeinernd und unscharf, nimmt keine Rücksicht auf die mus, strengste continuity und der häufige Einsatz von massiven kulturellen Unterschiede innerhalb Lateiname- Zeitlupe (z. B. bei Bewegungsanalysen in der Zoologie) rikas und impliziert darüber hinaus die Existenz einer und Zeitraffer (z. B. bei der Darstellung von Pflanzen- FREMDEN ERZÄHLTRADITION, die freilich nur aus west- wachstumsprozessen). uvk licher Perspektive und nur für ein westliches Publikum Beispiele: fremd ist. Und: Das Etikett «lateinamerikanisches Kino» COMMENT SE FAIT LE FROMAGE … (anonym, F 1909) ist je nach Beschreibungszusammenhang ein westliches, FEIND IM BLUT (Walter Ruttmann, CH 1931) mit dem konsequenterweise auch nur jene lateiname- THE PUBLIC PAYS (Errol Taggert, USA ?) rikanischen Filme bedacht werden, die im Westen über- haupt gezeigt werden. Zu einzelnen Stilrichtungen und filmhistorischen LeichenräuberIn s. BODY SNATCHER Bewegungen vgl. CINEMA NÔVO, THIRD CINEMA und MAGISCHER REALISMUS. phb Beispiele: Leidensgeschichte. Von der Passiongeschichte Christi TERRA EM TRANSE (Glauber Rocha, Brasilien 1967) inspirierte und nicht selten auch auf diese anspielende LA ÚLTIMA CENA (Tomás Gutiérrez Alea, Kuba 1976) Form der Narration, in deren Mittelpunkt eine leidende YO, LA PEOR DE TODAS (M. L. Bemberg, Argentinien 1990) Figur steht. Diese ist bereit, für ihre Überzeugungen und PEQUEÑOS MILAGROS (Eliseo Subiela, Argentinien 1998) Werte Torturen auf sich zu nehmen. Häufig bilden die Biographien historischer Figuren die Stoffgrundlage filmischer Leidensgeschichten, was diesen eine Affinität Legendenverfilmung. Verfilmung einer seit alters tra- zum BIOPIC verleiht. Der Narrationstyp kann sich jedoch dierten Legende, deren Wahrheitsstatus sich objektiven auch auf psychisches Leiden oder eine unheilbare KRAN- Kriterien entzieht. Entsprechend wird mit den Gesetz- KHEIT erstrecken oder sich auf die subtile Gewalt in INS- mäßigkeiten realistischer Logik freier umgegangen und TITUTIONEN beziehen. uvk werden die Grenzen zu PHANTASTIK und FANTASY leichtfüßiger überschritten als im herkömmlichen Erzähl- Beispiele: LA PASSION DE JEANNE D'ARC (Carl Theodor Dreyer, F 1928) kino (wenngleich auf narrativer Ebene oft ähnlich tradi- CRÍA CUERVOS (Carlos Saura, E 1975) tionell vorgegangen wird). Viele Legendenverfilmungen SALAAM BOMBAY (Mira Nair, IND/F/GB 1988) kommen als BIOPICS daher und werden wegen ihres identitätsstiftenden Potenzials gern zu NATIONALEPEN überformt (Wilhelm Tell, König Artus, Faust, das Lesben. Dass lesbische Figuren im Kino äußerst selten Rolandslied, die Nibelungen etc.). Andere konzentrieren vorkommen, hat vor allem drei Gründe, zum einen natür- sich auf die Vita eines Wundertätigen und werden damit lich die jahrhundertealte Ablehnung der HOMOSEXUA- zur Variante der HEILIGENLEGENDE. Die meisten Legen- LITÄT durch die westliche (heterosexuelle) Gesellschaft. denverfilmungen spielen in der Vergangenheit, manche Zum anderen meint die Alltagsvorstellung von HOMO- in einer (bisweilen höchst zweifelhaften) Art SEXUALITÄT bis heute vor allem die männliche Homo- MITTELALTER, andere wiederum in einer nicht näher de- sexualität und blendet die weibliche Variante weitgehend finierten «grauen Vorzeit». aus. Drittens dominiert in den wenigen Darstellungen Zur Verfilmung antiker Legenden vgl. MYTHOS. phb von Lesben der heterosexuell-männliche Blick, der Beispiele: lesbische SEXUALITÄT als defizitär schildert oder als DIE NIBELUNGEN (Fritz Lang, D 1924) prickelnde Variante, zu der sich Männer hinzugesellen DAS BLAUE LICHT (Leni Riefenstahl, D 1932) und sie dadurch überhaupt erst aufwerten und vervoll- LANCELOT DU LAC (Robert Bresson, F 1974) kommnen sollen (kaum ein heterosexueller PORNOGRA- AVCI (Erden Kiral, Türkei 1998) FISCHER FILM kommt ohne «lesbische Nummer» aus). Ernstzunehmende Darstellungen von Lesben, die über die abgedroschenen Klischees des Mannweibs auf dem Lehrfilm. Gattung des nicht-fiktionalen Films, der als di- Motorrad, der grotesken TÄTERIN oder PATHOLOGI- daktisches Material für eine Unterrichtssituation produ- SCHEN KILLERIN hinausgehen, sind oft an die Existenz ziert oder entsprechend bearbeitet wurde. Historisch las- lesbischer Regisseurinnen gebunden, die seit den 1980er sen sich als Unterkategorien der bevorzugt für die natur- und 1990er Jahren – vor allem im Rahmen des QUEER wissenschaftlichen Disziplinen und die Medizin (Röntgen- CINEMA – den heterosexuellen Phantasien realistische filme, Operationsfilme) entwickelte wissenschaftliche Film Entwürfe lesbischer Lebenslogiken und Figuren entge- (so genannter Forschungs- oder Hochschulfilm, v. a. in genstellen. phb Frankreich und Deutschland seit den 1910er Jahren) so- wie der Schul- oder Unterrichtsfilm (v. a. in der Schweiz Beispiele: und in Deutschland seit den 1920er Jahren) unter- THE CHILDREN'S HOUR (William Wyler, USA 1961) THE HUNGER (Tony Scott, GB 1982) scheiden, der für den Unterricht an allgemeinbildenden PAS TRÈS CATHOLIQUE (Tonie Marshall, F 1993) Schulen sowie Berufs- und gewerblichen Fachschulen BOYS DON'T CRY (Kimberly Pierce, USA 1999) hergestellt wurde. Vom DOKUMENTARFILM einerseits, vom KULTUR- und INDUSTRIEFILM andererseits unter- scheidet sich der Lehrfilm durch seine primär auf die Glossar 57

Leuzinger. Spezialsammlung am Seminar für Filmwis- in Liebesleid und -freud schwelgen, von Irrungen und senschaft. Filme des Rapperswiler Kinounternehmers Wirrungen erzählen und oft im emotionalen Überfluss Willy Leuzinger (1875–1935), der ab 1909 in der Ost- baden. Deutlich leisere (aber nicht weniger intensive) und Zentralschweiz mehrere Kinosäle eröffnete und da- Töne schlagen CHARAKTERSTUDIEN an: Sie verpflichten neben ab 1917 ein Wanderkino betrieb. Zwischen 1920 sich realitätsnahen, komplexen Schilderungen, die sich und 1929 produzierte er im Tourneegebiet (Zürich, Bern, einer allzu simplen Geradlinigkeit oft entziehen und Luzern, Uri, Schwyz, Glarus, St. Gallen, Thurgau, Appen- stattdessen auch die Schattenseiten in der Geschichte zell) etwa hundert meist kurze Filme, von denen rund 70 einer Liebe ausleuchten. Bis in die 1980er Jahre wurden erhalten blieben und heute restauriert sind. Es handelt nahezu ausnahmlos heterosexuelle Liebesgeschichten sich überwiegend um AKTUALITÄTEN im politischen und erzählt – mit Rücksicht auf mehrheitsfähige Vorstel- vorpolitischen Raum oder um DOKUMENTARFILME, die lungen und Vorurteile. Seither nimmt die Zahl an Filmen das lokale öffentliche Leben sowie die Vereins- und zu, in denen sich SCHWULE und LESBEN ineinander ver- Festkultur ihrer Region erfassen. Diese Filme wurden als lieben – im Mainstreamkino in (mehr oder weniger ge- BEIPROGRAMM von Kinovorstellungen gezeigt, im Ex- lungenen) KOMÖDIEN, in kleineren Produktionen vor tremfall nur am Ort der Aufnahme. Leuzinger drehte aber allem des QUEER CINEMA in einer selbstbewussten auch mehrere längere Turnfestfilme für den Eidgenös- Bandbreite an Varianten. phb sischen Turnverein, die in der ganzen Schweiz verliehen Beispiele: wurden. Seine privaten HOME MOVIES dagegen blieben ANNA KARENINA (Clarence Brown, USA 1935) unveröffentlicht. – Die Nitratpositive, von denen ein Drit- DOCTOR ZHIVAGO (David Lean, USA 1965) tel ein- oder mehrfarbig viragiert ist, sind in der Cinéma- NELLY ET MONSIEUR ARNAUD (Claude Sautet, F 1995) thèque Suisse in Lausanne archiviert. Die für das Seminar für Filmwissenschaft gezogenen Kopien der Sammlung sind durchwegs schwarzweiß. phb Literaturverfilmung. Die Adaption fiktionaler Prosa Beispiele: scheint dem Film mehr zu entsprechen, als das bei DRA- HAUPTÜBUNG DER FEUERWEHR VON RAPPERSWIL (CH 1922) MEN-, TAGEBUCH- oder gar LYRIKVERFILMUNGEN der KIRCHWEIHLEBEN IN HORGEN (CH 1924) Fall ist. Im Vergleich zur Adaption dramatischer Texte ist HOCHZEITSFEIER DES HERRN DIREKTOR … (CH 1927) diejenige epischer Texte meist weniger dialoglastig, mehr Milieu wird entfaltet. Es wird flexibler mit Ort und Zeit umgegangen (während die theaterübliche Einheit von Ort Licht. Technisch-ästhetischer Terminus, der für eine be- und Zeit im Film klaustrophobisch wirken kann), auch sondere, stilprägende Art der Lichtsetzung – bevorzugt größere Zeitsprünge (analog der Zeitdifferenz, die im im Schwarzweiß-Bereich – oder für besondere Lichtex- Roman häufig durch die Kapitelgrenzen markiert sind) perimente (z. B. Gestaltung ohne Kunstlicht) oder Licht- sind möglich. Die Charaktere können detailreicher, stiller simulation (z. B. amerikanische Nacht) vergeben wird. und diskreter entwickeln werden. Andererseits müssen Der Stummfilm des EXPRESSIONISMUS arbeitet mit har- die meisten Texte für die Verfilmung drastisch gekürzt ten Schlagschatten, um eine unheimliche Atmosphäre zu werden, die Erzählperspektive geändert, Subjektivierun- schaffen. Der FILM NOIR knüpft lichttechnisch an diese gen limitiert werden. Sprachstilistische Eigentümlich- Tradition an und benutzt häufig die so genannte low key- keiten der Erzählerrede können meist nicht adaptiert Lichtgestaltung, arbeitet mit graduell unterschiedlich in- werden, da ihnen keine visuellen Äquivalente ent- tensiven Hell-Dunkel-Kontrastierungen: Einzelne Details sprechen. Dennoch hat gerade die Stummfilmperiode werden plastisch in der Bildkomposition hervorgehoben, versucht, filmsprachliche «Übersetzungsmodi» für unkon- andere treten in den dunkleren «Hintergrund». Im Ge- ventionelle Erzählweisen zu finden. Klassikerverfilmungen gensatz zu diesem Stil setzt die high key-Gestaltung auf folgen meist dem Prinzip der «Werktreue», illustrieren weiche Konturen und schattenfreie, gleichmäßige Aus- die Vorlage und bleiben ästhetisch hinter ihr zurück. leuchtung. Mit den verschiedenen Lichtstilen verbinden Unterhaltungsliteratur kann hingegen unbefangener be- sich bestimmte Genres, so low key mit dem GANGSTER- arbeitet werden. uvk und HORRORFILM, high key dagegen mit der Komödie Beispiele: im Allgemeinen, der SOPHISTICATED COMEDY und der LA CHUTE DE LA MAISON USHER (Jean Epstein, F 1928) SCREWBALL COMEDY im Besonderen. uvk I PROMESSI SPOSI (Mario Camerini, I 1941) Beispiele: DIE MARQUISE VON O. (Eric Rohmer, BRD/F 1975) BARRY LYNDON (Stanley Kubrick, USA 1975) YEELEN (Souleymane Cissé, Mali/F 1987) BAD MA RA KHAHAD BORD (Abbas Kiarostami, Iran/F 1999) Low budget. Amerikanischer Ausdruck für einen billig gedrehten, eher kurzen Spielfilm mit meist zweitrangigen Schauspielern, kleinem Budget und knappen Produk- Liebesgeschichte. Kein Genre, aber ein Erzählmuster, tionszeiten. Es besteht eine Affinität zum B-PICTURE. das ohne Ermüdungserscheinungen in zahlreichen Gen- Früher waren low budget-Produktionen auch als Füll- res zum Zug kommt. Einzige Bedingung ist, dass sich die material für Doppelprogramme gedacht. Einerseits sind ProtagonistInnen finden – andernfalls läge der Fall der sie standardisierte Billigunterhaltung, andererseits bieten TRAGISCHEN LIEBE vor. Alle weiteren Elemente sind ab- sie Gelegenheit für innovative Abweichungen von der hängig vom Genre, dem die Liebesgeschichte zugeordnet Hollywoodnorm. wird (oder werden will). Denkbar sind EHE-, VERWECHS- Vgl. den sozusagen umgekehrten Fall des BLOCKBUS- LUNGS- und ROMANTISCHE KOMÖDIEN, aber auch EX- TER. uvk ZESSIVE und EXOTISCHE MELODRAMEN sowie KRIEGS- Beispiele: ROMANZEN, MUSICALS, BIOPICS und HEIMATFILME, die DAS GEHEIMNIS VOM BERGSEE (Jean Dréville, CH/BRD 1952) 58 Glossar

BLAST OF SILENCE (Allan Baron, USA 1960) festen Bestandteilen Erpressung, KORRUPTION, GE- THE BED YOU SLEEP IN (John Jost, USA 1993) WALT, omertà (Schweigen) und vendetta (RACHE) gehö- ren, aber auch Wertvorstellungen, die auf einem über- steigerten Ehrbegriff und in der Hochschätzung ver- Low key s. LICHT wandtschaftlicher Beziehungen fußen. Das Mafia-Motiv ist Wesensmerkmal insbesondere amerikanischer GANG- STERFILME, schon lange vor Coppolas Godfather-Tri- Lyrikverfilmung. Verfilmung eines oder mehrerer logie, aber seitdem mit erneuerter Kraft. Außerdem kann Gedichte (gelegentlich auch ganzer Gedichtzyklen), es im WIRTSCHAFTSKRIMI vorkommen. phb typischerweise in einem kurzformatigen EXPERIMEN- TALFILM, der ohne weiteres auch als ANIMATIONSFILM Beispiele: konzipiert sein kann. Im Vordergrund steht das Bestre- LITTLE CAESAR (Mervyn LeRoy, USA 1930) THE YAKUZA (Sydney Pollack, USA 1974) ben, für die rein verbale Vorlage eine audiovisuelle Ent- CAMORRA (Lina Wertmüller, I/USA 1985) sprechung zu schaffen; daher geht es in erster Linie um HANA-BI (Takeshi Kitano, J 1997) eine hoch expressive Kamera- und TON-Arbeit, um Musi- kalität und Rhythmus. Außerdem wird auf narrative Logik (und die sich daraus ergebenden filmischen Konven- Maghrebinisches Kino. Der Begriff bezieht sich allein tionen) zu Gunsten einer lyrischen Sinnstiftung weitge- auf die geografische Zuordnung von Filmen zu einer hend verzichtet. In den meisten Lyrikverfilmungen er- Großregion und umfasst Produktionen aus Marokko, scheint der eigentliche Text der Vorlage als von aus- Algerien und Tunesien. Er dient lediglich als zusam- gebildeten SprecherInnen (meist SchauspielerInnen) ge- menfassendes Ordnungskriterium, ist bewusst verallge- sprochene VOICE-OVER. meinernd und unscharf und nimmt keine Rücksicht auf Gelegentlich reduziert sich die Lyrikverfilmung auf eine die kulturellen Unterschiede innerhalb des Maghreb. filmische MEDITATION; in diesen Fällen geht es weniger Darüber hinaus impliziert er die Existenz einer FREMDEN um eine Neuinszenierung des Gedichts mit filmischen ERZÄHLTRADITION, die freilich nur aus westlicher Per- Mitteln, vielmehr erschöpft sich dort die Funktion der spektive und nur für ein westliches Publikum fremd ist. Bilder letztlich in der meditativen Illustration des bereits Und: Das Etikett «maghrebinisches Kino» ist je nach bestehenden Kunstwerks. Beschreibungszusammenhang ein westliches, mit dem Vgl. die ebenso seltene und ähnlich komplexe MUSIK- konsequenterweise auch nur jene Filme bedacht werden, VERFILMUNG. phb die im Westen überhaupt in die Kinos gelangen. Beispiele: Vgl. dagegen das CINÉMA BEUR, dessen Regisseure und L'ÉTOILE DE MER … (Man Ray, F 1928) Darsteller maghrebinischer Herkunft sind, das aber in THE ANGELIC CONVERSATION (Derek Jarman, GB 1985) Frankreich entsteht. phb PAUL CELAN: TODESFUGE (Nives Widaner, CH 1999) NEBEL (Matthias Müller, D 2000) Beispiele: LE VENT DES AURÈS (M. Lakhdar-Harmina, Algerien 1967) LES SILENCES DU PALAIS (Moufida Tlatli, Tunesien/F 1994) MEKHTOUB (Nabil Ayouch, Marokko 1997) M Magischer Realismus. Stilrichtung vor allem im Mad scientist. Figur vor allem im SCIENCE FICTION- LATEINAMERIKANISCHEN KINO der 1980er und 1990er und HORRORFILM. Im Zentrum steht die pervertierte Jahre. Die Geschichten erzählen meist vom gewöhnlichen Wissenschaftler- und/oder ARZTFIGUR, die vor lauter For- Alltag KLEINER LEUTE, enthalten dabei aber Elemente schung jede moralische, religiöse oder ethische Grenze oder ganze Handlungsstränge, die über die in der west- überschritten, den Verstand verloren oder als eigenes lichen Denktradition gängigen Vorstellungen von Versuchskaninchen Schäden davongetragen hat. Der Realismus hinaus gehen und insofern etwas Surrea- mad scientist kann dämonische, kriminelle oder auch ko- listisches haben. Diese Elemente werden jedoch mische Züge tragen. Besonders im Horrorfilm wird er, organisch mit den «realistischen» Anteilen der Ge- nun zugleich oft BODY SNATCHER, zum Schöpfer schichte verflochten und müssen nicht, wie im westlichen KÜNSTLICHER MENSCHENWESEN, dessen eigene Krea- Kino üblich oder für westliche Sehgewohnheiten «not- tur am Ende zerstrört wird (und meist auch den Unter- wendig», durch starke formale Merkmale signalisiert und gang des mad scientist herbeiführt). phb gerechtfertigt werden. Vgl. dagegen den POETISCHEN REALISMUS, eine dem Beispiele: Magischen Realismus in vielen Punkten ähnliche DR. MABUSE, DER SPIELER (Fritz Lang, D 1922) Stilrichtung des französischen Films der 1930er Jahre, die DR JECKYLL AND MR HYDE (Victor Fleming, USA 1941) aber weitgehend auf «magische» Elemente verzichtet. MONKEY BUSINESS (Howard Hawks, USA 1952) phb THE LAWNMOWER MAN (Brett Leonard, USA 1992) Beispiele: UN SEÑOR MUY VIEJO CON ALAS … (F. Birri, Kuba/E 1988) Mafia. Motiv, das alle Arten von organisierten ÚLTIMAS IMÁGENES DEL … (E. Subiela, Argentinien/E 1989) Verbrechersyndikaten meint, von der italienischen EL VIAJE (Fernando E. Solanas, Argentinien/F 1992) Camorra über die amerikanische Cosa Nostra und (seit ERENDIRA (Ruy Guerra, Mexiko/F/BRD 1983) den 1990er Jahren) die osteuropäischen Spielarten bis zu den japanischen Yakuza. Im Zentrum stehen typi- scherweise stark ritualisierte Verhaltensmuster, zu deren Making of s. PRODUKTIONSBERICHT Glossar 59

Malerei. Visuelle Kunstform, die in verschiedenster als AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜMFILM daher kommt Weise filmisch verarbeitet werden kann. Zum einen kann und Schauwerte in Hülle und Fülle bietet. Dazu gehören ein malerisches Werk, die Bedingungen seiner Produktion opulente Essgelage, farbenprächtige Roben, mächtige und öffentlichen Wahrnehmung Gegenstand von BIOPICS Schlossanlagen, düstere Verließe und üppige (in den oder DOKU-PORTRÄTS sein, die auf der Biografie Studios nachgestellte) Naturszenen. Der inhaltliche Ak- realhistorischer bildender KÜNSTLERGESTALTEN beruhen zent liegt auf bravourösen Fechtduellen zwischen kühnen bzw. deren Arbeit dokumentieren. Zum anderen tritt das Männern und bösen Schurken (die auffallend oft effemi- Thema im KÜNSTLERINNENFILM auf und kann sich auf nierte Züge tragen), auf Entführungen schöner Frauen fiktive MalerInnen-Figuren beziehen. Indirekter, wenn- und galanten Verhaltenscodes. phb gleich filmästhetisch bedeutsam, ist der Bezug von Film Beispiele: und Malerei dann, wenn Filmemacher sich in der Bild- THE MARK OF ZORRO (Rouben Mamoulian, USA 1940) komposition oder der Gestaltung von LICHT und FARBE THE ADVENTURES OF DON JUAN (V. Sherman, USA 1948) an malerischen Vorbildern orientieren. Dies ist insbe- FANFAN LA TULIPE (Christian-Jaque, F/I 1951) sondere dann der Fall, wenn Regisseure zugleich Maler CYRANO DE BERGERAC (Jean-Paul Rappeneau, F 1991) sind und über ein an der klassischen Malerei geschultes Bildgedächtnis verfügen, zu dem sie vielfältige inter- mediale Bezüge in ihrer Filmarbeit, z. B. als Anspielung, Märchen. Genre, das sich in der Regel auf überlieferte Zitat, Kontrafaktur, Neukontextualisierung etc. herstellen. Märchen (z. B. der Gebrüder Grimm) oder neu erfundene Ein Bezug zur Malerei findet sich häufig auch im AUS- (z. B. von Hans Christian Andersen) stützt und ent- STATTUNGS- UND KOSTÜMFILM, wo Gemälde schlicht sprechend oft als LITERATURVERFILMUNG daher kommt. als Bildquellen für die Inszenierung, zur Erzielung eines Wie die Märchen sind ihre Verfilmungen nicht unbedingt historisierenden looks dienen. In den EXPERIMEN- nur an Kinder adressiert, entsprechend handelt es sich TALFILM-Gattungen oder im ANIMATIONSFILM ist die nicht immer um KINDER- oder FAMILIENKINO. Im Malerei schliesslich eine Technik, die mit gefilmten Pas- Gegensatz zur FANTASY vermittelt der Märchenfilm eher sagen kombiniert wird, d. h. es wird direkt auf den Trä- traditionsbewusste oder gar altertümelnde Wertvorstel- ger gemalt, Gefilmtes übermalt oder koloriert oder aber lungen und ist oft in vergangenen Epochen angesiedelt, Gemaltes animiert. uvk besonders oft in einer Art von MITTELALTER, das mit Beispiele: dem historischen Mittelalter jedoch herzlich wenig zu tun DROWNING BY NUMBERS (Peter Greenaway, GB 1988) hat (haben will). Freilich existieren auch PARODIEN und VINCENT AND THEO (Robert Altman, USA 1989) TRAVESTIEN von Märchen – die sich erst recht nicht BILDER EINER AUSSTELLUNG (Ulrich Seidl, A/D 1996) mehr an ein kindliches Publikum richten. phb Beispiele: THE WIZARD OF OZ (Victor Fleming, USA 1940) Männerfreundschaft s. BUDDY-BUDDY LA BELLE ET LA BETE (Jean Cocteau, F 1946) SCHNEEWEISSCHEN UND ROSENROT (S. Hartmann, DDR 1976)

Männer-Verhalten. Motiv, das in komischen und ernsten Genres vorkommt, keinesfalls aber nur in solchen s. EASTERN mit zahlenmäßig dominierenden Männerfiguren wie WESTERN, KRIEGS- oder ACTIONFILM etc. Was als (proto-)typisches Männer-Verhalten gilt, ist von histori- Massenmedien. Motiv, in dessen Mittelpunkt die schen und soziokulturellen Prozessen abhängig. Darüber INSTITUTION einer Zeitung, eines Senders, einer Nach- hinaus hängt es vom Standpunkt des Regisseurs oder der richtenagentur oder der Beruf des Reporters steht. Meist Regisseurin ab, ob spezifisch männliche Wertvorstel- ergibt sich eine SELBSTREFLEXION auf das Medium Film lungen sowie Verhaltens- und Problemlösungsstrategien oder jedenfalls auf den Akt der Realitätsdarstellung, in als Tugend gepriesen oder als chauvinistischer Machismo welchem Medium auch immer. Dabei kann es gelingen, verurteilt werden. In der Regel jedoch bedient positiv dass die fiktionale Welt durch ihre Spiegelung in Schlag- bewertetes Männer-Verhalten vorwiegend die Bedürfnis- zeilen oder WOCHENSCHAUEN – die wiederum so aus- se des männlichen Publikums. Dies geschieht oft in der sehen wie ihre realen Vorbilder – eine geborgte, klischeehaften Gegenüberstellung von besonders «mas- illusionäre Authentizität gewinnt. Fast immer steht in die- kulinem» heterosexuellem Mann und der besonders «fe- sen Filmen die Figur eines Reporters, einer Reporterin im mininen» Frau oder dem besonders effeminierten Zentrum. Sie ist, ähnlich dem Detektiv, ein dramatur- SCHWULEN Mann. Andererseits können Formen des gisches Instrument, um gesellschaftliche Schranken zu Männer-Verhaltens in KOMÖDIE, PARODIE und SATIRE überschreiten und in diversen Milieus als Zeuge und oft auf die Schippe genommen oder im MELODRAMA pro- mit dem Ziel einer GESELLSCHAFTSKRITIK anwesend zu blematisiert werden. sein. Vgl. das benachbarte BUDDY-BUDDY-Motiv. phb Vgl. dagegen das Genre REPORTERFILM, das, anders als Beispiele: das Motiv der Massenmedien, vor allem in den USA der DAS PARADIES DER JUNGGESELLEN (Kurt Hoffmann, D 1939) 1930er Jahre gepflegt wurde. phb THE MEN (Fred Zinnemann, USA 1950) Beispiele: MÄNNER (Doris Dörrie, BRD 1985) MEET JOHN DOE (Frank Capra, USA 1941) NETWORK (Sidney Lumet, USA 1976) LA MORT EN DIRECT (Bertrand Tavernier, F/BRD 1979) Mantel und Degen. Variante des ABENTEUERFILMS, GOOD MORNING, VIETNAM (Barry Levinson, USA 1987) der häufig als ABENTEUERROMANZE und in aller Regel 60 Glossar

Materialfilm. Genre des EXPERIMENTALFILMS Beispiele: insbesondere der 1970er Jahre. Filmische Elemente, die BERLIN ALEXANDERPLATZ (R. W. Fassbinder, BRD 1980) normalerweise unsichtbar bleiben oder, als technische HEIMAT (Edgar Reitz, BRD 1984) Gegebenheiten, nicht zum Inhalt gerechnet werden, JULIUS CAESAR (Uli Edel, D/NL 2000) bilden das visuelle Material, das zu einer mehr oder DIE MANNS. EIN JAHRHUNDERTROMAN (H. Breloer, D 2001) weniger abstrakten Komposition verwoben wird: Dazu gehören Perforationslöcher, Randnummern, Kratzer und Melodrama. Seit Beginn der Filmgeschichte ein äußerst Fussel, Schleier, Allongen und Startbänder, Positiv- und beliebtes Genre, dessen zentrales Motiv ein emotionaler, Negativfilm, Körnung, Bildstrich, Blitzer, chemischer Zer- zwischenmenschlicher Konflikt ist. Melodramen werden fall etc. Materialfilme stellen eine Form der SELBSTREFLE- häufig aus der Sicht weiblicher Figuren (oft maso- XION über das Medium und den Apparat Kino dar. Sie können, müssen jedoch nicht, gleichzeitig STRUKTUREL- chistischer Prägung) erzählt (vgl. FRAUENFILM). Sie enden in der Regel tragisch, sei es mit dem Tod der LE FILME sein oder aus FOUND FOOTAGE bestehen. phb Heldin, sei es mit deren Verzicht auf eine attraktive Beispiele: Handlungsalternative. Charakteristisch sind starke Emo- T,O,U,C,H,I,N,G (Paul Sharits, USA 1968) tionalisierung und Sentimentalisierung, wechselbadartige EXPERIMENT FILM (Victoria von Flemming, BRD 1978) Zuspitzung sowie polarisierende Figurenzeichnung; STADT DER ESELSBRÜCKEN (Michael Brynntrup, BRD 1990) außerdem dominieren Gefühlsmomente gegenüber Handlungsmomenten. Lange Zeit begegnen Industrie und Kritik dem Melodram und seinem weiblichen Zielpub- Maternal melodrama s. MUTTERDRAMA likum mit Geringschätzung. Dies ändert sich erst in den 1970er Jahren mit der Wiederentdeckung der Filme von Douglas Sirk (bis 1937 unter dem Namen Detlef Sierck) Matrosen s. SEELEUTE durch Rainer Werner Fassbinder. Feministische und Queer-Theory-Ansätze rehabilitieren seither das Genre und heben die Virtuosität in der Inszenierung von visuel- Medien s. MASSENMEDIEN len Codes für unterdrückte Gefühle, ungestillte Sehn- süchte und verbotenen Sex hervor. Vgl. EHEDRAMA, EXOTISCHES MELODRAMA, EXZESSI- Meditation. Richtung des EXPERIMENTALFILMS. VES MELODRAMA, FAMILIENDRAMA, FRAUENFILM, Ausgehend von einem bereits vorhandenen künstleri- MUTTERDRAMA. phb schen Produkt, z. B. einer MUSIK-Komposition, werden bewegte und meist nonnarrative Bilder auf assoziative Beispiele: Weise hinzugefügt, deren Funktion sich letztlich aber in LA HABANERA (Detlef Sierck, D 1937) der meditativen Illustration des anderen Kunstwerks er- GASLIGHT (George Cukor, USA 1944) WRITTEN ON THE WIND (Douglas Sirk, USA 1956) schöpft. phb LOLA (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1981) Beispiel: EWIGE RUHE (Adrian Marthaler, CH 1999) Menacing husband. In der feministischen amerika- nischen Filmtheorie geprägter Ausdruck für eine Figur, Mehrteiler. Format des FERNSEHENS, das von Anfang die besonders (aber nicht nur) im melodramatischen an als Folge mehrerer (selten mehr als zehn) Teile FRAUENFILM der 1940er Jahren eingesetzt wird: die Be- geplant ist, wobei die Mehrteiligkeit vor allem auf den drohung einer anhnungslos ausgelieferten Frau durch Umstand zurückzuführen ist, dass die Ausstrahlung aller ihren dämonischen Ehemann. Die menacing husband- Teile am Stück die gängige Fernsehfilm-Länge von Filme können einerseits als Ausdruck tiefgreifender sechzig oder neunzig Minuten sprengen würde. Gerade Spannungen zwischen den Geschlechtern gelesen darin liegt auch ihre Chance: Mehrteiler sind häufig aus- werden, andererseits als Gegenstück zu den FEMME ladende LITERATURVERFILMUNGEN oder epische BIO- FATALE-Phantasien des FILM NOIR, in denen sich unter- PICS, die als AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜMFILME kon- gründige Ängste vor der Frau äußern. Zugleich decou- zipiert sind, aber auch FAMILIENSAGAS und DOKUDRA- vrieren sie diverse sadomasochistische Spezialitäten der MEN, die als Kinoproduktionen viel zu lange wären und Ehe und die Machtlosigkeit der Frauen im Patriarchat. auf die herkömmliche Länge von 120 Minuten gestutzt Das Motiv ist jedoch älter als der Film: Es hat seinen Ur- werden müssten. Auf formaler Ebene ist der Griff zu einer sprung in den englischen gothic novels des 18. und 19. fernsehtauglichen Ästhetik zu verzeichnen, während auf Jahrhunderts und den darin erzählten Schauergeschich- narrativer Ebene Elemente gestreut werden, die es dem ten um unschuldige junge Frauen, die gewissenslosen Fernsehpublikum erleichtern, trotz einer Tage ausein- Aristokraten zum Opfer fallen. ander liegenden Ausstrahlung den Überblick über alle Vgl. zum einen MELODRAMA, PSYCHOPATHIE und SA- Teile zu behalten (zum Beispiel durch kurze Zusammen- DOMASOCHISMUS, zum anderen, als (nicht unbedingt fassungen des bisher Geschehenen zu Beginn jedes ein- symmetrisches) Pendant, die Figur der MENACING WIFE. zelnen Teils). phb Vgl. dagegen die SERIE, die auch ein Fernsehformat ist, Beispiele: aber anders als der Mehrteiler nicht auf ein Ende, son- GASLIGHT (Thorold Dickinson, GB 1939) dern auf «Unendlichkeit» hin geplant ist und in extremen SUSPICION (Alfred Hitchcock, USA 1941) Fällen mehrere tausend Folgen umfassen kann. Vgl. A DOUBLE LIFE (George Cukor, USA 1948) außerdem die Kinoformate ANSCHLUSSPRODUKT, FORT- SETZUNGSFILM und ZYKLUS. phb Glossar 61

Menacing wife. In Anlehnung an den MENACING empfinden sowie die kreative Phantasie, immer neue und HUSBAND geprägter Begriff, obschon trotz termino- immer scheußlichere Szenarien des Mordens zu ent- logischer Nähe nur bedingt von symmetrischen Varianten werfen. Eine menschliche Bestie entzieht sich gesell- ausgegangen werden kann. Zwar orientieren sich beide schaftlichen Maßstäben, ist weder bestrafbar noch reso- Figuren an der Ausgangslage, dass ein ahnungsloser zialisierbar, und es ist in der Regel unmöglich, sich in sie Ehepartner durch den andern bedroht wird, und in bei- einzufühlen. Bevorzugte Genres sind HORRORFILM, den Fällen wird die bürgerliche Ehe rasch zum Ort ab- SPLATTER, THRILLER und JUSTIZDRAMA, in denen das grundtiefen Schreckens. Doch beim menacing husband Motiv oft mit anderen wie SERIENMORD, SEXUALDELIKT sind zynischerweise junge und unschuldige, d. h. auf den u. ä. verflochten wird. In komischen Genres tritt das Mo- Schutz (von Männern) angewiesene Frauen die Opfer, tiv fast nie auf, allenfalls wird es mit SCHWARZEM HU- während es menacing wives auf ihre braven, aber nicht MOR angereichert. eigentlich schutzbedürftigen Männer abgesehen haben. Vgl. den PATHOLOGISCHEN KILLER, der, anders als die Frauen müssen daher oft auf andere Mittel zurückgreifen menschliche Bestie, an seiner Veranlagung leidet und als Männer, und oft werden sie zu hysterischen TÄTER- zwanghaft töten muss, auch wenn ihm vor seinem eige- INNEN oder gar PATHOLOGISCHEN KILLERINNEN. Ent- nen Tun graut. Ein solcher Killer kann im Film Mitleid sprechend wird der Sicherheitsverlust der Männer als fun- auslösen und eignet sich daher als Protagonist. Zu tieri- damentaler inszeniert als bei den bedrohten Frauen, wo schen oder tiermenschlichen Bestien vgl. MONSTER. phb derselbe Verlust meist erheblich «naturgemäßer» daher Beispiele: kommt. Gleichzeitig legen menacing wife-Filme weniger LANDRU (Claude Chabrol, F 1962) Gewicht auf SADOMASOCHISMUS, was damit zu tun HALLOWEEN (John Carpenter, USA 1978) hat, dass für die Frauen traditionellerweise der masochi- HANNIBAL (Ridley Scott, USA 2000) stische Part reserviert ist, während den Männern in der Regel der Sadismus vorbehalten bleibt. Filme, die in die- sem Punkt umgekehrt umgehen, sind selten und rütteln s. THESENFILM nachhaltig an den herkömmlichen Vorstellungen von Männlichkeit (und Weiblichkeit). phb Beispiele: Metropole s. CITY CAT PEOPLE (Jacques Tourneur, USA 1942) POSSESSION (Andrzej Zulawski, F/BRD 1981) SHATTERED (Wolfgang Petersen, USA 1990) Migration s. EMIGRATION

Mensch-Maschine-Problematik. Motiv in nicht- Milieustudie. Genre, das sich weniger auf die fiktionalen und fiktionalen Filmen, das dem Verhältnis psychologische Darstellung von Individuen und deren des Menschen zur Maschine gilt. In nicht-fiktionalen Konflikte einlässt als auf die Analyse eines bestimmten Filmen erscheint es im Zusammenhang mit - Segments der gegenwärtigen Gesellschaft. Oft steht eine nisierungs- und Automatisierungsprozessen in der indu- INSTITUTION oder ein anderer Ort der öffentlichen striellen Produktion und ihren Folgen für die arbeitenden Begegnung wie Kneipe, Frisiersalon, Fischmarkt, Arbeits- Menschen. Hier bietet die vermehrte Substitution amt oder Redaktion samt dem dazugehörigen Spektrum menschlicher Arbeitskraft durch die Maschine, die häufig einschlägiger Typen im Zentrum. In urbanen Zusammen- in die Arbeitslosigkeit führt, Anlass zur kritischen Refle- hängen angesiedelt, kommt die Milieustudie oft als xion der wirtschaftlichen Modernisierung, Produktivitäts-, QUARTIERSTUDIE daher. Sie ist in der Regel einem reali- Effizienz- und Profitsteigerung in den Industriegesell- stischen Stil verpflichtet, der in der Inszenierung von schaften. Im fiktionalen Film erscheint der Konflikt zwi- sprachlichen Jargons, beruflichen Eigeneheiten, Insider- schen Mensch und Maschine häufig als direkter Informationen und einer spezifische Atmosphäre zum Antagonismus, der sich bis zur REVOLTE DER TECHNIK Ausdruck kommt. Oft wird an Originalschauplätzen und steigern kann. Die Maschine ist in diesem Verständnis nicht selten mit LAIENDARSTELLERN gedreht. kein Instrument, das dem Menschen dient und ihm das Zur Schilderung von Milieus aus verganenen Epochen vgl. Dasein erleichtert, sondern eine Physis und/oder Psyche HISTORISCHE MILIESTUDIE. phb schädigende Größe. Als Roboter oder «Maschinen- Beispiele: mensch» tritt sie in direkte Gegnerschaft zum Menschen. UNE PARTIE DE CAMPAGNE (Jean Renoir, F 1936) In neueren SCIENCE-FICITION-Filmen treten Mensch- LA TERRA TREMA (Luchino Visconti, I 1947) Maschinen-Hybride als Cyborgs auf, eine Sonderform LA NUIT AMÉRICAINE (François Truffaut, F/I 1973) KÜNSTLICHER MENSCHENWESEN, die übermenschliche THE SHOE (Laila Pakalnina, Lettland 1997) Kräfte haben und gleichzeitig spezifische Defizite aufwei- sen, die ihren Maschinencharakter unterstreichen. uvk Beispiele: Militär. Motiv im dokumentarischen und fiktionalen STEELMILL (Richard Serra, Clara Weyergraf, BRD/USA 1979) Film, das in den unterschiedlichsten Genres vorkommen ROBOCOP (Paul Verhoeven, USA 1987) kann. Das Spektrum reicht von der GESELLSCHAFTS- STRANGE DAYS (Kathryn Bigelow, USA 1994) oder SYSTEMKRITIK, in der die sozialen Strukturen der INSTITUTION Militär anprangert werden, über den KRIEGSFILM in allen seinen Schattierungen, bis hin zum Menschliche Bestie. Figur, zu der die sadistische Lust KAVALLERIEWESTERN und zur MILITÄRKLAMOTTE, die am (physischen und psychischen) Zerfleischen anderer auf albernen bis dümmlichen KLAMAUK setzt. Häufig, gehört, dazu die Unfähigkeit, Mitgefühl oder Reue zu aber keineswegs zwingend, sind Verflechtungen mit an- 62 Glossar deren Motiven wie KRIEG, MÄNNERVERHALTEN, INSTI- Neben mehr oder weniger einfühlsamen Darstellungen TUTION, SCHICKSALSGEMEINSCHAFT, HOMOSEXUALI- von Seiten der Majorität stehen Selbstdarstellungen der TÄT, KOLONIALISMUS etc. Auf formaler Ebene liegt der Betroffenen. Reiz des Motivs oft in einer spezifischen Art von Stili- Vgl. Filmgruppen und Bewegungen wie CINÉMA BEUR, sierung, die sich aus der Uniformierung der Figuren sozu- JIDDISCHES KINO, BLACK CINEMA etc., außerdem sagen von selbst ergibt. phb thematische Motive wie HOMOSEXUALITÄT, BEHINDE- RUNG etc. phb Beispiele: MOROCCO (Josef von Sternberg, USA 1930) Beispiele: FORT APACHE (John Ford, USA 1948) MENSCHEN, DIE VORÜBERZIEHEN (Max Haufler, CH 1942/45) OBERST REDL (István Szabó, H/BRD/A 1984) MY BEAUTIFUL LAUNDRETTE (Stephen Frears, GB 1985) MISSILE (Frederick Wiseman, USA 1987) PARIS IS BURNING (Jennie Livingston, USA 1990)

