69. Jahrgang, 43/2019, 21. Oktober 2019
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Das Auto
Ulf Poschardt Birgit Priemer EIN HERZ FÜRS AUTO MIT DEM E-AUTO IN DIE ZUKUNFT? Edo Reents WIDER DEN FETISCH AUTO Weert Canzler · Jörg Radtke VERKEHRSWENDE ALS Manfred Grieger KULTURWENDE KLEINE GESCHICHTE DES AUTOMOBILS Hans-Ulrich von Mende IN DEUTSCHLAND ZWISCHEN FUNKTION UND ÄSTHETIK – Oliver Schwedes ZUR GESCHICHTE INSTRUMENTE UND DES AUTODESIGNS ANWENDUNGSFELDER DER VERKEHRSPOLITIK
ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Das Auto APuZ 43/2019
ULF POSCHARDT BIRGIT PRIEMER EIN HERZ FÜRS AUTO MIT DEM E-AUTO IN DIE ZUKUNFT? Das Auto wird als Mobilitätsroutine verschwin- Die E-Mobilität bietet Chancen für den Klima- den, aber als Teil eines individualistischen Kultes schutz und interessante digitale Geschäftsmo- bleiben. In der Debatte über die Verkehrswende delle. Der Markt für E-Autos springt gerade an. wird es jedoch fahrlässig auf seine Funktion Die Automobilindustrie kann davon durchaus reduziert, dabei waren die stinkenden Blechkis- profitieren, zunächst allerdings nur in der Rolle ten von Anfang an mehr. des Hardware-Herstellers. Seite 04–07 Seite 27–32
EDO REENTS WEERT CANZLER · JÖRG RADTKE WIDER DEN FETISCH AUTO VERKEHRSWENDE ALS KULTURWENDE Es erstaunt, dass der triftigste Maßstab, der bei Die vorangetriebene Verkehrswende hin zur der Beurteilung des Automobils anzulegen ist, Elektromobilität hält weiterhin am Paradigma in der öffentlichen Debatte praktisch nicht zur des eigenen Automobils fest. Der postulierte Sprache kommt: die unmittelbaren, nachweisba- Wandel läuft so auf eine bloße Antriebswende ren Schäden für Leib und Leben der Menschen, hinaus. Tatsächlich bedarf es einer Verkehrswen- unbeteiligter inbegriffen. de als Kulturwende. Seite 0 8 –11 Seite 33–38
MANFRED GRIEGER HANS-ULRICH VON MENDE KLEINE GESCHICHTE DES AUTOMOBILS ZWISCHEN FUNKTION UND ÄSTHETIK – IN DEUTSCHLAND ZUR GESCHICHTE DES AUTODESIGNS Das Auto ist ein prägendes Element der bundes- Autodesigner versuchen seit jeher, die notwen- deutschen Gesellschaft – vielen gilt es bis heute dige Technik mit etwas Eigenem zu verbinden, als alternativlos. Wie es zu dieser herausragenden um eine unverwechselbare Markenidentität zu Stellung gelangen und Generationen mental pflegen. Im Design spiegeln sich sowohl der prägen konnte, wird durch einen Blick in seine jeweilige Stand der Technik als auch gesellschaft- Geschichte erklärbar. liche Bedürfnisse wider. Seite 12–18 Seite 39–45
OLIVER SCHWEDES INSTRUMENTE UND ANWENDUNGSFELDER DER VERKEHRSPOLITIK Die Verkehrspolitik sieht sich jüngst mit neuen Gestaltungsaufgaben konfrontiert. Die zentrale Frage ist, wie sie künftig ökologische Ziele mit ökonomischen und sozialen Anforderungen verbinden kann und welche Instrumente ihr dafür zur Verfügung stehen. Seite 19–26 EDITORIAL
Den Deutschen wird ein besonderes Verhältnis zum Auto nachgesagt: Für viele ist es nicht nur Verkehrsmittel und Gebrauchsgegenstand, sondern ein geradezu zärtlich betrachtetes Symbol individueller Freiheit. Hinzu kommt die herausgehobene Stellung der Automobilindustrie: Ohne sie wäre Deutschland nicht „Exportweltmeister“, sie stellt seit Jahrzehnten viele Arbeitsplätze und hat wesentlich zu Wohlstand und wirtschaftlicher Stabilität der Bundesrepublik beigetragen. Entsprechend genießt das Auto einen historisch gewachsenen Sonderstatus, der dem motorisierten Individualverkehr verlässlichen Schutz und großzügige Förderung garantiert. Die klima- und umweltpolitischen Notwendigkeiten stellen die deutsche Auto- liebe jedoch auf eine harte Probe. Ohne massive Änderungen im Verkehrssektor sind die international verabredeten Verpflichtungen zur Senkung der Treibhausgas- emissionen kaum einzuhalten. Und da der Großteil der Personenverkehrsleistung auf Autos entfällt, betrifft dieser Umstand die Halterinnen und Halter der über 47 Millionen in Deutschland angemeldeten Pkw ganz unmittelbar. Die Industrie hat zwar begonnen, verstärkt in die Entwicklung der Elektromobilität zu inves- tieren, der Anteil reiner E-Autos auf deutschen Straßen liegt derzeit aber noch bei ernüchternden 0,2 Prozent, was rund 83 000 Fahrzeugen entspricht. Doch selbst eine vollständige Elektrifizierung würde nicht alle Probleme lösen. Schon heute mehrt sich – unabhängig von der Antriebsart und vor allem in den Städten – der Unmut über die nach wie vor wachsende Zahl der Autos, die damit einhergehende Verkehrs- und Schadstoffbelastung sowie den schwin- denden Platz für andere Fortbewegungsmittel. Gerade von der Qualität dieser Alternativen wird es abhängen, ob mehr Menschen bereit sein werden, ihr eigenes oder geteiltes Auto öfter stehen zu lassen: in den ländlichen Regionen noch viel mehr als in den Städten.
Johannes Piepenbrink
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ESSAY EIN HERZ FÜRS AUTO Warum das Automobil weiterhin Zukunft hat Ulf Poschardt
Als die Dinge schnellstmöglich geschehen sollten, auch privatwirtschaftliche Ideen geben. Die Städ- statt nur zügig, war das Auto noch ein Verspre- te sollen lebenswerter werden, der ländliche Raum chen. Es schickte die Idee individueller Freiheit seinen Anschluss nicht verlieren. Das alles ist auf einen schier endlosen Beschleunigungsstrei- machbar – aber nicht mit naivem Zeitgeistopportu- fen: voller Aufbruch, Abenteuer, Wohlstand und nismus, wie ihn die Grünen mitunter liefern, oder Schönheit. Diese Zeit scheint verloren, aber die mit jener sturen Fixiertheit auf den Status quo, wie Spannung bleibt. Denn das Auto muss sich neu ihn insbesondere Rechtspopulisten erträumen. erfinden. Aus einer einzelnen Blechkiste muss ein In der Debatte dürfen weder die Autofahrer Teil einer neuen Mobilitätsinfrastruktur werden. noch die Autoliebhaber, noch die Autoindustrie Gelingt dies, könnte das Auto seine Symbolkraft auf der Strecke bleiben. Aber sie sind allesamt ge- als Agent der Beschleunigung ins 21. Jahrhundert fragt, welche Rolle sie in diesem Prozess einneh- retten. Gelingt dies nicht, hat es keine Zukunft, men wollen. Notorische Bremser sind ebenso hilf- sondern könnte zum Schreckbild von Stillstand reich wie manische Vollgasaktivisten oder bequeme und Schmutz verkommen. Nostalgiker. Die Klimakrise hat die Debatte nur Deutschland, Europa, ja, der Westen stehen an verschärft, nicht aufgeworfen. Schon vor der Droh- einem entscheidenden Punkt, der auch eine Wen- kulisse der Kinder und Jugendlichen von „Fridays de sein könnte. Alte Wohlstands- und Glücksvor- for Future“ waren die Staus zu lang, die Fahrrad- stellungen kommen an ihr Ende, neue haben sich wege desaströs, der öffentliche Nahverkehr zu lü- noch nicht recht entwickelt. Noch nie waren ei- ckenhaft, die Infrastruktur im ländlichen Raum in- nige Autos so gut, noch nie so schnell, noch nie akzeptabel. Jetzt aber geraten diese Probleme mit so sparsam, noch nie so nachhaltig, noch nie so voller Wucht in die Brandung einer mitunter etwas aufregend. Dennoch brauen sich über den Autos überdramatisch akzentuierten Klimadiskussion. düstere Wolken zusammen. Warum? Weil es zu Technikfreunde freuen sich auf die Herausforde- viele sind, und weil aus den Straßen der Beschleu- rungen. Und wenn sogar so etwas in Teilen Gest- nigung Stauräume der Frustration geworden sind. riges wie das Auto in eine ökologische Moderne Zu viele Autos sind zu fett und dysfunktional ge- transferiert werden kann, ist die Zukunft keine fu- worden. Gleichzeitig gibt es nach wie vor Liebe turistische Horrorvorstellung, sondern eine Chan- für Oldtimer, Sportwagen und den mit schmerz- ce, das Erhaltenswerte ins Morgen zu retten. haften Leasingraten abgestotterten Familienkom- bi. Es bleibt schwierig, und statt einfacher Lösun- ALLES BLEIBT ANDERS gen sind differenzierte Überlegungen angebracht. Sie sollten sich an den Wünschen und Anliegen „Jede Epoche“, schrieb der Designtheoretiker der Bürger und Konsumenten orientieren – ohne Niklas Maak im August 2019 in der „Frankfurter die Mit- und Umwelt zu vergessen. Allgemeinen Zeitung“ richtig, „bringt eine Bau- Konkret: Es geht im Zweifel um weniger Mo- form hervor, die ihren Sehnsüchten und Obses- bilität und um umweltverträglichere Mobilität. Es sionen eine Form gibt.“ In der Mobilität kommt geht darum, dem Sportwagenfahrer freiere Straßen mit Elektroantrieb ausgestatteten Fahrzeugen im anzubieten, und denen, die gerne ohne Blechkisten Augenblick jene Leuchtturmfunktion zu, die in leben würden, müssen Radwege und ein öffentli- den 1960er Jahren noch den Supersportwagen cher Nahverkehr angeboten werden, der den All- mit zwölf Zylindern vorbehalten war. Gleich- tag ohne Pkw gelingen lässt. Dazu kann und soll es zeitig aber gibt es Freiheits- und Mobilitätssym-
04 Das Auto APuZ bole, die dem Auto neue Konkurrenz machen. Auto-Bosse übertreiben nur ein wenig, wenn Das Fahrrad ist längst zum Statussymbol gewor- sie über einen „Feldzug gegen individuelle Mobi- den. Liberale lieben das Fahrrad als ein Fortbe- lität“ klagen und darauf hinweisen, dass bei dieser wegungsmittel radikaler Leistungsgerechtigkeit. Hatz und der gestörten CO2-Fixiertheit bei Autos Jugendliche träumen nun gleichberechtigt von Deutschland am Ende eine innovative Kernindus- schlanken, leichten Supersportwagen oder aber trie verlieren könnte. Vorbildlich Fahrrad fahren- von italienischen Rennrädern der 1970er Jahre de Journalisten sympathisieren verständlicherweise oder dem individuell designten Fixie-Fahrrad. mit Mobilitätskonzepten, die eher in ihren urbanen Fahrradfahrer wollen heute ähnlich zügig voran- Blasen funktionieren. Die Autoindustrie auf der kommen wie Sportwagenfahrer und fordern ihre anderen Seite hat den Kulturwandel der bürgerli- Raserstrecken. Denn das Rad ist nur dann eine chen Eliten verpennt. Die Deutschen haben keine ernsthafte Alternative im Berufsverkehr, wenn zweite Schlüsselindustrie im Kofferraum und soll- ihm eigene Verkehrsbahnen zugestanden werden. ten fürsorglicher die Folgen einer Zertrümmerung Ein weiteres Medium der Mobilität ist das der Autoindustrie bedenken. Die ausländische Smartphone. Durch die Vernetzung von poten- Konkurrenz kann ihr Glück nicht fassen, wie breit ziellen Beifahrern und Fahrgemeinschaften kön- der PS-Antipatriotismus geworden ist. Es muss nen aus den Pendlermonaden aufregende