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Prof. Dr. Hans-Martin Sass (Washington/Bochum) DIE NOVEMBERREVOLUTION IN BERLIN 1848

DER 9. NOVEMBER ALS am 9. November wurde das symbolträch- SCHICKSALSTAG DEUTSCHER tige Fanal gesetzt für den Sieg der Waffen GESCHICHTE über die Argumente, der Soldaten über das Es gibt historische Ereignisse, die von hi- Volk und die von ihm gewählten Sprecher storischer und solche, die zugleich auch des Volkes. von aktueller Bedeutung sind. Die deut- (2) Mit der Entscheidung Friedrich Wil- schen Revolutionen des Jahres 1848 – und helm IV., die gewählte preußische Natio- insbesondere die schicksalsvollen ersten nalversammlung in Berlin mit Gewalt Novembertage – gehören zu den letzteren schließen, die Bürgerwehr entwaffnen, und ihre Themen und Thesen, auch die den General v. Wrangel mit 40.000 Sol- Hoffnungen und das Scheitern, der Kampf daten in Berlin einmarschieren, die Pres- zwischen Revolution und Konterrevolu- se zensieren und demokratische Aktivitä- tion, zwischen Freiheit und Unterdrük- ten verbieten zu lassen, wurde für Preu- kung, zwischen Emanzipation und Reak- ßen als dem Hoffnungsträger des demo- tion werden zweifellos weit in das näch- kratisch und freiheitlich gesinnten Bürger- ste Jahrhundert hinein wirken. Am 9. tums der Funke der hoffnungsvoll begon- November 1848 entschied sich endgültig nenen demokratischen und sozialen Er- das Schicksal der emanzipatorischen frei- neuerungen aus der Kraft des sich emanzi- heitlichen und demokratischen Bwegun- pierenden Bürgertums zertreten und die gen und Hoffnungen in Mitteleuropa für politische Handlungsrolle an die dynasti- eine sehr lange Zeit und mit Nachwirkun- schen Kräfte abgetreten, die sich von egoi- gen bis heute und über die Gegenwart hin- stischen und machtpolitischen Motiven aus für die europäische und deutsche Ge- leiten ließen. schichte. Daran soll nach 154 Jahren an (3) Die Ereigneisse des 9. November 1848 diesem schönen Maitag des Jahres 2002 in Berlin und Wien markieren den ent- erinnert werden. scheidenden Einsatz der militärischen Warum war der 9. November 1848 in Ber- ‘Lösung’ von Bürger- und Arbeiterrevol- lin ein entscheidendes Datum für die ten und der Zerschlagung der sich entwik- emanzipatorische und intellektuelle, für kelnden demokratischen, liberalen und die politische und soziale, für die deut- sozialen Erneuerungshoffnungen überall sche und europäische Entscheidung zwi- in Deutschland. schen Fortschritt und Rückschritt, zwi- (4) Karl Marx diagnostizierte aus dem schen Freiheit und Despotie, zwischen Londoner Exil sehr klar, daß die Dynasti- Demokratie und sozialer Gerechtigkeit auf en ‘auf die halbe Revolution mit einer gan- der einen und Reaktion und ideologischer zen Konterrevolution’ antworteten. Verdunklung und Verblendung auf der (5) Ludwig Feuerbach in Bruckberg hatte anderen Seite? Ich nenne fünf Punkte: schon seit 1843 mit seiner Ablehnung der (1) Mit der standrechtlichen Erschießung Mitarbeit an den ‘Deutsch-Französischen des Abgeordneten Robert Blum in Wien Jahrbüchern’ und damit an den Modellen 36 Aufklärung und Kritik 1/2003 von Organisierung von Gewalt und Ge- Berliner Schlosses – von dem aus Fried- gengewalt ein anderes Modell gewählt, das rich Wilhelm IV. 70 Jahre vorher die Er- der Diagnose und Therapie von ‘Kopf- schossenen der Berliner Märzrevolution und Herzkrankheiten’, also dem Modell 1848 grüßte und der als Überbleibsel des einer der politischen Revolution vorher- Berliner Schlosses das architektonische gehenden breiten Bewußtseinsrevolution. Zentrum des Staatsratsgebäudes der ehe- Die nachfolgende Analyse der Ereignisse maligen DDR wurde – die ‘freie soziali- des 9. November 1849 in Berlin und der stische Republik’ aus; Liebknecht wurde anschließenden politischen Abläufe bis zusammen mit Rosa Luxemburg nach ei- zum vorläufigen Ende bürgerrechtlicher nem Aufstandsversuch im Januar 1919 und freiheitlicher Bewegungen in Mit- ohne weiteres Verfahren erschossen. Am teleuropa orientieren sich an den Auf- gleichen Tag, am 9. November 1918 ruft zeichnungen des Akteuers, Zeitzeugen aber auch der Sozialdemokrat und Staats- und Berichterstattters , der sekretär im Kabinett des Reichskanzlers unter Gefahr für Leben und Freiheit nach Prinz Max von Baden, Philipp Scheide- den gescheiterten Revolutionen Preußen mann, – übrigens ohne vorherige Rück- und Deutschland verlassen mußte. Ruge sprache mit oder gar Zustimmung des hat die Ereignisse einmal in Tagebuchform Reichskanzlers Friedrich Ebert – die [Bd 7] und einmal in einem Revolutions- ‘Deutsche Republik’ aus, – Beginn der roman [Bd 8] festgehalten. Weimarer Republik mit ihren Sonnen- und Die verhängnisvollen Entscheidungen und Schattenseiten, Ende des Feudalismus in Fakten des 9. November 1848 waren aber Deutschland, Zwischenspiel zwischen auch Vorboten für andere von der natio- nachfolgendem rechtsfaschistischen Sy- nalen und europäischen sozialen, politi- stem in Deutschland, danach linksfaschi- schen und demokratischen Geschichte stischer Unterdrückung in Mitteldeutsch- untrennbaren Ereignisse, die ebenfalls auf land. das Datum des 9. November fielen und (2) Am 9. November 1923 versucht Aldof die in ihrer Gesamtheit als Ensemble von Hitler in München einen Staatsstreich, der Schwarz und Weiß, von Fortschritt und vom Generalstaatskommissar v. Kohr mit Rückschritt, von Versagen und von Hoff- Hilfe der Reichswehr blutig niederge- nung das deutsche Schicksal der letzten schlagen wurde – Beginn der dunkelsten 150 Jahre umreißen und auf die in der Periode der neueren deutschen Geschich- Zukunft liegenden Aufgaben, Gefahren, te. auch Hoffnungen und Erwartungen hin- (3) Und es war ebenfalls an einem 9. No- weisen. Ich nenne 4 weitere Schicksals- vember, als in der Nacht des 9. November jahre deutscher Geschichte, an denen der 1938 und dann vor allem am hellichten 9. November eine bis heute geltende Nach- Tage des 10. November 1938 die von den wirkung hat: Nationalsozialisten wohlvorbereiteten und (1) Am 9. November 1918 verkündet der organisierten Progrome gegenüber jüdi- einige Wochen vorher aus dem Zuchthaus schen Mitbürgern stattfanden; die schreck- entlasssene ehemalige Sozialdemokrat und lichen Ereignisse dieser ‘Reichskristall- nunmehrige Mitbegründer des Spartakus- nacht’ 15 Jahre nach dem vergeblichen bundes Karl Liebknecht vom Balkon des Putschversuch Hitlers weisen auf die vie-

