Niklaus Hans Ammann Roggwil BE geb. 6. Dezember 1940

Die Vegetation der Oberaar in Abhängigkeit von Klima- und Gletscherschwankungen

Dissertation an der Philosophisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern 1974 genehmigt mit dem Prädikat Summa cum Laude, Leitung Prof. Dr. Max Welten Zwei Einzelpublikationen 1979 zusammengefasst zum eingereichten Dissertationstext, 1981

Zeitschrift für Gletscherkunde und Glazialgeologie, Bd. XII, Heft 2, S. 253-291 DER IM 18.,19. UND 20. JAHRHUNDERT

Von KLAUS AMMANN, Bern Mit 19 Abbildungen

INHALTSÜBERSICHT ...... Seite Zusammenfassung...... 253 Summary...... 254 Résumé...... 254 Einleitung...... 254 1. Geographisch-geologischer Überblick ...... 255 2. Glaziale Überformung...... 255 2.1. Glaziale Erosion ...... 255 2.2. Fluvioglaziale Ablagerungen ...... 257 2.3. Glaziale Ablagerungen...... 259 3. Die Quellen zur Geschichte der Oberaar-Gletscherschwankungen...... 262 4. Zusammenfassung der bisher bekannt gewordenen historischen Schwankungen des Oberaargletschers...... 280 5. Das Alter der Moränenwälle 1-4...... 281 6. Das Alter der Vorfelder 1-3 zwischen den Moränenwällen...... 281 7. Anhang...... 283 7.1. Die heutige Vegetation...... 283 7.2. Pollenmorphologische Vorstudien ...... 285 7.3. Erste Resultate der Pollenanalysen...... 286 Literatur und Quellen...... 288

ZUSAMMENFASSUNG

Vegetationsgeschichtliche Untersuchungen im Gletscherhochtal der Oberaar (6 km WSW Grimselpaßhöhe im Aaremassiv) ließen es notwendig erscheinen, auch die Schwankungsgeschichte des Oberaargletschers, soweit sie durch historische Dokumente erfaßbar ist, näher zu beleuchten. Anhand von ungefähr 30 verschiedenen Bild-, Schrift-, Kar- ten-, Relief- und Fotodokumenten konnten bisher drei Vorstoßperioden in Zusammenhang mit der Bildung der Moränenwälle 1 - 4 gebracht werden. 1. Maximalvorstoß für das Postglazial: um 1860. Bildung des Walles W l. Zerstören der Wälle Wa und Wb. 2. Rückzugshalt oder Vorstoß um 1890 nach Rückzug um 1880. Bildung der Wälle W 2 und W 3 um 1890. 3. Letzter Vorstoß um 1920, Bildung des Walles W 4. Zusätzliche Details sind der Zusammenstellung in den Abschnitten 3, 4 und 5 und der Abb. 19 zu entnehmen. Aus diesen zeitlichen Einstufungen der Moränenwälle W 1 bis W 4 folgen die Maximalalter der jeweiligen Vorfelder 1 - 3: Vorfeld 1 (innerhalb Moräne W 1): um 110 Jahre (98-115 Jahre). Vorfeld 2 (innerhalb Moränen W2 und W3): 75-90 Jahre. Vorfeld 3 (innerhalb Moräne W 4): 50 Jahre und jünger. In einem Anhang (Abschnitt 7) und auch in der Einleitung werden einige bisherige Ergebnisse und der gesamte Rahmen des vegetationsgeschichtlichen Untersuchungsprogramms kurz vorgestellt: 7.1. Die heutige Vegetation der Oberaar. 7.2. Pollenmorphologie der Grimselflora. 7.3. Oberflächen-Pollenproben und Pollenanalysen zweier Profile. 254 K. Ammann

THE VARIATIONS OF THE OBERAAR GLACIER DURING THE 18TH, 19 TH AND 20TH CENTURY

SUMMARY

In order to study the history of plant communities in the Oberaar Valley (, 6 km WSW ) it was necessary to also consider the glacial variation of the nearby Oberaar Glacier. Moraines l- 4 were dated and the maximum age of the subsequent forefields l- 3 estimated, using about 30 documents (photographs, engravings, maps, reliefs, unpublished and published accounts). Glacial variations resulting in moraines seen today were as follows : 1. Maximum advance in postglacial times: About 1860. Produced moraine ("Wall") W 1, destroyed moraines Wa and Wb. 2. Advance or stationary phase until about 1890. Formation of moraines W2 and W3 around 1890. 3. Last advance about 1920, formation of moraine W 4. For additional information see chapters 3, 4 and 5 and graph fig. 19. From those moraine dates the following maximum ages of the forefields 1- 3 can be derived : Forefield 1 (inside moraine W1): About 110 years (98-115 years). Forefield 2 (inside moraine W2 and 3): 75-90 years. Forefield 3 (inside moraine W 4) : 50 years and younger. In the introduction and the appendix (chapter 7) the structure of the research program is given in rough outlines and some preliminary results are presented: 7.1. Present vegetation of the Oberaar Valley. 7.2. Pollen morphology of the Grimsel flora. 7.3. Modern surface samples and pollen analyses of two profiles.

LES OSCILLATIONS DU GLACIER DE L'OBERAAR PENDANT LES 18 ÉME, 19 ÉME ET 20 ÉME SIÈCLES

RÉSUMÉ

Pour étudier l'histoire de la végétation alpine de l'Oberaar (6 km 080 a la hauteur du col du Grimsel) il s'est avéré néces- saire de prendre en considération les oscillations du glacier de l'Oberaar. La formation des moraines 1-4 et l'8ge maximum des champs préglaciaires furent détermines au moyen d'environs 30 documents différents (photographies, gravures, cartes, reliefs, rapports publies et non publies). Les variations du glacier formant des moraines visibles aujourd' hui sont les suivantes: 1. Avancée maximum du postglaciaire: Vers 1860 avec formation de la moraine W 1 ("Wall 1") et destruction des moraines Wa et Wb. 2. Avancée ou phase stationnaire des années 1890: formation des moraines W2 et W3. 3. Dernière avancée vers 1920: formation de la moraine W 4. On trouvera des renseignements supplémentaires dans les chapitres 3, 4 et 5 et dans la fig. 19. D'après les dates des moraines on peut dériver les âges maximum des champs préglaciaires 1-3: Champ préglaciaire 1 (dans le cirque de la moraine 1) environ 110 ans (98-115 ans). Champ préglaciaire 2 (dans le cirque des moraines 2 et 3) 75-90 ans. Champ préglaciaire 3 (dans le cirque de la moraine 4) 50 ans ou moins. Dans l'introduction et l'appendice (chapitre 7) un aperçu du programme de recherche et quelques résultats préliminaires sont donnes: 7.1. Végétation récente de la Vallée de l'Oberaar. 7.2. Morphologie des pollens de la flore du Grimsel. 7.3. Quelques spectres polliniques d'échantillons de surface et analyse pollinique de deux profils.

EINLEITUNG

Das Ziel einer breiter angelegten vegetationsgeschichtlichen Studie im Gletscherhochtal der Oberaar war es, Hinweise auf die Veränderungen der Pflanzengesellschaften früherer Jahrhunderte und Jahrtausende in der alpinen Stufe zu erarbeiten Nach den Untersuchungen meines verehrten Lehrers Herrn Prof. Dr. M. Welten (1947, 1958, 1972: 69ff.), dem ich für seine stete Hilfe herzlich danke, durfte erwartet Der Oberaargletscher 255

werden, daß Pollendiagramme aus den Böden am Südfuß des Zinggenstockes (2300 m ü. M., ungefähr 6 km WSW der Grimselpaßhöhe) solche Hinweise liefern würden: vgl. 7.3. Diese Fragestellung erheischte eine ins Einzelne gehende Krautpollenanalyse, was umfangreiche Vorstudien notwendig machte: vgl. 7.2. Um die Vegetation früherer Jahrtausende pollenanalytisch besser beurteilen zu können, war es notwendig, auch die heutige Vegetation der Oberaar kennen zu lernen: vgl. 7.1. Das Verteilungsmuster der einzelnen Pflanzengesellschaften zeigt recht deutlich den Einfluß des nahen Oberaargletschers: Wichtige Vegetationsgrenzen werden durch seine Moränenwälle aus neuerer Zeit markiert. Es lag deshalb nahe, im Rahmen dieser Gesamtuntersuchung auch die Geschichte des Oberaargletschers, soweit sie anhand alter Dokumente studiert werden konnte, genauer zu erfassen: vgl. 1-6. In der vorliegenden Arbeit sollen vor allem die Abschnitte 1-6 behandelt werden, auf die oben erwähnten weiteren Punkte wird im Abschnitt 7 nur summarisch und anhangsweise eingegangen.

1. GEOGRAPHISCH-GEOLOGISCHER ÜBERBLICK

Auffallend quer zu dem sehr weit südlich im zentralen Innern des Aarmassives einsetzenden Haslital mit dem Grimselpaß liegen die beiden Gletscher-Hochtäler der Unteraar und der Oberaar. Nach Staub (1956: 260) handelt es sich tektonisch betrachtet um sehr früh angelegte W-E-Täler, die dem allgemeinen Streichen des Aar-Massives folgten. Petrographisch gesehen liegt das Oberaar-Hochtal, wie auch das ganze Paßgebiet der Grimsel nach Stalder (1964; dort auch Karte) in der Zone 4 des zentralen Aaregranites im weiteren Sinne. Diese Zone läßt sich in vier Teilkomplexe aufspalten, deren dritter , der Grimsel-Granodiorit und vierter, der südliche Aaregranit im engeren Sinne, für die Oberaar zu erwähnen sind. Zwischen dem Granodiorit im Norden und dem Aaregranit im Süden schiebt sich von Osten nach Westen in zunehmender Breite eine Gneis-Schiefer-Zwischenzone z. T. weicheren Gesteins. Sie beeinflußt ebenfalls die Gliederung der umliegenden Gebirgskörper: So sind die Eintiefung des mächtigen, seit 1953 überstauten Oberaarbodens, die beiden Tröge des Trübten- und Totensees und die Einsattelung des Grimselpasses daran gebunden. Das Oberaar-Hochtal ist in seinem oberen Teile ausgefüllt von dem 5,2 km langen und 1 km breiten Oberaargletscher. Als einfacher, geradlinig fließender Talgletscher besitzt er, zwischen Scheuchzerhorn, und Oberaar- Rothorn eingebettet, eine gut ausgebildete Firnmulde.

2. GLAZIALE ÜBERFORMUNG

2.1. GLAZIALE EROSION Hoch- und späteiszeitliche Gletscherhochstände, deren Stirnmoränen in den tieferen Lagen des Oberhasli bei Innertkirchen und und noch weiter von den Alpen entfernt zu suchen sind, haben auch in unserem Gebiet unverkennbare Zeichen gesetzt: Nicht nur bildeten sich glaziale Felsformen in geradezu klassischer Weise aus, sie blieben in dem oft richtungslosen massigen Granit auch bestens erhalten. Die rund geschliffenen Buckel und Platten prägen das Landschaftsbild des Oberhasli mit zunehmender Höhe immer deutlicher. Gerade auch die Talflanken der Oberaar zeigen diese runden Formen, die zum Teil auch eindeutige Gletscherschrammen tragen, in reicher Auswahl (Abb. 5). Freilich ist es nicht ausgeschlossen, daß auch die Frostverwitterung dieser rundschalig absprengenden Gesteine zu den runden Formen beiträgt. Während im Oberhasli selbst Trogform und Schulterterrasse nur streckenweise gut ausgebildet sind, finden wir sie in den beiden Aartälern sehr deutlich ausgeprägt: Eine ununterbrochene Trogschulter zieht z. B. linksseitig im Unteraartal vom Juchlistock bis zu den Miselen am Lauteraargletscher. Sie ist auch am Südabhang des Zinggenstockes mit einer scharfen Knickung sehr schön ausgeformt und weist hier eine mittlere Terrassenhöhe von etwa 2750 m auf. Diese Verhältnisse hat auch Frey (1922, vgl. Tafel X) beschrieben: Je ein Querprofil durch das Unteraar- und Oberaartal (Zinggenstock) sind hier dargestellt und die Trogschulter ist in beiden Profilen zu erkennen.

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Der Oberaargletscher 257

Besser als im Unteraartal, das ganz im harten Grimsel-Granodiorit liegt, läßt sich die Glazialerosion als Erklärungsmöglichkeit für den breiten Talboden der Oberaar heranziehen: Gerade hier erreicht nämlich die aus einigen weicheren Gesteinen aufgebaute Gneis-Schiefer-Zwischenzone ihre größte Breite von ca. 750 m.

2.2. FLUVIOGLAZIALE ABLAGERUNGEN, SANDR

Neben der schwer abschätzbaren Erosion spielte die Akkumulation, meist von den Gletscherbächen herrührend, eine sehr wichtige Rolle. Fluvioglaziale Ablagerungen füllen die beiden Trogtäler der Unteraar und Oberaar zu breiten Schotterebenen auf. Vor ihrem Einstau 1932 (Unteraar) und 1953 (Oberaar) wurden sie von Frey (1922) beschrieben . Dem Luftbild 1947 Abb. 3, den Abb. 4 und 5 und den Beschreibungen Freys (1922) entnehmen wir, daß es sich beim Oberaarboden um eine ausgedehnte Sandr-Ebene gehandelt haben muß, die durch den Oberaarbach und seine seitlichen Zuflüsse wechselnd überschwemmt und mit neuem Material überschüttet wurde. Hier ist auch die Arbeit von H. Philipp (1912) zu erwähnen: Der "Zufall" wollte es, daß in jenen Jahren (1911) ein deutscher Geograph den Weg zum Oberaargletscher fand und hier die Entstehung eines rezenten alpinen Os beschrieb. Er kam hier zu der Vorstellung, daß die Oser nicht in sub-, sondern inglazialen Kanälen, in längsgestreckten Hohlräumen innerhalb (nicht am Grunde) des Gletschers entstünden und daß sie dann erst sekundär mit dem Schwinden des Gletschers auf den Untergrund abgesetzt würden. Dies können aber nach J. Korny (1913), E. v. Drygalsky und F. Machatschek (1942) und auch R. v. Klebelsberg (1949) nur Ausnahmefälle darstellen, verträgt sich doch die regelmäßige, ungestörte Flachschichtung der Oser nicht mit der Annahme irgendwelcher sekundärer Umlagerungen. Diese Oser wurden durch den ,,1920er"- Vorstoß, der 1928 beendet war, wahrscheinlich zerstört. Leider ist aus der Arbeit Philipps die genaue Lage der beschrie- benen Oser nicht zu eruieren, auch nicht in seinem Situationsplan Fig. 3. Schwierig ist es, anhand des zur Verfügung stehenden Bildmaterials des Oberaarbodens diese Frage zu entscheiden : Als Lage für die Oser käme das Gebiet mit dem Koordinatenmittelpunkt 662 500/155 050//2265 m in Frage. Eine Stereointerpretation der Luftbilder von 1947 (Abb. 3) ergab keine Anhaltspunkte für das von Philipp beschriebene typischste Os in Gehalt eines fast 100 m langen und stellenweise 3-4 m hohen, ziemlich scharfkantigen Kies- und Geröllrückens. Die während des Rückzuges nach 1928 im Vorfeld abgelagerte "Mittelmoräne", wie sie im Luftbild von 1947 zu erkennen ist (Koord. ca. 6622501154 950112282 rn) darf wohl nicht mit dem gesuchten Os verwechselt werden. Auch die beiden Detailpläne Nr. 7655 ( 1:5000, Aequidistanz der Höhenkurven 5 und 2,5 m) und Nr. 10655 (1:1000, Aequidistanz der Höhenkurven 2 m) der Kraft- werke Oberhasli (KWO) zeigen nähere Anhaltspunkte zwar für die abgelagerte Mittelmoräne, nicht jedoch für das von Philipp beschriebene Os. Die stereoskopische Durchmusterung der Luftbilder 1947 ergab zusätzlich bei den Koordinaten 662 850/154800//2255 m oserverdächtige Formen: In eigenartigen Schlangenlinien ziehen kleine Wälle dahin, die sich wohl schwerlich als Moräne interpretieren lassen.

2.3. GLAZIALE ABLAGERUNGEN

Hier soll der Zustand der Moränen vor dem Aufstau des Oberaarsees 1953 beschrieben werden, soweit er sich noch anhand der oben erwähnten KWO-Pläne Nr. 7655 und Nr. 10655, sowie anhand von Luftbildern und anderen Quellen und Feldbeobachtungen rekonstruieren läßt. Der Bewuchs der Moränen und ihrer Vorfelder wird im Anhang summarisch beschrieben (vgl. Abb. 1-5). Wall 1: Ein äußerster Wall 1 tritt in vielen Abbildungen deutlich zutage. Dieser meist ca. 2-3 m hohe Moränenwall ist im Vergleich zu den andern schmal und niedrig. Aus seiner durchschnittlichen Breite von etwa 5 m erweiterte er sich nur in der Gegend der ehemaligen eigentlichen .Gletscherzungenspitze auf etwa 20 m, erreichte hier auch eine maximale Höhe von knapp 5 m wenig nördlich des Durchbruches des Oberaarbaches.

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Gerade an dieser Stelle ist mit einer erhöhten Schuttdeponie durch die wohl auch damals etwa hier endende Mittelmoräne zu rechnen, vgl. Frey (1922 : 158) und H. Kinzl (1932: 330). Seitlich setzt sich der Wall 1 fort als sehr deutliche linke und weniger schön erhaltene, weil etwas verrutschte rechte Ufermoräne (Abb. 2). Im Querschnitt (Abb. 6) bei der Koordinate 662 580/155 300/ /2325 m, in Karte Abb. 2 mit G II (Grabung II) bezeichnet, zeigt dieser Wall ± stark durcheinandergeworfene Erdmassen; der Gletscher hat bei der Bildung des Walles 1 offenbar alte Böden vor sich her geschoben und zu einem kleinen Wall zusammengestaucht. Diese Böden sind, gemessen an den 14-C-Altern zweier Bodenproben knapp 10 m außerhalb des Walles 1, mehrere Jahrtausende alt: 14-C-Probe B-908 : 5100 ± 90 Jahre BP und B-907 : 6300 ± 100 Jahre BP (Oeschger, H., T. Riesen u. J. C. Lerman, 1970). Einige noch übriggebliebene, verschüttete Bodenreste, noch mehr oder weniger in situ, sind im Querschnitt ebenfalls eingetragen: Das 14-C-Alter einer Probe B-906 aus dem überschütteten A-Horizont ergab, wie wir in Kapitel 3, Quelle 2.1 sehen werden, ein (im 1- Sigma-Bereich!) etwas zu hohes Alter von 270 ± 90 Jahren BP, vgl. dazu den Kommentar von H. Oeschger in Messerli et al. ,1976: 61/62. Oberhalb der Rinne 4 z. B. (Abb. 2) jedoch schob sich der vorstoßende Gletscher in ein Blockfeld hinein; der Wall 1 besteht hier (und an wenigen anderen entsprechenden Stellen) aus lauter groben Blöcken ohne Erd- Füllmaterial dazwischen. Die Distanz vom Scheitel dieser schön geschwungenen Linie des Endmoränenwalles 1 bis zum Zungenende des Gletschers von 1966 betrug 1,8 km. Wall 2 : Ungefähr 180 m einwärts von Wall 1 aus markieren die Höhenkurven in den oben erwähnten Kraftwerk-Plänen einen Wall 2, der etwa 7 m hoch und recht breit ist und auch auf älteren Fotos gut erkennbar bleibt. Diese Stirnmoräne (Klebelsberg, 1949) setzt sich von ihrer Umgebung weniger deutlich ab als die äußerste und kontrastiert zu dieser durch sanftere Formen. Auch läßt sie sich seitlich weder am linken noch am rechten Ufer längs dieser ehemaligen großen Gletscherzunge lückenlos verfolgen. Im „großen Wang“ oberhalb Signal 2327,6 m, zwischen Rinne 3 und 4, (Abb. 2) finden wir wieder diese feinschutt- reichen Wälle, wobei hier der äußere Wall unserer Moräne 2 zuzuordnen wäre. Die Rinne 4 wird durch diesen Wall in ihrem Lauf nach Osten abgelenkt. Auch im Süden scheint er sich wenigstens stückweise fortzusetzen, wenn auch an diesem wesentlich steileren Hang seine Formen zu wenig ausgeprägt bleiben, als daß sie sich im Höhenkurvenbild der Kartengrundlagen deutlich abzeichnen würden. Der Wall mit dem Punkt 2256 m dürfte hieher zu rechnen sein. Er findet, nach den Fotos zu urteilen, noch eine kleinere Fortsetzung in Richtung Punkt 2261 m. Wall 3 : Knapp 100 m innerhalb dieses Walles 2 finden wir, wieder in der Scheitellinie des Walles 1 als Stirnmoräne am deutlichsten ausgeprägt, den 3. Wall. Auch er zeigt dieselben weichen Formen wie Wall 2 und dürfte maximal um 5-10 m hoch gewesen sein. Die südliche Fortsetzung dieser Moräne bleibt unklar. Die kleinen, in Vogelschau schlangenförmig gebogenen Wälle zwischen den Punkten 2251,2 m und 2261 m interpretiert der Verfasser nicht als Moräne, sondern als Oser, vgl. Schlußbemerkung des Kapitels 2.2. und Abb. 3. Die nördliche Fortsetzung am „großen Wang“ ist heute noch zu sehen: Nur durch ein seichtes Tälchen von Wall 2 getrennt, parallel zu diesem laufend lenkt er die kleine Rinne 3 ab, die aber mit Rinne 4 nicht in Verbindung steht. Auch er besteht aus feinem, kiesig-sandigem, noch heute oberflächlich wenig verfestigtem Material.

