www.magazin-mitbestimmung.de | Nr. 4 | August 2017 August 2017

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Postvertriebsstück D 8507 Nr. 4

Entgelt bezahlt | Das Magazin der Hans-Böckler-Stiftung mmung i t s tbe Mi t nf uku Z r de

t i e b r : A a m e h t WSI-Herbstforum 2017 l te i t 29. und 30. November 2017, Berlin

Soziale Rechte in Europa Zukunft denken Was hat die Kommission „Arbeit der Zukunft“ gebracht? Ausbauen, stärken und durchsetzen Interview mit Reiner Hoffmann und Kerstin Jürgens

Wie können und müssen heute soziale Rechte definiert werden? Wo fehlen sie? Wo gibt es Durchsetzungsdefizite? Wie ist der Vorstoß der EU-Kommission zu einer Säule sozialer Rechte zu beurteilen?

Das wollen wir mit Ihnen diskutieren am Beispiel sozialer Rechte von Solo-Selbstständigen, des Rechts erlag -V

auf angemessene Löhne, der Durchsetzung von Mitbestimmungsrechten in Wertschöpfungsketten sowie nd im Kontext von Grundsicherung und Grundeinkommen. Bu

Teilnehmer Eingeladen sind Wissenschaftler/-innen, Vertreter/-innen aus Verbänden und Betrieben, Flagge zeigen Angriff abgewehrt Politik und Praxis ahrgang Die Kandidaten: Gewerkschafter, EuGH-Urteil: Die deutsche Mitbestimmung 63. J

€ Programm und Anmeldung unter: www.wsi-herbstforum.de die in den wollen passt zu Europa und seinem Recht

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Betriebsrat PLUS Mit Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG! Dieser wichtige Standardkommentar steht Ihnen hier auch online zur Verfügung – übersichtlich aufbereitet und zum günstigen Preis. Dazu vieles, was die Arbeit im Betriebsrat erleichtert: zahlreiche konkrete Arbeitshilfen, Mustertexte und Checklisten für die Betriebsratspraxis, Berechnungsprogramme, Tarif- verträge und zitierte Rechtsprechung. Damit macht sich dieses umfassende Informationspaket schnell für Sie bezahlt. Starke Stimme für faire Arbeit schon ab € 14,–/Monat (zzgl. MwSt., 6-Monats-Abo) Mitbestimmung. Das Magazin der Hans-Böckler-Stiftung. Alle zwei Wochen digital, alle zwei Monate gedruckt. Verlag C.H.BECK oHG, Wilhelmstraße 9, 80801 München | 162367 4 Wochen kostenlos testen Am 1. und 15. eines Monats erscheint eine digitale Ausgabe des Magazins Mitbestimmung. Infos: www.beck-shop.de/bdksml Gleich online lesen oder kostenlos im App Store und bei Google Play laden:

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Mein Lesetipp Liebe Mit welchen Parteien haben wir die größten Chancen, voranzu- kommen und die Mitbestimmung Leserinnen zeitgemäß weiterzuentwickeln? Unter diesem Blickwinkel haben

Foto: Andreas Pohlmann Andreas Foto: und Leser! sich die DGB-Experten Rainald Thannisch und Michael Bolte Wahlprogramme und Initiativen der Parteien angeschaut. Die Er- ielfach ist vom Ende der Arbeit geschrieben worden. gebnisse sind nicht überraschend, Nichts davon ist eingetreten. Im Gegenteil: Die Zahl aber jetzt haben wir es schwarz auf weiß, lesen Sie auf Seite 31. Vder Erwerbstätigen wächst, und in der Arbeitswelt fin- det ein rasanter Wandel statt. Grund genug, genauer hinzu- schauen und einen Pfad für die Arbeit der Zukunft zu suchen. Dies hat die hochkarätige Kommission „Arbeit der Zukunft“ in intensiver Arbeit gemacht. Im Interview befragen wir die Vorsitzenden Kerstin Jürgens und Reiner Hoffmann. Dass die Mitbestimmung hierbei eine bedeutende Rolle spielt, ist ein einvernehmliches Ergebnis der Kommission und damit auch ein Auftrag an die Parteien, den mitbestimmungspoli- tischen Stillstand zu überwinden. Ich nutze die Gelegenheit, mich nach 13 Jahren als He­raus­ geber des Magazins zu verabschieden, um eine neue Aufgabe zu übernehmen. Dem Magazin wünsche ich, dass ihm seine kritische Leserschaft weiter gewogen bleibt und dass unser gemeinsames Ringen für mehr Mitbestimmung erfolgreich sein wird.

Es grüßt mit herzlichem Glückauf

Wolfgang Jäger, Geschäftsführer und Herausgeber

[email protected]

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 3 In dieser Ausgabe …

titelthema: Arbeit der Zukunft

10 „Sicherheit ist entscheidend“ i nterview mit dem DGB-Vorsitzenden Hoffmann und der Soziologin Jürgens

15 Besondere Kennzeichen Daten und Fakten aus der Kommission „Arbeit der Zukunft“. Von Schrepf/Schildmann

18 Wucht digitalen Wandels Das ISF entwickelte das Konzept des betrieblichen Praxislaboratoriums. Bosch setzt es um als Pilotprojekt. Von Stefan Scheytt

23 Für eine Handvoll Cent Was ver.di und die Crowdworker verbindet. Von Jeannette Goddar 10

arbeit und mitbestimmung

26 Fit für das Elektroauto Auf dem Weg in die E-Mobility: BMW-Betriebsräte kümmern sich um die Qualifizierung, Automobil-BRs sichern Standorte. Von Andreas Molitor

30 Angriff erfolgreich abgewehrt Der EuGH hat die Mitbestimmung für europarechtskonform erklärt. Das war kein Selbstläufer. Von Joachim F. Tornau

30 32 Und was sagen Sie zur Mitbestimmung? e in Blick in die Wahlprogramme der Parteien. Von Michael Bolte und Rainald Thannisch

politik und gesellschaft

35 Generation Hoffnungslos Was haben die EU-Milliarden den spanischen Jugendlichen gebracht? Von Reiner Wandler

38 Diese Gewerkschafter wollen in den Bundestag 38 Wir stellen sechs aktive Gewerkschafter aus vier Parteien vor, die zum ersten Mal kandidieren. Von Goddar, Hinck, Molitor, Scheytt

4 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 Was Immer im Heft … sonst noch geschah kompakt

6 AGENDA Nachrichten, die Sie kennen sollten 8 CHECK Die Zahlen hinter der Zahl

9 PRO & CONTRA Ein Thema, zwei Experten Daniel Kalker Foto: aus der stiftung

44 RADAR -Böckler Tagungen, Böckler-Projekte, Meldungen 51 W IR — DIE Stiftung Die Teamassistentinnen am IMK

Stories über Kandidaten

Her mit aktiven Gewerkschaftern, die zum ersten Mal für den Bundestag kan- 52 didieren! Und gute Chancen haben, im neu gewählten Parlament beherzt Arbeit- Porträt nehmerinteressen zu vertreten. Unser Autor Gunnar Hinck geht auf Altstipendiat Erik Schäfer die Suche und schickt eine Shortlist. Die hat eine Bar eröffnet, die gute Nachricht: An Frauen kein Mangel. Kunst in den Alltag holt. Die schlechte: Kein Grüner mit Gewerk- schaftsjob ist aufzutreiben und auch kein CDUler. Also weitersuchen. Und wir wer- 54 EVENTS Termine, die Sie sich merken sollten den fündig, wie Sie ab Seite 38 lesen können. Die meisten Bundestagskandi- 55 zur sache Oliver Emons sagt, was die CSR-Richtlinie daten aus dem Gewerkschaftsmilieu be- für Aufsichtsräte bedeutet werben sich auf einem SPD-Ticket. NRW ist stark vertreten, im Osten dagegen Fehlanzeige bei unserer kleinen Recher- medien che. Eine prominente Personalie kommt aus Hannover, wo Yasmin Fahimi, beam- tete Staatssekretärin im Bundesarbeits- 56 buch Rezensionen, Tipps & Debatten ministerium, auch auf einem aussichts- reichen Listenplatz kandidiert. Offenbar 59 DAS POLITISCHE LIED Fela, Nigerias Rebell will die ehemalige IG-BCE-Funktionärin 60 digital Links, Apps & Blogs lieber ins Parlament als auf dem Beam- tenposten bleiben. Sie werden wir im Auge behalten, genauso wie die anderen, die wir jetzt nicht vorstellen konnten. Übrigens: Erneut kandidieren alte Be- kannte: , H.-J. Schabedoth, rubriken und Uwe Lagosky.

3 EDITORIAL 62 fundstück 64 Webresonanz 66 65 IMPREsSUM/Vorschau clorne ia girndt ist leitende Redakteurin des

66 MEIN ARBEITSPLATZ Karsten Schöne Foto: Magazins Mitbestimmung.

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 5 Tunesier kämpfen Uwe Zucchi Foto: um deutsches Werk

Sie hatten erlebt, wie nach und nach die Produk- tionsmittel abtransportiert wurden. Damit wurde die Schließung des deutschen Kabelwerkes Coro­ plast in El Kef für die rund 400 Arbeiter zur Ge- wissheit. Heftige Unruhen folgten. Seit April blockieren in der tunesischen Grenz- und Krisen- region Arbeiter und Bevölkerung die Straßen und veranstalten Protestcamps. „Trauer für ein Land, das alle betrogen haben“, steht auf einem Protestplakat. Das Wuppertaler Familienunter- nehmen Coroplast, das weltweit Kabel produziert, ließ die Produktionsanlagen an seinen attrakti- veren Küstenstandort Hammamet verlagern. El Kef liegt in einer Region mit extremer Ar- beitslosigkeit und an der Grenze zu Algerien – mit hohem Krisenpotenzial. Zehn Jahre lang hatte die tunesische Regierung dem deutschen Unternehmen eine Befreiung von Steuern und Sozialabgaben gewährt, was just 2017 ausläuft. Juni-Löhne wurden erst mit großer Verspätung ausgezahlt, auch davon berichtet Peter Seideneck, der Tunesien-Projektkoordinator des DGB. Ver- handlungen der Gewerkschaft UGTT brachten bisher kein Ergebnis, die Stammfirma in Wup- pertal wollte sich nicht äußern. Foto: LTDH/Bedhiafi Fadhel LTDH/Bedhiafi Foto:

Detektive im Betriebsrat NichtReise-Statistik Urteil schützt vor Spionage Urlaub bleibt für viele EU-Bürger ein Luxus