Aufklärung und Kritik 1/2003 37 len unaussprechlichen Greuel und Verbre- fahr. Gegen den am 2. des Monats fast chen in den Konzentrationslagern und die einstimmig ausgesprochenen Willen der Hypertrophie eines deutschen Regimes Versammlung ist heute das Ministerium hin, das noch sieben weitere Jahre bis zum Brandenburg ernannt worden und hat sei- totalen Untergang – Gegenteil des verspro- ne Wirksamkeit mit einem Staatsstreiche chenen ‘totalen Sieges’ – dauerte. begonnen. Es hat verlangt, die Versamm- (4) Dann gab es wieder ein totalitäres lung der Volksvertreter solle vertagt wer- Regime im östlichen Teil des Vaterlandes, den, um später an einem anderen Ort zu- diesmal ein linksfaschistisches, das dann sammenzutreten. Mitbürger! Die Natio- nach vier Jahrzehnten einer ausbeutenden nalversammlung, berufen Euren Willen zu und ausspionierenden menschenrechts- vertreten. kann weder vertagt, verlegt, verletzenden und demokratieverachtenden noch aufgelöst werden. Wir sind fest- Politik eines Parteifeudalismus – wieder entschlossen, solchen Gewaltstreichen mit an einem 9. November – am 9. November allen uns zu Gebote stehenden Mitteln 1989, genauer abermals in der Nacht vom energischen Widerstand entgegenzuset- 9. auf den 10. November 1989 ohne Ge- zen. Vertraut auf uns, seid einig in der genwehr saft- und kraftlos implodierte – Wahrung der errungenen Freiheit, und einfach aufhörte zu bestehen und sich aus bedenkt, daß besonnener Mut jede Gefahr der Verantwortung für 40 Jahre Unrecht überwindet. Berlin, den 9. November und Unterdrückung hinwegstahl und da- 1848.’ [Bd. 7:315]. Die Nationalver- mit Platz machte für eine Vereinigung der sammlung verzichtet nicht darauf, eben- beiden deutschen Staaten in einem demo- falls publik zu machen, daß einige Depu- kratischen und sozialen Rechtsstaat inner- tierte ‘weggelaufen’ und ‘sich durch fei- halb der nun auch zur Erweiterung und ge Flucht der Abstimmung über die Be- Vertiefung anstehenden Gemeinschaft der schlüsse der heutigen Sitzung entzogen. europäischen Völker, nicht nur Westeu- – Wir übergeben sie dem Urteile des Va- ropas. terlandes.’ Zu diesen etwa 95 von etwa 360 Abgeordneten, die weggelaufen wa- DIE NACHT DES 9. AUF DEN 10. ren, gehörten unter anderem der Minister NOVEMBER 1848 IN BERLIN v. Auerswald aus , der Gutsbe- Jetzt aber zur Nacht des 9. auf den 10. sitzer Brüninghaus, der Kaufmann Har- November 1848 in Berlin. Am naßkalten kort, der Prediger Jonas aus Potsdam, der Morgen des 10. November tritt noch vor Gutsbesitzer v. Schleicher. Sie hatten die Sonnenaufgang um 5 Uhr morgens in anderen Deputierten in einem Plakat auf- Berlin eine außerordentliche Sitzung der gefordert, ebenfalls ihren Posten zu ver- konstituierenden preußischen Nationalver- lassen. Schreibt Arnold Ruge: ‘Da dies sammlung zusammen. Der Präsident v. Plakat jedoch weder die Druckfirma noch Unruh hatte am Vortage, dem 9. Novem- Namensunterschrift enthielt, so wurde es ber, die 97. ordentliche Sitzung gegen 19 überall als ungesetzlich vom Volke abge- Uhr geschlossen; vorher hatte die Mehr- rissen. Das ist eine Polizei der Freiheit’ heit der anwesenden Abgeordneten fol- [Bd. 7:315f]. genden Aufruf in ihre Wahlkreise erlas- sen: ‘Mitbürger! Das Vaterland ist in Ge-

38 Aufklärung und Kritik 1/2003 Was war der Grund für die Forderung des antwortung trifft wegen der aus diesem Königs und des am gleichen Tage einge- ungesetzlichen Schritt etwa entstehenden setzten neuen preußischen Ministerpräsi- Folgen’ [Bd. 7:317]. denten v. Brandenburg für die Schließung Gleichzeitig wurde der Kommandierende der Nationalversammlung im Berliner der Bürgerwehr, Rimpler, vom Berliner Schauspielhaus und deren Verlegung in Polizeipräsidenten aufgefordert, das Zu- die Provinzstadt Brandenburg? Das Mi- sammentreten der Nationalversammlung nisterium erklärte, es sei einzig die Sorge am nächsten Tage zu verhindern. In Über- wegen der anarchischen Zustände in Ber- einstimmung mit den Bataillonskomman- lin; die Tatsachen des 9. November, in den deuren der Berliner Bürgerwehr verwei- Augen eines Zeitzeugen und Hauptak- gert Rimpler in den frühen Morgenstun- teurs, Arnold Ruge, waren jedoch die fol- den des 10. November diesen Befehl und genden Fakten: ‘Wien gefallen – Frank- verwahrt sich zugleich entschieden ‘ge- furt mattgemacht – durch die preußische gen jede gesetzwidrige Verwendung mi- Nationalversammlung der Adel abge- litärischer Kräfte zur Beschränkung der schafft, die Orden und leeren Titel abge- Versammlungs- und Beratungsfreiheit der schafft, „von Gottes Gnaden“ gestrichen.– Nationalversammlung oder gar gegen die Das sind die Tatsachen, die alles erklären’ Unverletzlichkeit der Personen der Volks- [Bd. 7:406] vertreter’; gleichzeitig schreibt er dem In der Nacht vom 9. zum 10. November Präsidenten der Nationalversammlung: erreichte den Präsidenten v. Unruh ein ‘Es wolle Ew. Hochwohlgeboren gefallen, noch am Abend des 9. November eilig und wo möglich auf heute morgen um 5 Uhr aufgeregt als Antwort auf den Beschluß die sämtlichen Vertreter des preußischen der Nationalversammlung diktiertes Volkes nach dem Sitzungssaale zu beru- Schreiben des preußischen Ministerpräsi- fen, indem es so der Bürgerwehr am denten Graf v. Brandenburg: ‘Ich halte Leichtesten werden wird , den der hohen mich verpflichtet, Sie darauf hinzuweisen, Versammlung gebührenden Schutz zu daß dergleichen Beschlüsse nicht nur völ- übernehmen und ein blutiges Zusammen- lig ungesetzlich und deshalb nichtig sind, treffen zu vermeiden’ [Bd. 7:319]. sondern daß auch die Abgeordneten, wel- Die gewählten Vertreter der Berliner Ar- che daran teilgenommen, sich der Anma- beiter hatten schon am Abend des 9. No- ßung von Hoheitsrechten und eines Ver- vember der vorwiegend bürgerlich besetz- gehens an der Verfassung schuldig ge- ten Nationalversammlung den Rücken ge- macht haben.– Indem ich Ew. Hochwohl- stärkt mit einer Grußadresse: ‘Vertreter des geboren überlasse, den Inhalt dieses Volkes! Die Arbeiter Berlins sagen Euch Schreibens zur Kenntnis der Abgeordne- Dank für die Pflichttreue, mit der Ihr die ten zu bringen, welche die gesetzliche Anmaßungen treuloser Ratgeber der Kro- Schranke überschritten und dem Befehle ne zurückgewiesen habt!– Die blutig er- Sr. Majestät des Königs den schuldigen rungenen Freiheiten des Volkes werden Gehorsam verweigert haben, gebe ich Ih- würdig durch Euch vertreten.– Die Arbei- nen zu erwägen, daß sie sowohl wie die ter Berlins sind bereit und gerüstet, Eu- Abgeordneten, welche die Rechte der Kro- rem Rufe Folge zu leisten, wenn man es ne so schwer verletzt haben, die volle Ver- wagen sollte, die Rechte des Volkes in sei-

