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Leszek Dziemianko 6 Orbis Linguarum vol. 53/2019, DOI: 10.23817/olin.53-6 Leszek Dziemianko (https://orcid.org/0000–0002–0183–6761) Uniwersytet Wrocławski Der Breslauer Dichter und Schauspieler Karl von Holtei (1798–1880) als schlesische Kulturikone und Identifikationsfigur I Der 1823 von Karl von Holtei eigenwillig arrangierte Auftritt von Zirkusartisten auf der Bühne des Breslauer Theaters „Kalte Asche” löste einen eklatanten Theaterskandal aus, der seine baldige Entlassung vom Posten des Theaterdichters herbeiführte. Dieses Ereignis ist als ein markanter biographischer Einschnitt einzuschätzen. „Der heitere, jugendliche Sinn war verschwunden, um hypochondrischen Launen Platz zu machen“1 – schrieb Holtei noch gut zwanzig Jahre danach. Infolgedessen verließ er seine Heimat, führte jahrzehntelang ein unruhiges Wanderleben und siedelte erst im Dezember 1865 dauerhaft nach Breslau über. Während seiner gelegentlichen Aufenthalte an der Oder trat er nur selten als persona publica auf und beschränkte sie vorwiegend auf den privaten Bereich: auf den Umgang mit seinen „nächsten Freunde[n] und Gönner[n]“2. Obwohl der Dichter in Schlesien immer noch präsent war, vor allem durch Presseveröffentlichungen und Theateraufführungen, wurde er hier in genere mit -ei ner großen Dosis Skepsis oder Zurückhaltung wahrgenommen. Ein naheliegendes Beispiel dafür bildet die negative Reaktion auf sein einaktiges Theaterstück Der Kalkbrenner: „In Breslau fühlte sich der Nationalstolz durch die Vorführung ei- nes einfältigen Schlesiers verletzt, und das harmlose Stück wurde bei seiner ersten und letzten Aufführung am 29. März 1826 […] ausgepfiffen.“3 Ähnliches gilt auch für seine mundartlichen Schlesischen Gedichte (1830), mit denen die schlesische Dialektdichtung ihren künstlerischen Höhepunkt erreichte.4 Trotz ihrer günstigen Aufnahme in Goethes Zeitschrift „Kunst und Alterthum“ wurden sie hier zunächst keineswegs positiv aufgenommen.5 1 Karl von Holtei: Vierzig Jahre, Bd. 3. Breslau 1859, S. 174. Ausführlich dazu: Leszek Dzie- mianko: Der junge Karl von Holtei. Leben und Werk. Wrocław – Dresden 2007, S. 201–222. 2 Holtei, wie Anm. 1, Bd. 5. Breslau 1859, S. 414. 3 Ebd., Bd. 3, S. 423. Vgl. auch: Karl von Holtei: Theater. In einem Bande. Breslau 1845, S. 33. 4 Vgl. hierzu u.a. Arno Lubos: Schlesien im Leben und Werk Holteis. In: Arno Lubos: Schlesi- sches Schrifttum der Romantik und Popularromantik. München 1978, S. 75–98. 5 Vgl. o. A.: Gedichte in schlesischer Mundart, von Karl von Holtei. In: Über Kunst und Al- terthum 1828, H. 2, S. 351–355; Karl von Holtei: Einladung zur Subscription auf Schlesische 113 Leszek Dziemianko Als sich Holtei 1833 gemeinsam mit seinem Freund Klemens Remie um die Theaterpacht in Breslau bewarb, stieß er hingegen auf zähen Widerstand des Verwaltungsausschusses. Im nächsten Jahr, als er während einer längeren Gastspielreise seiner zweiten Frau, der Schauspielerin Julie Holzbecher, in seinem dramatischen Quodlibet Eines Schauspielers Morgenstunde persönlich auf der Breslauer Bühne erschien, „weckte er in den Zeitungen alte Feindschaft zu neuen Flammen.”6 In Zusammenhang damit schrieb er in einem Brief an