69. Jahrgang, 43/2019, 21. Oktober 2019

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Das Auto

Ulf Poschardt Birgit Priemer EIN HERZ FÜRS AUTO MIT DEM E-AUTO IN DIE ZUKUNFT? Edo Reents WIDER DEN FETISCH AUTO Weert Canzler · Jörg Radtke VERKEHRSWENDE ALS Manfred Grieger KULTURWENDE KLEINE GESCHICHTE DES AUTOMOBILS Hans-Ulrich von Mende IN DEUTSCHLAND ZWISCHEN FUNKTION UND ÄSTHETIK – Oliver Schwedes ZUR GESCHICHTE INSTRUMENTE UND DES AUTODESIGNS ANWENDUNGSFELDER DER VERKEHRSPOLITIK

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Das Auto APuZ 43/2019

ULF POSCHARDT BIRGIT PRIEMER EIN HERZ FÜRS AUTO MIT DEM E-AUTO IN DIE ZUKUNFT? Das Auto wird als Mobilitätsroutine verschwin- Die E-Mobilität bietet Chancen für den Klima- den, aber als Teil eines individualistischen Kultes schutz und interessante digitale Geschäftsmo- bleiben. In der Debatte über die Verkehrswende delle. Der Markt für E-Autos springt gerade an. wird es jedoch fahrlässig auf seine Funktion Die Automobilindustrie kann davon durchaus reduziert, dabei waren die stinkenden Blechkis- profitieren, zunächst allerdings nur in der Rolle ten von Anfang an mehr. des Hardware-Herstellers. Seite 04–07 Seite 27–32

EDO REENTS WEERT CANZLER · JÖRG RADTKE WIDER DEN FETISCH AUTO VERKEHRSWENDE ALS KULTURWENDE Es erstaunt, dass der triftigste Maßstab, der bei Die vorangetriebene Verkehrswende hin zur der Beurteilung des Automobils anzulegen ist, Elektromobilität hält weiterhin am Paradigma in der öffentlichen Debatte praktisch nicht zur des eigenen Automobils fest. Der postulierte Sprache kommt: die unmittelbaren, nachweisba- Wandel läuft so auf eine bloße Antriebswende ren Schäden für Leib und Leben der Menschen, hinaus. Tatsächlich bedarf es einer Verkehrswen- unbeteiligter inbegriffen. de als Kulturwende. Seite 0 8 –11 Seite 33–38

MANFRED GRIEGER HANS-ULRICH VON MENDE KLEINE GESCHICHTE DES AUTOMOBILS ZWISCHEN FUNKTION UND ÄSTHETIK – IN DEUTSCHLAND ZUR GESCHICHTE DES AUTODESIGNS Das Auto ist ein prägendes Element der bundes- Autodesigner versuchen seit jeher, die notwen- deutschen Gesellschaft – vielen gilt es bis heute dige Technik mit etwas Eigenem zu verbinden, als alternativlos. Wie es zu dieser herausragenden um eine unverwechselbare Markenidentität zu Stellung gelangen und Generationen mental pflegen. Im Design spiegeln sich sowohl der prägen konnte, wird durch einen Blick in seine jeweilige Stand der Technik als auch gesellschaft- Geschichte erklärbar. liche Bedürfnisse wider. Seite 12–18 Seite 39–45

OLIVER SCHWEDES INSTRUMENTE UND ANWENDUNGSFELDER DER VERKEHRSPOLITIK Die Verkehrspolitik sieht sich jüngst mit neuen Gestaltungsaufgaben konfrontiert. Die zentrale Frage ist, wie sie künftig ökologische Ziele mit ökonomischen und sozialen Anforderungen verbinden kann und welche Instrumente ihr dafür zur Verfügung stehen. Seite 19–26 EDITORIAL

Den Deutschen wird ein besonderes Verhältnis zum Auto nachgesagt: Für viele ist es nicht nur Verkehrsmittel und Gebrauchsgegenstand, sondern ein geradezu zärtlich betrachtetes Symbol individueller Freiheit. Hinzu kommt die herausgehobene Stellung der Automobilindustrie: Ohne sie wäre Deutschland nicht „Exportweltmeister“, sie stellt seit Jahrzehnten viele Arbeitsplätze und hat wesentlich zu Wohlstand und wirtschaftlicher Stabilität der Bundesrepublik beigetragen. Entsprechend genießt das Auto einen historisch gewachsenen Sonderstatus, der dem motorisierten Individualverkehr verlässlichen Schutz und großzügige Förderung garantiert. Die klima- und umweltpolitischen Notwendigkeiten stellen die deutsche Auto- liebe jedoch auf eine harte Probe. Ohne massive Änderungen im Verkehrssektor sind die international verabredeten Verpflichtungen zur Senkung der Treibhausgas- emissionen kaum einzuhalten. Und da der Großteil der Personenverkehrsleistung auf Autos entfällt, betrifft dieser Umstand die Halterinnen und Halter der über 47 Millionen in Deutschland angemeldeten Pkw ganz unmittelbar. Die Industrie hat zwar begonnen, verstärkt in die Entwicklung der Elektromobilität zu inves- tieren, der Anteil reiner E-Autos auf deutschen Straßen liegt derzeit aber noch bei ernüchternden 0,2 Prozent, was rund 83 000 Fahrzeugen entspricht. Doch selbst eine vollständige Elektrifizierung würde nicht alle Probleme lösen. Schon heute mehrt sich – unabhängig von der Antriebsart und vor allem in den Städten – der Unmut über die nach wie vor wachsende Zahl der Autos, die damit einhergehende Verkehrs- und Schadstoffbelastung sowie den schwin- denden Platz für andere Fortbewegungsmittel. Gerade von der Qualität dieser Alternativen wird es abhängen, ob mehr Menschen bereit sein werden, ihr eigenes oder geteiltes Auto öfter stehen zu lassen: in den ländlichen Regionen noch viel mehr als in den Städten.

Johannes Piepenbrink

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ESSAY EIN HERZ FÜRS AUTO Warum das Automobil weiterhin Zukunft hat Ulf Poschardt

Als die Dinge schnellstmöglich geschehen sollten, auch privatwirtschaftliche Ideen geben. Die Städ- statt nur zügig, war das Auto noch ein Verspre- te sollen lebenswerter werden, der ländliche Raum chen. Es schickte die Idee individueller Freiheit seinen Anschluss nicht verlieren. Das alles ist auf einen schier endlosen Beschleunigungsstrei- machbar – aber nicht mit naivem Zeitgeistopportu- fen: voller Aufbruch, Abenteuer, Wohlstand und nismus, wie ihn die Grünen mitunter liefern, oder Schönheit. Diese Zeit scheint verloren, aber die mit jener sturen Fixiertheit auf den Status quo, wie Spannung bleibt. Denn das Auto muss sich neu ihn insbesondere Rechtspopulisten erträumen. erfinden. Aus einer einzelnen Blechkiste muss ein In der Debatte dürfen weder die Autofahrer Teil einer neuen Mobilitätsinfrastruktur werden. noch die Autoliebhaber, noch die Autoindustrie Gelingt dies, könnte das Auto seine Symbolkraft auf der Strecke bleiben. Aber sie sind allesamt ge- als Agent der Beschleunigung ins 21. Jahrhundert fragt, welche Rolle sie in diesem Prozess einneh- retten. Gelingt dies nicht, hat es keine Zukunft, men wollen. Notorische Bremser sind ebenso hilf- sondern könnte zum Schreckbild von Stillstand reich wie manische Vollgasaktivisten oder bequeme und Schmutz verkommen. Nostalgiker. Die Klimakrise hat die Debatte nur Deutschland, Europa, ja, der Westen stehen an verschärft, nicht aufgeworfen. Schon vor der Droh- einem entscheidenden Punkt, der auch eine Wen- kulisse der Kinder und Jugendlichen von „Fridays de sein könnte. Alte Wohlstands- und Glücksvor- for Future“ waren die Staus zu lang, die Fahrrad- stellungen kommen an ihr Ende, neue haben sich wege desaströs, der öffentliche Nahverkehr zu lü- noch nicht recht entwickelt. Noch nie waren ei- ckenhaft, die Infrastruktur im ländlichen Raum in- nige Autos so gut, noch nie so schnell, noch nie akzeptabel. Jetzt aber geraten diese Probleme mit so sparsam, noch nie so nachhaltig, noch nie so voller Wucht in die Brandung einer mitunter etwas aufregend. Dennoch brauen sich über den Autos überdramatisch akzentuierten Klimadiskussion. düstere Wolken zusammen. Warum? Weil es zu Technikfreunde freuen sich auf die Herausforde- viele sind, und weil aus den Straßen der Beschleu- rungen. Und wenn sogar so etwas in Teilen Gest- nigung Stauräume der Frustration geworden sind. riges wie das Auto in eine ökologische Moderne Zu viele Autos sind zu fett und dysfunktional ge- transferiert werden kann, ist die Zukunft keine fu- worden. Gleichzeitig gibt es nach wie vor Liebe turistische Horrorvorstellung, sondern eine Chan- für Oldtimer, Sportwagen und den mit schmerz- ce, das Erhaltenswerte ins Morgen zu retten. haften Leasingraten abgestotterten Familienkom- bi. Es bleibt schwierig, und statt einfacher Lösun- ALLES BLEIBT ANDERS gen sind differenzierte Überlegungen angebracht. Sie sollten sich an den Wünschen und Anliegen „Jede Epoche“, schrieb der Designtheoretiker der Bürger und Konsumenten orientieren – ohne Niklas Maak im August 2019 in der „Frankfurter die Mit- und Umwelt zu vergessen. Allgemeinen Zeitung“ richtig, „bringt eine Bau- Konkret: Es geht im Zweifel um weniger Mo- form hervor, die ihren Sehnsüchten und Obses- bilität und um umweltverträglichere Mobilität. Es sionen eine Form gibt.“ In der Mobilität kommt geht darum, dem Sportwagenfahrer freiere Straßen mit Elektroantrieb ausgestatteten Fahrzeugen im anzubieten, und denen, die gerne ohne Blechkisten Augenblick jene Leuchtturmfunktion zu, die in leben würden, müssen Radwege und ein öffentli- den 1960er Jahren noch den Supersportwagen cher Nahverkehr angeboten werden, der den All- mit zwölf Zylindern vorbehalten war. Gleich- tag ohne Pkw gelingen lässt. Dazu kann und soll es zeitig aber gibt es Freiheits- und Mobilitätssym-

04 Das Auto APuZ bole, die dem Auto neue Konkurrenz machen. Auto-Bosse übertreiben nur ein wenig, wenn Das Fahrrad ist längst zum Statussymbol gewor- sie über einen „Feldzug gegen individuelle Mobi- den. Liberale lieben das Fahrrad als ein Fortbe- lität“ klagen und darauf hinweisen, dass bei dieser wegungsmittel radikaler Leistungsgerechtigkeit. Hatz und der gestörten CO2-Fixiertheit bei Autos Jugendliche träumen nun gleichberechtigt von Deutschland am Ende eine innovative Kernindus- schlanken, leichten Supersportwagen oder aber trie verlieren könnte. Vorbildlich Fahrrad fahren- von italienischen Rennrädern der 1970er Jahre de Journalisten sympathisieren verständlicherweise oder dem individuell designten Fixie-Fahrrad. mit Mobilitätskonzepten, die eher in ihren urbanen Fahrradfahrer wollen heute ähnlich zügig voran- Blasen funktionieren. Die Autoindustrie auf der kommen wie Sportwagenfahrer und fordern ihre anderen Seite hat den Kulturwandel der bürgerli- Raserstrecken. Denn das Rad ist nur dann eine chen Eliten verpennt. Die Deutschen haben keine ernsthafte Alternative im Berufsverkehr, wenn zweite Schlüsselindustrie im Kofferraum und soll- ihm eigene Verkehrsbahnen zugestanden werden. ten fürsorglicher die Folgen einer Zertrümmerung Ein weiteres Medium der Mobilität ist das der Autoindustrie bedenken. Die ausländische Smartphone. Durch die Vernetzung von poten- Konkurrenz kann ihr Glück nicht fassen, wie breit ziellen Beifahrern und Fahrgemeinschaften kön- der PS-Antipatriotismus geworden ist. Es muss nen aus den Pendlermonaden aufregende Sozial- eine Mobilitätswende geben, Städte mit mehr Rad- lotterien werden. Wer wohnt auf meiner Strecke? wegen und U-Bahnen – aber am besten kann das Wer will in einem alten Mercedes-Strich-Achter gestaltet werden, wenn die Deutschen jede Form mitfahren? Wer bietet an, morgens ein paar Crois- von Mobilität auf innovativem Niveau anbieten sants für die Fahrgemeinschaft mitzubringen? Auf können. Dazu gehören auch gute, haltbare Autos. jeden Fall hat auch hier die Zukunft mehr Ver- sprechen und Chancen denn Risiken. Die digi- VORFAHRT FÜR tale Transformation der Wirtschaft ist ein zäher DIE FREIHEIT wie chancenreicher Prozess. Traditionsunterneh- men sind herausgefordert, weil alles anders wird, Neben der Ökobilanz der Autos wird inzwischen die Konkurrenz blutjung und flexibel ist, aber die auch ihre Kraft als Freiheitssymbol problemati- schweren Tanker der Industriemoderne kaum mit siert. Dabei macht sich auch eine Mehrheit der den Speedbooten der Start-ups konkurrieren kön- Journalisten, die offenkundig keinerlei empathi- nen. Eigentlich. sche Beziehung zu unseren Blechdoubles haben, Denn auch Erfahrung und Routine, Her- für ein Tempolimit auf Autobahnen stark und stellungswissen und Führungskraft, Netzwerke verstärkt damit eine Tendenz der Verbots- und und Innovationserfahrung sind wertvoll. Womit Regulierungslyrik, die ein neues (ökologisches) wir bei der deutschen Autoindustrie wären, die viktorianisches Zeitalter ankündigen könnte. dem Land beim Weg in Demokratie und Freiheit Die Autobahn symbolisiert einen Raum ma- 70 Jahre Wohlstand und Dynamik gesichert hat. ximaler Freiheit – in einem Land, das weitgehend Doch richtig geliebt werden , , lahmreguliert worden ist. Wer will, darf auf eini- Mercedes, BMW oder schon länger nicht. gen Strecken sein Motorrad oder seinen Sportwa- Zumindest nicht von allen. Das ist durch die selbst gen in die Raserei treiben. Vollkommen unstrittig angerichteten Schummel- und Betrugskaskaden darf man darin Unvernunft, ökologische Barba- nicht besser geworden. Um es klar zu formulie- rei und rauschhaften Hedonismus identifizieren, ren: Das Sündenregister der Autoindustrie ist bla- aber so richtig weltbewegend sind diese Millise- mabel. Der destruktive Lärm des Öko-Jakobiner- kunden für den CO2-Prozess nicht. Es sind Frei- tums aber hilft auch nur bedingt weiter. Es ist wie heitsfenster. Und jeder, der Freiheit liebt, wird auf in vielen aktuellen Spielfeldern der Politik, dass ihnen bestehen wollen. Die Streckenkilometer, in sich die link(sliberal)e Mitte einer Art Luxusmo- denen das gestattet ist, schrumpfen, der Verkehr ral verschrieben hat, die das ökonomische Funda- wird dichter. Die Existenz solcher Freiräume aber ment ihrer Werte und Ideale vollkommen außer provoziert den Gegenwartspietismus. So wie die Acht lässt. Knapp eine Million Menschen sind in Steuererhöhungswünsche fast ausschließlich von der Autoindustrie beschäftigt, viele Bundesländer jenen geteilt werden, die keine, kaum oder nur we- und Kommunen können nur deshalb sozial und nig Steuern zahlen, so finden sich unter den Freun- fürsorglich sein, weil es die Autoindustrie gibt. den des Tempolimits Bahnfreunde, Entschleunig-

05 APuZ 43/2019 te und jener Teil des Moralestablishments, der haben kein Verhältnis zur Freiheit und verstehen mit seinen armseligen Kisten schon heute auf der nicht, was andere am Auto haben. Sie wollen den Überholspur auf Einhaltung der Richtgeschwin- einfachsten Weg über ein Verbot gehen. Es geht ih- digkeit dringt, auch um ungeduldigere Menschen nen auch darum, die Lebensentwürfe jener einzu- auf das eigene, mittelmäßige Tempo einzubrem- bremsen, die sie bisher mit Umverteilungssozialis- sen. Genötigt wird auf deutschen Autobahnen öf- mus oder moralischer Ächtung drangsaliert haben. ter von den Lahmen als von den Rasanten. Das Tempolimit wird irgendwann kommen, Die verbitterten Autobahn-Pädagogen haben aber die Gegner des Tempolimits sollten den Preis in der Politik viele Anhänger. Die Tempofeind- dafür hochsetzen. Dabei hat sich auch in den fun- schaftskoalition propagiert eine egalitäre Ent- damentalistischsten Nischen der Autoliebhaberei schleunigung, bei der ein Überstaat möglichst ein ökologisches Bewusstsein entwickelt, in dem umfassend in die Freiheitsrechte seiner Bürger der eigene Mobiliätsmix problematisiert und op- eingreift, um diese zu einem lahmen, anständigen timiert wird. Das Auto wird als Mobilitätsrou- und naturgefälligen Leben ohne luxuriöse Extra- tine verschwinden, aber als Sportwagen und Teil vaganzen zu zwingen. Dort haben sich die Din- eines individualistischen Kultes bleiben. In der ak- ge aber geändert: Auch die Besitzer von Limou- tuellen Debatte über die Verkehrswende wird das sinen und Sportwagen mit viel PS bevorzugen Auto fahrlässig auf seine Funktion reduziert, dabei komfortable Reisegeschwindigkeiten abseits des waren die stinkenden Blechkisten von Anfang an Rennsportlichen. Der mündige Bürger entschei- mehr: Double des Piloten, Adrenalinlabor, Erotik- det sich für maßvolle Zügigkeit, so wie er sich für massage, Statussymbol, Lustobjekt, Projek­tions­ Biomärkte und Passivhäuser begeistert. horizont. All das ist in der Absurdität täglicher Umweltverbände, die ein Tempolimit fordern, Staualbträume nicht kleiner, sondern größer ge- haben oftmals keine Ahnung, wie das Best-of ei- worden. Wie sehr Sportwagen auch kulturelle Iko- ner Presserklärung verrät: „Wie [sic] brauchen ein nen sein können, dokumentiert zum Beispiel der Ende des Schaufahrens [Was ist das?] gegen den Fotograf und Filmemacher Stefan Bogner in seiner Klimaschutz. Die Einführung eines generellen Zauberzeitschrift „Curves“, und immer wieder Tempolimits auf Autobahnen [wäre] der Lackmus- auch in dicken Kunstbänden, die sich Petrolheads, test für die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung zu Deutsch Benzinköpfe, in ihre Garagen und auf in Klimafragen [Warum?]. Ein Tempolimit noch den Nachttisch legen. In den Büchern riecht es in diesem Jahr ist auch zwingende Voraussetzung nach Benzin. Es gibt eine Caspar-David-Friedrich- für die Entwicklung moderner, digitaler Fahrzeu- Landschaft auf dem Cover. Statt zweier einsamer ge [Hä?]. Die Kehrseite des fehlenden Tempolimits Mönche stehen dort zwei weiße Sportwagen und auf deutschen Autobahnen ist eine auf analoge PS- vor ihnen die Berge und ein wolkiger Himmel. Sie Boliden setzende Automobilindustrie [Stimmt, sind einsam vor der Natur. Gleich geht es los. siehe die deutschen Firmen Ferrari, Lamborghini, Aston Martin, Jaguar, McLaren, Shelby etc.]. Auch LIEBE IN ZEITEN die Autos der Zukunft brauchen eine Höchstge- DER VERFOLGUNG schwindigkeit [Gibt es auch Autos ohne? Hät- te ich gerne]. Die Batterien von Elektroautos ent- Autohasser und Autoliebhaber scheinen sich un- leeren sich bei hohen Geschwindigkeiten extrem versöhnlich gegenüberzustehen. Umso wichtiger schnell [Ach so]. Die Sensorik für autonomes Fah- sind die Menschen dazwischen, die Autos benut- ren ist bei hohen Geschwindigkeitsunterschieden zen, aber es nicht wollen, die Mobilität schätzen, auf Autobahnen überfordert.“ aber nicht verklären. Auf der großen öffentlichen Das ist eigentlich der schönste Punkt: Könn- Bühne setzen die Entzauberer den Ton. Nicht te es trotz Tempolimits auch Menschen geben, die ohne Fortune. Und auch die heitere Eleganz vie- dennoch schneller als 120 Stundenkilometer fah- ler radelnder Klimaaktivistinnen (nicht ihrer se- ren? Werden die dann von Öko-Avengers mit La- nioralen Fanklubs), auf Instagram gepostet, lässt serraketen aus dem Verkehr gezogen? Das ist derart speckhüftige Erwachsene in SUV noch älter aus- schlicht und realitätsfern, dass sich mündige Bür- sehen. Dennoch gibt es dieselbe heitere Eleganz, ger nur wundern können. Umweltverbände nei- zum Teil mit identischen Looks, oft auch Fahr- gen dazu, alles, was nicht ihrem öden Fahrverhal- rad liebend und vegan, bei den Petrolheads. Jun- ten entspricht, als „Schaufahren“ zu verstehen. Sie ge, grinsende Vollgasverrückte, vor allem Jungs,

06 Das Auto APuZ drahtig, minimalistisch, die eine romantische Be- Kulturgüter mit Wertschätzung behandelt wer- ziehung zu ihrem Auto haben. So wächst die Lie- den, weil sie das Leben der Anwohner in der Stadt be zum Auto in Zeiten der Verfolgung. bereichern. Symphonien aus flachen Zwölfzylin- Früher waren nahezu alle selbstbewussten, dern oder grölende Sechszylinder-Boxern können jungen Menschen beschleunigungssüchtig, heu- ebenso erfreuen wie der Anblick von alten Käfern, te ist das nur eine aufgeklärte Minderheit. Noch polierten Pagoden und antiken Landrovern. Wer nie gab es so gute Blogs über Autos, noch nie so das Auto benutzt, ist in der Bringschuld, die Stadt gute Videokolumnen, noch nie eine so tiefschür- schöner und aufregender zu machen. fende, kulturell und philosophisch fundierte Es- Stattdessen klettern auf der Internationalen sayistik über Sinn und Wesen des Automobils. Automobilausstellung Aktivisten während des Auch eine heruntergekommene S-Klasse aus den Kanzlerinnen-Rundgangs bei VW auf die glän- 1990er Jahren, ein klappriger, nur mehr von Rost- zend gewienerten Autodächer und protestieren. beulen zusammengehaltener Alfa Romeo, ein über Auch das ist eine zähe Routine, die nur zemen- zwei Generationen in der Familie gehaltener Golf tiert, was es an Debattenstillstand gibt. Dabei be- GTI – jedes Auto, das eben nicht der vernünfti- wegt sich die Autoindustrie: Porsche bringt den ge Alles-und-jeden-von-A-nach-B-Bringer ist, hat elektrisch betriebenen Taycan auf den Markt, VW die Chance, ein Mitglied der Familie oder eines den ID.3, den Corsa-E Rally. Und während Clans zu werden. Autos sind rollende Tempel für die unzähligen E-Neuheiten den Kühlergrill nur die individuelle Bewegungsfreiheit. Dennoch: Zu- mehr als Science-Fiction-Attrappe haben, wie die mindest in den Städten liegt die Hochzeit automo- gigantomane Mercedes-Limousine EQS, radika- biler Funktionalität hinter uns. Staus, Umweltver- lisieren die letzten Verbrenner ihre optische Ag- schmutzung und Parkplatzverknappung machen gressivität, so wie BMW mit seiner 4er-Studie, in auch für junge Familien das einst selbstverständ- der die einst zierlichen Nieren-Markenzeichen liche „eigene Auto“ zu einem oftmals unsinnigen zu King-Kong-Nüstern aufgebläht sind. Die gro- Objekt. In lebensweltlichen Avantgardemetropo- ßen Kisten werden größer und statussymbolis- len wie Berlin wächst die Zahl der Radfahrer er- tischer, die kleinen Autos erinnern immer mehr freulich. Aber da ginge noch mehr. Die Zukunft an Stempelkissen und Schlüsselanhänger. Bis auf der lebenswerten Stadt kann von zwei Seiten glei- den Smart sind sie ein optischer und kultureller chermaßen gedacht werden: von den Radfahrern Offenbarungseid. Sie riechen nach Langeweile, und Fußgängern, die auch Busse und Bahnen be- nach einem öden Leben, in dem alles funktionie- nutzen, und von jenen, die auf ihrem Auto beste- ren muss. Sie verraten die Träume der Menschen. hen und dafür auch bereit sind, mehr zu zahlen. Anders die PS-Geschosse, die Ungetüme, die Die ideale Mobilitätswende sortiert Mobilität eine Aufregung evozieren, die nur in den wenigs- entlang von Lebensqualitäten. Wer nicht fahren ten Fällen tatsächlich ausgelebt wird. Die Super- will, sollte baldmöglichst darauf verzichten kön- autos stehen in Sammlergaragen oder werden von nen. Auf dem Land ist das noch schwierig, aber reichen Erfolgreichen behutsam durch die sanf- auch hier kann mit künstlicher Intelligenz und in- ten Kurven des Villenviertels geschaukelt. Es ist novativen Mobilitätsanbietern jenen Milieus ge- im Großen und Ganzen zu viel falsch. Es muss holfen werden, die keinen Bock auf Kfz-Steuer, neu sortiert werden. Warum nicht entlang von Tanksäulen und schlechtes Gewissen haben. Au- Schönheit, Aufregung und einer ökologisch ver- toliebhaber bekommen leerere Straßen, und aus dienstvollen Nachhaltigkeit? Autobahnen werden wieder Freizeitparks für jene Menschen, die Schönheit und Geschwindig- Dieser Essay ist ein Kondensat meiner teilweise keit lieben. Deswegen sollten auch Güter runter bereits an anderen Stellen veröffentlichten Überle- von der Straße, rauf auf die Schiene. Das „Geh gungen zu einer ökologisch-dynamischen Rettung doch rüber“ der Gegenwart ist, selbst den Schritt der Autoliebe. in eine autofreie Zukunft zu wagen – statt sich an der ewigen Denunziation des Autos zu beteili- gen. Die Politik muss auf kommunaler, regiona- ULF POSCHARDT ler, aber auch nationaler Ebene die Alternativen ist Chefredakteur der „Welt“-Gruppe und Autor zum Auto privilegieren. Gleichzeitig sollten die der Bücher „Über Sportwagen“ (2002) und „911“ Sammler, Jäger und Führer prächtiger rollender (2013).