Militärklamotte. Genre, in dessen Zentrum der Mise en abyme s. SELBSTREFLEXION KLAMAUK unfähiger, alberner oder aber gewitzter Soldaten und ihrer Vorgesetzten steht. Ort des Gesche- hens ist meist eine beliebige Kaserne, selten jedoch spielt Mittelalter. Wie jede historische Epoche ist auch das der Film in Kriegszeiten. Er bezieht seine klischeehafte Mittelalter ein Motiv, das mit Vorsicht zu genießen ist: Komik aus der hierarchischen Struktur und der über- Vieles kommt im Spielfilm als Mittelalter daher, worüber zogenen Formalisierung des MILITÄRS sowie den HistorikerInnen allenfalls erheitert wären. Der Begriff Scherzen einer Männergemeinschaft (vgl. MÄNNER- «Mittelalter» meint hier weniger den entsprechenden VERHALTEN). Ansonsten genügt sich die Militärklamotte historischen Zeitraum als in erster Linie das, was die selbst, erschöpft sich oft in dämlichen Witzeleien und einzelnen Filme als Mittelalter inszenieren. Dies ist ab- nimmt keinerlei Bezüge zu realen außerfilmischen Zu- hängig von der Produktionszeit des Films und hat in der oder Missständen. Sie ist daher nicht zu verwechseln mit Regel nur wenig mit dem zu tun, was die Geschichts- der KRIEGSSATIRE, die die Entsetzlichkeit wirklicher oder wissenschaft darunter versteht. Im Zentrum stehen meist wahrscheinlicher Kriege in satirischer Form anprangert. prächtige Schauwerte wie wuchtige Burgen und schau- phb rige Turniere, und die Geschichten drehen sich um kühne Beispiel: Ritter und holde Burgfräuleins (vgl. MANTEL UND DE- LES GAIETÉS DE L'ESCADRON (Maurice Tourneur, F 1932) GEN, ABENTEUERFILM, ACTIONFILM) oder sind LEGEN- ACHTUNG, FERTIG, CHARLIE! (Mike Eschmann, CH 2003) DENVERFILMUNGEN. Gelegentlich finden sich Abstecher hin zur FANTASY und PHANTASTIK, dagegen bilden Versuche, so etwas wie GESELLSCHAFTSKRITIK im Mit- Minderheiten s. MINORITÄTSPROBLEME telalter darzustellen, die große Ausnahme. phb Beispiele: THE HUNCHBACK OF NOTRE DAME (W. Dieterle, USA 1939) Minimalismus. Als stilistisches Prinzip ist der L'ARMATA BRANCALEONE (Mario Monicelli, I/F/E 1965) Minimalismus (engl. minimal film) ein Kennzeichen vor IL NOME DELLA ROSA (Jean-Jacques Annaud, BRD/I/F 1986) allem von EXPERIMENTALFILMEN: Die Verwendung künstlerischer und technischer Eingriffe wird auf ein Minimum reduziert, so dass am Ende von einer Ästhetik Monodrama. Genrebegriff, der aus der Theaterwissen- des Minimalismus gesprochen werden kann, deren schaft stammt und eine dramatische Handlung meint, die Funktion oft in einer bestimmten Art von Realismus liegt. von einer einzigen Person getragen wird. Dies ist auf der Filme dieser Art haben die Tendenz, zum Beispiel Ka- Bühne zum einen eine relativ künstliche Form, zum an- merabewegungen oder Schnitt weitgehend oder ganz zu deren Bravourleistung und Tour-de-force für Schau- vermeiden. Außerdem tritt der Filmemacher oder die spielerIn und AutorIn gleichermaßen. Monodramen sind Filmemacherin ganz in den Hintergrund und signalisiert meist Einakter, weil die Situation sich dramaturgisch ver- im Film selbst so wenig Präsenz wie irgend möglich. phb hältnismäßig rasch erschöpft. Im Film wirken Monodra- Beispiele: men noch artifizieller als auf der Bühne, weil die weit- EAT (Andy Warhol, USA 1963) gehenden Beschränkungen, durch die sich das Monodra- LA VACHE QUI RUMINE (Georges Rey, F 1970) ma auszeichnet, den Möglichkeiten des Mediums und DIRT & VENUS (Dietmar Brehm, A 1991) dem filmischen Schauspielstil noch weniger entspricht. Filmische Monodramen sind daher insgesamt recht selten. Minoritätsprobleme. Im dokumentarischen und Vgl. DRAMENVERFILMUNG. phb fiktionalen Film häufiges Motiv. Im Zentrum stehen einer- Beispiele: seits soziale und/oder kulturelle Randgruppen (LESBEN DILLINGER E MORTO (Marco Ferreri, I 1968) und SCHWULE, Fahrende, Avantgardisten, psychisch SECRET HONOUR (Robert Altman, USA 1984) Kranke etc.) sowie religiöse und ethische Andersartigkeit, A SENSE OF HISTORY (Mike Leigh, GB 1991) andererseits das sich daraus ergebende Spannungsfeld von Anpassungsschwierigkeiten, Repressionen und KUL- TURKONTRAST. Das Spektrum der bevorzugten Genres Monster. Figur vor allem in den Genres SCIENCE reicht von MILIEU- oder QUARTIERSTUDIEN mit An- FICTION, HORRORFILM und -KOMÖDIE. Monster sind spruch auf GESELLSCHAFTSKRITIK über den HUMANI- Kreuzungen aus Tier und Mensch, urzeitliche Viecher, zu TÄREN DOKUMENTARFILM bis hin zum Gastarbeiterfilm. gigantischen Proportionen mutierte Tiere (oft Insekten) Glossar 63 oder einfach nur ekelerregende, sonst nicht weiter Moyen métrage s. KURZSPIELFILM bestimmbare Aliens. Einerseits sind sie die Feinde der menschlichen Figuren, andererseits bedienen sie die Angst(lust) des Publikums. Die Frage, inwieweit das Multiple Diegese. Dramaturgische Struktur, die zwei meist destruktive Tun eines Monsters psychologisch oder mehr gleichwertige oder sogar unabhängig vonein- nachvollziehbar sein soll, ist oft eine Gratwanderung, die ander existierende Erzählebenen umfasst. Paradebeispiel von Film zu Film verschieden beantwortet wird. Aller- ist The French Lieutenant's Woman (Karel Reisz, GB dings fungieren die wenigsten Monster (und diese meist 1981), in dem auf der einen Ebene die LIEBESGESCHICH- auch nur partiell) als Identifikationsfiguren. Auf Pro- TE zwischen zwei Filmschauspielern stattfindet, auf der duktionsseite fordern sie in jedem Fall die Kreativität von anderen der Film, den sie gerade drehen. Obwohl die DesignerInnen heraus, außerdem findet ihre Inszenierung eine Ebene (der Film) aus der anderen (den Dreharbeiten) in der Regel unter Rückgriff auf SPECIAL EFFECTS statt. hervorgeht, beide von den gleichen Darstellern getragen Einige Monsterfilme haben es zu KULTFILMEN geschafft. werden und eine Geschichte auf die andere zurückfärbt, Natürlich können Monster auch AUSSERIRDISCHE WE- handelt es sich um zwei getrennte Diegesen, die in SEN sein, obschon längst nicht jedes außerirdische We- verschiedenen filmischen Universen ablaufen. Multiple sen auch ein Monster sein muss. Zu menschlichen Mons- Diegesen sind genau genommen schon bei Rah- tern vgl. MENSCHLICHE BESTIE. phb menhandlungen gegeben, wenn eine unabhängige Ge- schichte in eine andere eingebettet ist. Beispiele: KING KONG (E. B. Schoedsack, M. C. Cooper, USA 1933) Vgl. dagegen die RÜCKBLENDENSTRUKTUR, wo nur die ALIEN (Ridley Scott, USA 1979) Zeitebene, nicht aber das fiktionale Universum verlassen JURASSIC PARK (Steven Spielberg, USA 1993) wird. phb Beispiele: SODOM UND GOMORRHA (Mihály Kertész, A 1922) Monumentalfilm. Kein eigentliches Genre, sondern Fil- RASHOMON (Akira Kurosawa, J 1950) me, die in verschiedener Hinsicht die Grenzen des «Nor- LA DOUBLE VIE DE VÉRONIQUE (K. Kieslowski, PL/F 1991) malen» sprengen: Im Budget durch außerordentlich hohe Kosten, im Ausstattungsaufwand durch Opulenz und Üppigkeit (vgl. AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜMFILM), in Musical. Genre, das seit der Erfindung des Tonfilms vor der Zahl der Stars (vgl. ALL-STAR-PICTURE), im Format allem im klassischen Hollywood-Kino (ca. 1933–1953) (manche sind 70mm) und meist schon durch Überlänge, Triumphe feierte. Zu den raffiniertesten, aber auch die oft eine Pause oder sogar die Aufführung an ver- kostspieligsten zählen die bei Metro-Goldwyn-Meyer schiedenen Terminen erfordert. Typischerweise wählen (MGM) produzierten Musicals. Die Handlungsstrukturen Monumentalfilme – schon aufgrund der Kosten, die sie stammen (fast immer) aus leichten Unterhaltungsgenres verschlingen – Themen, die ein entsprechend breites (ROMATISCHE KOMÖDIE, SCREWBALL COMEDY, Sän- Publikum garantieren: LITERATURVERFILMUNGEN, NA- ger- und Tänzer-BIOPIC), sind aber mit Gesangs- TIONALEPEN, BIOPICS, exemplarische Schicksale «vor und/oder TANZ-Einlagen durchsetzt. Diese «Nummern» dem Hintergrund unserer Zeit», BIBELVERFILMUNGEN, bilden, emotional wie dramaturgisch, die eigentlichen bekannte Katastrophen (vgl. KATASTROPHENFILM) u. ä. Höhepunkte und formulieren gemäß Richard Dyer gera- Fast immer handelt es sich dabei um Historienfilme, die dezu emotionale UTOPIEN. Während der Nummern wer- in vergangenen Epochen spielen. phb den die inhaltlichen und formalen Gesetzmäßigkeiten des konventionellen Spielfilms sozusagen sistiert – zugunsten Beispiele: BIRTH OF A NATION (D. W. Griffith, USA 1915) oft rauschhafter und berauschender Ausdrucksmittel. DIE NIBELUNGEN (Fritz Lang, D 1924) Dramatische oder gar politische Musicals bilden die BEN HUR (William Wyler, USA 1959) großen Ausnahmen. WOINA I MIR (Sergej Bondartschuk, SU 1965-1967) Vgl. die Subgenres BACKSTAGE-MUSICAL und ROCK- MUSICAL, aber auch REVUEFILM, SCHLAGERFILM, OPE- RETTENFILM und WIENER FILM. phb Moralisches Rührstück. Genre, in dem bevorzugt sen- Beispiele: timentale Geschichten erzählt werden, die mit unüber- THE JAZZ SINGER (Alan Crosland, USA 1927) sehbarer Moral ausgestattet sind. Die entsprechenden MEET ME IN ST. LOUIS (Vincente Minnelli, USA 1944) Erzählmuster sind denkbar deutlich: Das Gute siegt, das SINGIN' IN THE RAIN (Gene Kelly, Stanley Donen, USA 1952) Böse wird bestraft, und selbst aus Katastrophen und HAIR (Milos Forman, USA 1979) Trauerfällen werden heilsame Lehren gezogen. Das in diesem Sinn stets teleologisch ausgerichtete moralische Rührstück geht als Form auf das 19. Jh. zurück, als reli- Musik. Seit seinen Anfängen ist der Film stets von Musik giöse Fiktionsskepsis es erforderte, Unterhaltung mit ei- begleitet gewesen. Stummfilme wurden von Pianisten nem didaktischen Sinn zu unterlegen. Im amerikanischen oder – je nach Größe des Kinos – ganzen Orchestern be- Stummfilm der 1910er Jahre war es sehr verbreitet, ist gleitet, sei es aus praktischen Gründen (z. B. um den seither jedoch nie ganz verstummt. phb hohen Geräuschpegel der Projektoren zu übertönen), sei es aus narrativen Gründen. Stummfilmmusik besteht ent- Beispiele: BROKEN BLOSSOMS (David Wark Griffith, USA 1919) weder aus einer Kombination bekannter Themen und MARIE-LOUISE (Leopold Lindtberg, CH 1943) Motive aus Opern, Operetten und absoluter Musik (sin- JOHNNY BELINDA (Jean Negulesco, USA 1948) fonische und kammermusikalische Kompositionen), die PHILADELPHIA (Jonathan Demme, USA 1993) auszugsweise und nach «Stimmungen» geordnet, in Notensammlungen (cue sheets) vorliegen und vom 64 Glossar

Pianisten für eine Begleitung je neu zusammengestellt Auftreten, ihre oft facettenreiche Selbststilisierung, ihre werden können. Oder sie ist durchkomponierte, über die ausgeklügelte Performance bei Proben und Konzerten gesamte Filmlänge sich erstreckende, meist illustrativ sowie durch fotogene Instrumente, Ortswechsel und verfahrende, filmspezifische Auftragsmusik. Im Tonfilm Tourneereisen, schrille Nebenfiguren, hysterische Fans wird das Prinzip der durchkomponierten Musik verlassen. etc. Andererseits durch ihre MUSIK, die wie von selbst Je nach Genre differenziert sich Musik in die verschie- zur Verfügung steht, den Mittelpunkt allen Interesses denen Tonebenen aus: so z. B. in die szenische Musik mit darstellt und dem Film Rhythmus und Volumen gibt. Alles und ohne Gesang wie im BACKSTAGE-MUSICAL, dem in allem zählen Musikerporträts zu den wenigen Doku- REVUE- und SCHLAGERFILM oder dem WIENER FILM mentarfilmen, die auch im Kino eine respektable Chance (wobei die musikalische performance in diesen Fällen Teil haben. der Diegese ist). TANZFILM und MUSICAL etablieren Vgl. dagegen die KONZERTAUFZEICHNUNG, die kein meist eine Kombination von szenischer Musik und Musik Porträt, sondern ein abgefilmtes Konzert ist; außerdem im Over. Letztere, welche die Stimmung und Atmos- den MUSIKERINNENFILM, der ein fiktionales BIOPIC über phäre, vor allem aber den emotionalen Gehalt einer Sze- eine musizierende KÜNSTLERGESTALT ist. phb ne unterstützt, pointiert oder ironisiert, ist ein genreüber- Beispiele: greifendes Phänomen des Tonfilms. Dabei haben sich DIE HAZY OSTERWALD STORY (Franz Josef Gottlieb, CH 1961) genretypische Kompositionsstile und Verwendungskon- THE DOORS ARE OPEN (John Sheppard, USA 1968) ventionen herausgebildet: So hat die Musik im KRIMI- MADONNA – TRUTH OR DARE (Alek Keshishian, USA 1991) NALFILM oder THRILLER häufig indikatorische Funktion, BUENA VISTA SOCIAL … (Wim Wenders, D/USA/F/Kuba 1998) d. h. sie zeigt eine Gefahr an und dient der Spannungs- steigerung. Vgl. JAZZ. uvk Musikverfilmung. Seltene Variante innerhalb der Grup- Beispiele: pe der Verfilmungen. Die grundsätzliche Herausforderung THE GIRL CAN’T HELP IT (Frank Tashlin, USA 1956) besteht in der Begegnung zweier äußerst verschiedener ZORBA, THE GREEK (Michael Cacoyannis, GR 1964) Kunstformen. Musikverfilmungen tangieren daher immer BANDONEON: TANGO IM EXIL (Klaus Wildenhahn, BRD 1981) auch folgende Fragenkomplexe: Was entsteht, wenn einer so abstrakten Kunstform wie der MUSIK mit einer (potenziell sehr) konkreten Kunstform wie dem Film MusikerInnenfilm. Spielart des KÜNSTLERINNENFILMS begegnet wird? Wie sind musikalische Parameter wie und damit fast immer ein BIOPIC, also eine fiktiona- Klang, Melodie, Harmonie und Rhythmus in visuelle lisierte Biografie berühmter KÜNSTLERGESTALTEN der Parameter umzusetzen? Ist Musik überhaupt verfilmbar? Musikgeschichte. Das Spektrum reicht von opulenten, auf Und grundsätzlicher noch: Was ist die Bedeutung von Schauwerte bedachten AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜM- Musik, was ihre Aussage, ihr Inhalt, ihre Handlung? FILMEN bis zu psychologisch ausdifferenzierten CHARAK- Diese Fragen lassen nicht nur erahnen, warum Musik- TERSTUDIEN. Selten wird dabei das ganze Leben der verfilmungen insgesamt sehr selten sind, sondern auch, Musikerinnen und Musiker verfilmt, stattdessen kon- warum sie kaum je in Gestalt eines realistisch-psycho- zentriert man sich auf die als zentral erachteten Lebens- logischen Spielfilms daher kommen, sondern als EXPERI- abschnitte und Schaffensphasen. Meist sind dies die MENTALFILM, allenfalls als POETISCHER FILM, oft jedoch (dramatisch gesteigerten) Hochs und Tiefs einer musika- als MEDITATION, die weniger eine filmische Neuinsze- lischen Laufbahn (vgl. KARRIERESTORY), die Frage nach nierung der Musik ist, sondern das bestehende Kunst- (genügend) Talent, das Hin- und Hergerissensein zwi- werk lediglich mit assoziativen Bildern illustriert. schen künstlerischer und bürgerlicher Existenz (vgl. IDEN- Vgl. die ebenso seltene LYRIKVERFILMUNG, die insofern TITÄTSPROBLEM) und natürlich immer wieder der Pro- mit ähnlichen Problemen konfrontiert ist, als es auch dort zess des Musikmachens, der oft als metaphorische Form um Klangfarben, Musikalität und Rhythmus (von Spra- der SELBSTREFLEXION gelesen werden kann. Nicht im- che) geht. phb mer sind die Hauptfiguren einem breiten Publikum be- Beispiele: kannt: Manche gelangen erst durch ihre filmische Auf- LA P'TITE LILIE (Alberto Cavalcanti, F 1928) bereitung in den Kanon der Berühmtheiten. Und: Musi- PIERROT LUNAIRE (Eric de Kuyper et al., NL 1988) kerInnenfilme müssen nicht Biopics sein (auch wenn sie EWIGE RUHE (Adrian Marthaler, CH 1998) das in der Regel sind), sondern können auch von frei er- fundenen MusikerInnen erzählen. Zum dokumentarischen Porträt über MusikerInnen vgl. Mutterdrama. Von den 1910er bis in die 1960er Jahre das MUSIKERINNENPORTRÄT. phb eine Variante des melodramatischen FRAUENFILMS, in Beispiele: der die Opferrolle der Frau mit ihrer Rolle als Mutter EROICA (Walter Kolm-Veltée, A 1949) gekoppelt ist: Schmerz und Verzicht erscheinen als ihre FRÜHLINGSSINFONIE (Peter Schamoni, BRD/DDR 1983) naturwüchsige Pflicht, deren masochistische Erfüllung die BIRD (Clint Eastwood, USA 1988) Frau für entgangene Lebensfreuden entschädigen soll. In THE PIANIST (Roman Polanski, GB/F/D/NL/PL 2002) der Inszenierung solcher Stoffe kommt es zwar gele- gentlich zu selbstbestimmtem weiblichen Handeln und besonders im Fall von Mutter-Tochter-Dyaden zum Auf- MusikerInnenporträt. Wie das KÜNSTLERINNEN- bau positiver, expatriarchaler weiblicher Beziehungen; PORTRÄT eine Spielart des DOKU-PORTRÄTS und damit doch solche Erscheinungen sind allenfalls Nebenprodukte ein häufiges Format im DOKUMENTARFILM. MusikerIn- eines regressiv-konservativen Grundkonzepts. Die Frau- nen scheinen sich besonders zur filmischen Porträtierung enbewegung, das Aufkommen des FEMINISMUS und die zu eignen: Einerseits durch ihr geläufiges öffentliches wachsende Zahl von Regisseurinnen, die den weiblichen Glossar 65

Standpunkt autonomer und authentischer formulierten, in der Regel einseitige) Darstellungen einer Geschichte, hat es dem Mutterdrama schwergemacht, sich ungebro- die als die eigene und die gute reklamiert wird. phb chen weiter zu entfalten. Beispiele: Vgl. MELODRAMA, EXOTISCHES MELODRAMA, EXZESSI- THE BIRTH OF A NATION (D. W. Griffith, USA 1915) VES MELODRAMA. phb NAPOLÉON (Abel Gance, F 1926) Beispiele: ALEXANDER NEWSKIJ (Sergej Eisenstein, SU 1938) APPLAUSE (Rouben Mamoulian, USA 1929) EXODUS (Otto Preminger, USA 1960) MUTTERLIEBE (Gustav Ucicky, D 1939) MILDRED PIERCE (Michael Curtiz, USA 1945) IMITATION OF LIFE (Douglas Sirk, USA 1959) Nationalsozialismus. Motiv in allen filmischen Gat- tungen nach 1945 (selten bereits nach 1933). Im Vordergrund steht eine Ideologie, das an sie geknüpfte Mythos. Ein ursprünglich mündlich tradierter Stoff, der politische System und ihre alltagsweltlichen Auswir- im Dienst einer Erklärung der Welt steht und sich in der kungen: ein von gegenseitiger Überwachung und gras- Regel vor dem Hintergrund eines kosmischen oder sierender Denunziation gekennzeichnetes POLITISCHES übernatürlichen Bezugsrahmens abspielt. Mythentradi- KLIMA, die durch RASSISMUS und PROPAGANDA erziel- tionen sind vor allem aus den «Hochkulturen» der te systematische VERFOLGUNG und Ermordung Anders- ANTIKE und den so genannten Naturvölkern bekannt. denkender und -seiender; der HOLOCAUST am euro- Seit der europäischen Romantik gelten Mythen als Ge- päischen JUDENTUM; der ZWEITE WELTKRIEG. Nahezu fäße volkstümlicher Denkweisen und als Ausdrucks- alle Filme thematisieren den Nationalsozialismus im Sinn formen unverstellten, von der Zivilisation noch nicht einer SYSTEMKRITIK, auch wenn längst nicht alle gleich überformten anthropologischen Wissens. Der westliche weit gehen: Manche bedienen sich des Motivs lediglich Spielfilm beruft sich vor allem auf das tragische (seltener als Folie, vor deren Hintergrund sie eine KRIEGSROMAN- auf das komische) Potenzial griechischer Mythen (Ödipus, ZE erzählen. Andere versuchen eine Antwort auf die Medea, Pygmalion, Antigone), die im Rahmen der Frage, ob der Nationalsozialismus «lediglich» als deut- Verfilmung ähnliche Verschiebungsprozesse unterlaufen, sche Variante eines übergeordneten FASCHISMUS zu die auch bei LITERATUR- und DRAMENVERFILMUNGEN denken sei oder im Gegenteil als singuläres und sich zu verzeichnen sind. Oft werden antike Mythen in die nicht wiederholendes historisches Phänomen. In fiktiona- Gegenwart versetzt, andere sind Teil einer im THEATER- len Bearbeitungen des Motivs überwiegen deutlich die MILIEU stattfindenden Bühnenaufführung. Indianische, ernsten Genres, gefolgt von bitteren SATIREN und be- afrikanische, australische und asiatische Kinotraditionen klemmenden GROTESKEN; KOMÖDIEN dagegen sind äu- verfilmen ihre je eigenen, indigenen Mythen, die oft auch ßerst selten. Filme, die eine verteidigende Position ge- Gegenstand des westlichen DOKUMENTARFILMS und genüber dem System einnehmen oder die Existenz der des ETHNOGRAFISCHEN FILMS sein können. Konzentrations-LAGER leugnen, werden in vielen Län- Vgl. PYGMALION-STOFF. phb dern, besonders in Deutschland, zu ZENSURFÄLLEN. Zu den faschistischen Systemen anderer Länder und Zei- Beispiele: ORPHÉE (Jean Cocteau, F 1949) ten (Italien, Ungarn, Kroatien, Spanien, Portugal) vgl. FA- EDIPO RE (Pier Paolo Pasolini, I 1967) SCHISMUS. phb MEDEA (Lars von Trier, DK 1988) Beispiele: CANARIS (Alfred Weidenmann, BRD 1954) OBYKNOWENNY FASCHISM (Michael Romm, SU 1965) SCHTONK (Helmut Dietl, D 1992) N IM TOTEN WINKEL … (A. Heller, O. Schmiederer, A 2002)

Nationalepos. Spielfilm, der sich auf die als entschei- Natur s. LANDSCHAFT dend erachteten Schlüsselphasen in der Entstehung eines Nationalstaates konzentriert. Meist geschieht dies mit einer tüchtigen Portion Pathos, wobei die Grenzen zu Neonoir. Hauptsächlich amerikanisches Genre, das sich Chauvinismus und Nationalismus sehr fließend sind, und aus dem expliziten Bezug zum FILM NOIR definiert (vgl. gelegentlich kommen die Filme als unverholene PRO- INTERTEXTUALITÄT), dessen Stil sich in den späten PAGANDA daher. Was als Schlüsselmoment gilt, ist dem 1950er Jahren erschöpft. Mitte der 1960er setzt jedoch historisch wandelbaren (wenn auch meist langlebigen) eine erste, modernistische Phase des Neonoir ein, die Selbstverständnis eines Staates unterworfen. Oft handelt teils aus REMAKES, teils aus nachempfundenen Struk- es sich dabei um Gründungsmythen, die in mehr oder turen mit kleinen Variationen oder aus Neuansätzen mit weniger verklärten historischen Epochen verortet werden. stilistischen Assoziationen auf den klassischen Film Noir Entsprechend sind viele Nationalepen als MONUMEN- besteht. Typischerweise in Farbe gedreht, wagt sich der TAL- und/oder AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜMFILME an- modernistische Neonoir in zuvor tabuisierte Bereiche von gelegt. Viele kommen außerdem im Gewand eines BIO- SEXUALITÄT und GEWALT vor. Seit den 1980er Jahren PICS daher und binden die Geburt eines Staates an die spricht man von der postmodernistischen Phase des Neo- Existenz glorreicher Staatsmänner (auf deren Lebensweg noir. Der POSTMODERNE entsprechend, gilt diesen Fil- Frauen höchstens als Gefährtinnen fungieren). National- men der Film Noir als Spielmaterial, aus dem Imitationen, epen legen keinen Wert auf «historische Objektivität» Hommagen, Zitate und Hybridformen gewonnen werden. oder gar Kritik, vielmehr favorisieren sie möglichst ein- Für beide Phasen des Neonoir gilt, dass sie sich in erster deutige, affirmative und mehrheitsfähige (und das heißt Linie an ein intellektuelles, cinephiles Publikum wenden, 66 Glossar das die zahlreichen intertextuellen Bezugnahmen auf den BERLIN. DIE SINFONIE DER … (Walter Ruttmann, D 1927) Film Noir aufzuschlüsseln vermag. phb MENSCHEN AM SONNTAG (Robert Siodmak et al., D 1929) Beispiele: THE LONG GOODBYE (Robert Altman, USA 1972) Neue Welle. Von den 1960er bis in die 1980er Jahre CHINATOWN (Roman Polanski, USA 1974) TAXI DRIVER (Martin Scorsese, USA 1976) finden in verschiedenen Ländern Erneuerungsbewegun- gen im Kino, so genannte «Neue Wellen» statt. Zu ihren Hauptauslösern gehört die französische NOUVELLE VA- Neorealismus. Politisch motivierte Stilbewegung im GUE zu Beginn der 1960er Jahre, die in Europa, Amerika Italien der 1940er Jahre, die zunächst als Opposition zum und Asien ähnliche, wenn auch zeitlich zum Teil er- FASCHISTISCHEN FILM (dem CALLIGRAFISMO und den heblich verzögerte Bestrebungen hervorruft. Gemein- TELEFONI BIANCHI) verstanden wird, nach Kriegsende samer Nenner der ansonsten höchst unterschiedlichen als filmpolitischer Neuansatz gilt. Die oft linksintellek- Filmgruppen ist das breite Filmwissen ihrer MacherInnen tuellen Filmemacher interessieren sich für die Gegenwart sowie deren Wertschätzung von Stilrichtungen wie NEO- und die jüngste Vergangenheit, es geht um soziales REALISMUS oder DIRECT CINEMA, die sich von der hoch- Elend und den ZWEITEN WELTKRIEG, die KLEINEN LEUTE artifiziellen Filmsprache Hollywoods, aber auch von unin- und ihren Alltag. Der «neue Realismus» entsteht durch spirierter Massenware distanzieren, um sich einem durch- die Aktualität der Themen, das Drehen an Originalschau- aus politisch verstandenen Realismus zu verpflichten. plätzen und die Arbeit mit LAIENDARSTELLERN. Seine Während die Neuen Wellen in Osteuropa und Japan zeit- Ästhetik ist geprägt durch einen halbdokumentarischen lich enger an die Nouvelle Vague anknüfpen und in aktu- Gestus mit mobiler Kamera, durch PLANSEQUENZEN und ellerem Zusammenhang mit ihr stehen, finden die Bewe- eine Inszenierung, die die Protagonisten mit Totalen und gungen anderer Länder (Indien, Iran, Taiwan u. a.) später Halbtotalen in deren räumlich-soziales Umfeld einbettet, statt und sind insofern anders gelagert, als die Nouvelle anstatt sie mit Nah- und Großaufnahmen zu indi- Vague inzwischen verebbt und daher selbst zum filmhis- vidualisieren und psychologisieren. Auf dramaturgischer torischen Gegenstand geworden ist. Ebene ist eine Neigung zum Didaktischen, Chorischen Zu einzelnen Ausformungen vgl. NOUVELLE VAGUE, und Poetischen spürbar. Die Aufbruchstimmung des Neo- RIVE GAUCHE, TSCHECHOSLOWAKISCHE NEUE WELLE, realismus wird rasch gedämpft: Bei den ersten demokra- FREE CINEMA, JUNGER DEUTSCHER FILM. phb tischen Wahlen 1948 erreicht die konservative Demo- Beispiele: crazia Cristiana fast die absolute Mehrheit und wird für RYSOPIS (Jerzy Skolimowski, PL 1964) Jahrzehnte zur bestimmenden politischen Kraft in Italien. SUNA NO ONNA (Hiroshi Teshigahara, J 1964) Der unerhörte stilbildende Einfluss des Neorealismus be- W. R. – MISTERIJE ORGANIZMA (D. Makavejev, YU/BRD 1971) steht jedoch bis heute und kann, wie im Fall des QINGMEI ZHUMA (Edward Yang, Taiwan 1985) iranischen Kinos oder des DOGME 95, ganze kinemato- grafische Traditionen prägen. phb Neuer Deutscher Film. Sammelbegriff für eine Vielzahl Beispiele: von Strömungen der oft anspruchsvollen, ausschließlich OSSESSIONE (Luchino Visconti, I 1942) bundesdeutschen Spielfilmproduktion seit Ende der ROMA, CITTÀ APERTA (Roberto Rossellini, I 1945) 1960er Jahre, die sich aus den innovativen Ansätzen des LADRI DI BICICLETTE (Vittorio de Sica, I 1948) JUNGEN DEUTSCHEN FILMS entwickeln. Die Regisseur- Innen, deren Karrieren erst nach dem NATIONAL- SOZIALISMUS beginnen, nennen sich AutorInnen und be- Neue Sachlichkeit. In Anlehnung an den literatur- und anspruchen die ökonomische und ästhetische Kontrolle kunsthistorischen Begriff bezeichnete Stilrichtung im über ihre Projekte. Ihre Filme entstehen meist mit gerin- deutschen Film der 1920er Jahre. Als Gegenströmung gem Budget, unter der Mithilfe der neu gegründeten zum EXPRESSIONISMUS lässt die Neue Sachlichkeit sym- bolische und expressive Qualitäten zurücktreten und ver- staatlichen Filmförderung sowie in Zusammenarbeit mit den Fernsehanstalten, jedoch außerhalb der weiterhin zichtet auf exotische Umgebungen und phantastische produzierenden Altbranche (die bereits während des Drit- Entwicklungen. Favorisiert wird stattdessen ein Realis- ten Reichs Filme drehte). Thematisiert werden – in Verfil- mus, der in der eigenen Gegenwart verortet ist, die in ihr mungen historischer Stoffe, ROADMOVIES und LITERA- virulenten sozialen und psychischen Konfliktstrukturen TURVERFILMUNGEN – die Probleme der eigenen Gene- zum Gegenstand wählt und zur GESELLSCHAFTSKRITIK tendiert. Objektive Kühle, die bis zum Zynismus geht und ration, der jüngeren deutschen Geschichte, des Lebens in der westdeutschen PROVINZ und der sozialen Gegen- ein dem Naturalismus verwandter Fatalismus sind Kenn- sätze. Auch die SchauspielerInnen stammen vor allem zeichen dieser Richtung. Hinzu kommt eine Faszination aus der eigenen Generation. Versuche, ältere Darsteller gegenüber Technik, ARCHITEKTUR und Maschinen, die in zu integrieren sind selten, enden aber in zum Teil brillan- rhytmischen Steigerungen der Montage ihren Ausdruck ten Ergebnissen. Das Ende des Neuen Deutschen Films findet. Die zeitgenössische Kritik warf der Neuen Sach- lichkeit fehlende Parteilichkeit vor (was den Filmen zwar wird oft mit dem Tod von Rainer Werner Fassbinder (1982) angegeben. eine resignative Perspektive verlieh, sie aber auch vor Vgl. den NEUEN DEUTSCHEN FRAUENFILM, der in vielen plakativen Botschaften bewahrte). Die Filmgeschichts- – aber nicht in allen – Bereichen ähnlich verfährt. phb schreibung sieht in ihr stellenweise eine ästhetische Vor- läuferin des NATIONALSOZIALISMUS (vor allem mit Blick Beispiele: auf den BERGFILM). phb AGUIRRE – DER ZORN GOTTES (Werner Herzog, BRD 1973) FONTANE EFFI BRIEST (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1974) Beispiele: IM LAUF DER ZEIT (Wim Wenders, BRD 1975) DIE FREUDLOSE GASSE (Georg Wilhelm Pabst, D 1925) DEUTSCHLAND IM HERBST (Alexander Kluge et al., BRD 1977) Glossar 67

Neuer deutscher Frauenfilm. In Anlehnung an den und karikieren nationale Mythen (vgl. GEISTIGE LANDES- NEUEN DEUTSCHEN FILM benannte bundesdeutsche Stil- VERTEIDIGUNG) und treten für Filme ein, die sich inhalt- richtung, aber kein unbedingt symmetrisches Phänomen. lich, stilistisch und moralisch näher an der Realität bewe- Zwar geht auch der Neue deutsche Frauenfilm vom Auto- gen. Allerdings sind die Filmemacher mit schwierigen renkonzept aus und entwickelt sich aus dem JUNGEN Produktionsbedingungen konfrontiert; viele drehen DEUTSCHEN FILM, aber er hat es nicht nötig, mit «Opas KURZSPIEL- oder viel beachtete DOKUMENTARFILME, Kino» abzurechnen. Vielmehr steht er, als Neubeginn anderen gibt das junge FERNSEHEN Arbeitsmöglichkei- spezifisch weiblichen Filmschaffens, im Zeichen der Frau- ten, manche wandern ins Ausland ab. Es entstehen Spiel- enbewegung. Wenn er sich überhaupt auf die Vergan- filme mit zuweilen deutlich didaktischer Absicht: MILIEU- genheit bezieht, dann ganz anders als der FRAUENFILM, und CHARAKTERSTUDIEN mit Anspruch auf GESELL- dem von Männern gemachten MELODRAMA für ein SCHAFTS- und SYSTEMKRITIK, aber auch NEUE HEIMAT- weibliches Publikum. Die meisten Werke des Neuen FILME mit herbem Tonfall, die eine neue Sicht auf die deutschen Frauenfilms sind einem FEMINISMUS ver- schweizerische Befindlichkeit entwerfen und unbequeme pflichtet, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung Fragen zur innen- und außenpolitischen Vergangenheit und Militanz. Ästhetische Radikalität, subversives kriti- der Schweiz stellen. phb sches Bewusstsein und die gegen sie waltenden sexi- Beispiele: stischen Vorurteile haben es den Regisseurinnen nicht SIAMO ITALIANI: DIE ITALIENER (A. Seiler et al., CH 1964) leicht gemacht, Förderung, kritische und kommerzielle CHARLES MORT OU VIF (Alain Tanner, CH 1969) Anerkennung zu erlangen. Ihre Werke sind daher meist SAD-IS-FICTION (Fredi M. Murer, CH 1969) billiger produziert und insgesamt weniger zahlreich als L'INVITATION (Claude Goretta, CH 1973) die ihrer männlichen Kollegen. phb Beispiele: DIE ALLSEITS REDUZIERTE … (Helke Sander, BRD 1977) New American Cinema. Bewegung und Stilrichtung in BILDNIS EINER TRINKERIN (Ulrike Ottinger, BRD 1979) den späten 1950er und frühen 1960er Jahren. Hauptver- DEUTSCHLAND, BLEICHE … (H. Sanders-Brahms, BRD 1979) treter sind FilmemacherInnen wie Shirley Clarke, Lionel HUNGERJAHRE … (Jutta Brückner, BRD 1980) Rogosin, Robert Frank, John Cassavetes u. a., die sich um Jonas Mekas und die Filmzeitschrift Film Culture gruppieren. Sie erklären den moralischen und ästheti- Neuer Heimatfilm. Vor allem deutschsprachige Filme schen Bankrott des kommerziellen amerikanischen Holly- seit den 1980er Jahren, die in gewisser Weise an das wood-Kinos und verlangen stattdessen unabhängig pro- Genre des HEIMATFILMS anschließen, obschon in sozu- duzierte Filme, die oft als EXPERIMENTALFILME oder EX- sagen komplementärer Richtung. Im Zentrum steht nicht PERIMENTELLE SPIELFILME, als INSZENIERTE oder länger eine durch die Erfahrung des ZWEITEN WELT- FIKTIONALISIERENDE DOKUMENTARFILME daher kom- KRIEGS motivierte, zutiefst romantisierte und kon- men, nicht selten mit LAIENDARSTELLERN arbeiten und servative Sehnsucht nach unverdorbenen, reinen LAND- Techniken des DIRECT CINEMA übernehmen. In der SCHAFTEN, die als der «eigentliche» Lebens- und Ge- Regel mit kleinem Budget finanziert und meist auf 16mm fühlsort vorgestellt und in Opposition zu urbanen Zusam- gedreht, wollen die Filme des New American Cinema menhängen gedacht wurden. Jetzt ist die Natur besten- poetisch, mythisch, avantgardistisch, individualistisch, falls die unwillige Dulderin, wenn nicht die harte Geg- ungebändigt und rauh sein und damit der Filmkultur nerin der sie bewohnenden und bearbeitenden Men- neuen Atem verleihen. In den späteren 1960er Jahren schen. Außerdem geht es nicht länger um harmlose LIE- klingt die Bewegung wieder ab und löst sich zum Teil im BESGESCHICHTEN zwischen Pseudodialekt sprechenden UNDERGROUND-FILM auf. phb Grafensöhnen und blonden Städterinnen. Nun stehen un- Beispiele: zimperliche MILIEUSTUDIEN im Vordergrund, die eine ON THE BOWERY (Lionel Rogosin, USA 1956) schroffe GESELLSCHAFTSKRITIK formulieren, indem sie SHADOWS (John Cassavetes, USA 1960) die Schattenseite des BÄUERLICHEN LEBENS fokussieren THE CONNECTION (Shirley Clarke, USA 1961) und aus der Perspektive KLEINER LEUTE, alternder THE BRIG (Jonas Mekas, USA 1964) Knechte und ausgebeuteter Mägde argumentieren. Kaum zu überwindende ARMUT steht im Vordergrund dieser Lebensläufe, die, anders als im HEIMATFILM, oft in histo- New British Cinema. Bewegung im britischen Kino der rischen Epochen angesiedelt sind. phb 1980er Jahre, die als unerwartete, aber lang erhoffte Beispiele: Renaissance empfunden wurde. Unerwartet, weil die Pri- HÖHENFEUER (Fredi M. Murer, CH 1985) vatisierungspolitik der Thatcher-Regierung einen Zusam- HERBSTMILCH (Joseph Vilsmaier, BRD 1988) menbruch der Filmkultur und Filmförderung befürchten DIE SIEBTELBAUERN (Stefan Ruzowitzky, A 1998) ließ. Lang erhofft, weil das britische Filmschaffen seit dem FREE CINEMA der frühen 1960er Jahre zum letzten Mal künstlerische Aufmerksamkeit erregt hatte und seit- Neuer Schweizerfilm. Aufbruchbewegung im her entweder auf internationale, kostspielige AUSSTAT- schweizerischen Filmschaffen, als deren Beginn 1964, TUNGS- UND KOSTÜMFILME setzte, die sich auf detail- das Jahr der Landesausstellung in Lausanne, gilt. Erste getreue Ausstattungen vergangener Epochen beschränk- Impulse finden in der Romandie statt – ausgelöst durch ten, oder aber auf kostengünstige Produktionen, die für die französische NOUVELLE VAGUE –, während die ein rein britisches Publikum zugeschnitten waren. Beide Deutschschweiz eher auf den JUNGEN DEUTSCHEN FILM Traditionen werden im New British Cinema zwar fort- reagiert. Junge Regisseure opponieren gegen ein als kon- gesetzt, aber neu in einen deutlich politischen Kontext formistisch verstandenes Kino der Väter, hinterfragen mit dem Anspruch auf SYSTEMKRITIK gestellt. Es ent- stehen heritage-Filme, die sich (mehr oder weniger) 68 Glossar kritisch mit der imperialistischen Geschichte Großbri- Nouvelle Vague. Erneuerungsbewegung des franzö- tanniens auseinandersetzen und damit weit über liebe- sischen Kinos zwischen 1958–1968. Ihre Hauptvertreter volle Dekors hinausgehen, sowie «oppositionelle» Filme, (F. Truffaut, C. Chabrol, J.-L. Godard, E. Rohmer, J. die in der Gegenwart spielen und die trostlose Kehrseite Rivette) waren junge Regisseure, die meist als Kritiker bei der Thatcher-Politik zeigen: spröde MILIEUSTUDIEN, die den Cahiers du Cinéma geschrieben hatten. Darin setzten das Verfallen von TRABANTENSTÄDTEN, Arbeitslosigkeit sie sich von der TRADITION DE QUALITE, dem als trivial und RASSISMUS, MINORITÄTSPROBLEME und KULTUR- empfundenen cinéma de papa der älteren Generation ab KONTRASTE thematisieren. Gerade sie sind es, die in und formulierten den Gegenentwurf eines cinéma des ihrer britishness vom internationalen Publikum begeistert , das sich durch Unabhängigkeit und künstleri- aufgenommen wurden. phb sche Individuatlität seiner Regisseure auszeichnen sollte. Zu ihren (wiederentdeckten) Lieblingsauteurs zählten A. Beispiele: CHARIOTS OF FIRE (Hugh Hudson, GB 1981) Hitchcock, H. Hawks, J. Ford, V. Minnelli und N. Ray, MY BEAUTIFUL LAUNDRETTE (Stephen Frears, GB 1985) aber auch R. Bresson, R. Rossellini und J. Renoir. Eine WETHERBY (David Hare, GB 1985) Gruppe im eigentlichen Sinn waren die Regisseure der HIGH HOPES (Mike Leigh, GB 1988) Nouvelle Vague vor allem in ihrer theoretischen Dis- kussion. In ihren eigenen Werken, darunter viele DEBUT- FILME, gingen sie unterschiedliche Wege, deren gemein- New Hollywood. Außergewöhnlich kreative Produk- samer Nenner in der wiederkehrenden Bezugnahme auf tions- und Stilbewegung im amerikanischen Kino zwi- filmgeschichtliche Traditionen besteht, aber auch in der schen 1967 und 1976, zu deren Wesensmerkmal eine Vermittlung hektischer, an Originalschauplätzen und oft hohe inhaltliche und visuelle Experimentierfreudigkeit ge- mit HANDKAMERA gedrehten Porträts über das Leben in hört. Die Bewegung findet in einer Zeit der politischen, der CITY (Paris), in die der uninszenierte Alltag immer sozialen, kulturellen und (film-)ökonomischen Unruhe wieder hereinbricht. Außerdem entwickelten sie eine statt: der VIETNAMKRIEG, die Morde an den Kennedys persönliche, als solche erkennbare Handschrift, die auf und Martin Luther King 1963 resp. 1968, die Milita- den bewussten, demonstrativen Bruch mit filmischen risierung der afroamerikanischen Bevölkerung, Wood- Konventionen setzte. Den Vertretern der Nouvelle Vague stock und der Zusammenbruch des studio system aus der ist es zu verdanken, dass auch in den USA, im restlichen Zeit des klassischen Hollywood sind als Eckdaten zu nen- Europa und in Asien die Autorendiskussion aufgenom- nen. Junge Männer drehen unter flexibleren (und kos- men wurde und längst vergessene Filme neu gesichtet tengünstigeren) Bedingungen außerhalb der großen Stu- und bewertet wurden. dios und erneuern erstarrte Konventionen und Genres. Vgl. NEUE WELLEN, RIVE GAUCHE. phb Während das klassische Hollywood ein reibungsloses, Beispiele: geschlossen-narratives Kino bot, sucht New Hollywood LE BEAU SERGE (Claude Chabrol, F 1959) ein unreines, brüchiges und selbstreflexives, oft auch LES QUATRE CENT COUPS (François Truffaut, F 1959) lässig-rüdes Kino. Eindeutigkeit weicht Ambivalenz, aus À BOUT DE SOUFFLE (Jean-Luc Godard, F 1960) den vormals gefestigten Normalbürgern werden zer- MA NUIT CHEZ MAUD (Eric Rohmer, F 1968) rissene Außenseiter, die eher beiläufig ihre Alltags- konflikte durchstehen. Die (männlich dominierte) Bewe- gung des New Hollywood verebbt Ende der 1970er Jahre wieder, ihre Regisseure nähern sich inhaltlich, formal und vor allem produktionsspezifisch dem bewährten Holly- O woodmodus und perfektionieren teilweise das BLOCK- BUSTER-Kino. phb Obsession. Motiv, das in allen filmischen Gattungen (Spielfilm, EXPERIMENTALFILM, und DOKUMENTAR- Beispiele: FILM) vorkommt. Im Zentrum steht eine Figur, die eine EASY RIDER (Dennis Hopper, USA 1969) pathologische Zwangsidee hat, die sie willentlich weder FIVE EASY PIECES (Bob Rafelson, USA 1970) lenken noch unterdrücken kann und die oft im Wider- THE CONVERSATION (Francis Ford Coppola, USA 1974) spruch zu ihrem logischen Denken steht. Die Obession TAXI DRIVER (Martin Scorsese, USA 1976) kann sich auf verschiedenste Sachverhalte, Objekte oder Menschen richten. In der Regel ist ihr etwas Bedrohliches eingeschrieben – sei es für die besessene Figur selber, sei Newspaper film s. REPORTERFILM es für deren Umfeld –, worauf Filme oft ihre Spannungsbögen gründen. Das Motiv wird gerne mit anderen wie AMOUR FOU, MENACING HUSBAND, RA- Nichtfiktionale Szene. Sammelbegriff für die nicht-fik- CHE, RELIGION, HÖRIGKEIT, PSYCHOPATHIE u. a. ver- tionalen Genres der Frühen Kinematographie. Er umfasst Dokumentaraufnahmen, Reisebilder aus fernen Ländern, flochten. Als Erzählmuster respektive Genres bieten sich LEIDENSGESCHICHTE, BEZIEHUNGSDRAMA, THRILLER Natur- und Stadtansichten, Werbefilme, KULTURFILME und HORRORFILM an, komische Genres sind dagegen und AKTUALITÄTEN. Der szenische Charakter resultiert selten. phb aus der Einheit des Ortes und einer minimalen Handlung. uvk Beispiele: PICKPOCKET (Robert Bresson, F 1959) Beispiele: LA PRISONNIÈRE (Henri-Georges Clouzot, F 1962) ARRIVEÉ D'UN TRAIN … (Louis Lumière, F 1895) LUNES DE FIEL (Roman Polanski, F/GB 1991) A DAY IN THE LIFE OF … (P.: Kineto Production Co., GB 1910) 1. STIFTUNGSFEST UND FAHNENWEIHE … (anonym, D 1913) Odyssee s. IRRFAHRT; MYTHOS Glossar 69

