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Masarykova univerzita Filozofická fakulta

Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky

Německý jazyk a literatura

Eine Studie zum Roman von Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten

Hana Kubicová

Vedoucí práce: PhDr. Zden ěk Mare ček, Ph.D.

2008

Prohlašuji, že jsem bakalá řskou práci vypracovala samostatn ě s využitím uvedených pramen ů a literatury.

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Pod ěkování

Na tomto míst ě bych cht ěla pod ěkovat vedoucímu práce za podporu a trp ĕlivost a P. S. za jeho přítomnost.

3 Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 5 2. Was der Erzählung 6 Epischer Rahmen 6 Figuren 9 Figurenbeschreibung 12 Figurenkonstellation 13 Gliederungsprinzip 14 Handlung 14 Raum 15 3. Das Wie der Erzählung 17 Zeitformen 17 Erzählperspektiven 19 4. Entstehung des Romans 20 5. Zum Stil von Reinhard Jirgl 21 Jirgls Einordnung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 21 Kritik und Rezensionen 23 6. Interpretation 28 Motive und Symbole 28 Jirgls Orthographie und Typographie in dem Roman Die Unvollendeten 33 7. Warum schreibt Jirgl über die Vertreibung im Jahr 2003 35 8. Resümee 39 9. Literaturverzeichnis 41

4 1. Einleitung

Im Jahr 2003 ist das Buch von Reinhard Jirgl Die Unvollendeten erschienen und hat sofort viel Anerkennung gefunden. Reinhard Jirgl gilt lange als kein unbekannter Autor mehr. In den neunziger Jahren, als die deutsche Gegenwartsliteratur eine neue Belebung erlebt hat, ist auch Reinhard Jirgl zum ersten Mal auf die Szene mit seinem Mutter-Vater-Roman hervorgetreten. Um sich dem Schreiben zu widmen, musste Reinhard Jirgl ein Doppelleben führen. Er hat als dreizehnter Beleuchter bei der Ostberliner Volksbühne gearbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Erst im Jahr 1985 hat er einem DDR-Verlag einen Text angeboten, trotz der Fürsprache Heiner Müllers wurde er abgelehnt. Seine Werke durften aus ideologischen Gründen nicht in der DDR veröffentlicht werden. Reinhard Jirgl ist nichts anderes übrig geblieben, als „für die Schublade“ zu schreiben. Doch seine Beharrlichkeit hat sich gelohnt. Seit der Wende wurden schon zwölf Werke von ihm herausgegeben. In der Öffentlichkeit wurde er vor allem für seine einzigartige Orthographie und Typographie bekannt. Ich habe für meine Arbeit seinen Roman Die Unvollendeten gewählt, der noch nicht einer literaturwissenschaftlichen Analyse unterzogen wurde. Ich versuche in meiner Arbeit diesen Mangel aufzuheben. Dieses Buch hat mich sehr beeindruckt, nicht nur wegen des Themas, das mich interessiert, sondern vor allem, wie das Thema literarisch verarbeitet wurde. Das Thema Flucht und Vertreibung ist in der Literatur längst bekannt. Viele Autoren wie z. B. , Horst Bienek oder und Walter Kempowski haben in ihren Werken schon das Thema aufgegriffen. Ich möchte in meiner Arbeit erläutern, warum sich so viele Schriftsteller und vor allem Reinhard Jirgl neu mit diesem Thema beschäftigen, wenn sie selbst diese Geschehnisse nicht erlebt haben. Weil Reinhard Jirgl für die Bearbeitung des Themas eine stilistische Verfremdung gewählt hat, ist ein weiterer Schwerpunkt meiner Arbeit die Art und Weise der literarischen Umsetzung dieses Themas in dem Roman Die Unvollendeten. Das beschreibe ich in der Diskursanalyse des Romans. Zu diesem Zweck vernachlässige ich in dieser Analyse den biographischen Kontext.

5 Am Schluss meiner Arbeit möchte ich erklären, warum Reinhard Jirgl verdient gelesen zu werden, weswegen er kritisiert bzw. gelobt wird.

2. Das »Was« der Erzählung

Epischer Rahmen

Die Geschichte beginnt mit Durchsagen aus den Lautsprecherwagen: ,, 30 MINUTEN ZEIT – MIT HÖCHSTENS 8 KILO GEPÄCK PRO PERSON – AM BAHNHOF SICH EINZUFINDEN – DIEJENIGEN, DIE GEGEN DIESEN BEFEHL VERSTOSSEN, WERDEN NACH DEN KRIEGSGESETZEN BESTRAFT -“1, damit fängt die Vertreibung der Deutschen aus der Stadt Komotau im Sudetenland an. Am Kriegsende müssen Johanna, Maria und Hanna Komotau mit dem Treck sofort verlassen. Anna ist gerade auf dem Heimweg aus einem Zwangsarbeitslager. Als sie am Sportplatz vorübergeht, sieht sie, wie die tschechischen Einwohner und Milizionäre die ehemaligen SS- Männer und Kollaborateure erschlagen. Der Treck führt die drei Frauen zuerst nach Bayern. Hanna und Maria können in München bleiben, aber für die alte arbeitsunfähige Johanna gibt es dort keinen Platz. Sie müssen weiter von München nach Dresden und dann nach Leipzig fahren. Schließlich bleiben sie in Magdeburg, wo sie den Winter in einer kahlen Wohnung ohne Heizung verbringen. Hanna versucht eine Arbeit zu finden, ihre Versuche bleiben jedoch vergeblich. Aus diesem Grund müssen sie alle drei weiter reisen. Im Frühjahr 1946 kommen sie auf einen Gutshof in einem kleinen Dorf an, das sich in der Nähe von Birkheim befindet. Dort sollen sie bei den Feldarbeiten helfen. Als Lohn bekommen sie dafür Essen und Unterkunft. Hanna beginnt sofort nach ihrer Tochter Anna zu suchen. Anna bleibt während dieser Zeit bei ihren Nachbarn aus Komotau, bei denen sie als ihre Nichte angemeldet ist. Sie müssen evakuiert werden. Einmal in der Nacht bekommt Anna von einem ehemaligen tschechischen Partisanen eine Nachricht von ihrer Mutter. Sie muss nach Reitzenhain fahren, wo sie sich mit Hanna treffen soll. Während des Wartens auf Hanna in Reitzenhain, lernt Anna einen Jungen namens Erich kennen. Sie verlieben sich. Später erfährt sie, dass er früher zur SS gehört

1 Jirgl, Reinhardl: Die Unvollendeten, München: Carl Hanser Verlag, 2003. S. 1.

6 hat. Auf dem Schwarzmarkt handeln sie zusammen mit verschiedenen Waren. Er verspricht ihr, dass sie für immer zusammen bleiben. Hanna kommt nach Reitzenhain um Anna abzuholen und sie fahren zusammen mit dem Zug in die Altmark. In Birkheim gibt es für Hanna keine Arbeit, aber sie bekommt eine Stelle bei der Reichsbahn in Magdeburg, wo sie auch ein Zimmer zugeteilt bekommt. Sie will, dass Anna ihre Schuljahre nachholt, die sie im Arbeitslager und in Reitzenhain verbrachte. Anna wird auf einem Lyzeum aufgenommen, weil sie viel nachholen muss, darf sie auf keinen Fall die Zeit mit Pendeln verlieren, deshalb hat für sie Hanna eine Unterkunft bei einer Familie in Birkheim besorgt. Maria und Johanna bleiben auf dem Gutshof. Hanna erkältet sich gefährlich in Magdeburg, weil sie keine Winterschuhe hat und ihr Zimmer nicht geheizt wird und bekommt eine schwere und bekommt eine Lungenentzündung. Im Krankenhaus besucht sie jeden Tag ihr Chef, der sich in sie verliebt hat. Er macht ihr später einen Heiratsantrag. Sie lehnt ihn aber ab, weil sie auf keinen Fall möchte, dass jemand ihr und ihrer Familie im Weg steht, wenn es mal wieder Möglich ist in die Heimat zurück zu ziehen. Hannas Schwester Maria macht eine Bekanntschaft mit einem Gymnasiallehrer, der den Chor leitet, in dem sie mitsingt. Anna lernt einen Jungen kennen, der aus einer sehr gut situierten Familie ist und verlobt sich mit ihm. Hanna gefällt keine von diesen Bekanntschaften, sie will ihre Familie unter Kontrolle haben, deswegen zieht sie mit Maria und Johanna nach Birkheim um, wo sie dank ihrem Magdeburger Chef Arbeit eine Stelle auf dem Birkheimer Bahnhof und eine Wohnung bekommen hat. Anna schafft ihren Abschluss und sie möchte weiter studieren gehen. Sie wurde an der Dolmetscherschule in Leipzig aufgenommen. Ihr Verlobter ist inzwischen mit seiner Familie nach Berlin umgezogen. Seine Eltern haben ihre Verlobung nie wirklich akzeptiert. Nach dem Studium wird Anna als Dolmetscherin für das Außenministerium in Berlin empfohlen. Sie trifft sich wieder mit Erich, dem sie eine Stelle als Hausmeister in dem Außenministerium vermittelt hat. Man kann davon ausgehen, dass jemand dort seine SS-Tätowierung gesehen hat, und deshalb muss er nach München fliehen. Anna hat einen Sohn geboren. Weil sie viel arbeiten muss, gibt sie ihn in die Tageskrippe. Hanna kann es nicht ertragen. Sie holt das Kind

7 aus der Kinderkrippe und bringt es nach Birkheim mit. Dort kümmern sich um das Kind alle drei Frauen bevor Johanna stirbt. Anna heiratet Günter, den sie während des Studiums kennen gelernt hat. Er will ihren Sohn Reiner adoptieren, damit sie eine vollständige und anständige Familie bilden. Hanna ist aber dagegen und schreibt an Anna einen Brief, in dem sie es verbietet. Reiner muss zu Beginn des fünften Schuljahrs nach Berlin zu ziehen, weil es so seine Mutter mit Hanna ausgemacht hat. Die Ehe zwischen Anna und Günter funktioniert nicht. Anna lässt sich nach fünf Jahren scheiden. In den Ferien besucht Reiner immer seine Großmutter und seine Tante in Birkheim. In Berlin fühlt er sich nie wie zu Hause und er versteht sich mit seiner Mutter immer weniger. Reiner studiert Zahnmedizin. Nach dem Studium will er nicht mehr bei seiner Mutter wohnen und er zieht um. Weil Hanna schon zu alt ist, muss sie in den Ruhestand gehen. Sie und Maria müssen die Wohnung der Reichsbahn verlassen und sie bekommen dafür eine Ersatzwohnung in der Neubausiedlung. In der neuen Wohnung kümmert sich Maria um den Haushalt. Hanna ist schon zu alt. Sie resigniert auf alles, weil ihr bewusst wird, dass ihr größter Wunsch zurück in die Heimat zu gehen unerfüllbar ist. Alles ist für sie sinnlos, deshalb sitzt sie nur in ihrem Sessel und sieht fern. Maria hat einen Witwer kennen gelernt und sie will mit ihm zusammenziehen. Sie kann sich nicht mehr alleine um Hanna kümmern und sie entscheidet sich Hanna in einem Pflegeheim unterzubringen. Hanna stirbt dort innerhalb von drei Wochen, Maria überlebt sie nur um zehn Tage. Reiner lebt mit seiner Frau, die als Zahnhelferin arbeitet. Er hört mit seinem Zahnarztberuf auf und erfüllt sich seinen Kindertraum eigene Buchhandlung zu eröffnen. Das Geschäft läuft aber nicht besonders gut. Reiner wird operiert und die Ärzte erfahren, dass er Magenkrebs im fortgeschrittenen Stadium hat, der nicht mehr heilbar ist. Er liegt im Krankenhaus und muss sich einer Chemotherapie unterziehen. Er wartet auf seine Entlassung aus dem Krankenhaus. Während des Wartens schreibt er an seine Frau einen Brief, in dem er seine Familiengeschichte beschreibt und die Bilanz seines Lebens zieht. Er weiß, dass sein Leben nicht mehr lange dauern wird.

