Anna Amalia Herzogin von Sachsen--

Orte und Länder

Aufgewachsen am Braunschweig-Wolfenbüttler Hof, seit ihrer Vermählung mit Herzog Ernst August II. Constan- tin von Sachsen-Weimar-Eisenach im Jahr 1756 in Wei- mar ansässig.

Biografie

Als fünftes von dreizehn Kindern des Herzogs Carl I. und Philippine Charlotte, geb. Prinzessin von Preußen am 24. 10. 1739 in Wolfenbüttel geboren. Umfassende Ausbil- dung in allen geistes- und naturwissenschaftlichen Fä- chern, daneben besonders ambitionierte Unterweisung im Tanzen, Klavier-, Traversflöten-, Harfenspiel und in der Komposition. Nach ihrer Eheschließung mit Herzog Ernst August II. Constantin von Sachsen-Weimar-Eise- nach (1756) Übersiedelung nach Weimar. Nach dem Tod des Gatten 1758 vormundschaftliche Regentin und bis zur Regentschaftsübernahme ihres Sohnes Carl August (1775) Durchsetzung eines eigengeprägten Hofkonzepts Herzogin Anna Amalia von Georg Melchior Kraus (Öl auf („Weimarer Musenhof“). Sie setzte sich mit einer geziel- Leinwand), 1774 ten Personalpolitik, mit der sie Dichter wie Johann Carl August Musäus (ab 1763), ab 1772 Christoph Martin Wie- Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar- land zu den Erziehern ihrer Söhne machte, ab 1775 Jo- Eisenach hann Wolfgang Goethe und wenig später Johann Gottf- Geburtsname: Anna Amalia Prinzessin von ried Herder an sich band und Musiker wie Ernst Wil- Braunschweig-Wolfenbüttel helm Wolf, Carl Friedrich Freiherr von Seckendorff oder die Sängerin Corona Schröter in ein umfassendes Pro- * 24. Oktober 1739 in Wolfenbüttel, gramm integrierte, für Wissenschaft, Literatur, bildende † 10. April 1807 in Weimar, Kunst und Musik ein und hatte an allen Bereichen selbst aktiven Anteil. Ihr kompositorisches Œuvre umfasst Fürstin, Begründerin des Weimarer Musenhofs, Kammermusik und musikdramatische Werke (s.u.). Ihr Komponistin, Cembalo-, Flöten-, Gitarren- und Tod am 10.4.1807 war das Ende einer Ära. Harfenspielerin, Schriftstellerin Mehr zu Biografie

„Das ganze Welt Gebäude ist auf Ordnung und Harmo- Anna Amalia kam am 24. Oktober 1739 als fünftes von 13 nie gegründet gleich wie die natur.“(Anna Amalia: ‚Ge- Kindern im “Paradegemach” (Audienzsaal) des Wolfen- danken über die Musick’, Staatsarchiv Weimar, Hausar- bütteler Schlosses als Tochter Herzog Karl I. von Braun- chiv AX VIII [Anna Amalia], Nr. 129, Bl. 2). schweig und der kunstsinnigen Herzogin Philippine Profil Charlotte zur Welt und erlebte die letzte Blüte dieser Re- sidenzkultur. Die Familie verlegte 1753/1754 den Famili- Sie war eine aufgeklärte, kritisch auf Selbsterfahrung set- ensitz und die Verwaltung nach Braunschweig und bezog zende Fürstin, deren musikalische Fähigkeiten in allen das herzogliche Schloss am Bohlweg, den sogenannten Bereichen des Divertissements und der Repräsentatio “Grauen Hof”. Bis dahin wurden die Herzogskinder in maiestas (Oper, Theater, Kammermusik) zum Tragen ka- Wolfenbüttel unter der Aufsicht des späteren protestanti- men. Nach dem Tod ihres Gatten 1758 „Wittib, Obervor- schen Abtes Johann Friedrich Jerusalem (1709-1789) un- münderin und Regentin“; Beginn einer grundlegenden terwiesen. Er war vom Herzog zu seinem Berater in Bil- Reform, die sie im Sinne der Aufklärung mit gezielter dungsangelegenheiten gemacht worden und auf dessen Personalpolitik durchsetzte. Anregung geht u.a. die Gründung des Vorläufers der heu-