Sozial- eine Mobilitätswende geben, Städte mit mehr Rad- lotterien werden. Wer wohnt auf meiner Strecke? wegen und U-Bahnen – aber am besten kann das Wer will in einem alten Mercedes-Strich-Achter gestaltet werden, wenn die Deutschen jede Form mitfahren? Wer bietet an, morgens ein paar Crois- von Mobilität auf innovativem Niveau anbieten sants für die Fahrgemeinschaft mitzubringen? Auf können. Dazu gehören auch gute, haltbare Autos. jeden Fall hat auch hier die Zukunft mehr Ver- sprechen und Chancen denn Risiken. Die digi- VORFAHRT FÜR tale Transformation der Wirtschaft ist ein zäher DIE FREIHEIT wie chancenreicher Prozess. Traditionsunterneh- men sind herausgefordert, weil alles anders wird, Neben der Ökobilanz der Autos wird inzwischen die Konkurrenz blutjung und flexibel ist, aber die auch ihre Kraft als Freiheitssymbol problemati- schweren Tanker der Industriemoderne kaum mit siert. Dabei macht sich auch eine Mehrheit der den Speedbooten der Start-ups konkurrieren kön- Journalisten, die offenkundig keinerlei empathi- nen. Eigentlich. sche Beziehung zu unseren Blechdoubles haben, Denn auch Erfahrung und Routine, Her- für ein Tempolimit auf Autobahnen stark und stellungswissen und Führungskraft, Netzwerke verstärkt damit eine Tendenz der Verbots- und und Innovationserfahrung sind wertvoll. Womit Regulierungslyrik, die ein neues (ökologisches) wir bei der deutschen Autoindustrie wären, die viktorianisches Zeitalter ankündigen könnte. dem Land beim Weg in Demokratie und Freiheit Die Autobahn symbolisiert einen Raum ma- 70 Jahre Wohlstand und Dynamik gesichert hat. ximaler Freiheit – in einem Land, das weitgehend Doch richtig geliebt werden Audi, Volkswagen, lahmreguliert worden ist. Wer will, darf auf eini- Mercedes, BMW oder Porsche schon länger nicht. gen Strecken sein Motorrad oder seinen Sportwa- Zumindest nicht von allen. Das ist durch die selbst gen in die Raserei treiben. Vollkommen unstrittig angerichteten Schummel- und Betrugskaskaden darf man darin Unvernunft, ökologische Barba- nicht besser geworden. Um es klar zu formulie- rei und rauschhaften Hedonismus identifizieren, ren: Das Sündenregister der Autoindustrie ist bla- aber so richtig weltbewegend sind diese Millise- mabel. Der destruktive Lärm des Öko-Jakobiner- kunden für den CO2-Prozess nicht. Es sind Frei- tums aber hilft auch nur bedingt weiter. Es ist wie heitsfenster. Und jeder, der Freiheit liebt, wird auf in vielen aktuellen Spielfeldern der Politik, dass ihnen bestehen wollen. Die Streckenkilometer, in sich die link(sliberal)e Mitte einer Art Luxusmo- denen das gestattet ist, schrumpfen, der Verkehr ral verschrieben hat, die das ökonomische Funda- wird dichter. Die Existenz solcher Freiräume aber ment ihrer Werte und Ideale vollkommen außer provoziert den Gegenwartspietismus. So wie die Acht lässt. Knapp eine Million Menschen sind in Steuererhöhungswünsche fast ausschließlich von der Autoindustrie beschäftigt, viele Bundesländer jenen geteilt werden, die keine, kaum oder nur we- und Kommunen können nur deshalb sozial und nig Steuern zahlen, so finden sich unter den Freun- fürsorglich sein, weil es die Autoindustrie gibt. den des Tempolimits Bahnfreunde, Entschleunig-
05 APuZ 43/2019 te und jener Teil des Moralestablishments, der haben kein Verhältnis zur Freiheit und verstehen mit seinen armseligen Kisten schon heute auf der nicht, was andere am Auto haben. Sie wollen den Überholspur auf Einhaltung der Richtgeschwin- einfachsten Weg über ein Verbot gehen. Es geht ih- digkeit dringt, auch um ungeduldigere Menschen nen auch darum, die Lebensentwürfe jener einzu- auf das eigene, mittelmäßige Tempo einzubrem- bremsen, die sie bisher mit Umverteilungssozialis- sen. Genötigt wird auf deutschen Autobahnen öf- mus oder moralischer Ächtung drangsaliert haben. ter von den Lahmen als von den Rasanten. Das Tempolimit wird irgendwann kommen, Die verbitterten Autobahn-Pädagogen haben aber die Gegner des Tempolimits sollten den Preis in der Politik viele Anhänger. Die Tempofeind- dafür hochsetzen. Dabei hat sich auch in den fun- schaftskoalition propagiert eine egalitäre Ent- damentalistischsten Nischen der Autoliebhaberei schleunigung, bei der ein Überstaat möglichst ein ökologisches Bewusstsein entwickelt, in dem umfassend in die Freiheitsrechte seiner Bürger der eigene Mobiliätsmix problematisiert und op- eingreift, um diese zu einem lahmen, anständigen timiert wird. Das Auto wird als Mobilitätsrou- und naturgefälligen Leben ohne luxuriöse Extra- tine verschwinden, aber als Sportwagen und Teil vaganzen zu zwingen. Dort haben sich die Din- eines individualistischen Kultes bleiben. In der ak- ge aber geändert: Auch die Besitzer von Limou- tuellen Debatte über die Verkehrswende wird das sinen und Sportwagen mit viel PS bevorzugen Auto fahrlässig auf seine Funktion reduziert, dabei komfortable Reisegeschwindigkeiten abseits des waren die stinkenden Blechkisten von Anfang an Rennsportlichen. Der mündige Bürger entschei- mehr: Double des Piloten, Adrenalinlabor, Erotik- det sich für maßvolle Zügigkeit, so wie er sich für massage, Statussymbol, Lustobjekt, Projektions Biomärkte und Passivhäuser begeistert. horizont. All das ist in der Absurdität täglicher Umweltverbände, die ein Tempolimit fordern, Staualbträume nicht kleiner, sondern größer ge- haben oftmals keine Ahnung, wie das Best-of ei- worden. Wie sehr Sportwagen auch kulturelle Iko- ner Presserklärung verrät: „Wie [sic] brauchen ein nen sein können, dokumentiert zum Beispiel der Ende des Schaufahrens [Was ist das?] gegen den Fotograf und Filmemacher Stefan Bogner in seiner Klimaschutz. Die Einführung eines generellen Zauberzeitschrift „Curves“, und immer wieder Tempolimits auf Autobahnen [wäre] der Lackmus- auch in dicken Kunstbänden, die sich Petrolheads, test für die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung zu Deutsch Benzinköpfe, in ihre Garagen und auf in Klimafragen [Warum?]. Ein Tempolimit noch den Nachttisch legen. In den Büchern riecht es in diesem Jahr ist auch zwingende Voraussetzung nach Benzin. Es gibt eine Caspar-David-Friedrich- für die Entwicklung moderner, digitaler Fahrzeu- Landschaft auf dem Cover. Statt zweier einsamer ge [Hä?]. Die Kehrseite des fehlenden Tempolimits Mönche stehen dort zwei weiße Sportwagen und auf deutschen Autobahnen ist eine auf analoge PS- vor ihnen die Berge und ein wolkiger Himmel. Sie Boliden setzende Automobilindustrie [Stimmt, sind einsam vor der Natur. Gleich geht es los. siehe die deutschen Firmen Ferrari, Lamborghini, Aston Martin, Jaguar, McLaren, Shelby etc.]. Auch LIEBE IN ZEITEN die Autos der Zukunft brauchen eine Höchstge- DER VERFOLGUNG schwindigkeit [Gibt es auch Autos ohne? Hät- te ich gerne]. Die Batterien von Elektroautos ent- Autohasser und Autoliebhaber scheinen sich un- leeren sich bei hohen Geschwindigkeiten extrem versöhnlich gegenüberzustehen. Umso wichtiger schnell [Ach so]. Die Sensorik für autonomes Fah- sind die Menschen dazwischen, die Autos benut- ren ist bei hohen Geschwindigkeitsunterschieden zen, aber es nicht wollen, die Mobilität schätzen, auf Autobahnen überfordert.“ aber nicht verklären. Auf der großen öffentlichen Das ist eigentlich der schönste Punkt: Könn- Bühne setzen die Entzauberer den Ton. Nicht te es trotz Tempolimits auch Menschen geben, die ohne Fortune. Und auch die heitere Eleganz vie- dennoch schneller als 120 Stundenkilometer fah- ler radelnder Klimaaktivistinnen (nicht ihrer se- ren? Werden die dann von Öko-Avengers mit La- nioralen Fanklubs), auf Instagram gepostet, lässt serraketen aus dem Verkehr gezogen? Das ist derart speckhüftige Erwachsene in SUV noch älter aus- schlicht und realitätsfern, dass sich mündige Bür- sehen. Dennoch gibt es dieselbe heitere Eleganz, ger nur wundern können. Umweltverbände nei- zum Teil mit identischen Looks, oft auch Fahr- gen dazu, alles, was nicht ihrem öden Fahrverhal- rad liebend und vegan, bei den Petrolheads. Jun- ten entspricht, als „Schaufahren“ zu verstehen. Sie ge, grinsende Vollgasverrückte, vor allem Jungs,
06 Das Auto APuZ drahtig, minimalistisch, die eine romantische Be- Kulturgüter mit Wertschätzung behandelt wer- ziehung zu ihrem Auto haben. So wächst die Lie- den, weil sie das Leben der Anwohner in der Stadt be zum Auto in Zeiten der Verfolgung. bereichern. Symphonien aus flachen Zwölfzylin- Früher waren nahezu alle selbstbewussten, dern oder grölende Sechszylinder-Boxern können jungen Menschen beschleunigungssüchtig, heu- ebenso erfreuen wie der Anblick von alten Käfern, te ist das nur eine aufgeklärte Minderheit. Noch polierten Pagoden und antiken Landrovern. Wer nie gab es so gute Blogs über Autos, noch nie so das Auto benutzt, ist in der Bringschuld, die Stadt gute Videokolumnen, noch nie eine so tiefschür- schöner und aufregender zu machen. fende, kulturell und philosophisch fundierte Es- Stattdessen klettern auf der Internationalen sayistik über Sinn und Wesen des Automobils. Automobilausstellung Aktivisten während des Auch eine heruntergekommene S-Klasse aus den Kanzlerinnen-Rundgangs bei VW auf die glän- 1990er Jahren, ein klappriger, nur mehr von Rost- zend gewienerten Autodächer und protestieren. beulen zusammengehaltener Alfa Romeo, ein über Auch das ist eine zähe Routine, die nur zemen- zwei Generationen in der Familie gehaltener Golf tiert, was es an Debattenstillstand gibt. Dabei be- GTI – jedes Auto, das eben nicht der vernünfti- wegt sich die Autoindustrie: Porsche bringt den ge Alles-und-jeden-von-A-nach-B-Bringer ist, hat elektrisch betriebenen Taycan auf den Markt, VW die Chance, ein Mitglied der Familie oder eines den ID.3, Opel den Corsa-E Rally. Und während Clans zu werden. Autos sind rollende Tempel für die unzähligen E-Neuheiten den Kühlergrill nur die individuelle Bewegungsfreiheit. Dennoch: Zu- mehr als Science-Fiction-Attrappe haben, wie die mindest in den Städten liegt die Hochzeit automo- gigantomane Mercedes-Limousine EQS, radika- biler Funktionalität hinter uns. Staus, Umweltver- lisieren die letzten Verbrenner ihre optische Ag- schmutzung und Parkplatzverknappung machen gressivität, so wie BMW mit seiner 4er-Studie, in auch für junge Familien das einst selbstverständ- der die einst zierlichen Nieren-Markenzeichen liche „eigene Auto“ zu einem oftmals unsinnigen zu King-Kong-Nüstern