Frühe Erstbesteigungen im Hochgebirge durch Aarauer

Autor(en): Ammann, Gerhard

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Aarauer Neujahrsblätter

Band (Jahr): 80 (2006)

PDF erstellt am: 09.10.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-559344

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http://www.e-periodica.ch Gerhard Ammann

Frühe Erstbesteigungen im Hochgebirge durch Aarauer

Fünf Mitglieder der Familie Meyer aus Aarau waren in den Jahren 1811/12 an den Erst- besteigungen der und des Finsteraarhorns beteiligt. Die Erkundung dieses äusserst schwer zugänglichen alpinen Kernraums erforderte grosse körperliche Kraft und viel Forschungseifer.

Vor der Finsteraarhornhütte auf 3050 Metern seinen Führern und Begleitern damals gegan- über Meer trafen sich 1987 bei herrlichem Wetter gen war. Die Aarauer Delegation setzte sich aus rund 200 Personen zu einer Feier. Sie gedachten dem Stadtschreiber Martin Gossweiler, dem Prä- dort der ausserordentlich mutigen und erfolgrei- chen Erstbesteigung des Finsteraarhorns durch die Expedition von Rudolf Meyer, Enkel des be- rühmten Aarauer Unternehmers und Forschers Johann Rudolf Meyer. Rudolf Meyer erklomm am 16. August 1812, das heisst vor 175 Jahren, die damals ungeheuer abweisend anmutende Spitze auf 4275 Metern über Meer im kaum erkundeten, vergletscherten, lebensfeindlichen und äusserst schwer zugänglichen alpinen Kernraum. In den Jahren vor 1800 hatten im Zusammenhang mit den Arbeiten zur Schaffung des Alpenreliefs Mit- arbeiter seines Grossvaters bereits das Berner Oberland erkundet. Der Kanton Wallis und die beiden Gemeinden Fiesch und hatten zu diesem Anlass geladen. Viele Bergsteiger absolvierten in drei Tagen als Sternmarsch den Weg, den Meyer mit

1 Finsteraarhom, gemalt von Edward Theodore Compton, um 1910. Über den Hängegletscher erstiegen Meyer und seine Begleiter den Grat in FINSTERAmHORN sechs Stunden (Anker, 1997, S.37).

87 2 Aufstieg zum Oberaarjoch, 1987 (Foto: Martin Gossweiler). 3 Finsteraarhornhütte, Messe und Berg- predigt, 1987 (Foto: Franz Blättler). A Bericht von Urs Helbling über den iubiläumsakt im «Aargauer Tagblatt», 19. August 1987. 5 Festakt in Fieschertal, 1987. Stadt- Schreiber Martin Gossweiler überreicht dem Gemeindepräsidenten von Fieschertal die Tischglocke (Foto: Martin Gossweiler).

88 dargau

Aarauer bezwang Johann Rudolf Meyer vor 175 Jahren in Embeueigcr-Manmchaft

89 Johann Rudolf Meyer, der Vater Johann Rudolf Meyer (1739-1813), in den nach- folgenden Ausführungen in Abgrenzung zu sei- nen Nachkommen als «Vater» benannt, war - auch auf schweizerischer Ebene - eine bedeuten- de Persönlichkeit. Seine unternehmerischen Fä- higkeiten trugen ihm grossen Reichtum zu. Aber auch im kulturellen und sozialen Bereich er- brachte er grosse Leistungen; so machten ihn die Unterstützung von Armengenössigen und die Hilfe zur Schulung von Waisen bereits zu Lebzei- ten bekannt. Seine Lebensleistungen können mit den folgenden Charakterisierungen zusammen- gefasst werden: Unternehmer, Politiker, sozialer Wohltäter, Philanthrop, Mäzen, Visionär, For- scher und Berggänger. Sein Leben war von gros- ster Vielfalt und Intensität. Meyers wohl wichtigste Grosstat war die Schaf- fung eines «Reliefs des gesamten schweizerischen Alpenraumes». Daraus ist zeitgleich der «Atlas Suisse» entstanden (dazu ausführlich Ammann, sidenten des SAC Aarau, Franz Blättler aus 2003). Seine Begeisterung für die alpine Welt be- Schöftland, und den SAC-Mitgliedern Hans gann schon in seiner Jugend. Damals hatte er auf Maurer aus Buchs und Richard Maurer aus langen Wanderungen die Landschaften der Pässe Schlossrued, Hüttenchef der Aarauer Kehlenalp- Gotthard, Furka und Grimsel und des Berner hütte, zusammen. Den Gottesdienst zelebrierten Oberlands mit seinen gewaltigen Schneegipfeln drei Geistliche. Pickel und Seile der Anwesenden und Gletschern kennen gelernt. Spätere Wände- wurden gesegnet. Eine engagierte Rede hielt der rungen und verschiedenste Ausflüge verstärkten Walliser Staatsrat Hans Wyer. Franz Blättler über- die Anziehung der Bergwelt auf ihn. Sein Lieb- reichte vom SAC Aarau einen Originalstich von lingsgebiet waren die Innerschweizer Alpen. der Stadt Aarau, der für die Finsteraarhornhütte Meyer war, wie wir heute annehmen, kein Klette- bestimmt war. Anlässlich der anschliessenden rer, also kein Bergsteiger, sondern ein begeisterter Feier und des Festes in Fieschertal überreichte Bergwanderer. Wahrscheinlich musste er aber Stadtschreiber Martin Gossweiler dieser Ge- seine Mitarbeiter bei deren Feldarbeit besuchen. meinde eine wohlklingende Tischglocke aus der Da er sich wohl bewusst war, dass man sich vor al- Glockengiesserei Rüetschi. Frieda Steffen aus lern von Gipfeln aus Orientierung über das Ge- Schlossrued berichtete in der Zeitung «Euses Blättli» über den Festakt und Urs Helbling im 6 H.Wyler (1949): Liebliche Darstellung des Hoch- «Aargauer Tagblatt». gebirges (links das Finsteraarhorn). Plakat für die Gurtenbahn, 1949 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung).