Aufklärung und Kritik 1/2003 39 nen Vertretern zu verletzen; sie bieten lung stehe. Der Platz um das Versamm- Euch ihren Arm und ihr Herzblut gegen lungsgebäude selbst glich einem Feldla- jeden Feind, der Hochverrat üben wollte ger. Bürgerwehr war in mehreren Reihen an Euch und an den Freiheiten des Vol- um das Schauspielhaus aufgestellt. Ernst kes.– Berlin, den 9. November 1848. Das und Entschlossenheit im Blick gingen die Berliner Bezirkskomittee der deutschen Wehrmänner auf und ab an den aufgestell- Arbeiter-Verbrüderung. Bisky, Vorsitzen- ten Gewehrpyramiden. Um die Bürger- der. Oschatz. Schulz. Büttner. Eichel.’ weht standen die zahlreichen Gruppen des [Bd. 7:319f] Es folgen Belege für die hin- Volkes. Hier und da las ein Mann die Be- terlegten Vollmachten der Sprecher von 28 richte der Morgenblätter über die Ereig- Einzelgewerkschaften vom Kottendruk- nisse der Nacht laut vor. Begeistertes Lob kergewerbe bis zu den Formstechern. der Volksvertreter und Ausbrüche der hef- Einstimmig verabschieden dann am 10. tigsten Erbitterung gegen König und Mi- November die 252 Abgeordneten, von nister unterbrachen überall die Wortfüh- denen einige in der Nacht vom 9. zum 10. rer. Die schneidende Kälte des Wintermor- November schon seit 2 Uhr morgens un- gens ließ die Volksmassen, die sich im- ter dem Schutz der Bürgerwehr im Saale mer mehr häuften, unberührt. Von Zeit zu kampiert hatten, in der Sondersitzung ei- Zeit erregte der Kommandoruf der Bür- nen Aufruf ‘An das preußische Volk!’, der gerwehr-Offiziere ‘an die Gwehre!’ die zur Ruhe aufruft und in dem es heißt ‘In allgemeine Stimmung des ganzen Volkes. dem schweren Augenblick, wo die gesetz- Man erwartete einen Angriff des Militärs’ liche Vertretung des Volkes durch Bajo- [Bd. 7:327]. Die Lage ist bis zum Zerrei- nette auseinandergesprengt wird, rufen wir ßen gespannt. Euch zu: Haltet fest an den errungenen Es kommt zu einer Aussprache zwischen Freiheiten, wie wir mit allen unseren Kräf- v. Wrangel, dem Oberbefehlshaber und ten und unserem Leben dafür einstehen, Kommandierenden der Marken und dem aber verlaßt auch keinen Augenblick des Kommandierenden der Bürgerwehr, Boden des Gesetzes. Die ruhige und ent- Rimpler, die unser Berichterstatter wie schlossene Haltung eines für die Freiheit folgt zusammenfaßt: ‘Wrangel erklärte, er reifen Volkes wird mit Gottes Hilfe den halte sich nicht für berechtigt, in den Sit- Sieg erringen’ [Bd. 7:327]. zungssaal einzudringen, werde auch nicht Hand anlegen an die Deputierten, aber so BELAGERUNGSZUSTAND IN BER- lange auf dem Platze kampieren, bis die LIN Nationalversammlung auseinanderginge Und hier ist der Bericht unseres Zeitzeu- und wenn es 8 Tage währte; er und seine gen Arnold Ruge: ‘Seit dem frühen Mor- Soldaten seien an das Kampieren ge- gen war die Bevölkerung Berlins in Be- wöhnt.’ Die Antwort Rimplers: ‘Nun so wegung. Die Nachricht von den Ereignis- werde die Bürgerwehr 14 Tage dableiben, sen der Nacht hatten sich in die fernsten wenn es sein müsse’.– Ein ungeheures Stadtteile verbreitet. In den Straßen ström- Hurra! Das 21. Bataillon, das seit 4 Uhr te es auf und ab nach dem Schauspielhause morgens vor dem Schauspielhause steht, und von da wieder zurück. Alles wollte wurde von einem andern Major aufgefor- wissen, wie es um die Nationalversamm- dert, sich ablösen zu lassen, es verweigerte

40 Aufklärung und Kritik 1/2003 aber, diesen Ehrenposten zu verlassen, und stern wehten die Tücher, alle Bürgerwehr- erklärte, ausharren zu wollen. Sein Major schildwachen präsentierten, Hurraruf und heißt Schmalhausen’ [Bd. 7:329]. Um Jubelgeschrei erfüllte die Luft. Vom Ende 16.30 Uhr schließt der Präsident v. Un- der Jägerstraße bis nach dem Hotel de ruh die Nationalversammlung und beruft Russie hatte das Volk ein Spalier gebil- sie auf den nächsten Tag um 9 Uhr wie- det. In feierlicher Haltung, ihre Präsiden- der ein. Die Abgeordeneten ziehen unbe- ten voran, schritten die Volksvertreer hin- helligt ab, danach die Bürgerwehr; v. durch. Man sah deutlich, wie das Volk sich Wrangel hatte zu Entspannung der Situa- stolz und erhoben fühlte, seinen Vertre- tion schon vorher einen Teil seiner Trup- tern, die seine Würde so energisch zu wah- pen vom Platz vor dem Schauspielhaus ren gewußt, auch seine ungeteilte und be- abgezogen; ja, er hatte zur De-eskalation geisterte Liebe zu erkennen zu geben. Al- das Gerücht verbreiten lassen, der König ler Parteihaß war vor der Größe des Au- gebe nach [Bd. 7:330]. genblicks verschwunden. Vor dem Hotel Am nächsten Tag morgens trifft der Ge- de Russie hörte ich, wie Arbeiter aus dem sandte des Zaren, Graf Tolstoi, in Pots- demokratischen Club mit lauter Stimme dam ein und macht dem König unmißver- riefen: Es lebe die wackere Rechte, die ge- ständlich klar, daß die verabredeten Maß- blieben ist! Als die Versammlung sich in nahmen durchzuführen seien [Bd. 7:336]. den Saal begeben hatte, gingen die Mas- Das Berliner Stadtschloß ist während der sen ruhig und in sichtbarer Ergriffenheit ganzen Nacht erleuchtet; hier kampieren auseinander: Gehen wir fürs erste wieder in allen Räumen einige der 40.000 Solda- nach Hause, damit man nicht sage, daß ten, mit denen v. Wrangel in Berlin ein- wir Aufläufe machen!’ [Bd. 7:336]. marschiert war.– Als der Präsident v. Un- Nationalversammlung und Öffentlichkeit ruh morgens gegen 9 Uhr vor dem Schau- hatten in der Tat gegen das Berliner Bela- spielhause eintrifft, findet er es verschlos- gerungsedikt des Kommandierenden der sen. Trotz zweimaliger Aufforderung ma- Marken, v. Wrangel, verstoßen: ‘[1] Alle chen die Militärs, die sich innen verbarri- Clubs und Vereine zu politischen Zwek- kadiert hatten, mit Hinweis auf einen Be- ken sind geschlossen. [2] Bei Tage darf fehl v. Wrangels nicht auf. In der Toten- keine Versammlung von mehr alsa 20 Per- stille, die dem Disput folgt, fordert v. Un- sonen, bei Nacht keine von mehr als 10 ruh die versammelten Volksvertreter auf, Personen auf Städten und öffentlichen ihm in das naheliegende Hotel de Russie Plätzen stattfinden. [3] Alle Wirtshäuser zu folgen. Ich zitiere wieder unseren Zeit- sind um 10 Uhr abends zu schließen. [4] zeugen Ruge: ‘Hierauf sahen die Berliner Plakate, Zeitungen und andere Schriften Straßen ein Schauspiel, wie es groß und dürfen nur dann gedruckt, öffentlich ver- ewig denkwürdig dastehen wird in der kauft, oder durch Anschlag verbreitet Geschichte der Revolutionen. Von der werden, nachdem das hiesige Polizeiprä- Bürgerschaft und Tausenden und abermals sidium die Erlaubnis dazu erteilt hat. [5] Tausenden des Volkes begleitet, zog die Alle Fremde, welche sich über den Zweck aus ihrem Sitzungslokal verbannte Natio- ihres bisherigen Aufenthalts nicht gehö- nalversammlung durch die Jägerstraße rig legitimieren können, haben bei Vermei- nach dem Hotel de Russie. Aus allen Fen- dung der Ausweisung binnen 24 Stunden