aufgebläht sind. Die gro- Objekt. In lebensweltlichen Avantgardemetropo- ßen Kisten werden größer und statussymbolis- len wie Berlin wächst die Zahl der Radfahrer er- tischer, die kleinen Autos erinnern immer mehr freulich. Aber da ginge noch mehr. Die Zukunft an Stempelkissen und Schlüsselanhänger. Bis auf der lebenswerten Stadt kann von zwei Seiten glei- den Smart sind sie ein optischer und kultureller chermaßen gedacht werden: von den Radfahrern Offenbarungseid. Sie riechen nach Langeweile, und Fußgängern, die auch Busse und Bahnen be- nach einem öden Leben, in dem alles funktionie- nutzen, und von jenen, die auf ihrem Auto beste- ren muss. Sie verraten die Träume der Menschen. hen und dafür auch bereit sind, mehr zu zahlen. Anders die PS-Geschosse, die Ungetüme, die Die ideale Mobilitätswende sortiert Mobilität eine Aufregung evozieren, die nur in den wenigs- entlang von Lebensqualitäten. Wer nicht fahren ten Fällen tatsächlich ausgelebt wird. Die Super- will, sollte baldmöglichst darauf verzichten kön- autos stehen in Sammlergaragen oder werden von nen. Auf dem Land ist das noch schwierig, aber reichen Erfolgreichen behutsam durch die sanf- auch hier kann mit künstlicher Intelligenz und in- ten Kurven des Villenviertels geschaukelt. Es ist novativen Mobilitätsanbietern jenen Milieus ge- im Großen und Ganzen zu viel falsch. Es muss holfen werden, die keinen Bock auf Kfz-Steuer, neu sortiert werden. Warum nicht entlang von Tanksäulen und schlechtes Gewissen haben. Au- Schönheit, Aufregung und einer ökologisch ver- toliebhaber bekommen leerere Straßen, und aus dienstvollen Nachhaltigkeit? Autobahnen werden wieder Freizeitparks für jene Menschen, die Schönheit und Geschwindig- Dieser Essay ist ein Kondensat meiner teilweise keit lieben. Deswegen sollten auch Güter runter bereits an anderen Stellen veröffentlichten Überle- von der Straße, rauf auf die Schiene. Das „Geh gungen zu einer ökologisch-dynamischen Rettung doch rüber“ der Gegenwart ist, selbst den Schritt der Autoliebe. in eine autofreie Zukunft zu wagen – statt sich an der ewigen Denunziation des Autos zu beteili- gen. Die Politik muss auf kommunaler, regiona- ULF POSCHARDT ler, aber auch nationaler Ebene die Alternativen ist Chefredakteur der „Welt“-Gruppe und Autor zum Auto privilegieren. Gleichzeitig sollten die der Bücher „Über Sportwagen“ (2002) und „911“ Sammler, Jäger und Führer prächtiger rollender (2013).
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ESSAY WIDER DEN FETISCH AUTO Warum die Zeit des Automobils vorbei ist Edo Reents
Es ist merkwürdig, dass das Auto gar nicht in Skulptur, ob und warum also ein nicht aufheulen- dem Land zum Fetisch geworden ist, das nach all- des Auto weniger schön ist. Doch Marinetti, das gemeinem Dafürhalten immer noch die schöns- ist bekannt, liebte auch den Lärm. ten davon baut, sondern in dem, das, ebenfalls Aber ob nun schön oder nicht – auch andere nach allgemeinem Dafürhalten, bloß die besten Mord- und Totschlaginstrumente können schön baut. In Deutschland fahren nicht nur erheb- sein, ohne deswegen schon unter dem besonderen lich weniger demolierte Autos als in Italien, wo- Schutz der staatlichen Ordnung zu stehen. Und ran sich schon zeigt, dass es hier weit mehr als dass Letzteres auf das Automobil und die es her- ein Gebrauchsgegenstand ist, bei dem schon ge- stellende Industrie zutrifft, bestreitet nicht ein- ringfügige Beschädigungen nicht geduldet wer- mal die Bundesregierung. Erst jüngst auf der In- den – hier gilt es der herrschenden Öffentlich- ternationalen Automobilausstellung in Frankfurt keit auch nicht etwa nur als Sachbeschädigung, versicherte Bundeskanzlerin Angela Merkel den sondern geradezu als Verbrechen, das geeignet ausrichtenden Verband der Automobilindustrie ist, die öffentliche Ordnung, ja, die Demokratie ausdrücklich ihrer Unterstützung und schwieg zu gefährden, wenn man, aus natürlich falsch- dabei beredt über die nicht abreißende Zahl der verstandenen Protestgründen, eines davon an- Verfehlungen einer zweifellos wichtigen, aber zündet, wie dies in Berlin im Durchschnitt ein- eben auch betrügerisch agierenden, wenigstens bis zweimal am Tag geschieht. Bei Gewalt gegen hierzulande bisher weitgehend ungestraft davon- diese sehr spezielle Sache sieht man die Men- kommenden Industrie. schenwürde praktisch schon mitgemeint. Woher kommt diese Einstellung? WER WEINT Aus Italien immerhin kam die, man muss es UM DIE TOTEN? so formulieren: vulgärphilosophische Handrei- chung für diese Hätschelei. Filippo Tommaso Der Begriff „Mordinstrument“ verlangt nach ei- Marinetti, der Schriftsteller und nachmalige fa- ner Präzisierung: Das Auto ist, wie das Messer, schistische Politiker, schlug am 20. Februar 1909 das Gewehr und der schwere Stein, ein potenziel- seine elf Thesen aufs geduldige Papier der franzö- les Mordinstrument, aus dem ein reales wird, so- sischen Zeitung „Le Figaro“ und begründete da- bald vorsätzliche Raserei mit Todesfolge gericht- mit sein Futuristisches Manifest. Die vierte These lich als Mord eingestuft wird, wie dies in jüngerer lautet: „Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit Zeit immerhin vorkommt. Wäre das Auto nicht der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: schon von sich aus so gefährlich, dann würden die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwa- wohl auch Trunkenheitsdelikte nicht so inten- gen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, siv verfolgt und empfindlich geahndet werden, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … wie dies richtigerweise der Fall ist – seine Beherr- ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu schung muss unter allen Umständen sicherge- laufen scheint, ist schöner als die Nike von Sa- stellt sein. mothrake.“ Abgesehen davon, ob es nicht ein Ka- Es erstaunt, dass der triftigste Maßstab, der bei tegorienfehler ist, schon die Geschwindigkeit als der Beurteilung des Automobils anzulegen ist, in solche „schön“ zu nennen, kann man sich auch der öffentlichen Debatte praktisch nicht zur Spra- fragen, warum es des Aufheulens bedürfen soll, che kommt: die unmittelbaren, nachweisbaren damit ein Auto schöner als die antik griechische Schäden für Leib und Leben der Menschen, un-
08 Das Auto APuZ beteiligter inbegriffen. Die Statistik spricht eine Art, kann es zu Unfällen kommen. Die auch an- deutliche, außerordentlich brutale Sprache: Seit dernorts gebrauchte Wortwahl bei solchen Be- 1950, seit überhaupt regelmäßig Zahlen erhoben schwichtigungen irritiert gleichwohl – welche werden, kamen auf deutschen Straßen mehr als jährliche Totenzahl wäre denn hinzunehmen: 780 000 Menschen ums Leben; das sind mehr, als statt der gut 3000 vielleicht 1500? Oder 500? Frankfurt am Main Einwohner hat. Ein Höchst- Die nach wie vor viel zu selten gestellte Fra- stand wurde im Jahr 1970 mit mehr als 21 000 To- ge ist: Warum nimmt eine Gesellschaft, ein Staat ten erreicht; seither sind die Zahlen, mit wenigen so etwas immer noch hin? Die Verfassung gestat- Ausschlägen, rückläufig, mittlerweile haben sie tet viele Freiheiten, auch die zum Risiko, zum ei- sich bei rund 3300 pro Jahr eingependelt – immer genen wie zum fremden. Die Verletzten und To- noch die Einwohnerzahl eines größeren Dorfs. ten werden damit ganz offensichtlich in Kauf Diese Opfer gehen nicht alle auf das Konto der genommen. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies Autos. Aus dem Bericht der Weltgesundheitsor- billigend geschieht oder nicht. Gäbe es einen po- ganisation (WHO) lässt sich, von Unterschieden litischen Willen, daran grundsätzlich etwas zu än- nach Art und Grad der Motorisierung in den ein- dern, wäre das längst geschehen. Das wäre frei- zelnen Ländern einmal abgesehen, die Faustregel lich eine (wirtschafts)systemische Angelegenheit: ableiten, dass ungefähr die Hälfte der Verkehrsto- Genauso wenig, wie die Hinweise auf die „Gier ten Pkw-Fahrer sind; der Rest entfällt auf Lkw-, der Manager“ etwas daran ändern werden, dass Motorrad- und Radfahrer sowie Fußgänger, wo- es auf dem Finanzsektor auch weiterhin zu un- bei auch hier davon auszugehen ist, dass meis- glaublichen persönlichen Bereicherungen und, tens ein Auto mit im Spiel ist, wenn jemand un- daraus resultierend, großen volkswirtschaftlichen ter den anderen Verkehrsteilnehmern umkommt. Schäden kommt, wird die Zahl der Verkehrsop- Jährlich und durchschnittlich werden in Deutsch- fer auch nur annähernd gegen null gehen, solange land mehr als 2,5 Millionen Straßenverkehrsun- Einzelne am Ausleben ihres Hedonismus und ih- fälle erfasst, bei denen rund 300 000 Personen- rer Risikobereitschaft nicht wirksam und ein für schäden auftreten. Für das erste Halbjahr 2019 alle Mal gehindert werden. Wer jedoch die Sys- teilt das Statistische Bundesamt diese Zahlen mit: temfrage stellt und auch nur vorsichtig zu beden- 1465 Verkehrstote (2,7 Prozent weniger als 2018), ken gibt, dass es „so“, nämlich mit der sinnlosen 178 500 Verletzte (5,1 Prozent weniger). Produktion immer neuerer, teurerer, schwererer Es ist die Funktion von Zahlen, Sachverhal- Autos, vielleicht doch nicht in Ewigkeit weiter- te zu relativieren. Deutschland liegt, gemessen an gehen könne, der legt angeblich „die Axt an den der Kraftfahrzeugzulassungs- und der Bevölke- Wohlstand“ und will womöglich noch, dass das rungszahl, mit seinen Verkehrstoten an 33. Stel- Land verarmt. le in einer Welt, in die es freilich sehr viele Autos Statt aber anzuerkennen, dass die deutsche exportiert, die dann eben auf ausländischen Stra- Automobilindustrie längst weit über einen ver- ßen andere Menschen Leib und Leben kosten. nünftigen Bedarf nicht nur der hiesigen Gesell- Anhänger des hiesigen Individualverkehrs ver- schaft hinaus produziert und in weiten Berei- weisen gerne auf die seit Jahrzehnten rückläufi- chen zu einer Luxusgüterindustrie geworden ist, gen Schadensbilanzen, für welche die Gründe auf reden deren Verteidiger Gefahren für sie, die In- der Hand liegen: verbesserte Sicherheitstechnik, dustrie nämlich, herbei, die es gar nicht gibt. Es strengere Verkehrsregeln, engmaschigere Über- spricht Bände, dass vernünftige Argumente ge- wachungen hinsichtlich Tempo und Alkohol so- gen den bundesdeutschen Autowahnsinn nicht wie härtere Strafen. Der für sich genommen er- etwa gehört, sondern sofort als Hass und mora- freuliche Rückgang der immer noch skandalösen lische Überheblichkeit diffamiert werden, wie ge- Schadenszahlen führt dann zu relativierenden Be- rade wieder im Umfeld der Frankfurter Automo- kenntnissen, die in keinem anderen gesellschaft- bilausstellung zu beobachten war. „Dass der Hass lichen Bereich geduldet würden. Der ehemali- auf das Automobil neue, bedrohliche Formen an- ge „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust sprach nimmt, steht außer Frage“, war etwa im Septem- im Mai 2019 in der „Welt“ von den „immer noch ber 2019 in der „Frankfurter Allgemeinen Sonn- zu vielen“ Verkehrstoten, deren Zahl liege „im- tagszeitung“ zu lesen: Was will man mit solchen mer noch zu hoch“. Natürlich: Wo Menschen im Ton des Alarmismus vorgetragenen Diagnosen sich in Massen bewegen, ganz gleich, auf welche eigentlich sagen? Dass am Ende auch jedes einzel-