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ESSAY WIDER DEN FETISCH AUTO Warum die Zeit des Automobils vorbei ist Edo Reents

Es ist merkwürdig, dass das Auto gar nicht in Skulptur, ob und warum also ein nicht aufheulen- dem Land zum Fetisch geworden ist, das nach all- des Auto weniger schön ist. Doch Marinetti, das gemeinem Dafürhalten immer noch die schöns- ist bekannt, liebte auch den Lärm. ten davon baut, sondern in dem, das, ebenfalls Aber ob nun schön oder nicht – auch andere nach allgemeinem Dafürhalten, bloß die besten Mord- und Totschlaginstrumente können schön baut. In Deutschland fahren nicht nur erheb- sein, ohne deswegen schon unter dem besonderen lich weniger demolierte Autos als in Italien, wo- Schutz der staatlichen Ordnung zu stehen. Und ran sich schon zeigt, dass es hier weit mehr als dass Letzteres auf das Automobil und die es her- ein Gebrauchsgegenstand ist, bei dem schon ge- stellende Industrie zutrifft, bestreitet nicht ein- ringfügige Beschädigungen nicht geduldet wer- mal die Bundesregierung. Erst jüngst auf der In- den – hier gilt es der herrschenden Öffentlich- ternationalen Automobilausstellung in Frankfurt keit auch nicht etwa nur als Sachbeschädigung, versicherte Bundeskanzlerin Angela Merkel den sondern geradezu als Verbrechen, das geeignet ausrichtenden Verband der Automobilindustrie ist, die öffentliche Ordnung, ja, die Demokratie ausdrücklich ihrer Unterstützung und schwieg zu gefährden, wenn man, aus natürlich falsch- dabei beredt über die nicht abreißende Zahl der verstandenen Protestgründen, eines davon an- Verfehlungen einer zweifellos wichtigen, aber zündet, wie dies in Berlin im Durchschnitt ein- eben auch betrügerisch agierenden, wenigstens bis zweimal am Tag geschieht. Bei Gewalt gegen hierzulande bisher weitgehend ungestraft davon- diese sehr spezielle Sache sieht man die Men- kommenden Industrie. schenwürde praktisch schon mitgemeint. Woher kommt diese Einstellung? WER WEINT Aus Italien immerhin kam die, man muss es UM DIE TOTEN? so formulieren: vulgärphilosophische Handrei- chung für diese Hätschelei. Filippo Tommaso Der Begriff „Mordinstrument“ verlangt nach ei- Marinetti, der Schriftsteller und nachmalige fa- ner Präzisierung: Das Auto ist, wie das Messer, schistische Politiker, schlug am 20. Februar 1909 das Gewehr und der schwere Stein, ein potenziel- seine elf Thesen aufs geduldige Papier der franzö- les Mordinstrument, aus dem ein reales wird, so- sischen Zeitung „Le Figaro“ und begründete da- bald vorsätzliche Raserei mit Todesfolge gericht- mit sein Futuristisches Manifest. Die vierte These lich als Mord eingestuft wird, wie dies in jüngerer lautet: „Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit Zeit immerhin vorkommt. Wäre das Auto nicht der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: schon von sich aus so gefährlich, dann würden die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwa- wohl auch Trunkenheitsdelikte nicht so inten- gen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, siv verfolgt und empfindlich geahndet werden, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … wie dies richtigerweise der Fall ist – seine Beherr- ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu schung muss unter allen Umständen sicherge- laufen scheint, ist schöner als die Nike von Sa- stellt sein. mothrake.“ Abgesehen davon, ob es nicht ein Ka- Es erstaunt, dass der triftigste Maßstab, der bei tegorienfehler ist, schon die Geschwindigkeit als der Beurteilung des Automobils anzulegen ist, in solche „schön“ zu nennen, kann man sich auch der öffentlichen Debatte praktisch nicht zur Spra- fragen, warum es des Aufheulens bedürfen soll, che kommt: die unmittelbaren, nachweisbaren damit ein Auto schöner als die antik griechische Schäden für Leib und Leben der Menschen, un-

08 Das Auto APuZ beteiligter inbegriffen. Die Statistik spricht eine Art, kann es zu Unfällen kommen. Die auch an- deutliche, außerordentlich brutale Sprache: Seit dernorts gebrauchte Wortwahl bei solchen Be- 1950, seit überhaupt regelmäßig Zahlen erhoben schwichtigungen irritiert gleichwohl – welche werden, kamen auf deutschen Straßen mehr als jährliche Totenzahl wäre denn hinzunehmen: 780 000 Menschen ums Leben; das sind mehr, als statt der gut 3000 vielleicht 1500? Oder 500? Frankfurt am Main Einwohner hat. Ein Höchst- Die nach wie vor viel zu selten gestellte Fra- stand wurde im Jahr 1970 mit mehr als 21 000 To- ge ist: Warum nimmt eine Gesellschaft, ein Staat ten erreicht; seither sind die Zahlen, mit wenigen so etwas immer noch hin? Die Verfassung gestat- Ausschlägen, rückläufig, mittlerweile haben sie tet viele Freiheiten, auch die zum Risiko, zum ei- sich bei rund 3300 pro Jahr eingependelt – immer genen wie zum fremden. Die Verletzten und To- noch die Einwohnerzahl eines größeren Dorfs. ten werden damit ganz offensichtlich in Kauf Diese Opfer gehen nicht alle auf das Konto der genommen. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies Autos. Aus dem Bericht der Weltgesundheitsor- billigend geschieht oder nicht. Gäbe es einen po- ganisation (WHO) lässt sich, von Unterschieden litischen Willen, daran grundsätzlich etwas zu än- nach Art und Grad der Motorisierung in den ein- dern, wäre das längst geschehen. Das wäre frei- zelnen Ländern einmal abgesehen, die Faustregel lich eine (wirtschafts)systemische Angelegenheit: ableiten, dass ungefähr die Hälfte der Verkehrsto- Genauso wenig, wie die Hinweise auf die „Gier ten Pkw-Fahrer sind; der Rest entfällt auf Lkw-, der Manager“ etwas daran ändern werden, dass Motorrad- und Radfahrer sowie Fußgänger, wo- es auf dem Finanzsektor auch weiterhin zu un- bei auch hier davon auszugehen ist, dass meis- glaublichen persönlichen Bereicherungen und, tens ein Auto mit im Spiel ist, wenn jemand un- daraus resultierend, großen volkswirtschaftlichen ter den anderen Verkehrsteilnehmern umkommt. Schäden kommt, wird die Zahl der Verkehrsop- Jährlich und durchschnittlich werden in Deutsch- fer auch nur annähernd gegen null gehen, solange land mehr als 2,5 Millionen Straßenverkehrsun- Einzelne am Ausleben ihres Hedonismus und ih- fälle erfasst, bei denen rund 300 000 Personen- rer Risikobereitschaft nicht wirksam und ein für schäden auftreten. Für das erste Halbjahr 2019 alle Mal gehindert werden. Wer jedoch die Sys- teilt das Statistische Bundesamt diese Zahlen mit: temfrage stellt und auch nur vorsichtig zu beden- 1465 Verkehrstote (2,7 Prozent weniger als 2018), ken gibt, dass es „so“, nämlich mit der sinnlosen 178 500 Verletzte (5,1 Prozent weniger). Produktion immer neuerer, teurerer, schwererer Es ist die Funktion von Zahlen, Sachverhal- Autos, vielleicht doch nicht in Ewigkeit weiter- te zu relativieren. Deutschland liegt, gemessen an gehen könne, der legt angeblich „die Axt an den der Kraftfahrzeugzulassungs- und der Bevölke- Wohlstand“ und will womöglich noch, dass das rungszahl, mit seinen Verkehrstoten an 33. Stel- Land verarmt. le in einer Welt, in die es freilich sehr viele Autos Statt aber anzuerkennen, dass die deutsche exportiert, die dann eben auf ausländischen Stra- Automobilindustrie längst weit über einen ver- ßen andere Menschen Leib und Leben kosten. nünftigen Bedarf nicht nur der hiesigen Gesell- Anhänger des hiesigen Individualverkehrs ver- schaft hinaus produziert und in weiten Berei- weisen gerne auf die seit Jahrzehnten rückläufi- chen zu einer Luxusgüterindustrie geworden ist, gen Schadensbilanzen, für welche die Gründe auf reden deren Verteidiger Gefahren für sie, die In- der Hand liegen: verbesserte Sicherheitstechnik, dustrie nämlich, herbei, die es gar nicht gibt. Es strengere Verkehrsregeln, engmaschigere Über- spricht Bände, dass vernünftige Argumente ge- wachungen hinsichtlich Tempo und Alkohol so- gen den bundesdeutschen Autowahnsinn nicht wie härtere Strafen. Der für sich genommen er- etwa gehört, sondern sofort als Hass und mora- freuliche Rückgang der immer noch skandalösen lische Überheblichkeit diffamiert werden, wie ge- Schadenszahlen führt dann zu relativierenden Be- rade wieder im Umfeld der Frankfurter Automo- kenntnissen, die in keinem anderen gesellschaft- bilausstellung zu beobachten war. „Dass der Hass lichen Bereich geduldet würden. Der ehemali- auf das Automobil neue, bedrohliche Formen an- ge „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust sprach nimmt, steht außer Frage“, war etwa im Septem- im Mai 2019 in der „Welt“ von den „immer noch ber 2019 in der „Frankfurter Allgemeinen Sonn- zu vielen“ Verkehrstoten, deren Zahl liege „im- tagszeitung“ zu lesen: Was will man mit solchen mer noch zu hoch“. Natürlich: Wo Menschen im Ton des Alarmismus vorgetragenen Diagnosen sich in Massen bewegen, ganz gleich, auf welche eigentlich sagen? Dass am Ende auch jedes einzel-

09 APuZ 43/2019 ne Auto eine „Würde“ hat, die es zu schützen gel- In der prekären Schnittmenge zwischen (la- te? Seit wann haben die öffentliche Besorgnis und biler, hedonistischer) Psyche und (vermeintlich das Mitgefühl den Tötungswerkzeugen zu gelten sicherer) Technik sind Mäßigung oder Zurück- und nicht den Toten und Verletzten? Eine Öffent- haltung nicht vorgesehen. Und gerade die deut- lichkeit, die sonst schon auf rein rhetorische Ver- schen Autobauer bieten Produkte an, mit denen stöße gegen einen ungeschriebenen Sittenkodex sich die Grenzen des risikoreichen, oft schon un- mit äußerster Empfindlichkeit und hoher Sank- verantwortlichen Fahrens immer weiter verlegen tionsbereitschaft reagiert, schweigt sich über die lassen. Die technischen Voraussetzungen sind da- konkreten Menschenopfer, die der Individual- für einfach zu gut. Stefan Aust: „Die deutschen verkehr jahrein, jahraus fordert, weitgehend aus. Autos sind für hohe Geschwindigkeiten konstru- Den Preis, den der Autostandort Deutschland seit iert: Lenkung, Fahrwerk, Bremsen, die gesamte Jahrzehnten zahlt, kann man aber nicht zum Kol- Sicherheit ist an der – zumeist nur in der Theo- lateralschaden einer freiheitlichen Volkswirtschaft rie vorhandenen – unbegrenzten Fahrtgeschwin- kleinreden. Dieselben Leute, die den Erfindungs- digkeit ausgerichtet.“ Wo schon ein Tempolimit, reichtum und die Ingenieurskunst der Deutschen das Deutschland, wie Nordkorea, als eines der loben, zeigen sich, wenn es um Änderungen geht, wenigen Länder der Erde auf den Autobahnen auf einmal phantasie- und machtlos. An den Ar- faktisch nicht hat, als Freiheitsberaubung gilt, da beitsplätzen hängt bis auf Weiteres alles. kann man Fahrverbote vollends vergessen, selbst wenn in den dafür vorgesehenen Bereichen bald HERZ der Erstickungstod droht. Eingriffe in die freie SCHLÄGT HIRN Fahrtmöglichkeit für freie Bürger gelten hierzu- lande als Menschenrechtsverletzungen. Seit Langem ist vom „liebsten Kind“ der Deut- Erst auf dieser affektiven Ebene, auf der sich schen die Rede. Schon dieser betuliche, so harm- die Freunde des Automobils ja nicht weniger los daherkommende Ausdruck deutet auf das rechthaberisch und rabiat verhalten als die Geg- zutiefst irrationale, für vernünftige Argumen- ner, kommen technische, ästhetische und kultu- te kaum zugängliche Verhältnis zum Auto. Ist relle Aspekte zum Tragen. Man hört in diesem schon die Eltern-Kind-Beziehung an sich von Zusammenhang oft vom „Versprechen der Mo- Loyalität und Aufopferungsbereitschaft geprägt, derne auf Freiheit (und Geschwindigkeit)“ – eine so sind diese Verhaltensmuster bei einem Lieb- blumige Ausrede von Autofanatikern, deren lingskind noch einmal gesteigert, nicht selten bis Freiheitsverständnis dermaßen schlicht ist, dass hin zur kompletten Selbstaufgabe. Man hätschelt sie die Möglichkeit, auch das vernunftgesteuer- das Kind und lässt ihm alles durchgehen. Deswe- te, freiwillige Akzeptieren gewisser Unfreiheiten gen reagieren Autofahrer auch so allergisch auf und Beschränkungen (Tempolimits, Fahrverbo- jede Form von Verboten, ja, schon auf gering- te) könnte eine Form von Freiheit sein, gar nicht fügige Einschränkungen. In seinem Auto ist der in Betracht ziehen. Das „Versprechen“, auf das Deutsche mit sich und seinen Affekten alleine, sie sich in ihren immer gleichen kulturgeschicht- hier fühlt er sich sicher und lebt sie aus, was er lichen Betrachtungen andauernd berufen, wurde anderswo nicht so ungehindert kann. von niemandem gegeben, auch von Herrn oder Der Soziologe Tilman Allert beschrieb 2015 Frau Moderne nicht, da können sie noch so oft im „Frankfurter Allgemeine Magazin“ die spezi- Marinetti oder den französischen Philosophen fischen Gegebenheiten beim Abenteuer Indivi- Roland Barthes, der Autos mit gotischen Ka- dualverkehr so: „Der Vagabund, der Abenteurer, thedralen verglich, mit ihren abwegigen Über- der Provokateur sind als Verfallserscheinungen legungen zitieren. In den romanischen Ländern, der Fahrermoral vertraut. Sie sind der Ausgangs- aus denen diese beiden Propagandisten stammen, situation Straßenverkehr geschuldet – so erklärt hat man aber nicht nur mehr Sinn für ästhetische sich die Rigidität der Verkehrsvorschriften, kehr- Gesichtspunkte und weiß seine Liebe zum Au- seitig dazu die Versuchung, Verkehrsregeln zu tomobil deshalb auch schlüssiger zu begründen; missachten. Hohe Interaktionsdichte und einge- man sieht auch die Notwenigkeit gewisser Ein- schränkte Interpretations- und Korrekturmög- schränkungen ganz pragmatisch ein, die im Inte- lichkeiten machen den Verkehr zu einer gefähr- resse der Sicherheit und der Gesundheit der All- dungsträchtigen Erfahrungssituation.“ gemeinheit erfolgen.

10 Das Auto APuZ

WENIGER zigen, absolut unverhältnismäßigen Daherkom- WÄRE MEHR mens auch Ideologie im Spiel, bei den Besitzern wie bei den Gegnern beziehungsweise schon Has- Im Grunde ist es egal, welcher Anlass letztlich sern. Auch wenn man von ihren gewichtsbedingt den Ausschlag dafür gibt, dass der Straßenver- höheren PS-Zahlen und ihren dadurch erhöhten kehr einmal ganz grundsätzlich auf den Prüfstand Ausstößen einmal absehen wollte, dann müsste kommt. Die 780 000 Toten haben dies offensicht- man trotzdem immer noch sagen, dass sie selbst lich nicht vermocht. Auch die nicht enden wol- in den autofreundlichsten Städten, von denen es lenden, in den Anklagen gegen die VW-Spitze in Deutschland viel zu viele gibt, nichts zu suchen gerade erst wieder sichtbar werdenden Fehlleis- haben. Und auch wenn es dazu noch keine eige- tungen der einschlägigen Konzernmanager nicht; nen Untersuchungen gibt, so dürfte doch festste- denn bisher war es immer noch so, dass sich, hen, dass bei ihnen die Fühlung zur Außenwelt mochte auch ein Autohersteller moralisch dis- und zu den anderen Verkehrsteilnehmern, die kreditiert sein, an den Absatzzahlen nichts Nen- in der jüngeren Autoproduktion ohnehin gerin- nenswertes änderte. So sind es nun eben das Kli- ger wird und durch ihrerseits fehleranfällige As- ma und die Luftreinheit in den Städten, die dazu sistenzsysteme auch nicht aufgefangen werden führen, dass schärfer über den Unsinn und den kann, noch defizitärer ist. Dass größere Autos Schaden der Autonutzung in Deutschland nach- in Unfällen zudem mehr Schaden anrichten und gedacht wird, wo auf zwei Einwohner, Kinder, gefährlicher sind als kleinere Autos, ist freilich Greise und Behinderte mitgerechnet, inzwischen ein relatives Problem, das sich systemimmanent schon mehr als ein Fahrzeug kommt. diskutieren lässt und zu keinem grundsätzlichen Es spielt dabei keine Rolle, dass man hier, anders Umdenken führen wird. Ebenso wenig werden als bei den Verkehrsunfällen, keinen handgreifli- uns die rein moralisch geführten Auseinanderset- chen Kausalzusammenhang zwischen Schadstoff- zungen zwischen eher autoskeptischer Stadt- und ausstößen, vor allem Feinstaub, Kohlendioxid und aufs Auto eher angewiesener Landbevölkerung Stickoxid, und Gesundheitsgefährdung vorliegen einem Wandel näherbringen. Es geht nicht um hat. Es liegt ja auf der Hand, wie gefährlich Abgase moralische Überheblichkeit, sondern um prag- sind; die Wirkung ist, anders als bei einem Zusam- matische Erwägungen. menstoß, mittelbar, aber gewissermaßen nach- Und hier ist noch eine ganze Menge Luft nach haltig. So ist es auch beim Rauchen, und trotz- oben. Vorschläge wie der zur Abschaffung des dem ist es in der Öffentlichkeit inzwischen so gut Verbrennungsmotors oder zu Fahrverboten ver- wie verboten. Über die Unsicherheiten und statis- sprechen zwar wirkungsvoll zu sein, haben es tischen Probleme bei der Erfassung der tatsäch- (wirtschafts)politisch aber schwer. Erstaunlicher- lichen Schadensfälle durch Luftverunreinigung weise scheint sich niemand an eine Überprüfung berichtete zuletzt der „Spiegel“ im März 2019. und gegebenenfalls Steuerung der Automobilnut- Gleichzeitig berichtete der Deutschlandfunk darü- zung heranzutrauen. Dabei würde sich das loh- ber, dass die WHO für Feinstaub einen Grenzwert nen: Jeder Bürger sollte ein stärkeres Bewusstsein von zehn Mikrogramm pro Kubikmeter Luft emp- dafür entwickeln, ob wirklich jede Autofahrt nö- fehle, während die Bundesregierung sich darum tig ist. Hier kommen die verkehrstechnischen Al- bemühe, den EU-Grenzwert von 25 Mikrogramm ternativen vom Zu-Fuß-Gehen bis hin zur Bahn noch aufzuweichen. Der Atmosphärenchemiker ins Spiel. Auf jeden Fall bedürfen die Lebensge- Johannes Lelieveld schätzt, dass allein in Deutsch- wohnheiten eines Großteils der Bevölkerung ge- land jährlich ungefähr 100 000 Menschen aufgrund wisser, behutsam zu steuernder Eingriffe, für die der Feinstaubbelastung vorzeitig sterben und im man, sollte sich die Vernunft nicht durchsetzen Durchschnitt 17 Lebensjahre verlieren. Daran sind können, am Ende sogar Anreize schaffen könn- nicht nur die Kraftfahrzeuge schuld; aber es wäre te – das Klima und alle nicht verunglückten oder nur vernünftig, den Autoverkehr als einen wichti- krankgepesteten Menschen würden es danken. gen Posten einzubeziehen, wenn die Luft sauberer und das Klima besser werden sollen. Ein Problem für sich, aber nicht das eigentli- EDO REENTS che, sind schließlich die sogenannten sport utility ist Journalist und leitet das Feuilleton der vehicles (SUV). Bei ihnen ist aufgrund ihres prot- „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

11 APuZ 43/2019

KLEINE GESCHICHTE DES AUTOMOBILS IN DEUTSCHLAND Manfred Grieger

Die seit gut 125 Jahren von Verbrennungsmotoren bau nicht verleugnen.02 Nahm das 1886 entstande- angetriebenen Automobile scheinen an einem Wen- ne dreirädrige Velociped von Carl Benz Anleihen depunkt, wenn nicht gar vor dem Niedergang zu ste- beim Fahrrad, ergab sich aus der im gleichen Jahr hen.01 Zwischen geforderter Verkehrswende, verab- von Gottfried Daimler gebauten vierrädrigen Mo- redeten Klimazielen und dem verbreiteten Wunsch torkutsche schon aus dem Namen, in welcher Tradi- nach hedonistischer Tempojagd eingekeilt, steckt tionslinie sie stand.03 Aus der Verbindung von Ver- das Auto in der Klemme. Für die Mehrheit der pen- brennungsmotor mit einem Fahrgestell entstand das delnden Arbeitnehmer, der Urlauber und der Be- Automobil als umwälzende technische Innovation. wohner nichturbaner Regionen bildet das Auto ein Der ökonomische Erfolg der handwerklich-indust- nicht wegzudenkendes Fortbewegungsmittel. Für riellen Autofertigung blieb allerdings wegen der zu- andere ist der eigene Wagen ein Statussymbol oder nächst geringen Verkaufszahlen anfänglich äußerst Ausdrucksmittel ihrer Persönlichkeit, der Garant begrenzt oder sogar aus. Zudem war bis zum Be- und die Verkörperung individueller Freiheit. Einer ginn des 20. Jahrhunderts noch längst nicht ausge- wachsenden Zahl von Bewohnern urbaner Zentren macht, ob sich der Verbrennungsmotor gegenüber erscheinen Personenkraftwagen aber inzwischen den parallel entwickelten Dampf- oder Elektroautos schlichtweg überflüssig. Wegen der umweltschädi- durchsetzen würde.04 Reichweitenvorteile und hö- genden Auswirkungen der Automobilproduktion here Bedienfreundlichkeit sprachen allerdings bald und -nutzung sprechen sich manche aus Vernunft- für die Verbrenner. gründen gegen das Gesamtsystem Automobil aus. Aber dem Auto flogen in den Jahren bis zum Gleichwohl kennen viele ihren Traumwagen. Ersten Weltkrieg die Herzen keineswegs zu. Klagen Autos bilden zweifellos ein prägendes Element über den Motorengestank oder den Geräuschpegel der bundesdeutschen Gesellschaft. Dass rund um waren das Eine, soziale Vorbehalte gegen die „Her- das Automobil die dominante Leitbranche der renfahrer“ das Andere, sodass deren Rücksichtslo- deutschen Volkswirtschaft entstand, die nicht un- sigkeit manchen sogar zu Attentaten auf Automobi- wesentlich zur deutschen Exportweltmeisterschaft listen provozierte.05 Das Auto kam einem zunächst und durch gute Löhne und Gehälter zum Wohl- vor allem von Adligen und Vermögenden gewünsch- stand ganzer Generationen beigetragen hat, er- ten Distinktionsbedürfnis nach, nicht mehr länger klärt die politisch herausragende Stellung der Au- mit dem gleichen Zug fahren zu wollen wie die Pas- toindustrie. Im Folgenden werde ich nachzeichnen, sagiere der dritten Klasse. Der Individualautover- wie das Auto im gesellschaftlichen Leben in eine kehr entließ aus der Abhängigkeit von den Abfahrts- derart zentrale Rolle kam, dass es heute den meis- zeiten der Eisenbahn. Die Autonomie, jederzeit die ten als alternativlos gilt. Neben der engen Verbin- Fahrt beginnen zu können und auch außerhalb der dung von Autoindustrie, Ministerialbürokratie gelegten Schienenstränge auf Straßen zu fahren, ver- und Politik sollen auch die mentalen Aufladungen band sich mit individuellen Freiheitsgefühlen. des Automobils gezeigt werden, um die bestehen- Um dem Automobil eine höhere Akzeptanz zu den Aushärtungen einer automobilen Gesellschaft geben und sogar ein wachsendes Interesse auszulö- bundesdeutschen Typs nachvollziehbar zu machen. sen, rührten Automobilvereine wie der 1903 gegrün- dete Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC) STOTTERSTART und in wachsender Zahl auch Medien die Trom- mel für das neue Fahrgerät. Öffentliche Präsentati- Die Frühformen des Automobils konnten ihre onen, Messen, Ausfahrten und vor allem die große Herkunft aus dem Fahrrad- und dem Kutschen- Zahl von Rennen oder Zuverlässigkeitsfahrten wa-