den Literatur- und Theaterkenner August Kahlert mit unverhohlener Bitterkeit: „Für mich hat die liebe Vaterstadt keine angenehmen Rückerinnerungen!”7 Als eine persona ingrata wurde Karl von Holtei in der Theaterszene Breslaus auch zehn Jahre später angesehen. Wegen der angespannten Verhältnisse legte er im März 1845 die ihm von seinem Jugendfreund, dem damaligen Theaterpächter Friedrich Christian Eugen von Vaerst angebotene Dramaturgenstelle nieder, die er im Oktober 1844 angetreten hatte. In einem späteren Brief an seinen „Herzensfreund“8, den bereits erwähnten Kahlert, ist unter anderem Folgendes zu lesen: Wenn ich einen Brief vom „gutten Kahlert“ entfalte, wird mir jedesmal so „heemlich“ zu Muthe, daß die schlesische Sehnsucht, mit der ich mich, je älter ich werde, desto mehr herumtrage, in trübe Wehmut übergeht. Frag‘ ich mich dann: was ich damit will? und ob ich etwa dort sein möchte? dann antwort‘ ich mir: Nein, das ist es nicht. Denn mögt Ihr mich auslachen, seit 1848 ist mir die Heimath gewissermaßen verleidet; ich würde mich schier fürchten sie mit leiblichen Augen wieder zu sehen und körperlich in ihr zu leben. Mit Geist und Seele werd‘ ich mich niemals von ihr trennen.9 Die Angst vor öffentlichen Auftritten in der schlesischen Metropole begleitete Holtei noch im Alter. Während seiner mehrmonatigen erfolgreichen Vortragsreise durch Schlesien (1860/61), während derer er von seinen Landsleuten als großer Dichter und Vorleser gefeiert wurde, hat er Breslau „nur mit Widerwillen aufge- sucht.”10 In seinem Stolz gekränkt, konstatierte er in seinen Memoiren mit einer bitteren Enttäuschung, es liege im Wesen seiner „lieben Vaterstadt [...], diejenigen Gedichte von Karl von Holtei. In: Breslauer Zeitung 1828, Nr. 178, S. 2270; Karl von Holtei: Schlesische Gedichte. Berlin 1830, S. 131–133; Maria Katarzyna Lasatowicz: Zu Karl von Holteis Konstruktion regionaler Identität durch Sprache. In: Maria Katarzyna Lasatowicz, Andrea Rudolph (Hg.): Literaturgeschichtliche Schlüsseltexte zur Formung schlesischer Iden- tität. Kommentierte Studienausgabe. Berlin 2005, S. 235–260, hier S. 243–246. 6 Maximilian Schlesinger: Geschichte des Breslauer Theaters, Bd. 1. Berlin 1898, S. 201. Vgl. auch Holtei, wie Anm. 1, Bd. 5. Breslau 1859, S. 27–35. 7 Karl von Holtei: Nachlese. Erzählungen und Plaudereien, Bd. 3. Breslau 1870, S. 16. Vgl. auch ebd., S. 9, 19, 34 und 44. Des weiteren vgl. Karl von Holtei an August Timotheus Kahlert. Ein Brief vom 1.11.1834, Brünn. In: August Timotheus Kahlert. Der Briefwechsel zwischen Karl von Holtei und August Timotheus Kahlert. Herausgegeben, mit einem Vorwort versehen und kommentiert von Wojciech Kunicki. Leipzig 2018, S. 66. 8 Karl von Holtei an August Timotheus Kahlert. Ein Brief vom 30.4.1839, Grafenort. In: ebd., S. 102. 9 Karl von Holtei an August Timotheus Kahlert. Ein Brief vom 29.1.1855, Gräz. In: ebd., S. 185. 10 Alfred Schneider: Holteis Schlesische Vortragsreise von 1860/61. In: Der Wanderer im Riesen- gebirge 46 (1926), S. 97–99 und 118–120, hier S. 118. 