09 APuZ 43/2019 ne Auto eine „Würde“ hat, die es zu schützen gel- In der prekären Schnittmenge zwischen (la- te? Seit wann haben die öffentliche Besorgnis und biler, hedonistischer) Psyche und (vermeintlich das Mitgefühl den Tötungswerkzeugen zu gelten sicherer) Technik sind Mäßigung oder Zurück- und nicht den Toten und Verletzten? Eine Öffent- haltung nicht vorgesehen. Und gerade die deut- lichkeit, die sonst schon auf rein rhetorische Ver- schen Autobauer bieten Produkte an, mit denen stöße gegen einen ungeschriebenen Sittenkodex sich die Grenzen des risikoreichen, oft schon un- mit äußerster Empfindlichkeit und hoher Sank- verantwortlichen Fahrens immer weiter verlegen tionsbereitschaft reagiert, schweigt sich über die lassen. Die technischen Voraussetzungen sind da- konkreten Menschenopfer, die der Individual- für einfach zu gut. Stefan Aust: „Die deutschen verkehr jahrein, jahraus fordert, weitgehend aus. Autos sind für hohe Geschwindigkeiten konstru- Den Preis, den der Autostandort Deutschland seit iert: Lenkung, Fahrwerk, Bremsen, die gesamte Jahrzehnten zahlt, kann man aber nicht zum Kol- Sicherheit ist an der – zumeist nur in der Theo- lateralschaden einer freiheitlichen Volkswirtschaft rie vorhandenen – unbegrenzten Fahrtgeschwin- kleinreden. Dieselben Leute, die den Erfindungs- digkeit ausgerichtet.“ Wo schon ein Tempolimit, reichtum und die Ingenieurskunst der Deutschen das Deutschland, wie Nordkorea, als eines der loben, zeigen sich, wenn es um Änderungen geht, wenigen Länder der Erde auf den Autobahnen auf einmal phantasie- und machtlos. An den Ar- faktisch nicht hat, als Freiheitsberaubung gilt, da beitsplätzen hängt bis auf Weiteres alles. kann man Fahrverbote vollends vergessen, selbst wenn in den dafür vorgesehenen Bereichen bald HERZ der Erstickungstod droht. Eingriffe in die freie SCHLÄGT HIRN Fahrtmöglichkeit für freie Bürger gelten hierzu- lande als Menschenrechtsverletzungen. Seit Langem ist vom „liebsten Kind“ der Deut- Erst auf dieser affektiven Ebene, auf der sich schen die Rede. Schon dieser betuliche, so harm- die Freunde des Automobils ja nicht weniger los daherkommende Ausdruck deutet auf das rechthaberisch und rabiat verhalten als die Geg- zutiefst irrationale, für vernünftige Argumen- ner, kommen technische, ästhetische und kultu- te kaum zugängliche Verhältnis zum Auto. Ist relle Aspekte zum Tragen. Man hört in diesem schon die Eltern-Kind-Beziehung an sich von Zusammenhang oft vom „Versprechen der Mo- Loyalität und Aufopferungsbereitschaft geprägt, derne auf Freiheit (und Geschwindigkeit)“ – eine so sind diese Verhaltensmuster bei einem Lieb- blumige Ausrede von Autofanatikern, deren lingskind noch einmal gesteigert, nicht selten bis Freiheitsverständnis dermaßen schlicht ist, dass hin zur kompletten Selbstaufgabe. Man hätschelt sie die Möglichkeit, auch das vernunftgesteuer- das Kind und lässt ihm alles durchgehen. Deswe- te, freiwillige Akzeptieren gewisser Unfreiheiten gen reagieren Autofahrer auch so allergisch auf und Beschränkungen (Tempolimits, Fahrverbo- jede Form von Verboten, ja, schon auf gering- te) könnte eine Form von Freiheit sein, gar nicht fügige Einschränkungen. In seinem Auto ist der in Betracht ziehen. Das „Versprechen“, auf das Deutsche mit sich und seinen Affekten alleine, sie sich in ihren immer gleichen kulturgeschicht- hier fühlt er sich sicher und lebt sie aus, was er lichen Betrachtungen andauernd berufen, wurde anderswo nicht so ungehindert kann. von niemandem gegeben, auch von Herrn oder Der Soziologe Tilman Allert beschrieb 2015 Frau Moderne nicht, da können sie noch so oft im „Frankfurter Allgemeine Magazin“ die spezi- Marinetti oder den französischen Philosophen fischen Gegebenheiten beim Abenteuer Indivi- Roland Barthes, der Autos mit gotischen Ka- dualverkehr so: „Der Vagabund, der Abenteurer, thedralen verglich, mit ihren abwegigen Über- der Provokateur sind als Verfallserscheinungen legungen zitieren. In den romanischen Ländern, der Fahrermoral vertraut. Sie sind der Ausgangs- aus denen diese beiden Propagandisten stammen, situation Straßenverkehr geschuldet – so erklärt hat man aber nicht nur mehr Sinn für ästhetische sich die Rigidität der Verkehrsvorschriften, kehr- Gesichtspunkte und weiß seine Liebe zum Au- seitig dazu die Versuchung, Verkehrsregeln zu tomobil deshalb auch schlüssiger zu begründen; missachten. Hohe Interaktionsdichte und einge- man sieht auch die Notwenigkeit gewisser Ein- schränkte Interpretations- und Korrekturmög- schränkungen ganz pragmatisch ein, die im Inte- lichkeiten machen den Verkehr zu einer gefähr- resse der Sicherheit und der Gesundheit der All- dungsträchtigen Erfahrungssituation.“ gemeinheit erfolgen.
10 Das Auto APuZ
WENIGER zigen, absolut unverhältnismäßigen Daherkom- WÄRE MEHR mens auch Ideologie im Spiel, bei den Besitzern wie bei den Gegnern beziehungsweise schon Has- Im Grunde ist es egal, welcher Anlass letztlich sern. Auch wenn man von ihren gewichtsbedingt den Ausschlag dafür gibt, dass der Straßenver- höheren PS-Zahlen und ihren dadurch erhöhten kehr einmal ganz grundsätzlich auf den Prüfstand Ausstößen einmal absehen wollte, dann müsste kommt. Die 780 000 Toten haben dies offensicht- man trotzdem immer noch sagen, dass sie selbst lich nicht vermocht. Auch die nicht enden wol- in den autofreundlichsten Städten, von denen es lenden, in den Anklagen gegen die VW-Spitze in Deutschland viel zu viele gibt, nichts zu suchen gerade erst wieder sichtbar werdenden Fehlleis- haben. Und auch wenn es dazu noch keine eige- tungen der einschlägigen Konzernmanager nicht; nen Untersuchungen gibt, so dürfte doch festste- denn bisher war es immer noch so, dass sich, hen, dass bei ihnen die Fühlung zur Außenwelt mochte auch ein Autohersteller moralisch dis- und zu den anderen Verkehrsteilnehmern, die kreditiert sein, an den Absatzzahlen nichts Nen- in der jüngeren Autoproduktion ohnehin gerin- nenswertes änderte. So sind es nun eben das Kli- ger wird und durch ihrerseits fehleranfällige As- ma und die Luftreinheit in den Städten, die dazu sistenzsysteme auch nicht aufgefangen werden führen, dass schärfer über den Unsinn und den kann, noch defizitärer ist. Dass größere Autos Schaden der Autonutzung in Deutschland nach- in Unfällen zudem mehr Schaden anrichten und gedacht wird, wo auf zwei Einwohner, Kinder, gefährlicher sind als kleinere Autos, ist freilich Greise und Behinderte mitgerechnet, inzwischen ein relatives Problem, das sich systemimmanent schon mehr als ein Fahrzeug kommt. diskutieren lässt und zu keinem grundsätzlichen Es spielt dabei keine Rolle, dass man hier, anders Umdenken führen wird. Ebenso wenig werden als bei den Verkehrsunfällen, keinen handgreifli- uns die rein moralisch geführten Auseinanderset- chen Kausalzusammenhang zwischen Schadstoff- zungen zwischen eher autoskeptischer Stadt- und ausstößen, vor allem Feinstaub, Kohlendioxid und aufs Auto eher angewiesener Landbevölkerung Stickoxid, und Gesundheitsgefährdung vorliegen einem Wandel näherbringen. Es geht nicht um hat. Es liegt ja auf der Hand, wie gefährlich Abgase moralische Überheblichkeit, sondern um prag- sind; die Wirkung ist, anders als bei einem Zusam- matische Erwägungen. menstoß, mittelbar, aber gewissermaßen nach- Und hier ist noch eine ganze Menge Luft nach haltig. So ist es auch beim Rauchen, und trotz- oben. Vorschläge wie der zur Abschaffung des dem ist es in der Öffentlichkeit inzwischen so gut Verbrennungsmotors oder zu Fahrverboten ver- wie verboten. Über die Unsicherheiten und statis- sprechen zwar wirkungsvoll zu sein, haben es tischen Probleme bei der Erfassung der tatsäch- (wirtschafts)politisch aber schwer. Erstaunlicher- lichen Schadensfälle durch Luftverunreinigung weise scheint sich niemand an eine Überprüfung berichtete zuletzt der „Spiegel“ im März 2019. und gegebenenfalls Steuerung der Automobilnut- Gleichzeitig berichtete der Deutschlandfunk darü- zung heranzutrauen. Dabei würde sich das loh- ber, dass die WHO für Feinstaub einen Grenzwert nen: Jeder Bürger sollte ein stärkeres Bewusstsein von zehn Mikrogramm pro Kubikmeter Luft emp- dafür entwickeln, ob wirklich jede Autofahrt nö- fehle, während die Bundesregierung sich darum tig ist. Hier kommen die verkehrstechnischen Al- bemühe, den EU-Grenzwert von 25 Mikrogramm ternativen vom Zu-Fuß-Gehen bis hin zur Bahn noch aufzuweichen. Der Atmosphärenchemiker ins Spiel. Auf jeden Fall bedürfen die Lebensge- Johannes Lelieveld schätzt, dass allein in Deutsch- wohnheiten eines Großteils der Bevölkerung ge- land jährlich ungefähr 100 000 Menschen aufgrund wisser, behutsam zu steuernder Eingriffe, für die der Feinstaubbelastung vorzeitig sterben und im man, sollte sich die Vernunft nicht durchsetzen Durchschnitt 17 Lebensjahre verlieren. Daran sind können, am Ende sogar Anreize schaffen könn- nicht nur die Kraftfahrzeuge schuld; aber es wäre te – das Klima und alle nicht verunglückten oder nur vernünftig, den Autoverkehr als einen wichti- krankgepesteten Menschen würden es danken. gen Posten einzubeziehen, wenn die Luft sauberer und das Klima besser werden sollen. Ein Problem für sich, aber nicht das eigentli- EDO REENTS che, sind schließlich die sogenannten sport utility ist Journalist und leitet das Feuilleton der vehicles (SUV). Bei ihnen ist aufgrund ihres prot- „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.