12 Das Auto APuZ ren ausufernder Gegenstand der Berichterstattung, starke Entwicklungs- und Wachstumsimpulse, die Motorjournalisten, einer Ende der 1890er Jah- unterbrach jedoch den Aufstieg der Pkw-Bran- re entstehenden und korruptiven Einflüssen ausge- che. Danach flohen Automobilunternehmen vor setzten Gattung im Journalismus, Einkommen und den zerrütteten Verhältnissen der Inlandswirt- Einfluss versprach.06 Die Berichterstattung über schaft in den Export, der nach 1920 inflationsbe- den Motorsport, über die zahlreichen neuen Mo- dingt sogar für eine Scheinblüte sorgte. Andere delle und Marken wie auch über die Wachstumser- Unternehmen, beispielsweise BMW, diversifizier- folge der Automobilindustrie – kurz: die Schaffung ten in den Motorrad- und Automobilbau.08 Spä- einer interessierten Öffentlichkeit – bildete eine Vo- testens in der Hyperinflation aber brachen zahl- raussetzung für die gesellschaftlichen Durchsetzung reiche kapitalschwache Hersteller zusammen. des Automobils. Die Betonung von Pferdestärken, Als Teil des Konzentrationsprozesses fusio- Höchstgeschwindigkeiten, technischen Features nierten am 1. Juli 1926 die Daimler-Motoren-Ge- und der Heldenrolle von Rennfahrern, die als Lö- sellschaft und die Carl Benz & Cie. zur Daim- wenbändiger der Technik inszeniert wurden, ließen ler-Benz AG, in der Hoffnung, dadurch den das Automobil als Gegenstand modernen Aben- wirtschaftlichen Ertrag zu steigern und ihr techno- teurertums in der Industriegesellschaft und über- logisches Innovationspotenzial zu bündeln.09 Die haupt als Sache von Männern erscheinen. Obwohl unter dem Markenzeichen des dreizackigen Sterns mit dem neutralen Artikel bezeichnet, ist das Auto- angebotenen leistungsstarken und in handwerkli- mobil seither überdeutlich männlich konnotiert und cher Kleinserienfertigung hergestellten Oberklas- Ausdruck juveniler Maskulinität. sefahrzeuge fanden insbesondere auch im Ausland Die Kommunikationsstrategie der Automo- große Nachfrage, wie überhaupt die deutsche Au- bilunternehmen ging auf: Obgleich die Pkw-Ver- tomobilindustrie eher durch sportive und luxu- breitung bis zum Ersten Weltkrieg auf niedrigem riöse Pkw Bekanntheit erlangte. Nach 1924 grif- Niveau blieb, entwickelte sich eine Faszination fen Hanomag oder Opel bei der Produktion ihrer für Autos. Die schöpferische Leidenschaft, immer Kleinwagen zu der bei Ford in den USA nach 1913 neue Modelle herauszubringen, ging mit der Grün- eingesetzten Fließbandfertigung.10 Doch dem Pro- dung von etlichen Erfinderunternehmen, aber duktivitätsfortschritt stand kein bedeutendes Ab- nicht zwingend mit dynamischem Marktwachs- satzwachstum zur Seite, da Automobile als Lu- tum einher. Beispielsweise musste die Coswiga- xusgut galten und keine steuerliche Förderung Produktion von Emil Nacke, dem ersten Auto- erhielten. Wegen des begrenzten Absatzes kam es mobilbauer Sachsens, bereits vor 1914 eingestellt zu einer für die deutsche Automobilindustrie nicht werden, und die meisten Automobilmarken aus ganz untypischen „Fehlrationalisierung“.11 Auch der Frühphase verschwanden rasch wieder.07 der an den Stückzahlen gemessen größte Pkw-Her- Die Industrialisierung des Krieges gab zwar steller Opel geriet in finanzielle Schieflage, sodass zwischen 1914 und 1918 dem Nutzfahrzeugbau General Motors im Rahmen seiner Internationali- sierungsstrategie das Unternehmen übernahm.12 Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise 01 Vgl. Kurt Möser, Geschichte des Autos, Frankfurt/M.–New setzte den Automobilunternehmen weiter zu: Bis York 2002. 1932 schrumpfte die Produktion auf einen Tief- 02 Siehe auch den Beitrag von Hans-Ulrich von Mende in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 03 Vgl. Reinhard Seiffert, Die Ära Gottlieb Daimlers. Neue 08 Vgl. Manfred Grunert/Florian Triebel, Das Unternehmen Perspektiven zur Frühgeschichte des Automobils und seiner BMW seit 1916, München 2006, S. 20ff. Technik, Wiesbaden 2009, S. 98ff., 171ff. 09 Vgl. Wilfried Feldenkirchen, „Vom Guten das Beste“. Von 04 Vgl. Gijs Mom, Electric Vehicle. Technology and Expecta- Daimler und Benz zur DaimlerChrysler AG, Bd 1: Die ersten tions in the Automobile Age, Baltimore–London 2004, S. 64ff. 100 Jahre (1883–1983), München 2003, S. 95ff. 05 Vgl. Barbara Haubner, Nervenkitzel und Freizeitvergnügen. 10 Vgl. Reiner Flik, Von Ford lernen? Automobilbau und Mo- Automobilismus in Deutschland 1886–1914, Göttingen 1998. torisierung in Deutschland bis 1933, Köln–Weimar–Wien 2001, 06 Vgl. Christoph Maria Merki, Der holprige Siegeszug des Au- S. 169ff. tomobils 1895–1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in 11 Fritz Blaich, Die Fehlrationalisierung in der deutschen Auto- Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien–Köln–Weimar mobilindustrie 1924 bis 1929, in: Tradition 1/1973, S. 18–33. 2002, S. 303ff. 12 Vgl. Flik (Anm. 10), S. 169ff.; Günter Neliba, Die Opel-Werke 07 Vgl. Dana Runge/Petra Hamann/Thomas Gisel (Hrsg.), Emil im Konzern von General Motors (1929–1948) in Rüsselsheim und Hermann Nacke. Sachsens erster Automobilbauer. Biografie und Brandenburg. Produktion für Aufrüstung und Krieg ab 1935 unter illustrierte Firmengeschichte, Dresden 2007, S. 53ff. nationalsozialistischer Herrschaft, Frankfurt/M. 2000, S. 29ff.

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Vom KdF-Wagen …

Plakatwerbung für ein Gesellschaftsspiel rund um die KdF-Wagen-Sparaktion der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF), um 1941. Quelle: picture alliance/akg-images

stand von 43 448 und die Zahl der Neuzulassun- zialisten, die sich selbst als junge Bewegung in- gen auf 41 118 Pkw. Die Branche gab auf dem Hö- szenierten, für die eigene Sache. Gleich nach hepunkt der Krise nur noch 33 000 Beschäftigten Übernahme der Regierungsgewalt am 30. Ja- Arbeit.13 Zur Rettung des heimischen Automo- nuar 1933 brachte Adolf Hitler, der um die vi- bilbaus initiierte die sächsische Staatsregierung im sionäre Ausstrahlung der Automobilität wusste Juni 1932 die Fusion der Markenhersteller , und auf kurzfristige Arbeitsmarkteffekte hoff- Wanderer, Audi und DKW zur Auto-Union AG, te, die steuerliche Förderung des Automobils auf die nach dem Neustart die technologischen und den Weg.14 Auch die nationalsozialistische Inf- wirtschaftlichen Potenziale als Mehrmarkenun- rastrukturpolitik des propagandistisch heraus- ternehmen zu nutzen wusste. gestellten Autobahnbaus und die Unterstützung des Rennsports wirkten als Förderung des Au- AUTOMOBILE tos.15 Dass sich Hitler gern in einem repräsenta- DIKTATUR 14 Vgl. Heidrun Edelmann, Vom Luxusgut zum Gebrauchsge- Die vom Automobil ausgehende symbolische genstand. Die Geschichte der Verbreitung von Personenkraftwa- Kraft nutzten zuerst technikaffine Nationalso- gen in Deutschland, Frankfurt/M. 1989, S. 157ff. 15 Vgl. Uwe Day, Silberpfeil und Hakenkreuz. Autorennsport im Nationalsozialismus, Berlin 2005, S. 87ff.; Erhard Schütz/ 13 Vgl. Reichsverband der Automobilindustrie (Hrsg.), Tatsachen Eckhard Gruber, Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft 1938, Berlin 1939, S. 4. der „Straßen des Führers“, 1933–1941, Berlin 2000.

14 Das Auto APuZ

… zum Symbol des „Wirtschaftswunders“

Im Wolfsburger Volkswagenwerk wird am 5. August 1955 der millionste Volkswagen, ein Käfer, präsentiert. Quelle: picture alliance/dpa (Fotograf: Gerd Herold) tiven Mercedes 770 zeigte und die Rennerfolge gänzende Rüstungsaufträge band die nationalso- von Daimler und der Auto-Union als Überle- zialistische Regierung nicht nur Staatsunterneh- genheit deutscher Technik herausstellte, unter- men wie die Auto-Union AG, sondern auch die strich seine Absicht, als erster Ermöglicher der Daimler-Benz AG oder BMW an sich.17 Automobilität zu gelten. Die Strategie ging auf, Auch wenn der Fahrzeugbestand zwischen da sich bereits 1933 der Gesamtwert der Pkw- 1932 und 1938 von 561 000 auf 1,3 Millionen Pkw Erzeugung gegenüber dem Vorjahr um 62 Pro- anstieg, lag die Zahl der Krafträder mit 1,7 Mil- zent und die Belegschaftszahl um zwei Drit- lionen noch höher. Die Vision einer automobi- tel auf 55 000 Mitarbeiter vergrößerte. Die len Diktatur erhielt erst mit der Propagierung Produktion verdoppelte sich sogar von 51 845 der Volkswagen-Idee Konturen. Der von Ferdi- auf 105 667 Pkw. Das Wachstum hielt bis 1938 nand Porsche nach 1934 konstruierte „deutsche an, wobei sich allerdings ab 1937/38 aufrüs- Volkswagen“ sollte in der im heutigen Wolfsburg tungsbedingt eine spürbare Verlangsamung auf von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) nach US- knapp drei Prozent bei Produktion und Absatz amerikanischem Vorbild errichteten Fabrik ab ergab. Die Vervierfachung der Belegschaften auf 139 000 Arbeiter und Angestellte und die zwi- 17 Vgl. Martin Kukowski/Rudolf Boch, Kriegswirtschaft und schen 1932 und 1938 erzielte Versechsfachung Arbeitseinsatz bei der Auto Union AG Chemnitz im Zweiten der Fertigung auf 276 804 Pkw rechnete sich das Weltkrieg, Stuttgart 2014, S. 43ff.; Neil Gregor, Stern und 16 Hakenkreuz, Daimler-Benz im Dritten Reich, Berlin 1997, S. 55ff.; NS-Regimes als eigene Leistung an. Durch er- Till Lorenzen, BMW als Flugmotorenhersteller 1926–1940. Staatliche Lenkungsmaßnahmen und unternehmerische Hand- 16 Vgl. Tatsachen und Zahlen 1938 (Anm. 13), S. 72. lungsspielräume, München 2008, S. 143ff.

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Spätsommer 1939 in Großserie hergestellt wer- ten, etwas später auch Daimler-Benz.21 Die in den. Für die Verbreitung des Kraft-durch-Freu- der sowjetischen Besatzungszone weitgehend de- de-Wagens wurde ein Sparplansystem aufgelegt, montierte Auto-Union startete 1949 in Ingolstadt an dem bis Kriegsende rund 336 000 „Volksge- neu.22 nossen“ teilnahmen.18 Das Auto wurde zum Motor des sogenann- Der im September 1939 begonnene Erobe- ten Wirtschaftswunders. Die Pkw-Produktion rungskrieg entließ die Nationalsozialisten aus ging nach der Währungsreform geradezu durch ihrer wegen der Rohstoffknappheit ohnedies die Decke: Liefen 1949 bereits 104 055 Pkw von uneinlösbaren Lieferverpflichtung, zumal bis den Bändern, davon allein 46 514 Fahrzeuge im Kriegsende nur 630 KdF-Wagen die Fließbän- Volkswagenwerk, waren es 1960 bereits 1,8 Mil- der des Volkswagenwerks verließen. Doch das lionen Personen- und Kombinationskraftwagen. NS-Regime vermochte es, die Utopie einer für Kleinstkraftwagen wie Isetta oder Messerschmitt alle „Volksgenossen“ erreichbaren Motorisierung Kabinenroller hatten nur eine kurze Blüte, so- in den sozialen Hoffnungen zu verankern. Denn dass als vollwertiges Gebrauchsfahrzeug die Sil- die am 19. März 1942 durch einen „Führerbefehl“ houette der Volkswagen-Limousine das Straßen- im Volkswagenwerk monopolisierte Kübel- und bild prägte. Neben dem VW-Käfer wurden auch Schwimmwagenfertigung galt gleichwohl als Vor- Adenauers Mercedes oder der ab 1950 in Stutt- bote einer späteren „Massenmotorisierung“ in ei- gart gefertigte Porsche-Sportwagen zu Ikonen ner nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. des deutschen Automobilbaus, da sie einerseits Tatsächlich dominierte im Volkswagenwerk wie die Vorteile der Basismotorisierung durch fordis- in den anderen Automobilunternehmen die di- tische Großserienfertigung und andererseits die rekte Rüstungsfertigung, die mit der Ausnutzung technische und ästhetische Vorreiterstellung im der Arbeitskraft von Tausenden Zwangsarbeitern Luxus- und Sportsegment verkörperten.23 Der einherging.19 wirtschaftliche Erfolg deutscher Autos im Aus- land trug zu einer positiven Zahlungsbilanz bei, MOTOR DER und die Automobilindustrie gab in wachsendem WOHLSTANDSGESELLSCHAFT Maße Arbeit und Einkommen. Auf dieser Basis entwickelte sich das Automobil zu einem Mo- Nach einer Rüstungsblüte lag die deutsche Auto- tor der gesellschaftlichen Entwicklung und der mobilindustrie beim Untergang des NS-Regimes Wohlstandsgesellschaft. am Boden und in Trümmern. Doch der Wieder- Als Ausweis der Zugehörigkeit zur Gemein- aufbau von Verwaltung und Versorgung benötig- schaft der Erfolgreichen galt alsbald auch der te Autos, sodass das unter britischer Treuhänder- individuelle Automobilbesitz. Ohne Rücksicht schaft stehende Volkswagenwerk im Dezember auf Abfahrtszeiten oder Mitfahrer starten zu 1945 mit der Zivilfertigung einer Limousine be- können, entwickelte er sich zum Flexibilitäts- ginnen und so zum Vorreiter werden konnte.20 vorteil, sodass das Automobil zum Statussym- Alsbald folgten Ford und Opel, die während des bol und zum Traumobjekt des eigenen sozia- Krieges als Unternehmen in US-amerikanischem len Aufstiegs wurde. Die wachstumsversessene Besitz unter Zwangsverwaltung gestanden hat- Bundesrepublik förderte das Pendeln steuerlich,

18 Vgl. Hans Mommsen/Manfred Grieger, Das Volkswagen- 21 Vgl. Ingo Köhler, Das Automobil in der Wirtschaftsgeschich- werk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996, te der Bundesrepublik Deutschland 1945–1960, in: Rolf Spilker S. 53ff. (Hrsg.), Richtig in Fahrt kommen. Automobilisierung nach 1945 in 19 Vgl. Manfred Grieger, Der Betrieb als Ort der Zwangs - der Bundesrepublik Deutschland, Osnabrück 2012, S. 18–33. arbeit. Das Volkswagenwerk und andere Unternehmen zwi - 22 Vgl. Thomas Schlemmer, Vier Ringe für Ingolstadt. Die Auto schen 1939 und 1945, in: Jürgen Lillteicher (Hrsg.), Profiteure Union zwischen Neubeginn und Krise 1945 bis 1968, in: Spilker des NS-Systems? Deutsche Unternehmen und das „Dritte (Anm. 21), S. 86–101. Reich“, Berlin 2006, S. 82–107; Kukowski/Boch (Anm. 17), 23 Vgl. Nils Beckmann, Käfer, Goggos, Heckflossen. Eine S. 233ff.; Constanze Werner, Kriegswirtschaft und Zwangs - retrospektive Studie über die westdeutschen Automobilmärkte arbeit bei BMW, München 2006, S. 145ff.; Gregor (Anm. 17), in den Jahren der beginnenden Massenmotorisierung, Stuttgart S. 264ff. 2006, S. 228ff.; Hans Walter Hütter, Adenauers Mercedes 20 Vgl. Markus Lupa, Spurwechsel auf britischen Befehl. 300. Geschichte eines Dienstwagens, Bonn 2003; Dirk-Michael Der Wandel des Volkswagenwerks zum Marktunternehmen Conradt, Porsche 356. Fahren in seiner schönsten Form, 1945–1949, Wolfsburg 2010, S. 33. Stuttgart 2008.

16 Das Auto APuZ wie überhaupt ein gesellschaftlicher Konsens der Automobilindustrie (VDA) oder dem ADAC pro Auto bestand. Obwohl die unzureichen- mit dessen Kampagnenslogan „Freie Fahrt für de Infrastruktur das Autofahren in den 1950er freie Bürger“ nicht durchzusetzen.27 Jahren keineswegs zum Vergnügen machte und Stattdessen sollten Fahrzeugsicherheit und auch die dynamisch wachsende Zahl der Ver- Verbrauchsminimierung wie überhaupt techni- kehrstoten bei Lichte besehen nicht fürs Auto- sche Innovationen die deutsche Automobilindus- mobil warb, erfolgte ein einseitiger Ausbau des trie aus der Krise führen. Denn obwohl die Ben- Fernstraßennetzes und der „autogerechte“ Um- zinpreise deutlich nach oben gingen, setzte der bau der Städte.24 Auch die Urlaubs- und Frei- automobile Hedonismus ab 1976 beispielsweise zeitgestaltung veränderte sich nachhaltig – „Au- im leistungsstarken VW Golf GTI auf erreichba- towandern“ kam in Mode. Der Vorrang der re Sportlichkeit.28 Von der Dieseltechnologie gin- Automobilität unterlag keinem grundlegenden gen zusätzliche Wachstumsimpulse aus, da sie mit Zweifel, zumal die Automobilindustrie im „gol- dem Argument einer deutlichen Kraftstoffeinspa- denen Zeitalter“ wirtschaftlicher Entwicklungs- rung auch bei Kompaktwagen Verbreitung fand.29 motor blieb. Die Produktion stieg bis 1973 auf Ungeachtet der Diskussionen über die not- mehr als 3,3 Millionen Pkw an, von denen knapp wendige Abgasreinigung, die gegen den anhalten- 2 Millionen beziehungsweise 59,4 Prozent in den Widerstand der Automobilindustrie erst 1989 den Export gingen. Allerdings wuchs im Gegen- zur Katalysatorpflicht führte,30 stiegen die Pro- zug der Deutschland-Absatz vor allem italieni- duktions- und Absatzzahlen wieder deutlich an. scher und französischer Hersteller bis 1973 auf 1989 lag die Pkw-Produktion bei einem neuen Re- rund 770 000 Fahrzeuge.25 kordwert von 4,1 Millionen Fahrzeugen, von de- nen 61,3 Prozent exportiert wurden. Die Zahl der KRISENERPROBT Neuzulassungen stagnierte in Deutschland aller- IN DIE 1980ER JAHRE dings bei 2,4 Millionen Pkw.31 Hatte das Auto in den Wirtschaftswunderzeiten vor allem zur sozia- Die erste Ölpreiskrise 1973 drückte die Produk- len Öffnung des Autobesitzes beigetragen, bündel- tionszahlen 1974/75 um ein Viertel, während te sich die hedonistische Tendenz der Automobili- die zweite Ölpreiskrise 1979 die Pkw-Fertigung tät 1982 in der programmatischen Popmusik-Zeile um ein Achtel senkte. Zugleich drohte der Im- „Ich will Spaß, ich geb Gas“. Das leistungsstarke port von rund einer Million vor allem japani- und hochgeschwindigkeitstaugliche Auto sorgte scher Fahrzeuge die Stellung deutscher Herstel- in der Generation der heutigen Entscheidungsträ- ler zu unterminieren.26 Vor diesem Hintergrund ger für die mentale Grundierung im „Autoland“ versandeten die in den frühen 1970er Jahren von Deutschland. Die weiterhin wachstumsfixierte den sozialliberalen Regierungen zur Förderung Pfadabhängigkeit verhinderte trotz des drohenden des öffentlichen Personennahverkehrs ausgehen- „Verkehrsinfarkts“ eine Neuorientierung.32 den Impulse, zumal der 1974 ins Amt berufene Bundesminister für Verkehr, der frühere Gewerk- schafter Kurt Gscheidle, dem Erhalt der Arbeits- 27 Vgl. VDA (Hrsg.), Fakten gegen Tempolimit auf Autobahnen, plätze und der Privatisierung der Deutschen Frankfurt/M. 1985. 28 Vgl. Norbert Steiniczka, Das „narrensichere“ Auto. Die Bahn Priorität einräumte. Selbst ein Tempolimit Entwicklung passiver Sicherheitstechnik in der Bundesrepublik war gegen die Mehrheit der Automobilnutzer Deutschland, Darmstadt 2006, S. 288ff.; Ingo Köhler, Auto-Iden- und mächtige Lobbyverbände wie dem Verband titäten. Marketing, Konsum und Produktbilder des Automobils nach dem Boom, Göttingen 2018, S. 322ff. 29 Vgl. Christopher Neumaier, Dieselautos in Deutschland und 24 Vgl. Ralf Dorn, Auf dem Weg zur autogerechten Stadt? Ver- den USA. Zum Verhältnis von Technologie, Konsum und Politik, kehrsplanung Hannovers unter Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht, 1949–2005, Stuttgart 2010, S. 70ff. in: Spilker (Anm. 21), S. 204–219. 30 Vgl. ders., Die Einführung des „umweltfreundlichen Autos“ 25 Vgl. Verband der Automobilindustrie (VDA) (Hrsg.), in den 1980er-Jahren im Spannungsverhältnis von Wirtschaft, Tatsachen und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft 1981, Politik und Konsum, in: Themenportal Europäische Geschichte, Frankfurt/M. 1982, S. 27. 2012, www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1576. 26 Vgl. Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute 31 Vgl. VDA (Hrsg.), Tatsachen und Zahlen aus der Kraftfahr- begann, München 2019, S. 305ff.; Haimo Kinnen, Die japanische zeugwirtschaft 1991, Frankfurt/M. 1992, S. 27. Herausforderung. Dargestellt am Beispiel der deutschen Auto- 32 Vgl. Arne Lüers (Hrsg.), Ohne Automobil. Klimaverträgliche Kon- mobilindustrie, München 1982. zepte gegen den Verkehrsinfarkt, Freiburg/Br.–Darmstadt 1992.