90 biet der Eismeere und dessen Strukturen ver- haus» später « Leergut », heute katholisches Pfarr- schaffen kann, bestieg er 1787 mit seinem verant- haus). Privat betrieb Meyer eingehende natur- wortlichen Vermessungsingenieur Weiss den Tit- wissenschaftliche Studien und wurde 1802 an der lis. War er auch bei den Vermessungen im Berner Kantonsschule ohne Entschädigung Lehrer für Oberland dabei? Das Probeblatt für den Atlas Physik und Chemie. Wirtschaftlich war der Nach- Suisse von 1796 umfasste immerhin grosse Gebie- folger des frühen Unternehmers sehr schlecht ge- te zwischen Grimsel und Kandertal, Rhônetal stellt. Man weiss nicht, wo und wie er gestorben und Aaretal. Samuel Johann Jakob Scheurmann ist. Auch über seinen jüngeren Bruder Hierony- (1770 -1844) war einer der drei Kupferstecher von mus ist nur wenig bekannt. Meyer und Weiss in Aarau. Dieser war es, der zum Bericht über die «Reise auf die Eisgebirge des Rudolf Meyer, der Enkel (1791-1833) Kantons Bern und Ersteigung deren höchster Rudolf Meyer, der Enkel des frühen Unterneh- Gipfel im Sommer 1812» auf der Basis des Atlas mers und ältester Sohn von dessen Nachfolger, Suisse speziell eine Karte des Gebietes schuf. wurde gemeinsam mit seinem Bruder Gottlieb (1793-1829) in der Anstalt Pestalozzis in Burg- Johann Rudolf Meyer, der Sohn (1768-1825) dorf erzogen. Auf den Besuch der Kantonsschule In diese «alpine Welt» wuchsen die Nachfahren in Aarau folgte ein vierjähriges Studium der Me- des Aarauer Forschers und Mäzens hinein. Der dizin und Naturwissenschaften an der Universi- gleichnamige Sohn von Johann Rudolf Meyer tät Tübingen. Nach der Erstbesteigung des Fins- soll ein Mann von ausserordentlichen Körper- teraarhorns am 16. August 1812 schloss er seine kräften gewesen sein. Von ihm existiert kein Bild. Er übernahm die Seidenbandfabrik seines Vaters, 7 Johann Rudolf Meyer, der Vater (1739-1813) die später aufgrund des Postanbaus abgerissen (Max Senger, Wie die Schweizer Alpen erobert wurde, mit den für die Wasserzufuhr notwendi- wurden, 1945). 8 Rudolf Meyer, der Enkel (1791-1833) gen unterirdischen Stollensystemen (Meyersche (Abraham Emanuel Fröhlich, Erinnerungen Stollen) und erbaute das klassizistische «Land- an Prof. Dr. Rudolf Meyer, 1852).

91 Studien in Tübingen als Doktor der Medizin ab. Thilo, 1804 bis 1818 Lehrer für Mathematik an der Er unternahm Studienreisen durch Mitteleuropa Kantonsschule, danach Lehrer in Frankfurt an und blieb für längere Zeit im Bergbaugebiet von der Oder, wohl ein Freund von Rudolf Meyer, so- Freiberg in Sachsen, wo er an der dortigen Berg- wie die Gämsjäger Alois Volker und Joseph Bortis akademie seine Studien weiterführte. 1821 wurde aus dem Lötschental. Zu nennen sind schliess- Meyer Lehrer für Naturwissenschaften an der lieh Kaspar Huber von Guttannen und Arnold Kantonsschule Aarau. Es folgten - nebst zeitwei- Abbühl, genannt von Melchthal - ein aus dem ser Beschäftigung als Rektor der Schule- Jahre in- Haslital stammender Angestellter im Grimsel- tensiver Forschungs- und Publikationstätigkeit. Hospiz. Die Personen aus dem Kreis der Familie Daneben betätigte er sich jedoch auch als Schrift- Meyer und Ludwig Thilo waren wohl keine Berg- steller und politischer Kommentator. Meyer er- ganger, geschweige denn Alpinisten. Hinter dem lebte ebenfalls wirtschaftliche Not. Er starb früh Gesamtunternehmen stand gewiss Johann Ru- mit 42 Jahren an den Folgen von Gicht. Seine dolfMeyer, der Vater, mit seinen Interessen, Ideen jüngste Tochter verstarb 1919 im Alter von 89 Jah- und materiellen Möglichkeiten. ren, womit «der Aarauer Zweig der Meyerschen Aufschluss über die beiden Unternehmungen er- Johann Rudolfe» ausstarb. halten wir durch die Originalberichte aus dem Kreis der Familie Meyer. lohann Rudolf Meyer, Die Teilnehmer der Expeditionen der Sohn, und sein Bruder Hieronymus publizier- Durch welche alpinen Räume führten die Expe- ten 1813 einen Bericht zur «Expedition Jungfrau». ditionen zur Erforschung der Berner Oberländer Rudolf Meyer, der Enkel, verfasste einen Bericht Gebirgswelt und wer beteiligte sich daran? Zur zur «Expedition Finsteraarhorn» und übergab geografischen Orientierung ist es notwendig, diesen Heinrich Zschokke zur Überarbeitung und dass der Leser eine moderne Karte beizieht. Dazu Formulierung. Der Bericht erschien 1813, als Ver- reicht die Karte zur «Reise auf die Eisgebirge des fasser zeichnete Zschokke. Der Originalbericht Kantons Bern» von Scheurmann nicht aus. Es von Rudolf Meyer wurde erst 1852 in der Schrift von Abraham Emanuel Fröhlich veröffentlicht.