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Wall 4 : Nach einer ca. 475 m langen, flachen Strecke in Richtung der oben definierten Scheitellinie stoßen wir auf die Wälle 4, die offenbar so niedrig waren, daß ihre Umrisse in den Höhenkurven der erwähnten Kraftwerks-Pläne nirgend deutlich wiedergegeben sind. Sie haben auch als Stirnmoränen eine Höhe von 2 m nicht überschritten.

Abb. 3: Luftbild Vorfeld des Oberaargletschers 1947, mit den Wällen 1-4. Oberhasli/ Grimsel Flgl. 968 Aufn. Nr. 7/1732.5: Felsvorsprung Nr. 5 unterhalb Moor 1. g: Schlucht des Oberaarbaches. f: W-E gerichtete Felsrippe. d: Erosionsböschung. Vgl. 2h in Abschnitt 3.2. Aufnahme Eidgenössische Landestopographie, Bern.

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Im Bereich des 1920er Zungenendes erkennen wir zwei hintereinandergestaffelte, eher als „Kiesbänke“ anzusprechende flache (fluvio- ?) glaziale Deponien, deren Umriss 1947 (Abb. 3) wesentlich von dem in ihrer Mitte durchbrechenden Oberaarbach mitbestimmt wurde. Beim genauen Betrachten der terrestrischen Vermessungsaufnahme (Abb. 4) entdeckt man auf den hier beschriebenen flachen Kiesbänken kleine, etwa 0,5-1 m hohe, 1-2 m breite, sich scharf abhebende Wälle, die als die eigentlichen Stirnmoränen des 1920er Vorstoßes zu werten sind. (vgl. links ob der Zahl 4 in Abb. 4).

Abb. 4: Terrestrische Vermessungsaufnahme vom Löffelhorn. Station Nr. 1491, Platte Nr. 438, Aufnahmejahr 1928. Rechts am Horizont der Galenstock. 1-4: Moränenwälle 1-4. 5: Felsvorsprung Nr. 5 unterhalb Moor 1. ml: Moor 1. m2: Moor 2. G: Grabungen I und II. d: Erosionsböschung, vgl. Abb. II. Reproduziert mit Bewilligung der Eidg. Landestopographie vom 15. 9. 1975.

Einige kleine Fortsetzungen dieser Stirnmoräne 4 finden wir linksseitig des Gletschers in niederen, etwas zueinander versetzten Wällen von je ca. 1,5 m Höhe, 3 -4 m Breite und ca. 5 und mehr Metern Länge zwischen Rinne 1 und 4. Sie fallen durch ihre recht scharfen Kämme auf und bestehen aus feinkiesigem bis sandigem Material, das noch heute oberflächlich kaum verfestigt ist. Ihre Position wurde auf Luftfotos direkt im Felde festgehalten und ohne Entzerrungs- Hilfsmittel in die Karte Abb. 2 übertragen.

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Abb. 5: Gesamtansicht des Oberaarbodens. Blick gegen W, mit (v.l. n. r.) Löffelhorn, Wannenhorn, Rosshörner, Oberaar Rothorn, , Oberaarhorn, , Scheuchzerhorn, hinter und vorder Tierberg, hinter und vorder Zinggenstock. Standort des Fotografen: Trübteneggen. Foto Brügger, Meiringen. Datum: Schätzungsweise kurz vor Baubeginn der Staumauer, d. h. um 1948. Nr. 337, Negative vernichtet. Positiv aus Archiv der Kraftwerke Oberhasli. Rechts unten: Vergrößerte Reproduktion (A. Lieglein) des Gletschervorfeldes. 1-4: Moränenwälle 1-4. 5: Felsvorsprung Nr. 5 unterhalb Moor 1. 6: Felsvorsprung und Moräne, vgl. Abb. 13. a, b, c: Erosionsformen der Seitenbäche. d: Erosionsböschung. e: Lawinenreste unterhalb Löffelhorn. f: W-E-gerichtet Felsrippe. g: Schlucht des Oberaarbaches. Pfeil: Oberaar-Hütte.

DIE QUELLEN ZUR GESCHICHTE DER OBERAAR-GLETSCHERSCHWANKUNGEN

VORBEMERKUNGEN:

Wenn wir nun versuchen, die Bildung der in Abschnitt 2.3. beschriebenen Moränenwälle 1-4 zeitlich einzuweisen, müssen wir uns folgender Schwierigkeiten bewußt bleiben: 1. Die Zeit der Moränenbildung darf nicht ohne weiteres derjenigen eines markanten Gletschervorstoßes gleichgesetzt werden. Auch längere Rückzugshalte z. B. konnten die Bildung einer Stirnmoräne auslösen (vgl. z. B. Zumbühl, H., 1976): Während der von 1882 bis 1898 dauernden, fast gänzlich stationären Phase, bildete der untere Grindelwaldgletscher eine noch größtenteils erhaltene Moräne. 2. Die historischen Quellen bleiben lückenhaft, besonders, wenn ein Objekt wie der Oberaargletscher ganz „im Schatten“ des schon früh gut untersuchten Unteraargletschers lag. Nur in unregelmäßigen Abständen „verirrte“ sich einer der Glaziologen, die seit den Zeiten von Agassiz den immer wieder besuchten, in die Oberaar. Daraus ergibt sich aber auch ein Vorteil: Die zwar recht seltenen Besuche dieser Naturforscher bildeten die Grundlage für sachkundige Berichte, bei denen laienhafte Fehlbeurteilungen mehr oder weniger auszuschließen sind.

Der Oberaargletscher 263

Abb. 6: Querschnitt durch den Wall 1. Lage des Querschnittes in Karte Abb. 2 als GII (Grabung II) und in Abb. 4 als G eingetragen.

Auch müssen wir im Auge behalten, daß ganz allgemein von vorstoßenden Gletschern mehr Berichte aller Art vorliegen, daß wir aus Zeiten allgemeinen Gletscherschwundes weniger brauchbare Nachrichten erwarten dürfen. 3. Ein Vergleich mit benachbarten Gletschern ist zwar verlockend, er bringt aber oft nur Scheinargumente in die Diskussion: Auch eng benachbarte Gletscher, ja sogar Äste desselben Gletschersystems können gegensinnige Zungenänderungen ausführen. Auf deren mögliche Ursachen wies schon J. de Charpentier (1841: 27) hin, das Problem ist demnach längst bekannt. Gerade auch die beiden Aaregletscher haben sich nicht immer gleich verhalten. Ihre neuzeitlichen Maximalvorstöße liegen zeitlich etwas verschieden. Länger andauernde größere Vorstoß- und Rückzugsperioden dürften bei beiden Gletschern zu gleichsinnigem Verhalten geführt haben, wenn auch nicht unbedingt im selben Jahrzehnt. Im folgenden durchgehen wir, meist nach ihrem Publikationsdatum geordnet, die Quellen, die zum Verhalten und Stand des Oberaargletschers Konkretes aussagen. Die Quellen sind in der folgenden Weise durchnummeriert: 18. Jahrhundert: 1 a bis l c. 19. Jahrhundert: 2a bis 2r. 20. Jahrhundert: 3a bis 3h. Dieselbe Quellenbezeichnung findet sich auch in der grafischen Darstellung der Quelleninterpretation Abb. 19.

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3.1. 18. JAHRHUNDERT

1 a: Ein Aufsatz von M. A. Cappeler (1751), Stadtphysicus in Luzern, den dieser in J. G. Altmanns „Versuch einer Historischen und Physischen Beschreibung der Helvetischen Eisbergen“ 1751 veröffentlichte, trägt den Titel: „Von den Gletschern auf dem Grimselberg, und denen alldorten sich befindenden Crystall-Gruben“. Er liefert für das Grimselgebiet Seite 141 wertvolle Hinweise:

„....dass das Eis in den Tälern alle Jahre zunehme. Die angränzenden Wallisser, welche in dieser Gegend die Berge mit Vieh besetzen, beklagten sich sehr, wie das seit etwelcher Zeit die Eisberge so angewachsen und zugenommen, dass viele schöne und fette Wäyden, die sich in diesen Gegenden befunden, nun mit Eis bedecket wären, und sie auch desswegen wären gezwungen gewesen, ihre Viehe-Hütten weiter zu setzen, und ich besinne mich an einen Umstand, den sie mir erzehlet, und der dieses bekräftiget; sie zeigten mir, wie an etwelchen Orten eine grosse Anzahl von den sogenannten Lerchenbäumen gestanden, die aber von dem anruckenden Eis wären umgestossen und endlich bedecket worden.“

Schon damals wurde die Oberaaralp als einzige des heute bernischen Grimselgebietes seit mindestens 320 Jahren von Wallisern bestoßen. Die von Cappeler zitierten Walliser Hirten bezogen ihre Beschreibung somit eventuell auf die Oberaaralp. Auch wenn dem nicht so wäre: die Aussagen der Hirten bleiben trotzdem wertvoll. Wir dürfen daraus entnehmen, daß damals eine Vorstoßbewegung die Aaregletscher erfaßt hatte, die zu Hochständen führte, wie sie seit längerer Zeit zum ersten Male wieder erreicht wurden. Cappeler mußte diese Reise bald nach der im Jahre 1719 erfolgten Entdeckung der berühmten Kristallgruben am Zinggenstock NE-Hang (Koordinaten 663 370/156 750//2260 m) durch die vier Brüder Moor unternommen haben:

„...dass schon vor einer geraumen Zeit, da ich die grosse Crystallgrube an dem Grimselberg besucht....“ und: „Als ich vernommen, dass in dem Grimselberg eine grosse Crystallgrube wäre gefunden worden, in deren man eine grosse Menge von kleinen und grossen Stücken des zierlichsten Crystalles entdecket hätte, so entschlosse ich mich alsobald diese Reise zu unternehmen....“

Wir können also als Zeitpunkt der Überlieferung der Aussagen dieser Walliser Hirten an Cappeler die Jahre nach 1720 annehmen. Es ist sinnlos, sich genauer festlegen zu wollen, müssen wir doch auch bedenken, daß besagte Kristallgrube von der „Zinggischen Societet“ bis ins Jahr 1737 ausgebeutet wurde (Stalder, 1964). Es folgt aus dem allem, daß ein erster Bericht zu einem großen Vorstoß der Aaregletscher auf ein Datum vor 1720 hinweist.

1 b: Eine weitere Quelle aus dem 18. Jahrhundert stellen die Reisebeschreibungen von H.-B. de Saussure (1786) dar. Im Band 3 der Ausgabe von 1786 beschreibt er ausführlich eine Exkursion vom 10. bis 11. Juli 1783 in die Oberaar. Im Paragraphen 1700, S. 266 schreibt er beim Anblick des Oberaargletschers:

„On a fait des peintures effrayantes des abords de ce glacier; cependant rien ne m'eut été plus facile que de décendre dans une plaine caillouteuse qui me séparoit de son pied, & de remonter de là sur ce même glacier ; mais cette marche ne me promettoit rien d'interes- sant. “

Nach dem Sprachverständnis jener Zeit zu urteilen, hatte de Saussure wohl mit dem Wort „peintures“ auf bloße (mündliche ?) Beschreibungen dieses Gletschers hinweisen wollen. Jedenfalls ergaben Nachforschungen in der Bibliothèque Publique et Universitaire in Genf, wo der Nachlaß de Saussures aufbewahrt wird, keine näheren Hinweise, namentlich auch nicht die drei Manuskripte (Bleistiftnotizen, 1. Niederschrift: Notes de voyage und Reinschrift) zu den Voyages dans les Alpes.

Der Oberaargletscher 265

1783 hat der Gletscher sich eventuell soweit zurückgezogen, daß er ein ( ? ) kiesiges Vorfeld - allerdings unbekannten Ausmaßes - zurückließ. lc: Ebenfalls Ende des 18. Jahrhunderts liefen die Vorarbeiten für eine auf Kosten und Initiative von Rudolf Meyer gedruckte Karte, deren topographische Aufnahmen J. H. Weiss organisierte und besorgte. In den Rahmen dieser Vorarbeiten fiel auch das von J. M. Müller 1789 geschaffene, später in Paris verschollene Original-Relief. Nach Wolf, 1879, J. H. Graf 1883 und W. Blumer 1957 wurde mit den Vermessungen für dieses Relief 1786 begonnen. Die Karte, der das Relief als Basis diente, wurde erstmals 1797 als Spezialblatt Nr. 10 des Meyer-Weiss'schen Atlasses publiziert (Meyer 1797). Ein Teilrelief von J. H. Müller, nach W. Kreisel (1947) ebenfalls 1789 erstellt, befindet sich auch im Berner Alpinen Museum (Abb. 7, eine nicht entzerrte Senkrechtaufnahme). Die Gletscher- und Firngebiete sind in diesem, im Maßstab von etwa 1: 108.000 gehaltenen Relief weiß getönt, die Gletscherzungen heben sich deutlich ab. Nach F. Gygax (1937) ist es hier Müller trotz dem kleinen Maßstab gelungen, eine außerordentlich klare Darstellung der orographischen Verhältnisse zu erhalten.

Abb. 7: Relief von J. E. Müller 1789. Originalmaßstab etwa 1: 108.000, hier auf ca. 1: 57.000 vergrößert. Nicht entzerrte Senkrechtaufnahme. Lage der Berggipfel im Relief mit weißen Marken.

O = Oberaarhorn, Sch = Scheuchzerhorn, T = vorder Tierberg, hZ = hinter Zinggenstock, L = Löffelhorn, U = Ulricher Stock, S = groß Sidelhorn. Mit Dreiecken sind die Positionen derselben Gipfel in der verglichenen Landeskarte 1: 50.000 eingetragen. Müller hat hier offensichtlich recht genau bearbeitet, auch der Verlauf des Oberaarbaches stimmt gut mit dem modernen Kartenbild überein. Der Rand des Oberaargletschers im Relief ist durch eine schwarze, unterbrochene Linie verdeutlicht. Beleg für einen relativ niedrigen Gletscherstand. 266 K. Ammann

Vergrößert man eine Senkrechtaufnahme des Reliefs durch visuelles Anpassen eines Ausschnittes an eine moderne topographische Karte (Landeskarte 1 :50.000, Ausgabe 1947), so lassen sich die Ketten des Aargrates und jene des Zinggenstockes, die einzelnen Bergspitzen des Löffelhornes (L), des Ulricher Stockes (U) und des hintern und vorderen Zinggenstockes (hZ, vZ) und auch der Oberaarbach zwischen Relieffoto und Karte recht gut in Übereinstimmung bringen. Es wird dabei sofort auffallen, daß die Zungenspitze des Oberaar-Gletschers - falls Müller sie auch nur einigermaßen korrekt einmodellierte - etwa in den Bereich zwischen den Wällen 3 und 4, eventuell näher bei 3, zu liegen kommt: vgl. Abb. 7. Leider war es bis zur Drucklegung der Arbeit nicht möglich, den jetzigen Standort des hier interessierenden Teils des großen Schweizer-Alpen-Reliefs von J. E. Müller (1799-1806) im Maßstab von etwa 1:40.000 in Zürich ausfindig zu machen. Dieses Relief, obwohl später fertiggestellt, hätte eventuell noch mehr Informationen geliefert.

3.2. 19. JAHRHUNDERT

Naturgemäß vermehrten die besseren Verkehrsverhältnisse die Quellen, die sich direkt mit dem Oberaargletscher befassen, im 19. Jahrhundert gewaltig. Die immer aktiver werdenden Gletscher stießen auch ganz allgemein auf vermehrtes Interesse. 2a: Am 12. August 1806 zeichnete H. K. Escher von der Lindt vom kleinen Sidelhorn (2764,4 m) aus Entwürfe zu einem Panorama, dessen endgültige Tusche- und Aquarelldarstellung auch den Oberaargletscher in prachtvoller Farbigkeit und Schärfe wiedergibt (Abb. 8). Escher eröffnet damit einen schönen Reigen von Panoramadarstellungen vom kleinen Sidelhorn aus: z. B. J. R. Bühlmann, 1835 (Abb. 9); G. Studer, 1838 (Abb. 10); A. Escher, 1842; Foto J. Beck, 1884 (Abb. 15) und Foto H. Zumbühl, 1972 (Abb. 18). Die abgebildeten Ausschnitte dieser Panoramen sind alle auf ungefähr dieselbe Vergrößerung gebracht. Darin sind die folgenden Felsvorsprünge, die seitlich in das linke Ufer des Gletschers vorragen, von W nach E mit 1-5 nummeriert : Tieralpi: Nr. 1 und 2; Schafalpi westlicher Teil: Nr. 3; Großer Nollen: Nr. 4; Nr. 5: Felsvorsprung unterhalb Moor I (nur in einem Teil der Abb. sichtbar! Lage: vgl Landeskarte Abb. 1). Escher lieferte in dieser „Circularaussicht“ auch die erste bisher bekannt gewordene Bilddarstellung des Oberaargletschers. Leider ist gerade das äußerste Zungenende des Gletschers durch den unteren Bildrand (und übrigens auch durch den Vordergrund der Bäregg) gekappt, es dürfte kaum derart spitz zugelaufen sein, wie dies das Bild suggeriert. Es fallen im Vergleich mit dem Foto Abb. 18 vom selben Standort aus vor allem in den tieferen Lagen größere Abweichungen von der Wirklichkeit auf, was nicht verwundern darf: Die damaligen Panoramazeichner hatten allen Grund, in der knapp bemessenen Zeichnungszeit sich auf die Gipfelkulisse zu konzentrieren. Da auch der unterste Zungenbereich des Oberaargletschers in diese ungenau gezeichnete Zone tieferer Lagen fällt, und zudem gute Geländevergleichsmarken hier rar sind, ist es schwierig, aus dem Panorama allein und ohne Vergleich mit späteren Darstellungen auf einen bestimmten Gletscherstand zu schließen. Im Vergleich mit dem Panorama von G. Studer, 1838 (Abb. 10) jedoch zeigt sich für 1806 ein niedrigeres Niveau des linken Eisufers des Gletschers: Während im Bereich des Tieralpi am Fuße des Scheuchzerhornes die ins Eis vorspringenden Rippen 1 und 2 im Studer-Panorama von 1838 klein erscheinen und förmlich in Eis und Firn ertrinken, wirken dieselben Rippen 1 und 2 weniger stark eisbedeckt im Escher-Panorama. Allerdings müssen wir dabei berücksichtigen, daß Studer sein Panorama am 15. Juli skizzierte, Escher jedoch seines fast einen Monat später, die Schneeschmelze also damals weiter fortgeschritten sein dürfte. Auch der „große Nollen“ (Rippe Nr. 4) ragte bei hohem Gletscherstand scharfwinkelig in das linke Eisufer des Gletschers (Abb. 10 und 15), während sie bei niederem Stand nicht oder nur schwach in dieser Panoramaperspektive zur Geltung kommt (Abb. 18). Beim Panorama Eschers drängt es sich angesichts der schwach ausgeprägten Rippe Nr. 4 auf, einen relativ niederen Gletscherstand zu postulieren. Die Reisenotizen von H. K. Escher (Manuskript: Mikrofilm in Zentralbibliothek Zürich) lieferten zum Stand des Oberaargletschers keine näheren Angaben.

Der Oberaargletscher 267

Abb. 8: H. K. Escher von der Lindt 1806 Circular-Aussicht von der Kuppe des Sidelhornes am Grimsel. Ausschnitt aus dem monumentalen Vollrundpanorama vom kleinen Sidelhorn aus, aquarellierte Federzeichnung. Reproduktion H. Zumbühl, K. Ammann. Felsrippen 1-4 siehe Karte Abb. 1. Die Ansicht dokumentiert einen relativ niedrigen Gletscherstand.