– 1 – Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach tigen Universität, des “Collegium Carolinum” (1745), zu- Sie aber jetzt nicht, dass ich Ihnen dieserwegen das rück. Recht gebe, Ihre Schwester Amélie ihr nachzusetzen. Sie Carl Friedrich Pockels verdanken wir die Zeichnung ei- müssen wissen, dass diese von ihrem 2en Jahre an mei- nes Bildes der Umgebung, in der die Prinzessin auf- ne heroine gewesen ist. Sie sollen auch Ihren caracter wuchs. In seiner 1809 erschienenen Biographie ihres Va- kennen. Sie hat die brillante Lebhaftigkeit nicht, aber ters erinnert er sich an den “liebenswürdigen jugendli- eben den soliden Verstand, die feine Empfindung, das chen Kreis” der fürstlichen Kinder, der sich “an den Hof- edele Hertz. Ich beschreibe Sie Ihnen nur, wie Sie jetzt festen zum Entzücken aller Anwesenden wie ein liebli- ist. Ihr Geist hat die Zeit nicht gehabt, sich schon völlig cher Blumengarten hervortrat”. (Carl Friedrich Pockels: zu entwickeln; sie fängt erst an in der grossen Welt zu er- Carl Wilhelm Ferdinand, Herzog zu Braunschweig und scheinen, und sie hat noch nicht Muth genug, wie sie ist, Lüneburg. Ein biographisches Gemälde dieses Fürsten, zu scheinen. Sie hat alles Feuer, ihren Sentiments das sc- Tübingen 1809). Zuvor hatte der englische Musikgelehr- hönste Leben zu geben. Aber sie verbirgt sie noch vor si- te Charles Burney im dritten Band seines 1773 in deut- ch selbst. Bey mehrer Muthe würde sie einen weit grös- scher Übersetzung edierten “Tagebuch seiner Musikali- sern eclat machen, doch weiss ich nicht, wo sie mehr bey schen Reisen” ausführlich über die schöngeistigen Inter- gewinnen würde.” (Zit. nach Gerhardt Frühsorge, S.62) essen am Braunschweig-Wolfenbütteler Hof berichtet: Auf diese Kindheit und Ausbildung im Schatten ihrer “Die Musik wird an wenig Orten mit glücklicherm Erfol- Schwester konnte sie in ihrer um 1772 niedergelegten au- ge kultivirt als in Braunschweig [...] und dazu haben der tobiografischen Skizze “Meine Gedanken” nur verletzt Gefallen des regierenden Herrn Herzogs Durchlaucht an und lakonisch zurückblicken: “Von Kindheit an - die sc- den Opern, und der feine Geschmack des Herrn Erbprin- hönste Frühlingszeit meiner Jahre - was ist das alles ge- zen ein Grosses beygetragen [...] das ganze Hochfürstli- wesen? Nichts als Aufopferung für andere [...]. Meine Er- che Braunschweigische Haus ist musikalisch”. (Hamburg ziehung zielte auf nichts weniger, als mich zu eine(r) Re- 1773, Faksimile- Neudruck 1959, S. 259). Der gere- gentin zu bilden. Sie war, wie alle Fürstenkinder erzogen gelte und disziplinierende Unterricht, den Anna Amalia werden. Diejenigen, die zu meiner Erziehung bestimmt seit ihrem dritten Lebensjahr bei mehreren Lehrern des waren, hatten noch selbst nöthig, gouverniret zu wer- Collegium Carolinum, den Gouvernanten, der Oberhof- den.” (Goethe- und Schiller- Archiv Weimar, aus dem meisterin und der Hofmeisterin genoss, bestand nicht Nachlass Johann Wolfgang Goethes, Signatur: GSA nur aus den Fächern, die sie auf ihr zukünftiges Fürstin- 36/VII, 18, erstmals kritisch ediert von Volker Wahl: nenamt vorbereiteten, sondern ebenso aus Instrumental- “Meine Gedanken”. Autobiographische Aufzeichnung unterricht und Zeichenstunden. der Herzogin Anna Amalia von Sachsen Weimar in: Wol- Über die Ausbildung von Prinzessinnen wissen wir bis- fenbütteler Beiträge Bd. 9, 1994, S. 99 ff.) lang nur wenig; bekannt ist jedoch, dass sie gewöhnlich Aus diesem offenen Dokument, das die 33jährige wohl auf einen anderen Lebensweg vorbereitet wurden als als eine Bilanz über 14 Witwen- und überaus harte Regie- Prinzen oder Erbprinzen, und dass die wissenschaftliche rungsjahre niederschrieb, eine Zeit, durch die selbst die Ausbildung sogar weit hinter der Unterweisung in die positiven Details ihrer Erziehung überschattet wurden, weiblichen Repräsentationspflichten zurückblieb. Wir erfahren wir weder, dass ihr Unterricht auf dem Clavi- müssen annehmen, dass Abt Jerusalems umsichtige Wis- chord, der Gitarre und der Harfe, wohl auch auf der Tra- sensvermittlung einstand für eine außergewöhnlich brei- versflöte erteilt, noch dass sie vom braunschweigischen te und liberale Erziehung im Sinne der aufgeklärten Päd- Hoforganisten Friedrich Gottlob Fleischer im Kontra- agogik, über die er ausführlich in jährlich verfassten Be- punkt unterwiesen wurde. Selbst die Beschäftigungen mi- richten an den Herzog Rechenschaft ablegte. (Dazu Gott- thin, die ihrem “feinen Gefühl” entsprochen haben muss- hardt Frühsorge: Der Abt Jerusalem als Erzieher und Be- ten, “welches ich von Natur bekommen habe”, und durch rater Anna Amalias, in: Wolfenbütteler Beiträge, Bd. 9, die sie die Grundlegung ihres späteren untrüglichen Wiesbaden 1994, S. 62ff.) Aus seiner Feder stammt auch künstlerischen Urteils erfuhr, scheinen gänzlich von ein “moralisches Tableau”, die Skizze einer Charakterisie- “Schmerz”, “Kummer” und “harter Unterdrückung” ver- rung der fürstlichen Kinder, 1754 verfasst für einen an- deckt gewesen zu sein, Gefühle, die sie zusammenfasst onym gebliebenen Grafen. Über Anna Amalia lesen wir mit dem Satz: “Nicht geliebt von meinen Eltern, immer darin im Anschluss an den enthusiastischen Bericht über zurückgesetzt, meinen Geschwistern in allen Stücken ihre ältere Schwester Sophie Karoline Marie: “Glauben nachgesetzt, nannte man mich nur den Ausschuß der Na-

