Literarische Vernunftkritik Im Roman Der Gegenwart
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Schluss: Literarische Vernunftkritik und ihre Aporien In verschiedensten Formen und Erzählweisen greifen Romane im Umfeld der Jahr- tausendwende jene vernunftkritischen Diskurse auf, die die Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt haben. Anhand von Figuren des Wis- senden, des Erkennenden, des Entdeckers und Reisenden, durch Protagonisten, die zu verstehen versuchen und das eigentliche Ziel ihres Erkennens verfehlen (aber zuweilen gerade deshalb ›Eigentliches‹ erfahren), führen sie die Grenzen rationalen Verstehens vor Augen. Dazu nutzen sie Erzählverfahren, die der formalen Logik und Diskursethik widersprechen, aber ein Verstehen innerhalb einer als spezifisch literarisch codierten Überlieferungstradition beanspruchen. Zugleich reklamieren Erzähltexte der Gegenwart – am deutlichsten vielleicht der abschließend behandelte Reise- und Entdeckerroman – eine spezifisch poetische Erkenntnis, die nicht der Rekurrenz und Reduktivität der Vernunft unterliegt, sondern offen ist für komplexe Wirklichkeiten. Literatur will damit – dies offenbar vor dem Hintergrund der ein- gangs skizzierten literarischen Debatten seit den 1990er Jahren – ihre ästhetische und mediale Eigenständigkeit unter Beweis stellen und gleichzeitig deutlich machen, dass sie kraft dieser Eigenständigkeit in der Lage ist, sich zu ihrer Umwelt in ein kritisches Verhältnis zu setzen. Verfahren literarischer Vernunftkritik sind – und auch dies zeigt sich in den Texten selbst – keine Erfindung der Gegenwart (wie sich unter poetologiegeschicht- lichen Fragestellungen äußerst selten etwas als grundsätzlich neu erweist). Unmittel- bare Vorläuferprojekte finden sich in den 1970er und 1980er Jahren in Texten, die zeitgleich zum vernunftkritischen Diskurs der Theorie entstehen, diesen als unmit- telbares Zeitphänomen erleben und literarisch adaptieren. Zugleich schließen ver- nunftkritische Romane seit der Jahrtausendwende an wesentlich ältere Traditionen literarischer Vernunftkritik an, die seit dem 18. Jahrhundert nachweisbar sind. In Bezug auf die jüngeren Traditionslinien sind etwa Erzähltexte Peter Handkes und Botho Strauß’, die gattungsübergreifenden Texte Friederike Mayröckers oder das essayistische Schreiben Hans Magnus Enzensbergers als unmittelbare literari- sche Kontexte zu betrachten. Trotz naheliegender Gemeinsamkeiten lassen sich die literarischen Verfahren seit der Jahrtausendwende von diesen früheren Ansätzen unterscheiden – insbesondere in Bezug auf die Rolle der Fiktion und die Bedeutung der Autor-Subjektivität für die Textstruktur. Mayröckers avantgardistisches Schrei- ben bricht die Grenzen zwischen einzelnen literarischen Gattungen auf und ver- schmilzt fiktionales und faktuales Erzählen, indem die eigene Person, ihre Subjekti- vität und Individualität im Mittelpunkt ihrer Texte stehen. Dies geht einher mit dem Verzicht auf das Entfalten fiktiver Wirklichkeit, wie etwaDas Licht in der Landschaft L. Herrmann, Literarische Vernunftkritik im Roman der Gegenwart, DOI 10.1007/978-3-476-04351-1, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017 330 Schluss: Literarische Vernunftkritik und ihre Aporien (1975) deutlich macht: Der in vier Abschnitte unterteilte Text lässt nur zu Beginn eine erzählte Wirklichkeit entstehen und beschreibt in den übrigen Fantasien und Träume. Unmittelbarer Bezugspunkt dieses Schreibens ist die eigene Subjektivität und ihre Psyche, für deren Beschreibung poetisch-fraktale Formen gefunden wer- den. Vernunftkritisch ist dieses Verfahren insofern, als die negativen Folgen einer als soziale Dominante markierten instrumentellen Vernunft unmittelbar deutlich werden, nicht aber, und dieses Verfahren ist zentral für die Vernunftkritik im Umfeld der Jahrtausendwende, durch die Nutzung fiktionaler Wirklichkeiten, die aufgrund ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von der äußeren Wirklichkeit deren Ra- tionalitäten differenzieren und dadurch als begrenzt aufzeigen. Mayröckers Texte rekurrieren – zum Beispiel durch ostentative Bezüge auf Derrida – unmittelbar auf die vernunftkritische Theorie ihrer Zeit, deren Vernunftkritik sie sich anschließen. Der Form nach sind sie dadurch weitaus eher poetisierte Reflexionen als fiktionale Erzählungen. Texte von Autorinnen und Autoren, die die vernunftkritischen Debatten der Theorie aus der zeitlichen Distanz heraus aufgreifen, verändern diesen Umgang: Sie lösen Fiktionalität nicht auf, sondern nutzen sie als ästhetische Struktur, wobei fiktive Wirklichkeiten entstehen, die in ihrer Unergründlichkeit und Vielschichtig- keit die Unzulänglichkeiten der Vernunft deutlich machen. Anders als in vielen vernunftkritischen Erzähltexten der 1970er und 1980er Jahre sind die Subjektivität und Emotionalität, die Reflexionen und