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KLEINE GESCHICHTE DES AUTOMOBILS IN DEUTSCHLAND Manfred Grieger
Die seit gut 125 Jahren von Verbrennungsmotoren bau nicht verleugnen.02 Nahm das 1886 entstande- angetriebenen Automobile scheinen an einem Wen- ne dreirädrige Velociped von Carl Benz Anleihen depunkt, wenn nicht gar vor dem Niedergang zu ste- beim Fahrrad, ergab sich aus der im gleichen Jahr hen.01 Zwischen geforderter Verkehrswende, verab- von Gottfried Daimler gebauten vierrädrigen Mo- redeten Klimazielen und dem verbreiteten Wunsch torkutsche schon aus dem Namen, in welcher Tradi- nach hedonistischer Tempojagd eingekeilt, steckt tionslinie sie stand.03 Aus der Verbindung von Ver- das Auto in der Klemme. Für die Mehrheit der pen- brennungsmotor mit einem Fahrgestell entstand das delnden Arbeitnehmer, der Urlauber und der Be- Automobil als umwälzende technische Innovation. wohner nichturbaner Regionen bildet das Auto ein Der ökonomische Erfolg der handwerklich-indust- nicht wegzudenkendes Fortbewegungsmittel. Für riellen Autofertigung blieb allerdings wegen der zu- andere ist der eigene Wagen ein Statussymbol oder nächst geringen Verkaufszahlen anfänglich äußerst Ausdrucksmittel ihrer Persönlichkeit, der Garant begrenzt oder sogar aus. Zudem war bis zum Be- und die Verkörperung individueller Freiheit. Einer ginn des 20. Jahrhunderts noch längst nicht ausge- wachsenden Zahl von Bewohnern urbaner Zentren macht, ob sich der Verbrennungsmotor gegenüber erscheinen Personenkraftwagen aber inzwischen den parallel entwickelten Dampf- oder Elektroautos schlichtweg überflüssig. Wegen der umweltschädi- durchsetzen würde.04 Reichweitenvorteile und hö- genden Auswirkungen der Automobilproduktion here Bedienfreundlichkeit sprachen allerdings bald und -nutzung sprechen sich manche aus Vernunft- für die Verbrenner. gründen gegen das Gesamtsystem Automobil aus. Aber dem Auto flogen in den Jahren bis zum Gleichwohl kennen viele ihren Traumwagen. Ersten Weltkrieg die Herzen keineswegs zu. Klagen Autos bilden zweifellos ein prägendes Element über den Motorengestank oder den Geräuschpegel der bundesdeutschen Gesellschaft. Dass rund um waren das Eine, soziale Vorbehalte gegen die „Her- das Automobil die dominante Leitbranche der renfahrer“ das Andere, sodass deren Rücksichtslo- deutschen Volkswirtschaft entstand, die nicht un- sigkeit manchen sogar zu Attentaten auf Automobi- wesentlich zur deutschen Exportweltmeisterschaft listen provozierte.05 Das Auto kam einem zunächst und durch gute Löhne und Gehälter zum Wohl- vor allem von Adligen und Vermögenden gewünsch- stand ganzer Generationen beigetragen hat, er- ten Distinktionsbedürfnis nach, nicht mehr länger klärt die politisch herausragende Stellung der Au- mit dem gleichen Zug fahren zu wollen wie die Pas- toindustrie. Im Folgenden werde ich nachzeichnen, sagiere der dritten Klasse. Der Individualautover- wie das Auto im gesellschaftlichen Leben in eine kehr entließ aus der Abhängigkeit von den Abfahrts- derart zentrale Rolle kam, dass es heute den meis- zeiten der Eisenbahn. Die Autonomie, jederzeit die ten als alternativlos gilt. Neben der engen Verbin- Fahrt beginnen zu können und auch außerhalb der dung von Autoindustrie, Ministerialbürokratie gelegten Schienenstränge auf Straßen zu fahren, ver- und Politik sollen auch die mentalen Aufladungen band sich mit individuellen Freiheitsgefühlen. des Automobils gezeigt werden, um die bestehen- Um dem Automobil eine höhere Akzeptanz zu den Aushärtungen einer automobilen Gesellschaft geben und sogar ein wachsendes Interesse auszulö- bundesdeutschen Typs nachvollziehbar zu machen. sen, rührten Automobilvereine wie der 1903 gegrün- dete Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC) STOTTERSTART und in wachsender Zahl auch Medien die Trom- mel für das neue Fahrgerät. Öffentliche Präsentati- Die Frühformen des Automobils konnten ihre onen, Messen, Ausfahrten und vor allem die große Herkunft aus dem Fahrrad- und dem Kutschen- Zahl von Rennen oder Zuverlässigkeitsfahrten wa-
12 Das Auto APuZ ren ausufernder Gegenstand der Berichterstattung, starke Entwicklungs- und Wachstumsimpulse, die Motorjournalisten, einer Ende der 1890er Jah- unterbrach jedoch den Aufstieg der Pkw-Bran- re entstehenden und korruptiven Einflüssen ausge- che. Danach flohen Automobilunternehmen vor setzten Gattung im Journalismus, Einkommen und den zerrütteten Verhältnissen der Inlandswirt- Einfluss versprach.06 Die Berichterstattung über schaft in den Export, der nach 1920 inflationsbe- den Motorsport, über die zahlreichen neuen Mo- dingt sogar für eine Scheinblüte sorgte. Andere delle und Marken wie auch über die Wachstumser- Unternehmen, beispielsweise BMW, diversifizier- folge der Automobilindustrie – kurz: die Schaffung ten in den Motorrad- und Automobilbau.08 Spä- einer interessierten Öffentlichkeit – bildete eine Vo- testens in der Hyperinflation aber brachen zahl- raussetzung für die gesellschaftlichen Durchsetzung reiche kapitalschwache Hersteller zusammen. des Automobils. Die Betonung von Pferdestärken, Als Teil des Konzentrationsprozesses fusio- Höchstgeschwindigkeiten, technischen Features nierten am 1. Juli 1926 die Daimler-Motoren-Ge- und der Heldenrolle von Rennfahrern, die als Lö- sellschaft und die Carl Benz & Cie. zur Daim- wenbändiger der Technik inszeniert wurden, ließen ler-Benz AG, in der Hoffnung, dadurch den das Automobil als Gegenstand modernen Aben- wirtschaftlichen Ertrag zu steigern und ihr techno- teurertums in der Industriegesellschaft und über- logisches Innovationspotenzial zu bündeln.09 Die haupt als Sache von Männern erscheinen. Obwohl unter dem Markenzeichen des dreizackigen Sterns mit dem neutralen Artikel bezeichnet, ist das Auto- angebotenen leistungsstarken und in handwerkli- mobil seither überdeutlich männlich konnotiert und cher Kleinserienfertigung hergestellten Oberklas- Ausdruck juveniler Maskulinität. sefahrzeuge fanden insbesondere auch im Ausland Die Kommunikationsstrategie der Automo- große Nachfrage, wie überhaupt die deutsche Au- bilunternehmen ging auf: Obgleich die Pkw-Ver- tomobilindustrie eher durch sportive und luxu- breitung bis zum Ersten Weltkrieg auf niedrigem riöse Pkw Bekanntheit erlangte. Nach 1924 grif- Niveau blieb, entwickelte sich eine Faszination fen Hanomag oder Opel bei der Produktion ihrer für Autos. Die schöpferische Leidenschaft, immer Kleinwagen zu der bei Ford in den USA nach 1913 neue Modelle herauszubringen, ging mit der Grün- eingesetzten Fließbandfertigung.10 Doch dem Pro- dung von etlichen Erfinderunternehmen, aber duktivitätsfortschritt stand kein bedeutendes Ab- nicht zwingend mit dynamischem Marktwachs- satzwachstum zur Seite, da Automobile als Lu- tum einher. Beispielsweise musste die Coswiga- xusgut galten und keine steuerliche Förderung Produktion von Emil Nacke, dem ersten Auto- erhielten. Wegen des begrenzten Absatzes kam es mobilbauer Sachsens, bereits vor 1914 eingestellt zu einer für die deutsche Automobilindustrie nicht werden, und die meisten Automobilmarken aus ganz untypischen „Fehlrationalisierung“.11 Auch der Frühphase verschwanden rasch wieder.07 der an den Stückzahlen gemessen größte Pkw-Her- Die Industrialisierung des Krieges gab zwar steller Opel geriet in finanzielle Schieflage, sodass zwischen 1914 und 1918 dem Nutzfahrzeugbau General Motors im Rahmen seiner Internationali- sierungsstrategie das Unternehmen übernahm.12 Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise 01 Vgl. Kurt Möser, Geschichte des Autos, Frankfurt/M.–New setzte den Automobilunternehmen weiter zu: Bis York 2002. 1932 schrumpfte die Produktion auf einen Tief- 02 Siehe auch den Beitrag von Hans-Ulrich von Mende in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 03 Vgl. Reinhard Seiffert, Die Ära Gottlieb Daimlers. Neue 08 Vgl. Manfred Grunert/Florian Triebel, Das Unternehmen Perspektiven zur Frühgeschichte des Automobils und seiner BMW seit 1916, München 2006, S. 20ff. Technik, Wiesbaden 2009, S. 98ff., 171ff. 09 Vgl. Wilfried Feldenkirchen, „Vom Guten das Beste“. Von 04 Vgl. Gijs Mom, Electric Vehicle. Technology and Expecta- Daimler und Benz zur DaimlerChrysler AG, Bd 1: Die ersten tions in the Automobile Age, Baltimore–London 2004, S. 64ff. 100 Jahre (1883–1983), München 2003, S. 95ff. 05 Vgl. Barbara Haubner, Nervenkitzel und Freizeitvergnügen. 10 Vgl. Reiner Flik, Von Ford lernen? Automobilbau und Mo- Automobilismus in Deutschland 1886–1914, Göttingen 1998. torisierung in Deutschland bis 1933, Köln–Weimar–Wien 2001, 06 Vgl. Christoph Maria Merki, Der holprige Siegeszug des Au- S. 169ff. tomobils 1895–1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in 11 Fritz Blaich, Die Fehlrationalisierung in der deutschen Auto- Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien–Köln–Weimar mobilindustrie 1924 bis 1929, in: Tradition 1/1973, S. 18–33. 2002, S. 303ff. 12 Vgl. Flik (Anm. 10), S. 169ff.; Günter Neliba, Die Opel-Werke 07 Vgl. Dana Runge/Petra Hamann/Thomas Gisel (Hrsg.), Emil im Konzern von General Motors (1929–1948) in Rüsselsheim und Hermann Nacke. Sachsens erster Automobilbauer. Biografie und Brandenburg. Produktion für Aufrüstung und Krieg ab 1935 unter illustrierte Firmengeschichte, Dresden 2007, S. 53ff. nationalsozialistischer Herrschaft, Frankfurt/M. 2000, S. 29ff.