– 2 – Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach tur”. rungen abwechselten. (Neue Aktenfunde des Oberhof- Auch ihre Vermählung mit dem um zwei Jahre älteren marschallamtes, mitgeteilt von Günter Scheel: Braun- Herzog Ernst August II. Constantin von Sachsen-Wei- schweig - Wolfenbüttel und Sachsen-Weimar in der zwei- mar-Eisenach im Jahr 1756 kommentierte sie nur kurz: ten Hälfte des 18. Jahrhunderts - Dynastische, politische “In meinem 16tn Jahre wurde ich aus denen harten Ban- und geistige Beziehungen, in: Wolfenbütteler Beiträge, den erlöset. Man verheirathete mich so wie gewöhniglich Bd. 9, Wiesbaden 1994, S. 1- 30. Protokolle des braun- man Fürstinen vermählt.” schweigischen Oberhofmarschallamtes: “Beschreibung Freilich war diese Eheschließung (nach dreiwöchigem Wie es bey Ankunft, Sejour und Abreise [...] gehalten Verlöbnis) das Ergebnis politisch- dynastischer Überle- worden A° 1771” im Niedersächsischen Staatsarchiv, Wol- gungen. Als eine glückliche Fügung muss Anna Amalia je- fenbüttel: 5 N 364, Bl. 30-42). doch empfunden haben, dass sie mit ihrem Ehegatten Die Geburt ihres zweiten Sohnes, Prinz Constantin, konn- die musikalischen- und Theaterinteressen teilte, die bei- te Herzog Ernst August II. Constantin nicht mehr erle- de nach ihrer Ankunft in Weimar am 24. März 1756 be- ben. Er starb am 28. Mai 1758. Bis zur Mündigkeitserklä- gannen, zu ihrem Markenzeichen zu machen, zunächst rung der Witwe Anna Amalia, die mühevoll erstrittene, mit der Erteilung der Spielkonzession an die Theophil durch “Ihro kayserliche Majestät” erteilte “venia aetatis” Doebbelinsche Theatergesellschaft mit Johann C. Stand- (Mündigkeit, verbunden mit der vormundschaftlichen fuß als Komponisten. In was für eine marode und finanzi- Regierungserlaubnis) über ihr kleines Herzogtum ver- ell heruntergewirtschaftete Stadt sie indessen versetzt ging ein Jahr. Aus Amalias autobiografischer Skizze er- war, das kam ihr erst langsam zum Bewusstsein. fahren wir, dass nach dem “ersten Sturm” ihre “Eitelkeit “[...] da ich nun aus meinen Feßeln befreit war, müßte und Eigenliebe erwachte [...]”, sie: “auf einmal das Gro- ich gewesen seyn wie ein junges Füllen, welches seine ße, was auf mich wartete“, sah und sie “schon Stolz ge- Freyheit bekomt; nichts weniger: ich fühlte mich viel- nug hatte, um sich “in der Welt hervorzuthun [...]” Je- mehr wie eine Person, die nach einer großen ausgestan- doch: “Meine Unvermögenheit krämte mich sehr”. Sie denen Kranckheit in ihrer Gef(n)esung sich noch kraftlos nutzte also diese Zeit, um die Aufgaben der Verwaltung, fühlet [...]”, so lesen wir in Anna Amalias autobiografi- wie auch der kultur- und bildungspolitischen Führung scher Skizze über ihren Beginn in Weimar. Von dieser nicht nur ihren Beratern, Verwaltern und Beamten zu Kraftlosigkeit befreite sie sich ein Jahr später, nach der überlassen, sondern “Tag und Nacht“ zu studieren, sich Geburt ihres ersten Sohnes, des Erbprinzen Carl August: selbst zu bilden und sich “zu den Geschäften tüchtig zu “Könnte ich Ihnen beschreiben das Gefühl, welches ich machen”. Am Tag ihrer Amtseinweisung (am 8. Septem- bekam, als ich Mutter wurde! Es war die erste und reins- ber 1759) ließ sie das ‘Geheime Consilium’ wissen, dass te Freude, die ich in meinem Leben hatte. Mir war, als sie “alles mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen wer ich auch von verschiedenen andern neuen Empfin- Ohren zu hören” wünsche, dass ihr “sämtliche einkom- dungen entbunden worden. Mein Herz wurde leichter, mende Schreiben, Berichte und Suppliken [...] jedesma- meine Ideen wurden klarer; ich bekam mehr Zutrauen len zur Eröffnung und ersten Einsicht zuzustellen sein“ zu mir selber.” und sie durch die Einsichtnahme in die “Kammer- und Dass wenig später “die größte Epoche ihres Lebens an- Kassenextrakten [...] rekapitulationsweise zu ersehen” fing”, sie nicht nur “zum zwytenmahl Mutter”, sondern wünsche, “was die Woche hindurch vorgekommen und auch “Wittib, Obervormünderin und Regentin” wurde, was darauf resolviert worden”. die ihre “Untüchtigkeit” beklagt, schildert Anna Amalia In engem brieflichen Kontakt zu ihrem Vater, verfolgte mit bedrückender Offenheit. Angesichts der Anforderun- sie eine von Beginn an selbstbewusste Personalpolitik. gen in ihrer eigenen Umgebung ist es also verständlich, Freilich verbat ihr äußerst angespanntes und schmales dass sie erst 15 Jahre später, im Mai und Juni des Jahres Budget namentlich während des Siebenjährigen Krieges 1771, mit einer stattlichen 40köpfigen Begleitung zu ei- jegliche Prachtentfaltung und verlangte, dass sie sich mit nem Besuch in ihre Heimatstadt Braunschweig zurück- bisweilen drastischen Sparmaßnahmen für die Reorgani- kehrte. Sie erlebte wieder, wie trotz des drohenden Ruins sation des Finanzwesens ihres ausgebluteten Herzog- und der längst nötig gewordenen Etatkürzungen (1770 tums einsetzen und neue Luxusgebote erlassen musste. hatte die Hofkapelle aufgelöst werden müssen), im Sch- Nicht nur hatte das die abermalige Verkleinerung ihrer loss Salzdahlum und in Braunschweig die Festtafeln mit Hofkapelle und die Entlassung des Capellmeisters (Jo- Ausflügen, Bällen und nicht weniger als 7 Opernauffüh- hann Ernst Bach) zur Folge, sogar ein einschränkendes

– 3 – Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach

Sabbatsmandat, eine Luxusverordnung, die “eine gemä- es Joseph Rückert 1799, zwar „seit mehreren Jahren un- ßigte Musik nebst denen zur Bewegung des Leibes und ter die merkwürdigsten und anziehendsten Städte Deut- unschuldiger Ergötzlichkeit dienenden Spielen in den schlands“ gehöre, “die Stadt selbst“ sich indessen „weder Gasthöfen” vorschrieb, wurde unter Strafandrohungen durch Größe noch durch den Geschmack aus, der es be- erlassen. Im Gegensatz zu den unwirtschaftlichen Prinzi- wohnt. Weimar erscheint in diesem Stücke wie seine Ge- pien der meisten damaligen Hofhaltungen, die ihre Sou- nie’s, die wenig auf das Äußere halten. Doch erblickt das veränität um jeden Preis, in jedem Falle aber auf Kosten Auge hier allenthalben Reinlichkeit und Ordnung;” (Jose- der Untertanen zur Schau stellten, erkannte sie also in ge- ph Rückert: Bemerkungen über Weimar, 1799. Neuausga- ordneten Haushaltsverhältnissen die wesentlichen mate- be Weimar o.J. (1969), S. 45.) Nicht nur den von außen riellen Voraussetzungen dafür, dass die damals etwa anreisenden Beobachtern, sondern auch den von Anna 6000 Einwohner zählende ländliche Residenzstadt zu ei- Amalia in ihren näheren Umkreis Berufenen war der ner ‘Polis’ besonderer Prägung werden konnte. Mangel an äußerer feudaler Repräsentation, durch den si- Bis zum Zeitpunkt der Regierungsübernahme ihres Soh- ch das Stadtbild von dem der tonangebenden Residenz- nes im Jahre 1775 war es gelungen, den Etat weitgehend städte unterschied, gewöhnungsbedürftig. Die Herzogin zu konsolidieren und wesentliche Schritte unternommen ließ sich, abgesehen von der bedrängenden Finanzlage, zu haben, beispielsweise zur Verbesserung des Bildungs- besonders nach dem Schlossbrand von 1774 von ökono- und Sozialsystems. Vor allem nach dem Frieden von Hu- mischen Vorstellungen leiten, die damals befremdlich ge- bertusburg im Jahr 1763 und dem damit besiegelten En- wesen sein mussten. Jeder Restaurierungsmaßnahme de des Siebenjährigen Krieges, war es der Herzogin dar- zog sie einen Aufenthalt im Schloss Belvedere und für ih- um gegangen, eine bürgernahe Politik zu betreiben, wo- re Stadtaufenthalte eine für damalige Verhältnisse un- zu die Reform des Schulwesens mit neuen Schulgesetzen spektakuläre Bleibe im Palais ihres ersten Ministers, des für das fürstliche Gymnasium nach Braunschweiger Mus- Geheimrats Jacob Friedrich Freiherr von Fritsch vor. Die- ter gehörte und die Reorganisation der Landesuniversi- ses Gebäude, das sie zu ihrem Wittumspalais umgestalte- tät in , der die Herzogin zu einem so notwendigen te, bildete den Abschluss der Esplanade und brachte die wie nachhaltigen Aufschwung verhalf. Die Erhöhung des Herzogin in die unmittelbare Nähe zu den damals rund jährlichen Bibliotheksetats, sogar die zwischen 1763 und 6000 Stadtbewohnern. Bei allem Pragmatismus, mit 1766 vollzogene Auslagerung der Buchbestände aus dem dem es in Amalias ersten Regentschaftsjahren gegolten Residenzschloss in das südlich des Schlosskomplexes ge- hatte, die schlimmste Armut abzuwenden, konnte sich ei- legene “Französische Schlößchen”, das ehemalige Gar- ne aktive geistig-moralische Opposition gegen die ander- ten-, spätere Zeughaus der herzoglichen Familie, um zur norts noch dominante soziale Hierarchisierung der Hof- allgemeinen Benutzung leichter verfügbar zu sein, war ei- Stadt-Welt entwickeln. Hier gelang es trotz der notwendi- ner jener Öffnungsversuche, dem später weitere folgen gen Beibehaltung ständestaatlich zeremonialer Grundst- sollten. Zu Erziehern ihrer Söhne hatte sie zunächst den rukturen und der Etiquette, an denen Anna Amalia als Schriftsteller und Volksmärchendichter Johann August absolutistische Regentin festhielt, bereitwilliger zu einer Musäus, ab 1772 berufen, mit allmählichen Vermischung der sozialen Schichten zu ge- denen sie Persönlichkeiten gewann, die sich nahezu rück- langen. Johann Wolfgang Goethe konnte 1807 in seinem haltlos auf Amalias Hofkonzept einließen, zu Hofpoeten Nekrolog „Zum feyerlichen Andenken der Durchlauch- wurden. Wieland wurde mit seinem von Anton Schweit- tigsten Fürstin und Frau Anna Amalia“ mit Recht feststel- zer in Musik gesetzten, im Auftrag der Herzogin realisier- len, dass dank ihrer Persönlichkeit “Ein ganz anderer ten deutschen „Mustersingspiel“ „Alceste“ (1773) zum Geist [...] über Hof und Stadt gekommen” war, da sie „si- Vordenker in der Debatte um die deutsche Oper. ch im Umgang geistreicher Personen“ gefiel und es ihr ge- Die städtebaulichen Sanierungen wurden so weit voran- lang, „Verhältnisse dieser Art anzuknüpfen, zu erhalten getrieben, dass die kleine Stadt zu einer offeneren Resi- und nützlich zu machen.“ (nach FA, Bd. 17, S. 421 ff.) Es denz wurde, in der nach wie vor jedoch der Ehrgeiz nicht war also kein Zufall, dass Weimar mit seinen Bildungsin- darauf gerichtet sein konnte oder sollte, sie in den Ruf ei- stitutionen und einem bürgernahen Hoftheater einer der ner besonders repräsentativen Sehenswürdigkeit zu brin- wichtigsten Orte für neue musikdramatische Genres wur- gen. de und dass hier Christian Felix Weißes und Johann Im Gegenteil: die zahlreichen Reiseberichte machen kei- Adam Hillers der Herzogin dediziertes Erfolgssingspiel nen Hehl aus der Tatsache, dass Weimar, so formuliert “Die Jagd” im Jahre 1770 uraufgeführt werden konnte

