DAV Panorama 2/2011

Skitouren in den Berner Alpen Zweite Liga? Erste Klasse! Beim Stichwort „Berner Alpen“ denken auch Skihoch- touristen vor allem an die Renommeeberge wie Finster- aarhorn, oder . Die sich leider mit felsigen Gipfelaufschwüngen zur Wehr setzen. Gemütlicher, aber nicht weniger eindrücklich, sind die weniger bekannten Gipfel in der „zweiten Reihe“.

Text und Fotos: Folkert Lenz

eim monotonen Stapfen fällt Die Worte der Wirtin von der Hol- man es von einer klassischen Berg- es mir wieder ein: „Wenn die landiahütte klingen mir noch im Ohr. hütte kennt. Der Granitboden und Walliser Berge der Himalaya der Fast 1700 Höhenmeter liegen zwi- die kubistische Wuchtigkeit des Mo- BAlpen sind, gleichen die Berner dem schen Blatten und der Lötschenlü- biliars wirken ungewohnt. Aber wei- Karakorum.“ So hatte ein Autor ein- cke, und zwölf Kilometer Strecke. Di- ße Bettwäsche, Handtücher und Dau- mal die Topografie der Berner Alpen mensionen wie im Karakorum eben. nendecken söhnen wohl auch den beschrieben: fürchterlich hohe, fel- Dabei waren wir leichtfertig erst am konservativsten Alpinisten mit dem sige Berge, tiefe Täler. Und lang sind Mittag gestartet. Stun- Zeitgeist aus. die! So auch das Lötschental. Doch den später stecken wir Designer-Komfort am Am nächsten Mor- im Karakorum würde es wenigstens auf und steuern die nahe Berg? Gibt es selbst gen strahlt die Sonne nicht regnen. Vor zwei Stunden sind Anenhütte (2358 m) an. in der traditionalis- vom Himmel. Auf zur wir in Blatten gestartet. Es pladdert Silbrig-grau schim- tischen Schweiz. zweiten Etappe also. Der vom Himmel, und das mitten im mert der moderne De- Langgletscher lockt mit März. Im Schnürlregen geht es berg- signer-Bau bei der Ankunft. Anhei- einem riesigen Tor, sein Inneres zu er- an. Auf der Langlaufloipe bis zur Faf- melnder Klotz oder abweisender kunden. Ein paar Dutzend Meter kön- leralp, dann beginnt das Drama: Der Würfel? Auf Chic hat der Bergführer nen wir dem Weg in die Eingeweide Schnee ist durchgeweicht bis zum Peter Tscherrig jedenfalls Wert gelegt, des Eises folgen. Der Blick aus dem Grund. Die Skispitze verschwindet als er die Anenhütte neu bauen muss- Portal heraus ist gigantisch. Schnell in der wässrigen, weißen Masse. Wir te. Eine Lawine hatte das alte Haus spuckt uns der frostig-blaue Schlund kommen nicht voran. „Sechs Stun- vor vier Jahren weggerissen. Auch das aber wieder aus. Die Hollandiahütte den werdet ihr schon am Weg sein.“ Interieur ist nicht unbedingt so, wie an der Lötschenlücke bleibt weiterhin

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das Ziel. Der kleine Pass ist schon von Weitem zu sehen. Bis dahin macht der Langgletscher seinem Namen alle Ehre. Mühsam geht es unter den Süd- flanken von Großhorn und Anengrat entlang. Ein letzter Steilaufschwung noch, dann ist die Lücke mit der Hütte (3240 m) erreicht. Aufstieg überm Auftakt zu einer Skitourenwoche Wolkenmeer: quer durch die Berner Alpen. Die po- Beim Gipfel- pulärsten Berge der Region – Aletsch- anstieg zum Grünegghorn horn, Mönch, Jungfrau oder Finster- schaut nur das aarhorn – wollen wir diesmal links Aletschhorn zu. liegen lassen (sorry: Das Aletschhorn bleibt rechts). Auch die zweite Liga bietet noch genügend spektakuläre Ziele. Und viele dieser Gipfel sind im Winter attraktiver als die sprichwört- lichen Highlights: Weil sie nicht so hoch sind. Weil sie bessere Skiberge sind. Weil sie größeres Abfahrtsver- gnügen versprechen.

