Begleitpublikation Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort 5

DIE ERRICHTUNG DES KONZENTRATIONSLAGERS 7 BUNA-MONOWITZ

1. Was war die I.G. Farben? 8

2. Die Gründung der I.G. Auschwitz im April 1942 10

3. Das Konzentrationslager Auschwitz 14

4. Zwangsarbeiter bei der I.G. Auschwitz 16

5. Die SS 20

6. Die Mitarbeiter der I.G. Farben 24

DIE HÄFTLINGE IM KONZENTRATIONSLAGER 28 BUNA-MONOWITZ

7. Deportation 30

8. Ankunft 34

9. Zwangsarbeit 37

10. Fachleute 40

11. Hierarchien unter den Häftlingen 42

12. Willkür und Misshandlungen 45

13. Verpflegung 47

14. Hygiene 48

15. Krankheit 50

16. Selektion – Die »Auswahl zum Tode« 53 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | Inhaltsverzeichnis 3

17. Widerstand 56

18. Bombenangriffe 59

19. Todesmärsche 61

20. Befreiung 64

21. Die Zahlen der Toten 66

DIE I.G. FARBEN NACH 1945 UND DIE JURISTISCHE 67 AUFARBEITUNG IHRER VERBRECHEN

22. Die I.G. Farben nach 1945 68

23. Der Nürnberger Prozess gegen die I.G. Farben 70 (1947/48)

24. Die Urteile im Nürnberger Prozess 72

25. Der Wollheim-Prozess 76 (1951 – 1957)

26. Aussagen aus dem Wollheim-Prozess 78 (1951 – 1957)

27. Frankfurter Auschwitz-Prozesse 80 (1963 – 1967)

28. Die politische Vereinnahmung des 81 Fischer-Prozesses durch das SED-Regime

29. Das Ende der I.G. Farben i.L. 82 (1990 – 2003)

Impressum 85 4 5 Geleitwort

Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus

ZUR AUSSTELLUNG Der Chemiekonzern I.G. Farben ließ ab 1941 in unmittelbarer Nähe zum Konzen- trationslager Auschwitz eine chemische Fabrik bauen, die größte im von Deutsch- land während des Zweiten Weltkriegs eroberten Osteuropa. Sie war zugleich als zentraler Baustein des gewaltsamen Programms der »Germanisierung« der Region um Auschwitz gedacht. Neben deutschen Fachkräften setzte das Unternehmen auf der riesigen Baustelle Tausende von Häftlingen aus dem KZ Auschwitz, außerdem Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus ganz Europa ein. Für die zunehmende Zahl von KZ-Häftlingen errichteten der Konzern und die SS, die eine intensive Zu- sammenarbeit miteinander verband, 1942 das firmeneigene KZ Buna-Monowitz. Tausende Häftlinge kamen durch die unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu Tode oder wurden in den Gaskammern in Auschwitz-Birkenau ermordet, wenn sie nicht mehr arbeitsfähig waren. Die Ausstellung des Fritz Bauer Instituts zeichnet Entstehung, Betrieb und Auflösung des KZ Buna-Monowitz nach. Historische Fotografien dokumentieren die Perspektive von SS und I.G. Farben auf Baustelle und Lageralltag. Sie werden kontrastiert mit autobiographischen Texten von Überlebenden, darunter Primo Levi, Jean Améry und Elie Wiesel, sowie den Aussagen von ehemaligen Häftlingen in den Nachkriegsprozessen. Informationen zu den Gerichtsverfahren nach Kriegs- ende und den Bemühungen der Überlebenden um Entschädigung beschließen die Ausstellung. In der vorliegenden Begleitpublikation sind die Inhalte der Ausstellung dokumentiert und in Grundzügen erläutert. Sie dient der Vor- und Nachbereitung und ist als Einführung in das Thema hilfreich. Ziel ist es, die überlieferte Erinne- rung von ehemaligen Häftlingen des KZ Buna-Monowitz in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen. Ihre zum Teil literarisch anspruchsvollen, zum Teil als Zeugenaussagen in Prozessen formulierten Texte sind die zentralen Exponate. Die übrigen Elemente bieten Informationen, um ihre Erzählungen und Aussagen in den Kontext zu setzen. Die Ausstellung ist dem Andenken der ermordeten und der überlebenden Häftlinge des Lagers Buna-Monowitz gewidmet. Auf dem Gelände des I.G. Farben- Hauses, heute Teil der Goethe-Universität Frankfurt am Main, erinnert das Woll- heim Memorial an sie. Dessen Website [www.wollheim-memorial.de] bietet genaue Informationen und darüber hinaus auch Interviews mit Überlebenden.

Prof. Dr. Sybille Steinbacher | Direktorin Fritz Bauer Institut

Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz 7 die Errichtung des Konzentrationslagers Buna-Monowitz

Aufnahme der amerikanischen Luftaufklärung vom Lager Monowitz (Auschwitz III) (Die Aufnahme wurde – wie die ebenfalls gedrehte, 1978 eingefügte Beschriftung – zur Vereinheitlichung der Karten nach Norden ausgerichtet.) | Auschwitz, 31. Mai 1944 | Washington, DC, National Archives and Records Administration 8 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 1. I.G. Farben

Firmenlogo der I.G. Farben um 1925 | Leverkusen, Bayer AG, Corporate History & Archives Die 1925 gegründete »I.G. Farbenindustrie« war keine Interessen- gemeinschaft im herkömmlichen Sinne, sondern eine Aktien- gesellschaft, also ein einheitliches Unternehmen, in dem die bis dahin selbständigen Firmen der I.G. aufgingen. Der Begriff »Interessengemeinschaft« hatte ab 1925 lediglich die Bedeutung eines Eigennamens, der nicht mehr voll ausgeschrieben, sondern nur noch in der Abkürzung »I.G.« verwendet wurde. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 1. I.G. Farben 9

WAS WAR DIE I.G. FARBEN?

Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten chemischen Fabriken in Deutschland. Sie stellten vor allem künstliche Farbstoffe her. Im Ersten Weltkrieg machten diese Betriebe große Gewinne mit Sprengstoffen. Sechs von ihnen grün- deten im Jahr 1925 die I.G. Farbenindustrie AG, einen der größten internationalen Industriekonzerne. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 stellte sich die I.G. Farben rasch auf die neue politische Situation ein: Der Konzern unterstützte den Wahlkampf der NSDAP 1933 finanziell. In der gesamten Zeit der NS-Herrschaft zahlte das Unternehmen Millionenbeträge an die verschiedenen NS-Massenorga- nisationen. Neben der finanziellen Lobbyarbeit sorgten die Konzernleitung und die Belegschaft für eine rasche Selbstnazifizierung: Bis Ende 1936 traten acht Spitzenmanager in die NSDAP ein. Auch Mitarbeiter in mittleren Leitungsfunk- tionen versprachen sich durch die Parteimitgliedschaft erhöhte Karrierechancen. Zugleich wurden alle Mitarbeiter und Vorstandsmitglieder, die gemäß der NS-Ras- senpolitik als Juden galten, zum Rücktritt gezwungen, ins Ausland versetzt oder entlassen. Die I.G. Farben stimmte ihre Interessen, Forschung und Investitionen in den Bereichen Sprengstoffe und Chemiewaffen, Kunstfasern, Leichtmetalle, Treibstoffe und Mineralöle, Kunststoffe und Synthesekautschuk eng mit der wirtschaftlichen Vorbereitung für den Zweiten Weltkrieg ab. Der Konzern beteiligte sich damit wesentlich an der Aufrüstungspolitik des »Dritten Reichs«.

DIE ZUSAMMENARBEIT DER I.G. FARBEN MIT DEM NS-REGIME Der Zentralausschuss der I.G. Farben schuf 1935 in die »Vermittlungs- stelle W« (W = Wehrmacht), um die Zusammenarbeit mit dem Militär zu verbes- sern. Leiter wurde Vorstandsmitglied Carl Krauch, der zu einer Schlüsselfigur bei der Verflechtung von Konzern und Regierung wurde. 1936 übernahm Krauch mit seinem von der I.G. mitgebrachten Team die Ab- teilung »Forschung und Entwicklung« im »Amt für deutsche Roh- und Werkstoffe«. Ziel dieser Abteilung war es, kriegswichtige Rohstoffe durch chemisch erzeugte Stoffe zu ersetzen, um das Deutsche Reich von Importen unabhängig zu machen. Die Vorgaben der NS-Regierung zu Qualität und Quantität von Stoffen wurden mit den Investitionsplanungen und der Forschung der I.G. Farben abgestimmt. 1940 wurde Krauch als »Generalbevollmächtigter für Sonderfragen der che- mischen Erzeugung« direkt Hermann Göring unterstellt. Für seine Aufgaben als Regierungsvertreter und für die Kriegsplanung beurlaubte ihn die I.G. Farben. Er behielt jedoch alle Ämter im Konzern bei und wurde weiterhin von ihm bezahlt.

Die Gründungsfirmen der I.G. Farben BASF (Ludwigshafen), Bayer (Leverkusen), Farbwerke Hoechst (Frankfurt am Main), Agfa (Berlin), Weiler-ter Meer (Uerdingen), Griesheim-Elektron (Frankfurt am Main) 10 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 2. Gründung I.G. Auschwitz

DIE GRÜNDUNG DER I.G. AUSCHWITZ IM APRIL 1942

Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 suchte die I.G. Farben nach einem Standort für ein großes Chemiewerk in Osteuropa. Die Ent- scheidung fiel 1940/41 auf die 60 Kilometer westlich von Krakau gelegene Stadt Oświęcim (Auschwitz). Dabei spielten militärische, politische und wirtschaftliche Gründe eine Rolle: Der Ort lag verkehrsgünstig, in der Umgebung fanden sich reiche Rohstoffvorkommen (Kohle, Kalk und Wasser), und für den Bau des Werks konnten Zwangsarbeiter aus dem nahegelegenen Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt werden. Das neue Chemiewerk war als komplexe chemische Fabrik konzipiert. Zu- nächst sollte das Werk die militärische Nachfrage nach künstlichen Kraftstoffen und synthetischem Kautschuk (Buna) befriedigen. Für spätere Friedenszeiten war geplant, dass die Produktionsanlagen den Markt im eroberten Osten mit Kunst- stoffen versorgen sollten.

WAS IST BUNA? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg die weltweite Nachfrage nach Naturkaut- schuk (Gummi) für die Reifenproduktion der stark wachsenden Automobilindus- trie. Der damit einhergehende Preisboom veranlasste die Chemieindustrie, nach Verfahren für eine künstliche Herstellung von Kautschuk zu suchen. Seit 1929 hielt die I.G. Farben ein Patent auf die Herstellung von künstlichem Gummi, das sie als Buna bezeichnete. Aufgrund der hohen Herstellungskosten und der fallenden Preise für Naturkautschuk während der Weltwirtschaftskrise wurde die Produktion jedoch eingestellt. Ab 1933 nahmen die I.G. Farben und das NS-Regime Verhandlungen über die Großproduktion von Buna auf, um sich von Naturkautschuk unabhängig zu machen. Geplant wurden vier Produktionsanlagen: in Schkopau (Buna I, Produktion ab März 1937), Hüls (Buna II, Produktion ab 1940), Ludwigshafen (Buna III, Pro- duktion ab Ende 1942) und Auschwitz (Buna IV).

Besuch Heinrich Himmlers auf der Baustelle | Baustelle I.G.- Baugelände, Auschwitz 1942 | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei besuchte am 17. und 18. Juli 1942 Auschwitz und ließ sich von I.G.-Oberingenieur Dr. Max Faust die Baumaßnahmen zeigen. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 2. Gründung I.G. Auschwitz 11

Werke und Betriebe der I.G. Farben 1943 | Nürnberg, 1947 | Washington, DC, National Archives and Records Administration Im Zweiten Weltkrieg profitierte die I.G. Farben von der Übernahme von Betrieben in den besetzten Gebieten. An mindestens 23 Standorten setzte der Konzern Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge ein. 12 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 2. Gründung I.G. Auschwitz 13

Die Baustelle der I.G. Auschwitz | Auschwitz, um 1943/44 | Frank- furt am Main, Fritz Bauer Institut An dem Kraftwerk wurden Eisenbeton- und Dachdeckerarbeiten ausgeführt. Bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Januar 1945 waren einige Anlagen im Fabrikkomplex fertiggestellt, die Großproduktion von Methanol lief seit Oktober 1943. Zu der für Februar 1945 vorgesehenen Aufnahme der Buna-Produktion kam es nicht mehr. 14 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 3. Konzentrationslager Auschwitz

DAS KONZENTRATIONSLAGER AUSCHWITZ

Im April 1940 befahl Heinrich Himmler, der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, den Bau des Konzentrationslagers Auschwitz. Zum Komman- danten wurde SS-Hauptsturmführer Rudolf Höß ernannt. Durch die sukzessive Ein- richtung von Gaskammern in Birkenau seit 1942 wurde das Lager in den Jahren 1943 und 1944 zum größten Vernichtungszentrum der Nationalsozialisten. In Auschwitz wurde die systematische Massenvernichtung von Menschen, vor allem Juden aus ganz Europa, aber auch Sinti und Roma, mit dem Giftgas durchgeführt. Auschwitz war zudem eines der größten Zwangsarbeitslager der deutschen Industrie. In über 40 Außenlagern mussten Häftlinge in landwirtschaft- lichen Betrieben, Rüstungsfabriken, Kohlegruben und anderen Produktionsstätten Zwangsarbeit leisten, bis ihre Kräfte erschöpft waren. Von den Juden, die zwischen 1942 und 1944 aus ganz Europa nach Auschwitz deportiert wurden, wählte die SS Zehntausende zur Zwangsarbeit aus. Ihre Ange- hörigen wurden zumeist direkt nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau ermordet.

SS-Interessengebiet Auschwitz-Birkenau 1944 | Nachbearbeitete Fotografie | Auschwitz, 26. Juni 1944 | Washington, DC, National Archives and Records Admin- istration

Historische Aufnahme der amerikanischen Luftaufklärung von Auschwitz I, Birkenau und Monowitz 15

2 km - 0 km und Gummi und Werk der I.G. Farben Werk Werk für synthetischen Treibstoff Treibstoff synthetischen für Werk

Stadtzentrum von Auschwitz Auschwitz von Stadtzentrum (Oświęcim)

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Auschwitz III (Buna-Monowitz III (Buna-Monowitz Auschwitz das sich auf dem Gelände eines privatrechtlichen Groß privatrechtlichen eines dem Gelände auf sich das und Nebenlager): und Buna-Monowitz. Es war das erste Konzentrationslager, Konzentrationslager, erste das war Es Buna-Monowitz. konzerns befand. konzerns 1942 erbaute die I.G. Auschwitz das firmeneigene Lager Lager firmeneigene das die I.G. Auschwitz 1942 erbaute Auschwitz-Birkenau um 1944 um Auschwitz-Birkenau SCHEMATISCHE ÜBERSICHT ÜBER DAS SS-INTERESSENGEBIET DAS ÜBER ÜBERSICHT SCHEMATISCHE -

Auschwitz II (Birkenau): Auschwitz : I (Stammlager) Auschwitz dem Giftgas Zyklon B durch. Zyklon dem Giftgas Massenmord. errichtete Lager existierte seit Mai 1940. Die Mai seit existierte Lager errichtete Das Vernichtungs- und Konzentrationslager Konzentrationslager und Vernichtungs- Das Kasernengelände einem ehemaligen auf Das nahegelegenen in den mussten Häftlinge 1941 leisten. Zwangsarbeit der SS Betrieben führte die Lagerleitung hier erstmals Versuche Versuche hier erstmals führte die Lagerleitung in Birkenau Anlagen für den systematischen den systematischen für Anlagen in Birkenau kilometern und wurde zwischen 1941 und 1944 1941 und zwischen wurde und kilometern 1942 bestanden Ab ausgebaut. kontinuierlich lag in einem Sperrbezirk von rund 40 Quadrat rund von in einem Sperrbezirk lag zur Massenvernichtung von Menschen mit mit Menschen von Massenvernichtung zur 16 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 4. Zwangsarbeit I.G. Auschwitz

ZWANGSARBEITER BEI DER I.G. AUSCHWITZ

Auf der Baustelle der I.G. Farben wurden in großem Umfang Zwangsarbeiter aus dem Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt. Für die I.G. Farben war die Ausbeutung der Häftlinge ein profitables Geschäft. Die Mietpauschale für die -Häft lingsarbeit lag etwa ein Drittel unter dem üblichen Lohnniveau für freie Arbeits- kräfte in dieser Region. Zu Beginn der Bauarbeiten an der Fabrik im April 1941 mussten die Häftlinge jeden Tag vom Stammlager Auschwitz zur sechs bis sieben Kilometer entfernten Baustelle marschieren. Später wurden sie mit der Bahn gebracht. In den Augen der I.G.-Werksleitung stellten sowohl der kräftezehrende Marsch, der die unter- ernährten Häftlinge zusätzlich schwächte, als auch der zeitaufwendige Transport mit Güterwaggons einen nutzlosen Verschleiß an Arbeitskraft und -zeit dar. Daher drängte sie auf die Errichtung eines Außenlagers auf dem Werksgelände. Es ent- stand im Herbst 1942 an der Stelle des polnischen Dorfes Monowice, dessen Ein- wohner vertrieben worden waren.

Häftlinge des Buna-Außenkommandos marschieren durch die Stadt Auschwitz. | Auschwitz, zwischen April 1941 und Juli 1942 | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 4. Zwangsarbeit I.G. Auschwitz 17

1942 1943 1944 Januar 2.900 7.000 Februar 1.500 7.000 März 3.000 7.80 0 April 3.200 7.20 0 Mai 4.000 9.200 Juni 4.000 10.100 Juli 5.000 10.100 August 6.000 11.500 September 6.400 10.100 Oktober 6.600 9.800 November 2.300 6.400 10.600 Dezember 3.700 7.000 10.500

Zwangsarbeiter im Konzentrationslager Buna-Monowitz | Antoni Makowski, »Organisation, Entwicklung und Tätigkeit des Häftlings-Krankenbaus in Monowitz (KL Auschwitz III)«, in: Hefte von Auschwitz, Jg. 15 (1975)

Die Tage der Häftlinge im KZ Buna-Monowitz bestanden aus vielen Stunden meist schwerer Arbeit im Freien ohne die nötige Schutzkleidung. Die Arbeitszeit betrug im Sommer zehn bis elf Stunden, im Winter mindestens neun Stunden. Nach der Rückkehr ins Lager mussten die Häftlinge manchmal noch ein bis zwei Stunden Ausbauarbeiten im Lager leisten. Die meisten Häftlinge des Lagers Buna-Monowitz, etwa 25.000 bis 30.000 Personen, gingen aufgrund der ungenügenden Ernährung, der unzureichenden Kleidung und der harten Arbeitsbedingungen zugrunde. Viele wurden auf der Baustelle ermordet oder bei Selektionen (Aussonderungen nach Kriterien der »Arbeitsfähigkeit«) in die Gaskammern nach Birkenau geschickt.