17 APuZ 43/2019

ENTWICKLUNGEN SEIT stellte systemische Verbrauchsminimierung mo- DER WIEDERVEREINIGUNG derner Motorengenerationen in der Wirklichkeit bisher nicht zeigen konnte. Darüber hat auch die Die Beseitigung der deutsch-deutschen Grenze wachsende Zahl hochqualifizierter Fernpendler, bescherte von 1990 bis 1992 glänzende Auto-Ge- die ihre mobile Lebensform als Beitrag zur indi- schäfte: 1991 wurden in Deutschland 4,16 Millio- viduellen Selbstoptimierung oder als notwendige nen Pkw neu zugelassen, der Pkw-Bestand stieg Voraussetzung ihrer Einkommenserzielung be- auf 32 Millionen Fahrzeuge an.33 Anfang der trachten,36 ebenso zu erhöhten Abgasemissionen 1990er Jahre bekamen Überlegungen zur Um- beigetragen wie der wachsende Anteil sogenann- weltverträglichkeit kurzfristig höhere Bedeu- ter sport utility vehicles (SUV) und Geländewagen tung, sodass 1991 im Volkswagen-Markenvor- am Pkw-Gesamtbestand von 47,1 Millionen Pkw stand ein eigenes Umweltressort entstand und am Jahresende 2018. Unter den 2018 in Deutsch- auch ein batteriebasierter Elektro-Golf angebo- land gefertigten 5,1 Millionen Pkw waren etwas ten wurde.34 Doch nach dem Ende der durch die mehr als eine Million Geländewagen. Allerdings deutsche Einheit und die Öffnung Osteuropas gingen die Neuzulassungen 2018 wegen der längst ausgelösten automobilen Sonderkonjunktur ging eingetretenen Marktsättigung auf 3,4 Million Pkw es zur Überwindung der wirtschaftlichen Schief- zurück.37 Die schon seit Langem globalisierten lage wieder vor allem um Absatzsteigerung, hö- deutschen Unternehmen sind aber weiterhin ge- here Rentabilität und Arbeitsplatzsicherheit. Die wachsen, weil insbesondere die Automobilisie- tradiert enge Loyalitätsbeziehung zwischen Au- rung Chinas Wachstumsimpulse gesetzt hat. tomobilindustrie und Politik fand in der Per- Der nicht ohne Stolz vorgetragene Hinweis son von Gerhard Schröder als „Auto-Kanzler“ auf die Ende 2018 in der deutschen Automobilin- und in der Institutionalisierung von „Auto-Gip- dustrie beschäftigten 834 000 Mitarbeiter soll die feln“ im Kanzleramt seine vielleicht deutlichste Branche als Arbeitsplatzmaschine ausweisen.38 Ausprägung.35 Aus der auch von der IG Metall herausgestell- Seit dem Jahrtausendwechsel umfasst das An- ten massiven Arbeitsmarktbedeutung ergibt sich gebot der deutschen Hersteller vor allem Model- die politische Erwartung, regierungsseitig kei- le mit immer leistungsstärkeren Motoren. Auch ne die Beschäftigung gefährdende Entwicklung sind die Abmessungen immer weiter gewachsen, zuzulassen. wodurch auch das Fahrzeuggewicht zugenom- Aus historischer Sicht erschweren nicht nur men hat, sodass sich die in der Werbung herausge- die hard facts der Ökonomie und der Lebensver- hältnisse eine Umorientierung, sondern vor allem emotionale Konditionierungen.39 Ungeachtet der 33 Vgl. VDA (Hrsg.), Tatsachen und Zahlen aus der Kraftfahr- generationell in Automobilleidenschaften fortge- zeugwirtschaft 2001, Frankfurt/M. 2002, S. 9. 34 Vgl. Malte Schumacher/Manfred Grieger, Wasser – Boden schriebenen Erfahrungen von Geschwindigkeit – Luft. Beiträge zur Umweltgeschichte des Volkswagenwerks und wirtschaftlichem Erfolg dürften die Kon- Wolfsburg, Wolfsburg 2002, S. 124ff. flikte ums Auto zunehmen, da die individuelle 35 Vgl. Werner Reh, Die wirtschaftliche und politische Macht Automobilität zumindest von einer lautstarken einer Branche. Das Beispiel der deutschen Automobilindustrie, Minderheit nicht länger als alternativlos hinge- in: Kurswechsel 1/2018, S. 71–80. 40 36 Vgl. Raphael Emanuel Dorn, Alle in Bewegung. Räumliche nommen wird. Vor diesem Hintergrund bildet Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland 1980–2010, Göt- der 2015 aufgedeckte Dieselskandal womöglich tingen 2018, S. 162ff. den Ausgangspunkt einer Entwicklung, die dem 37 Vgl. VDA, Allgemeines. Angaben zu Forschungsausgaben, Ausgang der deutschen Gesellschaft und ihrer Umsätzen und Beschäftigten in der Automobilwirtschaft, o.D., Automobilnutzer aus ererbter Abhängigkeit vo- www.vda.de/de/services/zahlen-und-daten/jahreszahlen/allge- meines.html. rausgehen könnte. 38 Vgl. VDA, Zahlen und Daten, o.D., www.vda.de/de/servi- ces/zahlen-und-daten/zahlen-und-daten-uebersicht.html. 39 Vgl. Harald Welzer, Mentale Infrastrukturen. Wie das MANFRED GRIEGER Wachstum in die Welt und in die Seelen kam, Berlin 2011; Kurt ist promovierter Historiker und Honorarprofessor Möser, Autoleidenschaft, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Geliebt. Gebraucht. Ge- am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte hasst. Die Deutschen und ihre Autos, Dresden 2018, S. 136–149. der Georg-August-Universität Göttingen. 40 Vgl. Stephan Rammler, Volk ohne Auto, Frankfurt/M. 2017. [email protected]

18 Das Auto APuZ

AM STEUER? Instrumente und Anwendungsfelder der Verkehrspolitik

Oliver Schwedes

Die Verkehrspolitik erfährt aktuell eine Renais- eröffnet Perspektiven für eine neue integrierte sance. Während jahrzehntelang ihre vornehmste Verkehrspolitik, die den ideologisch geprägten Aufgabe offenbar darin bestand, den stetig wach- Konflikt für oder gegen das Auto durch eine poli- senden Verkehrsfluss aufrechtzuerhalten, indem tische Entscheidung auflöst, und die sich an über- die notwendige Infrastruktur zur Verfügung ge- geordneten Gemeinwohlzielen orientiert. stellt und der fließende Verkehr möglichst rei- bungslos organisiert wurde, werden jetzt neue DIE AUTOGESELLSCHAFT Gestaltungsaufgaben an sie herangetragen. Zum einen gerät der alte Entwicklungspfad zunehmend Immer wieder gibt es gesellschaftliche Phänome- in die Kritik, weil er den angestrebten Nachhal- ne, von denen die Zeitgenossinnen und Zeitgenos- tigkeitszielen widerspricht. Zum anderen wan- sen meinen, sie seien immer schon so gewesen, wo- delt sich in der Bevölkerung das Verständnis von raus sie schließen, es könne auch gar nicht anders Verkehr und Mobilität. Durch beides ist das eta- sein. Dieser fehlende Möglichkeitssinn ist glei- blierte und dominierende System der Automo- chermaßen entlastend und beruhigend und erfüllt bilität berührt, dass bisher alle Nachhaltigkeits- damit eine wichtige Funktion, solange der einge- ziele konterkariert und den Anforderungen einer schlagene Entwicklungspfad erfolgreich beschrit- wachsenden Stadtbevölkerung widerspricht. ten wird. Das gilt seit Ende des Zweiten Weltkriegs Damit sieht sich die Verkehrspolitik von drei insbesondere für das Verkehrssystem beziehungs- Seiten gefordert: Erstens muss sie das Verkehrssys- weise den Automobilismus – „er rollt und rollt tem auf eine Weise neu organisieren, dass es seinen und rollt …“ Zum Problem wird der fehlende Beitrag zur Erreichung der politisch vereinbar- Möglichkeitssinn hingegen in Zeiten eines dyna- ten Klimaziele leistet. In diesem Zusammenhang mischen gesellschaftlichen Wandels und angesichts muss zweitens der enge Zusammenhang von Wirt- der daraus resultierenden Herausforderungen. Das schafts- und Verkehrswachstum aufgelöst werden. fehlende historische Verständnis dafür, dass alles Drittens schließlich sieht sich die Verkehrspolitik schon einmal ganz anders war und deshalb auch zunehmend in der Pflicht, den neuen Nutzungs- in Zukunft alles ganz anders sein könnte, entfaltet anforderungen wachsender Teile der Stadtbevöl- dann bei den Betroffenen starke Beharrungskräf- kerung gerecht zu werden, die immer lauter arti- te, die den notwendigen gesellschaftlichen Wandel kuliert werden und heute weit mehr umfassen als behindern oder sogar blockieren. das private Automobil. Die zentrale Frage lautet, Das Auto wird mittlerweile als etwas so Selbst- wie die Verkehrspolitik zukünftig die ökologi- verständliches wahrgenommen, dass viele Men- schen Ziele mit den ökonomischen und sozialen schen mit seinem drohenden Verlust die gesamte Anforderungen verbinden kann und welche In- Gesellschaft, in der sie leben, infrage gestellt sehen. strumente ihr dafür zur Verfügung stehen. In der Folge stellen sich Existenzängste ein, die Bevor ich im Folgenden die verkehrspoliti- entsprechenden Widerspruch erzeugen. Das be- schen Instrumente und denkbare Anwendungs- ginnt mit dem wirtschaftlichen Wohlstand, der eng felder vorstelle, soll zunächst auf das aktuelle mit der deutschen Automobilindustrie verbunden Verkehrssystem und die sich daraus ergebenden wird, und reicht bis zur gesellschaftlichen Teilhabe verkehrspolitischen Herausforderungen einge- jeder und jedes Einzelnen, die häufig an das private gangen werden. Die damit gewonnene Einsicht Automobil geknüpft ist. Und tatsächlich handelt es

19 APuZ 43/2019 sich bei dem Automobilismus um ein technisches ralische Appelle gegen das Auto und für den öf- Großsystem, das die gesamte Gesellschaft jahr- fentlichen Verkehr aufzulösen ist. Vielmehr geht zehntelang auf vielfältige Weise geprägt hat, in die es hier um eine Vielzahl handfester Interessen, die mehrere Generationen selbstverständlich hineinge- von der Verkehrspolitik zu berücksichtigen sind wachsen sind und mit der viele sich identifizieren. und die gleichzeitig massiven Einfluss auf die po- Um die Herausforderung richtig einschätzen litische Entscheidungsfindung nehmen.02 Aller- zu können, mit der sich die Verkehrspolitik kon- dings handelt es sich bei der gesellschaftspoliti- frontiert sieht, wenn sie die selbstgesteckten Kli- schen Auseinandersetzung um die zukünftige maziele erreichen will, muss man sich vor Augen Bedeutung des Automobils nur um das Symptom führen, wie sehr die aktuellen gesellschaftlichen für ein tieferliegendes Strukturproblem, das von Verhältnisse der Autonutzung dienen. Auch hier den eigentlichen verkehrspolitischen Herausfor- gilt, dass viele Dinge als selbstverständlich vor- derungen ablenkt. Nicht das Auto ist das Pro- ausgesetzt werden, obwohl es lange gedauert hat, blem, sondern das Verkehrswachstum. bis die notwendigen Rahmenbedingungen ge- schaffen waren, die eine Nutzung des privaten WACHSTUMSSPIRALE Autos durch die Mehrheit der Bevölkerung über- haupt erst ermöglicht haben. Teilweise mussten Gemessen am Basisjahr 1990 hat der Verkehrssek- sie erst gegen massiven Widerstand durchgesetzt tor bis heute keinen Beitrag zur Bekämpfung des werden.01 Entstanden ist ein Verkehrssystem, Klimawandels geleistet. Vielmehr ist er der einzige das auf rund 650 000 Straßenkilometern basiert, gesellschaftliche Sektor, in dem die CO2-Emissio- 14 500 Tankstellen und 430 Raststätten umfasst, nen weiter steigen (Abbildung 1). Wie lässt sich er- und dessen reibungsloser Betrieb durch mehr als klären, dass in allen anderen gesellschaftlichen Be- 10 000 Fahrschulen und über 36 000 Kraftfahr- reichen Erfolge zu verzeichnen sind, nicht aber im zeugwerkstätten aufrechterhalten wird. Verkehr? Zunächst ist festzuhalten, dass der Ver- Die genannten Infrastrukturen müssen ihrer- kehrssektor in den vergangenen Jahrzehnten gro- seits unterhalten werden, von Baufirmen, Betrei- ße Effizienzgewinne zu verzeichnen hat. So konn- bern von Tankstellen, Rast- und Werkstätten und ten etwa durch technische Innovationen in der anderen mehr. Gespeist wird das Verkehrssys- Motorenentwicklung der Benzinverbrauch und in tem von den Automobilkonzernen, die Jahr für der Folge die CO2-Emissionen kontinuierlich re-

Jahr 3,4 Millionen Neuwagen für den deutschen duziert werden. Dass die CO2-Emissionen insge- Markt produzieren. Schließlich werden die Au- samt dennoch weiter steigen, zeigt, dass technische tofahrerinnen und Autofahrer auf das Engste be- Innovationen allein offensichtlich nicht zu einer treut, um sich in diesem System sicher bewegen nachhaltigen Verkehrsentwicklung beitragen. zu können, angefangen mit der Verkehrserzie- Die Ressourcen im Verkehrssektor werden hung in der Grundschule, über die Fahrschulaus- aber nicht nur effizienter eingesetzt, sondern auch bildung zur Erlangung des Führerscheins und die effektiver. Das heißt, Materialien werden in wach- alltägliche Kontrolle von Regelverstößen durch senden Maße recycelt. Autos werden mittlerwei- die Polizei, bis zu den diversen Auto-Klubs, die le zu 20 bis 30 Prozent aus wiederverwendeten ihre Mitglieder auch für das verbleibende Rest- Rohstoffen produziert. Aber wie die Effizienz- risiko noch versichern. In dem Maße, wie das strategie hat auch die Effektivitätsstrategie offen- Funktionieren unserer Gesellschaft von diesen bar ihre Grenzen: Obwohl beide seit Jahrzehnten Voraussetzungen abhängig ist, können wir von verfolgt werden, befindet sich der Verkehrssektor einer „Autogesellschaft“ sprechen. bis heute nicht auf einem nachhaltigen Entwick- Diese zugegebenermaßen nur grobe Skizze lungspfad. Wie weit wir von der Vision entfernt der Autogesellschaft sollte immerhin gezeigt ha- sind, Autos irgendwann einmal vollständig recy- ben, wie sehr das Auto als existenzieller Bestand- celn zu können, wird deutlich, wenn wir uns vor teil der Gesellschaft verankert ist, und dass dies Augen führen, dass viele Materialien eben nicht einen realen Hintergrund hat, der nicht durch mo-

02 Vgl. Benjamin Sternkopf/Felix Nowack, Lobbying: Zum Ver- 01 Vgl. Christoph Maria Merki, Der holprige Siegeszug des hältnis von Wirtschaftsinteressen und Verkehrspolitik, in: Oliver Automobils 1895–1930: Zur Motorisierung des Straßenverkehrs Schwedes/Weert Canzler/Andreas Knie (Hrsg.), Handbuch in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 2002. Verkehrspolitik, Wiesbaden 20162, S. 381–399.

20 Das Auto APuZ

Abbildung 1: CO2-Emissionen nach Sektoren

Quelle: Sachverständigenrat Umwelt, Umsteuern erforderlich: Klimaschutz im Verkehrssektor, Sondergutachten, Berlin 2017.

wiederverwendet werden können und die meis- im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftswei- ten derjenigen, die wiederverwendet werden, nur se. Hierbei spielt insbesondere die Produktivkraft einmalig recycelt werden können. durch Arbeitsteilung eine Rolle, wie sie der Öko- Vor diesem Hintergrund und dem begrenz- nom Adam Smith schon im 18. Jahrhundert am ten Zeithorizont, der zum Gegensteuern noch zur Beispiel einer Stecknadelmanufaktur eindrucksvoll Verfügung steht, um Erfolge im Verkehrssektor beschrieb: „Ein Arbeiter, der noch niemals Steck- zu erreichen, können wir uns nicht allein auf die nadeln gemacht hat, und auch nicht dazu angelernt Effizienz- und die Effektivitätsstrategie verlas- ist (…), könnte, selbst wenn er sehr fleißig ist, täg- sen.03 Denn die erreichten Erfolge wurden durch lich höchstens eine, sicherlich aber keine zwanzig das stetige Verkehrswachstum aufgezehrt: Wo ei- Nadeln herstellen.“ Die Aufteilung des Produkti- nerseits pro Auto weniger Benzin verbraucht onsprozesses in 18 Arbeitsschritte aber steigere die wird, werden andererseits längere Strecken zu- Nadelproduktion gewaltig: „Ich selbst habe eine rückgelegt. Und diejenigen, die Autos mit recy- kleine Manufaktur dieser Art gesehen, in der nur celten Materialien herstellen, produzieren heute 10 Leute beschäftigt waren, so daß einige von ih- mehr Autos als jemals zuvor, die zudem immer nen zwei oder drei solcher Arbeiten übernehmen größer und schwerer werden. Spätestens hier stellt mußten. Obwohl sie nun sehr arm und nur recht sich die Frage nach den Gründen für das bis heu- und schlecht mit dem benötigten Werkzeug ausge- te anhaltende Verkehrswachstum, das alle anderen rüstet waren, (…) waren die 10 Arbeiter imstande, Bemühungen so erfolgreich konterkariert. täglich etwa 48 000 Nadeln herzustellen (…).“04 Ein Schlüssel für das Verständnis des steti- Diese Ausdifferenzierung hat sich bis heute gen Verkehrswachstums liegt in der Bedeutung fortgesetzt. Während Smith jedoch noch die Ar- des Verkehrs für die wirtschaftliche Wohlfahrt beitsteilung unter einem Dach vor Augen hatte, wurden schon bald danach einzelne Arbeitsschrit-

03 Deutschland wird die selbstgesteckten Ziele zur CO2-Redukti- on bis 2020 deutlich verfehlen. Der nächste Zeithorizont reicht bis 04 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung 2030, in dem die zuvor verfehlten Ziele eingeholt werden müssen. seiner Natur und seiner Ursachen, München 2009 (1776), S. 9f.

21 APuZ 43/2019 te ausgelagert in andere Produktionsstandorte im tor notwendig ist, unser gemeinsames Wirtschaften selben Dorf, derselben Stadt, derselben Region. wie auch unser privates Zusammenleben neu zu or- Heute hat sich eine globale Arbeitsteilung eta- ganisieren, und zwar auf eine Weise, die es ermög- bliert, die es erlaubt, dass an vielen Orten der Welt licht, die Wachstumsspirale zu durchbrechen: Es günstig Teile produziert werden, die in Deutsch- gilt, das Verkehrsaufkommen und die Geschwin- land schließlich zu Autos zusammengesetzt wer- digkeit zu reduzieren, indem die zu überwinden- den. Denkbar ist dies alles nur auf der Basis inter- den Distanzen verringert werden. Wenn damit das nationaler Logistikketten, mit denen die einzelnen, anzustrebende Ziel beschrieben ist, stellt sich die räumlich getrennten Arbeitsschritte wieder zu- Frage, welche Instrumente der Verkehrspolitik zur sammengeführt werden. Hierdurch wird eine Verfügung stehen, um dieses Ziel zu erreichen. Wachstumsspirale befeuert, die dazu führt, dass immer mehr Verkehr immer schneller über immer INTEGRIERTE weitere Distanzen organisiert werden muss. VERKEHRSPOLITIK Dieser Entwicklungsdynamik ist einerseits der bis heute steigende Wohlstand der Nationen zu Die Verkehrspolitik orientiert sich traditionell an verdanken, andererseits aber eben auch das dazu den Wachstumsprognosen im Verkehr und richtet notwendige Verkehrswachstum mit seinen negati- danach ihre Maßnahmen aus. Lange Zeit griff sie ven Effekten.05 Hinzu kommt, dass die beschrie- dabei vor allem auf zwei Handlungsfelder zurück, bene Produktionsweise mit ihrer arbeitsteiligen die Infrastruktur und den Verkehr: Auf angekün- Ausdifferenzierung die Grundlage bildet für eine digtes Verkehrswachstum wurde einerseits mit soziale Ausdifferenzierung, die sich in einem ex- dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur reagiert, tensiven privaten Lebensstil äußert, der in zuneh- andererseits durch die Organisation der Verkehrs- mendem Maße auf Verkehr angewiesen ist. Wäh- flüsse, etwa durch intelligente Ampelschaltungen, rend früher (Groß-)Familien nicht nur unter einem um Stauungen zu vermeiden. Das Ergebnis war Dach gelebt, sondern auch produziert haben, ist die eine Anpassungsplanung, wobei das Ziel, den Ver- (Klein-)Familie heute nur noch eine private Lebens- kehrsfluss aufrechtzuerhalten, an den Wünschen form unter anderen. Daneben gibt es eine wachsen- der Wirtschaft orientiert war.07 de Zahl von Alleinerziehenden- und Single-Haus- In dem Maße, wie die traditionelle Verkehrs- halten, die dieselben Wege zurücklegen, wie zuvor politik mit ihrer Anpassungsplanung an Grenzen die Groß- beziehungsweise Kleinfamilien. Da- stieß, wurde sie ab Anfang der 2000er Jahre durch durch, dass die Wege nun aber nicht mehr gebün- eine integrierte Verkehrspolitik abgelöst, an de- delt, sondern vorwiegend individuell zurückgelegt ren Anfang politisch definierte Ziele stehen.08 Das werden, fallen in der Summe mehr Wege an. Die übergeordnete Ziel einer integrierten Verkehrspo- Vielfalt der Lebensformen hat sich längst auch in- litik ist nicht mehr die einseitige Aufrechterhaltung ternationalisiert: Eine Vielzahl von Menschen lebt des Verkehrsflusses zum Zwecke ökonomischer oder arbeitet heute im Ausland und pendelt regel- Prosperität, sondern eine nachhaltige Verkehrsent- mäßig zu den Angehörigen nach Hause oder wird wicklung, die ökonomische, soziale und ökolo- von diesen besucht. Die Ursachen dieser „Multilo- gische Ansprüche gleichermaßen berücksichtigt. kalität“, die als gesellschaftliches Phänomen immer Durch die Neuausrichtung der Verkehrspolitik an wichtiger wird, werden zunehmend auch von der politisch definierten Nachhaltigkeitszielen orien- Wissenschaft in den Blick genommen.06 tiert sie sich an den aktuellen und zukünftigen An- Aus den beschriebenen Entwicklungen folgt forderungen der Menschen. Um diesem Anspruch die basale verkehrswissenschaftliche Einsicht, dass gerecht zu werden, tritt zu den zwei traditionellen es zusätzlich zu den technischen Innovationen und Handlungsfeldern Infrastruktur und Verkehr als der effektiven Ressourcennutzung im Verkehrssek- drittes Handlungsfeld die Mobilität hinzu.

05 Vgl. Oliver Schwedes, Verkehr im Kapitalismus, Münster 2017. 07 Vgl. Barbara Schmucki, Der Traum vom Verkehrsfluss. Städti- 06 Vgl. Darja Reuschke, Mulitlokale Lebensformen und ihre sche Verkehrsplanung seit 1945 im deutsch-deutschen Vergleich, räumlichen Auswirkungen in der Zweiten Moderne, in: Oliver Frankfurt/M.–New York 2001. Schwedes (Hrsg.), Räumliche Mobilität in der Zweiten Moderne. 08 Vgl. Klaus J. Beckmann/Herbert Baum, Bericht Integrierte Freiheit und Zwang bei Standortwahl und Verkehrsverhalten, Verkehrspolitik, im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Berlin 2013, S. 237–255. Bau- und Wohnungswesen, Aachen–Köln 2002.

22 Das Auto APuZ

Abbildung 2: Die drei Handlungsfelder integrierter Verkehrspolitik

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Quelle: Eigene Darstellung

Hier gilt das Augenmerk den Menschen, die ben teilhaben können – sehr mobil, ohne großen in ihrem Verhalten im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsaufwand betreiben zu müssen. Verkehrsentwicklung unterstützt werden sollen. Die integrierte Verkehrspolitik umfasst mit Dabei bemisst sich die Mobilität am Grad gesell- dem Infrastrukturmanagement, dem Verkehrsma- schaftlicher Teilhabe und nicht am Verkehrsauf- nagement und dem Mobilitätsmanagement somit kommen. Verkehr und Mobilität werden also be- drei Handlungsfelder, in denen sie gestaltend ein- wusst unterschieden, da sie im Alltag nicht selten wirken kann (Abbildung 2). Mit der begrifflichen weit auseinanderfallen – beispielsweise, wenn ge- Unterscheidung von Verkehr und Mobilität ist es ring beschäftigte Arbeitnehmende, um zu ihrem ihr zudem möglich, eine nachhaltige Verkehrsent- Arbeitsplatz zu gelangen, täglich Pendlerwege von wicklung zu verfolgen, die die Mobilität der Bevöl- 100 Kilometern Länge bewältigen müssen. Der in- kerung gewährleistet und das Verkehrsaufkommen dividuelle Möglichkeitsraum ist damit für die be- mit seinen negativen Begleiteffekten reduziert. Um troffenen Personen stark eingeschränkt, obwohl die gesamte Fülle der möglichen Instrumente erfas- sie weite Strecken zurücklegen und in diesem Sin- sen zu können, die der Verkehrspolitik zur Verfü- ne hochgradig mobil sind. In diesem Fall steht das gung stehen, ist in jedem Handlungsfeld zwischen relativ geringe Einkommen, das den Grad der ge- Angeboten und Restriktionen zu unterscheiden – sellschaftlichen Teilhabe und die Möglichkeiten in den Verkehrswissenschaften auch als Pull- und individueller Bedürfnisbefriedigung bestimmt, Push-Maßnahmen bezeichnet. In dem einen Fall in keinem angemessenen Verhältnis zu dem da- werden Menschen durch attraktive Angebote an- für notwendigen Verkehrsaufwand und den damit gezogen (pull, etwa durch den Ausbau des öffent- verbundenen Kosten. Im gegensätzlichen Fall er- lichen Verkehrs), im anderen Fall werden sie durch reichen städtische Arbeitnehmende ihren gutbe- restriktive Maßnahmen in ihrem Verhalten in eine zahlten Arbeitsplatz fußläufig und sind – indem bestimmte Richtung gedrängt (push, etwa durch sie in jeder Hinsicht an dem reichhaltigen Stadtle- Geschwindigkeitsbegrenzungen).

23 APuZ 43/2019

INSTRUMENTE Der Einsatz der verschiedenen verkehrspoli- tischen Instrumente setzt freilich eine politische Innerhalb der drei genannten Handlungsfelder ste- Entscheidung voraus. Dies klingt naheliegend, hen der Verkehrspolitik grundsätzlich drei Kate- ist in der Verkehrspolitik aber keinesfalls selbst- gorien von Instrumenten zur Verfügung.09 Erstens verständlich. Denn das Politikfeld Verkehr war in kann sie sich der Instrumente der Ordnungspolitik den zurückliegenden Jahrzehnten vielmehr durch bedienen, die alle Formen rechtlicher Ge- und Ver- einen Mangel an politischen Entscheidungen ge- bote umfassen. Diese reichen vom Gebot ständi- prägt. Was zunächst wie ein Widerspruch er- ger Vorsicht und gegenseitiger Rücksichtnahme in scheint, klärt sich bei genauerer Betrachtung und Paragraf 1 der Straßenverkehrsordnung über Ge- unter Berücksichtigung des Wesens politischer schwindigkeitsbegrenzungen bis zum Verbot, be- Entscheidungen auf: Denn eine politische Ent- stimmte Emissionsgrenzwerte zu überschreiten. scheidung setzt wenigstens zwei Alternativen vo- Zweitens verfügt die Verkehrspolitik über In- raus, die sich zumindest teilweise widersprechen strumente der Prozesspolitik, womit kurzfristi- – es bedarf also einer echten Entscheidungssitua- ge Maßnahmen im Rahmen der zuvor durch die tion, die nicht durch einen Kompromiss aufgelöst Ordnungspolitik gesetzten rechtlichen Rahmenbe- werden kann. Im Ergebnis zeichnet sich eine poli- dingungen bezeichnet sind. Für die Verkehrspoli- tische Entscheidung dadurch aus, dass sie sich für tik sind diesbezüglich insbesondere die monetären das eine (Interesse A) ausspricht und gleichzeitig Maßnahmen (Steuern und Subventionen) sowie der gegen etwas anderes (Interesse B) wendet. konkrete Unterhalt und Bau von Infrastrukturein- Die verkehrspolitischen Entscheidungen schla- richtungen („reale Maßnahmen“) von Bedeutung. gen sich im Einsatz von Pull- und Push-Maßnah- Zu den monetären Maßnahmen zählen unter ande- men nieder. Das lässt sich an dem seit Jahrzehn- rem die Kraftfahrzeugsteuer und die Mineralölsteu- ten andauernden Konflikt zwischen Verfechtern er sowie die Subventionen im öffentlichen Verkehr. des privaten Autos und Verfechtern des öffent- Drittens schließlich kann die Verkehrspo- lichen Verkehrs verdeutlichen: Seit den 1970er litik, indem sie auf die Veränderung von Struk- Jahren verfolgt die Verkehrspolitik das pro- turdaten zielt, eine Strukturpolitik verfolgen. grammatische Ziel, die Menschen zum Umstieg Die integrierte Verkehrspolitik betrachtet dabei vom privaten Auto zum öffentlichen Verkehr die verkehrlichen Wirkgefüge in den Bereichen zu bewegen.11 Die Programmatik wurde aber der sozialen Verhältnisse, der Technik, der Wirt- bis heute nicht mit entsprechenden politischen schaft, der Umwelt sowie der Politik, um darauf Entscheidungen verbunden. Stattdessen ist seit- Einfluss zu nehmen.10 Strukturpolitische Maß- dem eine Parallelfinanzierung auf unterschiedli- nahmen umfassen beispielsweise sektorübergrei- chen Ausgangsniveaus zu beobachten: Zwischen fende Kooperationen zwischen den politischen 1994 und 2018 wurde der öffentliche Verkehr im Handlungsfeldern Verkehr, Stadt und Umwelt Rahmen des Regionalisierungsgesetzes mit rund mit dem Ziel, verkehrsarme Raumstrukturen zu 172 Milliarden Euro subventioniert. Daraufhin schaffen und die negativen Umwelteffekte zu re- hat sich seine Verkehrsleistung im selben Zeit- duzieren. Ein weiteres Ziel strukturpolitischer raum um 36 Prozent erhöht, und die Fahrgast- Überlegungen und Konzepte ist eine vollständi- zahlen im öffentlichen Verkehr sind sogar um ge Neuorganisation des Verkehrssystems, um die 56 Prozent gestiegen.12 Doch parallel zur Sub- beiden bis heute weitgehend unabhängig neben- ventionierung des öffentlichen Verkehrs erfolg- einander existierenden Systeme des privaten Au- te eine vielfach höhere Förderung des privaten toverkehrs und des Umweltverbunds mit seinem öffentlichen Verkehr und dem Rad- und Fußver- kehr zu einem Gesamtsystem zu verbinden. 11 Vgl. Martin Gegner/Oliver Schwedes, Der Verkehr des Leviathan. Zur historischen Genese des städtischen Verkehrs im Rahmen der Daseinsvorsorge, in: Oliver Schwedes (Hrsg.), 09 Vgl. Gerhard Merk, Die Begriffe Prozesspolitik, Strukturpo- Öffentliche Mobilität. Perspektiven für eine nachhaltige Ver- litik und Ordnungspolitik, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaften, kehrsentwicklung, Wiesbaden 2014, S. 47–68. Bd. 26, Göttingen 1975, S. 203–210. 12 Vgl. Deutscher Bundestag, Bericht der Bundesregierung 10 Vgl. Oliver Schwedes, Verkehrspolitik als Gesellschafts- zur Verwendung der Regionalisierungsmittel durch die Länder politik, in: ders. (Hrsg.), Verkehrspolitik. Eine interdisziplinäre im Jahr 2016, Drucksache 19/3395, 16.7.2018, http://dipbt. Einführung, Wiesbaden 2018, S. 3–24. bundestag.de/dip21/btd/19/033/1903395.pdf.