Bevölkerungsanteil derer, die sich im Jahr 2016 nicht Zukünftig können Betriebsräte sich sicherer sein, bei Kon- einmal eine einwöchige Ferienreise leisten konnten. flikten nicht von ihren Arbeitgebern observiert zu werden. Befragung in 21 EU-Staaten Das Landesgericht Rheinland-Pfalz sprach einem Betriebs- rat 10.000 Euro Entschädigung wegen der Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte zu. „Das Urteil besitzt Signalwirkung. 21. Rumänien Arbeitgeber werden sich nun genauer überlegen müssen, 20. Kroatien 6. Belgien 19. Bulgarien ob sie Detektive einsetzen“, sagt Ralf-Peter Hayen, Referats­ 5. Frankreich 4. Deutschland 18. Portugal 3. Niederlande

leiter Recht beim DGB. Obwohl die Mindestgrenze von 200 2. Österreich 1. Finnland Arbeitnehmern nicht gegeben war, besaß der Betriebsrat zunächst eine Freistellung. Diese wurde später wieder auf- … 56,4% 61,1% 66,6% 23,4% 26,3% 47,2% gehoben, der Fall ging vors Gericht. Der angeheuerte De- 14,2% 15,4% 16,7% 19,2% tektiv ermittelte 20 Tage à vier Stunden, was das Gericht als Quelle: Eurostat unverhältnismäßig einstufte. (AZ: 5 Sa 449/16) Keine Angaben liegen vor zu: Dänemark, Griechenland, Irland, Luxemburg, Schweden, Slowakei, Zypern

6 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 kompakt

EINE FRAGE, Maria Skóra Foodora Betriebsrat nimmt Fahrt auf

Der erste deutsche Betriebsrat des Essenslieferanten Foodora Milliarden Euro am Standort Köln kommt mit seiner Arbeit gut voran. „Behin- werden jedes Jahr derungen bei der Gründung und während der ersten sechs in Deutschland Wochen seines Bestehens gab es nicht“, sagt Siegfried Pohl, vererbt. Gewerkschaftssekretär der NGG. Der Arbeitgeber habe sogar Damit vererben und Bereitschaft signalisiert, seinen Beschäftigten demnächst Fahr- verschenken die Deut-

Foto: Jens Schicke Jens Foto: räder zu stellen. Dies hatte Foodora bislang abgelehnt. schen ein Viertel mehr, als bisher angenom- Die Branche der Essenslieferdienste per Fahrrad boomt, Sollte die EU auf men. Vor allem in wohl- steht aber wegen schlechter Arbeitsbedingungen in der Kritik. habenden Haushalten Denn die Beschäftigten spüren vom Aufschwung nur wenig. die polnische Regie- wird deutlich mehr Ver- Neun Euro Stundenlohn zahlt etwa Foodora seinen Fahrern mögen als bislang an rung einwirken? in Deutschland. Die Arbeitsmittel Fahrrad und Smartphone die nächste Generation übertragen. Das zeigt stellen die überwiegend befristet Angestellten selbst. Ende Juni Die Reaktion der EU-Kommis- eine von der Hans- hat der Foodora-Standort Köln mit rund 300 Fahrern als erster sion auf die Justizreformen der Böckler-Stiftung geför- in Deutschland einen Betriebsrat gegründet. polnischen Regierung sollte derte WSI-Studie. Zum Vergleich: Der Deutsche nicht zu einer weiteren Eskala- Bundestag hat den tion des Konflikts führen. Dies Bundeshaushalt 2017 Stiftung Globale Textilindustrie heizt eher die politische Krise mit Ausgaben in Höhe der EU an und gießt Wasser auf von 329 Milliarden Euro die Mühlen der Demagogen, beschlossen. Existenzsichernde Löhne die darin das Diktat aus Brüssel bestätigt sehen. Jede Handlung „Bei den großen Brands hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass zur Beeinflussung der Lage sie für Arbeitsbedingungen in ihren Lieferketten eine Mitver- könnte kontraproduktiv sein antwortung haben“, sagt ACT-Geschäftsführer Frank Hoffer. und zu politischen Erpres- wissen sie … Löhne, die zum Leben reichen, ist das erklärte Ziel der jüngst sungsversuchen bzw. neuen gegründeten Stiftung ACT (Action, Collaboration, Transfor- „Exits“ führen. Die wirkungs- … dass Unternehmen vor mation). Getragen wird die Organisation von der globalen vollsten Instrumente, um Staa- allem deshalb nicht in die Gewerkschaftsföderation IndustriALL sowie großen Textil- Qualifizierung von Flücht- ten wie Polen und auch Ungarn händlern wie H&M, C&A, Esprit, Primark und Tchibo. „ACT lingen investieren, weil zu beeinflussen, sind politi- sie diese Menschen oft ist die Erkenntnis, dass eine nachhaltige Anhebung der Löhne scher Druck und moralische nicht dauerhaft beschäf­ unter Bedingungen einzelbetrieblicher Lohnkonkurrenz un- Unterstützung der demokrati- tigen können? Die unsi- möglich ist“, so Hoffer. Daher haben sich die ACT-Mitglieds- schen Opposition in diesen chere Bleibeperspektive unternehmen gegenüber IndustriALL verpflichtet, durch ihre ist demnach mit Abstand Ländern. Angesichts des Auf- Einkaufspraxis den Abschluss von Flächentarifverträgen mit das größte Hemmnis stiegs des Populismus sollte die bei der Integration von existenzsichernden Löhnen zu ermöglichen. EU schnell dazulernen und ef- Flüchtlingen in den Ar- Die gemeinsame Stiftung von Unternehmen und Gewerk- fektive strafende Maßnahmen beitsmarkt. Als weitere schaften ist der erste Schritt. Im Herbst finden nun Gespräche entwickeln, falls ein weiterer Gründe nennen Wissen- in mehreren Produktionsländern mit Regierungsvertretern, schaftler des IAW in EU-Staat die Rechtsstaatlich- Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Zulieferfirmen Tübingen mangelnde keit verletzt. Sprachkenntnisse und statt, um die Idee allgemeinverbindlicher Tarifverträge mit den fehlende Nachweise nationalen Akteuren zu diskutieren. Schließlich müssen Zu- Maria Skóra ist Senior Project über die berufliche lieferfirmen, Regierungen und Arbeitnehmer darauf vertrauen Manager beim Progressiven Qualifikation. können, dass ihre Abnehmer nicht abwandern, wenn Löhne Zentrum in Berlin. Zuvor arbei- und Preise steigen und sich die Arbeitsbedingungen durch die tete sie als Expertin für den Quelle: Studie des IAW in gesamtpolnischen Gewerk- Tübingen gemeinsam mit dem IfW, Modernisierung der Industrie und langfristige Geschäftsbezie- Kiel, und dem SOKO-Institut, schaftsverband in Warschau. Bielefeld hungen verbessern.

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 7 Check Die Zahlen hinter der Zahl

Kein Spiegel der Bevölkerung Daniel Kalker Foto:

BU NDESTAG Akademiker sind mit 91 Prozent sechsmal so häufig im Bundestag vertreten wie in der Bevölkerung. Der Anteil der Arbeiter ist mit einem Prozent verschwindend gering.

Von Susanne Kailitz

Berufe der 634 Bundestagsabgeordneten

Geistes- und Naturwissenschaftler 32,2% 204 Abgeordnete Rechts- und Vollstreckungswesen 21,8% 138 Abgeordnete

Lehrer 7,6% 48 Abgeordnete

Soziale Berufe 3,8% 24 Abgeordnete

Büroberufe/ Angestellte (kaufmännische) 3,5% 22 Abgeordnete Abgeordnete/administrativ entscheidende Berufe 3,5% 22 Abgeordnete

Ingenieure 3,3% 21 Abgeordnete Es handelt sich um die erlernten Berufe der Abge- ordneten bzw. deren Bildungs- und Berufsab- Chemiker/Physiker/ schlüsse vor ihrer Wahl in den 18. Bundestag. 3% 19 Abgeordnete Mathematiker Nach Berechnungen des Max-Planck-Instituts ha- Bank/Bausparkasse/ ben 91 Prozent der Abgeordneten einen (Fach) Versicherung 2,4% 15 Abgeordnete Hochschulabschluss, aber nur 14 Prozent der Be- völkerung (das statistische Bundesamt geht von 16 Landwirtschaft 2,1% 13 Abgeordnete Prozent aus). Der Akademikeranteil hat sich seit Andere Berufe (z.B. Textil­ 1945 von damals 45 Prozent mehr als verdoppelt. Der Anteil der Arbeiter liegt in der Bevölkerung bei verarbeitung, Fleischer, Maler/ 0,16% 1 Abgeordneter Lackierer, Verkaufspersonal) 21 Prozent, im Bundestag bei einem Prozent.

Quellen: Heinz Schröder: Top-Ten-Ranking der Berufsgruppen im 18. Bundestag; Datenhandbuch des Deutschen Bundestags, siehe Link: bit.ly/bundestag-berufsstruktur. Zum Akademikeranteil: Max-Planck-Institut und Statistisches Bundesamt

Nebeneinkünfte der Fraktionen im Durchschnitt in der 18. Wahlperiode: 37,62 Millionen Euro (entspricht 9,4 Millionen Euro pro Jahr). Angaben in Euro

Union

Grüne Linke SPD 384.750 835.250 6 Mio. 30,4 Mio. 1,0 % aller Nebeneinkünfte 2,2 % aller Nebeneinkünfte 15,9 % aller Nebeneinkünfte 80,8 % aller Nebeneinkünfte

Quelle: Sven Osterberg: Aufstocker im Bundestag II – Bilanz der Nebenverdienste der Abgeordneten in der 18. Wahlperiode. Otto Brenner Stiftung, Arbeitspapier 26, Juli 2017

8 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 kompakt

Pro & Contra ein Thema, zwei experten Sind anonymisierte Bewerbungen ein Instrument gegen Diskriminierung? Foto: Bundesregierung Foto: Foto: Laurence Chaperon Laurence Foto:

Wozu benötigen Personalverantwortliche In- Es passt für mich nicht zu einer offe- formationen zum Familienstand, zu Alter, Her- nen Gesellschaft, dass Stellenbewer- Ja. kunft oder zum Aussehen? Ich kann das Argu- Nein. ber ihren Namen, ihre Herkunft oder ment nicht mehr hören, so könne eine ideale Passung ins Team ihr Geschlecht verstecken sollen. Das ist eine falsche Vorstellung besser vorbereitet werden. Nein: So wird schnell aussortiert, wer von Integrationspolitik. Die schwarz-gelbe Koalition in NRW nicht ins gewohnte Bild passt. Das geschieht meistens nicht be- hat deshalb vereinbart, das von Rot-Grün eingeführte anonymi- wusst. Wir können Vielfalt aber nur eine Chance geben, wenn sierte Bewerbungsverfahren im öffentlichen Dienst – das im wir auch unbewusste Vorurteile überwinden. Übrigen ohnehin nur noch für Auszubildende galt – wieder Wenn NRW jetzt Schluss macht mit den seit Jahren im Land abzuschaffen. Es ist paradox, wenn man einerseits Menschen mit erprobten anonymisierten Bewerbungsverfahren, dann ist das Migrationsgeschichte für den öffentlichen Dienst gewinnen will eine Rolle rückwärts ins Bewerbungsmittelalter. Die denkwür- und sie andererseits erst einmal zum Verheimlichen ihres Na- dige Begründung lautet: Migrantinnen und Migranten müssten mens zwingt. Die Anonymisierung mag Bewerbern vielleicht sich in anonymisierten Bewerbungsverfahren „verstecken“. Für helfen, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Menschen, die viermal so viele Bewerbungen schreiben müssen, Aber wenn ein Personaler wirklich ein Problem mit Frauen, mit weil ihr Name Yilmaz ist und nicht Müller, ist das ein Schlag Migranten oder Menschen mit Behinderung hat, dann wird er ins Gesicht. Denn es geht nicht ums Verstecken, im Gegenteil: das im Gespräch nicht auf einmal über Bord werfen. Anonymisierte Bewerbungsverfahren erhöhen die Chancen auf Wir setzen auf Schulungen, um die Personaler im öffentli- eine Einladung zum Vorstellungsgespräch – nicht nur für Mig- chen Dienst stärker für das Thema Diskriminierung zu sensibi- ranten, auch für Frauen, wie unser Pilotprojekt zeigt. lisieren. Und wir prüfen ein System der berufsbezogenen Eignungs- Private Informationen haben mit der Qualifikation rein gar diagnostik, bei dem jede Bewerbung nach vorher festgelegten nichts zu tun. Es gibt zum Glück viele Unternehmen und Ver- Qualitätskriterien untersucht wird. Das ist mehr Aufwand, aber waltungen, die das erkennen. Die Berliner Verwaltung etwa stellt es könnte ein erster Schritt sein. Der freien Wirtschaft können gerade komplett auf anonymisierte Verfahren um. Siemens, ein und wollen wir keine Vorschriften machen. Deutsche Post und Weltkonzern, hat den Verzicht auf Fotos zum Standard gemacht. Telekom haben mitgeteilt, dass sie das Instrument der anonymi- International ist das längst üblich. Eine vielfältige Gesellschaft sierten Bewerbung ebenfalls nicht mehr einsetzen werden. Es braucht faire Chancen – für alle. habe zwar nicht geschadet, aber auch nicht genutzt.

Christine Lüders ist Leiterin der Antidiskriminierungsstelle Serap Güler (CDU) ist Staatssekretärin im nordrhein-west­ des Bundes. fälischen Ministerium für Familie, Flüchtlinge und Integration.

Und Ihre Meinung? Was halten Sie von anonymisierten Bewerbungen? Schreiben Sie an [email protected]

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 9 „Sicherheit ist entscheidend“

Iwntervie Zwei Jahre lang haben der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann und die Soziologie-Professorin Kerstin Jürgens die Expertenkommission „Arbeit der Zukunft“ geleitet. Ein Gespräch über Debatten, Ergebnisse und Aha-Effekte.

Die Fragen stellten Margarete Hasel und Joachim F. Tornau – Fotos Alexander Paul Englert

Frau Jürgens, Sie haben einmal Hoffmann: Für uns war das ein Selbstverge- den schönen Satz gesagt: „Im wisserungsprozess: Woher kommen wir? Wo Denken von Zukunft passiert et- stehen wir? Die Bereitschaft, sich aus einer was mit uns: Es strukturiert Vergangenheit und solchen Positionsbestimmung heraus auf Gegenwart neu.“ Was bedeutet das für das Neues einzulassen, ist bei den Gewerkschaf- Nachdenken über die Arbeit der Zukunft? ten in den vergangenen Jahren gewachsen. Jürgens: Als wir mit der Kommissionsarbeit begannen, standen viele Schreckensszenarien Die 32 Mitglieder der Kommission kamen nicht im Raum: Durch die Digitalisierung würden nur aus den Gewerkschaften, sondern auch aus Arbeitsplätze in großer Zahl verloren gehen, der Wissenschaft, aus Vorständen und Betriebs­ Menschen durch Roboter und Algorithmen räten großer Unternehmen, aus Ministerien, ersetzt. Das ist nicht völlig falsch, aber Anpas- aus der Kreativwirtschaft und aus neuen Medien. sung und Krisenvermeidung sind nicht die Wie funktioniert die Zusammenarbeit in einer einzige mögliche Antwort, und die Zukunft solch heterogenen Gruppe? ist offen. Wir haben deshalb erst einmal – aus- Hoffmann: Als Gewerkschaften sind wir es gehend von empirischen Daten – die gegen- ja durchaus gewohnt, mit der Wissenschaft wärtige Ausgangslage analysiert. Auf dieser in Diskurs zu treten oder mit Arbeitgebern Basis haben wir dann überlegt, wie die zu- oder mit der Politik. Das Besondere war, dass künftige Arbeitswelt gestaltet werden kann. wir uns in dieser Heterogenität zwei Jahre Nicht was irgendwann vielleicht passieren lang kontinuierlich und gemeinsam an den könnte, war unser Thema, sondern was hier Themen abgearbeitet haben. Auf einer sol­ und heute getan werden muss. chen Bildungsreise lernt man sich ­besser

10 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 titelthema: Arbeit der Zukunft

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 11 ­kennen und verstehen. Sich auf die un- terschiedlichen Disziplinen, Hintergründe und auch politischen Überzeugungen einzu- lassen habe ich als äußerst konstruktiv emp- funden. Auch für die Debattenkultur war es gut, nicht nur im Kreis derjenigen zu bleiben, die sowieso schon überzeugt sind.

Die Punkte, bei denen Sie sich nicht auf eine gemeinsame Position verständigen konnten, wurden im Abschlussbericht nicht schamhaft verschwiegen, sondern als Debattenbeiträge aufgenommen. Da geht es zum Beispiel um die Idee eines Startguthabens für das Erwachse- nenleben oder um die Mitarbeiterkapitalbetei- ligung. Jürgens: In der Kommission haben sich ge- nau die Konfliktlinien gespiegelt, die sich in der Arbeitswelt und auch in der ganzen Ge- sellschaft zeigen. Hier die Grenzen zwischen Positionen auszuloten, die Nuancen wahrzu- nehmen war eine echte Herausforderung, aber auch ein gemeinsamer Lernprozess. Man gelegten Agenda in die Kommission gekom- ging bereichert aus den Sitzungen, weil man men sind, sondern einfach neugierig waren durch die Position und die Ideen der anderen auf die Ideen der Wissenschaft. Am Ende sind den eigenen Standpunkt überdenken musste. wir gemeinsam zu Positionen gekommen, die Obwohl wir alle Expertinnen und Experten „Wir müssen den im Nachhinein wie gewerkschaftsnahe Posi- für das Thema Arbeit sind, gab es für uns alle tionen aussehen mögen, aber vor allem von immer wieder Überraschungsmomente. Menschen die der Wissenschaft eingefordert wurden. Dazu Sicherheit geben, gehört zum Beispiel das klare Bekenntnis zu Hatten auch Sie persönlich Überraschungs­ Mitbestimmung und Tarifbindung, die als momente? dass die Trans­ Garanten für eine nachhaltige Gestaltung der Hoffmann: Die These von der disruptiven formation gelingt, Arbeitswelt wirken. Das hat, glaube ich, in Entwicklung, also von der vollständigen Ver- dieser Deutlichkeit die gewerkschaftliche Sei- drängung bisheriger Produktionsweisen im ohne dass sie te überrascht. Zuge der Digitalisierung, war mir immer viel langzeitarbeitslos zu reißerisch, zu skandalträchtig. Und ich bin In der Kommission sind sehr unterschiedliche auch nach wie vor überzeugt, dass da nichts werden oder Systemlogiken aufeinandergetroffen: Praktiker zusammenbricht. Doch die Halbwertzeit von Altersarmut droht.“ brauchen schnelle Antworten, um auf aktuelle technologischen Innovationen wird immer Herausforderungen reagieren zu können, Wis- kürzer, es findet eine rasante Beschleunigung senschaftler wollen lieber erst einmal intensiv forschen, bevor sie Vorschläge machen. Wie statt. Dabei kann es in bestimmten Bereichen Reiner Hoffmann, sicherlich auch so etwas wie Disruptionen DGB-Vorsitzender sind Sie damit umgegangen? geben. Das habe ich aus der Arbeit der Kom- Jürgens: Einerseits ist das Tempo des techno- mission mitgenommen, darüber lohnt es sich, logischen Wandels so rasant, dass wir wirklich weiter nachzudenken. schnell Entscheidungen brauchen. Anderer- Jürgens: Für die wissenschaftliche Seite in der seits bringen Kurzschlussreaktionen über- Kommission war es der größte Aha-Effekt, haupt nichts, wir müssen uns also schon etwas dass die Gewerkschaften nicht mit einer fest- Zeit zur Reflexion nehmen. Die Kommissions­

12 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 titelthema: Arbeit der Zukunft

schaftlichem Wohlstand und Lebensqualität leisten, werden sie vom bisherigen Produkti- vitätsbegriff nicht erfasst. Wir plädieren des- halb für ein neues Verständnis von Produkti- vität, um diesen Beitrag sichtbar zu machen und die Arbeit von Menschen an Menschen nicht nur tarifpolitisch, sondern auch gesell- schaftlich aufzuwerten. Produktivität völlig neu und anders zu denken als in einem Che- mie- oder Stahlunternehmen – das ist einer der Bereiche, in dem die Kommission inno- vative Denkanstöße hervorgebracht hat.