Aufklärung und Kritik 1/2003 41 die Stadt und deren Gebiet zu verlasen. straße, aus der Kronenstraße und vom [6] Fremden, welche bewaffnet ankom- Hausvogteiplatz, wo sogar ‘fertig’ kom- men, sind von den Wachen die Waffen ab- mandiert wurde und auch etwa 3 Hähne zunehmen. [7] Die Bürgerwehr ist nach knackten, während schließlich alle Solda- der königlichen Bestimmung vom 11. d. ten das Gewehr bei Fuß nahmen. ... Eine M. vorbehaltlich ihrer Reorganisation auf- schöne Szene erzählen wir noch von der gelöst. Während des Belagerungszustan- Universität. Die Studenten waren zahl- des kann diese Reorganisation nicht er- reich im Hof versammelt. Man wollte sie folgen.’ Es geht weiter bis zum 11. Punkt; auseinandertreiben. Sie gingen nicht. Da interessant ist der Punkt 10: ‘Die Stadt wurde zum Anschlagen kommandiert. Die Berlin haftet für ale Schäden, welche bei Burschen schlugen an. In diesem Augen- Unterdrückung eines offenen oder bewaff- blick klatschten die Studenten in die Hän- neten Widerstandes gegen die bewaffnete de und riefen: bravo, bravo! Die Soldaten Macht an öffentlichem oder privatem Ei- schämten sich, zogen ihre Gewehre zu- gentum verübt wird’ [Bd. 7:337]. rück und nahmen sie bei Fuß.– Überall, Die 98. bis 100. Sitzungen der National- wenn die Patrouillen friedlich anrückten, versammlung finden also am 11.11. im teilten sich die Massen, ließen sie durch Hotel de Russie statt mit hoher Beteiligung und begrüßten sie mit dem Hurra: Es le- von 225 bis 248 Abgeordneten; die Stun- ben unsere Brüder, die Soldaten! – Eine den vergehen mit der Verlesung der aus reitende Patrouille am Dönhofplatz ritt allen Teilen Preußens eingehenden Gruß- heran, der Rittmeister verlangte das Aus- adressen aus allen Bevölkerungskreisen einanandergehen der Menge. Ein junger und mit Wahlen und der Formulierung von Mann trat hervor und sagte: Kommen Sie Beschwerden an die Regierung und die nur heran, meine Herren, und nehmen Sie Gerichte. Um 5 Uhr wird der Belagerungs- teil an unseren Beratungen. Unterdessen zustand über die ganze Stadt Berlin aus- kamen die Reiter heran. Ein Jubel emp- gerufen. Unmittelbar danach tritt die Na- fing sie, die ganze Schwadron stimmte in tionalversammlung nunmehr im Schüt- das Hurra mit ein, und schwenkt grüßend zenhaus von 9 Uhr abends bis morgens zur Seite.– Die Haltung des Volkes ist be- um 1 Uhr zusamen. Es kommt aber nicht wundernswürdig; die des Militärs eben- zu Auseinandersetzungen. Erst am folgen- falls. Nur noch ein Beispiel. Ein Abge- den Tage versucht die Militärführung zu ordneter sah einen Leutnant von seiner eskalieren. Hier der Bericht unseres Zeit- Bekanntschaft auf dem Posten. Er schalt zeugen: ‘Ein Offizier rückte mit 50 Mann ihn. Dieser sagte: Ja, so ist es, Ihr scheltet an, befahl der Gruppe, sich zu zerstreuen, uns und wir schämen uns! Wir zählen und als sie sich nicht zerstreute, komman- überall in der Stadt und Unter den Linden dierte er zum Bajonettangriff. Nur ein über 20 mißlungene Attacken [Bd. 7:351]’. Unteroffizier fällte das Bajonett, alle Sol- Anders ist die Situation am 13. Novem- daten nahmen das Gewehr bei Fuß; der ber, nachdem die Nationalversammlung Offizier erbleichte und führte die Mann- Verfassungsbeschwerde gegen die Regie- schaft in die Hausvogtei, von wo sie spä- rung beim Staatsanwalt Sethe einlegt; ter wieder ausrückte.– Eine ganz ähnliche auch ein Steuerstreik war beschlossen Szene erzählt man uns aus der Königs- worden. Nachmittags gegen 3 Uhr rückt

42 Aufklärung und Kritik 1/2003 das Militär in das Schützenhaus ein; die gesetzlichkeiten und zu solchen Verletzun- Straßen um das Schützenhaus waren mit gen des friedlichen Hausrechts gebrau- über 3.000 Menschen zugesperrt; die Ein- chen läßt.– Der Präsident Ploennies ist gänge und Flure des Schützenhauses vol- Mitglied der äußersten Rechten, Abgeord- ler Soldaten und Bürger. Und hier wieder neter für Westfalen, Ehre dem braven tap- unser Zeitzeuge: ‘Der Oberst zum Volke: feren Manne!’ [Bd. 7:358f]. Soweit der Meine Herren, wenn Sie nicht auseinan- Mitakteur und Zeitzeuge Arnold Ruge. dergehen, werde ich Waffengewalt anwen- den müssen.– Die Soldaten beantworte- SIEG DER REAKTION UND ENDE ten dies mit einem schallenden Gelächter, DER PREUSSISCHE NATIONAL- sei drückten den Bürgern die Hände, und VERSAMMLUNG machten bereitwillig Platz und sagten mit Der weitere Fortgang der demokratischen größter Freundlichkeit: Wir schlagen uns Revolution und der königlichen militäri- nicht! Zum Beweis der Brüderlichkeit schen Konterrevolution in Berlin und wurden die Flaschen aus den Reihen der Preußen ist kurz beschrieben: Die Natio- Soldaten zu den Bürgern und umgekehrt nalversammlung tagt sporadisch an ver- herüber gereicht. Man trinkt sich gegen- schiedenen Orten; noch am 16. Novem- seitig zu. Das Regiment, welches beson- ber unterschreiben 272 Abgeordnete, daß ders freundlich hervortrat, war das 12.– sie weiterhin in Berlin bleiben und sich Währenddessen war Wrangel geschickt nicht nach Brandenburg abschieben las- worden. Von ihm kam ein Oberst v. Blü- sen wollen. Mit dem Geld des Prinzen von cher zurück, der einzige, der sich barsch Preußen, des späteren Kaisers Wilhelm I., benommen hat. Er brachte einen schrift- wird zur Beeinflussung der öffentlichen lichen Befehl von Wrangel und dem Mi- Meinung die Neue Preußische Zeitung ge- nister Manteuffel und forderte den [Vize] gründet; rund um die Taubenstraße und Präsidenten Ploennies auf, sofort den Saal Unter den Linden wimmelt es von Mili- zu verlassen. Oberst Sommerfeld bemerk- tär; es kommt zu vielen Verhaftungen. Am te, wenn die Herren bloß als Deputierte 27. November richten die verbleibenden privatim hier anwesend sind, so soll Ih- Mitglieder der Nationalversammlung von nen nichts geschehn. Ploennies: Nein, wir Berlin aus noch einmal einen Aufruf an sind hier als Bevollmächtigte der National- die Berliner Bürger, aus dem ich zitiere: versammlung und werden nur der Gewalt ‘Mitbürger! Als durch die Revolutionen weichen. Blücher: Nun, so werden wir Ge- der Märztage der lange geknechtete Volks- walt anwenden.– Hierauf ergreifen den wille zur Geltung gekommen war, da habt Vicepräsidenten Ploennies zwei Konstab- Ihr die preußische Nationalversammlung ler an beiden Armen und schleppen ihn hierher entsendet, mit dem Auftrage, in durch den Saal und die Vorsäle zur Trep- gesetzlicher Ordnung den Neubau der Ver- pe hinunter. Am Ausgang stand ein greiser fassung zu gründen. ... Als nun die Ver- Schütze. Er schüttelte bedenklich den sammlung auch in der Beratung der Kopf und sagte zu dem Oberst Blücher: Grundrechte den entschiedenen Willen Es ist traurig, daß ein Nachkomme des zeigte, die Früchte der Revolution zur großen Blücher, der dem Vaterlande so viel Geltung zu bringen, als sie Hand an die treue Dienste geleistet, sich zu solchen Un- Feudalrechte legte, Adel, Titel und Orden