24 Das Auto APuZ

Abbildung 3: Anteilige Verkehrsleistung der Verkehrsmittel nach zurückgelegten Personenkilometern

Öffentlicher Straßenpersonenverkehr

Fußverkehr

Die Maßeinheit Personenkilometer (Pkm) berechnet sich aus der Anzahl der beförderten Personen multipliziert mit der zurückgelegten Entfernung in Kilometern. Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage von Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI), Verkehrsver- flechtungsprognose 2030, Schlussbericht, 11.6.2014,www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/G/verkehrsverflechtungsprognose- 2030-schlussbericht-los-3.pdf; BMVI, Verkehr in Zahlen 2018/2019, September 2018, www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Artikel/G/ verkehr-in-zahlen_2019.html; eigene Darstellung.

Autoverkehrs, der daraufhin in gleichem Maße deutlich, dass der öffentliche Verkehr im Wett- gewachsen ist, sodass sich in der Folge des allge- bewerb mit dem Auto die Wachstumsspirale im meinen Verkehrswachstums die jeweiligen An- Verkehrssektor ebenfalls befeuert und sich damit teile am gesamten Verkehrsaufkommen und der von einem Teil der Lösung zu einem Teil des Pro- Verkehrsleistung nicht verändert haben. Mehr blems wandelt. noch, den Prognosen des Bundesministeriums Vor dem Hintergrund, dass 80 bis 90 Prozent für Verkehr und digitale Infrastruktur zufol- des Verkehrsaufkommens in der Region entste- ge wird sich an diesem Verhältnis auch bis 2030 hen, insbesondere durch Pendlerverkehre, die in nichts ändern: Heute wie in der Zukunft entfal- den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen len zwei Drittel der Verkehrsleistung im Perso- haben und deren Distanzen zugleich immer grö- nenverkehr auf den motorisierten Individualver- ßer geworden sind, muss eine Strukturpolitik auf kehr (Abbildung 3). neue Raumstrukturen gerichtet sein. Diese soll- Dies zeigt, dass es nicht ausreicht, durch mas- ten so beschaffen sein, dass es eben nicht not- sive finanzielle Förderungen ein attraktives An- wendig ist, immer mehr Verkehr immer schneller gebot zu schaffen und darauf zu hoffen, dies über immer größere Distanzen zu organisieren. würde die Menschen zu einem Wechsel der Ver- Um einen solchen Strukturwandel zu bewältigen, kehrsmittel bewegen. Vielmehr würde sich eine sollte die Prozesspolitik kurzfristig insbesondere echte politische Entscheidung für den öffentli- darauf gerichtet sein, die Finanz- und Steuerar- chen Verkehr dadurch auszeichnen, dass sie sich chitektur zu reformieren, die durch milliarden- gleichzeitig mit entsprechenden Push-Maßnah- schwere Fehlanreize heute noch die alten Struk- men gegen den Autoverkehr wendet, um ihn we- turen aufrechterhalten. Mit den frei werdenden niger attraktiv zu gestalten. Darüber hinaus wird Finanzmitteln könnten die realen Maßnahmen

25 APuZ 43/2019 im Bereich des Unterhalts und Baus von Infra- men der Bundesgesetze wie dem Straßen- und struktureinrichtungen neu ausgerichtet werden. dem Straßenverkehrsgesetz unterstützt werden, So hat das Umweltbundesamt für das Jahr 2012 deren Rahmensetzung heute noch die Autonut- Fehlsubventionen in Höhe von insgesamt 57 Mil- zung auf Kosten anderer Verkehrsmittel einseitig liarden Euro berechnet – eine Summe, mit der bevorzugt.15 sich beispielsweise mehrere Schnellbahnstrecken finanzieren ließen.13 Eine verkehrspolitische Ent- FAZIT scheidung im Bereich der Verkehrsinfrastruktur, die den selbstgesteckten klimapolitischen Zielen Bei der Kontroverse um das Für und Wider des ernsthaft verpflichtet ist, würde sich für die Schie- Autos handelt es sich um einen ideologischen ne und die Wasserwege aussprechen und gleich- Schlagabtausch, der von der eigentlichen ver- zeitig den Straßenverkehr zum Beispiel durch kehrspolitischen Herausforderung ablenkt, die eine Pkw-Maut weniger attraktiv gestalten. Mobilität der Menschen im Sinne gesellschaftli- Schließlich müssten die vielfältigen hier nur cher Teilhabe zu gewährleisten und gleichzeitig schlaglichtartig angedeuteten prozess- und struk- das Verkehrswachstum einzudämmen. turpolitischen Maßnahmen im Verkehrssek- Die Bundesregierung hat jüngst erst festge- tor auch ordnungspolitisch neu gefasst werden. stellt, dass sie ihre Klimaziele für das Jahr 2020 Das heißt, der rechtliche Rahmen müsste im Sin- deutlich verfehlen wird. In ihrem aktuellen Pro- ne einer Verkehrsentwicklungspolitik definiert jektionsbericht 2019 hat sie zudem angekündigt, werden, die Verkehr effizient und effektiv or- die Klimaziele auch bis 2030 nicht einzuhalten, ganisieren und ein weiteres Verkehrswachstum sollten nicht weitergehende politische Entschei- vermeiden will. Beispielgebend ist diesbezüg- dungen getroffen werden.16 Ein wesentlicher lich das Berliner Mobilitätsgesetz, das erstmals Grund besteht darin, dass der Verkehrssektor eine Rechtsgrundlage für alle Verkehrsmittel bil- seinen Beitrag zu einer CO2-Reduktion bis heu- det, wobei der öffentliche Verkehr, der Radver- te nicht leistet und Erfolge in anderen Sektoren kehr und der Fußverkehr priorisiert werden.14 kompensiert. Vor diesem Hintergrund wurde Die damit verbundenen Pull-Maßnahmen sollen ein Klimakabinett einberufen, um einen „Klima- durch Push-Maßnahmen flankiert werden, die pakt“ mit notwendigen Maßnahmen zu verab- eine Nutzung des privaten Autos in der Stadt er- schieden, der eine Kurskorrektur einleitet. Die schweren, beispielsweise durch die Aufhebung darin vorgestellten Ergebnisse demonstrieren je- des kostenfreien privaten Parkens im öffentlichen doch vielmehr ein business as usual, insgesamt Stadtraum. Diese Anstrengungen müssten vom sollen 54 Milliarden Euro vor allem für positive Bundesgesetzgeber durch entsprechende Refor- Anreize ausgegeben werden.17 Die nochmals er- höhte Pendlerpauschale steht dabei exemplarisch

13 Vgl. Umweltbundesamt (UBA), Umweltschädliche Subven- für einen jahrelang gepflegten Fehlanreiz: Mit tionen in Deutschland 2016, Januar 2017, www.umweltbun- ihr wird für alle Verkehrsmittel gleichermaßen desamt.de/publikationen/umweltschaedliche-subventionen-in- das Pendeln über immer größere Distanzen sub- deutschland-2016. ventioniert. Auf diese Weise wird das Verkehrs- 14 Vgl. Berliner Mobilitätsgesetz vom 5.7.2018, http://gesetze. wachstum ingesamt unterstützt und das zentrale berlin.de/jportal/?quelle=jlink&query=MobG+BE&psml=bsbep rod.psml&max=true&aiz=true. Problem einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung 15 Vgl. UBA, Rechtliche Hemmnisse und Innovationen für eine nur noch vergrößert. nachhaltige Mobilität – untersucht an Beispielen des Straßen- Allein mit positiven Anreizen und ohne re- verkehrs und des öffentlichen Personennahverkehrs in Räumen striktive Maßnahmen ist ein Gestaltungsanspruch schwacher Nachfrage, August 2019, www.umweltbundesamt.de/ kaum erkennbar. Das Steuer der Verkehrspolitik sites/default/files/medien/1410/publikationen/2019-08-20_tex- te_94-2019_rechtsinnmobil_1-teilbericht-recht-innovation_0.pdf. bleibt weiter unbesetzt. 16 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nuk- leare Sicherheit, Projektionsbericht der Bundesregierung 2019, OLIVER SCHWEDES 14.5.2019, www.bmu.de/download/projektionsbericht-der- ist promovierter Politikwissenschaftler und Professor bundesregierung-2019. an der Technischen Universität Berlin, wo er das 17 Vgl. Eckpunkte für das Klimaschutzprogramm 2030, 20.9.2019, www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/​ Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung am Institut 1673502/768b67ba939c098c994b71c0b7d6e636/2019-09-​ für Land- und Seeverkehr leitet. 20-klimaschutzprogramm-data.pdf. [email protected]

26 Das Auto APuZ

MIT DEM E-AUTO IN DIE ZUKUNFT? Chancen und Herausforderungen der Elektromobilität Birgit Priemer

Deutschland ist immer noch auch Autoland: vom Tesla Model 3. Ein deutsches E-Auto rangiert Rund 1,8 Millionen Arbeitsplätze hängen direkt erst auf Rang 3 der Verkaufsstatistik – ungewöhn- oder indirekt von der Automobilproduktion ab. lich, wenn man sich im Vergleich dazu die Liste Über die Rolle des Autos wird jedoch immer kon- der bestverkauften Verbrenner in Deutschland an- troverser diskutiert. Vor allem die staugeplagten schaut: Die wird seit Langem von VW, Mercedes, Großstädter haben trotz immer schärferer Luft- BMW, Audi, Opel und Ford dominiert. reinhaltegesetze buchstäblich die Nase voll von Und damit kommen wir zu einem Kardinal- den Verbrennern. Die Automobilindustrie steht problem der deutschen Automobilindustrie: Die dabei vor der Herausforderung, strenger werden- Umstellung auf die E-Mobilität erfolgt viel zu spät: de CO2-Grenzwerte einhalten zu müssen – was Nissan Leaf, Kia e-Soul und Renault Zoe sind als allein mit Benzin und Diesel nicht möglich sein vergleichsweise günstige Modelle seit Jahren auf wird. Sichert also das lokal emissionsfreie Elek- dem Markt. Deutsche Marken müssen ihre Stro- troauto die Zukunft der Automobilindustrie? mer dagegen in den nächsten Monaten mit Hoch- Und können wir uns darauf verlassen, dass diese druck in den Handel pressen, weil sie sonst die ab

Technologie tatsächlich „sauber“ ist – vor allem 2020 in der EU für Neuwagen geltenden CO2- sauberer als Autos, die von klassischen Verbren- Grenzwerte von 95 Gramm pro Kilometer (g/km) nungsmotoren angetrieben werden? Im Folgen- nicht einhalten. Es wird so oder so ein dramati- den werde ich einen Überblick über die aktuelle scher Wettkampf mit der Zeit, denn noch liegen Lage geben und dabei Chancen und Herausfor- einzelne Hersteller um die 20 g/km über dem vor- derungen der Elektromobilität aufzeigen. geschriebenen Zielkorridor. Drohende Milliarden- strafen erklären also, warum ein Volumenherstel- ANGEBOT ler wie Volkswagen scheinbar alles auf eine Karte UND NACHFRAGE setzt und im Planungszeitraum von 2018 bis 2022 über 30 Milliarden Euro in die Elektromobilität Seit rund 20 Jahren wird in Deutschland über die investiert.02 Im Sommer 2020 startet mit dem VW Zukunft der Elektromobilität diskutiert. Und ob- ID.3 ein E-Auto im Preissegment eines Golfs, dem wohl das Angebot seit Jahren wächst, bleibt die in schneller Reihenfolge die Limousine ID.4, ein Nachfrage verhalten. Doch allmählich scheint Crossover-Modell und ein per Strom angetriebe- sich etwas zu bewegen: Im ersten Halbjahr 2019 ner Nachfolger des legendären Bullis folgen sollen. lagen die Zulassungszahlen für Elektroautos und Aktuell überschlagen sich alle deutschen Herstel- Plug-in-Hybride über denen von Norwegen, ler mit Neuankündigungen und Produktvorstel- das als Vorzeigeland in Sachen E-Mobilität gilt. lungen wie dem Porsche Taycan, der für das erste Allerdings beträgt der Marktanteil der Stromer Produktionsjahr genauso ausverkauft sein soll wie dort bereits sieben Prozent, in Deutschland ge- der VW ID.3 oder eben auch die E-Version des rade einmal 0,26 Prozent – und das, obwohl sich Minis, die ebenfalls für 2020 geplant ist. der BMW i3 oder auch das Tesla Model S bereits Der Markt springt also an, das Interesse der seit sechs Jahren im Angebot befinden. Die Lage Kunden wächst – womit wir beim nächsten Pro- könnte sich jedoch schon bald dramatisch ändern: blem wären: den Lieferzeiten. Selbst die teuren Laut Kraftfahrt-Bundesamt wurden in den ersten Premiumprodukte wie Mercedes EQC und Audi acht Monaten 2019 über 42 000 E-Autos angemel- e-tron, beides Modelle im SUV-Segment, sind in det – 89 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.01 nennenswerter Stückzahl nicht kurzfristig zu ha- Bestverkauftes Modell ist der Renault Zoe, gefolgt ben. Eine Umfrage von „Moove“, der Elektroau-

27 APuZ 43/2019 to-Zeitschrift von „Auto Motor und Sport“, hat TECHNIK UND INFRASTRUKTUR ergeben, dass Kunden sich teilweise bis zu einem Jahr gedulden müssen, wenn sie einen der Stro- Das Elektroauto steht wie kaum ein anderer An- mer erwerben möchten.03 Und, noch viel schlim- triebstyp in einem Zielkonflikt. Weil die Kunden mer: dass die Händler gar nicht darauf eingestellt auf den gewohnten Reichweitenkomfort der Ver- sind oder kein Interesse daran haben, E-Autos zu brenner nicht verzichten wollen, brauchen E-Au- verkaufen. Die Marge fällt geringer aus, der Um- tos einen großen Akku. Dadurch steigen aber satz in der Werkstatt sinkt, weil E-Autos weder Kosten und Gewicht. Das Ergebnis sind 2,6-Ton- einen Ölwechsel benötigen, noch so einen hohen nen-Kolosse wie der Audi e-tron 55 Quattro. Sei- Bremsenabrieb aufweisen. Um 30 Prozent, so ha- ne Reichweite beläuft sich unter realen Testbedin- ben VW-Experten durch die Erfahrungen mit dem gungen zwar immerhin auf 380 Kilometer, aber der E-Golf in Norwegen bereits ermittelt, sinkt der SUV verbraucht auch 24,8 Kilowattstunden (kWh) Umsatz in der Werkstatt. Warum sollte also der pro 100 Kilometer – das entspricht fast dem Dop- Händler Interesse haben, Stromer zu verkaufen? pelten eines Kleinwagens wie dem Renault Zoe Die Folgen der E-Mobilität für den Standort R110. Der kommt auf nur 12,8 kWh/100 km und Deutschland sind erheblich – das sehen wir be- mit einer Akkuladung trotzdem 300 Kilometer reits an den zahlreichen Gewinnwarnungen, die weit. Solche Distanzen mögen Langstrecken-Die-

Zulieferer wie Bosch, Continental und Schaeff- selfahrer belächeln, doch in Sachen CO2-Bilanz ler in den vergangenen Monaten herausgegeben macht den BEV (battery electric vehicles) so schnell haben. Auf einer Diskussionsveranstaltung im keiner etwas vor – weder die aktuellen Diesel noch Februar 2019 wies Bosch-Chef Volkmar Den- die für Effizienz gerühmten Gasantriebe. Selbst der ner darauf hin, dass man für die Fertigung einer E-Audi oder der Jaguar I-Pace, die beide dank ih- E-Achse nur ein Zehntel der Belegschaft braucht, rer über 400 PS starken E-Maschinen und des deut- die für den Bau eines Diesels benötigt wird. schen Strommix indirekt üppige 131 und 137 g/km

Droht also der Verlust von Arbeitsplätzen? Es CO2 emittieren, liegen circa 30 Gramm unter den kommt darauf an, ließe sich salomonisch formu- Werten eines Mercedes B 200 d mit Euro-6-Diesel. lieren. „Wenn wir Zeit für den Wandel bekom- Was hindert Kunden also daran, den staatlich men, dann ist es machbar“, so Denner weiter. Bei geförderten „Umweltbonus“ von bis zu 4000 Euro Bosch ginge in Deutschland bis 2030 die Hälfte in Anspruch zu nehmen, Sorgen über Fahrverbote der Belegschaft in Rente – auf diese Weise könn- anderen zu überlassen und direkt zu einem Stro- ten Arbeitsplätze sozialverträglich abgebaut wer- mer zu greifen? Zum einen sind die Anschaffungs- den.04 Auch der ehemalige Daimler-Chef Dieter kosten für E-Autos im Vergleich trotzdem noch Zetsche hat früh vor den Folgen des Wandels ge- höher als für Autos mit Verbrennungsmotoren, warnt und für die Weiterbildung jener Mitarbeiter zum anderen ist da die Sache mit der Lade-Infra- plädiert, die noch mit dem Bau klassischer Moto- struktur: Hier hängen die etablierten Konzepte das ren beschäftigt sind. Wie gravierend der bevorste- E-Auto noch immer ab. Denn obwohl es schon hende Wandel für die Automobilindustrie wird, rund 17 000 öffentliche Ladeplätze gibt und das verdeutlichte er auf dem Mobile World Congress Schnellladenetz wächst, ist die Versorgung noch 2019 in Barcelona: „Es ist kein Naturgesetz, dass unzureichend. Auch die an einer Schnellladesäule Daimler ewig besteht.“05 in 30 Minuten mögliche 80-prozentige Ladung der 95-kWh-Batterie des Audi e-tron ändert nichts daran. Spätestens hier wird deutlich: Das E-Auto 01 Vgl. Kraftfahrt-Bundesamt, Neuzulassungsbarometer im ist eine Antwort auf die Mobilitätsfrage, aber eben August 2019, www.kba.de/DE/Statistik/Fahrzeuge/Neuzulas- nur eine von mehreren. Denn ebenso wenig, wie sungen/MonatlicheNeuzulassungen/2019/201908_GImonat- lich/201908_nzbarometer/201908_n_barometer.html. der Diesel je die Lösung für die Stadt war, so ist 02 Vgl. Max Hägler/Angelika Slavik, 30 Milliarden Euro für das E-Auto heute die Lösung für die Langstrecke Elektroautos, 16.11.2018, www.sueddeutsche.de/1.4214110. – auch wenn der Hyundai Kona Elektro oder das 03 Vgl. Henning Busse, Schein und Sein, in: Moove 3/2019, S. 24. Tesla Model 3 unter realen Testbedingungen be- 04 Volkmar Denner am 23.2.2019 in Stuttgart auf der Grünen- reits die 400-Kilometer-Marke knacken. Veranstaltung „Mobilität für Menschen“. 05 Zit. nach Thiemo Heeg/Jonas Jansen, Daimler-Chef: „Wir Wäre das Wasserstoffauto möglicherweise die wollen nicht hirnamputiert werden“, 1.3.2019, www.faz.net/-1606​ bessere Alternative? Auch diese Fahrzeuge haben 6850.html. Akkus, jedoch kleinere als reine E-Autos. Denn

28 Das Auto APuZ in wasserstoffbetriebenen Autos dienen sie nur als dem Lithium nicht zu. Lithiumsalze kommen Pufferspeicher für den Strom, den die Brennstoff- dort im Grundwasser in mehreren hundert Me- zelle beim Verbrennen von Wasserstoff und Sauer- tern Tiefe vor und müssen in oberirdische Ver- stoff produziert, um anschließend die E-Maschi- dunstungsbecken gepumpt werden. Chemikali- ne anzutreiben. Hierzulande gibt es neben dem en zur Ausfällung störender Mineralien kommen 2014 vorgestellten Toyota Mirai allerdings nur den hinzu, später braucht es Lösungsmittel wie Ke- Hyundai Nexo, in den USA und Japan hat Hon- rosin und Salzsäure. Nicht alle eingesetzten Che- da zudem den Clarity für Leasing-Kunden im An- mikalien landen auf Deponien, viele belasten als gebot. Das Brennstoffzellen-plug-in-Hybridfahr- Schadstoffe Mensch und Natur. Die Gewinnung zeug von Mercedes, der GLC F-Cell, wird nur an schlägt tiefe Wunden in die chilenische Atacama- ausgewählte Kunden verleast. Dabei hat die Tech- Wüste und lässt die indigene Bevölkerung dort nik großes Potenzial, denn die Autos fahren lo- arm und ohne Grundwasser, aber mit verseuchten kal emissionsfrei und lassen sich schnell betanken. Böden zurück. Den Erlös für das „weiße Gold“ Wie bei den Elektroautos sind aber auch hier Infra- schöpfen in erster Linie ausländische Konzerne struktur und Preis bislang entscheidende Hemm- ab. faktoren: In Deutschland gibt es aktuell nur 75 BMW hat inzwischen angekündigt, kein Ko- Wasserstofftankstellen, und Mirai und Nexo kos- balt mehr aus dem Kongo beziehen zu wollen. Und ten stolze 78 600 beziehungsweise 69 000 Euro. auch andere Hersteller haben Maßnahmen einge- leitet, um ihre Lieferketten besser zu kontrollie- UMWELTFREUNDLICH UND FAIR? ren. „Wir wollen sicherstellen, dass in unseren Au- tos nur Rohstoffe enthalten sind, die nicht mit der In der Werbung fahren E-Autos flüsterleise durch Verletzung von Menschenrechten, zum Beispiel intakte Landschaften oder Städte, in denen Men- mit Kinderarbeit, in Berührung gekommen sind“, schen keine Abgase mehr einatmen müssen. Zu- sagt etwa Daimlers Rechtsvorständin Renata Jun- gleich wird häufig betont, wie klima- und res- go Brüngger.07 Auch VW hat seine Richtlinien für sourcenschonend E-Autos sind: Denn auch bei die Zulieferer verschärft, doch bei der Reduktion ganzheitlicher Betrachtung verursachen sie weniger des Kobaltbedarfs hinkt der Konzern hinterher:

CO2 als Verbrenner, und wichtige Rohstoffe wer- Die Batterien des ersten ID.3-Modells haben einen den nur einmalig für die Herstellung benötigt, nicht Kobalt-Anteil von 12 bis 14 Prozent. In Teslas Mo- fortlaufend durch den Betrieb verbraucht. Doch das del 3 soll er hingegen bei nur 2,8 Prozent liegen und ist nur die eine Seite der Medaille. Zur Realität ge- könnte in naher Zukunft auf null zurückgehen. hört auch die andere Seite, die Rohstoffgewinnung: Bei der Massenproduktion von Auto-Akkus Kobalt etwa, wichtiger Rohstoff für die Batterie- kommen also die gleichen Methoden der kapita- produktion, kommt zu über 60 Prozent aus dem listischen Industriegesellschaft zur Anwendung Kongo,06 wo zum Teil skandalöse Arbeits- und Si- wie bisher in anderen Bereichen – und die sind cherheitsbedingungen herrschen. Vielfach wird das oft weit von Nachhaltigkeit entfernt. Der Vorteil kobalthaltige Erz von Jugendlichen mit bloßen von E-Autos beziehungsweise die Chance, die Händen aus einsturzgefährdeten Erdlöchern ge- sich hier (noch) bietet: Die Herstellungsprozesse holt. Das meiste Erz wird nach China verkauft, so- stehen stark im Fokus und wären vor dem großen wohl auf dem freien Markt unter korrupter staat- Boom noch formbar – hin zu mehr Gerechtigkeit licher Kontrolle als auch auf dem Schwarzmarkt und Umweltverträglichkeit, wie die Werbung sie – von nicht in Minen angestellten, sondern selbst- dem E-Auto zuschreibt. ständig arbeitenden Bergleuten, denen etwa sechs Prozent des erzielten Preises bleiben. Die Wert- SAUBER UNTERWEGS? schöpfung der Weiterverarbeitung findet ohnehin größtenteils außerhalb des Landes statt. Die Fragen sind so alt wie das Elektroauto selbst: Besonders gerecht geht es auch bei der Förde- Fahren Stromer wirklich sauberer, oder handelt rung von vor allem in Südamerika vorkommen-

07 Im Interview mit Klaus Köster, Daimler erwägt Bau eines ve- 06 Vgl. U.S. Geological Survey, Mineral Commodity Summari- ganen Autos, 25.3.2019, www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt. es, Februar 2019, www.usgs.gov/centers/nmic/mineral-commo- daimler-chefin-fuer-integritaet-und-recht-kobalt-fuers-e-auto-ist- dity-summaries, S. 51. risiko-rohstoff.48f154ef-0620-4706-853e-8db3cc5b196b.html.