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Vom KdF-Wagen …
Plakatwerbung für ein Gesellschaftsspiel rund um die KdF-Wagen-Sparaktion der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF), um 1941. Quelle: picture alliance/akg-images
stand von 43 448 und die Zahl der Neuzulassun- zialisten, die sich selbst als junge Bewegung in- gen auf 41 118 Pkw. Die Branche gab auf dem Hö- szenierten, für die eigene Sache. Gleich nach hepunkt der Krise nur noch 33 000 Beschäftigten Übernahme der Regierungsgewalt am 30. Ja- Arbeit.13 Zur Rettung des heimischen Automo- nuar 1933 brachte Adolf Hitler, der um die vi- bilbaus initiierte die sächsische Staatsregierung im sionäre Ausstrahlung der Automobilität wusste Juni 1932 die Fusion der Markenhersteller Horch, und auf kurzfristige Arbeitsmarkteffekte hoff- Wanderer, Audi und DKW zur Auto-Union AG, te, die steuerliche Förderung des Automobils auf die nach dem Neustart die technologischen und den Weg.14 Auch die nationalsozialistische Inf- wirtschaftlichen Potenziale als Mehrmarkenun- rastrukturpolitik des propagandistisch heraus- ternehmen zu nutzen wusste. gestellten Autobahnbaus und die Unterstützung des Rennsports wirkten als Förderung des Au- AUTOMOBILE tos.15 Dass sich Hitler gern in einem repräsenta- DIKTATUR 14 Vgl. Heidrun Edelmann, Vom Luxusgut zum Gebrauchsge- Die vom Automobil ausgehende symbolische genstand. Die Geschichte der Verbreitung von Personenkraftwa- Kraft nutzten zuerst technikaffine Nationalso- gen in Deutschland, Frankfurt/M. 1989, S. 157ff. 15 Vgl. Uwe Day, Silberpfeil und Hakenkreuz. Autorennsport im Nationalsozialismus, Berlin 2005, S. 87ff.; Erhard Schütz/ 13 Vgl. Reichsverband der Automobilindustrie (Hrsg.), Tatsachen Eckhard Gruber, Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft 1938, Berlin 1939, S. 4. der „Straßen des Führers“, 1933–1941, Berlin 2000.
14 Das Auto APuZ
… zum Symbol des „Wirtschaftswunders“
Im Wolfsburger Volkswagenwerk wird am 5. August 1955 der millionste Volkswagen, ein Käfer, präsentiert. Quelle: picture alliance/dpa (Fotograf: Gerd Herold) tiven Mercedes 770 zeigte und die Rennerfolge gänzende Rüstungsaufträge band die nationalso- von Daimler und der Auto-Union als Überle- zialistische Regierung nicht nur Staatsunterneh- genheit deutscher Technik herausstellte, unter- men wie die Auto-Union AG, sondern auch die strich seine Absicht, als erster Ermöglicher der Daimler-Benz AG oder BMW an sich.17 Automobilität zu gelten. Die Strategie ging auf, Auch wenn der Fahrzeugbestand zwischen da sich bereits 1933 der Gesamtwert der Pkw- 1932 und 1938 von 561 000 auf 1,3 Millionen Pkw Erzeugung gegenüber dem Vorjahr um 62 Pro- anstieg, lag die Zahl der Krafträder mit 1,7 Mil- zent und die Belegschaftszahl um zwei Drit- lionen noch höher. Die Vision einer automobi- tel auf 55 000 Mitarbeiter vergrößerte. Die len Diktatur erhielt erst mit der Propagierung Produktion verdoppelte sich sogar von 51 845 der Volkswagen-Idee Konturen. Der von Ferdi- auf 105 667 Pkw. Das Wachstum hielt bis 1938 nand Porsche nach 1934 konstruierte „deutsche an, wobei sich allerdings ab 1937/38 aufrüs- Volkswagen“ sollte in der im heutigen Wolfsburg tungsbedingt eine spürbare Verlangsamung auf von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) nach US- knapp drei Prozent bei Produktion und Absatz amerikanischem Vorbild errichteten Fabrik ab ergab. Die Vervierfachung der Belegschaften auf 139 000 Arbeiter und Angestellte und die zwi- 17 Vgl. Martin Kukowski/Rudolf Boch, Kriegswirtschaft und schen 1932 und 1938 erzielte Versechsfachung Arbeitseinsatz bei der Auto Union AG Chemnitz im Zweiten der Fertigung auf 276 804 Pkw rechnete sich das Weltkrieg, Stuttgart 2014, S. 43ff.; Neil Gregor, Stern und 16 Hakenkreuz, Daimler-Benz im Dritten Reich, Berlin 1997, S. 55ff.; NS-Regimes als eigene Leistung an. Durch er- Till Lorenzen, BMW als Flugmotorenhersteller 1926–1940. Staatliche Lenkungsmaßnahmen und unternehmerische Hand- 16 Vgl. Tatsachen und Zahlen 1938 (Anm. 13), S. 72. lungsspielräume, München 2008, S. 143ff.
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Spätsommer 1939 in Großserie hergestellt wer- ten, etwas später auch Daimler-Benz.21 Die in den. Für die Verbreitung des Kraft-durch-Freu- der sowjetischen Besatzungszone weitgehend de- de-Wagens wurde ein Sparplansystem aufgelegt, montierte Auto-Union startete 1949 in Ingolstadt an dem bis Kriegsende rund 336 000 „Volksge- neu.22 nossen“ teilnahmen.18 Das Auto wurde zum Motor des sogenann- Der im September 1939 begonnene Erobe- ten Wirtschaftswunders. Die Pkw-Produktion rungskrieg entließ die Nationalsozialisten aus ging nach der Währungsreform geradezu durch ihrer wegen der Rohstoffknappheit ohnedies die Decke: Liefen 1949 bereits 104 055 Pkw von uneinlösbaren Lieferverpflichtung, zumal bis den Bändern, davon allein 46 514 Fahrzeuge im Kriegsende nur 630 KdF-Wagen die Fließbän- Volkswagenwerk, waren es 1960 bereits 1,8 Mil- der des Volkswagenwerks verließen. Doch das lionen Personen- und Kombinationskraftwagen. NS-Regime vermochte es, die Utopie einer für Kleinstkraftwagen wie Isetta oder Messerschmitt alle „Volksgenossen“ erreichbaren Motorisierung Kabinenroller hatten nur eine kurze Blüte, so- in den sozialen Hoffnungen zu verankern. Denn dass als vollwertiges Gebrauchsfahrzeug die Sil- die am 19. März 1942 durch einen „Führerbefehl“ houette der Volkswagen-Limousine das Straßen- im Volkswagenwerk monopolisierte Kübel- und bild prägte. Neben dem VW-Käfer wurden auch Schwimmwagenfertigung galt gleichwohl als Vor- Adenauers Mercedes oder der ab 1950 in Stutt- bote einer späteren „Massenmotorisierung“ in ei- gart gefertigte Porsche-Sportwagen zu Ikonen ner nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. des deutschen Automobilbaus, da sie einerseits Tatsächlich dominierte im Volkswagenwerk wie die Vorteile der Basismotorisierung durch fordis- in den anderen Automobilunternehmen die di- tische Großserienfertigung und andererseits die rekte Rüstungsfertigung, die mit der Ausnutzung technische und ästhetische Vorreiterstellung im der Arbeitskraft von Tausenden Zwangsarbeitern Luxus- und Sportsegment verkörperten.23 Der einherging.19 wirtschaftliche Erfolg deutscher Autos im Aus- land trug zu einer positiven Zahlungsbilanz bei, MOTOR DER und die Automobilindustrie gab in wachsendem WOHLSTANDSGESELLSCHAFT Maße Arbeit und Einkommen. Auf dieser Basis entwickelte sich das Automobil zu einem Mo- Nach einer Rüstungsblüte lag die deutsche Auto- tor der gesellschaftlichen Entwicklung und der mobilindustrie beim Untergang des NS-Regimes Wohlstandsgesellschaft. am Boden und in Trümmern. Doch der Wieder- Als Ausweis der Zugehörigkeit zur Gemein- aufbau von Verwaltung und Versorgung benötig- schaft der Erfolgreichen galt alsbald auch der te Autos, sodass das unter britischer Treuhänder- individuelle Automobilbesitz. Ohne Rücksicht schaft stehende Volkswagenwerk im Dezember auf Abfahrtszeiten oder Mitfahrer starten zu 1945 mit der Zivilfertigung einer Limousine be- können, entwickelte er sich zum Flexibilitäts- ginnen und so zum Vorreiter werden konnte.20 vorteil, sodass das Automobil zum Statussym- Alsbald folgten Ford und Opel, die während des bol und zum Traumobjekt des eigenen sozia- Krieges als Unternehmen in US-amerikanischem len Aufstiegs wurde. Die wachstumsversessene Besitz unter Zwangsverwaltung gestanden hat- Bundesrepublik förderte das Pendeln steuerlich,
18 Vgl. Hans Mommsen/Manfred Grieger, Das Volkswagen- 21 Vgl. Ingo Köhler, Das Automobil in der Wirtschaftsgeschich- werk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996, te der Bundesrepublik Deutschland 1945–1960, in: Rolf Spilker S. 53ff. (Hrsg.), Richtig in Fahrt kommen. Automobilisierung nach 1945 in 19 Vgl. Manfred Grieger, Der Betrieb als Ort der Zwangs - der Bundesrepublik Deutschland, Osnabrück 2012, S. 18–33. arbeit. Das Volkswagenwerk und andere Unternehmen zwi - 22 Vgl. Thomas Schlemmer, Vier Ringe für Ingolstadt. Die Auto schen 1939 und 1945, in: Jürgen Lillteicher (Hrsg.), Profiteure Union zwischen Neubeginn und Krise 1945 bis 1968, in: Spilker des NS-Systems? Deutsche Unternehmen und das „Dritte (Anm. 21), S. 86–101. Reich“, Berlin 2006, S. 82–107; Kukowski/Boch (Anm. 17), 23 Vgl. Nils Beckmann, Käfer, Goggos, Heckflossen. Eine S. 233ff.; Constanze Werner, Kriegswirtschaft und Zwangs - retrospektive Studie über die westdeutschen Automobilmärkte arbeit bei BMW, München 2006, S. 145ff.; Gregor (Anm. 17), in den Jahren der beginnenden Massenmotorisierung, Stuttgart S. 264ff. 2006, S. 228ff.; Hans Walter Hütter, Adenauers Mercedes 20 Vgl. Markus Lupa, Spurwechsel auf britischen Befehl. 300. Geschichte eines Dienstwagens, Bonn 2003; Dirk-Michael Der Wandel des Volkswagenwerks zum Marktunternehmen Conradt, Porsche 356. Fahren in seiner schönsten Form, 1945–1949, Wolfsburg 2010, S. 33. Stuttgart 2008.