Hinter dem Gesamtunternehmen stand Ziele der Expedition «Jungfrau» von 1811 gewiss Johann Rudolf Meyer, der Vater. Die Expedition von 1811 auf die Jungfrau dauerte, die vier Tage Strassentransport mitgerechnet, nur acht Tage und beinhaltete drei Biwaks. Die Route kommen in Frage: SEK 1: 25 000, Blatt 1249, Fins- könnte folgenden Titel aufweisen: Aarau - Jung- teraarhorn; SLK 1: 25000, Blatt 1250, Ulrichen; trau - retour. Im Bericht findet sich nicht nur der SLK 1: 50000, Blatt 264, Jungfrau; SLK 1: 50000, routenmässige Ablauf dieser Reise beschrieben, Blatt 265, Nufenenpass; SLK 1: 50000, Zusam- sondern er enthält auch eine unglaubliche Fülle mensetzung Blatt 5004, Berner Oberland. von Empfindungen, Erlebnissen, Beschreibungen Aus dem Kreis der Familie Meyer sind folgende und Beobachtungen. Diese zeigen schonungslos Personen zu nennen: Johann Rudolf Meyer, der die Schwierigkeiten, welche die vier Männer da- Sohn des frühen Unternehmers, dessen Bruder mais zu bewältigen, welche Anstrengungen sie zu Hieronymus und die Söhne Rudolf und Gottlieb. leisten hatten und wie viel Leiden sie ertragen Zur Gruppe gehörten des Weiteren Dr. Ludwig mussten.

92 Am Anfang des Berichts umschreiben die Ver- Die Route zur )ungfrau fasser den Zweck des Unternehmens wie folgt: Die Expedition startete am 29. Juli in Aarau. Auf «Schon seit mehreren Jahren lag es in unserem dem Weg von Aarau ins Wallis heuerten die Mit- Sinn, das Hochgebirge zwischen dem Berni- glieder der Familie Meyer in Guttannen den Trä- sehen Oberlande - den Thälern von Lauterbrun- nen, Grindelwald, Hasli u. s. w. - und dem Wallis genauer zu erforschen; theils den Zusammen- Am selben Tag erblickte sie erstmals hang jener ungeheuren ewigen Eisfelder zu er- « die einförmige Winterwelt des Gletschers ». kennen, theils zu erfahren, ob die bekannten höchsten Berggipfel, welche aus ihnen hervorra- gen, ersteigbar wären.» Johann Rudolf Meyer ger Kaspar Huber an. Sie wollten von Naters aus und sein Bruder Hieronymus bezeichneten die «über den Aletschgletscher in das grosse Innere Reise als «ersten Versuch, jene nie bewandelten des Eismeers vordringen». In Fiesch änderten sie

Regionen in geographischer Hinsicht zu rekog- den Plan. Am 31. Juli erreichten sie den Aletsch- noszieren, um dann in folgenden Unternehmun- gletscher auf der Märjelenalp. Aus unbekannten gen dort für die Wissenschaft arbeiten zu kön- Gründen nahmen sie dann nicht den Weg den nen». Die Expedition von 1811 war also die erste Gletscher entlang, um ins Lötschental zu gelan- in einer ganzen Reihe von geplanten LInterneh- gen, sondern sie überquerten diesen und gelang- mungen. Dabei ging es vorerst vor allem um Erst- ten über den unteren Teil des Oberaletschglet- besteigungen und Erstbegehungen. Gemäss dem schers, den Beichgletscher und über den Beich-

Bericht Hess die Expeditionsgruppe alle «Mathe- pass (wohl Erstbegehung) dorthin. Man stelle matischen und Physikalischen Werkzeuge» als sich diese Tagesleistung vor {25 Kilometer Weg, möglicherweise entscheidend behindernden Bai- 2700 Meter Aufstieg, 2000 Meter Abstieg)! Auf last zurück, auch wenn der Verzicht auf wis- der Lötschenalp heuerten sie die beiden Gänts- senschaftliche Forschung schwer gefallen sein jäger Alois Volker und Joseph Borter als Führer muss. an. Ein wesentlicher Bezug zur «Geschichte der Fa- Am 1. August stieg die Expeditionsgruppe über milie Meyer» findet sich in folgender Passage: «Es den Langgletscher zur Lötschenlücke auf. Am sei- mögen nun etwa fünfzehn Jahre sein, als der In- ben Tag erblickte sie erstmals «die einförmige genieur Hr. I. H. Weiss, welcher für unseren Vater Winterwelt des Gletschers [...] mit seinen bien- die Messungen zum Behuf des Atlasses und des denden Massen». Gegen die Blendung deckten Reliefs von der Schweiz machte, vom Ober-Aar- sie den Kopf mit Floren schwarze Tücher) ab. AI- gletscher nach dem Vieschergletscher vordrang. le trugen Lebensmittel, Milch und «Bürden Hol- Es geschah mit den unglaublichsten Gefahren des zes» mit sich. Zudem verfügten sie über eine neue Lebens. Er musste sich mit seinen Begleitern in Leiter, Seile und Alpenstöcke. Von Steigeisen die tiefen Eisschründe hinunterlassen, und dann schreiben sie nichts! sich wieder in denselben einen Ausweg suchen In zwei Gruppen erkundeten sie den Raum des oder bahnen. Er musste in den Spalten und Klüf- Konkordiaplatzes, um die Jungfrau zu erkennen ten des ewigen Eises übernachten, und was ver- (noch nie hatte jemand die Jungfrau von Süden brennbar mitgeführt ward, anzünden, um der er- her gesehen). «Linter der Menge von Gebirgshör- starrenden Kälte zu wehren.» nern, welche aus den Tiefen hervorragten, konn-

93 9 Jungfrau von Süden. Bei der Erstbesteigung erfolgte der Aufstieg über die vereiste Felsrippe zum Rottal- horn und dann nach rechts hinunter auf den Rottal- sattel. Bei der Zweitbesteigung erfolgte der Aufstieg über den zerschrundeten Gletscher direkt auf den Rottalsattel. Rechts aussen das Jungfraujoch (Edition Gabereil, Thalwil, Fotoarchiv Schweizerisches Alpines Museum, Bern). 10 Gletscherbrüche am Rottalsattel, 1931 (Sammlung Gebrüder Wehrli, Eidgenössisches Archiv für Denkmal- pflege, Bern).