Aufklärung und Kritik 1/2003 43 aufhob, als sie sich des unterdrückten eins- und Versammlungsfreiheit, garan- Wiens annahm, da schien es der Reaktion tiert die Habeascorpusakte, aber auch den die höchste Zeit zu sein, durch Beseiti- Belagerungszustand, das Veto des Königs gung dieser Versammlung dem Volke die sowie Orden und Titel. Am 28. März 1849 Hoffnungen zunichte zu machen, deren verkündet das unrevolutionär und macht- Erfüllung nach wenigen Monaten bevor- los gewordene Frankfurter Paulskirchen- stand. Da trat die Soldatengewalt unver- parlament eine Reichsverfassung und hüllt auf in dem Ministerium Branden- wählt Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser burg.’ [Bd. 7:393].– Ein auf 80 Abgeord- der Deutschen. Eine Delegation überbringt nete stark geschrumpftes Parlament, nun den Beschluß am 3. April ins Königliche vorwiegend aus Abgeordneten der linken Schloß nach Berlin; der preußische Kö- Fraktion bestehend, trifft sich am 27. No- nig lehnt die ‘Schweinekrone’ ab; aus der vember in dem Berliner Gasthof Jarosche- Hand der deutschen Fürsten hätte er sie witz und protestiert gegen die am Vormit- angenommen. tag erfolgte militärische Erstürmung und Sprengung der Versammlung im Hotel DIE TRAGISCHE ROLLE DES Mylius mit Waffengewalt und gegen die PREUSSENKÖNIGS FRIEDRICH Beschlagnahmung aller Versammlungs- WILHELM IV. dokumente zusammen.– Am Morgen des Was war das für ein Mann, dieser Fried- 1. Dezember tritt das Rumpfparlament, zu rich Wilhelm? Man nannte ihn den ‘Ro- dem die gesamte Linke und Teile des Zen- mantiker auf dem Thron’, tiefreligiös und trums unter der Präsidentschaft von v. von großer Verantwortung für Preußen Unruh im Brandenburger Dom zusam- und die ihm von Gott anvertrauten Men- men; immer noch sind 260 Abgeordente schen erfüllt. Sicherlich war er für die anwesend, entschuldigt sind 11, 131 feh- Sache einer größeren Einheit Deutsch- len. Noch einmwal wird erklärt: ‘Wir Un- lands zu haben, aber nur im monarchisch- terzeichneten erklären, daß wir, festhal- legitimistischen Kontext. Er galt als schar- tend an dem Beschluß der National-ver- fer Kritiker eines despotischen Bürokra- sammlung vom 9. November, fortdauernd tismus und verstand den Staat eher histo- der Krone das Recht bestreiten, die Na- risch und organisch; zu seinem Küchen- tionalversammlung von Berlin zu verle- kabinett zählten als konservative Gelehr- gen, sie zu vertagen oder aufzulösen.’[Bd. te und Politiker die Brüder v. Gerlach, 7:399] Die Versammlung vertagt sich auf Begründer der staatstragenden ‘Kreuzzei- den 7. Dezember 1848. Sie tritt nicht wie- tung’. Als er 1840 König wurde, bemüh- der zusammen; am 5. Dezember 1848 te er sich vor allem um die Etablierung oktroyiert der preußische König Friedrich von ständischen Institutionen auf der Pro- Wilhelm IV. ‘von Gottes Gnaden’ eine vinzialebene, um eine Reorganisation der preußische Verfassung nach seinem Ge- preußischen Kirche; er wurde auch zum schmack und ohne demokratische Legiti- Wiederbegründer des preußischen Johan- mation. Sie wird am folgenden Tage im niterordens. Die von ihm erbaute Friedens- Staatsanzeiger verkündet: Es gibt zwei kirche im Park von Sanssouci ist mit den Kammern, die eine nach dem Zensus- Seligpreisungen aus der Bergpredigt Jesu prinzip gewählt, verkündet Presse-, Ver- und mit Bibelzitaten zu Friedensverhei-

44 Aufklärung und Kritik 1/2003 ßungen übersät; sie zeigen mehr als alles König hatte es genossen, als das Volk ihm andere die Sehnsucht sowie das Scheitern zweimal mit Begeisterung vor dem Berli- dieses Monarchen. Er konnte es sich zum ner Schloß zujubelte. Nachdem jedoch der Erfolg anrechen, daß 1846 eine General- Kommandeur der Gardetruppen den synode der Evangelischen Kirche zusam- Schloßplatz schließlich mit blankem Sä- mentrat und im April 1847 ein Vereinig- bel hatte räumen lassen, schossen plötz- ter Landtag, einberufen aufgrund eines lich und angeblich aus Versehen einige von ihm ausgefertigten Patents vom Fe- Soldaten in die Menge. Es gab Tote, viel bruar des gleichen Jahres. Der Vereinigte Tote, die genaue Zahl ist unbekannt, 277 Landtag war für ihn die ständische Alter- werden angegeben. Nunmehr werden native zu den ‘Prinzipien von Volksreprä- überall in der Nacht zum 19. März Barri- sentation, die seit der französischen Re- kaden errichtet, an der Kronen- und Fried- volution so viele Staaten erfaßt und rui- richstraße, an der Neuen Königsstraße und niert haben’ [zit. Freitag 298]. am Alexanderplatz, in der Breiten Straße, Für den gläubigen Christen und Vertreter insgesamt über 1000 Barrikaden. Überall ständischer Repräsentation, der so gern wurde geschossen; aber die Dragoner und dem Volke nahe sein wollte, mußte es ein Husaren waren nicht für den Barrikaden- tiefer Schock sein, als im Gefolge der kampf ausgerüstet; nur jede 10. Barrika- Februarrevolution 1848 in Paris in vielen de wurde erfolgreich gestürmt. Der Kel- europäischen Städten und Hauptstädten – ler des könglichen Schlosses ist mit Ver- Karlsruhe, Frankfurt, Dresden, München, wundeten und Gefangenen überfüllt. Noch Wien, Breslau – zu spontanen Erhebun- in der Nacht befiehlt Friedrich Wilhelm gen und Revolutionen kam, so auch in IV. die Soldaten wieder aus der Stadt ab- Berlin. Er schien geneigt, den Forderun- zuziehen. Am nächten Morgen bringen gen der rebellierenden Berliner nach ei- die Berliner die Toten auf den Schloßplatz ner konstitutionellen Regierung, die von und bahren sie demonstrativ dort auf. Dem einem Parlament zu wählen wäre, und ei- König bleibt keine andere Wahl, er kommt ner konstitutionellen Monarchie nachzu- hinaus und unter dem Geschrei der Men- geben. Am 17. März akzeptierte er die ge ‘Hut ab’ zieht er totenbleich seine Feld- Einführung eines konstituionellen Systems mütze in Ehrerbietung vor den von sei- und einer parlamentarischen Regierung nen Soldaten erschlagenen und erschos- unter dem Grafen Arnim-Boizenburg. senen Berliner Bürgern. Die Berliner wol- Während der Revolutionstage des 13. bis len das Schloß stürmen; der Freund des 15. März in Wien floh der Staatskanzler Königs, Fürst Lichnowsky beschwichtigt Fürst Metternich heimlich aus der Stadt. sie: ‘Die Forderungen sind alle bewilligt’, Andere, von den Pariser Straßenkämpfen berichtet die Presse. ‘Ooch det Roochen?’ und der Abdankung des französischen ‘Ja, auch det Roochen.’ ‘Auch im Dier- Königs Louis Philippe und seiner Flucht jartn?’ ‘Ja, auch im Tiergarten darf ge- nach England zutiefst erschrockene deut- raucht werden.’– Tausende von Bürgern sche Fürsten waren wie Friedrich Wilhelm kommen einer Ansprache des Monarchen IV. zu Kompromissen bereit. zuvor und stimmen das Lied ‘Jesus, mei- Es kam dann zu den verhängnisvollen ne Zuversicht’ an. Der König kommt nicht Ereignissen des 18. März in Berlin. Der zu Wort; von seiner Frau Elisabeth wird

Aufklärung und Kritik 1/2003 45 berichtet, daß sie gesagt habe: ‘nun fehlt Beifall der Berliner anschließend durch die bloß noch die Guillotine’. Stadt Berlin, seinen Willen bekräftigend, Schon vor diesem unvergeßlichen und in sich an die Spitze der deutschen Einheits- vielen Stahlstichen und Ölgemälden, auch bewegung zu stellen, aber auch um nach von Adolph Menzel, festgehaltenen Mo- dem Sieg des Volkes auf den Barrikaden ment der aufgebahrten Toten und dem die Handlungsfreiheit und Kontrolle über gedemütigten Monarchen, hatte Friedrich das weitere Geschehen zurückzugewin- Wilhelm IV. in der Nacht an seinem Auf- nen. ‘Der Jubel war unbeschreiblich’ be- ruf ‘An mein Volk und an die Deutsche richtet der österreichsiche Gesandte nach Nation’ geschrieben; sie wurde am 21. Wien. Prinz Wilhem v. Preußen, der spä- März überall in Berlin plakatiert; ‘Mit tere Kaiser Wilhelm I., hatte seinem Bru- Vertrauen spreche ich heute, im Augen- der empfohlen, die Aufständischen rück- blicke, wo das Vaterland in höchster Ge- sichtslos niederzuschießen; er floh am fahr schwebt, zur deutschen Nation, un- nächsten Tag nach England; im Volk wur- ter dessen edelste Stämme mein Volk sich de kolportiert, er sei nach Rußland geflo- mit Stolz rechnen darf. Deutschland ist hen, um seinen Rat mit Hilfe zaristischer von innerer Gärung ergriffen und kann Regimenter in die Tat umzusetzen; seit- durch äußere Gefahr von mehr als einer dem galt er im Volksmund als ‘der Kartät- Seite bedroht werden. Rettung aus dieser schenprinz’. Wie ernst war es dem König doppelten dringenden Gefahr kann nur aus mit der ‘Einheit mit Freiheit’? An den der innigsten Vereinigung der deutschen Kartätschenprinz schrieb er ins englische Fürsten und Vöker unter einer Leitung Exil ‘Die Reichsfarben mußte ich freiwil- hervorgehen.– Ich übernehme heute diese lig aufstecken, um alles zu retten. Ist der Leitung für die Tage der Gefahr. Mein Wurf gelungen, lege ich sie wieder ab.’ Volk, das die Gefahr nicht scheut, wird Wäre die preußische Revolution schon im mich nicht verlassen und Deutschland Jahre 1848 gelungen, wenn die Aufstän- wird sich mir mit Vertrauen anschließen. dischen in den Märztagen kompromißlos Ich habe heute die alten deutschen Far- geblieben wären? Diese Frage ist oft ge- ben [schwarz, rot, gold] angenommen und stellt worden. Ende März zog der Mon- mich und mein Volk unter das ehrwürdi- arch sich nach Potsdam zurück und ver- ge Banner des deurtschen Reiches gestellt. fiel in eine depressive Lethargie, aus der Preußen geht fortan in Deutschland auf.’ er erst im September wieder aufwachte, [Gall zit. 124] Gleichzeitig bekräftigte vermutlich aufgeweckt durch blutige Friedrich Wilhelm IV. das schon am 18. Volksaufstände in Frankfurt, die von öster- März gegebene Versprechen einer Verfas- reichischen und preußischen Truppen ge- sung und einer dem Parlament verantwort- meinsam niedergeschlagen wurden, durch lichen Regierung, die Wiedererrichtung die Ausrufung der Republik durch den ‘eines einigen, nicht einförmigen Deutsch- Revolutionär Struve in Lörrach und den land, einer Einheit in der Verschiedenheit, Wiener Volksaufstand vom 6. Oktober. einer Einheit mit Freiheit’. Geschmückt Und in der Tat handelte der königliche mit einer Armbinde in den von der Revo- Hoffnungsträger der deutschen Freiheits- lution übernommenen Farben Schwarz- bewegung dann ‘in der innigsten Vereini- Rot-Gold ritt der König unter gewaltigem gung der deutschen Fürsten’ die sich im