Und das angesichts der Tatsache, dass auch zwei große Industriegewerkschaften in der Runde vertreten waren. Hoffmann: Wir waren uns einig, dass eine branchenübergreifende Perspektive wichtig ist. Wir wollten uns weder auf Industriearbeit beschränken noch auf die Folgen der Digita- lisierung. Mit den technologischen Verände- rungen haben sich schon viele vor uns be- arbeit bot allen Beteiligten Gelegenheit, sich schäftigt. Wir haben es aber auch mit weiteren mal jenseits des Alltagsgeschäfts Zeit zum gesellschaftlichen Veränderungen zu tun, die Abwägen und zum Einlassen auf Ideen zu ähnlich gravierend sind: demografischer nehmen. Wandel, zunehmende Erwerbstätigkeit von Hoffmann: Wie sich die Betriebsräte in die „Am Ende gab es Frauen, neue Wünsche auch von Männern an Kommissionsarbeit eingebracht haben, war die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, bemerkenswert. Sie lieferten praktische Bei- ein klares Migration. All das haben wir nicht ausgeblen- spiele und Erfahrungen, die für die Wissen- Bekenntnis der det, sondern mit in den Blick genommen. schaft häufig neu waren. Andersherum hatten sie aber nicht die Erwartung, einen Werkzeug- Wissenschaftler Die Veränderungen scheinen dort am drama- koffer für ihre betriebliche Praxis geliefert zu zu Mitbestimmung tischsten zu sein, wo durch die Digitalisierung bekommen. Sie sind nicht mit einer Verwer- völlig neue Geschäftsmodelle entstanden sind – tungshaltung in die Kommission gegangen, und Tarifbindung, wie der Fahrdienst Uber oder die Plattformöko- sondern es war für alle ein diskursiver Lern- weil die als nomie, die Arbeitsaufträge über das Internet an prozess. Das hat mir gut gefallen. solo-selbstständige Clickworker vermittelt. Das Garanten für eine sind Sektoren, in denen die Sozialpartner kaum Stärkung der Mitbestimmung, verbesserte nachhaltige vertreten sind. Arbeitsbedingungen in der Bildung, Recht auf Jürgens: Es wird gerne behauptet, dass Arbeit Homeoffice: Das sind nur einige der von der Gestaltung der wegen des digitalen Wandels völlig neu ge- Kommission formulierten Denkanstöße, die Arbeitswelt wirken.“ dacht werden müsse. Doch das stimmt so bekannten gewerkschaftlichen Forderungen nicht ganz, denn der Kernkonflikt hat sich ja entsprechen. Haben Sie im Abschlussbericht nicht verändert: Es geht immer noch darum, auch Neuland betreten? Kerstin Jürgens, wie sich die unterschiedlichen Interessen von Hoffmann: Soziale Dienstleistungen und Arbeitssoziologin Arbeitgebern und Arbeitenden austarieren. Bildung werden in den nächsten Jahren die Der technologische Fortschritt wird dazu füh- größten Wachstumsbranchen sein. Doch ob- ren, dass dieser Interessenkonflikt neu auf- wohl sie einen bedeutenden Beitrag zu gesell- bricht. Da ist es die Herausforderung,

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 13 den Beteiligten in Erinnerung zu rufen, dann auch noch als Rationalisierungsszenario dass es traditionsreiche Prinzipien der Arbeits- auftritt, dann kann das den Einzelnen paraly- und Interessenregulierung gibt, die in beider- sieren – und damit auch eine Gesellschaft. seitigem Interesse sind, aber für die man jetzt Zumal viele Menschen den Eindruck haben, neue Formate finden muss. dass sie mit ihren Problemen bei den politi- Hoffmann: Clickworker erbringen im Mi- schen Akteuren nicht sichtbar sind. Die Politik nutentakt eine Dienstleistung, ohne dass wir muss deshalb dafür sorgen, dass die gesell- bislang Einfluss auf die Arbeitsbedingungen schaftliche Transformation nicht individuali- haben. Da droht die Entstehung eines neuen siert abläuft, sie muss also gute Rahmenbedin- digitalen Proletariats. Damit solche Geschäfts- gungen für den Wandel bereitstellen. modelle nicht länger durchs Raster fallen, brauchen wir eine neue Orientierung: Was Wo überall angesetzt werden könnte, zeigt der ist ein Arbeitnehmer, was ist ein Arbeitgeber, Abschlussbericht auf 250 Seiten in 54 Denk­ was ist ein Betrieb? Und: Auch wer in solchen anstößen und 18 Debattenbeiträgen. Wie geht neuen Arbeitsformen tätig ist, muss in die es jetzt weiter? Es reicht ja nicht, das zwischen sozialen Sicherungssysteme eingebunden zwei Buchdeckel zu pressen. Kommission „Arbeit der Zukunft“ Die Arbeit geht uns nicht aus, aber werden. Die Kommission hält in diesem Zu- Hoffmann:Wir werden die Debatte über die sie wird anders, damit verbunden sammenhang ein Bestellerprinzip für digitale zukünftige Arbeitsqualität, sprich über die sind gewaltige Gestaltungsaufgaben. Arbeit für bedenkenswert: Wenn ein deut- Humanisierung der Arbeit, in die verschiede- Diese Grund­überzeugung teilten die sches Unternehmen Dienstleistungen über nen Arenen hineintragen: in die Wissenschaft, 32 Expertinnen und Experten der von eine Plattform bestellt, sollten die hiesigen in die Gewerkschaften, in die Politik. Wir der Hans-Böckler-Stiftung initiierten Kommission „Arbeit der Zukunft“. rechtlichen Standards gelten – und nicht die werden weiterführende Forschungsfragestel- Unter der Leitung des DGB-Vorsitzen- des Landes, in dem der Plattformbetreiber lungen herausdestillieren. Und wir werden den Reiner Hoffmann und der Kasse- sitzt. den Dialog mit den Arbeitgebern suchen, ler Arbeits­soziologin Kerstin Jürgens denn manches lässt sich auch tarifvertraglich hat die hochkarätige Runde aus ver- Den Abschlussbericht der Kommission durch- regeln. Aber ganz ohne gesetzliche Leitplan- schiedenen Wissenschaftsdisziplinen, aus der betrieblichen Praxis, aus Ge- zieht eine optimistische Grundhaltung: Die ken wird es nicht gehen, das ist klar. In den werkschaften und Politik über zwei Zukunft ist gestaltbar. Aber wie lässt sich nächsten Wochen und Monaten haben wir Jahre die Zukunft vermessen. Und den Menschen die Angst vor Veränderungen viel Arbeit vor uns, damit die Ergebnisse in auf einem Kongress mit mehr als 300 nehmen? der Debatte bleiben – und dann hoffentlich Teilnehmern Ende Juni in Berlin den Hoffmann:Sicherheit ist das Entscheidende. auch praktische Wirkung entfalten. Abschlussbericht vorgestellt. Die Kommission gibt Denkanstöße Wir müssen den Menschen die Sicherheit für einen gesellschaftlichen Diskurs, geben, dass die Transformation gelingt, ohne Könnten einzelne Themen auch im Bundestags- wie ein Innovationspfad in das digita- dass sie langzeitarbeitslos werden, auf Hartz IV wahlkampf eine Rolle spielen? le Zeitalter aussehen sollte und der angewiesen sind, ihnen Altersarmut droht. Hoffmann:Die Kommission hat herausgear- Transformationsprozess in eine huma- Beispiel Weiterbildung: Für viele Menschen beitet, dass unter den veränderten Bedingun- ne Arbeits- und Lebenswelt gestaltet werden kann. wirkt die Notwendigkeit lebensbegleitenden gen auch die Beteiligungs- und Mitbestim- Der Bericht ist online abrufbar un- Lernens immer noch wie eine Drohkulisse. mungsmöglichkeiten in der Arbeitswelt ter www.arbeit-der-zukunft.de und als Sie sehen Qualifikation als Mühsal, die sie auf weiterentwickelt werden müssen. Wir erle- Buch im Transcript Verlag erschienen sich nehmen müssen, um in dem sich immer ben jedoch seit Jahren einen mitbestim- (ISBN 978-3-8376-4052-6, schneller drehenden Rad mithalten zu kön- mungspolitischen Stillstand. Dieses Thema 24,99 Euro). nen. Wenn wir ihnen diese Angst nehmen, hat vor den Bundestagswahlen als auch da- können wir auch ihre Neugier wecken. nach einen hohen Stellenwert für uns. Denn Jürgens: Schon heute wissen viele Menschen ich bin überzeugt: Da, wo die Menschen wirk- nicht, wie sie die wachsenden Anforderungen, lich mitbestimmen können, wird die Trans- die im Alltag an sie gestellt werden, bewälti- formation deutlich besser gelingen. gen sollen – neben Arbeit, Kindern, Pflege jetzt noch Weiterbildung und digitale Kom- petenzen aneignen. Wenn die Digitalisierung

14 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 titelthema: Arbeit der Zukunft

Besondere Kennzeichen

fazit Was war strittig, wie lautet die Mission? Die Kommission „Arbeit der Zukunft“.

Von Lisa Schrepf und Christina Schildmann, wissenschaftliches Sekretariat der Kommission „Arbeit der Zukunft“ Foto: Mina Gerngross Mina Foto:

ission: Großes Format: Abschlusskonferenz der KommissionBerlin „Arbeit M Teilnehmern, 28. Juni in der Zukunft“ mit 300 Wie münden technische Innovationen in sozialen Fortschritt, der möglichst vielen Menschen zugutekommt? Die Prämisse, die allen Überlegungen der Kommission Erste Kommissionssitzung zugrunde liegt, ist, dass der Wandel der Arbeitswelt keine zwangsläufige Folge der im Mai 2015 Technikentwicklung ist, sondern gesell- Besonderes schaftlich und politisch beeinflussbar. Kennzeichen:

32 Expertinnen und Experten, Dialog aus darunter Vertreter aus: Forschung und • (betrieblicher) Praxis: Arbeitsdirek Praxis toren, Betriebsräte, darunter Vertreter­ Die umstrittensten Begriffe in aus klassischen Konzernen sowie aus 40 den Kommissionssitzungen: der „New Economy“ Prozent der Kom- - agiles Arbeiten • Gewerkschaften (IG Metall, missionsmitglieder IG BCE, - Disruption ver.di, IG BAU) sind Frauen. • Politik • Forschung

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 15 Man befasste sich mit Die grö dem Zusammenspiel von SSten fünf Akteurs- bzw. Kontro Regulierungsebenen: versen: EU, nationale Politik, Gewerkschaften, betrieb­ liche Ebene, Individuum • Ist Mitarbeiterkapitalbeteiligung eine (gute) Antwort auf die digitale Trans- Die Kommission hat insgesamt formation? neunmal getagt undewidmet: sich Themen g • Soll jede Bürgerin und jeder Bürger dabei 11 mit einem Startguthaben fürs Er- Arbeitslosigkeit, Beschäftigung, Arbeit – Leben, Gesundheit, Jugend, wachsenenleben ausgestattet werden? Qualifizierung, Technisierung, Arbeits- • Soll eine „Sockelarbeitszeit“ qualität, Arbeitszeit, Einkommen, (= Grund- bzw. Mindestarbeitszeit) Migration eingeführt werden, um den Niedrig-

zeitsektor in den Griff zu kriegen? Foto: Mina Gerngross Mina Foto:

Denkhorizont 4 der Kommission: Perspekti Die nächsten ven: Die Kommission hat vier wichtige Treiber Die „dicksten 10 bis 15 Jahre Bretter“ unter den für den Wandel auf dem Arbeitsmarkt in den Blick genommen: Digitalisierung, DenkanstöSSen demografischer Wandel, Feminisierung • Die Neukonzeption des und Wertewandel Arbeitnehmerbegriffs und des Betriebsbegriffs • Die Aufwertung der sozialen Dienstleistungen

Konsens (letztlich) unter den Kommissionsmitglieder: Die digitale Trans- Während der zweijährigen In ihrer zweijährigen Kommissionszeit wurden fünf formation gelingt Kommissionszeit hat Diskussionspapiere von Kommis- die Kommission auch sionsmitgliedern veröffentlicht, bei SAP in Walldorf, im zu den Themensitzungen wurden nur mit einer außerdem elf externe Expertisen Museum der Arbeit in

eingeholt, die in Kürze auf ver­ Hamburg und im Deut- www.­arbeit-der-zukunft.de funktionierenden öffentlicht erden.w schen Technikmuseum Sozialpartnerschaft. in Berlin getagt.