29 APuZ 43/2019 es sich um rollende Mogelpackungen, bei denen Verbrenner. Allerdings halten einige Mediziner die Abgase lediglich woanders herauskommen – die ultrafeinen Partikel aus Motoren für gefähr- aus dem Kraftwerksschlot statt aus dem Auspuff? licher als den gröberen Abrieb. Eine verlässliche Und entsteht bei der Produktion von Batterien Einschätzung hierfür seitens des Umweltbundes- nicht so viel CO2, dass das Auto diese Vorbelas- amtes fehlt jedoch. Die Bewertung der Partikel- tung im Fahrbetrieb nie mehr wettmachen kann? belastung in der Luft erfolgt in Europa nämlich Um bei der Bewertung der Umweltbilanz der derzeit nur nach Masse und nicht nach Anzahl verschiedenen Antriebsarten zu einem differen- oder chemischer Zusammensetzung der Teilchen. zierten Urteil zu kommen, ist es wichtig, zwi- Die Luft in dicht besiedelten Städten würde schen den einzelnen Bestandteilen der Emissio- also von Elektroautos profitieren. Doch wie ver- nen zu unterscheiden. Während Schadstoffe wie hält es sich mit dem Klima? Tatsächlich sieht die

Stickoxide (NOX) oder Feinstaub für Menschen CO2-Bilanz eines E-Autos nicht ganz so rosig und Tiere schädlich sind, macht das Treibhaus- aus, wie es die EU in ihrer Flottenrechnung an- gas CO2 Lebewesen nichts aus, dafür gilt es als nimmt. Dort werden Stromer mit 0 g/km einge- Hauptverursacher des Klimawandels. Was die stuft, obwohl bei der Stromerzeugung sehr wohl

Schadstoffe angeht, bringen E-Autos tatsächlich CO2 anfällt. Für 2017 geht das Umweltbundesamt Linderung. Stickoxide entstehen zwar auch bei im deutschen Strommix von durchschnittlich 489 10 der Stromerzeugung, aber in geringerem Ausmaß Gramm CO2 pro erzeugter Kilowattstunde aus. als in vielen Verbrennungsmotoren. Laut Um- Im Vergleich mit Verbrennern schneiden E-Autos weltbundesamt fallen im deutschen Strommix dennoch besser ab: Während ein VW Golf TDI durchschnittlich 0,42 Gramm Stickstoffdioxid durch Dieselverbrennung etwa 119 Gramm CO2 pro erzeugter Kilowattstunde an.08 Ein E-Auto, pro Kilometer freisetzt, verursacht ein E-Golf das 18 kWh/100 km verbraucht, verursacht da- durch den Stromverbrauch indirekt 70 g/km.11 mit indirekt 76 mg/km, womit es die strenge Eu- Durch den jährlich steigenden Anteil von rege- ro-6d-Temp-Norm (168 mg/km) locker erfül- nerativ erzeugtem Strom wird das E-Auto zu- len würde. Nicht nur das: Die durchschnittliche dem immer sauberer. Um möglichst klimaneutral Verweildauer von Stickoxiden in der Luft beträgt unterwegs zu sein, genügt es aber nicht, bei sei- nur rund fünf Tage, dann sind sie unter anderem nem Stromanbieter einen grünen Tarif zu wählen. durch Regen ausgewaschen. Das heißt, dass nur Denn häufig wird lediglich konventioneller Strom ein regelmäßiger „Nachschub“ an Stickoxiden über CO2-Kompensations-Zertifikate aus dem zu hohen Konzentrationen führt – wie in Städ- Ausland grün eingefärbt. Ein echter Mehrwert für ten, wo viele Verbrennungsvorgänge auf engstem das Klima kann also nur entstehen, wenn der Um- Raum stattfinden. In ländlichen Regionen, wo die stieg auf ein E-Auto zum Anlass genommen wird, meisten Kraftwerke stehen, kann es kaum zu be- zu einem reinen Ökostromanbieter zu wechseln. denklichen NOX-Werten kommen. Allerdings verringert sich der E-Auto-Vorteil Etwas komplexer sieht es beim Beitrag des beim Blick auf die Produktion, und hier vor allem Autos zur Feinstaubbelastung aus. Hier sind was die Produktion der Akkus angeht. Als einer nicht die Verbrennungsprozesse Hauptverursa- von wenigen Herstellern hat das koreanische LG cher, sondern auch Abrieb von Bremsen, Reifen Chem Zahlen für seine Zellproduktion veröffent- oder Asphalt sowie das ständige Aufwirbeln der licht: Pro Kilowattstunde Speicherkapazität ent- Partikel. Untersuchungen der Landesanstalt für stehen während der Herstellung etwa 140 Kilo- 12 Umwelt Baden-Württemberg zufolge sind über gramm CO2. Bei einer 40 kWh fassenden Batterie 80 Prozent der PM10-Feinstäube (bis zehn Mi- eines Kompaktstromers sind das 5,6 Tonnen, noch krometer Durchmesser) verwirbelter Abrieb.09 bevor der Wagen einen Meter gefahren ist. Ein VW Und verwirbeln können Stromer genauso gut wie Golf TDI kommt 47 000 Kilometer weit, bis er so

08 Vgl. Umweltbundesamt (UBA), 27.5.2019, www.umwelt- 10 Vgl. UBA, Entwicklung der spezifischen Kohlendioxid- bundesamt.de/themen/luft/emissionen-von-luftschadstoffen/ Emissionen des deutschen Strommix in den Jahren 1990–2017, spezifische-emissionsfaktoren-fuer-den-deutschen. Dessau-Roßlau Mai 2018. 09 Vgl. Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft 11 Vgl. Dirk Gulde, Ist das E-Auto wirklich umweltfreundlicher?, Baden-Württemberg/Landesanstalt für Umwelt Baden-Württem- in Auto, Motor und Sport 9/2019, S. 79. berg (Hrsg.), Umweltdaten 2018 Baden-Württemberg, Oktober 12 Vgl. Peter Vollmer, Diese Emissionen haben Batterien von Elekt- 2018, Karlsruhe 2018, S. 54. roautos, 4.7.2018, https://edison.handelsblatt.com/​2265​4274.​html.

30 Das Auto APuZ

viel CO2 freigesetzt hat. Unterm Strich fällt bei der RETTUNG DES AUTOS? Produktion eines E-Autos etwa doppelt so viel

CO2 an wie bei einem Verbrenner. Je größer der In vielen europäischen Städten gibt es bereits

Akku, desto schwerer der CO2-Rucksack. Fahrverbote für Diesel: Paris hat Diesel ab der Eine Alternative könnten strombasierte Schadstoffklasse Euro 2 bereits verbannt, bis 2024 Kraftstoffe aus erneuerbaren Energien bieten. sollen alle Selbstzünder, bis 2030 auch Benziner Synthetische, also künstlich erzeugte Treibstoffe ausgesperrt werden. Nach Oslo dürfen Diesel- binden nämlich bei ihrer Herstellung annähernd Pkw nicht mehr fahren, und auch in Kopenhagen so viel CO2, wie bei der späteren Verbrennung sind Diesel seit 2019 nicht mehr zugelassen. Die freigesetzt wird. Damit betriebene Fahrzeuge wä- Liste ließe sich fortsetzen. Mit Blick auf das Pa- ren also quasi CO2-neutral unterwegs – abgese- riser Klimaabkommen von 2015 ist der Ausstieg hen von den Emissionen, die bei der Fahrzeug- aus fossilen Brennstoffen bereits geregelt, die Zu- produktion entstehen. Außerdem könnten die kunft des Verbrenners ist also endlich. In dieser sogenannten E-Fuels über die bestehende Tank- Hinsicht könnten Stromer also die Zukunft des stellen-Infrastruktur vertrieben, herkömmlichem Autos retten. Doch die Städte wehren sich nicht

Sprit beigemischt und für ältere Motoren genutzt nur gegen Luftverschmutzung und CO2-Belas- werden. Trotzdem ist ein Durchbruch der Tech- tungen, die Metropolen dieser Welt brauchen nologie derzeit noch ungewiss. Denn obwohl die auch neue Mobilitätskonzepte. Es ist eben nicht Industrie auf diese Lösung pocht und einige Her- einfach damit getan, Alternativen wie E-Bikes, stellungsverfahren bereits weit entwickelt hat, Lastenräder oder E-Scooter auf den Markt zu setzt die Politik für den privaten Bereich aktuell bringen, wenn dafür nicht neue Räume geschaf- voll auf die E-Mobilität. Aber angesichts dessen, fen werden – davon zeugen schon die ansteigen- dass es voraussichtlich noch Jahrzehnte dauern den Unfallzahlen auf diesem Gebiet. wird, bis die gesamte Pkw-Flotte elektrifiziert Wenn Verkehrspolitik jedoch nicht mode- ist, könnten E-Fuels als optimale Übergangs- riert wird, dann nützen auch neue Mobilitätskon- lösung dienen, um schon heute die CO2-Bilanz zepte nichts – dies zeigt etwa die Tatsache, dass zu verbessern – und zwar auch bei Lkw, Schif- der Individualverkehr in Städten wie New York fen und Flugzeugen. Denn sobald es um größe- durch Fahrdienstvermittler wie Uber und Lyft re Reichweiten und Nutzlasten geht, kommt die gestiegen ist, weil viele Menschen die bequeme- E-Mobilität konzeptbedingt an ihre Grenzen. re Lösung bevorzugen und die Fahrdienste dem Knackpunkt ist der Stromspeicher: So liegt die öffentlichen Nahverkehr vorziehen. In Zukunft Energiedichte in flüssigen Kraftstoffen um ein wird es in den Städten immer voller werden. Vie- Vielfaches höher als in heutigen Lithium-Ionen- lerorts wird daher mit Hochdruck an tragfähi- Akkus. Akkus speichern bis zu 100 Wattstun- gen Konzepten jenseits des Individualverkehrs den pro Kilogramm (Wh/kg), Sprit enthält dage- gearbeitet. „Der heutige Normalfall, wonach die gen um die 12 000 Wh/kg. Anders ausgedrückt: meisten Menschen selber in ihrem eigenen Fahr- Während ein Tesla Model S einen 600 Kilogramm zeug fahren, wird in wenigen Jahren nur noch ein schweren Akku für eine Reichweite von rund 500 Mobilitätskonzept unter vielen sein“, prognosti- Kilometern benötigt, genügen einem vergleichba- zierte der Global Lead Analyst Christoph Stür- ren Diesel-Pkw um die 25 Liter Kraftstoff, was mer von der Beratungsfirma Pricewaterhouse etwa 21 Kilogramm entspricht. Coopers bereits 2017. Car- und Ridesharing, die Zukünftig werden wir also mehr als bisher Elektrifizierung des Antriebs sowie die Entwick- auf die Vielfalt verschiedener Antriebsarten an- lung selbstfahrender Autos seien Megatrends, die gewiesen sein. Je nach Einsatzzweck wird mal in Kombination dazu führten, „dass sich der Stra- die E-Mobilität sinnvoll sein, mal die Brennstoff- ßenverkehr als solcher radikal verändern wird“.13 zelle – auch als Plug-in-Hybrid – und mal flüssi- Stellen wir uns den urbanen Mobilitätsmix der ge Kraftstoffe. Was wir ebenfalls nicht vergessen Zukunft also aus mehreren Komponenten vor: sollten: Viele Ressourcen sind endlich, nicht nur öffentlicher Verkehr mit Bus und Bahn ergänzt die für die Energiebereitstellung. So reichen wohl weder die Platinvorkommen aus, alle Autos mit 13 Pricewaterhouse Coopers, 2030 braucht der Verkehr in Brennstoffzellen auszustatten, noch ist unendlich Europa 80 Millionen weniger Autos als heute, Pressemitteilung, viel Lithium für Batterien vorhanden. 11.9. 2017, www.presseportal.de/pm/8664/3732554.

31 APuZ 43/2019 durch autonom fahrende Autos, dazu der selbst- sen. Die selbstfahrenden Autos sind längst noch gelenkte Individualverkehr mit eigenem Fahrrad nicht serienreif, aber Ideen für Geschäftsmodelle oder kurzzeitig geliehenem Auto, Roller, Fahrrad gibt es schon viele. oder E-Scooter. Eine weitere Komponente sind Die Automobilindustrie kann von Geschäf- Mitfahrdienste wie etwa von der VW-Tochter ten dieser Art durchaus profitieren, zunächst ein- Moia. Bei diesem sogenannten ride hailing führt mal in der Rolle des Hardware-Herstellers. Ob ein Algorithmus die Anfragen der Passagiere zu- sie in Zukunft auch an den digitalen Geschäfts- sammen und koordiniert die Fahrtenroute, ver- modellen beteiligt sein wird, bleibt abzuwarten. gleichbar einem Sammeltaxi – aber günstiger. So- Trotz aller Bemühungen und Kooperationen im fern sie klug genutzt werden und auf eine hohe Bereich der neuen Mobilität – prominentes Bei- Auslastungsquote kommen, bieten Mitfahrgele- spiel ist der Mobilitätsdienst Share Now, für den genheiten durchaus die Chance, den Individual- die Konkurrenten BMW und Daimler zu Part- verkehr in Städten zu reduzieren. nern wurden – verdient im Moment niemand Auch die Nachfrage der Verkehrsbetriebe auch nur ansatzweise so viel Geld wie mit dem nach autonom fahrenden Bussen dürfte in den klassischen Automobilgeschäft. Und die meis- nächsten Jahren wachsen. Zum einen können da- ten Erfahrungen auf dem Gebiet des autonomen durch Personalkosten reduziert werden, zum an- Fahrens haben nicht BMW, Daimler und Volks- deren benötigen die Shuttles viel weniger Platz wagen, sondern die Google-Tochter Waymo, die als beispielsweise große Gelenkbusse, die sich am bereits Kooperationen mit Herstellern wie Jaguar Wochenende oder in der Nacht oft nur mit einer Land Rover eingegangen ist, um sich den Zugriff geringen Anzahl Passagieren durch die Städte auf deren Plattformen zu sichern. Dass die Sha- quälen. In mehr als zehn deutschen Kommunen ring-Shuttles hauptsächlich elektrisch betrieben laufen mittlerweile Tests mit autonom fahren- werden sollen, ergibt Sinn. Denn Shuttle-Fahrten den Kleinbussen, unter anderem in Keitum auf gehen in der Regel über kürzere Strecken. Gro- Sylt und Bad Birnbach. Die Kostenbilanzen fal- ße, energieaufwändige und zugleich teure Akkus len unterschiedlich aus. In einer Studie der Har- werden da nicht benötigt. vard University wird geschätzt, dass die Kosten Die Nationale Plattform Elektromobilität, ein für die Benutzung eines Robotaxis pro Meile fast Beratungsgremium der Bundesregierung aus Ver- dreimal so hoch wären wie die Benutzung eines tretern der Industrie, Politik, Wissenschaft, Ver- eigenen alten Wagens.14 Allerdings könnte die bänden und Gewerkschaften, ging in ihrem Fort- Zeit im autonom fahrenden Shuttle künftig für schrittsbericht 2018 davon aus, dass Deutschland andere Dinge genutzt werden, weshalb es bereits sich „zu einem Treiber für Elektromobilität mit interessante Kooperationen gibt – zwischen To- einer hohen Dynamik bei den Neuzulassungen“ yota und Pizza Hut zum Beispiel. Und der Au- entwickeln wird und prognostizierte, dass der tohersteller e.GO Mobile aus Aachen will den „Anteil von Elektrofahrzeugen an der weltweiten e.GO Moover, der in einer Kooperation mit dem Gesamtproduktion von aktuell weniger als ein Zulieferer ZF entsteht, an Läden vorbeifahren Prozent auf über zehn Prozent im Jahr 2020 und lassen, die appbasiert Gutscheine anbieten und bis zu 25 Prozent im Jahr 2025 ansteigen“ wird.15 die Insassen so zu einem Stopp einladen. Attrak- Demnach käme die Elektromobilität in Kürze tiv könnte das Geschäft auch für Krankenkassen mit Wucht – genau so, wie es Ex-Daimler-Chef werden, die jedes Jahr Milliarden Euro an Taxi- Dieter Zetsche im Sommer 2016 im Interview unternehmen für Krankenfahrten zahlen müs- mit der „Wirtschaftswoche“ mit einem anschau- lichen Vergleich beschrieb: „Das ist wie mit der umgedrehten Ketchup-Flasche. Wenn man drauf- 14 Vgl. Ashley Nunes/Kristen Hernandez, The Cost of Self- Driving Cars Will Be the Biggest Barrier to Their Adoption, schlägt, weiß man, irgendwann kommt was raus. 31.1.2019, https://hbr.org/2019/01/the-cost-of-self-driving-cars- (…) Du weißt nicht wann, aber wenn’s kommt, will-be-the-biggest-barrier-to-their-adoption. dann richtig.“16 15 Nationale Plattform Elektromobilität, Fortschrittsbericht 2018 – Markthochlaufphase, Mai 2018, www.nationale-platt- BIRGIT PRIEMER form-elektromobilitaet.de/fileadmin/user_upload/Redaktion/ NPE_Fortschrittsbericht_2018_barrierefrei.pdf, S. 72. ist Chefredakteurin der Zeitschrift „Auto, Motor und 16 Zit. nach Sebastian Schaal, Wie steht es um die Elektroau- Sport“ mit Sitz in Stuttgart. tos, Herr Zetsche?, 22.7.2016, www.wiwo.de/13907888.html. [email protected]

32 Das Auto APuZ

DER WEG IST DAS ZIEL: VERKEHRSWENDE ALS KULTURWENDE Oder: Zur schwierigen Entwöhnung vom Auto Weert Canzler · Jörg Radtke

Trotz der inzwischen spürbar voranschreitenden Erhard „Wohlstand für alle“. Es gab in der Nach- Erderwärmung und dem allgemeinen Wissen da- kriegszeit, insbesondere seit Ende der 1950er Jah- rum, dass Autoabgase nicht unwesentlich zum re, einen breiten politischen und gesellschaftlichen Klimawandel beitragen, ist die Attraktivität eines Konsens darüber, dass das „Auto für alle“ Teil eines eigenen Autos in Deutschland offenbar ungebro- „gelungenen modernen Lebens“ sein sollte. In deut- chen: Jahr für Jahr nimmt die Zahl der hierzulan- schen Städten und ebenso in anderen früh motori- de zugelassenen Pkw zu, mittlerweile sind es über sierten Ländern wurde lange Zeit das Planungsideal 47 Millionen.01 Und während es in den vergange- der „autogerechten Stadt“ verfolgt und insbesonde- nen Jahren in allen anderen Sektoren Fortschritte re in den 1960er und 1970er Jahren konsequent um- 03 bei der Reduzierung der CO2-Emissionen gab, hat gesetzt. Das Automobil galt lange Zeit als Sym- sich im Verkehr, präziser: im motorisierten Stra- bol für Freiheit und Unabhängigkeit, das sich in ßenverkehr wenig bis gar nichts getan. Das Auto die Routinen jedes Einzelnen eingeschrieben hat.04 ist nicht zuletzt auch deshalb ein so großes Pro- Hinzu kommt die Bedeutung des Autos als Aus- blem für den Klimaschutz und für den Ressour- druck von Individualität. Auch wenn Pkw Mas- cenverbrauch, weil es ständig größer, schwerer senware sind, bieten die differenzierten Modellpa- und höher motorisiert angeboten wird. Aktuell letten und Ausstattungsmerkmale die Möglichkeit, ist das Pkw-Segment, das am stärksten wächst, das die eigene Persönlichkeit zu unterstreichen.05 Sozi- der sogenannten sport utility vehicles (SUV) und alwissenschaftlich betrachtet ist das Auto somit viel der Geländewagen, die gerade für die engen Ver- mehr als ein technisches Vehikel. Es ist Ausdruck hältnisse der Stadt vollkommen ungeeignet sind. und Katalysator des Selbst,06 Sinnbild des Zusam- Die jüngst im „Klimapaket“ der Bundesregie- menlebens und ein Spiegel der Gesellschaft. rung bekräftigte Förderung der Elektromobili- Auch wenn die Ziele der heutigen Stadtentwick- tät – bis 2030 sollen auf deutschen Straßen sieben lungspläne mittlerweile ganz anders klingen, so ist bis zehn Million E-Autos fahren und mindestens die Hypothek der früheren Raum- und Stadtent- eine Million öffentliche Ladepunkte zur Verfü- wicklung nur schwer abzutragen. Zwar werden seit gung stehen02 – hält jedoch weiterhin am Para- einigen Jahren in den meisten kommunalen Ver- digma des eigenen Automobils fest; so läuft der kehrsplänen ein Zurückdrängen des Autos, die För- postulierte Wandel letztlich auf eine bloße An- derung des öffentlichen Verkehrs und auch die Un- triebswende hinaus. Tatsächlich aber bedarf es terstützung für den „aktiven Verkehr“ zu Fuß und einer Verkehrswende als Kulturwende. Wie die- mit dem Fahrrad gefordert. Aber der Verkehrsalltag se aussehen könnte – und welche Hindernisse ihr ist nach wie vor von den Ergebnissen einer jahr- bislang entgegenstehen – werden wir im Folgen- zehntelangen aktiven Autoförderung geprägt. den skizzieren. Neben den Beharrungskräften des Automobi- lismus – wie der am Leitbild der „Rennreiselimou- HYPOTHEK DER VERGANGENHEIT sine“ orientierten Autoindustrie und der Routine und Bequemlichkeit der Autofahrerinnen und Au- Die Dominanz des Autos ist nicht zufällig entstan- tofahrer selbst – ist die in Beton und Asphalt ge- den, sie war über viele Jahre politisch gewollt. Das ronnene Realität der autogerechten Stadt eines der private Auto gehörte zum bundesdeutschen „Wohl- Haupthindernisse für eine echte Verkehrswende.07 standsmodell“ im Sinne des Slogans von Ludwig Eine solche Wende hin zu anderen Verkehrsmit-

33 APuZ 43/2019 teln mit weniger und zudem elektrisch betriebenen vielfach wird der öffentliche Raum dominiert von Autos ist daher ein hoch ambitioniertes Vorhaben. fahrenden oder stehenden Fahrzeugen. Gleich- Allein schon bei der überfälligen Elektrifizierung zeitig beginnt jedes Mal ein regelrechter Kultur- der Antriebe zeigt sich, wie stark die Widerstände kampf, wenn eine Kommune den öffentlichen auf Seiten der Autoindustrie, aber auch bei vielen Parkraum zurückbauen und eine andere Nut- Autofahrenden sind. Die gewohnten Standards bei zung von Verkehrsflächen ermöglichen will. Be- der Reichweite und Tankstellendichte werden von troffene Privatautomobilisten fühlen sich ihres vielen als nicht verhandelbarer Maßstab betrach- Gewohnheitsrechtes beraubt, und Einzelhändler tet.08 Dabei ist zu bedenken: Die Elektromobili- verteidigen das innerstädtische und geschäftsnahe tät ist nur eine notwendige, aber keinesfalls hin- Parken als eines der letzten Bollwerke gegen den reichende Voraussetzung für die Verkehrswende. Online-Handel.10 Diese bedarf nicht nur radikaler technischer In- Dabei ist der Widerstand der tatsächlichen novationen, sondern ebenso eines umfassenden und vermeintlichen Verlierer einer Neuvertei- stadt- und siedlungsräumlichen Umbaus und nicht lung des öffentlichen Verkehrsraumes zulasten zuletzt kollektiver Verhaltensänderungen. des Autos oft lautstark, während sich bei den potenziellen Gewinnern einer neuen urbanen ES WIRD ENG Raumnutzung wenig rührt. Diese Gruppe ist ver- gleichsweise leise, kaum organisiert und wird im Neben den Treibhausgasemissionen aus den fos- öffentlichen Diskurs – von einigen städtischen silen Verbrennungsmotoren, die dem Klima scha- Radinitiativen abgesehen11 – kaum wahrgenom- den, gibt es ein weiteres Problem, das auch nach men. In Zeiten der Urbanisierung steigt jedoch einer Elektrifizierung des automobilen Verkehrs der Druck, den städtischen Raum besser zu nut- weiterhin bestehen würde: Der motorisierte In- zen. Für Kommunen wird es künftig zum einen dividualverkehr benötigt einfach sehr viel Platz – darum gehen, den öffentlichen Parkraum syste- und zwar sowohl wenn er fließt, als auch wenn er matischer und kostenorientierter zu bewirtschaf- ruht. Private Autos stehen durchschnittlich mehr ten.12 Zum anderen wird es um eine andere Nut- als 23 Stunden am Tag herum.09 Der Platzbedarf zung des öffentlichen Raumes gehen: Es ist kaum der massenhaften Autonutzung hat die Kapazi- zu rechtfertigen, dass private Automobile mit ei- tätsgrenzen vieler Städte längst überschritten, ner beanspruchten Grundfläche von mindestens zwölf Quadratmetern pro Fahrzeug ohne oder nur für eine geringe symbolische Gebühr den öf- 01 Vgl. Kraftfahrt-Bundesamt, Jahresbilanz des Fahrzeugbe- fentlichen Raum in Beschlag nehmen, der ander- standes am 1. Januar 2019, o.D., www.kba.de/DE/Statistik/ weitig sinnvoller genutzt werden könnte. Fahrzeuge/Bestand/bestand_node.html. Das eingespielte Nutzungsverhalten der vielen 02 Vgl. Eckpunkte für das Klimaschutzprogramm 2030, 20.9.2019, www.bundesregierung.de/resource/blob/997532 Autofahrenden zu verändern, ist eine große He- /1673502/768b67ba939c098c994b71c0b7d6e636/2019- rausforderung. Drei Viertel der Verkehrsleistung 09-20-klimaschutzprogramm-data.pdf, S. 8f. im Personenverkehr wird vom Auto erbracht – 03 Vgl. Weert Canzler et al., Erloschene Liebe? Das Auto in ein annähernd konstanter Wert seit mehr als zehn der Verkehrswende, Bielefeld 2019. Siehe auch den Beitrag von Manfred Grieger in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 04 Vgl. Günter Burkart, Individuelle Mobilität und soziale 10 Jüngere Erfahrungen aus autoarmen Quartieren in Madrid Integration, in: Soziale Welt 2/1994, S. 216–241; Andreas zeigen, dass der Einzelhandel größere Umsätze macht als vor Knie, Eigenraum und Eigenzeit: Zur Dialektik von Mobilität und den Einschränkungen für private Autos, weil die Aufenthalts- Verkehr, in: Soziale Welt 1/1997, S. 39–55. qualität besser geworden ist. Vgl. Carlton Reid, Closing Central 05 Vgl. Thomas Vašek, Land der Lenker. Die Deutschen und ihr Madrid to Cars Resulted in 9.5 % Boost to Retail Spending, Auto, Darmstadt 2019. 8.3.2019, www.forbes.com/sites/carltonreid/2019/03/08/ 06 Vgl. Hubert Knoblauch, Über ausrastende Autofahrer und closing-central-madrid-to-cars-resulted-in-9-5-boost-to-retail- das Weinen. Untersuchungen zur emotionalen Metamorphose spending-finds-bank-analysis. des Selbst, Wiesbaden 2015. 11 Bundesweite Bekanntheit erlangte etwa die Initiative Volks- 07 Vgl. Weert Canzler, Automobil und moderne Gesellschaft, entscheid Fahrrad durch ihren Erfolg in Berlin, wo sie gemeinsam Berlin–Münster 2016. mit dem Berliner Senat ein Mobilitätsgesetz erarbeitete, das im 08 Siehe auch den Beitrag von Birgit Priemer in dieser Ausga- Juni 2018 verabschiedet wurde. be (Anm. d. Red.). 12 Vgl. Martin Randelhoff, Die größte Ineffizienz des privaten 09 Vgl. Christian Scherf et al., Mobilitätsmonitor Nr. 5, in: Inter- Pkw-Besitzes: Das Parken, 23.2.2013, www.zukunft-mobilitaet.net/​ nationales Verkehrswesen 4/2017, S. 40–43. 13615.