2b: Im Jahre 1830 veröffentlichte F. J. Hugi (1830) die Beschreibung seiner 1828 (und 1829) durchgeführten Reisen ins Grimselgebiet. Darin hinterließ er S. 177 auch eine sehr schöne Schilderung des damals (1828) aktiven Oberaargletschers :

„Seit einiger Zeit drängt der Koloss sich weiter herab ins Tal. Gegenwärtig erweitert sich das Ende dieses Gewaltschweifes des ewigen Eismeeres, und dehnt unten fächerförmig sich aus. Seine Kraft jedoch äussert sich weniger gegen die Löffelhörner und thalabwärts, als gegen den Zinkenstock. Ueberhaupt dehnt er sich nun mehr der Breite, als der Länge nach aus. Wohl eine Viertelstunde dem Zinkenstock nach hat er bereits zwei alte Gletscherwälle zurückgeschoben, zerstört und über ihre alte Basis sich hinausgedrängt. Nun aber hat er den Berg erreicht, an dessen Fuss er mit solcher Kraft sich drängt, dass er im Andrange selben kräftig aufwühlt. Der ganzen Länge nach, da der Zinkenstock entgegen sich stämmt, treibt er nun die Erdmasse und gewaltige Felslasten wellenförmig auf. Wall über Wälle hebt sich empor, und die letzten so frisch, dass man glauben sollte, erst diese Nacht wären sie emporgestiegen. Felsen werden dabei abgebrochen oder zerrieben oder übereinander aufgestossen. Die Gewalt, welche hier die sich ausdehnende Gletschermasse ausübt, übersteigt wirklich alle Begriffe.“

11 Gletscherkunde, Bd. XII/2

268 K. Ammann

Seite 212: „Das letzte Jahr (1828) war der Oberaargletscher ausserordentlich zerrissen von wohl tausend parallelen Querschründen. Dagegen aber zeigten die oberen Firne keine Schründe. Dieses Jahr (1829) verhielt sich die Sache umgekehrt; die alten Gletscherschründe waren meist geschlossen, dagegen aber die Hochfirne scheusslich zerrissen. Nur stellenweise sah man auf dem Gletscher die alten Schründe noch. Zugleich aber hatten sich dort viele neue geworfen, welche immer die alten unter einem Winkel von 20 - 30 Graden durchschnitten.“

Den Beschreibungen F. J. Hugis entnehmen wir , daß sich damals der Oberaargletscher in einer sehr unruhigen Vorstoßphase befand. Jahrtausendealte Böden wurden durch ihn offenbar zusammengeschoben; es muß sich um einen Maximalvorstoß gehandelt haben, umsomehr, als der Gletscher nach Hugi damals zwei ältere Moränen (Wa und Wb) überfahren hatte. Diese Moränen stammten wohl aus der Zeit des Vorstoßes und nachfolgenden Rückzuges vor 1720. 2c: Von J. R. Bühlmann (1802-1890) existiert in der grafischen Sammlung der ETH Zürich eine Zeichnung des Oberaar- und Unteraargletschers, wiederum vom kleinen Sidelhorn aus, datiert mit 1. Juli 1835 (Abb. 9). Am linken Eisrand zeichnet sich der „große Nollen“ als Rippe Nr. 4 durch deutliches Vorspringen ab, es muß sich deshalb (vgl. Begründung unter Quelle 2a) um einen relativ hohen Gletscherstand gehandelt haben.

Abb. 9: Bühlmann, Johann Rudolf: Auf der Spitze des Sidelhornes, gegen den ober u. unter Aargletscher und das Ober- Finster- u. Unter Aarhorn, den 1. Juli (18)35. Die vorspringenden Felsrippen 1-5 (Lage: Karte Abb. 1) dokumentieren wieder einen relativ hohen Stand. Der Oberaargletscher 269

Einige flüchtig angedeutete Striche im Zungenende zeigen radiale Spalten, das gesamte Zungenende weist bereits die breite Tatzenform (franz. „pecten“) auf, wie dies in einigen anderen Fällen, in denen der Gletscher ebenfalls in breite Talböden vorstieß, gezeigt werden konnte (z. B. Rhonegletscher ca. 1820-1875). 2d: Als nächstes hat Gottlieb Samuel Studer im Jahre 1838 wiederum vom kleinen Sidelhorn aus ein sehr schönes, in dezenten Farben aquarelliertes Tuschfeder-Panorama geschaffen (Abb. 10). In meisterhafter Genauigkeit hielt Studer einen hohen Gletscherstand fest: Die Gegend des Tieralpi (Felsrippen 1 und 2), von Escher 1806 noch als große, zusammenhängende Fels- und Rasenpartien eingetragen, schrumpfen unter den Eismassen zu zwei kleinen, getrennten Flecken. Der große Nollen (Nr. 4) und auch der Felsvorsprung Nr. 3 (= westlicher Teil der Schafalp) ragen als scharfe Spitzen in den linken Eisrand des Gletschers. Die Tatzenform mit den Radialspalten tritt klar zutage. Anhand dieser Darstellung allein läßt sich jedoch der Gletscherstand nicht derart genau ablesen, als daß es möglich wäre, die damalige Lage des Zungenendes eindeutig, z. B. den heutigen Wällen 1 oder 2 und 3 zuzuordnen. 2e: Über die Bewegung des Oberaargletschers äußert sich dann L. Agassiz 1840 in den "Etudes" S. 235:

Abb.10: Gottlieb Samuel Studer 15.7.1838: Panorama vom Sidelhorn. Ausschnitt. Die Felsrippen 1-4 (Lage: vgl. Karte Abb.2) dokumentieren einen sehr hohen Gletscherstand. 270 K. Ammann

"Dans ce moment la plupart des glaciers que j'ai observés avancent considérablement, en particulier ceux de l'Oberland bernois. Le glacier de l'Aar s'est allongé de plus d'un quart d'heure depuis 1811; (8, cette époque, il se terminait, suivant ce que m'a assuré Jacob Leuthold près de la grotte aux cristaux du Zinkenstock.)....Il est un autre phénomène très curieux dont on ne saurait contester la réali- té, c'est que certains glaciers décroissent, tandis que d'autres augmentent, témoin le glacier supérieur de l'Aar qui diminue, tandis que le glacier inférieur continue à, s'étendre."

Um 1840 also finden wir den Oberaargletscher auf dem Rückzug, während sich der grössere, trägere Unteraargletscher noch weiter vorschiebt. Nachforschungen im Nachlass von Agassiz (Archives de l'état, Neuchâtel) ergaben für den Oberaargletscher keine weiteren Hinweise (Katalog des Nachlasses: M. Surdez, 1973) 2f: Schon für das Jahr 1841 korrigierte aber Desor (1841) dieses Bild eines sich zurückziehenden Gletschers: S. 362 schreibt er, damit z. T. wohl auch Beobachtungen von Agassiz wiedergebend :

„En deux heures, nous atteignîmes l'extrémité du glacier d'Oberaar, nous fûmes étonnés de voir que le glacier qui, l'année dernière, était resté stationnaire, participait cette année au mouvement progressif qui, depuis quel- ques années, est propre à, tous les glaciers de l'Oberland bernois. Il avait considérablement poussé ses moraines en avant, notamment sa moraine terminale et sa moraine latérale gauche; celle-ci, en empiétant sur le flanc de la vallée, en avait complètement enlevé le gazon, qui était labouré et retourné comme s'il avait été sillonné par le soc d'une charrue. Le revers de ces moraines fraîchement refoulées présentait une pente très-forte, en moyenne de 50° et plus. “

Wieder wird en détail das Vordringen des Gletschers in offenbar alte Böden beschrieben, die Parallele zu Hugis Beschreibung (2b) ist leicht zu erkennen. Desor äußert sich sogar etwas präziser: Er hält deutlich fest, daß es die Endmoräne ist, die noch vom Gletscher weiter vorgeschoben wird. Es kann sich somit nur um einen Maximalvorstoss des Gletschers handeln, wie er seit mindestens vielen Jahrhunderten nicht mehr in solchem Maße stattfand. 2g: Eine rohe Bleistift-Federskizze Arnold Eschers von 1842 dokumentiert ebenfalls einen hohen Gletscherstand (nicht abgebildet). Die Tatzenform des Zungenendes mit den Radialspalten ist mit wenigen Strichen festgehalten; am linken Gletscherrand sind jedoch die Felssporne 1-5 z. T. nicht eingetragen, damit wird eine genauere Bestimmung der Lage des Zungenendes unmöglich. 2h: Eine weitere Gesamtansicht des Oberaargletschers publizierte H. Hogard 1850 als Druckbeilage zu dem später erscheinenden Werk D. A. Dollfus-Ausset und H. Hogard (1854) (Abb. 11). Unweit der heute unter Wasser gesetzten Alphütte (Abb. 12, grosser Pfeil) dürfte sich der Glaziologe und Maler Hogard placiert haben, und am 15. August 1848 das Original-Aquarell (Standort nicht bekannt) zu entwerfen. Eine Beschreibung dieser „Planche V“ findet sich in Dollfus-Ausset (1854) p. 300:

„L'extrémité du glacier de l'Ober-Aar est entièrement bordée par une moraine frontale, formée de boue glaciaire, de blocs anguleux et arrondis, de gneiss et de granit. Elle n'offre qu'une seule coupure par laquelle s'écoule la branche principale du torrent de l'Ober-Aar qui vient se précipiter ensuite dans une étroite crevasse ouverte dans un gneiss schisteux. La moraine frontale repose sur une nappe de comblement nivelée longitudinalement et transversalement, et dont la régularité n'est interrompue que par les canaux d'écoulement des eaux sortant du glacier par la coupure ou filtrant au travers des matériaux composant la moraine. Cette nappe est le plan incliné formé par le glacier et sur lequel il s'est avancé autrefois et repose actuellement; il comble tout le bassin fermé derrière le spectateur par un des contreforts du Siedelhorn, et n'ayant issue que la crevasse dont il vient d'entre question. Hore du bassin, le glacier de l'Ober-Aar se réunissait à, celui de 'Unter-Aar, et les traces de son passage dans le vallon qu'il avait à, parcourir sont indiquées par les polis et les stries des rochers. Enfin, pendant la période de diminution, et avant de se renfermer dans les limites où il se meut aujour- d'hui, il a déposé plusieurs enceintes circulaires que nous voyons sur la gauche, à quelques centaines de mètres de son front actuel et en face de la hutte de l'Ober-Aar. Der Oberaargletscher 271

Abb.11: H. Hogard: Glacier de l’Ober-Aar. 15 août 1848, H.Hogard, Planche V. J.Büruck, d’après une aquarelle de Mr. Hogard. E. Simon, 1850. Litographié et imprimé en couleur chez E. Simon à Strasbourg 1850. Reproduktion O. Burkard. Wc: Endmoräne 1848.5: Felsvorsprung Nr. 5 unterhalb Moor 1. a, b, c: Erosionsformen der Seitenbäche. d: Erosionsböschung. e: Lawinenreste E unterhalb Löffelhorn. f: W-E-gerichtete Felsrippe. g: Schlucht des Oberaarbaches.

Ces moraines étagées, abandonnées à une époque que nous ne connaissons pas, sont plus élevées et plus larges que le bourrelet ac- tuel, dont le peu d'élévation et les faibles dimensions n'indiquent pas un long séjour du glacier sur le même point. Sur la gauche, divers cônes d'éboulement s'étalent, soit jusque sur le glacier oll ils amènent des matériaux pour les moraines latérales, soit sur la nappe de comblement ou sur les anciennes moraines frontales; nous avons ici un exemple d'un fait que l'on peut vérifier à chaque pas dans la région des glaciers, et la preuve que les dépôts d'éboulement, que les cônes de déjection des torrents anciens et récents sont toujours superposés aux dépôts erratiques ou glaciaires formant l'étage inférieur, et par conséquent le plus ancien des terrains superfi- ciels. “

Beschreibung wie Bild halten vier Wälle fest: drei äußere Wälle a, b und c und einen jüngsten, kleinen, nahe beim Gletscher liegenden, mit den eigenartigen Schuttkegeln. Man ist vorerst versucht, die drei äußeren Wälle a, b und c ohne weiteres den heutigen Wällen 1-3 gleichzusetzen, umsomehr, als die Beschreibung der „planche V“ direkt impliziert, der Gletscher habe diese während eines mehrere hundert Meter größeren Stadiums als Stirnmoräne deponiert. Betrachtet man jedoch diese drei Wälle genauer , so fallen verschiedene Unstimmigkeiten bezüglich Form und Lage auf: Die heutigen Wälle 1-3 liegen nicht so regelmäßig und eng beieinander und setzen sich nördlich des Oberaarbaches in einem flachen Vorfeld deutlich fort. Dies ist in Hogards Darstellung jedoch nicht der Fall: Der Oberaarbach ist an jener Stelle durch eine W -E. gerichtete Felsrippe (f in Abb. 3,5 und 11) vom flachen Vorfeld getrennt und hat sich bereits in die Schlucht eingefressen (g in Abb. 3, 5 und 11). Die „Wälle“ a, b und c liegen also, auch nach der Darstellung Hogards zu urteilen, eindeutig (ungefähr 300 m) östlich außerhalb des neuzeitlichen Ma-

272 K. Ammann

ximalstandes markiert durch Wall 1. Es handelt sich nicht um Stirnmoränen, sondern um Erosionsformen der Seitenbäche. Auch die Lage der Erosionsböschung d ist in allen Abbildungen (3,5 und 11) gut zu erkennen und stützt diese Bildinterpretation wesentlich. Untermauert wird diese Auslegung auch durch die passende Position der Lawinenreste e in den Abb. 11 und 5 unterhalb des Löffelhornes. Dieselbe Deutung drängt sich auch durch die Lage des Felsvorsprunges Nr. 5 auf: In Abb. 11 liegt er nahe der damaligen Gletscherzunge, heute ungefähr 100 m östlich des Walles 1 (vgl. Nr. 5 in Abb. 3 und 5). Der in Abb. 11 dargestellte Endmoränenkranz W c entspricht also dem Vorstoß von 1841. Das Eis ist bis 1848 nur um wenige Meter eingesunken und zurückgewichen. Die Schuttkegel des Moränen- kranzes (zwischen W c und e in Abb. 11) deuten an, daß unter der Moräne noch Eis lag. 2i: Für das .Jahr 1851 liegt bereits eine genauere topographische Karte vor: das Original der Dufourkarte 1:50.000 von.J. Anshelmier auf Karton gezeichnet (Abb.12). Der Topograph Anshelmier gilt nach T. Locher (1953/54) als weniger zuverlässig als etwa Lutz oder gar Jacky.

Abb.12: Dufourkarte (1:50.000): Original J. Anshelmier 1851, Massstab der Reproduktion ca. 1:31.4000. Ziffer 6: Bezeichnet Rinne 6 im Verlauf von 1851, diese etwas verstärkt eingezeichnet. Grosser Pfeil: Oberaar-Hütte. Kleiner Pfleil: Vermessungspunkt 2260 m. Position vgl. Dreieck in Karte Abb. 1. Die Karte zeigt ein Rückzugsstadium. Reproduziert mit Bewilligung der Eidg. Landestopographie vom 20.10.1975. Der Oberaargletscher 273

Locher beurteilt Anshelmier als ungenauen, aber doch speditiven Topographen. Er habe wegen seiner fehlerhaften Aufnahmen, die er in Dufours Diensten lieferte, unter Siegfried keine Anstellung mehr gefunden. Wir erkennen aber im Bereich des Oberaargletschers genügend Details, die uns die Position des Zungenendes genauer beschreiben, auch wenn Anshelmier keinen Moränenwall eintrug. Schon damals floß am Fuße des Vorderen Zinggenstockes, abgelenkt durch den äußersten Moränenwall, eine Rinne in W-E - Richtung, bevor sie dann in der Falllinie des Hanges nach S abbiegt und in den Oberaarbach mündet. Es dürfte sich um die heutige Rinne Nr. 6 handeln, die damals aber den äußersten Moränenwall noch nicht zu durchbrechen vermochte (bei h in Abb. 2 SW Moor 1), sondern vermutlich ganz dem äußersten Wall entlang floß. Diese Rinne Nr. 6 von 1851 ist in Abb. 12 originalgetreu, aber mit Tusche verstärkt nachgezogen und mit der Nr. 6 markiert. Sie mündet im Schnittpunkt der Verbindungslinie Vorder Zinggenstock - Ulricher Stock mit dem Oberaarbach in denselben. An die sem Schnittpunkt befindet sich nach der Landeskarte 1947 (Abb. 1) auch der heutige Wall 1. Auch die Distanz Oberaarhütte (großer Pfeil in Abb. 12) bis zur Mündung von Rinne 6 (1851) in den Oberaarbach unterstützt diese Lagebeurteilung: 450 m im Dufour-Original Anshelmiers, 575 m in der Landeskarte 1947. Dasselbe gilt für die Distanz Mündung Rinne 6 (1851) bis Mündung des Seitenbaches vom großen Sidelhorn beim Schluchteingang: Karte 1851: 250 m, Landeskarte 1947: 350 m. Der Vermessungspunkt 2260 m (markiert in Abb. 12 mit kleinem Pfeil) liegt 1851 direkt vor dem Gletscher und fiele heute ziemlich genau auf die Mitte des Walles 3 (markiert mit Dreieck in Abb.1). Es läßt sich aus dieser Kartenbeurteilung schließen: Der bereits 1848 für kurze Zeit laufende Rückzug hat sich fortgesetzt und hat einen Betrag von ungefähr 250-300 m erreicht. Kurz vor 1848 mußte der Gletscher einen äußersten Wall W c zurückgelassen haben, der ungefähr in der Position des heutigen Walles 1 lag. 2k: Eine nächste Bemerkung finden wir bei E. Collomb (1857:31) für das Jahr 1856:

„Le glacier du Rhône est en voie de progression, il démolit et nivelle le terrain occupé par une ancienne moraine. Les deux glaciers de l'Aar, ceux de Grindelwald et plusieurs autres, sont dans le même cas.“

Acht Jahre nach Hogards Besuch weiß Collomb also von einer Vorstoßbewegung des Oberaargletschers zu berichten. 2l: Im Jahre 1859 skizzierte Otto Fröhlicher den Oberaargletscher (Abb. 13). Der Standort des Zeichners liegt in der Verlängerung der Linie Oberaar-Rothorn-Zungenspitze des Gletschers. Diese Linie trifft den Punkt 2498,3 der „Trübteneggen“. Auch der Perspektive nach zu urteilen stand der Zeichner ungefähr auf der Höhe der „Trübteneggen“. Ungefähr vom selben Ort aus wurde die Abb. 5 aufgenommen. In der Nähe des Gletschers in Abb. 13 fällt ein Felssporn (Nr. 5) auf, der sich auch in vielen anderen Darstellungen findet: Abb. 11, 5, 18, 16, 4, 1 und 3, dort überall mit Nr. 5 markiert. Es ist die Verlängerung des Rundbuckels, der höher oben auch das Moor 1 staut. Mit „e“ in Abb. 13 markiert findet man wieder dieselben Lawinenreste, wie sie in den Abb. 11 und 15 zu sehen sind. Auch der Felssporn Nr. 6 in Abb. 13 entspricht mit der unten anschließenden Moräne schön derselben Erscheinung in Abb.5. Daraus läßt sich folgern, daß das Gletscherende 1859 (1860) durchaus wieder in der Position des heutigen Walles I liegt. Der Oberaargletscher ist also zwischen 1851 (oder wenig später) und 1859 wieder um rund 250-300 m vorgestoßen. Er hat dabei die Endmoräne W c erreicht, überschüttet und vielleicht auch etwas vorgeschoben, und er hat damit, wie wir noch sehen werden, seinen historischen Maximalstand um 1860 erreicht.

274 K. Ammann

Abb.13: Fröhlicher, Otto, Ober-Aargletscher 15. August (18) 59 (Blick vom Sidelhorn). Standort des Zeichners: Trübteneggen. Die vorspringenden Felsrippen 1-6 (Lage vgl. Karte Abb.1) zeigen bereits wieder einen hohen Gletscherstand an. Reproduktion H. Zumbühl.