Ökologie. Motiv, das alle Genres und Traditionen er- Beispiele: fassen kann, vom dokumentarischen LEHRFILM mit di- DIE VERKAUFTE BRAUT (Max Ophüls, D 1932) daktischer Funktion über den fiktionalen WIRTSCHAFTS- TROLLFLÖJTEN (Ingmar Bergman, S 1974) KRIMI, der in der Regel den Anspruch auf SYSTEMKRITIK LINDA DI CHAMOUNIX (Daniel Schmid, CH 1996) erhebt, bis hin zum KATASTROPHENFILM. Freilich ist das Motiv so jung wie die gesellschaftspolitische Sensibilität gegenüber ökologischen Problemstellungen, Risiken und Oral History. Der Begriff entstammt der modernen Katastrophen. So schreibt gerade der Spielfilm amerikanischen Geschichtswissenschaft und bezeichnet ökologischen Themen erst seit den späten 1970er Jahren den methodischen Zugang des INTERVIEWS von Zeitzeu- überhaupt eine Fiktionswürdigkeit zu. phb gen (oft mit Hilfe von Tonbandaufzeichnungen). Dahinter Beispiele: stand und steht das Bedürfnis, den «offiziellen» – und NOTTE ITALIANA (Carlo Mazzacurati, I 1987) das heißt immer auch kanonisierten – Quellen sowie dem ET LA LUMIERE FUT (Otar Iosseliani, BRD/F/I 1989) Blick auf die so genannt großen politischen Ereignisse ERIN BROCKOVICH (Steven Soderbergh, USA 2000) und Persönlichkeiten eine am Alltag orientierte, sozial- historische Konzeption von Geschichtsschreibung entgegenzusetzen. Befragt werden also «Durchschnitts- Omnibusfilm s. EPISODENFILM menschen» und «Betroffene», KLEINE LEUTE eben. Gerade für die Aufarbeitung von lange Zeit vernach- lässigten Gebieten der Geschichte (soziale und kulturelle Operettenfilm. Deutsches und österreichisches Genre Randgruppen, feministische Bewegung, MINORITÄTS- der 1930er und 1940er Jahre. Nahezu ausnahmslos in PROBLEME) bietet die Oral History ein oft unverzicht- einer nostalgisch verklärten Vergangenheit (meist dem bares Instrumentarium, das seit den 1970er Jahren 19. Jahrhundert) situiert, spielen die Geschichten oft in zunehmend in den DOKUMENTARFILM einfließt. Außer- der Donaumetropole Wien, die jedoch als emotionaler dem liegt sie als Methode auch zahlreichen FILMHIS- (und weniger als lokaler) Schauplatz fungiert. Hier verliert TORISCHEN DOKUMENTATIONEN zugrunde. phb man sich in züchtigen LIEBESGESCHICHTEN und unkom- Beispiele: plizierten GENERATIONENBEZIEHUNGEN, spricht gemä- SHOAH (Claude Lanzmann, F 1974/85) ßigten, für ein gesamtdeutsches Publikum verständlichen BRUXELLES TRANSIT (Samy Szlingerbaum, B 1980) Dialekt und gibt sich wann immer möglich einer dezent DIE NACHTHEXEN ... (Sissi Hüetlin, Elizabeth McKay, CH 1995) berauschenden Walzerseligkeit hin. Im Mittelpunkt steht typischerweise die KÜNSTLERGESTALT eines Komponisten, der im Rahmen eines Hofballs in emo- Outlaw. Figur oder Figurenkollektiv. Im Zentrum steht tionale Irrungen und Wirrungen gerät, wobei das Happy- eine Person oder eine kleine Gruppe, die sich außerhalb End von Anfang an gewiss ist. Operettenfilme sind einem des Gesetzes gestellt hat, geächtet wurde oder auf der dezidiert unpolitischen Ton gehalten – gerade dies macht FLUCHT ist und aus ihrer Unbehaustheit heraus weitere besonders während des NATIONALSOZIALISMUS ihre kriminelle Taten begeht. Manche Outlaws sind politische Relevanz aus. gleichzeitig Anwälte der Gerechtigkeit und Wohltäter der Die Nähe zum WIENER FILM ist beträchtlich; dennoch ist Armen (vgl. ROBIN-HOOD-STOFF); andere wiederum der «preußische» Strang des Genres nicht zu vergessen, erreichen Kultstatus durch ihre Tollkühnheit und Selbst- der ebenso nostalgisch agiert, aber die Verklärung der bestimmtheit auch im nichtkriminellen Verhalten. Die Habsburg-Monarchie durch jene des Hohenzollern-Reichs Figur des Outlaw tritt bevorzugt in den Genres ersetzt. phb WESTERN, KRIMI oder ROADMOVIE auf, oft als BUDDY- Beispiele: BUDDY-Konstellation oder als FREUNDINNENPAAR, aber ICH UND DIE KAISERIN (Friedrich Hollaender, D 1932) auch in LIEBESGESCHICHTEN, die in diesem Fall meist WALZERKRIEG (Ludwig Berger, D 1933) von einer TRAGISCHEN LIEBE erzählen. WIENER BLUT (Willi Forst, D 1942) Vgl. die AUSSTEIGERIN, die aus innerer Überzeugung ih- re sozialen (oft auch zivilisatorischen) Bindungen aufkün- digt, ohne das Gesetz zu übertreten; außerdem die Opernverfilmung. Grundsätzlich gibt es zwei ABSTEIGERIN, deren Außenseitertum mehr auf soziale Möglichkeiten der Opernverfilmung. Zum einen kann es und weniger auf juristische Gegebenheiten fußt. phb sich um abgefilmte Opernaufführungen handeln, die – Beispiele: analog zur KONZERTAUFZEICHNUNG – allenfalls ästheti- JESSE JAMES (Henry King, USA 1939) sierend aufbereitet sind, um sie der Nachwelt zu BONNIE AND CLYDE (Arthur Penn, USA 1967) erhalten. Zum anderen kann es sich – analog zur LITERA- MESSIDOR (Alain Tanner, CH 1978) TUR- oder DRAMENVERFILMUNG – um zuweilen sehr freie Adaptionen von Opern handeln, die nichts mehr mit bloßen Aufzeichnungen zu tun haben, sondern neue, eigenständige Interpretationen sind, die sich spezifisch filmischer Ausdrucksregister bedienen. Dies kann sogar in P Form eines ANIMATIONSFILMS geschehen, außerdem sind Verflechtungen von Oper und anderen Kunst- und MUSIK-Formen denkbar. P.O.W. film s. KRIEGSGEFANGENEN-FILM Zum «umgekehrten» Phänomen – Filmemacher, die Opern inszenieren – vgl. die Werkverzeichnisse von Lu- chino Visconti, Daniel Schmid, Patrice Chéreau u. a. phb Pädophilie s. SEXUALDELIKT 70 Glossar

Parabel. Erzählform, in der ein lehrstück- oder gleichnis- PEEPING TOM (Michael Powell, GB 1960) hafter Vergleich zur eigenständigen Erzählung erweitert DIRTY HARRY (Clint Eastwood, USA 1971) wird. Ihre Funktion besteht in der Illustration einer oft NATTEVAGTEN (Ole Bornedal, DK 1995) moralischen Pointe oder aber einer allgemeinen Wahr- heit. Was genau verglichen werden soll, wird jedoch nicht immer durch direkten Verweis angedeutet, sondern Perestrojka. Der Begriff meint «Umbau» und wurde muss gelegentlich auch erschlossen werden. Die Bezüge von Michail Gorbatschow als Schlagwort für die seit zwischen Parabel und ALLEGORIE sind zweischneidig: 1985 eingeleiteten politischen Reformen in der Sowjet- Einerseits gelangt das Publikum in beiden Fällen nur über union geprägt. Wesentlicher Bestandteil ist die für sow- ein Schlussverfahren zum eigentlich Gemeinten. Anderer- jetische Verhältnisse unerhörte Vorstellung von glasnost, seits lässt sich bei der Parabel der Vergleich von nur einer freizügigen Informations- und Diskurspolitik: Zuvor einem Punkt aus auf den gemeinten Sachverhalt über- unter Verschluss gehaltene Belange werden nun in und tragen; die ALLEGORIE dagegen ist Punkt für Punkt auf mit der Öffentlichkeit geführt, außerdem ist die öffent- zwei Ebenen zu lesen, verlangt vom Publikum also ein liche Kritik am Staat in einem nie gekannten Ausmaß größeres Abstraktionsvermögen. phb möglich. Die sowjetischen FilmemacherInnen beteiligen sich unmittelbar an diesem Diskurs, indem sie ihn selbst Beispiele: thematisieren oder aber Fragen stellen, die vor der Pere- DU SKAL ÆRE DIN HUSTRU (Carl Theodor Dreyer, DK 1925) strojka undenkbar gewesen wären und einen Film zum O THIASOS (Theo Angelopoulos, GR 1975) ZENSURFALL gemacht hätten. Motive wie KLASSEN- PASTRY, PAIN AND POLITICS (Stina Wehrenfels, CH 1998) VERHÄLTNISSE und IDENTITÄTSPROBLEME tauchen ver- mehrt auf und werden offen auf den Tisch gelegt. Die Filme erheben einen expliziten Anspruch auf SYSTEM- Parodie. Erzählform, die stets eine Art von KRITIK, und jahrzehntelang unter Verschluss gehaltene INTERTEXTUALITÄT ist: Ein vorhandenes Werk wird unter «Regalfilme» gelangen endlich in die Kinos. Mit der Auf- Beibehaltung kennzeichnender Formmittel, aber mit ge- lösung der Sowjetunion Ende 1991 entfällt auch der Rah- genteiliger Intention nachgeahmt. Durch das entstandene Auseinanderfallen von Form und Aussageanspruch men für die Thematisierung der Perestrojka. Als Motiv ist die Perestrojka vor allem im sowjetischen Kino ein kaum werden komische Effekte gewonnen, die umso größer zu unterschätzendes Thema; ausländische Filme nehmen sind, je größer die Fallhöhe vom Parodierten zur Parodie es weitaus seltener auf oder begnügen sich mit flüch- ist. Allerdings will die Parodie keineswegs nur Komik er- tigen Skizzierungen. phb zeugen; oft ist das Lächerliche und Komische nur ein Mittel zu – bisweilen düsterer oder schriller – GESELL- Beispiele: SCHAFTS- oder SYSTEMKRITIK. Das Gelingen jeder Paro- DISSIDENT (Waleriu Scheregi, SU 1988) die ist darauf angewiesen, dass das Publikum den paro- MALENKAYA WERA (Wassilij Picul, SU 1988) dierten Bezugstext oder -film überhaupt erkennt. NEBESSA OBETOWANNIJE (Eldar Rjazanow, SU 1991) Vgl. die TRAVESTIE, die sozusagen umgekehrt verfährt und einen bekannten Stoff in eine neue, oft unangemes- sene, Darstellungsform fließen lässt; außerdem die SATI- Perversion. Motiv im fiktionalen und dokumentarischen RE, die sich nicht auf ein anderes Werk, sondern auf Film. Im weiteren Sinn ist ein von Norm und Moral außerfilmische Zustände der Realität bezieht. phb «abweichendes» Verhalten gemeint, im engeren Sinn eine (vom heterosexuellen Koitus) «abweichende» Beispiele: SEXUALITÄT. In psychoanalytischen Denkzusammenhän- MUD AND SAND (Gilbert Pratt, USA 1923) gen geht es um die Gesamtheit eines psychosexuellen THE FEARLESS VAMPIRE KILLERS (Roman Polanski, GB 1967) Verhaltens, das mit «atypischen» Formen sexueller MARS ATTACKS (Tim Burton, USA 1996) Lustgewinnung einhergeht. Dazu werden meist HOMO- SEXUALITÄT, Pädophilie, Nekrophilie und Sodomie ge- PartisanInnen s. GUERILLA; WIDERSTAND rechnet, aber auch Fetischismus, Transvestismus, VO- YEURISMUS, Exhibitionismus und SADOMASOCHISMUS. Freilich ist die Vorstellung von Normen und Norm- abweichungen genauso historisch und kulturell bedingt Pathologischer Killer. Figur vor allem im THRILLER wie deren moralische und juristische Bewertung. Im Film und PSYCHOTHRILLER, seltener im KRIMINALFILM. In der treten Perversionen oft in PSYCHOTHRILLERN auf (die Regel wird das Pathologische als KRANKHEIT begriffen, die der Figur selbst bewusst ist: Sie leidet daran, morden nicht selten «Seriosität» vorgeben, sich aber in Schlüpfrigkeiten ergehen). Dabei sind sie oft an ein zu müssen – sei es in Form von SERIENMORDEN und/ SEXUALDELIKT gekoppelt und außerdem an die Figur oder SEXUALDELIKTEN –, selbst wenn ihr vor ihrem eines PATHOLOGISCHEN KILLERS. Von besonderem Inte- eigenen Tun graut. Gerade dadurch hat sie das Potenzial, resse ist die Variante des VOYEURISMUS: weil er in Mitleid auszulösen und steht insofern als Gegensatz zur filmischen Darstellungen immer eine (problematische) Art MENSCHLICHEN BESTIE da, die sich gesellschaftlichen Maßstäben entzieht, weder bestrafbar noch reso- der SELBSTREFLEXION ist, und weil in der psychoana- lytischen Filmtheorie das Verhalten des Kinopublikums zialisierbar ist und kaum je Mitleid, dafür aber Grauen (umstrittenerweise) mit demjenigen des Voyeurs vergli- provoziert (und entsprechend eher im HORRORFILM chen wird. phb anzutreffen ist). In komischen Genres erscheinen patho- logische Killer so gut wie nie, allenfalls werden sie mit Beispiele: SCHWARZEM HUMOR angereichert. phb PEEPING TOM (Michael Powell, GB 1960) LA BETE (Walerina Borowczyk, F 1975) Beispiele: LE CRI DE LA SOIE (Yvon Marciano, CH/F/B 1996) ORLACS HÄNDE (Robert Wiene, D 1924) KISSED (Lynne Stopkewich, CDN 1996) Glossar 71

Phantastik. Im Gegensatz zur SCIENCE FICTION und Piratenfilm. Variante des ABENTEUERFILMS, die sich zur FANTASY beruht die Phantastik auf einer Verletzung meist auf der Schnittstelle zwischen MANTEL UND fundamentaler Annahmen des Realitätsbegriffs der DEGEN sowie ABENTEUERROMANZE befindet und gele- westlichen Zivilisation. Dabei wird mindestens eine Figur gentlich auch Abstecher ins MUSICAL unternimmt. Die der dargestellten Welt durch jene Phänomene, die gegen Piraten selbst sind natürlich kühne SEELEUTE, oft auch diese Realitätsannahmen verstoßen, in ihrem Bewusst- furchtlose SCHMUGGLER oder überhaupt OUTLAWS. Vor sein und/oder ihrem Verhalten erschüttert. Realitäts- allem aber sind sie athletische und erotische Drauf- inkompatible Phänomene liegen dann vor, wenn nicht gänger, die viel Körper zeigen und deren kriminelle Taten nur unwahrscheinliche, sondern, gemessen am Realitäts- verziehen werden sollen, weil sie edlen Motiven oder begriff der westlichen Kultur, unmögliche Geschehnisse verständlichen Kränkungen entspringen. Heimtückische auftreten. So z. B., wenn elementare Annahmen über Gouverneure aus der Karibik und tyrannische Vizekönige den Raum (wie Dreidimensionalität), die Zeit (wie deren aus Lateinamerika sind ihre Gegenspieler, deren Töchter Unumkehrbarkeit) und die Materie (wie die Sterblichkeit jedoch rechtzeitig den Edelmut der im Kern galanten biologischer Körper oder die ausschließlich auf physi- Korsaren erkennen. Das Genre bietet Gelegenheit für kalischen Kräften basierende Einwirkung auf sie) verletzt malerisch-opulente (Farb-)Fotografie von zerfetzten werden. Charakteristisch für die Phantastik ist, dass die Phantasiekostümen, wehenden Takelagen, viel Ozean dem Realitätsbegriff widersprechenden Phänomene hin- und Wolken – sowie für die Inszenierung furcht- sichtlich ihres Status unentscheidbar sind, d. h. es gibt erregender Seeschlachten und atemberaubender Akroba- keine übergeordnete Instanz, die sie als bloße Wahn- tiknummern an Tauen und Masten. phb vorstellungen einer Figur ausweist oder, wie in der Beispiele: FANTASY, als wirklich real setzt. Typische Motive und THE PIRATE (Vincente Minnelli, USA 1949) Themen des phantastischen Kinos sind die ZEITREISE, das ANNE OF THE INDIES (Jacques Tourneru, USA 1951) Erscheinen von HEXEN, ZOMBIES und Vampiren sowie THE CRIMSON PIRATE (Robert Siodmak, USA 1952) die TEUFELSAUSTREIBUNG. Phantastische Phänome tre- PIRATES (Roman Polanski, F/Tunesien 1985) ten im HORRORFILM auf, artikulieren sich häufig als ÜBERSINNLICHER HORROR, und die Erschütterung des Bewusstseins kann sich bis zum IDENTITÄTSPROBLEM Plansequenz. Vom französischen plan séquence abge- ausweiten. uvk leitet, meint der Begriff die Gestaltung eines voll- Beispiele: ständigen Handlungssegments – einer Sequenz – unter DER MÜDE TOD (Fritz Lang, D 1921) Verzicht auf den Schnitt. Verschiebungen auf der Bedeu- VAMPYR (Carl Theodor Dreyer, F/D 1931) tungsebene, der Wechsel der zentralen Figuren u. ä. wer- STALKER (Andrej Tarkowskij, SU 1979) den also nicht durch die Montage, sondern durch die Mise-en-scène erzielt. Häufig, aber keineswegs immer, geschieht dies unter Rückgriff auf mitunter komplexeste Pikareske. Der Begriff stammt aus der Literaturwis- Kamerabewegungen mit dem Ziel, das «ungeschnittene» senschaft und meint den Schelmenroman, der im Spanien Geschehen dennoch zu dramatisieren oder Akzentver- des 16. Jh. entstand (span. picaro = Schelm, Gauner). lagerungen wiederzugeben – und so der Gefahr der Ein- Auch im Film oft als fiktive AUTOBIOGRAFIE und daher tönigkeit entgegenzuwirken. Plansequenzen sind oft eine als ICHERZÄHLUNG konzipiert, basiert die Erzählstruktur Herausforderung an den Ehrgeiz und das Können der auf einem Nummernprinzip, wobei die einzelnen Episo- FilmemacherInnen. Sie bleiben jedoch stets ein Risiko, den nur durch den Helden miteinander verbunden sind. das sich in der Gefahr äußert, das Kinopublikum zu Er ist Zentrum und Bezugspunkt der Pikareske, vereinigt langweilen. Dies geschieht vor allem dann, wenn die den Typ des Abenteurers und Weltklugen, des Außen- Plansequenz formal zwar brillant gestaltet, vom erzäh- seiters und Lebenskünstlers, des Einfältig-Naiven und lerischen Standpunkt her aber kaum gerechtfertigt ist Habenichts in sich. Immer auf REISEN durch diverse und sich daher in ihrer Eigenschaft als Schauwert, als Länder und soziale Schichten, besteht er dank Geistes- formales Mätzchen, genügt. Im westlichen Kino wird die gegenwart und Erfindungsgabe zahlreiche Abenteuer. Er Plansequenz daher äußerst sparsam dosiert. In anderen, vertritt die Lebensideologie von der Unzulänglichkeit al- etwa asiatischen Kinotraditionen sind sie sehr viel les Menschlichen und betrachtet die Welt als Bühne, auf regelmäßiger anzutreffen. phb der mehr schlechte als rechte Inszenierungen stattfinden. Beispiele: Der Grundton der Pikareske ist ungeschminkt-realistisch, ORDET (Carl Theodor Dreyer, DK/BRD 1954) und in ihren Schilderungen erhebt sie – zwischen SATIRE TOUCH OF EVIL (Orson Welles, USA 1958) und KLAMAUK pendelnd – den Anspruch auf eine viel- THE PLAYER (Robert Altman, USA 1992) fach pessimistische, aber didaktische GESELLSCHAFTS- RUSSIAN ARK (Alexander Sokurow, D/RUS 2002) KRITIK. Vgl. den ABENTEUERFILM, der ohne pikareske Hauptfi- gur und gesellschaftskritische Ansätze auskommt, dafür Poetischer Film. Poetische Filme lassen die herkömm- aber oft in exotischem Gelände spielt. phb lichen Gattungs- und Genrenormen hinter sich, indem sie deren Grenzen zum Fließen bringen. Sie sind in erster Beispiele: CASANOVA (Alexandre Volkoff, F 1927) Linie persönliche Visionen der Filmemacherinnen und MÜNCHHAUSEN (Josef von Baky, D 1943) Filmemacher, in denen die konkrete Dingwelt des L'ARMATA BRANCALEONE (Mario Monicelli, I 1965) Objektiven und die imaginäre Vorstellungswelt des Sub- jektiven wichtiger sind als die Logik und Hermetik dramaturgischer Spannungskurven. Poetische Filme leben stark aus der Kameraarbeit, die die Bilder in lyrischer Weise verbindet. Im Vergleich zum EXPERIMENTELLEN 72 Glossar

SPIELFILM geht es ihnen aber nicht in erster Linie um die legbaren Personen) HISTORISCHES FRAUENSCHICKSAL. Verfremdung dramaturgischer Muster; vielmehr steht der phb Effekt des Verfremdens – der im poetischen Film trotz al- Beispiele: lem häufig vorkommt – nicht für sich selbst, sondern im YOUNG MR. LINCOLN (John Ford, USA 1939) Dienst eines poetischen Ausdrucks. phb L'AVEU (Constantin Costa-Gavras, F/I 1969) Beispiele: DIMENTICARE PALERMO (Francesco Rosi, I 1989) LA FIANCÉE DES TÉNÈBRES (Serge de Poligny, F 1944) HAPPINESS IS A WARM GUN … (Thomas Imbach, CH 2001) SAJAT NOWA (Sergej Paradschanow, SU 1969) AZ ÉN XX. SZÁZADOM (Ildikó Enyedi, H/BRD 1988) TUVALU (Veit Helmer, D 1999) Politische Allegorie. Wie im Fall der ALLEGORIE eine Erzählform, in der Bedeutung durch den Verweis auf eine zweite Sinnebene konstituiert wird. Auch hier muss vom Poetischer Realismus. Bewegung im französischen Publikum eine Übertragung geleistet werden: von der Film, die in der ersten Hälfte der 1930er Jahre entstand vordergründigen, eigentlichen Ebene auf eine abstrakte, und mit der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 uneigentliche Ebene. Das heißt, Figuren, Objekte und endete. Die Gemeinsamkeit der Filme beruht vor allem in Handlungen repräsentieren politische Ideen und einer pessimistischen, fatalistischen Grundierung der Qualitäten (in anderen Allegorien geht es um moralische Geschichten – womit an den Naturalismus eines Émile oder religiöse Ideen). Entscheidend für das Funktionieren Zola angeknüpft wird – sowie deren Situierung im Alltag von Allegorien ist das Bewusstsein beim Publikum, dass KLEINER LEUTE. Dabei geht die poetische, oft mär- einerseits zwei Sprach- oder Bildebenen existieren und chenhafte Auffassung der Handlung mit einer präzisen dass andererseits Allegorien stets final orientiert, auf ein Beobachtung sozialer Realität einher. Zu den bevor- bestimmtes Ziel hin ausgelegt sind. Der Schlüssel zu zugten Themen gehören die Vergeblichkeit der Liebe, die ihrem Verständnis liegt in der Erkenntnis dieses Ziels und Unmöglichkeit der Kommunikation, der zentrale Stellen- nicht auf der Darstellungsebene selbst. Diese liefert wert von TRÄUMEN, die Verachtung sozialer Konventio- höchstens Signale, die auf eine allegorische Lesung hin- nen und Zwänge, das Leben von AußenseiterInnen etc. weisen, welche vom Publikum erst noch zu leisten ist. Wiederkehrende stilistische Elemente sind eine Sponta- Sind diese Signale wenig eindeutig, wird die Lektüre neität der Dialoge, eine (streckenweise fast dokumen- problematisch, und es hängt vom Vorwissen des Pub- tarische) Anlehnung an MILIEUSTUDIEN sowie eine weh- likums ab, wie weit es zur Entschlüsselung der Doppel- mütig-lyrische Grundstimmung in einer häufig poetischen aussage in der Lage und willens ist. Oft dienen politische Bildgestaltung. Insgesamt stellt der réalisme poétique Allegorien dem Zweck der SYSTEMKRITIK, formulieren eine (bewusste) Alternative zum zeitgenössischen UTOPIEN oder aber, in der negativen Variante, DYSTO- standardisierten Unterhaltungskino dar, sei es aus Holly- PIEN. wood oder aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Vgl. POLITISCHE SATIRE, POLITISCHER ESSAYFILM, POLI- Ein Teil der Filme des Poetischen Realismus bildet das TISCHES KLIMA. phb sich stärker am politischen Alltag orientierende «Kino der Beispiele: Volksfront». phb RENAISSANCE (Walerian Borowczyk, F 1963) Beispiele: A CLOCKWORK ORANGE (Stanley Kubrick, GB 1971) L'ATALANTE (Jean Vigo, F 1934) YOUCEF – … (Mohamed Chouikh, Algerien, 1991) LA BANDERA (Julien Duvivier, F 1935) LA BÊTE HUMAINE (Jean Renoir, F 1938) QUAI DES BRUMES (Marcel Carné, F 1938) Politische Satire. Eine Variante der SATIRE, die politischen Gegebenheiten und INSTITUTIONEN mit beißendem Spott und herber, gelegentlich moralischer Politikerfilm. Genre, in dessen Zentrum die Figur eines SYSTEMKRITIK begegnet. Ihr Ziel ist nicht das befreiende Politikers steht, sei er wie im BIOPIC historisch belegbar oder versöhnende Lachen, wie es die KOMÖDIE will, oder aber frei erfunden. Typischerweise dreht sich die sondern die Einsicht des Publikums in die Fehler und/oder Handlung um eine politische Konstellation, die im Biopic die Lächerlichkeit des politischen Systems; damit ist ihr als AUTHENTISCHER FALL, ansonsten als (mehr oder we- stets etwas thesenhaft-didaktisches eingeschrieben. Sie niger) plausibler Fall daher kommen kann. Es geht um nimmt deutlichen Bezug auf die kritisierte oder karikierte politische Skandale und Affären (Watergate, Profumo, Wirklichkeit, wenn auch oft in so geschickt verkleideter Halsband-Affäre etc.), aber auch um Motive wie KOR- Form, dass sie die ZENSUR passieren kann. Sie verzichtet RUPTION, Wahlbetrug, gelegentlich auch BEZIEHUNGS- bewusst auf psychologische Konfliktentwicklungen und UND FAMILIENMORD, außerdem um die ANKLAGE UND verhindert die Möglichkeit emotionaler Identifikation. AUFDECKUNG eines Verbrechens in der INSTITUTION des Vgl. die strukturell verwandte KRIEGSSATIRE; außerdem Staatsapparates u. ä. Der Reiz liegt in der Nachvollzieh- POLITISCHE ALLEGORIE, POLITISCHER ESSAYFILM, POLI- barkeit von Entscheidungen und Sachlagen, die das TISCHES KLIMA. phb Filmpublikum so oder anders aus den Medien kennt. Po- Beispiele: litikerfilme können unterschiedlich angelegt sein: als THE GREAT DICTATOR (Charles Chaplin, USA 1940) psychologische differenzierte, die Mechanismen von SPUR DER STEINE (Frank Beyer, DDR 1966) Macht auslotende CHARAKTERSTUDIE, als konservatives SKRIVÁNCI NA NITICH (Jirí Menzel, CSSR 1969) MORALISCHES RÜHRSTÜCK, als ideologisch aufbereiteter WAG THE DOG (Barry Levinson, USA 1997) THESENFILM, als manifeste PROPAGANDA oder als bit- tere DYSTOPIE mit Anspruch auf SYSTEMKRITIK. Filme, in deren Zentrum eine Politikerin steht, sind die große Ausnahme; vgl. (allerdings nur im Fall von historisch be- Glossar 73

Politischer Essayfilm. Variante des ESSAYFILMS, der vollkommen undurchsichtige ALPTRAUMHAFTE VER- als Autorenfilm par excellence nicht verpflichtet ist, STRICKUNG aus politischen Machenschaften und KOR- zwischen den Elementen des DOKUMENTAR- oder Spiel- RUPTION, und häufig wird sie eines (politischen) Ver- films, des LEHRFILMS oder INTERVIEWS zu unterschei- brechens UNSCHULDIG BESCHULDIGT. Sie ist ihren Ge- den, da er alle in sich enthalten kann. Der politische genspielern – AGENTEN, Polizei, der Staatssicherheit, Essayfilm ist ein Versuch (essay), ein bestimmtes poli- aber auch der politischen Bürokratie – unterlegen, akut tisches Thema zu erschließen. Dabei verzichtet er auf bedroht und auf sich allein gestellt. Wenn sie überleben kausal begründete Handlungen, durchgehende Figuren- will, muss sie selbst das Verbrechen aufklären oder sich zeichnungen oder argumentative Stringenz. Vielmehr ist aus den tödlichen Mühlen des politischen Apparats er bewusst fragmentarisch, erzeugt Verunsicherung und befreien. Auch wenn ihr das regelmäßig gelingt, so bindet das Publikum in die Deutungsarbeit mit ein. Seine schildert der Politthriller dennoch den Zusammenbruch Offenheit erlaubt es, eine Fragestellung aus vielen Per- einer politischen Normalität, der man bis anhin blind spektiven zu reflektieren und zu disparaten – inhaltlichen vertraut hat, hinter der sich aber erschreckende Abgrün- und formalen – Elementen zu greifen. Typischerweise de öffnen. So ist dem Politthriller immer schon ein gewis- stellt er einen seinem Thema angemessenen, überpersön- ses Maß an SYSTEM- oder GESELLSCHAFTSKRITIK ein- lichen Zusammenhang dar, der räumlich und zeitlich den geschrieben. Erfordernissen des jeweiligen Themas angepasst ist. Er Vgl. AGENTENTHRILLER, PSYCHOTHRILLER. phb arbeitet mit Polarisierungen und Analogien und ist oft Beispiele: nach dem Prinzip der Reihung strukturiert. «Z» (Constantin Costa-Gavras, F/Algerien 1968) Vgl. das fiktionale Genre POLITIKERFILM (oft eine NADA (Claude Chabrol, F/I 1973) Variante des BIOPICS) sowie die fiktionalen Erzählformen BAYCOT (Mohsen Makhmalbaf, IR 1985) POLITISCHE ALLEGORIE und POLITISCHE SATIRE, schließ- HIDDEN AGENDA (Ken Loach, GB 1990) lich das Motiv des POLITISCHEN KLIMAS. phb Beispiele: OBYKNOWENNY FASCHISM (Michael Romm, SU 1965) Polizeifilm. Im Grunde die Umkehrung (und insofern ALLEMAGNE ANNEE 90 – NEUF ZÉRO (J.-L. Godard, F 1991) eine Variante) des KRIMINAL- und des GANGSTERFILMS, LUMUMBA – LA MORT D’UN PROPHÈTE (R. Peck, CH 1992) da nicht die Täter, sondern ihre Gegenspieler von der Polizei im Zentrum stehen. Es geht auch hier um die Aufdeckung eines Verbrechens, bei der die Polizisten Politisches Klima. Motiv im fiktionalen, dokumentari- aber oft ebenso entschlossen und findig (gelegentlich schen und experimentellen Film. Der Begriff lässt absicht- auch gewalttätig) sein müssen wie die VerbrecherInnen, lich viele Bedeutungen zu und ermöglicht es, ein ansons- so dass die moralischen Grenzen leicht ins Fließen ten nur schwierig zu beschreibendes Phänomen zu geraten (und daher interessant werden). Ansonsten ist fassen. Es geht um Atmosphärisches, um kollektive eine große Bandbreite zu verzeichnen: Polizisten können Haltungen und mehr oder weniger bewusste Einstel- sich gegenseitig bekämpfen, wenn es um die KORRUP- lungen, die auf eine (vergangene oder gegenwärtige) TION in der INSTITUTION des Polizeiapparats geht. Da- politische Realität rückschließen lassen – sei es auf der neben gibt es die einem realisitischen Stil verpflichteten Ebene der Produktionszeit eines Films oder auf der Ebene MILIEUSTUDIEN mit einer Tendenz zum SEMIDOKUMEN- der dargestellten Epoche. Im Zentrum steht ein meta- TARFILM. Oder aber der Film ist als KOMÖDIE konzipiert phorisches Klima, das sich in einer Stimmung der Angst, und schickt zwei Stars als UNGLEICHES PAAR oder als einem Gefühl der Paranoia, einer Tendenz der Selbst- BUDDY-BUDDY-Konstellation auf Verbrecherjagd. Doch überwachung, einer gesteigerten Bereitschaft zur GE- unabhängig von diesem breiten Spektrum fokussiert fast WALT, einer Ahnung um das Verbotene oder aber in jeder Polizeifilm den Konflikt zwischen Loyalität und euphorischer Aufbruchstimmung äußern kann. Als Bei- Integrität einerseits und moralischer Verderbtheit und spiele wären die McCarthy-Ära in den USA, die individuellen Wünschen andererseits. Schließlich gilt auch Adenauer-Ära in der Bundesrepublik, TAUWETTER und bei diesem Genre: Weibliche Hauptfiguren sind im Kino PERESTROJKA in der Sowjetunion, der «Prager Frühling», die Ausnahme (im FERNSEHEN dagegen gehören sie als der «Deutsche Herbst», Pinochets Chile, Castros Kuba Kommissarinnen seit den 1990er Jahren zum festen Be- oder Khomeinis Iran zu nennen. phb standteil). phb Beispiele: Beispiele: POPOL I DIAMENT (Andrzej Munk, PL 1958) THE FRENCH CONNECTION (William Friedkin, USA 1971) UNA GIORNATA PARTICOLARE (Ettore Scola, I 1977) LETHAL WEAPON (Richard Donner, USA 1987) DAS BOOT IST VOLL (Markus Imhoof, CH 1980) BELLA BLOCK: LIEBESTOD (Max Färberböck, D 1995) DIE INNERE SICHERHEIT (Christian Petzold, D 2000)

Pornografischer Film. Der pornografische Film ist so Politthriller. Variante des THRILLERS, der durch die alt wie das Medium selbst. Im Zentrum steht die explizite hautnahe Inszenierung von Angst und Suspense das Darstellung real vollzogener Sexualakte: Fragmentierende Publikum bis zur Erzeugung physischer Reaktion bringt. Groß- und Detailaufnahmen dominieren, die narrative Die Geschichten spielen in politischen Kontexten – sei es Struktur folgt einem Nummernprinzip von Aneinander- in einem bestimmten Land, sei es auf internationaler reihung und Variation, und die Handlung der einzelnen Ebene, in demokratischen oder diktatorischen Systemen. Segmente ist auf ein Minimum reduziert (Figur A begeg- Sie basieren oft auf einem AUTHENTISCHEN FALL und net Figur B). Entsprechend anonym und austauschbar wählen einen entsprechend realistischen Duktus. sind die ProtagonistInnen. Es geht nicht um das Erzählte, Typischerweise gerät die Hauptfigur in eine für sie sondern um das Gezeigte, dessen Funktion in der kör- 74 Glossar perlichen Stimulation des Publikums liegt. Das «Groß- der Regel nur wenig mit dem zu tun, was die Geschichts- genre» Porno ist diversifiziert und publikumsorientiert, wissenschaft darunter versteht. Der Phantasie sind nahe- bedient verschiedene sexuelle Orientierungen und unter- zu keine Grenzen gesetzt, da wir über nur wenige prä- schiedlichste (legale und illegale) Vorlieben und historische Quellen verfügen, die uns über die Angemes- Fetischismen (vgl. PERVERSION). Während Jahrzehnten senheit oder Falschheit filmischer Entwürfe aufklären entstanden Pornos im Untergrund. Seit in den 1970er könnten. Im Zentrum stehen urige LANDSCHAFTEN und Jahren die ZENSUR visueller Pornografie (zunächst in längst ausgestorbene Tiere, die per (COMPUTER-) ANI- Skandinavien) aufgehoben wurde, existieren eigene Film- MATION zum Leben erweckt werden und den frühen industrien, Verleihsysteme und Kinos (abgesehen vom Menschen das Leben schwer machen. In jüngster Zeit immensen Anteil an Produktionen, die direkt für den macht sich ein Trend zu aufwändig animierten TIER- und VHS- und DVD-Markt lanciert werden), außerdem eigene DOKUMENTARFILMEN bemerkbar, bei denen sich didak- Stars und Preisverleihungen. Versuche des Mainstream, tischer und unterhaltender Anspruch vermischen. phb die Grenze zur Pornografie zu überschreiten, sind Beispiele: vorsichtig dosiert und enden oft als umstrittener ZEN- THE DINOSAUR AND THE ... (Willis O'Brien, USA 1915) SURFALL. Die feministische Filmtheorie erkennt in der LA GUERRE DU FEU (Jean-Jacques Annaud, F/CDN 1980) heterosexuellen Pornografie einen Fluchtpunkt patriar- LAND OF THE MAMMOTH (Emmanuel Mairesse, USA 2001) chaler Herrschaft; im Rahmen der Queer Theory wird seit den 1990er Jahren auch die schwule und lesbische Por- nografie untersucht. Prequel. Der Begriff meint ein «Vorangehendes» und Vgl. SOFTPORNO, SEXFILM und SEXKOMÖDIE. phb damit sozusagen das Komplement eines sequels oder Beispiele: ANSCHLUSSPRODUKTS: Gemeint ist ein Spielfilm, dessen BEHIND THE GREEN DOOR (Art u. Jim Mitchell, USA 1971) Plot vor demjenigen eines bereits abgedrehten und be- THE STORY OF JOANNA (Gerard Damiano, USA 1975) kannten Werks spielt, der sich mit anderen Worten also ICH, DER KING OF PORN … (Thorsten Schütte, D 2002) derselben Diegese bedient, auf der Zeitachse der Story aber früher anzusiedeln ist. Die Gründe, die zu einem Prequel führen, sind einerseits narrationsbedingt: Sei es, Postmoderne. Seit den 1980er Jahren eine schillernde dass eine Weiterführung der Story (und damit ein Sequel) Gruppe von Autorenfilmen unterschiedlichster Herkunft, nicht denkbar ist, sei es, dass alle Fortsetzungsmög- deren gemeinsamer Nenner schwierig auszumachen ist. lichkeiten bereits ausgeschöpft sind. In aller Regel domi- Letztlich liegt er wohl – wie in den Bereichen Literatur, nieren aber, ähnlich wie beim REMAKE, wirtschaftliche ARCHITEKTUR und bildende Kunst – in einer Logik des Überlegungen den Entscheid zu einem Prequel. Prequels Zitierens und damit in einem intensivierten und äußerst sind immer schon eine Form von INTERTEXTUALITÄT und bewussten Umgang mit INTERTEXTUALITÄT. Damit ein- werden an ihrem Bezugsfilm gemessen, wobei der her geht die Aufhebung herkömmlicher, vermeintlich Vergleich nicht immer zugunsten des neuen Films ausfällt fester Genregrenzen, vor allem aber die Aufwertung bis- – dessen Prequel-Charakter übrigens oft bereits im Titel lang «niederer» Genres. Beides mündet im bald innova- signalisiert wird. phb tiven, bald selbstgefälligen Mix von Stilelementen aus Beispiele: «hoher» Kunst und Populärkultur, in der Bricolage dispa- STAR WARS: EPISODE I … (George Lucas, USA 1999) rater Genremuster. In der demonstrativen Künstlichkeit STAR WARS: EPISODE II … (George Lucas, USA 2002) der Filme, ihren gelegentlich labyrinthischen Erzählkon- struktionen sowie den Mehrfachcodierungen von Bildern und Erzählungen liegt ein offensichtlicher Affront gegen Privatdetektiv. Nahezu ausschließlich männliche Figur die Konventionen des Mainstreamkinos, aber auch eine im Spielfilm. Die konkreten Ausgestaltungen pendeln Tendenz zu Exzess und Manierismus. Ziel ist ein iro- zwischen folgenden Extremen: Einerseits die schöngei- nisches Spiel mit Zeichen und Zuschauern, wobei ein stig-aristokratische Variante à la Sherlock Holmes oder Publikum mit erheblicher Medienerfahrung angesprochen Hercule Poirot, die ihre Fälle mit nichts als Scharfzün- wird, das dieses Spiel ebenso durchschaut wie goutiert – gigkeit und blitzgescheitem Verstand lösen. Andererseits was vielleicht mit eine Erklärung dafür ist, dass viele der etwas heruntergekommene aber hypermaskuline, ab- Filme der Postmoderne es zu KULTFILMEN gebracht ha- gebrühte und kaltschnäuzige Anti-Intellektuelle, der als ben. Darin liegt jedoch ein potenzieller Ausschluss derer, EINZELKÄMPFER und auch schon mal mit den Fäusten an denen die intertextuellen Bezüge und damit letztlich agiert. Von KOMÖDIEN und PARODIEN abgesehen, ist das Ironische unerkannt vorbeiziehen. phb der Privatdetektiv stets smarter als die Polizei, zu der er Beispiele: in einem grundsätzlich schwierigen Verhältnis steht – THE BELLY OF AN ARCHITECT (Peter Greenaway, GB/I 1987) nicht zuletzt dann, wenn er selber die Grenze zur Krimi- PULP FICTION (Quentin Tarantino, USA 1995) nalität touchiert. Bevorzugte Genres sind KRIMINALFILM MULHOLLAND DR. (David Lynch, USA 2002) und THRILLER, außerdem zählt der private eye, neben der FEMME FATALE, zum wiederkehrenden Figurentyp des FILM NOIR. Prähistorie. Wie jede historische Epoche ein Motiv, das Vgl. als (nicht unbedingt symmetrisches) Pendant den mit Vorsicht zu genießen ist: Vieles kommt im Spielfilm WEIBLICHEN DETEKTIV. phb als Prähistorie daher, worüber HistorikerInnen allenfalls erheitert wären. Der Begriff meint weniger den entspre- Beispiele: SPIONE (Fritz Lang, D 1927) chenden historischen Zeitraum als in erster Linie das, was THE MALTESE FALCON (John Huston, USA 1941) die einzelnen Filme als Prähistorie inszenieren. Dies ist SHAFT (Gordon Parks, USA 1971) abhängig von der Produktionszeit des Films und hat in LE POLICIER DE TANGER (Stephen Whittaker, F 1996) Glossar 75

Problemfilm. Subgenre des MELODRAMAS, das eine Beispiele: gruppenspezifische oder individuelle Problem- bzw. THE MAKING OF «GONE WITH THE …» (D. Hinton, USA 1988) Konfliktlage thematisiert, für die es in der dargestellten HEARTS OF DARKNESS (E. Coppola, F. Bahr, USA 1988) Welt keine adäquate Lösung gibt. Bevorzugte Motive TOM TYKWER DREHT … (E. Hungerland, R. Wulf, D 1997) und Themen sind SUCHT UND DROGEN, ARMUT, Ehe- konflikte und KRANKHEIT. Zumeist werden die Probleme oder Konflikte von der Umwelt auch nicht als solche er- Proletarierfilm s. ARBEITERFILM kannt. Versucht eine Figur, das sie betreffende Problem zu lösen, so verletzt sie geltende soziale Normen und wird entsprechend mit Sanktionen bedroht. Insgesamt Propaganda. Der Begriff geht auf die päpstliche Bulle sind Problemfilme zwar von einer großen Empathie für zur Sacra Congregatio de Propaganda Fide (1622) zurück die Figuren gekennzeichnet, die aus der Not heraus und meint dort den zu «verbreitenden Glauben». Mit Normverstöße begehen müssen, doch sie zeigen keine dem Ende des ERSTEN WELTKRIEGS hat er seine religiöse Lösungen, geschweige denn ein Happy-End, auf. uvk Bedeutung endgültig verloren, und seit 1945 wird er fast nur in politischen Zusammenhängen gebraucht. Er be- Beispiele: zeichnet Filme, die – oft im Auftrag von Regierungen – FRAUENNOT – FRAUENGLÜCK (Eduard Tissé, CH 1929/30) mit der Absicht gedreht wurden, Haltungen und Einstel- INTRUDER IN THE DUST (Clarence Brown, USA 1949) lungen des Publikums zu beeinflussen und auf bestimmte L' ARGENT (Robert Bresson, F 1983) politische Ziele hin zu festigen oder verändern: Feind- bilder sollen zugespitzt, Gemeinsamkeiten beschworen werden. Das geschieht oft auf offensive Art und unter Problemwestern. Auch psychological oder adult we- Ausblendung alternativer Handlungsentwürfe. stern genannte, genreüberschreitende und den Unterhal- Die Unterschiede zwischen Propaganda und AGITATION tungscharakter sprengende Spielart des WESTERN, die sind schwer zu ziehen: Tendenziell jedoch benennt die noch vor dem Siegeszug des ITALOWESTERN in den Agitation ihre (linkspolitischen) Positionen und Ziele und 1950er Jahren aufkam (wenngleich es Vorläufer gibt). ist meist konkret handlungsbezogen. Dagegen verfährt Die Filme sind von GESELLSCHAFTSKRITIK durchzogen, die Propaganda längst nicht immer manifest, sondern oft problematisiert werden z. B. die rassistische Ausbeutung unterschwellig und manipulativ. Ihr Ziel liegt weniger da- und Ermordung der INDIANERINNEN, die kapitalistischen rin, das Publikum zu bestimmten Handlungen zu bewe- Verhaltensweisen in Goldgräberstädten, die psychsiche gen als darin, seine Einstellungen zu verändern. Verfassung alternder Draufgänger, die Situation der Vgl. REGIERUNGSFILM, RASSISMUS, NATIONALSOZIA- Frauen in der Männergesellschaft des Westens etc. LISMUS, NATIONALEPOS, FASCHISMUS, FASCHISTI- Stereotype werden hinterfragt, genretypische Verharm- SCHER FILM, GEISTIGE LANDESVERTEIDIGUNG, VIET- losungen und blinde Flecken aufgelöst, lustbetonte NAMKRIEG. phb Action durch die realistische Schilderung ihrer Folgen entzaubert. Allerdings, zu Aufklärung und historischer Beispiele: TRIUMPH DES WILLENS (Leni Riefenstahl, D 1935) Richtigstellung treten oft neue Unterhaltungsmomente THE BATTLE OF MIDWAY (John Ford, USA 1942) wie SEXUALITÄT und sadistische GEWALT hinzu – daher THE GREEN BERETS (John Wayne, Ray Kellogg, USA 1968) adult, nur für Erwachsene geeignet. phb Beispiele: HIGH NOON (Fred Zinnemann, USA 1952) Prostitution. Motiv, das im Spielfilm geradezu über- THE NAKED SPUR (Anthony Mann, USA 1953) repräsentiert ist – jedenfalls im Vergleich zu Literatur und THE SEARCHERS (John Ford, USA 1956) Theater. Damit ist keineswegs die Tendenz zu realisti- schen Schilderungen verknüpft. Im Gegenteil wird die Mehrzahl der – weiblichen – Prostituierten durch betont Produktionsbericht. Ein als FILMHISTORISCHE DOKU- attraktive Darstellerinnen verkörpert; dies gilt für den Typ MENTATION angelegter Film über einen anderen Film des Luxus-Callgirls wie für denjenigen der Domina, für und somit immer ein metakommunikativer Akt der IN- die GEFALLENE FRAU wie für die Minderjährige auf dem TERTEXTUALITÄT, dessen Länge zwischen wenigen Mi- Drogenstrich. Sie alle werden in der Regel in geschönte nuten und mehreren Stunden variieren kann. Wirklich oder reißerische Erzählungen eingebunden, die die The- informative Dokumente oder solche von eigenem künst- matik fernab jeder Realität aufbereiten und zu einem lerischem Wert bilden die Ausnahme. Stattdessen sind Gefäß für männliche Fantasien werden. Realitätsnahe die meisten Produktionsberichte stromlinienförmige For- MILIEUSTUDIEN aus weiblicher Perspektive, die eine GE- mate – ein längst erprobter Mix aus INTERVIEWS, TRAI- SELLSCHATSKRITIK äußern und Motive wie GEWALT, LERN und dem «Blick hinter die Kulissen» mit der kaum SUCHT UND DROGEN, SEXUALDELIKT sowie Ausbeutung verhohlenen Funktion, größtmögliche Werbewirksamkeit und Kriminalität mitberücksichtigen, bilden ein seltenes zu erzielen. Mit dem Aufkommen des DVD-Trägers wird Gegengewicht zu solch ungebrochenen Männerfantasien. der Produktionsbericht zum Kernstück der so genannten Das Motiv der männlichen Prostitution existiert im Extras oder des Bonus-Materials – allerdings oft unter Mainstream kaum, erst recht nicht, wenn es sich um dem modischeren Namen Making of. SCHWULE Stricher handelt, deren Schilderung selten über [Von den auf DVD veröffentlichten Produktionsberichten verzerrende Karikaturen hinausgeht. Angemessenere sind in der Videotheks-Datenbank des Seminars für Film- Darstellungen sind in entlegeneren Filmtraditionen, etwa wissenschaft nur diejenigen mit eigenem Datensatz er- dem QUEER CINEMA, zu finden. phb fasst, die einen eigenen Titel haben; alle anderen sind unter dem Titel des Films, auf den sie sich beziehen, und Beispiele: DIE BÜCHSE DER PANDORA (Georg Wilhelm Pabst, D 1929) im Feld «Bemerkungen» zu suchen.] phb MAMMA ROMA (Pier Paolo Pasolini, I 1962) 76 Glossar