16 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 titelthema: Arbeit der Zukunft

„Zukunftsmusik“: Die Arbeit an der Zukunft geht weiter: Nun geht es darum, die wichtigsten Denkanstöße weiterzuentwickeln – mithilfe von Expertisen, Fachgesprächen etc. D scher Ab lussbericht der Kommission wurde am 28. Juni der Öffentlichkeit vorgestellt und liefert Analysen, Empfehlungen en. Der Bericht enthält 54 und Kontrovers Denkanstö SSe der Kom- Auf 256 Seiten enthält der Bericht sieben Kapitel: Erwerbstätigkeit, Einkommen, mission und 23 Debatten Qualifizierung, Arbeitszeit, Arbeits­organisation, Migration und Gesellschaft. Bei den Denkanstößen handelt es sich um ein Der Bericht ist online abrufbar unter gemeinsames Kommissionsvotum. www.arbeit-der-zukunft.de und als Buch Als Debatten sind Aspekte ausgewiesen, bei im Transcript Verlag erschienen denen in der Kommission keine Einigkeit erzielt (ISBN 978-3-8376-4052-6, 24,99 Euro) werden konnte, entweder weil sie auch nach in- tensiver Debatte kontrovers blieben oder weil die Zeit nicht ausreichte, um sie abschließend

zu diskutieren. Foto: Jan Zappner Jan Foto:

Auswärtsspie Anfang Mai war die Kommissionle: auf der re:publica 2017 mit einem Stand und zwei Panels zu den Themen „Crowdwork“ und „Frauen

und Digitalisierung“ vertreten.

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 17 Wucht digitalen Wandels

WANDEL Wissenschaftler am Münchener ISF entwickelten für die „Arbeit der Zukunft“ das Konzept des „betrieblichen Praxislaboratoriums“. Es soll nicht irgendwo am Rande, sondern ganz im Zentrum der Unternehmen stehen. Bosch macht als Pilotunternehmen erste Schritte.

Von Stefan Scheytt, Journalist in Rottenburg Foto: Werner Bachmeier Werner Foto:

Sie tüfteln am ISF an den Praxislabs für Firmen, die sich neu erfinden müssen: Tobias Kämpf (l.) und Kira Marrs unter Leitung von Andreas Boes titelthema: Arbeit der Zukunft

on einer Reise ins Silicon Valley kamen zum Forschungsteam gehörte. „Den Verantwort- Wissenschaftler des Münchener Instituts lichen wird immer mehr bewusst, dass das, was für Sozialwissenschaftliche Forschung sie im ‚Biotop Silicon Valley‘ entwickeln, funda- V(ISF) um Vorstandsmitglied Andreas mentale Auswirkungen auf Millionen von Men- Boes mit einer interessanten Erfahrung zurück: schen hat.“ Bei ihren Besuchen im Mai bei großen und klei- Der Wandel ist in seiner Wucht kaum zu nen, bei deutschen und US-Firmen der Internet- überschätzen. ISF-Vorstand Andreas Boes spricht wirtschaft erlebten sie eine „neue Nachdenklich- von einem „epochalen Umbruch“ und vergleicht keit“. War die Gruppe bei früheren Trips nach die Tragweite der digitalen Transformation in Kalifornien noch auf ungetrübten, ungestümen Wirtschaft und Arbeitswelt mit der industriellen Technizismus gestoßen nach dem Motto „Mit- Revolution: „Über Jahrzehnte gewachsene hilfe der Digitalisierung machen wir das Leben Marktstrukturen und Branchengrenzen werden und die Arbeit der Menschen einfacher und an- aufgebrochen und neu geordnet. Wertschöp- genehmer, die Welt besser“, stießen die Wissen- fungsketten gestalten sich völlig neu – vom in- schaftler diesmal auch auf zweifelnde Fragen: dustriellen Herstellungsprozess über die beglei- Was wird aus all den Lkw-, Shuttle- und Taxifah- tenden Dienstleistungen bis hin zum rern, wenn sich Fahrzeuge in Zukunft selbst steu- Endverbraucher“ – und zwar in einem ungleich ern? Oder: Wovon sollen die Beschäftigten in der höheren Tempo als vor 150 Jahren. Für Unter- Landwirtschaft leben, wenn „Fleisch“ einmal aus nehmen werde das neue „Paradigma der Cloud“, den Laboren von Biotechfirmen kommen sollte? in der alles mit allem vernetzt ist, zum Ausgangs- „Die Töne sind heute reflektierter und differen- punkt für tief greifende Veränderungen, die Fir- zierter“, sagt ISF-Wissenschaftlerin Kira Marrs, die men müssten disruptive Innovationen hervor- bringen, sie müssten sich „neu erfinden“. ISF-Wissenschaftler Tobias Kämpf bekräftigt: „Wir sprechen hier nicht über eine neue Manage- mentmode aus dem Silicon Valley, die bald wie- der vorbei ist, sondern darüber, dass die Arbeits- welt ein neues Fundament bekommt und sich Geschäftsmodelle radikal verändern. Wer hätte beispielsweise noch vor wenigen Jahren behaup- tet, dass deutsche Autofirmen einmal Angst ha- „Die alten Silostrukturen in den ben müssen vor US-Konkurrenten, die Google, Uber oder Apple heißen – und das in einem Firmen stoßen vor den Heraus- reifen Markt, von dem man glaubte, er sei ‚be- forderungen der Digitalisierung schützt‘ durch hohe Zutrittsbarrieren?“ Nicht über die Köpfe hinweg sehr schnell an ihre Grenzen.“ Wie also auf den „historischen Umbruch“ durch Digitalisierung reagieren? Wie also neue, daten- basierte Geschäftsmodelle und Arbeitsformen Kira Marrs, ISF-Wissenschaftlerin entwickeln? Dafür gibt es keine Blaupause – die Unternehmen betreten hier Neuland, sagen die ISF-Forscher. Sie beobachten, dass in Deutsch- land nicht selten dem Silicon Valley nach-

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 19 „Praxislab ist ein hoch angesie­deltes Gesprächsforum für die Mit­arbeiter, daher ist es auch ein Experiment für die Mitbestimmung.“

Helmut Meyer, Betriebsratvorsitzender Robert Bosch Engineering GmbH in Abstatt

geeifert werde; entsprechend würden grund- stalten und innovativ zu sein, ohne dafür Errun- legende Innovationen in Start-up-ähnlichen genschaften wie die Mitbestimmung oder das Strukturen vorangetrieben – an den Rändern der Arbeitszeitgesetz auszuhöhlen oder ganz über etablierten Unternehmensbereiche. In diesen Bord zu werfen.“ Am ISF haben Andreas Boes, „Sonderwirtschaftszonen“ haben viele Schutzre- Tobias Kämpf, Kira Marrs und eine Reihe weiterer gelungen für Arbeitnehmer kaum Bedeutung, Wissenschaftler deshalb einen alternativen An- fast nie gibt es eine Tarifbindung und Betriebsräte. satz für die „Arbeit der Zukunft“ entwickelt: das „Fernab von Mitbestimmung und großen Teilen Konzept des „betrieblichen Praxislaboratoriums“. der Stammbelegschaften werden dort die Wei- Es setzt dort an, „wo es brennt“, an konkreten chen für die Arbeitswelt der Zukunft gestellt“, Baustellen, die die Beschäftigten selbst identifi- kritisiert Soziologe Kämpf. ziert haben. Die Lab-Teams arbeiten selbstorganisiert, agil Change-Projekte mitten im Unternehmen und inkrementell, das heißt, sie gehen ergebnis- Forschungen des ISF in vielen Vorreiterunter- offen Schritt für Schritt vor und entwickeln wäh- nehmen hätten jedoch gezeigt, dass es nicht rend achtwöchiger „Sprints“ konkrete Fragestel- mehr funktioniere, Konzepte und Strategien lungen und Ergebnisse. Die werden dann von hinter verschlossenen Türen auszuhandeln und einem Lenkungskreis, dem Führungskräfte und über die Köpfe der Mitarbeiter hinweg durchzu- Betriebsräte angehören, diskutiert, bewertet und setzen. Genauso wenig sei es erfolgversprechend, im Idealfall in die gesamte Organisation getragen. Change -Projekte auf die „grüne Wiese“ oder auf „Das Konzept setzt ganz bewusst nicht darauf, Unternehmensinseln zu verbannen. Gerade in für ein relativ isoliertes Problem externe Exper- Deutschland mit seiner „old economy“, fordert ten zu holen, die nach getaner Arbeit einen Ha- Kämpf, müsse der unausweichliche massive ken hinter das Thema machen und wieder gehen“, Strukturwandel innerhalb der bestehenden Fir- erklärt Kira Marrs. „Stattdessen knüpfen die Pra- menstrukturen und im Rahmen der gewachse- xislabs daran an, dass die Beschäftigten Experten nen Sozialbeziehungen gestaltet werden. „Es ist ihrer eigenen Arbeit sind.“ besser und auch möglich, den Umbruch zu ge-

20 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 titelthema: Arbeit der Zukunft Fotos: Cira Moro Cira Fotos:

Umbruch über viele Jahrzehnte Durch ihre Anbindung sowohl an die Unterneh- mensleitung wie auch an die Arbeitnehmerver- treter zielten die Praxislabs darauf ab, so Tobias Kämpf, „dass notwendige Lernprozesse nicht wie oft in den Firmen vereinzelt und situativ stattfin- den, sondern – nicht zuletzt durch die wissen- schaftliche Begleitung – systematisch ablaufen und so die Gestaltungkompetenz aller Beteilig- ten wächst. Denn immerhin geht es um einen Umbruch über viele Jahre, vielleicht Jahrzehnte.“ Und es geht um einen Umbruch, der das gesam- te Unternehmen erfasst, ob Industriebetrieb oder Dienstleister: Betroffen sind das gesamte Ge- schäftsmodell, Entwicklung und Produktion, Vertrieb und Marketing, Organisation, Führung, Unternehmenskultur, Qualifizierung, Weiterbil- dung. „Alles ist mit allem im Unternehmen ver- bunden, die alten Silostrukturen in den Firmen stoßen vor den Herausforderungen der Digitali- sierung sehr schnell an ihre Grenzen“, sagt Kira Helmut Meyer, Mathematiker und Betriebsratsvorsitzender der Robert Bosch Engineering GmbH in Marrs. „Offene Bürokonzepte zum Beispiel oder Abstatt, wo 2500 Mitarbeiter Innovationen für das Auto entwickeln neue Formen kollaborativer Arbeit funktionie- ren nicht, ohne dass vorher über Führung nach- gedacht wurde.“

Vertrauenskultur braucht Mitbestimmung Eine zentrale Rolle komme deshalb den Betriebs- räten zu. Ohne sie sei die digitale Transformation nicht zu leisten. Beschäftigte – dabei auch gut Qualifizierte in Bürojobs – sind zunehmend be- sorgt, eines nicht allzu fernen Tages ohnmächtig am digitalen Fließband zu stehen, dessen Leis- tungsvorgaben Stress, Burn-out und Sinnentlee- rung bedeuten können. „In diesem Umbruch müssen sich die Mitarbeiter auf viele Neuerun- gen einlassen. Dafür braucht es eine Vertrauens- kultur, die ein guter Betriebsrat aufbauen kann, indem er proaktiv für und mit den Mitarbeitern nach einem guten Weg in die digitale Zukunft Am Bosch-Standort Abstatt in Baden-Württemberg arbeiten sucht“, meint Kira Marrs. „Die Digitalisierung ist 4000 Ingenieure, Informatiker und Naturwissenschaftler. kein vorübergehender Hype, von daher steht ein Zeitfenster offen, in dem sich Betriebsräte

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 21 und Gewerkschaften positionieren können.“ im Geschäftsbereich Chassis Systems Control, in Bei Bosch tun sie das. Bereits seit 2014 gibt es eine dem gut 2500 Mitarbeiter Innovationen für das konzernweite Betriebsvereinbarung zum „mobi- Auto entwickeln. Ebenso im Hausgerätemarkt, len Arbeiten“, die den Beschäftigten mehr Souve- wenn zum Beispiel Waschmaschinen immer stär- ränität gibt, indem ihre Arbeitszeiten unterwegs ker in intelligente Hausnetzwerke integriert wer- oder zu Hause am Laptop, Tablet oder Smartpho- den: „Was wird da in Zukunft unsere Rolle sein – ne in einem Zeiterfassungssystem dokumentiert die eines Anbieters von Waschmaschinen oder werden. Und am Standort Abstatt in Baden- von Systemen für das Hausmanagement?“ Württemberg, wo rund 4000 Ingenieure, Infor- Unter dem Titel „Agilität“ werde über neue matiker und Naturwissenschaftler arbeiten, ist Geschäftsfelder und Produkte nachgedacht, sagt der Autozulieferer seit Anfang 2016 nun auch Helmut Meyer, ebenso über neue Arbeits- und Pilotbetrieb bei den Praxislaboratorien. Immer- Organisationsformen, über durchlässigere Be- hin befinde sich die Bosch-Gruppe im „größten reichsgrenzen und stärkere Vernetzung. Vertieft Wandel ihrer Geschichte“, wie das Unternehmen leisten das Mitarbeiter zweier Lab-Teams in den „Was wird unsere Rolle sein?“, selbst feststellt. „Natürlich fragen wir uns, wo der Bereichen Entwicklung und Verkauf. Etwa alle fragt der Bosch-Betriebsrat und lädt zur Betriebsversammlung ein, Platz von Bosch ist, wenn sich durch die Digita- acht Wochen präsentieren sie ihre Überlegungen um über neue Produkte und lisierung Mobilitätskonzepte ändern“, sagt Hel- dem hochrangig besetzten Lenkungskreis, dem Geschäftsfelder nachzudenken. mut Meyer, Betriebsratsvorsitzender in Abstatt die Standort- und die Personalleitung angehören, sowie Mitglieder der Betriebsräte und die ISF- Wissenschaftler Andreas Boes und Tobias Kämpf.

Betriebsversammlung zu agiler Arbeitswelt Dieser Lenkungskreis, meint Meyer, schaffe Le- gitimität und hohe Sichtbarkeit im gesamten Konzern, „was in so einem Unternehmen wie Bosch nicht trivial ist“. So wurden die Themen des Praxislabs bei einer Betriebsversammlung mit gut 800 Mitarbeitern mit dem Lenkungskreis und der IG Metall diskutiert. „Endgültige Ant- worten gibt es noch nicht, schließlich agiert das Laboratorium in bewegten Strukturen“, erklärt Mathematiker Meyer. Einen Mehrwert des Pro- jekts sieht er auch darin, dass der Betriebsrat zei- gen könne, dass er nicht nur an Symptomen kuriert, sondern früh mitredet und mitgestaltet bei diesem Umbruch. „Wir können Aufmerksam- keit, Akzeptanz und bei vielen auch Solidarisie- rung erzeugen“, was nicht einfach sei bei Wissens- arbeitern mit Hochschulabschluss, die, zumal bei einem Arbeitgeber wie Bosch und an einem boomenden Standort wie Abstatt, gute Arbeits- bedingungen und eine vernünftige Bezahlung genießen und dennoch spüren, wie die Anforde- rungen und die Belastung zunehmen. „Das Pra- xislab ermöglicht es uns, mit den Kolleginnen und Kollegen an Weichenstellungen für die Zu- kunft zu arbeiten, insofern ist das auch ein Expe- riment für die Mitbestimmung.“

22 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 titelthema: Arbeit der Zukunft Foto: Werner Bachmeier Werner Foto:

Testbirds in München, eine Firma, die Apps testet, beschäftigt 65 Festange- stellte und rund 100 000 freie Crowdworker (Bericht www.magazin-mitbestim- mung, 2/2016). Für eine Handvoll Cent

DTIGI ALISIERUNG Gewerkschaftsmitglieder, die mit Crowdwork Geld verdienen? Die gibt es. Wie es ihnen damit geht und was sie erwarten, weiß ver.di nun ein bisschen genauer.

Von Jeannette Goddar, Journalistin in Berlin

ena Kaiser (Name geändert) dachte, sie Minuten erledigt, auf der Startseite hieß es: „Ihr versucht einmal, im Internet Geld zu ver- Schreibtalent zahlt sich aus.“ dienen. Immer wieder hatte die Berliner Das kann Lena Kaiser nicht bestätigen. Die LAutorin zwischen ihren Kinderbuchpro- geübte Schreiberin textete Produktbeschreibun- jekten etwas Luft – warum nicht zwischendurch gen und optimierte Websites von Unternehmen, kleine Texte schreiben? Die 49-Jährige registrier- sie verfasste Blogeinträge und sogar kleine Ge- te sich bei Textbroker, einer Onlineplattform, die dichte für eine goldene Hochzeit. Um herauszu- Unternehmen und private Auftraggeber an Au- finden, was sie bei den – pro Wort bezahlten – toren vermittelt. Die Anmeldung war binnen Aufträgen verdient, stoppte sie die Zeit.

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 23 ver.di mit der IG Medien selbstständige Mitglie- der auf. 30 000 sind es heute; angeschrieben wur- den alle, deren E-Mail-Adresse vorliegt. Von den 834 Antwortenden, von denen jeder Zweite solo- selbstständig war, haben 45 Crowdwork-Erfah- rungen. Für ein repräsentatives Bild reicht das „Nicht alles ist schlecht in der nicht, für einen Eindruck schon. Über die Moti- vation etwa, die sich nicht von der anderer digitalen Welt. Aber wir werden Crowdworker unterscheidet: Wer auf Plattfor- men Arbeit sucht, hofft vor allem auf zeitlich und nicht darum herumkommen, örtlich unabhängige Verdienstmöglichkeiten sowie auf neue Auftraggeber. Und: „Der Zuver- dienst spielt durchaus eine Rolle“, sagt die „Her- uns damit zu beschäftigen.“ ausforderung Cloud und Crowd“-Mitarbeiterin Sarah Bormann.

Mark Hagen, freier Berater und Campaigner Zuverdienst spielt eine Rolle Damit widerspricht sie der von Plattformen gern verbreiteten These, wer bei ihnen mitmache, wol- le sich vor allem die Zeit vertreiben. Zentrale Hinweise geben auch die Antworten zum Thema Zahlungsmoral. So wird nicht nur schlecht ge- „Auf den Mindestlohn zu kommen ist fast zahlt – „grottig“ oder „unterirdisch“ heißt es zu- unmöglich“, erzählt sie, „die Bezahlung ist eine weilen –, sondern manchmal gar nicht. Ebenso Frechheit.“ Schade, findet sie: „Die Idee, wo und klagten Teilnehmer über Probleme mit dem wann immer es passt, ein bisschen zusätzliches Urheberrecht, das laut den bei Crowdwork übli- Geld zu verdienen, schien mir reizvoll.“ chen AGBs in aller Regel vollständig auf das Von ihren Erfahrungen hat Lena Kaiser außer Unternehmen übergeht. der Mitbestimmung auch ihrer Gewerkschaft Infolge all dessen stellen sich auch die erzählt. Die Berliner Autorin ist eine von mehr ver.di-Selbstständigenberater auf mehr Zulauf als 20 000 selbstständigen ver.di-Mitgliedern, in ein. Noch kommt nur jeder 20. pro Jahr aus dem deren Postfach im vergangenen Herbst eine „Um- Bereich Crowdwork. Allerdings: „Ein IT-Experte frage zu Selbstständigkeit, Crowdwork und in- ist bereits im Team“, erzählt Gunter Haake, Leiter ternetbasierten Aufträgen“ aufploppte. Durchge- der Beratungsstelle selbststaendigen.info. Ge- führt wurde sie vom Referat Selbstständige und gründet wurde die Stelle bereits im Jahr 2000 dem Bereich Innovation und Gute Arbeit mit unter dem Namen Mediafon. Aufgebaut ist sie dem Münchner Soziologen Hans Pongratz im wie eine Art virtueller Betriebsrat: 15 Berater, alle Rahmen des vom Bundesbildungsministerium selbst selbstständig tätig, beantworten Anfragen geförderten Projekts „Herausforderung Cloud von Mitgliedern, gegen einen Unkostenbeitrag und Crowd“. auch von Nichtmitgliedern. Beratungsbedarf tre- „Wir wussten, dass unter unseren Mitgliedern te vor allem in vier Bereichen auf, sagt Haake: Menschen sind, die im Internet Aufträge anneh- beim Urheberrecht, zu Verträgen oder AGBs, im men und abwickeln“, erklärt Veronika Mirschel, Steuerrecht sowie zur Sozialversicherung. Durch Leiterin des ver.di-Selbstständigen-Referats. „Und Crowdwork habe sich daran nichts geändert: wir wollten erfahren, wie es ihnen damit ergeht – „Die Fragen sind dieselben, die sich bei anderer und was sie von ihrer Gewerkschaft erwarten.“ selbstständiger Arbeit stellen.“ Dass es möglich war, neben Angestellten so viele Ebenso definieren sich Crowdworker kaum Solo-Selbstständige zu befragen, ist historisch über die Art der Auftragsvermittlung, sondern bedingt. Früher als andere Gewerkschaften nahm über ihre Berufe – als Journalisten, Designer oder