8 Figuren

Johanna Jirgl verrät über den Ursprung von Johanna nicht viel. Eindeutig ist, dass sie aus einer großen Familie stammt, und dass sie zu der deutschstämmigen Bevölkerung aus dem Sudetengau gehört. Sie war mit einem deutschen Mann verheiratet. Am Anfang des Romans ist sie siebzig Jahre alt und stirbt, als Reiner acht Jahre alt ist. Sie handelt kühn und gescheit, ein Beispiel dafür ist, dass sie den Stammbaum der Familie gefälscht hat, um Hanna zu retten, weil Hanna aus einem unehelichen Verhältnis mit einem jüdischen Kaufmann aus Holland stammt. Sie ist stark von ihrem Glauben und der Gottesfurcht geprägt. Sie würde nie gegen ihre festen Grundsätze verstoßen, auch wenn sie daraus nur profitieren könnte. Für sie steht das Moralische über dem Leben des Einzelnen. Ihr Verhalten ändert sich auch nicht unter den extremen Umständen, wie z.B. Krieg oder Vertreibung. Es ist gut an einer Szene sichtbar. Als die Bauern aus dem Gutshaus ins Verhör genommen sind, dringen die anderen Landarbeiter in den Keller ein und plündern die versteckten Lebensmittelvorräte aus. Johanna schreit: „-!Hände !weg.“ (U, S. 49) Ein Landarbeiter sagt ihr:

-?!Wolt ihr komischn Hungerleider vielleicht weiter bei eurem jämmerlichen Ratzjon Pellkartoffeln u Magermilch bleim – während hier=vor eurern Augen - -& wenn ausm Schla=Raffenland die gebratenen Gänse angeflong kommen, dann macht ?!ihr wohl s Maul !zu, ?!wie - […] -? Oder habter verlernt, wasses heisst: Mal-wieder-!satt-zu-essen-ham. (U, S. 50)

Johanna antwortete darauf: „-Das ist keine Frage des Sattwerdens, das ist eine Frage des!Anstands.“ (U, S. 50) Die Güter wurden dann von der Kommission aus Birkheim beschlagnahmt und verteilt. Der Erzähler vergleicht die schwarze Figur Johannas mit einem Ausrufezeichen des Gastrosophischen Imperativs (U, S. 51), den er in ironisierender Anlehnung an Kant folgendermaßen formuliert. „» Ernähre dich so, daß der Zugriff auf dein Mahl jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Tafel=Gesellschaft gelten könnte! «“ (U, S. 51)

Mit den zunehmenden Jahren wird ihre Kraft geringer. Schon während des Trecks fordert sie von ihren Töchtern, dass sie sie dort lassen, damit sie in Ruhe sterben kann und ihre Töchter ohne sie als Last gehen können. Sie sieht keinen Ausweg

9 aus der Situation und sie begreift als erste, dass sie wahrscheinlich nie mehr in die Heimat zurückkehren wird. Sie wird gleichgültig und apathisch. „Ich geh nicht mehr fort. Mein Ganzesleben=lang bin ich hin&her gehetzt worden – jetzt bin ich alt und müde, ich bleibe hier auf dem Dorf, wo ich in=Frieden !endlich werd sterben können.[…] -!Nie kommen wir wieder zurück in die-Heimat . !Niemals.“, (U, S. 122/123) behauptet Johanna etwas theatralisch am Grab der Bäuerin, bei der Sie Zuflucht gefunden haben.

Maria Maria, die zehn Jahre jüngere Schwester, spielt in der Familie neben Hanna eine Nebenrolle. Sie ist ledig und kinderlos. Sie bemüht sich ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen, aber es gelingt ihr nicht. Sie ist nicht stark genug, um sich in der Familie durchzusetzen. Erst wenn sie mit Hanna aus der Mansardenwohnung von der Reichsbahn in die Neubauwohnung umziehen, übernimmt sie die Führung des Haushalts. Sie kümmert sich um Hanna und entscheidet endlich über ihr eigenes Leben ganz alleine und nach ihrem eigenen Willen.

Hanna Hanna ist bei der Vertreibung vierzig Jahre alt. Ihr Aussehen wird als streng beschrieben, doch ihr Gesichtsausdruck erweckt auch Mitleid, weil man in ihrem Gesicht auch die Spuren von viel Leid und Kämpfen sehen kann: „Senkrechte, tief in die Gesichtshaut geschnittene Linien um Augen, Nase, Mund, Kinn – das Gesicht in streng abgegrenzte Bezirke teilend […].“ (U, S. 102) Sie hat einen tschechischen Mann namens Václav geheiratet, mit dem sie eine Tochter hat. Sie hat ihre eigenen inneren ethischen Werte, die sie bewahrt und nach denen sie sich richtet. Ihr Motto ist: Wer seiner Familie die Rücken kehrt, der taugt Nichts . Ihre Familie ist ihr sehr wichtig. Während des Trecks übernimmt sie Rolle des Familienvorstands. Ihr Ziel ist, dass die Familienmitglieder zusammen bleiben und einmal wieder in die Heimat zurückkehren. Sie macht alles dafür, dass sie alle zusammen bleiben, ohne Rücksicht auf Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder. Ihr eigenes Leben ist für sie nicht wichtig, sie lebt nur um ihren Dienst so zu tun, dass sie sich vor Gott und Menschen immer rechtfertigen kann.

10 […]die wesentlichen Regeln für menschliches Zusammenleben beruhten auf ungeschriebenen Gesetzen – Vereinbarungen: Alles-im-Leben kennt dir richtigen Bräuche -, an die sich jeder zu halten habe; […] Diese angenommene Vereinbarungen stellte Hanna über die Bedeutung des 1zelnen, sie=selbst eingeschlossen. (U, S. 9)

Obwohl sie dafür alles opfert, gelingt es ihr nicht. Ihre Tochter rebelliert von Anfang an gegen sie. Die einzige Person, die sie noch beeinflussen kann ist ihr Enkelsohn. Dank ihr verbringt er die Kindheit bei ihr und Maria und auch dank ihrem Widerstand wird er nie adoptiert. Doch auch er wird sie einmal verlassen müssen. Seitdem fühlt sich Hanna nutzlos. Sie wartet nur noch auf ihren Tod.

Anna Anna ist die einzige Tochter von Hanna. Sie ist bei der Vertreibung achtzehn Jahre alt. In dem Charakter von Anna hat der Krieg seine Spuren hinterlassen. Sie wurde während des Kriegs wiederholt vergewaltigt, das beeinflusst dann ihre Beziehung zu den Männern. Ihr ganzes Leben wird sie mit ihnen Probleme haben. Keine von ihren Beziehungen wird erfolgreich sein. Die Vertreibung hat auf sie aber noch eine größere Auswirkung. Sie wird nie ihrer Mutter verzeihen, dass sie sie trotz ihres Mottos Wer seiner Familie die Rücken kehrt, der taugt Nichts damals in Komotau gelassen hat. Aus diesem Grund distanziert sich Anna von der ganzen Familie und lehnt auch Hannas Heimatverbundenheit als übertriebene Sentimentalität ab. Sie ist selbstständig. Sie entscheidet sich zuerst für ein Studium, später für eine Arbeit, die sie besonders weit von der Familie und damit auch von der Heimat bringt. Da es aber aus der Familiengeschichte kein Entkommen gibt, muss Annas Aufbegehren mit dem Scheitern ihrer Ehe und Karriere bestraft werden. Ihre Bemühungen, sich durch ihre Heirat, Arbeit in Außenministerium und Parteimitgliedschaft in der NDPD in die DDR-Gesellschaft einzufügen, schlagen fehl. Diese Misserfolge werden im Roman von ihren Stürzen mitten auf der Straße versinnbildlich, die dann tiefe Schürfwunden hinterlassen, die sie als die offen sichtbaren Ruinen aus diesem inneren Bürgerkrieg (U, S. 242) trägt. Am Ende ist sie ganz einsam. Mit ihrem Sohn hat sie kaum Kontakt. Ihr Sohn äußert sich über sie mitleidslos: „Was ich von meiner Mutter=Heut noch höre, sind entweder unwillige od rentnerhaft=behäbige Daseinsgeräusche, allsamt wie nach

11 dem letzten Ton Kratzer auf 1 Schallplatte –.– DIE MÜTTER SIND VON IHREN KINDERN ZU VERGESSEN.“ (U, S. 242)

Reiner Zum Mann herangewachsen fühlt er sich als Einzelgänger, der überall fremd ist. Er spürt keine Verbundenheit zu jemandem. Er wird nach seiner Geburt beschrieben:

Der blutige, häßlich anzuschauende Neugeborne wollte nicht schreien; den Kopf nach unten hing er stumm in Händen der Hebamme. Der Schlag. Er schrie, sein Pinkelstrahl traf die Frau. So war 1 Anfang: ?meiner….. Niemand’s Sohn, von=Anbeginn hartnäckig & zäh wie altes Fleisch & alte Geschichten….. (U, S .152)

Es ist für ihn schwierig als Niemand’s Sohn zu leben. Bei seiner Erziehung hat eine männliche Bezugsperson gefehlt. Seine Kindheit wird geschildert, aber sein Erwachsenwerden bleibt ausgespart. Man erfährt nur, dass er Zahnmedizin studiert hat, obwohl er eigentlich nie wirklich eine ausgeprägte Neigung zu diesem Beruf zeigte. Seine Liebe gilt der Literatur. Er selbst fühlt sich am stärksten von seiner Urgroßmutter und seiner Großmutter beeinflusst.

Figurenbeschreibung

Jirgl widmet sich der Figurenbeschreibung kaum. Das Aussehen der Figuren ist für ihre Charakterisierung völlig unwichtig, z. B. die ganze Beschreibung des Aussehen von Reiners Frau ist: „[…] waren es Deine lange Nase od die starken Wangenknochen, die das Maß Deiner Schönheit erst zu Geltung brachten; eine Schönheit, die mich schmerzte.“ (U, S. 169) Das, was man von dem Aussehen der Figuren erfährt, ist meistens nur ein äußeres Merkmal, das ihren Charakter bzw. ihre Lebensweise einprägsam macht. Anna beschreibt die Eigenschaften ihres Verlobten:

–!Der war der Lustigte von allen. Aber er kann auch ernst sein, ist scharmant und redet mit mir über Vielosoffie, er ist !sehr gebildet, kann drei Fremdsprachen fließend: Englisch Französisch Italjenisch. Seine Eltern sind Vormkrieg viel rumgereist in Europa; Papa&mamma, sie machten früher viele Reisen Genengland und Genitalien, hatte Jo gesagt […] (U, S. 133/134)

12 Dieser etwas naiven Angeberei Anna ist zu entnehmen, dass der Junge aus einer besser situierten Familie kommt. Er ist gebildet, aber es ist auch sichtbar, dass er eine besondere Beziehung zu seinen Eltern hat, die ihren Sohn gerne verwöhnen. Der Name Jo klingt kindisch und lustig, er charakterisiert auch seine Persönlichkeit. Der Junge wirkt noch unreif, ohne eigene Meinung, er folgt nur seine Eltern. Das zeigt sich dann später, als er mit seiner Familie wegzieht. Er versucht gar nicht dagegen zu kämpfen, obwohl er weiß, dass er damit seine Verlobte (Anna) verliert. Die Beschreibung von Erich wird durch die Gedanken von Anna wiedergegeben: „( Er ist !immer=noch der große Kleinejunge von Damals […]. N Kleinerjunge mit abgeguckten Filmposen & nem Maulvoll Großerworte .“ (U, S. 141) Jirgl lässt viel mehr seine Figuren handeln bzw. sprechen. Darin spiegeln sich ihre Charaktere, die mit weiteren biographischen Episoden und Dialogen bzw. Redefragmenten deutlicher hervortreten. Es besteht eine Spannung zwischen dem epischen Rahmen einer Familienchronik, in der die Personenschicksale zu Ende erzählt werden, und dem personalen Erzählen, das nur ausnahmsweise durch Prolepsen (wie auf S. 131) unterbrochen wird. Lücken bleiben in den Leben der Figuren außerhalb des engen Familienkreises.

Figurenkonstellation

In dem Roman treten fünf Hauptfiguren auf. Diese fünf Figuren gehören zu iner Familie (Rosenbach). Weil es sich um eine Familienkonstellation handelt, sind die Verbundenheit und die darauf basierende Determinierung hier ziemlich ausgeprägt. Die älteste und auch entscheidende Generation bildet die Urgroßmutter Johanna. Von ihrer Erziehung hängt ab, was aus ihren zwei Töchtern wird. Von ihr hängt ab, welches Familienmodell und welche Vorstellungen von Familie überliefert werden. Die Kontinuität der Familientradition wird aber durch die Vertreibung unterbrochen. Ein typisches Modell einer vollständigen Familie (Mutter, Vater und ihre Kinder) kommt nur bei Johanna und – trotz dem Defizitären an der Beziehung – bei Hanna vor. Da der Ehemann von Hanna ein Nichtnutz, später Invalide ist und bald stirbt, ist Hanna de facto eine alleinerziehende Mutter.