46 Aufklärung und Kritik 1/2003 Spätsommer von dem Schock der März- gewordenen Parlament lag, sondern in den revolutionen erholten, als auch Preußen Hauptstädten Dresden, Berlin, Wien er- vom 9. November von der Revolution er- rungen werden mußte. Dichtete der Revo- folgreich in die Konterrevolution über- lutionsdichter Georg Herwegh über das ging. Parlament: ‘Trotz aller Professoren, im Über die verhängnisvollen Tage, die dem Parla-, Parla-, Parlament, das Reden 9. November folgten, habe ich berichtet. nimmt kein End.’– Im Sommer 1848 stand Der König trat in diesen Tagen nicht in eine machtpolitische Entscheidung an – der Öffentlichkeit auf, verweigerte auch Worte waren genug gefallen und Ideen für die Annahme von Petitionen. Hier nur die Neugestaltung gab es übergenug – und noch eine kleine von Arnold Ruge berich- im November 1848 wurde entschieden tete Vignette, die auf seine Persönlichkeit zwischen den wiedererstarkten Dynasti- ein bezeichnendes Licht wirft. Es war am en und den revoltierenden Bürgern und 11. November, als eine Magdeburger De- Arbeitern, zwischen monarchischem legation den König vor der Kirchentür Machtanspruch und republikanischem trifft mit einer Petition, die er sich wei- oder konstitutionell-parlamentarischem gert anzunehmen: ‘Der Sprecher der De- Rechtsstaat. Vom Sommer 1848 an hat- putation: ‘Es ist eine Zustimmungsadres- ten die Dynastien in Preußen und Öster- se’. Der König nimmt sie, entfaltet sie, und reich mit Rückendeckung und starken For- wendet sich unwillig an den Sprecher mit derungen des zaristischen Regimes den den Worten: ‘Es ist nicht das, was Sie mir militärischen Gegenschlag vorbereitet. gesagt haben’. Der Sprecher: ‘Majestät, Hier ist der Name Robert Blum zu nen- es ist die Gesinnung von dreiviertel der nen. Blum, aus einer verarmten Kölner Stadt Magdeburg.’ Der König: ‘Wissen Handwerkerfamilie stammend, hatte in Sie, die Stadt Magdeburg hat mir Treue beim Theater Karriere gemacht geschworen, und ich habe sie ihres Eides zunächst als Arbeiter, schließlich als des- noch nicht entbunden’. Der Sprecher: sen Direktor. Diese Stellung gab er 1847 ‘Majestät, wir haben die Abgeordneten auf, um sich der Publizistik zu widmen, gewählt zur Vereinbarung der Verfassung, genauer durch die Herausgabe des ‘Staats- und wir werden an der Verfassung fest- lexikon für das Volk’ der Volksbildung halten.‘ Der König: ‘Die Stadt Magdeburg und der Einbeziehung der Arbeiterschaft wird sich meine allerhöchste Ungnade in den politischen Meinungsbildungs- und zuziehen.’’ [Bd. 7:360] Verantwortungsprozeß, zur, wie er sagte, Beseitigung der ‘Ausschließung des zahl- DIE BLUTIGE WIENER GEGENRE- reichsten und nützlichsten Teils des Vol- VOLUTION IM NOVEMBER 1848 kes, des vierten, des arbeitenden Standes Noch ein kurzer Seitenblick auf den Revo- – von jeder politischen Teilnahme.’[zit. lutionstag des 9. November 1848 in Wien. Freitag 140]. Und in der Tat gelang es ihm, Die radikal demokratisch gesonnenen während der mehrwöchigen Belagerung Kräfte Deutschlands waren sich darüber Leizpigs, der politisch wichtigsten Stadt einige, daß die Entscheidung über bürger- des Königreiches Sachsen, nicht nur die liche Freiheit und Demokratie nicht in unterschiedlichen Fraktionen der Revolu- Frankfurt bei dem machtlosen und müde tion zusammenzuhalten, sondern auch

Aufklärung und Kritik 1/2003 47 dem König während dieser Belagerung Stimmung; aber die Wiener Stadtverwal- eindeutige Zugeständnisse wie die Entlas- tung, selbst revolutionär gesonnen, wei- sung der Minister und die sofortige Ein- gerte sich, den bewaffneten Widerstand berufung eines Landtages abzutrotzen. der Bevölkerung anzuführen. Blum war Es hatte schon im August 1847 Schüsse sich nicht sicher, ob er abreisen sollte. auf rebellierende Bürger in Leipzig gege- Während sich der Belagerungsring der ben, bei denen es zu 12 Toten kam. Seit- Armee des Fürsten Windisch-Graetz um dem sprach man Leipzig eine Schlüssel- Wien schloß, schrieb er an einen Freund: rolle bei der politischen Durchsetzung der ‘In Wien entscheidet sich das Schicksal Demokratisierung Deutschlands zu. Deutschlands, vielleicht Europas. ... Siegt Schreibt unser Zeitzeuge Arnold Ruge, der die Revolution hier, dann beginnt sie von die Revolutionen im Sommer 1848 in neuem ihren Kreislauf; erliegt sie, dann Leipzig aktiv mitgestaltete, in einem bis- ist, wenigstens für eine zeitlang, Kirch- lang unveröffentlichten Tagebuch zur hofsruhe in Deutschland’. [zit. Freitag Rolle Leipzigs und Robert Blums: ‘Man 144]. Zusammen mit Fröbel beteiligte er kann Leipzig eigentlich keine Stadt nen- sich einige Stunden an der Verteidigung nen; es sind ein paar Läden und einige Wiens, bis er schließlich in seinem Hotel Kohlgärten, die keine europäische Bedeu- verhaftet wurde. Er berief sich auf seine tung haben. Dies sah Blum sehr richtig Immunität als Abgeordneter; aber das Re- ein, als er den Leipzigern riet, die Eröff- staurationsregiment verurteilte ihn stand- nung der Revolution anderen geeignete- rechtlich zum Tode. Robert Blum wurde ren Orten zu überlassen.– Seitdem aber am 9. November 1848 in der Brittenau bei lebte der Aberglaube in beiden Lagern: Wien standrechtlich erschossen. Als ob es Leipzig sei der Herd einer Revolution und koordiniert gewesen wäre, wenige Stun- Blum könne sie ausbrechen lassen, wie es den später erfolgte der Militäreinsatz von ihm beliebte. Dies war die Stellung Leip- 40.000 Soldaten in Berlin. zigs kurz vor dem Februar 1848.– Blums Die Nachricht vom Tode Robert Blums Partei beherrschte in der Tat seit dem 12. verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch August die Stadt und sein Ansehen im ganz Deutschland. Mehr als 10.000 nah- Lande wuchs seitdem immer mehr. Man men an der Totenfeier in Leipzig teil, die betrachtete ihn in Dresden als eine Art weit über Leipzig hinaus noch einmal ein Gegenkönig.’ [Bd. 7:435]. Fanal für die revolutionären Hoffnungen Als es zu einer erneuten Bürgerrevolte in und Enttäuschungen wurde. Mit den Wor- Wien und zur Gefahr der bewaffneten ten ‘Ich sterbe für die Freiheit, möge das Niederschlagung durch Kaiser Ferdinand Vaterland meiner eingedenk sein!’ fiel er I. und die Generalität kam, verabschiede- unter den Schüssen des Erschießungskom- ten die linken Fraktionen des Parlaments mandos. Wenn es einen Märtyerer der eine Solidaritätsadresse für das revolutio- deutschen Revolutionen 1848 gibt, dann näre Wien, die dann von Robert Blum und ist es Robert Blum. Er wurde wegen Be- Julius Fröbel nach Wien gebracht wurde. teiligung am bewaffneten Widerstand ver- Als die beiden am 17. Oktober in Wien urteilt ‘zum Tode durch den Strang’; der eintrafen, hatten Hof und Militär die Stadt Generalmajor bestätigte das Urteil mit verlassen; es herrschte eine revolutionäre dem Zusatz: ‘Ist kundzumachen und in