16 Das Auto APuZ wie überhaupt ein gesellschaftlicher Konsens der Automobilindustrie (VDA) oder dem ADAC pro Auto bestand. Obwohl die unzureichen- mit dessen Kampagnenslogan „Freie Fahrt für de Infrastruktur das Autofahren in den 1950er freie Bürger“ nicht durchzusetzen.27 Jahren keineswegs zum Vergnügen machte und Stattdessen sollten Fahrzeugsicherheit und auch die dynamisch wachsende Zahl der Ver- Verbrauchsminimierung wie überhaupt techni- kehrstoten bei Lichte besehen nicht fürs Auto- sche Innovationen die deutsche Automobilindus- mobil warb, erfolgte ein einseitiger Ausbau des trie aus der Krise führen. Denn obwohl die Ben- Fernstraßennetzes und der „autogerechte“ Um- zinpreise deutlich nach oben gingen, setzte der bau der Städte.24 Auch die Urlaubs- und Frei- automobile Hedonismus ab 1976 beispielsweise zeitgestaltung veränderte sich nachhaltig – „Au- im leistungsstarken VW Golf GTI auf erreichba- towandern“ kam in Mode. Der Vorrang der re Sportlichkeit.28 Von der Dieseltechnologie gin- Automobilität unterlag keinem grundlegenden gen zusätzliche Wachstumsimpulse aus, da sie mit Zweifel, zumal die Automobilindustrie im „gol- dem Argument einer deutlichen Kraftstoffeinspa- denen Zeitalter“ wirtschaftlicher Entwicklungs- rung auch bei Kompaktwagen Verbreitung fand.29 motor blieb. Die Produktion stieg bis 1973 auf Ungeachtet der Diskussionen über die not- mehr als 3,3 Millionen Pkw an, von denen knapp wendige Abgasreinigung, die gegen den anhalten- 2 Millionen beziehungsweise 59,4 Prozent in den Widerstand der Automobilindustrie erst 1989 den Export gingen. Allerdings wuchs im Gegen- zur Katalysatorpflicht führte,30 stiegen die Pro- zug der Deutschland-Absatz vor allem italieni- duktions- und Absatzzahlen wieder deutlich an. scher und französischer Hersteller bis 1973 auf 1989 lag die Pkw-Produktion bei einem neuen Re- rund 770 000 Fahrzeuge.25 kordwert von 4,1 Millionen Fahrzeugen, von de- nen 61,3 Prozent exportiert wurden. Die Zahl der KRISENERPROBT Neuzulassungen stagnierte in Deutschland aller- IN DIE 1980ER JAHRE dings bei 2,4 Millionen Pkw.31 Hatte das Auto in den Wirtschaftswunderzeiten vor allem zur sozia- Die erste Ölpreiskrise 1973 drückte die Produk- len Öffnung des Autobesitzes beigetragen, bündel- tionszahlen 1974/75 um ein Viertel, während te sich die hedonistische Tendenz der Automobili- die zweite Ölpreiskrise 1979 die Pkw-Fertigung tät 1982 in der programmatischen Popmusik-Zeile um ein Achtel senkte. Zugleich drohte der Im- „Ich will Spaß, ich geb Gas“. Das leistungsstarke port von rund einer Million vor allem japani- und hochgeschwindigkeitstaugliche Auto sorgte scher Fahrzeuge die Stellung deutscher Herstel- in der Generation der heutigen Entscheidungsträ- ler zu unterminieren.26 Vor diesem Hintergrund ger für die mentale Grundierung im „Autoland“ versandeten die in den frühen 1970er Jahren von Deutschland. Die weiterhin wachstumsfixierte den sozialliberalen Regierungen zur Förderung Pfadabhängigkeit verhinderte trotz des drohenden des öffentlichen Personennahverkehrs ausgehen- „Verkehrsinfarkts“ eine Neuorientierung.32 den Impulse, zumal der 1974 ins Amt berufene Bundesminister für Verkehr, der frühere Gewerk- schafter Kurt Gscheidle, dem Erhalt der Arbeits- 27 Vgl. VDA (Hrsg.), Fakten gegen Tempolimit auf Autobahnen, plätze und der Privatisierung der Deutschen Frankfurt/M. 1985. 28 Vgl. Norbert Steiniczka, Das „narrensichere“ Auto. Die Bahn Priorität einräumte. Selbst ein Tempolimit Entwicklung passiver Sicherheitstechnik in der Bundesrepublik war gegen die Mehrheit der Automobilnutzer Deutschland, Darmstadt 2006, S. 288ff.; Ingo Köhler, Auto-Iden- und mächtige Lobbyverbände wie dem Verband titäten. Marketing, Konsum und Produktbilder des Automobils nach dem Boom, Göttingen 2018, S. 322ff. 29 Vgl. Christopher Neumaier, Dieselautos in Deutschland und 24 Vgl. Ralf Dorn, Auf dem Weg zur autogerechten Stadt? Ver- den USA. Zum Verhältnis von Technologie, Konsum und Politik, kehrsplanung Hannovers unter Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht, 1949–2005, Stuttgart 2010, S. 70ff. in: Spilker (Anm. 21), S. 204–219. 30 Vgl. ders., Die Einführung des „umweltfreundlichen Autos“ 25 Vgl. Verband der Automobilindustrie (VDA) (Hrsg.), in den 1980er-Jahren im Spannungsverhältnis von Wirtschaft, Tatsachen und Zahlen aus der Kraftverkehrswirtschaft 1981, Politik und Konsum, in: Themenportal Europäische Geschichte, Frankfurt/M. 1982, S. 27. 2012, www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1576. 26 Vgl. Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute 31 Vgl. VDA (Hrsg.), Tatsachen und Zahlen aus der Kraftfahr- begann, München 2019, S. 305ff.; Haimo Kinnen, Die japanische zeugwirtschaft 1991, Frankfurt/M. 1992, S. 27. Herausforderung. Dargestellt am Beispiel der deutschen Auto- 32 Vgl. Arne Lüers (Hrsg.), Ohne Automobil. Klimaverträgliche Kon- mobilindustrie, München 1982. zepte gegen den Verkehrsinfarkt, Freiburg/Br.–Darmstadt 1992.
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ENTWICKLUNGEN SEIT stellte systemische Verbrauchsminimierung mo- DER WIEDERVEREINIGUNG derner Motorengenerationen in der Wirklichkeit bisher nicht zeigen konnte. Darüber hat auch die Die Beseitigung der deutsch-deutschen Grenze wachsende Zahl hochqualifizierter Fernpendler, bescherte von 1990 bis 1992 glänzende Auto-Ge- die ihre mobile Lebensform als Beitrag zur indi- schäfte: 1991 wurden in Deutschland 4,16 Millio- viduellen Selbstoptimierung oder als notwendige nen Pkw neu zugelassen, der Pkw-Bestand stieg Voraussetzung ihrer Einkommenserzielung be- auf 32 Millionen Fahrzeuge an.33 Anfang der trachten,36 ebenso zu erhöhten Abgasemissionen 1990er Jahre bekamen Überlegungen zur Um- beigetragen wie der wachsende Anteil sogenann- weltverträglichkeit kurzfristig höhere Bedeu- ter sport utility vehicles (SUV) und Geländewagen tung, sodass 1991 im Volkswagen-Markenvor- am Pkw-Gesamtbestand von 47,1 Millionen Pkw stand ein eigenes Umweltressort entstand und am Jahresende 2018. Unter den 2018 in Deutsch- auch ein batteriebasierter Elektro-Golf angebo- land gefertigten 5,1 Millionen Pkw waren etwas ten wurde.34 Doch nach dem Ende der durch die mehr als eine Million Geländewagen. Allerdings deutsche Einheit und die Öffnung Osteuropas gingen die Neuzulassungen 2018 wegen der längst ausgelösten automobilen Sonderkonjunktur ging eingetretenen Marktsättigung auf 3,4 Million Pkw es zur Überwindung der wirtschaftlichen Schief- zurück.37 Die schon seit Langem globalisierten lage wieder vor allem um Absatzsteigerung, hö- deutschen Unternehmen sind aber weiterhin ge- here Rentabilität und Arbeitsplatzsicherheit. Die wachsen, weil insbesondere die Automobilisie- tradiert enge Loyalitätsbeziehung zwischen Au- rung Chinas Wachstumsimpulse gesetzt hat. tomobilindustrie und Politik fand in der Per- Der nicht ohne Stolz vorgetragene Hinweis son von Gerhard Schröder als „Auto-Kanzler“ auf die Ende 2018 in der deutschen Automobilin- und in der Institutionalisierung von „Auto-Gip- dustrie beschäftigten 834 000 Mitarbeiter soll die feln“ im Kanzleramt seine vielleicht deutlichste Branche als Arbeitsplatzmaschine ausweisen.38 Ausprägung.35 Aus der auch von der IG Metall herausgestell- Seit dem Jahrtausendwechsel umfasst das An- ten massiven Arbeitsmarktbedeutung ergibt sich gebot der deutschen Hersteller vor allem Model- die politische Erwartung, regierungsseitig kei- le mit immer leistungsstärkeren Motoren. Auch ne die Beschäftigung gefährdende Entwicklung sind die Abmessungen immer weiter gewachsen, zuzulassen. wodurch auch das Fahrzeuggewicht zugenom- Aus historischer Sicht erschweren nicht nur men hat, sodass sich die in der Werbung herausge- die hard facts der Ökonomie und der Lebensver- hältnisse eine Umorientierung, sondern vor allem emotionale Konditionierungen.39 Ungeachtet der 33 Vgl. VDA (Hrsg.), Tatsachen und Zahlen aus der Kraftfahr- generationell in Automobilleidenschaften fortge- zeugwirtschaft 2001, Frankfurt/M. 2002, S. 9. 34 Vgl. Malte Schumacher/Manfred Grieger, Wasser – Boden schriebenen Erfahrungen von Geschwindigkeit – Luft. Beiträge zur Umweltgeschichte des Volkswagenwerks und wirtschaftlichem Erfolg dürften die Kon- Wolfsburg, Wolfsburg 2002, S. 124ff. flikte ums Auto zunehmen, da die individuelle 35 Vgl. Werner Reh, Die wirtschaftliche und politische Macht Automobilität zumindest von einer lautstarken einer Branche. Das Beispiel der deutschen Automobilindustrie, Minderheit nicht länger als alternativlos hinge- in: Kurswechsel 1/2018, S. 71–80. 40 36 Vgl. Raphael Emanuel Dorn, Alle in Bewegung. Räumliche nommen wird. Vor diesem Hintergrund bildet Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland 1980–2010, Göt- der 2015 aufgedeckte Dieselskandal womöglich tingen 2018, S. 162ff. den Ausgangspunkt einer Entwicklung, die dem 37 Vgl. VDA, Allgemeines. Angaben zu Forschungsausgaben, Ausgang der deutschen Gesellschaft und ihrer Umsätzen und Beschäftigten in der Automobilwirtschaft, o.D., Automobilnutzer aus ererbter Abhängigkeit vo- www.vda.de/de/services/zahlen-und-daten/jahreszahlen/allge- meines.html. rausgehen könnte. 38 Vgl. VDA, Zahlen und Daten, o.D., www.vda.de/de/servi- ces/zahlen-und-daten/zahlen-und-daten-uebersicht.html. 39 Vgl. Harald Welzer, Mentale Infrastrukturen. Wie das MANFRED GRIEGER Wachstum in die Welt und in die Seelen kam, Berlin 2011; Kurt ist promovierter Historiker und Honorarprofessor Möser, Autoleidenschaft, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Geliebt. Gebraucht. Ge- am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte hasst. Die Deutschen und ihre Autos, Dresden 2018, S. 136–149. der Georg-August-Universität Göttingen. 40 Vgl. Stephan Rammler, Volk ohne Auto, Frankfurt/M. 2017. [email protected]