13 Anna zeugt ihren Sohn Reiner mit einem Flüchtling (Erich). Sie heiraten nicht und leben auch nicht zusammen. Sie heiratet später einen anderen Mann namens Günter. Er wurde aber für Reiner nie ein richtiger Vater. Um das Familienmodell zu bilden, will Günter seinen Stiefsohn adoptieren:

Denn alles Familiäre sollte !endlich Seine Ordnung bekommen. Aus dem Namensunterschied zwischen mir u: meiner Mutter, die fortan den Namen jenes Mannes trug, mußte noch die harmlose Befragung durch Fremde sofort peinlich werden: Das sollte !aufhören – der Makel einst unehelicher Lust sowie die Preisgabe, dieser Mann (den ich Vater nennen sollte) wäre nicht der Leibliche Vater , mußte getilgt sein zur O RDENTLICHEN FAMILIE . (U, S. 181/182)

Diese Adoption findet aber nicht statt und die Ehe wird ein schnelles Ende finden. Reiner hat später kein eigenes Kind.

Gliederungsprinzip

Der Roman besteht aus drei größeren Teilen, die sich durch ihre unterschiedliche formale Gestaltung unterscheiden. Der erste Teil Vor Hunden und Menschen ist in acht Kapitel unterteilt, der zweite Teil Unter Glas ist durch Ortsangaben (fett gedruckte Straßennamen) gegliedert und der dritte Teil Jagen Jagen ist durch minutengenaue Zeitangaben untergegliedert. Die Ereignisse werden in einer chronologischen Abfolge erzählt. Im Roman sind wichtig drei Ereignisse, nach denen der Roman auch gegliedert wird. In dem ersten Teil ist es die Vertreibung aus dem Sudetenland und das Suchen des neuen Zuhauses, in dem zweiten Teil wird das Leben in dem neuen Heim beschrieben und im dritten Teil ist es dann die Reiners Lebensgeschichte. In der Unterscheidung der drei Teile spielt auch eine Rolle der Erzähler. Im ersten Teil erzählt vor allem der auktoriale Erzähler, im zweiten Teil erzählen vor allem die einzelnen Figuren und in dem dritten Teil ist es der Ich-Erzähler. Die ganze Struktur des Romans wird in der Handlung sichtbar.

Handlung

Der erste Teil dient der Exposition, weil man die wichtigsten Motive der Handlung erfährt. In dem ersten Teil wird vor allem die Vertreibung aus Komotau

14 geschildert. Man lernt die Hauptfiguren kennen. Im Mittelpunkt steht die achtzehnjährige Anna. In dem zweiten Teil wird das Leben der Familie in der DDR beschrieben. Man erfährt, wie der Alltag der Hauptfiguren ist, wie er von dem politischen System der DDR beeinflusst wird und welche Beziehungen zu anderen Leuten die Familie hat. Keine der Figuren steht wirklich in Mittelpunkt, aber es wird sehr viel aus der Sicht von Anna und Hanna erzählt. In dem dritten Teil komm der Enkelsohn zu Wort. Er rekonstruiert sein Leben und die Geschichte von seiner Familie im Kopf und denkt nach. Er schaut zurück und versucht eine Bilanz aus seinem Leben zu ziehen, weil er weiß, dass er nicht mehr lange leben wird. Der Schluss in dem dritten Teil bleibt offen. Man weißt nicht, was folgen wird, nur dass Reiner bald sterben sollte. Weil er der letzte Nachkomme ist, wird mit seinem Tod die Familiengeschichte ihren Abschluss finden.

Raum

Das ständige Umziehen von einer Stadt zur anderen, von einer Wohnung in die andere erlaubt dem Erzähler doch die für alle Städte typische gemeinsame Trostlosigkeit der Orte zu betonen. Der lange Weg fängt in Komotau an. Diese Stadt finden Johanna, Hanna und Maria als Paradies und sie bleibt es so auch in ihren Erinnerungen. Wenn für die DDR- Bürger die Tschechoslowakei wieder zum Reiseziel wird, entscheidet sich Maria dorthin zu fahren. Es wird für sie aber eine unangenehme Überraschung sein. Sie reist früher ab als geplant. Das Bild von Komotau hat sich verändert:

Die Dimension von Heimat für Menschen sind wie Fühlhörner an der Schnecke: die ziehen sich zurück, sobald zum Fühlen Ein Hindernis zu mächtig geworden ist. Drinnen warten sie dann –. Mitunter, und nach dem zigsten Fehlversuch, bleiben die Tastorgane eingezogen FÜR=IMMER. (U, S. 221)

Der nächste wichtige Ort ist Birkheim. Obwohl es mit Komotau nicht vergleichbar ist, verbringen Hanna und Maria hier den Rest ihres Lebens. Die Stadt Birkheim, die in dem Roman benutzt wird, ist in der Wirklichkeit die Stadt Salzwedel.

15 Aus Salzwedel hat Jirgls Familie gestammt. Jirgl hat einfach die Stadt Salzwedel in Birkheim ungetauft. 2 „Ich musste Dinge nach Birkheim verlegen, die in Salzwedel nicht passiert sind” 3, hat Jirgl erklärt. Jirgl benutze sogar einen alten Stadtplan der Stadt Salzwedel, den er aus seinem Heimatkunde-Unterricht gehabt hat, um die Stadt und ihre Straßen exakt in dem Roman abzubilden. Der letzte wichtige Ort ist die Stadt Berlin, wo dann Anna und Reiner wohnen. Berlin gilt als eine Großstadt. Zwischen Berlin und Birkheim gibt es einen großen Kontrast. Birkheim steht für die Kleinstadt, die für Reiner die Heimat bedeutet. Berlin ist die Großstadt, die ihm seine Heimat genommen hat. Großstadt ist auch ein Symbol für die Entfremdung. Seitdem Reiner mit seiner Mutter in Berlin wohnt, entsteht zwischen ihnen eine große Kluft. Weil Berlin von Birkheim ziemlich entfernt ist, aber vor allem weil die Besuche bei Hanna und Maria für den jugendlichen Reiner immer weniger erholsam waren, werden die Besuche immer rarer, wird die Intensität von der Beziehung zwischen Reiner und seiner Tante und Großmutter schwächer. Sie entfremden sich langsam. Vor allem in dem zweiten Kapitel sind die Ortsangaben wichtig. Sie funktionieren als die Gliederung des Textes und damit auch der Geschehnisse. Was Birkheim und Komotau verbindet, ist die Bahn. In Komotau haben beide Frauen bei der Bahn gearbeitet und genauso fungiert es auch in Birkheim. Sie wohnen nur nicht mehr in ihrem eigenen Haus, sondern in einer Dienstwohnung. Selbst der Bahnhof trägt eine symbolische Bedeutung in ihrem Leben: „Vielleicht, weil Bahn & Züge sie einst aus der-Heimat fortgeschafft u, dem Grundsatz der Homöopathen zufolge Ähnliches durch Ähnliches geheilt werde, sie durch die Nähe zu Bahnhöfen & Zügen von diesen schließlich die Rückkehr sich versprechen mochte [...]“ (U, S. 111) Die Züge haben sie aus der Heimat gebracht, aber weil Hanna und Maria eine Arbeit bei der Bahn bekommen haben, hat sie ihnen einen neuen Anfang ermöglicht. Der Bahnhof selbst ist auch ein Symbol des Zweiten Weltkriegs, dort wurden die Leute gesammelt, dort wurde über ihre Leben entschieden. Auch über die Vertriebenen wird auf dem Bahnhof entschieden: „Das Wort BAHNHOF stieg

2 Vgl. http://www.tourier.de/showpage.php?cid=68 , 1.6.2008 3 Ebd.

16 plötzlich auf zur Drohung: Immer werden auf BAHNHÖFEN über Menschen ENTSCHEIDUNGEN gefällt – –„ (U, S. 18) Jirgl macht auch eine Verbindung zwischen dem Bahnhof und dem Transport. Sichtbar ist es auf dem Beispiel, als Hanna, Maria und ihr Enkelsohn mit dem Zug in Urlaub fahren möchten und laufen zum Bahnhof: „[…] – mit der für alle Flüchtlinge typischen Gewohnheit viel zu früh dort ankommend […]; es könnten keine Plätze mehr frei bleiben für uns auf diesem Transport, und jeder Zug wäre Der letzte Zug […]“ (U, S. 179)

3. Das »Wie« der Erzählung

In diesem Teil, wird der Roman die Unvollendeten mithilfe des Buchs Einführung in die Erzähltheorie von Matias Martinez und Michael Scheffel analysiert.

Zeitformen

Die Geschichte in dem Roman wird chronologisch erzählt. Die Handlung fängt im Jahr 1945 im Spätsommer an und endet vermutlich im Jahr 2003 um halb acht in der Früh. Die Handlung in dem ersten Teil des Romans: Vor Hunden & Menschen spielt innerhalb von knapp zwei Jahren. Sie fängt im Spätsommer des Jahres 1945 und endet im Frühjahr des Jahres 1947. Die einzelnen Teile knüpfen zeitlich nicht aneinander. Nur die Geschichte des fünften Teils setzt in dem sechsten fort. Am Ende des fünften Teils erhält Anna einen Brief von ihrer Mutter und am Anfang des sechsten Teils hat sie nicht gut geschlafen, weil sie über den Brief nachdenken musste. Weil Anna als Einzige von der Familie mehrmals getrennt bleibt, wird die Geschichte mehrsträngig erzählt, damit man erfahren kann, was einzelne Figuren zu gleicher Zeit machen. Die ersten zwei Jahre nach der Vertreibung werden nicht besonders ausführlich beschrieben. Das Erzähltempo ist relativ schnell. Jirgl benutzt Raffungen und Zeitsprünge, um bei einigen Schlüsselszenen länger zu verweilen und atmosphärisch dicht

17 zu erzählen. Z. B. „bei der neuen Reichsbahndirektion konnte niemand sich entschließen, sie einzustellen, der Termin zur Wohnungszuweisung lief ab – auch hier war das Problem die kranke siebzigjährige Mutter −; die 3 Frauen mußten wieder weiter, auf- Transport .“ (U, S. 9) Manchmal wird aber unklar, in welcher Zeit sich die dargestellte Geschichte abspielt. Man kann nur ahnen oder abwarten, bis eine Zeitangabe vorkommt, die meistens nicht sehr genau sind, wie z. B. im Frühjahr oder in den Wintermonaten . Im Gegensatz zu Raffungen gibt es in dem Text auch viele Zeitdehnungen , die die Funktion haben, bestimmte emotionelle und extreme Situationen zu schildern, wie z. B. die Situation, wenn Anna ihre Zugkarte kaufen will, dabei muss sie aber ihr weißes Armband verstecken: „Noch immer zögernd hielt der Mann den kleinen Pappstreifen in den Fingern, blickte abwechselnd mit strengen Blick der Fremden in die Augen & hielt Ausschau nach 1 Streife, die er heranwinken wollte.“ (U, S. 37) Das Tempo verlangsamt sich durch Pausen, z.B. die Beschreibung der Wohnung, wo sie während des Trecks untergebracht worden sind: „Das war Anfang Januar, das Mauerwerk um die Fensterrahmen kaputt, die Scheiben zerschlagen, zwischen dünnen schmutzstarren Armeedecken (die sie aus Ruinen geklaubt hatten) […].“ (U, S. 8) Im Erzählen erscheinen oft Analepsen. Wenn Anna die stolpernden Vorbeigetriebenen beobachtet und dabei die eigene weiße Armbinde versteckt, stürzt eine Frau neben ihr hervor. Anna erkennt diese Frau auf der Straße. „Das war dieselbe Frau von jener Nacht im Luftschutzkeller […] die Leute im Keller um-mich-herum sie schrieen als die Decke schwankte die Mauern knirschten und Mörtel schütteweis auf uns runterfiel […].“ (U, S. 16/17) Hier die lange Analepse über die Nachbarn zögert den Entscheidungsmoment hinaus, ob Anna als Deutsche aus dem Spalier hinaus gezerrt wird und mit der Schar=dort-auf-der-Straße (U, S. 18) auch der direkten Aggression ausgeliefert wird. Das Entsetzlichste ist, dass Anna (U, S. 19) – aus Angst, aus Massenhysterie – die Schläge auf die Vertriebenen auch jubelnd beschreit. Das Schrecken des Lesers wird durch den Kontrast von schreiender Masse (Pervertierung der Sprache) und stiller, sprachloser Flucht Annas an den verschmorten Leichen auf dem Stadion vorbei. Der zweite Teil: Unter Glas , beginnt am Ende des Herbsts des Jahres 1947 und wird am Ende Februar im Jahr 1953 beendet.