– 4 – Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach und Christoph Martin Wielands „Alceste“ (1773) in der lia in die aktuelle Programmgestaltung involviert war, Vertonung durch Anton Schweitzer von hier aus für Furo- geht aus ihren Notenwünschen hervor, die sie durch ih- re sorgte. ren Kapellmeister weiterleiten ließ. Wolf gibt etwa am Den Umgestaltungen kam es entgegen, dass die Herzo- 23. Februar 1774 an Breitkopf die Weisung: „Die Durchl. gin ihren Hof zu einem Zeitpunkt übernommen und zu Herzogin geben mir Ordre bei Ew. Hochedelgeboren mi- reorganisieren begonnen hatte, da sich unter der kriti- ch zu erkundigen, ob nicht Duetten auf die Flûte Traver- schen Anteilnahme einer neuen bürgerlichen Öffentlich- sière von Reinhardt [William Reinhard] bey Ihnen zu ha- keit vielerorts ein grundsätzlicher emanzipatorischer St- ben wären? Und wenn Ew. Hochedelgeb. davon besitzen rukturwandel zu vollziehen begann. Die Exklusivität des sollten, um 6 od. 12 geschrieben od. gedruckt zu bitten.“ höfischen Divertissements reduzierte sie auf ein Mini- Am 29. Dezember 1774 heißt es dann: „Die Frau Herzo- mum und an seine Stelle trat das selbsttätige, gelehrt dis- gin spielen die Flöte und wünschte gerne ein halb Dut- kursive Miteinander ihres kleinen Hofstaates unter Lei- zend Concerte von Hoffmann vor dieses Instrument zu tung und Teilnahme der an den Hof verpflichteten bür- besitzen [...] Etwas vom Londoner Bach würde gut tun; gerlichen Künstlerinnen und Künstler. Der notwendige die neuesten, in Kupfer gestochenen Clavierkonzerte von höfisch-aristokratische Repräsentationshabitus sollte ihm hab ich auch; Synfonieen von Eichner wünschte zu mit einer aktiven Kunstübung in diversen Zirkeln verbun- besitzen. [...] Ich überlasse es aber Ew. Hochedelgeb. den werden, an der alle Hofchargen aufgefordert waren, was Sie uns schicken wollen, und bitte soviel als möglich sich zu beteiligen. Das, was für Hofhaltungen dieser Grö- neue Sachen zu senden.“ ßenordnung als ein Teil vornehmlich der in den Privatge- Der verheerende Brand des Schlosses (1774) hatte eine mächern stattfindenden Unterhaltung keineswegs unge- empfindliche Zäsur für die Hofhaltung bedeutet. Das ge- wöhnlich war, wurde hier zum Prinzip. Es wurde vor al- samte höfische Leben hatte sich aus den repräsentativen lem in der berühmt gewordenen „Tafelrunde“ jener Räumen der Wilhelmsburg, in denen nicht nur die Hofka- “Geist der Geselligkeit” kultiviert, wie er seit der Frühauf- pelle, sondern auch die Seylersche Theatergesellschaft klärung gedacht worden war und in vielen bürgerlichen wirkten, in andere Räumlichkeiten in und um Weimar Lesezirkeln und Freundschaftsclubs bereits gepflegt wur- verlagert, Anna Amalia kaufte das bereits erwähnte Ba- de, Sozietäten, denen das “Gesellige Lied” ebenso wie der rockpalais ihres Ministers Friedrich Freiherr von Fritsch, gesellige Prosatext und das gemeinsame theatralische das sie zu ihrer Stadtresidenz machte. Und obwohl sie si- Spiel in besonderer Weise entsprachen. ch gezwungen sah, sich von der Theatertruppe zu tren- 1761 machte die Herzogin den 26jährigen angehenden nen und auch die Kapelle reduziert werden musste, wur- Gelehrten Ernst Wilhelm Wolf (1735-1792) aus Jena zu de dennoch alles unternommen, das Musik- und Theater- ihrem und ihrer Söhne Klaviermeister, den sie wenig spä- leben aufrecht zu erhalten. ter zum Konzertmeister, Hofkomponisten und zum Ka- Die Herzogin hatte sich in der Belétage ihres Wittumspa- pellmeister aufsteigen ließ. In seinen Händen lag die Or- lais ein kleines privates Musikzimmer eingerichtet und ganisation und Durchführung der regelmäßig stattfinden- stellte, bevor das Redoutenhaus als Gesellschaftsgebäu- den Hofkonzerte. Und dass er sich der außergewöhnli- de und neue Spielstätte fertiggestellt war, den Festsaal chen Konstellation, in der er sich bewegte, bewusst war, im 2. Stock für Konzerte, Bälle, Redouten und die Auffüh- davon zeugt seine Korrespondenz, die er mit dem Leipzi- rungen des neu gegründeten Liebhabertheaters zur Ver- ger Verleger Johann Gottlob Immanuel Breitkopf unter- fügung, das für viele Jahre alle Funktionen der früheren hielt. Am 28. März 1776 schreibt er: „Es lassen sich hier am Hofe engagierten Theatertruppen übernahm. Anna so viel Cometen sehen, dass man befürchten muss, es ge- Amalia schildert in einem Brief vom 2. August 1779 an Jo- he einmal über kurz oder lang ein ganzes Sonnensystem hann Heinrich Merck in Darmstadt, was sie von dem Mit- zu Grunde.“ (Wilhelm Hitzig: Beiträge zum Weimarer einander erwartete: “[...] Sie wissen, daß die Schloß Et- Konzert, in: Der Bär, Jahrbuch von Breitkopf & Härtel tersburgsche Nation nicht in dem besten Gerücht ist, auf das Jahr 1925, 1925, S. 88). und um sich kein Dementi zu geben, so fahren wir in un- Wolf hatte es besonders nach 1775 mit anspruchsvollen serm Lebensplan fort, nämlich daß alles, was hier auf Zuhörern zu tun; wiederholt begründet er die Bitte an den Berg kommt, eine Probe ausstehen muß. Die Gräfin Breitkopf, ihn mit den neuesten Musikalien zu versor- Bernsdorf hat die Probe des Theaters ausgestanden; Bo- gen, mit dem Satz: „Ich muss am hiesigen Hofe immer et- de die der dramatischen Dichtkunst; wovon ich Ihnen et- was Neues bringen u. spielen [...]“. Wie sehr Anna Ama- was schicke, nämlich die Prologe, Arien und die Affi-