Häftlinge beim Ausmarsch aus dem Lager Buna-Monowitz zur Arbeit auf dem Werksgelände | Auschwitz, zwischen 1942 und 1944 | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau

Nach dem Morgenappell wurden die Arbeitskommandos zusammengestellt. Sobald die SS eine Postenkette zur Baustelle und um sie herum gebildet hatte, rückten die Kommandos aus. Im Hintergrund des Bildes sind die Baracken der SS zu erkennen. 18 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 4. Zwangsarbeit I.G. Auschwitz Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 4. Zwangsarbeit I.G. Auschwitz 19 20 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 5. SS

DIE SS

Die SS verwaltete und bewachte das Lager Buna-Monowitz. Sie vermietete die KZ-Häftlinge an die I.G. Farben zur Zwangsarbeit auf dem Werksgelände. Be- reits im März 1941 einigten sich die Vertreter der I.G. Farben und der SS in Berlin auf die Bedingungen der Zwangsarbeit: Sie vereinbarten, dass die I.G. Farben pro Hilfsarbeiter und Tag drei Reichsmark, pro Facharbeiter und Tag vier Reichsmark an die SS zahlte. Die Häftlinge erhielten keinerlei Lohn. Täglich sorgten die SS-Wachmannschaften für die Bereitstellung der Arbeits- kommandos. Die Aufmerksamkeit der SS-Männer galt vor allem der Absicherung des Lagers nach außen und der Aufrechterhaltung der inneren »Ordnung«.

SS-Angehörige, die im Januar 1945 zur Absicherung von 2.006 Männer Buna-Monowitz und seiner Außenlager eingesetzt waren: 15 Frauen Ehemalige SS-Angehörige, die nach 1945 juristisch zur Re- 4 Männer chenschaft gezogen wurden:

S. 21: Auszüge aus: Kommandanturbefehl von Heinrich Schwarz vom 28. Januar 1944 | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz- Birkenau

Der Lagerkommandant hatte die oberste befehlende Dienststel- lung in einem Konzentrationslagers inne. Er war Befehlshaber der Wachmannschaften und des weiteren von der SS eingesetzten Personals. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 5. SS 21

[ … ] 22 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 5. SS

LAGERKOMMANDANT Heinrich Schwarz (1906 – 1947) Eintritt in SS und NSDAP: Dezember 1931 Zivilberuf: Reproduktionsfotograf 1906 in München geboren. → Ausbildung zum Reproduktionsfotografen und zeit- weise Arbeit in diesem Beruf. → 1926 bis 1931 erwerbslos. → Ab 1939 Beginn einer Laufbahn bei der Lager-SS, zunächst in den Konzentrationslagern Dachau und Mauthausen. → Im Juni 1941 Versetzung in das SS-Hauptamt »Haushalt und Bauten«. → September 1941 Wechsel in die Inspektion der Konzentrationslager in die Abteilung »Häftlingseinsatz«. Stationierung in der Außenstelle in Auschwitz und zeitweise in Birkenau. → Im August 1943 setzte ihn der Lagerkommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, als seinen Vertreter ein. → Ab November 1943 bis zur Räumung im Januar 1945 Lagerkommandant in Buna-Monowitz und den angeglie- derten Außenlagern. → Ab dem 1. Februar 1945 Lagerkommandant des Konzen- trationslagers Natzweiler-Struthof im Elsass. → 1947 von einem französischen Militärgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Foto: Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut

KOMMANDOFÜHRER, RAPPORTFÜHRER Bernhard Rakers (1905 – 1980) Eintritt in SA und NSDAP: März 1933 Eintritt in SS: Herbst 1934 Zivilberuf: BäcKer 1905 in Sögel im Emsland geboren. → 1930 Meisterprüfung als Bäcker. → 1934 Bewerbung als Wachmann in den frühen Konzentrationslagern im Emsland. Ab- bruch der Ausbildung zum KZ-Wächter nach einem Unfall. → Umschulung als Koch. Arbeit in der Lagerküche des KZ Esterwegen. → 1936 bis 1942 Küchenchef im KZ Sachsenhausen. Wegen Unterschlagung von Lebensmitteln Versetzung nach Auschwitz. → Ab Anfang 1943 Kommandoführer in Buna-Monowitz. Morgens und abends eskortierte er mit dem ihm unterstellten SS-Wachkommando die Häftlinge zum Werksgelände und zurück ins Lager. Nach Beschwerden wegen seiner Grau- samkeit und Brutalität gegenüber Häftlingen wurde er zum Rapportführer in Buna- Monowitz befördert. In dieser Funktion war er unter anderem für die Appelle und die Feststellung der Lagerstärke zuständig. → Dezember 1944 bis Januar 1945 Lager- führer im Nebenlager Gleiwitz II (Deutsche Gas-Ruß-Werke GmbH; Sitz Dortmund). → Im Februar 1945 Lagerführer im Nebenlager Weimar-Gustloff-Werke des KZ Bu- chenwald. → 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. → 1948 im Entnazi- fizierungsverfahren aufgrund seiner Zugehörigkeit zur SS zu einer Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt (die Strafe wurde vom Gericht auf seine Kriegs- gefangenschaft angerechnet und galt als verbüßt). → Rückkehr in seinen Beruf als Bäcker. → 1950 Verhaftung und Beginn von insgesamt drei Prozessen vor dem Landgericht Osnabrück (1952 – 1959) gegen ihn. → 1953 im ersten Rakers-Prozess wegen Mordes an Häftlingen zu lebenslanger Haft verurteilt. → Mitte 1971 begnadigt und Weiterarbeit in seinem Zivilberuf. Foto: Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 5. SS 23

SANITÄTSDIENSTGRAD Gerhard Neubert (1909 – 1993) Eintritt in SS: Mai 1940 Zivilberuf: Klavierbauer 1909 in Johanngeorgenstadt im Erzgebirge geboren. → 1927 Abschluss der Lehre als Klavierbauer. → 1931 Tätigkeit in einer Möbelfabrik. → 1940 Einberufung zur Waffen-SS und Grundausbildung in Prag. → Mitte 1942 nach Auschwitz kommandiert. Wachdienst und Bedienung der Desinfektionsanlage für Kleidung, Absolvierung eines Desinfektions- und Krankenpflegerlehrgangs. → Seit Anfang 1943 Sanitäts- dienstgrad im Häftlingskrankenbau des KZ Buna-Monowitz und dort an Selektionen beteiligt. → Nach der Auflösung des Lagers im Januar 1945 Dienst in den Konzen- trationslagern Buchenwald, Mittelbau-Dora (Boelcke-Kaserne) und Neuengamme. → 1945 Verhaftung durch die britische Armee, nach zehn Wochen Freilassung. → Arbeit als Bauerngehilfe, Tischler und Polier. → 1958 bis 1963 Angestellter bei der Standortverwaltung einer Bundeswehreinheit, danach abermals Tätigkeit in der Möbelfabrik, in der er schon vor dem Krieg gearbeitet hatte. → Im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess angeklagt, jedoch nicht in Untersuchungshaft ge- nommen. Wegen Krankheit des Angeklagten trennte das Gericht das Verfahren ab. → Im zweiten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1965 – 1966) wurde er erneut vor Gericht gestellt und zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. → 1971 Entlassung. Foto: Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut

LAGERARZT Horst Fischer (1912 – 1966) Eintritt in SS: November 1933 Eintritt in NSDAP: Mai 1937 Zivilberuf: Arzt Fischer, geboren 1912 in Dresden, wuchs als Vollwaise bei Verwandten in Dresden und Berlin auf. → 1932 bis 1937 Medizinstudium an der Universität Berlin. → Ab 1939 Arbeit als Truppenarzt der Waffen-SS. → 1942 nach Auschwitz versetzt. Aufstieg zum Stellvertreter des Standortarztes. → November 1943 bis September 1944 Lagerarzt im Häftlingskrankenbau in Buna-Monowitz (Fischer war einer der ranghöchsten SS-Mediziner in Auschwitz). → Nach 1945 Landarzt in der DDR. → Mitte der 1960er Jahre Aufdeckung seiner Identität als Nebenprodukt einer Über- prüfung durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) wegen intensiver West- kontakte und »politischer Unzuverlässigkeit« gegenüber dem DDR-Regime. → Im März 1966 wurde Fischer vom Obersten Gericht der DDR des Mordes an mehreren Tausend Menschen für schuldig befunden und hingerichtet. Foto: Frankfurt am Main, picture-alliance/dpa

24 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 6. Mitarbeiter I.G. Farben

DIE MITARBEITER DER I.G. FARBEN

Die I.G. Farben sandte Ingenieure, Angestellte und Meister zur I.G. Auschwitz. Die Mitarbeiter erhielten für die Versetzung Gehaltszulagen, etwa in Form von »Trennungsentschädigungen«, Steuererleichterungen und besonderen Sozial- leistungen, darunter eine mustergültige medizinische Versorgung. Zudem wurde ihnen ein umfassendes Freizeitprogramm geboten, um einen Ausgleich zur Arbeit und zum »Verzicht auf die aus der Heimat gewohnte Zivilisation, Lebenskultur« (Walther Dürrfeld, Heinrich Schuster) zu schaffen. Die Belegschaft der I.G. Auschwitz wurde entsprechend der NS-Rassenhier- archie kategorisiert und in insgesamt zwölf Barackenlagern getrennt nach Herkunft und Status untergebracht. In der Stadt Auschwitz wurden im April 1941 die Wohn- häuser von Juden beschlagnahmt und für leitende Angestellte der I.G. Auschwitz bereitgestellt. Für die übrigen Beschäftigten ließ die Werksleitung moderne Wohn- siedlungen und Baracken errichten.

Fotos von Feierabend- und Sportver- anstaltungen | Auschwitz, 1943/44 | Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut Die Werksleitung der I.G. Auschwitz organisierte für ihre Angestellten ein umfangreiches Freizeitangebot in Form von Konzerten, Kino- und Theatervor- stellungen und Sportveranstaltungen. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 6. Mitarbeiter I.G. Farben 25

Neuerbaute Siedlung in der Stadt Oświęcim (Auschwitz) | Auschwitz, 1943/44 | Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut Den Ingenieuren und Angestellten gewährte die Werksleitung besondere Sozial- leistungen wie Grünanlagen oder die Verschönerung ihrer Wohnungen. Das Foto wurde im I.G.-Farben-Prozess von dem Angeklagten Walther Dürrfeld als Beispiel für den rasanten Aufschwung der Stadt und des gesamten Landstrichs dank der I.G.-Werkssiedlung vorgelegt.

BELEGSCHAFT IN AUSCHWITZ AM 15. NOVEMBER 1942 Deutsche Belegschaft: 4.944 Gesamtbelegschaft * des Werks: 20.555

*) ohne Häftlinge des KZ Buna-Monowitz Neben Zivilarbeitern handelt es sich um Zwangsarbeiter (vor allem aus Osteuropa), Kriegsgefangene und Häftlinge aus einem Erzie- hungslager, die in verschiedenen Barackenlagern in Auschwitz un- tergebracht waren.

Entsandte Mitarbeiter der I.G. Farben nach Auschwitz und Angehörige von Fremdfirmen:

GEWERBLICHE BELEGSCHAFT ANGESTELLTE

Belegschaft Fach- Hilfs- Lehrlinge, technische kauf- arbeiter arbeiter Umschüler männische Deutsche 331 483 1.776 111 535 I.G.-Angehörige Angehörige 1.122 386 22 91 87 fremder Firmen Deutsche 1.453 869 1.798 202 622 Belegschaft insg.

Bernd Wagner | IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941 – 1945, München 2000, S. 331 26 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 6. Mitarbeiter I.G. Farben

DAS LAGERSYSTEM DER I.G. AUSCHWITZ Auf der Großbaustelle der I.G. Farben herrschte von Beginn an starker Arbeitskräf- temangel. Dem versuchte die I.G. Farben durch die Anwerbung von zivilen Fremd- arbeitern entgegenzuwirken. Zudem nutzte sie ab 1940 ihre »Vermittlungsstelle W« in Berlin, um Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zu beschaffen. Untergebracht waren diese Menschen in riesigen Lagerkomplexen, welche die Werksgebäude der I.G. Farben umgaben (im Plan gelb markiert). Für die zahlreichen ausländischen Arbeitskräfte variierten der Arbeitsschutz und die sozialrechtlichen, politischen, medizinischen und hygienischen Bedin- gungen je nach ihrer durch die NS-Ideologie definierten Stellung als »Rasse«. Die Löhne der Ostarbeiter, Polen, Balten, Juden, Sinti und Roma waren deutlich ge- ringer als die Löhne anderer Ausländer oder der Deutschen, ihre Unterbringung und medizinische Versorgung war schlechter, und die Lebensmittelrationen fielen geringer aus. Die unmenschlichste Form der Zwangsarbeit erlebten die Häftlinge in den Konzentrationslagern, zumeist handelte es sich um jüdische Häftlinge, die jed- weden Rechts beraubt wurden. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 6. Mitarbeiter I.G. Farben 27

Fabrik- und Lagerkomplex des Werkes Auschwitz der I.G. Farben | Plan im Maß- stab 1:10.000 | Ende 1944 | Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut

Der zeitgenössische Lageplan der I.G.-Planer wurde im Nürnberger Prozess ver- wendet, um den Anwesenden die Anordnung der Gebäude zu veranschaulichen. 28 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz

Die Häftlinge im Konzentrationslager Buna-Monowitz Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz 29

»Ganz anders ist Buna. Buna ist hoffnungslos, durch und durch trübe und grau. Diese ausgedehnte Wirrnis von Eisen, Zement, Schlamm und Qualm ist die Verneinung der Schönheit schlechthin. Ihre Straßen und Bauten werden mit Zahlen und Buchstaben benannt wie wir, wenn sie nicht unmenschliche und unheilvolle Namen tragen. In diesem Bereich wächst kein Grashalm, und die Erde ist getränkt mit den giftigen Säften von Kohle und Petro- leum. Nichts lebt hier, nur Maschinen und Sklaven: und jene mehr als diese.« Primo Levi | Ist das ein Mensch?, München 1991, S. 85

Zur Person: Primo Levi (1919 – 1987) wurde am 31. Juli 1919 in Turin geboren und studierte dort Chemie. Ende 1943 wurde er als Mitglied der Resistenza verhaftet und im Januar 1944 zunächst in das Lager Fossoli bei Modena und von dort aus im Februar nach Buna-Monowitz deportiert. Levi überlebte die schweren Arbeitskom- mandos in den ersten Monaten und wurde im November 1944 als Chemiker in ein Facharbeiterkommando aufgenommen. Bis Januar 1945 arbeitete er im wetterge- schützten Labor. Kurz vor der Räumung des Lagers erkrankte er an Scharlach und wurde im Häftlingskrankenbau zurückgelassen, in dem es zu diesem Zeitpunkt keine medizinische Betreuung mehr gab. Durch Glück und Zufall erlebte er die Befreiung durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 und kehrte nach Italien zurück, wo er bis 1977 in der chemischen Industrie arbeitete. Seine autobiographischen Berichte, seine Erzählungen und Romane wurden mit Literaturpreisen ausgezeichnet und in viele Sprachen über- setzt. 1987 nahm sich Levi mutmaßlich das Leben. Primo Levi | circa 1960 | Zum Text: Primo Levis Bericht erschien bereits 1947 (Neuausgabe 1958) auf Mailand, Fondazione Italienisch unter dem Titel Se questo è un uomo und ist der wohl bekannteste und Centro di Documenta- für die Rezeption einflussreichste Bericht eines Monowitz-Überlebenden. Levi zione Ebraica Contem- schildert seine Erlebnisse während seiner einjährigen Haft in Buna-Monowitz. poranea (Fondo fotografico Seine Beschreibungen sind überaus präzise, klar und nüchtern. Dabei nutzt er Levi Anna Maria, inv. 363-016) seine persönlichen Erfahrungen als Ausgangspunkt für Reflexionen über die Ent- menschlichung der Opfer. 30 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 7. Deportation

DEPORTATION

Im Herbst 1941 begann die bürokratisch organisierte Deportation von Juden aus dem Deutschen Reich, dem Protektorat Böhmen und Mähren und dem ›ange- schlossenen‹ Österreich. Mit Zügen wurden die Menschen zunächst in die Ghettos im besetzten Mittel- und Osteuropa verschleppt. Seit März 1942 fuhren Züge aus den besetzten und verbündeten europäischen Ländern auch nach Auschwitz. Vorbereitet wurden die als »Sonderzüge« bezeichneten Transporte der Deutschen Reichsbahn durch das Referat IV B 4 (»Judenreferat«) des Reichssicher- heitshauptamts (RSHA) in Berlin unter der Leitung von . Etwa 650 solcher Transporte mit insgesamt über einer Million Juden, Sinti und Roma endeten in Auschwitz-Birkenau.

Im Deutschen Reich holten Beamte die Betroffenen zu Hause ab und sperrten sie in öffentliche Sammellager, die in Messehallen oder in jüdischen Einrichtungen wie Synagogen errichtet worden waren. War ein Transport zusammengestellt, brachte die die Betroffenen zu Fuß oder in Lkws zu den öffentlichen Bahnhöfen, zumeist Güterbahnhöfen, von wo aus die Züge starteten.

»Mein Bruder Hermann und ich […] richteten uns, als erste in den Waggon kletternd, in einer Ecke ein. Unterhalb einer Klappe, die eine Art Fensteröffnung war, damit die Tiere, die sonst hier transportiert wurden, an heißen Tagen nicht erstickten. Unser Waggon füllte sich so sehr, dass an ein Sich-Hinlegen nicht mehr zu denken war. Als der Zug rollte und nirgendwo hielt, Imo Moszkowicz | wurden die ersten menschlichen Bedürfnisse riechbar. 2003 in seinem Haus Wer den Mut hatte, sich in die Hosen zu scheißen, der in Ottobrunn | Wien, war gar nicht so schlecht dran. […] Die Degradierung Daniela Ebenbauer nahm allerprimitivste Formen an, die ihren Tiefpunkt auf der Rampe von Auschwitz erreichte. Beinahe vier Tage waren wir unterwegs, die meisten vollgeschissen, elendig stinkend.« Imo Moszkowicz | Der grauende Morgen. Erinnerungen, Paderborn 2008, S. 79

Zur Person: Imo Moszkowicz (1925 – 2011) war der Sohn eines jüdisch-russischen Schuhmachers und wuchs in Ahlen im Münsterland auf. 1938 emigrierte der Vater nach Argentinien, die Familie sollte am 10. November folgen. In der Pogrom- nacht am 9. November wurden jedoch die Wohnung und alle Ausreisedokumente zerstört. 1939 erfolgte die Umsiedlung der Familie nach Essen. Die Mutter und vier Geschwister wurden im April 1942 nach Izbica, ein »Durchgangsghetto« für die Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 7. Deportation 31

Vernichtungslager Sobibor und Belzec, deportiert. Der Bruder David wurde nach Auschwitz verschleppt und im Februar 1943 auf der Rampe erschossen. Am 1. März 1943 wurden Imo und sein Bruder Hermann von Dortmund nach Auschwitz deportiert. Auf der Rampe verlor Imo seinen Bruder aus den Augen. Er selbst wurde zur Zwangsarbeit für die I.G. Farben gezwungen. Moszkowicz über- lebte die Todesmärsche und wurde im Mai 1945 in der Nähe von Liberec (Reichen- berg) durch die Russen befreit. Nach der Befreiung begann er eine Theater- und Regiekarriere. Er war als Schauspieler und Regisseur an zahlreichen großen Bühnen im deutschsprachigen Raum sowie in Santiago de Chile und Tel Aviv tätig und führte in über 200 Fernseh- filmen und -serien Regie. Am 11. Januar 2011 starb er in München. Zum Text: Moszkowicz veröffentlichte seine Autobiographie im Jahr 1996, also mit über 50 Jahren Abstand. Er macht sein Unvermögen, die Verfolgung, Zwangsarbeit und die Erlebnisse in Buna-Monowitz vergessen zu können, zum Thema seines Buches: Die verdrängten und unerwünschten Erinnerungen brachen immer wieder in seinen Alltag und seine Arbeit als Schauspieler und Regisseur ein. Moszkowicz berichtet nicht historisch-chronologisch, sondern nimmt Schil- derungen aus seinem Leben nach der Befreiung als Ausgangspunkt für Erinne- rungen und Reflexionen über Auschwitz. Dabei springt er immer wieder zwischen den Erinnerungsebenen, die er sprachlich unterschiedlich gestaltet. Erst die stete Rückkehr zu positiven Erinnerungen ermöglicht die Auseinandersetzung mit dem Unerträglichen.