JEANNE DIELMAN … (Chantal Akerman, B/F 1975) Vorurteile zur INSTITUTION Psychiatrie und zu psychia- DIE BLAUE STUNDE (Marcel Gisler, D 1992) trischen Kliniken. Als MELODRAMEN gestaltete LEIDENS- APO TIN AKRI TIS POLIS (Constantinos Giannaris, GR 1998) GESCHICHTEN, aber auch unzimperliche PSYCHOTHRIL- LER nutzen dieses Potenzial, besonders wenn sie mit dem Motiv UNSCHULDIG BESCHULDIGT angereichert sind. Provinz. Motiv und im weiteren Sinn Schauplatz im Meist wissen diese Filme eine eindeutige Antwort auf die fiktionalen und dokumentarischen Film. Der Begriff meint Frage «Was ist normal?», und geheilt, auf den «richtigen jedoch keine bestimmte LANDSCHAFT und schon gar Weg» gebracht oder gar «korrigiert» werden im Lauf der nicht eine geografisch eindeutig lokalisierbare Gegend. Filmgeschichte die unterschiedlichsten KRANKHEITEN: Letztlich geht es weniger um Provinz als vielmehr um Die Bandbreite reicht je nach Produktionszeit und Provinzialität, d. h. um spezifische Lebens- und Denkzu- Auffassung von SUCHT UND DROGEN über gravierende sammenhänge, die fern von großstädtisch-kosmopoli- IDENTITÄTSPROBLEME bis hin zur HOMOSEXUALITÄT. tischem Lebensgefühl zu verorten sind und sich häufig Nicht selten haben derartige Filme etwas Sensations- durch Attribute wie «konservativ», «rückständig», «tradi- heischendes, nutzen die Psychiatrie als Vorwand, tionell», «kleinbürgerlich», «spießig», «engstirnig» und Krankheiten und PERVERSIONEN mehr oder weniger «langweilig» ausdrückt – aus der Sicht der Provinz aber ausgiebig zu beleuchten oder die Heilungsrate moderner oft auch durch eine bewusst antistädtische Haltung. Dem Psychiatrie zu feiern (vgl. EXPLOITATION). Seriösere Filme Begriff ist daher meist eine negative Wertung und damit agieren stiller, sind oft mit einem erheblichen Maß an eine Kritik eingeschrieben, die als rigorose Ablehnung SYSTEMKRITIK ausgestattete MILIEU- und CHARAK- einer als defizitär emfpundenen Lebensart daher kommen TERSTUDIEN und hinterfragen die herkömmlichen Auf- kann, als beißender Spott oder als mildes (aber fassungen von «Normalität». phb überhebliches) Belächeln von KLEINSTADT und KLEINEN LEUTEN. Fluchtpunkt und Gegenentwurf dieser Haltung Beispiele: ist die CITY samt allen damit verknüpften (und in diesem LA TÊTE CONTRE LES MURS (Georges Franju, F 1958) Fall natürlich positiv empfundenen) Konnotationen. LA DENTELLIÈRE (Claude Goretta, CH 1976) ENGLAR ALHEIMSINS (Fridrik Thór Fridriksson, IS/D/DK/N 2000) Für Filme, die im engeren Sinn rurale Lebenszusam- menhänge thematisieren, vgl. BÄUERLICHES LEBEN; aus- serdem DORF. phb Psychoanalyse s. PSYCHOTHERAPIE UND PSYCHO- Beispiele: ANALYSE CRISTO SI È FERMATO A EBOLI (Francesco Rosi, I 1982) MADAME BOVARY (Claude Chabrol, F 1991) THE SHOE (Laila Pakalnina, Lettland 1997) Psychopathie. Motiv im Spiel- und gelegentlich im DOKUMENTARFILM, das eine abnorme, d. h. von einem angenommenen Durchschnitt abweichende Persönlich- Pseudo-Dokumentarfilm. Trotz seines Namens ist der keitsstruktur meint, die sich in Störungen des Gefühls- Pseudo-Dokumentarfilm ein Spielfilm. Er bedient sich der lebens, der Willensbildung oder der sozialen Beziehun- Konventionen des DOKUMENTARFILMS (verwackelte gen äußert, und unter der die TrägerInnen meist ebenso Kamera, Ereignis mit «unvorhergesehenen Momenten», leiden wie ihre soziale Umwelt. Im dokumentarischen Be- gesellschaftskritische Themen, Direkt-Adressierung des reich kann das Motiv in (medizinischen) LEHRFILMEN, Publikums etc.), um als «echter» Dokumentarfilm daher- aber auch in HUMANTIÄREN DOKUMENTARFILMEN oder zukommen, als der er in der Regel auch wahrgenommen DOKU-PORTRÄTS vorkommen. Im fiktionalen Bereich werden will. Oft ist er erst spät als fiktionaler Film zu taucht es häufiger und in großer Bandbreite auf: in reiße- erkennen, besonders wenn gute SchauspielerInnen am rischen PSYCHOTHRILLERN, rührseligen FAMILIENDRA- Werk sind. Gelegentlich will er aber als Pseudo-Doku- MEN oder realitätsnahen CHARAKTERSTUDIEN. Dabei mentarfilm erkannt werden: Dann will er durch seine steht es in nicht immer einfach abzugrenzender – und «Falschheit» provozieren und die häufig unhinterfragten daher nicht unproblematischer – Nachbarschaft zu einer Konventionen des Dokumentarfilms sowie den Glauben ganzen Reihe anderer Motive (PSYCHOTHERAPIE UND des Publikums an seine Authentizität aufdecken. In sol- PSYCHOANALYSE, PERVERSION), Schauplätze (PSYCHIA- chen Fällen hat er einen sozialpolitischen und didak- TRIE) und Figuren (PATHOLOGISCHER KILLER). phb tischen Anspruch. Vgl. die GESTELLTE SZENE der FRÜHEN KINEMATO- Beispiele: GRAFIE, die dasselbe Ziel verfolgt, für etwas gehalten zu M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (Fritz Lang, D 1931) werden, was sie nicht ist; außerdem den INSZENIERTEN THE TENANT (Roman Polanski, USA/F 1976) BENNYS VIDEO (Michael Haneke, A/CH 1991) DOKUMENTARFILM, den Dokumentarfilm mit inszenier- HARRY, UN AMI QUI VOUS VEUT DU BIEN (D. Moll, F 2000) ten Anteilen, die jedoch nicht von der Absicht getragen sind, das Publikum in eine fiktionale Illusion eintauchen zu lassen. phb Psychotherapie und Psychoanalyse. Motiv in Spiel- Beispiele: und DOKUMENTARFILMEN. Anders als der Schauplatz DAVID HOLZMAN'S DIARY (Jim McBride, USA 1967) der PSYCHIATRIE, der oft in schreckensvollen Phantasien PUNISHMENT PARK (Peter Watkins, USA 1971) über zu Unrecht Eingelieferte zum Zug kommt (vgl. THE BLAIR WITCH PROJECT (Daniel Myrik, USA 1999) UNSCHULDIG BESCHULDIGT, aber auch EXPLOITATION) oder die Ausweglosigkeit jener zeigt, die in der Ge- sellschaft als «abnormal» bezeichnet werden, kommen Psychiatrie. Schauplatz und Motiv im fiktionalen und Psychotherapie und -analyse häufiger in mehr oder dokumentarischen Film. Vor allem Spielfilme verlassen weniger gehaltvollen GESELLSCHAFTSKOMÖDIEN und sich auf die mehrheitsfähigen Vorstellungen und Glossar 77

SATIREN vor: Ironisches über shrinks und Seelenklempner machen. Was als Spielerei beginnt, kann die Wendung ist (besonders in Filmen über urbane Zusammenhänge) zur LIEBESGESCHICHTE nehmen, wobei es oft zur Um- an der Tagesordnung und kann zum wiederkehrenden kehrung der Rollen kommt: Nun ist es die Schülerin, die Bestandteil ganzer Œvres werden. Daneben existieren dem Lehrer etwas beibringt (allerdings fast ausschließlich freilich strapaziöse PSYCHOTHRILLER, aber auch hoch auf der Ebene der Gefühle). An der Richtigkeit dieses emotionale BEZIEHUNGS- oder MELODRAMEN und sozialen Experiments wird selten gezweifelt, stattdessen schließlich CHARAKTERSTUDIEN, die leisere, aber oft sollen die Frauen ihren Lehrern dankbar sein, dass sie auf nachhaltigere und realistischere Töne anschlagen. Da- den «richtigen» Weg gebracht worden sind – natürlich rüber hinaus bestehen gerade zwischen Film und Freud- um den Preis ihres vorherigen Lebens. Auf einer scher Psychoanalyse – jetzt nicht als Motiv, sondern als metaphorischen Ebene wird nichts anderes erzählt, als theoretisches Modell verstanden – besondere Affinitäten: dass der Mann sich eine Frau nach seinen Wünschen Sei es, dass (nicht nur im Umkreis des FEMINISMUS) das erschafft. Genau dies ist der Kern des ursprünglich grie- Konzept des VOYEURISMUS auf das Kino an sich chischen MYTHOS: Der Bildhauer Pygmalion verliebt sich übertragen wird; sei es, dass psychoanalytische Lesarten in eine von ihm geschaffene Frauenstatue, der Aphrodite in einer Form von SELBSTREFLEXIVITÄT selber zum filmi- auf Pygmalions Flehen hin Leben einhaucht. phb schen Gegenstand werden; sei es schließlich, dass ganze Beispiele: Motiv- oder Stoffreihen immer wiederkehren (der TRAUM LOVE LETTERS (William Dieterle, USA 1945) als Offenbarung des Unterbewussten, der Ödipus-MY- MY FAIR LADY (George Cukor, USA 1964) THOS als Vorlage zahlloser Adaptionen, KRANKHEITEN EDUCATING RITA (Lewis Gilbert, GB 1983) und PERVERSIONEN, deren Ursache in traumatischen Kindheitserlebnissen gefunden wird etc.). phb Beispiele: SPELLBOUND (Alfred Hitchcock, USA 1945) Q A WOMAN UNDER THE INFLUENCE (J. Cassavetes, USA 1974) ZELIG (Woody Allen, USA 1983) LA STANZA DEL FIGLIO (Nanni Moretti, I/F 2001) Quartierstudie. Variante der MILIEUSTUDIE. Hier wie dort geht es weniger um die psychologische Darstellung von Individuen als um die Analyse eines bestimmten Psychothriller. Variante des THRILLERS, der durch die Segments der Gesellschaft. Ort des Geschehens ist ein hautnahe Inszenierung von Angst und Suspense das bestimmtes Quartier einer CITY – Montmartre, Kreuz- Publikum bis zur Erzeugung physischer Reaktion bringt. berg, East Village, St. Pauli, Langstraße etc. –, in dem Die Geschichten spielen bevorzugt in privaten Kontexten meist KLEINE LEUTE leben. Das Quartier selbst hat einen und kommen häufig als FAMILIEN- oder EHEDRAMA da- ebenso grossen Stellenwert wie das Figurenpersonal, und her mit gelegentlichen Anleihen am HORRORFILM. Typi- der Film bezieht einen Großteil seiner atmosphärischen scherweise gerät die (oft weibliche) Hauptfigur in eine für Dichte aus dem oft spröden Charme des jeweiligen sie vollkommen undurchsichtige ALPTRAUMHAFTE VER- Quartiers. Wie die Milieustudie ist auch die Quartier- STRICKUNG psychologischer Natur: Sie droht zum Opfer studie einem realistischen Stil verpflichtet. Gedreht wird eines SERIENMORDS, SEXUALDELIKTS oder von Bedro- in der Regel an Originalschauplätzen und nicht selten mit hungen anderer Art zu werden. Ihren Gegenspielern – LAIENDARSTELLERN. phb MENACING HUSBANDS, PATHOLOGISCHEN KILLERN Beispiele: etc. – ist sie unterlegen, akut bedroht und auf sich allein BÄCKEREI ZÜRRER (Kurt Früh, CH 1957) gestellt. Wenn sie überleben will, muss sie sich selbst aus PORTE DES LILAS (René Clair, F 1957) dem tödlichen Strudel befreien, in den sie ohne ihr Wis- ACCATONE (Pier Paolo Pasolini, I 1961) sen und Zutun geraten ist. Auch wenn ihr das regelmäßig BLUE IN THE FACE (Wayne Wang, Paul Auster, USA 1994) gelingt (manchmal auch nur mit fremder, männlicher, Hilfe) so schildert der Psychothriller dennoch den schok- kierenden Zusammenbruch einer (psychischen und phy- Queer Cinema. In den 1980er und 1990er Jahren ein sischen) Normalität, die man bis anhin für ganz unbe- selbstbewusstes Kino, das von SCHWULEN und LESBEN droht gehalten hat. vor allem für Schwule und Lesben gemacht wird. Im Vgl. POLITTHRILLER, AGENTENTHRILLER. phb Zentrum stehen Geschichten, die homosexuellen Lebens- logiken und Erfahrungshorizonten entsprechen. Das Beispiele: schwule und lesbische Figurenpersonal ist komplex und GASLIGHT (George Cukor, USA 1943) realistisch gezeichnet – weit entfernt von der seichten PSYCHO (Alfred Hitchcock, USA 1960) ROSEMARY'S BABY (Roman Polanski, USA 1967) political correctness, mit der das Mainstream-Kino REGARDE LA MER (François Ozon, F 1997) neuerdings seine homosexuellen Figuren versieht, die in der Regel keine andere Funktion haben, als gut zu sein und schwules und lesbisches Publikum ins Kino zu holen. Pubertät s. ADOLESZENZ Die Bandbreite an Genres und Motiven ist groß und reicht von COMING OUT und KULTURKONTRAST, von EMIGRATION und KRANKHEIT (oft Aids) zu PROS- Pygmalion-Stoff. Stoff in GESELLSCHAFTS- und RO- TITUTION und MINORITÄTSPROBLEMEN. Die Geschich- MANTISCHEN KOMÖDIEN, aber auch in TRAGIKOMÖ- ten kommen als MILIEU- und CHARAKTERSTUDIEN, als DIEN und MELODRAMEN. Ein Mann in «reifen» Jahren ROADMOVIES und MELODRAMEN daher – und natürlich und aus gehobenen Verhältnissen nimmt eine junge Frau als LIEBESGESCHICHTEN. Der visuelle Umgang mit aus einer tieferen Schicht unter seine Fittiche mit dem SEXUALITÄT ist generell unerschrockener als im hetero- Ziel, sie zu «erziehen» und «gesellschaftsfähig» zu sexuellen Kino und streift schon mal den PORNOGRA- 78 Glossar

FISCHEN FILM. Außerdem ist die Tendenz zu einer Ästhe- de Wirkung der AGITATION, die das Publikum zu einem tik der Brüche und der Imperfektion zu verzeichnen, die (sozial-)politischen Handeln führen soll. Formal sind die als Gegenausdruck zur glatten, mehrheitsfähigen Erzähl- Filme ungebändigt und leidenschaftlich: Sie müssen rasch haltung des Mainstream verstanden wird. und als LOW-BUDGET-Produktionen realisiert werden, ihr Vgl. CAMP. phb Tonfall ist agressiv, konfrontativ und didaktisch, und sie bedienen sich einer emotionalisierenden Rhetorik. Zum Beispiele: JE TU IL ELLE (Chantal Akerman, B 1974) weiteren formalen Inventar gehören INTERVIEWS mit DESERT HEARTS (Donna Deitch, USA 1985) Meinungsführern und Betroffenen sowie die Technik des EDWARD II (Derek Jarman, GB 1991) KOMPILATIONSFILMS, die nicht selten dazu beitragen MY OWN PRIVATE IDAHO (Gus Van Sant, USA 1991) soll, dass sich das angegriffene System durch die Kompilation selbst entlarvt. In diesem Sinn fließt immer wieder battle footage in die Filme ein, FOUND FOOTAGE Querschnittsfilm. In den 1920er entwickelte Form, über Zusammenstöße mit der Polizei. phb welche durch bestimmte Prinzipien der Montage narra- Beispiele: tive und/oder deskriptive Sequenzen so miteinander ver- BLACK PANTHER (anonym, USA 1968) bindet, dass der Zuschauer einen Einblick in verschie- EL PUEBLO SE LEVANTA (anonym, USA 1968) dene, zeitlich oder räumlich koexistente soziale Lebens- BOBBY SEALE (anonym, USA 1969) formen oder Handlungen bekommt mit dem Ziel, diese UNDERGROUND (Emile de Antonio, USA 197) miteinander zu vergleichen. Die Form kann sowohl im fiktionalen wie (häufiger) im nicht-fiktionalen Film An- wendung finden. Nicht selten verbindet sich mit dem Rassismus. Auf Unwissen, Vorurteilen und Querschnitt eine gesellschaftliche Diagnose. Sie findet pseudowissenschaftlichen Beweisen beruhende feindseli- sich zumeist in Filmen mit FIGURENMOSAIK oder in ge Haltung gegenüber jenen, die als die «Fremden» und solchen, in denen INSTITUTIONEN porträtiert werden. uvk «Anderen» definiert werden. Mit Blick auf den Film sind grundsätzlich zwei Ebenen des Zugangs zu unter- Beispiele: MENSCHEN AM SONNTAG (Robert Siodmak et al., D 1929) scheiden: Zum einen können Filme (etwa des CINÉMA FAITS DIVERS (Raymond Depardon, F 1983) BEUR und des BLACK CINEMA) Rassismus als Motiv in DEAR AMERICA … (Bill Couturie, USA 1987) einer GESELLSCHAFTS- oder SYSTEMKRITIK thematisie- ren, etwa indem sie ein POLITISCHES KLIMA schildern, das von latenter Intoleranz über offene Aggression und Diskriminierung bis hin zu VERFOLGUNG, JAGD und ethnisch motiviertem GENOZID reichen kann (vgl. NATIO- R NALSOZIALISMUS, HOLOCAUST, FASCHISMUS, APART- HEID). Zum anderen können Filme selber rassistischer Rache. Motiv im Spielfilm, das als in vielen Handlungen Ausdruck sein: sei es «unbewusst» (wie in zahlreichen als Auslöser und roter Faden gleichermaßen fungiert. NATIONALEPEN), sei es bewusst, um die ohnehin schon Dabei wird die Rache auffallend oft als legitime und bestehenden rassistischen Einstellungen des Publikums moralisch notwendige Vergeltungsmaßnahme für eine in zu stabilisieren oder seine Aggression zu mobilisieren der Vergangenheit erlittene Ungerechtigkeit und Qual (wie in der PROPAGANDA von REGIERUNGSFILMEN). dargestellt. Das gilt besonders für männliche Figuren in phb WESTERN, ABENTEUER- und KRIEGSFILMEN sowie in zahllosen KRIMINALFILMEN und THRILLERN, bei denen Beispiele: DIE STADT OHNE JUDEN (Hans-Karl Breslauer, A 1924) die Rächerfigur entsprechend im Zentrum steht. Weib- TO KILL A MOCKINGBIRD (Robert Mulligan, USA 1962) lichen Figuren dagegen wird eine moralische Notwen- KATZELMACHER (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969) digkeit oft angezweifelt oder sogar aberkannt, und die MALCOM X (Spike Lee, USA 1997) Gründe für ihre Rache sind nicht selten «zweifelhaft» oder «banal» (etwa «lediglich» eine TRAGISCHE LIEBE). Und selbst wenn der Grund für die Rache gewichtig ist Rauschgift s. SUCHT UND DROGEN und zum Beispiel in einem SEXUALDELIKT liegt, so gewinnt die Rache befremdend oft «hysterische» Züge, die die Opfer zu unkontrollierbaren und unverhältnis- Réalisme poétique s. POETISCHER REALISMUS mäßigen TÄTERINNEN werden lässt. phb Beispiele: DIE NIBELUNGEN: KRIEMHILDS RACHE (Fritz Lang, D 1924) Regierungsfilm. Filme, die im Gewand eines LEHR- CAPE FEAR (Lee Thompson, USA 1961) oder KULTURFILMS daher kommen, später aber auch als PASTI, PASTI, PASTICKY (Vera Chytilová, CZ 1998) (INSZENIERTER oder gar PSEUDO-) DOKUMENTARFILM. Der gemeinsame Nenner dieser in der Regel kurzforma- tigen, immer schon politischen Filme besteht darin, dass Radical Cinema. Stilrichtung innerhalb des sie von einem Regierungsorgan in Auftrag gegeben DOKUMENTARFILMS, die aus einem politischen Engage- werden (gelegentlich an namhafte Spiefilmregisseur- ment heraus entstand und vor allem in den USA der Innen) oder selber verfertigt werden. Ihre Funktion be- Sechziger- und Siebzigerjahre gepflegt wurde. Die Fil- steht darin, eine einzelne Gruppe (das MILITÄR, die Feu- memacherInnen lehnen den VIETNAMKRIEG radikal ab erwehr...) oder die ganze Bevölkerung gezielt zu «infor- und gehören Bürgerrechtsbewegungen und oppositio- mieren», d. h. im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel zu be- nellen Gruppen an. Das Ziel ihrer Filme ist die Formulie- einflussen: Gemeinsamkeiten sollen beschworen, Feind- rung einer massiven SYSTEMKRITIK sowie die aufrütteln- bilder zugespitzt werden. Dies geschieht unter Rückgriff Glossar 79 auf mehr oder weniger massive PROPAGANDA, sei es Religion, was je nach Machtbefugnis zu ZENSURFÄLLEN auf inhaltlicher, sei es auf formaler Ebene. Die Dreißiger- führt. phb und Vierzigerjahre – insbesondere die Zeit des ZWEITEN Beispiele: WELTKRIEGS – waren in Europa und Amerika die Blüte- LA PASSION DE JEANNE D'ARC (Carl Theodor Dreyer, F 1928) zeit des Genres, in den USA ist im Zusammenhang mit THE LAST TEMPTATION OF CHRIST (M. Scorsese, USA 1988) dem VIETNAMKRIEG eine weitere Welle von Regierungs- KADOSH (Amos Gitaï, F/IL 1999) filmen zu verzeichnen. phb Beispiele: TRIUMPH DES WILLENS (Leni Riefenstahl, D 1935) Remake. Neue Version eines bereits verfilmten Stoffs, THE BATTLE OF MIDWAY (John Ford, USA 1942) die sich mehr oder weniger detailgetreu auf den Vor- SCREAMING EAGLES IN VIETNAM (US Air Force, USA 1967) gänger bezieht und oft sogar denselben Titel trägt. Häu- fig stehen ökonomische Gründe hinter einem Remake: Das Risiko, neue DarstellerInnen oder ästhetische Formen Reise. Motiv und Erzählmuster vor allem im Spielfilm, einzuführen, scheint geringer, wenn das Publikum einen aber auch im DOKUMENTAR- und EXPERIMENTALFILM. Stoff bereits kennt. Regelrechte Wellen von Remakes gibt Im Zentrum steht die Reise einer einzelnen Figur, eines es bei der Einführung filmtechnischer Neuerungen, z. B. Paars oder, im Falle von GRUPPENPORTRÄTS und beim Wechsel von Stumm- zu Tonfilm, von Schwarzweiß- SCHICKSALSGEMEINSCHAFTEN, eines kleinen Kollektivs. zu Farbfilm, bei der Einführung von Breitwandformaten In der Mehrzahl der Fälle bietet sich das Motiv einer oder Dolby. Ein weiterer Grund für Remakes ist die Über- zweiten Lesart an: So ist die eigentliche Reise, die Bewe- tragung eines Stoffs in andere Kulturzusammenhänge gung von einem Ort zum anderen, oft auch eine innere oder Genres. Remakes sind immer eine bestimmte Form Reise und damit Anlass zur inneren Entwicklung, die als von INTERTEXTUALITÄT und werden oft an ihren Vor- CHARAKTERSTUDIE inszeniert und als Reifeprozess, ge- gängern gemessen, wobei der Vergleich vielfach – aber legentlich auch als Läuterung begriffen wird; insofern nicht immer – zu Ungunsten des neuen Films ausfällt. lässt sich das Motiv gut in PARABELN und ALLEGORIEN Außerdem geben Remakes besonderen Aufschluss über einbetten. Außerdem ist es Grundlage jedes ROADMO- gesellschaftspolitische Verschiebungen, etwa wenn be- VIES. Begebenheiten und Bekanntschaften, die sich auf stimmte Motive eines Stoffs weniger furchtlos angegan- der Reise oder während (freiwilliger und unfreiwilliger) gen werden oder wenn auf inzwischen überholte Tabus Aufenthalte ergeben, gehören ebenso zur Rezeptur wie keine Rücksicht mehr genommen werden muss. phb der tendenziell hohe Stellenwert der LANDSCHAFT, in der Beispiele: die Reise stattfindet und die oft als veräußerlichtes BEN HUR (William Wyler, USA 1959) Symbol für die «innere Landschaft» der Reisenden, ihre VICTOR/VICTORIA (Blake Edwards, USA 1982) innere Verfassung daher kommt. Nicht jede Reise verläuft PSYCHO (Gus Van Sant, USA 1998) angenehm: Denkbar ist auch der beunruhigende Fall der IRRFAHRT, deren Ziel, wenn überhaupt, nur äußerst dif- fus zu erkennen ist. Reporterfilm. Englisch reporter oder newspaper film, Vgl. ZEITREISE. phb aber auch journalism drama. Fiktionales Genre, das be- Beispiele: reits in den USA der 1930er Jahre gepflegt wurde, um VIAGGIO IN ITALIA (Roberto Rossellini, I 1953) Hektik und Technik der Moderne zu feiern. Hauptfiguren A PASSAGE TO INDA (David Lean, GB 1984) sind Journalisten beiderlei Geschlechts, die ihre Profes- EL VIAJE (Fernando E. Solanas, Argentinien/F 1992) sion als Aufklärer, Weltverbesserer, Moralisten, abge- brühte Zyniker oder aufgeregte Klatschkolumnisten aus- üben. Als Schauplatz dient oft die BERUFSWELT des Religion. Motiv in allen filmischen Gattungen. Die Großraumbüros, das einerseits Gelegenheit bietet, einen Spannbreite ist groß und lässt vieles zu: üppige AUS- Querschnitt durch verschiedene soziale Schichten der STATTUNGS- UND KOSTÜMFILME, die vor dem Hinter- Großstadt zu legen, das sich andererseits durch eine spe- grund der «großen» Ereignisse des Christentums spielen zifische Atmosphäre auszeichnet: Hier wird viel zu viel, (Kreuzzüge, Reformation); hymnische BIBELVERFILMUN- viel zu schnell und in einem besonderen Jargon gespro- GEN und HEILIGENLEGENDEN sowie der Passion Christi chen. Bevorzugte Handlungsmuster und Motive sind nachempfundene LEIDENSGESCHICHTEN; realistische MI- KARRIERESTORYS und KONKURRENZKÄMPFE und natür- LIEUSTUDIEN, die das Verhältnis zwischen orthodoxem lich immer wieder LIEBESGESCHICHTEN in Form von und weltlichem JUDENTUM ausloten; psychologisch dif- SCREWBALL COMEDIES. Viele Reporterfilme kommen als ferenzierte CHARAKTERSTUDIEN über das Verhältnis ABENTEUER-, KRIMINAL- oder KRIEGSFILME daher. An- eines Einzelnen zum Islam; GESELLSCHAFTSKRITIKEN dere, realistischere Varianten sind als MILIEUSTUDIEN über religiös begründete MINORITÄTSPROBLEME; zorni- konzipiert, die immer wieder den Anspruch auf SYSTEM- ge SYSTEMKRITIKEN an der katholischen Kirche, deftige KRITIK erheben und vor der ungezügelten Macht der SATIREN über den Protestantismus oder – im dokumen- MASSENMEDIEN warnen. phb tarischen Format – (HUMANITÄRE) DOKUMENTARFILME Beispiele: über die Lebensbedingungen in Ländern, die von religiös IT HAPPENED ONE NIGHT (Frank Capra, USA 1934) motivierten BÜRGERKRIEGEN erschüttert werden. HIS GIRL FRIDAY (Howard Hawks, USA 1940) Allerdings steht das Motiv selten im Vordergrund, oft THE FRONT PAGE (Billy Wilder, USA 1974) fungiert es als (austauschbare) Kulisse, die dem Atmo- WELCOME TO SARAJEVO (Michael Winterbottom, GB 1997) sphärischen dienen soll. Und: Religiöse INSTITUTIONEN reagieren empfindlich auf filmische Darstellungen von 80 Glossar

Résistance s. WIDERSTAND auf das Filmemachen dienen, wenn dessen technische Aspekte in den Vordergrund gerückt werden sollen. phb Beispiele: Resozialisierung. Gemeint ist die Wiedereingliederung MODERN TIMES (Charles Chaplin, USA 1936) von straffällig Gewordenen und damit ein Motiv im WELT AM DRAHT (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1973) (HUMANITÄREN) DOKUMENTARFILM – meist mit An- JURASSIC PARC (Steven Spielberg, USA 1993) spruch auf GESELLSCHAFTSKRITIK –, weitaus häufiger je- doch im Spielfilm, insbesondere in CHARAKTER- und MI- LIEUSTUDIEN, aber auch in KRIMINAL-, GANGSTER- und Revolution. Motiv im fiktionalen und dokumentarischen POLIZEIFILMEN. Im Zentrum steht der Prozess der Re- Film. Im Zentrum stehen die tiefgreifenden politischen sozialisierung und damit die Gelegenheit, die Vergan- Umwälzungen, mit denen soziale und ökonomische genheit der Protagonisten zu zeigen (vgl. UNTERWELT, Veränderungen einher gehen und die von der Mehrheit GEFÄNGNIS, LAGER), aber auch die sozialen INSTITU- der (so oder anders benachteiligten) Bevölkerung TIONEN, die den Wiedereingliederungsprozess begleiten. getragen wird: Sei es, dass man sich gegen absolu- Dieser kann grundsätzlich gelingen oder scheitern, wobei tistische Monarchien oder das Elend der KLASSENVER- Letzteres gerade im Fall von KLEIN- oder JUGENDKRI- HÄLTNISSE wehrt, sei es, dass man rechts- oder MINALITÄT oft für einen pessimistischen Grundton des linksextreme Diktaturen stürzt. Je weiter die Revolution in Films sorgt. phb der Geschichte zurückliegt, desto eher kommt sie im Beispiele: AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜMFILM oder als NATIO- CAFÉ ELEKTRIC (Gustav Ucicky, D 1928) NALEPOS zum Zug, das sich oft wenig um realitätsnahe JOHNNY EAGER (Mervyn LeRoy, USA 1941) Schilderungen kümmert (vgl. die FRANZÖSISCHE und AMERICAN HISTORY X (Tony Kaye, USA 1998) RUSSISCHE REVOLUTION, aber auch die europaweiten BERLIN IS IN GERMANY (Hannes Stöhr, D 2001) Revolutionen von 1848). Andere Varianten legen weniger Wert auf Schauwerte und richten als HISTO- RISCHE MILIEUSTUDIEN und REKONSTRUKTIONEN den Revolte der Natur. Motiv im Spiel- und gelegentlich im Fokus auf ein querschnitthaftes Mosaik der fraglichen EXPERIMENTALFILM. Im Zentrum steht die Revolte der Epoche. Bei Revolutionen der ZEITGESCHICHTE schließ- Natur gegen die vom Menschen übertechnisierte, über- lich – etwa der Nelkenrevolution in Portugal 1974 oder zivilisierte Welt und letztlich gegen die Menschheit der Islamischen Revolution im Iran 1979 –, deren Mit- selber. Das Idyllische der Natur kehrt sich in katastro- wirkende zum Filmpublikum gehören könnten, ist die phale Zerstörung, das dem Menschen Dienende in nicht Tendenz zu MILIEU- oder CHARAKTERSTUDIEN zu ver- mehr kontrollier- oder unterdrückbare, meist zerstöreri- zeichnen, die viel Gewicht auf das POLITISCHE KLIMA le- sche Aktion. gen, das vor, während oder nach der Revolution bestim- Grundsätzlich kann das Motiv in heiterer oder düsterer mend war. phb Tonlage angegangen werden, am häufigsten tritt es je- doch in beklemmenden DYSTOPIEN und verstörenden Beispiele: ERNESTO «CHE» GUEVARA … (Richard Dindo, CH/F 1994) ENDZEITVISIONEN auf. Dahinter steht eine fundamen- CAPITÃES DE ABRIL (Maria de Medeiros, P 2000) tale, gelegentlich religiös motivierte Skepsis gegenüber NIMEH-YE PENHAN (Tahmineh Milani, IR 2001) der Technikeuphorie in der Moderne und dem als ver- messen begriffenen, materialistisch-kapitalistischen Zu- griff auf Umwelt und ÖKOLOGIE. Gelegentlich tritt das Revolutionsfilm s. RUSSISCHER REVOLUTIONSFILM Motiv in Kombination mit der eng benachbarten REVOL- TE DER TECHNIK auf. phb Beispiele: Revuefilm. Deutsches Genre vor allem aus der Zeit des BYT (Jan Svankmajer, CSSR 1969) NATIONALSOZIALISMUS, das mit dem zeitgleichen ame- DIE RÄTTIN (Martin Buchhorn, D 1997) rikanischen MUSICAL verwandt ist. Wie dort stammen JURASSIC PARK (Steven Spielberg, USA 1993) die Handlungsstrukturen aus leichten Unterhaltungs- genres (ROMANTISCHE KOMÖDIE, LIEBESFILM, BIOPIC etc.) und sind mit Gesangs- und TANZ-Nummern durch- Revolte der Technik. Motiv im Spiel- und gelegentlich setzt. Außerdem geht es meist um die Proben zu oder die im EXPERIMENTALFILM. Im Zentrum steht eine vom Aufführung von Revuen, die kaum etwas mit dem ent- Menschen geschaffene, technisierte Welt, die sich behrungsreichen Alltag des Filmpublikums zu tun haben, menschlicher Kontrolle entzieht und verselbständigt, ihr sondern als eine Art Gegenentwurf dazu zu lesen sind. produktives Potenzial pervertiert, um sich in letzter Kon- Doch es gibt markante Unterschiede: Anders als das MU- sequenz destruktiv gegen den Menschen zu richten. SICAL, das auch die geschmeidig in die Handlung inte- Grundsätzlich kann das Motiv in heiterer oder düsterer grierte Nummer kennt, pflegt der Revuefilm die von der Tonlage angegangen werden, sei es in tumulthaften Handlung separierte und als Bühnengeschehen gekenn- ANARCHOKOMÖDIEN oder beißenden GROTESKEN, sei zeichnete Nummer (vgl. BACKSTAGE-MUSICAL). Entspre- es in beklemmenden DYSTOPIEN und verstörenden chend werden im – tendenziell statisch fotografierten – ENDZEITVISIONEN. Dahinter steht oft eine Skepsis, die Tanz nicht so sehr die Figuren der Handlung aufeinander nicht zulezt als Kehrseite der Technikeuphorie der Mo- bezogen, sondern die Stars in ein möglichst spektaku- derne zu verstehen ist. Gelegentlich tritt das Motiv in läres Licht gerückt. Letztlich erreicht der Revuefilm bei Kombination mit der eng benachbarten REVOLTE DER aller Kostspieligkeit kaum je das ausgeklügelte Raffine- NATUR auf. Außerdem kann es zur SELBSTREFLEXION ment und die berauschende Opulenz des MUSICALS. Nach 1945 verschwindet er nahezu vollständig (von we- Glossar 81 nigen Produktionen abgesehen, die von Regisseuren Wechsel verschiedener LANDSCHAFTEN und Kulturen ist stammen, die sich bereits während des ZWEITEN WELT- ebenso zentral wie der Umstand, dass das Fahrzeug nicht KRIEGS im Genre hervortaten) und wird in den 1950er nur Menschen transportiert, sondern auch deren Jahren vom (hauptsächlich bundesdeutschen) SCHLA- TRÄUME von Freiheit und Unabhängigkeit. Die REISE ist GERFILM abgelöst. phb oft ohne intendiertes Ziel, manchmal eine eigentliche IRRFAHRT, was aber nicht ausschließt, dass sie irgendwo Beispiele: NANU, SIE KENNEN KORF NOCH NICHT? (Fritz Holl, D 1938) endet. An diesem Punkt haben die Protagonisten meist HALLO, JANINE! (Carl Boese, D 1939) auch eine innere Reise zurückgelegt und sind, was ihre DER WEISSE TRAUM (Geza von Cziffra, D 1943) Träume angeht, an einem anderen Ort angelangt. Exzentrische Zufallsbekanntschaften und (gelegentlich gefährliche) Verstrickungen helfen, diesen Prozess Riesen. Figur in Spielfilmen, die ihre Stoffe aus den Be- mitzutragen. Seit den 1990er Jahren wird die Ausschließ- reichen MÄRCHEN, PHANTASTIK und FANTASY, gele- lichkeit von heterosexuellen Männerfiguren durch gentlich aber auch SCIENCE FICTION beziehen. Am einen weibliche und homosexuelle Figuren aufgebrochen. Im Ende der Skala steht der gutmütige, unbeholfen- europäischen Kino sind Roadmovies insgesamt selten, tollpatschige Riese des KINDER- und FAMILIENKINOS (oft das asiatische Kino dagegen wartet mit zahlreichen in Gestalt eines ANIMATIONSFILMS), der zwar in der Beispielen auf. Welt «normaler» Maßstäbe unfreiwillig Zerstörung und Das Roadmovie ist nicht zu verwechseln mit dem Verwüstung anrichtet, im Grunde aber ein ebenso rie- expressionistischen deutschen STRASSENFILM der 1920- siges Herz hat. In der Regel formiert er mit seinem er Jahre, in dem die Figuren ihre bürgerliche Existenz auf- Partner (oft ein KINDLICHER PROTAGONIST) ein UN- geben zugunsten eines (meist scheiternden) Lebens im GLEICHES PAAR. Am anderen Ende der Skala steht das urbanen Chaos der modernen CITY. phb riesenhaft vergrößerte MONSTER oder KÜNSTLICHE Beispiele: MENSCHENWESEN des HORRORFILMS, das aus der EASY RIDER (Dennis Hopper, USA 1969) Obhut eines MAD SCIENTIST entflieht und (oft aus THELMA & LOUISE (Ridley Scott, USA 1991) RACHE) für Angst und Schrecken sorgt. In jedem Fall ZENDEGI EDAME DARAD (Abbas Kiarostami, IR 1992) jedoch rufen Riesen die SpezialistInnen für TRICK und HILDES REISE (Christof Vorster, CH 2003) SPECIAL EFFECTS auf den Plan. Riesinnen sind weitaus seltener als Riesen – wohl deshalb, weil Frauen in abend- ländischen Kulturzusammenhängen mit Attributen des Robin-Hood-Stoff. Stoff im fiktionalen Film, in dessen Diminutivs (klein, kindhaft, niedlich, zerbrechlich u. ä.) Zentrum der legendäre englische Volksheld Robin Hood bedacht werden. phb steht, der im 11. und 12. Jh. mit einer Schar von Ge- treuen im Wald von Sherwood gelebt haben soll, wo er Beispiele: den Klerus und die ARISTOKRATIE ausraubte, um die THE AMAZING COLOSSAL MAN (Bert I. Gordon, USA 1957) SHREK (Andrew Adamson, Vicky Jenson, USA 2001) Beute an die Armen zu verteilen. Der Stoff wurde wieder und wieder filmisch aufbereitet, typischerweise in MAN- TEL UND DEGEN-Filmen, die in einem äußerst farben- Rive gauche. Der Begriff meint eigentlich das linke prächtigen, aber vollkommen realitätsfernen MITTEL- Seine-Ufer (insbesondere das quartier latin) und damit ALTER spielen und Schauwerte in Hülle und Fülle bieten: das Künstlerquartier in Paris. Im filmwissenschaftlichen opulente Bankette, kostbare Roben, trutzige Burgen, dü- Kontext erscheint er zum ersten Mal 1962 bei Godard stere Verließe und üppige (in den Studios nachgestellte) und bezeichnet eine kleine Gruppe linksintellektueller Naturszenen. Die Hauptfigur kommt als unerschrockener französischer FilmemacherInnen (Alain Resnais, Agnès Rächer der Witwen und Waisen – eine Art OUTLAW – Varda und Chris Marker). Der Terminus hatte die Funk- daher, ist ohne Fehl und Tadel und kann erst noch per- tion, diese Gruppe samt ihrem explizit politischen Kino fekte Manieren vorweisen. Zu den Nebenfiguren gehören von den ehemaligen Kritikern der Cahiers du cinéma die makellose Maid Marion und natürlich ganze Reihen (Chabrol, Godard, Rivette, Rohmer, Truffaut) und damit böser Schurken. Abgesehen von diesen LEGENDENVER- von der zeitgleichen, eher cinephilen NOUVELLE VAGUE FILMUNGEN im herkömmlichen Sinn kann der Stoff auch abzugrenzen. Er blieb stets eine Fremdbezeichnung, die im Sinn einer weiter gehenden INTERTEXTUALITÄT weder Resnais noch Varda oder Marker für sich selbst behandelt werden: Sei es als TRAVESTIE im Gewand beanspruchten. Nachträglich wurden auch Marguerite eines ÜBERFALLWESTERN, sei es als PARODIE in Form Duras und Alain Robbe-Grillet, die beide über die Zu- eines ANIMATIONSFILMS; auch die Figur eines Zorro be- sammenarbeit mit Resnais zum Film fanden, dem rive ruht letztlich auf dem Robin Hood-Stoff. phb gauche zugerechnet. phb Beispiele: THE ADVENTURES OF … (M. Curtiz, W. Keighley, USA 1938) Beispiele: ROBIN HOOD DAFFY (Chuck Jones, USA 1958) HIROSHIMA, MON AMOUR (Alain Resnais, F/J 1959) ROBIN HOOD – PRINCE OF … (Kevin Reynolds, USA 1991) L'ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (Alain Resnais, F/I 1960) TOKYO EYES (Jean-Pierre Limosin, J/F 1998) CLÉO DE 5 À 7 (Agnès Varda, F 1961) LA JETÉE (Chris Marker, F 1962) NATHALIE GRANGER (Marguerite Duras, F 1972) Rock-Musical. Variante des MUSICALS vor allem der 1970er und 1980er Jahre, in der nicht nur die eingän- Roadmovie. Sehr «amerikanisches» und «maskulines» gigen Melodien, Gesellschafts- und Variété-Tänze des Genre: In einem Gefährt unterwegs, wird den Prota- klassischen Musicals durch Rockmusik und neue Formen gonisten die Straße zum (temporären) Lebensinhalt. Der des TANZES ersetzt werden, sondern auch mit den alten Handlungsstrukturen von BACKSTAGE-MUSICAL und 82 Glossar

