Pamela Henstra

Der Luftkrieg in Mülheim an der Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung...... 3 II. Die Anfänge des Luftkrieges von 1939 – 1942...... 5 1. Britische Kriegsvorbereitungen...... 5 2. Der Beginn der britischen Bomberoffensive gegen das Deutsche Reich und die Stadt Mülheim...... 7 3. Die Weiterentwicklung des britischen Bomber Command und die Auswirkungen auf die Stadt Mülheim bis zum Ende des Jahres 1942...... 9 4. Die amerikanische Air Force im Luftkrieg über Deutschland...... 18 5. Die Heimatluftverteidigung...... 21 a) Nachtjagd...... 21 b) Flak...... 23 6. Die Heimatluftverteidigung im Jahr 1942...... 25 a) Nachtjagd...... 25 b) Flak...... 26 c) Tagjagd...... 27 III. Das Jahr 1943...... 28 1. Die Konferenz von Casablanca...... 28 2. Die 8. USAAF...... 31 3. Das Bomber Command...... 32 4. Reaktionen auf deutscher Seite...... 33 5. Mülheim und der Beginn der „“...... 34 6. Der Großangriff auf die Stadt Mülheim an der Ruhr...... 36 7. Die Heimatluftverteidigung 1943...... 45 a) Flak ...... 45 b) Tagjagd ...... 47 c) Nachtjagd ...... 48 8. Vergeltung statt Verteidigung...... 51 9. V-Waffen im Einsatz ...... 53 a) V1...... 53 b) V2 ...... 53 c) V3...... 54 d) Die Bedeutung der V-Waffen-Offensive...... 55 IV. Die letzte Phase des Luftkrieges 1944/45...... 57 1. Die Verschärfung des Luftkrieges in der Endphase...... 57 2. Die letzten Luftangriffe gegen die Stadt Mülheim...... 59 V. Die Bevölkerung und der Bombenkrieg...... 61 1. Ziviler Luftschutz...... 61 2. Selbstschutz...... 62 3. Bunkerbau...... 63 4. Luftalarme...... 67 5. Die Versorgung der Bevölkerung...... 70 6. Jugend im Luftkrieg...... 74 a) Erweiterte Kinderlandverschickung (KLV)...... 74 b) Das Lagerleben in der KLV ...... 77 c) Mülheimer Flakhelfer...... 80 VI. Schlussbetrachtung...... 82 1. Die Auswirkungen des Bombenkriegs auf die Stadt Mülheim an der Ruhr ...... 82 2. Fazit...... 85 Quellen- und Literaturverzeichnis...... 87 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis...... 90 Abkürzungsverzeichnis...... 91 I. Einleitung

Die alliierte Bomberoffensive gegen das Deutsche Reich während des Zweiten Weltkrieges brachte das Kriegsgeschehen direkt in die deutschen Städte. Vor allem die britischen Flächenangriffe hinterließen dabei Schäden und Zerstörungen in einem verheerenden Ausmaß. Besonders im Westen war das Ruhrgebiet, „die Waffenschmiede des Reiches“1 das vorrangige Ziel. Die Menschen dort mussten bald pausenlos mit Luftangriffen rechnen und auch leben. Neben der Zerstörung der Industrie spielte auch die Zerstörung der deutschen Moral eine bedeutende Rolle bei den britischen Luftkriegsplänen. Die nächtlichen Flächenangriffe („area bombing“) zeichneten sich schließlich dadurch aus, dass gezielt die Stadtkerne und Wohngebiete die Hauptangriffsziele waren. Eine Taktik, für die später der Begriff „moral bombing“ stehen sollte. Neben den Bombenangriffen an sich bestimmten u.a. Luftalarme, vorwiegend bei Nacht, immer häufigere und längerandauernde Aufenthalte in den Bunkern sowie Engpässe bei Versorgungsgütern aller Art, früh den Alltag der Menschen. Dazu gesellte sich bald die Erkenntnis, dass Schutz- und Hilfsmaßnahmen nicht mehr ausreichten. Für die Jugend wurden Bereiche wie die Kinderlandverschickung (KLV) und der Einsatz als Flakhelfer ein wesentlicher Teil des Kriegsgeschehens.2 Die deutsche Luftverteidigung, die von Beginn an einen schweren Stand gegenüber Hitlers Offensiv-Strebens hatte, bildete einen bedeutenden Schwachpunkt in der deutschen Kriegsführung. Frühe Versäumnisse und zunehmender Material- und Personalmangel führten dazu, dass der anwachsenden Stärke der Alliierten, bald nichts mehr entgegengesetzt werden konnte. Die Vergeltung, die von Hitler bereits frühzeitig angekündigt wurde, sollte mithilfe der Fernwaffen noch durchgesetzt werden, doch scheiterte auch dieses Vorhaben und entwickelte sich stattdessen vielmehr zu einem Unruhestifter innerhalb der Bevölkerung, obwohl die Vergeltungsversprechen eigentlich das genaue Gegenteil bewirken sollten.3

Diese Darstellung beschäftigt sich damit, am Beispiel der Stadt Mülheim an der Ruhr den Verlauf des Luftkrieges und seine Auswirkungen auf die Stadt aufzuzeigen. Gerade aus der Sicht der Zivilbevölkerung war der Luftkrieg ein einschneidendes Erlebnis, der auch diese Stadt zu einem Teil der „Heimatfront“ machte, jedoch mit einem geringeren Ausmaß an Zerstörung, verglichen mit

1 Zit. n. Jochen von Lang: Krieg der Bomber. Dokumentation einer deutschen Katastrophe, ; a.M. 1986 (Im Folgenden: von Lang: Krieg der Bomber), S. 100. 2 Allgemein zur KLV vgl. Gerhard Kock: Dedr Führer sorgt für unsere Kinder...Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, Paderborn 1997 (Im Folgenden: Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder); Allgemein zu Flkahelfern vgl. Horst-Adalbert Koch: Flak. Geschichte der deutschen Flakartillerie und der Einsatz der Luftwaffenhelfer, Bad Nauheim 1965 (Im Folgenden: Koch: Flak). 3 Hierzu allgemein vgl. Heinz Dieter Hölsken: Die V-Waffen: Entstehung – Propanganda – Kriegseinsatz, 1984 (Studien zur Zeitgeschichte Bd. 27) (Im Folgenden: Hölsken: V-Waffen).

4 anderen Städten im Ruhrgebiet. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung der Stadt Köln, aus dem Jahre 1952.4 In den Missionslisten der Alliierten taucht Mülheim auch tatsächlich nur sechsmal als direktes Ziel auf, fünfmal beim britischen Bomber Command und einmal bei der 8. United States Army Air Force (USAAF). Von diesen sechs direkten Angriffen handelte es sich auch nur bei einem einzigen um einen Flächenangriff. Dagegen galten Essen und Duisburg jeweils über 60-mal als Angriffsziele.5 Als direkter Nachbar dieser Städte erlebte Mülheim daher noch weitere 154 indirekte Angriffe. Welche Bedeutung hatten diese Angriffe für die Stadt bzw. für ihre Bewohner? Denn auch wenn die Zerstörungen innerhalb der Stadt als gering eingestuft wurden, bedeutete der Luftkrieg dennoch eine Belastung, sowohl physisch als auch psychisch. In dieser Hinsicht dürfte sich Mülheim kaum von anderen deutschen Städten unterscheiden. Die Zivilbevölkerung wurde ein aktiver Part des Krieges und das Jahr 1943, mit der britischen Großoffensive gegen das Ruhrgebiet, der „Battle of the Ruhr“,6 bildete schließlich den Höhepunkt des Luftkrieges in Mülheim.

4 Vgl. Wilhelm Ullrich: In drei Wellen flogen 499 Bomber an. Dokumentation über den britischen Luftangriff vom 22./23. 06. 1943. In: Jahrbuch der Stadt Mülheim, Jahrgang Nr. 84, Mülheim 1984 (Im Folgenden: Ullrich: Dokumentation), S. 213-229 hier S. 226. 5 Vgl. Elmar Wiedeking: Kriegsalltag einer Stadt. Mülheim an der Ruhr 1939-1945. In: Jahrbuch der Stadt Mülheim, Jahrgang 59, Mülheim 2004 (Im Folgenden: Wiedeking: Kriegsalltag), S. 229-268 hier S. 230ff. 6 Hierzu allgemein vgl. Alan W. Cooper: The Air Battle of the Ruhr. RAF Offensive March to July 1943, Shrewsbury 1992 (Im Folgenden: Cooper: Air Battle).

5 II. Die Anfänge des Luftkrieges von 1939 – 1942

1. Britische Kriegsvorbereitungen Bereits ab 1934 sah man auf britischer Seite die Entwicklungen in Hitler-Deutschland als bedrohlich an und bereits zu dieser Zeit entstanden Überlegungen, wie Deutschland im Falle eines Krieges gegen vorgehen würde und wie eine Reaktion von Seiten Englands darauf aussehen sollte. Die Rolle der Air Force, speziell die des Bomber Command, war zu diesem Zeitpunkt jedoch noch relativ unklar. Es gab daher Pläne für das Bomber Command als Unterstützer der Navy, als Unterstützer der Army und Pläne, in denen das Bomber Command als selbstständige Streitkraft eine Offensive gegen die deutsche Industrie führen würde. Mögliche Operationen gegen das Deutsche Reich wurden bis 1939 entworfen und in den Western Air Plans (W.A.) festgelegt.7 Auch wenn die Rolle des Bomber Command noch nicht klar definiert war, so stand doch von Anfang an fest, dass dessen Stärke in jedem Falle ausgebaut werden müsse, um mit der deutschen mithalten zu können. Innerhalb von 5 Jahren wollte man über eine gleichwertige Stärke verfügen. Die anfängliche Unterlegenheit der RAF gegenüber der deutschen Luftwaffe machte deutlich, dass vor allem der Zeitfaktor eine große Rolle spielen würde, daher entschied man, das Bomber Command, bzw. die gesamte RAF vorrangig in der Defensive einzusetzen. Alle Schritte gegen Deutschland sollten lediglich Reaktionen auf deutsche Aktionen gegen England, Frankreich oder Belgien sein. Im Falle eines deutschen Luftangriffs gegen England sollte das Bomber Command deutsche Luftwaffenstützpunkte und Werkstätten angreifen, bei einem deutschen Angriff gegen Frankreich oder Belgien, sollten die deutschen Kommunikations- und Transportwege das Angriffsziel sein. Deutschland sollte auf keinen Fall dazu provoziert werden, britische Städte zu bombardieren. Die defensive Ausrichtung der britischen Luftstreitkräfte basierte neben der Vermeidung von Provokationen auch auf der Tatsache, dass man in England noch nicht über Maschinen verfügte, die sich für Angriffe auf Deutschland eigneten und da zu dem für eine notwendige Aufrüstung noch die finanziellen Mittel fehlten, beschränkte sich die Produktion anfangs noch auf leichte Bomber. Als es ab 1936 die eigenen Mittel schließlich zuließen, wurde die Produktion auf mittlere und schwere Bomber umgestellt. Die neuen Flugzeugtypen, Wellington, Whitley, Hurricane, Spitfire, Blenheim und Hampden standen nun kurz vor der Einführung und Pläne, aus denen später die 4-motorigen Bomber Stirling, Halifax und Lancaster hervorgingen, wurden 1936 ebenfalls entworfen. Die Flugzeugproduktion sollte gesteigert werden. Bisher sahen die Pläne 3800 Maschinen innerhalb von 2 Jahren vor, doch nun wurde die Produktion von über 8000 Maschinen innerhalb von 3 Jahren angestrebt (Scheme F). Im Jahr 1938 wurde dieser Plan wiederum durch einen neuen ersetzt, der in einem Zeitraum von 2 Jahren eine Produktion con 7 Vgl. Charles Webster/Noble Frankland: The Strategic Air Offensive Against Germany 1939-1945, London 1961 (Im Folgenden: Webster/Frankland: Air Offensive), hier Vol. I, S. 86ff. ; ebd. Vol. IV, App. 6, S. 99ff.

6 12000 Maschinen vorsah (Scheme L). Zu Beginn der Produktion galt es, noch einige Schwierigkeiten, vor allem den Mangel an gut ausgebildeten Arbeitskräften, zu überwinden. Doch schließlich gelang es, Scheme L annähernd den Erwartungen entsprechend umzusetzen.8 Auch nach Kriegsausbruch gingen die Planungen der Flugzeugproduktion weiter, deren gewünschte Produktionszahlen ab 1941 jedoch stetig unrealistischer wurden.9 Die Produktion wurde zeitweise zurückgeworfen, u.a. durch die , zudem waren die schweren Bomber, die man ab 1941/1942 vermehrt herstellte, in ihrer Produktion viel komplexer.10 Insgesamt gelang es den Briten aber, während des gesamten Krieges, die Flugzeugproduktion auf einem hohen Niveau zu halten.

Tabelle 1: Britische Flugzeugproduktion 193911

Produzierte Bombertypen:12 Schwere: Manchester, Stirling, Halifax, Lancaster, Warwick Mittlere: Wellington, Hampden, Hereford, Whitley, Albemarle Leichte: Blenheim, Battle, Mosquito

Schwere Bomber Mittlere Bomber Leichte Bomber Jäger Januar 54 59 78 Februar 54 74 107 März 55 107 117 April 41 81 111 Mai 55 101 140 Juni 72 74 127 Juli 43 108 114 August 51 81 83 September 74 112 93 Oktober 91 100 106 November 89 102 126 Dezember 79 80 122 Total 758 1079 1324

8 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 75 ; zu den hier erwähnten Produktionsplänen vgl. Michael M. Postan: British War Production, London 1975 (Im Folgenden: Postan: British War Production), S. 15ff. und App. 7, S. 103f. 9 Vgl. Postan: British War Production, App. 3, S. 474ff. 10 Vgl. ebd. S. 123ff., S. 164ff. 11 Vgl. ebd. App. 3, S. 472 und App. 4, S. 484 ; Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV App. 7, S. 104. 12 Bis Anfang 1941 galten Hampden, Wellington und Whitley als schwere Bomber. Blenheim und Battle als mittelschwere Bomber. Nach Einführung der 4-motorigen Bomber wurden die bis dahin schweren Bomber als mittelschwer und die mittelschweren als leichte Bomber bezeichnet. Vgl. James Goulding/Phillip Moyes: RAF Bomber Command and its aircraft 1941 – 1945, London 2002 (Im Folgenden: Goulding/Moyes: Bomber Command aircraft), S. 08; zu den Flugzeugtypen der RAF vgl. auch www.raf.mod.uk (Letzter Zugriff: 18.01.2015).

7 Die Tatsache, dass die britische Kriegsproduktion auch auf Materiallieferungen aus den USA zurückgreifen konnte, gehört an dieser Stelle zwar erwähnt, aber auch der Hinweis darauf, dass die Importe nicht den Großteil der Gesamtproduktion ausmachten. Daneben wurden die Flugzeuge der RAF auch in Kanada produziert, dort wurde auch ein Teil der Piloten ausgebildet. Insgesamt wurde das Bomber Command aus Material und Personal des gesamten Commonwealth geformt.13

2. Der Beginn der britischen Bomberoffensive gegen das Deutsche Reich und die Stadt Mülheim Erste Erfahrungen mit britischen und französischen Luftangriffen hatte man auf deutscher Seite bereits während des Ersten Weltkrieges gemacht und daher war man sich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges durchaus darüber bewusst, dass eine reale Gefahr aus der Luft bestand. Bereits am 02. September 1939 veröffentlichte die Mülheimer Zeitung einen Aufruf des Polizeipräsidenten Oberhausen/Mülheim und Leiter des örtlichen Luftschutzes, Lucian (Lutz) Damianus Wysocki, in dem er die Bevölkerung dazu aufforderte, sich bei Feindeinflügen nicht im Freien aufzuhalten: „Jede Neugier rächt sich bitter! Um euch vor dem Abwurf feindlicher Bomben zu schützen, muss die Flak schießen. Dabei können stets Geschützsplitter und auch größere Teile herunterfallen und Euch auf den Straßen gefährden.“14

Die Auswirkungen von Feindeinflügen auf das Alltagsleben der Bevölkerung sollten die Menschen im Laufe des Krieges noch deutlich zu spüren bekommen. Auf britischer Seite galten die ersten 8 Kriegsmonate als „“, oder auch als Sitzkrieg. Während dieser Zeit beschränkten sich die Aktionen des Bomber Command, neben Flubglätterabwürfen, auf gelegentliche Tagesangriffe gegen militärische und industrielle Ziele, vor allem in Küstennähe. Der eigentliche Wert dieser frühen Aktionen lag aber wohl eher darin, Präsenz über deutschem Raum und Bereitschaft zum Kampf zu demonstrieren.15 Elektrizitäts- und Treibstoffwerke im Ruhrgebiet galten zwar als besonders lohnenswert, waren jedoch schwer zu erreichen. Auf keinen Fall sollten sich die Angriffe gegen die Zivilbevölkerung richten: „Indiscriminate attack on civilian populations as such will never form part in our policy“ lautete der britische Grundsatz zu Kriegsbeginn. Zu dieser Haltung verpflichteten sich bei Kriegsausbruch alle Beteiligten, nachdem der amerikanische Präsident Roosevelt zu einem eingeschränkten Bombardement appelliert hatte.16 Erste Angriffe gegen das Ruhrgebiet flog das Bomber Command im Mai 1940. Zu diesem Zeitpunkt hatte man bereits den Wechsel von Tages- auf Nachtangriffe vollzogen. Besonders verlustreiche Angriffe im Dezember 1939, auf militärische Ziele entlang der

13 Vgl. Postan: British War Production, App. 4, S. 484f. und Tab. 36, S. 247; Webster/Frankland: Air Offensive Vol. II, S. 04 ; Anthony Verrier: Bomberoffensive gegen Deutschland 1939-1945, Frankfurt am Main 1979 (Im Folgenden: Verrier: Bomberoffensive), S. 200. 14 Zit. n. Stadtarchiv Mülheim Bestand 11430/55 Mülheimer Zeitung (Im Folgenden: StAMH: MZ), vom 02.09.1939. 15 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 87 und S. 110. 16 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 134f., zit. n. Ebd. S. 135.

8 deutschen Nordseeküste, lieferten die endgültige Entscheidung zu diesem Schritt.17 Eine Umstellung, die das Bomber Command noch mit einigen Problemen konfrontieren sollte. Die Idee, Nachtangriffe zu fliegen, entstand aber nicht erst zu dieser Zeit, bereits im W.A. 5, dem „Ruhrplan“, war von Nachtangriffen die Rede und ebenso in einer Direktive vom April 1940, betreffend britischer Gegenmaßnahmen nach der deutschen Invasion Skandinaviens. Mit diesem Ereignis eröffneten die Briten auch schließlich den strategischen Bombenkrieg gegen das Deutsche Reich.18 Mülheim traf es zum ersten Mal am 13. Mai 1940 und zehn Tage später ein weiteres Mal. Diese Angriffe verursachten nur geringe Schäden am Kahlenberg und in der Prinzeß-Luise-Straße. Die Sorge der Bevölkerung hielt sich noch in Grenzen und stattdessen überwog die Neugier, so wurden die betroffenen Gebiete zu beliebten Ausflugszielen.19 Auch wenn sich die Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt nur in einem geringen Maße bedroht fühlte, so waren die Feindeinflüge doch bereits ein Zeichen dafür, dass die Stadt vor Angriffen aus der Luft nicht hundertprozentig sicher war. Mit steigender Zahl solcher leichten Angriffe, stieg aber auch die Beunruhigung innerhalb der Bevölkerung. Aus diesem Grund wertete man auf britscher Seite auch diese Angriffe als gewissen Erfolg und die Auswirkung der Luftangriffe auf die Stimmung der Zivilbevölkerung sollte in den britischen Plänen noch eine wesentliche Rolle spielen.20 Ab Ende 1940 verstärkte das Bomber Command seine Luftangriffe, was sich auch in Mülheim bemerkbar machte. Zu diesem Zeitpunkt veränderte das Bomber Command auch seine Angriffstaktik dahingehend, dass die Auswirkungen auf die Bevölkerung stärker in den Fokus traten. Hatte man sich zu Beginn der Luftoffensive noch ausschließlich auf militärische Ziele beschränkt, änderte sich das ab Oktober. Nach der erfolgreichen Abwehr der deutschen Invasion Englands, der „Operation Seelöwe“, während der „Battle of Britain“, begann das Bomber Command wieder verstärkt Angriffe gegen Deutschland zu fliegen. Dabei kristallisierten sich zwei Hauptziele heraus: Öl und Moral.21 Ein Beschluss vom 30. Oktober 1940 verwies zwar weiterhin auf militärische Ziele, dazu kam aber nun der deutliche Hinweis, dass die Bomberangriffe der deutschen Zivilbevölkerung aufzeigen sollten, mit welcher Schwere die Briten in Zukunft ihren

17 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 202. 18 Vgl. ebd. Vol. IV, App. 6, S. 100; App. 8 (i), S. 109f. ; Ralf Blank: Kriegsalltag und Luftkrieg an der „Heimatfront“. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 9/1: Politisierung, Vernichtung, Überleben. Die Deutsche Kreigsgesellschaft 1939-1945, München 2004 (Im Folgenden: Blank: Heimatfront), S. 357-464 hier S. 362. 19 Vgl. Hans-Werner Nierhaus: Die Stadt Mülheim an der Ruhr und der Zweite Weltkrieg 1939-1945, Essen 2007 (Im Folgenden: Nierhaus: Mülheim), S. 201. 20 Vgl. Horst Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg über Europa und die deutsche Luftverteidigung. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 6: Der Globale Krieg. Die Ausweitung zum Zweiten Weltkrieg und der Wechsel der Initiative 1941-1943, Stuttgart 1990 (Im Folgenden: Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg), S. 429-566 hier S. 458; Verrier: Bomberoffensive S. 221. 21 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 157.

9 Luftkrieg führen würden. In der Direktive war auch nicht mehr ausdrücklich von militärischen Objekten als Ziel die Rede, sondern nur noch von Objekten in großen Städten oder Industriezentren: „As many heavy bombers as possible should be detailed for the attack, carrying high explosive, incendiary and delay-action bombs with perhaps an occasional mine. The aim of the first sorties should be to cause fires, either on or in the vicinity of the targets, so that they should carry a high proportion of incendiary bombs. Successive sorties should then focus their attacs to a large extend on the fires with a view to preventing the fire fighting services from dealing with them and giving the fires every opportunity to spread.“22

So lautete die Beschreibung der anzuwendenden Angriffstaktik und ohne es direkt zu formulieren, hatten die Briten den ersten Schritt in Richtung Flächenangriff („area bombing) gemacht.23 Angriffe dieser Art erlebte Mülheim zum ersten Mal Ende 1940, als am 20. November das Gebiet rund um die Rennbahn am Raffelberg von 6 Spreng- und 133 Brandbomben getroffen und sämtliche Häuser in den anliegenden Straßen beschädigt wurden. Bereits einen Tag später erfolgte ein weiterer Angriff auf dieses Gebiet, bei dem 3 Sprengbomben und 35 Brandbomben abgeworfen wurden. Am 27. November wurden weitere Häuser, diesmal am Blötterweg, von 5 Spreng- und 52 Brandbomben getroffen. Die Folgen dieser Angriffe waren nicht mehr nur Straßen- und Gebäudeschäden, es gab insgesamt 4 Verletzte und einen Toten.24

Das Ruhrgebiet als bevorzugtes Ziel der Luftoffensive erwies sich gleichzeitig als größte Herausforderung. Die Entscheidung zum Nachtbombardement sollte zwar einen Vorteil gegenüber der deutschen Luftwaffe darstellen, doch erschwerte sie auch die Zielfindung, die aufgrund des ständigen Industriedunstes über dem Gebiet ohnehin schon nicht ganz einfach war.25 Dennoch versprach man sich von den Nachtangriffen größere Erfolge, da es zu diesem Zeitpunkt noch keine organisierte deutsche Nachtjagd gab und die Flak ebenfalls von Wetter- und Lichtverhältnissen abhängig war. Die Briten hofften, so ihre eigenen Verluste gering zu halten. Neben dem Ausbau der Luftflotte rückte auch die Entwicklung technischer Hilfsmittel sowie die Weiterentwicklung der Brandbombe in den Vordergrund.26

3. Die Weiterentwicklung des britischen Bomber Command und die Auswirkungen auf die Stadt Mülheim bis zum Ende des Jahres 1942 Die Entwicklung und Produktion der schweren Bomber vom Typ Sterling, Manchester und Halifax liefen zwar erfolgreich, jedoch verging bis zu deren Einführung noch eine Menge Zeit. Die Ausbildung der Besatzungen musste auf die neuen Maschinen angepasst und die neuen Bomber

22 Zit. n. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 8 (xi), S. 128ff. 23 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 462. 24 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 204. 25 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 204. 26 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 449ff., S. 474; Olaf Groehler: Bombenkrieg gegen Deutschland, Berlin 1990 (Im Folgenden: Groehler: Bombenkrieg), S. 29ff.; Peter Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht 1939-1945, Stuttgart 1998 (Im Folgenden: Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht), S. 21f.

10 unter Einsatzbedingungen getestet werden. Eine ungefähre Vorstellung davon, wie langwierig die Einführung vonstatten ging, zeigt sich an zwei Einsätzen im Jahr 1941. Am 09./10. Januar flog das Bomber Command einen Angriff auf eine Raffinerie in Gelsenkirchen mit insgesamt 135 Flugzeugen, darunter 60 Wellingtons, 36 Blenheims, 20 Hampdens und 19 Whitleys. Einen Angriff auf Düsseldorf, am 28./29. Dezember 1941 flog eine Angriffsflotte von insgesamt 132 Flugzeugen, darunter 66 Wellingtons, 30 Hampdens, 29 Whitleys und 7 Manchester. Das Bomber Command bestand demnach auch Ende 1941 noch immer überwiegend aus Wellingtons, Whitleys und Hampdens.27 Sieht man einmal von der schleppenden Einführung der neuen Flugzeuge ab, konnten die Engländer 1941 aber bereits wichtige Grundlagen für die Gewinnung der Luftherrschaft schaffen. Mit dem erklärten Ziel, Deutschlands Kraftstoffproduktion derart zu schädigen, dass sich die Deutschen bereits im Frühjahr 1941 darüber Sorge machen müssten, ging am 15. Januar 1941 eine Weisung des Air Chief Marshal Sir Wilfried Freeman (V.C.A.S.) an Air Marshal Sir Richard Peirse (A.O.C.-in-C.), in der die Zerstörung der deutschen Anlagen zur Treibstofferzeugung, als einziges Hauptziel des Bomber Command erklärt wurde. Weiter hieß es, dass im Falle schlechter Sichtverhältnisse, die Bomber ihre Angriffe gegen Industriestädte und Verkehrswege zu richten hätten, da vor allem konzentrierte Angriffe auf Städte dazu beitragen würden, die Angst der Bevölkerung vor weiteren Angriffen aufrechtzuerhalten. Mit dem Hinweis auf konzentrierte Angriffe gegen Städte ließ die Weisung „eine großzügigere Auslegung der Richtlinien für Flächenangriffe“ zu.28 Das Konzept der Flächenangriffe wurde bereits frühzeitig diskutiert, besonders als Mittel zur Demoralisierung der deutschen Bevölkerung und insbesondere der deutschen Arbeiter.29 Das begründete sich durch die Überzeugung, dass demoralisierte Arbeiter die Industrie ebenso zum Erliegen bringen würden, wie durch Bomben zerstörte Fabrikhallen. Die Hoffnung lag auch darin, dass ein demoralisiertes Volk sich gegen das eigene Regime stellen würde, was ebenfalls zur deutschen Niederlage beitragen würde. Neben dieser Hoffnung stand aber die Überzeugung, dass ein demoralisiertes Volk geringe, bis gar keine Gegenwehr leisten würde, wodurch eine spätere Invasion um ein Vielfaches einfacher werden würde. In einer, am 09. Juli 1941 erlassenen Direktive, wurde daher die Priorität in Sachen Angriffsziele neu formuliert und als Hauptziel die „Zerschlagung der deutschen Verkehrsverbindungen und die Untergrabung der Moral der

27 Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 49f.; Martin Middlebrook/Chris Everitt: The Bomber Command War Diaries. An operational Reference Book: 1939-1945, London 1985 (Im Folgenden: Middlebrook/Everitt: War Diaries), S. 241; Goulding/Moyes: Bomber Command aircraft, S. 08ff. 28 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensiv Vol. IV App. 8 (xiii), S. 132f.; zit. n. Hinchliffe: Luftkrieg, S. 48. 29 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV App. 10 (i), ( iii), (iv), S. 194ff.

11 Zivilbevölkerung“ vorgegeben.30 Der Kampf gegen die deutsche Moral wurde nun offiziell thematisiert. In Mülheim blieb die britische Lufttätigkeit zu diesem Zeitpunkt zwar nicht ohne Folgen, doch waren die Auswirkungen noch überschaubar. Am 22. Januar 1941 wurden über der Zeche Rosenblumendelle lediglich Flugblätter abgeworfen, bei dem Angriff am 15. Februar hingegen, fielen 8 Sprengbomben auf die Zeche Wiesche und 5 Sprengbomben auf den Exerzierplatz am Auberg. Bei diesem Angriff starb eine Frau und zwei weitere Personen wurden verletzt. Insgesamt wurden 1941 drei indirekte Angriffe auf die Stadt verzeichnet, bei denen insgesamt vier Menschen ums Leben kamen.31

Auf britischer Seite entschied man sich 1941 dazu, einige Bomber mit Kameras auszustatten, um anhand von Luftbildern die Ausmaße der eigenen Angriffe besser überprüfen zu können. Die Auswertungen des Bildmaterials wurden am 18. August 1941 im sogenannten „Butt-Report“ vorgestellt und lieferten ein Ergebnis, mit dem wohl niemand innerhalb des Bomber Command zufrieden gewesen sein durfte. Über dem deutschen Gebiet schaffte es demnach, gerade eins von vier Flugzeugen, bis zu fünf Meilen an das vorgegebene Ziel heranzukommen. Bezogen auf das Ruhrgebiet schaffte das sogar nur eins von zehn Flugzeugen.32 Angewandt auf einen Angriff auf Essen, in der Nacht vom 03./04. Juli 1941 bedeuteten Butts Erkenntnisse, dass von 90 angreifenden Bombern, deren Ziele die Krupp-Fabriken waren, nur 5 Bomber überhaupt die Stadt und ihre Umgebung trafen, aber nicht unbedingt das vorgegebene Ziel. Tatsächlich meldete Essen nach diesem Angriff nur leichte Sach- und Personenschäden. Stattdessen fiel ein Großteil der Bomben auf umliegende Städte.33 Für Churchill belegte der Bericht die Notwendigkeit zum Handeln. Es wurden keine vollständig neuen Ideen und Konzepte aufgrund des Berichts ins Leben gerufen, er beschleunigte aber die Einführung längst diskutierter Optionen. Im Grunde war der „Butt-Report“ ein weiteres Argument zu Gunsten des Flächenangriffs.34 Neben einer taktischen Veränderung galt es nun, das Bomber Command auch auf technischer Ebene voranzubringen und mit Gee befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits eine wichtige Neuerung, im Bereich Navigation, in der Testphase.35 Erste Ideen zu einem solchen Gerät gab es bereits 1938, doch die eigentliche Entwicklung von Gee begann erst 1940. Das Gerät, dessen offizielle Bezeichnung TR 1335 lautete, arbeitete mit insgesamt drei Bodenstationen, die als A (Master), B (Slave) und C (Slave) bezeichnet wurden. Diese drei Sender wurden im Abstand von ca. 200 Meilen voneinander in Form eines Dreiecks

30 Zit. n. Webster/Frankland: Air Offensiv Vol. I, S. 172ff.; ebd. Vol. IV, App. 8 (xvi), S. 135ff. 31 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 204; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 231. 32 Ausführliche Darstellung des „Butt-Reports“ vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, S. 205ff. 33 Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 66f. 34 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 252. 35 Ausführlich zu Gee vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, S. 03ff.; Werner Niehaus: Die Radarschlacht 1939-1945, Stuttgart 1977 (Im Folgenden: Niehaus: Radarschlacht), S. 174f.

12 aufgestellt und sendeten Impulssignale an einen Funkempfänger im Flugzeug. Anhand der unterschiedlichen Laufzeiten der Signale war der Bordfunker in der Lage, die Position des eigenen Flugzeugs zu bestimmen. Die Positionsbestimmung war im Grunde an jedem Punkt, innerhalb eines Radius von 500 bis 800 Kilometern, möglich. Dabei galt jedoch: je größer die Entfernung, desto größer die Ungenauigkeit. Die ersten Testflüge mit Gee wurden bereits 1941 durchgeführt, doch erst ab 1942 kam es zum Einsatz. Die Einführung des Geräts wurde von der Area Bombing Directive (Anweisung zum Flächenangriff) begleitet, die am 14. Februar 1942 von Air Vice Marshal N.H. Bottomley (D.C.A.S.), an Air Marshal J.E.A. Baldwin (Acting A.O.C.-in-C., Bomber Command), übermittelt wurde. Ihr beigefügt war eine Liste mit Zielen, die innerhalb der Gee-Reichweite lagen und deren Bestimmung, nach welcher Priorität diese Ziele angegriffen werden sollten. Als das Primärziel galt das Ruhrgebiet, vorrangig die Stadt Essen.36 An Gee wurden sehr hohe Erwartungen gestellt, der Area Bombing Directive wurde daher eine weitere Liste beigefügt, (Annex B) mit Zielen, die sich außerhalb der Gee-Reichweite befanden. Im Falle von guten Ergebnissen mit Gee und guten Wetterbedingungen sollten diese Ziele ebenfalls angegriffen werden: „It is accordingly considered that the introduction of this equipment on operations should be regarded as a revolutionary advance in bombing technique which, during the period of its effective life as a target-finding device, will enable results to be obtained of a much more effective nature […]. When experience in the employement of TR.1335 has proved that, under favourable conditions, effective attacks on precise targets are possible, I am to request that you will consider the practicability of attacking first, the precise targets within TR.1335 range and, later, those beyond this range listed in Annex B.“37

Das Gee den hohen Erwartungen nicht gerecht wurde, zeigte sich bereits während der ersten Angriffe, bei denen das Gerät zum Einsatz kam. In der Nacht vom 08./09. März flog das Bomber Command den ersten Gee- unterstützten Angriff auf Essen und trotz der neuen Technik, erwies sich dieser Angriff als eine Enttäuschung. Entgegen aller Hoffnung, eignete sich das Gerät nicht zur Blindbombardierung und der übliche Industriedunst über der Stadt, machte die Zielerfassung kaum möglich. Tatsächlich wurden die Krupp-Werke, die das Hauptziel dieses Angriffs waren, nicht einmal getroffen.38

Die erhoffte Revolution auf dem Gebiet der Zielfindung wurde Gee also nicht, dennoch war es bei den Flugzeugbesatzungen ein geschätztes Navigations-Hilfsmittel, das dafür sorgte, die Bomber, inklusive ihrer Besatzungen, in den meisten Fällen sicher zurück nach England zu bringen. Ein weiterer Schwachpunkt des Geräts, der bereits bei der Einführung angesprochen wurde, war dessen

36 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensiv Vol. IV, App. 8 (xxii), S. 143ff. 37 Zit. n. ebd. Vol. IV, S. 145. 38 Vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 246.