– 5 – Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach chen; ich selbst habe mich produziert [...]” (nach Werner Zeitpunkt bereits hinter ihr, so dass sie sich in ihrem klei- Deetjen: Auf Höhen Ettersburgs, Fotomechanischer nen Witwenhofstaat nun ganz ihren Neigungen hingeben Nachdruck der 1924 in Leipzig erschienenen Ausgabe, S. konnte. In Abänderung der Goetheschen Gattungsbe- 41). Dass sie es also nicht nur im “bloßen unthätigen zeichnung „Schauspiel mit Gesang“ entstand eine als Wohlgefallen [...] bewenden (ließ)”, wie sich Johann „Oper“ bezeichnete Vertonung des in der ersten Fassung Adam Hiller in seiner Widmung seiner “Anweisung zum noch einaktigen Stückes, eine stattliche, von ihr in zwei musikalisch- zierlichen Gesange” ausdrückte: “sondern Aufzüge gegliederte 241seitige Partitur. Die Oper war selbst eine hohe Stufe der ausübenden Kunst erstiegen konzipiert für bestimmte, leider heute nur noch fragmen- hatte, und in ihre theoretischen Geheimnisse tief einged- tarisch rekonstruierbare Spielvoraussetzungen und lässt rungen” war, bedeutete keineswegs nur ein huldigendes erkennen, dass die Herzogin ein Werk schaffen wollte, Kompliment, wie er es damals einigen in den Künsten das mit den Mitteln ihres Liebhabertheaters das Muster ausgebildeten Fürstinnen hätte machen können. (Ged- der „Comédie“ verließ, um an Christoph Willibald Glucks ruckte Widmung Johann Adam Hillers in seiner “Anwei- Reformopern anzuknüpfen. Die Besetzung besteht aus sung zum musikalisch- zierlichen Gesange mit hinlängli- vier im Sopranschlüssel notierten Gesangssolisten, die chen Exempeln erläutert”, Leipzig 1780. Herzogin Anna begleitet werden von einem Streichquintett, das von bis- Amalia Bibliothek, Sign. M, 9:22). weilen obligat eingesetzten Flöten, Oboen, Hörnern und Der musikalisch- literarische (Theater)-Zirkel der Herzo- Fagott verstärkt wird. Ouverture, ein Umbau-Entreacte gin mit dem Maitre de Plaisir Carl Friedrich Freiherr von und Gesangsnummern, Da-Capo-Arien, Rondos, Ariosi, Seckendorff-Aberdar traf sich im sogenannten Tafelrun- eingängige Lieder, Szenen, Duette, Terzette, die den ge- denzimmer des Wittumspalais. Während der Sommer- sprochenen Dialogen folgen und das später eingefügte Fi- monate setzte sich das gesellige Leben in den Schlössern nalquartett verraten den Ehrgeiz, sich auf bemerkenswer- Ettersburg und ab 1781 auf dem Landgut Tiefurt fort, do- te Weise an dem damals als bürgerliche Alternative zur kumentiert in einem durch Amalia angeregten, handsch- höfischen Oper heftig diskutierten Genre zu beteiligen. riftlichen „Journal von Tiefurth“, in dem alle Aktivitäten (Partitur Stiftung Weimarer Klassik. Herzogin Anna literarisiert wurden (Freies Deutsches Hochstift, Frank- Amalia Bibliothek: Mus.II a: 98. Leicht gekürzter Klavier- furter Goethe-Museum: Hs.7161). Für diese Entwicklun- auszug mit ausführlichem Kommentar hg. von Max gen hatte sie mit ihren ausgeprägten künstlerischen Fä- Friedlaender, Leipzig 1921). higkeiten die Grundlagen und Möglichkeiten geschaffen An der Textvorlage mochte sie besonders gereizt haben, und es vermocht “als Regentin [...] schon zuweilen alle dass Goethe versucht hatte, den Rollenklischees der ge- Fürstlichkeit zu Hause (zu) lassen und einen Scherz” zu wöhnlich im Handwerkermilieu angesiedelten Hiller- lieben. (Karl August Böttiger am 12. November 1798, in: schen Singspiele die zeitkritisch reflektierende Profilie- Literarische Zustände, Berlin 1998, S. 43). rung der handelnden Personen entgegenzustellen, sie et- Es ist davon auszugehen, dass bei ihren regelmäßigen wa zu Fragen und Problemen der Mädchenerziehung Hofkonzerten auch ihre eigenen Werke erklangen, z.B. Stellung beziehen zu lassen, bevor die eigentliche Hand- ihr „Concerto“ für 12 Instrumente und obligates Cemba- lung exponiert wird. lo in G oder das „Divertimento“ für Fortepiano, Klarinet- „Erwin und Elmire“ wurde am 24. Mai 1776 im Redouten- te, Viola und Violoncello, in denen sie sich am aktuellen haus an der Esplanade, das über viele Jahre der Haupt- Klangbild und Kompositionsstil zwischen Empfindsam- veranstaltungsort blieb, aufgeführt und erlebte bis 1778 keit und Klassik orientierte. Diese Werke waren die Refle- als Teil eines großen Gesamtrepertoires der Liebhaberge- xe auf eine bemerkenswerte Programmdisposition ihrer sellschaft mindestens 8 Wiederholungen. „2 Tage das Hofkonzerte, in denen Kompositionen aus Neapel, Wien Theater zurechte gemacht einen Tag zur hauptprobe und oder London zu Gehör gebracht wurden und man bereits einen Tag zur Comoedi als den 23ten und 24ten May“, so ein offenes Ohr für das Werk Christoph Willibald Glucks kann man in der Rechnungslegung des Theatermeisters hatte, der an vielen Höfen zu diesem Zeitpunkt noch un- Johann Martin Mieding lesen und als Mitwirkende sind beachtet blieb. Heinrich Seidler als Erwin, die Hofsängerinnen Friederi- Gleich nach der Ankunft Goethes, im November 1775, be- ke Steinhardt als Elmire und Caroline Wolf als Olympia gann Anna Amalia, sein Singspiellibretto: „Erwin und El- ermittelbar. Jacob Michael Reinhold Lenz, damals als en- mire“ zu vertonen. thusiasmierter Stürmer und Dränger am Amalischen Die Amtsgeschäfte lagen für die 36Jährige zu diesem Hof, ließ im Wielandschen „Teutschen Merkur“ 1776 so-