Die definitive Bildung des Walles W 1 fällt somit in die Zeit um 1860. Im Querschnitt durch den Wall 1 (Abb. 6) erkennt man knapp unter der Oberfläche eine Zone dunkleren Humussandes, deren untere Begrenzung in anderen Abschnitten derselben Moräne aber nicht oder nur schwach zu erkennen ist. Es ist kaum möglich, daß während des ungefähr zehn Jahre dauernden Rückzuges sich eine derart markante Humussandschicht gebildet haben konnte, wohl aber ist eine andere Interpretation gegeben: Während die Moräne nach dem ersten Aufschieben (als W c) bis fast zur Oberfläche aus dunklem braunem Humussandmaterial bestand, wurde sie beim zweiten Aufschieben (oder Verschie- ben) von oben her aufgefrischt, was wenigstens die obere, hellere Zone erklären würde. 2m: Für die Jahre vor 1860 liefert uns R. Schatzmann (1860: 32) Nachrichten von Verschlechterungen in der Alpwirtschaft des Oberhasli:

„Die Landschaft Oberhasli befindet sich mit ihrer Alpwirtschaft in einer so ungünstigen Lage, dass bereits gegenwärtig die grössere Hälfte des Boden mit Felsen, unwirthbaren Einöden und Gletschern bedeckt ist und sie hat die traurige Aussicht vor sich, dass die Welt der Zerstörung mächtig fortschreitet, ihr fruchtbares Weideland immer mehr zerstört. Wir sind im Stande, diese rasch zunehmende Verengerung des Alpbodens sicher nachzuweisen.“

In der S. 17 gegebenen Tabelle über den „Viehstapel der Landschaft Oberhasli“ drückt wohl die abnehmende Zahl der Kühe die Verminderung guter Weideflächen am besten aus: Seit 1787 bis 1843 im Sinken begriffen, steigt sie dann rasch etwas, um gegen 1860 erneut zu fallen.

Der Oberaargletscher 275

2n: Das Original der Siegfriedkarte ist von Fridolin Becker in den Jahren 1879 und 1880 gezeichnet worden (Abb. 14). Der Wall 1 ist deutlich vom blau eingetragenen Gletscherrand abgesetzt (das Zungenende wurde vom Verfasser gestrichelt mit Tusche hervorgehoben). Der Eisrand wurde von Becker (gemessen in der Scheitellinie der Zunge) 200 m vom Wall 1 und 875 m entfernt von der Oberaarhütte eingezeichnet. Die Wälle 2 und 3 sind nicht eingetragen und dürften zu jener Zeit auch noch nicht existiert haben. Von ungefähr 1860 bis 1880 hat sich demnach der Gletscher um rund 200 m von Wall 1 und seinem historischen Maximalstand zurückgezogen. 2o: Dem ersten „Rapport“ von F.-A. Forel (et al. 1882) entnehmen wir eine Meldung von M. R. de Riedmatten: „On a dit qu'il a avancé cette année.“

Abb.14: Siegfriedkarte (1:50.000): Original der ersten Aufnahme von Fridolin Becker 1879/80. Massstab der Reproduktion ca. 1:31.400. Der Eisrand, im Original blau, hier nachträglich verstärkt durch gestrichelte Linie. Rückzugsstadium. Reproduziert mit Bewilligung der Eidg. Landestopographie vom 20. Oktober 1957. 276 K. Ammann

2p: Im zweiten „Rapport“ Forels von 1882 wird aber die Meldung unter 2o bereits wieder dementiert und ausdrücklich für 1881 ein Rückzug festgehalten. 2q:Im Juli 1884 stattete J. Beck, der bekannte Hochgebirgsfotograf, dem Grimselgebiet einen ersten Besuch ab. Vom kleinen Sidelhorn aus fotografierte er den Oberaargletscher, vgl. Abb. 15. Der Vergleich mit dem heutigen Zustand (H. Zumbühl, 1972, Abb. 18) läßt als schwach hellere Zone das Vorfeld des Gletschers zwischen dem Wall 1 und dem Eisrand von 1884 erkennen. In der Abb. 18 von 1972 ist der Gletscherstand von 1884 punktiert eingetragen. Der linke Rand des Oberaargletschers lag somit 1884 dort, wo heute die Wälle 2 und 3 stehen, diese dürften in dieser Zeit auch gebildet worden sein. Leider bietet das Original der Abb. 15 keine in neueren Aufnahmen wieder identifizierbare Geländedetails, weshalb es nicht möglich ist, nach der von W. Kick (1972) beschriebenen Methode photogrammetrisch die Lage des Zungenrandes genauer zu bestimmen. 2r: Ins eigentliche Oberaartal kehrte J. Beck 1889 zurück. Er hinterließ von dieser Wanderung zwei schöne Fotos, die „Hochgebirgsansichten“ Nr. 1097 und 1098. Davon zeichnete der Verfasser die Nr. 1098 in Tusche nach (Abb. 16), um die im alten

Abb. 15: J. Beck, 1884: Finsteraarhorn vom kleinen Sidelhorn 2766 m. Hochgebirgsansicht Nr. 819. Eine graue Zone (Vorfeld 1) vor dem Eisrand ist deutlich zu erkennen. Die Felsrippen 1-5 (Lage vgl. Karte Abb.1) belegen einen relativ hohen Gletscherstand. Der Eisrand 1884 ist in Foto Abb.18 als punktierte Linie eingetragen. Der Oberaargletscher 277

Abb. 16: J. Heck 1889: Oberaarhütte, Gletscher, Joch und Horn, 2260 m. Hochgebirgsansicht Nr. 1098. Tusche- Umzeichnung durch den Verfasser. Felsrippen 3 u. 4: Lage vgl. Karte Abb. 1.

Abzug zwar noch erkennbaren, doch im Druck schwierig reproduzierbaren Details zu verdeutlichen. Auf dem Originalabzug erkennt man deutlich den Wall 1 und den Wall 2, vielleicht auch den Wall 3, der eventuell gerade in Bildung begriffen ist. Das Zungenende lag noch 1889 recht nahe an den Wällen 2 und 3, am linken Ufer erkennt man jedoch, daß mindestens der Wall 2 mit seiner höchsten Kuppe das Eisniveau schon deutlich überragt, dessen Bildung demnach mindestens großteils abgeschlossen sein mußte. Diese letzte Aussage gilt nur unter der Voraussetzung, daß der Gletscher nach 1889 bis in die 1920er Jahre keinen größeren Vorstoß mehr unternommen hat. Es fehlen bis ca. 1905 und dann wieder bis 1914/15 verläßliche Angaben zu einem Stand des Oberaargletschers.

3.3. DAS 20. JAHRHUNDERT

3a: Eine weitere Eintragung in die "Moränenchronik" haben wir F. Nußbaum (1925: 39) zu verdanken: „Vor etwa zwei Jahrzehnten endete der Gletscher unweit des Punktes 2243 m (des Siegfriedblattes) ; heute liegt sein Ende wohl 800 m oberhalb dieses Punktes; zwei gut ausgesprochene, hufeisenförmig gebogene und in der Mitte von der Oberaar durchbrochene Moränenwälle erheben sich aus der breiten, von flach abgelagertem Schutt gebildeten Talebene. Auch an Mächtigkeit hat der Gletscher bedeutend abgenommen; eine frische Schliffzone, die sich am Fuß der Felswände entlang zieht, läßt eine seit der Mitte des letzten Jahrhunderts eingetretene beträchtliche Abnahme deutlich erkennen.“ Damit wäre die Lage des Zungenendes um die Zeit von 1905 ungefähr festgehalten. Der Punkt 2243 m des Siegfriedblattes liegt bei 663 000/155 150, vgl. auch Karte Abb. 2 und Abb. 14 und 17. 3b: A. Hefti zeichnete 1914 und 1915 Nachträge zum Siegfriedatlas (Abb. 17). Der Gletscher hat sich vom Wall 1 um 600 m zurückgezogen, er hat die Wälle 2 und 3 zurückgelassen und setzt wohl eben an, die Wälle 4 zu bilden.

278 K. Ammann

3c: Eine zweite Beobachtung im 20. Jahrhundert zu den Moränen der Oberaar trägt E. Frey (1922: 158) aus dem Jahre 1916 bei:

„Die grosse Endmoräne, welche das innere Schotterfeld umfasst, ist etwa 5 m hoch, 20 m breit und besteht aus wenig grossen Blöcken, viel Feinschutt und Erde; Material der Schieferzone, die schon oft erwähnt wurde. Trotz 10 Tage langer Trockenheit (29. Juli bis 8. August 1916) war der Schutt in 2 cm Tiefe noch feucht.“

Dies dürfte die genaueste Beschreibung des heute unter Wasser gesetzten Teiles des Walles 1 sein. „Am 7.8. 1916 notierte ich am Oberaarbach zwischen dem Gletschertor und der 500 m entfernten ersten größeren Endmoräne nach einem neuen Ausbruch des Gletschers, der 1914 erfolgt sein mochte...“ (E. Frey ,1922: 159). 3d: Dem 41. „Rapport“ von P.-L. Mercanton (1921) läßt sich die einfache Angabe einer Vorstoßbewegung des Oberaargletschers für 1920 entnehmen. 3e: Im 42. „Rapport“ von Mercanton (1922) ist folgende Bemerkung des Oberaar-Hüttenwartes überliefert: Für 1920 leicht progressiv und 4 m Rückzug für 1921. Im letzteren Jahr so spaltenreich wie seit 17 Jahren nie mehr.

Abb. 17: Siegfriedatlas (1: 50.000) : Original des Nachtrages von A. Hefti 1914/15. 1,2,3 : Wälle W1 (um 1860), W2 und W3 um 1890. Zwischen den Wällen 2 und 3: P. 2243 m. Maßstab der Reproduktion: ca. 1: 31.400. Reproduziert mit Bewilligung der Eidg. Landestopographie vom 20. Oktober 1975. Der Oberaargletscher 279

3f: Der 34. „Rapport“ von Mercanton (1923) spricht von einem eventuellen Rückzug des Gletschers für das Jahr 1922. Auch ist dort ein Bild des Gletschers abgedruckt, vom selben Autor am 29. Juli 1922 aufgenommen. 3g: Im Jahre 1926 beginnt die genaue Meßreihe für das Zungenende, die das Vermessungsbüro Flotron, Meiringen, im Auftrag der Kraftwerke Oberhasli seit 1926 Jahr für Jahr ausführt. Seit 1969 wird das Zungenende nicht mehr durch trigonometrische Züge, sondern luftfotogrammetrisch vermessen (vgl. die in der Karte Abb. 2 eingezeichneten ausgewählten Rückzugsstände). 1928 registrierte man sein letztes winziges Vorrücken von 1/5 m, nachdem schon im Vorjahr ein Rückzug von fast 15 m stattgefunden hatte. Knapp außerhalb der Linie 1926 hinterließ der Gletscher den Wall 4. Seit 1930 hat er sich bis zum Aufstau des Oberaarsees 1953 um etwa 450 m zurückgezogen. Ab 1953 geriet dann das Zungenende von einer gewissen Stauhöhe an unter Wasser, was sein beschleunigtes Abschmelzen bewirkte. 3h: Auch H. Kinzl (1932: 329), beschreibt den Oberaargletscher und seine Moränen kurz, aber inhaltsreich:

„Der höchste Gletscherstand wird durch einen geschlossenen Wall bezeichnet, der auf der nördlichen Talseite ziemlich hoch auf das Gehänge hinaufzieht. Die nicht sehr große Moräne grenzt hier an eine geschlossene Rasendecke an und ist daher auch selbst schon gut bewachsen. Auf dem Talboden selbst ist der Wall beträchtlich größer, aber trotz seiner Zusammensetzung aus feinerem Grundmoränenmaterial nur spärlich bewachsen, da er an pflanzenarme fluvioglaziale Aufschüttungen grenzt. Etwas über 100 m innerhalb dieses Moränenbogens, der nach seinem Pflanzenkleide dem 19. Jahrhundert angehören muß, sind auf der linken Seite des Gletschers noch mehrere jüngere Stirnmoränen vorhanden.“

Abb. 18: H. Zumbüh11972: Blick vom kleinen Sidelhorn. Die Felsrippen 1-4 dokumentieren einen sehr niedrigen Gletscherstand, sie springen nicht mehr ins Eis vor. Mit ausgezogenem dickem Strich markiert: Postglazialer Maxi- malstand um 1860. Punktiert : Stand 1884, vgl. Abb. 15. O-R = Oberaar-Rothorn, O = Oberaarhorn, F = Finsteraarhorn, Sch = Scheuchzerhorn, h. v. T. = hinter, vorder Tierberg, h. Z. = hinter Zinggenstock, Z. L. = Zinggenlücke. 280 K. Ammann

Sicher trifft Kinzl das richtige Alter für den Wall 1 und reflektiert auch über den unterschiedlichen Besiedlungszustand dieses Walles. Anhangweise sei erwähnt, daß sich die bisher angeführten brauchbaren Quellen aus einem grösseren gesichteten Material herauskristallisierten: So konnten verschiedene Quellen nicht oder noch nicht zur genaueren Auswertung herangezogen werden, weil sie entweder zu vage oder vorläufig zu wenig genau datiert sind. Drei Beispiele seien angeführt:1. F. W . Delkeskamp (1794-1872) schuf 1830-1835 ( ? ) neun Blätter eines „Malerischen Reliefs des klassischen Bodens der Schweiz“. Nach der Natur aufgenommen, gezeichnet und radiert von F. W. D. In Aquatinta vollendet von Franz Hegi und J. G. Spörlin. Durch die schwierige Vogelschauperspektive etwas verzerrt, ist der Oberaargletscher übertrieben gross gezeichnet. Nähme man die gestochen scharfe Darstellung des Oberaargletschers für richtig, hätte er damals ein Stadium erreicht, das die Zungenspitze weit östlich über den Fuß des grossen Sidelhornes hinausgeführt hätte. Dagegen sprechen aber schon die geomorphologischen Befunde. Zahlreiche Originalskizzen zu diesem Werk und vor allem zu einer späteren, unvollendet gebliebenen Ausgabe eines „Malerischen Reliefs der Schweizer- und angrenzenden Alpen“ befinden sich in Privatsammlungen in Bern und in St. Gallen, es fanden sich aber hier wie dort keine Darstellungen des Oberaargletschers. 2. Johann Rudolf Dill (1808-1848) hinterliess ein lithographiertes, undatiertes Panorama vom kleinen Sidelhorn aus. Es dürfte schätzungsweise einen sehr hohen Gletscherstand wiedergeben und somit aus den 1840er Jahren stammen (Kartensammlung der Zentralbibliothek Zürich). 3. Franz Schmid (1796-1851) zeichnete ebenfalls vom kleinen Sidelhorn aus ein Panorama, von dem undatierte, handkolorierte und nichtkolorierte Lithographien existieren. Dieser bedeutende Panoramist betonte stark die Vogelschauperspektive, dadurch wirkt der Oberaargletscher langgestreckt und mächtig. Schmid dürfte aber, auch wenn man die perspektivische Übertreibung in Rechnung stellt, dennoch ein grosses Stadium des Oberaargletschers festgehalten haben, eventuell markierte er durch eine Doppellinie ein kleines Gletschervorfeld, was auf einen bereits erfolgten Rückzug nach dem Vorstoss um 1840 hindeuten würde (Bibliothek des SAC Bern und Zentralbibliothek Zürich). VgI. auch A. Heim (1915) und Maurer (1915).

4. ZUSAMMENFASSUNG DER BISHER BEKANNTGEWORDENEN HISTORISCHEN SCHWANKUNGEN DES OBERAARGLETSCHERS

Vgl. dazu die Tabelle Abb. 19, in der die Interpretation der Quellen aus Kapitel 3 grafisch zusammengefasst wurden: vor 1720 seit mindestens einigen Jahrhunderten wenigstens in seiner Endphase Maximal vortoss ( ? ). Höchstens bis etwa zu den heutigen Wällen 3 (ev. bis 2) reichend.Vermutlich Bildung der Wälle Wa und Wb. ? bis 1783 bis ? Rückzug unbekannten Ausmaßes ? 1786-1789 relativ niedriger Gletscherstand: Zungenende im Bereich zwischen den heutigen Wällen 4 und 3, eventuell näher 3 1806 relativ niedriger Gletscherstand ? bis 1828/29 bis (ununterbrochene ?) Vorstoßperiode. Spätestens einige 1835 bis 1838/39 Jahre vor 1828 Maximalvorstoß seit längerer Zeit. Vorläufiger Halt des Vorstoßes 1839/40. Einige Jahre vor 1828: Zerstörung der Wälle Wa und Wb.

Der Oberaargletscher 281

1840 Kurzer Rückzug oder stationäres Verhalten. ab 1841 bis vor 1848 Weiterer Maximalvorstoß seit längerer Zeit. Bildung des Walles Wc. kurz vor 1848 bis nach 1851 Rückzug um 250-300 m nach 1851 bis um 1860 Letzter Maximalvorstoß in historischer Zeit. Bildung des Walles W 1 oder Auffrischung des Walles W c. nach 1860, 1878/79 bis vor Rückzug um rund 200 m. Um 1889/90 Bildung der Wälle 2 und 3 nach 1884 –1889 Rückzugshalt oder (kleinem ?) Vorstoß um 1890. nach 1890 bis vor 1920 Rückzug unbekannten Ausmaßes oder Stillstand und dann Rückzug um ungefähr 600 m oder etwas mehr . ca. ab 1915 bis 1920 Vorstoß, 1920 nur leicht progressiv. Bildung des Walles 4 ? 1921, ev. auch 1922 Rückzug 4m 1921,für 1922 unsicher. Bildung des Walles 4 ? 1927 Rückzug um 15 m. 1928 Letzter kleiner „Vorstoß“ um + 0,15 m, d. h. stationär. ab 1929 bis 1953 Rückzug um etwa 450 m. ab 1953 Beschleunigter Rückzug wegen Abschmelzen durch künstlichen Stausee.

5. DAS ALTER DER MORÄNENWÄLLE 1-4

Aufgrund der in Kapitel 3 erwähnten Quellen und aufgrund der in Kapitel 4 zusätzlich gezogenen Schlußfolgerungen läßt sich das Alter der Moränenwälle ± genau angeben: Wall 1: Bildung um 1860, wahrscheinlich Abschluß der Wallbildung wenige Jahre danach. Wälle 2 und 3: Bildung um 1890. Es gelingt vorläufig nicht, die Bildungszeiten für die Wälle W 2 und W 3 getrennt anzugeben. Sicher war die Bildung von W 2 1889 schon zur Hauptsache abgeschlossen, eventuell auch jene von W 3. Wall 4: Bildung um 1920. Zur Zeit der ersten genaueren Vermessung 1926 lag das Zungenende schon deutlich innerhalb von W 4 (Abb. 4). 6. DAS ALTER DER VORFELDER 1-3 ZWISCHEN DEN MORÄNENWÄLLEN Vorfeld 1 (zwischen W 1 und W 2) : Rechnet man mit einem für das ganze Vorfeld 1 rasch erfolgten Eisrückzug nach dem historischen Maximalvorstoß um 1860, läßt sich das Alter des Vorfeldes 1 (bezogen auf das Datum des Erstellens der Vegetationskarte der Vorfelder : Abschluß 1973) mit ungefähr 110 Jahren angeben (maximal 115, minimal 98 Jahre).

282 K. Ammann

Der Oberaargletscher 283

Vorfeld 2 (zwischen W 3 und W 4) : Auch das Alter des Vorfeldes 2 läßt sich nur recht unbestimmt festlegen. Zu den ungenauen Altersangaben für die Wälle W 2 und W 3 kommt hinzu, daß wir nichts Präziseres über den anschließend erfolgten Rückzug wissen. Der Gletscher kann sich also z. B. sehr lange, d. h. bis gegen die Jahrhundertwende, in der Nähe des Walles 3 gehalten haben. Erwägenswert ist u. a. aber auch ein anderer Schwankungsverlauf: Sofortiger Rückzug nach der Bildung des Walles 3 und damit Freigabe des ganzen Vorfeldes 2 kurz nach 1889. Vgl. auch die Darstellung in Anhang 7.1.2., wonach der Bewuchs 1970-1973 der Vorfelder 2 und 3 nur relativ geringe Unterschiede aufweist. Dies könnte darauf hindeuten, daß eher die oben erwähnte erste Version ( oder auch ein Mittelding beider) des Rückzugsverlaufes zu bevorzugen wäre, daß der Gletscher also längere Zeit in der Nähe des Walles 3 ± stationär blieb und sich erst relativ spät zurückzog, um dann um 1920 wiederum leicht vorzustoßen. Das Alter des gesamten Vorfeldes 2 kann deshalb kaum genauer als auf 75-90 Jahre geschätzt werden. Der Vegetationsvergleich zwischen den Vorfeldern 2 und 3 legt es nahe, eher an ein kleineres Alter (um 75-80 Jahre) zu denken. Vorfeld 3: Der größte Teil des Vorfeldes 3 wurde erst nach dem letzten kleinen Zwischenhalt 1928 freigegeben. Die Gletschervermessungen belegen eine ± konstante Rückzugsgeschwindigkeit von ca. 17,5 m pro Jahr im Durchschnitt (größere Abweichungen: 1931: -4,5 m, 1933: -31 m, 1941: -7 m, 1952: -36 m). Ausgewählte Stadien sind in der Karte Abb. 2 für den linken Gletscherrand eingetragen. Hier ist allerdings wegen der oft starken Schuttbedeckung des Gletschers (Mittelmoränen, Abb. 18) mit größeren Abweichungen im Erfassen des eigentlichen Eisrandes zu rechnen. Die ältesten Flächen dieses Vorfeldes sind deshalb seit ca. 50 Jahren eisfrei, weitere Altersangaben für gletschernähere Gesamt-Flächen dieses Vorfeldes 3 erübrigen sich angesichts des ± kontinuierlichen Rückzuges, vgl. auch Karte Abb. 2.