13 Störanfälligkeit und die Erwartung, dass die Deutschen innerhalb von 6 Monaten einen Weg finden würden, Gee außer Kraft zu setzen. Tatsächlich setzten die Deutschen ab August 1942 Störmaßnahmen gegen das Gerät ein. In der Direktive wurde daher die Notwendigkeit hervorgehoben, in kürzester Zeit, größtmöglichen Druck auszuüben, vor allem gegen die deutsche Zivilbevölkerung.39 Damit wurde der Grundstein zum „moral bombing“ gelegt. Einen Tag nach Erlass dieser Direktive machte C.A.S. Air Marshal Sir Charles Portal, in einem Schreiben an D.C.A.S. Bottomley, dies noch einmal deutlich: „Ref. The new bombing directive: I suppose it is clear that the aiming points are the built-up areas, not for instance, the dockyards or aircraft factories where these are mentioned in Appendix A. This must be made quite clear if it is not already understood.“40

Eine weitere bedeutende Veränderung erlebte das Bomber Command in dieser Zeit durch die Kommandoübernahme von Sir Arthur Harris. Harris wurde am 22. Februar 1942, wenige Tage nach Erlass der Area Bombing Directive, neuer Oberbefehlshaber des Bomber Command. Er hatte klare Vorstellungen, über die Bedeutung des Luftkrieges und die Rolle des Bomber Command. In der Bomberoffensive sah Harris den einzigen Weg, den Krieg gegen Deutschland zu gewinnen und er war von Anfang an darauf bedacht, das Bomber Command in allen Bereichen zu verstärken, um den entscheidenden Schlag gegen das Deutsche Reich ausführen zu können.41 Als klarer Befürworter des Flächenangriffs kam ihm die Weisung vom 14. Februar wohl mehr als entgegen. Auch für Harris war die Zerstörung der gegnerischen Kriegsindustrie, zusammen mit der Demoralisierung der Zivilbevölkerung, bedeutend für den Gesamtsieg. Die Euphorie, die Gee bei der RAF-Führung auslöste, konnte Harris hingegen nicht ganz teilen. Er erkannte die Vorteile der neuen Technik zwar an, betrachtete aber das Gesamtbild etwas realistischer. Dazu gehörte auch, dass die Stärke des Bomber Command bei seinem Amtsantritt lediglich bei 378 einsatzbereiten Bombern, darunter 69 schwere, lag: „Far more was expected from this extremely and useful device, one of the many really brilliant things the scientists gave us, than it could in fact achieve. And, of course, far more was expected of a very small bomber force than was at all reasonable, even if the new Gee equipment should come to the most optimistic forecasts; si I had to prove, not only what an adequate and adequately equipped force could not achieve. I had to dispose of all wishful thinking, while at the same time making perfectly clear the grounds of my complete confidence in a bomber offensive if this was given a real chance.“42

Gee war für Harris also kein Grund für überhastete Aktionen. Im Vordergrund standen bei ihm durchdachte Entwicklungen, die ihren Abschluss in großen Aktionen fanden. Er bezeichnete Angriffsflüge bei schlechtem Wetter als Kräfteverschwendung, weshalb er lieber ganz darauf verzichtete. Tatsächlich war die Zahl der geflogenen Angriffe und die abgeworfene Bombenmenge

39 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, S. 144. 40 Zit. n. ebd. Vol. I, S. 324. 41 Vgl. Arthur Harris: Bomber Offensive, London 1947 (Im Folgenden: Harris: Bomber Offensive), S. 31. 42 Vgl. ebd. S. 73ff.; Zitat S. 76.

14 in den ersten 3 Monaten von Harris' Amtszeit, geringer als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.43 Dennoch wurde die Aufgabe für das Bomber Command nicht leichter und die Angriffe gegen das Ruhrgebiet blieben eine undankbare Aufgabe. Für Blindbombardierungen war Gee, wie bereits erwähnt, nicht geeignet und über dem Ruhrgebiet herrschte weiterhin der Industriedunst, der die visuelle Zielfindung fast unmöglich machte. Auf britischer Seite hatte man also keine andere Wahl, außer auf die Einführung neuer Geräte zu warten, die sich, mit und , bereits in der Entwicklung befanden. Für Harris handelte es sich um die wichtigsten aller neuen Geräte.44 An Gee wurde dennoch weiter festgehalten und bis Januar 1943 war die gesamte Flotte des Bomber Command mit damit ausgestattet. Eine weiterentwickelte Version, Gee Mark II, wurde im Februar 1943 eingeführt und bis Ende März 1943 in ca. 60% der Flugzeuge eingebaut. Besondere Verbesserungen gegenüber dem Vorgänger hatte Mark II nicht, außer einer vereinfachten Bedienung und das für einen kurzen Zeitraum, die Störmaßnahmen der Deutschen verringert werden konnten. Ein effektives und langfristiges Mittel gegen die deutschen Störungen wurde zwar nie gefunden, trotzdem wurde Gee während der Gesamtdauer des Luftkrieges eingesetzt.45 Bei der Einführung von Gee gab es auch bereits erste Überlegungen zur Bildung der Pathfinder Force (PFF). Eine Sondereinheit, ausgerüstet mit verbesserter Navigationstechnik, die vor der eigentlichen Angriffsflotte das Ziel anfliegen und mit speziellen Markierungsbomben ausleuchten sollte. Den nachfolgenden Bombern sollte so die Zielfindung erleichtert werden. Die Idee an sich war nicht neu, bereits die Deutschen flogen ihre Luftangriffe gegen England nach ähnlichem Prinzip und auch das Bomber Command setzte bereits 3 Angriffswellen ein, von der die erste mithilfe von Leuchtraketen die Zielmarkierung durchführte. Diese erste Angriffswelle bestand meist aus Wellington-Maschinen, die mit Gee ausgerüstet waren. Durch die zunehmenden Störmaßnahmen der Deutschen, dem sogenannten „jamming“, wurden Alternativen notwendig. Nach einigem Hin und Her, innerhalb der Bomber Command-Führungsebene, wurde die PFF schließlich im August 1942 gegründet. Kommandant wurde Group Captain D.C.T. Bennett und den ersten Einsatz flogen die Pathfinder in der Nacht zum 18. August, bei einem Angriff auf Flensburg. Entgegen der Grundidee waren die Flugzeuge der PFF anfangs noch nicht mit speziellen Markierungsbomben ausgestattet und verfügten auch sonst über keine Gerätschaften, die nicht auch der restlichen Bomberflotte zur Verfügung standen. Da nun aber die gesamte Bomberflotte den Pathfindern folgte, ergab sich unter Umständen der große Nachteil, dass bei einer falschen Zielmarkierung der gesamte Angriff fehlgeleitet wurde. Ohne geeignete Navigationsmittel machte

43 Vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 242. 44 Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 96, S. 123. 45 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, S. 6.

15 die Einführung der PFF also keinen großen Unterschied, was sich jedoch 1942, mit der Einführung von Oboe änderte.46 Bei Oboe handelte es sich um ein Fernlenkungs- und automatisches Abwurfverfahren, dessen Prototyp bereits im Dezember 1941 zum Einsatz kam. Entgegen der Hoffnung, bereits im Juli 1942 über eine vollentwickelte Version des Systems zu verfügen, mussten sich die Briten letztlich bis Dezember 1942 gedulden. Eingesetzt wurde Oboe schließlich überwiegend in den Maschinen der PFF. Gelenkt wurde das Gerät von zwei Bodenstationen. Die Erste befand sich in und bekam den Codenamen CAT. Diese Station lenkte das Flugzeug über einen kreisförmigen Kurs mit Dover als Mittelpunkt. Dieser Kurs führte genau über das jeweilige Ziel. Die zweite Station, Codename MOUSE, befand sich rund 160km weiter südlich in Cromer. MOUSE arbeitete mit einem Empfänger und einem Gegensender zusammen, die sich an Bord des Flugzeugs befanden, und diente der Positionsbestimmung des eigenen Bombers. Radarfunker in Cromer stellten fest, wenn sich der Bomber über dem Abwurfpunkt befand, und teilten dem Navigator per Morsezeichen den Moment mit, an dem die Bomben ausgeklinkt werden mussten. Die größte Schwäche bei Oboe lag, wie schon bei Gee, in der Reichweite, ein weiterer Schwachpunkt lag darin, dass ein Senderpaar nur ein Flugzeug kontrollieren konnte. Durch die Aufstellung weiterer Sender, bis zum Dezember 1943, gab es in England 14 Oboe-Stationen und nach und nach kamen noch mobile Stationen hinzu und die Leistung konnte deutlich verbessert werden. Ab August 1943 begannen die Deutschen auch Störmaßnahmen gegen Oboe einzusetzen, diese erreichten aber nicht das Ausmaß der Gee- Störaktionen.47

Aber nicht nur technische Entwicklungen galt es voranzubringen, Harris, der sich seit seinem Amtsantritt stark für den Ausbau des Bomber Command einsetzte, war auch darum bemüht, neue Angriffstaktiken zu entwickeln, um die, für 1943 angestrebte Invasion realisieren zu können.48 Zwar wurde die Gesamtzahl der Flugzeuge, im Laufe des Jahres 1942 nur geringfügig erhöht, doch wurden jetzt nach und nach, die enttäuschende Manchester sowie die veralteten Hampden und Whitley durch 4-motorige, insbesondere durch den Lancaster-Bomber, ersetzt.49 Die neuen Flugzeugtypen verfügten über eine höhere Tragkraft, bezogen auf die Bombenlast, wodurch natürlich die Auswirkungen der Angriffe verstärkt wurden. Auch die Bombenlast selbst wurde weiterentwickelt und bei einem Angriff auf Essen, in der Nacht zum 11. April kam zum ersten Mal eine 3600-kg-Sprengbombe zum Einsatz und die erste 1800-kg schwere Brandbombe fiel bei einem Angriff am 11. September auf Düsseldorf. Auch Minenbomben, sogenannte „blockbuster“ wurden

46 Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 131; Ausführliche Darstellung zur PFF-Gründung vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 418ff. 47 Ausführlich zu Oboe vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 07ff.; Niehaus: Radarschlacht, S. 192ff. 48 Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 74. 49 Vgl. Goulding/Moyes: Bomber Command aircraft, S. 76ff.; Postan: British War Production, App. 4, S. 484f.

16 ab 1942 vermehrt eingesetzt. Durch den Abwurf der Minen sollten ganze Häuserzeilen von einer ersten Angriffswelle abgedeckt und für eine weitere, mit Brandbomben beladene, Angriffswelle, sozusagen geöffnet werden. Müller spricht vom „-Konzept“.50 Dieses Konzept wurde offiziell von Lord Cherwell, Churchills wissenschaftlichem Berater, in einem Schreiben vom 30. März 1942 zum ersten Mal angesprochen. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Effektivität des Bomber Command stark in Frage gestellt, wodurch auch dessen Ausbau gefährdet war. Mit seinem „dehousing paper“ wollte Cherwell Churchill die Bedeutung von Luftangriffen gegen den deutschen Wohnraum verdeutlichen. Hinter dem Konzept verbargen sich keine inhaltlichen Neuerungen im Bereich der Angriffstaktik, vielmehr sollte verdeutlicht werden, wozu eine bestimmte Anzahl von Bombern in der Lage sei. Cherwell schaffte es auch tatsächlich, Churchill mit seinem Schreiben zu beeinflussen und lieferte somit ein wichtiges Element zur Sicherung der britischen Bomberoffensive.51 Das „dehousing“-Konzept kann ebenfalls als wesentlicher Schritt zum späteren „moral bombing“ angesehen werden. „Dehousing“ wurde aber keineswegs erst durch Cherwells Schreiben zu einer Option. Mülheim und Oberhausen wurden das erste Mal am 25. März 1942 nach diesem Schema angegriffen, dabei wurden insgesamt sieben Häuser schwer und 119 mittelschwer getroffen. Das Reichsbahnausbesserungswerk, das sich im Mülheimer Stadtteil Speldorf befand, verzeichnete einen zweitägigen Produktionsausfall von 50%. Weitere Angriffe nach diesem Muster erlebte die Stadt am 13. April und am 13. Mai 1942. Bei Letzterem handelte es sich um den ersten, direkten Angriff gegen die Stadt. Laut dem Bomber Command Campaign Diary, flogen 3 Wellington- Bomber diesen Angriff und warfen eine Bombenlast von insgesamt 5 Tonnen über der Stadt ab. Für diesen Angriff wurden von Seiten der Stadt jedoch keinerlei Schäden verzeichnet, was vermuten lässt, dass die Bombenlast über unbesiedeltem Gebiet abgeworfen wurde.52 Die Stadt bemühte sich, auf die verschärften Luftangriffe angemessen zu reagieren und führte Verbesserungen, vor allem in der Brandbekämpfung, durch. Während die Kommunikation zwischen den verschiedenen Stellen, wie Luftraumbeobachter, Luftschutzpolizei und Feuerwehr optimiert werden konnte, erwiesen sich Hydranten und Wasserleitungen als Problem, da sie nicht den erforderlichen Druck aufbauen konnten, wenn mehrere Brände gleichzeitig gelöscht werden mussten.53

In seinen Überlegungen, zu einer erfolgreichen Angriffstaktik, vollzog Harris auch einen weiteren Schritt zum „moral bombing“. In der Nacht vom 28./29. März 1942 flog das Bomber Command

50 Vgl. Rolf-Dieter Müller: Der Bombenkrieg 1939-1945, Berlin 2004 (Im Folgenden: Müller: Der Bombenkrieg), S. 114. 51 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 331ff. 52 Vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 266; Nierhaus: Mülheim, S. 206f.; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 233. 53 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 209f.

17 einen Flächenangriff gegen die Stadt Lübeck und bot einen Vorgeschmack darauf, was die Deutschen von weiteren Luftangriffen zu erwarten hatten. Eine erste Angriffswelle griff die Lübecker Altstadt an, die aufgrund ihrer Fachwerkhäuser leicht in Flammen aufging. Der dadurch entfachte Großbrand diente, neben seiner eigenen Zerstörungskraft, einer zweiten Angriffswelle als Zielmarkierung. Insgesamt warfen diese beiden Angriffswellen, 300 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf die Stadt. Obwohl Lübeck als Industriestandort eher zweitrangig war, wurde dieser Angriff doch als Erfolg verbucht. Wie Harris später selbst bemerkte, konnte man den Angriff auf Lübeck vielmehr als einen Test der neuen Technik ansehen. Ein geeignetes Ziel, da es aufgrund seiner Lage leicht zu identifizieren war und weitaus weniger verteidigt, als das Ruhrgebiet: „It was not a vital target, but it seemed to me better to destroy an industrial town of moderate importance than to fail to destroy a large industrial city. However, the main object of the attack was to learn to what extent a first wave of aircraft could guide a second wave to the aiming point by starting a conflagration: […]. At least half of the town was destroyed, mainly by fire. It was conclusively proved that even the small force I had then could destroy the greater part of a town of secondary importance.“54

Im weiteren Kriegsverlauf wurden insgesamt 161 deutsche Städte nach diesem Prinzip angegriffen. Der Angriff gegen Lübeck half Harris dabei, sich mit seiner Meinung durchzusetzen, dass der Krieg allein durch Luftangriffe gewonnen werden könne. Der nächste Schritt zur Verschärfung des Luftkrieges kam dann in Gestalt der 1000-Bomber-Angriffe.55 Ein erster Angriff dieser Art wurde in der Nacht vom 30./31. Mai gegen Köln geflogen. Während dieser, als „Operation Millennium“ bezeichneter Angriff, als Erfolg eingestuft wurde, verlief ein Zweiter, 2 Nächte später gegen Essen, enttäuschend. Wieder einmal war der Industriedunst über dem Zielgebiet das entscheidende Hindernis und so kam es, dass sich die Angriffswelle, neben Essen, auf 11 weitere Städte, darunter auch Mülheim, erstreckte. Betroffen waren vor allem die Stadtteile Heißen und Styrum. Im gesamten Luftschutzort wurden bei diesem Angriff 169 Wohnungen völlig zerstört, 213 mittelschwer und 1954 Wohnungen wurden leicht beschädigt. Insgesamt mussten 6161 Personen ausquartiert werden. In Mülheim kamen 15 Menschen ums Leben, Schäden an Industrieanlagen waren dagegen sehr gering.56 Harris war sich durchaus darüber bewusst, dass das Deutsche Reich über zu große industrielle Ressourcen verfügte, als das ein Angriff dieser Art ausreichen würde, um die deutsche Produktion für längere Zeit lahmzulegen. Doch auch wenn der Angriff dahingehend kein Erfolg war, so hatte man doch zumindest einen Weg gefunden, mit einer großen Anzahl von Flugzeugen, tief in

54 Zit. n. Harris: Bomber Offensive, S. 105.; Zum Angriff auf Lübeck vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 392f.; Groehler: Bombenkrieg, S. 40f. (Skizze). 55 Vgl. Stephan Burgdorf/Christian Habbe [Hrsg.]: Als Feuer vom Himmel fiel. Der Bombenkrieg in Deutschland, 2003 (Im Folgenden: Burgdorf/Habbe: Als Feuer vom Himmel fiel), S. 70ff. 56 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 208; zu den 1000-Bomber-Angriffen vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 274; Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 402ff.

18 deutsches Reichsgebiet vorzudringen. Für Harris eine Demonstration der Stärke, die, wie er hoffte, Auswirkungen auf die Moral der deutschen Bevölkerung haben würde.57 Dennoch wurde die Bedeutung des Bomber Command von einigen Stellen kritisch betrachtet und sah sich der Gefahr ausgesetzt, als selbstständige Streitkraft aufgelöst und zur Unterstützung der Army und Navy zugeteilt zu werden. Auf Anordnung Churchills verfasste Harris im Juni 1942 ein Schreiben an Premierminister und Kriegskabinett, in dem er die Rolle des Bomber Command noch einmal deutlich hervorhob: „[...], Bomber Command provides our offensive action yet pressed home directly against Germany. All our other efforts are defensive in their nature, and are not intended to do more, and can never do more, than enable us to exist in the face of the enemy. […]. The only means of physically weakening and nervously exhausting Germany to an extent which will make subsequent invasion a possible proposition and (Bomber Command) is therefore the only force which can, in fact, hurt our enemy in the present or in the future secure our victory.“ 58

Zusammenfassend lässt sich über das Jahr 1942 sagen, dass der Luftkrieg eine neue Qualität erreichte. Das Bomber Command flog seine Angriffe nun konzentrierter und hatte dabei vor allem die Gebiete der Deutschen Bucht, des Frankfurter Beckens, sowie das Ruhrgebiet im Fokus. Angriffswellen bestanden kaum noch aus weniger als 100 Bombern, ausgerüstet mit einer höheren Bombenlast und einem höheren Anteil an Brandbomben. Wie verheerend die Angriffe des Bomber Command mittlerweile waren, zeigten die Angriffe auf Lübeck am 29. März und Rostock am 27. April 1942. Das Bomber Command konnte Verbesserungen in allen Bereichen vorweisen und schaffte somit die Grundlagen für die Großoffensive 1943.59 Der Schritt zum Flächenangriff wurde endgültig vollzogen und mit Arthur Harris bekam das Bomber Command einen Kommandanten, dem diese Entscheidung sehr entgegen kam und der diesen Weg zielstrebig weiterging. Harris genoss Churchills Vertrauen und konnte das Bomber Command weitgehend nach seinen Vorstellungen formen.60 Auch wenn die bereits durchaus verbesserten Nachtangriffe immer noch nicht dazu ausreichten, die deutsche Wirtschaft und die Moral der Zivilbevölkerung ernsthaft zu schädigen, zeichnete es sich doch ab, dass Deutschland immer stärker in die Defensive gedrängt wurde.61 „Das war der Beginn der Niederlage ihrer Luftwaffe und der Wendepunkt unseres Kampfes um die – 1944 errungene – Beherrschung des Luftraumes, ohne die wir den Krieg nicht hätten gewinnen können.“62

Hinzu kam, dass die Amerikaner nun aktiv in den Luftkrieg einstiegen.

57 Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 109. 58 Zit. n. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 18, S. 239ff. 59 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 541f. 60 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 180. 61 Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 143. 62 Zit. n. Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg, Bern, München, Wien 1985 (Im Folgenden: Churchill: Der Zweite Weltkrieg), S. 896.

19 Tabelle 2: Flugzeugbestand des Bomber Command 194263

Schwere: Manchester, Stirling, Halifax, Lancaster Mittlere: Wellington, Hampden, Whitley Leichte: Blenheim, Boston, Mosquito

Schwere Bomber Mittlere Bomber Leichte Bomber Januar 62 357 50 Februar 54 319 67 März 68 301 52 April 86 247 56 Mai 136 210 70 Juni 141 181 80 Juli 153 198 76 August 174 152 62 September 178 109 44 Oktober 225 132 47 November 234 100 45 Dezember 262 78 46

4. Die amerikanische Air Force im Luftkrieg über Deutschland Ein aktiver Eintritt Amerikas in das europäische Kriegsgeschehen galt bereits früh als unvermeidbar. Schon bei Kriegsausbruch waren die Amerikaner so weit involviert, dass sie England mit Materiallieferungen unterstützten und zwischen der United States Army Air Force (USAAF) und der RAF ein intensiver Erfahrungsaustausch stattfand, der wiederum den USA bei ihren technischen und taktischen Entwicklungen weiterhalf.64 Erste Pläne zu einer Kriegsführung gegen Deutschland wurden bereits im Juli 1941, fünf Monate vor der deutschen Kriegserklärung an die USA, von der Air War Plans Division ausgearbeitet und in dem AWPD-Plan 1 (AWPD-1) festgelegt. Die Air Force wurde darin in erster Linie als Unterstützer der Landstreitkräfte betrachtet. Ebenso wie auf britischer Seite, strebten auch die Amerikaner die Schwächung der deutschen Industrie an. AWPD-1 gab zu diesem Zweck 3 Primärziele vor: die Stromversorgung, das Transportsystem und die Öl-Industrie. Ein weiteres Ziel war die Zerstörung der Flugzeugindustrie. Man spekulierte darauf, dass es innerhalb von sechs Monaten möglich wäre, die deutsche Industrie maßgeblich zu schwächen. Dazu wäre eine Kampfkraft von 4000 Bombern nötig, die innerhalb von 21 Monaten aufgebaut werden sollte und

63 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 30 und S. 65. 64 Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 62; Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 500.

20 den Krieg gegen Deutschland, von England aus führen sollte.65 Gleich zu Beginn des Jahres 1942 erging der Befehl zur „Errichtung eines Oberkommandos der in England stationierenden amerikanischen Streitkräfte.“ Am 19. Januar wurde der Aufbau der 8. Army Air Force (8. USAAF) befohlen und Carl Spaatz unterstellt. Am 23. Juni begann schließlich die Verlagerung amerikanischer Flugzeuge nach England und Ende August 1942 verfügte die 8. USAAF über 164 P-38 „Lightning“-Jäger, 119 B-17 Bomber und 103 C-47-Transportflugzeuge. Bis zum Ende des Jahres stieg die Flotte insgesamt um weitere 700 Flugzeuge an.66 Bereits kurz nach Kriegseintritt wurde es für die Amerikaner notwendig, ihre Kriegspläne dem Verlauf entsprechend zu ändern. Im September 1942 wurde AWPD-42 vorgelegt, in dem eine Steigerung auf 7000 Bomber, davon 2000 schwere B-17 und B-24 Bomber, vorgesehen wurde. Aufgrund schwerer Verluste im U-Boot-Krieg galt nun auch die Zerstörung der deutschen Seekräfte als Primärziel.67 Das Jahr 1942 war für die 8. USAAF in erster Linie eine Zeit der Vorbereitung auf den europäischen Kriegsschauplatz, die mit Luftangriffen auf Ziele in Holland und Frankreich startete.68 Nach erfolgreichen Angriffen auf dortige Infrastruktur und Rüstungswerke fühlte man sich in der gewählten Taktik, der Tagespräzisionsangriffe, bestätigt. Spaatz war davon überzeugt, durch eine britisch-amerikanische Bomberoffensive „innerhalb eines Jahres die Luftherrschaft über Deutschland erringen […] zu können“.69 Auch Churchill sah zu Beginn, in den amerikanischen Tagesangriffen eine gelungene Ergänzung zu den britischen Nachtangriffen: „If we can add continuity and precision to the attack by your bombers striking deep into the heart of Germany by day the effect would be redoubled. […], together we might even deal a blow at the enemy's air power from which he could never fully recover […]. I am sure we should be missing a great opportunity if we did not concentrate every available Fortress and long range as quickly as possible for the attack on our primary enemy.“ 70

Portal hingegen vertrat von Anfang an die Meinung, dass auch die Amerikaner zu Nachtangriffen übergehen sollten, was auf amerikanischer Seite aber abgelehnt wurde. Man war überzeugt, Angriffswellen aus schnellen, schweren Bombern wären durchaus in der Lage, das gewünschte Ergebnis zu liefern. Im Formationsflug von 8 Maschinen, verfügte die Gruppe über ca. 100 Maschinengewehre, genug, so glaubte man, um gegnerische Angriffe erfolgreich abzuwehren. Zudem hätte eine Umstellung auf Nachtangriffe einen hohen Zeit- und Kostenaufwand bedeutet, da die Piloten auf Präzisionsangriffe geschult und die Navigationsmittel der Bomber auf Tageseinsätze

65 Vgl. Roger A. Freeman: Mighty Eight War Diary, London 1981 (Im Folgenden: Freeman: Mighty Eight), S. 02; Aufbau und Organisation der 8. USAAF in Großbritannien vgl. Wesley F. Craven/James L. Cate: The American Air Forces in World War II. Volume I: Plans and Early Operations January 1939 to August 1942, Chicago 1948 (Im Folgenden: Craven/Cate: Army Air Forces Vol. I), S. 557-591. 66 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. I, S. 639ff. 67 Vgl. Freeman: Mighty eight, S. 03; Craven/Cate: Army Air Forces Vol III, S. 288. und S. 295ff. 68 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 127. 69 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 83; Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 530ff.; zit. n. Ebd. S. 533. 70 Zit. n. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 355f.

21 eingestellt waren.71 Portal hatte da weniger Vertrauen in die US-Bomber, besonders wenn es darum ging, Luftangriffe gegen das Ruhrgebiet zu fliegen: „The Ruhr is 300 miles away and assumin, that the American fighters can go in 200 miles the Fortress would have 200 miles to fly unescorted. […]. My own prophecy of what will actually happen is this: The Americans will eventually be able to get as far as the Ruhr, suffering very much heavier casualties than we now suffer by night, and going much more rarely. […]. If it can be kept up in face of the losses (and I don't think it will be) this will of course be a valuable contribution to the war, but it will certainly not result in the elemination of the enemy fighter force and so open the way to the free bombing of the rest of Germany. I do not think, that they will ever be able regulary to penetrate further than the Ruhr and perhaps Hamburg without absolutely prohibitive losses resulting from being run out of ammunition by constant attack or from gunnes being killed or wounded.“72

Portal lag mit seiner Einschätzung tatsächlich nicht ganz falsch. Tatsache war, dass die amerikanischen, 4-motorigen Bomber zum einen langsamer waren, als die deutschen Jäger, zum anderen waren die deutschen Maschinen zusätzlich mit Kanonen bewaffnet, die es ermöglichten, außer Reichweite der gegnerischen Maschinengewehre anzugreifen. Auch die Formationsflüge waren kein Allheilmittel, da diese häufig, bereits beim Einflug, vom deutschen Flakfeuer auseinander gezwungen wurden und eventuelle Treffer durch die Flak, den Jägern einen endgültigen Abschuss erleichterten.73 Schließlich ging auch Churchill dazu über, den Amerikanern den Aufbau einer Nachtoffensive zu empfehlen und die angestrebte kombinierte Bomberoffensive sah sich nun mit dem Problem konfrontiert, sich auf eine gemeinsame Taktik einigen zu müssen. Wie schwierig sich dies gestaltete, zeigt sich daran, dass am 31. Dezember 1942 bereits das dritte Memorandum, innerhalb von drei Monaten, zu dieser Thematik veröffentlicht wurde.74 Keine Seite wollte von der bevorzugten Taktik abweichen und so entwickelte sich ein Gegensatz zwischen britischen Flächenangriffen bei Nacht und amerikanischen Präzisionsangriffen am Tag.

5. Die Heimatluftverteidigung a) Nachtjagd Obwohl die Briten seit Dezember 1939 vermehrt Nachtangriffe flogen, wurde auf dem Gebiet der Nachtjagd, anfangs nur wenig getan. Zu diesem Zeitpunkt waren lediglich 2 Versuchsstaffeln (10./ 2 und 11./Lehrgeschwader 2), auf diesem Sektor aktiv. Die Hauptlast der Luftabwehr trug die Flak, worauf an späterer Stelle noch eingegangen wird. Bis zum Sommer 1940 hatte sich die Nachtjagd nicht wesentlich weiterentwickelt und beschränkte sich auf einige Versuche der IV./Nachtjagdgeschwader 2 und der I./Zerstörergruppe 1, die jeweils aus einmotorigen Me 109 und Me 110 bestanden. Am 22. Juni 1940 bekam Hauptmann Wolfgang

71 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 83; Craven/Cate: Army Air Forces Vol. I, S. 591ff. 72 Zit. n. Earl R. Beck: Under the bombs. The German Home Front 1942-1945, Lexington 1986 (Im Folgenden: Beck: Under the bombs), S. 358f. 73 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 326ff.; Beck: Under the bombs, S. 84f. 74 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 21, S. 265f.; ebd. Vol. I, S. 379.

22 Falck, Kommandeur der I. Zerstörergeschwader 1, von Reichsmarschall Hermann Göring den Befehl, in Düsseldorf das Nachjagdgeschwader 1 aufzubauen und mit dem Flakscheinwerferregiment 1, das nordwestlich der Stadt stationiert war, zusammenzuarbeiten. Geschwader und Scheinwerferregiment wurden jedoch weiterhin von 2 verschiedenen Stellen geführt, das Geschwader von der und das Scheinwerferregiment vom Luftgau VI (Münster). Von einer organisierten Luftabwehr konnte also zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rede sein.75 Am 17. Juli 1940 befahl Göring Josef Kammhuber schließlich den Aufbau eines Nachtabwehrsystems. Eine entscheidende Änderung Kammhubers lag in der Trennung der Flak- und Jägerzonen, bei denen es öfter geschah, dass sie sich in die Quere kamen und die deutschen Jagdflieger ins eigene Flakfeuer gerieten. Kammhuber ordnete die Nachtjagdzonen zusammen mit den Scheinwerfern so an, dass sie bereits die Einflugwege des Gegners erfassten. Die Flakzonen verlagerte Kammhuber dahinter und die Jäger wurden in bestimmten Suchräumen positioniert, den „Himmelbetten“. Dort warteten sie, bis die Horchgeräte und Scheinwerfer der Flak den feindlichen Bomber erfassten, und stiegen daraufhin zum Abwehrkampf auf. Im Oktober 1940 meldete Kammhuber, mittlerweile zum Generalmajor ernannt, die Bereitschaft seines Abwehrsystems. Angefangen als schmaler Riegel von Münster ausgehend, hatte Kammhuber seinen Abwehrgürtel nach Nord und Süd auf eine Breite von 35km ausgeweitet und bot dabei besonders dem Ruhrgebiet Schutz. Mit dieser „hellen Nachtjagd“ (Henaja) ließen sich zwar Erfolge erzielen, für einen vollkommenen Schutz reichte sie aber bei weitem nicht aus.76 Kammhuber entwickelte daher eine weitere Variante der Nachtjagd, von der er sich besonders viel versprach: die Fernnachtjagd. Dabei sollten verstärkt britische Flugplätze angegriffen werden, um die Bomber bereits am Start zu hindern und die Maschinen am Boden zu zerstören: „Wenn ich ein Wespennestausräuchern will, dann greife ich nicht die einzelnen, umherschwir renden Insekten an, sondern die Schlupflöcher, während alle noch im Nest sind.“77

Für die Fernnachtjagd kamen aber nicht mehr als 20-30 Maschinen der I./Nachtjagdgruppe 2 zum Einsatz, die bis zum 20. August 1941 immerhin 132 Abschüsse verzeichnete. Eine von Göring, bereits im Dezember 1940 zugesagte Verstärkung, blieb aber aus und am 12. Oktober 1941 befahl Hitler schließlich die Einstellung der Fernnachtjagd. Hitler, der von Anfang an skeptisch gegenüber der Fernnachtjagd war, legte die anhaltenden Feindeinflüge als Versagen dieser Abwehrtaktik aus und sah ohnehin größeren Nutzen darin, die feindlichen Maschinen direkt über dem Reichsgebiet abzuschießen, da man auf diese Weise dem eigenen Volk die eigene Stärke demonstrieren konnte. Ein weiterer Grund war schlichtweg der, dass dringend Kräfte für den Mittelmeerraum benötigt

75 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 481. 76 Vgl. ebd. S. 483. 77 Zit. n. Franz Kurowski: Der Luftkrieg über Deutschland, Düsseldorf, Wien 1977 (Im Folgenden: Kurowski: Luftkrieg über Deutschland), S. 165 (leider ohne Quellenangabe).

23 wurden, wohin die Jäger letztlich beordert wurden. Diese Entscheidung bedeutete eine enorme Schwächung der Nachtjagd, die es nun auszugleichen galt.78 Im Laufe des Jahres 1941 wurden, neben den bereits existierenden 4 Nachtjagdgruppen, zwar weitere aufgebaut, der Aufbau eines Geschwaderverbands hingegen, dauerte noch eine ganze Zeit. Die neu gebildeten Gruppen wurden immer wieder umgestellt, verlagert und wieder neu aufgestellt. Es dauerte noch bis zum Frühjahr, bevor die Nachtjagdgruppen zumindest feste Standorte erhielten. Im März 1941 bezog die I./Nachtjagdgruppe 1 in Venlo Stellung, von wo aus sie auch für den Schutz des Ruhrgebiets verantwortlich war. Insgesamt standen am Ende des Jahres 1941 6 Nachtjagdgruppen für die Heimatluftverteidigung zur Verfügung, mit ca. 302 Flugzeugen und 358 Besatzungen, von denen knapp die Hälfte einsatzbereit war.79

Kammhuber drängte ebenfalls auf Neuerungen im Bereich der Radartechnik. Die Entwicklungen auf britischer Seite machten es nötig, dass auf deutscher Seite Geräte zum Einsatz kamen, mit der die Abwehrkräfte den Gegner auch nachts „sehen“ konnten. In den Jagdflugzeugen selbst kam das Bordfunkgerät Lichtenstein B/C zum Einsatz. Ab dem 09. August 1941 arbeiteten die Bordfunker in den Jägern mit dem „Auge der Nacht“, eine Braunsche Röhre, auf der anhand von „Lichtzacken“ das Auftauchen feindlicher Flugzeuge angezeigt wurde. Der Auffassungswinkel der Antenne betrug 25° und die Reichweite 3,2 km.80 Bereits seit 1939 kamen Freya-Geräte, zur Früherkennung, zum Einsatz und bis Mai 1940 wurden 9 dieser Geräte zwischen Wangerooge und der Pfalz aufgestellt. Die Reichweite betrug anfangs noch ca. 58 km und wurde bis zum Jahr 1942 auf 120 km erweitert. Feindflugzeuge wurden somit bereits beim Einflug erfasst und konnten frühzeitig von Flak und Jägern abgefangen werden. Neben Freya war das Würzburg-Gerät, in Kombination mit der Flak, ein effektives Hilfsmittel der Luftabwehr. Anders als Freya konnte das Würzburg-Gerät nicht nur die Entfernung, sondern auch die Höhe des feindlichen Bombers bestimmen. Ab 1940 wurde das Gerät in größerem Umfang eingesetzt, u.a. auch im Ruhrgebiet und gehörte ab 1941 zur Standardausrüstung der Flak- und Scheinwerferbatterien. Das Würzburg-Gerät verfügte anfangs über eine Reichweite von 35 km und wurde bis 1942 auf 65 km erweitert und bekam den Namen Würzburg-Riese. Durch den Einsatz von Würzburg wurde der Nachtjagd eine weitere Abwehrvariante ermöglicht, die „dunkle Nachtjagd“ (Dunaja). Kammhuber nutzte die Geräte für sein Abwehrsystem, indem er sie in einer Art Schachtelsystem anordnete, bei dem sie so weit ineinander übergriffen, dass keine Zwischenräume entstanden.

78 Vgl. Kurowski: Luftkrieg über Deutschland, S. 164f. 79 Vgl. ebd. S. 166f.; Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 492. 80 Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 56ff.