94 95 ten wir dasjenige der Jungfrau nicht wieder er- die Grünhornlücke und damit den direkten Zu- kennen. Nach langem und ängstlichem Forschen gang von der Grimsel her ins Gebiet des Konkor- erkannte Rudolf [Meyer Sohn] die Jungfrau be- diaplatzes; der Umweg über das Wallis war in Zu- stimmt». Darauf suchten sie einen Weg, «wie kunft nicht mehr notwendig. Die Meyers formu- man sich dem Berg mit den geringsten Gefähr- lierten eine weitere Erkenntnis: «Auch zeiget sich düngen nähern kann». Das erste Nachtlager be- klar, dass das finstere Aarhorn, der höchste aller fand sich am Fuss der Kranzberge. uns umragenden Gebirgsgipfel, ohne besondere Schwierigkeiten zu ersteigen ist, desgleichen der Schwieriger Aufstieg zur Jungfrau-Spitze Mönch.» Und wie zeigte sich dann später die Re- Am 2. August suchten sie über den Jungfraufirn alitât? den Weg zum Rottalsattel. Welche Schwierig- keiten diese Route beinhaltete, zeigt folgender Vermerk: «Die Mühseligkeit des Wanderns im « Die Mühseligkeit des Wanderns im Schnee Schnee erhielt ziemlich anhaltend in Odem uns erhielt uns ziemlich anhaltend in Odem und Schweiss. Denn über den uns die- quer von und Schweiss. » sen Morgen zurückgelegten Weg zogen sich von Zeit zu Zeit ungeheure Eisschründe, das heisst Aufspaltungen des Eises von unergründlicher Johann Rudolf Meyer entdeckte am Viescher- Tiefe, und oft fünfzig und mehr Schuh breit. Über horn eine grosse Fläche «dem Purpurroth sich diese hinweg zogen sich hin und wieder schmale nähernden Schnees». Er deutete dies als Staub Eisbänder, oder vielmehr Brücken aus hartem von Flechten. Könnte es nicht auch eine Verfär- verdichtetem Schnee. Darunter im Abgrund floss bung durch von Südwinden herangetragenen Sa- Wasser. Die Schneebrücken hingen gewölbt da- harastaub gewesen sein? Auf dem Schnee fanden rüber von einem Ufer des Eisschrundes zum an- sie Blätter von Bäumen aus dem Unterland, einen dern. Wir mussten sie jedes Mal mit grösster Vor- Schmetterling und Bienen. sieht passieren. Wo die Sache gefährlich schien, Für das zweite Nachtlager suchten sie eine Stel- legten wir zur grösseren Sicherheit noch die Lei- le, die sich näher bei der Jungfrau befand, auf ter auf das Eisband, und wanderten darüber hin, dem Gletscher lag und sicher war. Im Bericht indem einer nach dem andern in die Fussstapfen wird einerseits auf die Gefahren hingewiesen, des Vorgängers trat.» Die Gruppe befand sich im die auf den Gletschern drohten: «Es sind die von Bereich der Spalten und Eistürme (Seracs) und den Seitenbergen niederfahrenden, losgerissenen der Gletscherschründe. Schneemassen und Eistrümmer». Andererseits Dann kam Föhn auf. Es wurde warm und begann wird die Stille der Nacht mit deren Geräuschen zu regnen. Sie entschieden sich für den Abstieg. 1 Donner brechenden Eises oder Wasserrauschen «Der feste Schnee wurde ganz weich. Ungerech- beschrieben. net die Beschwerlichkeit, dass wir bei jedem Schritt bis ans Knie einsanken, mussten wir be- sorgen, die vorhin beschriebenen Schneebrücken möchten uns nicht mehr über die Eisschründe ii Expedition von löset Hugi. Versuch zur Besteigung der Jungfrau durch das Rottal, 1830. Vier Versuche Den sie für Erkun- tragen». Nachmittag nutzten misslangen (Zeichnung von Martin Disteli, Kunst- düngen. Auf diesen Wanderungen entdeckten sie museum Ölten).

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terbrunnen und Grindelwald stiessen unter un- serem Fuss hier zusammen; alle steil, wie Wände; zweitausend Fuss tief unbesteigbar. Einzig in sei- ner Art ist von hier der Blick in die Eisthäler, de- ren Zusammenhang vollkommen zu übersehen ist. Wir überzeugten uns aufs Neue von der Rieh- tigkeit unserer gestrigen Beobachtungen.» Die

Den Jungfraugipfel erreichte die Gruppe um zwei Uhr.