7. ANHANG

Wie in der Einleitung bereits erwähnt, sollen hier die weiteren Etappen, wie sie zur Erarbeitung des Forschungszieles (Veränderungen alpiner Pflanzengesellschaften) notwendig waren, kurz skizziert werden. Eine ausführliche Darstellung der nun folgenden Kapitel (7.1. heutige Vegetation, 7.2. Pollenmorphologie der Grimselflora, 7.3. Oberflächen- Pollenspektren und Pollenanalysen in alpinen Böden der Oberaar) wird an anderer Stelle erfolgen, hier sollen kurz die wichtigsten bisher vorliegenden Resultate zusammengefaßt werden. Vgl. auch K. Ammann (1972, 1975).

7.1. DIE HEUTIGE VEGETATION

Seit 1953 liegt der größte Teil des Oberaarbodens und damit auch der größte Teil der Vorfelder 1-3 unter Wasser. Unter Weglassung des südlichen Uferhanges bleibt deshalb für die Beschreibung der Vegetation der unteren alpinen Stufe (auf die wir uns hier beschränken wollen) nur der relativ schmale Streifen der nördlichen Uferpartie des Stausees längs des heutigen Gletscherweges: Verzichten wir auf die Nennung vieler Einzelarten, so bietet sich in der Abfolge, ausgehend von der Staumauer gegen den Gletscher hin, das folgende generalisierte Bild von Pflanzengesellschaften: 7.1.1. Strecke Staumauer - Block bei P. 2317 m – Wall 1: Jahrtausendealte Rasen- und Hangmoor-Gesellschaften der unteren alpinen Stufe: Verarmte Bestände der Wacholder-Bärentrauben-Gesellschaft (Junipero-Arctostaphyletum ) besiedeln fleckenweise Buckel und Gratstellen im ca. 30-40° geneigten Hang. Nur in den tiefsten Gunstlagen des südexponierten Zinggenstock- Fußes WNW der Staumauer, unterstützt durch das reichere Nährstoffangebot des schneller verwitternden Gesteins der Gneis-Schiefer-Zwischenzone vermag diese Gesellschaft zu bestehen.

12 Gletscherkunde, Bd. XII/2

284 K. Ammann

Sie bildet gleichsam eine alpine Parallele zum Arvenwald der „sonnigen Aar“ am Grimselsee. In größeren Flächen dazwischen dominiert eine artenreiche alpine Borstgrasmatte mit vorherrschender Horstsegge, deren Artenbestand auf das Nardetum alpigenum caricetosum sempervirentis von Braun-Blanquet hinweist. Sehr reiche, hochgrasige, eher rotschwingelbeherrschte „Wiesen“ auf tiefgründigen, feinerdereichen Humussilikatböden passen schön in das von Lüdi (1921) aus dem Lauterbrunnental beschriebene Festucetum rubrae commutatae. An weniger stark geneigten bis flachen Stellen und sanft gewölbten Kuppen (z. B. Kuppe S vor den Mooren 1 und 2) zeigt im Herbst das typische Graugrün den Krummseggenrasen (Caricetum curvulae) an. Zahlreiche Wasserrinnen (besonders vom Block bei P. 2317 m an westwärts) durchziehen diese trockeneren Rasen. Einige moosreiche Quellflur-Typen sind ± großflächig ausgebildet. Zwischen den eigentlichen Quellfluren und den trockeneren Rasengesellschaften säumt die Rinnen oft ein hochwüchsiger Bestand mit den beiden dominierenden Arten Rasenschmiele und Alpen-Kratzdistel. Verbreitern sich die Rinnen stark, herrschen wieder mehr die Cyperaceen: Der Haarbinsensumpf (Caricetum fuscae trichophoretosum) siedelt z. B. am Hang ob der Grabung GI (ob Rinne 5) recht großflächig und bildete über Jahrtausende weg terrestrische Torfdecken. An schwächer geneigten Stellen (z. B. N-Ufer des Moores 1 und in der Kehle hinter dem Wall 1) markieren die weißen Flecken des schmalblättrigen Wollgrases den eigentlichen Braunseggensumpf (Caricetum fuscae caricetosum fuscae). Im Moor 1 fällt uns ein verarmtes Schnabelseggenried (Caricetum rostratae) auf, das teilweise von dem pittoresken alpinen Kopf-Wollgras-sumpf (Eriophoretum scheuchzeri) gesäumt ist. Flachgründigere, steinige, schwach wasserdurchrieselte Stellen besiedelt die Eisseggenflur (Caricetum frigidae), u. a. begleitet von vielen Quellflur-Moosen.Sehr verbreitet und oft kleinfleckig eingestreut findet man auch die niedrigen Teppiche der Schneetälchen (Salicion herbaceae). Besonders schön sind sie z. B. südlich des Moores 1 ausgebildet: Von den Widertonmoosrasen, den eigentlichen Krautweidenrasen und den Stinkseggenrasen findet man hier große Bestände; sie sind oft eng mit dem Krummseggenrasen verzahnt. Große Flächen nimmt auch der Blockschuttbewuchs mit dem dominierenden, herdenweise wachsenden Schraderschen Straußgras (Agrostidetum schraderianae) ein.

7.1.2. Strecke vom Wall 1 bis zum heutigen Gletscherende: Pioniervegetation junger Gletschervorfelder . Unvermittelt ändert sich das Vegetationsbild innerhalb des Walles 1: Es fällt z. B. auf, daß die alpinen Weiden (die Schweizer Weide, .Salix helvetica, überwiegt bei weitem) fast nur innerhalb des Walles 1 stocken. Im Vorfeld 1 (etwa 110 Jahre) breiten sich schon initiale Borstgrasmatten, durchsetzt mit einigen Pionieren, aus. In Rinnennähe haben weite initiale Eisseggenfluren Fuß gefaßt und die Kiesweidenröschen-Flur (Epilobietum fleischeri) ist vielerorts verarmt und überläßt den Platz den Rasengesellschaften. Trotz gründlichen Suchens wurde nirgends die Krummsegge gefunden. Im Vorfeld 2 (etwa 75-90 Jahre) herrscht die Kiesweidenröschen-Flur (Epilobietum fleischeri) fast allein. Nur noch kleine, initiale Flecken lockerer Borstgrasmatten und lockerer Rotschwingelrasen halten sich an günstigeren Stellen. Wie schon im Vorfeld 1 (und auch im Vorfeld 3) siedeln längs der durch die Wälle gebrochenen Rinnen 1-5 Quellflurarten und auch erste Vertreter der Eisseggenflur und der Rasenschmielen- Alpenkratzdistel-Säume. An ganz wenigen Stellen stellt sich auch erstmals die Krautweide samt einigen charakteristischen Begleitern ein. Im Vorfeld 3 (etwa 50 Jahre und jünger, ca. ab Rinne 1) finden wir nur noch die zunehmend lockerer werdende Kies- Weidenröschenflur (Epilobietum fleischeri). Sie verarmt gegen die jüngsten, erst vor wenigen Jahren freigegebenen Flächen zu immer mehr und reduziert sich auf einige wenige besonders schnell Fuß fassende Blütenpflanzen und Moose. Eine Vegetationskarte (Original 1:600) des Gebietes vom großen Block bei P. 2317 m bis zum Gletscherende ist in Druckvorbereitung (vgl. M. Winiger 1973, Abb. 2: Ein kleiner Ausschnitt aus der Karte, schräg durchziehend: Wall 1). In der Tabelle Abb. 19 ist, direkt aus dieser Vegetationskarte herausgelesen, die Verteilung der Pflanzengesellschaften in den Vorfeldern 1 - 3 grafisch dargestellt. Die vorkommenden Pflanzengesellschaften sind nach ihrem ersten Auftreten geordnet, es ergibt sich so eine „Sukzessionsreihe“, die es allerdings zu diskutieren gilt: Einige hier aufgezeichnete Pflanzengesellschaften wie die Rasenschmielen-Alpenkratzdistel-Bestände, die initiale Eisseggenflur, der alpine Kopf-Wollgrassumpf und der Braunseggensumpf sind an feuchte, wasserdurchrieselte Spezialstandorte gebunden, wie sie gerade in den Vorfeldern 2-3 nicht so häufig sind. Der Oberaargletscher 285

Die Rinnen 1-5 durchbrechen in der Hang-Falllinie die Moränenwälle. Entlang dieser Rinnen finden wir dann von oben direkt herabgeschwemmt schon in ganz jungen Besiedlungsflächen Feuchtgesellschaften wie z. B. die Rasenschmielen- Alpenkratzdistel-Bestände, die ebenso gut längs Bächen außerhalb des Walles 1 in jahrtausendealter Vegetation zu finden sind. Bei den weniger an stark fließende Rinnen gebundenen Feuchtgesellschaften ergibt sich wohl ein eher zuverlässigeres Bild der Besiedlungsvorgänge, wie wir dies vor allem von den Pflanzengesellschaften trockeneren Untergrunds (Kies- Weidenröschenflur , Blockschuttbewuchs mit Schraderschem Straußgras und initiale Borst- grasmatten) erwarten dürfen. Die so erhaltene Sukzessionsreihe, paßt gut in die z. B. von W. Lüdi 1921, E. Frey 1922 entwickelten Vorstellungen: Kies-Weidenröschenflur -Blockschuttbewuchs mit Schraderschem Straußgras - alpine Quellflur mit Bryum schleicheri - Rasenschmielen-Alpenkratzdistel-Bestände - initiale Eisseggenflur - alpine Urgesteins-Schneetälchen - alpiner Kopfwollgrassumpf - Braunseggensumpf. Reife Borstgrasmatten (Horstseggenbeherrscht) und reife Krummseggenrasen finden wir nur außerhalb des Walles 1. Die Besiedlungszeit vor etwa 110 Jahren hat zu ihrer Bildung innerhalb von W 1 nicht ausgereicht.

7.2. POLLENMORPHOLOGISCHE VORSTUDIEN, METHODIK DER ANALYSEN

Das ganze Grimselpaßgebiet, insbesondere auch das Gletscherhochtal der Oberaar liegt im Aarmassiv eingebettet (vgl. 2.1.) und beherbergt deshalb eine alpine und subalpine typische Urgesteinsflora. In der Bestimmung des Pollens vor allem der entomophilen Blütenpflanzen war es deshalb möglich, eine ganze Reihe von kalksteten und kalkliebenden Arten, auch Arten der kollinen und montanen Stufe von vornherein auszuschließen. Eine unentbehrliche Grundlage bildete das lückenlose rezentpollenmorphologische Prüfen der im Grimselgebiet vorkommenden Arten. Eine große Hilfe war dabei die seit Jahrzehnten sorgfältig zusammengetragene Rezentpollensammlung des Botanischen Institutes in Bem. Die Feinunterscheidungen erheischten eine möglichst sichere Merkmalsbeurteilung. Es war deshalb nötig, durch viele Neuaufbereitungen den Stand der Rezentsammlung auf zwei bis vier Provenienzen zu bringen. In etlichen Fällen brachte auch der Phasenkontrast in der mikroskopischen Abbildung feinster Unterscheidungsmerkmale, wie z. B. Columellenmuster, größere Klarheit; in einer Kartei wurden Photos solcher Details in 2000facher Vergrößerung von einem Großteil der Arten zusammengestellt. Zusätzlich konnten die Merkmalsanalysen schon bestehender Schlüssel (Caryophyllaceae, Tubuliflorae, Umbelliferae), wie sie von Welten 1963/64 erarbeitet wurden und in Form von unpublizierten Randlochkartenschlüsseln am Botanischen Institut in Bern aufliegen, ausgenutzt werden. Der gute Erhaltungszustand besonders in den terrestrischen Torfen erlaubte nun unter Ausnutzung aller Hilfsmittel eine Unterscheidung von gerade zwei Dritteln der etwa 180 im engeren Untersuchungsgebiet vorkommenden Arten auch im fossilen Zustand. Zieht man von diesen 180 Arten noch alle fossil erfahrungsgemäß stark unterrepräsentierten Arten, wie z. B. diejenigen der Familien Juncaceae und Orchidaceae, dazu noch die großen, nicht weiter unterschiedenen Gruppen, wie Carex-Typ, Poa-Festuca-Typ, ab, so ergibt sich sogar ein Satz von über 80% nachgewiesener und unterschiedener Arten (Fernflugbestimmung nicht eingeschlossen). Es seien aber die Schwierigkeiten bei den Einzelkorn-Bestimmungen nicht verschwiegen. In stark verschmutzten Präparaten z. B. ließ sich mit Phasenkontrast nur schlecht arbeiten, besonders dann, wenn viele „Phasenobjekte“, wie z. B. horizontal gelagerte, flache Gesteinssplitter vorlagen. Mit Flußsäure ließ sich hier Remedur schaffen, man handelt damit aber eine Schrumpfung der Pollen ein, die allerdings teilweise rückgängig gemacht werden kann durch eine etwa halbstündige Nachbehandlung mit heißer KOH, was aber auch wieder gewisse Nachteile mit sich bringt. Durchschnittlich wurden pro Präparat und Horizont 1100 Körner im Mikroskop voll gezählt mit Objektiv 100x in Anisolimmersion, dazu etwa 1000 weitere Körner mit Objektiv 25x auf Neuheiten hin durchgemustert. (Um eine wechselhafte Interpretation kritischer Unterscheidungsmerkmale möglichst zu vermeiden, wurden z. B. die Cyperaceengattungen, Gramineengattungen und auch die Pinus-Arten gesondert in einem Zug durch alle Profilhorizonte analysiert.) Es liessen sich aber trotz aller Bemühungen die Bestimmungsunsicherheiten nicht eliminieren. Einzelpollenfunde schwierig bestimmbarer Arten dürfen deshalb nicht überinterpretiert werden. 286 K. Ammann

7.3. ERSTE RESULTATE DER POLLENANALYSEN

Die nachstehenden zusammenfassenden Aussagen haben nur provisorischen Charakter aus den folgenden Gründen : 1. Dieser Kommentar beruht auf der Analyse nur zweier Profile, die von zwei Standorten stammen, die mit den im Gebiet größten Vegetationsflächen der Borstgras- Horstseggen- und Krummseggenrasen weder floristisch noch ökologisch viel gemeinsam haben: Das Profil 1 stammt aus dem Verlandungsmoor 1 mit seinem Schnabelseggenried, das Profil 2 wurde der Grabung GI entnommen, die durch die Torfschichten eines Haarbinsensumpfes zieht; es liegt knapp außerhalb des Walles 1. (Lage der Profile: Karte Abb. 2) 2. Eine hilfreiche Beurteilungsgrundlage der Pollendiagramme steht vorläufig noch auf schmaler Basis: Noch sind nur einige wenige rezente Pollenspektren der wichtigsten Pflanzengesellschaften untersucht. Zusätzliche Analysen, wie sie vor allem in den Transsekten T 1 (quer durch Wall 1) und T2 (quer durch das Moor 1) weiterzuführen wären, stehen noch aus. Immerhin scheint festzustehen, daß sich die Pollenspektren der Pioniervegetation innerhalb, gegenüber den geschlossenen alpinen Rasen außerhalb des Walles 1 gut unterscheiden lassen dank einzelner Krautpollentypen und auch dank großer Unterschiede in der präparierbaren Pollenmenge. Allfällige Pionierphasen müßten auch fossil mit diesen zwei erwähnten Kriterien erfaßbar sein. Allerdings müssen wir im Auge behalten (vgl. 7.1.) daß eine Wiederbesiedlung mit ± dichtem Rasenschluß u. U. schon in recht kurzen Zeit von wenigen Jahrzehnten erfolgen kann. Wir dürfen deshalb nicht erwarten, daß die eigentliche Phase der ersten Besiedlung mit den vielen charakteristischen Pionierarten stratigraphisch und pollenanalytisch in jedem Falle erfaßbar sein muß. (Die Zuwachsraten können u. U. in 100 Jahren nur wenige mm betragen, der Dichte der Probeentnahme sind methodische Grenzen gesetzt !). Der sich in beiden Profilen nur spurenhaft in Promillen und wenigen Prozenten abzeichnende Fernflug (z. B. Eichenmischwaldpollen) aus den tiefer gelegenen Waldgebieten des Haslitales und des Goms (vgl. dazu die Vegetationskarte von E. Frey 1922, E. Hess 1923 und E. Schmid 1943-1950) erlaubt es, eine Zuordnung zu den mitteleuropäischen Pollenzonen zu diskutieren. Beide Profile beginnen wohl im älteren Atlantikum, eventuell wurde noch ein jüngster Abschnitt des Boreals erfaßt. Zwei 14-C-Daten (Messungen Oeschger/ Riesen/Lerman) aus dem Profil 2 belegen, daß eine unterste, dunkelbraune Schicht terrestrischen Torfes im älteren und auch jüngeren Atlantikum gebildet wurde. Nur unscharf lassen sich die Grenzen des Subboreals und des Subatlantikums erfassen. Kulturpollen reichen im Moorprofil P 1 bis in eine Tiefe von ca. 50-60 cm, im Bodenprofil P 2 bis etwa 10 cm. Regionalflug, hauptsächlich aus Föhren-, Fichten- und Erlenpollen gebildet, erreicht nie Werte, die auf eine ehemalige dichtere Bewaldung beider Profilorte selbst hindeuten würden; man vermißt auch die fossilen Spaltöffnungen als gute Waldzeiger. Reiche Holzfunde, ca. südlich der Grabung I im heute überschwemmten Vorfeld 1 oder 2 beweisen aber, daß im Oberaarboden doch ein lichter Arvenwald gestanden haben muß; das 14-C-Datum B-254 4600 ± 80 BP. (Messung Oeschger, H. et al. 1961) einer solchen Holzprobe zeigt, daß mindestens einzelne Bäume noch am Ende des jüngeren Atlantikums in der Oberaar standen. Funde von Föhrenpollen aus dieser Zeit (gut erhaltene Körner zählen vorwiegend zu Pinus cembra) wären demnach eigentlich zum Nahflug zu rechnen. Dasselbe gilt von einer Artengruppe hochgrasiger und hochstaudiger Bestände, die für das ganze Atlantikum etwas stärker hervortritt (z. B. Trollius, Aconitum, Chaerophyllum, Angelica, Pimpinella major, Peucedanum ostruthium, Lilium martagon, Melandrium, Lychnis flos-cuculi, Prenanthes purpurea u. a.). Als Nahflug seien alle Rasenarten trockenerer Standorte der (mittleren) alpinen Stufe für die beiden Profilorte zusammengefaßt. Soweit sie über eine genauere Pollenbestimmung als Rasenarten trockenerer Standorte identifizierbar sind, bleiben ihre Werte sehr gering, oft sind es nur zerstreute Einzelfunde. Sicher wären auch beim Nahflug recht interessante Entwicklungen zu verfolgen, es soll dies aber erst geschehen, wenn analysierte Profile auch aus den Borstgras-Horstseggen- und Krummseggenrasen selbst vorliegen. Differenzen zwischen den Profilen 1 und 2 ergeben sich im Lokalflug: Der Oberaargletscher 287

Profil 1: Der Igelkolben (Sparganium cf. affine) verschwindet als Zeiger offenen Wassers erst mit dem mutmaßlichen Beginn des Subatlantikums, als sich in dem verlandenden Tümpel große Moosrasen ausbreiteten (meist Drepanacladus exannulatus). Erst in jüngster Zeit werden diese von der Schnabelsegge zurückgedrängt. Das Einzelkorn von Drosera, Sonnentau, belegt für das jüngere Atlantikurn das Vorkommen dieser Gattung auch für die Oberaar. (Frey erwähnt die beiden Arten Drasera anglica und rotundifolia für die Unteraar bei 2000 m)

Profil 2: Es läßt sich über Jahrtausende weg ein langsames Torfwachstum feststellen. Die etwa 40 cm Torf wuchsen in ca. 6000 Jahren auf, das einer durchschnittlichen Zuwachsrate von 1 cm in 150 Jahren entsprechen würde. An diesem Torfwachstum war wohl mindestens seit dem Atlantikum auch die Haarbinse beteiligt. Eine interessante Erscheinung förderten die Krautpollenanalysen in den obersten Zenti- metern (besonders schön bei 4-6 cm) zutage: Eine ganze Reihe von Pionier- und schneetälchenarten finden hier ein, wenn auch prozentmäßig bescheidenes, Maximum: Artemisia genipi / mutellina-Typ, Cerastium uniflorum und Sedum cf alpestre von den Pionieren und Gnaphalium supinum und Soldanella pusilla von den Schneetälchenarten erheben sich zu kleinen, geschlossenen Kurvenmaxima von 1- 2 % .Die Einzelfunde von Gentiana nivalis-Typ, Hieracium intybaceum, Epilobium fleischeri, Trifolium pallescens, Achillea moschata, Cryptagramma crispa, Salix herbacea, Alchemilla pentaphyllea und Arenaria biflora vervollständigen dieses Bild einer Pionier- und Schneetälchenphase wenige Zentimeter unter der Bodenoberfläche. Wegen der reichen Durchwurzelung dieser Horizonte wurden keine 14-C- Messungen durchgeführt. Somit bleibt die Entscheidung offen, ob diese Klimarückschlagsphase den neuzeitlichen Hochständen des Oberaargletschers zuzuordnen ist, oder ob eher mittelalterliche oder gar noch ältere Hochstände in Frage kämen (ca. 1860 jedenfalls erreichte der Oberaargletscher seinen Maximalstand seit vielen Jahrtausenden überhaupt, er schob dabei den Wall 1 ca. 10 m an die Stelle heran, der das Profil 2 entnommen wurde).