24 Ausgehend von der Reichweite der Geräte, wurde im Abstand von 70 km jeweils ein Würzburg- Gerät postiert. Nach diesem Konzept baute Kammhuber seinen Abwehrriegel von Kiel, entlang der niederländischen, belgischen und französischen Küste, aus.81

Kammhuber nahm noch einige Veränderungen innerhalb des Systems vor, um es noch dichter zu machen. Im Herbst 1942 jedoch sorgte Hitler selbst dafür, dass Kammhubers dichtes Abwehrnetz auseinandergerissen wurde. Einige Gauleiter hatten immer wieder gefordert, dass die Scheinwerferbatterien näher an die Städte verlagert werden sollten, um mit dortigen Flakbatterien gemeinsam für den Städteschutz eingesetzt zu werden. Hitler gab diesem Drängen schließlich nach und somit folgte ein weiterer Schritt, nach der Auflösung der Fernnachtjagd, der die Entwicklung der Nachtjagd entscheidend hemmte.82 Das der Städteschutz am besten gewährleistet werden würde, indem man die feindlichen Bomber bereits abwehrte, bevor sie die Städte überhaupt erreichen konnten, war für Hitler und so manchen Gauleiter offenbar ein recht absurder Gedanke.83 b) Flak Anders als die Jagdabwehr, genoss die Flak einen höheren Stellenwert bei Hitler und so wurde de- ren Ausbau, während des gesamten Kriegsverlaufs, von ihm selbst stetig weiter gefordert und geför- dert. In seiner Vorstellung bestand das beste Abwehrsystem aus einer „gewaltige[n] Flakwaffe, mit sehr viel Munition“.84 Ausgehend von guten Ergebnissen im Erdkampf, hielt Hitler die Flak auch für die Luftverteidigung geeignet. Dabei lag die Priorität klar beim Schutz der Industrie. In Mül- heim wurden dazu ab 1939 die ersten 2,2 cm und 3,7cm - Flakgeschütze auf dem Thyssen-Gelände postiert und eine weitere Batterie mit drei 2 cm - Schnellfeuerkanonen in einem kleinen Park in der Nähe der Dimbeck, der zum Privatbesitz der Familie Thyssen gehörte. Nachträglich konnten für das Mülheimer Stadtgebiet noch folgende Flakstellungen erfasst werden:85

Speldorf: Kaiserberg; Hubertushöhe Saarn: Auf der Boke (heute Kieler Straße); In der Aue; Am Kahlenberg Styrum: Langekamp; Meidericher Straße Dümpten: Am Bottenbruch

81 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 476ff.; Kurowski: Luftkrieg über Deutschland, S. 168ff.; detailliert zu Freya, Würzburg und Lichtenstein vgl. Niehaus: Radarschlacht, S. 32ff. und S. 119ff. 82 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 136f.; von Lang: Krieg der Bomber, S. 72. 83 Vgl. Kurowski: Luftkrieg über Deutschland, S. 107f. 84 Zit. n. Percy Ernst Schramm [Hrsg.]: Kreigstagebuch des Oberkommandos der (Wehrmachtsführungsstab) 1940-1945. geführt von Helmuth Greiner und Percy Ernst Schramm. Bd. I: 01. August 1940-31. Dezember 1941, Erster Halbband I/1, München 1982 (Im Folgenden: Kreigstagebuch OKW), S. 276 (22. 01. 1941). 85 Vgl. Koch: Flak, S. 209; Nierhaus: Mülheim, S. 93; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 237.

25 Mellinghofen: Am Buchenberg Heißen: Nansenweg / Greisenaustraße Menden: Bergstraße

Organisatorisch unterstanden die Flakartillerien den Luftgauen bzw. dem Luftverteidigungskommando, während die mitwirkenden Jagdstaffeln den Fliegerdivisionen unterstanden. Das erschwerte natürlich eine gemeinsame Abwehrarbeit, was Generaloberst Hubert Weise dazu veranlasste, am 31. Januar 1941 eine Neuordnung der Organisation der Heimatluftverteidigung, durch die Errichtung einer zentralen Kommandobehörde vorzuschlagen. Daraufhin wurde er am 24. März 1941 zum Luftwaffenbefehlshaber Mitte ernannt. Ihm unterstanden daraufhin die Luftgaue III (Berlin), IV (Dresden), VI (Münster), und XI (Hamburg).86 Die Aufgaben der Luftgaue beschränkten sich von da an auf die Bodenorganisation und den Nachschub. Bis zu diesem Zeitpunkt war für den Schutz des Ruhrgebiets das Luftverteidigungskommando 4 verantwortlich, das 5 Regimenter und 2 leichte Flakabteilungen umfasste. Im Zuge der Umstrukturierungen fiel die Verantwortung dieses Gebiets, auf die Flakdivisionen 22, 7 und 4. Der Gefechtsstand der 4. Flakdivision (Deckname „Drossel“), unter dem Kommando von Generalmajor Johannes Hinz, befand sich ab Juni 1942 in der Mülheimer Wolfsburg. Die Stärke dieser Division umfasste im Dezember 1941 78 schwere, 62 mittlere und leichte Batterien sowie 24 Scheinwerferbatterien.87

Mit der Einführung des Luftwaffenbefehlshabers Mitte wurde auch die kombinierte Nachtjagd (Konaja) verstärkt aufgebaut. Dabei wurden feindliche Bomber, die von den Scheinwerfern erfasst wurden, erst durch die Flak beschossen und dann, an die höher fliegenden Nachtjäger übergeben. Grundsätzlich sollte die Flak nach der Übergabe das Feuer einstellen, was aber nicht immer geschah. Ein Risiko für die deutschen Jäger, ins eigene Flakfeuer zu geraten, bleib also weiterhin bestehen.88 Im Endeffekt trug die Flak die Hauptlast der Luftverteidigung. Die Zahl der Jägerproduktion hatte im Vergleich zur Flak seit Kriegsbeginn ein eher geringes Niveau. Da die Heimatfront gar nicht als Front betrachtet wurde, sondern eher als Nebenschauplatz des Krieges, wurden dementsprechend wenig Jäger für die Heimatluftverteidigung eingesetzt. Der gesamte Bereich der Luftverteidigung wurde von Anfang an, sträflich vernachlässigt. Die gesamte Organisation der Luftwaffe war von

86 Vgl. Mülheim gehörte zum Luftgau VI, der mit rund 12 Mio. Menschen am dichtesten besiedelte Luftgau Deutschlands. Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 90. 87 Vgl. Koch: Flak, S. 210f.; Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 488; Ulrich: Dokumentation, S. 219; Nierhaus: Mülheim, S. 93f. 88 Vgl. Koch: Flak, S. 220; Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 490.

26 Hitlers Offensivdenken geprägt.89 Durch die anfänglichen Erfolge seiner Feldzüge war er von der Blitzkrieg-Taktik überzeugt und setzte somit vorrangig auf den Aufbau der Offensive. Das Heer hatte bei der Verteilung aller Ressourcen absolute Priorität und die Flugzeugproduktion war vorrangig auf Bomber ausgerichtet. Was im Heimatgebiet an Verteidigung geleistet werden musste, konnten, nach Hitlers Ansicht, die vorhandenen Kräfte leisten. Bereits 1942 sollte sich zeigen, welche fatalen Konsequenzen diese Denkweise für deutsche Städte haben sollte.90

6. Die Heimatluftverteidigung im Jahr 1942 Noch einmal zusammengefasst sah die britische Offensive des Jahres 1942 folgendermaßen aus: Angriffe wurden fast ausschließlich bei Nacht geflogen, dabei kamen kaum noch weniger als 100 Bomber pro Angriff zum Einsatz. Die Bomber wiederum flogen mit erhöhter Bombenzuladung, bei der vor allem der Anteil an Brandbomben erhöht wurde. Neue und verbesserte Flugzeuge, Bomben und technische Hilfsmittel kamen zum Einsatz. Die erste 3600 kg - Sprengbombe, sowie die erste 1800 kg - Brandbombe wurden 1942 abgeworfen. Die Zerstörungen von Lübeck und Rostock zeigten auf erschreckende Weise, welchen qualitativen Sprung die britische Bomberoffensive gemacht hatte. Des Weiteren erlebten Köln und Essen die bereits erwähnten 1000 - Bomber - Angriffe. Die taktischen und technischen Fortschritte der Briten kamen nun immer deutlicher zum Vorschein und die Frage lautete nun, in welcher Art und Weise die Luftverteidigung auf diese Entwicklungen reagieren würde? a) Nachtjagd Zu Beginn des Jahres hatte man bereits damit begonnen, die 1., 2. und 3. Nachtjagddivision als Jagddivisionen nach Holland, Stade und Metz zu verlagern und schaffte somit eine Abwehrorganisation, durch die der Einflugweg nach Süddeutschland abgeriegelt wurde. Der Reichsluftverteidigung fehlte es jedoch weiterhin an Jagdflugzeugen, aufgrund des Umstandes, dass im Winter 1941/42 eine große Anzahl Me 110 an die Ostfront abgegeben wurde, die ursprünglich für die Nachtjagd vorgesehen war, sowie der Abgabe weiterer Nachtjäger Ju-88 und Do 217, die zur Auffüllung der Bomberverbände eingesetzt wurden. Die laufende Jägerproduktion kam ebenfalls in erster Linie den Fronten zugute, sodass für die Luftverteidigung gerade genug Flugzeuge vorhanden waren, um die eigenen Verluste auszugleichen, für den Aufbau neuer Jagdverbände aber nicht ausreichten. Von Februar 1942 bis zum Jahresende stieg die Ist-Stärke der Nachtjäger lediglich von

89 Detailliert dazu: Horst Boog: Die deutsche Luftwaffenführung 1939-1945 Führungsprobleme – Spitzengliederung – Generalstabsausbildung, Stuttgart 1982 (Im Folgenden: Boog: Luftwaffenführung), S. 124-150; : Die Ersten und die Letzten, München 1953 (Im Folgenden: Galland: Die Ersten...), S. 78. 90 Vgl. Boog: Luftwaffenführung, S. 137-150; Verrier: Bomberoffensive, S. 136.

27 260 auf 370. Immerhin war der Großteil der Maschinen bis dahin mit Lichtenstein B/C ausgerüstet, wodurch die Nachtjagd zumindest eine gewisse, qualitative Verbesserung erfuhr.91

Die geringe Zahl der Jäger hinderte auch Kammhuber an weiteren Neuaufstellungen für seinen Abwehrriegel. Dafür versuchte er, durch den Einsatz weiterer Würzburg-Geräte und den verbesserten Würzburg-Riesen, noch existierende Lücken zwischen den Nachtjagdstellen zu schließen. Zusätzlich forderte er den Einsatz des Y-Jägerführungsverfahrens auf UKW-Basis. Wenn die Zahl der Jäger selbst schon nicht erhöht wurde, wie Kammhuber es regelmäßig forderte, so sollten zumindest die vorhandenen, weiter verbessert werden. Der Vorteil des Y-Verfahrens lag darin, dass sowohl die Position des Flugzeuges, als auch das Kommando zum Bombenabwurf von Bodenstationen aus bestimmt wurde. Dadurch erhoffte man sich eine höhere Treffergenauigkeit. Bei diesem Gerät wurde ein Funkstrahl von einem Bodensender aus gesandt. Der Funkstrahl bestand aus 180 Richtungszeichen in der Minute, ein Tempo, das für gut ausgebildete Funker hörbar war, von der Masse jedoch nicht. Aus diesem Grund wurden in den Flugzeugen spezielle Analysatoren eingebaut. Gleichzeitig sendete die Bodenstelle weitere Richtungszeichen, die ein Empfänger an Bord auffing und über einen Bodensender zurückstrahlte. Die Bodenfunkstelle konnte so, anhand von Richtung und Entfernung den Standort des Flugzeugs bestimmen. Wenn sich die Maschine schließlich über ihrem Ziel befand, kam von der Funkstelle der Befehl zum Bombenwurf. Das Y-Gerät verfügte über eine größere Reichweite als andere Systeme und war mobiler einsetzbar, da nur ein Sender verwendet wurde.92 Mit dem Ausbau der Nachtjagdorganisation stieg der Bedarf an Bodenpersonal immens an, was sich bald als eine weitere Schwierigkeit herausstellen sollte. Ausgebildete Soldaten wurden während des Kriegsverlaufs immer häufiger weg von der Flak, den Scheinwerfern, etc., an die Fronten beordert, sodass für das Bodenpersonal der Luftverteidigung bald Frauen, Angehörige der SS und SA, sowie des RAD und zuletzt auch der HJ eingesetzt wurden.93 b) Flak Die Flak erwies sich bereits frühzeitig als äußerst material- und personalintensiv und hatte bald mit Mängeln in beiden Bereichen zu kämpfen. Trotz dieses Umstandes blieb die Flak Hitlers bevorzugte Abwehrwaffe. Um verbesserte Abschussleistungen zu erzielen, wurden ab April 1942, mehrere Batterien auf ein Ortungsgerät zusammengeschaltet, wodurch weitere Ortungsgeräte freigemacht wurden, die wiederum an anderen Stellen stationiert werden konnten. Zusätzlich wurden die Geschützzahlen weiter erhöht und auf stärkere 10,5 cm und 12,8 cm Kaliber 91 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 542ff. 92 Vgl. ebd. S. 543; zum Y-Verfahren vgl. Niehaus: Radarschlacht, S. 69ff. und Fritz Trenkle: Die deutsche Funkführungsverfahren bis 1945, Heidelberg 1987 (Im Folgenden: Trenkle: Funkführungsverfahren), S. 137ff. 93 Vgl. Koch: Flak, S. 223; zum Einsatz sogenannter „Flakhelfer“ vgl. ebd., S. 312ff.

28 umgerüstet. Der Flakbestand des Luftwaffenbefehlshaber Mitte, dem mittlerweile weitere Luftgaue unterstanden, wuchs im Laufe des Jahres um 96 schwere Batterien auf 838, um 100 leichte und mittlere auf 538 und um 103 Scheinwerferbatterien auf 277 an. Durch ihre Mobilität wurde die Eisenbahnflak immer gefragter, sodass auch deren Zahl erhöht wurde. Auch in Mülheim kam dieses Flakmodell zum Einsatz.94 Die Flak erreichte aber mittlerweile die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Während die Flughöhen und -geschwindigkeiten der gegnerischen Bomber ständig verbessert wurden, hatte man es auf deutscher Seite versäumt, die Flak dahingehend weiterzuentwickeln. Die Folge war, dass die Trefferwahrscheinlichkeit der Flak immer weiter abnahm, dadurch ein höherer Munitionsverbrauch zustande kam, der aufgrund der wachsenden Rohstoffengpässe, zu einer immer größeren Herausforderung wurde. Besonders das für die Munition benötigte Aluminium hätte man evtl. vorrangig der Flugzeugproduktion zugutekommen lassen.95 c) Tagjagd Ein weiteres Versäumnis im Rahmen der Luftverteidigung betraf die Tagjagd, der insgesamt eine sehr geringe Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Geringe Lufttätigkeit der Briten und nicht ernst genommene Warnungen über die Beteiligung der Amerikaner, bzw. über die Qualität ihrer Bomber hatten dazu geführt, dass der Aufbau der Tagjagd sich besonders schleppend vollzog. Noch 1942 wurde dieser Bereich nur von Schul- und Ergänzungseinheiten übernommen, deren veraltete Maschinen der britischen Spitfire und Mosquito weit unterlegen waren. Durch erste Umorganisationen in diesem Jahr wurde die Tagjagd mit der Nachtjagd zusammengefasst und profitierte so von deren Funkmessorganisation. Zusätzlich wurde die Tagjagd von 2 auf 4 aktive Gruppen, I.-IV./Jagdgeschwader 1 erhöht und verfügte ab dem Frühjahr 1942 über eine Ist-Stärke von 160 Flugzeugen.96 Die Jagdkräfte der stiegen im gleichen Zeitraum von 213 auf 471 Maschinen, die Einsatzbereitschaft von 154 auf 313. Kaum aufgestellt mussten beide Geschwader je eine Staffel für Jagdbomberangriffe gegen England abgeben und 209 weitere Jäger wurden nach Südfrankreich verlagert. Im Laufe des Jahres wurde des Öfteren, u.a. durch die Generäle Milch und Galland, eine Verstärkung der Tagjagd gefordert, bzw. eine Erhöhung der Jägerproduktion. Diesen Forderungen schenkten aber weder Hitler noch Göring Gehör. Noch immer wurden die amerikanischen Bomber und die gesamte amerikanische Rüstung

94 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 551; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 237. 95 Vgl. Boog: der angloamerikanische Luftkrieg, S. 553. 96 Vgl. ebd. S. 546f.; Galland: Die Ersten..., S. 206.

29 nicht ernst genommen. Die wachsende Gefahr wurde nicht oder wollte nicht erkannt werden und so blieb eine wesentliche Verstärkung der Tagjagd für die Reichsluftverteidigung weiterhin aus.97

Das Jahr 1942 deutete also unverkennbar an, dass die Bemühungen der Alliierten sich langsam aber sicher zu deren Gunsten auswirkten. Auch wenn die Bombardierungen der Amerikaner zu diesem Zeitpunkt noch keine großen Auswirkungen hatten, so war doch allein ihre regelmäßige Präsenz über dem deutschen Reichsgebiet eine deutliche Demonstration der Stärke und ein Zeichen dafür, dass Deutschland im Grunde über kein Mittel verfügte, dem entgegenzuwirken. Zusammen mit den britischen Nachtangriffen wurde die deutsche Luftverteidigung fortan rund um die Uhr herausgefordert und dennoch wurde sie weiterhin, zugunsten des Offensivgedankens, vernachlässigt. Zu diesem Zeitpunkt war die Reichsluftverteidigung bereits geprägt von Improvisation und Überlastung, dabei hatte die alliierte Luftoffensive gegen Deutschland noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht, tatsächlich stand sie erst noch am Anfang.

Tabelle 3: Deutsche Rüstungszahlen 1941/42: Jäger vs. Bomber98

1941 1942 Jäger Bomber Jäger Bomber Januar 136 255 274 444 Februar 255 326 303 343 März 424 392 456 598 April 476 355 427 552 Mai 446 269 384 577 Juni 376 325 371 587 Juli 320 446 487 555 August 285 454 475 590 September 258 416 492 520 Oktober 261 382 502 590 November 232 331 488 509 Dezember 263 399 554 674 Total 3732 4350 5213 6539

97 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 549; Boog: Luftwaffenführung, S. 141ff.; David Irving: Die Tragödie der Deutschen Luftwaffe. Aus den Akten und Erinnerungen von Feldmarschall Milch, Frankfurt/Main 1970 (Im Folgenden: Irving: Tragödie), S. 216f. und S. 244. 98 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 49 (xxii), S. 494f.

30 III. Das Jahr 1943

1. Die Konferenz von Casablanca In der Zeit vom 14. bis zum 26. Januar 1943 trafen sich englische und amerikanische Stabschefs in der marokkanischen Stadt, um aus ihren unterschiedlichen Auffassungen eine gemeinsame Taktik gegen Deutschland zu formen. Dabei wurde auch die bedingungslose Kapitulation Deutschlands als Kriegsziel festgelegt. So einig man sich auch bei dem Ziel war, so uneins war man sich über den Weg dorthin. Das am 21. Januar vorgelegte „gemeinsame Konzept zur Intensivierung des strategischen Luftkriegs gegen Deutschland“ brachte auch keine endgültige Lösung. Die sogenannte „Casablanca-Direktive“ sprach lediglich von der „fortschreitenden Zerstörung und Paralysierung des deutschen, militärischen, industriellen und wirtschaftlichen Systems und der Demoralisierung des deutschen Volkes bis zur Unfähigkeit zu bewaffnetem Widerstand.“ Dies sollte durch die Zerstörung folgender Ziele in vorgegebener Reihenfolge erreicht werden:99 deutsche U-Boot-Werften deutsche Flugzeugindustrie Transportsystem Hydrierwerke andere Objekte der deutschen Kriegsindustrie Man war bemüht, bei der Erarbeitung der Direktive, sowohl den britischen, als auch den amerikanischen Auffassungen in gewissem Maße gerecht zu werden und diese zu berücksichtigen. Auf deutscher Seite schien man über den Ausgang der Konferenz wenig beeindruckt: „Das Ergebnis ist, wenigstens soweit es im Kommuniqué sichtbar wird, denkbar mager. […]. Man glaubt uns schrecken zu können mit der Ankündigung von neuen Offensiven, die an irgendwelchen Plätzen Europas stattfinden sollen. Das Jahr 1943 werde das Jahr des Sieges werden. Man will uns angreifen, wo immer man kann. […]. Die Pläne zur Offensive, so behaupten die Engländer und Amerikaner, seien fertig.“100

Tatsächlich aber gab es auch nach der Casablanca-Konferenz noch keine endgültigen Pläne. Zumindest nicht, was die gemeinsame Taktik betraf. Immerhin wurden mit der Direktive zum ersten Mal genaue Zielvorgaben gemacht. In ihrer Formulierung blieb sie jedoch soweit interpretierbar, dass es für beide Seiten möglich war, sie zu ihren Gunsten auszulegen. Harris verstand die Direktive als Möglichkeit, sein „unterschiedsloses Städtebombardement“ weiterführen zu können: „[...], and I was now required to proceed with the general 'disorganisation' of German industry, giving priority to certain aspects of it such as U-boat building, aircraft production, oil 99 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 8 (xxviii), S. 153f.; zur Frage der Interpretation vgl. ebd., Vol. II, S. 10ff.; Craven/Cate: The Army Air Forces Vol. II, S. 305ff. 100 Zit. n. Elke Fröhlich [Hrsg.]: Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II: Diktate 1941-1945, Bd. 7, Jan. 1943- März 1943, München, New Providence, London, 1996 (Im Folgenden: Goebbels Tagebücher), S. 208f. (28. 01. 1943).

31 production, transportaion and so forth, which gave me a very wide range of choice and allowed me to attack pretty well any German industrial city of 100.00 inhabitants and above.“101

Auch die Amerikaner sahen keinen Grund, ihre bisherige Vorgehensweise zu ändern. Basierend auf dem Grundsatz, „it is better to cause a high degree of destruction in a few really essential industries or services than to cause a small degree of destruction in many industries“, hielten sie an ihrer Taktik der selektiven Tagesangriffe fest und konzentrierten sich dabei weiterhin auf militärische Ziele.102

Die Arbeit an einem gemeinsamen Konzept ging somit weiter. Damit verbunden war auch eine Anpassung der Hauptziele nach deren Priorität, die schließlich im „Eaker-Plan“ folgendermaßen festgelegt wurden:103 U-Boot-Werften und -Basen deutsche Flugzeugindustrie Kugellagerindustrie Ölversorgung synthetische Gummi- und Reifenindustrie Produktion von Militärtransportfahrzeugen Der Plan wurde am 29. April 1943 den Stabschefs vorgestellt und am 14. Mai von Roosevelt und Churchill genehmigt. Weitere Änderungen und Anpassungen, bei denen der Grundsatz der „Casablanca-Direktive“ jedoch stets beibehalten wurde, mündeten schließlich darin, dass der „Eaker-Plan“ am 10. Juni 1943 als „Pointblank-Direktive“104 an beide Bomberverbände ging. Das Ergebnis war schließlich in Harris' Sinne, konnte er seine Interessen soweit durchsetzen, dass die genannten Ziele allein der 8. USAAF zugewiesen wurden. Boog beschreibt die „Pointblank- Direktive“ als „eine Einladung an die Amerikaner, die Effektivität ihrer Tagespräzisionsangriffe, […], unter Beweis zu stellen und ein Freibrief für Harris, mit den unterschiedslosen nächtlichen Flächen angriffen auf deutsche Industriestädte fortzufahren.“105

Diesen Weg ging Harris schließlich auch bei der Großoffensive des Bomber Command gegen das Ruhrgebiet.

101 Zit. n. Harris: Bomber Offensive, S. 144. 102 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. II, S. 15; zit. n. ebd. 103 Vgl. ebd. S. 17ff. 104 Vgl. ebd. S. 22ff.; ebd. Vol. IV, App. 8 (xxxii), S. 158Ff; Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 665ff. 105 Zit. n. Horst Boog: Strategischer Luftkrieg über Europa und die deutsche Luftverteidigung. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 7: Das Deutsche Reich in der Defensive. Strategischer Luftkrieg in Europa, Krieg im Westen und Ostasien 1943-1944/45, München 2001 (Im Folgenden: Boog: Strategischer Luftkrieg), S. 1-415 hier S. 08.

32 Das Konzept zur kombinierten Bomberoffensive stand demnach zu Beginn des Jahres weitgehend fest, von einer kombinierten Bomberoffensive selbst, konnte aber weiterhin nicht die Rede sein. Abgesehen von den noch immer unterschiedlichen Auffassungen bezogen auf die Durchführung, waren die Amerikaner noch gar nicht in der Lage, größere Aktionen, die über das deutsche Küstengebiet hinausgingen, durchzuführen.106

2. Die 8. USAAF In der 1. Jahreshälfte befand sich die 8. USAAF noch immer in einer Testphase. Es dauerte noch bis März, bevor die 8. USAAF eine Stärke erreichte, die es erlaubte, Angriffe mit bis zu 100 Bombern zu fliegen. Gemessen an den Produktionszahlen deutscher Jäger, wollte man auf amerikanischer Seite eine Mindeststärke von 600 verfügbaren Bombern erreichen. Langsam baute man auch die Stärke der Begleitjäger P-47 Thunderbolt aus, jedoch dauerte es noch bis zum Mai 1943, bevor die US-Bomber regelmäßig Begleitschutz erhielten.107 Taktisch konzentrierten die Amerikaner ihre Angriffe somit weiterhin auf U-Boot-Bunker, Werften, o.ä., vorrangig in Frankreich. In der Zeit vom 23. Januar bis zum 10. Juni 1943 warfen die US- Bomber ca. 3800 Tonnen Bomben ab, davon ungefähr 60% auf U-Boot-Ziele. Auch Motorenwerke und weitere Produktionsstätten für Transportfahrzeuge in Frankreich und Belgien standen auf den amerikanischen Ziellisten. Das deutsche Schienennetzwerk hingegen wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht konsequent bombardiert.108 Erste nennenswerte Aktionen über deutschem Gebiet konzentrierten sich vor allem auf die Küstenregionen; den ersten Angriff gegen eine Stadt im Ruhrgebiet erlebte Hamm, am 04. März 1943. Die US-Bomber stießen bei ihren Aktionen immer wieder auf eine starke deutsche Jagdabwehr, die sie mit immer stärkeren Bomberformationen überwinden wollten. Ab März/April 1943 wurden schließlich die P-47 nach und nach fester Bestandteil der amerikanischen Angriffsformationen. Aufgrund noch bestehender technischer Mängel dauerte es aber noch bis Mai, bevor sie sich als Langstrecken-Jäger eigneten. Mit einer Reichweite von ca. 281km begleiteten die Thunderbolts die Bomber noch immer vorrangig bei Angriffen innerhalb Frankreichs und dem deutschen Küstengebiet.109 Das 1. Halbjahr 1943 verbrachten die Amerikaner somit überwiegend damit, die Stärke der 8. USAAF weiter auf- und auszubauen und flogen Tagesangriffe, die keine nennenswerten Schäden anrichteten. Es kam vor, dass ihnen aufgrund dessen vorgeworfen wurde, dass sie eine effektive, kombinierte Bomberoffensive gegen Deutschland nur unnötig verzögert hätten. Für die Amerikaner

106 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 161. 107 Vgl. ebd. S. 161; Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 309ff. 108 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 313ff. 109 Vgl. ebd. S. 327ff. und S. 336f.; Galland: Die Ersten..., S. 265.

33 hingegen bedeutete diese Phase, dass sie ihren Standpunkt beweisen konnten, nämlich, dass es durchaus möglich sei, Deutschland am Tage zu bombardieren.110 Die Realität sah für die US-Bomber zu diesem Zeitpunkt aber noch ein wenig anders aus. Angriffe, die über die Reichweite der P-47 hinaus gingen, wurden demnach weiterhin ohne Begleitschutz geflogen, wodurch es den deutschen Tagjägern immer wieder gelang, den Amerikanern hohe Verluste beizubringen. Als die verheerendsten galten die Angriffe auf im August und Oktober 1943. Das Ziel dieser Angriffe war die dortige Kugellagerindustrie. Besonders der Angriff am 14. Oktober 1943, der später die Bezeichnung „Black Thursday“ erhielt, machte die Schwachstelle der amerikanischen Offensive deutlich. Von insgesamt 291 B-17 wurden 60 abgeschossen und 138 beschädigt, davon 17 irreparabel. Zwar gelang es den US-Bombern, die Ziele zu bombardieren und auch erheblich zu beschädigen, dennoch hatten die hohen Verluste große Auswirkungen auf die Moral der Bomberbesatzungen und waren in dieser Höhe auf Dauer kaum zu tragen.111 Diese verlustreichen Angriffe, von denen es neben Schweinfurt noch einige weitere gab, machten deutlich, dass eine erfolgreiche Bomberoffensive nicht ohne Begleitschutz durch Langstreckenjäger durchzuführen war. Daraufhin verzichtete die 8. USAAF auf weitere Angriffe gegen Ziele im Landesinneren und nahm diese erst ab Januar 1944, mit der Einführung der P-51 „Mustang“ Langstreckenjäger, wieder auf.112

3. Das Bomber Command Die Briten dagegen setzten ihre Flächenangriffe gegen deutsche Städte weiterhin fort und konnten mittlerweile auf die Entwicklungen der letzten Jahre zurückgreifen. Die Flugzeugproduktion stieg weiter an, mit Schwerpunkt auf die schweren Bomber, die nun mit Oboe und H2S technisch bestens ausgerüstet waren. Mittlerweile flogen bei jedem Einsatz über Deutschland zwischen 500 und 800 Bomber. Zusätzlich wurden die Bomber bei ihren Angriffen durch die Bodenmarkierungen, den sogenannten „Christbäumen“, der PFF unterstützt.113 Gerade die Einführung von H2S machte es dem Bomber Command möglich, Angriffe nun auch bei Wetterverhältnissen zu fliegen, bei denen es den deutschen Jägern nicht einmal möglich war, überhaupt zu starten. Die deutsche Luftverteidigung sah sich auch weiterhin mit immer neuen Herausforderungen konfrontiert. Auch die Bomben wurden noch einmal weiterentwickelt. Besonders die Brandbombe, da gerade ihr die höchste Wirkung aller eingesetzten Bomben zugesprochen wurde. Da es den Deutschen jedoch relativ leicht fiel, die Brandbomben unschädlich

110 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces, S. 346; Harris: Bomber Offensive, S. 163; Verrier: Bomberoffensive, S. 109. 111 Zum Angriff auf Schweinfurt vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. III, S. 699ff.; Galland: Die Ersten..., S. 256ff. 112 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. III, S. 705f. 113 Vgl. Cooper: Air Battle, S. 21; Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 95ff.

34 zu machen, galt es nun einen Weg zu finden, die Brandbekämpfung erheblich zu erschweren. Die Flüssigkeitsbrandbombe sollte den gewünschten Erfolg erzielen. Der Brandsatz bestand aus einem Gemisch von Benzin, Gummi und Viskose oder Öl, flüssigen Asphalt und Magnesiumstaub. Häufig wurde auch noch Phosphor beigemischt. Von dieser Bombe kamen auf britischer und amerikanischer Seite 4 Typen zum Einsatz, deren Gewicht 27kg, 45kg, 225kg und 2,7kg betrugen. Von den Letzteren wurden meist bis zu 38 Bomben in einem Streubehälter geladen.114 Mithilfe der Weiterentwicklungen waren die Briten nun einmal mehr in der Lage, den Luftkrieg über Deutschland erneut zu verschärfen. Welche Ausmaße das mit sich brachte, wurde eindrucksvoll durch die Großoffensive gegen das Ruhrgebiet demonstriert.

4. Reaktionen auf deutscher Seite Die deutschen Städte hatten zu Beginn des Luftkrieges kaum Schwierigkeiten, eigenständig Hilfsmaßnahmen für Bombengeschädigte durchzuführen. Mit der Verschärfung des Luftkriegs und den größeren Auswirkungen der Bombenangriffe wurde es notwendig, Hilfsmaßnahmen auch durch stadtexterne Stellen zu organisieren. Als zentrale Stellen für die Organisation und Durchführung der Beseitigung der Kriegsschäden wurden 1943 der Interministerielle Luftkriegsschäden-Ausschuss (ILA) und die Reichsinspektion für zivile Luftkriegsmaßnahmen gegründet. Hitler ernannte Goebbels zum Leiter beider Einrichtungen. Der ILA wurde im Januar 1943 gegründet und übernahm die Koordination verschiedener Einrichtungen um die Versorgung in den bombardierten Städten zu sichern. In erster Linie handelte es sich dabei um motorisierte Hilfszüge mit Kleidung und Lebensmitteln sowie mobile Werkstätten und Küchen. Auch über Einrichtungen der Wehrmacht, des Roten Kreuz und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) konnte der ILA verfügen. Es ist wohl eine durchaus gerechtfertigte Schlussfolgerung, dass die Gründung des ILA in erster Linie die Bevölkerung davon überzeugen sollte, dass die Partei sich um das Wohlergehen des Volkes kümmerte. Daher war die Ernennung Goebbels als Vorsitzender wohl nicht zufällig. Bombenangriffe und die anschließende Versorgungssituation hatten auf die Stimmung der Bevölkerung einen besonderen Einfluss und wie ließe sich besser Werbung in eigener Sache machen, als durch schnelle Hilfe, organisiert von dem Mann, der sie vorher versprochen hatte? Die Reichsinspektion für zivile Luftkriegsmaßnahmen hatte die Aufgabe, gegen mögliche Missstände im Luftschutz vorzugehen. Die Initiative zu ihrer Gründung ging von Goebbels selbst aus und am 10. Dezember 1943 kam der Führerbefehl zur Bildung der Reichsinspektion, die am 25. Dezember ihre Arbeit aufnahm, Goebbels Stellvertreter wurde Gauleiter Westfalen-Süd, Albert

114 Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 203f.

35 Hoffman.115 Bis 1945 unternahm die Reichsinspektion Reisen durch das Reichsgebiet, um Versäumnisse bei den Luftkriegsmaßnahmen aufzudecken. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Luftkrieg seinen Höhepunkt jedoch bereits überschritten und für nennenswerte Verbesserungen war es längst zu spät.116 Eine wirkliche Zentralisierung der Hilfsmaßnahmen wurde auch durch die beiden Einrichtungen nicht geschaffen. Im Ganzen betrachtet wurden dadurch lediglich die Kompetenzen des Luftschutzes neu verteilt und um einige Instanzen erweitert. Eine Entwicklung, die vor allem Goebbels zugute kam, da sich dessen Einflussbereich immens ausweitete. „Die Kombination seiner vielfältigen politischen und staatlichen Funktionen mit dem Vorsitz des ILA und in der Reichsinspektion (…) machten ihn auf dem Höhepunkt des Bombenkriegs an der Heimatfront zu einem der mächtigsten Politiker und Entscheidungsträger im Deutschen Reich.“117

5. Mülheim und der Beginn der „Battle of the Ruhr“ Die frühen britischen Kriegsplanungen, die in Kapitel 2 kurz beschrieben wurden, bezogen bereits das Ruhrgebiet mit ein. Ziel des 2. Ruhrplans“ (W.A.5) war es, die Produktion der Ruhrindustrie gleichermaßen durch direkte wie indirekte Auswirkungen zu reduzieren.118 Für Harris und sein Bomber Command schien nun der geeignete Augenblick, um den entscheidenden Schlag gegen das Deutsche Reich auszuführen. Stärke und Technik waren vorhanden und wie bereits erwähnt, fand Harris sich durch die neu erlassene Casablanca-Direktive in seiner Vorgehensweise bestätigt und sah sich dazu berechtigt, jede beliebige Industriestadt zu bombardieren. Das Ruhrgebiet, als wichtigstes Industriegebiet Deutschlands, blieb dabei das vorrangige Ziel. Dessen Zerstörung würde nicht nur die deutsche Kriegsproduktion entscheidend schwächen, sondern ebenso ein entscheidender Schlag gegen die Moral der Bevölkerung bedeuten.119 Die wichtigsten Neuerungen, die dem Bomber Command für die Großoffensive gegen das Ruhrgebiet zur Verfügung standen waren, neben Oboe und Gee, verbesserte Zielmarkierungsbomben und der Mosquito-Bomber. Neben Spitfire, Lancaster, Hurricane und Wellington erwies sich dieser Bombertyp als einer der erfolgreichsten der RAF.120 Obwohl der Mosquito selbst über keine Defensiv-Waffen verfügte, konnte er aufgrund seiner hohen Geschwindigkeiten die deutsche Luftabwehr herausfordern. Zudem war er durch seine

115 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 391ff.; Goebbels Tagebücher: Bd. 10, S. 515 (20. 12. 1943) S. 523 (21. 12. 1943) und S. 547 (25. 12. 1943). 116 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 393, Blank nennt als Beispiel Dresden, als noch wenige Tage vor der Angriffswelle im Februar 1945 das Fehlen von ausreichend Schutzmöglichkeiten bemängelt wurde. 117 Zit. n. Blank: Heimatfront, S. 394. 118 Zu den direkten und indirekten Auswirkungen vgl. David McIsaac [Hrsg.]: The United States Survey Vol. II: The economic effect of the air offensive against German cities. Area Studies Division Report (European Report No. 31), New York, London 1976 (Im Folgenden: USSBS Vol. II: European Report No. 31), S. 6. 119 Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 102; Harris: Bomber Offensive, S. 147. 120 Vgl. Goulding/Moyes: Bomber Command aircraft, S. 92ff.