18 Das Auto APuZ
AM STEUER? Instrumente und Anwendungsfelder der Verkehrspolitik
Oliver Schwedes
Die Verkehrspolitik erfährt aktuell eine Renais- eröffnet Perspektiven für eine neue integrierte sance. Während jahrzehntelang ihre vornehmste Verkehrspolitik, die den ideologisch geprägten Aufgabe offenbar darin bestand, den stetig wach- Konflikt für oder gegen das Auto durch eine poli- senden Verkehrsfluss aufrechtzuerhalten, indem tische Entscheidung auflöst, und die sich an über- die notwendige Infrastruktur zur Verfügung ge- geordneten Gemeinwohlzielen orientiert. stellt und der fließende Verkehr möglichst rei- bungslos organisiert wurde, werden jetzt neue DIE AUTOGESELLSCHAFT Gestaltungsaufgaben an sie herangetragen. Zum einen gerät der alte Entwicklungspfad zunehmend Immer wieder gibt es gesellschaftliche Phänome- in die Kritik, weil er den angestrebten Nachhal- ne, von denen die Zeitgenossinnen und Zeitgenos- tigkeitszielen widerspricht. Zum anderen wan- sen meinen, sie seien immer schon so gewesen, wo- delt sich in der Bevölkerung das Verständnis von raus sie schließen, es könne auch gar nicht anders Verkehr und Mobilität. Durch beides ist das eta- sein. Dieser fehlende Möglichkeitssinn ist glei- blierte und dominierende System der Automo- chermaßen entlastend und beruhigend und erfüllt bilität berührt, dass bisher alle Nachhaltigkeits- damit eine wichtige Funktion, solange der einge- ziele konterkariert und den Anforderungen einer schlagene Entwicklungspfad erfolgreich beschrit- wachsenden Stadtbevölkerung widerspricht. ten wird. Das gilt seit Ende des Zweiten Weltkriegs Damit sieht sich die Verkehrspolitik von drei insbesondere für das Verkehrssystem beziehungs- Seiten gefordert: Erstens muss sie das Verkehrssys- weise den Automobilismus – „er rollt und rollt tem auf eine Weise neu organisieren, dass es seinen und rollt …“ Zum Problem wird der fehlende Beitrag zur Erreichung der politisch vereinbar- Möglichkeitssinn hingegen in Zeiten eines dyna- ten Klimaziele leistet. In diesem Zusammenhang mischen gesellschaftlichen Wandels und angesichts muss zweitens der enge Zusammenhang von Wirt- der daraus resultierenden Herausforderungen. Das schafts- und Verkehrswachstum aufgelöst werden. fehlende historische Verständnis dafür, dass alles Drittens schließlich sieht sich die Verkehrspolitik schon einmal ganz anders war und deshalb auch zunehmend in der Pflicht, den neuen Nutzungs- in Zukunft alles ganz anders sein könnte, entfaltet anforderungen wachsender Teile der Stadtbevöl- dann bei den Betroffenen starke Beharrungskräf- kerung gerecht zu werden, die immer lauter arti- te, die den notwendigen gesellschaftlichen Wandel kuliert werden und heute weit mehr umfassen als behindern oder sogar blockieren. das private Automobil. Die zentrale Frage lautet, Das Auto wird mittlerweile als etwas so Selbst- wie die Verkehrspolitik zukünftig die ökologi- verständliches wahrgenommen, dass viele Men- schen Ziele mit den ökonomischen und sozialen schen mit seinem drohenden Verlust die gesamte Anforderungen verbinden kann und welche In- Gesellschaft, in der sie leben, infrage gestellt sehen. strumente ihr dafür zur Verfügung stehen. In der Folge stellen sich Existenzängste ein, die Bevor ich im Folgenden die verkehrspoliti- entsprechenden Widerspruch erzeugen. Das be- schen Instrumente und denkbare Anwendungs- ginnt mit dem wirtschaftlichen Wohlstand, der eng felder vorstelle, soll zunächst auf das aktuelle mit der deutschen Automobilindustrie verbunden Verkehrssystem und die sich daraus ergebenden wird, und reicht bis zur gesellschaftlichen Teilhabe verkehrspolitischen Herausforderungen einge- jeder und jedes Einzelnen, die häufig an das private gangen werden. Die damit gewonnene Einsicht Automobil geknüpft ist. Und tatsächlich handelt es
19 APuZ 43/2019 sich bei dem Automobilismus um ein technisches ralische Appelle gegen das Auto und für den öf- Großsystem, das die gesamte Gesellschaft jahr- fentlichen Verkehr aufzulösen ist. Vielmehr geht zehntelang auf vielfältige Weise geprägt hat, in die es hier um eine Vielzahl handfester Interessen, die mehrere Generationen selbstverständlich hineinge- von der Verkehrspolitik zu berücksichtigen sind wachsen sind und mit der viele sich identifizieren. und die gleichzeitig massiven Einfluss auf die po- Um die Herausforderung richtig einschätzen litische Entscheidungsfindung nehmen.02 Aller- zu können, mit der sich die Verkehrspolitik kon- dings handelt es sich bei der gesellschaftspoliti- frontiert sieht, wenn sie die selbstgesteckten Kli- schen Auseinandersetzung um die zukünftige maziele erreichen will, muss man sich vor Augen Bedeutung des Automobils nur um das Symptom führen, wie sehr die aktuellen gesellschaftlichen für ein tieferliegendes Strukturproblem, das von Verhältnisse der Autonutzung dienen. Auch hier den eigentlichen verkehrspolitischen Herausfor- gilt, dass viele Dinge als selbstverständlich vor- derungen ablenkt. Nicht das Auto ist das Pro- ausgesetzt werden, obwohl es lange gedauert hat, blem, sondern das Verkehrswachstum. bis die notwendigen Rahmenbedingungen ge- schaffen waren, die eine Nutzung des privaten WACHSTUMSSPIRALE Autos durch die Mehrheit der Bevölkerung über- haupt erst ermöglicht haben. Teilweise mussten Gemessen am Basisjahr 1990 hat der Verkehrssek- sie erst gegen massiven Widerstand durchgesetzt tor bis heute keinen Beitrag zur Bekämpfung des werden.01 Entstanden ist ein Verkehrssystem, Klimawandels geleistet. Vielmehr ist er der einzige das auf rund 650 000 Straßenkilometern basiert, gesellschaftliche Sektor, in dem die CO2-Emissio- 14 500 Tankstellen und 430 Raststätten umfasst, nen weiter steigen (Abbildung 1). Wie lässt sich er- und dessen reibungsloser Betrieb durch mehr als klären, dass in allen anderen gesellschaftlichen Be- 10 000 Fahrschulen und über 36 000 Kraftfahr- reichen Erfolge zu verzeichnen sind, nicht aber im zeugwerkstätten aufrechterhalten wird. Verkehr? Zunächst ist festzuhalten, dass der Ver- Die genannten Infrastrukturen müssen ihrer- kehrssektor in den vergangenen Jahrzehnten gro- seits unterhalten werden, von Baufirmen, Betrei- ße Effizienzgewinne zu verzeichnen hat. So konn- bern von Tankstellen, Rast- und Werkstätten und ten etwa durch technische Innovationen in der anderen mehr. Gespeist wird das Verkehrssys- Motorenentwicklung der Benzinverbrauch und in tem von den Automobilkonzernen, die Jahr für der Folge die CO2-Emissionen kontinuierlich re-
Jahr 3,4 Millionen Neuwagen für den deutschen duziert werden. Dass die CO2-Emissionen insge- Markt produzieren. Schließlich werden die Au- samt dennoch weiter steigen, zeigt, dass technische tofahrerinnen und Autofahrer auf das Engste be- Innovationen allein offensichtlich nicht zu einer treut, um sich in diesem System sicher bewegen nachhaltigen Verkehrsentwicklung beitragen. zu können, angefangen mit der Verkehrserzie- Die Ressourcen im Verkehrssektor werden hung in der Grundschule, über die Fahrschulaus- aber nicht nur effizienter eingesetzt, sondern auch bildung zur Erlangung des Führerscheins und die effektiver. Das heißt, Materialien werden in wach- alltägliche Kontrolle von Regelverstößen durch senden Maße recycelt. Autos werden mittlerwei- die Polizei, bis zu den diversen Auto-Klubs, die le zu 20 bis 30 Prozent aus wiederverwendeten ihre Mitglieder auch für das verbleibende Rest- Rohstoffen produziert. Aber wie die Effizienz- risiko noch versichern. In dem Maße, wie das strategie hat auch die Effektivitätsstrategie offen- Funktionieren unserer Gesellschaft von diesen bar ihre Grenzen: Obwohl beide seit Jahrzehnten Voraussetzungen abhängig ist, können wir von verfolgt werden, befindet sich der Verkehrssektor einer „Autogesellschaft“ sprechen. bis heute nicht auf einem nachhaltigen Entwick- Diese zugegebenermaßen nur grobe Skizze lungspfad. Wie weit wir von der Vision entfernt der Autogesellschaft sollte immerhin gezeigt ha- sind, Autos irgendwann einmal vollständig recy- ben, wie sehr das Auto als existenzieller Bestand- celn zu können, wird deutlich, wenn wir uns vor teil der Gesellschaft verankert ist, und dass dies Augen führen, dass viele Materialien eben nicht einen realen Hintergrund hat, der nicht durch mo-
02 Vgl. Benjamin Sternkopf/Felix Nowack, Lobbying: Zum Ver- 01 Vgl. Christoph Maria Merki, Der holprige Siegeszug des hältnis von Wirtschaftsinteressen und Verkehrspolitik, in: Oliver Automobils 1895–1930: Zur Motorisierung des Straßenverkehrs Schwedes/Weert Canzler/Andreas Knie (Hrsg.), Handbuch in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 2002. Verkehrspolitik, Wiesbaden 20162, S. 381–399.
20 Das Auto APuZ
Abbildung 1: CO2-Emissionen nach Sektoren