Teilnehmer verspürten «keine Übelkeiten; kein Brausen in den Ohren; keine Beschwerde von Er- Schöpfung oder Kälte. Wohl fühlte man sich, bei der Schwierigkeit des Steigens, oft bald ermattet, aber auch eben sobald nach einer augenblickli- chen Ruhe wieder vollkommen erholt. Der Puls Auf der ]ungfrau-Höhe ging nur so schnell, als er durch die Mühseligkeit Am 3. August musste Huber im Lotschental Ver- des Steigens beschleunigt sein mochte». pflegung und Holz holen und zum ersten Nacht- Der Blick von der Spitze hinunter versetzte die lager bringen. Über den Jungfraufirn suchten sie Gruppe ins Staunen: «Vom Gipfel hinabgesehen anschliessend wieder den Weg zum Rottalsattel schienen alle Gletscher Ebenen zu sein, ohne be- und nutzten zum Aufstieg die vom Rottalhorn deutende Erhöhungen und Vertiefungen. Nur sich nach Osten ziehende vergletscherte Felsrip- der Montblanc, Mont-Rose, das finstere Aar- pe. Der Aufstieg war wieder unglaublich müh- horn, das Schreckhorn, der Mönch, die beiden sam. Vom Nordgrat des Rothorns mussten sie Eiger, und acht bis zehn unbekannte oder wirk- zum Rothornsattel absteigen. Mehrfach hatten lieh noch unbenannte Hörner vom Wallis, ragen, sie äusserst schwierige Gratsituationen zu be- wie schroffe Berge oder Inseln, aus dem wunder- wältigen. Schliesslich, vor der letzten Kuppe der baren Eismeere hervor. Eben so sah das bewohn- Jungfrau stehend, «sahen wir zu derselben hinauf te Land, mit seinen Alpen und Thälern, einem keinen andern Zugang, als über einen scharf zu- unermesslichen Blachfelde gleich, worin alle Un- gespitzten Schneesattel oder Eiskamm. Wir setz- ebenheiten fast verschwunden schienen. Schau- ten uns reitend auf diesen und glitten vorsichtig, dernd senkte sich der Blick in die entsetzlich fins- halb sitzend, halb kletternd aufwärts. Links und tere Kluft des Lauterbrunnen Thals. Es glich ei- rechts unter unseren Sohlen schroffe Eiswände, nem finsteren Schatten ausgefüllte Felsenrisse». hinunter ins dunkle Tal links von Lauterbrunnen, Trotz schönstem Wetter «lag unter uns alles rechts von den Eisgefilden hinter dem Mönch». Den erreichte die um zwei Jungfraugipfel Gruppe 12 Firngrat mit dem jungfraugipfel (Daniel Anker, Uhr. «Drei lange Gebirgsgrathe, von Wallis, Lau- Jungfrau, Zauberberg der Männer, 1996, S. 34).

98 schwarz, dunkel, lichtlos. Nicht ohne Grausen Schlussfolgerungen aus durchirrten unsere Blicke die düsteren Tiefen. der Jungfrau-Expedition Wir suchten vergebens die Kette unseres vater- «So hatten wir den Zweck unserer Reise, glückli- ländischen Juras - Alles war ein trübes, ver- eher, als wir im Anfang selbst hoffen durften, er- schwimmendes Einerlei». reicht, und hatten uns überzeugt, dass ein mehr- wöchiges Leben auf den Eisfeldern der höchsten Alpen möglich sei (denn dies, und nicht der Schaudernd senkte sich der Blick in die flüchtige Spaziergang von einigen Tagen, wird entsetzlich finstere Kluft des Lauterbrunnen zur genauen Beobachtung der Natur und ihrer Thals. wechselnden Erscheinungen in diesen Höhen er- fordert). - Wir hatten uns überzeugt, dass die Er- Sie pflanzten die schwarze Gipfelfahne. «Möge sie Steigung des höchsten aller schweizerischen Ge- inzwischen dastehen, und einst, wenn gleich halb birgshörner, des finsteren Aarhorns, nicht nur verwittert, doch freundlich denjenigen entgegen möglich, sondern auch ohne Gefahr ausführbar wehen, die nach uns kommen, diesen vorher seit sei.» Allerdings von Westen! der Schöpfung nie erstiegenen Eisthurm zu be- «Es ist unser Vorhaben, im nächsten Jahr, mit al- treten.» Schon bald wurde der Abstieg in Angriff len erforderlichen Werkzeugen und Apparaten genommen: «Wir hatten uns wohl eine halbe versehen, jene Höhen, und dann wahrscheinlich Stunde auf dem Gipfel verweilt. Wir stiegen hi- das finstere Aarhorn zu ersteigen; durch barome- nab; zwar rascher und leichter, als aufwärts, doch trische und trigonometrische Messungen die immer rückwärts kletternd, mit jeder Art von Formen des grossen Eislandes im Mittelpunkt Vorsicht.» Am nächsten Tag (4. August) begleite- der helvetischen Alpen zu bestimmen; so wie ten sie die Gämsjäger ins Lötschental und mar- über Licht und Wärme, Schall, Gehalt der Stoffe schierten dann nach Viesch. in der Atmosphäre, Siedepunkt des Wassers auf Zum Gletscherphänomen meinten die beiden einer absoluten Höhe von ungefähr zweiund- Autoren: «Ausser der geographischen Übersicht zwanzig hundert Toisen, und andere Naturer- von der Beschaffenheit und dem Zusammenhang scheinungen jener unbekannten Regionen an- der Gletschertäler im Innern des grossen zu An- haltende und genaue Versuche zu machen. Auch fang beschriebenen Gebirgsstocks, gab uns diese soll das Leben der Pflanzen- und Thierwelt dann Reise auch in geognostischer [geologischer!] Hin- nicht ganz von unsern Beobachtungen ausge- sieht eine über jeden Zweifel erhabene Ansicht schlössen sein.» von der eigentlichen Bildung desselben.» Im Be- rieht erklären sie zudem exakt einige Naturer- Die Routen der Gesamtexpedition scheinungen: So sei die Behauptung, dass ein «Finsteraarhorn» von 1812 Gletscher alles, was in ihn hinein gerate (Steine, Die Gesamtexpedition zum Finsteraarhorn be- Gämsen, Holz), später wieder freigebe, wohl ein stand aus fünf Teilexpeditionen, die aufeinander «Mährchen ». Der Text erklärt dann ganz korrekt, abgestimmt waren. Zum Teil handelte es sich um wenn auch etwas kompliziert, die Entstehung der parallel durchgeführte Expeditionen, was den parallel laufenden langen Steinreihen, der so ge- Überblick erschwert. Ausgangspunkt und Rück- nannten «Gufferlinien» (Mittelmoränen). zugsort aller Expeditionen war das Grimsel-Hos- piz.