36 Holzbauweise nur schwer durch die deutschen Radargeräte zu orten und für die Briten relativ günstig zu produzieren. Eine Konstruktion, die selbst Göring neidisch werden ließ. Eingesetzt wurden die Mosquitos überwiegend in der Pathfinder-Force.121 Während die Amerikaner ihre Angriffe weiterhin in erster Linie gegen deutsche Seestreitkräfte und die deutsche Flugzeugindustrie richteten, begannen die Briten in der Nacht vom 5./6. März 1943 mit einem Angriff auf die Essener Krupp-Werke, die „Battle of the Ruhr“.122 Dabei wich das Bomber Command aber nicht von seiner üblichen Taktik ab, wie es vielleicht den Anschein machte. Beim Angriff auf Essen handelte es sich keinesfalls um einen Präzisionsangriff auf ein Industrieobjekt, sondern wie bei allen Angriffen auch um einen Flächenangriff. Die Werke waren lediglich im Zentrum der Stadt angesiedelt, und wie Harris später, in recht zynischer Weise, selbst betonte, war während der gesamten „Battle of the Ruhr“ grundsätzlich das Stadtzentrum der Zielpunkt. Die Zerstörungen von Industrieanlagen galten als Bonus.123 Mülheim war zu Beginn der Offensive noch kein direktes Ziel, dennoch fielen immer wieder Bomben auf das Stadtgebiet. In der Nacht zum 10. März flogen bereits 2 Mosquitos über die Stadt und warfen eine Mine und eine Stabbrandbombe auf den Stadtteil Dümpten. Dabei kamen zwei Menschen ums Leben. Bei einem Angriff auf Duisburg, am 08. April, fielen zwischen 23:10 Uhr und 23:50 Uhr, 6 Minen, 155 Phosphor- , 2750 Brand- und 123 14kg - Phosphorbrandbomben auf Mülheim. Es gab 4 Tote und 13 Verletzte. Die Sachschäden beliefen sich auf 3 völlig zerstörte Häuser, 14 schwer, 14 mittelschwer und 360 leicht beschädigte Häuser. Dazu kam noch ein Großbrand auf dem Gelände der Zeche Wiesche.124 Ein Angriff auf die Nachbarstadt Oberhausen, am 27. April, hatte für Mülheim zur Folge, dass die gesamte Wasserversorgung der Stadt ausfiel. Bis die Trinkwasserversorgung wieder vollständig hergestellt wurde, dauerte es bis zum 30. Mai, solange wurde die Stadt zusätzlich mit Wasserwagen der NSV versorgt. Auch die Straßenbahn stellte ihren Betrieb nach diesem Angriff ein und erhielt lediglich einzelne Linien für den Notbetrieb. Ein weiteres Mal wurde Mülheim am 13. Mai getroffen, bei einem Angriff, der eigentlich Bochum galt. Starke Bewölkung machte den vier Wellington - Bombern, die diesen Angriff flogen, eine Zielerkennung unmöglich, wodurch die Bombenlast von insgesamt 1055 Tonnen auf Mülheim und Umgebung niederging. Nennenswerte Folgen hatte dieser Angriff für die Stadt nicht. Der Angriff auf die Eder- und Möhnetalsperre am 16./17. Mai, bei dem insgesamt mehrere Tausend Menschen den Tod fanden,125 hatte auf die Stadt ebenfalls kaum Auswirkungen. Die entstandene

121 Vgl. Postan: British War Production, S. 341; Irving: Tragödie, S. 282. 122 Ausführlich zur „Battle of the Ruhr“ vgl. Cooper: Air Battle; Webster/Frankland: Air Offensive Vol. II, S. 108-137. 123 Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 147; Verrier: Bomberoffensive, S. 162f. 124 Vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 367; Nierhaus: Mülheim, S. 213. 125 Vgl. Für eine detaillierte Beschreibung dieses Angriffs vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. II, S. 168Ff.; Verrier: Bomberoffensive, S. 216ff.; Angaben über endgültige Opferzahlen variieren, vgl. dazu Blank: Heimatfront, S. 367 Anmerkung 40.

37 Flutwelle trieb tote Tiere, Holz und Hausrat an der Stadt vorbei. Da aber früh genug die Brüstungen an der Mülheimer Schlossbrücke entfernt wurden, stieß das Wasser auf wenig Widerstand, wodurch in der Stadt nur geringe Schäden entstanden.126 In den ersten Monaten der „Battle of the Ruhr“, blieb Mülheim zwar nicht ganz von Bombenangriffen verschont, doch konnten evtl. Auswirkungen von Seiten der Stadt schnell beseitigt werden. Die größte Herausforderung stand der Stadt jedoch noch bevor.

6. Der Großangriff auf die Stadt Mülheim an der Ruhr Am 23. Juni 1943 wurde Mülheim unter dem Codenamen „Steelhead“ direktes Ziel der britischen Großoffensive. Während der Angriffsdauer von ca. 1 Stunde flogen insgesamt 557 Flugzeuge des Bomber Command über die Stadt hinweg, 499 davon warfen eine Bombenlast von über 1600 Tonnen ab.127 Um 00:45 Uhr wurde der Fliegeralarm ausgelöst und von 01:10 Uhr bis 02:20 Uhr führten 242 Lancaster, 155 Halifaxes, 93 Sterlings, 55 Wellingtons und 12 Mosquitos den Großangriff auf Mülheim durch. Den vorausfliegenden Pathfindern gelang eine effektive Zielmarkierung, da sich in dieser Nacht lediglich dünne Stratuswolken am Himmel befanden. Im Abstand von 20 Minuten flogen drei Angriffswellen über die Stadt und warfen insgesamt 793 Sprengbomben, 129 Luftminen, 22.000 Phosphorbrand- und 131.000 Stabbrandbomben ab. Schätzungsweise Zwei Drittel dieser Ladung trafen das Mülheimer Stadtgebiet.128 Das Angriffszentrum war die Innenstadt, dort wurden in erster Linie Wohnhäuser zerstört aber auch die Bahnhöfe Mülheim-Ruhr (heute Mülheim-West) und Eppinghofen (heute Mülheim-Hbf.), wurden getroffen. Ein Teilangriff richtete sich gegen den Stadtteil Speldorf, bei dem die Werksanlagen, sowie ein Lager holländischer „Fremdarbeiter“ der Firma Schmitz-Scholl, die neben Schokolade, auch Proviant für die Wehrmacht herstellte, getroffen wurden. Auch der Werksbereich der Firma Tengelmann und das Hafengebiet wurden bombardiert. Die zweite Angriffswelle verlagerte sich nach Norden, über den gesamten Industriebereich zwischen Ruhr und Mellinghofer Straße, wodurch besonders die Stadtteile Styrum und Mellinghofen betroffen waren. Während dieses Angriffs fielen auch Bomben auf die Nachbarstadt Oberhausen, wodurch alle Verkehrs- und Telefonverbindungen zwischen den beiden Städten zusammenbrachen. Die Feuerschutzpolizei, deren Sitz sich in Oberhausen befand, konnte daher nur von Mülheimer Meldern auf den Fußweg erreicht werden. Zusätzlich wurde versucht, über Essen und Duisburg die Zentrale zu erreichen. Die zerstörten Straßen erschwerten es auch, Hilfsgruppen aus den Nachbarstädten nach Mülheim zu

126 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 214f. 127 Vgl. Cooper: Air Battle, S. 400. 128 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 215; Ullrich: Dokumentation, S. 214.

38 schicken.129 Wie bei allen Angriffen der Ruhrschlacht, war auch in Mülheim das Stadtzentrum Angriffsschwerpunkt und wurde in bewährter Taktik bombardiert: „Zunächst sollten schwere Luftminen und Sprengbomben Dachstühle abdecken und generell die Öffnung von Gebäuden und Mauern erwirken. Sprengbomben mit überschwerem Kopf und Leitflossen vervollständigten das Zerstörungswerk und rissen dazu noch tiefe Krater in Straßen. Mit chemischen Verzögerungszündern versehen stellten sie eine beständige Gefahr für die Löschmannschaften dar, die sich vor ihrer Splitterwirkung fürchteten. Durch die offenen Kamine der zerstörten Häuser wurden dann die Brandbomben geworfen, die ihre schreckliche Wirkung in einem Feuersturm entwickeln konnten. Man zielte deshalb auf das Stadtzentrum, weil sich die Planer den dort vorhandenen Fachwerkbauten eine besondere Feu ersbrunst versprachen. Und dieses Konzept ging voll auf.“130

Innerhalb weniger Minuten war die Stadt in Staub- und Rauchwolken gehüllt.

Tabelle 4: Entstandene Flächenbrände als Folge des Luftangriffs vom 23. Juni 1943131

Straße Hausnummer Hingbergstraße 27 – 44; 61 Leibnitzstraße 2 – 10 Oberstraße 7 – 18 Hindenburgstraße (heute: Friedrich-Ebert-Straße 19 – 20; 36 – 46; 79 – 88 Teinerstraße 59 – 65 Adolf-Hitler-Straße (heute: Freidrcihstraße) 1 – 3; 19 – 24; 62; 95 Schlossstraße 31 – 33; 52 – 54; 71 – 73; 83 Leineweberstraße 4 – 5; 11 – 12; 16 – 20 Löhberg 22; 51 Löhstraße 8 – 16 Von-Bock-Straße 32; 34; 39 Mühlenberg 7 – 11 Bachstraße 23; 43; 45 Dickswall 32; 36 Eppinghofer Straße 52 – 56; 106; 116; 163 Kohlenkamp 1 – 10 Kaiserstraße 45 – 55 Muhrenkamp 105 - 111

Um eine erfolgreiche Brandbekämpfung zu verhindern, flog das britische Bomber Command bereits um 00:33 Uhr, also 12 Minuten bevor Luftalarm gegeben wurde, einen gezielten Angriff auf das

129 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 249 und S. 258: Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 401. 130 Zit. n. Nierhaus: Mülheim, S. 215f. 131 Tabelle zu finden bei Wiedeking: Kriegsalltag, S. 258.

39 Gebiet der Hauptfeuerwache. Entstandene Bombentrichter auf den Straßen und eingestürzte Häuser hinderten die Löschfahrzeuge daran auszurücken, als diese um 01:35 Uhr von der Brandstelle Rathaus angefordert wurden. Hinzu kam, dass Menschen in den Trümmern eingeschlossen waren, deren Rettung Priorität hatte. Wie bereits erwähnt, fand dieser Angriff 12 Minuten vor Auslösung des Luftalarms statt. Den Anwohnern blieb daher keine Zeit, rechtzeitig die Luftschutzkeller aufzusuchen und somit begaben sie sich erst auf den Weg dorthin, als die Bomben bereits fielen. Insgesamt wurden bei dem Angriff im Bereich der Aktien-, Falk- und Sandstraße 90 Menschen getötet.132

Das Signal zur Entwarnung ertönte um 02:40 Uhr. Der Angriff war vorbei und 64% der Stadt zerstört. Gut 50% der gesamten Trefferzentren befanden sich im Bereich der Innenstadt, wo mit fast 300 auch die höchste Anzahl an Todesopfern zu beklagen war. Weitere stark betroffene Stadtteile waren Mellinghofen, Styrum, Eppinghofen und Speldorf.133 In Zahlen ausgedrückt, hatte der Angriff folgende Auswirkungen:134 530 Tote. 1167 Verwundete. Gebäudeschäden: Wohnhäuser: 1135 total zerstört, 2088 schwer, 2560 mittel und 7989 leicht beschädigt. Insgesamt mussten 48.550 Menschen dauerhaft aus ihren Wohnhäusern ausquartiert werden. Von insgesamt 1600 total zerstörten Gebäuden, gehörten 17 zu Rüstungsbetrieben. Behördengebäude: 6 total zerstört, 13 schwer, 6 mittel und 16 leicht beschädigt. Krankenhäuser: 3 schwer und 3 leicht beschädigt. Kirchen: 2 total zerstört, 3 schwer, 6 mittel und 6 leicht beschädigt. Schulen: 2 total zerstört, 9 schwer, 6 mittel und 8 leicht beschädigt. 216 Großbrände und 966 Mittelbrände, sowie 3018 Kleinfeuer, galt es zu bekämpfen. 16 Stück Großvieh war verendet. Unter der Überschrift „Britischer Terror über Mülheim“ schrieb die Mülheimer Zeitung, zwei Tage nach dem Angriff: „Das alte Mülheim ist nicht wiederzuerkennen! […]. Wohin wir auch in diesen Straßen unsere Blicke richten, überall sehen wir Bilder des Grauens, öde Fensterhöhlen, zusammengestürzte Häuser, die die Minen und Brandbomben hinter sich gelassen haben [...]“.135

132 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 249; Nierhaus: Mülheim, S. 215. 133 Vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 400; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 252; Wiedeking hat Trefferzentren und Anzahl der Todesopfer anahnd der Opferliste der Stadt detailliert nach Straßen aufgeschlüsselt. Eine Abschrift dieser Auflistung ist im Anhang dieser Arbeit zu finden. 134 Zur folgenden Aufzählung vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 257-266; StAMH: Bestand 1471/2/2, S. 26f. und Bestand 1615/2, S. 7. 135 Zit. n. StAMH: MZ vom 25. 06. 1943.

40 Vier größere Betriebe erlitten durch den Angriff einen langfristigen, d.h. einen 2-3-monatigen Totalausfall, ebenso wie 19 Mittelbetriebe. Weitere beschädigte Großbetriebe konnten in nur wenigen Tagen wieder repariert werden. Zu den zerstörten öffentlichen Gebäuden gehörte auch das Schwesternhaus des Evangelischen Krankenhauses, ohne das es dabei Tote gab. Weniger Glück hatten Patienten des Alters- und Versorgungshauses, indem zwei Bomben einschlugen, die auch den Luftschutzkeller trafen. Es starben 23 Menschen. Nur unter großen Schwierigkeiten konnten weitere Patienten aus dem brennenden Gebäude in Sicherheit gebracht werden. Nach diesem Vorfall stiftete die Familie Stinnes dem Krankenhaus einen Stollen, mit Untersuchungs- und Operationsraum, fließendem warmen und kaltem Wasser und einer vollständigen Kanalisation, ausreichend für ca. 150 Patienten. Das Krankenhaus selbst blieb weitgehend verschont und nahm am Tag des Großangriffs bereits Patienten auf und verteilte dazu auch Essen und Getränke an die Bewohner in der Umgebung.136

Am Morgen des 23. 06. um 06:15 Uhr, sendete die Nachrichtenzentrale der 4. Flak-Division ein Fernschreiben an das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und teilte mit, das Mülheim und Oberhausen in der Nacht, Opfer britischer Terrorangriffe geworden sind.137 Sofort rückten die Kriegsabteilungen 4/214 und 4/216 des Reichsarbeitsdienstes (RAD) aus, um erste Schäden zu beseitigen und mit dem Bau von Notunterkünften zu beginnen. Die NSV versorgte die Bevölkerung mit Essen und Trinken. Mit Unterstützung der Wehrmacht wurden in der Stadt insgesamt 25 Feldküchen errichtet. Aufgrund der zerstörten Telefonleitungen wurden Hitlerjungen als Melder zwischen Rathaus, Polizeipräsidium und den Außenstellen der Stadtverwaltung eingesetzt. Von der Stadtverwaltung mussten zwar einige Abteilungen, u.a. das Kriegsschäden- und Wirtschaftsamt, vorübergehend in Schulen untergebracht werden, doch ihre Arbeit nahm die Stadtverwaltung bereits am 25. 06. wieder auf.138 Die Mülheimer Feuerwehr bekämpfte in der Innenstadt 156 Brände. In Mellinghofen 14, in Styrum 11 und in Dümpten 4 Brände. Eine weitere Anzahl wurde durch Hilfskräfte von außerhalb bekämpft. Die Löscharbeiten dauerten Tage, an einzelnen Brandstellen sogar bis zum 30. 06. 1943. Das lag vor allem auch daran, dass die Trümmer durch den Feuersturm oft noch tagelang glühend heiß waren und mit Wasser hätten abgelöscht werden müssen. Dafür reichte aber oft der Druck in den Hydranten nicht aus, denn auch Wasserleitungen wurden bei dem Angriff zerstört. Das verzögerte neben den Aufräumarbeiten, auch die Rettungsmaßnahmen für verschüttete Personen. Menschen in den Schutzräumen konnten daher oft erst Tage später geborgen werden und viele nur noch tot. Von den 530 Menschen, die bei diesem Angriff ums Leben kamen, starben über 450 in Luftschutzräumen.139 In den Berichten der Feuerlöschpolizei heißt es

136 Vgl. StAMH: Bestand 1480/1/1; Nierhaus: Mülheim, S. 217. 137 Vgl. Kriegstagebuch OKW Bd. III: 1. Jan. 1943-31. 12. 1943, Erster Halbband III/5, S. 217. 138 Vgl. StAMH: MZ vom 25. 06. 1943 und vom 26. 06. 1943. 139 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 258.

41 beispielsweise, dass am 24. 06. die Löscharbeiten an einem Wohngebäude an der Rheinischen Straße, aufgrund von Wassermangel eingestellt werden mussten. Personen, die unter den Trümmern verschüttet waren, konnten ebenfalls nicht an diesem Tag geborgen werden. Als es endlich gelang, die Trümmer zu beseitigen, konnten die Hilfskräfte nur noch 18 Tote bergen. Auch in der Leineweberstraße, die damals lediglich 16 Häuser umfasste, kamen 42 Menschen in ihren Schutzkellern ums Leben.140

Laut den Berichten der Mülheimer Feuerwehr waren 2714 eigene Rettungskräfte im Einsatz, ebenso die gesamte Ordnungspolizei sowie zwei Einheiten der Feuerlösch- und Entgiftungsabteilungen (FuE) aus den Abschnitten Süd und Mitte. Zu den eigenen Hilfskräften kamen noch folgende Kräfte von außerhalb dazu:141 2 Bereitschaften vom Flughafen Essen/Mülheim (FS Breslau-Kattowitz) 2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 19, Essen-Kray 2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 25, Duisburg 2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 26, Hilden 2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 39, Düsseldorf 2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 18, Köln-Dellbrück 2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 17, Gelsenkirchen-Flughafen 2 Bereitschaften der LS-Abt. F, Wuppertal 2 Bereitschaften der LS-Abt. F, Dortmund 2 Bereitschaften der LS-Abt. I, Köln 2 Bereitschaften der FuE-Abt. Münsterland 63 Mann der Feuerschutzpolizei-Abt. 3, Bochum

Neben der Brandbekämpfung machte das Sprengkommando Kalkum, das neben dem Sprengkommando Münster und Köln, für den Luftgau IV verantwortlich war, mit der Beseitigung der Blindgänger, einen weiteren Anfang bei den Aufräumarbeiten. Für einen solchen Einsatz wurden u.a. auch KZ-Häftlinge eingesetzt, die eine Bombenentschärfung ggf. auch bei Dunkelheit und bei Luftalarmen durchführen sollten. Kriegsgefangene wurden ebenfalls eingesetzt. In Mülheim halfen holländische Maurer, Zimmerleute und Bauarbeiter bei den Reparaturarbeiten. Für die Einteilung der überwiegend ausländischen Arbeitskräfte war das Dezernat „Arbeitseinsatz“ verantwortlich.142 Weitere 100 Männer der 3. Kompanie des Kriegsgefangenen-Glaser-Bataillons III aus Berlin und einige Arbeiter des Kriegsgefangenen-Dachdecker-Bataillons XVI wurden

140 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 261. 141 Zur folgenden Aufzählung vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 218 und StAMH: Bestand 1471/2/2, S. 26f. 142 Vgl. StAMH: Bestand 1615/4, S. 177.

42 zusätzlich nach Mülheim geschickt. Alle zum Einsatz gekommenen Hilfskräfte musste Mülheim sich mit der Nachbarstadt Oberhausen teilen.143 Priorität hatte in jedem Fall die Wiederherstellung betroffener Industrieanlagen. Einige Großbetriebe konnten zwar innerhalb weniger Tage wieder repariert werden, Auswirkungen hatte aber auch das Fernbleiben der Arbeiter, die selbst von dem Angriff betroffen waren, oder aufgrund der zerstörten Verkehrswege, den Weg zur Arbeit einfach nicht antreten konnten. Da der Betrieb jedoch schnellstmöglich wieder aufgenommen werden sollte, hatten bei der Straßenräumung die Wege zu den Produktionsstätten Vorrang. So fuhren in der Stadt bereits wenige Tage nach dem Angriff insgesamt 30 Autobusse, als Ersatz für den Schienenverkehr, die in erster Linie für den Transport der Mülheimer Arbeiter vorgesehen waren. Im Allgemeinen gestaltete sich die Fortbewegung in der Stadt weiterhin schwierig. Die zerstörten Straßen hatten auch zur Folge, dass geborgene Tote nicht abgeholt werden konnten und so noch tagelang vor den Häusern lagen.144 Für den Abtransport von Schutt wurden Ochsengespanne eingesetzt. Dafür bekam der Werkluftschutz von Seiten der Stadtverwaltung eine finanzielle Entschädigung in Höhe von 38.000 RM. Auch die Feuerwehr bekam, mit 22.000 RM, eine finanzielle Unterstützung der Stadt, für den Neuerwerb eines Löschfahrzeugs.145 Um die Quartierbeschaffung für die Ausgebombten kümmerte sich die Stadtverwaltung, zusammen mit der NSV. Mehr als 35.000 Obdachlose galt es, nach dem Angriff unterzubringen. Nichtgeschädigte wurden aufgefordert, ungenutzten Raum in den eigenen Häusern und Wohnungen, den Geschädigten zur Verfügung zu stellen. Zusätzlich wurden Schulen für die Unterbringung genutzt und mit der Errichtung von Behelfsheimen wurde ebenfalls so früh wie möglich begonnen. Innerhalb der Stadt wurden die Versorgungsmaßnahmen gewohnt bürokratisch organisiert. Es gab Formulare für Vermisstenmeldungen, Entschädigungsansprüche und Verlustanzeigen. In Mülheim stellte das Kriegsschädenamt den Bombenopfern einen Ausweis über den Grad der Schädigung – total, schwer, mittel oder leicht – aus. Mit diesem Ausweis konnten verlorengegangene Haushaltsausweise und Lebensmittelkarten beim Ernährungsamt ersetzt werden. Der Verlust der Lebensmittelkarten musste jedoch zuvor in einer eidesstattlichen Erklärung versichert werden. Bis zum Erhalt der neuen Karten, teilte das Amt Urlauberkarten an die Antragsteller aus, mit denen bereits Sachen wie Schuhe, Berufskleidung und bestimmte Haushaltswaren erworben werden konnten.146 Für die Bestattung der Toten wurde in einer Sitzung der Stadtverwaltung beschlossen, einen neuen Teil für 420 Grabstellen auf dem Ehrenfriedhof am Uhlenhorst anzulegen. Für die Aufstellung von Grabzeichen stellte die Stadtverwaltung noch am 26. September 1944, einen Zuschuss von 35.000 143 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 219ff. 144 Vgl. ebd. S. 217. 145 Vgl. StAMH: Bestand 1181/2/30; StAMH: MZ vom 28. 06. 1943. 146 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 221f.; Burgdorff/Habbe: s. 193ff.

43 RM zur Verfügung.147 Für die Planung und Durchführung der Bestattungen, deren Ablauf nach genauen Anweisungen verlief, war die Partei verantwortlich.

Auch das Bomber Command blieb nicht ohne Verluste. Während des Angriffs meldeten die Piloten starke Scheinwerfer- und Flakaktivität, insgesamt wurden 35 Maschinen abgeschossen; 12 Halifax, 11 Stirling, 8 Lancaster und 4 Wellington. Dabei starben insgesamt 198 Besatzungsmitglieder. Laut Angaben wurden 14 Maschinen direkt von Nachtjägern abgeschossen, 3 direkt von der Flak und 2 durch eine Kombination von Flak und Nachtjägern. Die restlichen Maschinen wurden stark beschädigt und stürzten auf ihrem Rückweg entweder auf holländischem Gebiet ab oder in die Nordsee. Lediglich zwei Maschinen stürzten direkt über dem Mülheimer Stadtgebiet ab: ein Lancaster-Bomber in Heißen und ein Halifax-Bomber auf den Hauptfriedhof.148

147 Vgl. StAMH: Bestand 1181/2/30; 1181/1/5. 148 Cgl. Cooper: Air Battle, S. 99ff.; W.R. Chorley: Bomber Command Losses of the Second Worls War. Vol. 4: Aircraft and crew losses 1943, Hinkley 1996 (Im Folgenden: Chorley: Bomber Command Losses), S. 198ff.

44 Abb. 1 und 2: Verteilung der Trefferzentren und Todesopfer in den Mülheimer Stadtteilen, nach dem Angriff vom 23. Juni 1943149

Trefferzentren 5 4% 5 6 4% 5% Innenstadt Süd 45 23 Innenstadt Nord (Sitz der Hauptfeuerwache) 35% 18% Mellinghofen Styrum 25 Eppinghofen 20 19% Speldorf 15% Dümpten, Fulerum, Saarn, Winkhausen

Todesopfer 6 6 13 1% 1% 3%

46 11% Innenstadt Süd 200 Innenstadt Nord (Sitz der 46% 64 Hauptfeuerwache) 15% Mellinghofen Styrum Eppinghofen 97 Speldorf 23% Dümpten, Fulerum, Saarn, Winkhausen

149 Zahlen entnommen bei Wiedeking: Kriegsalltag, S. 252.

45 Tabelle 5: Aufschlüsselung der Anzahl von Trefferzentren und Todesopfern nach Straßen150

Stadtteil Straße Trefferzentren Todesopfer Innenstadt Süd Leineweberstraße 7 42 Eppinghoferstraße 5 22 Löhstraße 4 18 Teinerstraße 3 38 Trooststraße 2 10 Kalkstraße 2 6 Oberstraße 2 6 Althofstraße 2 4 Schulstraße 2 4 Kaiserstraße 2 3 Delle 2 3 Scharpenberg 2 2 Hingbergstraße 2 2 Rheinische Straße 1 18 Biesenbach 1 10 Kohlenkamp 1 3 Kirchberghöhe 1 1 Antoniusstraße 1 1 Adolfstraße 1 1 Friedrichstraße 1 1 Mühlenberg 1 1 Kämpchenstraße 1 1 Dickswall 1 1 Essener Straße 1 1 Steiler Weg 1 1 Gesamt 45 200 Innenstadt Nord Sandstraße 7 26 Falkstraße 4 33 Aktienstraße 3 22 Schreinerstraße 2 5 Zinkhüttenstraße 1 8 Seilerstraße 1 1 Arndstraße 1 1 Gesamt 19 96 Styrum Neustadtstraße 3 5 Rosenkamp 3 3 Goebenstraße 2 10 Schützenstraße 2 10 Moritzstraße 2 5 Marktplatz 2 2 Oberhausener Straße 1 1 Blumenstraße 1 1 Hohe Straße 1 1 Sedanstraße 1 1 Fröbelstraße 1 1 Steinkampstraße 1 1 Zastrowstraße 1 1 Alvenslebenstraße 1 1 Industriestraße 1 1 Gesamt 23 46

150 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 252f.

46 Stadtteil Straße Trefferzentren Todesopfer Eppinghofen Bruchstraße 2 2 Schillerstraße 1 8 Harnstraße 1 2 Heinrichstraße 1 1 Gesamt 5 13 Dümpten Oberheidstraße 1 1 Borbecker Straße 1 1 Gesamt 2 2 Winkhausen Klaus-Groth-Straße 1 1 Theodor-Storm-Straße 1 1 Gesamt 2 2 Fulerum Kleiststraße 1 1 Saarn Nachbarsweg 1 1

Nach dem Großangriff wurde Mülheim noch einige Male von Bomben getroffen. Bereits drei Tage später, am 26. Juni wurden noch einmal 14 Häuser mittel- und 17 Häuser leicht beschädigt. Men- schen kamen diesmal nicht zu Schaden. Der Angriff selbst galt eigentlich Gelsenkirchen. Bei einem weiteren Angriff am 27. Juli setzten die Briten auch über Mülheim das erste Mal „Window“ ein. Diese „einfache Waffe“ gegen das Abwehrsystem rief gleichwohl Erstaunen und Entsetzen hervor. Ebenfalls im Juli flog eine britische Bomberformation noch einmal über die Stadt und warf dabei 50 Sprengbomben auf Mülheim und Oberhausen ab. Dabei wurde das Gebiet, rund um den Styrumer Bahnhof beschädigt.151

Am 30./31 Juli endete die „Battle of the Ruhr“ mit einem Angriff auf Remscheidt. Während der ge- samten Ruhrschlacht flogen 18.506 Bomber in 39 Nächten 43 Großangriffe. Bis auf wenige Aus- nahmen waren bei jeder Aktion mindestens 300 Flugzeuge beteiligt. Das Bomber Command erlitt während der Offensive einen Totalverlust von 872 Flugzeugen und 6000 Besatzungsmitgliedern. Zusätzlich wurden noch 2126 Flugzeuge beschädigt. Die durchschnittliche Verlustquote betrug 4,7%, Berechnungen zufolge, wäre die Offensive bei einer Verlustquote von 5%, auf Dauer nicht durchzuhalten gewesen.152 Dabei wurde das Ruhrgebiet in seiner Bedeutung von Anfang an überschätzt. Neben einigen synthe- tischen Treibstoffwerken befanden sich nur ca. 25% der gesamtdeutschen Rüstungsproduktion in diesem Gebiet. Im Bereich der Panzerherstellung betrug der Anteil gerade 10% und nur ein Flug-

151 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 218 und S. 222. 152 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. II, S. 110f.; ebd. Vol. IV, App. 42, S. 445f.

47 zeugwerk befand sich im Ruhrgebiet.153 In Mülheim selbst gab es, neben den Röhrenwerken und der FWH, kaum kriegswichtige Produktion, den Hauptteil der städtischen Industrie machte die Leder- produktion aus.

Harris Zielvorstellung von der Zerstörung der Industrie hatten sich nicht erfüllt, lediglich ein Pro- duktionsverlust von 4-6 Wochen war die Folge der Großoffensive und auch die Demoralisierung der Bevölkerung konnte nicht erreicht werden.154 Dennoch war die Ruhrschlacht eine enorme De- monstration der Stärke, worüber sich Goebbels bereits vor ihrem Ende völlig bewusst war. Einen Tag, nach dem Angriff auf Mülheim, beurteilte er die Lage folgendermaßen: „Wir werden wohl zum großen Teil das westdeutsche Gebiet in unserer Rechnung aufgeben müssen, abgesehen von den Rüstungseinrichtungen, die wir nach Möglichkeit erhalten müssen. […]. Ich habe manchmal den Eindruck, als verursache der englische Luftkrieg in den deutschen Führungskreisen eine Art von geistiger oder seelischer Lähmung. Wir tun durchaus nicht alles, was getan werden müsste und getan werden könnte. Wenn die Engländer heute in der Lage sind, in einer Nacht praktisch eine westdeutsche Stadt zu vernichten, so kann man sich vorstellen, welche Verheerungen sie im Laufe der nächsten drei oder vier Monate, […], anrichten können. Die Luftkriegsfrage ist damit das Problem der Probleme. Hier liegt die eigentliche Schwächung unserer Kriegführung.“155

Eine große Schwäche der deutschen Luftkriegsführung war mit Sicherheit die deutsche Heimatluftverteidigung bzw. die frühen Versäumnisse in diesem Bereich. Die deutsche Luftverteidigung befand sich nun endgültig in der Lage, dass sie nur noch auf die gegnerischen Aktionen reagieren konnte. Die Frage war nun, wie würde sie das tun?

7. Die Heimatluftverteidigung 1943 Die Situation der deutschen Luftverteidigung verschlechterte sich zusehends, was besonders ab 1943 deutlich wurde. Mittlerweile war auch die amerikanische 8. USAAF soweit, dass sie wirkungsvolle Schläge gegen das Reich richten konnte und dennoch wurde eine Aufrüstung der Defensive nicht im notwendigen Maße vorangetrieben. Noch immer überwog der Offensivgedanke und durch den Mehrfrontenkrieg schmolzen zudem die deutschen Ressourcen merklich dahin und Material- und Personalmangel wurden eine immer größere Hürde im Rennen der Kriegsproduktion. Die Jägerproduktion konnte zwar gesteigert werden, doch durch die Verteilung auf mehrere Kriegsschauplätze, fehlten der Heimatluftverteidigung weiterhin dringend benötigte Jäger.156 Die Verteidigung blieb auch weiterhin die vorrangige Aufgabe der Flak.

153 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 18. 154 Vgl. ebd. S. 21. 155 Zit. n. Goebbels Tagebücher Bd. 8, S. 517 (24. 06. 1943). 156 Vgl. Irving: Tragödie, S. 301ff.

48 a) Flak Im November 1943 dienten mittlerweile über eine Million Soldaten bei der Flakartillerie, unterstützt von bis zu 400.000 Männern und Frauen als Flakhelfer und -helferinnen. Von der gesamten Munitionsproduktion fielen allein 12% auf die Flak, doppelt soviel wie für die Feldartillerie des Heeres. Die Menge des benötigten Aluminiums, das während des gesamten Krieges für die Herstellung der Flakmunition verbraucht wurde, entsprach der Menge, die für die Herstellung von 40.000 Jagdflugzeugen ausgereicht hätte. Zudem benötigte die Flak für einen Abschuss, weitaus mehr Munition, als ein Jäger und verzeichnete dabei jedoch geringere Abschusszahlen. Ein 8,8cm - Geschütz vom Typ 36, das auch in Mülheim zum Einsatz kam, benötigte eine Mannschaft von 9 Kanonieren und für den Abschuss eines Bombers, durchschnittlich 16.000 Schuss.157 Während das Ansehen der Flak, aufgrund dieser Zahlen, innerhalb der Luftwaffe langsam verlor, behielt sie für Hitler ihren hohen Stellenwert. Er hob dabei besonders ihre Wirkung auf die Moral der feindlichen Bomberbesatzungen hervor. Denn auch ohne direkte Treffer zwang sie den Gegner häufig zu Ausweichmanövern und ungenauen Bombenabwürfen. Die psychologischen Auswirkungen der Flak erkannte auch der Befehlshaber der 8. USAAF, General Spaatz an. Seiner Meinung nach gingen 61% der Fehlwürfe auf die indirekten Auswirkungen der Flak zurück, „davon zwei Drittel auf Nervenstress und Ausweichbewegungen und ein Drittel auf das Ausweichen in größere Höhen. Auch das Zurückkriechen (creep back) des Bombenwurfs, durch vorzeitigen Abwurf beim Angriff, war der Flak zuzuschreiben.“ Hitlers Meinung nach, würde es sich der Gegner dreimal überlegen, durch einen verstärkten Flakgürtel zu fliegen. Einen Flakgürtel in der notwendigen Größenordnung aufzubauen, wie Hitler es sich vorstellte, war aber überhaupt nicht realisierbar.158 Mit dem Einsatz von „Window“, auf deutscher Seite „Düppel“ genannt, schaffte es das Bomber Command schließlich, der Flak einen gewaltigen Schlag zu versetzen, von dem diese sich, bis Kriegsende, nicht mehr vollständig erholen konnte. Beim Angriff auf Hamburg wandte das Bomber Command diese Methode das erste Mal an. Dabei wurden dünne Aluminium-Streifen über dem Zielgebiet abgeworfen, wodurch fast die gesamte technische Grundlage der Nachtabwehr, ausgenommen der Freya- und Y-Geräte, vollständig lahmgelegt wurde.159 Hitler hielt trotzdem am Flak-Ausbau fest und war davon überzeugt, dass deutsche Techniker in kürzester Zeit, Wege zur „Entdüppelung“ entwickeln würden. Mit dem Einsatz, des sogenannten „Würzlaus“-Senders, konnte man zwar die feindlichen Störfrequenzen aufheben, das galt jedoch nur für die Würzburg- Geräte, auf andere Funkmessgeräte konnte „Würzlaus“ nicht angewandt werden. Eine schnelle

157 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 95; Rolf-Dieter Müller: Der letzte deutsche Krieg 1939-1945, Stuttgart 2005 (Im Folgenden: Müller. Der letzte deutsche Krieg), S. 209. 158 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 198ff.; Zitat ebd., S. 202; Goebbels Tagebücher Bd. 8, S. 529 (25. 06. 1943). 159 Vgl. Georg W. Feuchter: Der Luftkrieg, Frankfurt am Main 1964 (Im Folgenden: Feuchter: Luftkrieg), S. 199ff.; Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 178.