– 6 – Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach gar eine Lobeshymne: „Auf die Musik zu Erwin und Elmi- theilen könntest.“ (Christoph Martin Wieland an Hein- re, von Ihrer Durchlaucht, der verwittibten Herzogin zu rich Merck im Oktober 1778, zit. nach Werner Deetjen: Weimar und Eisenach gesetzt“ drucken und schwärmte: Auf Höhen Ettersburgs, Nachdruck der Ausgabe Leipzig „Ja, ja, Durchlauchtigste, Du zauberst uns Elmiren/ In je- 1924, Weimar 1993, S. 27.) de wilde Wüstenei;/ Und kann der Dichter uns in sel’ger Mit diesen Sätzen hatte Wieland seinen Darmstädter Raserei/ Bis an des Todes Schwelle führen:/ So führst Freund Heinrich Merck von den Vorbereitungen zur Auf- Du uns von da noch seliger und lieber/ Bis nach Elysium führung des „Jahrmarktsfests“ unterrichtet. Die Posse, hinüber.“ (J. M. R. Lenz, WS I, S. 103) in der Figuren und Themen des Jahrmarktstreibens, des Aus der Korrespondenz Ernst Wilhelm Wolfs mit Breit- Esther- und des Schattenspiels anspruchsvoll, aber bur- kopf erfahren wir, dass an der Disposition der Oper im- lesk nach Art des barocken Bilderbogens erzählt werden, mer wieder gearbeitet wurde. Am 27. Februar 1777 heißt gehörte zu den Höhepunkten der Sommervergnügungen es: „[...] Erwin und Elmire hat Herr Goethe sehr verschö- in diesem Jahr. Das Stück, so lesen wir bei Luise von nert. Er lässt die Mutter mit dem Bernardo zu erst auftre- Göchhausen in einem Brief vom 25. Oktober 1778 an Goe- ten, u. sie miteinander wegen des Zustands der Elmire thes Mutter, war als „Nachspiel“: „[...] auf den hiesigen besprechen, und am Ende lässt er selbige, wie gerufen, neuerbauten Ettersburgschen Theater [...] zu grosen gau- wieder herzu kommen. Daher sind noch 3 Arietten, und dium aller vornehmen und geringen Zuschauer, hier auf- am Ende ein Quartett entstanden. Mademoiselle Schrö- geführt“ worden. „[...] Das Bänckelsänger Gemählde, ter als Elmire, thut Wunder, meine Frau [Caroline geb. weil es von Kennern und Nichtkennern für ein rares und Benda] als Olympia ist auch nicht auf den Kopf gefallen. treffliches Stück Arbeit gehalten wird und Sie als eine Bernardo macht Herr [Johann Adam] Aulhorn, Erwin Kunstkennerin und Liebhaberin dergleichen Dinge be- Herr [Heinrich] Seidler; beide leidlich. [...]“ rühmt sind, wird Ihnen in einer Copie, ins Kleine ge- Ab dem Frühjahr 1776 hatte die Herzogin das nordwestli- bracht, nebst der Romantze auch zu geschickt. D. Wolf ch von Weimar gelegene Schloss am Ettersberg zu ihrer (Goethe) spielte alle seine Rollen über allemasen trefflich Sommerwohnung gemacht, um im Kreise ihres Hofstaa- und gut, hatte sich Sorge getragen sich mächtiglich, be- tes, einiger Gäste und ihrer Vertrauten ein vielseitig akti- sonders als Marcktschreyer herraus zu putzen.“ Es bot si- ves Leben „in Freiheit und Natur“ zu beginnen. Es sollte ch ein aufwendiges, figurenreiches Spiel im Spiel, das ge- ein Leben gegen den stumpfen Ernst der Hofgesellschaft eignet war für eine derb- komische Pasticciovertonung sein, daher ließ sie die steifen Gartenanlagen ummodeln, mit kleiner Instrumentalbesetzung. Sie entstand in der aufforsten, Waldnischen, ein Naturtheater anlegen und Zusammenarbeit der Herzogin mit ihrem Kammerherrn ein stattliches Theater im Schloss bauen. In schönen Siegmund Freiherr von Seckendorff mit Couplets und an- Sommernächten wurde die Umgebung illuminiert und spielungsreichen Liedern aller Stände und Klassen, so Feuerwerke gezündet. Selbst die Proben für die Darbie- dass wir die Herzogin einmal mehr als eine unkonventio- tungen schlossen häufig mit einem Ball oder einem aus- nelle Komponistin kennenlernen, die sich ohne Scheu gedehnten Souper ab. Im Theater des Schlosses ging am oder Berührungsängste auf Sujets einzulassen verstand, 20. (24.) Oktober 1778 das von Goethe zu einer Operette die die höfischen Traditionen entschieden hinter sich lie- umgearbeitete Knittelversdrama: „Das Jahrmarktsfest zu ßen und neues Terrain erschlossen. Plundersweilern“ in Szene, die zweite musikdramatische Mit diesen Aktivitäten gelang es, die literarische Domi- Arbeit Anna Amalias. „Kranz, als Orchestermeister, und nanz aufzubrechen und das Hoftheater zum Träger von Kraus als Decorateur haben seit 14 Tagen alle Hände voll Theaterexperimenten zu machen. Die Hofredouten wur- zu thun und sind fast immer zu Ettersburg. Göthe den von Goethe zu Konzeptionen aufwendiger Maskenzü- kommt dann und wann, darnach zu sehen und das Werk ge umfunktioniert und die Hoffestlichkeiten gerieten zu in Gang zu bringen, und die Herzogin lebt und webt und Foren neuer Opernkonzepte. Auch die Neuformulierung ist in dem Allen von ganzer Seele, von ganzem Gemüth der Liedästhetik ist beredtes Zeugnisse für die Gegen- und von allen Kräften. Ich darf nichts davon sehen, bis al- wart der Herzogin, die tätig in alle künstlerischen und or- les fertig ist; das ist bei dergleichen Anlässen immer ein ganisatorischen Belange eingriff. Immer war sie dabei eigner Spaß, den sie sich macht, und wozu ich mich, wie auf die eigene Urteilsbegründung bedacht. Eindrucksvol- Du denken kannst, de la meilleure grace du monde preti- le Einblicke in ihre musikästhetischen Rückversicherun- re. Der halbe Hof und ein guter Theil der Stadt spielt gen gewähren etwa ihre „musikalischen Aufzeichnun- mit. Ich gäbe Geld darum, wenn Du den Spaß mit uns gen“, die als undatierte Schriften im Thüringischen