99 100 13 Karte zum Bericht über die «Reise zu den Eis- gebirgen des Kantons Bern» von 1812, Johann Jakob Scheurmann, 1813. Eingezeichnet sind die Routen der Erstbesteigung (Ausschnitt) des Finsteraarhorns und der Zweitbesteigung der Jungfrau (Stadtmuseum Schlössli, Aarau, Foto: Brigitte Lattmann). 14 Berner Alpen vom Furkapass aus gesehen, Hans Conrad Escher (später von der Linth), August 1794. im Zentrum das Finsteraarhorn. Links das Oberaar- horn, das sich fünf Kilometer östlich vorgelagert be- findet (Graphische Sammlung ETH Zürich).

101 102 Die erste Teilexpedition musste am 28. Juli we- Felsen, der senkrecht zum Himmel emporsteigt. gen schlechtem Wetter abgebrochen werden. Die Dem Kühnsten nach, traten wir in seine Stufen, zweite Teilexpedition beinhaltete die Erstbestei- den Arm tief in den kalten Schnee eingrabend, gung des Finsteraarhorns am 16. August 1812. um den unsicheren Fusstritt zu unterstützen. An Während der dritten Teilexpedition über den einigen Stellen war der Gletscher nackt, kein Aletschgletscher am 27. August warteten die Teil- nehmer auf der Märjelenalp fünf Tage auf besse- Wetter. Die vierte hatte die res Teilexpedition « Sechs Stunden lang waren wir mühsam der Zweitbesteigung Jungfrau am 3. September nun hinaufgeklettert an dieser Riesenwand. » 1812 zum Ziel, in deren Rahmen schlechtes Wetter die Erstbesteigung des Mönchs verunmöglich- Schnee hielt daran, und wie die Fläche eines Krys- te. In der fünften Teilexpedition gelang erstmals tails deckte er den Felsen. Da hieben wir Tritte für der Übergang vom Strahlegggletscher über den Hand und Fuss, und befestigten Seile um den Strahleggpass zum oberen Eismeer und die Rou- Leib, welches der erste hielt, wenn der wanke Tritt te diesen und den Unteren Grindelwaldgletscher uns wich. Weniger schüchtern kamen wir auf entlang nach Grindelwald. Die Gruppe von Ru- dem Felsen fort, wo man sich nicht auf trügeri- dolf Meyer Enkel) hatte in nur acht Marschtagen sehen Schnee verlassen musste. So krochen wir gesamthaft rund 90 Kilometer Distanz auf Glet- schräg unter einem Gletscherblock durch (als im Schern oder Firn zurückgelegt. Herbst unsere beiden Walliser die Jagd wieder hieher führte, sahen sie, dass dieser Eiskoloss vom Erstbesteigung des Finsteraarhorns Berge herab ins Tal gestürzt war), der weit sich hi- über die Ostflanke naus schwang über die Thalschlucht, voll Spähe, Der wichtigste Textteil des Originalberichts von vom schönen Gletschergrüne ausgefüllt; Eiszap- Rudolf Meyer beinhaltet die Beschreibung der fen hiengen an seinen überhängenden Gipfeln Erstbesteigung des Finsteraarhorns über die herunter, wie die Stalaktitensäulen einer Felsen- schwierigste Ostflanke der schwarzen Felspyra- grotte, und nieder stürzten sie zuweilen neben mide (erstmals verfügte die Gruppe über Steig- uns, durch unsere Tritte aufgeweckt, und prassel- eisen): «Von der Grimsel-Seite aus [...] stiegen ten hinab ins Unendliche des Finsteraarglet- wir den mächtigen Granitthurm des Finsteraar- schers. Sechs Stunden lang waren wir mühsam horns an. Mit Mühe krochen wir über den Bergs- nun hinaufgeklettert an dieser Riesenwand; am schrund, wohl zu unterscheiden von den Glet- Mittag nahte der eine Gipfel des Gebirges [wohl scherspälten, welche zu tausenden den Gletscher, der so genannte Meyers Peak], da wölbte sich besonders wo er ins Thal hinabhängt, durchklüf- dem ganzen Grathe nach der Gletscher über den ten; die Bergschründe aber trennen den steilen Abgrund hinaus, gegen uns zu (das muss wohl ei- Berggipfel von den liegenden Gletschern, oft 30 ne Wächte gewesen sein). Mit grosser Anstren- bis 40 Fuss breit; der Schrund ist von einer unge- gung konnten wir auch diesen erklettern, und ka- messenen Tiefe, welcher alle steilen Gipfel, wie men so auf die Höhe. Aber ein einzig schöner Ge- der Wall eine Festung umzingelt. Immer steiler nuss lohnte uns reichlich für alle Strapazen.» wurde dann die Schnee- und Gletscherwand am «Über das [vgl. die Ausführungen ] sahen wir hinab auf die höchsten Gebirge