49 Lösung des Problems war also nicht zu erwarten, und während die Suche nach wirkungsvollen Gegenmaßnahmen auf Hochtouren lief, stieg gleichzeitig die Bedeutung der anderen Nachtjagdverfahren. Darüber hinaus rückte nun auch die Bedeutung der Flakrakete in den Vordergrund, deren Entwicklung lange Zeit durch die V-Waffen blockiert wurde. Flakraketen sollten dazu dienen, Bomber in großen Höhen von bis zu 18.000 Metern zu bekämpfen.160 Ein Abwehrsystem, was zu diesem Zeitpunkt geradezu utopisch war, denn weder befand sich die Technik auf dem notwendigen Entwicklungsstand, noch war die Wirksamkeit der Flakrakete überhaupt erprobt. Und wie in den anderen Bereichen der Luftabwehr, sah man sich auch hier dem Materialmangel ausgesetzt. Zwar kamen mit „Schmetterling“ und „“ noch zwei Raketen zum Einsatz, doch für die große Wende war es mittlerweile einfach schon zu spät. Boog beschreibt die Situation der Flak, für das Jahr 1943, folgendermaßen: „Die amerikanischen Tagbomber und die nächtlichen Mosquitos flogen jenseits ihrer wirksamen Feuergrenze. Die „Erblindung“ der Flak-Ortungs- und Schießgeräte hielt an. Der Übergang der Amerikaner zum „H2X“-gestützten Blindbombenabwurf durch Wolkendecken und zum Abwurf von „“ - der amerikanische Ausdruck für „Window“ bzw. „Düppelstreifen“ - dehnte diese „Erblindung“ auch auf den Luftkrieg bei Tage aus. […]. Aber Hitler und die Hoffnung der Techniker, die „Düppelstörungen“ doch noch überwinden zu können, ließen eine radikale Entscheidung zur Verlagerung von Flakrüstungskapazitäten auf die Jägerrüstung noch nicht zustande kommen. […]. Bei fast schon 50 Prozent Behelfspersonal bei der Flak bestand am Jahresende Klarheit, dass weitere Neuaufstellungen von Flakverbänden personell ab Februar 1944 illusorisch waren, [...]“161

Mit anderen Worten, die Flak war bereits 1943 so gut wie am Ende und ihre Aussichten für den weiteren Kriegsverlauf somit mehr als düster. Dennoch stieg der Bestand des Luftwaffenbefehlshaber Mitte bis zum Januar 1944 weiter an. b) Tagjagd Der Luftkrieg am Tag wurde durch die Amerikaner vorangetrieben, worauf die deutsche Seite nun endgültig reagieren musste. Das Grundproblem auf dem Gebiet der Tagjagd war, dass sie lange Zeit komplett vernachlässigt wurde. Bis zum Januar 1943 wurde das gesamte Reichsgebiet lediglich von einem Jagdgeschwader geschützt, dem Jagdgeschwader I, das mit zwei Gruppen von Holland aus operierte. Göring und Hitler wurden zwar schon früh auf die zahlenmäßige Unterlegenheit der Jäger hingewiesen, standen einem Ausbau jedoch stark ablehnend gegenüber. Hitlers Ablehnung beruhte wohl darauf, dass ein Ausbau im Gegensatz zu seinem Offensivdenken stand. Göring sah weniger fehlende Flugzeuge als Grund des schlechten Abschneidens der deutschen Tagjagd, sondern vielmehr fehlende Kompetenz der Piloten. Die ablehnende Position des Oberbefehlshabers der Luftwaffe sorgte im Laufe des Krieges noch für viel Missstimmung in den Reihen der Jägermannschaften. Zu einem Ausbau kam es aber schließlich doch, wenn auch nur schleppend und

160 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 204ff. 161 Zit. n. ebd. S. 207.

50 im August 1943 standen für den Schutz des Ruhrgebiets fünf Gruppen zur Verfügung.162 In Deelen befanden sich der Stab und die erste Gruppe des JG I, in Rheine die Zweite und die dritte Gruppe lag in Leeuwarden. Daneben agierten noch zwei Gruppen des JG 26 „Schlageter“, mit den Einsatzflughäfen Schiphol und Gilze-Rien bei Tilburg, denen der Flughafen Essen-Mülheim als Ausweichplatz diente.163 Die Deutschen verfügten im August über eine Ist-Stärke von 588 Tagjägern und 103 Zerstörern, von denen 399, bzw. 63, einsatzbereit waren. Dieser Bestand wurde von den Amerikanern jedoch um das Dreifache überboten. Zwar konnte die deutsche Tagjagd den amerikanischen Bombern mitunter noch schwere Schläge versetzen, wie beispielsweise beim Angriff auf Schweinfurt, doch im Gesamtbild zeichnete sich bereits ab, dass die deutsche Seite den Amerikanern nicht gewachsen war. Die Verlustquote der Amerikaner betrug im Dezember 1943 ca. 4% und war damit viel zu gering, als dass die deutsche Luftwaffe sie dadurch zur Aufgabe hätte zwingen können. Dafür wäre dauerhaft eine Quote von 15% notwendig gewesen.164 Neben der quantitativen Unterlegenheit waren die deutschen Tagjäger auch qualitativ unterlegen. Die eingesetzten Flugzeugtypen Me 109 und Focke-Wulf FW 190, verfügten weder über ausreichende Flughöhe noch über ausreichende Flugdauer. Die amerikanischen Bomber flogen in Höhen von 7000 bis 8000 Metern, was ihnen erlaubte, über Schlechtwetterzonen zu fliegen. Neben dem Fehlen technischer Hilfsmittel war auch die Ausbildung der deutschen Piloten ein Schwachpunkt. Begründet durch die offensive Auslegung der Luftwaffe, wurde auch die Ausbildung im Defensivbereich nur halbherzig betrieben. Mit dem steigenden Treibstoffmangel wurde zusätzlich eine generelle Verkürzung der Flugausbildung notwendig, was sich ebenfalls negativ auf die Qualität der Luftwaffe auswirkte.165 Dennoch wiesen die Tagjäger, im Vergleich zu Flak, höhere Abschusszahlen auf. Von August 1942 bis zum Jahresende 1943 konnte die Flak 239 Abschüsse für sich verzeichnen. Die Jäger dagegen erzielten in diesem Zeitraum 702 Abschüsse. Eine bessere Bilanz erzielte die Flak bei den Beschädigungen gegnerischer Flugzeuge. Während die Jäger hier, ebenfalls im genannten Zeitraum, 2056 Feindflugzeuge beschädigten, lag die Flak mit 4691 beschädigten Feindflugzeugen klar vorne. Bis Mitte 1944 verbuchte die Flak weitere 15.767 Beschädigungen, die Jäger lediglich 1217. Bei den Abschusszahlen sah das wiederum umgekehrt aus, hier erzielten die Jäger, von Ende 1943 bis Mitte 1944, mit 1682 Abschüssen, fast doppelt so viele wie die Flak, die in diesem Zeitraum 904 Abschüsse erzielte.166 Bedenkt man dazu, dass die Flak nebenbei auch noch viel mehr Munition und Personal verbrauchte, ist die Vernachlässigung der Jagdabwehr völlig unverständlich und das Festhalten am

162 Vgl. Galland: Die Ersten...S, 226. 163 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 143; Nierhaus: Mülheim, S. 92. 164 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 850ff.; Freeman: Mighty Eight, S. 147-161. 165 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 153f.; Galland: Die Ersten..., S. 244ff. 166 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 200; Koch: Flak, S. 654.

51 Offensivgedanken zeigt nur das fehlende Verständnis für die eigene Lage bzw. die Weigerung Hitlers, sich der Realität zu stellen. c) Nachtjagd Die britischen Bomber brachten nun auch die Nachtjäger an ihre Grenzen und ließen die Abschussquote sinken. Zudem stimmte bei der Luftwaffe das Verhältnis zwischen verlorenen und neuproduzierten Jagdflugzeugen nicht, im Gegensatz zum Gegner, der eigene Verluste gut ausgleichen konnte. Ebenso lag der technische Vorteil auf der gegnerischen Seite und durch die Einführung von H2S, Oboe und „Window“ kam das starre Kammhuber-System endgültig an seine Grenzen. Hitler hielt die eigenen Abschusszahlen jedoch für ausreichend, sodass er einen Ausbau der Nachtjagd ablehnte, noch immer mit der Begründung, dass zuerst Russland besiegt werden müsse, bevor man sich dem Ausbau der Nachtjagd widmen könne.167 Stattdessen wurden Überlegungen angestrengt, neue Varianten einer hellen Nachtjagd zu entwickeln, die weniger abhängig vom Kammhuber-System sein sollten, als das bisher angewandte „Himmelbett“- Verfahren. Am 27. Juni 1943 legte Hajo Hermann einen Plan über eine Nachtjagd mit einsitzigen Tagjägern (Messerschmidt Bf 109, Focke-Wulf Fw 190) vor. Hermann hatte dieses Verfahren, das später den Namen „“ erhielt, inoffiziell bereits im April getestet und konnte Göring davon überzeugen, dass die Kammhuber-Linie für die Abwehr von Bomberströmen nicht geeignet sei. Es war ein starres System, das gegen einzelne Bomber noch ganz gut funktionierte, aber mit einer großen Anzahl an Bombern überfordert war. Während der Angriffe auf das Ruhrgebiet hatte man die Erfahrung gemacht, dass die Flakscheinwerfer jeweils bis zu 100 feindliche Bomber, über drei Minuten lang erfasst halten konnten, was den einmotorigen Jägern die Zielerfassung in hohem Maße erleichtern würde. Da das „Wilde Sau“-Verfahren, wie bereits erwähnt, von Tagjägern geflogen wurde, verfügten diese Maschinen über keinerlei Ausrüstung für den Nachtflug. Darin lag auch der größte Nachteil, zwar wurden, neben den Flakscheinwerfern auch Leuchtgranaten als Wegweiser abgefeuert, doch die beste Orientierungshilfe waren die brennenden Städte selbst. Die Bombardements an sich konnte „Wilde Sau“ also nicht verhindern, aber immerhin bot es eine Möglichkeit, die Abschusszahlen zu erhöhen. Görings Interesse war geweckt und er befahl Hermann die Aufstellung eines , dem später noch drei weitere folgen sollten.168 Zum ersten Mal wurde das Verfahren in der Nacht vom 03./04. Juli angewandt, Ziel der britischen Bomber, war, neben Köln, auch Mülheim. Die Fw 190 konnte sich bei diesem Einsatz gegen die Bomber bewähren und verzeichnete für sich 17 von insgesamt 30 Abschüssen.169

167 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 160ff. 168 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 175f. 169 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 93; Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 404f.

52 Die anfänglichen Erfolge konnte das Verfahren jedoch nicht über den Sommer hinaus weiterführen. Das Bomber Command flog ab September vermehrt Täuschungsangriffe, um die Jäger vom eigentlichen Ziel fernzuhalten und setzte zudem vermehrt auf Schlechtwetterlagen. Eine weitere erfolgreiche Gegenmaßnahme wurde die sogenannte „combat box“, eine Variante, die sowohl die englischen als auch die amerikanischen Bomber wählten. Dabei bildeten drei Bomber-Gruppen eine Staffel, die für die Tagjäger unmöglich zu überwinden sein sollte.170 Die Vorteile durch den Einsatz von Oboe, H2S und „Window“, wurden bereits erläutert, und da diese Entwicklungen ebenfalls negative Auswirkungen auf die Erfolgschancen der „Wilden Sau“ hatten, wurde dieses Verfahren im Frühjahr 1944 aufgegeben.171 Als geeignete Alternative zur „Wilden Sau“, erschien die von Oberst Victor von Lossberg vorgeschlagene „Zahme Sau“-Taktik. Im Gegensatz zur „Wilden Sau“ verlief dieses Verfahren weitgehend unabhängig von den Bodenleitstellen und war somit weniger anfällig für „Window“. Stattdessen kamen zweimotorige Jäger zum Einsatz, die über bordeigene Radargeräte verfügten. Bei registriertem Feindeinflug sammelten sich größere Jagdverbände, die gegen die „combat box“ erfolgreicher agierten, als die „Wilde Sau“. Ausgestattet mit der „schrägen Musik“ erzielte die „Zahme Sau“ gute Ergebnisse. Dabei wurden die Maschinengewehre oder -kanonen schräg nach oben am Rumpf des Jägers eingebaut. Dieser positionierte sich dann unter den gegnerischen Bomber und eröffnete das Feuer. Noch bis zur ersten Jahreshälfte 1944 war die „schräge Musik“ äußerst effektiv und die „Zahme Sau“ galt sogar als erfolgreichstes Nachtjagdverfahren. Doch aufgrund seiner späten Einführung fehlte es auch hier an Flugzeugen und vor allem an gut ausgebildeten Piloten.

Tabelle 6: Flakbestand Luftwaffenbefehlshaber Mitte Januar 1943 - Januar 1944172

Batterien Januar 1943 Juni 1943 Januar 1944 Schwere 692 933 1121 schwere (ortsfest) 0 142 179 Mittlere und leichte 538 389 439 mittlere und leichte (ortsfest) 0 275 269 Scheinwerfer 277,5 340 395 Luftsperr- 70 75 62 Sperrfeuer- 209 111 31 Nebelkompanien 6 19 46 Total 1729,5 2284 2542

170 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol II, Abbildung auf S. 322. 171 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 178 und S. 182ff.; Irving: Tragödie, S. 295. 172 Tabelle zu finden bei Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 190.

53 Tabelle 7: Monatliche Flak-Produktion 1941 - Februar 1945173

1941 1942 1943 1944 1945 Geschütz 2 cm 695 1350 1817 2273 3,7 cm 100 176 387 636 8,8 cm 156 280 446 545 387 10,5 cm 43 60 101 88 35 12, 8 cm 8 24 49 49

Die Verlustquote des Gegners lag, gemessen an der jeweiligen Einflugstärke, 1943 durchschnittlich bei 3,3% im März, bei 3,5% Ende Juli und bei 3,8% im November und war damit, für eine ernsthafte Gefährdung der Überlegenheit, viel zu gering.174 Speziell für die Region um Mülheim lässt sich festlegen, dass die Verlustquote des Bomber Command 1942 mit 4,9% ihren Höchststand erreicht hatte und in den darauffolgenden Jahren wieder abnahm, während gleichzeitig die Zahl der Einflüge zunahm. Das die Verlustquote mehr oder weniger gehalten werden konnte, war nicht nur darauf zurückzuführen, dass die deutsche Abwehr weniger Abschüsse erzielte, sondern auch auf die britische Flugzeugproduktion, deren Ausstoß so hoch war, dass die Verluste ausgeglichen und Angriffswellen mit einer erhöhten Anzahl von Flugzeugen geflogen werden konnten.

Tabelle 8: Verluste des Bomber Command über Mülheimer Region175

Einflüge Verluste Jahr Anzahl Flugzeuge % 1940 725 16 2,2 1941 2128 20 3,2 1942 6831 12 4,9 1943 8892 23 3,9 1944 11940 20 1,8 1945 2800 3 0,9

173 Vgl. USSBS: Vol. II, European Report No. 101, S. 17. 174 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 175f.; Irving: Tragödie, S. 298ff. 175 Tabelle so zu finden bei Wiedeking: Kriegsalltag, S. 235. Die Zahl der Einflüge beinhaltet alle Einflüge über Mülheim, sowie Einflüge im Umkreis von 5, 10 und 15 Kilometern.

54 Die Defizite in der Luftverteidigung blieben auch der Zivilbevölkerung nicht verborgen. Da die Bomberangriffe aber den größten Einfluss auf die Stimmung der Bevölkerung hatten, wäre es überaus wichtig gewesen, gerade im Bereich der Verteidigung aufzurüsten und nachzubessern. Doch es fehlte weiterhin an Hitlers Einsicht, stattdessen versprach er immer wieder harte Vergeltungsschläge gegen England.

8. Vergeltung statt Verteidigung Obwohl der Verlauf des Luftkrieges früh andeutete, dass die Alliierten über eine große Schlagkraft verfügten, wurde auf deutscher Seite die Heimatluftverteidigung eher stiefmütterlich behandelt. Seit Beginn der Luftoffensive gegen Deutschland drohte Hitler den Gegnern mit Vergeltung. Im Zuge dessen wurden bald die Fernwaffen ein wesentlicher Aspekt, deren Entwicklung bereits angefangen hatte, bevor Hitlers Vergeltungswunsch überhaupt aufkam.176 Bereits in den 1930er Jahren gab es erste Forschungsansätze in dem Bereich der Raketen- Entwicklung, denen Hitler jedoch skeptisch gegenüberstand und sie noch im März 1939 als „Phantasterei“ bezeichnete. Er änderte aber langsam seine Haltung, als deutlich wurde, dass die deutsche Luftwaffe, die in sie gesetzten Erwartungen im Kampf gegen England, nicht erfüllen konnte. Daraufhin ordnete Hitler im März 1941 und später noch einmal im November desselben Jahres, eine verstärkte Entwicklung und Produktion der A4 bzw. V2-Rakete an. Nach dem verheerenden Angriff auf Lübeck, im März 1942, drohte Hitler erneut in energischer Weise mit Vergeltung und in Flugbombe und Fernrakete, sah er die wirksamsten Mittel dazu. Hitlers Forderung nach einer Jahresproduktion von 50.000 Raketen und einem Erstschlag gegen England mit 5000 Raketen waren ohne Frage, völlig unrealistisch und als von Seiten der Versuchsanstalt Peenemünde, ab 1937 unter der Leitung von , klar gemacht wurde, dass diese Forderungen nicht zu erfüllen seien, verlor Hitler bald darauf wieder sein Interesse an den Fernwaffen und konnte erst durch Speer wieder überzeugt werden, im Dezember 1942 den Befehl zur Serienfertigung der V2-Rakete zu geben.177 In direkter Konkurrenz zum Heer und dessen V2-Rakete, bemühte sich die Luftwaffe um die Entwicklung einer eigenen Fernwaffe, der Flugbombe, die unter der Bezeichnung Kirschkern, Fi 103 und später V1 bekannt wurde. Am 26. Mai 1943 fand auf dem Gelände der Heeresversuchsanstalt Peenemünde ein Vergleichsschießen zwischen den V-Waffen statt, bei dem lediglich ein Raketenschuss gelang. Ein zweiter, sowie Testschüsse der V1, missglückten völlig. Dennoch konnte Hitler durch diese Vorstellung, vor allem für die Rakete begeistert werden und von der Idee, nun eine Möglichkeit gefunden zu haben, London zu zerstören und England zur

176 Ausführlich zu den V-Waffen vgl. Hölsken: V-Waffen. 177 Vgl. ebd. S. 88ff.

55 Kapitulation zu zwingen. Die Versuchsreihen beider Fernwaffen sollten fortgeführt werden, der Produktion der V2-Rakete wurde jedoch höchste Priorität zugesprochen.178 Technische Schwierigkeiten führten erneut dazu, dass Hitlers Begeisterung bald wieder in Ablehnung umschlug, die sogar soweit ging, dass er im März 1944 offenbar mit dem Gedanken spielte, die Raketenproduktion vollständig einstellen zu lassen. Von der Flugbombe hielt er zu diesem Zeitpunkt bereits so gut wie gar nichts mehr, aufgrund ihrer mehr als deutlichen Defizite bei der Treffergenauigkeit. Da sich aber mittlerweile auch die Unfähigkeit der deutschen Bomber nicht mehr länger leugnen ließ, wenn es darum ging, London maßgeblich zu schädigen, ließ sich Hitler schließlich von der Notwendigkeit der V-Waffen überzeugen.179

9. V-Waffen im Einsatz a) V1 Die V1 war ein kleinflugzeugähnliches Geschoss, mit einer Länge von 7,90m, einer Flügelspannweite von 5,30m und einem Rumpfdurchmesser von 80cm. Die Flugbombe verfügte über einen Sprengsatz von ca. 830kg, erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 650km/h, eine Einsatzhöhe von maximal 2600m und besaß dabei eine Reichweite von 238km. Gestartet wurde die V1 von Katapulten und Flugzeugen.180 Am 16. Mai 1944 ordnete Hitler das Fernfeuer gegen England an, mit dem Hauptziel London und in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni fand der erste Einsatz der Flugbombe statt. Zu diesem Zeitpunkt hatte die V1 noch immer technische Schwierigkeiten, die Treffergenauigkeit war dabei das größte Problem. Im Endergebnis wurde dieser Einsatz ein deutlicher Misserfolg. Von 54 Abschussstellen wurden insgesamt gerade einmal 10 Bomben abgefeuert, von denen lediglich 4 England überhaupt erreichten. Zwei Tage später erfolgte eine weitere Angriffsreihe, bei der innerhalb eines Tages 244 Bomben auf England gefeuert wurden, von denen 45 kurz nach dem Start abstürzten. Die Abschüsse wurden trotz aller Misserfolge weitergeführt und am 29. Juni 1944 wurde bereits die 1000. V1-Bombe abgeschossen. Mit dem Beginn der Ardennen-Offensive, am 16. Dezember 1945, wurde neben London auch Antwerpen/Holland zum Ziel der Flugbomben. In 5 Tagen wurden 274 Bomben gestartet, von denen 54 vorzeitig abstürzten.181 Eine verbesserte Version der V1 kam ab März 1945 noch um Einsatz. Diese verfügte über eine Höchstgeschwindigkeit von 770km/h und einer Reichweite von 375km. Das Problem der Treffergenauigkeit blieb jedoch weiter bestehen und zu diesem späten Zeitpunkt, konnte auch eine Verbesserte V1 die absehbare Niederlage Deutschlands nicht mehr abwenden.

178 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 89; Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 381. 179 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 87ff.; David Irving: Die Geheimwaffen des Dritten Reiches, Gütersloh 1965 (Im Folgenden: Irving: Geheimwaffen), S. 224. 180 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 216. 181 Vgl. ebd. S. 216; Irving: Geheimwaffen, S. 259f.; Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 391ff.

56 Insgesamt wurden in der Zeit der V1-Offensive, vom 12. Juni 1944 bis zum 29. März 1945, 10.492 Flugbomben auf England gestartet, von denen nur ein Drittel tatsächlich in England einschlug, während 3957 durch Englands Abwehr abgeschossen wurden und bereits 12% der gestarteten Bomben vorzeitig abstürzten. Dennoch wurden in England 6860 Zivilisten durch die V1 getötet und 17.981 verletzt.182 b) V2 Die Sprengladung der A4, später als V2 bezeichnet, betrug 976kg, sie erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 5470km/h, eine maximale Höhe von 97m und hatte eine Reichweite von bis zu 380km. Ihre Länge betrug 14m und ihr Rumpfdurchmesser 1,65m. Die Schadenswirkung der V2 war im Vergleich zur V1 geringer, doch die Fernrakete hatte aufgrund ihrer Überschallgeschwindigkeit den Vorteil, dass sie so gut wie jeder Abwehr überlegen war. Gestartet wurde die Rakete von einer Abschussplattform, die im Grunde überall platziert werden konnte: auf Straßen, Sandböden, etc. Besonders geeignet waren Waldlichtungen, da sie, neben einer guten Tarnung, auch guten Windschutz boten. Hitler, der anfangs darauf bestand, die Raketen aus extra angelegten Bunkern abzufeuern, musste diesen Plan im Juli 1944 jedoch aufgeben, da die Bunker regelmäßig das Ziel schwerer Bombardierungen wurden.183 Am 29. August 1944 befahl Hitler den Beschuss von London und Paris, der am 06. September begann und sich, aufgrund technischer Schwierigkeiten als Fehlschlag erwies. In der Folgezeit wurden dennoch zwei Heeresgruppen mit dem Raketenbeschuss von insgesamt 14 Zielen in England, Nordfrankreich, Belgien und Holland beauftragt. Erfolge stellten sich aber weiterhin nicht ein. Bis zum 03. Oktober schossen diese beiden Gruppen gerade einmal 156 V2 ab. „Ein unsinniges Unterfangen, wenn man die Ungenauigkeit der Rakete mit ihrer Streuung von der durchschnittlich 18km und die Vielzahl der Ziele sowie die relativ geringe Sprengladung und Schlussfolge von durchschnittlich vier, höchstens nur 15 Schuss täglich betrachtet.“184

Die Produktion weiterer Raketen gestaltete sich zu diesem Zeitpunkt bereits als extrem schwierig. Bei der Versorgung sämtlicher Güter hatte von Kriegsbeginn das Heer Vorrang, hinzu kam nun, dass sich die Ressourcen durch die regelmäßigen Bombardierungen immer weiter reduzierten. Ab Oktober 1944 konnten nie mehr als 25 Raketen am Tag betankt werden, was zusätzliche Testschüsse ausschloss und somit eine Weiterentwicklung der Rakete unmöglich machte. Bis Ende Oktober waren noch immer rund zwei Drittel der Geschosse sogenannte Luftzerleger. Eine großangelegte Offensive war unter solchen Umständen überhaupt nicht durchführbar. Die 14 Ziele wurden daraufhin auf zwei reduziert: London und Antwerpen. Dadurch schuf man auch die

182 Vgl. Irving: Geheimwaffen, S. 341; Hölsken: V-Waffen, S. 162f. 183 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 398f.; Hölsken: V-Waffen, S. 217. 184 Vgl. Irving: Geheimwaffen, S. 322; Hölsken: V-Waffen, S. 142f.; Zitat bei Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 401.

57 Möglichkeit, wieder Tests für notwendige Verbesserungen durchführen zu können und ab Ende November konnten neue Raketenmodelle produziert werden.185 Dennoch blieb die V2-Offensive in ihrem Wirken eher bedeutungslos. Von insgesamt 6000 gebauten Raketen kamen über 3170 zum Einsatz, 1403 davon gegen England. Von dieser Zahl wurden 1359 auf London geschossen. Erreicht haben England 1115 Raketen und auf London selbst gingen gerade 517 Raketen nieder.186 c) V3 Neben Bombe und Rakete weckte noch eine weitere Fernwaffe Hitlers Interesse: die Hochdruckpumpe (HDP) wurde auch als „Tausendfüßler“, „Fleißiges Lieschen“ oder „Englandbombe“ bezeichnet. Für das Granatengeschütz wurde ab August 1943 bei Mimoyecques, in der Nähe von Calais, mit der Errichtung einer unterirdischen Abschussanlage begonnen. Laut Oberingenieur August Coenders, sollte die V3 dazu in der Lage sein, innerhalb einer Stunde bis zu 600 Granaten auf London zu schießen. Die Geschützrohre hatten eine Länge von 130 Metern und insgesamt 50 dieser Rohre, sollten in der Abschussanlage eingebaut werden. Im November 1943 wurde die Anlage jedoch bereits das erste Mal von den Briten angegriffen. Zwar handelte es sich um einen relativ leichten Angriff, dennoch hatte er zur Folge, dass die Hälfte der Abschussanlage aufgegeben werden musste. Statt der geplanten 50 konnten nur 25 Rohre produziert werden, die ab März 1944 in die Abschussanlage eingebaut werden sollten. Während dieser Zeit stellten sich jedoch die Projektile als fehlerhaft heraus, sowie die Tatsache, dass die V3 nicht über die notwendige Reichweite nach London verfügte. Eine Offensive wurde somit illusorisch und fand ihr Aus endgültig Ende August 1944, als die Abschussanlage von den Alliierten geradezu „überrannt“ wurde. Von der Anlage in Mimoyecques wurde kein einziges Geschütz abgefeuert.187 Die V3 wollte Hitler dennoch nicht ganz aufgeben und wollte sie, statt für den Beschuss auf London, zur Unterstützung der Ardennen-Offensive einsetzen. Dazu wurden zwei Geschütze in der Nähe von Trier aufgebaut und auf Luxemburg gerichtet. Die Geschütze waren jedoch erst ab dem 30. Dezember 1944 einsatzbereit, da war die Ardennen-Offensive bereits beendet. Insgesamt verschossen die beiden Geschütze bis zum 22. Februar 1945 gerade einmal 187 Projektile, dabei war der Aufwand bei weitem größer, als die erzielte Wirkung.188 d) Die Bedeutung der V-Waffen-Offensive Bei der Frage nach der Bedeutung der V-Waffen wird deutlich, dass sich dabei zwei Kategorien auftun: der militärische Wert und der psychologische.189 Die Bilanzen machen deutlich, dass die 185 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 401. 186 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 163; Irving: Geheimwaffen, S. 354. 187 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 403; Irving: Geheimwaffen, S. 238ff. 188 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 403f.; Hölsken: V-Waffen, S. 152f. 189 Zur Bedeutung der V-Waffen-Offensive vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 205-212.

58 Waffen so gut wie keinen militärischen Wert hatten. Obwohl die Waffen als Bomber-Ersatz dargestellt wurden, zeigte sich doch, anhand der abgeworfenen Bombenlast, dass sie dahingehend völlig ungeeignet waren. Allein die technischen Schwierigkeiten, die nie ganz beseitigt werden konnten, verhinderten, dass die Fernwaffen eine ernsthafte Bedrohung für die Gegner werden konnten. Der späte Zeitpunkt der Einführung hat ebenfalls seinen Beitrag zum Scheitern der Offensive geleistet.190 Darüber hinaus waren die V-Waffen grundsätzlich ungeeignet für den Kriegsverlauf, da Deutschland die größten Schwierigkeiten während des Ostfeldzuges, also im Erdkampf, hatte und die Fernwaffen an dieser Stelle keinerlei Nutzen hatten. Hölsken schließt sich mit seiner Meinung, dass ein Stalingrad auch durch V-Waffen nicht hätte verhindert werden können, der Meinung von Percy Ernst Schramm an, den er dazu folgendermaßen zitiert: „Die Not hat uns zwar erfinderisch gemacht, aber hat sie uns nicht auf ein Mittel gebracht, das die überall weichenden Fronten, das Ausbrennen des Heeres, das Schrumpfen der Industrie und das Schwinden des Treibstoffes hätte aufhalten können.“191

Das Scheitern zeichnete sich früh ab, da fast alle Produktions- und Abschussstellen der V-Waffen frühzeitig von den Kriegsgegnern identifiziert und angegriffen wurden, teilweise schon vor Inbetriebnahme. Im Dezember 1943 wurde unter dem Namen „Crossbow“192 offiziell eine Aktion der Alliierten Luftstreitkräfte gestartet, bei der die Stellungen aller Fernwaffen gezielt angegriffen wurden. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 57% aller Abschussanlagen erkannt und 30% teilweise schwer beschädigt. Die Operation „Crossbow“ endete erst mit dem Abschuss der letzten V-Waffe, einige Tage vor der deutschen Kapitulation. Der Sinn der V-Waffen, im Zuge der Vergeltung, lässt sich wohl rein damit erklären, dass Hitler in erster Linie Gleiches mit Gleichem vergelten wollte. Seit Kriegsausbruch versprach Hitler, nach jedem britischen Luftangriff, entsprechende Gegenschläge. Bereits 1942, nach dem verheerenden Angriff auf Lübeck, befahl Hitler die sogenannten „Baedeker-Raids“, die Zerstörung englischer Städte. Die daraufhin durchgeführten Angriffe richteten sich ausschließlich auf Städte, die vielmehr kulturelle als militärische Bedeutung hatten. Nach dem Großangriff auf Essen, am 05./06. März 1943, trieb Hitler die Vergeltungspropaganda entschieden voran und sie wurde von da an ein wesentlicher Teil der gesamten NS-Propaganda. Dabei wurde der Begriff Vergeltung weniger im Sinne von Rache, sondern eher als Synonym für den Endsieg gebraucht. Intern wurde dagegen klar gesagt, dass der Terror gegen die englische Bevölkerung gerichtet sein sollte, da man glaubte, die Engländer auf diese Weise doch noch von weiteren Aktionen gegen Deutschland abbringen zu

190 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 413. 191 Vgl. Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 207f. Zit. n. Schramm, Percy E.: Hitler als militärischer Führer, Bonn 1962, S. 38. 192 Ausführlich zur Operation „Crossbow“ vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. III, S. 84-106.

59 können.193 Hier spiegelte sich also eindeutig die britische Taktik gegen Deutschland und seine Bevölkerung wider. Die Briten, die bis zu diesem Zeitpunkt bereits eine weitaus größere Bombenlast, über einen weitaus längeren Zeitraum, auf deutsche Städte abgeworfen hatten, war es nicht gelungen, ihr Ziel, die Zerstörung der deutschen Moral, auf diese Weise zu erreichen. Zu glauben, dass ein solches Vorhaben dann aber auf deutscher Seite Erfolg haben sollte, zu diesem Zeitpunkt und unter weitaus schlechteren Voraussetzungen war, wie zumindest Speer später richtig erkannte, ein überaus absurder Gedanke.194 Der psychologische Wert der V-Waffen war damit ebenfalls nicht besonders hoch.

Dagegen wurde, wie bereits erwähnt, die Propaganda der Waffen im eigenen Land zu einem zentralen Aspekt der gesamten NS-Propaganda. Ab Sommer 1943 nutzte Goebbels die Thematik der Vergeltung und der Wunderwaffen gezielt in Großveranstaltungen, um das Volk vom Endsieg und somit vom NS-Regime zu überzeugen. Den Höhepunkt dieser Reise, schrieb Goebbels später, erlebte er bei einem Auftritt in der Dortmunder Westfalenhalle, am 19. Juni 1943, als ihm ca. 20.000 Menschen „Stürme von Beifall“ entgegen brachten. Er selbst sah einen Gegenschlag „in großem Umfange“, nicht vor dem Frühjahr 1944 für möglich.195 Sehr schnell wuchs aber auch die Kritik am Ausbleiben der versprochenen Vergeltung, während die Bombenangriffe der Engländer ungehindert weitergingen. Auch in Mülheim und Oberhausen wurde, nach dem Angriff vom 23. Juni, nur eine Woche nach Goebbels Rede in Dortmund, von Seiten der Bevölkerung verstärkt Kritik geübt, die in den Akten der Partei notiert wurden: „Die Spannungen auf die von der Pressepropaganda und in Reden maßgebender Männer angekündigten Vergeltungsschläge auf England ist allgemein aufs äußerste gesteigert und wird lebhaft diskutiert. Da und dort, besonders in Kreisen der Intelligenz und des Mittelstandes, werden leise Zweifel geäußert, ob wir überhaupt in der Lage sind, den Terrorangriffen zu begegnen.“196

Da die Vergeltung im Laufe der Zeit fast zum vorherrschenden Thema unter der Bevölkerung wurde, sowohl durch steigende Kritik als auch durch steigende Erwartungshaltung, versuchte Goebbels selbst, die Thematik ein wenig zu entschärfen und verbot der Presse schließlich den Gebrauch des Wortes Vergeltung. Auch wenn einem Teil der Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt schon klar gewesen sein dürfte, dass es sich bei der versprochenen Vergeltung wohl eher um leere Versprechungen handelte, hielten

193 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 208f. 194 Vgl. ebd. S. 212. 195 Vgl. Goebbels Tagebücher Bd. 8, S. 497 (19. 06.1943) und S. 286 (10. 04. 1943). 196 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 435; Zitat: Akten der NSDAP Bd. 2, Lagebericht vom 28. 06. 1943 zum Ablauf der Sofortmaßnahmen zur Behebung der Bombenschäden nach dem 23. 06. 1943.

60 doch auch viele Menschen noch bis zum Kriegsende an dieser Hoffnung fest, wodurch sicherlich auch die Lage an der Heimatfront beeinflusst und ein eventuelles Auflehnen der Bevölkerung gegen das Regime mit verhindert wurde. Es war im Prinzip der letzte Strohhalm, an dem sie sich festhielten, dass der Krieg doch noch zu Gunsten Deutschlands ausgehen könnte. Der ganze Verlauf der V-Waffen-Offensive war insgesamt doch stark von Hitlers Unsicherheit, Unverständnis und Ungeduld geprägt, was dem ganzen Vorhaben letztendlich den Charakter einer Verzweiflungstat verlieh.197

Tabelle 9: Vergleich monatliche Jäger- und Bomberproduktion 1941-1944: Bomber Command vs. Deutsche Luftwaffe 198

Jäger Bomber GB* D GB D 1941 Januar 313 136 284 255 Februar 535 255 437 326 März 609 424 431 392 April 543 476 402 355 Mai 580 446 417 269 Juni 556 376 406 325 Juli 572 320 400 446 August 645 285 386 454 September 747 258 398 416 Oktober 676 261 402 382 November 653 232 375 331 Dezember 644 263 330 399 Total 7064 3732 4668 4350 1942 Januar 772 274 411 444 Februar 754 303 394 343 März 781 456 441 598 April 850 427 480 552 Mai 876 384 528 577 Juni 814 371 528 587 Juli 842 487 570 555 August 772 475 510 590 September 877 492 609 520 Oktober 889 502 651 590 November 799 488 579 509 Dezember 823 554 552 674 Total 9849 5213 6253 6539

197 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 212ff. 198 Vgl. Postan: British War Production, App. 4, S. 484f. ; Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 49 (xxii), S. 494f.