18 In diesem Teil wird die Handlung chronologisch erzählt. Es gibt nur ein Paar große Raffungen, wenn Anna erzählt, was ihr damals passiert ist. Sie erzählt, wie sie ihre Mutter in der Beziehungen zu den Männern beeinflusst hat und am Ende greift der Erzähler fünfunddreißig Jahre vor. „So war ihr Leben. Nun, sie is ja beinahe Neunzig geworden, und hatte ihre Letztenjahre in der Wohnung auf dem Sessel verdämmert […]. Und heute, zwölf Jahre nach ihrem Tod –„ (U, S. 131) Dann wird die Handlung in dem Moment fortgesetzt, in dem sie mit dieser Prolepse unterbrochen wurde. Die Zeitangaben sind hier nicht mehr so wichtig. Die sechs abgelaufenen Jahre werden kurz zusammengefasst. Der dritte Teil: Jagen Jagen wird durch die minutengenauen Zeitangaben strukturiert. Die Handlung spielt sich zwölf Jahre nach dem Tod von Hanna (1988) während sechs Tage ab. Deshalb muss es sich um das Jahr 2000 handeln. Die Erzählzeit des Rahmens ist zwar kürzer als die erzählte Zeit, die Zeit in der Onkologie, aber umfasst unzählige Beichten und Erinnerungen des Briefschreibers Reiner, die zeitlich weit auseinander liegen und assoziativ aneinandergereiht sind (W EIHRAUCH U S TAUB, S. 198 und 199). Man erfährt über die Gegenwart nur sehr wenig, viel mehr sind hier die Erinnerungen von Reiner beschrieben, die bis zu seiner Kindheit reichen und sie münden bis in die Gegenwart. Sein ganzes Leben wird hier sehr knapp zusammengefasst. Mit den genauen Minutenangaben gelingt es Jirgl das Bewusstsein des immer näher rückenden Todes wach zu halten und somit dem Erzählten zusätzliche Eindringlichkeit zu verleihen und ein schnelles Tempo herzustellen.

Erzählperspektive

Die Erzählperspektive wechselt in dem Roman sehr häufig. In dem ersten und im zweiten Teil wechselt der auktoriale Erzähler mit dem personalen Erzähler. In dem dritten Teil wird von der Ich-Perspektive erzählt. Diese Ich-Perspektive gehört dem Enkelsohn. Der unvermittelte Perspektivenwechsel und Ich-Einschübe verlangen eine hohe Konzentrierung beim Lesen, sonst kann man sich in dem Text schnell verlieren. Manchmal muss verborgen bleiben, aus wessen Perspektive erzählt wird.

19 So mußten sie erneut auf-Transport , […] −und die Bahnhöfe u die Wartehalln !voll-von- Menschen da mußt man über die Menschen drüber wegsteigen […] das kann sich Heute keiner vorstelln mir wurde speiübel hatten auch seit Achwerweißwielangerzeit nichts Richtiges mehr zu essen gehabt u waschen konnten wir uns auch Nirgendwo – ich hielts nich mehr aus dort=drin − […] (U, S. 6/7)

Später erfährt man von einem Dialog, dass es sich um eine junge Frau handelt, die es erzählt. Der Perspektivenwechsel verursacht, dass eine Geschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählt und beschrieben wird, was dem Leser ermöglicht, sich eine genaue Vorstellung von dem Geschehen zu machen.

4. Entstehung des Romans

Das erste Buch von einem Schriftsteller trägt meistens autobiographische Merkmale. Bei Reinhard Jirgl ist es aber anders. Erst in seinem Roman Die Unvollendeten treten die autobiographische Einzelheiten auf. Seine Äußerung dazu, warum es so lange gedauert hat, ist, dass das biographische Faktum so stark und übermächtig bei ihm war, dass es seine Zeit braucht, um in Sprache auflösbar zu sein .4 Für das Thema Vertreibung hat sich Jirgl schon früher interessiert. In seiner Kindheit musste er oft zu Hause verschiedene Erzählungen aus dem Sudetenland mit dem oft sentimentalen Unterton hören. Die Stadt Komotau bekam für ihn später dank der detailreichen Beschreibung der Atmosphäre eine geisterhafte Existenz .5 Er wollte die Vertreibung schon in dem Roman Mutter- Vater-Roman behandeln. Aus diesem Grund hat er ein eigenes Archiv mit den Aussagen von seinen Eltern und vor allem auch von seiner Großmutter und ihrer Schwester gegründet. Er hat es jedoch für den Mutter-Vater-Roman nicht mehr gebraucht. Weil das Bedürfnis etwas daraus zu machen sehr groß war, hat er sich entschieden die Aussagen für eine Erzählung zu nutzen, deren Umfang dreißig bis fünfzig Seiten sein sollte. Erst beim Schreiben hat er bemerkt, dass er daraus etwas Eigenständiges machen muss, was aber womöglich einen Gestus der Erzählung haben soll, um es knapp zu halten und nicht künstlich aufzublähen .6

4 vgl. http://www.radiobremen.de/magazin/kultur/literatur/jirgl/ , 7. 7. 2008. 5 Ebd. 6 Ebd.

20 Jirgl hat schon in dem Nachwort zur Genealogie des Tötens die Thematik des nächsten Romans ( Die Unvollendeten ) angekündigt.

Seit einiger Zeit beschäftigt mich ein Schreibprojekt besonderer Art. In direkter Folge des Zweiten Weltkrieges war zunächst eine Unzahl von Familien deutscher Herkunft aus ihrer abgestammten Heimat in Osteuropa vertrieben worden; viele überlebten diesen Treck nicht. Die übrigen waren gezwungen, in fremden Lebensräumen unter vollkommen veränderten Umständen neben ihnen keineswegs freundlich gesinnten Einheimischen neu sich anzusiedeln; sie blieben oftmals für die restliche Lebenszeit Die Unvollendeten . Die Zeit für ihr Leben aber ist der Menschen ursprünglicher Besitz. Vielen war niemals ihre Zeit gegeben, vielmehr durch alle Vorkommnisse im 20. Jahrhundert ist diesen Menschen stets ihre Zeit genommen worden. 7

Dieser Umstand bestätigt den Zusammenhang beider Texte: „Nachdem mit der Genealogie endlich seine Geschichte der alltäglichen Gewalt in der DDR vorgelegt werden konnte, lieferte er nun den mentalitätsgeschichtlichen Rahmen für jene verheerende literarische Diagnose nach.“ 8

Weitere Impulse für Jirgl diese Thematik zu bearbeiten, kann die Debatte über die Erinnerungskultur, die nicht nur in dem Bereich Politik und Medienkultur stattfindet, aber auch die Debatte über das Berliner Holocaust-Denkmal sein. Das Ziel von diesem Denkmal ist, dass die Vertriebenen einen Platz in unserem Gedächtnis haben, und somit der geschichtliche Kontext nicht vergessen wird.

5. Zum Stil von Reinhard Jirgl

Jirgls Einordnung in der Literatur

Jirgl wird oft mit anderen Autoren verglichen, doch eine Einordnung ist beim ihm schwierig. Er wird zu den Schriftstellern der DDR-Literatur gezählt, weil er sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen des ehemaligen Staates DDR beschäftigt, und weil er in Berlin (DDR) geboren wurde. Jirgl erklärt, wie er die Themen für seine Arbeiten ausgewählt hat:

In den Arbeiten, die ich nach der Wende schrieb, haben mich dann zunächst die Fortsetzungen der Biographien dieser in der DDR sozialisierten Menschen interessiert: Wie haben weil, es

7 Jirgl, Reinhard: Genealogie des Tötens, Berlin, Weimar: Aufbau, 1990. S. 821. 8 Jürgensen, Christoph: 1 Mal Flüchtling, immer Flüchtling – Zur Vertriebenenproblematik in Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten. In Posener Beiträge zur Germanistik. Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2006. S. 44.

21 auch diesmal eine ‘Stunde Null’ nicht gab, diese Menschen unter veränderten äußeren Bedingungen ihr Leben fortgesetzt? 9

Er selbst sieht aber schon ein Problem bei dem Begriff DDR-Literatur. Der Begriff wird vor allem in dem Zusammenhang mit dem Staat DDR verbunden und wird auch als die Staatstragende Literatur sowie als eine thematische Grundausrichtung (Pro oder Contra) auf die DDR verstanden. 10 Unter dem Begriff kann man sich aber auch eine Gruppe von Schriftstellern vorstellen, deren Werke von der DDR-Zeit handeln, weil sie durch gleiche soziale Umgebung beeinflusst wurden. Diese Werke werden von einer breiten Lesergruppe gelesen, die nur an der Thematik interessiert ist und nicht an dem Schreibstil. Diese Kriterien reichen jedoch nicht für eine literarische Einordnung. Eine wichtige Rolle neben den kulturell-topographischen Eigenschaften spielt die Zugehörigkeit zu Stilrichtungen und Formkonzepten innerhalb der Literaturen. Jirgl wurde sehr von den Modernisten wie z. B. Poe, Kafka, Benn, Beckett, Genet und Artaud beeinflusst, aber er selbst hält sich an keinen festen Formkonzepten oder Stilrichtungen. Ihm selbst ist die Einordnung gleichgültig.

Ich schreibe nicht um in einem etablierten Ordnungssystem unterzukommen, eher umgekehrt geht es mir darum aus den Wirklichkeiten des Ich und des Außen, diesem Konflikt- und Spannungsfeld des Menschen, meine eigene textuelle Ordnung (in Orthographie und Zeichensetzung) zu (er)finden. 11

Sein Ziel ist nicht eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe der Literaten. Für Jirgl ist es wichtig, dass seine Arbeit originell ist. Auf jeden Fall gehört Jirgl zu der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Seine Romane verbindet das Thema der Nachkriegszeit. Der Roman Die Unvollendeten wird der Erinnerungsliteratur zugeordnet. Dr. Ulrike Vedder formuliert den Begriff Erinnerungsliteratur folgendermaßen:

[...] Texte, die Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg fokussieren, unter einer generationellen Perspektive – die Generation genealogisch begreifend –, so zeigt sich zunächst

9 Kammler Clemens und Arne de Wind: ‘Schreiben das ist meine Art, in der Welt zu sein’. Gespräch im Briefen mit Reinhard Jirgl. in: David Clarke and Arne de Wind: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesearten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 26. 10 Vgl. Kammler Clemens und Arne de Wind: ‘Schreiben das ist meine Art, in der Welt zu sein’. Gespräch im Briefen mit Reinhard Jirgl. in: David Clarke and Arne de Wind: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesearten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 21. 11 Ebd., S. 23.