34 Das Auto APuZ

Jahren.13 Dieses Verhalten folgt jedoch keinem ambitioniertes Programm gestartet. Neben das Naturgesetz, sondern es ist historisch gewachsen stationsbasierte ist das in einem definierten Gebiet und das Ergebnis eines jahrzehntelangen automo- frei verfügbare, sogenannte free-floating Carsha- bilzentrierten Infrastrukturausbaus einschließlich ring mittlerweile verbreitet. der rechtlichen Absicherung des Parkens mit einer In den vergangenen Jahren sind zudem Ange- Stellplatzpflicht und dem Gemeingebrauch der bote privaten Carsharings entstanden, die es Pri- Straße für den „ruhenden Verkehr“. Schließlich vatleuten – meistens in einem nachbarschaftlichen hat der Status quo auch mit Anreizen zu tun. Zu Umfeld – erlauben, gegen ein entsprechendes diesen gehören neben einer fehlenden Parkraum- Entgelt andere private Autos zu nutzen. Mithil- bewirtschaftung und dem Dienstwagenprivileg fe von Apps der Plattformbetreiber sind Abspra- auch steuerliche Vergünstigungen wie die Entfer- chen zwischen Anbieter und Nachfrager, aber nungspauschale und der reduzierte Steuersatz für auch die Lokalisierung der Fahrzeuge und die Dieselkraftstoff. Doch wie bei jedem Abbau von Buchung standardisierter Versicherungsleistun- Privilegien stehen auch hier Interessen von poten- gen einfach und zuverlässig möglich. Hier hat das ziellen Verlierern („die Autobesitzer“) unsicheren Carsharing erheblich von der Durchsetzung des Vorteilen für diffuse Gewinner („die Allgemein- Smartphones und der Etablierung smarter Dispo- heit“) gegenüber – das Dilemma der konkreten sitionsalgorithmen profitiert. Verluste versus abstrakter Gewinne. Dennoch: Trotz beeindruckender Wachstums- Die Beharrungskräfte bei der Verkehrswen- zahlen wurden die Erwartungen und Hoffnun- de lassen sich im Wesentlichen durch drei Fakto- gen bislang nicht erfüllt. Zwar haben sich mehr ren erklären: erstens technische Lock-in-Effekte als 2,4 Millionen Kunden bei den Carsharing-An- wie der ausgereifte Verbrennungsmotor und das bietern angemeldet. Doch kann diese Zahl nicht dichte Tankstellennetz, zweitens eine verfestig- darüber hinwegtäuschen, dass der Marktanteil te Autoabhängigkeit gerade von nicht-städtischen des Carsharings bisher sehr bescheiden ist. Nicht Haushalten sowie drittens fehlender politischer mehr als 20 000 Fahrzeuge werden genutzt,15 Re- Gestaltungswille angesichts des Verluste-Gewinne- duktionen bei den Gesamtzulassungszahlen sind Dilemmas. Dennoch finden sich immer wieder nicht ersichtlich, mögliche Pkw-Abmeldungen Versuche, aus der problematischen Motorisie- von Carsharern nicht nachzuweisen. Carsharing rungsdynamik herauszukommen und auf der Ver- wird bisher vielfach als zusätzliches Verkehrsange- haltensseite einen Alternativweg zum privaten Au- bot genutzt oder es wird von denen als „Versiche- tomobil aufzubauen. rungsoption“ betrachtet, die ihren Verkehrsalltag sowieso bereits ohne eigenes Auto organisiert ha- AUSWEG CARSHARING? ben. Zwar sind Carsharing-Angebote in vielen Städten mittlerweile verfügbar, doch sind die meis- Schon länger gilt das Carsharing, also das orga- ten kleineren Städte und vor allem ländliche Räu- nisierte Teilen von Autos als eine Möglichkeit, me noch weiße Flecken beim organisierten Au- die vorhandenen Fahrzeuge effizienter zu nut- toteilen. Von einem Boom des Autoteilens kann zen.14 Die Hoffnung, die Mobilitätsbedürfnisse keine Rede sein, das Carsharing ist keine verbrei- mit weniger Autos zu befriedigen, besteht schon tete soziale Praxis. Warum ist das so? seit Längerem. In den 1980er Jahren in der Nische der Alternativbewegung entstanden, hat sich das ANREIZE SCHAFFEN Carsharing mittlerweile professionalisiert. Eta- blierte Autohersteller haben ihre eigenen Carsha- Offensichtlich ersetzt ein neues Angebot einer ef- ring-Angebote auf den Markt gebracht, jüngst hat fizienteren Fahrzeugnutzung wie das Carsharing beispielsweise auch der Autovermieter Sixt ein keine aktive Verkehrswendepolitik. Solange bei- spielsweise das Abstellen privater Autos im öf- fentlichen Raum wenig oder gar nichts kostet und 13 Vgl. Claudia Nobis/Tobias Kuhnimhof, Mobilität in Deutsch- Anwohnerinnen und Anwohner mit einer für ei- land – MiD Ergebnisbericht, Studie von Infas, DLR, IVT und Infas 360 im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur, Februar 2019, www.mobilitaet-in-deutschland.de. 15 Vgl. Bundesverband Carsharing, Aktuelle Zahlen und Daten 14 Vgl. Markus Petersen, Ökonomische Analyse des Car- zum Carsharing in Deutschland, 2019, https://carsharing.de/ Sharing, Wiesbaden 1995. alles-ueber-carsharing/carsharing-zahlen.

35 APuZ 43/2019 nen symbolischen Preis erhältlichen Plakette von kehr nicht trauen. Erfahrungen aus Dänemark und einer Nutzerfinanzierung sogar ausgenommen den Niederlanden, aber auch aus einigen US-ame- werden, gibt es auch für Carsharer keinen Anreiz, rikanischen Städten zeigen, dass Radwege dann be- den vorhandenen Privatwagen abzuschaffen. Sie sonders stark frequentiert werden, wenn sie durch behalten ihn also einfach. Poller oder andere bauliche Maßnahmen von Au- Überhaupt ist für die Verkehrswende eine neue tostraßen getrennt sind. Das Zauberwort der Ver- Raumverteilung entscheidend. Ohne eine Umwid- kehrsplaner heißt hier protected bike lane. Ein ei- mung von Autostraßen und Parkflächen für ande- genes Fahrradwegenetz ohne gefahrenträchtige re Verkehrsmittel, in erster Linie für Fahrradwege Kreuzungen mit Autostraßen, wie es beispielsweise und Busspuren, wird keine Flächengerechtigkeit in Neubauquartieren in der niederländischen Stadt erreicht. Es bedarf vielmehr einer konsequenten Utrecht gebaut wurde, gilt als richtungsweisend. Push-and-pull-Strategie in der städtischen Ver- Auch der öffentliche Verkehr muss künftig kehrsflächenpolitik. Das heißt konkret: weniger mehr sein als ein „Resteverwerter“. Er ist aber nur Platz für das private Auto und mehr Platz für Al- attraktiv, wenn er zuverlässig und im engen Takt ternativen sowie für urbane Aktivitäten und Be- fährt und mit zusätzlichen flexiblen Angeboten dürfnisse. Zunehmend werden weitere Ansprüche wie Car- und Bikesharing verbunden ist. Auch das an bisher für den Autoverkehr vorgehaltene öf- autonome Fahren bietet in diesem Zusammenhang fentliche Flächen gestellt, nicht zuletzt um Woh- neue Chancen. So könnten selbstfahrende Shuttles nungen zu bauen oder soziale Infrastrukturein- eine flexible Ergänzung für Bus- und Bahnlinien richtungen wie Schulen, Kindergärten oder Parks sein, sie könnten die „erste“ und „letzte Meile“ von zu errichten. Um mehr Effizienz in der Nut- der Haltestelle zur Haustür bequem und bedarfs- zung öffentlicher Flächen zu erreichen, könnten gerecht bedienen. Shuttles, die im Bedarfsfall ange- schließlich geteilte Fahrzeuge im Zuge einer Staf- fordert werden und ansonsten sich selbst disponie- felung von Parkgebühren bevorteilt werden. Auch ren, wären besonders dort hilfreich, wo es weder das würde das Carsharing unterstützen. Bahn- noch Busanbindungen gibt oder wenn die Zudem müsste das Carsharing eng mit dem öf- Nachfrage am Abend oder in der Nacht einfach zu fentlichen Verkehr verknüpft und letztlich zu einem gering ist, um einen Regelbetrieb einzurichten. Da- integralen Bestandteil dessen werden. Mit derartigen mit sind sie gerade in städtischen Randlagen und Verknüpfungen gibt es bereits einige Erfahrungen – auf dem Land als Zubringer zu Bushaltestellen beispielsweise in Hamburg mit dem „switchh-An- oder Bahnhöfen interessant. Noch existieren solche gebot“ oder in Augsburg mit der „swa Mobil-Flat“ Shuttles lediglich als Prototypen, sie fahren in eini- inklusive E-Carsharing.16 Neben der tariflichen In- gen Testgebieten und ausschließlich mit Sonderge- tegration und gegenseitigen Rabattoptionen ist es nehmigungen. Ob sie das theoretische Potenzial als hilfreich, dass der Zugang über eine App oder Karte flexible Ergänzung des öffentlichen Verkehrs aus- und die Abrechnung aus einer Hand möglich wird. schöpfen können, hängt außer einigen noch zu lö- Ein wichtiger Hebel für die angestrebte Integrati- senden technischen Herausforderungen davon ab, on ist der Zugriff und die Verfügbarkeit von Anbie- ob die rechtlichen Voraussetzungen für einen Re- ter- und Nutzerdaten, was eine Pflicht zu open data, gelbetrieb geschaffen werden und ob die Betreiber also zur öffentlichen Bereitstellung von Verkehrs- sie in ihr Angebot integrieren.17 daten, unumgänglich macht. Für die urbane Verkehrswende ist schließlich EINSTELLUNGEN von besonderer Relevanz, dass die aktive Mobili- tät – also das Zufußgehen und das Radfahren – den In der Gesellschaft scheinen sich verkehrspoli- notwendigen Platz bekommt. Fuß- und Radwege tische Einstellungen in jüngster Zeit bereits ver- müssen breit genug sein, einen guten Untergrund ändert zu haben.18 Ein gestiegenes Problembe- haben und vor allem sicher sein. Geschützte Rad- wege können gerade diejenigen zum Radfahren bringen, die eigentlich das Rad nutzen möchten, 17 Vgl. Weert Canzler/Andreas Knie/Lisa Ruhrort, Autonome sich das aber im anspruchsvollen städtischen Ver- Flotten. Mehr Mobilität mit weniger Fahrzeugen, München 2019. 18 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU)/Umweltbundesamt (UBA), Umweltbewusstsein 16 Zu multimodalen Beispielen in Deutschland siehe www. in Deutschland 2018, Mai 2019, www.umweltbundesamt.de/ vcd.org/themen/multimodalitaet/good-practice-beispiele. publikationen/umweltbewusstsein-in-deutschland-2018.

36 Das Auto APuZ wusstsein und eine bisher unbekannte Offenheit niger Kilometer zurück und das sehr viel weniger gegenüber der anstehenden Verkehrswende sind mit dem Pkw als Männer. Dies mag in Teilen Le- zu beobachten. Vielfach wird eingesehen, dass bensumständen geschuldet sein – aber nicht nur, eine Wende ohne Restriktionen im Verkehr nicht denn die Unterschiede bestehen insgesamt unab- möglich sein wird. Diese Einstellungsänderungen hängig vom Lebensalter. Die Aufgeschlossenheit sind nicht zuletzt verkehrspolitisch relevant. Denn gegenüber einem nachhaltigen Lebensstil wird Maßnahmen, die auf den Abbau der Privilegien auch dadurch unterstrichen, dass sich mehr Frau- des privaten Autos zielen, galten lange als „politi- en vegetarisch ernähren und häufiger grün wählen scher Selbstmord“. Nunmehr ist eine größere Un- als Männer. Ist Autofahren also Männersache? So terstützung auch von Vorschlägen wie einer Um- einfach ist es sicher nicht, aber zweifelsohne ver- widmung von Autofahrstreifen zu Busspuren oder körpert das Automobil Merkmale, die insbeson- Radwegen erkennbar.19 Temporäre Fahrverbote dere von Männern als attraktiv gewertet werden.24 für besonders emissionsbelastende Dieselfahrzeu- ge finden ebenso deutliche Mehrheiten. Selbst bei VERKEHRSPOLITIK IM UMBRUCH einem Tempolimit auf Autobahnen, was viele Jahre als verkehrspolitisches No-Go behandelt wurde, Insgesamt scheint nunmehr Bewegung in ein Po- ließe sich möglicherweise eine Mehrheit finden.20 litikfeld zu kommen, das oft als vermint betrach- Eine Trendwende könnte schließlich auch durch tet wurde und in dem starke Vetospieler wie die den Generationenwechsel befördert werden. Die Autoindustrie, der ADAC oder mitunter auch Langzeitstudie des Umweltbundesamtes zum Um- das Verkehrsministerium eine Verkehrswende weltbewusstsein der Deutschen zeigt auf, dass ins- mit einer Stärkung der Alternativen zum privaten besondere die Bedeutung des Automobils als indivi- Auto unwahrscheinlich machten. Die fehlenden duelles Eigentum bei jüngeren Menschen nachlässt, klimapolitischen Fortschritte, der Dauerstau vie- auch gibt es mehr Aufgeschlossenheit gegenüber ei- lerorts, die aufgekommene Diskussion um Flä- ner Umgestaltung von Kommunen, um die Ange- chengerechtigkeit in den Städten und nicht zu- wiesenheit auf das Auto zu reduzieren.21 Allerdings letzt die sogenannte Dieselkrise um manipulierte zeichnet sich auch das Bild ab, dass Mobilität im Le- Abgaswerte erlauben ein „Weiter so“ nicht mehr. ben der jüngeren Generation eine erhebliche Rol- Mittlerweile lässt sich ein neuer Mainstream in le spielt – der Verzicht auf Flugreisen scheint we- den Debatten identifizieren: Der Verbrennungs- nig kompatibel mit dem Ideal weltweit vernetzter motor ist ein Auslaufmodell – die Elektrifizie- Menschen des 21. Jahrhunderts.22 Dennoch ist der rung kommt. Der Strategiewechsel von Volkswa- Wandel gerade beim eigenen Auto sichtbar: Jüngere gen und das Umsteuern einiger großer Zulieferer Menschen besitzen deutlich weniger Pkw, Carsha- in Richtung Elektromobilität beschleunigen den ring wird hingegen häufiger praktiziert.23 Prozess auch faktisch. Bemerkenswert ist zudem ein erheblicher Ge- Beim zweiten technologischen Wandel, der schlechterunterschied: Frauen legen insgesamt we- Automatisierung von Fahrfunktionen, ist aller- dings noch offen, ob der Schwerpunkt bei der Auf- rüstung und damit bei der „Laufzeitverlängerung“ 19 Vgl. Mark Andor et al., Präferenzen und Einstellungen zu des klassischen Privatautos liegt. Dann würde es vieldiskutierten verkehrspolitischen Maßnahmen: Ergebnisse einer Erhebung aus dem Jahr 2018, RWI – Leibniz-Institut für darum gehen, das automatisierte Fahren auf der Wirtschaftsforschung, RWI Materialien 131/2019. Autobahn, das sogenannte platooning, sowie ein 20 Vgl. Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), KfW-Research: Feature für eigenständiges Parken als Regelfunk- Bevölkerung in Deutschland hält „Verkehrswende“ für nötig – tion einzuführen. Ansonsten würde sich nichts Mehrheit für Tempolimit auf Autobahnen, Pressemitteilung, ändern, das alte Auto-Leitbild wäre unangetastet. 11.11.2017, www.kfw.de/KfW-Konzern/Newsroom/Aktuelles/ Pressemitteilungen-Details_441152.html. Bisher forschen und entwickeln die Autoherstel- 21 Vgl. Maike Gossen et al., Umweltbewusstsein und Umweltver- ler schrittweise auf diesem Innovationsweg. Alter- halten junger Menschen, Januar 2016, www.umweltbundesamt.de/ nativ bietet sich ein radikal anderes Zukunftsmo- publikationen/umweltbewusstsein-in-deutschland-2014-0; BMU/ dell an: nämlich sich selbst disponierend agierende UBA (Anm. 18). Fahrzeuge zu entwickeln, die sich nicht in indivi- 22 Vgl. Holger Rust, Das kleine Schwarze. Jugendliche Au- toträume als Herausforderung für das Zukunftsmanagement, Wiesbaden 2011. 24 Vgl. Marc Vobker, Automobil und Geschlecht. Explorative 23 Vgl. Nobis/Kuhnimhof (Anm. 13). Analysen jenseits stereotyper Zuschreibungen, Wiesbaden 2016.

37 APuZ 43/2019 duellem Besitz der Nutzer befinden, sondern Teil und kommt ohne einen umfassenden Kulturwan- einer Mobilitätsdienstleistung sind. Daran arbeiten del nicht aus. Das bedeutet sehr viel Veränderung derzeit kalifornische Digitalunternehmen. Dieser auf einmal und ist somit kaum wahrscheinlich – Entwicklungspfad ist riskanter, zugleich würde er im Sinne eines kurzfristig zu erreichenden Ziels. den Abschied von der traditionellen Automobi- Es spricht daher viel dafür, mit kleinen Schritten lität – im wörtlichen Sinne: der Selbstbeweglich- zu beginnen und zunächst Pilotversuche und Ex- keit – bedeuten. Denn wirklich autonom fahren- perimente für eine alternative Mobilität zu starten. de Fahrzeuge erlauben es den Nutzern nicht mehr, Experimente im Verkehr müssen überschau- selbst zu steuern. Die damit verbundenen ethi- bar sein und revidiert werden können. Sie sollten schen Fragen und die Haftungsübernahme sind zunächst in Kommunen stattfinden, in einzelnen ebenso wenig beantwortet wie die Frage, wie ei- Quartieren, auf ausgewählten Straßen oder Ge- gentlich der Verkehrsraum und letztlich auch der werbehöfen. Doch selbst wenn eine Kommune ei- städtische Raum angepasst werden müssen. nen Versuch starten möchte, verfügt sie oft nicht Am Trend zur Elektrifizierung und mehr noch über die nötigen Kompetenzen und Mittel. Pilot- an dem zur Automatisierung zeigt sich, dass es da- versuche für die Verkehrswende beginnen daher bei nicht nur um technische Entwicklungen allein damit, dass auf Bundesebene die Voraussetzungen geht. Die Realisierung bestimmter technischer Va- geschaffen werden, dass Kommunen überhaupt rianten wird nur möglich, wenn die rechtlichen handeln können. Sie brauchen Rechtssicherheit, und infrastrukturellen Voraussetzungen dafür ge- Knowhow und einen Anreiz, auch Risiken ein- schaffen werden. Zugleich bedürfen sie der Ak- zugehen. Hierfür kann auf Ebene des Bundes zeptanz sowohl auf Nutzerinnen- und Nutzer- viel getan werden, Experimentierklauseln können seite als auch bei den Stadtbewohnerinnen und ausgeweitet, Wettbewerbe ausgeschrieben und ein -bewohnern. Damit verbunden sind tief greifende Wissenstransfer organisiert werden. Änderungen im Nutzungsverhalten. Aber gerade Schließlich brauchen Kommunen positive im Verkehr sind Verhaltensänderungen schwierig Beispiele – und da hilft der Blick ins Ausland. herbeizuführen, weil Verkehrshandeln üblicher- Beim Radverkehr sind Kopenhagen und Utrecht weise Routinehandeln ist und Routinen besonders und beim Ab- und Rückbau von Parkplätzen resistent gegenüber Veränderungskräften sind. Amsterdam und Brüssel besonders ambitioniert. Dort wird die Verkehrswende von den Bewoh- FAZIT UND AUSBLICK nern mittlerweile breit unterstützt, weil die Vor- teile sicht- und erlebbar sind. Es zeigt sich bei die- Weil der Verkehrssektor ein erhebliches Pro- sen Best-Practice-Beispielen, dass sich eine neue blem für den Klimaschutz ist und der zuneh- Verkehrskultur erst im Prozess der Transformati- mende Platzbedarf des deutschen Pkw-Bestandes on entwickelt. Insofern ist der Weg das Ziel. die Frage nach mehr Flächengerechtigkeit in der Stadt immer drängender werden lässt, steigt der politische und gesellschaftliche Handlungsdruck. WEERT CANZLER Zugleich sind die Beharrungskräfte immens, denn ist habilitierter Sozialwissenschaftler und wissen- nicht nur die Verkehrsinfrastruktur, sondern auch schaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum die Siedlungs- und Lebensweisen eines großen Berlin für Sozialforschung (WZB). Er ist zudem Teils der Gesellschaft sind seit Jahrzehnten auf Sprecher des Leibniz-Forschungsverbundes das private Automobil hin ausgerichtet. Es be- Energiewende und Autor mehrerer Bücher zu stehen somit mehrfache Pfadabhängigkeiten. Zu- Mobilität und Energie. gleich ist die Verkehrspolitik ein komplexes Poli- [email protected] tikfeld, in dem radikale Reformansprüche bisher als „politisch suizidal“ galten. JÖRG RADTKE Hinzu kommt, dass eine Verkehrswende viel ist promovierter Politikwissenschaftler und wis- mehr als eine – auch für sich genommen schon senschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für hochambitionierte – Antriebswende ist. Sie ist mit Politikwissenschaft der Universität Siegen. Er ist einem grundlegenden stadt- und siedlungsräum- Sprecher der Themengruppe Energietransformation lichen Umbau verbunden, sie bedarf völlig neuer der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. rechtlicher und steuerlicher Rahmenbedingungen [email protected]

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ZWISCHEN FUNKTION UND ÄSTHETIK Zur Geschichte des Autodesigns Hans-Ulrich von Mende