114 Der Breslauer Dichter und Schauspieler Karl von Holtei (1798–1880) ihrer Söhne, welche mit Wärme des Gefühls und mit mannichfachen Aufopferungen für sie handelten, wenig anzuerkennen[,] ihrer Wärme Kälte entgegenzustellen. Wenn ich mit meinen Erinnerungen bis in die Kindheit zurückgehe – setzt Holtei fort –, finde ich fast dieselbe Undankbarkeit gegen Jeden, der sich um geistige Interessen dort Verdienste erwarb.”11 Die 1850 im Breslauer Verlag von Eduard Trewendt erschienene zweite Auflage seiner Schlesischen Gedichte erwies sich jedoch als eine veritable Initialzündung. Die hier enthaltenen rhythmischen, durch ungetrübte Heiterkeit und witzige Pointen gekennzeichneten Lieder, Naturschilderungen, buntschillernden Genrebilder und tief- sinnigen, mit Schwermut durchdrungenen Erlebnisgedichte, die einen interessanten Einblick in die Mentalität, Gebräuche und Umgangsformen der Schlesier gewährten, brachten Holtei große Beliebtheit und hohe Wertschätzung ein. Die Sammlung, die ursprünglich 43 Gedichte zählte (samt Notenbeilagen und einem knappen Idiotikon), erlebte zu Lebzeiten des Dichters 16 neubearbeitete und beachtlich erweiterte Auflagen und fand auch außerhalb Schlesiens ziemlich weite Verbreitung. Während seiner Schlesienreise hielt Holtei eine Reihe von beifällig aufgenom- menen Autorenlesungen, führte ein lebhaftes soziales Leben und flanierte durch die Straßen der von ihm besuchten Städte. Als er sich „in dem [einst] undankbaren Breslau“12 aufhielt, wurde er auf Vielfalt und Ausmaß von gravierenden, sowohl in der Dynamik der Urbanisierungsentwicklung als auch in der Auflockerung der Sitten in Erscheinung tretenden Veränderungen aufmerksam, was bei ihm ein irri- tierend-frustrierendes Gefühl der Fremdheit hervorrief. Unter dem 29. August 1861 heißt es in seinem Tagebuch: Ich mache verschiedene Beobachtungen […], und was ich sehe, gefällt mir keinesweges. Breslau hat sich allerdings bedeutend verändert; ja, es ist mächtig „fortgeschritten“; […] äußerlich hat es unglaublich viel gewonnen in verhältnißmäßig geringer Frist. Doch ich vermag nicht, mich daran zu erfreuen. Es geht ein Zug trotziger Widersetzlichkeit durch die Bevölkerung, der sich auch in lärmenden Vergnügungen kund giebt, und die Sucht nach diesen wird auf beängstigende Weise zur Schau getragen. Mir ist unheimlich. Ich bin hier nicht mehr „derheeme“. Wenigstens auf der Straße und auf den Spaziergängen nicht. Deshalb trachte ich danach, es in den Häusern zu bleiben, und suche alle mir befreundete[n] und bekannte[n] Familien auf […].13 Die in diesem Passus mitschwingende Abneigung gegen Modernisierungsprozesse, insbesondere gegen den technischen Fortschritt und die Liberalisierung sittlicher 11 Holtei, wie Anm. 1, Bd. 6. Breslau 1859, S. 27–28. Während seines Aufenthalts in Lübeck im Jahr 1848 wurde er deshalb von der „patriotische[n] Verehrung“ fasziniert, die er „über die ganze Stadt in allen Ständen für [den einheimischen Dichter Emanuel] Geibel verbreitet fand“. Ebd., S. 34. Vgl. auch Leszek Dziemianko: Zum soziokulturellen Schlesienbild in Karl von Holteis Lebenserinnerungen. In: Edward Białek, Robert Buczek, Paweł Zimniak (Hg.): Eine Provinz in der Literatur. Schlesien zwischen Wirklichkeit und Imagination. Wrocław – Zielona Góra 2003, S. 47–68, hier S. 64–65. 12 Holtei, wie Anm. 1, Bd. 2. Breslau 1862, S. 271. 13 Karl von Holtei: Noch ein Jahr in Schlesien!, Bd.