24 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 titelthema: Arbeit der Zukunft

Grafiker. Damit, erklärt Veronika Mirschel, „sind schlecht in der digitalen Welt“, konstatiert Hagen Ein Fact-Sheet zur Umfrage zu sie als Gruppe extrem schwer zu organisieren. und: „Aber wir werden alle nicht darum herum- Selbstständigkeit, Crowdwork und internetbasierten Aufträ- Neben dem gemeinsamen Arbeitsplatz fehlt ih- kommen, uns damit zu beschäftigen.“ Von den gen steht unter www.cloud- nen die verbindende berufliche Identität.“ Und: Gewerkschaften erwartet er, dass es gelingt, zum crowd.verdi.de. Die ausführ­ Viele sind keine Solo-Selbstständigen im engeren Empowerment der Onlinearbeiter beizutragen, liche Fassung wird im Herbst Sinne, sondern Studierende, Rentner oder Ange- also dazu, dass diese auf Augenhöhe und in veröffentlicht. stellte, die nebenher ein paar Euro verdienen. Kenntnis ihrer Rechte den Auftraggebern gegen- Die IG Metall bietet Onlinear- übertreten können. Lena Kaiser hofft zudem, dass beitern unter faircrowdwork. Forschungsauftrag per Crowdwork es gelingt, bei den Plattformen ein Mindestho- org Beratung und Unterstüt- Wie divers die Gruppe ist selbst unter ver.di-Mit- norar durchzusetzen: „Ein Geschäftsmodell, das zung sowie ein Forum, in dem gliedern, macht Mark Hagen deutlich. Der in darauf basiert, dass Menschen anderswo ihr Geld sie sich austauschen und vor Berlin lebende US-Amerikaner ist als freier Bera- zum Lebensunterhalt verdienen, ist keins.“ unseriösen Auftraggebern warnen können. Verknüpft ist ter und Campaigner in der Gewerkschaftsarbeit Erste Schritte sind gemacht: Inzwischen ha- die Seite mit einem aus dem tätig – für ver.di zum Beispiel und für den inter- ben acht Plattformen eine Selbstverpflichtung zu Kontakt mit Crowdworkern ge- nationalen Dachverband IndustriAll. Auch er ist „fairer und angemessener“ Bezahlung unterschrie- wonnenen Bewertungssystem als Crowdworker tätig und wurde mit seinem ben, die „lokale Lohnstandards sowie den zu für Plattformen. Auch die IG spezialisierten Profil – zweisprachig und auf For- erwartenden Zeitaufwand“ einbezieht. Bei der Metall bietet solo-selbstständi- gen Mitgliedern rechtliche schung fokussiert – sogar bei der Suche nach in- Erstellung des von den Münchner Testbirds ini- Schutzmöglichkeiten und spe- teressanten Jobs fündig: Über die Plattform up- tiierten Code of Conduct waren ver.di und IG zifische Beratungsangebote. work, eine der größten weltweit, arbeitet er an Metall beratend tätig. Das ver.di-Selbstständigen- seinem zweiten größeren Auftrag für ein Zu- referat nahm zuletzt zudem an einer Arbeitsgrup- kunftsinstitut in den USA. Beide Aufträge- er pe des Berliner Senats teil, die eine Expertise zum forschten die Arbeitsbedingungen in der digita- Thema „Faire Arbeit in der Crowd“ erstellte. Mir- len Welt, beschäftigten ihn über Monate und schel: „All das sind Schritte, die zeigen: Wir wer- wurden branchenüblich bezahlt. „Nicht alles ist den ernst genommen.“ Foto: Rolf Schulten Foto:

Selbständigen-Berater bei ver.di. Veronika Mirschel, Gunter Haake, Sarah Bormann (v.l.)

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 25 F it für Das ELEKTROAUTO

AUTOINDUSTRIE Die Zeit drängt, die IG Metall treibt. Betriebsräte der Autokonzerne bereiten ihre Belegschaften auf einen rasanten Wandel vor – so wie bei BMW.

Text Andreas Molitor – Fotos Werner Bachmeier

enn Peter Cammerer abends heim- Abschied vom Verbrennungsmotor kommt, schauen die Nachbarskinder Eine ganze Armada von E-Modellen steht in den dem Auto hinterher, obwohl es keine Startlöchern. Daimler plant unter der neuen Mar- Wjener PS-starken Wuchtbrummen ist. ke EQ zehn Modelle mit Elektromotor, Volkswa- Cammerer, Betriebsrat bei BMW in München, gen will schon in drei Jahren sogar 30 reinrassige fährt ein Elektroauto, einen BMW i3. In der Stromer anbieten. Wohnsiedlung ist das Fahrzeug ein Exot. „Aber Aber was wird aus Motoren- und Getriebe- in zehn oder 15 Jahren wird es genau umgekehrt bauern? Was aus Zulieferern von Kühlern, Ben- sein“, prognostiziert der promovierte Wirtschafts- zinpumpen, Kolben und Auspuffrohren, wenn und Sozialwissenschaftler. Natürlich kennt Cam- nur noch Batterie und Elektro­aggregat unter der merer die Verkaufsstatistiken. Und die sprechen – Kühlerhaube werkeln? Seit Monaten kursieren noch – eine ganz andere Sprache. Trotz staatlicher düstere Szenarien, wie viele Zehntausend Jobs Kaufprämie von bis zu 4000 Euro sind auf deut- das Elektroauto vernichten wird. „Ein Achtzy- schen Straßen derzeit nur knapp 50 000 reinras- lindermotor hat 1200 Teile, ein Elektromotor sige Elektroautos unterwegs – Lichtjahre entfernt nur 17 Teile“, konstatiert BMW-Gesamtbetriebs- von der Million Fahrzeuge, die sich die Bundes- ratschef Manfred Schoch. Weniger Wertschöp- regierung bis 2020 ursprünglich wünschte. Nach fung, weniger Jobs. „Ohne Ausgleich bliebe von wie vor schrecken die bescheidene Reichweite sieben Arbeitsplätzen in der Motorenfertigung der Elektrofahrzeuge und ihr hoher Preis das nur einer“, hat Michael Brecht, der oberste Gros der Autokäufer ab. Daimler-Betriebsrat, grob überschlagen. Auch wenn seit Anfang des Jahres die Ver- Die IG Metall drängt die deutsche Autoindus- kaufszahlen deutlich angezogen haben, der trie, mit ihrer Innovationsstärke die Weichen für Boom steht erst noch bevor. Denn ohne massiven eine zukunftsfähige Transformation zu stellen. Einsatz von Elektroautos werden die Hersteller Dabei müsse „die Politik endlich ihre koordinie- die weiter verschärften EU-Abgasnormen für ihre rende Funktion wahrnehmen und gemeinsam Fahrzeugflotten nicht erfüllen können. Im Raum mit Industrie und Gewerkschaften ein tragfähiges steht das Risiko von Fahrverboten in großen deut- strategisches Konzept vorlegen – das steht bis schen Städten. Nicht zuletzt dürften innovative heute aus“, sagte Jörg Hofmann, Erster Vorsitzen- Fahrzeugkonzepte von Newcomern, wie der Aa- der der IG Metall, vor dem „Dieselgipfel“ Anfang chener Cityflitzer e.GO, der ab Frühjahr 2018 für August. In einem Strategiepapier forderte die unter 16.000 Euro angeboten werden soll, die IG Metall die Autohersteller auf, schon ab dem Preise für Fahrzeuge mit alternativem Antrieb nächsten Jahr in allen Fahrzeugsegmenten zumin- gehörig ins Rutschen bringen. dest ein Modell mit Elektroantrieb anzubieten.

26 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 arbeit und mitbestimmung

„Wir Betriebsräte haben dafür gesorgt, dass wir unsere eigenen Mitarbeiter qualifizie- ren, statt Leute von draußen zu nehmen.“

P eter Cammerer, BMW-Betriebsrat

Geschäftsmodelle zukunftsfest machen baden-württembergische Bezirkschef der IG Me- Die aktuellen Produktionsrekorde der Verbren- tall, Roman Zitzelsberger, den Ton vor. Es sei ner gaukeln eine trügerische Sicherheit vor. notwendig, die Unternehmen unter Druck zu BMW-Betriebsrat Peter Cammerer, als langjähri- setzen und darüber zu verhandeln, „welche Fahr- ger Personalmanager mit den Beschäftigungsef- zeuge und Komponenten künftig an welchen fekten der Einführung neuer Technologien bes- Standorten produziert werden.“ tens vertraut, scheut nicht den Vergleich mit dem Klar. Den Betriebsräten geht es darum, die Schicksal der Titanic. „Es geht darum, rechtzeitig Beschäftigung zu sichern und die neuen Techno- das Ruder anzupacken und dem Eisberg auszu- logien in Deutschland zu halten. Bei Daimler ist weichen – nicht erst, wenn man mit ihm kollidiert es dem Betriebsrat gelungen, dazu Betriebsver- ist.“ Das gelte erst recht für jene Zulieferer, die einbarungen auszuhandeln. Der erste vollelekt- Komponenten für den Antrieb von Benzinern rische SUV mit Mercedes-Stern wird in Bremen und Dieselfahrzeugen produzieren. „Ihr müsst vom Band laufen. Für Sindelfingen wiederum jetzt nachdenken, wie ihr euer Geschäftsmodell wurde eine völlig neue Generation von Elektro- zukunftsfest macht – sonst bleibt euch irgend- fahrzeugen beschlossen. wann nur noch die Aussicht auf einen Sozialplan“, erklärt er den dortigen Betriebsratskollegen. Prak- Betriebsräte kämpfen für heimische Standorte tisch kein Teil eines Verbrennungsmotors habe Das Management hätte diese Autos gern dort eine Zukunft im E-Motor: Steuerkette, Simmer- produziert, wo der Markt für E-Mobile bereits ringe, Ventile, Kolben, Kurbelwelle, Ventiltrieb, heute boomt, in China oder in den USA, berich- Abgasanlage – „das sind dort alles zum Aussterben tet Ergun Lümali, der stellvertretende Gesamtbe- verurteilte Teile“. triebsratsvorsitzende des Stuttgarter Konzerns. Die Arbeitnehmerseite scheint in diesem in- „Der Betriebsrat hat sich massiv dafür eingesetzt, dustriellen Parforceritt bislang der aktivere Part. dass diese Modelle in Sindelfingen vom Band „Wir wollen auf keinen Fall abwarten, sondern laufen werden.“ Und bei Volkswagen haben Be- aktiv in die Auseinandersetzung gehen“, gibt der triebsrat und Vorstand sich Ende vorigen