61 1943 Januar 852 512 593 674 Februar 832 858 655 781 März 961 962 688 757 April 829 936 654 735 Mai 956 1013 728 718 Juni 878 1134 658 710 Juli 793 1262 603 743 August 950 1135 562 710 September 973 1072 663 678 Oktober 926 1181 663 738 November 929 985 643 702 Dezember 848 687 618 643 Total 10727 11737 7728 8589 1944 Januar 852 1555 688 522 Februar 959 1104 666 567 März 1098 1638 746 605 April 933 2021 675 680 Mai 944 2212 699 648 Juni 970 2449 705 703 Juli 861 2954 590 767 August 841 3020 680 548 September 864 3375 698 428 Oktober 888 2973 650 326 November 840 2995 613 412 Dezember 680 2630 493 262 Total 10730 28926 7903 6468 *Für das Jahr 1944 wurden auch leichte Bomber zur Jägerproduktion gezählt.

62 IV. Die letzte Phase des Luftkrieges 1944/45

1. Die Verschärfung des Luftkrieges in seiner Endphase Auch in seiner Endphase nahm die Intensität des Luftkrieges nicht ab. Im Gegenteil, gemessen an der abgeworfenen Bombenlast, überstieg das Jahr 1944 das Vorjahr fast um das Vierfache. Das Bomber Command verfügte durchschnittlich über eine tägliche Einsatzstärke von über 1000 Bombern und auch die 8. USAAF hatte die Zahl ihrer schweren Bomber seit Oktober 1943 auf über 1500 erhöht und wurde zusätzlich, seit Dezember 1943, von der 15. USAAF unterstützt.199 Da von den Tagjägern noch immer die größte Gefahr für die US-Bomber ausging, lag deren Angriffsschwerpunkt weiterhin auf der deutschen Flugzeugindustrie. Während der „“ (20. - 25. Februar 1944) gelang es den US-Bombern zwar, einen Produktionsausfall herbeizuführen, dieser konnte jedoch, in relativ kurzer Zeit, wieder aufgeholt werden.200 Darüber hinaus diente die Luftoffensive Anfang des Jahres zur Invasionsvorbereitung der Normandie und konzentrierte sich daher auch auf Ziele in Frankreich. Nach der erfolgreichen Invasion am 06. Juni mussten die Unternehmen „Market“ und „Garden“, vom 17. bis zum 27. September 1944 im Raum Arnheim, aufgrund starker deutscher Gegenwehr, als Rückschläge betrachtet werden. Der Zusammenbruch des NS-Regimes, den man sich durch „Market“ und „Garden“ erhofft hatte, blieb aus. Die Folge dieses Scheiterns war die sogenannte SHAEF-Direktive vom 25. September 1944, in der eine Verschärfung der Luftangriffe gegen deutsche Industrie- und Bevölkerungszentren festgelegt wurde. Die Eisenbahnanlagen im Rhein-Ruhr-Gebiet galten darin als zweites Hauptangriffsziel. Durch die „Transportplans“ vom 07. November wurden sie schließlich zur ersten Angriffspriorität ernannt.201

Auf britischer Seite hielt Harris weiter an seinen Flächenangriffen fest, obwohl der Anstieg der deutschen Flugzeugproduktion 1944 ein Beweis dafür war, dass die Flächenangriffe nicht die Zerstörung der deutschen Industrie herbeiführten. Obwohl das deutsche „Rüstungswunder“ gerade einmal 50% der amerikanischen Produktion entsprach, war doch allein die Tatsache, dass Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch in dieser Höhe produzieren konnte, ein klares Zeichen.202 Im Oktober 1944 startete eine „Zweite Battle of the Ruhr“, in deren Verlauf u.a. Dortmund und Essen erneut verheerende Angriffe erlebten. Unter dem Namen „Hurricane“, flog das Bomber Command am 14. und 15. Oktober noch einmal eine groß angelegte Aktion gegen Duisburgs Verkehrsanlagen und das Stadtgebiet.

199 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 88; Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 546-574. 200 Ausführlich zur „Big Week“ vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. III, S. 30-66; Feuchter: Der Luftkrieg, S. 216. 201 Vgl. Feuchter: Der Luftkrieg, S. 606ff. und S. 649ff. 202 Vgl. USSBS Vol. II: European Report No. 4, S. 9f.

63 Die Amerikaner konzentrierten sich auch darauf, neben Bahnhöfen, gezielt Hydrierwerke anzugreifen, um die ohnehin bereits stark beeinträchtigte Treibstoffversorgung endgültig zum Erliegen zu bringen. Mülheim, das auf Treibstofflieferungen aus Gelsenkirchen angewiesen war, schaffte es jedoch noch bis 1945 regelmäßig, Lieferungen aus der Anlage Scholven zu transportieren.203

Die Luftoffensive ging auch 1945 uneingeschränkt weiter. Die tägliche Einsatzstärke des Bomber Command steigerte sich noch einmal auf ca. 1400, meist 4-motorige Bomber, im Februar 1945 und im April 1945 standen dem Bomber Command täglich ca. 1600 Bomber zur Verfügung. Ebenfalls weiter gesteigert wurde auch die Bombentonnage, die im Februar 1945 abgeworfenen 5216 Tonnen waren im Vergleich zum Februar 1942 eine 100-fache Steigerung: „Dabei standen Städte mit über einem Drittel immer noch an erster Stelle und zogen zusammen mit den meist in oder bei ihnen gelegenen Transportzielen über 50% der Bomben auf sich, gefolgt von Treibstoffzielen mit etwa 26%.“204

Die Industrie des Ruhrgebiets blieb größtenteils weiterhin in Takt, ab März 1945 war die Region vom Rest des Landes jedoch weitgehend isoliert. Kohle, Rohmaterialien oder andere Produktionsgüter, konnten aufgrund der zerstörten Transportwege nicht mehr abtransportiert werden. Die zerstörten Verbindungswege zwischen den Produktionsstätten und die Zerstörungen der Treibstoffwerke waren letztlich ausschlaggebend für den „endgültigen Zusammenbruch Deutschlands“.205

2. Die letzten Luftangriffe gegen die Stadt Mülheim Seit 1944 herrschte über Mülheim zwar eine rege Lufttätigkeit der Gegner, dennoch erlebte die Stadt in den Anfangsmonaten des Jahres keine größeren Angriffe. Das ließ die Menschen wieder unvorsichtiger werden und so wurden Störflüge von Mosquitos oder Überflüge ganzer Bomberformationen erneut zu einem Schauspiel für die Bevölkerung, anstatt zu einem Grund, die Schutzräume aufzusuchen. Das blieb natürlich nicht ohne Folgen. Am 21. März flog eine einzelne Maschine über die Stadt, sie warf zwei Luftminen ab, tötete 5 Menschen und verletzte weitere 42 Personen. Langfristig mussten 76 Menschen aus ihren Häusern ausquartiert werden. Nur drei Tage später versammelte sich erneut eine Gruppe von Zuschauern, um zu sehen, wie eine Bomberformation, bestehend aus 36 Bombern und 2 Begleitjägern, über die Stadt hinweg flog. Durch den dadurch ausgelösten Flakbeschuss wurden 8 Zuschauer von Granatsplittern und einem

203 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 225. 204 Zit. n. Horst Boog: Die strategische Bomberoffensive der Alliierten gegen Deutschland und die Reichsluftverteidigung in der Schlussphase des Krieges. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 10/1 Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 – Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht, München 2008 (Im Folgenden: Boog: Strategische Bomberoffensive), S.777-885 hier S. 782. 205 Vgl. ebd. S. 809.

64 Flakdetonierer getötet. Weitere 13 Menschen wurden verletzt. In den nächsten Monaten kamen noch einmal 5 Menschen bei kleineren Angriffen ums Leben.206

Während es in Mülheim, außer den Röhrenwerken, keine bedeutende Kriegsindustrie gab, auf die sich die Aufmerksamkeit der Alliierten richtete, wurde der Flughafen Essen-Mülheim zu einem anvisierten Ziel. Am 13. Juni 1944 wurden im Bereich des Flughafens eine große Anzahl von Luftminen und Sprengbomben abgeworfen. Zum ersten Mal wurde Mülheim bei diesem Angriff mit Splitterbomben angegriffen. Schätzungsweise 495 9-kg-Splitterbomben rissen kleine Krater in die Straßen. Da bei diesem Angriff keine Brandbomben eingesetzt wurden, kann wohl davon ausgegangen werden, dass es bei diesem Angriff allein um den Flughafen als militärisches Ziel ging. Dennoch kamen sechs Menschen ums Leben und vier weitere wurden verletzt. Ein weiterer Angriff auf Mülheim, vier Tage später, richtete sich gegen die Verkehrswege. Ein Teil der Autobahn wurde beschädigt und musste zwischen Kaiserberg und Sterkrade-Nord für einen längeren Zeitraum gesperrt werden. Mülheim war auch zu Beginn der „Zweiten Battle of the Ruhr“, noch kein direktes Ziel, musste aber immer wieder Treffer hinnehmen. Bei Angriffen auf Mülheims Nachbarstädte, u.a. Essen, Oberhausen und Duisburg, am 23. und 25. Oktober, am 29. November, am 04. und 12. Dezember 1944, wurde die Stadt ebenfalls, wenn auch nur gering, getroffen. Direkte Angriffe erlebte die Stadt am 01. November und am 24. Dezember 1944. Den ersten dieser beiden Angriffe flogen 6 Mosquito-Bomber, die 6 Tonnen Bomben abwarfen, dabei aber keinen größeren Schaden anrichteten. Bei dem Angriff am 24. Dezember hingegen handelte es sich um einen größer angelegten Angriff, der erneut den Flughafen zum Ziel hatte. Anfangs nur als Ausweichflughafen genutzt, starteten mittlerweile regelmäßig Flugzeuge, darunter auch 3 Düsenjäger vom Typ Me 262, zur Unterstützung der Ardennen-Offensive von Mülheim aus. Zusammen mit einem Raketenjäger Me 163 galt der Me 262 als weitere „Wunderwaffe“ und hätte bei einer frühzeitigeren Einführung durchaus Auswirkungen auf den Kriegsverlauf haben können. Doch zum einen blockierten technische Probleme eine schnellere Entwicklung und zum anderen entstand über den Me 262 eine dauerhafte Kontroverse zwischen Hitler und der Luftwaffenführung, da Hitler den Düsenjäger als Jagdbomber, anstatt als Jäger einsetzen wollte.207 Um 14:08 Uhr wurde in Mülheim Fliegeralarm ausgelöst und ab 14:21 Uhr griffen 169 britische Bomber den Flughafen an. In den zehn Minuten, die der Angriff dauerte, fielen 760 Tonnen Bomben, überwiegend Sprengbomben, auf das Flughafen-Gebiet. Eine 1000-kg-Sprengbombe traf dabei direkt den Bunker an der Windmühlenstraße und tötete 74 Menschen. Weitere Bomben fielen auf die Stadtteile Saarn, Broich, Styrum und Dümpten. Insgesamt starben an diesem Tag 200

206 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 223f. 207 Zur Kontroverse um den Düsenjäger Me 262 vgl. Galland: Die Ersten..., S. 33; Irving: Tragödie, S. 326ff.

65 Menschen, bei der Mehrzahl der Opfer handelte es sich um am Flughafen stationierte Soldaten. Die Briten verloren bei dieser Aktion 3 Halifax-Bomber und mit ihnen 10 Besatzungsmitglieder.208 Ab Februar 1945 beherrschten alliierte Jäger und Jagdbomber permanent den Luftraum über der Stadt und ab März häuften sich zudem die Tieffliegerangriffe. Im gleichen Monat, am 21. März, erlebte Mülheim seinen letzten direkten Angriff, dessen Ziel erneut der Flughafen war. Dabei handelte es sich gleichzeitig um den einzigen Angriff, der allein von der 8. USAAF und ohne britische Beteiligung durchgeführt wurde. Dieser Angriff diente zudem der Vorbereitung des Rheinübertritts bei Wesel, zwei Tage später. Zu diesem Einsatz starteten 92 B-24-Bomber, von denen 90 das Ziel erreichten und eine Bombenlast von 195 Tonnen auf das Flughafengebiet abwarfen. Dabei starben 22 Menschen in Mülheim, die Amerikaner verzeichneten 60 beschädigte Maschinen und einen Verletzten.209

Am Ende konnten die Luftangriffe auch in Mülheim nicht den Zusammenbruch der Industrie herbeiführen. Doch wie sah es mit der Zerschlagung der Moral der Zivilbevölkerung aus?

208 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 226; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 233; Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 637; Chorley: Bomber Command Losses Vol. 5 (1944), S. 520. 209 Vgl. Freeman: Mighty Eight, S. 3; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 223.

66 V. Die Bevölkerung und der Bombenkrieg

1. Ziviler Luftschutz Die Organisation des zivilen Luftschutzes wurde bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges festgelegt und die Verantwortung für die Durchführung und Entwicklung an den Reichskommissar der Luftfahrt, später Reichsminister der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe (RdLuObdL), übertragen. Ein Amt, das Hitler kurz nach der Machtergreifung eingerichtet und mit Hermann Göring besetzt hatte. Wie bereits erwähnt, wurde in Mülheim der Polizeipräsident Oberhausen/Mülheim mit den Aufgaben des örtlichen Luftschutzleiters beauftragt.210

Propagiert wurde der Zivile Luftschutz als ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Luftverteidigung und laut Luftschutzgesetz vom 26. Juni 1935, lag seine Aufgabe in erster Linie darin, „Volk und Heimat und damit auch die Wehrmacht und ihre Kraftquellen, Wirtschaft und Verkehr gegen die Gefahren von Luftangriffen zu schützen, ihre Wirkung auf Leben, Verkehr und Wirtschaft zu mildern und die erforderlichen Maßnahmen schon im Frieden vorzubereiten.“211

Zu diesem Zweck wurden verschiedene Luftschutz-Abteilungen errichtet:212 Der Luftschutzwarndienst, dessen Hauptaufgabe vor allem darin bestand, rechtzeitig vor drohenden Luftangriffen zu warnen, Verdunkelung anzuordnen und Entwarnung an weitere Warnstellen zu melden. Der Sicherheits- und Hilfsdienst (SHD), der neben dem Katastrophenschutz ebenfalls der Polizei unterstellt war und dafür verantwortlich war, „(...) im Ernstfall das öffentliche und wirtschaftliche Leben nach einem Luftangriff schnellstens wieder in Gang zu bringen.“ das bedeutete, dass der SHD vor allem vorbereitende Maßnahmen treffen musste, u.a. mögliche Gefahrenquellen frühzeitig erkennen und beseitigen, sowie Auffang- und Sammelstellen für obdachlos gewordene Personen vorzubereiten. Der SHD wiederum umfasste folgende Organisationen: Sicherheitsdienst, Feuerlöschdienst, Luftschutz-Instandsetzungsdienst, Luftschutz- Entgiftungsdienst, Luftschutz-Sanitätsdienst, Luftschutz-Veterinärdienst, Fachtrupps, Havarietrupps und der Hafenluftschutz. Die Verantwortung für eine funktionierende Zusammenarbeit dieser Bereiche trug jeweils der örtliche Luftschutzleiter (LS-Leiter). Der Werkschutz war für die Sicherung der Industrien verantwortlich und dafür, Produktionsausfälle infolge eines Luftangriffs so gering wie möglich zu halten. Der Werkschutz wurde von der Industrie selbst verwaltet und finanziert, bekam jedoch Steuervorteile zugesprochen.

210 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 198; Erich Hampe: der Luftschutz im Zweiten Weltkrieg. Dokumentation und Erfahrungsberichte über Aufbau und Einsatz, Frankfurt am Main 1963 (Im Folgenden: Hampe: Luftschutz), S. 49. 211 Zit. n. Hampe: Luftschutz, S. 49. 212 Zu den verschiedenen Abteilungen vgl. ebd. S. 58-81 und USSBS Vol. II: European Report No. 40, S. 17-27.

67 Des Weiteren gab es noch die Luftschutzmaßnahmen in den sogenannten besonderen Verwaltungen. Dazu gehörten, u.a. die Wehrmacht, Waffen-SS, die Deutsche Reichspost und die Deutsche Reichsbahn. Ein weiterer Bereich war der Selbstschutz, der an späterer Stelle gesondert vorgestellt wird. Der Grundsatz des Luftschutzgesetzes wurde während des Kriegsverlaufs der Lage entsprechend angepasst und am 31. August 1943 neu formuliert. Die Aufgaben des Luftschutzes, hieß es nun, lägen vorrangig darin, „organisatorische und technische Vorkehrungen zu treffen, um Kampfkraft, die Arbeitskraft und den Widerstandswillen des deutschen Volkes gegen die Wirkungen von Luftangriffen zu erhalten.“213 Diese Neuformulierung spiegelt den Ansporn wieder, die Moral der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, mit dem Ziel, die eigene Kriegsproduktion aufrechtzuerhalten. Eine der wichtigsten Bestimmungen des Luftschutzgesetzes war wohl die Einführung der Luftschutzdienstpflicht. Dadurch wurde jeder Deutsche, Frauen eingeschlossen, dazu verpflichtet, sämtliche Handlungen, z.B. Dienst- und Sachleistungen, Duldungen oder Unterlassungen nachzukommen, sobald diese zur Durchführung des Luftschutzes notwendig waren.214

2. Selbstschutz Selbstschutz war von Beginn an ein wesentlicher Faktor des zivilen Luftschutzes, laut Hampe sogar „das Fundament des zivilen Luftschutzes schlechthin“.215 In diesem Bereich wurde die Zivilbevölkerung bereits ab 1935 geschult. Die Menschen sollten sämtliche Maßnahmen des Luftschutzes als Routine wahrnehmen und in ihrem Alltag einbauen. Das bedeutete einen Eingriff in fast alle Bereiche des menschlichen Lebens. Eine maßgebliche Rolle bei der Ausbildung und Durchführung des Selbstschutzes spielte der Reichsluftschutzbund (RLB). Er hatte vor allem die Aufgabe, dem deutschen Volk die Wichtigkeit des Luftschutzes zu vermitteln und den Willen zur Mitarbeit zu wecken. Die I. Durchführungsverordnung des Luftschutzgesetzes von 1935 hob die Stellung des RLB deutlich hervor, indem dessen Aufgaben darin gesetzlich verankert wurden.216 Die Bewohner eines Hauses bildeten demnach eine Luftschutzgemeinschaft und sollten in der Lage sein, kleinere Brände selbst zu löschen, Erste Hilfe zu leisten und Vorsorgemaßnahmen zum Schutz des Hauses durchzuführen, z.B. Dachböden entrümpeln. Eine Luftschutzgemeinschaft bestand grundsätzlich aus einem Luftschutzwart und dessen Stellvertreter, einer Hausfeuerwehr, sogenannten Laienhelferinnen, zuständig für die Erste Hilfe und einem Melder. Später ging man dazu über, Luftschutzgemeinschaften nach der Wohndichte einzuteilen, da sich erfahrungsgemäß, nicht immer alle Hausbewohner während eines Luftangriffs auch tatsächlich im Haus befanden und

213 Zit. n. Hampe: Luftschutz, S. 34. 214 Vgl. ebd. S. 49 (Anmerkung 2). 215 Zit. n. ebd. S. 430. 216 Vgl. ebd. S. 441.

68 daher nicht genügend Kräfte vorhanden waren, um die Aufgaben der Luftschutzgemeinschaft erfüllen zu können. So wurden auch ganze Siedlungen zu einer Luftschutzgemeinschaft zusammengefasst.217 Neben dem Selbstschutz gab es noch den erweiterten Selbstschutz. Dieser bezog sich auf Dienststellen, für die ein Werkschutz nicht notwendig, der Selbstschutz jedoch nicht mehr ausreichend war. Darunter fielen, u.a. Behörden, Universitäten, Banken, Altersheime und Kirchen. In den Unterlagen der Stadt Mülheim finden sich bereits für das Jahr 1938 Anordnungen über Lehrgänge zur Luftschutzausbildung. Erste Anordnungen über Schulungen zum zivilen Luftschutz liegen aus dem Jahr 1940 vor.218 In diesem Zusammenhang wird auch die Bedeutung der Verdunklung als Luftschutzmaßnahme genannt. Die Verdunklung galt als eine der maßgeblichen Schutzmaßnahmen, neben Tarnung und Scheinanlagen, die dazu dienen sollte, den feindlichen Flugzeugen die Zielfindung zu erschweren. Verdunklungsmaßnahmen hieß dabei nicht einfach, dass das Licht ausgemacht wurde, vielmehr handelte es sich um Maßnahmen, „nahezu alle Einrichtungen des öffentlichen Lebens wie die Wohnung in Stadt und Land, den Verkehr auf Schiene, Straße und dem Wasser, die Industrien im weitesten Sinne, das Gewerbe und den Handel, die Landwirtschaft, Versorgungsbetriebe, Krankenhäuser und nicht zuletzt die Anlagen, Unterkünfte und Betriebe der Wehrmacht selbst, sie sämtlich im weitesten Um fange Licht brauchten, so zu beleuchten, dass ihre Lichterscheinungen feindlicher Fliegersicht entzogen blieben.“219

Es galt also darauf zu achten, dass die Verdunklung keinen Produktionsstopp zur Folge hatte. Die Verdunklung war bereits im Luftschutzgesetz von 1935 verankert, eine endgültige Verdunklungsverordnung wurde im Mai 1939 erlassen und beruhte auf der achten Durchführungsverordnung zum Luftschutzgesetz. Die Dauer der Verdunklung wurde von der Polizeibehörde festgelegt, allgemein galt jedoch der Zeitraum zwischen Einbruch der Dunkelheit bis zum Morgengrauen. Es kam auch vor, dass der Verdunklungszeitraum in der Zeitung vermeldet wurde. Bei Missachtung drohten Strafen, wie beispielsweise das Abstellen des Stroms.220

3. Bunkerbau Der Bau von Schutzanlagen war ein wesentlicher Bestandteil des zivilen Luftschutzes. Sie sollten der Bevölkerung Schutz bieten, vor Bombensplittern, Bautrümmern, Brandbomben und gegen das Eindringen chemischer Kampfstoffe sicher sein. Bereits ab 1934 gehörten private Luftschutzräume zu den Pflichtauflagen bei Neubauten und bestehende Kellerräume mussten dahingehend ausgebaut werden. Zusätzlich zu den privaten wurden auch öffentliche Luftschutzräume errichtet, teilweise handelte es sich dabei um neu errichtete Anlagen aber auch Kellerräume, Tiefgaragen und Stollen wurden zu diesem Zweck verwendet.

217 Vgl. Hampe: Luftschutz, S. 430ff.; Burgdorff/Habbe: Als Feuer vom Himmel fiel, S. 190. 218 Vgl. StAMH: Bestand 1200/1228. 219 Zit. n. Hampe: Luftschutz, S. 460. 220 Vgl. ebd. S. 546ff.; StAMH: Bestand 1200/1228.

69 Nachdem im August 1940 die ersten Bomben auf Berlin fielen und die „Battle of Britain“ deutlich machte, dass ein schneller Sieg über England nicht zu erwarten sei, reagierte Hitler darauf mit einem Sondererlass zum Bau von bis zu 2000 Bunkern in der Hauptstadt. Diesen Sondererlass folgte am 10. Oktober der Befehl zum sogenannten „Führer-Sofortprogramm“, ein auf das ganze Reichsgebiet ausgerichtete Bauprogramm, das jedem Volksgenossen einen sicheren Bunkerplatz versprach.221 Mit der Durchführung wurde die Organisation Todt (OT) beauftragt und erhielt dafür folgende Anordnungen:222 Für Wohngebiete (städtische Gebiete, Siedlungen, Laubenkolonien), in denen bisher keine oder unzureichende Luftschutzräume vorhanden sind, sind behelfsmäßige Luftschutzmaß- nahmen zu treffen. Vorhandene oder neu zu bauende Verkehrsstraßen oder Verkehrsanlagen (z.B. Untergrund- bahnen und Tunnelbauten) sind für den Bau unterirdischer, bombensicherer Luftschutzräu- me auszunutzen. Die in den Luftschutzräumen vorhandenen Öffnungen in den Außenwänden des Gebäudes sind zu beseitigen unter gleichzeitiger beschleunigter Durchführung der gesetzlich angeord- neten Brandmauerdurchbrüche. Neu zu errichtende öffentliche Luftschutzräume sind bombensicher zu bauen, die vorhande- nen öffentlichen Luftschutzräume sind – soweit möglich – auf Bombensicherheit zu verstär- ken. Bei allen Neubauten, insbesondere bei den Bauten der Rüstungsindustrie, sind von vornherein bombensichere Luftschutzräume auszuführen. Sie sind in die gleiche Dringlich- keitsstufe wie die Bauvorhaben selbst aufzunehmen. In Berlin sowie anderen vom Reichsminister der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luft- waffe zu bestimmenden Städten sind die Baulücken für die Errichtung bombensicherer Luft- schutzräume als Untergeschoß[sic] der später zu errichtenden Neubauten auszunutzen. Die Keller aller öffentlichen und privaten Gebäude sind sofort auf die Eignung als Luft- schutzräume zu überprüfen und bei Geeignetheit für die Bevölkerung in Anspruch zu neh- men, es sei denn, daß [sic] sie für die Aufrechterhaltung des Betriebes lebenswichtig sind.

Für das Programm waren drei Bauwellen angesetzt, beginnend mit 61 Städten aus den Luftschutzorten I. Ordnung. Diese Kategorie umfasste luftgefährdete Städte mit einer Einwohnerzahl von mindestens 100.000, darunter auch Mülheim. Diese erste Bauphase sollte von November 1940 bis Juli 1941 dauern, verzögerte sich letztlich jedoch bis Oktober 1941. Das wiederum hatte zur Folge, dass sich die Zeitpläne der nachfolgenden Bauphasen ebenfalls

221 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 397. 222 Folgende Aufzählung vgl. Hampe: Luftschutz, S. 291.

70 verzögerten. Hauptgrund für diese Verzögerungen war vor allem der Material- und Arbeitskräftemangel, der bereits im Winter 1941/42 so deutlich war, dass das Sofortprogramm zu keinem Zeitpunkt die Erwartungen erfüllen konnte und 1942 endgültig als gescheitert betrachtet werden musste. Trotzdem wurde es von den Kriegsgegnern als „the most tremendous constructional program in civilian or passive defense for all time“ bezeichnet.223

Die ersten Schutzbunker in Mülheim entstanden in den nördlichen Stadtteilen Dümpten und Styrum. Dort befanden sich mit den Stahlwerken Thyssen & Co (heute Mannesmann-Valourec) und der Friedrich Wilhelms-Hütte (FWH) zwei Rüstungsbetriebe, sowie natürlich die Wohnstätten der dort beschäftigten Arbeiter. Auf dem Gelände der FWH selbst wurden zwei Spitzbunker errichtet. Diese Spitzbunker, auch Winkeltürme genannt, hatten ein Fassungsvermögen von bis zu 500 Personen. Im Laufe des Jahres 1941 entstanden in der Nähe der Betriebe zwei weitere Hochbunker in der Hammer- und in der Meißelstraße, sowie ein Tiefbunker am Marienplatz. Zeitgleich wurden Hochbunker an der Salierstraße, der Josefstraße, am Eisenbahnausbesserungswerk an der Duisburger Straße sowie am Flughafen an der Windmühlenstraße errichtet. Am Schloss Broich entstand ein weiterer Tiefbunker. Laut Hötger waren diese Bunker jeweils für 300 Personen ausgelegt.224 Gebaut wurden die Anlagen nach der „Braunschweiger Bewehrung“, mit einer Deckenstärke von mindestens 2 Metern, dadurch sollten die Bunker auch Schutz vor 1000kg schweren Bomben bieten. Die vorgeschriebene Ausstattung sah mindestens zwei Zugänge (Vorbau, Gasschleuse, Treppen oder Rampen), Wachräume und einen Dienstraum für den LS-Bunkerwart vor sowie Einzel- und Aufenthaltsräume, Waschräume, Aborträume, ein Erste-Hilfe-Raum und Räume für technische Anlagen.225 Im Bereich des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk war bis Dezember 1941 mit dem Bau von 235 Hochbunkern begonnen worden. Davon galten zwar 127 als „betonfertig“, d.h. die Bauten verfügten weder über Gastüren noch über Lüftungsanlagen, tatsächlich fertiggestellt waren zu diesem Zeitpunkt jedoch lediglich 15 Hochbunker. Durch auslaufende Arbeitsverträge mit italienischen Arbeitern sank die Zahl der Arbeitskräfte von 12500 im Dezember 1941 auf rund 7100 im Juni 1942. Zudem verschlangen verschiedene Großprojekte, u.a. die Befestigung des Atlantikwalls und der Bau von U-Boot-Bunkern, einen Großteil der Ressourcen an Arbeitsmaterial und -kräften. Für das Ruhrgebiet wurde das Sofortprogramm daher weitgehend eingestellt und sich stattdessen nur noch auf die „Fertigstellung der betonfertigen Bauten sowie auf ausgesuchte Baustellen“

223 Zit. n. USSBS Vol. II: European Report No. 40, S. 150. 224 Vgl. Hans-Georg Hötger: Eine Reise durch die Mülheimer Unterwelt – Planung und Bau von Bunkern unter dem NS-Regime. In: Jahrbuch der Stadt Mülheim Nr. 62, 2007 (Im Folgenden: Hötger: Mülheimer Unterwelt), S. 205- 212 hier S. 207. 225 Vgl. Hampe: Luftschutz, S. 272ff.; zum Bauwesen der Anlagen vgl. ebd. S. 269-290 und USSBS Vol. II: European Report No. 40, S. 150ff.

71 konzentriert.226 Die Möglichkeit, das Programm doch noch in seiner ursprünglich geplanten Form umzusetzen, ergab sich zu keinem Zeitpunkt. Am 10. April 1943 notierte Goebbels: „Der Bau von Bunkern und bombensicheren Unterständen ist das dringendste Problem. Die Bevölkerung ist in einzelnen Städten dem englischen Luftkrieg vollkommen wehrlos ausgeliefert. Es fehlt zum Bau von Bunkern an Arbeitskräften und Material. Hier muss das übrige Reichsgebiet helfend eingreifen.“227

Und auch der Chef des Arbeitsstabes Ziviler Luftschutz hielt in einem Bericht vom 18. Mai 1943 fest, dass noch immer über 9 Mio. Menschen im gesamten Reichsgebiet völlig ungeschützt waren. Das Reich war jedoch nicht mehr in der Lage, im notwendigen Maße Hilfe zu leisten. Die bis zu diesem Zeitpunkt errichtete Zahl an Bunkern in Mülheim reichte zum Schutz für nur ca. 2,8% der Bevölkerung.228 Tatsächlich entstanden in Mülheim viele Luftschutzanlagen durch Eigenleistung der Bewohner. An der Oberhausener Straße, im Stadtteil Styrum, nutzten die Anwohner ihre Verbindungen zur Firma Thyssen, um von dort Baumaterial und -maschinen zur Errichtung eines Bunkers zu erhalten. Auch im Stadtteil Saarn entstanden nach dem Großangriff 1943 noch mindestens 7 weitere Bunker durch Eigenleistung der Anwohner. Die OT sagte im Juli auch noch die Lieferung großer Mengen Kies zu. Damit sollten im Zuge der Reparaturmaßnahmen bereits angefangene Bunker und Stollen fertiggestellt sowie der Neubau von Großbunkern, durchgeführt werden. Aber auch hier verhinderten Arbeitskräfte- und Materialmängel die Umsetzung.229 Ohnehin war der Materialmangel bereits so gravierend, dass man seit Beginn des Jahres 1943 im gesamten Reichsgebiet vermehrt dazu übergegangen war, Stollen- anstatt Bunkerbauten zu errichten. In Mülheim entstanden Stollen an der Leybank, im Stadtteil Winkhausen und in Dümpten an der Mellinghofer Straße. Letzterer war jedoch weniger zum Personenschutz gedacht, als vielmehr zur sicheren Verwahrung von Werkzeugmaschinen der Firma Siemens, um so die Produktion zu sichern. Neben der Organisation der Luftalarme stand auch hier der Werkluftschutz im Vordergrund, was neben dem Materialmangel eine weitere Einschränkung des Schutzes der Zivilbevölkerung bedeutete. Ein weiterer Stollen entstand unter dem Kaiser-Wilhelm-Institut (heute Max-Planck-Institut), am Kaiser-Wilhelm-Platz. Dieser wurde als Alternative zur Industrieverlagerung angelegt und hatte ein Fassungsvermögen für 40 Personen, sowohl Arbeiter als auch Anwohner sollten dort Schutz finden. Weitere Räume dienten der Unterbringung der Institutsbibliothek und wichtiger Apparaturen. Insgesamt entstanden in Mülheim während der Zeit des NS-Regimes ca. 50 größere öffentliche Luftschutzanlagen und ca. 500 private Schutzräume. Dem Propaganda-Versprechen, das jeder Bürger einen Platz im Bunker bekommen würde, konnte das Bauprogramm aber auch hier nicht gerecht werden. Für die rund 140.000 Einwohner (Stand 01.

226 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 396ff.; zit. n. ebd. S. 398. 227 Zit. n. Goebbels Tagebücher Bd. 8, S. 85 (10. 04. 1943). 228 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 247. 229 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 221.

72 April 1940), deckte die erreichte Anzahl von Luftschutzbauten lediglich den Bedarf für 13% der Mülheimer Bevölkerung.230 Das Fehlen, ausreichender Schutzmöglichkeiten, versuchte die Reichsführung anderweitig wettzumachen. Evakuierungsmaßnahmen sollten Abhilfe schaffen, allen voran die schon zu Kriegsbeginn eingerichtete (erweiterte) Kinderlandverschickung (KLV). Wie bereits erwähnt, wurden auch Werksmaschinen in den errichteten Stollen verwahrt aber auch kulturelle Güter, wie beispielsweise Bücher und Kunstgegenstände. Darüber hinaus lagerten Städte auch ihre Verwaltungsdokumente in den Schutzanlagen, teilweise auch in denen anderer Regionen. Zu den Mülheimer Unterlagen, die nicht in der Stadt untergebracht wurden, gehörten Personalakten der Stadt, welche u.a. nach Eisenach, Apolda, Gotha, Erfurt, Naumburg und Weimar verschickt wurden. Nach Thüringen wurden Flurbücher des Katasteramtes, Steuerkarten, Erbkarten des Gesundheitsamtes, Karteikarten des Jugend- und Personalamtes sowie Hypotheken und Versicherungsunterlagen der Stadtkämmerei geschickt. Weitere Akten der Stadtverwaltung, Gerichtsakten des Amtsgerichts und Akten des Standesamtes wurden in einem Luftschutzbunker der Essener Zeche Hagenbeck eingelagert. Ein großer Bestand der außerstädtisch gelagerten Akten ist nach dem Ende des Krieges verloren gegangen, darunter auch die Aufzeichnungen des Kriegstagebuchs ab Dezember 1944.231

4. Luftalarme Auch die Errichtung eines Warnsystems, mit dem die Bevölkerung über feindliche Lufttätigkeiten alarmiert werden sollte, begann schon früh. Da ein akustisches Warnsignal als wirksamste Methode angesehen wurde, begann man Mitte der 1930er Jahre damit, Sirenen auf Dächer, öffentlicher und privater Gebäude, zu montieren. Die Sirene sollte in einem Radius von 500 Metern die Bevölkerung vor Luftangriffen warnen. Man schätzte, dass in Berlin eine Sirene 3000 Menschen erreichen würde, für die ganze Stadt wurden somit insgesamt 12.000 Sirenen notwendig. Der Flugmeldedienst informierte dann die Warnzentrale der betroffenen Gebiete über feindliche Lufttätigkeit. Die Warnzentrale informierte die ihr unterstellten Warnstellen, die daraufhin den Alarm auslösten. Das Alarmsystem bestand 1939 aus drei Signalen:232 1. die Luftgefahr (L). Dabei handelte es sich lediglich um eine Vorwarnung an die Warnzentrale. Diese Vorwarnung sollte jedoch so früh wie möglich, mindestens 30 Minuten vor einem eventuellen Angriff, herausgehen. Die Meldung Luftgefahr wurde aufgrund dessen in Verbindung mit einer Zahl übermittelt, die als Zeitangabe diente, wann mit dem Angriff zu rechnen sei.