DEPORTATIONEN VON JUDEN NACH AUSCHWITZ-BIRKENAU Frankreich 69.000 Niederlande 60.000 Belgien 25.000 Deutschland/Österreich 23.000 Italien 7.500 Norwegen 690 Slowakei 27.000 Protektorat Böhmen und Mähren/Ghetto Theresienstadt 46.000 Jugoslawien 10.000 Griechenland 55.000 Polen 300.000 Ungarn 438.000 Aus Konzentrationslagern 34.000 1.100.000 Insgesamt etwa (1.095.190)

WEITERE DEPORTATIONEN Polen 147.000 Sinti und Roma 23.000 Sowjetische Kriegsgefangene 15.000 Andere 25.000 1.300.000 Insgesamt etwa (1.305.190)

Franciszek Piper | Die Zahl der Opfer von Auschwitz | Staatliches Museum Ausch- witz-Birkenau, 1993 32 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 7. Deportation 33

Auszug Transportliste | Transport vom 29. November 1942 aus Berlin nach Auschwitz | Bad Arolsen, Arolsen Archives Die Gestapo ging bei der Zusammenstellung der Transporte systematisch und akribisch vor. In Zusammenarbeit mit verschiedenen lokalen und kommunalen Dienststellen wurden die in den jeweiligen Orten lebenden Juden erfasst. Die Erhebung diente als Grundlage für die Transporte. 34 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 8. Ankunft

ANKUNFT

Die Deportationszüge kamen von Frühjahr 1942 bis Mai 1944 an der »Alten Rampe« in der Nähe des Güterbahnhofs von Auschwitz an. Im Mai 1944 wurde die »Neue Rampe« innerhalb des Vernichtungslagers Birkenau in Betrieb genommen. Nach der Ankunft trieben SS-Männer die Deportierten oft mit Schreien und Schlägen aus den Waggons. Direkt neben dem Zug fand die erste Selektion durch SS-Offiziere, ab März 1943 ausschließlich durch SS-Ärzte statt. Noch auf der Rampe wurden zwei Kolonnen gebildet: Alte, Schwache, Kinder und jüngere Jugend- liche, Schwangere und Frauen mit Kindern wurden direkt in die Gaskammern ge- bracht. Die Überlebenden der Selektionen gelangten zu Fuß oder auf Lkws in das Stammlager Auschwitz, in das Vernichtungslager Birkenau oder in das firmen- eigene Buna-Monowitz der I.G. Farben. Dort mussten sie sämtliche Wertsachen und ihre Kleidung abgeben, kamen zur »Entlausung« und wurden in kalte Duschen geführt. Ihnen wurden die Haare geschoren, und eine Häftlings- nummer wurde ihnen auf den linken Unterarm tätowiert. Nach einem sogenannten Quarantäneaufenthalt erfolgte die Zuteilung zu einem Arbeitskommando, in dem sie Zwangsarbeit leisten mussten. Waren sie physisch nicht mehr arbeitsfähig, schickte sie die SS ins Gas.

15 — 35 % der Deportierten wurden als »arbeitsfähig« beurteilt. 65 — 85% wurden sofort in den Gaskammern ermordet.

»Endlich hält der Zug an, und im Morgengrauen sind wir auf dem Bahnsteig von Auschwitz. Die Türen der Waggons werden aufgerissen und unter Gebrüll und Geschrei müssen wir sie verlassen. […] Herzergreifende Szenen spielen sich ab, als Frauen und Kinder von den Männern getrennt werden. Auf der Bahnhofsrampe kommen wir an einigen SS-Offizieren vorbei, die uns, einen nach dem anderen, sehr oberflächlich im Vorbei- gehen mustern. Man wird entweder nach rechts oder nach links gewiesen. Ich komme nach rechts und bemerke, dass die auf meiner Seite eingereihten Männer eher jung und in guter physischer Verfassung sind. Die Selektion scheint beendet zu sein. Man sagt uns, dass wir ins Lager marschieren werden. Die andere Gruppe hingegen wird auf Lastwagen verladen.« Willy Berler | Durch die Hölle. Monowitz, Auschwitz, Groß-Rosen, Buchenwald, Augsburg 2003, S. 51 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 8. Ankunft 35

Zur Person: Willy Berler (1918 – 2008) wurde am 11. April 1918 in Czernowitz in der Bukowina als Sohn eines Kaufmanns geboren. Er war Mitglied in zionistischen Ju- gendorganisationen und besuchte 1936 eine Landwirtschaftsschule in Palästina. Auf Wunsch der Eltern kam er nach einem Jahr zurück, um in Liège Chemie zu studieren. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Belgien 1940 flüchtete Berler nach Frankreich, kehrte jedoch nach einigen Monaten aus Geldnot wieder. Er wurde denunziert und am 19. April 1943 nach Buna-Monowitz deportiert. In den ersten Tagen arbeitete er im »Kommando Holzhof«. Nach einer Woche, in der er schwere Baumstämme mit bloßen Händen transportieren musste, war er so entkräftet, dass er in den Krankenbau kam. Aus Mitleid sorgte der Blockälteste dafür, dass er in das Stammlager Auschwitz I verlegt wurde. Ab Ende Januar 1944 arbeitete er in einem Pflanzenzuchtlabor im SS-Hygiene-Institut Rajsko. Er überlebte den Todesmarsch und befand sich im KZ Buchenwald, als er von der U.S. Army am Willy Berler | 1940 | 11. April 1945 befreit wurde. Berler kehrte nach Belgien zurück, wo er in der Indus- Paris – Gerpinnes, trie arbeitete und 1947 seine Frau Ruth heiratete. L’ Harmattan – Quorum / Ruth Fivaz-Silbermann Zum Text: Berler schrieb den Bericht erst mit einem Abstand von über 55 Jahren. Aus der zeitlichen Distanz heraus schildert er detailliert den Alltag der Häftlinge, das Verhalten der SS und der Funktionshäftlinge sowie einige Abläufe im Lager. Dabei ist er sehr auf eine genaue historische Einordnung des Geschehenen bedacht. Berler wählt eine einfache, sachlich-nüchterne Sprache. Auffallend ist demge- genüber die Wahl der Erzählzeit: Der Ich-Erzähler berichtet im Präsens. Dadurch schafft er Unmittelbarkeit.

»Wir kamen vor ein großes Tor, das von SS-Männern bewacht wurde. Ein kurzes Gebell. Das Tor öffnete sich. Wir sahen die Stacheldrahtgitter, die Wachtürme, Männer in Blau und Weiß mal hier, mal dort, einen großen leeren Platz, eine Reihe niedriger Häuser aus Holz. […] Wir mußten […] einen Flur entlanglaufen. Männer, Häftlinge sagten uns auf deutsch – ein paar auf französisch: ›Gib alles her, was du hast, du darfst nichts bei dir behalten, du kannst es nachher wieder abholen.‹ […] Der Befehl sauste auf uns nieder: ›Alles ausziehen.‹ Dreihundertvierzig Männer splitternackt, das hatte ich noch nie gesehen, das war irgendwie lächerlich. Die einen hielten ihre Hände wie ein Feigenblatt, ande- re krümmten sich. Niemand lachte. Die nächste Etappe war die Dusche, lauwarm, mit etwas, das an Seife erinnerte. Hätten wir gewußt, was für eine Bedeutung das Duschen hatte, splitternackt, für die, die am Bahnhof in der rechten Reihe standen, hätten wir uns in diesem Augenblick ganz sicher unwohl gefühlt.«

Paul Steinberg | Chronik aus einer dunklen Welt, München 1998, S. 46 36 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 8. Ankunft

Zur Person: Paul Steinberg (1926 – 1999) wurde am 18. Oktober 1926 in Berlin in eine russisch-jüdische Familie geboren. Die Mutter starb bei der Geburt. 1933 zog die Familie nach Frankreich, später nach Italien, Spanien und wieder zurück nach Frankreich. Im September 1943 verhafteten französische Polizisten den Sechzehn- jährigen und brachten ihn ins französische Durchgangslager Drancy. Von dort wurde er wenige Wochen später nach Auschwitz deportiert und in Buna-Monowitz zum Schleppen von Ziegelsteinen gezwungen. Steinberg erwarb das Wohlwollen des Lagerältesten und wurde nach einigen Tagen einem leichteren Kommando zum Reinigen von Magazinen zugeteilt. Bei seiner Ankunft im KZ Buna-Monowitz hatte er sich als Chemiker aus- gegeben, deshalb wurde er ab Januar 1944 im »Chemie-Kommando«, dem auch Primo Levi angehörte, eingesetzt. Am 18. Januar 1945 wurde er mit Tausenden anderen Häftlingen auf den Todesmarsch nach Gleiwitz getrieben und von dort in Paul Steinberg | 1998 offenen Waggons ins KZ Buchenwald gebracht. Dort gelang es ihm, sich als politi- beim Überlebenden- schen Häftling auszugeben und so der Ermordung der im Lager verbliebenen etwa treffen in Frankfurt 1.200 jüdischen Häftlinge zu entgehen. Nach der Befreiung Buchenwalds kehrte am Main | Frankfurt Steinberg nach Paris zurück, wo er in einem kaufmännischen Beruf arbeitete. Er am Main, Fritz Bauer heiratete und hatte zwei Töchter. 1999 starb er in Paris. Institut Zum Text: Paul Steinberg entschloss sich, nach 50 Jahren seine Erinnerungen an das KZ Buna-Monowitz aufzuschreiben. Der Bericht folgt grob einer chronologi- schen Ordnung der Ereignisse, allerdings wechselt der Erzähler immer wieder die Erzählebene. Er schildert zum einen die im Lager verübten Grausamkeiten, zum anderen reflektiert er, welche Auswirkungen das Erlebte auf ihn in der Nachkriegs- zeit hatte. Von seinem aktuellen Standpunkt aus versucht Steinberg, sich seinem frü- heren Ich als Achtzehnjähriger anzunähern, es zu verstehen und seine Handlungen nachzuvollziehen. Ihn beschäftigt vor allem die Frage, wie die täglichen Gräuel und die Gewalt die Menschen veränderten, insbesondere, wie er sich selbst ver- änderte, sich anpasste, um überleben zu können, und sich gleichzeitig deshalb schuldig fühlte.

HÄFTLINGSNUMMERN Die SS erfasste nur diejenigen Deportierten mit Nummern, die bei der Ankunft nicht direkt in den Gaskammern ermordet wurden. Jeder Häftling erhielt eine fortlaufende Nummer, mit der er anstelle seines Namens im Lager angesprochen wurde. Anfangs waren Häftlinge in Auschwitz durch Nummern auf der Kleidung gekennzeichnet worden. Weil toten Häftlingen (vor allem im Winter) häufig die Kleidung gestohlen wurde und eine Identifizierung dann kaum noch möglich war, ging die SS ab Mitte 1942 dazu über, jüdischen Häftlingen die Nummer auf den linken Unterarm zu tätowieren. Ab 1943 wurde mit allen Häftlingen, die keine »Reichsdeutschen« waren, so verfahren. Diese Praxis war nur in Auschwitz üblich, in anderen Konzen- trationslagern hatten Häftlinge ihre Nummer nur auf der Kleidung zu tragen. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 9. Zwangsarbeit 37

ZWANGSARBEIT

Die SS und Wirtschaftsunternehmen beuteten die Häftlinge sowohl inner- halb als auch außerhalb des Lagers als Arbeitskräfte aus. Innerhalb des Geländes wurden sie von der SS bei der Lagerverwaltung, der Arbeitsorganisation und im Krankenbau eingesetzt. Außerhalb arbeiteten sie für die I.G. Farben oder wurden an Dutzende von Industrieunternehmen weitervermietet. Die Häftlinge fürchteten vor allem die Transport- und Erdkommandos sowie die Kabelkommandos. Dabei handelte es sich um Arbeitskommandos mit einigen Hundert Häftlingen, die ständig mit brutalsten Prügelexzessen zu höherem Arbeits- tempo angetrieben wurden. Viele brachen bei der schweren Arbeit zusammen und starben. Auf der Baustelle waren die Häftlinge der Witterung schutzlos ausgeliefert. Die Häftlingskleidung schützte nur unzureichend gegen Hitze oder Kälte. Im Winter kehrte kaum ein Kommando ohne Erfrierungen von der Arbeit zurück, manchmal gab es 30 Tote am Tag. Zu zahlreichen Toten kam es auch bei Arbeitsunfällen auf der Werksbaustelle der I.G. Auschwitz. Die häufigsten Todesursachen waren jedoch körperliche Auszehrung und unbehandelte Krankheiten.

Durchschnittliche Überlebensdauer der Häftlinge in Buna-Monowitz: 3 — 4 Monate

»Das erste Kommando, zu dem wir ausrückten, war das Zementkommando. Die Waggons, die genauso aussahen wie jene, die uns nach Auschwitz transportierten, hatten Zementsäcke geladen. Im Waggon standen jeweils zwei Häftlinge, die einen Zementsack hoben, ihn einem vor dem Waggon stehenden Häftling auf die Schultern legten, dieser dann mit seiner Last im Laufschritt zu einem Zementlagerplatz lief, wo ihm der Zementsack von zwei anderen Häftlingen zum Stapeln abgenommen wurde. Dann ging es im Laufschritt zu dem Waggon zurück. Im Laufschritt mußte alles gehen. ›Im Laufschritt, dalli-dalli!‹ Meine Erinnerung will nicht zurückrufen, wie viele an dieser Schwerstarbeit bereits in den ersten Tagen zu Grunde gingen. Mir kommt es wie ein Prüffeld vor: Wer das hier übersteht, hat gewisse Chancen, weiterzu- kommen, weiterzuleben.«

Imo Moszkowicz | Der grauende Morgen. Erinnerungen, Paderborn 2008, S. 90 38 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 9. Zwangsarbeit

Zur Person: Imo Moszkowicz ▸ vgl. S. 30 Zum Text: Bei der Ankunft auf der Rampe in Auschwitz hatte sich Moszkowicz wohl- weislich als Zimmermann ausgegeben. Nachdem er die Zeit im »Todeskommando Zement« überstanden hatte, fand er Arbeit als Zimmermann. Er wurde für die Herstellung von Holzsäulen für eine Hallenkonstruktion eingesetzt. Da diese Arbeit rasch vonstattenging, wurde er zusätzlich zum Schleppen von Eisendraht eingeteilt. Den Draht mussten die Häftlinge auf ihren Schultern vom Lagerplatz aus zur Baustelle tragen. Ihre Schultern versuchten sie mit dem Papier zerrissener Zementsäcke zu schützen, was jedoch nur leidlich gelang und zudem verboten war.

»Otto und ich mußten uns dem Kabelkommando anschließen. Die Arbeit im Kabelkommando war eine der schwersten, die man sich vorstellen kann. Wir waren jeder Witte- rung ausgesetzt. Ob im Sommer bei sengender Hitze oder im Winter bei klirrendem Frost und tiefem Schnee, täglich mußte über eine bestimmte Länge ein Graben für die Kabel gegraben werden. Je vier bis fünf Häftlinge mußten die Loren mit Erde vollschaufeln und sie bergauf schieben. Dazu gab es fast ununterbrochen Schläge von den SS-Männern und den Kapos, die die Arbeit für die IG-Farben mit Stockhieben beschleunigen wollten. So blieb es nicht aus, daß fast täglich Häftlingen von den Loren Finger oder Zehen, oft sogar Hände und Füße, abgefahren wurden. Die Verstümmelten wurden zwar in den Krankenbau eingeliefert, aber man sah sie nie wieder lebend herauskommen.« Tibor Wohl | Arbeit macht tot. Eine Jugend in Auschwitz, Frankfurt am Main 1990, S. 48

Zur Person: Tibor Wohl (1923 – 2014) wurde am 28. Juni 1923 in Rarbok in der Tschechoslowakei (heute Rohožník) geboren und wuchs mit seinem jüngeren Bru- der Paul in einer bürgerlichen Familie auf. 1936 zog die Familie nach Prag. Ein Versuch, nach Ecuador zu fliehen, scheiterte 1939, da die Familie einem Betrü- ger aufgesessen war. Im Dezember 1941 wurde die Familie zur Zwangsarbeit nach Theresienstadt und im Oktober 1942 weiter nach Auschwitz deportiert. Bei der Ankunft verlor Wohl seine Familie aus den Augen und sah sie nie wieder. In Buna-Monowitz wurde er für schwere Transportarbeiten und im Kabel- kommando eingesetzt. Während eines Aufenthalts im Krankenbau führten SS- Ärzte, darunter Horst Fischer, Experimente mit Elektroschocks an ihm durch. Nach einem kurzen Aufenthalt im Schonungsblock im Frühjahr 1944 lernte Wohl den Tschechen Arnost Tauber kennen und schloss sich dem Widerstand an. Über diese Kontakte wurde er der Desinfektionsstation zugeteilt, wo er bis zur Auflösung des Lagers arbeitete. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 9. Zwangsarbeit 39

Wohl wurde am 18. Januar 1945 auf den Todesmarsch nach Gleiwitz getrie- ben. Es gelang ihm jedoch, während eines Partisanenangriffs mit zwei Kameraden zu entkommen und sich bis zur Befreiung durch die Rote Armee am 27. Januar zu verstecken. Wohl kehrte nach Prag zurück, heiratete und hatte zwei Kinder. 1969 floh er mit seiner Familie nach Österreich und arbeitete fortan als Montageabteilungs- leiter. Zuletzt lebte er in Frankfurt am Main. Wohl sagte im zweiten Frankfurter Auschwitz-Prozess gegen Gerhard Neubert und in der DDR 1966 gegen Horst Fischer aus. Zum Text: Wohl verfasste bereits 1948 in tschechischer Sprache ein Manuskript über seine Erlebnisse. Erst 30 Jahre später, nach seiner Verrentung, schrieb er dann eine Version in deutscher Sprache. Sie sollte dazu beitragen, die Wahrheit über Auschwitz aufzudecken. Wohls Wunsch, dadurch »nach den vielen Jahren eine Last« abschütteln zu können, blieb unerfüllt. So konstatiert er in seinem Tibor Wohl | 1998 beim Vorwort: »ich will vergessen, aber ich kann es nicht«. Überlebendentreffen Wohl berichtet detailliert vom Lageralltag in Buna-Monowitz. Dabei verzich- in Frankfurt am Main | tet er auf Ausblicke auf die Nachkriegszeit oder die Zeit vor seiner Lagerhaft. Der Frankfurt am Main, Text ist chronologisch in einzelne Kapitel gegliedert und beschreibt verschiedene Fritz Bauer Institut Aspekte des Lagerlebens: die Ankunft, den tödlichen Arbeitsalltag, die permanen- ten Schikanen und Prügelexzesse, Aufenthalte im Krankenbau und Selektionen. Er beginnt seine Erinnerungen mit der Deportation nach Auschwitz und endet mit der Befreiung durch die Rote Armee. Viele Erlebnisse, die ihn selbst betrafen und zu denen er als Zeuge vor Gericht aussagte, wie die pseudomedizinischen Folter- experimente von Fischer, spart er jedoch aus.