Spritztour mit Tiefblick Zum Beispiel die Äbeni Flue. Nicht viel mehr als 700 Höhenmeter sind es bei dieser Spritztour von der Hollan- diahütte bis zum Gipfel des Knapp- Viertausenders (3962 m). Lange geht es flach einher über eine Firnebene. Kurz vor dem heißt es dann abzubiegen hinüber zur Äbeni Flue. Über den Südostgrat schleichen wir uns auf den höchsten Punkt. Hin- Flott oder gründlich – für jeden Skitouristen etwas ter dem Gipfel scheint der Berg förm- lich abzubrechen. Tief unter uns der Berner Ski-Express: Wer fit ist, der kann in drei bis vier Tagen vier „Fast-Viertausender“ sammeln. Boden des Rottals. Gegenüber die Dazu bietet sich die Auffahrt per Bahn zum Jungfraujoch an. Dann geht es übers Louwihorn (3777 m) trutzige Felspyramide der Jungfrau, zur Hollandiahütte. Am nächsten Tag stehen die Äbeni Flue (3962 m) und die Abfahrt zur Konkordia- hütte auf dem Programm. Der Wintergipfel des Grünegghorns (3787 m) lässt sich gut beim Übergang fast unbezwingbar wirkt sie von die- zur Finsteraarhornhütte mitnehmen. Die letzte Etappe wird noch einmal lang, wenn man via Groß ser Seite. Die Abfahrt ist nicht mehr Wannenhorn (3905 m) und schließlich über den wilden Fieschergletscher nach Fiesch hinausfährt. als eine harmlose Gleitpartie – wenn Mehr Zeit – eine knappe Woche – braucht man für die klassische Berner Haute-Route: Blatten – auch in grandioser Umgebung. Hollandiahütte – Konkordiahütte – Finsteraarhornhütte – Oberaarjochhütte – Münster heißen hier Wir fahren weiter hinunter gen die Etappenziele. Dafür können hier Mittaghorn (3892 m) oder Äbeni Flue, Louwihorn, Grünegghorn, Konkordiaplatz. Hinab ins große, Groß Wannenhorn und das Galmihorn (3505 m) mit kleinen Abstechern erreicht werden – wenn man weite Weiß. Aletschfirn, Jungfrau- die 4000er wie Fiescherhörner oder mit ihren felsigen Gipfelaufschwüngen weglässt. Gipfelsammeln al gusto also. firn, Ewigschneefäld und Grünegg- Anfahrt: Für den Einstieg übers Jungfraujoch: Grindelwald oder Lauterbrunnen, Zug- und Straßen- firn kommen auf dem riesigen Plateau verbindung über Bern-Spiez. Für Start im Lötschental: Blatten oder Fafleralp, Busverbindung von zusammen und schicken von dort Goppenstein auf der Südseite des Lötschbergtunnels. Nach Abfahrt ins Rhonetal gute Rückreise- aus den Großen Aletschgletscher in Verbindungen mit Bus und Lötschbergbahn. einem gigantisch geschwungenen Bo- Beste Zeit: März bis Mai; später in der Saison können die Südabfahrten ins obere Rhonetal unter gen nach Süden ins Rhonetal. Heute Schneemangel leiden. misst der Aletschgletscher 22,7 Kilo- Karte: Schweizer Landeskarte 1:50.000, Blatt 264 S, Jungfrau, mit Skirouten; für die Abfahrt nach Münster auch Blatt 265 S, Nufenenpass. meter. Einen längeren Gletscher gibt Führer: Skitouren Berner Alpen Ost, SAC-Verlag, Bern 2004. Oder: Die schönsten Skitouren der es in den Alpen nicht. Trotz Klima- Schweiz, SAC-Verlag, Bern 2003. wandels: Am Konkordiaplatz sei das