Wenn Faulheit die Mutter der Erfindungen ist, Die darauf folgenden beiden Jahrzehnte soll- dann ist das Auto das beste Beispiel. Mensch und ten die automobile Form stärker prägen als alles Güter zu transportieren, war ohne Räder mühe- Spätere, angetrieben durch die technische Ent- voll. Erst zwei, dann vier Räder, erst ungefedert wicklung. Aus Lenkhebeln wurden Lenkräder, und offen, dann gefedert und überdacht, machten aus Kutschenräder luftbereifte Räder, aus Kar- weite Reisen möglich, vorausgesetzt, die Zugtie- bidlampen elektrische Scheinwerfer. Die Leis- re hielten durch. Die Idee, sich vom Tier zu tren- tung der Motoren wurde ebenso gesteigert wie nen und die Kutsche zu einem „Automobil“, zu die Zahl ihrer Zylinder. Röhrenkühler mit unför- einem „Sichselbstbewegenden“, zu wandeln, ver- migen Lamellen machten Platz für Wabenkühler, langte die Technik eines Motors. Erst Dampf, eine Erfindung des Ingenieurs Wilhelm . dann Elektrizität und schließlich der Explosions- Das allein erlaubte den Herstellern, zumindest motor waren die Lösung. am Bug eine eigene Identität zu gestalten. Wie zu- Schon lange vor dem bekannten Benz-Wagen vor Kutschen waren Automobile etwas für Wohl- (Abbildung 1), patentiert 1886, gab es Motorkut- habendere: Ausdruck der modernen Zeit zum schen. Es setzte sich der benzingefütterte An- hohen Preis. Den neuen Trend entdeckten auch trieb dank besserer Leistung durch. Kutschen als Fahrrad- und Nähmaschinenhersteller, so Opel jahrhundertelang genutzte Transportmittel hat- in Rüsselsheim. Mercedes zeigte sich 1901 beson- ten beim Fahrgestell Nachteile für die automo- ders fortschrittlich mit seinem 35-PS-Sportwagen bile Entwicklung: Drehschemellenkung mit dem (Abbildung 2). Ohne Dach, aber mit dem Hauch eigenwillig gebogenen Rahmen als sogenannten einer Karosserie, konnte er dank Kotflügeln, die Durchlauf für eingeschlagene Fronträder, Reib- zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit waren, bremsen und große Räder mit schmaler Auf- leicht die 80-Stundenkilometer-Marke brechen. standsfläche waren gängiges Prinzip, kombiniert Da Autos dachlos durch jedes Wetter mussten, mit offenen oder geschlossenen Aufbauten. Doch brauchten Fahrer und Passagiere spezielle Beklei- schon für Kutschen galt: Je aufwändiger gestaltet, dung, die sie wie eine skurrile Mixtur aus Zom- umso höher das Statussymbol. bie und Gespenst aussehen ließ. Wetterfest waren auch die Sitzpolster: nämlich aus Leder. LANGSAMER ABSCHIED Das Bild des modernen Automobils war je- VON DER KUTSCHE doch noch immer kutschenähnlich, wie der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum 1903 be- Der Benz-Wagen, ähnlich einem dreirädrigen Fahr- schrieb: „Die Ästhetik des Automobiles steckt rad, war noch kein Erfolgsrezept – zu schwach war noch im Anfangsstadium. Man kann sagen: Sei- sein Motor mit dreiviertel PS, zudem bot er keinen ne Schönheit leidet augenblicklich darunter, dass Wetterschutz. Gleiches gilt für den Daimler-Wagen seine Konstrukteure noch nicht völlig das Pferd von 1886: Noch ganz Kutsche, also vierrädrig ohne vergessen haben – nämlich das Pferd vor dem Dach, war auch er kein Automobil klassischer Bau- Wagen. Unsere Automobile sind ästhetisch noch art. Das zeigte erst 1891 der Franzose Émile Le- keine Laufwagen. Sie sehen aus wie Zugwagen vassor: fast gleich große Räder mit der Achsschen- ohne Zugtiere.“01 kellenkung, wo der Raddrehpunkt an der Radnabe Ein Jahrzehnt später, 1914, schrieb der Inge- liegt, dazu Frontmotor. Ein Faltdach als Wetter- nieur und Gestalter Ernst Neumann-Neander im schutz gab es zwar immer noch nicht, aber das au- Jahrbuch des Deutschen Werkbundes über die tomobile Design fand hier seinen Ursprung. „Architektur der Fahrzeuge“: „Wenn man sagen

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Abbildung 2: Mercedes 35 PS, 1901 Quelle: Hersteller Abbildung 1: Benz Patent-Motorwagen, 1886 Quelle: Hersteller kann, dass die Grundelemente der immobilen Ar- xime für Autobauer: als Schnellster und Erster ins chitektur aus senkrechten und horizontalen Lini- Ziel zu kommen. Das klappt, wenn der Luftwider- en bestehen, so könnte die mobile Baukunst als stand gemindert wird. Das entsprechende Design Architektur der Kurven bezeichnet werden. Die ging schließlich in Serie: Erst waren es schräg ste- Formen der Land-, Wasser-, und Luft-Fahrzeuge hende Frontscheiben, bald die Vollverkleidung von haben tatsächlich von Anfang an auf die würfel- Motor und Fahrerplatz, nur die Räder warteten förmige Körperform verzichtet, und zwar eines- noch länger auf eine Verpackung. Diese Umman- teils infolge der Fortbewegung, andererseits den telung war zur Kutschenzeit ein Holzrahmen, be- Formen zuliebe, welche vom menschlichen Auge plankt mit Sperrholz oder imprägnierten Stoffen. verlangt werden. Bewegung ist bedingt durch mo- Noch fehlten stabile, großflächige Bleche, lediglich torische Kraft, motorische Kraft fordert die für sie für Motorhaube und Kotflügel wurde Metall ge- günstigste Ausgestaltung der Form. Das menschli- nutzt: leicht verformbar und einfach herzustellen. che Auge will nicht nur die Bewegung von Fahr- Weil Automobile dieser Zeit meist schwarz la- zeugen optisch registrieren, sondern es will sie ckiert wurden, lieferten Hersteller und Zulieferer auch erleben, gleichsam demonstriert begreifen. So alles in dieser Farbe. Produktionszeit und -kosten soll die Form von der Fortbewegung sprechen.“02 sanken mithilfe ofengetrockneter, lackierter Ble- Hier wird bereits das Bauprinzip des Autos che, was Holz beides nicht bieten konnte. Die neue erkannt, aber auch ideelle Motive der Karosse- Technik provozierte steigende Nachfrage und eine rieform: Tempo, Kraft, Wertigkeit und Mittel neue Herstellungsform: Der schlaue Henry Ford – zur Selbstdarstellung – all das gilt bis heute. In der Produzent des lange Zeit meistverkauften Au- Ansätzen zeigte dies bereits 1913 der A.L.F.A. tos der Welt, des Modell T – hatte 1913 die Idee des 40/60 HP Aerodinamica vom Karosseriebauer Fließbandes. Diese Methode hatte in Deutschland Castagna in Mailand, damals eines der europäi- zuvor nur Bahlsen für die Keksproduktion ver- schen Kutschenbauzentren: Mit seinem geschlos- wendet, seit 1924 nutzte sie auch Opel. senen Zeppelinkörper, Bullaugenfenstern und ei- Formal konservativ, technisch verbessert, ner üppigen Panoramafrontscheibe war dieses konnte der Einsatz von Stahl die Autostruktur Design seiner Zeit voraus. Lediglich die freiste- optimieren. Der Lancia Lambda von 1922 war henden Räder verraten die Zeit des Entstehens das erste Auto mit selbsttragender Karosserie, (Abbildung 3). das heißt, Karosserie und Rahmen verschmolzen Was gut für die Straße war, machte die Renn- zu einer tragenden, räumlichen Struktur (Abbil- strecke noch viel besser, denn hier galt nur eine Ma- dung 4). Das wiederum reduzierte die Bauhöhe, die Seitenansicht streckte sich, der tiefere Schwer- 01 Otto Julius Bierbaum, Eine empfindsame Reise im Automo- punkt stabilisierte das Fahrverhalten. Das Auto, bil, Eschborn 2000 (1903), Kap. 21. inzwischen zuverlässiger und preiswerter, eroberte 02 Ernst Neumann-Neander, Architektur der Fahrzeuge, in: den Straßenalltag. Ende 1922 eröffnete in Hanno- Deutscher Werkbund, Jahrbuch 1914, hier zit. nach Hans-Ulrich von Mende, Meilensteine des Automobildesigns, in: Hans- ver die erste öffentliche Tankstelle Deutschlands. Hermann Braess/Ulrich Seiffert (Hrsg.), Automobildesign und Was sich bisher nur Gutverdienende gegönnt hat- Technik, Wiesbaden 2007, S. 2–28, hier S. 9. ten, konnte sich jetzt in bescheidener Ausführung

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Abbildung 3: A.L.F.A. 40/60 HP Aerodinamica, 1913 Quelle: Museo Alfa Romeo, Arese/Italien

auch „der kleine Mann“ leisten: etwa den deut- schen Klassiker Hanomag 2/10 PS „Kommiss- brot“ von 1925 mit flächiger, runder Bug- und Heckpartie, auf Wunsch mit kantigem Dach, aber schon fließbandgefertigt (Abbildung 5). Die Rei- chen genossen derweil die Abkehr vom Schwarz: Für Luxuskarossen kam die Zweifarbenlackie- rung in Mode. Nach dem Kühler bot sich hier ein weiteres Motiv, um Markenidentität zu fördern – Abbildung 4: Lancia Lambda, 1922 Quelle: Hersteller und natürlich das eigene Ego.

DER WIND ZEICHNET MIT

Wer als Kind in schnellen Autos sitzen durfte, streckte die Hand raus. Die Wucht der Luft riss die Handfläche nach oben, nach unten, je nach Neigung. So lernt man Aerodynamik. Diese sollte auch bei Karosserieentwürfen von Autos eine im- mer größere Rolle spielen, ausgedrückt im soge- Abbildung 5: Hanomag 2/10 „Kommissbrot“, 1926 Quelle: Louwman Museum, Den Haag/Niederlande nannten Strömungswiderstandskoeffizient, dem cw-Wert. Als ein Wegbereiter des möglichst aero- dynamischen Karosseriedesigns gilt der Wiener korrigieren. Seine windschnittigen Modelle wa- Flugzeugingenieur Paul Jaray, der 1921 ein ent- ren der Kompromiss von Kiste und Tropfen und sprechendes Patent anmeldete. Nachteil der phy- boten damit speziell in der Baulänge ein Rezept sikalisch korrekten Form: Unter dem optimierten für zukünftige windschlüpfige Karosserien. Blechmantel war die Pflege einer wiedererkenn- Was Otto Julius Bierbaum und Ernst Neu- baren Markenidentität kaum möglich. Das konn- mann-Neander richtig erkannten, war dem te der deutsche Aerodynamiker Wunibald Kamm Architekten und Bauhaus-Gründungsdirek-

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Abbildung 6: Dymaxion von Buckminster Fuller, 1934 Abbildung 7: Opel Kapitän, 1938 Quelle: imago images/United Archives International Quelle: Hersteller

tor Walter Gropius fremd. Sein Credo, wie ein damals GM-Tochter, war die Wortwahl beschei- Auto zu gestalten sei, liest sich auch in bauh- dener, hier wurde Anfang der 1930er Jahre der ausgerechter Kleinschreibung recht konservativ: „Modellraum“ eingerichtet. „das maß der schönheit eines automobils hängt Im Laufe jenes Jahrzehnts schmolzen einzelne nicht von der zutat an schnörkeln und zierat ab, Bauteile wie Motorhaube, Kotflügel, Scheinwer- sondern von der harmonie des ganzen organis- fer, Aufbau und Kofferablage zusammen. Waben- mus, von der logik seiner funktion, der inneren kühler verbargen sich hinter geneigten Kühlerat- wahrhaftigkeit, der knappen phrasenlosen, der trappen, Scheinwerfer wuchsen in die Kotflügel funktion entsprechenden durchbildung aller sei- oder versteckten als Klappscheinwerfer, Kotflü- ner teile zu einem technischen organismus, dies gel wurden aus der Fläche zu bauchigen Hüllen muß auch der gesamtem erscheinungsform des verformt, Frontscheiben verneigten sich vor dem autos entsprechen, die sichtbare außenform hat Wind. Wer den Trend übertrieb wie der Chrys- also ästhetisch gesprochen genau so zu ‚funkti- ler Airflow von 1934, ruderte beim nächsten onieren‘ wie der technische apparat.“03 Dieses Modellwechsel zurück. Hierzulande folgten der Credo setzte er 1931 im Auftrag des Frankfurter Opel Kapitän von 1938 (Abbildung 7) und sein Autobauers Adler in den Modellen Standard 6 kleiner Bruder Kadett ebenso wie der „Buckel- und 8 um: der Kühler wie ein Rolls-Royce-Ad- taunus“ aus den Kölner Ford-Werken von 1939 ept, um die Räder kreisförmig geführte Kotflügel der Stromlinienform. Erwähnenswert ist auch der ohne Dynamik, der Aufbau kantig wie ein Haus. tschechische Tatra 77 mit starkem Heckmotor Aerodynamik-Rezepte eines Jaray schien Gropi- und prinzipientreuer Aerodynamikform, die bis us zu negieren. in die 1950er Jahre modern blieb (Abbildung 8). Der Architekt Buckminster Fuller glaubte, Auch im Innenraum entwickelte sich das De- Aerodynamik richtig umgesetzt zu haben: Sein sign in jener Zeit entscheidend weiter: Armatu- Dymaxion-Auto von 1933 ist jedoch ein klassi- renbretter, langsam dem echten Brett entsagend, scher Vertreter jener Konzepte, die Funktions- wurden jetzt blechgeprägt in die Karosserie in- ideen einseitig folgen. Dreirädrig, schwer lenkbar tegriert. Je nach Preis und Wagenklasse drapierte und optisch wie ein Flugzeug ohne Flügel konn- Chromschmuck notwendige Anzeigen, gewürzt te es nur krachend scheitern (Abbildung 6). An- mit Symbolen der dynamischen Art. Preiswert ders die großen Hersteller: Schon 1927 erkannte war die symmetrische Anordnung von Uhren und General Motors, dass Stahlblech und Großse- Ablagen, ideal für Links- oder Rechtslenker. rie, gewürzt mit Aerodynamik und schnellerem Modellwechsel, professionelle Gestalter braucht. DESIGN IN So schuf das Unternehmen seine „Art and Color ÜBERGANGSZEITEN Section“ – ein Studio, in dem Ingenieure und spe- ziell Designer arbeiteten. Später bei Opel, schon Die Zäsur des Zweiten Weltkriegs prägte Tech- nik und Design des Automobils auch noch in der 03 Zit. nach Joachim Petsch, Geschichte des Auto-Design, Köln Nachkriegszeit. Deutschland hatte massiv auf- 1982, S. 87. gerüstet, und Ferdinand Porsche hatte im Auf-

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Abbildung 8: Tatra 77, 1934 Abbildung 9: Fiat 1400, 1950 Quelle: Hersteller Quelle: Hersteller

trag Hitlers einen für die Masse erschwinglichen aufgesetzten Kotflügel fielen weg, die Seitentei- „Volkswagen“ konstruiert. Im Krieg hatte der le wurden glatt. Alle Karosserieelemente wuch- KdF-Wagen seine robuste Technik dem militäri- sen zusammen in Aufbau – in der Designerspra- schen Kübelwagen geborgt, im Frieden mutierte che greenhouse genannt – und Unterbau. Beim er schließlich zum braven Käfer. Auch Hersteller Stufenheckmodell sprach man vom three-box-sys- wie Opel, Ford oder Mercedes retteten Vorkriegs- tem: eine Motor-Box, eine Passagierbox und eine modelle in die Nachkriegszeit. Zum Urvater aller Box für Koffer. In Deutschland vertraten etwa der modernen Geländewagen wurde derweil ein US- Borgward Hansa und die Tochtermarke Goliath amerikanisches Auto, das 1940 ursprünglich für dieses Konzept seit 1949 in Reinkultur. In Italien, das Militär geplant und gebaut worden war: der der Heimat der schönsten Einzelentwürfe, wurde Willys MB, der schon bald als „Jeep“ weltbekannt die Pontonform durch den Fiat 1400 von 1950 po- wurde. Sein wichtigstes Designermerkmal ist der pulär (Abbildung 9). Und Frankreich übernahm schmale Bug mit Rundscheinwerfern, dazwi- 1951 mit der Simca Aronde dieses Blechkleid. schen neun, später sieben senkrechte Luftschlit- Das „Wirtschaftswunder“ förderte eine zu- ze. Chrysler baut das Jeep-Gesicht, das im Laufe nehmend mobiler werdende Gesellschaft. Wem der Zeit von anderen Herstellern wie Suzuki ko- Borgward oder Mercedes zu teuer waren, der fand piert wurde, bis heute so. seit Anfang der 1950er Jahre Ersatz bei den Klei- Ohnehin wurden die USA in der Nachkriegs- nen: in reiner Pontonform den Gutbrod Superior, zeit zum Vorbild automobiler Gestaltung. Eu- als „Knutschkugel“ die BMW Isetta mit Front- ropa hatte zwar gute Ingenieure und bisweilen tür und Panoramaheckfenster oder den Winzling mutige Unternehmer, aber es fehlte an professi- mit dicken Backen über den Rädern. onellen Designern. Die großvolumigen US-Mo- Den Traum der Großen im Kleinen bot der delle und ihre Üppigkeit an Chrom, Heckflos- Isar 600 mit drei Zutaten des großen 57er Opel sen und anderen Flugzeugmotiven stimmte den Rekord: eine teure Panoramafrontscheibe, eine Chrysler-Chefdesigner Virgil Exner jedoch auch in den Flanken blechgeprägte „schnelle Linie“ nachdenklich: „Wenn wir daran festhalten, weiter und Zweifarbenlackierung (Abbildung 10). Eng- dem Fetisch und bauchiger Konturen zu huldi- land, Hort unzähliger und wenig rentabler Mar- gen, dann werden der Charakter und die Eigenart, ken, schwankte zwischen vorgestern und gestern. die in der Vergangenheit die Autos untereinan- So lächelte man 1949 über den kleinen Triumph der differenzierten, verschwinden. Gediegenheit Mayflower und bewunderte große Marken, die würde von überladenen, massigen Hollywood- das Blech scharfkantig formten und so den Be- Konzepten erdrückt werden, die im Autodesign griff des razor edge designs prägten. Fuß gefasst haben.“04 Was das Luxus- beziehungsweise Sportwagen- Was in den 1930er Jahren begonnen worden segment angeht, kam vielen Deutschen 1948/49 war, perfektionierten die Designer in den Folge- der Porsche 356 wie Phönix aus der Asche vor. jahrzehnten schließlich mit der Pontonform: Die Mit seiner klaren Aerodynamik wurde er zu einer Art Urbild des modernen, formtreuen Sportwa- 04 Zit. nach von Mende (Anm. 2), S. 20. gens. Die parabelförmige Seitenfensterfläche bei

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Abbildung 10: Glas Isar 600, 1959 Abbildung 11: Citroën DS, 1955 Quelle: Wikimedia Quelle: Hersteller

ihm und seinen Nachfolgern, zuvorderst dem 911 sich Heckblinker (Abbildung 11). Die Verläss- seit 1963, ist bis heute unverwechselbar. Sie steht lichkeit der „Göttin“ konnte mit ihrem Äuße- auch noch dem elektrisch betriebenen Taycan, ren allerdings nicht mithalten. Der englische In- den Porsche im September 2019 vorgestellt hat. genieur Alec Issigonis hingegen reduzierte beim Die große Überraschung der Internationa- Mini der British Motor Corporation von 1959 al- len Automobilausstellung in Frankfurt 1955 wa- les auf 305 cm Länge, um vier Personen samt Ge- ren ebenfalls zwei Supersportler. Mercedes zeigte päck von A nach B zu bringen. Dazu sortierte er beim 300 SL Flügeltüren, die wegen des Fahrge- das package, die Anordnung der Elemente, neu: stellrahmens aus Stahlrohrgespinst notwendig quer liegender Frontmotor, minimierte Gummi- waren. Hier wurde ein Funktionsmerkmal – aus- federung, maximaler Innenraum. Ein zentrales gerechnet das von Türen – zum Erkennungszei- Rundinstrument reichte, der Rest wuchs zur üp- chen. Dies wiederum machte der BMW 507 des pigen Ablage. Designers Albrecht Graf Goertz mit seltener Ele- In Deutschland sollte einige Jahre darauf der ganz und zeitloser Linienführung wett. Beiden NSU Ro 80 von 1967 stilbildend für spätere Au- Autos gemeinsam waren der horrende Preis und todesigns wirken: Dank Wankelmotor und lan- die geringe Stückzahl – sowie ein Image neuer, gem Radstand neigte sich die Haube und hob sich noch ungewohnter Weltläufigkeit. das Heck – so ergab sich eine Keilform, die schon länger hubraumstarke Sondermodelle speziell in SUCHE NACH Italien prägte (Abbildung 12). Der „singende“ DEM OPTIMUM Motor war das akustische Pendant zur Form. Entworfen hatte das Auto Claus Luthe, der spä- Ebenfalls aus den 1950er Jahren stammen zwei ter zum BMW-Chefdesigner wurde. weitere Ikonen der Autodesigngeschichte, die Wenig gönnen konnten sich die Länder des die Phrase „form follows function“ bis zur letz- Ostens. Ideologische Grenzen, Materialein- ten Schraube beherzigten: Der französische Ci- schränkungen und mangelnder Zugang zur in- troën DS und der englische Mini. Der Bildhau- ternationalen Designszene waren den Traban- er Flaminio Bertoni bewies dabei 1955 mit dem ten, Wartburgs und Škodas anzusehen. Russische Citroën DS – sprich „de es“, im Französischen Staatslimousinen nahmen sich ausgerechnet die déesse, Göttin –, dass man kein Designer oder In- US-amerikanischen Modelle von Lincoln zum genieur sein muss, um sich einen Platz in dieser Vorbild. Bei Lada behalf man sich mit Lizenzen Geschichte zu sichern. Der Wagen bestach unter vom Fiat 124, in Rumänien bei Dacia mit Ren- anderem durch eine ölhydraulische Federung, ei- ault-Adepten. Japan fand rasch Anschluss und nen Frontmotor mit Frontantrieb und ein Ein- vertraute der US-Designsprache, was die untere speichensicherheitslenkrad vor neuinterpretier- Mittelklasse hart an die Grenze zur Lächerlich- tem Armaturendesign. Außen definierten klar keit trieb. Und China verdaute noch lange die gelegte Trennfugen die Funktionen von Hau- Kulturrevolution, ehe die Volksrepublik Anlauf ben und Türen, aus den Regenrinnen streckten nahm, um schließlich zu einem der gegenwärtig

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Abbildung 13: Chevrolet Corvair, 1960 Abbildung 12: NSU Ro 80, 1969 Quelle: Hersteller Quelle: Hersteller

größten Autoländer der Welt zu werden – bei ei- Man kann zum Beispiel versuchen, den Cw- gener Designleistung auf Westniveau. Wert weiter zu drücken. Im konservativen Westlicher Wohlstand differenzierte das An- Kleid gelang das dem Audi 100 von 1982 meis- gebot. US-Autos wie der langhaubige Ford Mus- terlich mit einem Wert von 0,3. Mercedes kam tang oder der Chevrolet Camaro samt Stallbru- 2016 mit der C-Klasse sogar auf einen Wert von der Corvette boten eher formale denn technische 0,23. Oder man macht aus Feld- und Waldar- Abwechslung. Das Heer der monströsen „Brot- beitern Dschungelkämpfer der Großstadt, so- und Butter-Autos“ – jener Großserienmodelle genannte sport utility vehicles, kurz SUV, die von GM, Ford und Chrysler – musste nach dem in den vergangenen Jahren viel gekauft werden. Chromrausch der 1950er Jahre kürzer treten. Da Während die einen die hohe Sitzposition und fiel 1960 ein kompaktes Auto auf: der Chevrolet die Sicherheitszelle loben, ärgern sich die ande- Corvair, eine gefährliche Heckschleuder, aber mit ren über den gesteigerten Platzverbrauch – ein vorbildlicher, einfacher Pontonform mit horizon- begründetes Wohlstandsübel. Doch nicht nur taler Chromspur in Höhe der Gürtellinie (Abbil- SUV, sondern viele andere Autoklassen auch dung 13). Derartige Designelemente fanden sich werden weiter mit immer mehr PS ausgestat- später auch im deutschen NSU Prinz 4, im italie- tet. Zugleich werden aus Armaturenbrettern nischen Fiat 1300, im englischen Sunbeam Stilet- „Cockpits“, aus Fahrern „Piloten“ ohne Zu- to, im ukrainischen SAS 968 und selbst im BMW kunft. Und vor allem: Der automobile CO2- 1600/2. Das Motto: Nur das Beste kopieren. Ausstoß wächst weiter. Die erklärten Ziele zum Anders bei VW: Der Käfer verkaufte sich wie Thema Umwelt und Klima werden durch diese geschnitten Brot – bis die Opel Kadetts, DKW Entwicklung konterkariert. Juniors oder Ford Taunus 12M dieser Welt die Der perfekte Elektroantrieb wird irgendwann Vorteile der Pontonform ausspielten. Dutzen- kommen, der Weg dahin aber braucht Zeit. Ei- de Prototypen in diversen Package-Auslegungen nes scheint jedoch schon sicher: Designer wer- wurden verworfen, bis ein Modell des italieni- den das Auto weiterhin so gestalten wollen, dass schen Industriedesigners Giorgio Giugiaro 1974 es auch selbstfahrend und elektrobetrieben keine alles neu machte: Statt Heckmotor Frontmotor, gesichtslose, anonyme Kiste wird. statt Heckantrieb Frontantrieb, statt Käferform eine gerundete Kiste mit verbessertem Cw-Wert. Um die Käfer-Gene nicht zu missachten, setzte VW-Designchef Herbert Schäfer Rundschein- werfer als „Augen“ im „Gesicht“ des Autos durch. Heraus kam der Golf, der den Käfer sogar überflügelte und bis heute zu den drei meistver- HANS-ULRICH VON MENDE kauften Autos der Welt zählt. ist Architekt, Illustrator und Autor mehrerer Bücher Was kann man als Autohersteller design- über Autodesign. technisch besser machen im gesättigten Markt? www.architekt-vonmende.de

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Weert Canzler /Andreas Knie Taumelnde Giganten Gelingt der Autoindustrie die Neuerfindung?

Wolfgang Meyer-Hentrich Unternehmen Kreuzfahrt Gefahr für Natur und Mensch

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2019 -.

Dirk Laak Alles im Fluss Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur .

2019 -. Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86, 53113 Bonn Telefon: (0228) 9 95 15-0

Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 11. Oktober 2019 Nächste Ausgabe REDAKTION 44–45/2019, 28. Oktober 2019 Lorenz Abu Ayyash Anne-Sophie Friedel HARTZ IV Johannes Piepenbrink (verantwortlich für diese Ausgabe) Frederik Schetter (Volontär) Anne Seibring [email protected] www.bpb.de/apuz twitter.com/APuZ_bpb

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