230 Vgl. Hötger: Mülheimer Unterwelt, S. 209; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 242ff. 231 Vgl. StAMH: Bestand 1200/741: Anordnung vom 27. 09. 1944; Hötger: Mülheimer Unterwelt, S. 208; Nierhaus: Mülheim, S. 224. 232 Vgl. USSBS Vol. II: European Report No. 40, S. 36; Zu den Signalen vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 231 und Hampe: Luftschutz, S. 302.

73 2. Fliegeralarm (AL). Dieses Signal wurde 10 Minuten vor Eintreffen feindlicher Flugzeuge ausgelöst. Diese Zeitspanne galt als ausreichend für die Bevölkerung, die Schutzräume aufzusuchen. 3. Luftgefahr vorbei (Lz). Nach diesem Signal konnte Entwarnung gegeben werden.

Der Arbeits- und Alltagsrhythmus der Bevölkerung wurde zunehmend von der Lufttätigkeit der Briten beeinflusst. Fast bei jedem Einflug wurde der Luftalarm ausgelöst, was bedeutete, dass die Menschen alles stehen und liegen lassen und die Schutzräume aufsuchen sollten. Allein über Mülheim und einem Umkreis von 5km wurden im Jahr 1940 insgesamt 194 Feindeinflüge gezählt, wodurch innerhalb der Stadt 141 Mal Fliegeralarm ausgelöst wurde. Das wiederum bedeutete Stillstand in fast allen Bereichen. In den Stahlwerken mussten jedes Mal die Öfen gelöscht werden und dementsprechend dauerte es, bis der Betrieb anschließend wieder reibungslos lief. Aus diesem Grund wurde für Rüstungsbetriebe am 23. August 1940 eine Anordnung erlassen, die dem Werkluftschutzleiter die Verantwortung dafür übertrug, wann und ob überhaupt Alarm gegeben werden sollte.233 Grundsätzlich lag die Entscheidung zur Alarmierung bei dem jeweiligen Luftgaukommandeur und der jeweiligen Warnzentrale. Durch diese Alarmierung nach eigenem Ermessen stieg jedoch die Gefahr von Fehlalarmen oder eines kompletten Verzichts der Alarmierung. Einem Bericht des Überwachungsdienstes der SS zufolge stieg dadurch die Unruhe in der Bevölkerung und unter den Arbeitern, worunter auch der Produktionsablauf litt. Daraufhin ließ Hitler, nach Besprechungen mit Göring und einigen Gauleitern, am 22. Oktober 1940 wieder festlegen, dass generell, mindestens 10 Minuten vor dem möglichen Eintreffen des Gegners, Alarm ausgelöst werden sollte.234 Das Alarmsystem wurde im Laufe des Krieges immer wieder verändert und angepasst, in erster Linie mit dem Ziel, die negativen Auswirkungen auf die Produktion zu verringern. Dabei erwiesen sich die Einflüge am Tag, die ab 1942 deutlich zunahmen, und mit ihnen die Alarme, als besonders störend. Bei diesen Einflügen handelte es sich meist um Störaktionen, denen kein größerer Angriff folgte. Das hatte bald zur Folge, dass die Menschen bei Luftalarm gar nicht mehr die Luftschutzräume aufsuchten, da es ihnen mit der Zeit eher lästig wurde. Diese Entwicklung diente einigen Industriellen, u.a. Krupp, als Argument dafür, dass eine Verbesserung des Alarmsystems notwendig sei, um den Produktionsablauf so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Am 21. August 1942 wurde daraufhin das Signal „Öffentliche Luftwarnung“ (ÖLW) eingeführt. Die ÖLW wurde, bei Bedarf, im an den AL ausgelöst und galt von nun an als Signal an die Bevölkerung, die Luftschutzräume aufzusuchen. Die Aufenthaltsdauer in den Schutzräumen und die Produktionsunterbrechungen sollten dadurch reduziert werden. Außerdem sollten Arbeiter ihren

233 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 413; Hampe: Luftschutz, S. 305. 234 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 233; Hampe: Luftschutz, S. 305.

74 Schichtwechsel auch bei Alarm durchführen, „solange kein Flakbeschuss oder feindliches Motorengeräusch zu hören ist.“ Gleiches galt für Lieferanten wichtiger Güter. Das oberste Gebot lautete: „Dem vom Feinde angestrebten Produktions- und Wirtschaftsausfall darf während eines Alarms kein Vorschub geleistet werden.“235 Ab Oktober 1944 wurde das Alarmsystem um eine zusätzliche Stufe erweitert, der „Akuten Luftgefahr“ (AKL). Zusammen mit den Signalen zur Entwarnung, „Vorentwarnung“ und „Endgültige Entwarnung“ wurde das System so komplex, dass diese durch die Presse und den Rundfunk immer wieder erklärt werden mussten. Dazu erschien in der Mülheimer Zeitung folgender Artikel:236 „Akute Luftgefahr“ Das zukünftige Zeichen zum sofortigen Aufsuchen der Schutzräume. In frontnahen Gebieten gibt es künftig fünf Alarmsignale, die im Folgenden erläutert werden: 1. Bisheriges Signal „Oeffentliche [sic] Luftwarnung“ (kleiner Alarm, dreimal Dauerton in einer Minute). Es zeigt an, dass nur wenige feindliche Flugzeuge im Anflug sind. Es besteht also eine verhältnismäßig ge- ringe Gefahr. Das öffentliche Leben sowie Wirtschaft und Verkehr gehen ungehindert weiter. Es ist jedoch erhöhte Wachsamkeit jedes Einzelnen geboten, da Einzelflugzeuge durch Flakartillerie bekämpft werden und einzelne Bomben fallen können. 2. Bisheriges Signal „Fliegeralarm“ (an- und abschwellender Heulton von einer Minute). Es zeigt an, dass es eine größere Anzahl feindlicher Flugzeuge eingeflogen ist. Eine unmittelbare Gefahr für den alarmierten Ort besteht jedoch noch nicht, da die feindlichen Flugzeuge noch abdrehen oder vorbeifliegen können. - Das Signal „Fliegeralarm“ soll eine dringende Mahnung sein, alle Vorbereitungen für ein rasches Aufsuchen der Schutzräume zu treffen und auf der Straße und im öffentlichen Leben ganz besondere Vorsicht anzuwenden und das Verhalten so einzurichten, dass Schutzräume jederzeit kurzfristig bezogen werden können. 3. Neu eingeführt wird das Signal „Akute Luftgefahr“. Es wird dann gegeben, wenn unmittelbare Bedro- hung des alarmierten Luftschutzortes vorhanden ist. Es besteht aus einem kurzen Alarmstoß, bestehend aus zwei Heulperioden der Sirenen von einer Gesamtdauer von acht Sekunden. Bei Ertönen dieses Signals be- steht unmittelbare Gefahr. Sofortiges Aufsuchen der nächsten Schutzräume ist Pflicht. […]. 4. Die Beendigung der „Akuten Luftgefahr“ wird mit dem Signal „Vorentwarnung“ (dreimal wiederholter hoher Dauerton) angezeigt. Dann ist luftschutzmäßiges Verhalten nicht mehr erforderlich und Wirtschaft und Verkehr nehmen sofort ihre Tätigkeit im vollen Umfang wieder auf. 5. Endgültige Entwarnung erfolgt durch das bisherige Entwarnungssignal (eine Minute langer hoher Dau- erton).“

Bei der Unterscheidung der verschiedenen Signale galt, dass Öffentliche Luftwarnung grundsätzlich beim Einflug von bis zu 12 Jagdflugzeugen oder leichten Bombern zu geben war, bei einer größeren Anzahl von leichteren Kampfflugzeugen oder beim Einflug schwerer Bomberverbände wurde der Fliegeralarm ausgelöst.237 Anders als in manch anderen Städten brach das Luftwarnsystem der Stadt Mülheim auch gegen Kriegsende nicht zusammen. Mit Ausnahme des Signals „akute Luftgefahr“, das ab Dezember 1944 nicht mehr gegeben werden konnte, heulten die Sirenen der Stadt weiter bei jedem gesichteten Bomber. In Mülheim wurde zwischen 1943 und Februar 1945 651 Mal Fliegeralarm ausgelöst, d.h., die Sirene heulte in dieser Zeit mehr als 530 Stunden. Zusammen mit

235 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 234; zit. n. StAMH: Bestand 1200/1228 (04. 08. 1942). 236 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 413F.; StAMH: MZ vom 29. 09. 1944; USSBS Vol. II: European Report No. 40, S. 31-39. 237 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 236.

75 den Warnsignalen AKL und ÖLW erlebte die Stadt während der gesamten Kriegsdauer 2950 Luftwarnungen, knapp über die Hälfte davon, wurden allein 1944 ausgelöst (Tab. 10 und 11). Vom 01. bis zum 20. März 1944 wurde täglich Alarm gegeben, teilweise heulte die Sirene bis zu fünfmal am Tag oder mehr. Am 06. März wurde siebenmal Öffentliche Luftwarnung gegeben. Die Bevölkerung lebte praktisch unter Daueralarm.238

Tabellen 10 und 11: Luftalarme in Mülheim an der Ruhr 1939-1945239

Tabelle 10: Summe der Luftalarme 1939 - 1945

Jahr AKL AL ÖLW Summe 1939 4 4 1940 141 141 1941 104 104 1942 157 42 199 1943 242 191 433 1944 96 315 1074 1485 1945 161 413 574 Summe 96 1124 1720 2940

Tabelle 11: Aufschlüsselung der Luftalarme 1939 - 1945

1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 AL AL AL AL ÖLW AL ÖLW AL ÖLW AKL AL ÖLW Januar 3 6 18 7 9 46 40 125 Februar 8 7 27 20 4 60 60 150 März 6 10 25 25 14 88 61 138 April 5 9 16 12 26 107 Mai 9 5 3 14 11 17 77 Juni 20 15 13 17 17 12 51 Juli 24 18 28 22 24 22 67 August 23 18 45 24 16 17 53 September 4 6 7 15 21 16 10 30 104 Oktober 21 8 8 13 21 9 52 141 29 November 25 5 4 2 31 11 62 139 47 Dezember 13 6 9 6 11 29 50 141 20

238 Vgl. Ulrich: Dokumentation, S. 227ff. 239 Beide Tabellen so zu finden bei Wiedeking: Kriegsalltag, S. 242.

76 5. Die Versorgung der Bevölkerung Gemessen an der Zahl der Kleiderkarten, lebten 1941 rund 130.015 Menschen in Mülheim, die es mit Gütern aller Art zu versorgen galt. Die Versorgungsgüter militärischer Bereiche hatte aber absolute Priorität, was bedeutete, dass Produktionen jeglicher Art dahingehend umgestellt wurden. Für die Zivilbevölkerung wurden dadurch vor allem Verbrauchsgüter, insbesondere Textil- und Haushaltswaren schnell zur Mangelware. Ein besonderer Mangel herrschte auch schon früh im Bereich der Treibstoffe, Öle, Fette, Kautschuk und Asbest. In diesen Bereichen erhielt die Wehrmacht ebenfalls den Vorzug. Die Anzahl der Fahrzeuge wurde daher in Mülheim zur Jahreswende 1941/42 von 1364 auf 1125 Fahrzeuge reduziert. Zahlreiche Neuzulassungen wurden nicht genehmigt, da den Fahrzeugen kein öffentliches Interesse nachgewiesen werden konnte. Die Kohleversorgung dagegen deckte 1941 mit 142.000 Tonnen noch 84% des Bedarfs des Vorjahres. Seife und Waschmittel wurden ebenfalls nur geringfügig und auf ein akzeptables Maß reduziert.240 Mit der Verschärfung des Bombenkriegs stieg auch der Bedarf an Wohnungseinrichtungen für Ausgebombte. Bei der Ersatzbeschaffung griffen die Kriegsschädenämter der Städte auch auf das Eigentum geflohener und deportierter Juden zurück. Dieses Vorgehen wurde von den Ämtern durch die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 ermöglicht. Auch aus den besetzten Gebieten wurden jüdische Besitztümer ins Reichsgebiet transportiert. Das Ruhrgebiet wurde dabei vorwiegend mit Wohnungseinrichtungen aus den Niederlanden versorgt. Eine Dienststelle Westen führte sogenannte „Möbel-Aktionen“ u.a. in den Niederlanden durch und räumte zwischen 1942 und 1944 insgesamt 22.623 Wohnungen aus. Die Firma Thyssen erhielt 1944 von der Essener Gauleitung noch eine Weisung, die besagte, dass firmeneigene Arbeiter, zusammen mit einer Gruppe russischer Fremdarbeiter, beschlagnahmte Wohnungseinrichtungen aus Arnheim nach Mülheim transportieren sollten. Die sogenannten „Judenmöbel“ wurden in der Stadt, u.a. in einem Möbellager der Firma von der Linden gelagert. Jede noch so drastische Maßnahme konnte den steigenden Bedarf an Möbeln jedoch nicht ausreichend decken.241 Neben den Wohnungseinrichtungen stieg auch der Bedarf an Unterkünften selbst an. Freigewordene Wohnungen durch die Deportation von Juden wurden ausgebombten Familien zugeteilt, was den Bedarf auf Dauer jedoch nicht deckte. Ab 1942 wurde daher eine Aktion zur „Schaffung von Behelfsunterkünften für Bombengeschädigte“ gestartet und sollte vor allem in den Ballungsräumen Nord- und Westdeutschlands Abhilfe schaffen. Für den Gau Westfalen-Süd sah das Programm die Errichtung von bis zu 320 Behelfs-Unterkünften vor, ein Vorhaben, das jedoch aufgrund der Entwicklung des Luftkriegs nicht realisiert werden konnte. Am 09. September 1943 ordnete ein Führererlass die Gründung eines Deutschen Wohnungshilfswerks (DWH) an und beauftragte es mit 240 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 105ff.; Zu den Maßnahmen und der Durchführung der Bevölkerungsversorgung in Mülheim 1941/42 vgl. StAMH: Bestand 1181/2/26. 241 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 107; StAMH: Bestand 1181/2/26, S. 12; Allgemein zur Ersatzbeschaffung vgl. Blank: Heimatfront, S. 425ff.

77 der Durchführung eines neuen Bauprogramms. Im Zuge dieses Programms entwickelte der Architekt Hans Spiegel, den „Reichseinheitstyp 001“, Behelfsheime in Holzbauweise, die nicht größer als gewöhnliche Gartenlauben waren. Das DWH plante den Serienbau von jährlich einer Million Behelfsheimen in ganz Deutschland, was eine vollkommen unrealistische Zielsetzung war, denn die Heftigkeit der Luftangriffe zerstörten Wohnraum in einem Umfang und in immer kürzeren Abständen, dass es gar nicht möglich war, mit dem Bau neuer Unterkünfte nachzukommen. Abgesehen davon waren weder Rohstoffe noch Arbeitskräfte im notwendigen Maß verfügbar.242 In einem Schreiben vom 01. Dezember 1943, berichtet der damalige Mülheimer Oberbürgermeister Edwin Hasenjaeger von der Errichtung von 250 Behelfsheimen und den damit verbundenen Problemen; u.a. seien nicht genügend Arbeitskräfte verfügbar oder Arbeitsmaterialien wurden bei Luftangriffen zerstört. Auch für das Jahr 1944 sah die Stadt noch den Bau von 450 Behelfsheimen vor. Wie viele letztendlich errichtet wurden, geht aus den Unterlagen leider nicht hervor.243

Auf dem Sektor der Nahrungsmittelversorgung war das Reich von Anfang an darum bemüht, diese auf einem guten Niveau zu halten, allein schon aus politischen Gründen. Eine Hungersnot, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg herrschte, wollte man unbedingt vermeiden, denn besonders die Versorgungssituation hatte einen starken Einfluss auf die Haltung der Bevölkerung gegenüber der Reichsführung. Bei der Festlegung der Versorgungsrationen wurde die Bevölkerung unterteilt, u.a. nach Alter und Leistung in: Normal-, Schwer- und Schwerstarbeiter und Zuschläge für Nacht- oder Langarbeit und nach sozialen Komponenten: Kranke, Schwangere, stillende Mütter. Des Weiteren wurde unterschieden, zwischen Vollselbst- und Selbstversorgern.244 Zuteilungspflichtig waren in erster Linie besondere Lebensmittel wie Fleisch, Fette, Mehl und Kaffee. Später fielen auch Kartoffeln und weitere, als Mangelgemüse bezeichnete Sorten, sowie Obst unter die Zuteilungspflicht. Laut den Unterlagen des Mülheimer Ernährungsamtes befanden sich in den Jahren 1941/42, insgesamt 755 Lebensmittelgeschäfte, 178 Bäckereien, 105 Milchhandlungen, 87 Metzgereien, 188 Gemüse- und Obstverkaufsstellen, 220 Kartoffelverkaufsstellen und 636 Seifenverkaufsstellen in der Stadt. 10 landwirtschaftliche Selbstversorger besaßen Genehmigungen, die ihnen das Rösten von Kaffee-Ersatz erlaubten und 7500 Geflügelhaltern, wurde ein Abgabesoll von 556.440 Eiern auferlegt. Dies zu kontrollieren gestaltete sich jedoch äußerst schwierig.245

242 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 417ff. 243 Vgl. StAMH: Bestand 1615/2, S. 12 und Bestand 2006/22. 244 Diese Einteilung verursachte auch Probleme, z.B. die Frage nach welchen Kriterien Schwerstarbeit definiert werden sollte. Vgl. dazu Rolf-Dieter Müller: Albert Speer und die Rüstungspolitik im Zweiten Weltkrieg. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 5/2: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und Personelle Ressourcen 1942-1944/45, Stuttgart 1999 (Im Folgenden: Müller: Rüstungspolitik), S. 275-737 hier S. 396ff. 245 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 110f.

78 Zu diesem Zeitpunkt sah sich die deutsche Reichsführung bereits mit einer ausgeprägten Ernährungskrise konfrontiert, die zu enormen Rationskürzungen führte. Der monatliche Kalorienwert der Rationen für Normalverbraucher sank im Jahr 1942 auf 1750. Ein Jahr zuvor lag der Wert noch bei 1990 Kalorien. Tatsächlich waren die eigenen, vor Kriegsbeginn angelegten Vorräte bereits in den ersten zwei Jahren so gut wie aufgebraucht. Erste Engpässe hatte man zwar frühzeitig versucht, durch Importe aus den neutralen und besetzten Gebieten, auszugleichen, doch erfüllten diese Lieferungen nicht die Erwartungen. Um im Heimatgebiet die Versorgungslage wieder in den Griff zu bekommen, ging man nun dazu über, die besetzten Gebiete regelrecht auszubeuten und das auf Kosten der dortigen Bevölkerung. Doch wie Göring es 1943 gegenüber den Reichskommissaren der besetzten Gebiete und den Militärbefehlshabern ausdrückte, stand man nicht im Dienste dieser Völker, sondern man hatte in erster Linie dafür zu sorgen, dass das deutsche Volk genug zum Leben hatte.246 Für die deutsche Bevölkerung eine durchaus profitable Einstellung. So veranlasste das Mülheimer Ernährungsamt zum Weihnachtsfest 1943 eine Sonderzuteilung an die Einwohner. Normalverbraucher und nichtlandwirtschaftliche Selbstversorger erhielten zusätzlich 500g Weizenmehl, 125g Süßwaren oder 100g Zucker, 50g Bohnenkaffee und 0,35l Spirituosen. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre erhielten sogar Zucker und Süßwaren von jeweils 250g. Diese Sonderzuteilung galt nicht für Ausländer, Kriegsgefangene, Polen und Juden.247 Mülheim verfügte bereits vor Kriegsbeginn über große Reserven an Mehl, Fetten und weiteren Bedarfsgütern, wodurch die Versorgungslage in der Stadt, während der gesamten Kriegsdauer, auf einem guten Stand gehalten werden konnte. Zusätzlich erlaubte die gute Finanzlage der Stadt, auch während des Krieges noch größere Einkäufe an Lebensmitteln und anderen Gütern. In einer Ratsherrensitzung vom 22. Dezember 1942, beispielsweise, wurde für den Kauf von Lebensmitteln eine außerplanmäßige Ausgabe in Höhe von 42.000 RM beschlossen.248 Neben den privaten Haushalten galt es aber auch, öffentliche Stellen mit Lebensmitteln zu versorgen. 1942 gab es in Mülheim 26 Werksküchen, u.a. bei Thyssen, Siemens und dem Eisenbahnausbesserungswerk, die durchschnittlich 2420 Personen am Tag versorgten. Kochschulen, die u.a. vom Frauenwerk betrieben wurden, konnten ihren Betrieb noch bis 1942 uneingeschränkt fortsetzen und erhielten monatlich eine Lebensmittelmenge, die für 1380 Kochschülerinnen ausreichte.249 Die zwei städtischen Wasserwerke konnten ihren Betrieb während der gesamten Kriegsdauer aufrechterhalten. Schäden an Wasserleitungen konnten, wenn auch nur provisorisch, schnell repariert werden.

246 Ausführlich dazu vgl. Hans Umbreit: Die Deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten 1942-1945. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 5/2: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und Personelle Ressourcen 1942- 1944/45, Stuttgart 1999 (Im Folgenden: Umbreit: Die Deutsche Herrschaft), S. 03-272 hier S. 181 und S. 200; Müller: Rüstungspolitik, S. 488. 247 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 112; StAMH: Bestand 1400/5, S. 498f. 248 Vgl. StAMH: Bestand 1181/1/3. 249 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 110f.

79 Die erwähnte Ernährungskrise wurde schließlich, vor allem durch die Ausbeutung der besetzten Ostgebiete, zu einem gewissen Maß überwunden und der Kalorienwert der Rationen für Normalverbraucher im Jahr 1943 wieder angehoben. Mit 1980 Kalorien erreichte man fast wieder den Stand von 1941. Die Versorgung konnte daraufhin, bis zum Ende des Krieges im ganzen Land weitgehend konstant gehalten werden. Der Kalorienwert sank im Jahr 1944 noch einmal leicht auf 1930 und die Fleischrationen sanken von monatlichen 2000g im Jahr 1939 auf 1200g in den Jahren 1942/43, stiegen aber 1944 noch einmal auf 1600g im Monat an.250 Allen Einschränkungen zum Trotz, lief die Lebensmittelversorgung in Mülheim bis Kriegsende problemlos weiter, sogar eine weitere Sonderzuteilung im Januar 1945 war noch möglich. Erwachsene bekamen weitere 50g Bohnenkaffee und 0,35l Branntwein, Jugendliche unter 18 Jahren erhielten eine zusätzliche Dose Kondensmilch. Nachdem die alliierten Bodentruppen schließlich den Rhein erreicht hatten und deren weiterer Vormarsch nicht zu stoppen war, hatte das für die Mülheimer noch einmal einen gewissen positiven Effekt. Im März 1945, als die amerikanischen Truppen bereits vor den Toren der Stadt standen, ließ die Stadtverwaltung mitteilen, dass auch die letzten Lebensmittelvorräte an die Privathaushalte verteilt werden würden. Mit der Begründung, dass man dem Gegner diese Reserven nicht überlassen wolle, erhielten die Menschen noch einmal Kartoffeln für 5 Monate, 8 Pfund Zucker und mehrere Pfund Fleisch. Erst nach Kriegsende, nachdem das deutsche Versorgungsniveau von den Alliierten auf den europäischen Durchschnitt herabgesetzt wurde, verschlechterte sich auch in Mülheim die Versorgungslage beträchtlich: „Gehungert haben wir nach dem Krieg. Vorher mussten wir uns zwar auch anstellen, an Orangen und Bananen war gar nicht zu denken, aber gehungert haben wir nicht im Krieg.“251

6. Jugend im Luftkrieg Die wichtigste Zielgruppe des Nationalsozialismus war die Jugend. Während manche Erwachsenen, aufgrund vorhandener Lebenserfahrung, mitunter nicht so leicht der NS-Propaganda erlagen und sich die Verbreitung der Parteiideologie bei dieser Bevölkerungsgruppe u.U. Schwieriger gestaltete, waren die Möglichkeiten, in den Erziehungsprozess einzugreifen, weitaus besser. Verschiedene Organisationen, wie die Hitlerjugend (HJ) und der Bund deutscher Mädel (BdM), waren darauf ausgerichtet, gezielt das Werte- und Normensystem des Nationalsozialismus in die Köpfe der nächsten Generation fest zu verankern. Neben erzieherischen Maßnahmen wurden die Mitglieder beider Organisationen bereits im Krieg mit gewissen Aufgaben betreut, z.B. mit der Verpflegung von Bombengeschädigten oder, wie auch nach dem Großangriff auf Mülheim, der Einsatz von Hitlerjungen als Melder nach einem Bombenangriff. Speziell auf den Luftkrieg bezogen, sind

250 Allgemein zur Versorgungslage vgl. Müller: Rüstungspolitik, S. 478-493; Beck: Under the bombs, S. 12. 251 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 248f.; Zitat zu finden bei Barbara Kaufhold: Erinnerungen werden wach. Zeitzeugenberichte aus Mülheim an der Ruhr 1933-1945, Essen 2001 (Im Folgenden. Kaufhold: Erinnerungen werden wach), hier Egon Kunig, S. 175.

80 besonders zwei Maßnahmen in Verbindung mit der Jugend zu nennen, die zum einen den erzieherischen Einfluss und zum anderen den praktischen Einsatz betreffen: die erweiterte Kinderlandverschickung (KLV) und der Einsatz deutscher Schüler als Flakhelfer. a) Erweiterte Kinderlandverschickung (KLV) Als während der „Luftschlacht um England“ und durch die Angriffe auf Berlin klar wurde, dass England nicht so leicht zu besiegen sein würde, kam der Stein für die KLV ins Rollen. Am 27. September 1940 wurde Reichsleiter Baldur von Schirach mit der Organisation der KLV beauftragt. Ziel sollte es sein, alle Jugendliche, gemeint waren alle deutschen Schüler bis 14 Jahre, aus den luftgefährdeten Gebieten in friedlichere Regionen zu schicken. Für die Organisation der Unterbringung und Betreuung der Schüler war die Reichsdienststelle KLV verantwortlich. Der Beginn der Aktion wurde auf den 03. Oktober festgelegt und fand ihren Anfang in Berlin und Hamburg.252 Kurz darauf wurde die Maßnahme auch auf die Industriestädte des Ruhrgebiets ausgeweitet. In Mülheim wurden die ersten Verschickungen noch in einem eher kleinen Rahmen durchgeführt, in dem die Kinder für maximal 6 Wochen in ruhigere Gebiete, z.B. in die Ostmark (Österreich), geschickt wurden. Ab 1942 wurde die KLV ausgeweitet und die Verschickungen gingen u.a. in den Schwarzwald oder nach Tschechien. Die Reise wurde in Zügen oder auch auf Schiffen angetreten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die KLV jedoch bereits ihren Höhepunkt erreicht, denn tatsächlich stieß diese Maßnahme bei den Eltern nur auf begrenzte Zustimmung. Obwohl das Wort Evakuierung nicht im Zusammenhang mit der KLV genannt werden durfte, hielten die Eltern es genau dafür. Im Auge der Öffentlichkeit galt die KLV als eine Art Zugeständnis dafür, dass man den britischen Luftangriffen nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Damit erlitt die KLV sozusagen einen klassischen Fehlstart. Dem versuchte, u.a. auch Goebbels entgegenzuwirken, indem er in der Presse darauf hinwies, dass es sich bei der KLV keineswegs um eine Evakuierungsmaßnahme handele, sondern vielmehr um ein „zwangloses Angebot an die Eltern, ihre Kinder in luftgeschütztere Gebiete zu bringen. Gratis!“253 Viel ausrichten konnte aber auch Goebbels nicht. Den Charakter einer Evakuierungsmaßnahme wurde die KLV nicht los. Anders, als man es eventuell vermuten würde, führte auch die Verschärfung des Bombenkrieges nicht zu einer erhöhten Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder in die KLV zu geben. Vielmehr war das Gegenteil der Fall. Viele Eltern entschlossen sich, gerade zu dieser Zeit, ihre Kinder bei sich zu halten, u.a. aus dem Grund, dass man bei einer eventuellen Flucht aus der Heimatstadt, zumindest mit der gesamten Familie fliehen könnte oder Mütter zumindest mit ihren Kindern zusammenbleiben wollten, wenn sich der Mann bereits an der Front befand. In manchen Fällen

252 Vgl. Gerhard Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder...Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, Paderborn 1997 (Im Folgenden: Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder...), S. 69f. 253 Zit. n. ebd. S. 73.

81 dürfte auch das schwindende Vertrauen in die NS-Führung der Grund gewesen sein, so dass man die eigenen Kinder nicht dem erzieherischen Einfluss der HJ aussetzen wollte.254 Die Reichsführung versuchte dennoch weiter die Eltern davon zu überzeugen, ihre Kinder in die KLV zu geben. Teils durch Werbeveranstaltungen, die durch die HJ organisiert wurden und in Schulen stattfanden. Dabei wurde stets die Freiwilligkeit der Maßnahme betont und dass man lediglich darum bemüht sei, den Kindern eine geordnete Weiterführung ihrer Schulausbildung zu sichern. Aber auch mit gezielter Propaganda konnte die Skepsis der Eltern nicht vollkommen überwunden werden und so wurde immer stärkerer Druck auf die Eltern ausgeübt.255 Das geschah häufig durch die Presse, so wurde auch in der Mülheimer Zeitung ein recht provokanter Artikel zur „Egoistischen Elternliebe“ veröffentlicht: „[...]. Dann aber müssen sich jene, Gott sei Dank, nur eine verschwindend geringe Anzahl von Eltern, die sich aus falsch verstandener und rein egoistischer Elternliebe bisher noch nicht ent schließen konnten, ihre Kinder einem KLV-Lager anzuvertrauen, die bittersten Vorwürfe machen, weil ihre Lieblinge weit hinter denen zurück sind, die nicht den Gefahren eines schweren Bombenangriffs ausgesetzt wurden. […]. Sie müssen jetzt schon einmal die volle Verantwortung dafür übernommen haben, dass sie ihre Kinder den tödlichen Gefahren des Bombenterrors aussetzen. Es werden denn diese Kinder als Opfer egoistischer Elternliebe nicht nur an Leben und Gesundheit gefährdet, sondern auch später infolge mangelnden Wissens weit hinter ihren gleichaltrigen Kameraden zurückbleiben und in ihrem beruflichen Fortkommen behindert sein. Den Vorwürfen, die diesen Eltern dann gemacht werden, können sie kein stichhaltiges Argument entgegenhalten. Denn sie, die unbelehrbaren, nur an sich denkenden Eltern tragen die Schuld.“256

Der Grundsatz der Freiwilligkeit wurde offiziell zwar nicht aufgehoben, doch geriet er durch solche Maßnahmen immer weiter in den Hintergrund. Bereits ein Erlass aus dem Juni 1943, indem die Verlegung ganzer Schulen angeordnet wurde, widersprach dem Freiwilligkeits-Prinzip. Innerhalb der Bevölkerung sprach man daher bald von der „freiwilligen Kinderlandverschleppung“.257 Ein weiterer Grund dafür, dass die KLV von Anfang an auf Ablehnung stieß, lag in den ungenauen Angaben über die Dauer der Verschickung. Anfangs wurde überhaupt kein Zeitrahmen festgelegt, da man noch von einem schnellen Kriegsende ausging. Am Ende wurde die Dauer auf 6 Monate festgelegt, dabei galt jedoch, dass nur ganze Lager zurückgeführt werden sollten. Tatsächlich erlebten einige Schüler, besonders ab 1943, eine KLV-Dauer von bis zu 2 Jahren und verblieben so bis zum Kriegsende in den Lagern.258 Die Unsicherheit darüber, dass die Eltern weitgehend im

254 Vgl. Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 318-322. 255 Vgl. StAMH: MZ vom 14.07.1943; Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 187; Ralf Blank/Gerhard Sollbach: Das Revier im Visier. Bombenkrieg und „Heimatfront“ im Ruhrgebiet 1939-1945, Hagen 2005 (Im Folgenden: Blank/Sollbach: Das Revier im Visier), S. 13f. 256 Zit. n. StAMH: MZ vom 04.09.1943. 257 Vgl. Blank/Sollbach: Das Revier im Visier, S. 13; Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 220ff. 258 Vgl. Hans Fischer: Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle im Inferno des Krieges. In: Mülheimer Jahrbuch 1989 (Im Folgenden: Fischer: Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle...), S. 153-168 hier S. 168; Heinz-Wilhelm Auberg: Kinderlandverschickung vor 50 Jahren. Mülheimer Jungen finden Zuflucht in Böhmen und Mähren. In: Zeitschrift des Geschichtsvereins Mülheim a.d. Ruhr Nr. 66, 1993 (Im Folgenden: Auberg: Kinderlandverschickung vor 50 Jahren), S. 589-614 hier S. 612.

82 Unklaren darüber gelassen wurden, für, wie lange sie ihre Kinder in die KLV-Lager schicken würden, wurde noch verstärkt dadurch, dass ein generelles Verbot ausgesprochen wurde, die Kinder frühzeitig aus den Lagern nach Hause zu holen. Anstatt die Maßnahme den Eltern näherzubringen, steigerte man durch solche Anordnungen lediglich deren Misstrauen.259

Eine genaue Zahl darüber, wie viele Kinder letztlich, trotz aller Widerstände, durch die KLV aus ihren Heimatorten evakuiert wurden, gibt es nicht. Schätzungen reichen von 850.000 bis 2,8 Millionen. In wenigen Fällen wird sogar von 5 Millionen Kindern gesprochen.260 Genaue Zahlen lassen sich heute nicht mehr ermitteln, da die Akten der Reichsdienststelle KLV verloren sind und eine Veröffentlichung von Zahlen bereits 1941 von Hitler selbst untersagt wurde. Dieses Verbot begründete sich wahrscheinlich darauf, dass man die Reaktionen der Bevölkerung fürchtete. So hätten hohe Zahlen evtl. Unruhe ausgelöst, da sie ein Zeichen für die Gefährdung des Reiches hätten bedeuten können, während eine geringe Zahl an KLV-Teilnehmern auf die schlechte Akzeptanz hingewiesen hätte, über die bereits berichtet wurde.261 Anhand von Leistungsberichten der KLV, die durch den NSLB, der HJ und auch durch allgemeine Zeitungen veröffentlicht wurden, erstellte Gerhard Kock dennoch eine recht zuverlässige Hochrechnung. Demnach wurden in Hamburg und Berlin, in den ersten beiden Monaten, rund 189.543 Kinder durch verschiedene Evakuierungsmaßnahmen aus den Städten gebracht, ungefähr die Hälfte davon durch die KLV. Ende Februar, nachdem auch die Industriestädte aus dem Westen in die KLV mit einbezogen wurden, befanden sich ca. 120.000 Kinder in KLV-Lagern und bis Ende März 1941 waren es rund 136.061 Kinder. In einem Jahresbericht der KLV wurde für das Jahr 1941 festgehalten, dass in diesem Jahr insgesamt 125.040 Jungen und 79.915 Mädchen in 3855 Lagern untergebracht wurden. Einem Bericht des Reichsschatzmeisters zufolge befanden sich im Februar 1942 insgesamt 261.000 Kinder in KLV-Lagern. Anhand weiterer Berichte kommt Kock letztlich zu dem Schluss, dass eine Gesamtzahl von 800.000 bis 850.000 Kindern, die durch die KLV evakuiert wurden, eine realistische Schätzung sei. b) Das Lagerleben in der KLV Der Schulunterricht sollte auch in den KLV-Lagern weitergeführt werden. Die Verantwortung dafür lag beim NS-Lehrerbund (NSLB), während die Gestaltung des Lagerlebens in der Verantwortung der Hitlerjugend (HJ) lag, gemäß dem Leitsatz: „Jugend muss durch Jugend geführt werden.“262 Hinter dem Motiv, Kinder aus gefährdeten Gebieten, die nötige Ruhe und Schulbildung zukommen zu lassen, diente die KLV, ohne Frage, ebenso der Einflussnahme auf die Erziehung der Kinder, 259 Vgl. Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 171ff. 260 Zur Thematik der Gesamtzahlen vgl. Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 134-143. 261 Vgl. Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 134f. 262 Zit. n. Fischer: Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle...,S. 159.

83 nach einem nationalsozialistischem Weltbild. Baldur von Schirach wollte, wie Kock schreibt: „auf Kosten der alten Schule eine neue nationalsozialistische Form der Schulerziehung“ einführen.263 Dazu gehörte ebenfalls die Vorbereitung auf spätere militärische Aufgaben. Diese Bereiche gingen für manchen Jugendlichen nahtlos ineinander über. So wurde ein Mülheimer Schüler, direkt nach dem Ende seines KLV-Aufenthaltes, als Flakhelfer eingesetzt. Ein anderer Schüler berichtete davon, wie sein Schulleiter, der ebenfalls als Lagerleiter fungierte, die Jungen der Jahrgänge 1928/29 dazu aufforderte, sich freiwillig zur Wehrmacht zu melden, dabei drohte er gleichzeitig jedem, der sich weigerte, mit Nichtversetzung. Zudem wurden bestimmte Gruppen von vornherein von der KLV ausgeschlossen, neben jüdischen, auch kranke und behinderte Kinder, sowie Kinder, die als schwer erziehbar galten. Das macht deutlich, dass weniger der rein karitative Gedanke im Vordergrund stand, sondern gezielt darauf geachtet wurde, dass die Teilnehmer dem völkisch- rasssischem Ideal entsprachen.