Häftlinge entladen Zementsäcke von Bahnwaggons, die für die Baustelle der I.G.-Farben-Fabrik bestimmt sind. | Auschwitz, zwischen 1942 und 1945 | Fotograf unbekannt | Washington, DC, United States Holocaust Memorial Museum 40 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 10. Fachleute

FACHLEUTE

Mit dem Fortschreiten der Bauarbeiten wandelten sich die Arbeitsschwer- punkte. Immer mehr Häftlinge wurden als qualifizierte Facharbeiter eingesetzt. Sie übernahmen Arbeiten als Schlosser, Maurer, Zimmerleute, Maler oder Schweißer. Ab 1944 wuchs der Anteil der Produktionskommandos, in denen Häftlinge in Chemie- laboratorien hochqualifizierte Arbeiten ausführten. In den Schreibkommandos er- ledigten einige wenige Häftlinge sogar Schriftverkehr und bearbeiteten Statistiken. Häftlinge wurden jedoch bevorzugt zu riskanten und lebensgefährlichen Arbeiten herangezogen, wie im Bombenräumkommando, das 1944 nach den Luftangriffen Blindgänger auf dem Werksgelände barg.

»Ein Schlosser etwa war ein privilegierter Mann, da man ihn in der zu errichtenden IG-Farben-Fabrik brauchen konnte und er die Chance hatte, in einer gedeckten, der Witterung nicht ausgesetzten Werkstatt zu arbeiten. Das gleiche gilt für den Elektriker, den Installateur, den Tischler oder den Zimmermann. Wer Schneider oder Schuster war, hatte vielleicht das Glück, in eine Stube zu kommen, wo man für die SS arbeitete. Für den Maurer, den Koch, den Radiotechniker, den Auto- mechaniker gab es die Minimalchance eines erträglichen Arbeitsplatzes und damit des Überstehens. Anders war die Lage dessen, der einen Intelligenzberuf hatte. Ihn erwartete das Schicksal des Kaufmanns, der gleichfalls zum Lumpenproletariat im Lager gehörte, das heißt: er wurde einem Arbeitskommando zugeteilt, wo man Erde aufgrub, Kabel legte, Zementsäcke oder Eisen- traversen transportierte.«

Jean Améry | Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Über- wältigten, München 1988, S. 16 f.

Zur Person: Jean Améry (1912 – 1978) wurde am 31. Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien in eine jüdische Familie geboren. Der Name Améry ist ein Anagramm von Mayer und Jean die französische Form von Hans. Nach dem frühen Tod des Vaters wuchs Améry bei der Mutter auf. Bereits als Zwölfjähriger verließ er die Schule. Nach einer Buchhändlerlehre arbeitete er einige Jahre als Gehilfe in der Buchhand- lung der Volkshochschule Leopoldstadt. Er bildete sich an der Universität Wien durch den Besuch literarischer und philosophischer Vorlesungen weiter. Ende 1938 floh er nach Belgien. Nach einer ersten Verhaftung 1940 gelang Améry die Flucht. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 10. Fachleute 41

Im Juli 1943 wurde er in Brüssel erneut verhaftet und im Fort Breendonk, wo SS- Angehörige ihn folterten, interniert. Am 15. Januar 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert. Ab Juni arbeitete er als Schreiber in Buna-Monowitz. Im Januar 1945 wurde Améry ins KZ Mittel- bau-Dora, dann nach Bergen-Belsen verschleppt, wo er am 15. April 1945 von britischen Truppen befreit wurde. Améry kehrte nach Brüssel zurück und schrieb als Kulturjournalist für ver- schiedene Zeitungen, vor allem für in der Schweiz erscheinende. Er war als enga- gierter Kultur- und Zeitkritiker im deutschsprachigen Raum bekannt. 1978 nahm er sich das Leben. Jean Améry | Mitte der Zum Text: Ab 1964 schrieb Améry fünf Essays über Auschwitz. Die Texte wurden 1970er Jahre in Paris | zunächst im Rundfunk gesendet, bevor sie 1966 beim Münchner Szczesny-Verlag Marbach, Deutsches unter dem Titel Jenseits von Schuld und Sühne erschienen. Zum damaligen Zeit- Literaturarchiv punkt fielen die Texte auf, weil ihr Autor sich durch die Verwendung der Ichform selbst als Opfer thematisierte. Améry verfasst keinen chronologischen Bericht über seine Erlebnisse in Auschwitz. Er spricht sich ausdrücklich gegen ein sachliches Erinnern aus und schreibt aus der rebellierenden »subjektiven Verfassung des Opfers«. Er schildert einzelne Erfahrungen von Verfolgung, Folter, Zwangsarbeit und aus dem Leben im Lager Buna-Monowitz in stark reduzierter Form und reflektiert sie aus der Per- spektive eines Überlebenden und Intellektuellen. Dabei ist er unerbittlicher als beispielsweise Primo Levi: Er spricht sich entschieden gegen die Versöhnungs- tendenzen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft aus.

»Wenn ich gefragt werde, ob die I.G. unser Schicksal in Monowitz verschlimmert hat oder besser hätte gestalten können, so möchte ich sagen, dass die I.G. auch anders konnte. Es wurde ein aus jüdischen Häftlingen zusammen- gestelltes Buchhalterkommando, zu dem etwa 50 bis 70 Häftlinge gehörten, gebildet. Die I.G.-Leute haben dieses Kommando selbst rekrutiert. Diese jüdischen Häftlinge bekamen sofort etwas Kleider, und zwar richtig ge- schnittene […] Häftlingskleidung und gute Schuhe. Man hat ihren Block mit Steppdecken und reiner Wäsche ausgestattet. Die Leute wurden mittags in der I.G. selbst verpflegt. Sie haben sich meistens ein für damalige Verhältnisse sehr gutes Abendessen mitgebracht und haben die Lagersuppe meistens verschenkt. Man konnte sie auch deutlich mit dem Auge unterscheiden. Sie waren besser ernährt. Den anderen Häftlingen ging es schlecht.« Paul Herzberg | Aussage vom 27. November 1952 im Wollheim-Prozess 42 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 11. Hierarchien Häftlinge

HIERARCHIEN UNTER DEN HÄFTLINGEN

ZUSAMMENSETZUNG DER HÄFTLINGE IN BUNA-MONOWITZ IM WINTER 1944/1945 Juden aus ganz Europa 90 — 95 % »Reichsdeutsche« 3 — 5 % Polen 1 — 3 % Sonstige 1 — 2 %

Die SS und die I.G. Farben kontrollierten die Häftlinge durch eine sogenannte Selbstverwaltung, die streng hierarchisch gegliedert war. Die dafür eingesetzten Auserwählten wurden als Funktionshäftlinge bezeichnet. Für ihre Stellung inner- halb der Hierarchien spielte die NS-Rassenideologie eine wichtige Rolle. Obwohl Juden die größte Gruppe unter den Häftlingen bildeten, nahmen sie selten eine Funktion in der Verwaltung ein. Funktionshäftlinge wurden vor allem als »poli- tisch«, »kriminell« oder »asozial« klassifizierte »Reichsdeutsche« oder Polen. Funktionshäftlinge hatten zahlreiche Vorteile: Sie waren in separaten Räumen der Blocks oder in eigenen Blocks mit niedriger Belegung untergebracht. Sie konnten sich durch ihre Stellung in der Häftlingshierarchie ein Netz sozialer Ab- hängigkeiten aufbauen. Dabei ging es um die Beschaffung besserer Kleidung oder guten Essens, aber auch um die Erpressung sexueller Dienste von jungen Häft- lingen. Sie konnten der eigenen Gruppe Vorteile verschaffen. Die meisten nutzten ihre Position vor allem, um das eigene Überleben zu sichern.

KENNZEICHNUNG DURCH WINKEL Jeder Häftling in Buna-Monowitz musste je einen circa vier Zentimeter breiten und rund zwölf Zentimeter langen Stoffstreifen auf der linken Brustseite der Jacke und am rechten Hosenbein auf Höhe der Hosentasche anbringen. Neben der Häftlings- nummer war darauf ein Winkel abgebildet, der den »Haftgrund« angab. Fast 90 Prozent der Häftlinge im KZ Buna-Monowitz trugen einen roten Winkel. Dieser kennzeichnete alle Regimegegner, also in der Regel auch jüdische Häftlinge. Die jüdischen Häftlinge trugen einen gelben Winkel mit der Spitze nach oben, so dass sich ein Davidstern ergab, manchmal handelte es sich aber auch einfach nur um einen gelben Streifen oberhalb des roten Winkels. Bei allen nichtdeutschen Häftlingen gab zudem ein Großbuchstabe innerhalb des Winkels die Herkunft an, zum Beispiel »P« für Polen, »F« für Franzosen, »I« für Italiener. Als Funktionshäftlinge wählte die SS vor allem Inhaftierte, die für »asozial« (schwarzer Winkel, circa acht Prozent der Häftlinge) und »kriminell« (grüner Winkel, circa fünf Prozent der Häftlinge) erklärt worden waren. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 11. Hierarchien Häftlinge 43

Tabelle der Kennzeichnungen, die die Häftlinge in den Lagern tragen mussten | Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut 44 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 11. Hierarchien Häftlinge

Die letzte Aufstellung der Häftlinge im Konzentrationslager Buna-Monowitz vom 13. Januar 1945 | Auschwitz, 13. Januar 1945 | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau Unterschieden werden: »Schutzhäftlinge« (politische Häftlinge, Regimegegner, Arbeiter), »Zigeuner« (Sinti und Roma), »ASO« (»Asoziale«, dazu zählten Prosti- tuierte, Betrüger, Hochstapler), »BV« (Berufsverbrecher und Kriminelle, zu denen auch Bettler, Zuhälter, »Arbeitsscheue« gerechnet wurden), »PSV« (Häftlinge aus polizeilicher Sicherungsverwahrung), »§ 175« (Homosexuelle), »Bibelforscher« (Zeugen Jehovas, Mitglieder der Siebenten-Tags-Adventisten-Reformationsbewe- gung), »Erziehungshäftlinge« (Personen, die wegen Arbeitsverweigerung festge- nommen worden waren) und »Juden«. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 12. Willkür & Misshandlungen 45

WILLKÜR UND MISSHANDLUNGEN

Die SS schuf in Buna-Monowitz eine andauernde Atmosphäre der Angst. Die Angehörigen der SS-Wachmannschaften konnten Häftlinge auf brutale Weise drangsalieren und willkürlich ermorden. Auch Funktionshäftlinge konnten miss- handeln oder gar töten, die SS duldete diese Gewaltanwendung und ermutigte sogar dazu. Die Angestellten der I.G. Farben, vom Arbeiter bis zur Führungskraft, ver- schlechterten ihrerseits die Situation der Häftlinge. Sie meldeten kleinste Verge- hen an die SS, um ihre Bestrafung sicherzustellen oder Selektionen auszulösen. Zudem ging die Werksleitung grundsätzlich davon aus, dass nur durch Antreiben, Schlagen und Strafen die gewünschte Arbeitsleistung der Häftlinge zu erreichen sei. Ehemalige Häftlinge berichteten von vereinzelten kleinen Hilfeleistungen »guter« Zivilarbeiter, die Lebensmittel verschenkten.

Willy Berler hatte Fieber und ruhte sich auf der Baustelle kurz aus: »Diesmal ist es weder ein SS-Mann, noch ein Kapo, der mich aufspürt, sondern ein deut- scher Zivilist, Meister bei der IG Farben. Am Bauplatz […] behandeln die zivilen Angestellten, Meister der IGF, die Juden genauso wie die SS das tut. […] Obwohl der Kerl genau weiß, was mich erwartet, beeilt er sich, mich beim Kapo zu melden. Das, was dann kommt, ist Routine. Der Kapo verprügelt mich erst, dann erstattet er Meldung beim diensthabenden SS-Mann, und am selben Abend nach dem Appell erhalte ich die vorgesehene Disziplinarstrafe: ›Fünfundzwanzig auf den Hintern‹.«

Willy Berler | Durch die Hölle. Monowitz, Auschwitz, Groß-Rosen, Buchenwald, Augsburg 2003, S. 78

Zur Person: Willy Berler ▸ vgl. S. 35

BESTRAFUNGEN Viele Meister nutzten die Kapos als verlängerten Arm, um die Häftlinge zur Arbeit anzutreiben. Auf diese Weise gaben sie den Termindruck, unter dem die Anlage fertiggestellt werden sollte, weiter. Generell hatten sie die Arbeitsleistung der Häftlinge der Lagerleitung zu melden. Bei weniger als 75 Prozent, gemessen an der Leistung eines deutschen Arbeiters, oder einmalig zwischen 50 und 60 Prozent, erhielt der Häftling zehn bis 25 Stockhiebe. Neben der Arbeitsleistung mussten die Meister auch über »Vergehen« der Häftlinge informieren. Die häufigste Strafe waren bis zu 25 Stockhiebe auf dem Bock, oft exekutiert durch Funktionshäftlinge im Beisein der SS. 46 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 12. Willkür & Misshandlungen

»Ich betrachte es als meine Pflicht, einen Meister besonders zu erwähnen, den Meister Kuss aus Leipzig. Er war klein und schmächtig und besonders freundlich zu uns. Wenn die SS in unsere Nähe kam, rief er uns immer ›Sechs‹ zu, um uns zu warnen. Obwohl ich selbst seine Hilfe nicht in Anspruch genommen habe, weiß ich, daß er verschiedenen von uns geholfen hat. Eines Tages verschwand er, und wir sahen ihn nicht wieder. Es wurde erzählt, er sei erschossen worden. Mir persönlich war es unmöglich, Genaueres zu erfahren, aber es war bekannt, daß er Antinazi war. Wir waren alle traurig, ihn verloren zu haben. Er war einer, der uns allen den Glauben an die Menschheit zurückgeben konnte.«

Joseph Schupack | Tote Jahre. Eine jüdische Leidensgeschichte, Tübingen 1984, S. 161

Zur Person: Joseph Schupack (1922 – 1989) wurde in der polnischen Kleinstadt Radzyń, einer typischen jüdischen Stetl-Gemeinschaft mit circa 5.000 Juden, ge- boren. Zunehmende Schikanen, ständige Bedrohung, Gewalt und Hass prägten seine Kindheit und Jugend. Nach dem Einmarsch der Deutschen verschlimmerte sich die Situation. Die Juden der Stadt wurden nach Treblinka deportiert, Schu- packs gesamte Familie wurde ermordet. Ihm selbst gelang Ende November 1942 mit gefälschten Papieren die Flucht nach Warschau. Der Versuch, weitere gefälsch- te Papiere ins Ghetto Miȩdzyrzec zu schmuggeln, scheiterte, und er war gezwungen, im Ghetto zu bleiben. Nach der Räumung des Ghettos Międzyrzec Ende April 1943 wurde Schupack in das Vernichtungslager Majdanek verschleppt, wo er durch Zufall Joseph Schupack | überlebte. Im Juli 1943 wurde er mit circa 500 anderen Häftlingen nach Buna- 1940er Jahre, mit seiner Monowitz gebracht. Dort leistete er in einer Halle, geschützt vor Regen und Kälte, Frau Balla | Amsterdam Zwangsarbeit in einem Elektrikerkommando. Im Januar 1945 wurde er auf den Publishers Todesmarsch nach Gleiwitz getrieben und von dort aus mit einem mehrtägigen Transport ins Lager Mittelbau-Dora bei Nordhausen deportiert und zur Arbeit in der Waffenproduktion gezwungen. Nach einigen Wochen folgte seine Inhaftierung in Bergen-Belsen, wo die Häftlinge wegen Überfüllung in der nahegelegenen Wehr- machtskaserne untergebracht wurden. Tagelang mussten sie ohne Essen ausharren, bis die Briten das Lager am 15. April 1945 befreiten. Nach der Befreiung heiratete Schupack 1946 eine Holocaust-Überlebende. Das Paar entschied sich, in Deutschland zu bleiben, und bekam zwei Kinder. Zum Text: Schupack schrieb seine Erinnerungen nach 40 Jahren auf Drängen seiner Frau und Söhne auf. Er gliedert sie thematisch-chronologisch. Die einzelnen Kapitel markieren Stationen seines Leidenswegs: Er schildert die Lebensumstände in seiner Heimatstadt, die sich immer weiter verschlechternde Situation nach dem Einmarsch der Deutschen, seine Flucht nach Warschau, seine Reise ins Ghetto Miȩdzyrzec, die Auflösung des Ghettos und die Deportation in die Konzentrations- lager Majdanek, Auschwitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Die Namen und das Schicksal ermordeter Freunde und Verwandter nennt Schupack ausdrücklich, um den Toten »ein Denkmal zu setzen«. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 13. Verpflegung 47

VERPFLEGUNG

Die Verpflegung in Buna-Monowitz war von völlig unzureichender Qualität und bestand überwiegend aus Suppe: Um zwölf Uhr gab es auf der Baustelle für jeden Häftling etwa einen Dreiviertelliter »Buna-Suppe«. Diesen Namen erhielt das Gebräu, weil es wie Gummi, Buna, schmeckte. Es bestand aus Nesseln, Gras, Grünzeug, manchmal einer Kartoffel und hatte so gut wie keinen Nährwert. Abends nach dem Appell gab es wiederum Suppe, meist auf der Grundlage von Kartoffeln. Die Nahrung in Buna-Monowitz enthielt fast kein Eiweiß, kaum Vitamine und Fette. Sie führte häufig zu Durchfall, da der ausgezehrte Körper so gut wie keine Magensäure und Darmsäfte mehr produzieren konnte. Durch die Mangel- ernährung und die fehlenden Kalorien verloren die schwer arbeitenden Männer zwei bis vier Kilogramm Gewicht pro Woche. Wer keine Möglichkeit fand, zusätz- liches Essen zu bekommen, war nach etwa drei Monaten völlig geschwächt. In der Lagersprache wurden diese Menschen, die meist bald einer »Selektion« zum Opfer fielen, »Muselmänner« genannt.