Weltanschauungen von Autorinnen und Autoren bei diesem Verfahren keine durch den Text selbst ausgewiesenen Bestand- teile des Erzählprozesses mehr: Erzählanlässe und Erzeugungsmodalitäten fiktio- naler Erzähltexte im Umfeld der Jahrtausendwende werden zunächst innerhalb der Fiktion expliziert und nur selten durch den Text selbst auf die jeweilige Autorfigur zurückgeführt. Sofern entsprechende Bezüge erfolgen, geschieht dies paratextuell, seltener jedoch durch den Text selbst. Auch Peter Handkes vernunftkritisches Schreiben weist im Vergleich zur litera- rischen Vernunftkritik seit der Jahrtausendwende Unterschiede, aber auch Gemein- samkeiten auf: Einen grundlegend vernunftkritischen Impetus verfolgt Handke etwa mit der gattungsübergreifenden Tetralogie Langsame Heimkehr (1979–1981). Dies gilt insbesondere für den ersten Teil, die Erzählung Langsame Heimkehr (1979). Ein Protagonist mit dem an Heideggers ›Sorge‹ erinnernden Namen Sorger reist von Alaska, wo er als Geologe tätig war, zurück in seine Heimat. Bereits während seiner Tätigkeit in Alaska erlebt er seine rationale Tätigkeit des Landvermessers als unbe- friedigend gegenüber den erhabenen Eindrücken, die die Landschaft auf ihn macht. Auch die Liebe zu einem Indianermädchen vermittelt ihm den ganzheitlichen Cha- rakter des Landes und die Unangemessenheit jener epistemischen Verfahren, die er bislang angewendet hat. Auf der Rückreise wandelt er sich, angetrieben von der Lust auf die Erforschung imaginierter Räume, zu einem Schriftsteller und Künstler: Zunächst entschließt er sich, eine nicht-wissenschaftliche Abhandlung mit dem Titel ›Über Räume‹ zu schaffen – ein Gegenstandsbereich, der auf Handkes eigenes, immer wieder auf das Reisen bezogene Schreiben verweist; später kommen Zeich- nungen und ein Projekt mit dem Titel ›Evangelium der Fälschung‹ hinzu. Folge der geistig-poetischen Erkundung ist ein ekstatischer Sprachverlust und eine rausch- hafte Ich-Auflösung, die seine Vernunft nicht verhindern kann und die als Genuss Schluss: Literarische Vernunftkritik und ihre Aporien 331 erlebt wird. Erzählerisch ist der Roman im Duktus des psychologischen Romans der klassischen Moderne gehalten: Ein Erzähler berichtet zuverlässig, bildreich und genau von den inneren Vorgängen und den äußeren Handlungen Sorgers – auch dies ein Unterschied zu den vernunftkritischen Romanen, die seit der Jahrtausendwende entstanden sind. Die zwei folgenden Bestandteile der Tetralogie verbinden die Erlebnisse Sorgers mit der Biografie Handkes: Die Erzählung Die Lehre der Sainte Victoire ist, so be- schreibt ein autobiografischer Ich-Erzähler, die Konsequenz eines poetischen Bil- dungserlebnisses während einer Wanderung durch das gleichnamige Bergmassiv in Südfrankreich. Kindergeschichte beschreibt das Aufwachsen eines Kindes aus der Perspektive des Vaters; Dorfgeschichte verhandelt in Form eines dramatischen Textes einen Erbschaftsstreit zwischen drei Geschwistern, der sich unter Anspielung auf den Attriden-Mythos als Kritik an Kleinbürgertum und Kleingeistigkeit verstehen lässt. Beiden wird ein Reich des Offenen und Göttlichen gegenübergestellt. Inhalt- lich wie erzählstrukturell ähnlich zu denen Sorgers aus Langsame Heimkehr sind die Erlebnisse des auf Handke verweisenden Botschaftsangestellten Gregor Keuschnig in Die Stunde der wahren Empfindung (1975), der während eines Spaziergangs durch Paris aus seinem bisher wohlgeordneten Leben ausschert. Dass Handkes Reise- und Schreibtätigkeit eine permanente Reflexion der eigenen Biografie und Daseinsweise darstellt, wird nicht zuletzt in Mein Jahr in der Niemands- bucht (1994) deutlich. Das – so der gattungsverweisende Untertitel – Märchen aus den neuen Zeiten – schildert Reflexionen, Erinnerungen und Pläne, die während ei- nes Jahres entstehen, das Handke zurückgezogen in einer Pariser Vorstadt verbracht hat. Die Selbstbeschränkung auf einen eng begrenzen Raum, der poetisch vermessen wird, gilt dabei als Möglichkeit authentischer Erfahrung, die auch das Erkennen der eigenen Person mit einbezieht. Diese Erfahrung soll in ein entstehendes ›Epos‹ einfließen, jenen Text, der mit Ein Jahr in der Niemandsbucht schließlich vorliegt. Der Begriff ›Niemandsbucht‹ verweist in diesem Sinne auf das lediglich imaginierte Fremde, Unentdeckte und Utopische. Die aufzusuchende ›Bucht‹ beschreibt das Stadtviertel, das der Ich-Erzähler während eines Jahres nicht verlässt. Einfach lässt sich der Ich-Erzähler mit Handke, die Niemandsbucht als dessen Wohnort Vélizy- Villacoublay identifizieren. Rückblickend beschreibt Handke auch das identifikato- rische Verhältnis, das ihn mit seinen bisherigen Romanfiguren verbindet. Der Bildverlust (2002) schildert – abermals mit der Stimme eines personalen Erzählers, der über umfassende Einblicke verfügt, – die ästhetische Bildung einer Bankerin, die aus ihrem Beruf ausschert, allein