Die KLV stellt innerhalb der Mülheimer Geschichte einen der am intensivsten bearbeiteten Bereich dar. Im Jahre 1965 brachten die Ruhrnachrichten eine längere Artikelserie zu diesem Thema heraus, zudem existiert eine größere Anzahl Einzeldarstellungen, ehemaliger Mülheimer Schüler zu diesem Thema. Eine allgemeingültige Darstellung eines Aufenthalts in einem KLV-Lager, kann natürlich dennoch nicht geleistet werden, da es sich in jedem dieser Fälle, um das subjektive Erleben der einzelnen Betroffenen handelt. Im Rahmen dieser Darstellung sollen anhand von 3 Einzeldarstellungen gewisse Grundzüge und eventuelle Unterschiede eines KLV-Aufenthalts aufgezeigt werden. Wie bereits erwähnt, wurde das Lagerleben durch die HJ organisiert und die militärischen Strukturen lassen sich in dieser Organisation deutlich erkennen. Hans Fischer schildert in seinem Aufsatz: „Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle im Inferno des Krieges“ den Aufenthalt in einem KLV-Lager in Neustadt an der Mettau (Tschechien). Als Lager diente eine Pension, jedes Stockwerk wurde in Abteilungen (Züge) unterteilt und von einem Unterführer geleitet. An der Spitze standen der Lagermannschaftsführer (Lamafü oder Lama) und sein Stellvertreter. Im hier genannten Lager wurden zwei Schüler der nationalpolitischen Erziehungsanstalt (Napola) zu Lagerführern ernannt, die in erster Linie an der militärischen Erziehung interessiert waren. Aufgrund zahlreicher Beschwerden wegen Schikane wurde die Lagerführung jedoch bald an einen Lehrer übertragen. Die mitgereisten Lehrer waren oft weniger parteipolitisch als die HJ-Führung der Lager und im Laufe der Zeit verringerte sich der Einfluss der HJ immer mehr.264 Der Tagesablauf in den KLV-Lagern wurde mithilfe eines Dienstplans genau festgelegt:

263 Zit. n. Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 339. 264 Vgl. Fischer: Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle..., S. 159; Nierhaus: Mülheim, S. 192.

84 07:15 Uhr: Aufstehen 07:45 Uhr: Kaffee 08:00 Uhr: Schulunterricht 13:05 Uhr: Mittagessen 13:30 Uhr: Bettruhe 14:00 Uhr: Aufmarsch 15:00 Uhr: Silentium 16:00 Uhr: Kaffee 16:15 Uhr: Silentium 18:30 Uhr: Abendessen 19:15 Uhr: Singstunde 20:30 Uhr: Zapfenstreich

Die strenge Ordnung des Lagerlebens wurde von vielen Schülern als notwendig angesehen und weniger als militärische Vorerziehung empfunden. Heinz Wilhelm Auberg, der seine KLV-Reise am 28. August 1943, zusammen mit 176 Schülern und 76 Schülerinnen antrat, beschreibt seine Erfahrungen im KLV-Lager Proßritz (ehem. Protektorat Böhmen und Mähren) als Internats-ähnlich, für ihn bot sich eine Möglichkeit, in idyllischer Landschaft die eigene Jugend unbeschwert genießen zu können.265 Die Freizeitgestaltung umfasste, u.a. Wanderungen und verschiedene Sportaktivitäten, es fanden Weihnachtsfeste statt und Elternbesuche, über die dann in der Zeitung berichtet wurde, um noch einmal den Nutzen dieser Maßnahme zu propagieren. Die ideologieorientierte Ausrichtung des Lagerlebens wurde von den Schülern oft nicht als solche empfunden, zeigte sich jedoch schon deutlich durch ein neues Notensystem auf den ausgestellten Schulzeugnissen: Verhalten in der Schule wurde ersetzt durch Führung und Haltung in der Lagergemeinschaft und mit Einsatzbereitschaft, kameradschaftliches Verhalten, Disziplin und Ordnung, kamen 4 vollkommen neue Noten hinzu, die Leibeserziehung rückte an die erste Stelle, Religion dagegen verschwand vom Zeugnis.266 Das Bild einer Idylle konnte besonders zum Ende des Krieges nicht mehr vollständig aufrechterhalten werden. Ab 1945 wurden die Mülheimer Schüler auch in ihren KLV-Gebieten immer öfter mit der Realität des Krieges konfrontiert. Durch angeordnete Lagerwechsel trafen die Schüler, u.a. auf Verwundetenzüge an den Bahnhöfen und erlebten auch Tieffliegerangriffe durch die Alliierten. Die Tatsache, dass der Luftkrieg nun auch in die KLV-Gebiete rückte, hatte auch Auswirkungen auf die Rückreise der Schüler. Teilweise wurde die Rückführung viel zu spät angeordnet, wodurch sie sehr überstürzt und unter erschwerten Bedingungen stattfand. Gernot

265 Vgl. Auberg: Kinderlandverschickung vor 50 Jahren, S. 590. 266 Vgl. ebd. S. 596ff.; Fischer: Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle...,S. 161f.

85 Knigge nennt seine Rückführung eher eine Flucht und beschreibt, wie die KLV-Leitung das Lager vorzeitig verlassen hatte, um sich selbst in Sicherheit zu bringen und die Lehrer und Schüler dabei völlig mittellos zurückließen. Heinz-Wilhelm Auberg erlebte das Kriegsende schließlich in Berchtesgaden. Der Weg zurück nach Mülheim war aufgrund der zerstörten Bahnwege unmöglich. Auberg beschreibt, wie sich einige Schüler schließlich per Anhalter oder auf dem Fahrrad auf den Weg machten. In Mülheim verständigten sie dann die Familien über den Verbleib der Schüler, woraufhin sich einige Väter auf den Weg machten und die Kinder von Berchtesgaden zurück nach Mülheim brachten.267

Neben diesen „geschlossenen“ KLV-Lagern der HJ organisierte auch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) Evakuierungsmaßnahmen für Kinder im Alter bis zu 10 Jahren, die innerhalb von Gast- und Pflegefamilien untergebracht wurden und die örtlichen Schulen besuchten. Kleinkinder wurden zusammen mit ihren Müttern im Rahmen der Mutter-Kind-Verschickung zu Familien aufs Land geschickt. Darüber hinaus hatten Eltern noch die Möglichkeit, ihre Kinder eigenständig zu Verwandten aufs Land zu bringen. All diese Maßnahmen zusammengefasst führten dazu, dass immerhin rund 2 Millionen Kinder aus den luftgefährdeten Gebieten, zumindest für einen gewissen Zeitraum, vor dem Luftkrieg in Sicherheit gebracht wurden.268 c) Mülheimer Flakhelfer Die Flak war eine personalintensive Waffe, diese Tatsache wurde bereits mehrfach erwähnt. Der Verlauf an den Fronten führte dazu, dass immer wieder gut ausgebildete Flaksoldaten aus dem Heimatgebiet an andere Fronten berufen wurden. Diese mussten dann wiederum an der Heimatflak ersetzt werden. Neben Kriegsgefangenen, Männern vom RAD und Freiwilligen, wurde bereits 1942 die Grundlage dafür geschaffen, Schüler für den Dienst an der Flak zu verpflichten. Ein Führerbefehl vom 20. September 1942 ordnete den Einsatz von Schülern der Jahrgänge 1927/28 als Luftwaffenhelfer (Lwh) an. Die erste Durchführungsverordnung zu diesem Befehl, entworfen vom Obdl Göring, sah die „völlige Loslösung der männlichen Jugend über 15 Jahre von der Schule und dem Elternhaus zum Einsatz bei der Flakartillerie auch außerhalb des Heimatortes“ und die „Dienstverpflichtung der weiblichen Jugend für die Luftwaffe“ vor. Diese Art der Durchführung stieß jedoch bei verschiedenen Reichsministerien auf Ablehnung, sodass Göring zu einer Überarbeitung gezwungen war und am 25. Januar 1943 die „Anordnung über den Kriegshilfsdienst der Deutschen Jugend in der Luftwaffe“ vorlegte. Darin hieß es nun, dass die Schüler nur dann

267 Vgl. Knigge: Das KLV-Ende, S. 208f. Und S. 214.; Auberg: Kinderlandverschickung vor 50 Jahren, S. 612. 268 Vgl. Kock: Der Führer sorgt für unsere kinder, S. 70; USSBS: Vol.II, Final Report C.D.D., S. 180.

86 eingezogen werden, „wenn Schul- und Einsatzort zusammenfielen“. Ausgenommen waren Internate und Klassen der Napola.269 Am 27. Juli 1943 wurde die Anordnung letztlich doch dahingehend geändert, dass Lwh auch außerhalb des Wohn- und Schulortes eingesetzt werden konnten. Der erste Appell Mülheimer Lwh fand am 08. Februar 1943 in der ehemaligen Knabenmittelschule an der Kaiserstraße statt.270 Die Jungen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren, wurden bei verschiedenen Flak-Einheiten in Dümpten, Saarn und Menden eingesetzt. Weitere Schüler der Langemarckschule (heute Otto-Pankok- Gymnasium) folgten wenige Tage später und im Juli folgten die Jahrgänge 1926/27. Einige Schüler der Langemarckschule wurden der 4. Batterie der Flakabteilung 394 in Oberhausen-Sterkrade zugeteilt. Zusammen mit der 5. Batterie bildeten sie eine Großbatterie zum Schutz der Ruhrchemie in Oberhausen-Holten, die Treibstoffe für das Militär herstellte. Die Lwh, für die sich bald der Begriff Flakhelfer durchsetzte, erhielten eine Grundausbildung von 4 bis 6 Wochen und traten anschließend ihren Dienst entweder in der Geschützstaffel, der Messstaffel oder der Kommandostaffel an. Neben der militärischen Grundausbildung wurden die Flakhelfer auch in Flugzeugkennung, Flak-Schießlehre, Waffenkunde und Ballistik unterrichtet. Der reguläre Schulunterricht wurde ebenfalls weiter fortgesetzt, dazu kamen die Lehrer zu den jeweiligen Flakstellungen der Schüler. Dadurch, dass der Dienst an der Flak jedoch Vorrang hatte, fiel der Schulunterricht bei Alarmen aus, was im Laufe des Krieges immer häufiger der Fall wurde. Ein typischer Tagesablauf der Flakhelfer sah folgendermaßen aus: „Wecken, Waschen, Frühstück, Morgenappell, Schulunterricht, Mittagessen, militärische Unterrichte, Waffen- und Gerätereinigen, Putz- und Flickstunde, am Wochenende Stubenreinigen. Bei Alarmen wurden die Geschütze und Geräte besetzt.“ An den Geschützen übernahmen die Flakhelfer als Kanoniere die verschiedensten Aufgaben, z.B. als K1 oder K2 die Höhen- oder Seitenausrichtung, als K3 das Laden oder auch als K6 das Einstellen des Zünders. Ausbildung und Aufgaben unterschieden sich somit nicht von denen der übrigen Soldaten; sie verrichteten ihren Dienst, egal ob am Messgerät (MG) oder am 12,8cm - Geschütz. Sie bekamen Wehrsold (0,50 RM am Tag) und erhielten Kriegsauszeichnungen. All das führte dazu, dass die Lwh sich auch wie reguläre Soldaten fühlten und auch als solche angesehen werden wollten. Dazu passte es natürlich nicht, dass sie zu ihrer Uniform die Armbinde der HJ tragen sollten, was viele dazu bewegte, dies bald nicht mehr zu tun.271 Gefallene Flakhelfer wurden zudem mit militärischen Ehren beerdigt, so wie der Mülheimer Günter Dreeskamp. Ein gefallener Flakhelfer eignete sich aber auch für die NS-Propaganda. Im Fall von Karl Lippe, der direkt von der KLV an die Flak beordert wurde, organisierte sein KLV-Lager eine

269 Vgl. Koch: Flak, S. 312ff. 270 Zu den folgenden Darstellungen vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 192-197. Nierhaus bezieht sich in seiner Darstellung, u.a. auf private Aufzeichnungen ehemaliger Mülheimer Schüler, die anderweitig nicht veröffentlicht wurden. 271 Vgl. Koch: Flak, S. 310f. und S. 314ff.

87 Trauerfeier. Die Nationalzeitung berichtete ausgiebig in gewohntem nationalsozialistischem Pathos bis hin zum Schlusswort: „Er ist der erste aus unserem Lager, vielleicht der erste aus der ganzen KLV Böhmens überhaupt, der zur Flak eilte und in der Stellung, wie das Gesetz es befahl, für Führer, Volk und Heimat sein noch so junges Leben opferte.“272

Die bereits erwähnte Flakstellung in Holten wurde im Februar 1945 für den Erdkampf vorbereitet, dazu mussten Schützengräben ausgehoben werden. Kurz darauf wurde die Flakdivision nach Grafenmühle verlegt. Da die schweren Flakgeschütze gegen die Masseneinflüge der alliierten Jagdbomber nicht eingesetzt werden konnten, verschoss man nach einem vorgegebenen Plan, die restliche Munition auf bestimmte Erdziele und sprengte anschließend die Geschütze selbst. Die Soldaten und Flakhelfer, darunter auch der Mülheimer Langemarck-Schüler Ernst-Gerd Fastrich, setzten sich Richtung Essen-Schönebeck ab und machten sich von dort auf den Weg nach Velbert. Fastrich erhielt kurz darauf noch einmal Heimaturlaub, und als er am 12. April wieder den Rückweg zu seiner Einheit antreten wollte waren die Amerikaner bereits bis nach Mülheim vorgerückt und für den Flakhelfer war der Krieg somit vorbei.273

272 Zit. n. StAMH Bestand 1430/17: Nationalzeitung vom 16.07.1944. 273 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 197.

88 VI. Schlussbetrachtung

1. Die Auswirkungen des Bombenkriegs auf die Stadt Mülheim an der Ruhr In der Zeit von 1940 bis 1945 verzeichnete die Stadt Mülheim insgesamt 160 Luftangriffe, in nur 6 Fällen wurde die Stadt als direktes Ziel benannt. Innerhalb dieser 160 Angriffe fielen 8016 Sprengbomben, 269.091 Magnesium- und Stabbrandbomben, 21.390 Phosphorbrandbomben, 810 Bomben verschiedenster Art sowie 397 Luftminen auf die Stadt. Durch die Bomben starben 1305 Menschen, von denen 1094 Opfer namentlich bekannt sind.274 Die Hauptzerstörungen lagen im Bereich der Innenstadt, genauer im Bereich der Altstadt und damit in reinen Wohngebieten, hier blieben nur 1176 von insgesamt 4648 Gebäuden unversehrt. Weiter waren die Stadtteile Styrum und Dümpten stark betroffen, die wenigsten Schäden verzeichneten Heißen und Speldorf. Insgesamt wurden in der ganzen Stadt 2968 Wohnhäuser total zerstört und 4528 beschädigt. 129 Geschäftslokale wurden zerstört, weitere 256 beschädigt. Die Zahl der zerstörten öffentlichen Gebäude betrug 17, die der beschädigten 27. Es wurden 15 Industrieanlagen zerstört und 17 weitere beschädigt. Die Gesamttrümmermenge umfasste 800.000m³ Schutt, von denen bis 1949 knapp die Hälfte geräumt war.275

Tabelle 12: Direkte Angriffe auf die Stadt Mülheim276

Datum Airforce Angriffsstärke Bombenlast (T) Tote Abschüsse Mülheim Alliierte 13. 05. 1942 RAF 3 Wellington 5 0 0 0 10./11. 05. 1943 RAF 2 Mosquito 2 0 0 0 22. 23. 06. 1943 RAF 242 Lancaster 1600 530 198 35 93 Stirling 55 Wellington 12 Mosquito 01./02. 11. 1944 RAF 4 Mosquito 6 0 0 0 24. 12. 1944 RAF 169 Bomber 760 200 10 3 (Halifax und Lancaster) 21. 03. 1945 USAAF 92 B-24 195 22 0 0

274 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 230. 275 Die hier genannten Schadenszahlen schließen Zerstörungen und Beschädigungen durch Artilleriefeuer mit ein.; Nierhaus: Mülheim, S. 226f. 276 Tabelle so zu finden bei Wiedeking: Kriegsalltag, S. 231 und 233.

89 Neben den Sachschäden und Verlusten von Wohnraum und Besitztümern, sowie allen Einschränkungen, wie Rationierung der Versorgungsgüter, hatte der Luftkrieg aber auch psychologische Auswirkungen auf die Menschen. Die Luftangriffe wurden fast von der gesamten deutschen Bevölkerung als das Schwerwiegendste am gesamten Krieg angesehen. Besonders negativ empfanden die Menschen dabei die Nachtangriffe. Inwieweit sich das auf die Stimmung der Menschen auswirkte, wurde bereits während des Krieges in den Stimmungsberichten des Sicherheitsdienstes (SD) der SS und nach Kriegsende von dem United States Strategic Bombing Survey (USSBS) erfasst. Der darin aufgezeigte Stimmungsverlauf spiegelt auch den der Mülheimer Bevölkerung wieder.277 Den ersten Bombardierungen begegneten die Menschen noch mit Neugier und einem, teilweise sogar scherzhaftem Umgang. Nicht selten verabschiedeten sich Menschen voneinander, indem sie sich „eine splitterfreie Nacht“ wünschten.278 Eine ernste Gefahr schien von den Bomben nicht auszugehen. Dennoch zeigten die Angriffe erste Auswirkungen auf die Verfassung der Bevölkerung, physisch und psychisch. Besonders die zunehmende Übermüdung, als Folge der nächtlichen Luftalarme, wurde zum Thema und langsam stieg auch das Gefühl von Unruhe und Nervosität. Allgemein wurde die Stimmung in der Bevölkerung dennoch als gut bezeichnet, ein Zusammenbrechen der Moral wurde nicht befürchtet.279 Häufiger war von Verärgerung die Rede, in Mülheim beschwerten sich die Menschen oft über die Flak, die bei jedem Einflug feindlicher Flugzeuge abgefeuert wurde. Besonders die später eingesetzten schweren 8,8-cm- und 10,5-cm- Geschütze wurden als störend empfunden. Neben der Lautstärke der Flak selbst gab es Beschwerden über zitternde Fensterscheiben und sogenannte Erdkrepierer. Dabei handelte es sich um Geschosse, die nicht in der Luft zündeten und stattdessen erst explodierten, wenn sie auf dem Boden aufschlugen.280 Gerade mit der Zerstörung von Lübeck und den 1000-Bomber-Angriffen, im Jahr 1942, entwickelte der Bombenkrieg eine Richtung, die den Menschen endgültig klar machte, dass ihnen eine reale Gefahr aus der Luft drohte und jede Stadt, zu jeder Zeit, bedroht war. Der Begriff „Terrorangriffe“ machte in manchen Regionen die Runde und langsam wandelte sich die Stimmung Richtung Angst, Unruhe, Besorgnis und Missstimmung.281 Inwieweit sich die Stimmung der Menschen veränderte, hing vor allem auch damit zusammen, in welcher Intensität die jeweiligen Gebiete den Bombenkrieg erlebten. Gerade im Westen Deutschlands, wo die Bombardierungen besonders häufig waren, wurden im Laufe der Zeit auch immer wieder Stimmen der Genugtuung laut, wenn

277 Bei den SD-Berichten ist nicht auszuschließen, dass sie zu Gunsten des Regimes „verschönert“ wurden. Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 294. 278 Vgl. Heinz Boberach [Hrsg.]: Meldungen aus dem Reich 1938-1945: Die geheimen Lagerberichte der SS, Bd. 5 (Im Folgenden: Meldungen aus dem Reich), S. 1339 (Nr. 102 vom 04.07.1940). 279 Vgl. ebd.; Blank: Heimatfront, S. 362. 280 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 203f. 281 Vgl. Meldungen aus dem Reich Bd. 10, S. 3882 (Nr. 295 vom 29.06.1942); Neumann: Leben in Mülheim, S. 56f.

90 Berlin das Ziel eines Bombenangriffs wurde. Nach Meinung der Menschen, saßen die Verantwortlichen in der Hauptstadt und in Anlehnung an Goebbels Rede zum „Totalen Krieg“, kursierte bald folgendes Gedicht unter der Bevölkerung: „Lieber Tommy, fliege weiter, wir sind alle Ruhrarbeiter, Fliege weiter nach Berlin, die haben alle „ja“ geschrieen [sic].“282

Der Eindruck stieg, dass Berlin den Westen aufgegeben hatte und besonders durch die „Battle of the Ruhr“, machte sich ein Gefühl der Ausweglosigkeit, Resignation und Ohnmacht breit. Der Ruf nach der längst versprochenen Vergeltung wurde immer lauter, deren Ausbleiben als Zeichen der eigenen Schwäche ausgelegt. Dadurch verloren die Menschen immer mehr den Glauben an einen möglichen Endsieg. Je länger der Krieg dauerte, desto stärker wurden sich die Menschen der eigenen Unterlegenheit bewusst. Mit jeder Verschärfung des Luftkrieges machte sich Fatalismus breit und die Menschen nahmen die Bombardierungen fast lethargisch hin.283 Die Menschen zeigten sich auch zunehmend unbeeindruckt von der betriebenen NS-Propaganda, dennoch wurde die Haltung des Volkes weiterhin als gut bezeichnet. Der Unterschied zwischen Stimmung und Haltung findet sich bereits frühzeitig in den SD-Berichten. Auch nach dem Großangriff auf Mülheim wird in einem Bericht des Kreisleiters an die Gauleitung in Essen berichtet, dass die Haltung größtenteils „gut und stur“ sei, gerade aber bei Frauen eine gesteigerte Nervosität und Ängstlichkeit in den Abend- und Nachtstunden zu erkennen sei.“284 Hinter der aufrechten Haltung der deutschen Bevölkerung verbarg sich vorrangig wohl der eigene Überlebenswille. Nach jedem Bombenangriff wurde der Versuch unternommen, wenigstens ein Mindestmaß an Alltag wiederherzustellen. Ein geregelter Arbeitstag gehörte dazu und daran scheiterte letztlich das britische Vorhaben, die deutsche Industrie durch den Zusammenbruch der Moral deutscher Arbeiter völlig zum Erliegen zu bringen. Laut Groehler waren die Menschen in ihrer Lethargie zudem viel zugänglicher für Vorschriften und Anordnungen und nahmen vieles hin, besonders wenn Strafen drohten, agierten die Menschen eher im Sinne des Regimes, was wiederum zu dessen Aufrechterhaltung beitrug.285 Auf der anderen Seite versuchte das NS-Regime, durch gezielte Propaganda, den Hass gegenüber den Kriegsgegnern zu schüren. Begriffe wie „Terrorflieger“, „Luftpiraten“ oder „Mordclique“

282 Vgl. USSBS Vol. IV: European Report No. 64B, S. 18; Zitat in: Meldungen aus dem Reich Bd. 13, S. 5217 (Nr. 381 vom 06.05.1943). 283 Vgl. Meldungen aus dem Reich, Bd. 13, S. 4923f. (Nr. 366 vom 11.03.1943), S. 5021 (Nr. 371 vom 29.03. 1943), S. 5187 (nr. 397 vom 29.04.1943), S. 5215 (nr. 381 vom 06.05.1943); USSBS Vol. IV:European Report No. 64B, S. 12 und S. 16. 284 Vgl. Meldungen aus dem Reich Bd. 14, S. 5426-5434 (vom 02.07.1943); Burgdorff/Habbe: Als Feuer vom Himmel fiel, S. 117; Blank: Heimatfront, S. 433, zit. n. Akten der NSDAP Bd. 2, Lagebericht vom 28.06.1943 zum Ablauf der Sofortmaßnahmen zur Behebung der Bombenschäden nach dem 23.06.1943. 285 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 294f.

91 tauchten immer wieder in der Presse auf.286 Doch auch das Regime war in seinem Vorhaben nicht erfolgreich. Gewalttaten, bis hin zu Lynchmorden gegenüber britischen Piloten sind zwar durchaus vorgekommen, für Mülheim ist dahingehend aber kein Fall bekannt und auch bei Kriegsende stießen die Alliierten bei ihren Einmärschen kaum auf Widerstand. Der USSBS hat in seinem Bericht dazu festgestellt, dass sich die Wut der Deutschen eher gegen das Nazi-Regime richtete und nicht gegen die Kriegsgegner. In ihrer Kriegsmüdigkeit ergaben sich die Menschen leicht den einmarschierenden Truppen.287

Die Problematik, dass die Produktion durch das Fernbleiben der Arbeiter ebenfalls litt, versuchte man in Mülheim gezielt entgegenzuwirken. Generell bekamen Arbeiter i.d.R. zwei Wochen frei, um sich, u.a. um Reparaturen ihrer Wohnungen oder Häuser zu kümmern. Notwendiges Material und Werkzeug bekamen die Arbeiter ebenfalls von der Arbeitsstelle bereitgestellt und bei Thyssen wurde zusätzlich ein kleiner Laden errichtet, in dem die Angestellten Gebrauchsgüter kaufen konnten.288 Hinter diesen Hilfsmaßnahmen verbarg sich ohne Frage auch ein gewisser Eigennutz. Durch die entgegengebrachte Unterstützung erhoffte man sich im Gegenzug die Loyalität der Arbeiter. In Mülheim schien dieses Konzept aufzugehen. Erst zum Kriegsende und mit dem Vormarsch der Alliierten brach auch langsam die Industrie in Mülheim zusammen. Während die Schäden durch die Bombardierungen, überwiegend geringfügig waren, erlitten die Industriestätten durch das Artilleriefeuer wirklich schwerwiegende Schäden und zusammen mit den zerstörten Verkehrswegen brach schließlich auch in Mülheim die Industrie zusammen.289

2. Fazit Während der Gesamtdauer der alliierten Bomberoffensive, vom 29./30. Oktober 1939 bis zum 25. April 1945, warfen Bomber Command, 8. und 15. USAAF zusammen 1,206,022 Tonnen Bomben auf Deutschland. Allein 72% der Gesamtmenge wurden erst nach dem 01. Juli 1944 abgeworfen, d.h. zu einem Zeitpunkt, als es eigentlich keine Zweifel an der deutschen Niederlage mehr gegeben haben dürfte. Auf Großstädte fielen ca. 24% der Gesamt-Bombenmenge, dabei wurden ca. 3,6 Mio. Häuser zerstört und ca. 7,5 Mio. Menschen obdachlos. Die Zahl der Luftkriegstoten wird mit 410.000 angegeben, dazu kommen Vermisstenzahlen, die ebenfalls in die Hunderttausende gehen. Die restliche Bombenlast verteilte sich folgendermaßen: Transportziele (32%), militärische Ziele,

286 Vgl. StAMH: MZ vom 30.04.1943 und vom 25.06.1943. 287 Vgl. USSBS Vol. IV: European Report No. 64B, S. 12; von Lang: Krieg der Bomber, S. 250; zur Thematik der Lynchmorde vgl. Blank: Heimatfront, S. 448ff.; Groehler: Bombenkrieg, S. 366ff.: zur Einnahme Mülheims durch die Amerikaner vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 261ff. 288 Vgl. USSBS Vol. II: European Report No. 31, S. 6ff.; Nierhaus: Mülheim, S. 134f. 289 Vgl. Horst A. Wessel: Als der Krieg zu Ende war – Mülheim und sein Röhrenwerk vor 40 Jahren. In: Zeitschrift des Geschichtsvereins Mülheim an der Ruhr, Heft 59, 1985, S. 7ff.

92 z.B. Flughäfen, Seewege, Marine-Ziele (30%), Gesamtindustrie (13,5%), Öl, Chemie, Gummi (9%), restliche Industrie, z.B. Kraftfahrzeuge, Waffenlager (2,5%) und Flugzeugfabriken (2%).290 Gemessen an diesen Zahlen, können die Auswirkungen des Luftkrieges auf die Stadt Mülheim tatsächlich als gering eingestuft werden. Auch wenn bei dem Großangriff vom Juni 1943, der Hauptangriffspunkt das Stadtzentrum war und die Altstadt große Schäden erlitt, so war der Verlust von Wohnraum im Bereich der gesamten Innenstadt nicht besonders hoch. Das lässt zum einen darauf schließen, dass viele Häuser bei dem Großangriff von vornherein nicht völlig zerstört wurden, und lässt sich zum anderen darauf zurückführen, dass es nach dem Angriff keine weiteren Flächenangriffe auf die Stadt gab. Der Wiederaufbau ab Juni 1943 konnte somit ohne größere Störungen erfolgen. Da der Flächenangriff als militärischer Weg zum Kriegsgewinn auch in Mülheim versagte, und der Zusammenbruch der Industrie vor allem auf die Zerstörung der Verkehrswege und der Treibstoffindustrie zurückzuführen ist, stellt sich natürlich die Frage nach dem Wert dieser Taktik bzw. nach ihrer moralischen Fragwürdigkeit, dennoch muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass sich die Stadt Mülheim für diese Diskussion nur bedingt eignet. Zwar erlebte die Stadt auch bis ins Jahr 1945 noch einige Angriffe, bei denen es auch Todesopfer gab, doch richteten sich diese direkten Angriffe in erster Linie gegen das Flughafengebiet und somit auf ein militärisches Ziel. Angriffe, im Sinne des „moral bombing“, blieben der Stadt Mülheim erspart. Anders als 39 anderen Großstädten, die noch im Februar 1945 das Ziel weiterer Flächenangriffe wurden.291 Darunter auch Dresden, dessen Zerstörung, nur drei Monate vor Deutschlands Kapitulation, praktisch zu einem Synonym für „moral bombing“ wurde. Trotz unterschiedlicher Auswirkungen der physischen Schäden kann der Bombenkrieg als „kollektive Erfahrung“292 betrachtet werden, denn in den Erzählungen der Bevölkerung, egal welcher Stadt, finden sich kaum Unterschiede in der Frage, wie die Menschen den Luftkrieg erlebt haben. Der Bombenkrieg ist somit ohne Frage eines der nachhaltigsten Erlebnisse, des Zweiten Weltkrieges und Überreste dieser Zeit, sind auch heute noch in vielen Städten, so auch in Mülheim, präsent: Markierungen an Häuserwänden, die auf öffentliche Schutzräume hinweisen, noch erhaltenen Bunker selbst, u.a. ein Spitzbunker auf dem Gelände der FWH, sowie Tiefbunker am Schloss Broich und am Marienplatz. Gegenwärtig wird der Bombenkrieg auch von Zeit zu Zeit durch Funde von Blindgängern, von denen es bundesweit noch immer eine große Anzahl gibt.293 Die bisher letzte Entschärfung eines solchen Blindgängers erlebte die Stadt Mülheim am 10. Februar 2015.

290 Vgl. USSBS Vol. I: European Report No. 2, S. 9 und S. 71; USSBS Vol. II: European Report No. 31, S. 3. 291 Vgl. Kurowski: Luftkrieg über Deutschland, S. 355. 292 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 377. 293 Vgl. Hötger: Mülheimer Unterwelt, S. 210; Genaue Zahlen zu noch verbliebenen Blindgängern gibt es nicht, Schätzungen bewegen sich im Bereich um 100,000 (Stand 2012).

93 Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Quellen

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94 2. Literatur

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3. Internetquellen www.raf.mod.uk (Letzter Zugriff am 18.01.2015)

96 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabelle 1: Britische Flugzeugproduktion 1939 S. 7 Tabelle 2: Flugzeugbestand des Bomber Command 1942 S. 20 Tabelle 3: Deutsche Rüstungszahlen 1941/42: Jäger vs. Bomber S. 30 Tabelle 4: Entstandene Flächenbrände als Folge des Luftangriffs vom 23. Juni 1943 S. 39 Tabelle 5: Aufschlüsselung der Anzahl von Trefferzentren und Todesopfern nach Strassen S. 46 Tabelle 6: Flakbestand Luftwaffenbefehlshaber Mitte: Januar 1943 - Januar 1944 S. 53 Tabelle 7: Monatliche Flakproduktion 1941 - Februar 1945 S. 54 Tabelle 8: Verluste des Bomber Command über Mülheimer Region S. 54 Tabelle 9: Vergleich monatliche Jäger- und Bomberproduktion 1941 – 1944: Bomber Command und Deutsche Luftwaffe S. 61 Tabelle 10: Summe der Luftalarme 1939 - 1945 S. 75 Tabelle 11: Aufschlüsselung der Luftalarme 1939 - 1945 S. 75 Tabelle 12: Direkte Angriffe auf die Stadt Mülheim S. 88

Abbildungen 1 und 2: Verteilung Trefferzentren und Todesopfer in den Stadtteilen nach dem Angriff vom 23. Juni 1943 S. 45

97 Abkürzungsverzeichnis

Abb. Abbildung App. Appendix ACAS Assistant Chief of the Air Staff ACAS (I) Assistant Chief of the Air Staff (Intelligence) ACAS (O) Assistant Cheif of the Air Staff (Operational) ACAS (T) Assistant Chief of the Air Staff (Technical) AKL Akute Luftgefahr AL Fliegeralarm AOC-in-C Air Officer Commanding-in-Chief AWPD Air Warfare Plans Division BBSU British Bombing Survey Unit BdM Bund deutscher Mädel bzw. beziehungsweise CAS Chief of the Air Staff cm Zentimeter COS Chief of Staff DCAS Deputy Chief of the Air JStaff Do Dornier Dunaja Dunkle Nachtjagd DWH Deutsches Wohnungshilfswerk ebd. ebenda FS Feuerschutz FuE Feuer- und Entgiftungs- Fw Focke-Wulf FWH Friedrich Wilhelms-Hütte g Gramm ggf. gegebenenfalls Hbf Hauptbahnhof HDP Hochdruckpumpe He Heinkel Henaja Helle Nachtjagd HJ Hitlerjugend Hrsg. Herausgeber ILA Interministerieller Luftkriegsschäden-Ausschuss JG Jagdgeschwader/Jagdgruppe Ju Junker K Kanoniere KLV (Erweiterte) Kinderlandverschickung km Kilometer km/h Kilometer pro Stunde Konaja Kombinierte Nachtjagd Lama/Lamafü Lagermannschaftsführer L Luftgefahr l Liter LS Luftschutz LS Abt. mot. Luftschutz Abteilung motorisiert Lwh Luftwaffenhelfer Lz Luftgefahr vorbei m Meter

98 Me Messerschmitt MG Messgerät MZ Mülheimer Zeitung Napola nationalpolitische Erziehungsanstalt NSLB Nationalsozialistischer Lehrerbund NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt ÖLW Öffentliche Luftwarnung OKW Oberkommando der Wehrmacht OT Organisation Todt PFF Pathfinder Force RAD Reichsarbeitsdienst RAF Royl Air Force RM Reichsmark RmfdbO Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete RdLuObdL Reichsministerium der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe RLB Reichsluftschutzbund S Seite SD Sicherheitsdienst SHAEF Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Forces SHD Sicherheits- und Hilfsdienst SS Schutzstaffel StAMH Stadtarchiv Mülheim t Tonne u.a. unter anderem USAAF United States Army Air Force USSAAF United States Strategic Army Air Force USSAF United States Strategic Air Force USSBS United States Strategic Bombing Survey u.U. unter Umständen VCAS Vice-Chief of the Air Staff vgl. vergleiche V-Waffen Vergeltungswaffen W.A. (Plan) Western Air (Plan) z.B. zum Beispiel zit. n. zitiert nach

99 Autorin

Pamela Henstra, geboren 1980 in Mülheim an der Ruhr; Magisterstudium der Geschichtswissenschaft und Germanistik, seit 2014 als freiberufliche Historikerin tätig und Gründerin des Geschichtsblogs www.allesgeschichte.de

Bei der vorliegenden Darstellung handelt es sich um eine überarbeitete Fassung ihrer Magisterarbeit.

100 ISBN: 978-1507745731

Pamela Henstra: Der Luftkrieg in Mülheim an der Ruhr Verlag: Pamela Henstra, Dr.- Türk-Str. 25, 45476 Mülheim/Ruhr 1. Auflage 2015 Printed in Germany by Amazon Distribution GmbH, Leipzig

© Pamela Henstra

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