ESSENSRATIONEN FÜR HÄFTLINGE Morgens: »Ersatzkaffee«, ca. ⅕ Laib minderwertiges Brot, 8 – 20 g Margarine Mittags: »Buna-Suppe« Abends: Suppe 1 x in der Woche: 30 g minderwertige Wurst (Außenkommandos: 3 x in der Woche), 100 g Quark, 50 g Marmelade

»Um 5 Uhr 30 der schicksalhafte Ruf ›Aufstehen!‹, der den Beginn der täglichen Prüfungen kennzeichnet. Kurze Toilette für die, die sich noch um ihre Sauberkeit sorgen. Verteilung des Brots, begleitet von einem Viereck Margarine, der Scheibe Wurst oder dem Stückchen Käse. […] Das Brot schluckt man hinunter. In gesam- melter Stille paßt jeder auf, daß auch nicht ein Krümel zu Boden fällt. Die Löffelstiele, sorgfältig geschärft, schneiden ins Brotstück, verstreichen die Margarine, halbieren die Wurstscheibe. Man kaut langsam, um Saft zu produzieren und die Verdauung zu erleichtern. […] Dann der Morgenappell, kurz, damit der Auszug zur Fabrik nicht verzögert wird.« Paul Steinberg | Chronik aus einer dunklen Welt, München 1998, S. 71

Zur Person: Paul Steinberg ▸ vgl. S. 36 48 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 14. Hygiene

HYGIENE

Im Lager war es beinahe unmöglich, ein Mindestmaß an Hygiene aufrecht- zuerhalten. Für Tausende von Häftlingen gab es nur fünf Waschbaracken. Der Boden der dunklen, zugigen Waschräume war schlammbedeckt. Das Wasser war unge- nießbar, roch abscheulich und setzte oft stundenlang aus. Einmal in der Woche sollten die Häftlinge duschen, aber nur einmal pro Monat erhielten sie ein Stück- chen sandiger, fettfreier Seife, das sofort zerfiel. Pflegeprodukte oder -utensilien (etwa Zahnbürsten) standen ihnen nicht zur Verfügung. Durch das Rasieren mit dem einzigen Rasiermesser der Baracke infizierten sich viele der Reihe nach mit Bartflechte. Die Kleidung der Häftlinge wurde alle sechs bis acht Wochen eingesammelt und mit Dampf desinfiziert. Gewaschen wurde sie nie, geflickt nur in einzelnen Fällen. Die Läusekontrollen führten zur Desinfizierung aller Kleidungsstücke der Bewohner eines Blocks, nicht aber zu einer gründlichen Bekämpfung des Ungezie- fers. Das begünstigte beispielsweise 1942 die Verbreitung von Fleckfieber.

Latrinenbaracke im Lager Auschwitz-Birkenau | Auschwitz, 1945 | Fotograf unbe- kannt | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau Sechs Toilettengebäude, sogenannte Latrinen wie diese im Lager Auschwitz- Birkenau, gab es im Lager Buna-Monowitz. Es waren einfache Plumpsklos ohne Wasserspülung, die völlig verschmutzt waren, weil die Häftlinge häufig an Magen- Darm-Krankheiten litten. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 14. Hygiene 49

»In Monowitz gibt es zwar in jedem Block einen Waschraum, jedoch keine Aborte. Das ist ein Luxus, den ich erst später im Stammlager Auschwitz, einer ehemaligen Kaserne, kennenlernen sollte. Da, wo ich jetzt bin, gibt es hingegen nur das ›Scheißhaus‹, ein Brettergestell über einem Graben. […] Dazu kommt, dass der Zugang zu den Latrinen für den einfachen Häftling nicht immer gestattet ist.«

Willy Berler | Durch die Hölle. Monowitz, Auschwitz, Groß-Rosen, Buchenwald, Augsburg 2003, S. 60

Zur Person: Willy Berler ▸ vgl. S. 35 Zum Text: Nach einigen Monaten in Buna-Monowitz gelangte Berler mit Hilfe des Blockältesten in das Stammlager, Auschwitz I. Das Stammlager war auf dem Ge- lände einer ehemaligen Kaserne errichtet worden und bestand nach dem Ausbau aus 28 gemauerten Ziegelsteingebäuden. Die hygienischen Bedingungen waren ein wenig besser als in den einfachen Baracken in Buna-Monowitz. 50 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 15. Krankheit

KRANKHEIT

Aufgrund miserabler Arbeitsumstände und vollkommen unzulänglicher Ver- pflegung, Kleidung und Unterbringung waren die Häftlinge körperlich geschwächt und daher sehr anfällig für Infektionen und Krankheiten. Fehlende Arbeitsschutz- kleidung, Unfälle und Prügelstrafen führten zudem zu zahlreichen Verletzungen. Der ehemalige Häftling Dr. Robert Waitz sagte im Jahr 1962, unter »normalen Ver- hältnissen« hätten 90 Prozent der Häftlinge von Monowitz »in ein Krankenhaus eingeliefert werden müssen«. Die Ausstattung des Häftlingskrankenbaus entsprach bei weitem nicht den Notwendigkeiten eines Krankenhauses. Neben qualifiziertem Personal und angemessener Ernährung fehlte es an den wichtigsten Medikamenten und an Ver- bandsmaterial, Geräten, Räumlichkeiten und Betten. Hautkrankheiten und eitrige Entzündungen wurden mit einfachen Salben behandelt, die oft keine Wirkung zeigten. Häftlinge, die chronisch krank waren, deren Erkrankung eine gewisse Dauer überstieg, die zu viele Rückfälle bekamen oder die unter Krankheiten mit großer Ansteckungsgefahr litten, wurden nach Birkenau geschickt und in den Gaskam- mern ermordet.

Häufig auftretende Krankheiten in Buna-Monowitz: Ödeme, Hautinfektionen, Diarrhö, Erkältungskrankheiten, Bronchitis/Lungen- entzündung, Arthritis, Erfrierungen, Windpocken, Scharlach, Diphtherie, Typhus, Krätze, Phlegmone, Magen- und Darmgeschwüre, Akute Ohrenentzündung, Leisten- brüche, Entkräftung, Unfallerkrankungen

1942 1943 1944 Januar 760 730 Februar 540 155 März 540 230 April 840 280 Mai 560 95 Juni 235 60 Juli 185 125 August 240 130 September 195 70 Oktober 220 385 November 250 450 15 Dezember 590 170 10 Insgesamt 840 4.890 2.285

Zahlen der aus dem Häftlingskrankenbau in Buna-Monowitz nach Auschwitz (Stammlager) und Birkenau verbrachten Häftlinge (Monatsstatistik) | Angaben anhand des Diagramms der Überstellungen (Verlegungen), zitiert nach Antoni Makowski, »Organisation, Entwicklung und Tätigkeit des Häftlings-Krankenbaus in Monowitz (KL Auschwitz III)«, in: Hefte von Auschwitz, Jg. 15 (1975) Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 15. Krankheit 51

»Der Andrang von Kranken war immer sehr groß und überstieg die Kapazitäten der verschiedenen Abteilungen;

Leonardo De Benedetti | um den Neuankömmlingen Platz zu machen, wurde daher 1935, mit seinem täglich eine gewisse Zahl von Kranken entlassen, die Kollegen Roberto nicht vollständig genesen und immer noch in sehr ge- Guastalla (rechts) im Hof des Ospedale schwächtem Allgemeinzustand waren; trotzdem mussten Mauriziano in Turin | sie am folgenden Tag die Arbeit wiederaufnehmen.« Mailand, Fondazione Centro di Documenta- Leonardo De Benedetti, Primo Levi | »Bericht über die hygienisch-medizinische zione Ebraica Contem- Organisation des Konzentrationslagers für Juden in Monowitz (Auschwitz – Ober- poranea (Fondo Guastalla schlesien) 1945 – 1946, in: Primo Levi, So war Auschwitz. Zeugnisse 1945 – 1986, Pons Alda, inv. 619-016) München 2017, S. 41 f.

Zur Person: Leonardo De Benedetti (1898 – 1983) arbeitete in Rivoli als Arzt, bis er 1938 aufgrund der Rassegesetze gezwungen war, seine Praxis aufzugeben. Ein Versuch, mit seiner Frau in die Schweiz zu flüchten, misslang im Dezember 1943. Faschisten verhafteten die Eheleute. Sie kamen zunächst in das Lager Fossoli, wo De Benedetti Primo Levi kennenlernte. Am 22. Februar 1944 wurden sie nach Auschwitz deportiert. Seine Frau wurde gleich nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet, De Benedetti selbst kam nach Buna-Monowitz. Während der folgenden Monate wurde er für schwere Arbeitskommandos eingeteilt. Er überlebte vier Selektionen, bei denen er seinen Beruf erwähnte. Ab Dezember 1944 arbeitete er als Pfleger im Häftlingskranken- bau. Nach der Befreiung im Januar 1945 arbeitete De Benedetti als Arzt für die Sowjets im Zentrallager Auschwitz und in Kattowitz. Nach seiner Rückkehr nach Italien praktizierte er wieder als Arzt. Er sagte in mehreren Prozessen in der Nach- kriegszeit als Zeuge aus.

Zur Person: Primo Levi ▸ vgl. S. 29 Zum Text: Nach der Befreiung von Auschwitz beauftragte die russische Komman- dantur den Chemiker Primo Levi und den Arzt Leonardo De Benedetti, einen Bericht über die hygienisch-medizinische Organisation von Buna-Monowitz zu verfassen. Diese Dokumentation ist Levis erster Text und weist bereits den nüchter- nen und sachlichen Ton auf, für den seine autobiographische Darstellung Ist das ein Mensch? so berühmt wurde.

»Mein Bettnachbar hat die Krätze auf mich übertragen. Das Jucken hat zwischen den Fingern angefangen und sich dann nach und nach über den ganzen Körper ausgebreitet. […] Die Behandlung der Krätze fand jeden Abend statt. Man mußte vor dem Krankenbau Schlange stehen, in der Kälte, mit hundert anderen Verkrätzten. Wir wurden mit einer stark nach Schwefel riechenden ekelhaften Flüssigkeit eingerieben. Dann ließ ich mir die Verbände auf den Geschwüren 52 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 15. Krankheit

erneuern, die sich immer weiter ausbreiteten. […] Die Ruhr gab meiner elenden Verfassung den Rest. […] Im KB ist man völlig machtlos bei der Bekämpfung dieses Durchfalls, der das gemeinsame Ergebnis von körperlichem Raubbau, Brackwasser, Suppen aus weißen Rüben, roten Beten und Kohl ist. Man verabreicht dem armen Häftling ein extravagantes, Bolus alba getauftes Produkt, das nichts anderes ist als eine Art pappiger Gips […] und das man nicht ohne Würgekrämpfe hinunter- schlucken kann.« Paul Steinberg | Chronik aus einer dunklen Welt | München 1998, S. 73

Zur Person: Paul Steinberg ▸ vgl. S. 36 Zum Text: Im Winter 1943/44 erkrankte Paul Steinberg erst an Gelbsucht, dann an Ruhr und Rotlauf. Er kam todkrank in den Krankenbau. Der junge Mann überlebte dank der Hilfe der Ärzte Robert Waitz, Ohrenstein, Feldbaum und anderer fran- zösischer Häftlinge, mit denen ihn ein Netz gegenseitiger Hilfe auch nach seiner Entlassung aus dem Krankenbau verband. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 16. Selektion 53

SELEKTION — DIE »AUSWAHL ZUM TODE«

Häftlinge, die als nicht mehr »arbeitsfähig« beurteilt wurden, schickten die SS-Ärzte zur Ermordung in die Gaskammern im Vernichtungslager Birkenau. Die noch »Arbeitsfähigen« mussten weiterarbeiten, bis auch sie zu »Muselmännern« wurden. Schwache Häftlinge waren ständig in Gefahr, einer Selektion zum Opfer zu fallen. Seit April 1943 fanden Selektionen nur noch unter den jüdischen Häft- lingen statt. Die Direktion der I.G. Auschwitz regte die Selektionen bei der SS-Komman- dantur an, sobald die Arbeitsleistung der Häftlinge in den Augen der I.G.-Farben- Angestellten nachließ. Zudem wurden Selektionen durchgeführt, um neuen Platz im Krankenbau zu schaffen. Die Zahl der Selektionen im Lager lässt sich wegen der stark schwankenden Angaben der überlebenden Häftlinge und der unvollständigen Überlieferung von Dokumenten nicht mehr feststellen. Zumindest jedes Vierteljahr wurde von der SS eine Selektion durchgeführt. Im Oktober 1944 wurden circa 2.000 Häftlinge in Buna-Monowitz selektiert und in Birkenau vergast.

Diagramm zu Lagerstärke, Krankenstand, Häftlingskrankenbau von November 1942 bis Dezember 1944 | Auschwitz, Januar 1945 | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau In der Schreibstube des Häftlingskrankenbaus wurde über den Krankenstand Buch geführt. Im Lager galt die Regel, dass nur fünf Prozent aller Häftlinge krankgemeldet sein durften. 54 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 16. Selektion

»Die Zahl der Selektierten ist eindeutig zu ersehen aus der graphischen Darstellung über den Häftlingsbestand in Monowitz. […] Immer dann, wenn in der graphischen Darstellung der Häftlingsstand stark absinkt, hat eine Selektion stattgefunden. Für die Selektion, d.h. die Tötung in der Gaskammer, wurden Häftlinge aus dem Krankenrevier herausgezogen und auch aus den Lager- blöcken. Die Selektionen im Revier haben häufiger stattgefunden als im Lager. Man kann davon ausgehen, dass während der Winterszeit dann Selektionen statt- fanden, wenn ungef(ähr) 10 % aller Häftlinge arbeits- unfähig waren, im Sommer wurden Selektionen bereits durchgeführt, wenn 6 bis 7 % der Häftlinge arbeitsunfähig waren.«

Robert Elie Waitz | Richterliche Vernehmung vom 26. Juni 1962 im Auschwitz-Prozess

Zur Person: Robert Elie Waitz (1900 – 1978) wurde am 20. Mai 1900 in Neuvy- sur-Barangeon, Frankreich, geboren. Nach dem Abitur 1917 studierte er in Paris Medizin. 1933 wurde er außerordentlicher Professor an der Université Strasbourg. Nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich im Mai 1940 betätigte er sich aktiv im französischen Widerstand. Im Juli 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet und wegen seiner jüdischen Herkunft im Sammellager Drancy interniert. Von dort aus wurde er am 10. Oktober 1943 nach Auschwitz deportiert und als Häftlingsarzt in der »Inneren Ambulanz« im Häftlingskrankenbau des Lagers Buna-Monowitz ein- gesetzt. Im Januar 1945 wurde Waitz auf den Todesmarsch nach Gleiwitz getrieben und von dort nach Buchenwald gebracht. Er arbeitete als Freiwilliger im Fleckfie- berblock bis zur Befreiung durch die U.S. Army im April 1945. Waitz kehrte nach Straßburg zurück, wo er 1946 ordentlicher Professor an der Universität wurde. Bereits 1947 veröffentlichte er einen Bericht über seine Arbeit im Häftlingskrankenbau. Er sagte in mehreren Nachkriegsprozessen als Zeuge aus.

»Den Ausdruck ›Selektion‹ habe ich erst in Monowitz kennengelernt. Er hieß dort ›Auswahl zum Tode‹.«

Curt Posener | Aussage im Wollheim-Prozess vom 20. November 1952

»Von seiten der Bauleitung sind sehr oft an die SS-Lagerführung Beschwerden gerichtet worden, dass so viele kranke Häftlinge im Arbeitsvorgang nicht folgen konnten. Man verlangte seitens der Werksleitung, dass die arbeitsunfähig erkrankten Häftlinge gegen gesunde Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 16. Selektion 55 ausgetauscht wurden. Dieser Austausch bedeutete, dass die arbeitsunfähig erkrankten Häftlinge in die Vergasung nach Birkenau gingen und dass dafür neue Häftlinge aus Auschwitz angefordert wurden. Über diese Tatsache wurde in den Kreisen der deutschen Meister und Zivilangestellten ganz offen gesprochen, und es ist wiederholt vorgekommen, dass deutsche Meister mit diesem Tatbestand drohten, um Häftlinge zu erhöhter Arbeitsleistung anzutreiben.«

Curt Posener | Eidesstattliche Erklärung vom 3. Juni 1947 im I.G.-Farben-Prozess

Zur Person: Curt Posener wurde am 14. Oktober 1902 in Hohensalza in Posen (der heutigen polnischen Stadt Inowrocław) in eine jüdische Familie geboren. Als nach dem Ersten Weltkrieg die Stadt polnisch wurde, wurde er nach Deutschland ausgewiesen. Er beendete die mittlere Reife in Frankfurt an der Oder und machte eine kaufmännische Lehre. Später arbeitete er in Hamburg und war Mitglied einer kommunistischen Widerstandsgruppe. Er wurde mehrmals verhaftet, kam jedoch wieder frei. Sein Versuch, in Dänemark 1936 ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, scheiterte. 1937 wurde er nach Deutschland zurückgeschickt und der Gestapo übergeben. Er kam zunächst ins KZ Dachau, im September 1938 nach Buchenwald und im Oktober 1942 nach Auschwitz. In Buna-Monowitz arbeitete er als Verwalter im »Technischen Lager Buna« für die I.G. Farben. Posener sagte als Zeuge in mehreren Nachkriegsprozessen aus. 56 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 17. Widerstand

WIDERSTAND

»Alltäglicher« Widerstand Im Alltag eines Konzentrationslagerhäftlings muss gegenseitige Hilfe bereits als Akt des Widerstands gegen das System des Konzentrationslagers gewer- tet werden. Alltäglich-menschliche, kulturelle oder religiöse Handlungen erforderten Kraft, welche die ausgemergelten Häftlinge oft nicht aufbringen konnten. Dennoch berichteten Überlebende von improvisierten Jahrestag- feiern, Bildungsarbeit oder religiösen Zusammenkünften.

»Organisierter« Widerstand Einer kleinen Anzahl von Häftlingen gelang es, trotz der strengen Bewachung und der geringen Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt organisierten Wider- stand gegen die SS und die Lagerbedingungen zu leisten.