Schlußbemerkungen:

Dem genetisch-dynamisch interessierten Vegetationskundler öffnet sich hier ein breites, vielversprechendes Forschungsfeld. Weitere Profilanalysen ähnlicher und anderer Standorte dürften den Einblick in den Wandel der Pflanzengesellschaften der alpinen Stufe vertiefen. An geeigneten gletschernahen Orten wird in den Pollendiagrammen auch nach den Zusammenhängen mit den lokalen Gletscherschwankungen zu suchen sein. Eine verfeinerte Nichtbaumpollenanalyse wird dabei wenigstens z. T. helfen können, echte Klimarückschläge im Profil von rein „zufällig“ durch lokale Überschüttungen entstandenen pollenarmen Zwischenschichten zu unterscheiden. Die ersten sollten anhand ausgeprägter Pollenkurven der Pionier- und Schneetälchenarten oder ähnlicher Erscheinungen zu erkennen sein. DANK

Ohne die wertvollen Hinweise zahlreicher Helfer wäre es dem Verfasser nicht möglich gewesen, an die 30 Quellen zu den Gletscherständen der Oberaar zu sammeln.

Allen voran sei H. J. Zumbühl (Geographisches Institut Bern) genannt, der im Zuge seiner unermüdlichen Suche nach Dokumenten zu älteren Gletscherständen in Grindelwald (u. a.) mir zahlreiche wertvolle Angaben lieferte. Bei der Interpretation einiger Quellen war mir auch G. Patzelt aus Innsbruck behilflich.

Aber auch den folgenden Personen ist der Verfasser zu Dank verpflichtet: F. Achtnich (Landesbibliothek Bern), H. Balmer (Bern), Th. Berger (Bern), G. Bretscher (Stadtbibliothek Winterthur), A. Flotron (Meiringen), G. Grosjean (Geographisches Institut Bern), R. Gygax (Geographisches Institut Bern), H. Hubmann (St. Gallen,) L. Luzek (Kraftwerke Oberhasli, Innertkirchen), B. Messerli (Geographisches Institut Bern), Ch. Pfister (Geographisches Institut Bern), E. Schaerer (Bibliothek des Schweizer Alpenclubs Sektion Bern), K.-L. Schmalz (Naturschutzinspektorat des Kantons Bern), E. Schmid (Eidgenössische Landestopographie Bern), H. Schmocker (Staatsarchiv Bern), G. Solar (Zentralbibliothek Zürich), M. Surdez (Neuchâtel), E. Stucki (Jegenstorf). 288 K. Ammann

LITERATUR UND QUELLEN

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Der Oberaargletscher 289

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Der Oberaargletscher 291

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Manuskript eingelangt am 21.10. 1975, in revidierter Form am 20.1.1977.

Anschrift des Verfassers : Dr. Klaus Ammann Systematisch-Geobotanisches Institut der Universität Bern Altenbergrain 21 CH-3013 Bern

Sonderdruck aus / Tirage à part de / Reprint from:

Berichte der Internationalen Symposien der Internationalen Vereinigung für Vegetationskunde Herausgegeben von Reinhold Tüxen

Werden und Vergehen von Pflanzengesellschaften

(Rinteln, 20.-23. März 1978)

Redaktion Otti Wilmanns

und Reinhold Tüxen

1979 - J. CRAMER In der A.R. Gantner Verlag Kommanditgesellschaft FL - 9490 VADUZ

GLETSCHERNAHE VEGETATION IN DER OBERAAR EINST UND JETZT

Historische Schwankungen des Oberaargletschers (Grimselpaß, 2300 m, Schweiz) und ihr Einfluss auf die heutige Vegetation der Oberaar und einige Ergebnisse bisheriger Pollenanalysen gletschernaher Profile. K. A m m a n n

Einleitung

In einem längerfristigen Forschungsvorhaben wird der Dynamik gletschernaher Vegetation nachgegangen. Um den säkularen Vegetationswandel pollenanalytisch, in Bodenprofilen besser beurteilen zu können, bot sich das Studium von Sukzessionsvorgängen an, wie sie, durch historische erfassbare Zungenschwankungen verursacht, noch heute im Vorfeld des Oberaargletschers ablaufen. Dazu war es notwendig, das Alter der Moränen und ihrer dazu gehörigen Vorfelder mit Hilfe von historischen Quellen möglichst genau zu erfassen. Das Forschungsvorhaben gliedert sich somit In 3 Hauptteile (zugleich Kapitelübersicht für diesen Beitrag):

1. Historische Schwankungen des Oberaargletschers, das Alter der Moränen und Vorfelder in der Oberaar. 2. Die heutige Vegetation des Gletschervorfeldes und seiner näheren Umgebung, zur Sukzessionsgeschwindigkeit einiger Vegetationstypen. 3. Pollenanalysen an einem gletschernahen Bodenprofil, der säkulare Wandel gletschernaher Vegetation.

1.1 Lage des Untersuchungsgebietes Auffallend quer zum tief nach Süden eingeschnittenen Tal der Grimsel liegt ca. 6 km wsw der Paßhöhe das Gletscherhochtal der Oberaar, ganz im Aarmassiv eingebettet, vgl.Abb.1.

1.2 Historische Schwankungen des Oberaargletschers, das Alter der Moränen und Vorfelder in der Oberaar Der Schreibende hat an anderer Stelle zu diesem Kapitel ausführlich berichtet (AMMANN 1976). Es sei hier deshalb nur das Alter der Moränen 1-4 und der dazugehörigen Vorfelder kurz zusammengefasst, vgl. auch Abb.1 und 2. Moränenwälle und zugehörige Vorfelder von aussen (älteste) nach innen (jüngste): Wall 1: Bildung um 1860. Vorfeld 1 (innerhalb Wall 1): Höchstens 98-115 Jahre eisfrei.

228 AMMANN

GLETSCHERNAHE VEGETATION IN DER OBERAAR EINST UND JETZT 229

230 AMMANN

Wälle 2 und 3: Bildung um 1880, sie liegen nahe beieinander. Vorfeld 2 (innerhalb Wall 3): Höchstens 75-90 Jahre eisfrei. Wall 4: Bildung um 1920. Vorfeld 3 (innerhalb Wall 4): Höchstens 50 Jahre und jünger (bis 0 Jahre). 2. Die heutige Vegetation der Gletschervorfelder und ihrer näheren Umgebung, zur Sukzessionsgeschwindigkeit einiger Vegetationstypen: 2.1 Die heutige Vegetation Vergleiche dazu die Vegetationskarte Abb.3, Kartenbereich Abb.1. In Abb.3 ist nur ein kleiner Ausschnitt der Gesamtkarte wiedergegeben. Sie basiert auf einer nicht entzerrten Direktauswertung von Falschfarben-Luftbildern, die mit Hilfe von Feldskizzen (auf großen SW-Abzügen von Flugaufnahmen der eidgenössischen Landestopographie) und von helikoptergeflogenen Handkamera-Echtfarbenbildern realisiert wurde. Das Original wurde im Maßstab ca.1:600 gezeichnet. Es hält Vegetationsflecken bis zu einer Größe von ca. 1-2 m² hinab noch fest. Es gelang so, wenigstens einen Teil der sonst unumgänglichen Abstraktion bei der Wiedergabe des oft kleinstflächigen alpinen Vegetationsmosaikes zu umgehen. Seit 1953 liegt der größte Teil des Oberaarbodens und damit auch der größte Teil der Vorfelder 1-3 unter Wasser. Unter Weglassung des südlichen Uferhanges bleibt deshalb für die Beschreibung der Vegetation der unteren alpinen Stufe, auf die wir uns hier beschränken wollen, nur der relativ, schmale Streifen der nördlichen Uferpartie (ca.2300-2400 m ü.M.) des Stausees längs des heutigen Gletscherweges. Erwähnen wir zudem der Kürze halber nur einige charakteristische Arten, bietet sich in der Abfolge, ausgehend von der Staumauer gegen den Gletscher hin, das folgende generalisierte Bild von Pflanzengesellschaften:

2.1.1. Strecke Staumauer bis Block bei P. 2317 m und Wall 1: Jahrtausendealte Rasen- und Hangmoorgesellschaften der unteren alpinen Stufe außerhalb des postglazialen Maximalvorstoßes des Oberaargletschers 2.1.1.1. J u n i p er o - A r c to s t a p h y l e t um (Br.-Bl.1926) Haffter 1939, Wacholder-Bärentrauben-Gesellschaft

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Im Gebiet besiedeln verarmte Bestände dieser Gesellschaft fleckenweise trockene Buckel und Gratstellen im ca. 30-400 geneigten Hang. Nur in den tiefsten Gunstlagen des südexponierten Zinggenstock-Fußes von der Staumauer bis hin zu den Fragmenten unterhalb des Moores 2 (diese noch in Kartenausschnitt!) vermag diese Gesellschaft noch zu bestehen. Sie wird wohl noch begünstigt durch das reichere Nährstoffangebot des schneller verwitternden Gesteins der Gneis-Schiefer-Zwischenzone. Es fehlen eine ganze Reihe von Charakterarten wie Arctostaphylos uva-ursi, Cotoneaster integerrima, Viola thomasiana, Senecio abrotanifolius u.a.m., will man direkt mit den Beständen BRAUN-BLANQUETs und HAFFTERs aus den östlichen Schweizeralpen vergleichen. Sie fehlen auch den entsprechenden Aufnahmen von FREY 1922 und SCHWEINGRUBER 1972. Einzig Calluna erweist sich als bestandestreue Art, stellenweise wächst das Heidekraut auch ohne Juniperus. Unsere Bestände, die wohl. alle der subass. c a 1 l u n e t o s u m zuzuordnen sind, sind floristisch eng mit den benachbarten Borstgrasrasen und Krummseggenrasen verwandt: Mit Carex sempervirens, Homogyna alpina, Leontodon helveticus, Avena versicolor, Phyteuma hemisphaericum, Campanula barbata, Campanula scheuchzeri und Euphrasia minima sind nur gerade die wichtigsten gemeinsamen Arten genannt. Meist sind es Klassen- und Ordnungscharakterarten der C a r i c e t e a und C a r i c e t a 1 i a c u r v u 1 a e. Es fallen Agrostis alpina, Gymnadenia albida, Chamorchis alpina und Cladonia symphycarpa auf, sie belegen das größere Nährstoffangebot der Gneis-Schiefer- Zwischenzonen-Gesteine. 2.1.1.2. N a r d e t u m a 1 p i g e n u m c a r i c e t o s u m s e m p e r v i r e n t i s Br.-Bl. 1949, horstseggenreiche Borstgrasrasen Diese besonders im Juli an entomogamen Blüten reichen Rasen beherrschen die Südhänge des Zinggenstockes. Sie meiden, entsprechend der hohen Lage, exponiertere Kuppenlagen, die sie dem C a r i c e t u m c u r v u 1 a e überlassen. Neben den namengebenden dominierenden Arten gehören noch Festuca rubra, Leontodon helveticus, Avena versicolor, Phyteuma hemisphaericum, Sieversia montana, Potentilla aurea, Campanula barbata, Euphrasia minima, Galium pumilum. Lotus corniculatus, Anthoxanthum odoratum und Campanula scheuchzeri zu den steten Arten, die jedoch fast alle ebenso stet im Krummseegenrasen zu finden sind. Differentialarten gegen das C u r v u 1 e t u m sind schwieriger zu finden

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(etwa Juncus jacquinii, Anemone vernalis), weshalb es OBERDORFER 1959 vorlog, die Sempervireten und Curvuleten dieser Höhenlage zum C u r v u 1 o - N a r d e t u m zusammenzufassen. An günstigen Stellen kann ein optimal entwickeltes N a r d e t u m a 1 p i g e n u m stocken, zu seinem prächtigen Flor gehören Nigritella nigra, Coeloglossum viride, Poa chaixii, Trifolium nivale, seltener sogar Geranium silvaticum, Hypericum maculatum, Chrysanthemum montanum und Potentilla grandiflora. Auf solchen tiefgründigen, feinerdereichen Humussilikatböden dominiert auch etwa Festuca rubra. Solche Bestände passen gut in das von LÜDI 1921 aus dem Lauterbrunnental beschriebene F e s t u c e t u m r u b r a e c o m m u t a t a e. 2.1.1.3. C a r i c e t u m c u r v u 1 a e (Kerner) Brockmann - Jerosch 1907, Krummseggenrasen Im engeren Untersuchungsgebiet (2300-2400 m) flächenmäßig deutlich hinter den Horstseggenbeständen zurückbleibend, besiedeln die Krummseggenrasen exponiertere Kuppenlagen, es genügt u.U. schon eine sanfte Geländewelle im Hang, um Carex curvula zu fördern. Oft ist das C a r i c e t u m c u r v u 1 a e eng verzahnt mit dem N a r d e t u m und durch relativ breite Übergangszonen mit diesem verbunden. Es wurde deshalb in der Vegetationskarte Abb. 3 darauf verzichtet, überall klare Trennlinien zwischen den beiden Gesellschaften zu ziehen. Die beiden Assoziationen haben aufgrund der Aufnahmen nicht weniger als 37 gemeinsame Klassen- und Ordnungscharakterarten der C a r i c e t e a bzw. C a r i c e t a 1 i a c u r v u 1 a e . Es erübrigt sich deshalb, die unter 2.1.1.2. erwähnten Arten nochmals aufzuzählen. Schöne Krummseggenrasen breiten sich ab einer Höhe von 2500 m außerhalb des engeren Untersuchungsgebietes aus. Oft sind die Krummseggenbestände eng verzahnt mit Schneetälchengesellschaften: Besonders in höheren Lagen ab 2400 m gesellen sich Salix herbacea, Soldanella pusilla, Sibbaldia procumbens, Luzula spadicea, Sedum alpestre, Veronica alpina u.a. dazu, vgl. C a r i c e t u m c u r v u 1 a e h y g r o c u r v u 1 e t o s u m Br. - Bl. 1948 und g e n t i a n e t o s u m Br.-B1.1969. Lokale Differentialarten gegenüber den Horstseggenbeständen gibt es neben Carex curvula selbst nur wenige: Hieracium piliferum und Gentiana punctata. Im Ganzen gesehen passen die meisten Bestände gut ins C a r i c e t u m c u r v u 1 a e g e n t i a n e t o s u m Br.-Bl. 1969, auch wenn neben den oben erwähnten chionophilen Arten nur vereinzelt Gentiana punctata, etwas häufiger Sieversia montana, Poa alpina und Trifolium alpinum vorkommen. Die in BRAUN-BLANQUET 1969 erwähnte Trennart der Subassoziation, Juncus jacquinii, beschränkt sich im Untersuchungsgebiet auf Horstseggenbestände (!).

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2.1.1.4. C a r i c e t u m f u s c a e Br. - Bl. 1915, Braunseggensumpf und Haarbinsensumpf Zahlreiche Wasserrinnen durchziehen die oben beschriebenen trockenen Rasengesellschaften. An einigen Stellen (im Kartenausschnitt um die Grabung 1) erweitern sich diese Rinnen zu meist scharf begrenzten geselligen Hängen. Darin dominiert entweder Trichophorum caespitosum und an etwas weniger geneigten Stellen Carex fusca. Verglichen mit den rhätischen Siedlungen, die BRAUN-BLANQUET 1971 beschrieb, liegen die Braunseggensümpfe der Oberaar recht hoch, ziehen bis gegen 2400 m; sie sind alle recht artenarm. Eriophorum angustifolium, Carex echinata und weniger stet Carex frigida, Calliergon stramineum, Gymnocolea inflata und Blindia acuta sind den beiden unten beschriebenen Subassoziationen gemeinsam. Durch die starke Dominanz zweier sich oft ausschließender Arten lassen sich recht schön zwei Subassoziationen trennen: 1. C a r i c e t u m f u s c a e c a r i c e t o s u m f u s c a e Br.-Bl.(1915),1949,1971 Neben Carex fusca sind Drepanocladus exannulatus, Viola palustris, Juncus filiformis, Epilobium alpinum und Carex paupercula (in der Reihenfolge abnehmender Stetigkeit) als lokale Differentialarten gegenüber der Subassoziation t r i c h o p h o r e t o s u m zu betrachten. 2. C a r i c e t u m f u s c a e t r i c h o p h o r e t o s u m c a e s p i t o s i Br. -Bl. 1949 Neben der starken Dominanz von Trichophorum caespitosum zeichnet sich diese Subassoziation (wenigstens anhand der bisherigen Aufnahmen) kaum durch weitere Differentialarten aus. Dennoch bildet sie scharf begrenzte, gut kartierbare Einheiten aus. Beide Subassoziationen sind in der Oberaar gute Torfbildner und besonders die Subass. t r i c h o p h o r e t o s u m bildet Hangtorf-Decken von über 1 m Mächtigkeit. 2.1.1.5. E r i o p h o r e t u m s c h e u c h z e r i (Brockmann-Jerosch 1907) Rübel 1912 Vor allem randlich bei den Mooren 1 und 2 bildet das Scheuchzer-Wollgras schöne Verlandungszonen; im Gebiet des Kartenausschnittes finden sich wenige Fragmente, die sich gerade außerhalb des Walles 1 dank seiner Stauwirkung halten können.

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Die simple Artengarnitur (Eriophorum scheuchzeri, Drepanocladus exannulatus dominierend, Eriophorum angustifolium, Epilobium alpinum, Saxifraga stellaris und wenige andere) wurde in sehr ähnlicher Zusammensetzung auch anderwärts in den Alpen (l.B. BRAUN-BLANQUET 1971) und in Skandinavien (DAHL 1956) gefunden. 2.1.1.6. C a r i c e t u m r o s t r a t o - v e s i c a r i a e Koch 26 Das äußerst verarmte Schnabelseggenried beschränkt sich in unserem Gebiet auf das Moor 1 und liegt außerhalb des Kartenausschnittes. Neben Carex rostrata wurde nur viel Drepanocladus exannulatus, wenig Eriophorum angustifolium und zerstreut noch Calliergon sarmentosum, Sphagnum subsecundum und Blindia acuta festgestellt. 2.1.1.7. C a r i c e t u m f r i g i d a e auct. Diese hochgelegenen zentralalpinen locker bewachsenen Eisseggenfluren schließen sich eng dem C a r i c i o n f u s c a e , insbesondere dem C a r i c e t u m f u s c a t r i c h o p h o r e t o s u m an, wachsen aber nur an flachgründigen stellen. Es fehlen Arten des C a r i c i o n d e v a l l i a n a e fast vollständig, innerhalb der jüngeren Vorfelder jedoch treten sie stärker hervor, siehe 2.1.2.4. Kennarten der C a r i c e t e a f u s c a e wie Trichophorum caespitosum, Eriophorum angustifolium und Marsupella sphacelata, Kennarten des C a r i c i o n f u s c a e wie Viola palustris, Carex echinata und Calliergon sarmentosum weisen stärker auf die Verwandtschaft mit den Braunseggensümpfen hin. Als Arten mit hoher Stetigkeit sind noch Saxifraga stellaris, Nardus stricta (mit reduzierter Vitalität!), Deschampsia caespitosa, Drepanocladus exannulatus und Blindia acuta zu nennen. Man kann sich berechtigterweise fragen, ob nicht, gleich wie BRAUN-BLANQUET l.B. 1971 p.18 gegen die Aufstellung eines " T r i c h o p h o r e t u m " argumentiert, die Eisseggenfluren Varianten von voneinander stark abweichenden Assoziationen ganz verschiedener Verbände seien. Man kann auch mit OBERDORFER 1956 bei den Eisseggenfluren von einer Assoziationsgruppe sprechen, die in verschiedene Gebiets- und Lokalassoziationen aufzuteilen ist. Dabei würde es sich wohl aufdrängen, eine weitere Gebietsassoziation hoher Lagen der zentralen Silikatalpen zu beschreiben. Während GEISSLER 1976 p.19 die Carex frigida - Bestände der Oberaar in eine neu beschriebene alpine Quellflur, das C r a t o n e u r o - P h i 1 o n o t i d e t u m s e r i a t a e einordnet, faßt der Schreibende, vor allem aus Gründen der einfacheren Kartierbarkeit, die Eisseggenbestände im Sinn BRAUN- BLANQUETs 1971 und OBERDORFERs 1959 auf.