22 die Literaturproduktion als Folge der ‚rohen’ demographischen Tatsache eines gegenwärtigen Aussterbens von Zeitzeugen, das sowohl den Erzählanlass (weil die Alten gerade noch leben) als auch die Erzählbedingung (weil sie nun tot sind) darstellen kann. 12

Aber natürlich nicht alle seine Romane lassen sich der Erinnerungsliteratur zuordnen. Jirgl betont in diesem Bezug, dass: „Die Ratlosigkeit, meinem Werk ein Etikett zu verpassen, um mich daran zu messen und zu wiegen, ist so groß, dass die Suche nach Etikettierung mitunter wichtiger erscheint, als die Kenntnisnahme meiner Arbeiten als solche.“ 13

Kritik und Rezensionen

Der Soziopsychologe Harald Welzer behauptet in seinem Essay Schön unscharf , dass die Fluchterfahrung fast keine Auswirkung auf die nächsten Generationen hätte. Jirgl bestreitet Welzers These. „Er hätte sich einmal von seinem Schreibtisch aufmachen sollen, um mit Nachkommen dieser Vertriebenen zu sprechen[…]“ 14 Nach Harald Walzer wird Jirgl zu Harmonisierungsstrategie zugeordnet. In Walzers Buch Opa war kein Nazi hat er eine These festgestellt, dass die Deutschen eine Tendenz haben, aus dem Tätervolk ein Opfervolk zu machen. Er findet so eine Tendenz auch in dem Roman Die Unvollendeten. Er beweist es mit der Passage, wo Erich Anna erzählt, wie er zur SS gekommen ist, und was er bei ihnen gemacht hat. Erich beteiligt an einem Todesmarsch,

[…] bei dem ein Häftling von einem der Wachhunde angegriffen wird und erschlägt diesen, was den Scharführer und seine Leute dazu veranlasst, das Feuer auf alle Gefangenen zu eröffnen. Erich, der die Szene als traumatisch erlebt, desertiert daraufhin – so Welzers Kommentar – „in eine Art Bewusstlosigkeit aus Überwältigung. 15

„Wenn Erich wieder zu sich kommt, sagt er: „Ich weiß bis-heute nicht, ob ich 1 der Häftlinge erschossen hab. Od die eigenen Leute. Od die Hunde. Ob ich überhaupt

12 http://www.generationenforschung.de/projektIV_a.html , 7. 7. 2008. 13 Kammler Clemens und Arne de Wind: ‘Schreiben das ist meine Art, in der Welt zu sein’. Gespräch im Briefen mit Reinhard Jirgl. in: David Clarke and Arne de Wind: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesearten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 23. 14 Ebd., S. 42. 15 Kammler, Clemens: Unschärfrelationen. Anmerkungen zu zwei problematischen Lesarten von Reinhard Jirgls Familienroman Die Unvollendeten . in: David Clark and Arne de Winde: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 231.

23 jemanden getroffen hab. Keine Ahnung, was aus den Häftlingen u: aus den SS-Leuten geworden ist.“ (U, S. 76)

Laut Jirgl ist sein Roman Die Unvollendeten keine soziologische Studie, Bericht oder eine Historiographie. In Frankfurter Allgemeine Zeitung wird Jirgl von Tilman Spreckelsen höchst gelobt. Nicht nur die Handlung, Erzählweise oder Schilderungen, sondern auch seine Orthographie. Sein Stil des Erzählens und auch die Orthographie werden mit Arno Schmidt verglichen. „Manchmal liest sich das wie der junge Arno Schmidt, wenn der Erzähler beispielsweise gerade "matten Schrittes" in "flaches Traumgepfütz getaumelt" ist[…]“. 16 Nach Tilman Spreckelsen gibt es bei Jirgl eine „[…]Weiterentwicklung der sprachlichen Innovationen Schmidts, etwa in der präzisen Positionierung von Ausrufungs- und Fragezeichen am Wortanfang, um die Satzmelodie zu markieren[…]“. 17 Seine Orthographie, Typographie und sprachliche Innovationen, die in diesem Roman viel weniger häufig vorkommen, stehen der Rezeption des Romans nicht im Wege.

Die verschobene Typographie und seine sperrige Orthographie wird in der Rezension von Die Unvollendeten von Horst Samson kritisiert, weil sie den Lesefluss hemmen:

[...] von (hinter)frag(ungs)würdigen Manierismen und unangemessenen Wortverzerrungen (‘si- Bierjen’, also Sibirien), von Tautologien und Ist-Gleich(heits)zeichen belästigt, von Numeralien, die als unbestimmte Artikel herhalten müssen (… und nur manch 1 Bö warf der Reglosen 1ige Schreie-Fetzen herüber’, S. 14), von deplazierten oder fehlenden Satzzeichen, von Zahlenkonstruktionen nach dem ‘sprachgeilcoolen’ Ab!2-Date-Modell des ‘4you’ abgelenkt, von Versalien, die den Leser ausbremsen. ‘Der Tscheche brüllte fuchtelte mit seiner Puschke JEDER 6. WIRD !ERSCHOSSEN’.18

Diese Kritik zeigt, dass Samson die Bedeutung und Funktion der Veränderung der Orthographie und Typographie von Jirgl nicht verstanden hat bzw. nicht bereit ist, die desautomatisierte Lektüre zu akzeptieren. In der Studie von Kammler wurde

16 Spreckelsen, Tilman: Heimat, das ist eine wundgeriebene Ferse. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.3.2003, S. L5. 17 Ebd., S. L5. 18 Samson, Horst: Befremdliche Syntax und “plebejische Phonetik”. in: Frankfurter Neue Presse. 26.4.2005. zitiert nach: David Clarke and Arne De Winde: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007, S. 113.

24 gezeigt, wie man die Merkmale der Jirglschen Schreibweise verstehen und dekodieren kann. Jirgl wird auch oft vorgeworfen, dass sein Verschriftlichungssystem nicht original ist, weil schon viel früher andere Schriftsteller wie z. B. James Joyce, Arno Schmidt oder Hubert Konrad Frank mit der Sprachweise so experimentiert haben. Jirgl wird vor allem mit dem Schriftsteller Arno Schmid verglichen. Nach Aussage von Samson Horst:

Die Verwandschaft zwischen Schmidt und Jirgl ist eklatant, unübersehbar, selbst in Sachen Ich- Perspektive folgt er Arno Schmidt treu wie ein Husky. Für den ‘Epigonen’ Jirgl ist das vielleicht vorteilhaft, da er sich dadurch … (er)kennBar [sic] von allen anderen Romanautoren seiner Generation abhebt, vielleicht ist es aber auch unvorteilhaft, hat die Kritik doch schon dem Schmidt ‘unreine Originalitätssucht’ nachgerühmt, da er ja selbst nicht der Erfinder der Erfindung war, wie man im Rückblick auf Lukian, Philostratus und andere, also nicht erst bei James Joyce, feststellen muss. 19

Arno Schmidt wird von Jirgl bewundert für seinen Mut von Schreibkonventionen abzuweichen und in diesem Sinne sieht er seine Nähe zu ihm, alles andere findet er als eine freche Anmaßung. 20 Jirgl gibt zu, dass es in der Literatur schon bereits Gesagtes und Gemachtes gibt. Und er könnte es auch natürlich nur ein bisschen umformulieren oder als Schablone benutzen, jedoch das wäre für ihn zu einfach und zu wenig. 21 Er findet seine Schreibweise als einen Sprach-Zugriff, der nach bestimmten und bewussten Kriterien gewählt und vollzogen wird. Laut Jirgl selbst:

Erst in der Wahl seiner Schreibweise bekundet ein Schriftsteller seine Freiheit, wenn Sie so wollen, sein Engagement. […] Und diese Schreibweise such ich aus dem Gegenstand und dem Material meiner je aktueller Arbeit selbst herzunehmen, und zwar hinsichtlich sämtlicher Bestimmungsgrößen für einen Text: also Zeit, Tempi, Satzperiode, Sprachebenen etc. 22

Jirgl nennt noch andere Gründe für seine private Orthographie und Typographie, die er in seinem Essay Das poetische Vermögen des alphanumerischen Codes in der Prosa erklärt. Es geht weder um ein stilistisches Mittel oder Abgrenzung

19 Arne de Winde: Das Erschaffen von ‘eigen Sinn’. Notate zu Reinhard Jirgls Schrift- Bildlichkeitsexperimenten. in: David Clark and Arne de Winde: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 112. 20 Vgl. Kammler Clemens und Arne de Wind: ‘Schreiben das ist meine Art, in der Welt zu sein’. Gespräch im Briefen mit Reinhard Jirgl. in: David Clarke and Arne de Wind: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesearten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 27. 21 Ebd., S. 25. 22 Ebd., S. 25.

25 von den anderen Schriftstellern noch um ein individuelles Herangehen. Jirgl sieht zwischen Ziffern und Buchstaben eine Spannung, die eigentlich als ein Kulturkampf zwischen Buchstaben und Ideogrammen zu verstehen ist. Er vertritt eine These der Hirnforschung, dass

[…] beispielweise das Lesen eines von links nach rechts zu einem Satzende hin geradlinig verlaufenden, alphabetischen Textes andere neurophysiologische Vorgänge auslöst, als das Lesen (Entziffern – Erkennen) einer beliebigen mathematischen Formel. Bereits die einzelne Ziffer inmitten eines alphabetischen Textes zwingt den Leser in seiner Lesetätigkeit zum ‘Umschlaten’ von der linearen Wirklichkeit der Buchstabenwörter zur ‘insulären’ Wirklichkeit der Zahlen. […] Der alphanumerische Code widerspiegelt die beiden Wirklichkeitsbedürfnisse des auditiv und visuell in der Welt seienden Menschen. Und der muss demnach eine Möglichkeit finden für den Ausdruck zu beschreibender Erscheinungen sowie für den zu kalkulierender (abzählbarer, zu wertender) Sachverhalte. 23

Ein anderer Grund dafür ist, dass er dem Leser ermöglichen will, dass er seine eigene Übersetzungsmöglichkeiten entdeckt und dass für die Interpretation von seinen Zeichen und Ziffern der unmittelbare Kontextbezug entscheidend ist. 24

In der Ost-West-Wochenzeitung wird Jirgl vor allem für seinen Stil und für seine Verarbeitung des Themas gelobt. Es ist sehr wichtig, dass sein Buch keine Belehrung anstrebt, und dass in ihm auch keine Urteile fallen.

„Die Klassiker der (frühen) Moderne schauen über die Schulter, Benn und Jahnn, immer wieder Arno Schmidt, wenn Reinhard Jirgl mit erprobten und bewährten stilistischen Mitteln - wer hier die griffigen Ismus-Formeln bemüht, hat schon längst verloren!“ 25

Fast alle Kritiker stimmen darin zu, dass Jirgl nicht mehr unlesbar ist, weil sich seine Schreibweise beruhigt hat.

Der Würde von Jirgls Figuren wiederum kommt es zugute, dass sich der formal sonst exzessiv experimentierfreudige Autor, dessen Ehrgeiz es lange Zeit schien, Arno Schmidt und Heiner Müller in Abbreviaturen, Versalien, Interpunktionen und anderen Schriftspielchen zu überbieten, in seinem jüngsten Werk ungewohnt mäßigt. Zielten seine Bücher im vergangenen

23 Kammler Clemens und Arne de Wind: ‘Schreiben das ist meine Art, in der Welt zu sein’. Gespräch im Briefen mit Reinhard Jirgl. in: David Clarke and Arne de Wind: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesearten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 54. 24 Vgl. Kammler, Clemens: Unschärfrelationen. Anmerkungen zu zwei problematischen Lesarten von Reinhard Jirgls Familienroman Die Unvollendeten . in: David Clark and Arne de Winde: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 230. 25 http://www.freitag.de/2003/13/03133001.php , 1.6.2008.

26 Jahrzehnt, allen voran die streckenweise unlesbaren Romane "Abschied von den Feinden" (1995) und "Hundsnächte" (1997), offenkundig vor allem darauf, den Lektürefluss gleichsam zu zerschießen, gibt sich Jirgl jetzt vergleichsweise didaktisch. 26

Ulrike Vedder sieht bei seinem Schriftbild noch andere Vorteile. Er nutzt es nämlich um das Unausdrückbare zu formulieren und neue und genauere „ […] Darstellungsmöglichkeiten der Sprache zu gewinnen.“27

„Dem Roman gelingt es auf diese Weise eine höchst kunstvolle Darstellung und Überbietung des Unzureichenden der Sprache angesichts der Traumatisierungen, das heißt sowohl der - jede Intention und Orientierung verwerfen dem – Vertreibungserfahrungen als auch der sekundären Erfahrungen bzw. sekundären Traumatisierung des Erzählers, eines ›Nachgeborenen‹ aus dem Jahr 1953.“ 28

In der Zeitschrift Der Deutschunterricht wird Jirgl den Autoren von Erinnerungspoetiken der Gegenwart zugeordnet. Und wird für seine Bearbeitung der Erinnerungen gepriesen .

In der Tat führt Jirgl in den Unvollendeten vor, wie die Erinnerung spontan und mit plastischer, sinnsprengender Gewalt immer wieder emporstößt, wie Schlüsselszenen in Schlüsselbegriffen aufbewahrt liegen, die zeitlebens immer wieder heraufkommen, wie vermeintlich Neues doch das Immergleiche – Alte anknüpft. 29

Weiter wird auf dem Roman geschätzt, dass Jirgl neutral gegen die Geschichte bleibt. Es geht ihm nicht darum, jemanden zu beschuldigen oder jemanden zu rechtfertigen. Es findet keine Attacke gegen die Gefühle des Lesers statt.