»Wir versuchten, Widerstand in jeglicher Form zu leisten, z.B. durch Sabotageakte am Arbeitsplatz. Allerdings mußten wir mit schärfsten Repressalien und Strafen rechnen, selbst wenn so geringe Sachen geschahen wie einen Zementsack fallen zu lassen, damit der zerriß. Vor dem Einrücken ins Lager hängten wir manchmal einen Wasserschlauch in einen Zementwaggon und drehten den Wasserhahn auf.«

Fritz Kleinmann | in: Reinhold Gärtner, Fritz Kleinmann (Hrsg.), Doch der Hund will Fritz Kleinmann | nicht krepieren … Tagebuchnotizen aus Auschwitz, Thaur 1995, S. 98 1945, mit seinem Vater Gustav Kleinmann Zur Person: Fritz Kleinmann (1923 – 2009) kam als drittes von vier Kindern in Wien in Wien | Wien, Peter zur Welt. Der Vater, Gustav Kleinmann, war im polnischen Zabłocie geboren und Kleinmann arbeitete als Tapezierer. Die jüdische Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen. Im September 1939 wurden Fritz Kleinmann und sein Vater mit anderen Männern polnisch-jüdischer Herkunft nach Buchenwald verschleppt. Er kam in die neu ge- gründete Maurerschule. Als der Vater weiterdeportiert werden sollte, meldete sich Kleinmann freiwillig, um mitzukommen. Am 18. Oktober 1942 wurden beide ins KZ Auschwitz und kurz darauf nach Buna-Monowitz gebracht. Zunächst arbeitete Kleinmann im Straßenbau, bis er Arbeit als Maurer fand. Dadurch hatte er Gele- genheit, mit Zivilisten zusammenzuarbeiten, deren Lebensmittelgeschenke ihm ab und an halfen. Er schloss sich zudem einer Widerstandsgruppe an. Nach der Räumung des Lagers im Januar 1945 sprang Kleinmann während der Fahrt durch Österreich aus dem Zug und versuchte nach Wien zu gelangen. Er wurde aufgegriffen und im Gefängnis eingesperrt. Da man ihn für einen Deserteur hielt, kam er als »Arier« ins KZ Mauthausen. Am 5. Mai 1945 befreite ihn hier die U.S. Army. Er kehrte zurück nach Wien, wo er auch seinen Vater wiedertraf. Mühsam baute er sich eine neue Existenz auf. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 17. Widerstand 57

Zum Text: Das Buch enthält das geheime Tagebuch des Vaters, das dieser unter Lebensgefahr führte, sowie einen autobiographischen Text Fritz Kleinmanns mit seinen Erinnerungen an die Zeit in Buchenwald und Auschwitz. Darin schildert er seine schlimmen Misshandlungen, aber auch die Solidarität unter den politischen Häftlingen zunächst im KZ Buchenwald, später in Buna-Monowitz. So berichtet Kleinmann, dass er in Buchenwald nur dank der großen Unterstützung von Mit- gefangenen überleben konnte, die, wie zum Beispiel die todgeweihten Ruhrkran- ken, im Krankenrevier zugunsten der Kinder und Jugendlichen auf die Hälfte ihrer Kost verzichteten. Besonders bezeichnend ist der Zusammenhalt von Vater und Sohn während ihrer gemeinsamen Zeit. 2019 verarbeitete Jeremy Dronfield die Ge- schichte von Fritz Kleinmann im Buch Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte (Droemer HC).

»Wir Häftlinge berieten jeden Abend, wie wir dem unhaltbaren Ernährungszustand und der damit für uns alle drohenden Katastrophe begegnen könnten. Wir kamen zu dem Entschluss, dass einer von uns das überaus gefährliche Experiment wagen müsse, Außenstehende – z.B. maßgebende Herren der IG – zu verständigen und ihnen das Unmögliche unserer Lage zu beweisen. Einige Häftlinge versuchten auf ihrem Arbeitsplatz, IG-Meister und andere Aufsichtspersonen aufzuklären, was der Grund für das Nachlassen der Arbeitsleistung der Häft- linge, ihre Körperschwäche und das daraus folgende Zusammenbrechen am Arbeitsplatz sei. Die Folge war, dass diese Meister Meldungen u.a. auch an die Lager- führung erstatteten, worauf einige Häftlinge von der SS schwerstens bestraft wurden.« Heinrich Schuster | Eidesstattliche Erklärung vom 13. Oktober 1947 im I.G.-Farben- Prozess

Zur Person: Heinrich Schuster wurde am 9. Mai 1907 in Voitsberg in Österreich geboren. Er wurde 1940 in Klagenfurt verhaftet. Im April 1942 wurde er als politischer Häftling zunächst nach Auschwitz ins Stammlager deportiert und im Oktober nach Buna-Monowitz gebracht. Hier hatte er für kurze Zeit als Lagerältester die Organisation des Krankenbaus inne, obwohl er über keinerlei ärztliche Ausbildung verfügte. Mithäftlinge beschrieben ihn zwar als »menschlich«, allerdings hatte seine fehlende Qualifikation negative Auswirkungen für die Patienten: Die Todesrate war extrem hoch. Im März 1943 kam er in das Außenlager Jawischowitz und einige Monate später nach Birkenau. Während der Todesmärsche im Januar 1945 unternahm er einen Fluchtversuch. Er wurde nach zwei Tagen gefasst und in Dachau interniert, wo er am 29. April von der U.S. Army befreit wurde. 58 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 17. Widerstand

»Gleichwohl muß ich gestehen, daß ich sowohl für die religiösen als auch für die politisch engagierten Kameraden große Bewunderung empfand und empfinde. Sie waren in unserem hier angenommenen Sinne ›geistig‹, oder sie waren es nicht, das spielte keine Rolle. So oder so war ihnen ihr politischer oder religiöser Glaube in den entscheidenden Momenten eine unschätzbare Hilfe, während wir skeptisch-humanistischen Intellektuellen vergebens unsere literarischen, philosophischen, künstleri- schen Hausgötter anriefen. Sie mochten militante Marxisten sein, sektiererische Bibelforscher, praktizierende Katholiken, sie mochten hochgebildete Nationalökonomen und Theologen sein oder wenig belesene Arbeiter und Bauern: ihr Glaube oder ihre Ideologie gab ihnen jenen festen Punkt in der Welt, von dem aus sie geistig den SS-Staat aus den Angeln hoben. Sie lasen unter unaus- denkbar schwierigen Bedingungen die Messe, und sie fasteten als orthodoxe Juden am Versöhnungstag, wie wohl sie ohnehin das ganze Jahr im Zustand wütenden Hungers lebten. Sie diskutierten marxistisch über die Zukunft Europas, oder sie sagten nur beharrlich: Die Sowjetunion wird und muß siegen. Sie überstanden besser oder starben würdiger als ihre vielfach unendlich gebilde- teren und im exakten Denken geübteren nichtgläubigen beziehungsweise unpolitischen intellektuellen Kameraden.« Jean Améry | Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Über- wältigten, Stuttgart 1997, S. 34

Zur Person: Jean Améry ▸ vgl. S. 40 Zum Text: Das schreibt Améry im ersten Essay mit dem Titel »An den Grenzen des Geistes« aus dem 1966 erstmals erschienenen Band Jenseits von Schuld und Sühne. Darin setzt er sich mit der Frage auseinander, warum humanistische Ideale für einen intellektuellen KZ-Häftling keine Hilfe waren, ja sich sogar selbstzer- störerisch auswirkten. Der Intellektuelle kann angesichts seines humanistischen Weltbildes die SS-Logik der Vernichtung nicht begreifen, im Gegensatz zu seinen »ungeistigen« Kameraden. Ein geistiger Mensch konnte aus dem Lager keine »Weisheiten« mitnehmen, die Erfahrungen konnten lediglich eine positive Identi- tät beschädigen. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 18. Bombenangriffe 59

BOMBENANGRIFFE

Das I.G.-Farben-Werk in Auschwitz-Monowitz wurde am 4. April 1944 wäh- rend eines amerikanischen Aufklärungsflugs fotografiert. Weitere Flüge über das Gelände folgten zwischen Ende Mai und Mitte August 1944. Am 20. August 1944 griff die U.S. Air Force die Werksbauten an. Die Bombar- dierung richtete erhebliche Schäden an den Produktionsanlagen der I.G. Auschwitz an. Es folgten drei weitere Angriffe. Am 13. September wurden schätzungsweise 300 Personen verletzt und getötet, darunter auch SS-Männer. Das letzte Bombardement der amerikanischen Luftwaffe auf das Werk der I.G. Farben fand am 19. Januar 1945 statt, einen Tag nach Beginn der Räumung des KZ Buna-Monowitz.

Aufnahme der US-amerikanischen Luftaufklärung vom I.G.-Farben-Gelände | Auschwitz, 26. Juni 1944 | Washington, DC, United States Holocaust Memorial Museum 60 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 18. Bombenangriffe

»Wer könnte wohl glauben, daß plötzlich eine Lebens- gefahr entstand, die uns nicht nur willkommen war, nach der wir uns sogar sehnten? Ich kann mich nicht genau erinnern, ob es Sirenen oder das Gesumme von Bombern war, das ›Herren‹ und ›Sklaven‹ vereinte – alle liefen in Deckung. Oh, welch herrlicher Ausblick: die SS, die ›Herren‹ und ›Obersten der Herrenrasse‹ zu beobachten, wie sie alle Würde vergaßen, ihre Gefangenen sich selbst überließen und um die Wette rannten, um ihr erbärmliches Leben zu retten. Ich hatte den Eindruck, daß sie – solange Bombengefahr bestand – keinen Finger rühren würden, falls jemand während dieses Durcheinanders flüchtete. Ich wollte gerade diese erheiternde Beobachtung meinem Vater mitteilen, als das sonore Dröhnen der herankommenden Flugzeuge direkt über uns schien. Alle Anwesenden warfen sich nieder, Vater und ich landeten in einem Graben an der Wegseite.«

Henry Wermuth | Atme, mein Sohn, atme tief. Die Überlebensgeschichte, Frankfurt am Main 1996, S. 206

Zur Person: Heinz – gerufen Henry – Wermuth (1923 – 2020) wurde am 4. April 1923 geboren. Die Eltern stammten aus Polen. Mit ihnen und seiner Schwester Hanna lebte er in seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main. 1937 begann Wermuth eine Lehre in der Lederwarenfabrik seines Onkels. Am 28. Oktober 1938 wurde die Familie von der Gestapo abgeholt und nach Polen abgeschoben. Sie fanden Unterschlupf bei Verwandten in Krakau, mussten jedoch 1940 nach Bochnia ziehen, wo im März 1941 ein Ghetto eingerichtet wurde. Am 24. August 1942 wurden die Mutter und die Schwester in das Vernichtungslager Belzec deportiert und dort ermordet. Wermuth und sein Vater Bernhard mussten in verschiedenen Lagern Zwangsarbeit leisten. Zusammen kamen sie im Juli 1944 aus dem KZ Plaszow nach Buna-Monowitz. Mitte Januar 1945 wurden Vater und Sohn nach Nordhausen beziehungsweise nach Osterode am Harz zum Tunnelbau und später nach Maut- hausen gebracht. Der Vater erhielt einen Schlag auf den Kopf und starb im Zug nach Mauthausen, wenige Tage vor der Befreiung des Lagers am 5. Mai 1945 durch die Amerikaner. Wermuth überlebte als Einziger der Familie. Er zog nach London, heiratete und hatte zwei Kinder. Zum Text: Wermuth fasste bereits 1943 den Entschluss, seine Lebensgeschichte Heinz Wermuth | aufzuschreiben. Nach dem Krieg hielten ihn Zweifel darüber, wie er die unvorstell- 1930er Jahre, mit sei- baren Gräueltaten überhaupt in Worte fassen könnte, davon ab, das Vorhaben in nem Vater Bernhard | die Tat umzusetzen. Hinzu kam das Bewusstsein, dass er viele Namen, Daten und London, Ilana Metzger sogar Ereignisse inzwischen vergessen hatte. Ein Cousin überzeugte ihn schließlich davon, seine Geschichte dennoch zu Papier zu bringen. Wermuth schildert in seinem Bericht in klarer Sprache und in chronologi- scher Reihenfolge seine Jugend in Frankfurt am Main, die Verschleppung nach Polen und die Deportation in verschiedene Konzentrationslager. Der Bericht endet mit der Befreiung durch die Amerikaner und den ersten Tagen danach. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 19. Todesmärsche 61

TODESMÄRSCHE

Tausende von Menschen kamen in den letzten Monaten vor der Befreiung auf Todesmärschen und Transporten oder in den Lagern um. Die SS räumte die Lager in und um Auschwitz und trieb circa 56.000 Häftlinge nach Westen. Am Abend des 18. Januar 1945 mussten sich alle 10.000 Häftlinge des Lagers Buna-Monowitz auf dem Appellplatz versammeln und in Kolonnen von je 1.000 Personen formieren. Die meisten besaßen nicht viel mehr als die dünne Häftlingsuniform, ihre Decke, den Essensnapf und Stoffschuhe mit Holzsohle. Diese und die folgende Nacht trieben SS-Männer die ausgemergelten Häftlinge durch Schnee und Sturm Richtung Westen. Wer zurückblieb oder am Straßen- rand zusammensank, wurde von ihnen erschossen. In Gleiwitz, circa 60 Kilometer vom Lager Buna-Monowitz entfernt, wurden die Häftlinge in offene Viehwaggons gepfercht und in oft tagelanger Fahrt in andere Konzentrationslager verschleppt. Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz durch die sowjetische Armee befreit. Im gesamten Lagerkomplex Auschwitz waren 7.000 kranke und entkräftete Häft- linge verblieben, davon 650 in Buna-Monowitz.

»Um sechs Uhr läutete die Glocke. Die Totenglocke. Das Begräbnis. Der Trauerzug sollte sich in Bewegung setzen. ›Antreten! Wird’s bald!‹ Im Handumdrehen waren wir alle blockweise angetreten. Die Nacht fiel ein. Alles ging planmäßig, wie am Schnürchen. Die Scheinwerfer leuchteten auf. Hunderte von SS-Männern, begleitet von Schäferhunden, enttauchten der Dunkelheit. Es schneite noch immer. Die Tore des Lagers gingen auf. Dahinter schien uns eine noch dunklere Nacht zu erwarten. Die ersten Blocks setzten sich in Bewegung. Wir warteten. Wir mußten den Abmarsch von sechsundfünfzig Blocks, die vor uns kamen, abwarten. Es war bitter kalt. Ich hatte zwei Stück Brot in der Tasche. Wie gern hätte ich sie gegessen! Aber ich durfte nicht. Noch nicht. Nun kamen wir bald an die Reihe: Block 53 … Block 55 … Block 57. Ohne Tritt, marsch! […] Als die SS-Männer müde waren, wurden sie abgelöst. Uns löste niemand ab. Trotz des Laufens durchgefroren, die Kehle ausgetrocknet, ausgehungert, außer Atem, liefen wir weiter.«

Elie Wiesel | »Die Nacht« In: ders., Die Nacht zu begraben, Elischa, München 2005, S. 200 f. 62 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 19. Todesmärsche

Zur Person: Elie (Eliezer) Wiesel (1928 – 2016) wurde am 30. September 1928 als drittes Kind eines jüdischen Kaufmanns in Sighet in Rumänien geboren. Er hatte zwei ältere Schwestern, Hilda und Beatrice (Bea), und eine jüngere, Tzipora. Der Großvater, Reb Dodye Feig, war ein tief religiöser Chassid und übte einen starken Einfluss auf den jungen Wiesel aus. 1940 fiel Sighet an Ungarn. Im Frühjahr 1944 marschierte die Wehrmacht in Ungarn ein und die Familie Wiesel musste ins Ghetto in Sighet umziehen. Im Mai 1944 wurden alle nach Auschwitz deportiert. Die Mutter Sarah Wiesel und seine jüngste Schwester Tzipora wurden direkt nach der Ankunft ermordet. Wiesel und sein Vater Shlomo mussten als Zwangsarbeiter für die I.G. Farben schwere Trans- portarbeiten verrichten. Im Januar 1945 wurden sie auf dem Todesmarsch über Gleiwitz ins KZ Buchenwald getrieben. Shlomo Wiesel verstarb völlig entkräftet am 29. Januar 1945. Elie Wiesel wurde am 11. April 1945 von der U.S. Army befreit. Er ging nach Frankreich, lernte Französisch, studierte an der Sorbonne und Elie Wiesel | 2003 begann als Journalist zu arbeiten. 1955 wanderte er nach New York aus. Seit Mitte in Rom | Köln, Foto der 1960er Jahre setzte er sich für Verfolgte in verschiedensten Regionen der Welt Marcello Pezzetti ein. Im Jahr 1986 wurde Wiesel der Friedensnobelpreis verliehen. Zum Text: Auf einer Reise nach Brasilien im Jahr 1954 schrieb Wiesel seine Erinne- rungen an die Zeit im KZ Buna-Monowitz auf Jiddisch nieder. Das Buch wurde 1956 in Buenos Aires veröffentlicht; eine überarbeitete und gekürzte Fassung erschien 1958 unter dem Titel La Nuit auf Französisch. Der Text beginnt vor dem Einmarsch der Deutschen in Ungarn und endet mit der Befreiung aus Buchenwald. Er ist nicht in Kapitel, sondern in viele kurze Erzähl- abschnitte eingeteilt, die durch Leerzeilen – Momente des Schweigens – vonei- nander getrennt sind. Es entstehen eindrückliche Szenen, in denen die Gefühle und Eindrücke Eliezers, des Ich-Erzählers, zur Sprache kommen. Das Geschehen wird nicht interpretiert oder kontextualisiert. An einigen Stellen sind literarische Bilder, wie zum Beispiel die Vision eines Feuers im Deportationszug, eingearbeitet. Sie weisen auf den Fortgang der Handlung hin. Damit macht Wiesel kulturelle und theologische Deutungsangebote, die über einen reinen Bericht hinausgehen. Der Text kann als literarische Gestaltung eines Zeugenberichts verstanden werden.