48 Aufklärung und Kritik 1/2003 augenblicklicher Ermanglung eines Frei- eine Professoren- und Bürgervereinigung, manns [d.h.eines Henkers] mit Pulver und so war es mit den anderen Parlamenten Blei durch Erschießen zu vollziehen’ [Gall und revolutionären Gremien; es fehlten die ed. 344] ‘Erschossen wie Robert Blum’, Frauen und die Arbeiter, bis auf wenige sagt der Volksmund noch heute und meint Ausnahmen. Wo waren die Frauen? sie damit jemanden, der ganz tot ist, mause- waren an der Seite ihrer Männer, die wie tot. Mit der Verletzung der Immunität des Robert Blum und Arnold Ruge und viele parlamentarischen Abgesandten Blum fiel andere ihre bürgerliche Existenz und die aber auch die letzte Larve nicht nur der Sicherheit ihrer Familie aufs Spiel setz- österreichischen, sondern aller an der Kon- ten. Sie verließen auch die deutsche Hei- terrevolution beteiligten Dynastien, die mat und gingen mit ihren Männern ins Achtung vor der freien Selbstbestimmung Exil, Agnes Ruge nach Brighton in Eng- ihrer Bürger, vor den Forderungen nach land, Karl Theodor Bayrhofer mit seiner Menschen- und Bürgerrechten und der Frau nach Wisconsin, Ernst Kapp mit sei- Beseitigung von sozialem und gesell- ner Frau ins Texas Hill Country, Amalie schaftlichem Unrecht. Unmittelbar nach Struve mit ihrem Mann nach New York. Verkündigung des Urteils am Morgen des Emma und Geord Herwegh nahmen bei- 9. November um 5 Uhr schreibt Blum ei- de an den revolutionären Bewegungen in nen Abschiedsbrief an seine Frau Euge- Baden teil; Amalie Struve wurde gemein- nie: ‘Alles, was ich empfinde, rinnt in sam mit ihrem Mann Gustav wegen Hoch- Tränen dahin, daher nur nochmals: leb’ verrats nach dem Scheitern des Struve- wohl teures Weib! Betrachte unsere Kin- Putsches, in dessen Verlauf Struve am 21. der als teures Vermächtnis, mit denen Du September 1848 in Lörrach die Republik wuchern mußt, und ehre so Deinen treu- ausrief, in einem Schwurgerichtsprozeß en Gatten. Leb’ wohl, leb’ wohl! Tausend, wegen Hochverrats angeklagt; Gustav tausend, die letzten Küsse von Deinem wurde zu einer mehrjährigen Einzelhaft Robert’, und er setzt unten hinzu ‘Die verurteilt, gegen Amalie wurde das Ver- Ringe hatte ich vergessen, ich drücke Dir fahren eingestellt. Die mit dem König den letzten Kuß auf den Trauring. Mein Friedrich Wilhelm IV. bekannte Bettina v. Siegelring ist für Hans, die Uhr für Ri- Arnim hatte schon 1845 in ‘Dies Buch chard, der Diamantknopf für Richard, die gehört dem König’ scharfsichtig und kri- Kette für Alfred als Andenken. Alle son- tisch die sozialen Verhältnisse im sich in- stigen Andenken verteile Du nach Deinem dustrialisierenden Preußen kritisiert. 1847 Ermessen. Man kommt. Lebe wohl, verfaßte Mathilde Franziska Anneke die wohl!’ [Gall zit. 345]. Kampfschrift ‘Das Weib im Konflikt mit den sozialen Verhältnissen’, die von der WO WAREN DIE FRAUEN IM sich später entwickelnden Frauenemanzi- REVOLUTIONSJAHR 1848? pation zum klasssischen Manifest erklärt Es mag Ihnen aufgefallen sein, daß Euge- wurde; mit an Hegel geschulter Dialektik nie Blum die erste Frau ist, die ich erwäh- fragt sie: ‘Warum auch sollte das Weib ne. Wo waren die Frauen 1848? Sie wa- überhaupt die schweigende Dulderin fort- ren nicht in den Parlamenten; die Frank- an noch sein?– Warum noch länger die furter Paulskirche war im wesentlichen duldende Magd, die ihrem Herrn die Füße

Aufklärung und Kritik 1/2003 49 wäscht – warum noch länger die christ- schen Philosophie in gemeinfaßlicher lich duldende Magd eines Herren, der zum Form’. Despoten ihres Herzens geworden ist, weil er selbst Knecht ward?’ [Freitag zit. 219]. VISIONEN EINES SOZIALDEMO- Wenn Männer sich befreien sollen und KRATISCHEN FREISTAATES 1848 können, dann brauchen sie auch nicht Es war das Hegelsche Prinzip der Selbst- mehr den Frauen ihre Freiheit vorenthal- bestimmung des freien Bürgers in aufklä- ten, dann können auch Frauen sich befrei- rerischer Tradition, welches die Linke im en; ja, die familiäre Unterdrückung der Jahr 1848 bestimmte. Konzeptionell mün- Frauen ist ein Reflex der politischen Un- dete dieses politische und aufklärerische terdrückung der Männer, so ihre Argu- Engagement in der Vision eines sozialde- mentation. Über ihre Teilnahme an den ba- mokratischen Staates auf deutschem Bo- dischen Revolutionskämpfen, gemeinsam den. In seinem Brief an Frau Lewald führt mit ihrem Mann veröffentlichte sie nach Ruge diese Vision im Detail aus: ‘Das ihrer Flucht in die USA 1853 in Newark demokratische Prinzip ist die bewußte NJ die ‘Memoiren einer Frau aus dem Selbstbestimmung, welche die ganze Ge- badisch-pfälzischen Feldzug’. sellschaft durchdringt und bewegt. Die Von 1852 an gab sie in New York das Anwendung des demokratischen Prinzips ‘Centralorgan der Vereine zur Verbesse- auf Eigentum, Arbeit und Verkehr ist die rung der Lage der Frauen’ heraus und Lösung der sozialen Frage, die Durchfüh- sprach 1853 auf der allgemeinen Frauen- rung des demokratischen Prinzips in der rechtsversammlung in New York als deut- ökonomischen, der politischen und der sche Delegierte. Agnes Ruge reiste mit freien Gemeinde, oder in der sozialen, dem Paß von Josephine d’Alquin in politischen, idealen Welt ist die Gründung Arnsberg; Arnold und Agnes Ruge benut- des sozialdemokratischen Freistaates’ zen den Namen d’Alquin als Absender aus [Bd. 8:271]. Sozialdemokratie ist für den London auf den Briefen und Manuskrip- sozialen Demokraten Ruge nicht soziali- ten, die zunächst an Josephine d’Alquin stische Gleichmacherei; seine Kritik des gingen und dann von ihr unter Täuschung französischen Frühsozialismus ist scharf- der preußischen Zensur weitergeleitet sichtig und klar; sein Bruch mit Marx und wurden. Ruge gab der systematischen dessen Ideen erfolgte bereits 1843. Zusammenfassung seiner philosophischen Zu seinem Verständnis von Gleichheit und politischen Gedanken auch in der gehört auch die Respektierung und För- Aufarbeitung der Erfahrungen des Schei- derung der individuellen Selbstentfaltung: terns 1848 im Jahre 1850 in Brighton die ‘Die Ungleichheit des Besitzes, des An- Form eines Briefes an eine Dame, Fanny sehens und der Funktionen entsteht durch Lewald in Berlin, der Frau seines Freun- die verschiedenen Kräfte und Fähigkeiten, des Adolf Stahr: ‘Unsere Philosophie und nicht durch die verschiedenen Rechte der unsere Revolution’ mit dem Untertitel ‘Ein Personen. Weil die Personen körperlich Brief an Fanny Lewald, enthält die wis- und geistig verschieden sind, so müssen senschaftliche Ableitung des Humanismus sich überall notwendig diese äußerlichen und der Revolution aus der deutschen Ungleichheiten erzeugen, das darf aber Philosophie oder die Geschichte der deut- nur geschehen so weit sie der wesentli-