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Eis immer noch 900 Meter dick, sa- gen die Glaziologen. Unsere zierliche und vergängliche Skispur, die wir über den verblasenen Harsch ziehen, ist also nicht mal ein kleiner Ratscher in seiner Oberfläche. Schon von Wei- tem sehen wir das „Outdoor-Trep- penhaus“, das zur Konkordiahütte hi- naufführt. Auf einem Felsabsatz des Fülbärgs steht das Haus, das heutzu- der Traumabfahrt über den Kranz- deren Seite des Südwestrückens ar- tage über eine 150 Meter hohe Metall- bergfirn zum Aletschfirn gilt es, sich beiten wir uns weiter bergan. Am stiege erreicht wird. Bei ihrem Bau im zu entscheiden: Noch am gleichen Tag Vorgipfel heißt es: Hände aus den Ho- Jahr 1877 lag die Hütte gerade 50 Me- über die Lötschenlücke wieder zurück sentaschen! Nach einem kleinen Ba- ter oberhalb des Gletschers. Reste der in die Zivilisation, mit Bus und Zug lanceakt erreichen wir einen schma- kühnen hölzernen Wegkonstruktion per Rundfahrkarte? Vom Jungfrau- len Felskopf. Damit soll es genug sein. von früher sind bei genauem Hin- joch bis hinaus nach Blatten hat man Die meisten Partien kehren an dieser schauen noch zu entdecken. dann lockere 2600 Abfahrtsmeter in Stelle um, denn der Weiterweg vom Der Blick von der Sonnenterras- der Tasche. Oder gen Konkordiahütte Vorgipfel (3787 m) hinüber zum Grün- se bietet gute Aussichten auf wei- und Grüneggfirn, um zum Herzen der egghorn (3860 m) führt über einen teres Skitourenvergnügen im Konkor- Berner Alpen vorzudringen? Das wä- schmalen, felsgespickten Grat. Dort diabecken. Das Louwihorn (3777 m) re der gemütlichere Einstieg in unsere ist der beherzte und routinierte Al- gleich gegenüber zum Beispiel. Wer Durchquerung, der den zähen Lang- pinist gefragt. Weil für uns diesmal sich ranhält, kann die etwas über tau- gletscher-Aufstieg erspart. der skisportliche Genuss im Vorder- send Höhenmeter in rund vier Stun- grund stehen soll, verzichten wir auf den schaffen. Die Belohnung: wieder Mitnehmgipfel mit Felsfinale die anspruchsvolle Passage und wen- ein dramatischer Tiefblick hinab ins Deng – deng – deng … Nach einer den uns lieber der Abfahrt zu. Ein be- Rottal. Der Aufstieg von der Konkor- Nacht auf der Konkordiahütte klap- herzter Sprung bringt uns in den ers- diaseite wird allerdings nicht so häu- pern wir in unseren steifen Skistiefeln ten Steilhang hinein. Dann stauben fig gemacht wie die Gegenrichtung. die Metalltreppen zum Gletscher hi- wir in gefälliger Neigung gen Tal. Im- Der Grund: Das knapp neben dem nunter. Heute steuern wir die Finster- mer ein Auge darauf, nicht zu tief hi- Gipfel gelegene Louwitor ist ein be- aarhornhütte an. Das Grünegghorn nabzukommen, denn es soll ja noch liebter Übergang bei der populären liegt bei dieser Etappe quasi am Weg- weitergehen über die Grünhornlücke Lötschenlücke-Abfahrt, einem der rand – ein Berg „zum Mitnehmen“ al- (3280 m). Die ist mit einem kurzen großen Schweizer Skitourenklassi- so. Auffellen noch im Halbdunkel. Gegenanstieg bald erreicht. Hinter der ker. Der Start dazu liegt an der Berg- Dann geht es zwischen Wolkenresten breiten Einsattelung wartet Traum- station der Jungfraujochbahn (3454 den Grüneggfirn hinauf. Immer mehr Powder bis hinunter in den Boden m). Vom Tor des Sphinxtunnels geht steilt sich der Hang auf. Saubere Spitz- des Fieschergletschers. Auf der ande- es kurz den Jungfraufirn hinab, dann kehrenarbeit ist gefragt. Die letzten ren Seite des gigantischen Gletscher- knapp 500 Meter hinauf über die Meter zum Grat hinauf gehen nur mit beckens erspähen wir schon die Fin- Nordosthänge zum Louwihorn. Nach den Ski auf dem Buckel. Auf der an- steraarhornhütte (3048 m) als kleinen