Transporte von Häftlingen in offenen Güterwaggons im Januar 1945 | Kolín (Tschechische Republik), Januar 1945 | Fotograf unbekannt | Oświęcim, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau 63 Janinagrube Trzebinia Jaworzno Neu-Dachs Bobrek Monowitz Sosnowitz Jawischowitz Fürstengrube Birkenau Günthergrube Laurahütte KL Auschwitz- Pless Tschechowitz hütte Bismarck- 55 km Hubertushütte Eintrachthütte

Althammer 63km Sohrau Hindenburg Golleschau RYBNIK GLEIWITZ Leszczyny GROSS STREHLITZ GROSS Blachownia Blechhammer Charlotten- grube

r Ratibor der Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz im Januar 1945 Auschwitz Konzentrationslagers des der Häftlinge

e Cosel d O

Bahnwege SCHEMATISCHE DARSTELLUNG DER WICHTIGSTEN MARSCHROUTEN WICHTIGSTEN DER DARSTELLUNG SCHEMATISCHE Leobschütz Katscher

Straßen Prudnik

KL Auschwitz Neustadt

Nebenlager des KL Groß-Rosen

Rote Armee 64 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 20. Befreiung

BEFREIUNG

»Wir waren etwa achthundert, die im Krankenbau von Buna-Monowitz zurückblieben. Davon starben ungefähr fünfhundert infolge ihrer Krankheiten, erfroren oder verhungerten, noch ehe die Russen kamen, und weitere zweihundert starben trotz aller Hilfe in den unmittelbar folgenden Tagen. Die erste russische Patrouille tauchte gegen Mittag des 27. Januar 1945 in Sichtweite des Lagers auf. Charles und ich entdeckten sie zuerst: wir waren dabei, die Leiche Sómogyis, des ersten, der aus unserem Raum gestorben war, in das Massengrab zu transportieren. Wir kippten die Bahre auf dem zertretenen Schnee aus, denn da das Grab inzwischen voll war, gab es keine andere Begräbnismöglichkeit. Charles nahm die Mütze ab, um die Lebenden und die Toten zu grüßen. Es waren vier junge Soldaten zu Pferde; vorsichtig ritten sie mit erhobenen Maschinen- pistolen die Straße entlang, die das Lager begrenzte. Als sie den Stacheldraht erreicht hatten, hielten sie an, um sich umzusehen, wechselten ein paar Worte und blickten wieder, von einer seltsamen Befangenheit gebannt, auf die durcheinanderliegenden Leichen, die zerstörten Baracken und auf uns wenige Lebende. Sie grüßten nicht, lächelten nicht; sie schienen befangen, nicht so sehr aus Mitleid, als aus einer unbestimmten Hemmung heraus, die ihnen den Mund verschloß und ihre Augen an das düstere Schauspiel gefesselt hielt. Es war die gleiche wohlbekannte Scham, die uns nach den Selektionen und immer dann überkam, wenn wir Zeuge einer Mißhandlung sein oder sie selbst erdulden mußten: jene Scham, die die Deutschen nicht kannten, die der Gerechte empfindet vor einer Schuld, die ein anderer auf sich lädt und die ihn quält, weil sie existiert, weil sie unwiderruflich in die Welt der existenten Dinge Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 20. Befreiung 65 eingebracht ist und weil sein guter Wille nichts oder nicht viel gilt und ohnmächtig ist, sie zu verhindern. So schlug auch die Stunde der Freiheit für uns ernst und lastend und erfüllte unsere Seelen mit Freude und zugleich einem schmerzlichen Schamgefühl, um dessentwillen wir gewünscht hätten, unser Bewußtsein und unser Gedächtnis vor dem Greuel, den es beherbergte, reinzu- waschen: und mit Qual, weil wir spürten, daß es nicht möglich war, daß nie irgend etwas so Gutes und Reines kommen könnte, das unsere Vergangenheit auslöschen würde, und daß die Spuren der Versündigung für immer in uns bleiben würden, in der Erinnerung derer, die miterlebt haben, an den Orten, wo es geschehen war, und in den Berichten, die wir darüber abgeben würden.«

Primo Levi | Die Atempause, München 1988, S. 181 f. (gekürzt)

Zur Person: Primo Levi ▸ vgl. S. 29 Zum Text: In seinem zweiten autobiographischen Bericht, La tregua (1963, dt. Die Atempause), schildert Levi die Odyssee seiner monatelangen Heimreise nach der Befreiung von Auschwitz, die ihn über die Ukraine und Weißrussland zurück nach Italien führte. Er beschreibt das vom Krieg zerstörte Europa und verbindet dies mit Reflexionen über die Rückkehr eines Auschwitz-Überlebenden in die Gesellschaft der Menschen. 66 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 21. Todesopfer

DIE ZAHLEN DER TOTEN

Über die Zahl der Toten im Konzentrationslager Buna-Monowitz gibt es voneinander abweichende Schätzungen. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die systematische Aktenvernichtung sowohl durch die SS als auch durch Mitarbeiter der I.G. Farben. Neben der lückenhaft überlieferten Häftlingskartei und den Toten- büchern des Lagers Buna-Monowitz haben Überlebende des Lagers die Anzahl der ermordeten Häftlinge geschätzt. Ihre Angaben schwanken zwischen mindestens 23.000 und höchstens 40.000 Toten. In der jüngeren Forschung wird von insge- samt 30.000 Häftlingen ausgegangen, die im KZ Buna-Monowitz, auf der Baustelle der I.G. Auschwitz und in den Gaskammern von Birkenau umkamen. Im gesamten Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau kamen zwischen 1940 und 1945 etwa 200.000 Häftlinge, die bei ihrer Ankunft registriert worden waren, ums Leben. Etwa 900.000 Menschen wurden ohne Registrierung in den Gaskammern ermordet.

Die Zahl der Opfer von Auschwitz-Birkenau* 1940 – 1945: OPFERGRUPPEN DEPORTIERTE, DIE VON REGISTRIERTE INSGESAMT DER RAMPE WEG, HÄFTLINGE, UNREGISTRIERT, DIE IM LAGER IN DEN GASKAMMERN UMGEKOMMEN BZW. DURCH EXEKU- SIND TIONEN UMGEBRACHT WURDEN Juden 865.000 95.000 960.000 Polen 10.000 64.000 74.000 Sinti und Roma 2.000 19.000 21.000 Sowjetische Kriegsgefangene 3.000 12.000 15.000 Andere keine Angaben 12.000 12.000 Insgesamt 880.000 202.000 1.082.000

* Die Bezeichnung ›Auschwitz-Birkenau‹ meint Auschwitz I (Stammlager), Auschwitz II (Birkenau) sowie Buna-Monowitz und die Nebenlager (Auschwitz III).

Franciszek Piper | Die Zahl der Opfer von Auschwitz | Staatliches Museum Auschwitz- Birkenau, 1993 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz 67

Die I.G. Farben nach 1945 und die juristische Aufarbeitung ihrer Verbrechen 68 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 22. I.G. Farben nach 1945

DIE I.G. FARBEN NACH 1945

Das I.G. Farben-Haus in der Nachkriegszeit | Frankfurt am Main, um 1950 | Walter Elkins, usarmygermany.com

1945 beschlagnahmten die Alliierten das Vermögen der I.G. Farben. In West- deutschland wurde der Konzern 1952 in die großen Gründungsfirmen aufgeteilt: BASF, Bayer, Hoechst und Cassella, die gemäß ihrer jeweiligen Betriebsgröße mit Kapital ausgestattet wurden. Die vier Firmen erhielten ein Reinvermögen von 1,64 Milliarden DM; das entsprach 90 Prozent des »Westvermögens« der I.G. Farben. Ab Oktober 1953 konnten Aktionäre ihre I.G. Farben-Aktien in Aktienpakete der Nachfolgefirmen umtauschen. Bayer, BASF und Hoechst schütteten bereits 1956 eine Dividende von je zehn Prozent aus. Als Rechtsnachfolger der I.G. entstand 1955 die »I.G. Farbenindustrie in Liquidation (i.L.)« als Aktiengesellschaft. Sie bestand bis 2003. Ihr Zweck war es, noch offene Forderungen an den Konzern zu begleichen. Außerdem sollten die Ansprüche der I.G. auf Auslandsvermögenswerte gesichert werden, insbesondere in der DDR. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 22: I.G. Farben nach 1945 69

In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) befanden sich bei Kriegsende 15 Betriebe der I.G. Farben; sie entsprachen mit einem Wert von 520 Millionen Reichsmark einem Konzernanteil von 26,7 Prozent. Die Sowjetische Militäradminis- tration wandelte einen Großteil dieser Betriebe in Sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) um, die der Aufbringung von Reparationen dienen sollten. Gleichzeitig wurden Anlagen zu Reparationszwecken demontiert, so in Bitterfeld, und in die Sowjetunion gebracht. Nach dem Abschluss der Reparationen an die Sowjetunion 1953 wurden die SAG der DDR übereignet und unter der Bezeichnung Volkseigene Betriebe (VEB) Staatseigentum. Nach dem Ende der DDR 1990 versuchte die I.G. Farben i.L. ihre alten Ansprüche auf Forstgebiete, Wohnungen, Ferienheime und Betriebe auf einer Fläche von insgesamt 151 Millionen Quadratmetern geltend zu machen. Das Bundesver- waltungsgericht bestätigte 1995 jedoch die Anfang 1949 verfügten Enteignungen von I.G. Farben-Besitz, da diese auf besatzungsrechtlicher Grundlage zustande gekommen seien. Das zentrale Verwaltungsgebäude der I.G. Farben in Frankfurt am Main wurde seit 1945 von der U.S. Army genutzt. Nach dem Abzug der amerikanischen Truppen im Jahr 1995 übernahm die Goethe-Universität das Anwesen. Schon vor dem Ein- zug begann ein Streit um die Benennung des Gebäudes. Studierende und zuneh- mend auch Lehrende bestanden erfolgreich auf der Beibehaltung des Namens »I.G. Farben-Haus«.

DAS FABRIKGELÄNDE IN OŚWIĘCIM NACH 1945 Nachdem die Rote Armee am 27. Januar 1945 das Werksgelände übernommen hatte, wurden Teile der Anlage demontiert und in einem Industriezentrum in West- sibirien wieder aufgebaut. Die verbliebenen Produktionsstätten der I.G. Auschwitz wurden fast unverändert als größtes chemisches Kombinat der Volksrepublik Polen unter anderem zur Kunststoffproduktion bis in die 1980er Jahre genutzt.

Die Syntheseanlagen zur Herstellung von Methanol und Isooctan auf der Baustelle der I.G. Auschwitz | Auschwitz, um 1943/44 | Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut 70 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 23. Nürnberger Prozess

DER NÜRNBERGER PROZESS G E G E N D I E I . G . F A R B E N (1947 / 48)

In den Nürnberger Prozessen wurden zwischen November 1945 und April 1949 führende Repräsentanten des Deutschen Reichs während des Nationalsozia- lismus angeklagt. Ab 1947 standen im sechsten Nachfolgeverfahren 24 führende Manager der I.G. Farben vor einem US-amerikanischen Militärgericht.

Blick auf die Anklagebank im Nürnberger Prozess gegen die Angehörigen der I.G. Farben | Nürnberg, 1947/48 | Washington, DC, National Archives and Records Administration Die Beschuldigten stritten die Mitverantwortung an den im Lager Buna-Monowitz und auf dem I.G. Farben-Werksgelände begangenen Verbrechen beharrlich ab. Der Versuch der Verteidigung, das KZ Buna-Monowitz als »normales Arbeitslager« und die Arbeit auf dem Werksgelände als geregelte und wenig anstrengende Tätigkeit darzustellen, schlug jedoch fehl. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 23. Nürnberger Prozess 71

ANKLAGEPUNKTE I. Vorbereitung eines Angriffskrieges II. Plünderung und Raub in annektierten und besetzten Ländern Die Anklagepunkte I, III und V wurden in den III. Teilnahme am Sklavenarbeits- Nürnberger Prozessen programm und an der Genozidpolitik das erste Mal in der des NS-Regimes Rechtsgeschichte IV. Mitgliedschaft in einer vor Gericht verhandelt. verbrecherischen Organisation V. Planung zur Verschwörung gegen den Frieden

Den zwölf Anwälten der Anklagevertretung standen 87 Strafverteidiger für die Angeklagten gegenüber. Im Laufe des Prozesses wurden von der Anklage und Neben- klage unzählige Dokumente vorgelegt und zahlreiche Zeugen gehört, darunter Überlebende des KZ Buna-Monowitz und ehemalige britische Kriegsgefangene. Die Verteidigung hatte dem wenig entgegenzusetzen. Ihre Strategie zielte daher darauf, die Verantwortung für die Verbrechen den politischen Instanzen zuzuschie- ben: Die Konzernführung sei zu den Rüstungsprogrammen genötigt, der Einsatz von KZ-Häftlingen erzwungen worden. Widerstand sei unmöglich gewesen.

Sieben ehemalige britische Kriegsgefangene traten als Zeugen der Anklage auf | Nürnberg, November 1947 | Washington, DC, National Archives and Records Administration Zwischen September 1943 und Januar 1945 waren in Auschwitz britische Kriegs- gefangene untergebracht. Sie mussten auf der Baustelle der I.G. Farben arbeiten, wurden allerdings etwas besser behandelt als andere Gruppen unfreier Arbeiter. In ihren Erklärungen berichteten sie von Misshandlungen und Ermordungen der Häftlinge durch Meister, Kapos und SS-Leute, vom schlechten Häftlingsessen und der dünnen Kleidung. 72 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 24. Urteile Nürnberger Prozess

DIE URTEILE IM NÜRNBERGER PROZESS

Ende Juli 1948 erging das Urteil. Die Schuldsprüche fielen recht milde aus, gemessen an der Schwere der Vorwürfe: Dreizehn Angeklagte erhielten Haftstrafen, zehn wurden freigesprochen.

URTEILE ZU DEN ANKLAGEPUNKTEN Zu I Freispruch Zu II Schuldig. Die neun Angeklagten wurden zu Haftstrafen zwischen eineinhalb und fünf Jahren verurteilt. Zu III Schuldig. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass die Beschuldigten aus eigener Initiative Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge beschäftigt hatten. Die fünf für den Standort unmittelbar Verantwortlichen wurden schuldig gesprochen. Freispruch: Vom Vorwurf einer Komplizenschaft bei den Massentötungen und bei medizinischen Experimenten wurden die Angeklagten allerdings freigesprochen.

Zu IV Freispruch

Zu V Freispruch Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 24. Urteile Nürnberger Prozess 73

Die fünf Angeklagten unter Anklagepunkt III (Teilnahme am Sklavenarbeitspro- gramm und an der Genozidpolitik des NS-Regimes) | Alle Fotos: Nürnberg, 1947/48 | Washington, DC, National Archives and Records Administration

BETRIEBSFÜHRER DER I.G. AUSCHWITZ (AB 1944) Walther Dürrfeld (1899 – 1967) Schlosser und promovierter Ingenieur Eintritt in die NSDAP: 1937 1942 – 1945 lebte Dürrfeld mit seiner Familie in einer Werkssiedlung in Auschwitz. Er war zunächst technischer Leiter des Werkaufbaus I.G. Auschwitz, dann ab 1944 Betriebsführer. → 1945 von der amerikanischen Militärpolizei verhaftet. → 1948 im Nürnberger Prozess angeklagt und zu acht Jahren Haft verurteilt. → 1951 vor- zeitige Entlassung.

VORSTANDSMITGLIED DER I.G. FARBEN (AB 1938) SOWIE GESCHÄFTSFÜHRER DES BUNA-WERKES IV UND DER TREIBSTOFF- PRODUKTION IN AUSCHWITZ (AB 1944) Otto Ambros (1901 – 1990) Promoviert in Chemie und Landwirtschaft Eintritt in die NSDAP: 1. Mai 1937 Ambros war aktiver Befürworter des Einsatzes von KZ-Häftlingen. → Zwischen 1941 und 1944 besuchte er die Baustelle der I.G. Auschwitz achtzehnmal. → 1946 Verhaftung, bis zum Prozessbeginn Arbeit für die BASF. → 1948 im Nürn- berger Prozess angeklagt und zu acht Jahren Haft verurteilt. → 1952 vorzeitige Entlassung. → Ab 1954 zahlreiche Aufsichtsratsmandate und Arbeit als Wirt- schaftsberater.

VORSTANDSMITGLIED DER I.G. FARBEN (SEIT 1934) UND AUFSICHTSRATSVORSITZENDER (AB 1940) Carl Krauch (1887 – 1968) Promovierter Chemiker Eintritt in die NSDAP: 1937 1938 Ernennung zum »Wehrwirtschaftsführer« und »Generalbevollmächtigten für Sonderfragen der chemischen Erzeugung beim Beauftragten des Führers für den Vierjahresplan« (GBChem). → Krauch nutzte seine politischen Beziehungen, um im Februar 1941 von Heinrich Himmler eine Zusage jeder möglichen Hilfe für den Bau des neuen Buna-Werkes in Auschwitz zu erhalten. → 1948 im Nürnberger Pro- zess angeklagt und zu sechs Jahren Haft verurteilt. → 1950 vorzeitige Entlassung wegen guter Führung. → Anschließend Aufsichtsratsmitglied der Bunawerke Hüls. 74 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 24. Urteile Nürnberger Prozess

VORSTANDSMITGLIED DER I.G. FARBEN (SEIT 1925) UND VORSITZENDER DES TECHNISCHEN AUSSCHUSSES (TEA) (SEIT 1932) Fritz (Friedrich Hermann) ter Meer (1884 – 1967) Promovierter Chemiker Eintritt in SA und NSDAP: 1937 Ter Meer war als Vorstandsmitglied und Vorsitzender des Technischen Ausschus- ses der I.G. Farben maßgeblich an der Standortentscheidung und Bauplanung für die I.G. Auschwitz beteiligt. → 1948 im Nürnberger Prozess angeklagt und zu sieben Jahren Haft verurteilt. → 1950 vorzeitige Entlassung. → 1956 – 1964 Auf- sichtsratsvorsitzender der Farbenfabriken Bayer AG und Aufsichtsrat in mehreren Unternehmen.

VORSTANDSMITGLIED DER I.G. FARBEN (AB 1937) UND LEITER DER BENZIN- SYNTHESE DER I.G. AUSCHWITZ (AB 1941) Heinrich Bütefisch (1894 – 1969) Promovierter Chemiker Eintritt in SA und NSDAP: 1937, in SS: 1939 1948 im Nürnberger Prozess angeklagt und zu sechs Jahren Haft verurteilt. → 1951 vorzeitige Entlassung. → Ab 1952 Aufsichtsratsmitglied der Ruhrchemie AG, der Deutschen Gasolin AG und der Feldmühle, Papier- und Zellstoffwerke AG.