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Die reich entwickelten Quellfluren der Oberaar wurden von GEISSLER (1972) aufgenommen und bryosoziologisch gefaßt; als Boden- und Torfbildner dürften sie kaum eine Rolle spielen und können deshalb hier weggelassen werden. 2.1.1.8. Alpenkratzdistel - Rasenschmielen - Bestände Mehr oder weniger ausgedehnte Bestände besiedeln blockiges, durchrieseltes Gelände mit vielen Kleinnischen längs der Rinnen. Üppige Deschampsia caespitosa-Horste und oft gruppenweise beisammenstehende Kratzdisteln beherrschen das Bild. Dadurch sind die Bestände mühelos zu fassen und zu kartieren. Zu den steteren Arten gehören auch Philonotis seriata, Epilobium alsinifolium, Saxifraga stellaris und Bryum pseudotriquetrum. In den tiefen Nischen verstecken sich Fließwasserspezialisten wie Madotheca cordaeana, Scapania undulata und Brachythecium rivulare. Einsprengungen aus dem C a r i c i o n f u s c a e und dem N a r d i o n runden das Bild ab. Über die soziologische Wertung von Flächen ist sich der Schreibende noch nicht im Klaren. Während GEISSLER, durchaus vertretbar, einige hierhergestellte Bestände zum C r a t o n e u r o - P h i 1 o n o t i d e t u m s e r i a t a e (GEISSLER 1972) stellt, beschreiben BRAUN-BLANQUET & SUTTER 1976, Tabelle l ,ein P e u c e d a n o o s t r u t h i i - C i r s i e t u m s p i n o s i s s i m i , Subass. d e s c h a m p s i e t o s u m , das mit unseren Aufnahmen recht gut übereinstimmt, es fehlt aber immerhin die wichtige und hochstete Assoziationskennart Aconitum napellus. Auch zögert der Verfasser, die Bestände der Oberaar kurzerhand den Hochstaudenlägern zuzuordnen. Seit vielen Jahrhunderten wurde zwar (früheste Urkunde: 1430 nach K.L.SCHMALZ, mündlich) die Oberaaralp mit Walliser Vieh bestoßen; obwohl seit 1953 unter Naturschutz, dürften in den letzten 20 beweidungsfreien Jahren noch nicht alle Spuren der Eutrophierung durch das Vieh verloren gegangen sein. Dennoch blieb die Zahl der Kühe, nach den erhaltenen Dokumenten zu urteilen, immer eine bescheidene und damit wohl auch ihr Einfluß auf das Alpweidegebiet. Wir finden jedoch die Kratzdistel- Raseschmielen - Bestände im Gebiet, ohne die typischen Lägerpflanzen, immer in Bachnähe. Dieselbe Situation kann man auch anderwärts feststellen, z.B. in den Tessiner Silikatalpen, im Gotthardgebiet u.a.O. Möglicherweise haben wir es doch mit einer ursprünglichen bachbegleitenden "Saumgesellschaft" zu tun, die aber vielerorts anthropozoisch verändert wurde.

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2.1.1.9. S a 1 i c i o n h e r b a c e a e Br. - Bl. 1926, Verband der Silikatschneetälchen Die Vergesellschaftungen chionophiler Arten gehören zu den reich ausgebildeten um Grimselgebiet. 1. P o 1 y t r i c h e t u m s e x a n g u 1 a r i s (Rübel 1912) Br.-B1.1926, Widerton- Schneetälchen Diese oft extrem blütenpflanzenarmen Moosteppiche fristen dort ihr Leben, wo der Schnee regelmäßig am längsten liegen bleibt. Kiaeria starkei und Anthelia juratzkana vermögen Polytrichum sexangulare teilweise zu ersetzen. Als weitere typische Arten wären zu nennen: Moerckia blyttii, Marsupella varians, Pleuroclada albescens, Kiaeria falcata und Schistidium apocarpum, daneben auch Salix herbacea, Alchemilla pentaphyllea, Arenaria biflora, Cardamine alpina, Soldanella pusilla, Cerastium cerastioides, Leontodon helveticus und Saxifraga stellaris. 2. S a 1 i c e t u m h e r b a c e a e (Rübel 1912) Br.-Bl. 1913 Etwas weniger lange schneebedeckt als die vorige Gesellschaft, breiten sich die Krautweiderasen auch über entsprechend größere Flächen aus. Als lokale Differentialart gegen das P o 1 y t r i c h e t u m s e x a n g u 1 a r i s darf Ligusticum mutellina gewertet werden. Die Moose treten zugunsten vor allem der Krautweide etwas zurück, sonst bleibt sich die Artengarnitur etwa gleich. An noch früher ausapernden Stellen werden Carex foetida und Alchemilla pentaphyllea häufiger: Subassoziation c a r i c o - a 1 c h e m i 1 1 e t o s u m Br.-Bl. 1948. Hier finden wir auch Polytrichum juniperinum, Sibbaldia procumbens und Potentilla aurea, die BRAUN-BLANQUET 1949 als Differentialarten des S a 1 i c e t u m h e r b a c e a e gegenüber dem P o 1 y t r i c h e t u m s e x a n g u 1 a r i s nennt. Unter Einbezug der kleinen schwarzen Lebermoose ließe sich wahrscheinlich die Soziologie der Schneetälchenvegetation noch wesentlich verfeinern. 2.1.1.10. A g r o s t i d e t u m s c h r a d e r i a n a e Br.-Bl. 1949 prov., Blockschuttbewuchs mit Zartem Straußgras Die im engeren Arbeitsgebiet ausgedehnten Blockschutthalden sind mit großen Herden des Zarten Straußgrases bewachsen. BRAUN-BLANQUET legte sich in der Stellung dieser Gesellschaft nicht fest; seine Bestände scheinen nicht ganz mit jenen der Oberaar übereinzustimmen.

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Neben der alles dominierenden Agrostis schraderiana finden wir viele N a r d e t a 1 i a - Schwerpunktsarten wie Nardus stricta, Carex sempervirens, Leontodon helveticus, recht regelmäßig auch Poa chaixii und hie und da auch Gnaphalium norvegicum, welche auch BRAUN-BLANQUET für die rhätischen A g r o s t i d e t e n erwähnt. FREY 1922 traute Agrostis schraderiana keine assoziationsbestimmende Rolle zu. Er führte sie sowohl als Vereinsholde der " A d e n o s t y 1 e s A 1 1 i a r i a e - A s s o z i a t i o n " als auch als eingestreute Art der " C a r e x s e m p e r v i r e n s - A s s o z i a t i o n ". In der Oberaar lassen sich die Bestände fast überall problemlos abgrenzen, sie wurden deshalb als selbständige Einheit in die Vegetationskarte aufgenommen. 2.1.2. Strecke von Wall 1 (um 1860) über die Vorfelder 1-3 zum Gletscher 2.1.2. 1. E p i 1 o b i e t u m f 1 e i s c h e r i (Lüdi) Br.-Bl. 1923 Subass. r h a c o m i t r i e t o s u m Br. -Bl. 1949, Kiesweidenröschen-Flur Beim Überschreiten des Walles 1 betritt man das 98-115-jährige Vorfeld 1, das noch heute eine Pioniervegetation zeigt, die grossenteils einen dichten Rasenschluß noch nicht geschafft hat. Im ca. 75-90-jährigen Vorfeld 2 kommt das E p i 1 o b i e t u m f 1 e i s c h e r i zur vollen Entwicklung und wird dann im maximal 50- jährigen Vorfeld 3 gegen den Gletscher zu immer lockerer und artenärmer. Der kiesig-sandige Boden ist mit vielen Pionierpflanzen besiedelt: Cardamine resedifolia, Rumex scutatus, Rhacomitrium canescens, Polytrichum piliferum, Stereocaulon alpinum, Poa alpina, Sedum alpestre, Artemisia genipi, Cerastium uniflorum, Saxifraga aspera bryoides, Poa laxa, Achillea moschata, Luzula spicata, Silene rupestris, Sempervivum montanum, Sagina saginoides und allen voran Epilobium fleischeri, um nur gerade die stetesten Arten zu erwähnen. Allenfalls wäre noch die Zugehörigkeit dieser Pioniervegetation zum O x y r i e t u m d i g y n a e (Lüdi 1921) Br.-Bl. 1926 oder zum L u z u 1 e t u m s p a d i c e a e (Brockmann-Jerosch 1907) Br.-B1.1926 zu prüfen. Anklänge an beide Gesellschaften sind festzustellen in den vereinzelten Vorkommen von Oxyria digyna, Cerastium pedunculatum, Luzula spadicea und Doronicum clusii, Kennarten des E p i 1 o b i o n f 1 e i s c h e r i überwiegen jedoch: Epilobium fleischeri, Rhacomitrium canescens, Stereocaulon alpinum, Trifolium pallescens. Entsprechend der hohen Lage fehlen aber die z.T. flußbegleitenden Erigeron acer ssp. angulosus, Myricaria germanica, Hieracium florentinum und Chondrilla chondrilloides.

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Es kann hier nicht darum gehen, eine ins Einzelne dringende Analyse aller Erstlingsvereine zu geben, müssen wir doch das Forschungsziel dabei nicht aus den Augen verlieren: Pollenanalytisch wird es schwierig und in den meisten Fällen unmöglich sein, in alpinen Bodenprofilen Basissedimente zu finden, die genügend fossilen Pollen liefern, auf daß man diese Besiedlungsphase der ersten Jahre überhaupt verfolgen könnte. Es interessiert uns vielmehr, ob sich innerhalb des Walles 1 initiale Stadien von Pflanzengesellschaften finden, denen wir auch. außerhalb des Walles 1, im Gebiet vieltausendjähriger Entwicklung der Vegetationsdecke, schon begegnet sind. Solche initialen Stadien sind unten (in der gleichen Reihenfolge wie in Kapitel 2.1.1.) kurz beschrieben. 2.1.2.2. Initiales N a r d e t u m a 1 p i g e n u m c a r i c e t o s u m s e m p e r v i r e n t i s Als lokale Differentialarten gegenüber voll entwickelten Horstseggenrasen können Trifolium badium, Salix helvetica, Rhacomitrium canescens und Polytrichum piliferum gelten. Auch weitere typische Arten dieser Initialstadien sind eigentlich im E p i 1 o b i e t u m f 1 e i s c h e r i zuhause, erreichen aber nicht dieselbe Stetigkeit: Gentiana nivalis, Agrostis schraderiana, Gnaphalium norvegicum, Saxifraga aspera bryoides, Stereocaulon alpinum, Cardamine resedifolia, Bartsia alpina, Satix foetida, Salix breviserrata, Brachythecium glaciale, Cladonia symphycarpa, Erigeron uniflorus und Hieracium intybaceum. Von den eigentlichen Borstgrasrasen-Arten und Begleitern sind regelmäßig anzutreffen: Nardus stricta, Carex sempervirens, Festuca rubra, Leontodon helveticus, Anthoxanthum odoratum, Campanula scheuchzeri, Sieversia montana u.a. Nur im Vorfeld 1 (vgl.Abb.3) schließen diese initialen Nardeten in größere Flächen zusammen und bilden ± dichte Rasen. In den Vorfeldern 2 und 3 wurden nur kleine Iockerwüchsige Flecken gefunden. Nach ca.100 Jahren also kommt es in der Oberaar zur Bildung initialer, noch stark von Pionierpflanzen durchsetzten N a r d e t e n mit geschlossener Rasendecke. Es sei an dieser Stelle festgehalten, daß innerhalb des Walles 1 bisher nicht die geringste Spur eines Krummseggenrasens gefunden wurde, insbesondere fehlt Carex curvula vollständig.

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Die Zeit von maximal 115 Jahren dürfte zur Bildung eines C u r v u 1 e t u m s bei weitem nicht ausreichen. Auch J.L.RICHARD hält 1973 für die Situation am Aletschgletscher (ca.450 m tiefer gelegen!) fest, daß mindestens 200 Jahre vergehen, bis sich ein reifer alpiner Krummseggenrasen ohne beigemischte Pionierarten etablieren könne. In der Höhenlage der Oberaar wird dieser Prozeß mehrere hundert Jahre in Anspruch nehmen. 2.1. 2. 3. Initiales E r i o p h o r e t u m s c h e u c h z e r i An ebenen, rinnendurchzogenen Stellen zwischen den Wällen 1 und 2 hat sich bereits ein initiales E r i o p h o r e t u m s c h e u c h z e r i festsetzen können. Neben den unter 2.1.1.5. bereits erwähnten wenigen Arten können als lokale Differentialarten der initialen, ca.100-jährigen Stadien gelten: Carex frigida, Phleum alpinum und Philonotis seriata. 2.1.2.4. Initiales C a r i c e t u m f r i g i d a e Wiederum rekrutieren sich die Differentialarten der Initialstadien aus dem E p i 1 o b i e t u m f 1 e i s c h e r i (und den Quellfluren rascher fließender Rinnen): Salix helvetica, Riccardia pinguis, Plectocolea obovata, Alchemilla alpina, Lotus alpinus, Leontodon helveticus und Scapania irrigua. Auch treten Kennarten des C a r i c i o n d a v a 1 1 i a n a e , Pinguicula leptoceras, Bellidiastrum michelii und Bartsia alpina, auf. Das initiale C a r i c e t u m f r i g i d a e wird, wie dies schön aus dem Kartenbild Abb.3 hervorgeht, durch Rinnen, die den Wall 1 durchbrechen, in das Vorfeld 1 eingeschwemmt, dem Vorfeld 2 fehlt es fast vollständig. 2.1.2.5. Initiale Alpenkratzdistel – Rasenschmielen - Bestände Sie bieten punkto Differentialarten das gleiche Bild wie das initiale C a r i c e t u m f r i g i d a e , dringen aber auch in das jüngste Vorfeld 3 vor, indem auch sie durch die Rinnen eingeschwemmt werden. 2.1.2.6. Initiales S a 1 i c i o n h e r b a c e a e Im Vorfeld 1 und sogar in Spuren im Vorfeld 2 finden sich kleine Flecken initialer Schneetälchengesellschaften. Salix herbacea, Sibbaldia procumbens und Gnaphalium supinum können im Verein mit vielen Arten des initialen N a r d e t u m wachsen.

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2.1.2.7. Initiales A g r o s t i d e t u m s c h r a d e r i a n a e Bis in allerjüngste Flächen im Vorfeld 3 ist das Zarte Straußgras vorgedrungen. Es wächst hier vereint mit vielen Pionierarten des E p i 1 o b i e t u m f 1 e i s c h e r i . In Abb.2 ist eine Reihenfolge der Vegetationseinheiten festgehalten, die genau auf den kartierten Gegebenheiten und Vorfelddatierungen aufbaut: es ist jeweils das zeitlich jüngste Vorkommen in den Vorfeldern als Beginn der Entwickzung im Schema, das rückwärts zu lesen ist, eingetragen. Die Reihenfolge sei hier zusammengefaßt: E p i 1 o b i e t u m f 1 e i s c h e r i , A g r o s t i d e t u m s c h r a d e r i n a e , Alpine Quellflur mit Bryum schleicheri (im Text weggelassen), Rasenschmielen- Alpenkratzdistelbestände, initiales N a r d e t u m a 1 p i g e n u m c a r i c e t o s u m s e m p e r v i r e n t i s (Festuca rubra dominiert in den jüngsten Flächen), initiales C a r i c e t u m f r i g i d a e ,initiales S a 1 i c i o n h e r b a c e a e ,initiales E r i o p h o r e t u m s c h e u c h z e r i , initiales C a r i c e t u m f u s c a e (im Text weggelassen, ein einziger kleiner Fleck in Vorfeld 1, herabgeschwemmt). Damit ist nur eine zeitliche Reihenfolge des ersten Sich-Festsetzens einer Vegetationseinheit gemeint, nicht etwa eine lineare Reihenfolge ihrer Sukzession. Im Einzelnen stimmt sie recht schön mit den Vorstellungen früherer Autoren (z.B. FREY 1922,p.167) überein. 3. Pollenanalysen an einem gletschernahen Bodenprofil, der säkulare Wandel gletschernaher Vegetation vgl. Abb.4 3.1. Pollenmorphologische Vorstudien, Methodik der Analysen Das ganze Grimselpaßgebiet, insbesondere auch das Gletscherhochtal der Oberaar liegt im Aarmassiv eingebettet (vgl.2.1.) und beherbergt deshalb eine alpine und subalpine, typische Urgesteinsflora. In der Bestimmung des Pollens vor allem der entomophilen Blütenpflanzen war es deshalb möglich, eine ganze Reihe von kalksteten und kalkliebenden Arten, auch Arten der kollinen und montanen Stufe von vornherein auszuschließen. Eine unentbehrliche Grundlage bildete das lückenlose rezentpollenmorphologische Prüfen der im Grimselgebiet vorkommenden Arten. Eine große Hilfe war dabei die seit Jahrzehnten sorgfältig zusammengetragene Rezentpollensammlung des Botanischen Institutes in Bern. Die Feinunterscheidungen erheischten eine möglichst sichere Merkmalsbeurteilung. Es war deshalb nötig, durch viele Neuaufbereitungen den Stand der Rezentsammlung auf zwei bis vier Provenienzen zu bringen.

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In etlichen Fällen brachte auch der Phasenkontrast in der mikroskopischen Abbildung feinster Unterscheidungsmerkmale, wie z.B. Columellenmuster, größere Klarheit; in einer Kartei wurden Photos solcher Details in 2000facher Vergrößerung von einem Großteil der Arten zusammengestellt. Zusätzlich konnten die Merkmalsanalysen schon bestehender Schlüssel (Caryophyllaceae, Tubuliflorae, Umbelliferae), wie sie von WELTEN 1963/1964 erarbeitet wurden und in Form von unpublizierten Randlochkarten-Schlüsseln am Botanischen Institut in Bern aufliegen, ausgenutzt werden. Es wurden, nach einer provisorischen Analyse einiger Bodenprofile, von den folgenden systematischen Einheiten z.T. Randlochkarten-Schlüssel, z.T. kleinere Merkmalstabellen oder Schlüssel hergestellt: Caryophyllaceae, Compositae tubuliflorae, Compositae liguliflorae, Umbelliferae, Polypodiaceae, Papilionaceae, Salicaceae, Primulaceae, Campanulaceae, Valeriana, Ericaceae, Gentiana, Ranunculaceae, Gramineae, Cyperaceae, Crassulaceae, Scrophulariaceae. Für die Rosaceae konnte der Schlüssel von TEPPNER(1966) benutzt werden. Der gute Erhaltungszustand, besonders in den terrestrischen Torfen, erlaubte nun unter Ausnutzung aller Hilfsmittel eine Unterscheidung von gerade zwei Dritteln der etwa 180 im engeren Untersuchungsgebiet vorkommenden Arten auch im fossilen Zustand. Zieht man von diesen 180 Arten noch alle fossil erfahrungsgemäß stark unterrepräsentierten Arten, wie z.B. diejenigen der Familien Juncaceae und Orchidaceae, dazu noch die großen, nicht weiter unterschiedenen Gruppen, wie Carex- Typ, Poa-Festuca-Typ, ab, so ergibt sich sogar ein Satz von über 80% nachgewiesener und unterschiedener Arten (Fernflugbestimmung nicht eingeschlossen). Es seien aber die Schwierigkeiten bei den Einzelkorn-Bestimmungen nicht verschwiegen: In stark verschmutzten Präparaten z.B. ließ sich mit Phasenkontrast nur schlecht arbeiten, besonders dann, wenn viele "Phasenobjekte", wie z.B. horizontal gelagerte, flache Gesteinssplitter vorlagen. Mit Flußsäure ließ sich hier Remedur schaffen, man handelt damit aber eine Schrumpfung der Pollen ein, die allerdings teilweise rückgängig gemacht werden kann durch eine etwa halbstündige Nachbehandlung mit heißer KOH, was aber auch wieder gewisse Nachteile mit sich bringt. Durchschnittlich wurden pro Präparat und Horizont 1100 Körner im Mikroskop voll gezählt mit Objektiv 100x in Anisolimmersion, dazu etwa 1000 weitere Körner mit Objektiv 25x auf Neuheiten hin durchgemustert.