ROMANTISCHER KOMÖDIE gebrochen wird. Typischer- Beispiele: weise ist das Rock-Musical eher durchgehend gesungen RASHOMON (Akira Kurosawa, J 1950) (und insofern der Oper nahe; vgl. den Begriff «Rock- LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY (Milos Forman, CSSR 1965) oper»), während das Musical mit musikalischen Einlagen MRS. DALLOWAY (Marleen Gorris, USA/GB/NL 1997) arbeitet. Außerdem können in das Rock-Musical so ver- schiedene (im klassischen Musical undenkbare) Stoffe eingehen wie die Jesusgeschichte, der VIETAMKRIEG Russische Revolution. Motiv im Spielfilm, das die oder aber die als HORRORKOMÖDIE erzählte Geschichte grundlegenden gesellschaftlichen, politischen und kul- einer INITIATION in eine SUBKULTUR. phb turellen Umwälzungen in Russland 1905 und 1917 umfasst oder aber einzelne Ereignisse aus dieser Periode. Beispiele: Die Unterschiede in Gewichtung und Verfahren sind groß THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW (J. Sharman, USA 1974) und entsprechend breit das Spektrum möglicher HAIR (Milos Forman, USA 1979) Varianten: AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜMFILME setzen PINK FLOYD: THE WALL (Alan Parker, GB 1982) auf das Schauwert-Potenzial des Motivs und damit auf luxuriöse Roben, die DEKADENZ des Zarenregimes, Mas- senaufmärsche und prächtige Kulissen, vor deren Hin- Romantische Komödie. Variante der KOMÖDIE, in de- tergrund LIEBES- und LEIDENSGESCHICHTEN sowie ME- ren Zentrum die LIEBESGESCHICHTE eines fast immer he- LODRAMEN erzählt werden. MONUMENTALFILME terosexuellen Paars steht. Der leichten Ton ist ebenso schildern eine zum NATIONALEPOS überhöhte REVO- Wesensmerkmal wie eine Garnitur humoristischer Neben- LUTION, und insbesondere der RUSSISCHE REVOLU- figuren oder das obligate Happy-End. In den 1930er Jah- TIONSFILM der jungen Sowjetunion kehrt immer wieder ren lanciert, tritt die Romantische Komödie in der 1970er zu diesem Motiv zurück und feiert euphorisch den Jahren hinter die explizitere SEXKOMÖDIE zurück. Vor al- Triumph des KOMMUNISMUS (wogegen sich vor allem lem seit den 1990er Jahren ist sie jedoch wieder präsent, westliche Filme in einem bisweilen unverhohlenen ANTI- stellt vermehrt die Frage nach dem Verhältnis von sex KOMMUNISMUS ergehen). Realistischere Varianten stel- und gender und gewinnt aus dieser Spannung komische len nicht nur BEFREIUNGSKAMPF und KLASSENVER- Effekte. Außerdem wirft sie (höchst vorsichtige) Blicke HÄLTNISSE ins Zentrum, sondern problemtatisieren auch über die Grenze der Heterosexualität hinaus. das Elend des BÜRGERKRIEGS zwischen Bolschewiki und Die Romantische Komödie ist zwar mit der SO- Menschewiki, den desolaten Zustand der Bevölkerung PHISTICATED COMEDY und der SCREWBALL COMEDY und die verheerenden Hungersnöte. Wieder andere ver- verwandt, hat aber weder die Eleganz der ersteren, noch fahren im Sinn eines BIOPICS und beleuchten – mehr das hohe Tempo, den scharfzüngigen Wortwitz und die oder weniger glorifizierend oder dämonisierend – das Le- gleichberechtigten Geschlechterrollen der letzteren. phb ben einzelner Personen wie Zar Nikolaus II., Lenin oder Beispiele: Rasputin. phb BUS STOP (Joshua Logan, USA 1956) CHARADE (Stanley Donen, USA 1963) Beispiele: WHEN HARRY MET SALLY (Rob Reiner, USA 1989) BRONENOSEZ POTJOMKIN (Sergej Eisenstein, SU 1925) LA TRAGÉDIE IMPÉRIALE (Marcel L'Herbier, F 1932) DOCTOR ZHIVAGO (David Lean, USA 1965) Romanverfilmung s. LITERATURVERFILMUNG Russischer Revolutionsfilm. Oft nur «Revolu- tionsfilm» genannt, bezeichnet der Begriff die Filme der Rückblendenstruktur. Erzählstruktur im Spielfilm. jungen Sowjetunion zwischen 1918 und 1935, die die Flashbacks unterbrechen die gegenwärtige, chronologi- RUSSISCHE REVOLUTION und den darauf folgenden sche Linearität, die filmischen Erzählweisen grundsätzlich BÜRGERKRIEG thematisieren. Die Filme entstehen unter eignet. Sie müssen daher eigens eingeleitet oder kodiert dem aktuellen Eindruck der revolutionären Umwälzungen werden – etwa durch Überblendungen oder durch eine und zeigen sie als notwendiges Geschehen von welthi- VOICE-OVER –, um als Griff in die Vergangeheit storischer Bedeutung, das zu einem Novum – der erst- überhaupt kenntlich zu sein. In manchen Stilrichtungen maligen Herrschaft des Proletariats – führt. Auf formal- gelten Rückblenden als unelegant, in anderen wiederum ästhetischer Ebene werden sie im Kontext der AVANT- als altmodisch, die DOGME 95-Bewegung untersagt sie GARDE DER 1920ER realisiert, so dass ihnen der bewuss- schließlich vollends. Andererseits gibt es befürwortende, te, nach dem Desaster des ERSTEN WELTKRIEGS durch- stilbildende Traditionen wie den Hollywoodfilm der aus politisch verstandene Bruch mit etablierten Konzep- 1940er Jahre, und hier insbesondere den FILM NOIR, ten der (Film-)Kunst eingeschrieben ist. Auf funktionaler außerdem sind Rückblenden aus ICHERZÄHLUNGEN, Ebene kommt ihnen einerseits die Eigenschaft der AGI- AUTOBIOGRAFIEN und LITERATURVERFILMUNGEN TIATION zu: Mit den Mitteln des noch jungen Mediums kaum wegzudenken. Manche Filme fordern die geistige Film sollen die Massen für die Ideale der Revolution be- Akrobatik ihres Publikums heraus, indem sie ver- geistert werden. Andererseits sind sie auf doppelte Art schiedene Ebenen der Rückblenden raffiniert ineinander Geschichtsschreibung: Sie geben nicht nur Auskunft über schachteln. Bisweilen leidet darunter jedoch die Vers- Ereignisse, deren Wucht noch nachbebt, als die Filme tändlichkeit der Erzählung, und solche formalen entstehen, sondern auch darüber, wie vehement die Spielereien können in selbstgefälligen Manierismus aus- Revolution zum sozialen, politischen und künstlerischen arten. Gründungsmythos wird, der in NATIONALEPEN eupho- Als eine Art Gegenstück fungiert die weitaus seltenere risch gefeiert wird. Intellektualität und Pathos kennzeich- VORAUSBLENDE. phb nen den Revolutionsfilm zu gleichen Teilen. Die endgülti- ge Etablierung von Stalins Terrorherrschaft in der zweiten Glossar 83

Hälfte der 1930er Jahre und die staatlich verordnete, auf Samurai-Film. Als Genre eine japanische Spezialität, ideologische Vermittlung ausgerichtete Stilrichtung des die in anderen fernöstlichen Ländern Parallelen hat. Die SOZIALISTISCHEN REALISMUS lässt den Revolutionsfilm Figur des Samurai, ein Berufskrieger, entspricht in vieler mit seinem avantgardistischen Impetus verklingen. phb Hinsicht dem amerikanischen Westerner legendärer Prä- gung: Auch der Samurai lebt nach Ritualen (die noch Beispiele: BRONENOSEZ POTJOMKIN (Sergej Eisenstein, SU 1925) strenger, noch formalisierter sind als im WESTERN), auch MAT (Wsewolod Pudowkin, SU 1926) er ist frei verfügbar und unbehaust, und auch ihm gelingt ARSENAL (Alexander Dowschenko, SU 1928) es kraft seiner Fähigkeiten, ein ganzes Dorf gegen feind- selige Räuber zu verteidigen. Viele Samurai-Filme ent- halten akrobatische und humoristische Elemente, sind je- doch gleichzeitig langatmig und blutrünstig. Wie der Western ist auch der Samurai-Film grundsätzlich histo- S risch angelegt – und gleichzeitig mit dem KRIEGSFILM verwandt. Anders als der Western spielt er aber nicht in Sadomasochismus. Sadismus und Masochismus wur- der Wildnis, sondern in der menschlichen Gemeinschaft. den zuerst von Richard von Krafft-Ebing in seiner Psycho- Vgl. den EASTERN des Hongkong-Kinos. phb pathia Sexualis (1876) im Rückbezug auf literarische Werke der beiden Autoren D. A. F. Marquis de Sade und Beispiele: Leopold Ritter von Sacher-Masoch als sexuelle PERVER- MEITO BIJOMARU (Kenji Mizoguchi, J 1945) SHICHININ NO SAMURAI (Akira Kurosawa, J 1954) SIONEN definiert. In der Sexualpathologie bezeichnet FURIN KAZEN (Hiroshi Inagaki, J 1966) Masochismus dabei eine Perversion, bei der sexuelle Lust (nur) in der eigenen Demütigung oder körperlichen Ver- letzung empfunden wird, Sadismus eine solche, bei der Sandalenfilm s. BIBELVERFILMUNG; MONUMENTAL- die sexuelle Lust (nur) in der körperlichen Verletzung FILM oder Demütigung des Gegenübers empfunden wird. Mit dem Begriff Sadomasochismus werden sowohl Kombina- tionsmöglichkeiten aus beiden Verhaltensdispositionen in Satire. Erzählform, in der GESELLSCHAFTS- oder SYS- ein- und derselben Person, als auch der komplementäre TEMKRITIK oder Kritik an INSTITUTIONEN mit beißendem Charakter einer Interaktion zweier solchermaßen dispo- Spott, mitunter SCHWARZEM HUMOR, Sarkasmus oder nierter Personen bezeichnet. In der erweiterten Definition Ironie und gelegentlich mit bitterem Zynismus präsentiert (Freud u. a.) wird Sadismus mit Aktivität, Masochismus wird. Anders als die KOMÖDIE hat die Satire nicht das mit Passivität verknüpft und dem männlichen bzw. befreiende oder versöhnende Lachen zum Ziel, sondern weiblichen Geschlechtscharakter zugeschrieben. In Fil- die Einsicht des Publikums in die Fehler oder men erscheint die sadomasochistische Interaktion häufig Lächerlichkeiten des Systems; damit ist ihr etwas thesen- nicht nur im engeren sexuellen Kontext als Form der PSY- haft-didaktisches eingeschrieben. Sie nimmt deutlichen CHOPATHIE, sondern wird verknüpft mit allgemeineren Bezug auf die kritisierte Wirklichkeit, auch wenn sie oft (politischen) GEWALT-Verhältnissen und SYSTEMKRITIK. so geschickt verkleidet ist, dass sie die ZENSUR passieren Das Thema avanciert dann zur POLITISCHEN ALLEGORIE kann. Insofern ist sie weniger fiktional als die Komödie und kann Ausdruck eines spezifischen POLITISCHEN KLI- und wird nur einem Publikum verständlich, das diese MAS sein. uvk Wirklichkeit auch kennt. Die Satire verzichtet bewusst auf Beispiele: psychologische Konfliktentwicklungen und erschwert die BELLE DE JOUR (Luis Buñuel, F/I 1966) Möglichkeit emotionaler Identifikation. SALÒ O LE 120 GIORNATE … (Pier Paolo Pasolini, I 1975) Vgl. KRIEGSSATIRE, POLITISCHE SATIRE. phb QUERELLE (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1982) DE FÖGI ESCH EN SOUHOND (Marcel Gisler, CH/F 1998) Beispiele: HOW I WON THE WAR (Richard Lester, GB 1967) PALOMBELLA ROSSA (Nanni Moretti, I 1989) SCHTONK (Helmut Dietl, D 1992) Saloonwestern. Spielart des WESTERN, in dessen Zent- rum der Schauplatz des frontierüblichen Saloons steht – im Gegensatz zum typischeren, die LANDSCHAFT beto- Schaunummer. Format der FRÜHEN KINEMATOGRA- nenden Western mit seinen einzelgängerischen, schweig- FIE, das artistische Vorführungen, Zaubereien, TANZ-Dar- samen Männern. Im Saloon geht es vergleichsweise bietungen und andere Bühnenperformances (Varieté-Pro- «urban» zu, es wird viel geredet, soziale Beziehungen gramme etc.) aufzeichnet. Dabei kommen bereits die ers- sind wichtiger als Action oder INDIANERINNEN. Außer- ten für das Kino entwickelten SPECIAL EFFECTS und dem eignet sich der Schauplatz zur Schilderung ver- TRICKS zum Einsatz. Die Position der Kamera ist die eines schiedenster Charaktere: Poker spielende Honoratioren, idealen Zuschauers, dessen point of view frontal zur Büh- zur Gitarre singende Prostituierte und heißblütige Jungs- ne oder Rampe ist und der den Bühnenraum überblickt. punde von rivalisierenden Farmen, die sich wüste Schlä- Die Länge der Schaunummern-Filme richtet sich nach der gereien liefern. phb Dauer der Nummern und folgt deren innerer Dramatur- Beispiele: gie. Schaunummern können aber, wie bei Méliès, auch in BARBARY COAST (Howard Hawks, USA 1935) längere Spielfilme integriert sein. uvk MY DARLING CLEMENTINE (John Ford, USA 1946) JOHNNY GUITAR (Nicholas Ray, USA 1953) Beispiele: WINTERGARTENPROGRAMM (M. u. E. Skladanowsky, D 1895) THE WONDERFUL LIVING FAN (Georges Méliès, F 1904) THE UNTAMABLE WHISKERS (Georges Méliès, F 1904) 84 Glossar

Schicht s. KLASSENVERHÄLTNISSE Schule. Motiv im dokumentarischen und fiktionalen Film, das in den unterschiedlichsten Genres vorkommt. So gibt es ernsthafte Auseinandersetzungen mit dem Schicksalsgemeinschaft. Figurenkonstellation und Spannungsfeld von KINDHEIT oder ADOLESZENZ einer- dramaturgische Formel zugleich. Eine Gruppe bunt und seits und INSTITUTION (in Form von Schule oder Internat) zufällig zusammengewürfelter Personen ist für eine Weile andererseits. Oft handelt es sich um LEIDENSGESCHICH- vom Rest der Welt abgeschnitten und daher aufeinander TEN aus der Perspektive eines Schülers oder einer Schü- angewiesen: auf einer Insel, in einer Postkutsche, wäh- lerin. Denkbar ist aber auch, dass ein ganzes FIGUREN- rend einer Belagerung, in einem Hotel etc. Die Formel MOSAIK in Gestalt einer Schulklasse im Mittelpunkt steht gibt – ähnlich einer Versuchsanordnung – Gelegenheit, oder dass die Geschichte aus der Warte der Lehrperson die verschiedensten Personentypen miteinander zu kon- erzählt wird. In solchen Fällen hat die Geschichte oft die frontieren und ihr unterschiedliches Verhalten bei Krisen Funktion einer GESELLSCHAFTSKRITIK. Das Motiv kommt herauszuarbeiten: Manche schmoren im eigenen Saft, aber auch in albernen Teenagerklamotten vor (vgl. TEEN- andere entwickeln sich wie im Treibhaus rasch und heftig AGERKINO) sowie im PORNOGRAFISCHEN FILM oder im etc. Viele KRIMINALFILME, insbesondere à SOFTPORNO, die allerdings nur deshalb im schulischen la Agatha Christie bedienen sich dieser Figurenkonstel- Umfeld spielen, weil dort die Anwesenheit von nymphen- lation, aber auch MELODRAMEN, ABENTEUER- und haft-jungen Darstellerinnen nicht noch lange begründet KRIEGSFILME. phb werden muss. phb Beispiele: Beispiele: KEY LARGO (John Huston, USA 1944) MÄDCHEN IN UNIFORM (Leontine Sagan, D 1933) MURDER ON THE ORIENT EXPRESS (Sidney Lumet, GB 1974) DER JUNGE TÖRLESS (Volker Schlöndorff, BRD 1966) DAS BOOT (Wolfgang Petersen, BRD 1981) DIE PATRIOTIN (Alexander Kluge, BRD 1979)

Schlagerfilm. Als Genre eine Spezialität vor allem der Schulfilm. Filme, die während der Ausbildung zur Regis- Bundesrepublik Deutschland in den 1950er und 1960er seurin oder zum Regisseur, an Filmakademien und Jahren (seltener in der DDR) – und gewissermaßen der –hochschulen entstanden sind, selten in öffentlichen Ki- Nachfolger des REVUEFILMS aus der Zeit des NATIO- nos gezeigt werden und deren Rechte meist bei der NALSOZIALISMUS. Oft handelt es sich um eine Kreuzung Schule und nicht bei den FilmemacherInnen liegen. In der zwischen HEIMATFILM und MUSICAL: Um beliebte Regel als KURZSPIELFILM konzipiert und typischerweise Schlagerstars wie Freddy Quinn, Caterina Valente, Peter über ein knappes Budget verfügend, arbeiten die Produk- Alexander oder Peter Kraus werden LIEBESGESCHICHTEN tionen mit LAIENDARSTELLERN oder mit SchauspielerIn- oder AUFSTEIGERINNEN-Storys so platziert, dass sie nen, die selber noch in der Ausbildung (und daher billig) Gelegenheit zur Darbietung neuer Hits erhalten. Die sind. Wie im Rahmen jeder Ausbildung sind erzählerische Handlung erhebt nahezu keine Ansprüche, sondern und formale Handschrift noch nicht ausgebildet, sondern hangelt sich von Auftritt zu Auftritt und ist nicht selten dabei sich herauszubilden: Qualitätssprünge können sich unfreiwillig komisch. In der Regel fehlt dem Schlagerfilm bemerkbar machen, schlimmstenfalls Konzeptlosigkeit, nicht nur das formale Raffinement, sondern auch die bestenfalls aber entstehen in Schulfilmen kleine Juwele. große (emotionale) Geste, die im strukturell verwandten Vgl. den DEBUTFILM, den ersten nach der Ausbildung amerikanischen MUSICAL in ebenso rauschhaften wie fertiggestellten Langspielfilm. phb berauschenden Nummern zum Ausdruck kommt. phb Beispiele: Beispiel: ABGESCHMINKT! (Katja von Garnier, D 1992) DU BIST WUNDERBAR (Paul Martin, BRD 1959) MAX (Christian Davi, CH 1995) FREDDY, DIE GITARRE UND … (Wolfgang Schleif, BRD 1959) ROHAT … (Julian Hohl, D 2001) LIEBESGRÜSSE AUS TIROL (Franz Antel, A 1964)

Schwarzafrikanisches Kino. Schlagwort, das sich Schmuggler. Figur insbesondere in ABENTEUER- und allein auf die geografische Herkunft von Filmen bezieht. KRIMINALFILMEN verschiedenster Ausprägung. Oft krei- Innerhalb des afrikanischen Kinos wird oft unterschieden sen Schmugglerfilme um die Ausführung eines COUPS, zwischen dem MAGHREBINISCHEN KINO (das aus dem oder sie sind als historische Filme angelegt, und in diesen islamisch-arabischen Nordwesten Afrika stammt) und Fällen bieten vor allem Schmugglerschiffe einen exotisch- dem schwarzafrikanischen Kino. Beide Begriffe implizie- attraktiven Stoff, ähnlich dem PIRATENFILM (der aber in ren die weitreichenden kulturellen Unterschiede zwischen der Regel leichtfüssiger inszeniert wird). Im Unterschied diesen beiden Großregionen sowie den Umstand, dass dazu wird Rauschgiftschmuggel typischerweise in der sich afrikanische Filme einer (aus westlicher Perspektive) Gegenwart angesiedelt, erfordert eine deutlich herbere FREMDEN ERZÄHLTRADITION bedienen. Dennoch sind Tonart und wird meist mit großer Härte, in KRIMI- beide Begriffe so verallgemeinernd wie unscharf und NALFILMEN mit einem gelegentlich hohen Maß an GE- dienen lediglich als grobmaschiges Ordnungskriterium. WALT sowie vielfach mit dem Anspruch auf (pessi- Und: Das Etikett «afrikanisches Kino» ist meist ein west- mistische) GESELLSCHAFTSKRITIK dargestellt. phb liches, mit dem nur jene afrikanischen Filme bedacht werden, die im Westen überhaupt gezeigt werden. phb Beispiele: GASPARONE (Georg Jacoby, D 1937) Beispiele: LE CRÂNEUR (Dimitri Kirsanoff, F 1955) YAABA (Idrissa Ouedraogo, Burkina Faso/F/CH 1988) JACKIE BROWN (Quentin Tarantino, USA 1997) AFTER THE WAX (Chaz Maviyane-Davies, Zimbabwe 1991) LE FRANC (Djibril Diop Mambéty, Senegal/CH/F 1994) Glossar 85

Schwarzer Humor. Erzählform, die tief verwurzelte Science Fiction. Der Science Fiction-Film ist, zusammen gesellschaftliche Tabus (TOD, KRANKHEITEN und BEHIN- mit FANTASY und HORRORFILM, eines der phanta- DERUNGEN, INZEST, Kannibalismus, PERVERSIONEN et stischen Genres. Er beruht auf der (mutmaßlichen) cetera) und die damit verbundenen Ängste vor dem Ta- technologischen Weiterentwicklung und steigert Zu- bubruch lächerlich macht. Die Komik entsteht dabei aus kunkftserwartungen ins Phantastische, unabhängig da- dem Missverhältnis zwischen dem gravierenden Anlass von, ob die Zukunst selbst als eine nahe oder ferne de- und seiner leichtfertigen Behandlung. Oft hat der schwar- klariert wird. Meist folgt die Handlung einer Dramaturgie ze Humor die Funktion, auf gesellschaftliche Phänomene des ABENTEUERFILMS, außerdem werden oft Elemente kritisch aufmerksam zu machen; dies kann in (ANAR- des HORRORFILMS aufgegriffen. Besondere Attraktionen CHO-)KOMÖDIEN, PARODIEN, SATIREN oder TRAVES- schaffen Ausstattung, TRICK und vor allem SPECIAL TIEN, aber auch in GROTESKEN sowie im ABSURDISMUS EFFECTS. Während die FANTASY märchenhaft Romanti- geschehen. Sein Ziel besteht nicht in einem befreienden sches betont und der HORRORFILM mit der Angst vor Lachen, sondern in einem, das dem Publikum im Hals dem monströsen Anderen spielt, ist der Science Fiction- stecken bleibt. Er bewegt sich stets an der Grenze des Film ernsthafter und zugleich differenzierter angelegt: «guten Geschmacks»; genügt er sich selber, über- Dies spiegelt sich in einer (männlichen) Technologie- schreitet er sie endgültig und wird vom Publikum in der faszination sowie in einer Besinnung auf die gesell- Regel nicht mehr toleriert. Darüber hinaus funktioniert er schaftlichen Konsequenzen von (unkontrollierter) Techno- nur dann, wenn das Publikum den entsprechenden Code logie – was oft in pessimistischen DYSTOPIEN thema- kennt und den schwarzen Humor als solchen erkennt. tisiert wird. Dennoch, die Grenzen zwischen diesen drei Hierin gleicht er der Ironie, die, falls unerkannt, Genres sind sehr fließend, und eine klare Trennung ist wirkungslos am Publikum vorbeizieht. Vgl. dagegen die nur sehr schwer zu ziehen. phb anders gelagerte Erzähl- und Humorform des KLA- Beispiele: MAUKS. phb 2001: A SPACE ODYSSEY (Stanley Kubrick, GB 1968) Beispiele: STAR WARS (George Lucas, USA 1977) ARSENIC AND OLD LACE (Frank Capra, USA 1944) ALIEN (Ridley Scott, GB 1979) DR. STRANGELOVE OR ... (Stanely Kubrick, USA 1963) STRANGE DAYS (Kathryn Bigelow, USA 1995) EATING RAOUL (Paul Bartel, USA 1982) FARGO (Joel & Ethan Coen, USA 1995) Screwball comedy. Screwballs sind exzentrische Außenseiter, eigensinnige Wirrköpfe und überdrehte Schwule. Die Art, wie schwule Figuren inszeniert wer- Temperamentsnudeln. Als Variante der ROMANTISCHEN den, sagt etwas über die in einer (heterosexuellen) Ge- KOMÖDIE ist die screwball comedy ein amerikanisches sellschaft virulenten Vorstellungen über schwule Männer Produkt der 1930/40er Jahre und des ausgereiften Ton- aus. Jahrzehntelang wird ihre Darstellung verboten, ge- films. Ihre Kennzeichen sind scharfzüngiger Wortwitz, ho- mieden oder auf die Klischees der effeminierten Tunte hes Tempo, viel SITUATIONSKOMÖDIE, und Liebes- oder («passiv») oder des harten Lederkerls («aktiv») reduziert. Ehepaare, die sich intensiv streiten und wieder versöh- Während Erstere als asexuelle und oft grotekse Neben- nen, wobei Männer und Frauen in Punkto Intelligenz, figuren für «Komik» oder als PATHOLOGISCHE KILLER für Charisma, Freigeist und Unabhängigkeit gleich- Entsetzen zuständig sind, verkörpern Letztere eine ag- berechtigte Rollen spielen. Die ProtagonistInnen ent- gressive, freilich «abnorme» SEXUALITÄT. Beide gelten stammen meist der Schicht der Reichen und bewegen als Bedrohung einer unbescholtenen männlichen Hetero- sich in urbanem Umfeld, legen jedoch keinen Wert auf sexualität und als Gefahr für die männliche Jugend. Der- materielle Güter. Außerhalb der USA gibt es gelegent- art explizite (und explizit gehässige) Kommentare zur liche Beispiele, in späteren Epochen vereinzelte Wieder- männlichen HOMOSEXUALITÄT werden ergänzt durch belebungen des Genres. unterschwellige, indirekte Schilderungen gleichge- Vgl. die etwas anders gelagerte SOPHISTICATED CO- schlechtlichen Begehrens (vgl. HOMOEROTIK). Seit dem MEDY, eine Art Vorgängerin der screwball comedy, die Beginn der Schwulen- und Lesbenbewegung (insbeson- auf formale Opulenz, eleganten Glamour und brillantes dere seit Stonewall 1969) werden die negativen Vorur- Schwarzweiß setzte. phb teile insofern durch positive ersetzt, als die Mainstream- Beispiele: KOMÖDIE heute regelmäßig auf schwule Nebenfiguren MR. DEEDS GOES TO TOWN (Frank Capra, USA 1936) zurückgreift, die sich durch Harmlosigkeit und Austausch- GLÜCKSKINDER (Paul Martin, D 1936) barkeit auszeichnen. Ernstzunehmende Darstellungen BRINGING UP BABY (Howard Hawks, USA 1938) schwuler Figuren sind oft an die Existenz schwuler Filme- THAT UNCERTAIN FEELING (Ernst Lubitsch, USA 1941) macher gebunden, die seit den 1980er und 1990er Jah- ren – vor allem im Rahmen des QUEER CINEMA – den heterosexuellen Konzepten realistische Entwürfe schwu- Seeleute. Figurengruppe, die bevorzugt im ABEN- ler Lebenslogiken und Figuren entgegenstellen. phb TEUER- und KRIEGSFILM sowie im AUSSTATTUNGS- Beispiele: UND KOSTÜMFILM eingesetzt wird. Seeleute an Bord CRUISING (William Friedkin, USA 1980) sind oft eine SCHICKSALSGEMEINSCHAFT, deren Mitglie- PARTING GLANCES (Bill Sherwood, USA 1985) der meist soziale Außenseiter sind, eine kriminelle Ver- CEUX QUI M'AIMENT PRENDRONT … (P. Chéreau, F 1998) gangenheit haben und an Bord ein entbehrungsreiches Leben führen. Die Abwesenheit von Frauen an Bord bie- tet nicht selten eine «natürliche» Gelegenheit zu meist Schwullesbisches Filmschaffen s. QUEER CINEMA klischeebeladenen Inszenierungen von HOMOSEXUALI- TÄT (gleichzeitig sind Matrosen fester Bestandteil schwu- ler Ikonografie). Dagegen haben Seeleute auf Landurlaub 86 Glossar der Redewendung gemäß in jedem Hafen ein Mädchen, Serial killer film s. SERIENMORD so dass Hafenviertel, Spelunken und Bordelle geschildert werden können als Bereiche eines Lebens, das jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen steht. Zur Variante meist Serie. Fernsehformat, dessen dramaturgisches Ziel, farbenprächtiger Korsaren- und Piratenabenteuer vgl. anders als beim MEHRTEILER, darin besteht, niemals zu den PIRATENFILM. phb einem Endpunkt zu gelangen. Innerhalb einer Serie wird auf die gleiche Diegese zurückgegriffen, in deren Beispiele: MUTINY ON THE BOUNTY (Frank Lloyd, USA 1935) Zentrum eine zugkräftige Hauptfigur oder ein möglichst ON THE TOWN (Gene Kelly, Stanley Donen, USA 1947) viele Bedürfnisse abdeckendes FIGURENMOSAIK steht. QUERELLE (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1982) Vor allem so genannte dailies, Serien mit täglich ausge- strahlten Folgen, sind kostengünstig und meist aus- schließlich in immer gleichen Studiokulissen produziert. Selbstreflexion. Viele Filme handeln vom Filmemachen Dagegen zeichnen sich aufwändigere Serien sowohl und reflektieren damit ihre eigene Produktionssituation, durch luxuriösere Produktionsbedingungen als auch verweisen auf den fotografischen Abbildcharakter, den durch stilsichere und stilbildende Elemente aus. Manche filmischen Apparat, das Kino als Rezeptionsstätte oder von ihnen sind Straßenfeger, haben eine treue Fan- die Kunst des Schauspielens. Manchmal werden die gemeinde, ihren eigenen Starrummel und einen Stellen- Dreharbeiten selbst zum Gegenstand der Handlung, so wert wie KULTFILME . dass technische Details der Herstellung sichtbar werden, Vgl. die Kinoformate ANSCHLUSSPRODUKT, FORTSET- die der Spielfilm üblicherweise unterdrückt. Oft tritt eine ZUNGSFILM und ZYKLUS. phb Verschiebung auf, und der Gegenstand der Selbstrefle- Beispiele: xion ist nicht der Film, sondern die FOTOGRAFIE, die MA- ALLY MCBEAL (James Frawley et al., USA 1997) LEREI, das Theater oder das BACKSTAGE-MUSICAL. In THE SOPRANOS (David Chase et al., USA 1999) solchen Fällen wird der Prozess der Illusionsbildung nicht am Film, sondern an benachbarten Medien aufgezeigt. Häufig ist die Selbstreflexion nur ein Nebenaspekt eines Série Noire. Ursprünglich eine Detektiv-Romanserie, ist ansonsten anders gelagerten Films; mit ihr wird spo- die Série Noire seit den 1950er Jahren das französische radisch gespielt, um eine modernistische Komplexität zu «Gegenstück» zum amerikanischen FILM NOIR, darf aber erlangen oder die Rezeption zu intellektualisieren. Selbst- nicht mit diesem verwechselt werden. Anders als in der reflexivität begegnet auf jeder fimischen Niveauebene, depressiv-bedrohenden Grundstimmung des Film Noir, in vom konventionellen Hollywoodfilm bis zum Kunstkino, dem es meist um die ALPTRAUMHAFTE VERSTRICKUNG wird jedoch im Autorenfilm häufiger, intensiver und von «normalen» Bürgern und die Bedrohung des (schwa- konstitutiver genutzt als im üblichen Unterhaltungskino. chen) Mannes durch eine (starke) FEMME FATALE geht, Zur Selbstreflexivität im EXPERIMENTALFILM vgl. MA- lässt sich die französische Série Noire treffender als «We- TERIALFILM und STRUKTURELLER FILM. phb stern der Nacht» beschreiben (H. C. Blumenberg). Der Beispiele: männliche Einzelgänger ist zwar auch hier der subver- SINGIN' IN THE RAIN (Gene Kelly, Stanley Donen, USA 1952) siven, das Ich unterminierenden Logik der Nacht unter- LA NUIT AMÉRICAINE (François Truffaut, F/I 1973) worfen, aber kein Normalbürger, sondern ein Krimineller SALAM CINEMA (Mohsen Makhmalbaf, IR 1995) oder Gangster, der auf isoliertem Posten steht und des- sen Feinde eben das Bürgertum samt den dazugehörigen INSTITUTIONEN und Auswüchsen sind, zu denen auch Semidokumentarfilm. Genre im Spielfilm, das stellen- das organisierte Verbrechen gehört (vgl. MAFIA). Die weise mit dokumentarischen Mitteln arbeitet oder auch Série Noire bezieht komische Elemente mit ein und kann dokumentarisches Filmmaterial mit einbezieht, um didak- sogar zum KLAMAUK ausarten. Insbesondere das tisch über soziale Missstände zu informieren oder über in Klischee des hartgesottenen Einzelkämpfers wird oft pa- der Öffentlichkeit kaum bekannte Probleme und Prak- rodistisch behandelt. phb tiken zu berichten. Der Begriff stammt aus den aus- Beispiele: gehenden 1940er Jahren, als im amerikanischen Kino ei- LE CRÂNEUR (Dimitri Kirsanoff, F 1955) ne Gegenbewegung zum Studiofilm einsetzte und zahl- LE SAMOURAÏ (Jean-Pierre Melville, F/I 1967) reiche halbdokumentarische Filme über die Arbeit der Polizei, den Strafvollzug, der Entzugsklinik, der Spionage- abwehr u. ä. entstanden. Der Semidokumentarfilm ist Serienmord. Motiv in unterschiedlichen Genres. Im besonders häufig in den Stilrichtungen NEOREALISMUS, Zentrum stehen nicht die Opfer, sondern der Täter (selten TRÜMMERFILM und FILM GRIS anzutreffen, kommt aber eine TÄTERIN) oder aber der zuständige Polizist, die darüber hinaus oft im Gewand eines DOKU-DRAMAS zuständige Kriminalpsychologin. Je nach psychologi- daher. phb schem Anspruch des Films geschieht die Darstellung des Beispiele: Täters in Form einer CHARAKTERSTUDIE, in anderen Fäl- PAISÀ (Roberto Rossellini, I 1946) len wird er als MENSCHLICHE BESTIE gezeigt (vgl. auch CALL NORTHSIDE 777 (Henry Hathaway, USA 1948) PSYCHOPATHIE, PATHOLOGISCHER KILLER). Der Serien- DAVID HOLZMAN'S DIARY (Jim McBride, USA 1967) mord wird oft als SEXUALDELIKT geschildert, ausserdem O NECEM JINEM (Vera Chytilová, CSSR 1967) berufen sich viele Filme auf einen AUTHENTISCHEN FALL und erheben Anspruch auf GESELLSCHAFTSKRITIK. Wäh- rend im KRIMINALFILM, im THRILLER und in der CHA- Sequel s. ANSCHLUSSPRODUKT; FORTSETZUNGSFILM RAKTERSTUDIE grundsätzlich der Täter und weniger seine Taten im Vordergrund stehen, wird im HORROR- Glossar 87