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Hauptstaatsarchiv aufbewahrt werden. (Hausarchiv A skizzen, aufgeschlagene Bücher oder die von ihr gespiel- XVIII, 150 c. Vgl. auch: Wolfenbütteler Beiträge Bd. 9, te Traversflöte, die Georg Melchior Kraus, seit 1774 der Wiesbaden 1994, S. 130ff.) Es sind Traktatfragmente zur unermüdliche Schilderer des Weimarer Hoflebens, auf theoretischen Grundlegung der Musik und ein 17seitiger seinem Porträt (1774) ins Bild setzte (Abbildung siehe Essay: „Gedanken über die Musick“, der die zu diesem Materialsammlung), werden zu Insignien ihres Verständ- Zeitpunkt in der Tafelrunde stark diskutierten Phänome- nisses von einer aufgeklärten Herrscherin. ne der anthropologisch begründeten Wirkungsästhetik Das geschieht besonders eindrucksvoll auf jenem Konter- thematisiert, die zum gleichen Zeitpunkt auch Herder, fei, das um 1769 von dem hannoverschen Hofmaler Jo- Wieland und Goethe zu philosophischen Exkursen veran- hann Georg Ziesenis für Zwecke der vielfachen Replizie- lasst hat. Die Tonkunst, so schreibt sie, habe „Gesetze“, rung und Weiterverbreitung (etwa durch den weimari- die so „Einfach“ seien, „Daß sie unmittelbar und ohne ih- schen Hofmaler Johann Ernst Heinsius) angefertigt wor- ren zweck zu verfehlen auf die Seele wirken kan. [...] je- den ist (Abbildung siehe oben und siehe Materialsamm- der Mensch liebt sie weil Harmonie u Rhythmus in sei- lung). Das rechts an einer drapierten Säule sichtbar wer- ner natur liegt allein dieses schränkt sich auf ein dump- dende Wappenschild macht deutlich, dass das Bild offizi- fes Gefühl ein oder vielmehr auf den blossen instinct oh- ellen Charakter haben sollte, für die Rolle, die die Musik ne zu wissen worinne die wahre schönheit dieser Erhabe- in ihrer Umgebung einnahm, ließ sie ein kostbares zwei- nen kunst bestehe.“ Sie führt diese Unmittelbarkeit der manualiges Cembalo ins Bild setzen mit aufgelegten No- Wirkung der Musik auf die menschliche Psyche darauf ten, während das Buch in ihrer Hand eine Metapher für zurück, dass die „TonKunst [...] ihren Ursprung und ihre ihre literarisch gelehrten Interessen ist. Gesetze von der Natur“ erhalte, denn: „Das ganze Welt Anna Amalia starb am 10. April 1807. Gebäude ist auf Ordnung und Harmonie gegründet Rezeption gleich wie die natur [...].“ Und da diesen Gesetzen auch eine „Moralität“ eignet, fordert sie, dass man die „Sin- Als Herzogin Anna Amalia am 10. April 1807 starb, war nen, welche den Genuß des lebens veredeln“ schult und sie bereits zu einer Legende geworden. Wieland sah mit ausbildet. „Es were aber noch weit rühmlicher daß man ihrem Tod das Ende einer Ära gekommen. In einem zur ausbildung solcher (musikalischen) Talente zu erst Brief an Johann von Müller vom 24. August 1807 fasst er gute Schulen anlegte“. Wenn es ihr auch nicht gelang, seine Gefühle in den Satz: „Auch das kleine Bethlehem ein solches Institut in Weimar zu etablieren, sie sich dar- Weimar hat in der Geschichte des achtzehnten Jahrhun- auf beschränken musste, begabte Anwärter in den Unter- derts seinen Tag gehabt; aber die Sonne, die ihm vor vier- richt bei ihren Hofvocalisten zu schicken, so zeigt dieser zig Jahren aufging, ist im Jahr 1807 untergegangen, und Traktat jedoch einmal mehr, wie sehr sie darauf bedacht die Nacht bricht herein, ohne einen neuen Tag zu versp- war, gerade die Musik zu einem entscheidenden Movens rechen.“ (Zit. nach Supplement zu Müllers sämmtlichen im menschlichen Zusammenleben zu machen. Das moch- Werken, hg. von Mauer-Constant, Bd. IV, Schaffhausen te auch Herder gemeint haben, wenn er nach der Lektüre 1840, S.195-198). Damit setzte die Verklärung ihres „Mu- des Traktattextes der Herzogin mit den Worten dankt: senhofes“ ein, die einen ersten Höhepunkt zu ihrem 10. „Warum wurden Ew. Durchlaucht nicht Kaiserin in Wi- Todestag erlebte mit Gedenktexten und Almanachdru- en? Da wäre etwas geworden. Wohlan denn! In un‘ altra cken wie etwa dem „Frauenzimmer Almanach zum Nut- stella. Die Harmonie umfasst Alles; Die Melodie tönt zen und Vergnügen für das Jahr 1817“ (Leipzig 1816, fort; in ihrer unendlichen Kette läßt sie nichts sinken.“ FDH, Goethe-Museum ), in dessen Mittelpunkt Wie sehr ihr daran lag, ihre literarisch-künstlerischen die Lebensbeschreibung und Glorifizierung der „selbst Ambitionen auch dort nicht zu verbergen, wo man ge- geistvollen und kunstliebenden Fürstin“ stand. 1821 wur- wöhnlich fürstliche Repräsentation erwartete, zeigen die de sie als einzige Frau im ersten Band der 13bändigen in meisten der in ihrem Auftrag angefertigten Porträts. Sie erschienenen Ausgabe: „Deutscher Ehren-Tem- folgen selten dem Klischee repräsentativer Herrscherpor- pel“ (Hg. Wilhelm Henning) als „kunstliebende“ Herzo- träts, auf denen die Amtsinsignien, Wappen, herrschaftli- gin gewürdigt. Ihre Vertonung von Goethes „Erwin und che Architektur und Pose nicht fehlen durften, sondern Elmire“ wurde zur „Säkularfeier der Ankunft Goethes in zeigen eine selbstbewusste Dame, die Musik und Litera- Weimar“ am 6. November 1875 im Großherzoglichen tur zu dominierenden Bildattributen erhob. Tasteninstru- Hof-Theater Weimar mit dem Vermerk: „zum ersten Ma- mente, Notenblätter, von ihr begonnene Kompositions- le“ öffentlich aufgeführt. Der Theaterzettel weist das