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(Um eine wechselhafte Interpretation kritischer Unterscheidungsmerkmale möglichst zu vermeiden, wurden z.B. Cyperaceen - Gattungen, Gramineen - Gattungen und auch die Pinus - Arten gesondert in einem Zug durch alle Profilhorizonte analysiert.) Es ließen sich aber trotz aller Bemühungen die Bestimmungsunsicherheiten nicht eliminieren. Einzelpollenfunde schwierig bestimmbarer Arten dürfen deshalb nicht überinterpretiert werden. 3.2. Erste Resultate der Pollenanalysen Vorbemerkungen: Die nachstehenden zusammenfassenden Aussagen haben nur provisorischen Charakter aus folgenden Gründen: 1. Dieser Kommentar beruht auf der Aussage nur eines Profils, das an einem Standort erschlossen wurde, der mit den im Gebiet größten Vegetationsflächen der Horstseggen- und Krummseggenrasen weder floristisch noch ökologisch viel gemeinsam hat: Das Profil wurde der Grabung G I entnommen, die durch die ± gestörten Torfschichten eines Haarbinsensumpfes zieht; es liegt knapp außerhalb des Walles 1. (Lage des Profils: Karte Abb.1 und P 2 in Vegetationskarte Abb.3). Erst ein vergleich mehrerer Profile an der Grabenwand G I mit ihrer wechselhaften Schichtung wird eine bessere Vorstellung von der Entwicklung eines T r i- c h o p h o r e t u ms in dieser Höhenlage vermitteln. 2. Eine hilfreiche Beurteilungsgrundlage der Pollendiagramme steht vorläufig noch auf schmaler Basis: Noch sind nur einige wenige rezente Pollenspektren der wichtigsten Pflanzengesellschaften untersucht. Zusätzliche Analysen, wie sie vor allem in den Transekten T 1 (quer durch den Wall 1) und T 2 (quer durch das Moor 1, vgl. Karte Abb.2)weiterzuführen wären, stehen noch aus. Immerhin scheint festzustehen, daß sich die Pollenspektren der Pioniervegetation innerhalb, von denen der geschlossenen alpinen Rasen außerhalb des Walles 1 gut unterscheiden lassen dank einzelner Krautpollentypen und auch dank großer Unterschiede in der präparierbaren Pollenmenge. Allfällige Pionierphasen müßten auch fossil mit diesen zwei erwähnten Kriterien erfaßbar sein. Allerdings müssen wir im Auge behalten (vgl.2.1.2.), daß eine Wiederbesiedlung mit ± dichtem Rasenschluss u.U. schon in der recht kurzen Zeit von wenigen Jahrzehnten erfolgen kann.

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Wir dürfen deshalb nicht erwarten, daß die eigentliche Phase der ersten Besiedlung mit den vielen charakteristischen Pionierarten stratigraphisch und pollenanalytisch in jedem Falle erfaßbar sein muß. (Die Zuwachsraten können u.U. in 100 Jahren nur wenige mm betragen, der Dichte der Probeentnahme sind methodische Grenzen gesetzt!) 3.2.1. Lage des Profils P 2 Lage allgemein: Karte Abb.1, Lage im Detail: Vegetationskarte Abb.3. Knapp außerhalb des Walles 1, mitten in einem C a r i c e t u m f u s c a e t r i c h o p h o r e t o s u m liegt der Graben I, dem bei 12,38 m an der Stichwand ein Profil P 1 entnommen wurde. Im unteren Teil durchläuft G I ein C a r i c e t u m f u s c a e c a r i c e t o s u m f u s c a e, im oberen Teil ist es ein C a r i c e t u m f u s c a e t r i c h o p h o r e t o s u m. Im Stau des Walles 1, am unteren Ende von G I, hat sich ein kleines E r i o p h o r e t u m s c h e u c h z e r i gebildet. Über den Wall 1 weg wächst in bereits dichtem Rasenschluß ein rotschwingelbeherrschtes N a r d e t u m, das nach wenigen Metern (gegen den Gletscherweg zu) in ein reich entwickeltes E p i 1 o b i e t u m f 1 e i s c h e r i des Vorfeldes 1 übergeht. Daneben bilden Büsche der Salix helvetica und einzelne Flecke initiales N a r d e t u m ein Mosaik in Vorfeld 1. In der nächsten Umgebung von P 2 lesen wir aus der Vegetationskarte Quellfluren, größere Flächen von N a r d e t u m a 1 p i g e n u m c a r i c e t o s u m s e m p e r v i r e n t i s und kleinere Flächen von C a r i c e t u m f r i g i d a e, weiter entfernt noch Cirsium- Deschampsia - Bestände heraus. 3.2.2. Das Pollendiagramm zu P 2 3.2.2.1. Zur Gesamtdarstellung des Pollendiagrammes Die vielen, auf z.T. neu erarbeiteten Schlüsseln basierenden Einzelkornbestimmungen ließen die Zahl der darzustellenden Prozentkurven gehörig anschwellen. Wohl oder übel wurden die auch fossil unterschiedenen Taxa nach aktualistischen Gesichtspunkten geordnet. Es erwies sich dabei als praktisch, nach 4 Klassen von Pollenflugdistanzen zu unterscheiden, deren Grenzen zugegebenermaßen ± arbiträr festgelegt wurden. 1. Fernflug: Aus den tiefergelegenen Waldgebieten der montanen Stufe des Haslitals und des Oberwallis (Goms). Pollenflug ist zu erwarten aus den verschiedensten Laubwald- und Nadelwaldgesellschaften, vgl. die Vegetationskarten von E.FREY (1922), G.HESS (1923) und E.SCHMID (1943-1950).

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2. Regionalflug: Aus der oberen montanen bis subalpinen Stufe des Oberhasli und des Oberwallis. Pollenflug ist zu erwarten aus den Nadelwald- und Zwergstrauchbeständen der genannten Täler. 3. Nahflug: Aus der alpinen Stufe der umliegenden Gebirgswelt, vor allem aus der weiteren Umgebung der Profilstelle, d.h. Pollenflug aus den Rasen- und Naßgesellschaften des Zingenstock - Südhanges. Bezüglich des Profiles 2 sind also Nahflugpollen aus den folgenden Vegetationseinheiten zu erwarten: C a r i c e t u m f u s c a e t r i c h o p h o r e t o s u m, N a r d e t u m a 1 p i g e n u m c a r i c e t o s u m s e m p e r v i r e n t i s, C a r i c e t u m f r i g i d a e, A g r o s t i d e t u m s c h r a d e r i a n a e, Cirsium-Deschampsia - Bestände, ev. Spuren des E p i 1 o b 1 e t u m f 1 e i s c h e r i und des initialen N a r d e t u m aus dem nähergelegenen Vorfeld 1. 4. Lokalflug: Aus der allernächsten Umgebung des Profiles 2: Hierher werden nur noch die Pollentypen jener Vegetationseinheit gerechnet, die die Schichten des analysierten Bodenprofils aufgebaut haben, im Falle des P 2 also das C a r i c e t u m f u s c a e t r i c h p h o r e t o s u m. Die Unterteilung in die 4 Pollenflug-Klassen findet man auch in der 2. Zeile des Titelkopfes des Diagrammes. In der ersten Zeile erkennt man die Zweiteilung des ganzen Diagrammes in Gehölzpollen links und Nichtbaumpollen (Kräuter und niedere Sträucher) rechts. Der gesamte Gehölzpollenflug ist von der heutigen Situation aus als Fern- und Regionalflug zu beurteilen, im Atlantikum jedoch dürfte ein gewisser Anteil auch Nahflug gewesen sein. 3.2.2.2. Stratigraphie des Profils (Position in G I bei 12,38 m): Von unten nach oben: 80 cm - 60 cm: Grundmoräne ± 60 cm: Eine Lage auffallend oberflächenparallel eingeregelter flacher Steine und Blöcke: Einregelung ein Zeichen (früherer?) Solifluktion. 60 cm - 40 cm: Lehmkomplex mit helleren und dunkleren Bändchen je nach Position in G I in wechselnder Folge und Zahl. 40 cm - 29 cm: Schmieriger, deutlich lagig-gepreßter und ± stark zersetzter Cyperaceen-Torf von dunkel-rotbrauner Farbe, je nach Position in G I 10 - 15 cm dick.

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ab 29 cm - 5 cm: Ab 29 cm allmählicher Übergang zu hellerfarbigem, nicht lagig - gepreßtem Torf mit mehr Grobsand. 6 cm - 2 cm: Sandreicher Torf besonders nach längerer Anwitterung der Profilwand gut als etwas helleres Band zu erkennen. 2 cm - 0 cm: Cyperaceen-Torf, dunkelbraun, als Abschluß eine oft kaum 1 cm Dicke erreichende Streueschicht. 3.2.2.3. Datierung des Profils, Zuordnung zu den mitteleuropäischen Pollenzonen Der sich im Diagramm nur spurenhaft in Promillen und einigen Prozenten abzeichnende Fernflug, vor allem der Gehölzpollen (z.B. Eichenmischwald-Pollen) aus den tiefer gelegenen Waldgebieten erlaubt es, eine Zuordnung zu den mitteleuropäischen Pollenzonen zu diskutieren. Nach der Eichenmischwald-Entwicklung zu schließen, beginnt das Profil im älteren Atlantikum, eventuell wurde noch knapp ein jüngster Abschnitt des Boreals erfaßt. Auch die beiden bisherigen C 14-Datierungen lassen diesen Schluß zu: B 908 in Grabung I bei 10 m, Tiefe 20-22 cm, also an jener Stelle der Grabung am oberen Ende der dunkelrotbraunen, lagiggepreßten Torfschicht: Messung OESCHGER/RIESEN/LERMAN, durch ein Mißverständnis wurde sie gleich zweimal gemessen: 1969: 5130 ± 140 Jahre 1972: 5100 ± 90 Jahre B 907 in Grabung II bei 4,3 m, Tiefe 26-28 cm, also am unteren Ende der dunkelrotbraunen, lagiggepreßten Torfschicht: Messung OESCHGER/RIESEN/LERMAN: 6300 ± 100 Jahre B.P. Damit wird klar, daß der Wall 1 durch einen postglazialen Maximalvorstoß des Oberaargletschers zusammengeschoben wurde. Gleich außerhalb des Walles 1 konnte sich die Vegetation während Jahrtausenden ungestört von Eisüberschiebungen entwickeln. Der Regionalflug, hauptsächlich aus Föhren-, Fichten- und Erlenpollen gebildet, erreicht nie Werte, die auf eine ehemalige dichtere Bewaldung beider Profilorte selbst hindeuten würden; man vermißt auch die fossilen Spaltöffnungen als gute Waldzeiger. Reiche Holzfunde etwa südlich der Grabung 1 im heute überschwemmten Vorfeld 1 oder 2, beweisen aber, daß im Oberaarboden doch ein Lichter Arvenwald gestanden haben muß; das 14-C-Datum B-254 4600 ± 80 B.P. (Messung OESCHGER et al.1961) einer solchen Holzprobe zeigt, daß mindestens einzelne Bäume noch am Ende des jüngeren Atlantikum in der Oberaar standen. Funde von Föhrenpollen aus dieser Zeit (gut erhaltene Körner zählen überwiegend zu Pinus cembra) wären demnach eigentlich zum Nahflug zu rechnen.

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Es können hier nicht in allen Einzelheiten die Gehölzpollen-Kurven diskutiert werden, uns interessieren im Zusammenhang mit dem Thema des Symposium vor allem die lokalen Entwicklungen, wie sie sich aus den Nichtbaumpollen-Kurven (NBP) niederschlagen. Es war notwendig, die vielen NBP - Taxa nach ökologischen Kriterien zu unterteilen, vgl. dazu 3. Zeile im Diagramm-Titelkopf: V.l.n.r.: Kulturarten und trockene, sonnige, tiefe Lagen (=Fernflug); Hochstaudenarten, Waldarten und Arten der subalpinen Stufe (=Regionalflug und früher z.T. Nahflug, ev. sogar Lokalflug); Arten der alpinen Rasen tiefer, mittlerer und hoher Lagen (=Nah- und Lokalflug); Arten der Pionierrasen und Felsen, Arten der Schneetälchen (=Nahflug und früher z.T. Lokalflug); Arten der Naßstandorte (=Lokalflug, mindestens z.T., über längere Zeiträume). Besprechen wir abschließend kurz die NBP - Kurven von links nach rechts, so lassen sich vorläufig (ohne Abstützung der Interpretation auf die Resultate benachbarter Profile gleicher Standorte) folgende Haupttendenzen der Vegetationsentwicklung ablesen: 1. Kulturpollen sind in nennenswerten Mengen ab ca.10 cm Tiefe anzutreffen. 2. Für den Abschnitt des älteren, etwas weniger deutlich des jüngeren Atlantikum, hebt sich eine Gruppe von Hochstaudenpflanzen ab (im Diagramm durch Punktsignatur hervorgehoben): z.B. Trollius europaeus, Aconitum, Chaerophyllum, Angelica silvestris, Pimpinella major, Prenanthes purpurea. In dieser günstigeren, feuchteren Klimaphase machte sich offenbar, zumindest in der Nähe des Profilortes, eine Hochstaudenflur verstärkt bemerkbar. Es wuchsen damals Arten in größeren Flächen in der Oberaar, die heute dort sehr selten sind oder ganz fehlen.

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3. In einem mittleren, größten Abschnitt des Diagrammes sind alle Arten der alpinen Stufe tiefer und mittlerer Lage zusammengefaßt, wie sie heute vor allem in den trockeneren Rasengesellschaften der C a r i c e t a 1 i a c u r v u 1 a e (Horstseggenrasen, Krummseggenrasen für unser Gebiet) ihren Schwerpunkt haben. Nach Lage des Profils zu urteilen, müssen wir einen Nahflug erwarten, der uns über die lokalste Entwicklung dieser Rasengesellschaften naturgemäß nur unzuverlässig Auskunft geben kann. Einige Arten der (heute !) tieferen Lagen der alpinen Stufe wie Geranium silvaticum- Typ, Silene nutans, Pulsatilla und Chrysanthemum leucanthemum-Typ treten, wie die Hochstaudenarten, im Atlantikum etwas stärker hervor. Von der großen Artenliste der mittleren Lagen seien die regelmäßiger, im ganzen Profil immer wieder angetroffenen Arten geannt: Salix helvetica-Typ, Leontodon helveticus, Ranunculus montanus-Typ, Potentilla-Typ, Botrychium lunaria .u.a. Das verstärkte Auftreten von Ligusticum mutellina, wenig später auch Gentiana purpurea und Gentiana ramosa kann mit der etwas vorher einsetzenden Torfdecken- Bildung korreliert werden. Weitere Entwicklungstendenzen, die mit Bodenreifungsprozessen einhergehen könnten, sollten aber besser in Profilen analysiert werden, die direkt den Standorten der Horstseggen- und Krummseggenrasen entnommen worden sind. Dasselbe gilt für das Nebendiagramm der Gramineen-Typen, an dem wir immerhin ein recht frühes Erscheinen von Nardus ablesen wollen, ganz wie wir es im rezenten Vorfeld 1 gesehen haben. Für die lokale Entwicklung kommen vor allem Arten der Nassstandorte in Frage: Größten Anteil am Pollenspektrum hat (wenigstens im Bereich der grobsand- und sandarmen Cyperaceen- Torfe) die Familie der Cyperaceen. Eine Einzelkornanalyse von 100 gut erhaltenen Cyperaceen-Körnern zeigt ein Überwiegen der Carex-Typen, ein fast regelmäßig durchziehendes Vorkommen der Trichophorum-Typen von ca. 40 cm bis 7 cm und in den obersten Zentimetern. An dem sich über Jahrtausende hinwegziehenden Torfwachstum waren also vor allem Carex, aber auch Trichophorum beteiligt. 4. Einen auffallenden Unterbruch dieser Entwicklung stellen wir bei 4-6 cm fest: Plötzlich überwiegen hier die Gramineen, liguliflore und tubuliflore Compositen kommen auf 10%, Trichophorum verschwindet vollständig, und in der Gruppe der Schneetälchen- und Pionierpflanzen fallen einige Kurvengipfel auf:

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Rumex, Artemisia genipi-mutellina-Typ, Cerastium uniflorum, Sedum (cf. alpestre!), Cruciferen (cf. Cardamine resedifolia !). Die Einzel-Pollenfunde von Gentiana nivalis - Typ, Hieracium cf. intybaceum, Epilobium fleischeri, Trifolium badium, Achillea moschata, Cryptogramma, crispa, Veronica, Silene rupestris und Primula häufen sich ebenfalls ± in den obersten Zentimetern des Profiles. Dazu gesellt sich eine Gruppe von Schneetälchenarten: Mit schönen Kurvengipfeln Gnaphalium supinum, Soldanella pusilla, mehr Einzelfunde: Salix herbacea und Alchemilla pentaphyllea. Wir gehen sicher nicht fehl, dieses unter 4 beschriebene Zurückdrängen der Naßstandort-Arten, das Zunehmen der Schneetälchen und Pionierarten als Ausdruck einer Klimarückschlag-Phase zu beurteilen. Es drängt sich, oberflächlich betrachtet, eine direkte Korrelation mit dem 1860er - Maximalvorstoß des Oberaargletschers auf. Bedenken wir aber, daß wir eine durchschnittliche Zuwachsrate von wenigen mm in hundert Jahren aus den C 14-Daten und der Profilmächtigkeit errechnen können. Eine sich in ± 5 cm Bodentiefe abzeichnende Klimarückschlag-Phase könnte also ein beträchtliches Alter aufweisen. Höchstwahrscheinlich ist sie wesentlich älter als 110 Jahre. Wegen der reichen Durchwurzelung der obersten Profilzentimeter wurde auf eine C 14-Messung dieser interessanten, sandreicheren Torfschicht verzichtet. Somit muß vorläufig die Frage nach dem Alter dieser Rückschlagphase offen bleiben. Dem genetisch-dynamisch interessierten Vegetationskundler öffnet sich hier ein breites, vielversprechendes Forschungsfeld. Weitere Profilanalysen ähnlicher und anderer Standorte dürften den Einblick in den Wandel der Pflanzengesellschaften der alpinen Stufe vertiefen. An geeigneten gletschernahen Orten wird in den Pollendiagrammen auch nach den Zusammenhängen mit den lokalen Gletscherschwankungen zu suchen sein. Eine verfeinerte Nichtbaumpollen-Analyse wird dabei wenigstens z.T. helfen können, echte Klimarückschläge im Profil von rein "zufällig" durch lokale Überschüttung entstandenen pollenarmen Zwischenschichten zu unterscheiden. Die ersten sollten anhand ausgeprägter Pollenkurven der Pionier- und Schneetälchenarten oder ähnlicher Erscheinungen zu erkennen sein.

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ZUSAMMENFASSUNG Vegetationsgeschichtliche Studien an gletschernaher Vegetation im zentralalpinen Grimselgebiet (Schweiz, 2300 m) ließen es notwendig erscheinen, vorerst der lokalen Gletschergeschichte und ihrer Entwicklung auf die heutige Vegetation nachzugehen. Resultate einer Vegetationskartierung (Maßstab 1:600) werden in Beziehung zu den nach historischen Quellen erarbeiteten Moränen- und Vorfelddatierungen gesetzt. In den Rahmen der so erarbeiteten Vorstellungen über Sukzessionsvorgänge im Vorfeld des Oberaargletschers werden erste Ergebnisse einer Krautpollenanalyse eines C 14- datierten Bodenprofils gestellt.

SUMMARY There is a reason to expect interesting results regarding the secular change of plant communities from the pollen analysis of alpine soils in suitable locations. Such a prom- ising site is a slope at the foot of the "Zinggenstock", situated 4 miles WSW the Grimsel pass in the central part of the . It was the intention to reveal as much as pos- sible about the local history of the plant communities by means of pollen analysis (see 3.2.); this made a thorough investigation of the pollen morphology of the local flora necessary (see 3.1.). in order to study the plant communities of the past, the actual asso- ciations had to be analysed (see 2). Moraines of the nearby Oberaar Glacier mark dis- tinct boundaries between some plant communities. It was therefore necessary to know more about the history of this glacier, especially more about those tongue movements which produced the main three moraine systems 1, 2+3 and 4 and their "gletschervor- felder" (see 1).

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LITERATUR Alle Originalarbeiten, deren Autoren als Erstbeschreibende mit Publikationsjahr hinter den behandelten Vegetationseinheiten figurieren, sind hier weggelassen, man findet die vollständigen Zitate in: SUTTER, R. & LIEGLEIN, A. 1978.

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