103 104 der kleinen Kantone, über die Bündner Alpen, bis tiefin die Tyroler Firnen schweiften die Blicke, bis sie in nächtlichen Schatten sich verloren, wo Erd und Himmel in einander schwammen, und nicht mehr zu unterscheiden waren. Ein dunkles Meer lag es unter uns, das Alpenland, nicht als Berge, nur wie Wellen, die auf ihrer Spitze schäumten, so spielten ihre schneereichen Gipfel aus dem schwarzen Grund grüner Gebirge.» Rudolf Meyer war erschöpft und blieb mit Huber beim Meyers Peak zurück. Es folgt die Beschrei- bung der Besteigung des «Gipfels» (ein horizon- taler Grat) durch Volker, Bortis und Abbühl. Sie waren erst um vier Uhr oben. Der Abstieg liess sich demgegenüber leicht bewäl- tigen: «Weit leichter und fröhlicher kamen wir nun hinunter auf der Westseite des Berges, und ohne Gefahr auf den Vieschergletscher, bald über Felsrippen, bald über Schnee hinabrutschend. Auf dieser Seite [... ] ist der Berg ohne Schwierig- keiten zu erklimmen; wie schwer dagegen unsere Eicsteigung war, zeigt schon ein flüchtiger Anblick daran eine Mauer von heruntergestürztem Ge- des Finsteraarhorns von der Grimselseite aus.» stein. Auf diese und den Felsen legten wir unsere Alpstöcke und Stangen, breiteten ein Zelttuch da- Provisorische Hütten, unsichtbare Spalten, rüber aus und belasteten es mit Steinen, wo es auf strapazierte Augen und Gewitter dem Felsen und der Mauer lag, um es in seiner Um sich in dieser Höhe vor der eisigen Kälte zu Lage zu erhalten. So war unsere ganze Hütte er- schützen, mussten sich die Teilnehmer der Expe- baut, die uns leidlich sicherte; ihr entsprach un- dition häuslich einrichten: «Diesen Nachmittag ser häusliches Leben; wie eine Grönländerfamilie brachten wir noch damit zu, uns eine Hütte zu in ihrer rauchichten Hütte lagerten wir uns alle bauen; wir räumten Eis und Schnee hinweg, wo um ein Feuer, kochten mit Schnee einen Kaffee, es nur dünn auf dem Felsen lag, und bauten uns und Hessen in unserm Kreise gebratnen Käse und Kirschwasser umgehen.» 16 Das Finsteraarhorn von Osten. Über den Hänge- Auch vor den Gletscherspalten mussten sich die gletscher erstiegen Meyer und seine Begleiter die Teilnehmer in Acht nehmen: «Diese Vorsicht ist Ostwand bis zum Grat neben dem Felsturm (Meyers Peak) (Foto: Gyger und Klopfenstein, Adelboden). durchaus nicht überflüssig, der neue Schnee bildet 17 Gefährlicher Bergschrund am Fuss der Bergwand, nämlich über diese Gletscherschründe leicht ein- kolorierte Lithografie, anonym, 1873 (Elisabeth und sinkende Nikiaus Wyss, Wyss und Früh AG, Unterseen). Gewölbe, man glaubt sich sicher, tritt 18 Nächste Doppelseite: Bergsteiger, Finsteraarhorn. auf, und unvermuthet sinkt man ein; kann man Der so genannte «Gipfel» ist ein lang gestreckter Grat sich mit dem Arm oder durch Ausbreiten des Sto- (Sammlung Gebrüder Wehrli, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Bern). ckes nicht halten, so stürzt man in die fürchterlich-

105 sten Tiefen, wo jede Hülfe umsonst ist. Dieses Hi- Schlag auf Schlag durchzuckte der Blitz die fins- nabstürzen in Gletscherspalte ist auch der ge- tere Luft. Immer dunkler ward es um uns, bis ein wohnliche Tod der Gemsjäger, wenn sie von der Platzregen auf dem Gletscher rasselte, mit dem Jagd nicht mehr heimkommen; undgeradeandie- das Gewitter sich erschöpfte. Wir, mitten im Ge- sen heimlich gefährlichen Orten, wo man sich am witter, sprangen leichtsinnig über die Gletscher- sichersten wähnt, ist die Sorgfalt am nöthigsten; denn wo man am meisten wagt, ist keine Gefahr. » Der Schnee griff schliesslich auch die Augen an: « Wir, mitten im Gewitter, sprangen «Das Gesicht brannte, die Augen schmerzten, je- leichtsinnig über die Gletscherspalte. » der Blick in das blendende Schneefeld war ein Stich ins Auge; beinahe blind tappten wir nach spälte, die uns den Ausweg sperrten, und eilten den Tritten; oft hielten wir stille, und steckten zur rastlos hinunter gegen die Thäler. Am Anfang des Linderung das Gesicht in den Schnee. Auch wenn Aletschsees flüchteten wir uns in eine Krystallmi- die Sonne kaum durch den Nebel schimmert, er- ne, bis das Wetter in die Thäler gezogen war.» müdet dieser Schnee das Auge ausserordentlich, Die Unterstützung durch einheimische Führer und beim unbewölkten Himmel blendet er mit war angesichts solcher Gefahren unverzichtbar: Sonnenglanz; selbst grüner Flor und grüne Au- «Neben mehreren Trägern hatten wir meist vier gengläser, die wir, um einen künstlichen Nebel zu Führer mit uns, alle Alphirten, von denen drei bilden, trugen, halfen nicht immer.» Die Augen kühne Jäger, in jenen Gegenden ziemlich be- schmerzten sogar in der Nacht: «Aber mitten in kannt, oft den Gemsen nachgeklettert waren der Nacht weckten uns die brennenden Augen- [...]. Von Jugend auf in den Gebirgen, gewöhnt schmerzen, von welchen wir beim Niederliegen bei jeder Witterung ihren Ziegen nachzuklettern wenig fühlten; die ruhende Lage aber weckte die und Gemsen zu jagen, erregten sie auch hier oft Entzündung im stark gereizten Auge, und der unser Erstaunen über ihre Unerschrockenheit; Föhnwind verursachte Enge auf der Brust. Wir letzterer zeichnete sich durch unbesonnene Frech- mussten aufstehen und vor der Hütte in der Käl- heit aus, ersterer, der erfahrenere, durch kluge te Linderung suchen.» Vorsicht. Überall waren sie uns äusserst hülfreich, und ohne sie wären wir an vielen Stellen nicht hingekommen.»Alois Volker starb 1814 in einer «Das Gesicht brannte, die Augen schmerzten, Lawine, Arnold Abbühl 1830 ebenfalls. jeder Blick in das blendende Schneefeld war ein Stich in's Auge.» Zweifel an den Erstbesteigungen von 1811 und 1812 Eine weitere Gefahr drohte der Gruppe von Ge- Schon kurze Zeit nach den Expeditionen von wittern, welche diese in Angst und Schrecken ver- 1811 und 1812 wurden erste, massiv vorgetragene setzten und die übrigen Gefahren vergessen lies- Der Gämsjäger in der Umgebung des Finster- sen: «Schwarz stiegen die Wolken hervor hinter ig aarhorns, Bleistift, Feder und Aquarell von Mathias dem Eismeer; ein finsteres Gewitter jagte uns von Gabriel Lory, um 1820 (Graphische Sammlung dem Fusse der Jungfrau; schrecklich hallte des ETH Zürich). 20 Nächste Doppelseite: Finsteraargletscher mit Donners im dass der Boden Brandung Gebirge, Studerhorn (Schneegipfel) und Finsteraarhorn, Caspar erbebte, wie von zerstäubenden Felsen, und Wolf, um 1774 (Aargauer Kunsthaus, Aarau).