Ohne Verharmlosung und ohne Heroisierung, ohne zu dramatisieren oder zu mystifizieren, erzählt Jirgl, was ihn sichtlich bis auf den heutigen Tag bewegt: eine Entwurzelung, die ihm nur als Erzählung überliefert wurde und die ihn doch machtvoll geprägt hat. «Später war Krieg, u jede Kindheit zuende», so heisst es einmal in schrecklicher Lakonie. Auch von solchem Verlust – ohne Larmoyanz freilich - erzählt dieser grosse Roman. 30

Ein anderes Beispiel für seinen neutralen Blick auf die Geschichte:

26 http://www.welt.de/print-welt/article250277/Geschunden_durch_die_Vertreibung.html, 7.7.2008. 27 Vedder, Ulrike: Luftkrieg und Vertreibung. Zu ihrer Übertragung und Literarisierung in der Gegenwartsliteratur. In: Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. Hg. Von Corina Caduff und Ulrike Vedder. München (Finkl) 2005. S. 77. 28 Ebd., S. 77. 29 Hoorn, Tanja van: Erinnerungspoetiken der Gegenwart: Christoph Ransmayr, Reinhard Jirgl, W. G. Sebald. in: Der Deutschunterricht, 2005. S. 69. 30 Bucheli, Roman: Im toten Winkel des Daseins . in: Neue Zürcher Zeitung, 14.6.2003, S. 63.

27 „Es geht Jirgl hier explizit darum, einen "weißen Fleck im Erzählerischen literarisch zu besiedeln", und zwar "ohne jegliches Ressentiment und besonders ohne die Perpetuierung gegenseitigen Schuldzuweisens". Dieses Vorhaben ist ihm eindrucksvoll gelungen. “31

Maja Rettig vergleicht in ihrer Kritik Jirgls Die Unvollendeten mit Günter Grass’s Krebsgang , weil es um ein ähnliches Thema geht. Sie versucht die größten Unterschiede zwischen Arten des Schreibens von Jirgl und Grass zu finden.

Der unauffälligste Unterschied: Jirgl scheut im Gegensatz zu Grass bei dieser Thematik das Literarische nicht; ja: die Selbstverständlichkeit, mit der er auch diesem Sujet die höchsten Töne abgewinnt, lässt Grassens skrupulöse, zurückgehaltene Sprache gelegentlich blass aussehen, mitsamt der Erzählfiktion von mittelmäßigen Journalisten und den sonstigen vielfachen Absicherungen – als sei Kunst im Gegensatz anstößig angesichts der politischen Brisanz menschlichen Tragödien. 32

Jirgl hat in Prag aus seinem Roman Die Unvollendeten vorgelesen. Eine Rezension darüber wurde von Katrin Bock geschrieben: Mit dem Thema der Vertreibung traf Reinhard Jirgl in diesem Jahr ungewollt ins Schwarze. Den Stoff für den Roman "Die Unvollendeten" sammelte er bereits Ende der 70er Jahre. Die Gräueltaten während der wilden Vertreibungen der Sudetendeutschen aus den Böhmischen Ländern schildert Jirgl ohne Wertung - sein gesamter Roman ist in dieser Hinsicht wertungsfrei - es wird lediglich beschrieben, was geschah. Als autobiographisch ist der Roman keinesfalls zu betrachten, erklärte der Autor während einer Lesung in Prag, vielmehr sei es ihm darum gegangen, die "Vertriebenenmentalität" darzustellen und das Problem der Heimatsuche. Da Reinhard Jirgl einen eigenen Schreibstil besitzt, in dem die so genannte Zeichenebene eine große Rolle spielt, werden seine Bücher so gut wie gar nicht übersetzt. 33

6. Interpretation

Motive und Symbole

Auf den ersten Blick ist bei den Unvollendeten sichtbar, dass das Leitmotiv die Vertreibung der Deutschen aus dem Ostgebiet ist. Damit ist natürlich auch die Entwurzelung, Heimatverlust und Probleme mit der Selbstpositionierung verbunden: „1Mal Flüchtling, immer Flüchtling“. (U, S. 63) Hier werden weiter die Motive und Symbole des Romans ergänzt und interpretiert.

31 http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6320&ausgabe=200309 , 3. 7. 2008. 32 Rettig, Maja: Mehrfach geprellte Sehnsucht. in: Neue Deutsche Literatur. 2003. H. 4., S. 126. 33 http://www.radio.cz/de/artikel/48619/limit , 3. 7. 2008.

28 Vertreibung Der Prozess der Vertreibung bei Hanna und Maria vollzieht sich seit dem Jahre 1945 bis einschließlich ihren Tod und findet im dem Roman mehrmals statt. Die erste Vertreibung aus der Heimat- Komotau ist die grundlegende, mit ihr fängt die Suche nach dem neuen Ort für die Vertriebenen an. Die Flüchtlinge müssen mehrmals ihre zeitweiligen Heime wechseln. Die meiste Zeit nach der Vertreibung verbringen sie in der Wohnung der Reichsbahn in Birkenheim. Fast am Ende des Lebens von Hanna und Maria müssen sie aber aus ihrer Wohnung ausziehen, weil es sich um eine Dienstwohnung handelt, und weil die Bahn die Wohnung für die Lehrlinge beansprucht. Die beiden Frauen arbeiten für die Bahn nicht mehr, deswegen können sie sich auch dagegen nicht wehren. Sie wurden sozusagen wieder vertrieben. Jirgl beschreibt prägnant die Bilder dieses Vorgehens, indem er den Umzug mit dem voll beladenen Wagen beschreibt: „Aus dem Keller holten Hanna & Maria den alten Leiterwagen, mit dem sie seinerzeit aus Schieben hierher nach Birkheim umgezogen warn, beluden ihn wie-Damals mit Kisten, Körben, Taschen, & schafften so Geschirr, Kleider, einigen Hausrat in die Neuewohnung.“ (U, S. 228) Die Vertreibung aus der Heimat wird bei Reiner als die Vertreibung aus Birkheim geschildert, weil er seine Kindheit bei Hanna, Maria und Johanna verbringt. Der Unterschied liegt aber darin, dass seine Abfahrt aus Birkheim in Wirklichkeit gute Gründe hat, denn seine Mutter will, dass sie zusammen in einer ordentlichen Familie in Berlin wohnen. „Hanna, windbleich und hastig: −Wir wollten immer nur dein Bestes . :Also haben sie mein Bestes mir genommen: Birkheim=!meine-Heimat −.“ (U, S. 207) Der Umzug symbolisiert auch eine Grenze oder Trennung zwischen Reiners Kindheit und Jugend, es ist die Grenze zwischen Berlin und Birkheim. Als er von seiner Mutter nach Berlin abgeholt worden ist: „D AVONGEGANGEN . F ÜR =IMMER. “ (U, S. 206)

29 Heimat und Familienerbe Die Bedeutung der Heimat verändert sich während der Zeit. Die größte Intensität dieser Dimension hat sie am Anfang. Der Verlust der Heimat, der primär Johanna, Hanna und Maria prägt, verursacht bei ihnen die beharrliche Sturheit um jeden Preis zurück in die Heimat zu kommen. Für sie ist es unmöglich eine neue Heimat zu finden und irgendwo anders als in Komotau festen Fuß zu fassen. Als sie in die SBZ eingetroffen sind:

[…] regnete der April in grauen Fäden auf endlos scheinende schwarz dahingebreitete Erde herab, die bei jedem Schritt an den Schuhn in Batzen kleben blieb, in Pflugfurchen glänzend schäumiges Wasser. Und den Horizont entlang, wie von dunklem Fettstift geschmiert, Kiefernwälder als seis der Trauerrand um die Kondolenzkarte für ein tischflaches Land –. Nun waren auch die Berge des Erzgebirges endgültig im Krieg geblieben. (U, S. 11) ist es ihnen klar geworden, dass es für sie nie eine neue Heimat sein kann. Die Sehnsucht nach der Heimat verursacht, dass die Flüchtlinge alles nur als etwas Provisorisches nehmen. In Wirklichkeit gibt es aber von ihrer Seite keine Bemühungen sich mit den anderen in Kontakt zu setzen. „[...] das=hier ist ja nur vorübergehend, ist nur Provisorium, und schon Bald – vielleicht schon gleich=Morgen – gehts wieder zurück, in die - !Heimat. Ja, die-!Heimat ist unser !wahres=!einziges Zuhause [...].“ (U, S. 56) Daraus ergibt sich ihre mangelnde Anpassungsfähigkeit, die dann spätere Konflikte zwischen den Einheimischen und ihnen verursacht. Es gibt natürlich bestimmte Merkmale, die sie als Ausländer kennzeichnen könnten wie z. B. ihr Akzent, sudetendeutscher Dialekt, denn sie nie abgelegt haben:

Und das schüchterne Grüßgott dieser Flüchtlinge, als sie im Hof Dem Bauern gegenübertraten, klang ebenso aus einer Anderenwelt, wie zum Abschied (nicht das Brummen der-Leute=hier, oft gingen sie grußlos davon) der Flüchtlinge Gottbehütdich sowie statt des Wortes Danke ihr Vergeltsgott von den Einheimischen oft als Niesen aufgefaßt wurde. (U, S. 11/12)

Jedoch sind diese Merkmale für die Anpassung nicht entscheidend. Mit dem Verlust der Heimat haben sie auch einen materiellen Verlust erlitten. Kurz vor ihrem Tod wurden sie sogar endgültig enteignet. „Und am selben Abend=damals das Licht in der verlassnen Wohnung unterm Dach & Schatten huschten

30 dort umher, die neuen Besitzer all der zurückgelassnen Sachen −. Jetzt waren die beiden Flüchtlinge end=gültig enteignet.“ (U, S. 246) Der einzige Besitz, den sie aus der Heimat gerettet haben und den ihnen niemand weg nehmen kann, ist ihre Denkweise und ihre kompromisslose Haltung. Das Heimweh hat allmählich an Intensität nachgelassen, weil der Rückkehr ihnen immer mehr unmöglich scheint. Die Heimat verwandelt sich dann zur Alten Heimat (U, S. 220). Dazu trägt auch Anna mit ihrem Handeln bei. Sie stimmt mit ihrer Mutter nicht überein. Ihre Erinnerungen an Komotau sind überwiegend negativ. Für Anna ist es noch nicht zu spät ein neues Zuhause zu finden, aber durch den Entschluss ihrer Mutter sich nicht in die Birkheimer Gesellschaft einzugliedern, ist es für sie fast unmöglich. Ihre Antwort auf diesen Entschluss ist ihre negative Einstellung zur alten Heimat: „ Heimat: das ist nichts als 1 wundgeriebene Ferse .“ (U, S. 39) Ihr Kampf beginnt mit dem Versuch andere Beziehungen anzuknüpfen und sich von den Erinnerungen an das Erzgebirge zu trennen. Die Heimatlosigkeit verwandelt sich in eine Entfremdung zwischen ihr und dem Rest der Familie und in eine Nichtzugehörigkeit zu der Bevölkerung der DDR. Bei ihrem Sohn wiederholt sich die Geschichte auf einer anderen Ebene, weil er selbst die Vertreibung nicht unmittelbar erlebt hat. Trotzdem verfolgen auch ihn die Familiengeschichte: „Im-Grund brüllte ich gegen mich selber, gegen Das, was ich in= mir wußte von dieser ver!fluchten Bescheidenheit ….. die ich von diesen Flüchtlingen geerbt hatte wie nen seelischen Buckel.“ (U, S. 227) Sein Familienerbe verursacht auch bei ihm das Scheitern. Seine Buchhandlung läuft nicht gut, damit scheitert sein Traumprojekt. In dem Privatleben geht es abwärts. Er entfremdet sich seiner Frau immer mehr wegen der Konflikte, die die Buchhandlung betreffen.