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Stück, das nach dem Trauerspiel „Clavigo“ erklang, als Quellen „Schauspiel mit Gesang“. Eine bemerkenswerte spätere Annäherung war die von Max Friedlaender 1921 in Leip- Literatur zig vorgelegte, mit einem ausführlichen Kommentar ver- sehene Prachtausgabe des Klavierauszugs dieser Oper, Wilhelm Bode. Amalie, Herzogin von Weimar. 3 Bde. die der Auftakt zu einigen Wiederaufführungen war. Zu Berlin 1908. ihrem musikalischen Oeuvre gibt es nur wenige Darstel- lungen, die den oben skizzierten Kontext, in dem sich ih- Ders. Der weimarische Musenhof. Berlin 1918. re Kompositionen bewegten, hinreichend ausloten und si- ch vom Vorurteil der komponierenden Fürstin als aristo- Heide Hollmer. Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eise- kratischer Liebhaberin lösten. nach. Briefe über Italien. Nach den Handschriften mit ei- nem Nachwort herausgegeben, St. Ingbert 1999. Werkverzeichnis

Kompositionen Richard Münnich. „Aus der Musiksammlung der Weima- rer Landesbibliothek, besonders dem Nachlass der Anna Sinfonia in G-Dur für 2 Ob., 2 Fl., 2V., Va. und B.c. Amalia“. In: Festschrift zur Feier des 250 jährigen Beste- (1765), D-WRtl. hens der Bibliothek. Jena 1941.

Sinfonia D-Dur, D- WIE. Wulf Otte. Herzogin Anna Amalia – Braunschweig und Weimar, Stationen eines Frauenlebens. Ausstellungskata- Erwin und Elmire (J. W. Goethe), Oper in 2 Akten (1776) log. Braunschweig 1995. D- Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Mus II a: 98; Klavierauszug M. Friedlaender, Leipzig 1921; Text- Gabriele Busch-Salmen, Walter Salmen, Christoph Mi- buch: Arien und Gesänge aus der Operette Erwin und El- chel. Der Weimarer Musenhof. Stuttgart 1998 (dort aus- mire (von Goethe), Weimar 1776, D-Weimar, Herzogin führliche Bibliografie). Anna Amalia Bibliothek, Goe546. Gabriele Busch-Salmen. ’Das ganze Welt Gebäude ist auf Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern (J. W.Goethe) Ordnung und Harmonie gegründet’ – Bemerkungen zum 1778, D-Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Mus Musikverständnis Herzogin Anna Amalias“. 2 Teile. In: II b: 53; Daraus: Bänkelsängerlied in: Max Herrmann: VivaVoce 50 (1999), S. 4-7 und VivaVoce 51 (2000), S. Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. Entstehungs- und 11-18. Bühnengeschichte, Berlin 1900. Dies.: ’Höchst Dieselben sind selbsten die größten Kenne- Allegro D-Dur für Kl.; CH-Zz. rinnen der Musik’: Komponierende Fürstinnen. In: Frau- en in der Musikgeschichte. Dokumentation der Ringvor- Divertimento per il Piano-forte, Clarinetto, Viola e Vio- lesung Sommersemester 2001. Susanne Rode-Breymann loncello, B-Dur, D-WRgs, WRtl, GB-Lbl, Erstdruck Ama- (Hg.). Hochschule für Musik Köln. S. 23-39. deus BP 769, 1992. Gabriele Busch-Salmen, Benedikt Jeßing (Hg.). Goethe Sonatina G-Dur für Cemb. und Orch., D- WIR. Herzogin Handbuch. Bd. 5. Spieltexte, Libretti, Dramen mit Mu- Anna Amalia Bibliothek: Mus. IV f:1 (siehe Autograph). sik. Stuttgart vorauss. Frühjahr 2005.

Die Zigeuner (nach K. S. von Einsiedel: Adolar und Hila- Einspielungen ria), Walddrama für 4 Singst., Orch. Und Bc., D-WRI. Aus Erwin und Elmire: „Auf dem Lande und in der Schriften Stadt“, „Sie scheinen zu spielen“. Frühe Goethe-Lieder. Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton, Jörg Demus, Ham- Musikalische Aufzeichnungen; Gedanken über die Musi- merflügel. Archiv Produktion 2533149. ck, 1799,D- WIR: HA-A XVIII, Nr.129.

– 9 – Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach

dass. In: Vocalrecitals. Dietrich Fischer-Dieskau singt Goethe Lieder, Karl Engel. Orfeo (über JPC).

Konzert für 12 Instrumente und Cembalo obligato; Diver- timento für Klavier und Streicher. Komponistinnen. Ro- sario Marciano, Klavier, Wiener Kammerorchester, Kurt Rapf. EMI-Electrola Köln (1981) FSM 53042.

Divertimento für Klarinette, Viola, Violoncello und Kla- vier. Musik im Hause Goethe. Wiedererweckte Lieder, Chöre und Kammermusik zum 250. Geburtstag. Cappel- la Musikverlag Gera.

Forschung

Zum Quellenbestand: Ihr musikalischer Nachlass liegt in mehreren Forschungsbibliotheken, vor allem in der Her- zogin Anna Amalia Bibliothek Weimar und im Thüringi- schen Hauptstaatsarchiv, auch im Goethe-Museum Düs- seldorf und im Freien Deutschen Hochstift Goethe Muse- um Frankfurt.

Normdaten

Virtual International Authority File (VIAF): http://viaf.org/viaf/45095933 Deutsche Nationalbibliothek (GND): http://d-nb.info/gnd/118649485 Library of Congress (LCCN): http://lccn.loc.gov/n88655384

Autor/innen

Gabriele Busch-Salmen, Die Grundseite wurde im Mai 2004 verfasst.

Bearbeitungsstand

Redaktion: Sophie Fetthauer Zuerst eingegeben am 26.05.2004 Zuletzt bearbeitet am 24.04.2018

mugi.hfmt-hamburg.de Forschungsprojekt an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg Projektleitung: Prof. Dr. Beatrix Borchard Harvestehuder Weg 12 D – 20148 Hamburg

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