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Ritt durch die Wildnis, wie im Karakorum: den sein. Dann aber wird das Unter- Berner Haute-Route wieder zu ver- Beim Aufstieg zur Äbeni Flue ragen Schin- horn und Nesthorn vor den Walliser Alpen nehmen zum rechten Genuss. lassen: Noch einmal hinunter über übers Lötschental, bei der Abfahrt über den Zu den klassischen und viel be- den Galmigletscher, dann nicht hi- Fieschergletscher fordert Nebel das Orien- suchten Skibergen zählt auch das nauf zur Bächilicke, wie es die meis- tierungsvermögen und alpine Erfahrung. Große Wannenhorn. Ein eindrück- ten tun, sondern gleich links die en- licher Gletscherberg, der gut auf der ge Galmilicke (3293 m) ansteuern. Im Etappe von der Finsteraarhornhüt- Schatten der dahinter liegenden Nord- te zum Oberaarjoch bestiegen wer- osthänge wartet zumeist ein Viertel- den kann. Gemächlich schiebt man stündchen Pulverschneeabfahrt über braunen Punkt in den Felsen. Wie- sich dazu am Morgen ein Stück weit den Minstigergletscher. Das Vergnügen der einmal beeindrucken die Dimen- den flachen Fieschergletscher hinab. muss allerdings mit einem Gegenan- sionen der Berner Berge. Es dauert Dann biegt die Spur ein in eine lang stieg südwärts Richtung Heji Zwächte noch ein ganzes Weilchen, bis wir mit gezogene Gletschermulde, die sich bezahlt werden. Eine eiserne Orientie- mühsamen Schlittschuhschritten den – immer wieder unterbrochen von rungsstange zeigt schließlich, dass man breiten Eisstrom überquert haben. Spaltenzonen und kleinen Steilauf- am rechten Weg ist. Dann folgt eine Wer eine Winterdurchquerung der schwüngen – bis fast zum 3905 Meter trickreiche Abfahrt durch kleine Mul- Bergwelt rund um Jungfrau und Ei- hohen Gipfel hinaufzieht. Ein wahr- den und Mini-Kare, zwischen Felsin- ger unternehmen will, der muss sich lich hochalpines Ambiente, in dem seln hindurch. Eine Aufgabe für alpine entscheiden: Sollen es man dort unterwegs ist! Pfadfinder – vor allem, wenn die Sicht alpintechnisch interes- Ob Fels- oder Genuss- Bei der Abfahrt kann nicht die allerbeste ist. Über 1700 Meter sante Ziele wie die Fies- gipfel: Arktisch weite man dann gleich das tiefer erst endet der Skispaß in Münster. cherhörner, der Mönch Gletscherflächen Rotloch unter dem Fin- Keine Option für uns diesmal. oder das Finsteraarhorn führen zu ihnen. steraarrothorn ansteu- Denn das Wetter ist schon auf der Fin- sein? Oder lieber Gip- ern, von dem aus es in steraarhornhütte so schlecht angesagt, fel, bei denen Abfahrtsspaß und Ge- anderthalb Stunden über den Gal- dass wir nur eins wollen: möglichst nießen im Vordergrund stehen? Der migletscher hinauf zum Oberaar- schnell weg hier! Also raus über den versierte Skialpinist ist bei beiden joch (3212 m) geht. Die gleichnamige Notabstieg, der wohl eine der span- Varianten gefragt. Und eines ist an al- Hütte liegt ein paar Meter oberhalb nendsten Gletscherabfahrten der Re- len Gipfeln garantiert: arktisch anmu- der Scharte und wird über anregende gion bietet. Der Fieschergletscher ist tende Weite auf gewaltigen Gletscher- Kletterei an ein paar steilen Metalllei- die kürzeste Verbindung ins Tal. Zer- flächen. Schon im Sommer hatte ich tern erreicht. schrundet ist der grau-blaue Strom, mir angesichts der ausufernden Dis- Genau wie die Finsteraarhornhüt- der sich das hinabwälzt. tanzen mehrfach geschworen: nie te stellt das Haus unter dem Oberaar- Durch manch kniffliges Spaltengewirr wieder hierher ohne Ski! Doch selbst horn so etwas wie eine Mausefalle und schaurige Eislabyrinthe führt die im Winter sind die Berner nichts für dar. Bei Neuschnee kommt man nur Route, die einen guten Spürsinn bei Konditionsschwache, auch nicht die über äußerst heikle Hänge wieder zu- der Wegfindung verlangt. Wie im Ka- niedrigeren Berge. Damit die Ge- rück in die Zivilisation – oder gar rakorum eben. Mindestens. o bietstraverse nicht zur Schinderei nicht! Der Weg hinüber nach Mün- Folkert Lenz (46) lebt als freier Journalist alpenfern wird, sollten ein bisschen Ausdauer ster im Goms ist aber eine der schöns- in Bremen, macht sich aber so oft es geht auf in die und eine gewisse Wadenkraft vorhan- ten Varianten, das Areal am Ende der Alpen oder zu den Bergen der Welt.

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