»Wir sind allgemein der Ansicht gewesen, dass die Haeftlinge, die nach Monowitz kamen, von dem gerettet worden sind, was ihnen im Konzentrationslager Auschwitz p assier te.«

Otto Ambros | Eidesstattliche Erklärung im I.G.-Farben-Prozess Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 24. Urteile Nürnberger Prozess 75

Blick auf den Besucherraum im Nürnberger Prozess gegen die I.G. Farben | Nürn- berg, 1947/48 | Washington, DC, National Archives and Records Administration

ANGEKLAGTE URTEIL 1. Carl Krauch 6 Jahre 2. Hermann Schmitz 4 Jahre 3. Georg von Schnitzler 5 Jahre 4. Fritz Gajewski Freispruch 5. Heinrich Hörlein Freispruch 6. August von Knieriem Freispruch 7. Fritz ter Meer 7 Jahre 8. Christian Schneider Freispruch 9. Otto Ambros 8 Jahre 10. Ernst Bürgin 2 Jahre 11. Heinrich Bütefisch 6 Jahre 12. Paul Häfliger 2 Jahre 13. Max Ilgner 3 Jahre 14. Friedrich Jähne 1 1/2 Jahre 15. Hans Kühne Freispruch 16. Carl Lautenschläger Freispruch 17. Wilhelm Mann Freispruch 18. Heinrich Oster 2 Jahre 19. Carl Wurster Freispruch 20. Walther Dürrfeld 8 Jahre 21. Heinrich Gattineau Freispruch 22. Erich von der Heyde Freispruch 23. Hans Kugler 1 1/2 Jahre

Das Verfahren gegen den Angeklagten Max Brüggemann wurde wegen Krankheit abgetrennt und auf unbestimmte Zeit vertagt. Spätestens 1951 wurden alle zu Zuchthausstrafen Verurteilten vorzeitig entlassen. 76 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 25. Wollheim-Prozess

DER WOLLHEIM-PROZESS (1951 – 1957)

1951 verklagte Norbert Wollheim die I.G. Farben i.L. in einem Zivilprozess auf Erstattung vorenthaltenen Arbeitslohns für die von ihm geleistete Zwangs- arbeit in Buna-Monowitz und auf Schmerzensgeld. Die Verteidigung wehrte wie bereits in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen jegliche Verantwortung für das Schicksal der Zwangsarbeiter ab. Am 10. Juni 1953 gab das Landgericht Frankfurt Wollheim recht und verur- teilte die I.G. Farben i.L. zur Zahlung von 10.000 DM. Diese legte gegen das Urteil Berufung ein. Für die Vertreter der I.G. Farben i.L. ging es darum, einen Präzedenzfall zu verhindern. In der Zwischenzeit hatte sich eine große Zahl weiterer Überlebender gemeldet, um ihrerseits vor Gericht zu gehen. Wollheim und sein Rechtsanwalt Henry Ormond wandten sich an die Conference on Jewish Material Claims Against (Claims Conference), einen Zusammenschluss jüdischer Organisationen, der sich bis heute für die Entschädigungsansprüche jüdischer Opfer des Nationalsozialis- mus einsetzt. Das Berufungsverfahren endete 1958 mit einer außergerichtlichen Einigung zwischen der I.G. Farben einerseits und Wollheim sowie der Claims Conference an- dererseits. Die I.G. Farben zahlte insgesamt 30 Millionen DM für die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter im KZ Buna-Monowitz.

WER ERHIELT ENTSCHÄDIGUNG? Die Auszahlung von 27 Millionen DM an die jüdischen Überlebenden übernahm eine von der Claims Conference eigens gegründete Gesellschaft. Für die Prüfung der Anträge waren ausschließlich ehemalige Auschwitz-Häftlinge zuständig. Be- sonderes Augenmerk legten sie darauf, dass niemand Entschädigung erhielt, der als Kapo oder in anderen Funktionen an Verbrechen gegen Häftlinge beteiligt gewesen war. Die Claims Conference verteilte das Geld und die Zinseinkünfte an knapp 5.900 Antragsteller, darunter 1.800 notleidende Hinterbliebene. Währenddessen organisierte die I.G. Farben i.L. die Auszahlung von drei Millionen DM an die nichtjüdischen Zwangsarbeiter. Nach einigen Verhandlungen willigte die I.G. Farben ein, auch diejenigen zu entschädigen, die von den Natio- nalsozialisten aus »rassischen« Gründen als Juden verfolgt worden waren, sich aber selbst nicht als Juden betrachteten. Im Jahr 1962 war absehbar, dass drei Millionen DM für die so definierte Gruppe der Nichtjuden nicht ausreichen würden. Die I.G. Farben i.L. forderte eine Rückzahlung von zwei Millionen von der Claims Conference. Nach längeren Verhandlungen einigte man sich im Juli 1963 schließ- lich auf eine Rückzahlung in Höhe von 750.000 DM. Ehemalige politisch Verfolgte aus Ost- und Westeuropa wurden in diesem Abkommen nicht berücksichtigt. Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 25. Wollheim-Prozess 77

Norbert Wollheim bei einer Ansprache 1948 | Lübeck, 6. Juni 1948 | Washington, DC, United States Holocaust Memorial Museum Norbert Wollheim (1913 – 1998) war vor seiner Verschleppung nach Auschwitz in der jüdischen Jugendbewegung aktiv gewesen. 1938/39 übernahm er die Orga- nisation der »Kindertransporte« nach England. 1943 wurden er und seine Familie ins KZ Buna-Monowitz deportiert, seine Frau und sein Sohn wurden gleich nach der Ankunft ermordet. Wollheim überlebte die Zwangsarbeit, den Todesmarsch im Januar 1945 und die folgenden Monate im KZ Sachsenhausen. Nach Kriegsende engagierte er sich für den Wiederaufbau jüdischer Institutionen und im Kampf um Entschädigung. 1951 emigrierte er mit seiner zweiten Frau und zwei Kindern in die USA.

Der Frankfurter Rechtsanwalt Henry Ormond (Mitte) bei Recherchen für den Eichberg- Prozess, der 1946 im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Kranken- morden vom Landgericht Frankfurt geführt wurde | Frankfurt am Main, 1952 | Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut Henry Ormond (1901 – 1973) wurde als Hans Ludwig Jacobsohn in Kassel geboren und war bis zu seinem Berufsverbot 1933 Amtsrichter in Mannheim. Nach seiner Verhaftung 1938 wurde er ins KZ Dachau verschleppt. 1939 entlassen, emigrierte er über die Schweiz nach Großbritannien. Hier änderte er seinen Namen. 1945 kehrte er als britischer Armeeangehöriger nach Deutschland zurück. Ab 1950 arbeitete er als Rechtsanwalt und vertrat zahlreiche NS-Opfer in vielen Verfahren, darunter Norbert Wollheim. 78 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 26. Aussagen Wollheim-Prozess

AUSSAGEN AUS DEM W O L L H E I M - P R O Z E S S (1951 – 1957)

Die Aussagen der Zeugen vor dem Landgericht Frankfurt widersprachen sich vollständig: Die einen beschrieben die Hölle auf Erden, in den Worten der anderen erschien Buna-Monowitz eher wie ein Erholungslager. Besonders deutlich wird das am Beispiel der »Buna-Suppe«, die mittags auf der I.G.-Baustelle an die Häft- linge ausgegeben wurde.

BUNA-SUPPE

I.G. FARBEN »Wir haben dann 1941, auch wieder durch Verhandlungen mit der SS, die Genehmigung bekommen, den Häftlingen in der Mittags- zeit eine Gemüse-Suppe zu geben. Das ist die berühmte Buna- oder Bunker-Suppe. Dazu war es erforderlich, dass wir zusätzlich Lebensmittel bekamen, Nährmittel, Gemüse Max Faust und dergl. Fett haben wir für die Suppe I.G.-Oberingenieur keines bekommen. Wir haben uns gesagt, wenn wir den Leuten während der Mittags- Vernehmung vom 4. Dezember zeit wenigstens eine heisse Suppe geben 1952 im Wollheim-Prozess können, so ist das schon etwas.« »Wir haben eine besondere Suppe ausgege- ben, die von den Häftlingen gerne gegessen wurde. Ich selbst wurde von Dr. Dürrfeld vorübergehend beauftragt, die Güte dieses Heinz Frank Gerichts zu überprüfen. Ich musste fest- Leiter der Werkberufsschule stellen, dass es eine an sich leckere Suppe der I.G. war, die immerhin sehr zur Belebung des Speiseneinerlei beitrug und gerade in den Vernehmung vom 29. Januar Wintermonaten doch eine innere Erwärmung 1953 im Wollheim-Prozess gegeben hat.« »Ich hatte sehr häufig an allen Stellen des Werkes die Verpflegung zu kontrollieren und möchte sagen, dass die Buna-Suppe einen Rolf Brüstle täglichen Kaloriengehalt von 300 – 500 Kalo- I.G.-Angestellter rien hatte. Das ist nicht sehr viel, aber eine warme Suppe auf der Baustelle war doch Vernehmung vom 19. Februar unseres Erachtens eine wesentliche Hilfe für 1953 im Wollheim-Prozess die Häftlinge.« Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 26. Aussagen Wollheim-Prozess 79

EHEMALIGE HÄFTLINGE »Die Arbeit in Buna war schwer. Das Essen war schlechter als es in anderen Lagern jedesmal gewesen ist. Wir haben nach kurzer Zeit, ein paar Wochen später, die sogenannte Buna-Suppe bekommen, die von der IG ausgeteilt wurde und während der Mittags- pause am Arbeitsplatz eingenommen werden konnte. Sie war am Anfang manchmal nicht schlecht, da gab es hier und da einmal Hülsen- Benedikt Kautsky früchte oder etwas Aehnliches. Nach den ersten Tagen ist die Suppe völlig ungeniessbar Aussage vom 30. Januar 1953 geworden und nur die Verhungerten haben im Wollheim-Prozess sie noch gegessen.« »Die Suppe, die wir mittags von der IG bekamen, war eine Wassersuppe, in der 3 – 4 Kartoffeln in einem Kessel von 30 – 40 Liter schwammen. Die IG liess verschiedene Sorten Marcel Stourdze dieser Suppe in verschiedener Qualität kochen, so für die Meister, die Kriegsgefan- Aussage vom 15. Januar 1953 genen, die freiwilligen Zivilarbeiter usw. im Wollheim-Prozess Das Wasser blieb für die Häftlinge.« »Die Arbeit war für die Ernährung in den meisten Kommandos viel zu schwer. Es war selbst für uns Aerzte, die wir unter Dach arbeiteten, 1942/43, als wir die gleichen Portionen bekamen, unmöglich, unsere Arbeit zu verrichten. Die Buna-Suppe war warmes Wasser. Es ist Jonas Silber ein Wahnsinn, sie überhaupt zu erwähnen. Wir haben die Buna-Suppe auch im Lager Aussage vom 29. Januar 1953 bekommen. Mit der Buna-Suppe konnte man im Wollheim-Prozess sich den Hunger nicht stillen.« 80 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 27. Frankfurter Auschwitz-Prozesse

FRANKFURTER AUSCHWITZ-PROZESSE (1963 – 1967)

Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 – 1965) war eines der größten bundesdeutschen Verfahren gegen NS-Verbrecher. Angeklagt waren 22 ehemalige Mitarbeiter aus Auschwitz. Im Prozess kamen die durch das Personal begangenen Verbrechen öffentlich zur Sprache. Die mitangeklagten »Krankenpfleger«, die SS- Sanitätsdienstgrade Gerhard Neubert und Emil Hantl, waren im Häftlingskranken- bau von Buna-Monowitz tätig gewesen. Hantl wurde zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Im zweiten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1965 – 1966) standen zwei weitere SS-Angehörige von Auschwitz vor Gericht. Zudem wurde erneut gegen Neubert verhandelt, der im ersten Verfahren wegen Krankheit ausgeschieden war. Das Schwurgericht verurteilte ihn zu dreieinhalb Jahren Haft. Im Laufe des Prozesses zeigte sich, dass es immer schwieriger wurde, Überlebende als Zeugen zu finden, die bereit waren, die Last der Zeugenschaft auf sich zu nehmen. Auch erwies sich der Zeugenbeweis mit dem größer werdenden Zeitabstand zum Tatgeschehen als immer weniger zuverlässig. Im dritten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1966 – 1967) wurde gegen drei ehemalige Funktionshäftlinge verhandelt. Sie hatten sich als Handlanger der SS gegenüber ihren Mithäftlingen schuldig gemacht. Der vormalige Lagerälteste von Buna-Monowitz Josef Windeck und Bernhard Bonitz erhielten lebenslange Zucht- hausstrafen, das Verfahren gegen Erich Grönke wurde eingestellt. In den Frankfurter Auschwitz-Prozessen sagten auch ehemalige Angeklagte aus den Nürnberger Prozessen aus. Sie zeigten nach wie vor keinerlei Reue und wiesen jede Schuld von sich. Carl Krauch stritt in seiner Zeugenvernehmung ab, von den Vorgängen in Monowitz gewusst zu haben.

»Eines steht fest, daß, je länger Häftlinge bei uns eingesetzt waren, sich ihr Gesundheitszustand verbesserte.«

Walther Dürrfeld in seiner Vernehmung vom 9. April 1965 im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 28. Fischer-Prozess 81

DIE POLITISCHE VEREINNAHMUNG DES FISCHER-PROZESSES DURCH DAS SED-REGIME

In der DDR war die Verfolgung von Kriegsverbrechen in den 1950er Jahren nahezu eingestellt worden. Die juristische Aufarbeitung der NS-Zeit wurde als Problem Westdeutschlands gesehen. Eher zufällig wurde mit Horst Fischer 1964 in der DDR ein ranghoher KZ-Arzt enttarnt. Sogenannte Kriegsverbrecherprozesse gegen Ärzte suchte die DDR-Führung nach den Euthanasie-Verfahren zu vermeiden, hatten sie doch erhebliche Unruhe in der Ärzteschaft der DDR verursacht. Der Fischer-Prozess stellte hier eine Ausnahme dar, weil er als »Auschwitz-Prozess der DDR« den konsequenten Ahndungswillen der DDR-Justiz genau zwischen den beiden Frankfurter Auschwitz-Prozessen de- monstrieren sollte. Über diesen Fall galt es die führenden Personen der I.G. Farben als Hintermänner des NS-Staats und seiner Verbrechen in Auschwitz zu »entlarven«. Prozessverlauf und -ausgang waren vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) durchorchestriert und gehorchten in keiner Weise rechtsstaatlichen Prinzipien. Der Ausgang stand von vornherein fest: »Es wird die Höchststrafe zur Anwendung kommen«, heißt es im Strafvorschlag des MfS. Nach einem zehn Tage dauernden Prozess wurde Fischer schuldig gesprochen. Er gestand im Verfahren, was eine Vielzahl von Auschwitz-Überlebenden bezeugte: die Beteiligung an Selektionen auf der Rampe in Birkenau, im Lager Auschwitz I und im Krankenbau des I.G.-Farben-eigenen Lagers Buna-Monowitz. Der Prozess sollte die juristische Auseinandersetzung der DDR sowohl mit den NS-Medizinverbrechen als auch mit dem Tatort Auschwitz demonstrieren. Die Be- schäftigung mit der jüngsten Vergangenheit war für die DDR damit zugleich beendet. 82 Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 29. Ende I.G. Farben

DAS ENDE DER I.G. FARBEN I.L. (1990 – 2003)

Seit den 1980er Jahren gab es starke Proteste von Holocaust-Überlebenden, kritischen Aktionären und politischen Organisationen gegen die I.G. Farben i.L. Die Gegner forderten eine Auflösung der I.G. und eine Ausschüttung des Restver- mögens an die ehemaligen Zwangsarbeiter. Auf der Hauptversammlung 1999 stellte der Vorstand der Gesellschaft den Antrag auf Gründung einer Stiftung zur Entschädigung ehemaliger I.G. Farben- Zwangsarbeiter. Das Stiftungskapital in Höhe von drei Millionen DM sollte durch den Verkauf einer Gewerbeimmobilie eingebracht werden. Aus den Zinserträgen, etwa 200.000 bis 300.000 DM jährlich, sollten ehemalige Zwangsarbeiter der I.G. entschädigt werden. Hans Frankenthal, Monowitz-Überlebender und einer der Initiatoren der Proteste gegen die I.G. Farben i.L., wies auf den Skandal hinter der Absichtserklärung hin: Angesichts der hohen Zahl von Klagen war diese Summe lächerlich gering, »da bleibt doch am Ende für jeden eine Briefmarke«. Der Antrag auf die Stiftungsgründung wurde von den Aktionären jedoch mit großer Mehrheit angenommen. 2001 wurde die Stiftung »I.G. Farbenindustrie« gegründet, allerdings lediglich mit einem Kapital von 500.000 DM. Stiftungsziel war die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter, doch dazu kam es nie. Die Zinsen des Stiftungskapitals hätten dafür auch nicht ausgereicht. 2003 meldete die I.G. Farben i.L. Insolvenz an.

Der Widerstandskämpfer Peter Gingold (1916 – 2006) bei Protesten gegen die I.G. Farben | Frankfurt am Main, um 1990 | Silvia Gingold, Kassel Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | 29. Ende I.G. Farben 83

Umbenennung am Campus Westend | Frankfurt am Main, 2015 | Werner Lott | Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut 2015 wurde der Grüneburgplatz vor dem I.G. Farben-Haus in Norbert-Wollheim- Platz umbenannt. Diese Änderung ging auf die Initiative von Holocaust-Überleben- den und von Studierenden zurück. Die Verhandlungen mit der Universität und der Stadt Frankfurt am Main hatten schon Ende der 1990er Jahre begonnen.

Wollheim-Pavillon | Frankfurt am Main, 2015 | Werner Lott | Frankfurt am Main, Fritz Bauer Institut Das Norbert Wollheim Memorial auf dem Gelände des I.G. Farben-Hauses besteht aus einem Pavillon am Rand des Grundstücks, aus Stelen im Park vor dem Uni- Hauptgebäude, die Privatfotos von Häftlingen des KZ Buna-Monowitz zeigen, so- wie aus der Website www.wollheim-memorial.de. Die Nummer 107 984 über der Tür des Pavillons ist die Häftlingsnummer Norbert Wollheims.

Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz | Impressum 85 impressum

Begleitpublikation zu der Wanderausstellung »Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz« Frankfurt, 2. überarbeitete Auflage, 2021

DIREKTORIN DES FRITZ BAUER INSTITUTS Prof. Dr. Sybille Steinbacher

KURATORIN Dr. Nassrin Sadeghi

PROJEKTLEITUNG Gottfried Kößler

WISSENSCHAFTLICHE BERATUNG Werner Renz

BEARBEITUNG DER 2. AUFLAGE Dr. Sara Berger

ISOMETRIE-ZEICHNUNG AUSCHWITZ-MONOWITZ 1944 Peter Siebers

VERWALTUNG UND PROJEKTMANAGEMENT Manuela Ritzheim

GESTALTUNG Funkelbach — Büro für Architektur und Grafikdesign

Die Wanderausstellung geht zurück auf eine Ausstellung anlässlich des Treffens der Überlebenden des Konzentrationslagers Buna-Monowitz im ehemaligen Ver- waltungsgebäude der I.G. Farben auf dem heutigen Campus Westend der Goethe- Universität im Oktober 1998. Die 2018 überarbeitete und neu gestaltete Ausstellung und das Begleitheft basieren auf den Forschungsergebnissen, die auf www.wohlheim-memorial.de zu- sammengetragen sind. Diese Website enthält ausführlichere Informationen sowie Interviews mit 25 Überlebenden des Lagers Buna-Monowitz. Wir danken allen Leihgebern für ihre Genehmigung, das historische Bildmate- rial in diesem Begleitheft abzubilden. Sollte es uns trotz umfassender Recherche nicht gelungen sein, alle Inhaber von Bildrechten korrekt zu ermitteln, bitten wir diese, sich mit uns in Verbindung zu setzen.

Fritz Bauer Institut | Norbert-Wollheim-Platz 1 | 60323 Frankfurt am Main www.fritz-bauer-institut.de