FILM und im SPLATTER das Gewicht nur noch auf die – in denen das Sexualdelikt ein blosser Vorwand zur Dar- nicht weiter begründete – möglichst variantenreiche Dar- stellung von SEXUALITÄT ist (vgl. EXPLOITATION), über stellung von Tötungen und Zerstückelungen menschlicher KRIMINALFILME und THRILLER, in denen das Verbrechen Körper gerichtet. phb ein reines Spannungselement ist, bis hin zu anspruchs- vollen komplexen CHARAKTERSTUDIEN und GESELL- Beispiele: NATURAL BORN KILLERS (Oliver Stone, USA 1994) SCHAFTSKRITIKEN, die die Perspektive des Opfers ein- DER TOTMACHER (Romuald Karmakar, D 1995) nehmen. In vielen Filmen wird die Darstellung des eigent- SEVEN (David Fincher, USA 1997) lichen Sexualdelikts vermieden; dies kann auf zeitge- nössische Zensurbedingungen zurückzuführen sein oder auf die Seriosität und den Respekt der Filmemacherin Sexfilm. Durch die Lockerung der Zensurbestimmungen oder des Filmemachers. In der Regel zeigen die Filme ermöglichter Unterhaltungsfilm der 1960er und 1970er weibliche Opfer von sexueller GEWALT. Die Darstellung Jahre, der sexuelle Begegnungen zum zentralen Thema männlicher Opfer ist selten und wird, etwa im hat und auch mehr oder weniger verkrampft inszeniert. GEFÄNGNISFILM, entweder im Vorbeigehen verharmlo- Im Unterschied zu PORNOGRAFISCHEM FILM und SOFT- send angetönt oder aber als Verbrechen gezeigt, dessen PORNO (die beide nach dem Nummernprinzip von Anein- Entsetzlichkeit weitaus schockierender sein soll (und auch anderreihung und Variation funktionieren), behält der so rezipiert werden soll), als dies im Vergleich zu «all- Sexfilm eine durchgehende (wenn auch oft peinliche) täglicheren» weiblichen Opfern geschieht. phb Spielhandlung, im Ansatz ausgearbeitete Charaktere so- Beispiele: wie eine (in der Regel flache) narrative Spannungskurve M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (Fritz Lang, D 1931) bei. Diese Elemente sowie der Ersatz expliziter, real voll- ES GESCHAH AM HELLICHTEN … (L. Vajda, CH/BRD/E 1958) zogener Sexualakte durch simulierten Sex lassen die kör- CRUISING (William Friedkin, USA 1980) perliche Stimulierung des Publikums eher in den Hinter- PELON MAANTIEDE (Auli Mantila, Finnland 1999) grund treten, wodurch sich der Sexfilm wesentlich von PORNOGRAFISCHEM FILM und SOFTPORNO unterschei- det. Viele Sexfilme sind unfreiwillig komisch, andere be- Sexualität. Motiv in allen Filmgattungen, verstanden als stenfalls dümmlich, wieder andere geben sich edel oder explizit geführter Diskurs über gegengeschlechtliche schrill. Mit der zunehmenden Industrialisierung der Por- SEXUALITÄT, sei es auf visueller oder verbaler Ebene. Die noindustrie und der erleichterten Verfügbarkeit von Por- Art, wie das geschieht, ist abhängig von kulturellen und nos auf VHS und DVD versandet das Genre des Sexfilms. historischen Veränderungen und sagt immer auch etwas Vgl. SEXKOMÖDIE. phb über die in (heterosexuellen) Gesellschaftszusammenhän- gen kursierenden Vorstellungen, Vorurteile und Tabus Beispiele: aus. Das Spektrum ist ebenso schillernd wie breit: Puber- VIXEN (Russ Meyer, USA 1968) LIEBESGRÜSSE AUS DER LEDERHOSE (F. Marischka, BRD 1972) tärer KLAMAUK und schlüpfrige Altherrenphantasien EMMANUELLE (Just Jaeckin, F 1973) spielen den immer gleichen Motivkanon durch (ADOLES- ZENZ, SCHULE, INZEST u. ä.) oder geben vor, damit ihr Publikum aufklären zu wollen; frivole SEXKOMÖDIEN Sexkomödie. Spielart der KOMÖDIE, deren Hauptinter- mokieren sich über die Begehrlichkeiten und Ver- esse in den sexuellen Verstrickungen ihrer (fast immer strickungen ihrer Figuren; unaufgeregte CHARAKTER- heterosexuellen) Hauptfiguren besteht. Im Unterschied STUDIEN setzen sich mit den Bedingungen auseinander, zur ROMANTISCHEN KOMÖDIE geht es hier expliziter, unter denen Sexualität stattfindet; gesellschaftskritische frivoler zu und her, und anders als bei der SCREWBALL MILIEUSTUDIEN loten das Verhältnis zwischen Sexualität, COMEDY legt man keinen sonderlichen Wert auf Tempo- GEWALT und SEXUALDELIKTEN aus. Gelegentlich koket- reichtum, intelligenten Wortwitz und Gleichberechtigung tieren die Filme mit der Grenze zum PORNOGRAFISCHEN der Geschlechter. Doch bei aller Vordergründigkeit von FILM – und riskieren damit, zum ZENSURFALL zu werden SEXUALITÄT: Das Ziel der Sexkomödie besteht nicht – –, sei es, um mehr Publikum in die Säle zu locken, um wie beim PORNOGRAFISCHEN FILM und dem SOFTPOR- Sexualität unverkrampft und lustvoll zu thematisieren NO – in der körperlichen Stimulierung des Publikums. Es oder um die (männlichen) Konventionen der filmischen geht nicht um die (ohnehin nicht explizite) Darstellung Darstellung von Sexualität samt ihren gesellschaftlichen oder das Auskosten sexueller Handlungen, sondern da- Voraussetzungen zu thematisieren. rum, das Verhalten der Beteiligten lächerlich zu machen, Zur gleichgeschlechtlichen Sexualität vgl. HOMOSEXUA- sich über die Wünsche und Begehrlichkeiten des Publi- LITÄT; außerdem EROTIK, die impliziter, oft spielerischer kums zu mokieren oder eine PARODIE anderer Filme zu gelagert und mehr auf die Darstellung von Begehren und erreichen. SEXUALITÄT wird also mehr thematisiert als Verführung ausgerichtet ist. phb gezeigt – als omnipräsente und sämtliche Aktivitäten der Beispiele: Figuren bestimmende Größe. phb IL FIORE DELLE MILLE E UNA NOTTE (P. P. Pasolini, I/F 1974) AI NO CORRIDA (Nagisa Oshima, J/F 1976) Beispiele: UNE VRAIE JEUNE FILLE (Catherine Breillat, F 1976) HOW TO MARRY A MILLIONAIRE (Jean Negulesco, USA 1953) INTIMACY (Patrice Chéreau, F/GB/D/E 2000) PANE, AMORE E FANTASIA (Luigi Comencini, I 1953) PILLOW TALK (Michael Gordon, USA 1959) COMMENT FAIRE L'AMOUR... (J. W. Benoît, CDN/F 1989) Shakespeare. DRAMENVERFILMUNGEN von Shakes- peareschen Bühnenstücken und Stoffen sind nicht nur Sexualdelikt. Motiv in unterschiedlichen Genres. Die außerordentlich zahlreich, sondern rangieren auch auf al- Bandbreite reicht von sensationslüsternen Geschichten, len erdenklichen Genre-Ebenen – entsprechend unter- schiedlich ist die Nähe des einzelnen Films zum Original- 88 Glossar text. Die Palette reicht vom Hollywoodfilm bis zum Durchschnittsmenschen in Alltagssituationen basiert. Die Kunstkino, von THEATERAUFZEICHNUNGEN über Adap- Situationskomödie ist ihrem Wesen nach affirmativ, stellt tionen für den Film (mit oder ohne Originaldialoge) bis die herrschende Ordung nicht in Frage, wirft keine ernst- hin zu TRAVESTIEN – sei es in MELODRAMEN, ACTION- haften Probleme auf und orientiert sich am Bekannten. oder AUSSTATTUNGS- UND KOSTÜMFILMEN, in Aber gerade innerhalb dieser Grenzen entfaltet sie oft ITALOWESTERN oder KOMÖDIEN etc. phb eine schlüssige Beobachtungsgabe und einen irrationalen Witz. Wegen ihrer Konzentration aufs Detail und ihres Beispiele: OTHELLO (Orson Welles, I 1962) Verzichts auf grössere Konflikte entwirft sie selten eine A MIDSUMMER NIGHT'S (W. Allen, USA 1982) geschlossene Dramaturgie und eignet sich daher RAN (Akira Kurosawa, J 1985) besonders zur Fortsetzung. Gerade diese Eigenschaft hat die Situationskomödie für das FERNSEHEN so attraktiv gemacht, wo sie, zur Sitcom destilliert, im Vorabend- Sheriffwestern. Variante des WESTERN, deren zen- programm oder spät nachts häppchenweise serviert wird. trales Element der Wechsel des Blickpunkts vom Ban- phb diten auf seinen Widersacher, den Sheriff ist – der zuvor Beispiele: oft genug selbst Bandit war. Ähnlich wie der POLIZEI- THE ODD COUPLE (Gene Saks, USA 1967) FILM zeigt der Sheriffwestern, wie dünn die Grenze zwi- VESNICKO MÁ STREDISKOVÁ (Jirí Menzel, CSSR 1985) schen Gesetz und Illegalität ist. Oft wird die Geschichte CLERKS (Kevin Smith, USA 1993) vom aufrechten EINZELKÄMPFER erzählt, der sich mit den Verbrechern anlegt, auch wenn alle anderen Bürger des Orts ängstlich die Hilfe verweigern. Der Sheriff ist je- Sketch. Aus Theater, KABARETT und Variété stam- doch nicht nur die Kehrseite anderer (Verhaltens-) Mu- mende isolierte Szene von kurzer Dauer und mit humori- ster, sondern markiert auch den Fortschritt der Zivilisa- stischer Funktion, daher eine Minimalform von KOMÖDIE tion, das Zurückweichen und schließlich Verschwinden oder SATIRE. Typischerweise von geringem Komplexitäts- der FRONTIER: Anstelle der Wildnis beginnen law and grad, beschränkt sich der Sketch auf einen Schauplatz, order zu herrschen. phb eine Aktion und eine Dialogabfolge, außerdem auf eine oder zwei, selten mehr als vier Figuren. Diese sind dem Beispiele: Publikum in der Regel bekannt: durch Typenhaftigkeit, MY DARLING CLEMENTINE (John Ford, USA 1946) HIGH NOON (Fred Zinnemann, USA 1952) INTERTEXTUALITÄT oder leicht erkennbare Verschlüsse- EL DORADO (Howard Hawks, USA 1966) lung. Die charakteristische Ausprägung ist der «gespielte Witz», ein knapper Dialog und/oder eine mimisch- gestisch markante, eventuell durch SLAPSTICK-Elemente Shoah s. HOLOCAUST garnierte Handlung. Beides wird weniger ausgespielt als skizziert (sketch = Skizze, Entwurf). Dabei besteht die Herausforderung im möglichst sofortigen Erkennen von Singing Western. Auch singing cowboy picture oder Figuren und Situation zugunsten eines Höchstmaßes an horse opera bezeichnete Spielart des WESTERN, die sich komischer Überspitztheit – gleichgültig, ob der zugrun- vor allem in den 1930/40er Jahren bei einem ländlichen deliegende Humor zu trockener Lakonik oder unzimper- und neu in die (Groß-)Stadt gezogenen Publikum der licher Drastik tendiert. Fast immer ist der Sketch Bestand- Arbeiterklasse grosser Beliebtheit erfreute. Die Filme sind teil eines längeren Programms, sei es eine ganze Num- mit Gesangseinlagen durchsetzt und warten in der Art mernfolge von Sketches, sei es ein herkömmlicher Spiel- des MUSICALS mit Solos, epischen Chören oder aber film, in den ein einzelner Sketch eingelassen ist. phb distanzierenden kabarettistischen Liedkommentaren auf Beispiele: (auch wenn ein paar Songs im Saloon noch keinen DER THEATERBESUCH (Joe Stöckl, D 1934) Singing Western machen). Gleichzeitig verzichtet der DIE KARIERTE WESTE (Erich Engels, D 1936) Singing Western auf das formale Raffinement, die be- rauschende Opulenz und die große emotionale Geste, mit der das MUSCIAL seine Gesangs- und TANZ-Num- Skopophilie s. VOYEURISMUS mern ausstattet. Darsteller wie Gene Autry und Roy Rogers waren sozusagen auf den Singing Western abon- niert und brachten eine andere – keineswegs von allen Slapstick. Ein slapstick ist ursprünglich die Pistole des geschätzte – Facette von Männlichkeit in das Gesamt- Clowns, mit der er auf seine Kollegen einschlagen kann, genre WESTERN. phb ohne sie zu verletzten. Im Film ist er eine Variante der KOMÖDIE, die wesentlich auf pantomimischen, sehr Beispiele: CALIFORNIA (John Farrow, USA 1946) physischen Humor setzt, der auf anarchischem Witz mit CAT BALLOU (Elliot Silverstein, USA 1965) sadistisch-destruktiver Grundnote basiert: Verfolgungs- PAINT YOUR WAGON (Joshua Logan, USA 1969) jagden, Tortenschlachten, Tücke des Objekts, infantile Scherze, alles in frenetischem Tempo und grotesker Über- treibung. Die Protagonisten sind Kleinbürger, und typi- Sitcom s. SITUATIONSKOMÖDIE scherweise geht es um eine Gruppe von Menschen, meist eine Familie mit ihren Nachbarn, und ihr schichtspe- zifisches Verhalten und Denken. Gelegentlich sind sie Situationskomödie. Spielart der KOMÖDIE von gat- Opfer schlechter Zeiten, so dass die Filme zwischen ME- tungstypischer Harmlosigkeit, deren Biss jedoch im Detail LODRAMA oder GESELLSCHAFTSKRITIK anzusiedeln und stecken kann, da sie auf dem inadäquaten Verhalten von von humanitären Anliegen geprägt sind. Insgesamt hat Glossar 89 der Slapstick – weil er ohne verbalen Witz auskommt – mus der Sophisticated Comedy machte bald dem als seine Blüte im Stummfilm und kommt im Tonfilm eher amerikanischer, weil «demokratischer» empfundenen selten zur Geltung. Lebensgefühl der SCREWBALL COMEDY Platz. phb Vgl. dagegen den SKETCH, der als «gespielter Witz» in Beispiele: erster Linie ein dialogisches Kurzereignis ist, das allenfalls MADAM SATAN (Cecil B. DeMille, USA 1930) mit Slapstick-Elementen garniert ist. phb DESIGN FOR LIVING (Ernst Lubitsch, USA 1933) Beispiele: AFTER OFFICE HOURS (Robert Z. Leonard, USA 1935) THE CURE (Charles Chaplin, USA 1917) DESIRE (Frank Borzage, USA 1936) THE THREE MUST-GET-THERES (Max Linder, USA 1922) THE GENERAL (Buster Keaton, Clyde Bruckmann, USA 1926) UN CHAPEAU DE PAILLE D'ITALIE (René Clair, F 1927) Sozialistischer Realismus. Dogmatische Stilbewegung mit Totalitätsanspruch, die zu Beginn der 1930er Jahre als Reaktion auf den russischen und sowjetischen FOR- Slasher s. SPLATTER MALISMUS beginnt und 1953 mit Stalins Tod größten- teils endet. Dem «Intellektualismus» und der Ästheti- sierung der 1920er Jahre wird eine von der kommuni- Sleeper s. FLOP stischen Regierung kontrollierte, an ideologischer Ver- mittlung orientierte und allgemein verständliche, «rea- listische» Filmdramaturgie entgegengesetzt. Es geht um Slow motion s. TRICK Probleme der zeitgenössichen sozialen «Wirklichkeit», der Arbeit und des Klassenkampfs, des Aufbaus der neuen Gesellschaft und gelegentlich auch um didaktisch Softporno. Wie der PORNOGRAFISCHE FILM eine Spar- ergiebige, historische Themen. Die Geschichten werden te Film, die größtenteils über eine eigene Filmindustrie, in glatten und einfach konstruierten Fiktionen mit eigene Verleihsysteme und eigene Stars verfügt. Wie dort schemenhaften Plots dargeboten, deren typisierte Helden dominieren fragmentierende Groß- und Detailauf- wenig individuelle Züge aufweisen. Die meisten Filme nahmen, sind die ProtagonistInnen weitgehend anonym haben aufgrund ihrer ideologischen Einbindung eine und austauschbar, ist die Handlung auf ein Minimum re- idealisierende und optimistische Tendenz. Ihre Haupt- duziert (Figur A trifft Figur B). Die narrative Struktur folgt funktion liegt in der Regel in der Erziehung zu und Bil- dem Nummernprinzip von Aneinanderreihung und dung von sozialistischen Idealen. Dass der sozialistische Variation. Es geht nicht um das Erzählte, sondern um das Realismus zur Hauptsache in der Sowjetunion gepflegt Gezeigte, das die Funktion hat, das Publikum körperlich wird, schließt nicht aus, dass auch in anderen sozia- zu stimulieren. Anders als der PORNOGRAFISCHE FILM listischen Ländern entsprechende Filme entstehen. darf der Softporno in herkömmlichen Kinos und am Vgl. die den Sozialistischen Realismus ablösende Bewe- FERNSEHEN gezeigt werden unter der Bedingung, dass gung des TAUWETTERS. phb er auf expliziten hardcore (real vollzogene Sexualakte) Beispiele: verzichtet: indem er einschlägige Körperteile hinter TSCHAPAJEW (Sergej u. Georgij Wasiliew, SU 1934) knappen Gewändern versteckt oder die Kameralinse DETSTWO GORKOWO (Mark Donskoj, SU 1938) punktuell trübt. Damit verlagert sich das Gewicht auf MOI UNIVERSITETI (Mark Donskoj, SU 1940) erotische Fotografie, viel Suggestion sowie An- und Aus- kleideszenen, die die Fantasie anheizen sollen. Mit der Industrialisierung der Pornoindustrie hat sich die kosten- Spaghetti-Western s. ITALOWESTERN sparende Praxis eingebürgert, von Hardcorepornos gleichzeitig eine Softversion herzustellen – durch andere Kameraperspektiven und durch die Tilgung unerlaubter Spanischer Bürgerkrieg. Der spanische Bürgerkrieg Einstellungen am Schneidetisch, wobei die so ent- (1936–1939) ist Motiv zahlreicher WOCHENSCHAUEN standene Kürzung des Films durch den ausgiebigen Ein- sowie fiktionaler und dokumentarischer Filme: Links- satz von slow motion kompensiert wird. republikanische und sozialistische Überzeugungen, die Vgl. dagegen SEXFILM, SEXKOMÖDIE. phb von freiwilligen Kämpfern und Kämpferinnen aus ganz Beispiele: Europa mitgetragen werden, unterliegen in diesem z. Zt. keine KRIEG konservativen Bewegungen, die sich in einer spanischen Variante des FASCHISMUS äußern und von Hitlers Deutschland und Mussolinis Italien sowohl poli- Sophisticated comedy. Amerikanische Variante der tisch als auch militärisch unterstützt werden. Indem die KOMÖDIE in der relativ kurzen Zeitspanne der frühen Filme dieses ideologisch-historische Spannungsfeld ent- 1930er Jahre. Im Zentrum stehen GESELLSCHAFTS- falten (und dabei nahezu ausnahmslos für die KOMÖDIEN von exquisiter Eleganz, geschliffenen Dialo- sozialistische Seite Partei ergreifen), sind sie nur teilweise gen, gestylten Dekors und brillanter Schwarzweiß-Foto- dem Genre des KRIEGSFILMS oder allenfalls der KRIEGS- grafie. Schauplatz ist oft Europa, insbesondere Paris, und ROMANZE zuzuordnen. Stattdessen handelt es sich meist die Welt der ARISTOKRATIE. Entsprechend gehören But- um Gesellschaftspanoramen jenseits der Front, die aber ler und Zofen ebenso zum Inventar wie dandyhafte Hoch- mit vehementer GESELLSCHAFTS- oder SYSTEMKRITIK stapler mit Lebensart und ausgezeichneten Umgangs- aufwarten und zur AGITATION aufrufen. DOKUMENTAR- formen. Insgesamt stehen Reichtum und formale Opulenz FILME wiederum sind oft als KOMPILATIONSFILME kon- letztlich für den Glamour der Traumfabrik Hollywood zipiert, die mit historischem Filmmaterial arbeiten, oder selbst. Allerdings, der raffinierte und luxuriöse Eskapis- 90 Glossar als DOKUPORTRÄTS von VETERANEN, die für die Idee grafische TRICK-Techniken (solche, die mit und in der eines sozial gerechten Europa gekämpft haben. phb Kamera gemacht werden), zum anderen spezielle Mani- pulationen mit Elementen vor der Kamera (auch wenn Beispiele: THE SPANISH EARTH (Joris Ivens, USA 1937) diese normal filmt) wie die Modellaufnahme und die FOR WHOM THE BELL TOLLS (Sam Wood, USA 1943) ANIMATION von Figuren und Objekten. Im Com- LA GUERRE EST FINIE (Alain Resnais, F/S 1966) puterzeitalter und mit dem so genannten digital composi- ting bzw. der COMPUTERANIMATION übernimmt der Rechner immer mehr Funktionen der klassischen Special Später Stummfilm. Filme, die zeitgleich mit den FRÜ- Effects-Erfindungsgabe. uvk HEN TONFILMEN entstehen, aber aus ästhetischen Grün- Beispiele: den und trotz neuer technischer Möglichkeiten auf den METROPOLIS (Fritz Lang, D 1926) Ton, insbesondere den gesprochenen Dialog verzichten. KING KONG (E. B. Schoedsack, M. C. Cooper, USA 1933) Hinter dem Vorgehen steht ein tiefes Misstrauen gegen- THE HINDENBURG (Robert Wise, USA 1975) über der Sprache, die für das Verständnis eines Films vollkommen überflüssig sei und – so die zeitgenössische Argumentation – den ausgefeilten, auf Visualität und Spiele und Glücksspiele. Motiv, das vor allem in Musikalität ausgerichteten ästhetischen Strategien in die ABENTEUERFILMEN, Suchttragödien, KRIMINALFILMEN, Quere komme. Mehr noch: Dem Film würde durch den MELODRAMEN und ROADMOVIES abgehandelt wird. Einsatz der Sprache das so mühevoll erworbene Attribut Neben der eher altmodischen Form der Spielbank- der Kunst zwangsläufig wieder entzogen, da das Medium geschichten (à la Dostojewskij), die sich um einen Spiel- unweigerlich in jene Trivialität zurück kehren würde, aus süchtigen und dessen pathetischen Selbstmord drehen der es ursprünglich gekommen sei. Manche Regisseure (vgl. SUCHT UND DROGEN), gibt es amerikanische Po- verzichten noch einige Jahre ganz auf den Ton, andere ker- und Blackjack-Varianten, in denen UNTERWELT und gehen insofern einen Kompromiss ein, als sie die Tonspur Männerfreundschaft im Zentrum stehen, oder abenteuer- ausschließlich für die (jedoch ebenfalls einer hafte REISEN zu Berufspoolspielen oder Pferderennen. Stummfilmästhetik verpflichteten) Filmmusik verwenden. Die Figurenpalette reicht vom erbärmlichen Falschspieler Letztere sind als FRÜHE TONFILME einzustufen. phb über zwielichtige Syndikate bis zum Gauner-Liebespaar oder den Profis, die den grossen COUP auf das Casino Beispiele: UMARETE WA MITA KEREDO (Yasujiro Ozu, J 1932) planen. phb STSCHASTJE (Alexander Medwedkin, SU 1934) Beispiele: MODERN TIMES (Charles Chaplin, USA 1936) THE HUSTLER (Robert Rossen, USA 1961) HOUSE OF GAMES (David Mamet, USA 1988) CASINO (Martin Scorsese, USA 1995) Spätwestern. Zu einem Zeitpunkt gedrehter WESTERN, RIEN NE VA PLUS (Claude Chabrol, F/CH 1997) zu dem sich die Mythen und filmischen Formen altmodisch und verbraucht anfühlen und die bevorzugten Stars gealtert sind. Gerade diesen Sachverhalt the- Spionage. Motiv vor allem im Spielfilm, gelegentlich im matisieren die Spätwestern oft selbst (vgl. SELBST- DOKUMENTARFILM in Form von DOKU-DRAMEN. Im fik- REFLEXION), indem sie ihre Protagonisten müde Helden tionalen Film – vgl. auch den AGENTENTHRILLER – spie- spielen lassen, die in der modernen Welt nicht mehr zeit- gelt es oft die Angst vor dem unbekannten «Anderen», gemäß sind. Manche der Helden überleben, indem sie das das eigene Territorium zu überwältigen und be- sich im Zirkus ausstellen, andere bäumen sich ein letztes herrschen droht (wobei das Andere oft genug durch Mal auf und suchen dabei den TOD. phb Spioninnen verkörpert wird, die besonders heimtückisch agieren). Besondere Hochkonjunktur hat das Motiv in Beispiele: KRIEGS-Zeiten sowie in Phasen politischer Spannung: THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE (J. Ford, USA 1961) BUTCH CASSIDY AND THE … (George Roy Hill, USA 1968) während des NATIONALSOZIALISMUS, im KALTEN THE ELECTRIC HORSEMAN (Sydney Pollack, USA 1979) KRIEG, in jüngster Zeit vor allem unter dem Etikett des «Kampfs gegen den internationalen TERRORISMUS». Auch wenn die Methoden der Spione und Spioninnen in Special Effects. Spezialeffekte werden in der Filmarbeit der Regel dubios sind, so beziehen die meisten Filme eine immer dann eingesetzt, wenn zur Darstellung mehr eindeutige moralische Position: Gut sind die eigenen Elemente gefordert werden, als die vorfilmische phy- AGENTEN, böse dagegen diejenigen der Gegenseite; ent- sikalische Welt sie bietet. Spezialeffekte wie künstlicher sprechend einfache Feindbilder werden vermittelt. Neben Nebel, Pyrotechnik, Modellaufnahmen etc. und das diesen ernst gemeinten Entwürfen gibt es natürlich eine gesamte Arsenal von TRICKS helfen bei der Herstellung ganze Reihe von PARODIEN und SATIREN, die die der gesteigerten filmischen Illusion Produktionskosten zu entsprechenden Ängste und Überzeugungen aufs Korn sparen. Ihre Genese rührt historisch wesentlich von der nehmen: Tumbe Spione stolpern von einem Debakel ins Notwendigkeit her, die vorhandenen Produktionsmittel andere und überleben noch die haarsträubendsten Aktio- mit einem Höchstmass an Effizienz einzusetzen. Die nen. Oder aber bis zur Karikatur übersteigerte Topspione meisten von ihnen wurden aus den Studios heraus ent- retten als hyperelegante EINZELKÄMPFER mit makellosen wickelt, und das interne Wissen wurde von Generation Manieren die Welt sozusagen mit links. phb zu Generation weitergegeben. Spezialeffekte-Erfinder Beispiele: sind hauptsächlich Kameraleute, Fotografen, Maler und MATA HARI (George Fitzmaurice, USA 1931) Architekten. Die auf analogen Verfahren beruhenden CONFESSIONS OF A NAZI SPY (Anatole Litvak, USA 1939) optischen Effekte umfassen zum einen spezielle foto- AGENTINNEN IM SCHATTEN … (May B. Broda, CH 1993) Glossar 91

Splatter. Auch slasher oder gore film genanntes Genre. aufgeben zugunsten eines Lebens im urbanen Chaos der Hauptmotiv ist die Tötung und Zerstückelung menschli- modernen Großstadt. cher Körper, eine – oft nicht weiter begründete – Eskala- Anders verfährt das zeitgleiche und ebenfalls expres- tion von GEWALT zur reinen Mordlust und Blutorgie. sionistische KAMMERSPIEL, das im Unterschied zum Splatter sind typischerweise LOW-BUDGET Filme, und sie Straßenfilm auf psychologische Dramen setzt, die unter verfolgen meist eine «Nummerndramaturgie» ähnlich Wahrung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung fast dem PORNOGRAFISCHEN FILM (mit dem sie in mancher ausschließlich in wenigen Innenräumen spielen. Und: Der Hinsicht verwandt sind). Besondere Highlights ergeben Straßenfilm ist nicht zu verwechseln mit dem ROAD- sich aus erfinderischen Methoden des Schlachtens und MOVIE, in dem vorwiegend männliche Figuren eine REISE des kannibalistischen Umgangs mit den Leichen. Oft in Angriff nehmen, die zugleich Anlass für symbolische, bleibt eine weibliche Figur, das so genannte final girl, am psychische Reise ist, die in der Regel als erfolgreicher Leben, das sich besser zu wehren weiß als die übrigen Entwicklungsprozess gedeutet wird. phb unglücklichen Opfer. Splatter, von denen einige längst zu Beispiele: KULTFILMEN avanciert sind, sind in vielen Ländern ver- DIE FREUDLOSE GASSE (Georg Wilhelm Pabst, D 1925) boten (vgl. ZENSURFALL) und werden heutzutage vor- ASPHALT (Joe May, D 1929) wiegend als Videos konsumiert. Gelegentlich wird dem Genre eine – wenn auch in der Form äußerst zugespitze – SYSTEMKRITIK zugesprochen, die sich gegen die KRIEG Struktureller Film. Richtung des EXPERIMENTALFILMS führenden USA richtet (vgl. VIETNAMKRIEG). phb besonders während der 1960/70er Jahre in den USA. Die Beispiele: Filme folgen einem aus den Parametern des Mediums NIGHT OF THE LIVING DEAD (George A. Romero, USA 1968) oder der Drehsituation selbst gewonnen Konzept, ähnlich THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (Tobe Hooper, USA 1974) einem naturwissenschaftlichen Versuch. Die äußeren THE EVIL DEAD (Sam M. Raimi, USA 1982) Bedingungen des Experiments sind festgelegt, für das Publikum nachvollziehbar und von prozesshafter, «dra- matischer» Struktur. Zum Beispiel wird alle Sekunde ein Sport. Motiv im DOKUMENTAR- und Spielfilm. Während Einzelbild aufgenommen, während die Kamera sich vom im ersten Fall vor allem an DOKU-PORTRÄTS bekannter gefilmten Objekt entfernt, aber gleichzeitig auf es zu Sportlerinnen und Sportler zu denken ist, kommt das Mo- zoomt, so dass die verschiedenartigen Bildveränderungen tiv im Spielfilm in großer Bandbreite vor. durch räumliche Distanzierung und flächige Annäherung So kann es in MILIEUSTUDIEN um das soziale Prestige beobachtet werden können und das Ende des Films sich bestimmter Sportarten gehen, das mit dazu beiträgt, aus der maximalen Distanz oder Nähe zum Objekt ergibt. KLASSENVERHÄLTNISSE und damit eine GESELL- Im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Versuch ist SCHAFTS- oder SYSTEMKRITIK zu formulieren (Golf und das Ergebnis des strukturellen Films ein ästhetisches, Tennis als «reiche» Sportarten vs. Boxen und Marathon indem neben ausgeklügelten Vorgängen auch Bildkom- als «arme» Sportarten). CHARAKTERSTUDIEN und KAR- position, Rhythmus etc. eine Rolle spielen und das Kon- RIERESTORYS über Einzelfiguren stehen neben KONKUR- zept selbst spielerisch durchgeführt oder auch regelwidrig RENZKÄMPFEN zwischen KontrahentInnen und GRUP- durchbrochen werden kann. Häufig, aber keineswegs PENPORTRÄTS ganzer Mannschaften. Schließlich geht es immer, sind strukturelle Filme gleichzeitig MATERIAL- – im fiktionalen und im dokumentarischen Film gleicher- FILME. phb maßen – immer wieder um die Inszenierung von Körperlichkeit und damit um mehr oder weniger unter- Beispiele: WAVELENGTH (Michael Snow, USA 1966) schwellige (HOMO-)EROTIK. Dabei stehen kritische, oft NOSTALGIA (Hollis Framton, USA 1973) jüngere Herangehensweisen, die die Problematik der mo- TIDE (Heinz Emigholz, BRD 1974) dernen Sportindustrie fokussieren, neben meist älteren, die den sportlich ertüchtigten Körper unvoreingenommen als den gesunden, guten und schönen Körper schildern. Stummfilm ohne Titel. In der Phase der FRÜHEN phb KINEMATOGRAFIE entbehrten Filme sprachlicher Infor- Beispiele: mation, da sie durch einen Kinoerklärer kommentiert OLYMPIA (Leni Riefenstahl, D 1938) wurden. Dieser fungierte sowohl als Erzählinstanz als THE KILLERS (Robert Siodmak, USA 1946) auch als Stimme, die (fiktive) Dialoge hinzudichtete. Ende ROCCO E I SUOI FRATELLI (Luchino Visconti, I/F 1960) der 1910er Jahre begannen die Produktionsgesell- CHARIOTS OF FIRE (Hugh Hudson, GB 1981) schaften, Zwischentitel in das Filmband einzusetzen, ge- ONE DAY IN SEPTEMBER (Kevin Macdonald, CH/D/GB 1999) filmte Schrifttafeln, die Figurendialoge und Erzählerrede wiedergaben. Bei Exportfassungen konnten die Titel aus- getauscht und Übersetzungen der Originaltexte eingefügt Stadt s. CITY werden. In den 1920er Jahren forderte die europäische AVANTGARDE DER 1920ER angesichts zunehmender «Titelflut», dass alle Information idealtypisch rein visuell Strassenfilm. Der Begriff geht auf Siegfried Kracauer über das Filmbild vermittelt werden sollte. Die Forderung zurück und bezeichnet eine Gruppe von Filmen des nach dem «titellosen Film» resultierte aus der deutschen EXPRESSIONISMUS zwischen 1923 und 1930, Beobachtung, dass Zwischentitel den Fluss der Bilder und deren Gemeinsamkeit im Handlungsmuster liegt. Im die Totalität der filmischen Welt unterbrechen. Deshalb Zentrum stehen Figuren, die, angelockt durch die ver- wurden in der Inszenierung und optischen Auflösung botenen Attraktionen der Straße, die Sicherheit und besonders mimische und gestische Ausdrucksformen der stumpfe Monotonie ihrer (klein-)bürgerlichen Existenz Figuren fokussiert, um Stimmungen und Emotionen ohne 92 Glossar die Notwendigkeit sprachlicher Expression zu vermitteln. Rücksicht auf die massiven kulturellen Unterschiede Der «titellose Film» blieb allerdings in der Hochzeit des innerhalb Südostasiens. Darüber hinaus impliziert er die Stummfilms die Ausnahme, und für den Fall, dass die Existenz einer FREMDEN ERZÄHLTRADITION, die freilich titellosen Fassungen bei Kritik oder Publikum keinen nur aus westlicher Sicht und für ein westliches Publikum Anklang fänden, wurden auch getitelte Versionen fremd ist. Und: Schon das Etikett «südostasiatisch» ist oft hergestellt. uvk genug ein westliches, mit dem konsequenterweise auch nur jene südostasiatischen Filme bedacht werden, die im Beispiele: SKLAVENMARKT (anonym, A ca. 1910) Westen überhaupt zur Aufführung gelangen. phb DER LETZTE MANN (Friedrich Wilhelm Murnau, D 1924) Beispiele: MÉNILMONTANT (Dimitri Kirsanoff, F 1924/25) CYCLO (Tran Anh Hung, Vietnam/F 1994) SEGURISTA (Tikoy Aguiluz, Philippinen 1996) UN SOIR APRÈS LA GUERRE (Rithy Panh, Kambodscha 1998) Subkultur. Eine von der Gesamtkultur einer Gesellschaft unterscheidbare Teil- oder Eigenkultur. Eine Subkultur ist nicht Teil des mehrheitsfähigen und daher herrschenden Südstaaten (USA). Motiv und Schauplatz samt seiner kulturellen Kanons, sondern läuft diesem oft genug kulturellen Besonderheiten. Zum prototypischen Inventar zuwider und sucht – nicht selten aus einer sozialen Rand- der einschlägigen Filme – die oft im Gewand von AUS- ständigkeit heraus – nach kulturellen Alternativen. In die- STATTUNGS- UND KOSTÜMFILMEN daher kommen – sem Sinn ist einer Subkultur immer auch eine (kultur- gehören Patriarchen, die über weiße aristokratische und/oder sozial-) politische Dimension eingeschrieben. Großfamilien und schwarze Dienstboten (oder SklavIn- Der Begriff kann für den dokumentarischen, experimen- nen) herrschen, aber auch gesellschaftskritische Ausein- tellen und fiktionalen Film gelten. In allen Bereichen andersetzungen um ein reaktionäres POLITISCHES KLIMA kann er entweder ein Motiv bezeichnen (das häufig und RASSISMUS, Ku-Klux-Klan und KORRUPTION etc. klischeebeladen inszeniert wird). Oder aber es meint das sowie schwüle Nächte und in der Regel viel Alkohol. phb subkulturelle Gefüge, aus dem heraus ein Film entsteht, Beispiele: dessen Thema zwar oft, aber nicht zwangsläufig die THE BIRTH OF A NATION (D.W. Griffith, USA 1915) jeweilige Subkultur ist. phb CABIN IN THE COTTON (Michael Curtiz, USA 1932) Beispiele: CAT ON A HOT TIN ROOF (Richard Brooks, USA 1958) FREAKS (Tod Browning, USA 1932) MISSISSIPPI BURNING (Alan Parker, USA 1988) SCORPIO RISING (Kenneth Anger, USA 1964) MIDNIGHT COWBOY (John Schlesinger, USA 1969) SUBWAY (Luc Besson, F 1985) Surrealismus. Stilbewegung (nicht nur im Film, sondern AFFENGEIL ... (Rosa von Praunheim, BRD 1990) vor allem auch in MALEREI und Literatur), die der fran- zösischen AVANTGARDE DER 1920ER zuzurechnen ist und deren Kennzeichen das Irrationale und Unbewusste, Sucht und Drogen. Motiv, das häufig als das Phantastische und TRAUM-Artige, aber auch Erotis- GESELLSCHAFTSKRITIK, manchmal im SEMIDOKUMEN- mus (vgl. AMOUR FOU), absurder Humor, Re- TARFILM, oft aber im MELODRAM daher kommt. In der spektlosigkeit und Grausamkeit, sowie generell eine ge- Regel steht die Psychologie der süchtigen Figur im spenstische Verfremdung der Realität sind. Grenzüber- Vordergrund. Das Motiv eignet sich zu innovativen, sur- schreitungen sind ebenso Teil des surrealistischen Kon- realen Darstellung psychischer Ausnahmezustände wie zepts wie die reibungsvolle Konfrontation von eigentlich Delirien, Halluzinationen und Horrortrips, die – für die nicht zusammengehörigen Elementen. Gerade die Fähig- Dauer der Rauschsequenz – bis in die Domäme des EX- keit des Kinos, Raum und Zeit nahezu frei zu gestalten, PERIMENTALFILMS vorstossen oder aber zur Drogen- kommt all diesen Bedürfnissen entgegen. Anders als die EXPLOITATION verkommen. Diese Sequenzen können in zeitlich etwas frühere Dada-Bewegung, die das Er- ihrer formal-ästehtischen Gestaltung mehr oder weniger zählerische weitgehend ausblendet und vor allem auf das weit über die herkömmlichen Erzählweisen des narrativen Formale setzt, bleibt der Surrealismus im Kern narrativ. Mainstream-Films hinausgehen (und sind gerade darin Außerdem hat er einen manifest politischen, vehement den filmischen TRAUM-Darstellungen verwandt). anti-bourgeoisen Anspruch, mit dem man sich bewusst Vgl. die Variante SPIELE UND GLÜCKSSPIELE. phb gegen die kulturelle und soziale Ordnung des Bürgertums Beispiele: richtet. phb THE MAN WITH THE GOLDEN ARM (O. Preminger, USA 1955) Beispiele: EASY RIDER (Dennis Hopper, USA 1969) BALLET MÉCANIQUE (Fernand Léger, F 1923) TRAIN SPOTTING (Danny Boyle, GB 1996) UN CHIEN ANDALOU (Luis Buñuel, Salvador Dalí, F 1929) DE FÖGI ESCH EN SOUHOND (Marcel Gisler, CH/F 1998) LE SANG D'UN POÈTE (Jean Cocteau, F 1930) ZÉRO DE CONDUITE (Jean Vigo, F 1933)

Südostasiatisches Kino. Der Begriff bezieht sich allein auf die geografische Zuordnung zu einer Weltregion und Systemkritik. Motiv in allen Filmgattungen. Im Zentrum schließt Produktion des südostasiatischen Festlands steht die Kritik an einem politischen, ökonomischen oder (Birma/Myanmar, Thailand, Laos, Vietnam, Kambodscha, kulturellen System und an den daraus für das Individuum Malaysia, Singapur) sowie der entsprechenden Inseln erwachsenden negativen Konsequenzen. Meist jedoch (Indonesien, Philippinen, Brunei, Osttimor) ein. Der werden politische Systeme kritisiert (vgl. ANTIFASCHIS- Begriff dient als grobmaschiges Ordnungskriterium, ist MUS, ANTIKOMMUNISMUS, APARTHEID, FASCHISMUS, bewusst verallgemeinernd und unscharf und nimmt keine NATIONALSOZIALISMUS, PERESTROJKA, TAUWETTER), Glossar 93 was die Kritik selber ebenfalls politisch (und meist auch spätere Spielfilm in verschiedener Weise auf: In MUSI- moralisch) werden lässt. Nicht immer wird explizit vor- CALS, REVUE- und TANZFILMEN wird er zum konstituti- gegangen: Je nach dem, welchen politischen Bedingun- ven Strukturprinzip. In anderen fiktionalen Genres wird er gen die Filmproduktion unterworfen ist (vgl. ZENSUR- zum Motiv, dessen zentrales Merkmal ist, dass er – ähn- FALL), formulieren die Filme ihre Kritik implizit in PARA- lich wie das Musizieren im Film – den Fortgang der Er- BELN und ALEGORIEN, die als DYSTOPIEN oder END- zählung sistiert. Er liefert kaum Informationen auf narra- ZEITVISIONEN enden. Andere entscheiden sich für größt- tiver Ebene, sondern bedient in erster Linie die visuellen mögliche Direktheit und klagen in bitteren MILIEUSTU- – und durch die MUSIK auch akustischen – Bedürfnisse DIEN die herrschenden Zustände an. Manche wiederum des Publikums. Dabei wird die Vielfalt historischer und kommen als beißende SATIRE, derbe PARODIE oder gegenwärtiger Tanzstile durch unterschiedliche Arten der beklemmende GROTESKE daher. Mise-en-scène ergänzt: die Skala reicht vom bloßen oder Zur Kritik am sozialen System der Gesellschaft vgl. die gar lieblosen Registrieren des Tanzes bis zur spekta- GESELLSCHAFTSKRITIK. phb kulären Inszenierung atemberaubender Choreografien. Aber der Tanz gibt auch Auskunft über die Figuren und Beispiele: NINOTCHKA (Ernst Lubitsch, USA 1939) ihre soziale oder emotionale Beziehung zueinander (etwa L'AVEU (Constantin Costa-Gavras, F/I 1969) im Topos des Liebespaars, das sich in vollkommener Har- LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE (L. Buñuel, F 1972) monie bewegt). Zugleich bringt er die Grenze zwischen MALENKAJA WERA (Wasilij Picul, SU 1988) Rolle und Darsteller ins Fließen, da die tänzerische Ausdruckskraft nicht nur Teil der Rolle ist, sondern auch vom Talent der SchauspielerInnen abhängt. phb Beispiele: T ALADIN OU LA LAMPE MERVEILLEUSE (Prod.: Pathé, F 1906) LOVES OF ISADORA (Karel Reisz, GB 1968) ANITA: TÄNZE DES LASTERS (Rosa von Praunheim, BRD 1987) Tagebuchverfilmung. Verfilmung eines realen oder LE ROI DANSE (Gérard Corbiau, F 2000) fiktiven Tagebuchs, im zweiten Fall also eine Variante der LITERATURVERFILMUNG. Bei der filmischen Umsetzung sind zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder wird der Akt Tanzfilm. Genre, das auf der Affinität des Films zum des Tagebuchschreibens explizit dargestellt und das, was TANZ aufbaut, der den menschlichen Körper – seit je notiert wird, in einer RÜCKBLENDENSTRUKTUR erzählt. privilegiertes Objekt der Kamera – und das filmische Oder aber das Schreiben wird ausgeblendet und die Moment der Bewegung in sich vereint. Nach vereinzelten Tagebuchpassagen in eine VOICE-OVER verlegt, so dass Vorläufern setzt in den 1970er und 1980er Jahren eine der Film als ICHERZÄHLUNG daher kommt und als Welle von Tanzfilmen ein. Sie löst das MUSICAL und den Tagebuchverfilmung gar nicht mehr erkennbar ist. Ver- REVUEFILM ab, verzichtet auf deren Gesangseinlagen filmungen realer Tagebuchvorlagen sind oft ein beson- und konzentriert sich ganz auf den Tanz. Die strukturelle derer Mix aus AUTOBIOGRAFIE und CHARAKTERSTUDIE, Verwandtschaft bleibt jedoch bestehen: Auch der außerdem finden sich Abstecher in den EXPERIMEN- Tanzfilm folgt einem Nummernprinzip, wobei Handlung TALFILM. Dabei wird den Büchern selbst meist ein und Tanz unterschiedlich ineinander verschänkt sind. Sei Höchstmaß an Authentizität und Intimität zugeschrieben, es, dass Narration und Tanz (wie im BACKSTAGE- außerdem gelten sie als Ort, an dem Verruchtes, aber MUSICAL) voneinander separiert sind, sei es, dass beide auch Geständnisse und die inneren Abgründe einer Elemente nahtlos ineinander übergehen oder sich die Person zum Vorschein kommen. Dabei wird oft ver- Handlung aus dem Tanz heraus ergibt. Die Tanznummern gessen, dass Tagebücher nicht per se für Authentizität selber sistieren meist den Verlauf der Handlung und garantieren, sondern im Gegenteil eine schriftliche bedienen ganz die visuellen und – dank der MUSIK – Selbstinszenierung ermöglichen, die mehr oder weniger akustischen Bedürfnisse des Publikums. Und wie bei den nah an die Realität herankommen kann: In Tagebüchern Gesangsnummern des Musicals muss sich die Insze- steht nicht nur, wie man ist, sondern auch, wie man sein nierung der Tanznummern nicht an die Grenzen des möchte; nicht nur, was man tut, sondern auch, was man psychologisch-realistischen Spielfilms halten: Stattdessen will etc. Insofern geben sie weniger Auskunft über den kann und soll sie sich die Freiheit zu berauschender Istzustand einer Person, dafür umso mehr über deren Opulenz und atemberaubendem Spektakel nehmen, was subjektive Vorstellungswelten, die zugleich kulturell und sich nicht zuletzt (und im Unterschied zum Musical) in historisch bedingt sind. phb rasanteren Schnittfrequenzen und einer Tendenz zur Beispiele: Fragmentierung des tanzenden Körpers äußert. TAGEBUCH EINER VERLORENEN (G. W. Pabst, D 1929) Vgl. den zeitgleich entstehenden VIDEOCLIP, der sich DÉSIRÉE (Henry Koster, USA 1954) einer ähnlichen Formensprache bedient wie der Tanzfilm. MAX FRISCH – JOURNAL I–III (R. Dindo, CH/BRD/A 1978) phb Beispiele: THE RED SHOES (Michael Powell, Emeric Pressburger, GB 1948) Tanz. Seit Beginn der Filmgeschichte hat das Medium FLASHDANCE (Adrian Lyne, USA 1983) eine besondere Affinität zum Tanz – wohl deshalb, weil STRICTLY BALLROOM (Baz Luhrman, AUS 1991) sich darin zwei Wesensmerkmale des Films vereinigen: der menschliche Körper als seit je privilegiertes Objekt der Kamera und die Bewegung. (Hinzuzufügen ist freilich Täterin. Figur im Spielfilm. Insgesamt kommen Täterin- die latente EROTIK des tanzenden Körpers.) Während der nen nicht nur seltener vor als ihre männlichen Kollegen, Tanz in der FRÜHEN KINEMATOGRAFIE – etwa in FEE- sie werden auch anders behandelt. Beides hat mit her- RIEN – eine eigenständige Attraktion ist, nimmt ihn der kömmlichen Geschlechtervorstellungen zu tun und sagt 94 Glossar viel aus über die zur Produktionszeit eines Films viru- breite an Genres ist groß und reicht von schnulzigen lenten Normvorstellungen bezüglich weiblicher und TANZFILMEN mit Happy-End über triefende MELO- und männlicher Täterschaft. Filmische Täterinnen sind grund- FAMILIENDRAMEN bis hin zu abgeklärten MILIEUSTU- sätzlich die Ausnahme, zudem gehen sie anders vor als DIEN. Auch inhaltlich verfahren die Filme unterschiedlich: Täter, wählen meist andere, so genannt «weibliche» Erzählt werden hoch emotionale LIEBES- und LEIDENS- Methoden und Waffen (Gift als klassisch «weibliches» GESCHICHTEN, in denen es um die Qualen von ADO- Mordinstrument) und leiden öfter an ihren eigenen Taten LESZENZ und Pubertät geht, um mehr oder weniger als ihre Kollegen. Die Taten der Filmfrauen sind stiller, Schönfärberisches über das Erleben der eigenen (HOMO-) aber auch intuitiver und emotionaler (sprich: SEXUALITÄT, aber auch illusionslose Geschichten über unkontrollierbarer), außerdehm fehlt ihnen oft die kalt- belastete GENERATIONENBEZIEHUNGEN und Perspekti- blütige und/oder von langer Hand vorbereitete Präzision venlosigkeit in TRABANTENSTÄDTEN, über INITIATIO- der Männer. Wenn sie es dennoch einmal den Männern NEN, JUGENDKRIMINALITÄT und natürlich immer wieder gleichtun, dann gilt das oft als viel erschreckender, da die INSTITUTION der SCHULE. Meist sind Jugendliche die ihre Verfehlungen als weitaus gröber empfunden werden Haupt- und Identifikationsfiguren (anders als im KINDER- (weil sie letztlich das «Frausein an sich» betreffen) als KINO, das längst nicht nur mit KINDLICHEN PROTA- diejenigen der Männer (denen man den PATHOLOGI- GONISTEN arbeitet); allerdings ist nicht jeder Film mit SCHEN KILLER oder die MENSCHLICHE BESTIE sowie SE- jugendlichen Hauptfiguren als Teenagerkino einzustufen. RIENMORD, SEXUALDELIKT und GEWALT kommentarlos Vgl. KINDER- und FAMILIENKINO, die beide ebenfalls zutraut). Entsprechend drastisch werden die Täterinnen über ihr Zielpublikum definiert sind. phb von ihren (männlichen) Richtern bestraft – und entspre- Beispiele: chend reißerisch manchmal bis zur EXPLOITATION nei- REBEL WITHOUT A CAUSE (Nicholas Ray, USA 1955) genden Inszenierungen. CHARAKTERSTUDIEN, die einen GREASE (Randal Kleiser, USA 1978) realitätsnahen Zugang versuchen, sind dagegen die Aus- ABSOLUTE GIGANTEN (Sebastian Schipper, D 1999) nahme. phb Beispiele: BLACK WIDOW (Bob Rafelson, USA 1987) Telefoni bianchi. Weniger eine Stilrichtung, mehr eine THELMA & LOUISE (Ridley Scott, USA 1991) Filmtradition im italienischen FASCHISTISCHEN FILM, die MÖRDERINNEN (Pepe Danquart, D 2000) in den 1930er und frühen 1940er Jahren wirksam ist und dem NEOREALISMUS unmittelbar vorausgeht. Stilistisch einigermaßen heterogen, zeichnen sich die Telefoni bian- Tauwetter. Bezeichnung für die Umbruchzeit und das chi durch inhaltliche Gemeinsamkeiten aus: Es dominiert POLITISCHE KLIMA in der Sowjetunion zwischen die GESELLSCHAFTSKOMÖDIE, in der es in einer Atmos- 1956–1968, die damit beginnt, dass Chruschtschow die phäre allgemeinen Überflusses um luxuriöse Interieurs, Herrschaft von Stalin († 1953) öffentlich eine Epoche des seidene Wäsche, weiße Telefone und den mondänen Massenterrors und der Geschichtsfälschung nennt. Eine Chic von Grand-Hotels geht. Die konsequente Ausblen- (widerspruchsvolle) Phase der Entstalinisierung, des dung des realen Alltags im faschistischen Italien brachte (allenfalls punktuell eingelösten) Versprechens auf Mei- diesen Filmen den massiven Vorwurf des Eskapismus ein, nungsfreiheit und der (zaghaften) Lockerung ideo- und der Begriff telefoni bianchi galt kritischen Zeit- logischer Restriktionen setzt auf politischer, ökonomi- genossen als Schimpfwort. scher, intellektueller und künstlerischer Ebene ein. Das Anders als die Telefoni bianchi zeichnet sich der zeit- sowjetische Kino reagiert mit einer raschen Verviel- gleiche CALLIGRAFISMO durch die Bevorzugung von ME- fachung in Produktion und Verleih. Eine junge Genera- LODRAMEN auf der Grundlage historisch-literarischer tion von Filmemachern experimentiert mit neuen Inhalten Stoffe aus sowie durch ästhetisch aufwändigere und an- und ästhetischen Möglichkeiten und kehrt dem unter spruchsvollere Bildkompositionen. phb Stalin verordneten SOZIALISTISCHEN REALISMUS den Beispiele: Rücken zu. Vor allem geht es darum, das entstellte histo- LA CONTESSA DI PARMA (Alessandro Blasetti, I 1937) rische Gedächtnis der Gesellschaft wieder herzustellen. TERESA VENERDÌ (Vittorio De Sica, I 1942) Im Westen stoßen die Filme auf großes Interesse, werden als Alternative zu Hollywood gefeiert und gewinnen in Cannes, Venedig und Locarno Hauptpreise. Die neue Terrorismus. Motiv im fiktionalen und dokumentari- Kulturpolitik bleibt jedoch unschlüssig, nach Chrusch- schen Film. Der Begriff bezeichnet Formen politisch mo- tschows Absetzung 1964 werden Filme vermehrt wieder tivierter Anwendung von GEWALT durch extremistische zu ZENSURFÄLLEN, und mit dem Einmarsch von Truppen und revolutinäre Einzelpersonen und Gruppen: Sei es, des Warschauer Paktes in Prag 1968 friert das Tauwetter dass gezielte Schläge eine REVOLUTION oder staatliche endgültig wieder ein. phb Unabhängigkeit erschaffen sollen (IRA, RAF, PLO etc.), Beispiele: sei es, dass ein Staatsapparat den Terror toleriert oder LETJAT SCHURAWLI (Michail Kalatosow, SU 1957) verordnet (FRANZÖSISCHE REVOLUTION, NATIONAL- BALLADA O SOLDATJE (Grigori Tschuchrai, SU 1959) SOZIALISMUS). Im Spielfilm tritt das Motiv in (POLIT-) IWANOWO DETSTWO (Andrej Tarkowskij, SU 1962) THRILLERN sowie ABENTEUER- und ACTIONFILMEN auf, in denen es um die Ausführung eines terroristischen COUPS geht, um den heroischen EINZELKÄMPFER (der Teenagerkino. Ein Kino, das sich spezifisch an das Ziel- die Welt vor bösen Terroristen rettet) oder um die Ins- publikum von Teenagern richtet und inhaltlich wie formal zenierung eines AUTHENTISCHEN FALLS. Realistischere eine spezifisch «jugendliche» Optik berücksichtigt (oder Filme suchen nach den Gründen, die zu Terrorismus zumindest einen solchen Anspruch erhebt). Die Spann- führen – oft ein spezifisches POLITISCHES KLIMA –, und Glossar 95 formulieren ein mitunter massives Maß an SYSTEM- weniger klischierte) BERUFSWELT des Theaters und die KRITIK. Im dokumentarischen Bereich sind DOKUPORT- dazugehörigen Figuren – vom schrulligen Bühnenarbeiter RÄTS einzelner TerroristInnen zu verzeichnen (Ulrike über die exzentrische KÜNSTLERGESTALT bis zur Meinhof, Carlos etc.) oder aber der Versuch, berüchtigte hysterischen DIVA. Die Grundsituation bietet Gelegen- Anschläge in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu heit, sie alle im Privat- und Berufsleben, bei Proben und stellen. Seit dem 11. September 2001 hat der Begriff Premieren zu zeigen und sie in unzimperliche INTRIGEN- drastische Veränderungen erfahren: Die Frequenz seiner SPIELE, gefühlsintensive KONKURRENZKÄMPFE oder Verwendung ist sprunghaft angestiegen; gleichzeitig hat wundersame KARRIERESTORYS zu verwickeln. Außerdem sich das, worauf er verweist, um die Dimension des werden LIEBESGESCHICHTEN zwischen Theaterleuten Religiösen erweitert (während die bisherige Breite an und ZuschauerInnen erzählt oder Konflikte zwischen Bo- Inhaltsaspekten erheblich geschmälert wurde), so dass hème und Bürgertum geschildert. Darüber hinaus bietet «Terrorismus» nun in erster Linie einen Terrorismus isla- die ARCHITEKTUR des Theaters mit Bühne, Orchester- mistischer Provenienz bezeichnet, der sich gegen die USA graben, Logen, Schnürboden, Garderoben etc. eine wendet. phb komfortable Anzahl verschiedener Schauplätze. Schließ- lich können die auf der Bühne aufgeführten Stücke in Beispiele: BHOWANI JUNCTION (George Cukor, USA 1956) sinnträchtige Beziehung zur eigentlichen Filmhandlung DEUTSCHLAND IM HERBST (R. W. Fassbinder et al., BRD 1977) gesetzt werden, wobei nicht selten eine SELBST- IL CASO MORO (Giuseppe Ferrara, I 1986) REFLEXION entsteht. DIE HARD (John McTiernan, USA 1988) Vgl. das KABARETT, außerdem das BACKSTAGE-MUSI- CAL, das immer schon im Theatermilieu spielt, sowie die THEATERAUFZEICHNUNG, die als Mitschnitt einer Büh- Teufelsaustreibung. Motiv im fiktionalen Film, beson- neninszenierung nicht am Milieu des Theaters interessiert ders häufig im Verbund mit den Motiven ÜBERSINNLI- ist. phb CHER HORROR sowie RELIGION und Aberglauben. Ty- Beispiele: pischerweise geht es um unerklärliche, normüber- ALL ABOUT EVE (Joseph L. Mankiewicz, USA 1950) schreitende Phänomene, sei es harmloser Art (selbsttäti- LE DERNIER MÉTRO (François Truffaut, F 1980) ges Tischerücken, unheimliche Geräusche auf dem Dach- LE ROI DANSE (Gérard Corbiau, F 2000) boden) oder entsetzlicher Art (Persönlichkeitsveränderun- gen, Satanismus, Wahnsinn, Schwarze Messen, Ritual- oder BEZIEHUNGS- UND FAMILIENMORDE). Fanatische Thesenfilm. Genre im fiktionalen Film, dessen Hand- Priester gelangen zur Überzeugung, dass der Leibhaftige lung in erster Linie zur Illustration einer zentralen These von diesen Figuren Besitz ergriffen hat (auffallend oft dient, die in der Regel den Zweck der GESELLSCHAFTS- sind es KINDLICHE PROTAGONISTEN oder Frauen) und oder SYSTEMKRITIK verfolgt (und insofern einen also ausgetrieben werden muss – mit Mitteln, die oft politischen Impetus hat). Es geht darum, in expliziter genauso entsetzlich sind. Wie schon bei der Figur der Weise für oder gegen etwas Stellung zu nehmen: gegen HEXE geht es auch hier oft um als abwegig emfpundene die Diskriminierung von Minderheiten, gegen Militaris- Formen weiblicher SEXUALITÄT, deren Opfer «geheilt» mus, für die Rehabilitation von Straffälligen etc. Im Un- werden müssen. phb terschied zum herkömmlichen Erzählkino mischen viele Beispiele: Thesenfilme dokumentarisches mit fiktionalem Material THE DEVILS (Ken Russell, GB 1970) oder arbeiten mit direkter Adressierung des Publikums. THE EXORCIST (William Friedkin, USA 1973) Doch selbst wenn sie von solchen Mitteln absehen, zeich- THE WITCHES OF EASTWICK (George Miller, USA 1987) nen sie sich durch eine argumentative Aufbereitung der Handlung aus: Handlungsalternativen werden paralleli- stisch dargestellt; die Konsequenzen, die sich aus ver- Theateraufzeichnung. Abgefilmte Theateraufführung, schiedenen Maßnahmen ergeben, werden ausdiskutiert; die – wenn überhaupt – dokumentarisch oder ästhetisie- auf eine psychologisch ausdifferenzierte Anlage der Figu- rend aufbereitet ist, um sie, analog zur KONZERTAUF- ren wird oft verzichtet. Es entspricht dem Ziel des The- ZEICHNUNG und zu manchen (aber längst nicht allen) senfilms, dass er seine Anliegen deutlich formuliert und OPERNVERFILMUNGEN, für die Nachwelt zu erhalten. Im daher viel Wert auf Transparenz und Unmissver- Mittelpunkt steht weniger das Medium Film, sondern ständlichkeit legt – was ihn für plakative Tendenzen an- vielmehr die benachbarte Kunstform des Theaters. fällig macht. phb Vgl. dagegen die DRAMENVERFILMUNG, die keine Büh- Beispiele: neninszenierung abfilmt, sondern – basierend auf der ICH KLAGE AN (Wolfgang Liebeneiner, D 1941) Vorlage eines Dramas – eine mit spezifisch filmischen I WANT TO LIVE! (Robert Wise, USA 1958) Mitteln gestaltete Neukonzeption anstrebt. phb NICHT DER HOMOSEXUELLE … (R. von Praunheim, BRD 1970) BORN ON THE FOURTH OF JULY (Oliver Stone, USA 1989) Beispiele: FAUST (Peter Gorski, BRD 1960) LES NENUPHARS (Michel Soutter, CH 1971) DE TOD UF EM ÖPFELBAUM (Joseph Scheidegger, CH 1966) Third Cinema. Der Begriff stammt von lateinameri- kanischen Filmemachern, wurde in Afrika und Asien übernommen und bezeichnet das Programm eines Kinos, Theatermilieu. Zahlreiche Spielfilme machen sich das das sich in den 1960er und 1970er Jahre bewusst gegen schillernde Motiv des typischerweise aufgeheizten und das first und das second cinema (Hollywood resp. das spektakulären Theatermilieus zu Nutze und ziehen da- europäische Art Cinema) richtet. Gefordert wird ein ma- raus mehrere Vorteile: Im Zentrum steht die (mehr oder nifest linkspolitisches Kino, dem SYSTEM- und GESELL- 96 Glossar