Die Unvollendeten Durch das ganze Buch zieht sich das Motiv des Unvollendetbleieben. Bei Anna zeigt sich das bei ihren Bemühungen ein neues Leben weg von ihrer Familie (Heimat) zu führen. Sie hat ihren Beruf und auch ihren Ehemann selbst gewählt und sie ist nach Berlin umgezogen. Ihr Streben im beruflichen und privaten Leben bleibt jedoch

31 unvollendet. In der Arbeit ersetzt sie eine jüngere Kollegin. Sie bleibt ganz ohne Kontakt zu anderen Menschen. Die Unvollendetheit bei Reiner liegt in seinem unvollendetem Werk und seiner unvollendeten Operation. Er erfüllt sich seinen Traum eigene Buchhandlung zu eröffnen, aber er denkt nicht mehr daran, dass sein Geschäft auch Geld verdienen muss. Er interessiert sich nicht für die geschäftliche Seite seiner Buchhandlung, sondern nur für die Bücher, die nicht zu dem Mainstream gehören. Er ist mit seiner Frau in einen Streit über die Rentabilität der Buchhandlung geraten und er sagt ihr: „Du wirst ohne mich vollenden, was mit mir stets unvollendet bleiben mußte.“ (U, S. 247) Wenn er im Krankenhaus operiert wird, zeigt sich heraus, dass er weitfortgeschrittenen Krebs hat: „ Aufgemacht-&-gleichwieder-zugenäht .“ (U, S. 158) Sein Krebs ist unheilbar, jedoch lebt Reiner noch weiter, sein Leben ist damit unvollendet. Jirgl beschreibt und erklärt Reiners Lage in einem Interview als:

[…] eine Aussichtslosigkeit, die eigentlich deprimierend ist anderseits aber wiederum eine Art von Fertigkeit. Er steht mit den Rücken zur Wand und jetzt hat er die Chance etwas zu tun, was bis jetzt in seiner ganzen Biographie und seinen ganzen Vorfahren nie passiert ist. Er kann diesen teuflischen Zirkel des Vertriebenen, er ist sozusagen aus seiner Bücherheimat vertrieben […] zu durchbrechen und dorthin zurück zu gehen, also seine Heimat, seine Kleinstadt in der er groß geworden ist, wieder aufzusuchen, natürlich mit dem Makel dieser tödlichen Krankheit, aber vielleicht ist ja so etwas der Preis für die Freiheit. 34

Jirgl findet die ganze Situation nicht hoffnungslos , weil sie nicht vollendet ist. 35 In dem Unvollendeten gibt es immer noch eine Chance, erst die Vollendung ist ausweglos.

Das Schwarze O Ein spezielles Motiv ist das Schwarze O , dessen Spezialität liegt darin, dass das Symbolische mit dem Ästhetischen verbunden ist. Erst die Bildlichkeit ermöglicht den Sinn des Schwarzen O zu verstehen. Die Versinnbildlichungskraft des isolierten Buchstabens zeigt das Motiv des Schwarzen O. „Dieses O funktioniert als

34 http://www.radiobremen.de/magazin/kultur/literatur/jirgl/ , 7. 7. 2008. 35 Vgl. http://www.radiobremen.de/magazin/kultur/literatur/jirgl/ , 7. 7. 2008.

32 ein unaussprechliches, abgründiges Zentrum – traumatische Krypta –, um das herum sich der Zeugnisbericht des krebskranken Erzählers fortspinnt […].“ 36 Ein Patient, der mit Reiner zusammen im Zimmer im Krankenhaus ist, beschreibt es als „[…] Zeit-Tunnel […] zwischen Heute u: Damals, Orte, an denen Alles wiederkehrt.“ (U, S. 210) Das erste Mal tritt dieses O, als Reiner von seiner gestorbenen Urgroßmutter Abschied nehmen soll. „Da spüre ich Hannas Hand an meinem Hinterkopf, energisch drückt sie mein Gesicht dem Gesicht der Unbekannten näher – auf-mich zukommend der offene Mund, groß wie der Buchstabe O IM

SCHWARZEN WORT TOD −:“ (U, S. 172) Die bildliche Vorstellung von diesem O assoziiert er hier mit offenen oder leeren Mündern und Augen, die man bei einer toten Person sehen kann. Das schwarze O symbolisiert hier den Tod (U, S. 201, 204, 213) „Wenn es mit Lust konnotiert wird, indiziert es gewissermaßen das stets drohende Umkippen von Eros in Thanatos […]“ 37 schreibt Arne de Wind in Bezug auf Reiners Wahrnehmung des Koitus mit seiner Frau in dem leer geräumten Buchladen. Die Schreckensignale H AMMERSCHLÄGE und das SCHWARZE O aus Reiners Kindheit verbinden sich mit den rauhen Laute Gier . (U, S. 248) Das schwarze O wird dann auch in anderen Wörtern hervorgehoben, wie z. B. In dem Wort GOtt (U, S. 130) oder Ordentliche Familie (U, S. 184). Das Symbol des Todes wird damit auch auf andere Wörter übertragen. Der Text taucht dadurch in eine Atmosphäre des Todes und des Verfalls.

Jirgls Orthographie und Typographie in dem Roman Die Unvollendeten

Die Unvollendeten wurden von Clemens Kammler untersucht. Er rekonstruiert ein System in Jirgls Orthographie und Typographie, die gegen die Duden-Norm verstoßen. Er wählt ein paar sich immer wiederholenden Merkmale, denen er dann eine Bedeutung zuordnet. In der Anmerkung von dem Roman steht, dass die in Versalbuchstaben im zweiten Teil eingerückte Textteile aus authentischen Zeitungstexten der DDR- Tageszeitung Neues Deutschland entnommen wurden. Als Beispiel dafür nimmt

36 Arne De Winde: Das Erschaffen von ‘eigen-Sinn’. Notate zu Reinhard Jirgls Schrift- Bildlichkeitsexperimenten. In: David Clark and Arne de Winde: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 122. 37 Ebd., S. 123.

33 Kammler das Wort TRANSPORT, dem er die Bedeutungsfunktion: Sprache der Macht zuschreibt. 38 Ein weiteres Beispiel sind die in Kursiv gedruckte Wörter z.B. „ −! Jessas=Jessas ?!was hast du wieder ver?brochen, ?! was hast du ihm ?getan, daß er zurückkommen muß um uns=alle zu !strafen. “ (U, S. 100) , in dieser Form sollen Äußerungen einzelner oder ganzer Gruppen der Bevölkerung hervorgehoben werden. 39 Sehr oft kommen in dem Text Kontraktionen und Großschreibung im Wort vor, z. B. „GOttderherr“ (U, S. 63), die Bedeutungsfunktion ist hier die Verfremdung und Annäherung an gesprochene Sprache. 40 Diese Großschreibung und Kontraktion verursachen, dass das Wort dem Leser als ein fremdes Wort vorkommt. Der Leser muss das Wort entschlüsseln, am besten dadurch, dass er es nachspricht. Erst dann wird die Inhaltsseite des Wortes verständlich. Das Lesen wird bei diesem Aussprechen verlangsamt und der Leser wird aus seiner Fantasie gerissen. Es verursacht, dass die Geschichte nicht zu sentimental wirkt. Damit ist der Roman neutral und stellt nicht Schuld gegen Schuld. Setzungen von Ausrufungs- und Fragezeichen in dem Satz sollen bestimmte Sachen betonen oder hinterfragen bestimmte Aussageinhalte z. B. „ − −?Du hastnoch ne?! RICHTIGE-FAMILIE “ (U, S. 69) Jirgl spielt auch gerne mit Wörtern, solche Wortspiele wie: „ − vom Kommunistischen manifest zum Globalistischen Money-Fest − “ (U, S. 197) sollen die Bedeutung der Wörte ironisieren. 41 Auch Wortschöpfungen erscheinen in dem Text z. B. „Viehnanz-Lobby “ (U, S. 161), die zusätzliche Bedeutungen, Konnotationen ermöglichen. 42 Fraktur wie z. B. „Die Frau muß dem Manne dienen“ (U, S. 69) vertreten die ideologischen Floskeln, Anordnungen, oft mit NS-Bezug. 43 Das letzte Merkmal sind die Ziffern statt Zahlwort bzw. Präfix ein z. B. „1 der Häftlinge“ (U, S. 76), die die Bedeutung der Depersonalisierung haben. 44

38 Vgl. Kammler, Clemens: Unschärfrelationen. Anmerkungen zu zwei problematischen Lesarten von Reinhard Jirgls Familienroman Die Unvollendeten . in: David Clark and Arne de Winde: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 229. 39 Ebd., S. 229. 40 Ebd., S. 229. 41 Ebd., S. 229. 42 Ebd., S. 229. 43 Ebd., S. 229. 44 Ebd., S. 229.

34 7. Warum schreibt Jirgl über die Vertreibung im Jahr 2003

Jirgl bezweifelt die Theorie, dass die Vertreibung der deutschen Bevölkerung als Tabu gilt. Vor allem, weil es in der deutschen Nachkriegszeit genug Literatur mit diesem Thema gegeben hat. „[…] die erste Phase des Erinnerns, insbesondere an Traumata, das ist immer ein gewolltes Vergessen.“ 45 Jirgl denkt, dass das Ausblenden der Vertreibung der Deutschen sich mit dem Begriff des Wirtschaftswunders erklären lässt. Diese spezielle wirtschaftliche Situation, die auch mit Ethik und Politik verbunden war, hat wegen eines kollektiven Bekenntnisses zur Schuld an den NS-Verbrechen fungiert. Die Frage nach dem Schuldgefühl der Einzelnen war unwichtig. Das Thema der deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges wurde in der Öffentlichkeit kaum besprochen. Es ist fast zum Tabu geworden. Es hat fast wie ein verbotenes und auf jeden Fall sehr unangenehmes Thema gegolten. Jedes Volk hat eine eigene Geschichte und muss sich mit ihr auseinandersetzen, aber die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg mussten von den meisten Deutschen verdrängt werden. Sofort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Erinnerungen an Flucht und Vertreibung in den Filmen, Romanen und Dokumentationen als das Leiden, Schock und Deklassierung dargestellt. Gleichzeitig sind aber auch Erlebnisse und Erinnerungen von anderen Leuten und Nationen erschienen,

[…] die von der Roten Armee überrollt, von Sowjetsoldaten vergewaltigt oder von Polen und Tschechen zur Zwangsarbeit eingesetzt worden waren, in der politischen Propaganda eingesetzt, da sich im beginnenden Kalten Krieg mit den Gräueltaten eindringlich begründen ließ, warum sich das christliche Europa gegen „barbarische Rotarmisten“ und die „bolschewistische Gefahr“ schlechthin zusammenzuschließen und zu rüsten habe .46

Eine andere Phase der Wahrnehmung des Geschehens hat in den sechziger Jahren stattgefunden. Die ganze Nation einschließlich der Vertriebenen, die sich bis jetzt als Opfer der Alliierten gefühlt haben, wurden von den Nachgeborenen als

45 Clemens Kammler und Arne de Wind: ‘Schreiben – das ist meine Art in der Welt zu sein’. Gespräch in Briefen mit Reinhard Jirgl. in: David Clarke and Arne De Winde: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 39. 46 Jörg-Dieter Gauger, Manfred Kittel: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in der Erinnerungskultur, Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., 2005. S. 115.

35 Mitläufer und sogar als Täter angesehen. Das verlorene Ostgebiet hat als angemessene Straffe für die Taten des NS - Regimes gegolten.

Von einigen literarischen Ausnahmen abgesehen – etwa den Romanen „Heimatmuseum“ von Siegfried Lenz oder „Kindheitsmuster“ von – waren die Themen Flucht und Vertreibung in den siebziger und achtziger Jahren vom linken und liberalen Milieu gemieden oder sogar diskreditiert. 47

In Ostdeutschland war Vertreibung kein Thema. Es könnte nämlich gegen die Sowjetunion gewendet werden. Organisationen von Sudetendeutschen und Schlesiern wurden verboten. Wegen Mangel an Geld hat es auch keinen Lastenausgleich wie im Westen gegeben.

In den neunziger Jahren sieht die Situation wieder ganz anders aus. Das Thema wird untersucht und behandelt. Die möglichen Anregungen dafür haben nach Ulrike Veder drei Quellen. Die erste Quelle ist die unerwartete Aktualisierung der vergangenen Vertreibungs - und Bombenkriegserfahrungen durch die Kriege der neunziger Jahre in Jugoslawien bzw. Kosovo. Die zweite Quelle ist die Dynamik von Traumatisierungen, „[…] in deren Perspektive mehrere Jahrzehnte des Verharrens im Traumata keine lange Zeit sind und deren Auflösung bzw. Zum-Sprechen-Bringen ohne Emotionen undenkbar ist.“ 48 Die dritte Quelle ist die Familie als allein stehende Institution, in der sich neue Perspektiven bilden, die auf ihre eigene Eltern und Großeltern gerichtet sind und die sich besonders in der Literatur auswirken. „›Generation der 68er‹ etwa, die sich zunächst – auch literarisch – als Kinder der ›Täter-Väter‹ definierte und dadurch von diesen absetzte, trägt nur vielfach das Label (und Selbstbild) einer ›Generation der Kriegskinder‹.“ 49 Flucht und Vertreibung sind wieder in den Mittelpunkt der literarischen Öffentlichkeit geraten. Der Befund von dem Schriftsteller W.G. Sebald „ [...] dass das ,area bombing’ der Alliierten mit wenigen Ausnahmen wie Hans-Erich Nossack Untergang oder Hubert Fichtes Detlevs Imitationen, ‚Grünspan’ in der

47 Jörg-Dieter Gauger, Manfred Kittel: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in der Erinnerungskultur, Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., 2005. S. 115. 48 Vedder, Ulrike: Luftkrieg und Vertreibung . Zu ihrer Übertragung und Literarisierung in der Gegenwartsliteratur. In: Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. Hg. Von Corina Caduff und Ulrike Vedder. München (Finkl) 2005. S. 70. 49 Vgl. Ebd., S. 71.