50 Aufklärung und Kritik 1/2003 chen Gleichheit, d.h. der persönlichen richt verdient den Aufwand, den das Mi- Freiheit der Menschen nicht gefährlich litär nicht verdient. Dieser Aufwand ist werden’ [Bd 7:420]. Diese Rugesche The- imstande, das Militär zu ersetzen, die Ver- se zu einer sozialdemokratischen Gesell- brechen zu vermindern und die Lehrer zu schaft und Politik ist bis heute zwischen der ehrenvollen und angenehmen Stellung den Flügeln der deutschen und internatio- zu erheben, welche sie im Staate verdie- nalen Sozialdemokratie nicht unumstrit- nen und bis jetzt noch nicht genießen’ [Bd. ten. 7:422]. Wichtig ist für ihn auch der routinemäßi- ge und unsensationelle Wechsel zwischen DAS VERMÄCHTNIS DES 9. NO- Regierung und Opposition: ‘Die Opposi- VEMBER 1848: AUSBLICK tion ist ein Ausschuß vor der Staatsge- Sind die Themen des Jahres 1848 und die sellschaft zur Kontrolle der Regierung. Sie Versäumnisse und Hoffnungen des No- repräsentiert die Minderheit, welche vember 1848 über die Narrationen von Mehrheit zu werden sucht. ... Wenn die menschlichen Einzelschicksalen hinaus Oppositon die Mehrheit im Volk und bei auch 1998 noch aktuell? Ich denke: ja, und den Abgeordneten gewinnt, so wird sie nenne fünf Punkte: (1) Die ‘deutsche Fra- Regierung. Wo dies nicht der Fall ist, da ge’ nach Einheit in Recht und Freiheit ist ist das Rechtsgeschäft noch nicht so weit formal seit dem 9. November 1989 gelöst. entwickelt, daß es die Gesellschaft in fried- Aber Bürgerfreiheit und Bürgersicherheit, lichen Kreisen zu neuen Maximen und Demokratie und die gerechte und solida- Prinzipien treibt’ [Bd. 7:421]. rische Lösung sozialer Fragen sind im Ebenso entscheidend ist für sein Modell veränderten Kontext von 1998 nicht we- eines sozialdemokratischen Freistaates die niger aktuell als damals, eine Herausfor- Rolle der freien Presse: ‘Die Presse in den derung an deutsche und andere europäi- Journalen ist die permanente Debatte zwi- sche sozialdemokratische Regierungen schen Regierung und Opposition, zwi- 150 Jahre nach den Herbstrevolutionen schen Mehrheit und Minderheit. ... Die 1848. (2) Auch die ‘europäische Frage’ Person, das Recht, das Eigentum sind stellt sich von neuem, das Verhältnis nicht eher unverletzlich und heilig, als bis Deutschlands zu seinen Nachbarn, vor es keine Ausnahmen gegen irgendeine allem das einer deutsch-französischen Person, irgendein Recht, irgendein Eigen- Allianz, von dem Ruge, Marx und andere tum gibt’, – und damit meinte er insbe- revolutionierende Visionäre 1848 träum- sondere die Unterdrückung von Mei- ten. (3) Und natürlich diskutieren wir in nungsfreiheit und Presse, wie er es am einer rasant sich transformierenden Infor- eigenen Leib, Vermögen und Engagement mationsgesellschaft Rechte, Pflichten und erlebt hatte [Bd. 7:421f]. Funktionen der Medien, auch die Rolle Und ein anderes Motiv spielt schon bei von Bildung und Ausbildung in einer de- Ruge eine Rolle, welches dem sozialde- mokratischen Mündigkeitsgesellschaft. mokratischen Engagement bis heute nicht (4) Auch die Allokationsdiskussionen – fremd ist, die Diskussion der Allokation hier Militärhaushalt, dort Bildungs-, von Steuermitteln – hier vor allem: ‘Schule Schul- und Hochschulwesen – sind nicht oder Starfighter’: ‘Der öffentliche Unter- weniger brennend geworden als sie zwi-

Aufklärung und Kritik 1/2003 51 schen ‘Militaristen’ und ‘Linken’ im Re- Literatur volutionsjahr 1848 waren. (5) Schließlich Essbach W. (1988) Die Junghegelianer. ist das Thema des Verhältnisses von Theo- Soziologie einer Intellektuellengruppe, rie und Praxis – nicht erst vor und seit dem München: Fink Vormärz von Hegel, Ludwig Feuerbach, Freitag S. Hg. (1998) Die Achtund- Arnold Ruge, Karl Marx und Friedrich vierziger. Lebensbilder aus der Deutschen Engels diskutiert und praktiziert – ein Revolution, München: Beck Dauerthema in der kritischen Theorie und Gall L. Hg. (1998) 1848 Aufbruch zur politischen Auseinandersetzung geblie- Freiheit. Eine Ausstellung des Deutschen ben, ein Dauerzünder und Dauerbrenner, Historischen Museums, 18.5.-28.9.1998, ohne den auch in Zukunft Fragen der Berlin: Nicolai Emanzipation, der sozialen und kulturel- Mommsen W. (1998) Die ungewollte Re- len Gerechtigkeit und Fragen des dialek- volution, Frankfurt: Fischer tischen Verhältnisses von Freiheit und Si- Ruge A. (1998) Zensur-1848-Patriotis- cherheit, von Bewahren und Erneuern, mus [Werke und Briefe, Bd. 7, Hg. H.M. von Vision und Realisation, von Selbst- Sass], Aalen: Scientia bestimmung und Verantwortung und des Ruge A. (1998) Der Demokrat-Unser Sy- rechten Verhältnisses von Solidarität und stem [Werke und Briefe, Bd. 8, Hg. H.M. Subisidarität nicht diskutierbar sind. Sass] Aalen: Scientia Ich kenne keinen Tag, der sich angesichts Sass H.M. (2002) Junghegelianische der komplexen deutschen und europäi- Revolutionestrategien im 21. Jahrhundert. schen Geschichte besser als Gedenktag, Aufklärung und Kritik 2/2002, S. als Nachdenktag und Nationalfeiertag für Walter S (1995) Demokratisches Denken uns Deutsche eignen würde als der 9. zwischen Hegel und Marx. Die Politische November. Das Faktum, daß die Bundes- Philosophie Arnold Ruges, Düsseldorf: republik Deutschland statt des 9. Novem- Droste ber den 3. Oktober, den Tag des ersten Zusammentritts eines frei gewählten deut- Hans-Martin Sass ist Professor der Phi- schen Parlaments nach vielen Jahren der losophie an der Ruhr-Universität in Diktatur und Teilung als Nationalfeiertag Bochum und Senior Research Scholar am begeht, könnte ein Zeichen sein, daß wir Kennedy Institut of Ethics der George- Deutsche uns der Komplexität unserer town Universität in Washington DC. Pro- Geschichte im Andenken und Nachden- fessor Sass hat ausführlich über die poli- ken und Verantwortungsdenken, auch in tische Theorie der Hegelianer gearbeitet, Schuld und Scheitern, für die Zukunft insbesondere auch zu Ludwig Feuerbach, nicht stellen wollen oder noch nicht stel- und ist Herausgeber der 12-bändigen len können. Werke- und Briefe-Ausgabe von Arnold Ruge im Verlag Scientia, Aalen. In den letzten Jahren hat er intensiv an bio- ethischen Forschungen im In- und Aus- land teilgenommen.

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