SCHAFTSKRITIK immer schon eingeschrieben sind. In und Weise, wie das «Andere» (das Tier) inszeniert wird, ARBEITERFILMEN werden die dramatischen KLASSEN- immer auch etwas über denjenigen aus, der inszeniert: VERHÄLTNISSE angeklagt, und entsprechend stehen die über den Menschen oder besser über das Konzept Massen im Blickpunkt. Das Private, dem der Beige- «Mensch». Während in der ersten Hälfte des 20. schmack des Bourgeoisen anhaftet, tritt gegenüber den Jahrhunderts das filmische Tier Arbeitskraft, Beute oder Zielen der Gesellschaft in den Hintergrund, und Indivi- bestenfalls Spielgefährte ist, verändert sich der Diskurs duen stehen oft nur dann im Zentrum, wenn sie in seit den Sechzigerjahren: Im Zentrum steht nicht mehr PARABLEN und ALLEGORIEN für die Idee der Massen seine Nutzbarkeit, sondern seine Schutzbedürftigkeit (vor stehen. Der traumatischen Erfahrung des KOLONIALIS- dem Menschen) und seine Rettung vor dem Aussterben. MUS und dem damit einhergehenden fundamentalen In jüngster Zeit erlebt der Tierfilm eine ungeheure Verlust kultureller Eigenständigkeit stellen die Filme die Konjunktur: Unter Zuhilfenahme von COMPUTERANIMA- tiefe Sehnsucht nach einem oft romantisierten, als heil TION aufwändig produziert, wird er zur prime time am und genuin gedachten status quo ante gegenüber. Die FERNSEHEN ausgestrahlt, liefert dramaturgisch packende Filmemacher setzen bewusst auf eine Ästhetik des Erzählungen über das Mammut in der PRÄHISTORIE oder Mangels und der Rauhheit und wehren sich damit, den Flug der Wildgänse und erzielt damit sagenhafte ähnlich wie zuvor das CINEMA NÔVO, gegen die kapi- Einschaltquoten. phb talistische Hegemonie des aufwändig-luxuriösen first Beispiele: cinema. phb RESCUED BY ROVER (C. Hepworth, L. Fitzhamon, USA 1904) Beispiele: THE LIVING DESERT (James Algar, USA 1953) LA HORA DE LOS HORNOS (F. Solanas, Argentinien 1968) SERENGETI DARF NICHT … (B. u. M. Grzimek, BRD 1972) DE CIERTA MANERA (Sara Gómez Yera, Kuba 1970) DINOSAUR (Ralph Zondag, Eric Leighton, USA 2002) XALA (Ousmane Sembene, Senegal 1974)

Tod. Motiv in allen Filmgattungen. Auch wenn im Spiel- Thriller. Ein vergleichsweise offenes Genre, das weniger film viel gestorben wird, so liegt der Akzent in aller Regel über eine bestimmte Figurentypik oder thematische auf den Geschehnissen, die zum Tod führen und weniger Festlegungen definiert ist als über das Merkmal des auf dem Tod selber. Ohnehin ist der gute Tod meist thrills, einem hoch wirksamen Mix aus Nervenkitzel und schnell und sauber (in nahezu allen Genres), oder aber er Spannung, der das Publikum bis hin zur Erzeugung wird in einer Rhetorik des schockierenden Übertreibens phyischer Reaktionen erfasst. Dies geschieht durch eine zelebriert (vor allem in GROTESKEN und in Verbindung weitgehend undistanzierte und hautnahe Inszenierung mit SCHWARZEM HUMOR). Selbst Spielfilme mit realis- von Angst und Suspense. Hinzu kommt eine starke tischem Anspruch dosieren Inszenierungen des Sterbens Identifikation mit der Hauptfigur, die nicht als HeldIn, mit großer Vorsicht; häufiger greifen sie stattdessen zu sondern als NormalbürgerIn daher kommt. Für die sie distanzwahrenden Erzählformen wie PARABEL und erwartenden Ereignisse ist diese Figur oft durch keinerlei ALLEGORIE. Dagegen scheinen die Bereiche ESSAY-, EX- professionelle Ausbildung vorbereitet. Immer wieder PERIMENTAL- und DOKUMENTARFILM der Thematik an- eines Verbrechens UNSCHULDIG BESCHULDIGT, gerät sie gemessener, da sie nicht im selben Maß wie das Main- in eine ALPTRAUMHAFTE VERSTRICKUNG und scheint stream-Kino auf ein mehrheitsfähiges Publikum Rücksicht ihren Gegenspielern – Mördern, AGENTEN, Polizei etc. – nehmen müssen, sondern einen intimeren, auch unbe- im Nachteil. Trotzdem bleibt ihr oft nichts anderes übrig, quemeren Zugang erlauben. Hier kann die filmische als dieses Verbrechen selbst aufzuklären, wenn sie Auseinandersetzung mit dem Tod in stillem Reflektieren überleben will. Und auch wenn ihr das regelmäßig ge- oder lyrischem Ausloten, in lauten Ausbrüchen oder als lingt, so schildert der Thriller dennoch den akuten Zu- sehr persönliche Trauerarbeit von Filmemacherinnen und sammenbruch einer bürgerlichen Normalität, die nur sehr Filmemachern stattfinden. Dennoch gilt letztlich auch bedingt erstrebenswert erscheint, da sich nie vermutete hier: Die Thematik des Todes ist für FilmemacherInnen Abgründe in ihr eingenistet haben. und ZuschauerInnen gleichermaßen eine Heraus- Vgl. die Varianten AGENTEN-, POLIT- und PSYCHOTRHIL- forderung, und Verstöße gegenüber gesellschaftlichen LER. phb und individuellen Vorstellungen von Angemessenheit, Respekt und Würde werden mit seismografischer Emp- Beispiele: findlichkeit registriert. phb THE SPIRAL STAIRCASE (Robert Siodmak, USA 1945) NORTH BY NORTHWEST (Alfred Hitchcock, USA 1953) Beispiele: LE BOUCHER (Claude Chabrol, F 1970) ORDET (Carl Theodor Dreyer, DK 1955) TESIS (Alejandro Amenábar, E 1996) MEIN KLEINES KIND (Katja Baumgarten, D 2001) LA STANZA DEL FIGLIO (Nanni Moretti, I/F 2001) SON FRÈRE (Patrice Chéreau, F 2002) Tierfilm. Spielfilme, in denen Tiere eine prominente Rolle «spielen» oder sogar die Hauptfiguren sind, sowie DOKUMENTARFILME zum weiten Thema Tier. In beiden Ton. Technisch-ästhetischer Begriff, der für eine beson- Fällen vermengen sich didaktische und unterhaltende ders stilprägende Art der Tongestaltung oder für beson- Ansprüche (wenn auch nicht im selben Verhältnis), dere Tonexperimente mit Geräuschen, Stimmen und außerdem zeichnen sich beide Arten durch eine mehr MUSIK vergeben wird. Auffällige Gestaltungsweisen oder oder weniger weitgehende Anthropomorphisierung Innovationen sind besonders im FRÜHEN TONFILM zu (Vermenschlichung) der Tiere aus: etwa durch Kommen- verzeichnen (ohne dass das Schlagwort hier noch einmal tatorInnen in den dokumentarischen Filmen oder durch vergeben würde), aber auch im ausgefeilten Sound die VOICE-OVER im Spielfilm. Umgekehrt sagt die Art Design der neueren Tontechnologie. Der Tontechnik und Glossar 97 der Entwicklung ihres ästhetischen Gebrauchs widmen Publikums über lange Strecken des Films in der Schwebe sich einige FILMHISTORISCHE DOKUMENTATIONEN. uvk bleibt. Doch nach Gefahren, Opfern und Krisen kommt es für die Figuren oft gerade noch (aber längst nicht immer) Beispiele: M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (Fritz Lang, D 1931) rechtzeitig zum Happy-End. phb WEEKEND (Jean-Luc Godard, F 1967) Beispiele: I WANT YOU (Michael Winterbottom, GB 1998) DJÄVULENS ÖGA (Ingmar Bergman, S 1960) FILM D'AMORE E D'ANARCHIA (Lina Wertmüller, I/F 1973) TROIS COULEURS: BLANC (Krzysztof Kieslowski, F/CH/PL 1993) Trabantenstadt. Schauplatz in dokumentarischen und fiktionalen Filmen, die meist in Form einer MILIEU- oder QUARTIERSTUDIE eine manifeste GESELLSCHAFTS- und Tragische Liebe. Erzählmuster, das sozusagen komple- SYSTEMKRITIK formulieren. Geschildert werden die Le- mentär zur (erfolgreichen) LIEBESGESCHICHTE verläuft bensbedingungen von KLEINEN LEUTEN in rasch und und besonders gern in melodramatisch strukturierten, so billig hochgezogenen Agglomerationssiedlungen (im genannten Frauengenres eingesetzt wird: FRAUENFILM, Unterschied zum Leben in einer tendenziell organisch MUTTERDRAMA, HISTORISCHES FRAUENSCHICKSAL so- gewachsenen CITY): Vereinzelung und Anonymisierung, wie EXOTISCHES und EXZESSIVES MELODRAMA. Im Langeweile und das Fehlen sozialer Netze und kultureller Zentrum steht die alles überschattende Unmöglichkeit Angebote, Verwahrlosung, Arbeitslosigkeit und der eines Liebespaars, zueinander zu kommen. Die Gründe Mangel an Perspektiven zeichnen diese Bedingung aus. dafür reichen von rigiden gesellschaftlichen Moralvor- Motive wie ARMUT, JUGEND- und KLEINKRIMINALITÄT, stellungen über tapferes Pflichtbewusstsein, von archai- GEWALT sowie SUCHT UND DROGEN kommen hinzu, schen Familienfehden über heimtückische INTRIGENSPIE- aber auch RASSISMUS, IDENTITÄTSPROBLEME, GENERA- LE bis hin zu politischen Umständen, den Wirren eines TIONENBEZIEHUNGEN sowie EMIGRATION, KULTUR- KRIEGES oder einfach nur vorgegaukelter Liebe. Am KONTRASTE und MINORITÄTSPROBLEME. Oft stammen Schluss der Geschichten stehen Resignation und Verzicht, die FilmemacherInnen selbst aus Trabantenstädten, wis- oft aber auch der TOD eines oder – in der Variante des sen also um die Lebensbedingungen und setzen dieses romantischen Liebestods – beider Partner. Manchmal, Wissen in ihren Filmen voraus. Für einzelne Filmbewe- aber längst nicht immer, ist die tragische Liebe eine gungen wie das CINÉMA BEUR, ein eigentliches Immi- AMOUR FOU, ein bedingungs- und rücksichtsloses Ver- grationskino, ist der Schauplatz der Trabantenstadt kon- fallensein zwischen zwei gleichberechtigten Partnern. phb stitutives Element. phb Beispiele: Beispiele: ROMEO E GIULIETTA (Ugo Falena, I/F 1911) LE THÉ AU HAREM D'ARCHIMÈDE (Mehdi Charef, F 1985) ANNA KARENINA (Clarence Brown, USA 1935) ASSASSIN(S) (Mathieu Kassovitz, F 1997) SENSO (Luchino Visconti, I 1954) NOKO (Mosese Semenya, Südafrika 1999) ANGST ESSEN SEELE AUF (R. W. Fassbinder, BRD 1973)

Tradition de qualité. Abwertend gemeinter Begriff für Trailer. Der Begriff meint eigentlich Anhängsel und be- jenen Teil des französischen Filmschaffens nach 1945 zeichnete ursprünglich ein Stück Schwarzfilm, der zum und vor der NOUVELLE VAGUE, der den Kritikern der Schutz einer Filmrolle an deren Ende befestigt ist. Hier Filmzeitschrift Cahiers du cinéma (Chabrol, Godard, bezeichnet er eine spezifische Art Kurzfilm, dessen Funk- Rivette, Rohmer, Truffaut) missfiel: Es sei konventionell, tion in der Ankündigung eines Films, eines ganzen Festi- glatt, auf Unterhaltsamkeit und Spannung ausgerichtet, vals oder anderer, nicht zwingend filmischer Programme von vordergründigem Tiefsinn, psychologischem Realis- oder Veranstaltungen besteht – insofern ist der Trailer mus und eher billigem Pessimismus – das Produkt älterer immer auch eine Art WERBEFILM. Im Rahmen filmin- Routiniers eben. Die Bezeichnung geht auf einen be- dustrieller Werbekampagnen ist er das Schlüsselelement rühmten, aber undifferenzierten und polemischen Artikel schlechthin: In den Kinos projiziert und im Fernsehen von Truffaut («Une certaine tendance du cinéma fran- ausgestrahlt, erreicht er mehr potenzielle ZuschauerInnen çais», 1954) zurück, der zum Manifest der NOUVELLE – und noch dazu zu einem tieferen Preis – als jedes VAGUE wurde. Namentlich werden die Regisseure Clau- andere Werbemittel. Außerdem trägt seine Wirkung zu de Autant-Lara, Jean Delannoy, René Clément, Yves 25–35% des Einspielergebnisses des eigentlichen Films Allégret und Marcel Pagliero sowie die Drehbuchautoren bei. Entsprechend hoch ist die wirkungsorientierte Auf- Jean Aurenche und Pierre Bost genannt und ihre Filme – merksamkeit, die seiner Produktion geschenkt wird, wo- ebenso undifferenziert – als cinéma de papa bezeichnet. bei seine MacherInnen kaum je namentlich erwähnt wer- Gegenbegriff und -konzept gleichermaßen ist das cinéma den. In der Regel besteht er aus Material des des auteurs, der Autorenfilm. phb eigentlichen Films (ist in diesem Sinn also eine Art KOM- PILATIONSFILM), aus eigens hergestellten Tonkomponen- Beispiele: ten (v. a. VOICE-OVER) sowie aus grafischen Elementen. LES ORGUEILLEUX (Yves Allégret, F 1953) GERVAISE (René Clément, F 1955) Da er seine Existenz nur dem Film verdankt, auf den er EN CAS DE MALHEUR (Claude Autant-Lara, F 1958) aufmerksam machen soll, ist er immer schon eine be- sondere Form von INTERTEXTUALITÄT. phb Beispiele: Tragikomödie. Eine Variante der KOMÖDIE, wobei sich TRAILER ZU MILDRED PIERCE (anonym, USA 1945) der Stoff ebenso gut für eine Tragödie geeignet hätte. TRAILER ZU DOCTOR ZHIVAGO (anonym, USA 1965) Entsprechend pendelt der Tonfall zwischen leichteren und TRAILER ZU NACHT DER … (P. Walder, M. Steiner, CH 1996) ernsteren Szenen, so dass die Erwartungshaltung des 98 Glossar

Transsexuelle. Figur im fiktionalen und dokumenta- Figuren, was zu regelmäßigen Ausflügen in PSYCHO- rischen Film, deren Inszenierung viel über die mehrheits- THERAPIE UND PSYCHOANALYSE sowie PHANTASTIK fähigen Vorstellungen (sprich: Ängste) über Transsexuali- führen kann. In actionbetonten Genres sind Träume eher tät und damit verbundene Uneindeutigkeiten aussagt: selten, dafür umso häufiger in Traditionen, die auf psy- Jahrzehntelang tauchten Transsexuelle im Film noch sel- chologische Grundierung der Figuren und komplexe, tener als SCHWULE und LESBEN auf, dafür aber genauso bisweilen ABWEICHENDE ERZÄHLMUSTER Wert legen. In eindeutig in der Wertung: Entweder sind sie als der Regel sind Träume auf einzelne Sequenzen begrenzt; MENSCHLICHE BESTIEN und PATHOLOGISCHE KILLER dennoch gibt es zahlreiche Filme, die keine eigentliche eine Gefahr für die (männliche) Gesellschaft schlechthin Traumsequenz, aber im Gesamtcharakter etwas zutiefst und müssen verwahrt oder umgebracht werden. Oder sie Traumhaftes haben. sind mehr oder weniger groteske Witzfiguren und als Vgl. demgegenüber das Erzählmuster der ALPTRAUM- solche für einen dubiosen und meist schlüpfrigen Humor HAFTEN VERSTRICKUNG. phb zuständig. Realistischere Varianten versuchen dagegen, Beispiele: die Perspektive der Transsexuellen in den Mittelpunkt zu SPELLBOUND (Alfred Hitchcock, USA 1945) rücken. Allerdings geht es dabei meist um ein (noch dazu OTTO E MEZZO (Federico Fellini, I/F 1962) als tiefgreifend verstandenes) IDENTITÄTSPROBLEM, zu CRÍA CUERVOS (Carlos Saura, E 1975) dem eine gehörige Portion MINORITÄTSPROBLEME hinzu ABRE LOS OJOS (Alejandro Amenábar, E/F/I 1997) kommt. Filme, die ihren transsexuellen Figuren Unbe- schwertheit und Lebensfreude zubilligen, sind weitaus seltener – ganz zu schweigen von solchen, die ohne je- Travestie. Eine Erzählform, die immer eine Form von des Aufheben mit transsexuellen Figuren aufwarten, d. h. INTERTEXTUALITÄT ist. Ein bekannter Stoff wird zwar ohne sie in glücklose Schicksale zu führen oder ihre Exi- beibehalten, doch die Stillage wird derart markant, oft stenz auch nur zu rechtfertigen. grob, verändert, dass die neue Darstellungsform dem Vgl. CROSSDRESSING, wo der Genderwechsel nicht ope- Thema unangemessen erscheint: die Hamlet-Geschichte rativ, sondern «nur» mit Kleidern erzielt wird. phb als ITALOWESTERN, die Nibelungensaga als PORNO- Beispiele: GRAFISCHER FILM etc. Das Ziel der Travestie ist nicht nur LA LEY DEL DESEO (Pedro Almodóvar, E 1986) die bloße Verspottung der Vorlage, und die neue Stillage TRAUM FRAU (Paul Riniker, CH 1991) ist keineswegs nur eine «niedrigere». Vielmehr dient die VOR TRANSSEXUELLEN WIRD … (R. von Praunheim, D 1996) Travestie oft der Aktualisierung eines Stoffs mit dem Ziel CEUX QUI M'AIMENT PRENDRONT … (P. Chéreau, F 1998) einer GESELLSCHAFTS- oder SYSTEMKRITIK; so gesehen, verfährt sie ähnlich wie der SCHWARZE HUMOR. Das Gelingen jeder Travestie beruht jedoch darauf, dass das Transvestismus s. CROSSDRESSING Publikum die Diskrepanz zwischen altem Inhalt und neuem Kleid erkennt. Vgl. dagegen die PARODIE, die sozusagen umgekehrt Trapperwestern. Seltene Variante des WESTERN, in verfährt und ein als bekannt vorausgesetztes Werk zwar deren Mittelpunkt Jäger und Fallensteller stehen. Selten unter Beibehaltung kennzeichnender Formmittel, aber wohl deshalb, weil der Trapper typischerweise nicht ge- mit gegenteiliger Intention nachahmt; außerdem die gen die INDIANERINNEN kämpft – sondern mit ihnen in SATIRE, die sich nicht auf ein anderes Werk bezieht, der Wildnis koexistiert – und auch sonst wenig Konflikte sondern auf außerfilmische Zustände der Realität. phb auslöst. In anderen Subgenres des Western sind Trapper Beispiele: häufig Hintergrundfiguren, alte und schrullige Einzel- BLITZ WOLF (Tex Avery, USA 1942) gänger, die für humoristische Einlagen sorgen. phb LA ÚLTIMA CENA (Tomás Guitérrez Alea, Kuba 1976) Beispiele: RAN (Akira Kurosawa, J 1985) THE BIG SKY (Howard Hawks, USA 1952) NORTH TO ALASKA (Henry Hathaway, USA 1960) JEREMIAH JOHNSON (Sydney Pollack, USA 1971) Trial drama s. JUSTIZDRAMA

Traum. Motiv im Spielfilm, das neben Träumen auch Trick. Die zumeist schon sehr früh entwickelten Tagträume sowie Visionen und Halluzinationen umfassen analogen optischen Tricktechniken umfassen zum einen kann. Ähnlich wie bei der RÜCKBLENDENSTRUKTUR und spezielle fotografische Verfahren (also solche, die mit der VORAUSBLENDE wird die narrative Linearität unter- und in der Kamera gemacht werden) wie brochen, und der Übergang vom Wachen ins Träumen (auf der die klassische 2D- und 3D-ANIMATION beruht), muss codiert werden, damit ihn das Publikum erkennt Zeitraffer, Zeitlupe (slow motion), matte shot und split (durch Überblendung, Unschärfe, Fahrt aufs Gesicht, screen (Kombination zweier oder mehrerer getrennt auf- Wechsel von Farbe zu Schwarzweiß u. ä.). Häufig werden genommener Sequenzen in einem Synchronbild); zum Träume jedoch erst im Nachhinein als solche markiert, anderen werden darunter spezielle Manipulationen mit um die daraus entstehenden verwirrenden Effekte zu nut- Elementen vor der Kamera (wobei diese normal filmt) wie zen. Auf ästhetischer Ebene bietet sich die Gelegenheit Modelltrickaufnahme, glass shot, matte painting und für Unkonventionelles (gekantete Kamera, akustische Schüfftan-Verfahren (mirror shot) verstanden. Schließlich Zeitlupe etc.) besonders in stark konventionalisierten Tra- gibt es solche Verfahren, die auf speziellen Entwicklungs- ditionen wie dem klassischen Hollywoodkino. Inhaltlich und/oder Kopiertechniken beruhen (Manipulation des dienen Träume meist der Subjektivierung: Es geht um fotomechanischen Prozesses, präparierte Kopiermaschi- psychische Zustände und innere Befindlichkeiten der ne, optical printer) wie Williams Shot und Wandermaske Glossar 99

(travelling matte). Im Computerzeitalter und mit dem so genannten digital compositing bzw. der COMPUTER- ANIMATION übernimmt der Rechner immer mehr das U «Handwerk» der klassischen Tricktechnologien. uvk Überfallwestern. Älteste Spielart des WESTERN. Die Beispiele: Überfälle richten sich auf Postkutschen, Banken, Poststa- MARY JANE'S MISHAP (George Albert Smith, GB 1903) tionen, Züge, Viehtransporte u. ä. Die Räuber müssen LA FÉE CARABOSSE … (Georges Méliès, F 1906) durch persönlichen Einsatz eines Sheriffs dingfest ge- PIAZZA (Andy Coray, CH 1990) macht werden. Oft stehen nicht die Opfer, sondern die Täter im Zentrum, die entweder durch Tollkühnheit und spielerische Kreativität oder als Rächer von Witwen und Trümmerfilm. Ursprünglich als Spottname gebrauchter, Waisen Sympathie beanspruchen (vgl. ROBIN-HOOD- inzwischen zum seriösen filmhistorischen Begriff gewor- STOFF). Diese letzte Variante findet sich besonders im dene Bezeichnung für den deutschen Film 1945–1949, ITALOWESTERN. phb zwischen Kriegsende und der Gründung von BRD und DDR. Er wird unter rechtlich-institutionellen Bedingungen Beispiele: produziert, die die vier Besatzungsmächte vorgeben, THE GREAT TRAIN ROBBERY (Edwin S. Porter, USA 1903) steht in Konkurrenz zu den importierten Filmen und hat COLORADO TERRITORY (Raoul Walsh, USA 1949) nahezu keine Exportchancen. Zentrale Merkmale sind ONCE UPON A TIME IN THE WEST (Sergio Leone, I/USA 1968) Setting und ARCHITEKTUR (die Trümmer der deutschen Großstädte), der Bezug auf Gegenwart und jüngste Ver- gangenheit sowie der Anspruch auf Realismus. Die Filme, Übersinnlicher Horror. Motiv im HORRORFILM, in der oft düster und quälend, thematisieren den materiellen, Erscheinungen und Wesen aus anderen Welten für die geistigen und seelischen Zusammenbruch in Deutsch- Angst des Publikums verantwortlich sind: MONSTER, land, loten die Mitschuld der KLEINEN LEUTE aus und AUSSERIRDISCHE WESEN, Teufel, ZOMBIES, Gespenster verweisen auf die psychische Hinterlassenschaft des NA- und Untote aller Art. Obwohl hier dem Unwahrschein- TIONALSOZIALISMUS. Doch der Realismus klingt, anders lichen, Irrationalen und Irrealen Tür und Tor geöffnet ist, als im zeitgleichen NEOREALISMUS, gelegentlich pathe- kann der ausgelöste Horror sehr real sein, vor allem tisch. Eine Erneuerung der Filmsprache ist dieses Kino nur wenn er auf die tief sitzenden (Ur-)Ängste des Publikums bedingt: Personelle (und damit ästhetische) Kontinuitäten zielt. phb vor und nach 1945 sind die Regel, außerdem macht sich Beispiele: die Wiederkehr inhaltlicher Traditionen bemerkbar. Die THE MUMMY (Karl Freund, USA 1932) Trümmerfilm-Welle verebbt rasch: Das deutsche Publi- DON'T LOOK NOW (Nicolas Roeg, GB/I 1973) kum will nicht mit seinem Erbe konfrontiert werden, und THE SHINING (Stanley Kubrick, GB 1980) die Filmemacher sind (aus persönlichen und/oder institu- tionellen Gründen) nur bedingt in der Lage zur ernst- haften Auseinandersetzung mit ihm. phb Underground-Film. Der Begriff tritt in den 1960er Jahren in Erscheinung und bezeichnet zunächst ameri- Beispiele: kanische, später generell EXPERIMENTALFILME, die jen- IN JENEN TAGEN (Helmut Käutner, D 1946) seits institutionalisierter (d. h. öffentlicher) Produktions- DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (Wolfgang Staudte, D 1946) FILM OHNE TITEL (Rolf Jugert, D 1947) zusammenhänge, mit geringem Budget und meist LAIEN- DARSTELLERN entstehen. Sie werden im Untergrund realisiert und sind bewusster Ausdruck einer SUB- Tschechoslowakische Neue Welle. Kurze Bewegung KULTUR. Ihre Regisseurinnen und Regisseure brechen im tschechoslowakischen Kino, die während des Prager gesellschaftliche und moralische Tabus, sei es auf Frühlings Mitte der 1960er Jahre einsetzt und mit dem formaler oder inhaltlicher Ebene (vgl. PORNOGRAFI- Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag 1968 abrupt SCHER FILM, PERVERSIONEN, HOMOSEXUALITÄT etc.) endet. Ein POLITISCHES KLIMA relativer Toleranz ermög- mit dem Ziel, eine Gegenästhetik zu entwerfen, die sich licht es einer Gruppe junger FilmemacherInnen um Vera um (klein-) bürgerliche Traditionen und Konventionen der Chytilová, Milos Forman, Jirí Menzel und Ivan Passer, (Film-) Kunst foutiert (vgl. GESELLSCHAFTSKRITIK). Aber Filme zu realisieren, die von großer stilistischer nicht nur die Produktion der Underground-Filme, sondern Unterschiedlichkeit und Experimentierfreudigkeit sind. auch ihre Vorführung findet meist im (halblegalen) groß- Was sie verbindet, ist zum einen der Einfluss vorange- städtischen «Untergrund» statt – oft genug ist sie über- gangener Bewegungen: des italienischen NEOREALIS- haupt nur dort denkbar, da die Filme andernfalls zu ZEN- MUS, der französischen NOUVELLE VAGUE und des ame- SURFÄLLEN würden. phb rikanischen DIRECT CINEMA. Zum anderen werden Beispiele: scheinbar harmlos-heiterere KOMÖDIEN bevorzugt, die in EAT (Andy Warhol, USA 1963) Wahrheit aber mit scharf beobachteten Figuren – meist HOLD ME WHILE I'M NAKED (George Kuchar, USA 1966) KLEINE LEUTE – und dem genauen Blick auf ihr alltägli- SCHWESTERN DER … (Rosa von Praunheim, BRD 1969) ches Leben aufwarten. Daraus entspringt eine subtile und TRASH (Paul Morrissey, USA 1970) ironische, vor allem aber hoch politische SYSTEMKRITIK am tschechoslowakischen Alltag. phb Ungleiches Paar. Figurenkonstellation, die großes dra- Beispiele: maturgisches Potenzial allein aus der Verschiedenheit LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY (Milos Forman, CSSR 1964) zweier gleichberechtigter Figuren gewinnt sowie aus den OSTRE SLEDOVANÉ VLAKY (Jirí Menzel, CSSR 1966) Spannungen und Konflikten, die sich – dank dieser Ver- SEDMIKRASKY (Vera Chytilová, CSSR 1966) schiedenheit – auf quasi natürliche Art zwischen den 100 Glossar beiden (meist Haupt-)Figuren entzünden. Die Ungleich- Urwald s. DSCHUNGEL heit des Paars kann sich aus kulturellen, sozialen, generationen- oder geschlechterspezifischen Unterschie- den heraus ergeben; dementsprechend kann es um Utopie. Motiv, in dessen Zentrum eine Idealvorstellung KULTURKONTRASTE, GENERATIONENBEZIEHUNGEN, menschlichen Zusammenlebens steht, eine Zukunftsvi- den GESCHLECHTERKAMPF o. ä. gehen. Oft genug be- sion also, wenn auch (meist) ohne Anspruch auf direkte steht das Paar aus zwei Männern (vgl. MÄNNER- Verwirklichung. Grundsätzlich kann die Formulierung VERHALTEN und BUDDY-BUDDY), selten aus zwei Frau- einer Utopie (das, was sein soll) mit der konkreten en (vgl. FREUNDINNENPAAR), noch seltener aus einer Formulierung einer GESELLSCHAFTSKRITIK (dem, was ist) Mensch-Tier-Konstellation. Die aus der Ungleichheit ge- einhergehen; die Gesellschaftskritik kann aber auch mehr wonnenen Konflikte können komische oder dramatische oder weniger versteckt mitgemeint sein. Als sozusagen Effekte nach sich ziehen, entsprechend wird das Motiv in umgekehrte, negative Variante gilt die DYSTOPIE, die so unterschiedlichen Genres wie ACTIONFILM, KOMÖ- pessimistische Zukunftsvision. Oft, aber keineswegs im- DIE, LIEBESGESCHICHTE, ROADMOVIE, THRILLER u. a. mer, arbeitet die SCIENCE FICTION mit Weltentwürfen, genutzt. phb die je nach dem utopischen oder dystopischen Charakter haben können. phb Beispiele: THE DEFIANT ONES (, USA 1958) Beispiele: TURNER & HOOCH (Roger Spottiswoode, USA 1989) À NOUS LA LIBERTÉ (René Clair, F 1931) LA VIE RÊVÉE DES ANGES (Erick Zonca, F 1999) MR. DEEDS GOES TO TOWN (Frank Capra, USA 1936) LA BELLE VERTE (Coline Serreau, F 1996) IDIOTERNE (Lars von Trier, DK 1998) Unschuldig beschuldigt. Motiv und Erzählmuster vor allem im klassischen Hollywoodkino (und besonders re- gelmäßig bei Hitchcock). Die bevorzugten Genres sind KRIMINALFILM, THRILLER und JUSTIZDRAMA. Oft wird V das Motiv mit anderen kombiniert, etwa mit dem DOP- PELGÄNGER (wenn unschuldiges Opfer und schuldiger VagabundIn. Räumlich und sozial nicht gebundene Täter Alter-ego-Rollen übernehmen) oder mit der ALP- oder desintegrierte Figuren, die auf REISEN gehen und TRAUMHAFTEN VERSTRICKUNG (wenn schreckliche Er- sich zumeist nicht über ihre Ziele bewusst sind. Dabei eignisse lawinenartig über eine schuldlose Figur herein- kann ihr Unterwegssein freiwillig oder unfreiwillig moti- brechen). Natürlich ist der oder die zu unrecht Beschul- digte die Identifikationsfigur für das Publikum, und so viert sein. Zum Vagabundieren gehört eine gewisse Pas- sivität, d. h. ein Sich-Anderen-Überlassen. Vagabunden fällt das Happy-End samt kathartischer Läuterung zusam- sind zudem häufig OUTLAWS, wenngleich mit ihnen men mit der Freisprechung des Protagonisten. phb noch mehr romantische Merkmale (des identitäts- Beispiele: suchenden, freien Subjekts) assoziiert sind. Häufig sind FURY (Fritz Lang, USA 1936) sie Spiegel bürgerlicher Figuren und damit ein Kommen- THE WRONG MAN (Alfred Hitchcock, USA 1956) tar zu bourgeoisen Werten und Verhaltensnormen. Aus THE CHILDREN'S HOUR (William Wyler, USA 1961) Not und Armut begehen sie gelegentlich kleine Delikte DER PROZESS/LE PROCÈS (Orson Welles, BRD/F/I 1962) (vgl. KLEINKRIMINALITÄT). Sie ziehen wegen ihres des- integrierten Status aber häufig auch GEWALT-Taten auf sich. uvk Unterwelt. Umgangssprachlicher Begriff für eine im KRIMINALFILM thematisierte, illegale Parallelwelt in CI- Beispiele: TIES und Metropolen, die von organisierten Verbrecher- LA STRADA (Federico Fellini, I 1954) banden, MAFIA und anderen Gruppen dominiert wird. ABSCHIED VON GESTERN (Alexander Kluge, BRD 1966) Diese Gruppen haben eigene Hierarchien, Gesetze und SANS TOIT NI LOI (Agnès Varda, F 1985) Verhaltensnormen. Zentraler Wert ist der ökonomische Erfolg als Gruppe auf der Basis eines spezifischen Ehrenkodex bzw. die Prädominanz der je eigenen Gruppe Vamp s. FEMME FATALE im Fall von KONKURRENZKÄMPFEN. Zur Sozietät der Unterwelt gehören neben kriminellen Banden, deren Geschäft insbesondere Schutzgelderpressung, Alkohol- Vampirfilm. Subgenre des HORRORFILMS mit fest- schmuggel (v. a. zur Zeit der amerikanischen Prohibition), gelegten Spielregeln: Vampire sind nur nachts aktiv, Drogen- und Waffenhandel sowie PROSTITUTION, ille- tagsüber schlafen sie in Särgen voll heimischer Erde. Sie gales GLÜCKSSPIEL und KORRUPTION ist, auch das ent- ernähren sich vom Blut der Lebenden, das sie – stets mit sprechende Ambiente (Bars, Hinterzimmer, Luxus- einem (homo-)erotischen, aber auch einem erlesenen, immobilien etc.). Effekt der Unterweltaktivitäten ist die aristokratischen Gestus – aus der Halsschlagader saugen. Untergrabung staatlicher Autorität sowie die Bedrohung Mit dem Blut von Toten haben sie nichts am Hut. Ihre bürgerlichen Lebens durch Chaos und Anarchie. uvk Opfer sterben, um dann selbst als Untote umzugehen. Ein Vampir lässt sich durch Knoblauch und das Zeichen Beispiele: des Kreuzes fernhalten, er zerfällt, wenn ihn das Morgen- M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (Fritz Lang, D 1931) licht überrascht, und man kann ihn vernichten, indem THE ROARING TWENTIES (Raoul Walsh, USA 1939) man ihm einen Pflock durchs Herz treibt. Vampire haben ANIMA NERA (Roberto Rossellini, I/F 1962) lange Eckzähne und können sich in Fledermäuse und THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE (J. Cassavetes, USA 1972) anderes Nachtgetier verwandeln. Die meisten Vampir- filme gehen auf die Figur des Nosferatu oder jene des Glossar 101

Grafen Dracula zurück. Natürlich gibt es Variationen, wie den sie in anfänglicher Kriegsbegeisterung verteidigen den lesbischen Vampirfilm, sowie PARODIEN und TRA- wollten. Die Filme sind in der Regel düstere CHARAK- VESTIEN, etwa die mit KLAMAUK durchsetzte HORROR- TERSTUDIEN und LEIDENSGESCHICHTEN, hoffnungslose KOMÖDIE. phb MELO- und FAMILIENDRAMEN sowie bittere ANTI- KRIEGSFILME, die eine (tendenziell) pazifistische Haltung Beispiele: NOSFERATU … (Friedrich Wilhelm Murnau, D 1921) einklagen und insofern immer auch SYSTEMKRITIK üben. VAMPYR (Carl Theodor Dreyer, F/D 1931) Doch es gibt auch ACTIONFILME, in denen die alptraum- THE FEARLESS VAMPIRE KILLERS (Roman Polanski, GB 1967) haften Erfahrungen der Soldaten in den Hintergrund THE HUNGER (Tony Scott, GB 1982) rücken, oder verklärende KRIEGSFILME, die meist einer wertkonservativen Haltung entspringen. phb Beispiele: Verfolgung. Zentrales Motiv und dramaturgisches THE MEN (Fred Zinnemann, USA 1950) Muster in ABENTEUER-, ACTION- und GANGSTERFIL- THE DEER HUNTER (Michael Cimino, USA 1978) MEN sowie im WESTERN. Als auslösende Momente UN SOIR APRÈS LA GUERRE (R. Panh, Kambodscha/F/CH 1998) können KONKURRENZKÄMPFE ebenso fungieren wie RACHE und JAGD. Meist sind es Männer, die verfolgen, während Frauen überdurchschnittlich oft verfolgt werden. Videoclip. In den 1980er Jahren vorwiegend für die Das Motiv steht in komplementärer Nähe zur FLUCHT, MUSIK-Branche entwickelte, aufwändig gestaltete filmi- die den Fokus auf Paranoia, Wechselbäder von Angst- sche Kleinform mit KURZFILM-Länge und werblichem An- und Erleichterungsgefühlen, Düsterheit und Reaktion spruch, die ein Musikstück im weitesten Sinne illustriert. legt, während die Verfolgung auf Aktion setzt und nicht Produziert wird mit Videotechnik, benutzt werden viel- selten eine positivere Stimmung evoziert, die die prekäre fältige elektronische Verfahren und TRICK-Techniken. Lage der Verfolgten ignoriert. Natürlich kann sich ein Clips entfernen sich formal von den Popsongfilmen der Film auch durch die Gleichzeitigkeit beider Perspektiven Sechziger- und Siebzigerjahre, in denen primär die Per- auszeichnen. In der KOMÖDIE schließlich sind Verfol- formance der Musizierenden inszeniert wurde. Die gungen oft Anlass zu überbordendem KLAMAUK. phb Bilderfindungen der Clips reichen demgegenüber von der Beispiele: Darstellung der musizierenden und/oder singenden THE GOAT (Buster Keaton, Mal St. Clair, USA 1921) Akteure über TANZ-Einlagen bis zu rein assoziativen NORTH BY NORTHWEST (Alfred Hitchcock, USA 1958) Montagen von inszenierten Songtext-Inhalten. Zumeist CHARADE (Stanley Donen, USA 1963) besteht der Clip aus einer Kombination von beidem. Charakteristisch ist ein dynamischer Schnitt, der mit der Kontinuität des Musikstücks, das in seiner vollen Vergewaltigung s. SEXUALDELIKT Zeitdauer bebildert wird, einhergeht. Videoclips zitieren und arbeiten vielfach mit Verfahren des klassischen EX- PERIMENTALFILMS. uvk Verwechslungskomödie. Eine Variante der KOMÖDIE, Beispiele: die ihren Hauptreiz aus der beharrlichen Unfähigkeit der PAVANE (Alla Celia Kendall, F 1990) Figuren bezieht, die wahre Identität einer Person zu THE ENGLISH DANCE (Adrian Friedli, Mark Parkin, GB 1990) erkennen: Sie halten Männer für Frauen und umgekehrt PUBLIC ENEMY: CAN'T TRUSS IT (anonym, USA 1991) – in diesen Fällen wird das Motiv des CROSSDRESSING für komische Zwecke ausgereizt –, den Landstreicher für den Millionär, nur weil er im Rolls Royce saß, oder den Videokunst. Kunstrichtung, deren Ursprung in verein- neuen Polizeipräsidenten für den entsprungenen Irren. zelten Arbeiten zu Beginn der 1960er Jahre liegt. Ohne Der Erfolg steht und fällt mit dem Format der ein Programm im eigentlichen Sinn zu besitzen, besteht SchauspielerInnen und dem Maß, in dem diese Filme der gemeinsame Nenner von Videokunst in ihrer auch gleichzeitig SITUATIONSKOMÖDIEN sind. phb Materialität: Mit moderner elektronischer Medientechnik Beispiele: (Fernseher, Videorecorder, Videokamera, Videosynthesi- VIKTOR UND VIKTORIA (Reinhold Schünzel, D 1933) zer etc.) werden, oft in Verbindung mit traditionellen LOVER COME BACK (Delbert Mann, USA 1961) Künsten (ARCHITEKTUR, MALEREI, FOTOGRAFIE, TANZ, THE TRUTH ABOUT CATS AND DOGS (M. Lehmann, USA 1996) MUSIK) neue komplexe Objekte geschaffen (Video- skulpturen und -installationen). Oft ist das Thema die Auseinandersetzung mit den spezifischen Eigenschaften Veteranen. Figuren, die als Soldaten an einem KRIEG und Limitationen des Mediums Video, seiner weltweiten teilgenommen haben. Zu ihren Merkmalen gehört, dass Verbreitung und der damit verbundenen Nutzung sowie ihnen nach dem KRIEG die Rückkehr in die «zivile» Ge- insbesondere der dem Medium immer wieder zu- sellschaft kaum gelingt und dass sie als körperliche und geschriebenen Fähigkeit, die Wirklichkeit abbilden zu seelische Wracks mit einer nun «friedlichen» Welt nicht können – insofern geht es häufig um SELBSTREFLEXION. zurecht kommen (vgl. HEIMKEHRERIN). Sie sind von Ansonsten ist eine analoge Bandbreite möglich, wie sie traumatischen Erlebnissen gezeichnet und vom Unvermö- auf spezifisch filmischer Ebene im Bereich des EXPERI- gen, darüber zu sprechen (außer im Beisein anderer Ve- MENTALFILMS zu verzeichnen ist. phb teranen, die denselben Erlebnishorizont teilen). Andere Beispiele: Motive wie SUCHT UND DROGEN, aber auch KRANKHEIT PYGMALION (Erich Lanz, CH 1985) sowie kriegsbedingte BEHINDERUNG sind keine Selten- JAPSEN (Muda Mathis, Pipilotti Rist CH 1988) heit. Außerdem kommt im Fall von ursprünglich freiwil- INTERMEZZO (Heidi Köpfer, CH 1999) ligen Soldaten die Enttäuschung über den Staat hinzu, 102 Glossar