36 Erinnerungsarbeit der deutschen Nachkriegsliteratur keinen angemessenen Niederschlag gefunden habe,“ 50 hat ein großes Aufsehen erregt. An diese These von Sebald hat dann Volker Hage mit einer Sammlung von Texten und Gesprächen reagiert, mit der er gezeigt hat, dass es eine hohe Zahl an literarische Reaktionen auf die Schrecken des Luftkrieges gegeben hat, aber sie sind nie wirklich präsent gewesen, was nicht ein Problem der Produktion, sondern der Rezeption war. 51 In kurzer Zeit (2002) sind weitere wichtige Bücher wie die Novelle Im Krebsgang von dem Literaturnobelpreisträger Günter Grass und das Sachbuch Der Brand Bombenangriffe auf Deutschland 1940-1945 von dem Historiker Jörg Friedrich erschienen. Er analysiert in seinem Buch die Luftangriffe von den Alliierten, die er auf der einen Seite strategisch sieht, aber auf anderer Seite beschäftigt er sich auch mit deren Folgen für die deutsche Bevölkerung. Günter Grass beschreibt in seiner Novelle den Untergang des KdF-Schiffes Wilhelm Gustloff , bei dem viele Flüchtlinge gestorben sind. Seine Novelle hat viele positive Rezensionen bekommen und auch die Öffentlichkeit hat ihre Geschichtswahrnehmung auch aufgrund des inzwischen großen zeitlichen Abstandes verändert. Im Jahr 2003 sind viele Romane mit der Thematik Vertreibung, Flucht und Erinnerung der deutschen Bevölkerung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erschienen, wie z. B. Himmelskörper von Tanja Dückers, Ein unsichtbares Land von Stephan Wackwitz und Die Reise nach Samosch von Michael Zeller und auch der Roman Die Unvollendeten von Reinhard Jirgl. Es scheint, dass es in der Gesellschaft zu einem Wandel gekommen ist. Durch diese Bücher erfahren die Neugeborenen viele neue Tatsachen, über die sie noch mehr wissen möchten, und es kann auch dazu führen, dass sie die Geschichte von den Großeltern wissen möchten. Sie suchen nach der Geschichte der eigenen Familie. Die Kinder und Enkel haben eine neutrale Stellung zu dem Ganzen, sie haben kein

50 Jürgensen, Christoph: 1 Mal Flüchtling, immer Flüchtling – Zur Vertriebenenproblematik in Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten. In Posener Beiträge zur Germanistik. Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2006. S. 41. 51 Vgl. Jürgensen, Christoph: 1 Mal Flüchtling, immer Flüchtling – Zur Vertriebenenproblematik in Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten. In Posener Beiträge zur Germanistik. Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2006. S. 41.

37 Bedürfnis die Schuld der Deutschen zu relativieren oder die Leiden der Juden, Polen und Russen zu marginalisieren. Jeder Mensch hat das Bedürfnis seine Herkunft zu wissen. Selbst Jirgl fragt: „Wie ist es um die Nachkommen der Vertriebenen bestellt, denen ihre Herkunft oftmals unerschließbar bleiben mußte?“ 52 Die Vertriebenenkinder haben natürlich auch den Wunsch eigene Wurzeln zu kennen und sich irgendwo integriert zu fühlen. Diese Kinder haben das Leiden der Vertreibung und der Bombardierung selbst nicht erlebt, jedoch versucht es trotz dem Mangel an geschichtsfähigen Erinnerungen zu verarbeiten und sich damit auch mit ihren Eltern und Ureltern zu identifizieren. Gerade in der Literatur sind dann solche Versuche abgebildet, die sich bemühen die großelterlichen Geschichten in einer Weise darzustellen, die einen Kompromiss zwischen der emotionalen Nähe und dem historischen Zustand sucht. 53 Ein weiterer Grund dafür ist, dass die Vertriebenenkinder schon kurz vor dem Rentneralter sind und sich auch für andere Sachen als nur für die Karriere und für soziale Absicherung interessieren können. Der Fall des Eisernen Vorhangs hat ermöglicht, dass viele Familien in ihre alte Heimat gereist sind. Sie wollten sehen, wie ihre Städte, Dörfer und Häuser aussehen, was aus ihnen geblieben ist. Somit ist das Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa wieder zu einem Teil der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte geworden. Obwohl bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schon alle Flüchtlinge sich integriert fühlen sollten, denn ein materieller Notstand schon vorbei war und die Flüchtlingsfamilien sich wie die andere Familie um eigene Existenz gekümmert haben, hat die Studie des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg aus dem Jahre 1999 gezeigt, dass

[…] bei der Umfrage noch 62 Prozent der Befragten unter belastenden Erinnerungsbildern und dem Wiedererleben traumatischer Situationen litten. Ermutigt durch die Berichte über die massenhaften Demütigungen der Frauen im zerfallenden Jugoslawien brachen seit Anfang der neunziger Jahre auch viele Frauen ihr Schweigen und berichteten erstmals über ihre eigenen Vergewaltigungen fünfzig Jahre zuvor. 54

52 Jörg-Dieter Gauger, Manfred Kittel: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in der Erinnerungskultur, Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., 2005. S. 116. 53 Vgl. Vedder, Ulrike: Luftkrieg und Vertreibung . Zu ihrer Übertragung und Literarisierung in der Gegenwartsliteratur. In: Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. Hg. Von Corina Caduff und Ulrike Vedder. München (Finkl) 2005. S. 71. 54 Jörg-Dieter Gauger, Manfred Kittel: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in der Erinnerungskultur, Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., 2005. S. 119.

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Das alles zeigt, dass das Thema der Flucht und Vertreibung immer noch Aufmerksamkeit der Deutschen genug auf sich lenkt und es auch schlagkräftige Gründe dafür gibt.

8. Resümee

Reinhard Jirgl hat mit seinem Roman Die Unvollendeten bewiesen, dass er ein hervorragender Schriftsteller ist, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verdient. Die bis jetzt erschienenen Rezensionen zu seinem Roman sind von den Unvollendeten begeistert. Nicht nur die Bearbeitung, sondern auch die Wahl des Themas war eine kühne Tat. Jirgl ist es gelungen die oft verdrängten Bruchstücke der Geschichte zu aktualisieren und auch zu der neuen Diskussion über sie beizutragen. Jirgl hat keine Angst zu experimentieren, obwohl er sehr oft als unlesbarer Schriftsteller genannt wurde. Jirgl hat sehr viel an seinem Stil gearbeitet, den er speziell für seine Bücher nach dem Thema auswählt. Seine Arbeit mit Orthographie und Typographie hat sich gelohnt und fand in der feinen Dosierung im Roman Die Unvollendeten auch endlich Anerkennung. Die Qualität dieses Romans belegen auch die Preise, die er für Die Unvollendeten bekommen hat. Im Jahr 2003 war es der Kranichsteiner Literaturpreis, den er vor allem für den Roman Die Unvollendeten bekommen hat. Dieser Preis wird seit dem Jahr 1983 vom Deutschen Literaturfonds Darmstadt vergeben, der die deutschsprachige Gegenwartsliteratur fördert. Walter Kempowski hat diesen Preis im Jahr 2002 bekommen. Im Jahr 2004 wurde Jirgl für Die Unvollendeten mit dem Dedalus-Preis für Neue Literatur ausgezeichnet. Diesen Preis bekommen nur die deutschsprachigen Schriftsteller, die neue Formen der Prosa kreieren. Die bis jetzt letzte Auszeichnung, hat Jirgl im Jahr 2007/08 erhalten, es ist der Literaturpreis des Stadtschreibers von Bergen.

39 Jirgl schreibt aber nicht, um Preise zu bekommen, sondern wie er sagt: „Schreiben das ist meine Art, in der Welt zu sein und daran habe ich immer noch Interesse.“ 55 Sein Lesepublikum kann jetzt schon gespannt auf die nächsten Werke von ihm warten und hoffen, dass er noch lange daran Interesse haben wird in der Welt zu sein.

55 Clemens Kammler und Arne de Wind: ‘Schreiben – das ist meine Art in der Welt zu sein’. Gespräch in Briefen mit Reinhard Jirgl. in: David Clarke and Arne De Winde: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007. S. 57.

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Literaturverzeichnis

Primärliteratur: Jirgl Reinhard: Die Unvollendeten. München: Carl Hanser Verlag, 2007

Sekundärliteratur: David Clarke and Arne De Winde: Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterdam: Rodopi, 2007 Jörg-Dieter Gauger, Manfred Kittel: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in der Erinnerungskultur, Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., 2005 Martinez, Matias, Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck, 1999 Jürgensen, Christoph: 1 Mal Flüchtling, immer Flüchtling – Zur Vertriebenenproblematik in Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten. In Posener Beiträge zur Germanistik. Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2006, S. 41-50

Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge: Bucheli, Roman: Im toten Winkel des Daseins . In: Neue Zürcher Zeitung, 14./15.6.2003 Hoorn, Tanja van: Erinnerungspoetiken der Gegenwart : Christoph Ransmayr, Reinhard Jirgl, W. G. Sebald. In: Der Deutschunterricht, 2005. H. 6. S. 63-72 Jung, Werner: Wo Menschen ,benutts‘ werden . In Freitag, 21.3.2003 Kammler, Clemens: Literarisierte Erinnerung . Reinhard Jirgls Familienroman ,Die Unvollendeten‘. In: Der Deutschunterricht. 2005. H. 4. S. 18-23 Radisch Iris: Mund zu, wenn Gänse fliegen . In: Die Zeit, 30.4.2003 Rettig, Maja: Mehrfach geprellte Sehnsucht . In: Neue Deutsche Literatur. 2003. H. 4. S. 129-132 Spreckelsen, Tilman: Heimat, das ist eine wundgeriebene Ferse . In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.3.2003 Vedder, Ulrike: Luftkrieg und Vertreibung . Zu ihrer Übertragung und Literarisierung in der Gegenwartsliteratur. In: Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. Hg. Von Corina Caduff und Ulrike Vedder. München (Finkl) 2005. S. 59-79

41 Internetquellen: Jung, Werner: Wo menschen ›benutts‹ werden, 21.3.2003. URL: http://www.freitag.de/2003/13/03133001.php , - Download vom 1.6.2008 Vedder, Ulrike: Literarische Verschiebungen demographischer Diskurse: Der deutschschprachige Generationenroman der Gegenwart. URL: http://www.generationenforschung.de/projektIV_a.html , - Download vom 3.7.2008 http://www.li-go.de/definitionsansicht/ligostart.html , 3.7.2008 Landshuter, Stephanie: Die Welt als Hölle und Nachstellung. URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6320&ausgabe=200309 , - Download vom 3.7.2008 Boch, Gudrun: ”Schreiben kommt aus dem Lesen und Erzählen“. URL: http://www.radiobremen.de/magazin/kultur/literatur/jirgl/ , - Download vom 3.7.2008 Bock, Katrin: Neuer deutscher Roman über Vertreibung in Prag vorgestellt. URL: http://www.radio.cz/de/artikel/48619/limit , - Download vom 5.7.2008 Reinhard Jirgl: Salzwedels Stadtplan als Grundlage für „ Die Unvollendeten“. URL: http://www.tourier.de/showpage.php?cid=68 , - Download vom 3.7.2008 Werner, Hendrik: Geschunden durch die Vertreibung, 2.8.2003. URL: http://www.welt.de/print-welt/article250277/Geschunden_durch_die_Vertreibung.html, - Download vom 1.7.2008

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