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Zweifel an den Erstbesteigungen laut. Die Teil- Auseinandersetzung folgte, die sich in verschie- nehmer der Familie Meyer litten bis zu ihrem Tod denen Publikationen niederschlug (Farrar, Hugi, unter den Anschuldigungen. Im Hinblick auf die Lüders, Montandon, Studer 1882 und 1896 und Expedition zur Jungfrau-Spitze kamen die Zwei- Unsworth 1993). Man bemühte sich mit Akribie fei zuerst aus der Bevölkerung «zu Füssen» der Jungfrau auf der Nordseite. Dort war man der Meinung, dass die Südflanke gleich strukturiert Eine lang andauernde sei wie die Nordflanke und somit unbezwingbar, Auseinandersetzung folgte. obschon diese noch nie jemand aus der Region gesehen hatte. Die Bevölkerung wusste auch um den Beweis, dass Meyer seine Leute auf dem nicht, dass sich die Ausgangsbasis durch die Eis- Gipfel nicht sehen konnte und dass die Gratbe- füllungen auf weit über 3000 Metern über Meer Steigung vom Sattel aus neben dem Meyers Peak befand, also über 2000 Meter höher als diejenige in drei Stunden nicht möglich gewesen sei. von Grindelwald oder Lauterbrunnen und 1000 Hugi schrieb noch 1830 auf Seite 172: «Die Erstei- Meter höher als diejenige auf der Kleinen Schei- gung des Finsteraarhorns ist von dieser [von degg. Und bedingt durch die «Gipfelsituation» Meyer gewählten] Seite für menschliche Wesen war damals auch die eingesteckte Gipfelfahne als durchaus unmöglich.» Hugi selbst hatte dreimal Beweis nicht sichtbar gewesen. Die Gipfelfahne erfolglos versucht, das Finsteraarhorn über den der Zweitbesteigung war dann aber im Tal sieht- Nordwestgrat zu besteigen. Rudolf Meyer hinge- bar; diese stand sogar noch 1842, als Studer den gen hatte von der Strahleggbegehung aus die Fah- Gipfel erreichte. ne auf dem Finsteraarhorn im Fernrohr gesehen und gleichen tags die Gruppe Gottlieb Meyer auf der Jungfrau! Eine Gesamtdarstellung der beiden Die Teilnehmer der Familie Meyer litten bis Expeditionen fehlt bis heute, wie auch eine Dar- zu ihrem Tod unter den Anschuldigungen. Stellung der geführten Diskussionen. Die Mit- glieder der Familie Meyer haben die Erkundun- Zweifel an der Expedition auf das Finsteraar- gen der Eisgebirge nicht fortgesetzt. Weshalb, ist horn kamen auf, da Rudolf Meyer zwar selbst ei- nicht bekannt. nen Bericht dazu schrieb, diesen aber Heinrich Zschokke zur Überarbeitung gab. Dieser arbeite- Dank te auch mündliche Berichte in den Text ein, wel- Mein herzlicher Dank geht an die Herren Martin che Rudolf Meyer entweder nicht kontrollieren Gossweiler, Aarau und Franz Blättler, Schöftland. konnte oder aber unbesehen akzeptierte. Zschok- Ich verweise schlussendlich noch auf die beiden ke unterliefen in seiner Darstellung «einige Feh- hervorragenden Publikationen von Daniel An- 1er». Der wohl folgenreichste war die Abänderung ker. Wissenschaftlich fundiert, mit Bergerfahrung der folgenden Beschreibung von Meyer, «Über geschrieben und hochinteressant bebildert wa- das Oberaarhorn sahen wir hinab auf die höchs- ren sie mir eine grosse Hilfe und gaben mir viele ten Gebirge der kleinen Kantone», zur Aussage: Anregungen.

«Wir standen auf dem Oberaarhorn. » Damit trat die Frage auf, ob Meyer überhaupt auf dent Fins- Gerhard Ammann ist Geograf, war Lehrer an der teraarhorn gewesen sei. Eine lang andauernde Neuen Kantonsschule Aarau und lebt in Aarau.

112 Literatur

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