Viereck. Figurenkonstellation, Motiv und Erzählmuster hat bloße Sprechfunktion und ist kein erlebendes Sub- zugleich, bei dem vier Figuren – oft in Gestalt zweier jekt. Die Voice-over hat sich aus der klassischen Kom- (heterosexueller) Paare – sich näher kommen und meist mentarstimme in dokumentarischen Formaten, so u. a. über Kreuz betrügen oder fremdgehen. Die Spannbreite der WOCHENSCHAU, entwickelt und tritt innerhalb der an Genres ist groß: Vierecksgeschichten sind oft frivole fiktionalen Genres häufig im FILM NOIR der 1940er Jahre (SEX-)KOMÖDIEN, in denen moralische Entscheidungen und im NEONOIR auf, aber auch in «epischen» Formen und Verstrickungen keine große Rolle spielen. Natürlich wie dem MONUMENTALFILM und, allgemein häufig, in gibt es das BEZIEHUNGSDRAMA, das als MORALISCHES LITERATURVERFILMUNGEN. uvk RÜHRSTÜCK daherkommt, um mahnend den Zeigefinger Beispiele: zu erheben. Denkbar sind aber auch dunkle KRIMINAL- DOUBLE INDEMNITY (Billy Wilder, USA 1944) FILME oder THRILLER, in denen das Motiv für Spannung I VITELLONI (Federico Fellini, I 1953) und Nervenkitzel sorgen soll. Schließlich gibt es die nüch- BADLANDS (Terrence Malick, USA 1973) ternen Analysen nach dem Modell von Goethes Wahlver- wandtschaften, die das Verhalten ihrer vier Figuren wie in einer Versuchsanordnung kritisch beobachten und den Vorausblende. Auch flash forward oder flash ahead. Anspruch auf eine GESELLSCHAFTSKRITIK erheben. Dramaturgische Struktur, in der ein gegenüber der aktu- Vgl. die Figurenkonstellation des DREIECKS, die oft mit ellen Handlung noch zukünftiges Ereignis in den Ablauf zwei Schuldigen und einem Opfer aufwartet, wogegen im der Erzählung eingefügt wird. Anders ausgedrückt: In der Viereck meist alle Figuren zu Opfern werden. phb Vorausblende präsentiert der Plot Handlungselemente, Beispiele: deren Sinn sich den ZuschauerInnen erst später vollstän- QUADRILLE (Sacha Guitry, F 1937) dig erschließen wird. Damit wird von der Linearität der ONE FROM THE HEART (Francis Ford Coppola, USA 1981) Story abgewichen, und so ist die Vorausblende immer ONE NIGHT STAND (Mike Figgis, USA 1997) auch ein ABWEICHENDES ERZÄHLMUSTER. Die zukünfti- gen Ereignisse sind oft als Visionen einzelner Figuren mo- tiviert, eine Lösung, die besonders im HORRORFILM an- Vietnamkrieg. Motiv, das hier in erster Linie den gewendet wird. Kompliziertere Zeitstrukturen verzichten amerikanisch-vietnamesischen KRIEG 1964–1973 meint auf diese Art der Bindung an Protagonisten und setzen (und weniger den vorangehenden französisch-vietname- die Vorausblende quasi übergangslos ein. Im Vergleich sischen 1946–1954). Der polarisierten öffentlichen Mei- zur RÜCKBLENDENSTRUKTUR (flash back) bedeutet dies nung gegenüber dem Krieg in Amerika und Europa – von für das Publikum ein deutliches Mehr an Verstehens- linientreuer Unterstützung bis zu massiven Protestbewe- arbeit, die dann in Verunsicherung münden kann, wenn gungen im Rahmen der 68er-Bewegung – entspricht die die ZuschauerInnen über (zu) wenig Informationen verfü- Verschiedenheit in der filmischen Umsetzung. Das gen, anhand derer sie die Vorausblende in die Story ein- Spektrum reicht von propagandistischen REGIERUNGS- fügen können. phb FILMEN über KRIEGS- und ACTIONFILME hin zu MELO- Beispiele: DRAMEN, ANTIKRIEGSFILMEN und MUSICALS oder LA GUERRE EST FINIE (Alain Resnais, F/S 1966) KRIEGSSATIREN. Einziger gemeinsamer Nenner ist oft DON'T LOOK NOW (Nicolas Roeg, GB/I 1973) nur noch die Überzeugung, dass «Vietnam» als amerika- JACOB'S LADDER (Adrian Lyne, USA 1993) nischer und damit als westlicher Alptraum gilt. Der Alp- traum selbst wird in seiner politischen Zeichenhaftigkeit jedoch sehr unterschiedlich inszeniert und ausgelegt. phb Vorderasiatisches Kino. Der Begriff bezieht sich allein Beispiele: auf die geografische Zuordnung von Filmen zu einer APOCALYPSE NOW (Francis Ford Coppola, USA 1979) Weltregion und umfasst Produktionen aus dem Kaukasus ETWAS WIRD SICHTBAR (Harun Farocki, BRD 1982) (Armenien, Aserbaidschan, Georgien), der Türkei und FULL METAL JACKET (Stanley Kubrick, USA/GB 1987) dem Nahen Osten (Syrien, Libanon, Israel, Palästina, Jor- danien), der Arabischen Halbinsel (Saudi-Arabien, Jemen, Oman, Vereinigte Arabische Emirate, Katar, Bahrain, Voice-over. Stimme einer filmischen Erzähl- oder Kuwait) sowie Irak und Iran. Der Begriff dient als grob- Sprechinstanz, die auf der extradiegetischen Tonebene maschiges Ordnungskriterium, ist bewusst verallge- angesiedelt ist. Das Stimmensubjekt teilt mit der dar- meinernd und unscharf und nimmt keine Rücksicht auf gestellten Welt der Diegese zum Zeitpunkt des Erzählens die massiven kulturellen Unterschiede innerhalb Vorder- weder Raum noch Zeit, d. h. es erzählt z. B. retrospektiv, asiens. Darüber hinaus impliziert er die Existenz einer so dass es häufig in eine RÜCKBLENDENSTRUKTUR (flash FREMDEN ERZÄHLTRADITION, die freilich nur aus westli- back) eingebunden ist, oder prospektiv, wodurch es mit cher Sicht fremd ist. Und: Das Etikett «vorderasiatisches einer filmischen VORAUSBLENDE (flash forward) ver- Kino» ist meist ein westliches, mit dem nur jene vorder- bunden ist. Unterschieden wird generell zwischen einer asiatischen Filme bedacht werden, die im Westen über- homodiegetischen und einer heterodiegetischen Over- haupt in die Kinos gelangen. phb Stimme, die rahmend, d. h. nur am Anfang und Schluss, Beispiele: oder auch intermittierend und damit die Erzählung BAYCOT (Mohsen Makhmalbaf, Iran 1985) raffend, kommentierend etc. auftreten kann. Die homo- WALSI PETSCHORASE (Lana Gogoberidse, Georgien 1992) diegetische Stimme gehört einer Figur an, die auch Teil KADOSH (Amos Gitaï, Israel 1999) der Erzählung ist, d. h. das erzählende Subjekt ist zugleich erlebendes Subjekt in der Diegese. Die hetero- diegetische Stimme gehört dagegen keiner Figur der dar- Vorort s. TRABANTENSTADT gestellten Welt an. Sie steht außerhalb der Geschichte, Glossar 103

Voyeurismus. Motiv im fiktionalen und nichtfiktionalen Weiblicher Verfolger. Weiblich Figur, die entweder in Film sowie erzähl- und rezeptionstheoretisches Konzept, einer professionellen Rolle als Kriminalbeamtin, Kommis- das aus der Psychoanalyse in die Filmwissenschaft ein- sarin oder WEIBLICHER DETEKTIV an der Aufklärung von floss. Ausgangspunkt ist in beiden Fällen die zwanghafte Verbrechen und der Überführung von Tätern oder und heimliche Beaobachtung Anderer in intimen TÄTERINNEN arbeiten, oder die Opfer eines Verbrechens Situationen, um Schaulust (Skopophilie) und SEXUALITÄT wurden und nun ihre PeinigerInnen verfolgen und zur zu befriedigen (vgl. PERVERSION). Auf der Ebene des Strecke bringen. Erstere sind Pendants männlicher Kom- Motivs geht es also um voyeuristische Figuren, die als missare oder private eyes und haben vielfach ihre Berufs- solche inzeniert (und gelegentlich auch problematisiert) rolle gegenüber männlichen Kollegen, Vorgesetzten oder werden. Dies geschieht besonders häufig in den Genres in der Polizeihierarchie ihnen Untergebenen zu verteidi- KRIMINALFILM und (PSYCHO-)THRILLER, und nicht sel- gen. Letztere agieren meist aus einer emotionalen Ver- ten ist der Voyeur zugleich ein von KRANKHEIT getriebe- strickung heraus, weil sie in enger (verwandtschaftlicher ner PATHOLOGISCHER KILLER. Auf der Ebene der Erzähl- oder erotischer) Beziehung zum Verfolgten stehen. In und Rezeptionstheorie wird oft die Kinosituation als sol- diesem Falle kann ihre VERFOLGUNG den Charakter che bereits als Voyeurismus bezeichnet, weil die Zu- eines privaten RACHE-Feldzuges annehmen. uvk schauerInnen ungesehen und im Dunkel sitzend auf die Beispiele: Leinwand starren. Aber dabei fehlt das illegitime Element MARUSA NO ONNA (Juzo Itami, J 1987) und die Gefahr des Ertapptwerdens; außerdem könnte BELLA BLOCK: LIEBESTOD (Max Färberböck, D 1995) man mit gleichem Recht SchauspielerInnen des Ex- SA MÈRE, LA PUTE (Brigitte Roüan, F 2000) hibitionismus bezichtigen. KinozuschauerInnen werden im Grunde nur dann zu VoyeurInnen, wenn sie dazu ver- führt werden, wie Voyeure durchs Schlüsselloch zu Weiblicher Westernheld. Bereits im ursprünglichen schauen, so dass sie sich vor sich selbst genieren müssen. Mythos-Inventar des WESTERN finden sich Heldinnen wie Letzteres trifft leichter im DOKUMENTARFILM als im Calamity Jane, die zu filmischen Protagonistinnen tau- Spielfilm zu, vor allem wenn Personen ohne ihr Wissen gen. Dennoch ist das Genre als Ganzes dezidiert männ- oder gegen ihren Willen gezeigt werden. phb lich, so dass weibliche Helden allenfalls als pikante Aus- Beispiele: nahmen fungieren. Erst bei revidierender Geschichtsbe- REAR WINDOW (Alfred Hitchcock, USA 1954) trachtung tritt die Teilhabe von Frauen auch an Aben- PEEPING TOM (Michael Powell, GB 1960) teuern und Indianerkriegen in Erscheinung. Außerdem KRÓTKI FILM O MILOSCI (Krzysztof Kieslowski, PL 1988) machen im SPÄTWESTERN die müde und alt gewordenen Westerner gelegentlich weiblichem Nachwuchs Platz. phb Beispiele: JOHNNY GUITAR (Nicholas Ray, USA 1953) W CAT BALLOU (Elliot Silverstein, USA 1965) BAD GIRLS (Jonathan Kaplan, USA 1994) Weepie s. FRAUENFILM Weltraum. Beliebte Handlungssphäre der klassischen Weiblicher Detektiv. Figur im KRIMINALFILM, beson- SCIENCE FICTION, die auf die Entdeckung und Eroberung transterrestrischer Welten mittels technologisch hochge- ders im WHODUNIT à la Agatha Christie, und im THRIL- rüsteter Raumschiffe ausgerichtet ist. Die Unbestimmtheit LER. Trotz der Tatsache, dass Detektivfilme seit den und Ausdehnung des Weltraums bietet auch Gelegen- 1910er Jahren produziert werden, sind filmische Detekti- heit, ein Aufgebot fantastischer Kreaturen von anderen vinnen weitaus seltener als ihre männlichen Kollegen, Sternen zu erschaffen (vgl. AUSSERIRDISCHE WESEN) denen spezifisch «maskuline» Eigenschaften zugeschrie- ben wurden: Wortkargheit, selbstgewähltes Einzelgän- und sie je nach ideologischer Ausrichtung den Menschen freundlich oder feindlich gesinnt zu konzipieren, oder gertum, blitzgescheiter Verstand, harte Schale, weicher aber die Crew eines Raumschiffs psychologisierend wäh- Kern, moralische Integrität und, in der orientalisch- rend einer Krise zu beobachten (vgl. SCHICKSALS- asiatischen Variante, stoische Gelassenheit und meister- GEMEINSCHAFT, GRUPPENPORTRÄT). Unter den Weltr- hafte Weisheit. Weibliche Detektive waren von eher aumfilmen gibt es viele sehr simple, billige Produktionen, schrullig-resoluter Art, die vor allem mit gesundem Men- schenverstand, nicht aber mit physischer Aktion operier- bei denen die technologische Apparatur sichtlich aus Pappe besteht, die jedoch durchaus den Status von ten (Miss Marple u. ä.). Inzwischen haben sich diese Zu- KULTFILMEN erlangen können (wie bei der bundes- schreibungen geändert, sind Detektivinnen denkbar, die deutschen Serie Raumpatrouille Orion). Daneben existie- sich wenig um so genannt weibliche Eigenschaften küm- ren eine Reihe aufwändiger MONUMENTALFILME. uvk mern und stattdessen ohne gute Manieren und betont physisch ihre Fälle lösen. Wenn ihre Zahl dennoch sehr Beispiele: gering bleibt, hat das auch mit der schwindenden Nach- 2001 – A SPACE ODYSSEY (Stanley Kubrick, GB 1968) frage nach Detektivgeschichten an sich zu tun: Seit den SILENT RUNNING (Douglas Trumbull, USA 1971) 1960er Jahren übernimmt zunehmend der POLIZEIFILM STAR WARS (George Lucas, USA 1977) die Aufgabe, Moral und Strafe, Schuld und Sühne zu kommentieren. phb Werbefilm. Gattungsbegriff, der meist kurze, sekunden- Beispiele: bis minutenlange Kurzfilme umfasst, deren Funktion in MURDER, SHE SAID (George Pollock, GB 1961) der Absatzförderung eines Konsumprodukts samt Mar- LA LOUVE (José Giovanni, CH 1987) kenname besteht. In aller Regel von der Privatindustrie in PAS TRÈS CATHOLIQUE (Tonie Marshall, F 1993) 104 Glossar

Auftrag gegeben, werden Werbefilme häufig von eigen- stand den Sturz des Regimes durch GEWALT, GUERILLA ständigen Agenturen entworfen. Zum größten Teil wer- oder sogar TERRORISMUS vorantreibt, konzentriert sich den sie im FERNSEHEN präsentiert, aber auch – gerade der passive Widerstand auf zivilen Ungehorsam und bei aufwändigeren und höher dotierten Produktionen – politische Streiks. Im engeren Sinn sind die Widerstands- im Kino, wo sie vor Beginn von Vor- und Hauptfilm ge- gruppen gemeint, die sich in den Zwanziger- und Dreißi- zeigt werden. Ästhetisch reicht die Bandbreite der Wer- gerjahren sowie während des ZWEITEN WELTKRIEGS befilme von banal-funktionalen Spots («Persil wäscht gegen den FASCHISMUS und den NATIONALSOZIALIS- weißer») zu ausgeklügelten und oftmals ironisch-unter- MUS in Europa wehren. Zu ihnen gehören u. a. die Rési- haltsamen Kurzfilmen, die eine eigentliche Geschichte stance in Frankreich, die Weiße Rose und der Kreisauer erzählen. Zahlreiche bekannte Mainstream-Regisseure Kreis in Deutschland, die Cetnici in Jugoslawien; aller- haben anfänglich Werbefilme gedreht. Als TRAILER wer- dings darf der gemeinsame Nenner des ANTIFASCHIS- den jene Werbefilme bezeichnet, die für Kinofilme MUS nicht über die erheblichen politischen Divergenzen werben – und oft übernehmen PRODUKTIONSBERICHTE zwischen den einzelnen Gruppierungen hinwegtäuschen. dieselbe Funktion. phb Im Film erscheint das Motiv vor allem in POLITTHRILLERN und DOKU-DRAMEN zur ZEITGESCHICHTE, in BIOPICS, Beispiele: RENDEZVOUS UNTERM … (M. Breuersbrok et al., BRD 1987) GRUPPEN- und DOKU-PORTRÄTS über einzelne Wider- FILM IST RHYTHMUS… (M. Loiperdinger, H. Pulch, D 1991) standskämpferInnen (z. B. die Geschwister Scholl) sowie REKLAME … (Jan Hintjens, NL 1992) generell im NEOREALISMUS. Vgl. den BEFREIUNGSKAMPF, der zwar dieselben Ziele hat wie der Widerstand, tendeziell aber ein Massen- Western. Eines der ältesten und standfestesten Holly- phänomen ist, das nicht im Untergrund stattfindet, we- woodgenres überhaupt, das die amerikanische Geschich- niger organisiert ist und insgesamt dem Phänomen der te – Besiedelung des Westens, Indianerkämpfe, Goldsu- REVOLUTION näher steht als dem Widerstand. phb che, FRONTIER, Eisenbahnlegung etc. – mythisch über- Beispiele: höht und die Legenden immer wieder neu erzählt. Die ty- PAISÀ (Roberto Rossellini, I 1946) pologische Bandbreite dieses dezidiert männlichen Gen- DIE WEISSE ROSE (Michael Verhoeven, BRD 1982) res reicht von hymnischer Naturlyrik (vgl. LANDSCHAFT) MAGYAR REKVIEM (Károly Makk, BRD/H 1990) zu temporeichen ABENTEUER- und ACTIONFILMEN, von GRÜNINGERS FALL (Richard Dindo, CH 1997) ethnografischer Beschreibung zu stereotypem KLAMAUK, von ausdifferenzierten CHARAKTERSTUDIEN zu langatmi- gen NATIONALEPEN. Viele Western haben eine nostal- Wiedereingliederung s. RESOZIALISIERUNG gische Note, anderen geht es dagegen um dynamische GEWALT oder rauhen, so genannt männlichen Humor. Vgl. die zahlreichen Subgenres COWBOY-, GOLDGRÄ- Wiener Film. Österreichisches Genre der 1930er bis BER-, INDIANDER-, ITALO-, KAVALLERIE-, PROBLEM-, 1950er Jahre, das lange als das österreichische Kino SALOON-, SHERIFF-, SINGING WESTERN, SPÄT-, TRAP- schlechthin galt. Gemeinsamer Nenner ist der Schauplatz PER- und ÜBERFALLWESTERN, außerdem WEIBLICHER Wien, der vor allem als emotionaler (und weniger als WESTERNHELD. phb lokaler) Ort fungiert. Hier spielen LIEBESGESCHICHTEN und OPERETTENFILME, die in aller Regel als KOMÖDIEN konzipiert und in der (nostalgisch verklärten) Habsburg- Whodunit. Variante des KRIMINALFILMS nach dem Monarchie angesiedelt sind. Zum typischen Figurenper- Muster Agatha Christies: Eine Gruppe von Figuren (vgl. sonal gehören das patente Wiener Mädel, der bärbeißige GRUPPENPORTRÄT) kommt in Frage, einen Mord began- Hausmeister, der charmante (nicht selten zynische) Lieb- gen zu haben, für den alle ein Motiv hätten. Das Pu- haber. Man begegnet sich auf Bällen und in Weinschän- blikum ist aufgerufen, im Aufklärungsspiel mitzuraten, ken, trinkt Champagner und Heurigen, gibt sich dem und so gleitet der Verdacht von einer Figur auf die an- Walzer hin und spricht gemäßigten, für ein gesamt- dere, erübrigt sich gelegentlich durch weitere Morde, er- deutsches Publikum verständlichen Dialekt. Die sozial- härtet sich anderweitig, zergeht wieder. Oft bilden die romantische Idee einer die gesellschaftlichen Schranken Verdächtigen (samt dem Detektiv) eine SCHICKSALS- überwindenden Heirat des UNGLEICHEN PAARS ist eben- GEMEINSCHAFT. Typischerweise fasst der Detektiv (selte- so Bestandteil des Genres wie eine spezifische Mischung ner der WEIBLICHE DETEKTIV) am Schluss zusammen, aus Melancholie und Heiterkeit, die sich beide nicht aus- wie es ihm (oder ihr) gelang, Täter oder TÄTERIN zu er- schließen, sondern im Gegenteil die emotionale Prämisse mitteln. phb des Wiener Films bilden. phb Beispiele: Beispiele: LAURA (Otto Preminger, USA 1944) MASKERADE (Willi Forst, A 1934) AND THEN THERE WERE NONE (René Clair, USA 1945) HANNERL UND IHRE LIEBHABER (Werner Hochbaum, A 1936) I CONFESS (Alfred Hitchcock, USA 1953) DER HERR IM HAUS (Heinz Helbig, D 1940) MURDER ON THE ORIENT EXPRESS (Sidney Lumet, GB 1974) WIENER MÄDELN (Willi Forst, D 1944) KLASSEZÄMEKUNFT (W. Deuber, P. Stierlin, CH/A/BRD 1988)

Wirtschaftskrimi. Variation des KRIMINALFILMS. Wie Widerstand. Motiv im fiktionalen und dokumenta- stets im Krimi bildet ein Verbrechen den dramaturgischen rischen Film, das im weiteren Sinn die im Untergrund or- Mittelpunkt, um den herum sich die Handlung or- ganisierte Gegnerschaft gegen eine als diktatorisch oder ganisiert. Im Unterschied zu anderen Subgenres findet verfassungswidrig empfundene, oft als totalitäres Regime das Verbrechen aber im Wirtschaftsmilieu statt und wird funktionierende Macht meint. Während aktiver Wider- entsprechend oft mit thematischen Motiven wie INSTI- Glossar 105

TUTION und KORRUPTION verflochten, außerdem kann der Film den Anspruch auf GESELLSCHAFTS- oder SYS- TEMKRITIK erheben, besonders wenn der Geschichte ein Y AUTHENTISCHER FALL zu Grunde liegt. Im Fall eines Fa- milienunternehmens kann der Krimi mit den Tendenzen Yakuza s. MAFIA eines FAMILIENDRAMAS durchzogen sein. Seit den 1970er Jahren wird vermehrt eine Verbindung zwischen Verbrechen, Wirtschaft und ÖKOLOGIE gezogen. phb Beispiele: Z LES GRANDES FAMILLES (Denys de la Patellière, F 1958) DIE INTERESSEN DER BANK ... (Bernhard Sinkel, BRD 1975) Zeichentrickfilm. Erste in der Filmgeschichte entwickel- MARUSA NO ONNA (Juzo Itami, J 1987) te Form des ANIMATIONSFILMS, dessen Grundlage ein- zelne gezeichnete oder gemalte und dann Blatt für Blatt durch eine Kamera mit Einzelbildschaltung auf der opti- Wochenschau. Wöchentliche Nachrichten- und AKTUA- schen Bank abgefilmte Bilder sind. Während der Hinter- LITÄTEN-Magazine, die seit 1908 bis in die 1960er Jahre grund in einer Einstellung meist konstant bleibt, werden als fester Bestandteil des öffentlichen Kinoprogramms zu Bewegungen von Figuren und Objekten in minimale Pha- sehen waren. Meist von 15 bis 30 Minuten Länge und in sen zerlegt und jede einzelne (auf Folien gezeichnete) 35mm Schwarzweiß gedreht, berichteten diese Magazine Phase auf den Hintergrund gelegt und mit der Trickkame- feuilletonistisch und mit (männlicher) VOICE-OVER über ra gefilmt. Zeichentrickfilme finden sich seit der Stumm- bunte Zusammenstellungen von Mode, SPORT, KRIEG, filmperiode sowohl im Spielfilmbereich als auch im Wis- Sensationen, Staatsbesuchen sowie mehr oder minder senschafts- und LEHRFILM, wo es auf die Visualisierung aktuellen Ereignissen aller Art. Sechs bis zehn Einzel- unbeobachtbarer, abstrakter oder (film-) fotografisch nummern waren pro Ausgabe üblich. Der Aspekt der Un- unreproduzierbarer Prozesse und Naturphänomene an- terhaltung und die (mitunter recht frivole) Schaulust wa- kommt (Medizin- und INDUSTRIEFILM), sowie im avant- ren dabei mindestens ebenso wichtig wie der reine Infor- gardistischen Kurzfilm. Kommerziell erfolgreich sind vor mationsgehalt. Oft, vor allem während des ZWEITEN allem die von Walt Disney entwickelten Filme mit WELTKRIEGS, wurden Wochenschauen als zweckmäßiges ABENTEUERFILM-, MÄRCHEN- oder FANTASY-Handlung, PROPAGANDA-Instrument eingesetzt. Seit den 1950er die für ein jugendliches Publikum konzipiert sind (vgl. Jahren hat das FERNSEHEN zum Verschwinden der TEENAGER- und FAMILIENKINO). uvk Wochenschauen beigetragen. Als FOUND FOOTAGE und KOMPILATIONSFILME finden Beispiele: FANTASIA (Walt Disney, USA 1940) Wochenschau-Teile Eingang in dokumentarische und THE BEAR'S TALE (Tex Avery, USA 1940) fiktionale Filme, deren Thema ein historisches ist. phb THE LORD OF THE RINGS (Ralph Bakshi, USA 1977) Beispiele: NOTICIARIO ESPAÑOL (E 1938) NOWOSTI DNJA NR 16 (SU 1949) Zeitgeschichte. Die der Gegenwart vorangehende his- SCHWEIZER ALLTAG 1939–1945 (CH 1989) torische Epoche. Ihre Periodisierung ist in zweierlei Hin- sicht schwierig: Zum einen gilt im deutschsprachigen Raum meist das Ende des ERSTEN WELTKRIEGS als An- Woman’s film s. FRAUENFILM fang der Zeitgeschichte (während in Frankreich die his- toire contemporaine mit der FRANZÖSISCHEN REVOLU- TION, in England die contemporary history wiederum Wüste. Schauplatz und Motiv, dessen visuelle und sym- 1832 beginnt). Zum anderen ist das Ende der Zeitge- bolische Reize immer wieder für den Film genutzt werden schichte stets relativ, da es in der Gegenwart desjenigen und die sich im Spannungsfeld von atemberaubender liegt, der sich mit Zeitgeschichte beschäftigt. In filmi- Schönheit und todbringender Leere bewegen. Der Stel- schen Zusammenhängen ist sie ein Motiv wie andere his- lenwert der Wüste variiert allerdings von Film zu Film: Sie torische Epochen auch (vgl. PRÄHISTORIE, ANTIKE, MIT- kann geschmäcklerisch fotografierte Kulisse sein, vor TELALTER). Sie umfasst Ereignisse und Strukturen, deren deren Hintergrund schillernde Geschichten über EXPE- ZeugInnen oft noch leben und deren Folgen in die Ge- DITIONEN UND SCHATZSUCHEN spielen; oder sie kann genwart (d. h. in die Produktionszeit des jeweiligen als LANDSCHAFT derart in den Vordergrund rücken, dass Films) fortwirken. Filme, die sich mit der Zeitgeschichte sie (stellenweise) zur Protagonistin wird, die den for- auseinandersetzen, thematisieren etwa den FASCHISMUS malen und inhaltlichen Verlauf des Films (mit-)bestimmt. und den NATIONALSOZIALISMUS, den Prager Frühling Die Bandbreite der Genres reicht vom MONUNMENTAL- oder die PERESTROJKA oder überhaupt das, was als FILM, der in der Regel historische Themen angeht, über «jüngere und jüngste Geschichte» bezeichnet wird. Wie EXOTISCHE MELODRAMEN, die von einer TRAGISCHEN bei jeder filmischen Inszenierung historischer Epochen LIEBE erzählen, bis hin zu KRIEGSFILMEN, in deren Mit- dient die Vermengung von faktischem Hintergrund telpunkt eine SCHICKSALSGEMEINSCHAFT steht. phb («der» Geschichte) und fiktionalem Vordergund der Stei- Beispiele: gerung an Dramatik und der Identifikation mit den han- THE GARDEN OF ALLAH (Richard Boleslawski, USA 1936) delnden Figuren. uvk LAWRENCE OF ARABIA (David Lean, GB 1962) Beispiele: THE ENGLISH PATIENT (Anthony Minghella, USA 1996) GUERNICA (Alain Resnais, F 1950) LA CADUTA DEGLI DEI (Luchino Visconti, I/BRD 1969) TAXIDI STA KITHIRA (Theo Angelopoulos, GR 1984) 106 Glossar

Zeitlupe s. TRICK verbot. Die Verbotsgründe sind in der Regel vom POLI- TISCHEN KLIMA abhängig und entsprechen oft den auch für andere Medien geltenden Bestimmungen (Theater, Zeitraffer s. TRICK Presse, Rundfunk, FERNSEHEN). Meist handelt es sich dabei um politische Gründe, die den Staat vor un- liebsamen Tendenzen schützen sollen, oder um mora- Zeitreise. Motiv im fiktionalen Film und gleichzeitig lische Gründe, die die sittlichen und religiösen Normen Spezialfall der REISE. Im Zentrum steht der alte TRAUM, einer Gesellschaft gewährleisten sollen (vgl. GEWALT, sich frei und ungehindert in Vergangenheit und Zukunft SEXUALITÄT, PORNOGRAFISCHER FILM). Neben der versetzen zu können. Insofern befindet sich das Motiv in staatlichen existiert auch die Selbstzensur, die oft nur enger Nachbarschaft zu PHANTASTIK und SCIENCE FIC- scheinbar freiwillig ist und häufig ein Resultat großer po- TION. Aus der Diskrepanz zwischen vertrauter Gegenwart litischer und moralischer Repression. Der Unterschied zur und bereister Epoche schlagen zahlreiche KOMÖDIEN ihr staatlichen Zensur liegt im Umstand, dass hier bestimmte genrespezifisches Kapital: Meist geht es um KULTUR- Sachverhalte von Anfang an gar nicht zur Sprache KONTRASTE der komischen Art, die nicht selten in KLA- kommen – um eben das Risiko eines Eingriffs durch die MAUK ausufern. Dennoch verläuft nicht jede Zeitreise staatliche Zensur zu umgehen. angenehm: Denkbar sind pessimistische DYSTOPIEN oder Vgl. im Unterschied zum Zensurfall die ZENSUR als Mo- gar apokalyptische ENDZEITVISIONEN. In den meisten tiv. phb Fällen endet die Reise mit einer Rückkehr in die Aus- Beispiele: gangszeit. Dagegen haben (selbst komische) Filme, die ANDERS ALS DIE ANDEREN (Richard Oswald, D 1919) ihren Figuren die Rückkehr verweigern, etwas Nachdenk- L'ÂGE D'OR (Luis Buñuel, F 1930) liches, wenn nicht gar Bedrohliches. phb SPUR DER STEINE (Frank Beyer, DDR 1966) Beispiele: AI NO CORRIDA (Nagisa Oshima, J/F 1976) SMULTRONSTÄLLET (Ingmar Bergman, S 1957) JENATSCH (Daniel Schmid, CH 1987) LES VISITEURS (Jean-Maire Poiré, F 1992) Zentralasiatisches Kino. Der Begriff bezieht sich allein TWELVE MONKEYS (Terry Gilliam, USA 1995) auf die geografische Zuordnung von Filmen zu einer Weltregion. Er umfasst Produktionen aus den Ländern Zentralasiens, die in den frühen 1990er Jahren als unab- Zensur. Motiv in allen filmischen Gattungen, vom Spiel-, hängige Staaten aus der ehemaligen Sowjetunion hervor über den DOKUMENTAR- zum EXPERIMENTALFILM. gingen: Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmeni- Meist dient die Thematisierung von Zensur einer SYS- stan und Usbekistan. Der Begriff dient lediglich als grob- TEMKRITIK und der Brandmarkung eines moralischen maschiges Ordnungskriterium, ist bewusst verallgemei- oder POLITISCHEN KLIMAS, in dem zum so genannten nernd und unscharf und nimmt keine Rücksicht auf die «Schutz der Gesellschaft» Zensurmaßnahmen eingeleitet massiven kulturellen Unterschiede innerhalb Zentral- und damit grundlegende Rechte der Menschheit be- asiens. Darüber hinaus impliziert er die Existenz einer schnitten werden (Redefreiheit, Pressefreiheit, Meinungs- FREMDEN ERZÄHLTRADITION, die freilich nur aus west- freiheit). Das kann in verschiedenen Genres geschehen, licher Perspektive und nur für ein westliches Publikum und besonders häufig sind CHARAKTERSTUDIEN, BIO- fremd ist. Und: Das Etikett «zentralasiatisches Kino» ist PICS und DOKU-DRAMAS, die als LEIDENSGESCHICHTEN je nach Beschreibungszusammenhang ein westliches, mit angelegt sind, in denen eine KÜNSTLERGESTALT das dem konsequenterweise auch nur jene Filme bedacht Verbot künstlerischen Ausdrucks als fundamentalen werden, die im Westen überhaupt gezeigt werden. phb Verlust von Kommunikation und schließlich als Beispiele: existenzielle Bedrohung erleidet. Der Thematisierung von KAIRAT (Dareschan Omirbaew, Kasachstan 1991) Zensur eignet das Potenzial zur SELBSTREFLEXION: Ge- KOSH BA KOSH (Bakhtiar Khudojnasarow, Tadschikistan 1993) schichten über die literarische Zensur vergangener Epo- DILHIROJ (Yussuf Rasikow, Usbekistan 2002) chen können PARABELN über die aktuelle filmische Zen- sur sein. Die politische Brisanz eines derartigen Films kann so groß sein, dass er seinerseits zum ZENSURFALL, Zirkus und Artisten. Schon in der FRÜHEN KINEMA- d. h. in seiner uneingeschränkten Aufführung behindert TOGRAPHIE, insbesondere im Kino der Attraktionen oder gar verboten wird. phb (Georges Méliès u. a.) und im SLAPSTICK spielt die Kör- Beispiele: perkunst von Akrobaten und Artisten eine grosse Rolle, MEPHISTO (István Szabó, H/BRD/A 1980) da viele der ersten Filmdarsteller selbst aus dem Varieté, THE CELLULOID CLOSET (R. Epstein, J. Friedman, USA 1995) dem Zirkus oder dem Jahrmarktsmilieu kommen. Als Mo- THE PEOPLE VS. LARRY FLYNT (Milos Forman, USA 1996) tivkomplex kehren Zirkus und Artisten im Spielfilm vor al- QUILLS (Philip Kaufman, USA/D 2000) lem zwischen den 1920er und 1950er Jahren wieder. Der Zirkus ist Symbol der nicht-sesshaften Existenz und Ort des Aufeinandertreffens von Repräsentanten verschiede- Zensurfall. Zensurfälle sind Filme, denen nach dem Ein- ner Kulturen und Nationen. Aus dem KULTURKONTRAST griff einer meist staatlichen Behörde die uneingeschränk- ergeben sich Rivalitäten und KONKURRENZKÄMPFE, die te Aufführung verweigert wird. Dabei kann es sich um nicht selten in kriminellen Handlungen kulminieren. Der Vorzensur (die den Film im Stadium des Drehbuchs Zirkus ist ferner die Sphäre der Prädominanz des Men- betrifft) oder um Nachzensur (des abgedrehten Films) schen über (wilde) Tiere, die sich in den Schauwerten der handeln. Die Eingriffe beschränken sich auf Schnitt- Dressurnummer widerspiegelt. Wo die verschiedenen auflagen (Teilverbot), definieren das Zielpublikum (z. B. Künste der Artistik die normale körperliche Bewegung Jugendverbot) oder gipfeln in einem totalen Aufführungs- Glossar 107 transzendieren, indem die Schwerkraft temporär über- ten Begriff auseinander und macht sich die Diskrepanz wunden wird, so verkörpert der Clown mit der artifiziel- von Erwachsensein und auf dem Niveau des Kindes ver- len Unterbietung alltäglicher Bewegungsnormen das an- bliebener Körpergröße zu Nutze. Als soziale Außensei- dere Extrem zirzensischer Körperaktion. uvk terInnen werden Kleinwüchsige oft mit tragischen Zügen ausgestattet. Beispiele: THE CIRCUS (Charles Chaplin, USA 1925–28) Vgl. BEHINDERUNG, FREAK. uvk GYCKLARNAS AFTON (Ingmar Bergman, S 1953) Beispiele: LOLA MONTÈS (Max Ophüls, BRD/F 1955) FREAKS (Tod Browning, USA 1932) THE INCREDIBLE SHRINKING MAN (Jack Arnold, USA 1957) LE MONDE À L'ENVERS (Rolando Colla, CH/F/I 1998) Zombie. Durch magischen Zauber willenlos gemachte Figuren, die ohne eigenes Bewusstsein Befehle ausfüh- ren. Im übertragenen Sinne sind Zombies auch Personen Zwillinge. Eine Spielart des DOPPELGÄNGERINNEN- unter Hypnose oder dem Einfluss besonderer Medika- Motivs und wie dieses viel älter als der Film. Beide kom- mente, v. a. halluzinogener Drogen. Im Genre des HOR- men typischerweise dann zum Zug, wenn tief verankerte RORFILMS treten Zombies als «lebende Tote» auf, die die Ängste um die Ganzheit und Einzigartigkeit der eigenen Lebenden bedrohen. Der KRIMINALFILM macht sich die Identität thematisiert und geschürt werden sollen. Zwil- Tatsache zunutze, dass die Verbrechensaufklärung lange linge eignen sich dafür besonders gut, da sie dieses spe- an der Unmöglichkeit gescheitert ist, unnatürliche Be- zifische IDENTITÄTSPROBLEM sozusagen von Natur aus wusstseinslagen zu diagnostizieren. uvk verkörpern. Leichter gelagert sind VERWECHSLUNGSKO- MÖDIEN, die das Hauptgewicht auf turbulente Missver- Beispiele: THE WHITE ZOMBIE (Victor Halperin, USA 1932) ständnisse legen und sich in einem Happy-End auflösen. I WALKED WITH A ZOMBIE (Jacques Tourneur, USA 1943) FAMILIENDRAMEN betonen oft die sprichwörtliche Nähe NIGHT OF THE LIVING DEAD (George A. Romero, USA 1968) zwischen den Geschwistern, und vor allem bei Bruder- Schwester-Konstellationen kokettieren diese Filme oft mit dem Motiv des INZESTS. Bei eineiigen Zwillingen ist das Zweiter Weltkrieg. In zahllosen fiktionalen und nicht- Motiv schauspielerisch und filmtechnisch insofern eine fiktionalen Filmen die Darstellung von Ereignissen und Herausforderung als meist mit Doppelrollen gearbeitet Handlungen, die in mittelbarem oder unmittelbarem Zu- wird. Echte Zwillinge treten selten auf – paradoxerweise sammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg 1939–1945 oft dann, wenn es darum geht, eine einzige Figur stehen. Zu den Motiven gehören der HOLOCAUST und darzustellen etwa in Filmen mit KINDLICHEN PRO- damit der GENOZID am europäischen JUDENTUM, das TAGONISTEN, wo zur zeitweiligen Entlastung der kleinen Grauen des Alltags in den LAGERN, aber auch WIDER- DarstellerInnen mit Zwillingen gearbeitet wird. phb STAND und Partisanenkrieg – gegen den deutschen NA- Beispiele: TIONALSOZIALISMUS, den italienischen FASCHISMUS A STOLEN LIFE (Curtis Bernhardt, USA 1946) und (vor allem im amerikanischen und asiatischen Film) DAS DOPPELTE LOTTCHEN (Josef von Baky, BRD 1950) gegen Japan. Die häufigsten fiktionalen Genres sind BIG BUSINESS (Jim Abrahams, USA 1988) KRIEGS- und ANTIKRIEGSFILM samt ihren Varianten (KRIEGSDRAMA, -ROMANZE, -SATIRE und KRIEGSGE- FANGENEN-FILM). Im dokumentarischen Bereich geht es Zyklus. Analog zum literatur- und musikwissenschaft- um KOMPILATIONS- und REGIERUNGSFILME sowie um lichen Begriff ein Korpus von Filmen, die als selbständige DOKU-PORTRÄTS, WOCHENSCHAUEN und FILMHISTO- Einzelwerke zugleich die Glieder eines von Anfang an als RISCHE DOKUMENTATIONEN (besonders über den zusammengehörig geplanten, größeren Ganzen bilden deutschen Film während der Kriegsjahre). Entsprechend und meist von einem Regisseur oder einer Regisseurin dieser Bandbreite sind die einzelnen Filme unterschiedlich stammen. Dass die einzelnen Filme auf dasselbe diegeti- gelagert, und das Spektrum reicht von verharmlosenden sche Universum zurückgreifen, ist keineswegs zwingend, MELODRAMEN, ABENTEUER- und ACTIONFILMEN (die dagegen sind auf narrativer und ästhetischer Ebene enge mehr zufällig während des Zweiten Weltkriegs spielen) Bezüge zwischen den Teilfilmen zu verzeichnen. Typi- über erschütternde Aufklärungsversuche bis zu schmerz- scherweise sind sie um ein Grundthema zentriert, das sie haften Auseinandersetzungen der nachgeborenen Gene- unter je neuem Ansatz entfalten und in seinen verschie- rationen, die gegen das Verstummen und Vergessen denen Aspekten ausleuchten. Oft wird das Thema kämpfen und die Frage nach Schuld und Verantwortung, «kreisförmig» (zyklisch) abgeschritten, so dass es am En- nach Opfern und Tätern neu stellen. phb de – auf einer oft als PARABEL oder ALLEGORIE konzi- pierten höheren Sinnebene – seinen Anfang wieder auf- Beispiele: DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (Wolfgang Staudte, D 1947) nimmt. Das kann in dichter oder loser Form geschehen, OBYKNOWENNY FASCHISM (Michael Romm, SU 1965) doch meist wird der gemeinsame thematische Nenner THE THIN RED LINE (Terrence Malick, USA 1998) durch weitere Verknüpfungselemente (narrative Figuren, Dialogzeilen, Variationen) zusätzlich verdichtet. Vgl. dagegen ANSCHLUSSPRODUKT, FORTSETZUNGS- Zwerge. Männliche Figur des MÄRCHENS und der FAN- FILM, MEHRTEILER, SERIE. phb TASY oder PHANTASTIK mit infantilen wie gelegentlich Beispiele: auch dämonischen Zügen, die meist in Gruppen auftritt. DEKALOG (Krzysztof Kieslowski, PL 1988) Zum Zwergenumfeld gehört das Bergwerk, in dem sie die CONTE DE PRINTEMPS (Eric Rohmer, F 1989) Schätze der Erde abbauen. Der realistische Film setzt sich CONTE D'HIVER (Eric Rohmer, F 1991) mit dem pejorativ für kleinwüchsige Menschen gebrauch-