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 27 Bau der Elektromotoren. Salzgitter baut die Kom- petenz für die Zellenentwicklung auf. Auch bei der Qualifizierung sind die Betriebs- räte und Vertrauensleute gut aufgestellt und kümmern sich um den Erwerb zusätzlicher Kom- „Ohne Ausgleich bliebe von petenzen. Denn wer einen Benzinmotor einbaut, kann nicht automatisch einen E-Motor montie- sieben Arbeitsplätzen in der ren – vom Umgang mit gefährlicher Hochvolt- spannung ganz zu schweigen.

Motorenfertigung nur einer.“ BMW Landshut: Qualifikationen erfasst So hat der Betriebsrat im BMW-Werk Landshut Mir chael B echt, Betriebsratsvorsitzender Daimler AG schon vor einigen Jahren systematisch die Qua- lifikation der Belegschaft erfasst. Ausbildung, bisherige Tätigkeit, Lehrgänge – alles wurde ab- gefragt. Dieses Detailwissen komme dem Stand- ort jetzt, „wo wir reife Technologien infrage stellen, das Alte ein Stückweit loslassen und das Neue einführen“, außerordentlich zugute, erklärt Jahres auf einen ‚Zukunftspakt‘ verständigt. der Betriebsratsvorsitzende Willibald Löw. Auch hier hat die Arbeitnehmervertretung – ge- „Leute die Treppe hochentwickeln“ nennt er gen Zugeständnisse bei Rationalisierungsmaß- das vom Betriebsrat ersonnene Verfahren. Durch- nahmen – dafür gesorgt, dass die nächste Gene- laufen haben es auch 30 Leute aus der Motoren- ration elektrisch angetriebener Volkswagen in demontage, die bislang einfache Arbeiten verrich- Deutschland gebaut wird. Der Vorstand wollte teten, bei denen viel geölt, geschmiert, zerlegt und die Produktion ins slowakische Bratislava verge- gewaschen wurde. „Das war nicht unbedingt der ben. Außerdem ist im ‚Zukunftspakt‘ klar defi- Personenkreis, den man einfach in die E-Mobilität niert, welches Instrument die einzelnen Fabriken umsetzen kann“, räumt Löw ein. künftig im konzerneigenen E-Mobilitäts-Orches- Leichter war es, die Anlagenführer aus der ter übernehmen werden. So wird der I.D. ,unge- mechanischen Fertigung an die neuen Tätigkeiten fähr in Größe des Golf, ab 2020 in Zwickau ge- heranzuführen; während für deren vakante Posten fertigt. Den ersten reinen Elektro-SUV bekommt die Mitarbeiter aus der Demontage qualifiziert Wolfsburg. Braunschweig entwickelt die Batte- werden konnten. „Aus unserer Bestandsaufnahme riesysteme, Kassel übernimmt die Führung beim hatten wir die Information, welche Qualifikation

Das Display im BMW i3 zeigt dem Fahrer Optionen zum Stromsparen und zur Erhöhung der Reichweite an – ähnlich

Foto: Jan Woitas/dpa Jan Foto: wie ein Smartphone.

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ihnen noch fehlte“, erklärt der Landshuter Be- könnten ganze Schichten beiseite genommen Willibald Löw, Betriebsratsvorsit- triebsratsvorsitzende. So konnte man bei jedem und an einer neben dem Band aufgebauten zender bei BMW in Landshut, in der Elektromotorenproduktion (l.). Arbeiter aus der Demontage definieren, welche Lerninsel qualifiziert werden, erklärt Cammerer Zusatzqualifikation er benötigt. „Dieses Wissen das Prinzip. Er ist stolz darauf, „dass wir es ge- haben wir erarbeitet.“ schafft haben, für die Montage der neuen Elekt- BMW-Gesamtbetriebsratsvorsitzen- Im Münchener BMW-Werk, wo neben Fahr- rokomponenten zuerst unsere eigenen Mitarbei- der Manfred Schoch im Motoren- bau vor einem Verbrennungsmotor. zeugen auch viele Motoren vom Band laufen, ist ter zu qualifzieren, und keine Leute von draußen der Veränderungsdruck gestiegen, nachdem der oder Zeitarbeitskräfte nehmen.“ Konzernvorstand entschieden hatte, schon in den nächsten Jahren Modelle bestehender Baureihen BR-Wissen in Sachen E-Mobilität zu elektrifizieren. Hartnäckig und letztlich erfolg- Der Systemwechsel zur Elektromobilität verlangt reich hat sich der Betriebsrat für die Qualifizie- auch den Arbeitnehmervertretern einiges an Qua- rung eingesetzt. So sollen Mitarbeiter aus dem lifikation ab. Sie müssen nicht nur Strategien für Motorenwerk Elektrokompetenz erwerben, da- einzelne Standorte entwickeln, sondern auch in mit sie in Zukunft Komponenten für einen elek- puncto Produktionstechnik auf der Höhe sein. trischen Antriebsstrang montieren und einbauen Und so haben sämtliche Landshuter BMW-Be- können. In einer Betriebsvereinbarung wurde triebsräte eine E-Mobilitäts-Ausbildung absol- geregelt, dass eine erste Gruppe von 30 Mitarbei- viert; sie wissen, wie ein Hochvoltspeicher arbei- tern des Motorenbaus für eine solche Montage tet. „Nur wenn die Qualifikation stimmt, bist du qualifiziert wird. als Betriebsrat ein respektierter Gesprächspartner Sie lernen jetzt, wie man den Hochvoltspei- und kannst auf Augenhöhe mit dem Standortlei- cher und den Elektromotor montiert. Begleitend ter diskutieren“, stellt Willibald Löw klar. Sein werden sie gemäß der bei BMW eingeführten Münchner Kollege Peter Cammerer geht sogar „Blitz-Stufen“ im Umgang mit Strom qualifiziert. noch einen Schritt weiter. „Wir Betriebsräte soll- Eingesetzt werden diese Mitarbeiter nach der ten einen Wissensvorsprung haben, und zwar bis Qualifizierungsphase in einem der Werke des zur Produktinnovation“, gibt er das Ziel vor. „Wer elektrischen Antriebstranges, in der Endmontage als Betriebsrat sich damit zufrieden gibt, dass er von Plug-in-Hybridfahrzeugen, Elektrofahrzeu- sich im Tarifvertrag auskennt, hat die Zeichen der gen oder im Prototypenbau. Der Münchner Zeit definitiv noch nicht verstanden.“ BMW-Betriebsrat Cammerer ist überzeugt, dass diese 30 „nur ein erster Schritt“ sind und „eine Blaupause für weitere, ähnliche Maßnahmen.“ So

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 29 Angriff erfolgreich abgewehrt

MITBESTIMMUNG Der Europäische Gerichtshof hat die deutsche Unternehmensmitbestimmung ohne jede Einschränkung für europarechtskonform erklärt. Ein Erfolg, der auch dem Engagement der Hans-Böckler-Stiftung zu verdanken ist.

Von Joachim F. Tornau, Journalist in Hamburg und Kassel

anch einer war sich vielleicht ein bisschen zu si- Jahre lang hatten konservative Juristen für ihre These von cher gewesen. „Wer den Europäischen Gerichts- der Europarechtswidrigkeit getrommelt, jetzt wähnten sie hof kennt“, hatte mutig die Frankfurter Allgemei- sich endlich am Ziel. Mne Zeitung kommentiert, „dürfte wenig Zweifel Doch als die europäischen Richter nun nach fast zwei- hegen: Deutschland muss die Aufsichtsräte für Beschäf­tigte jährigem Verfahren ihre Entscheidung verkündeten, wisch- aus ausländischen Tochtergesellschaften öffnen.“ Das war ten sie sämtliche Argumente der Mitbestimmungskritiker im Oktober 2015 – und eigentlich war noch nicht mehr vom Tisch. Weder verstoße es gegen das Diskriminierungs- passiert, als dass dem EuGH in Luxemburg eine Frage vor- verbot, dass nur Konzernbeschäftigte im Inland das Wahl- gelegt worden war: Verstößt die deutsche Unternehmens- recht für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat haben, mitbestimmung gegen Europarecht? Aber schon das ließ noch werde ihre Freizügigkeit dadurch unzulässig behin- die Gegner der Mitbestimmung frohlocken. Mehr als zehn dert, dass sie bei einem Wechsel ins Ausland ihr aktives und

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passives Wahlrecht verlieren. Das Unionsrecht garantiere Gutachten der Rechtsprofessoren Rüdiger Krause (Univer- nicht, dass der Umzug in einen anderen Mitgliedstaat „in sität Göttingen) und Johann Mulder (Universität Oslo). Bei sozialer Hinsicht neutral“ sei, erklärte der Gerichtshof. einer Konferenz in Luxemburg, am Sitz des EuGH, wurden Ausgelöst hatte das Verfahren der Berliner Jurist, Banker die Ergebnisse vorgestellt. „Wir haben versucht, für die Ent- und Start-up-Investor Konrad Erzberger, der eigens eine scheidung des Gerichts eine solide Faktenbasis zu schaffen“, Handvoll Aktien des Reisekonzerns TUI erwarb, um die sagt Böckler-Wirtschaftsrechtler Lasse Pütz. „Nicht alle Zusammensetzung des Aufsichtsrats gerichtlich überprüfen EuGH-Richter sind ja Deutschlandkenner, die über die Spe- lassen zu können. Seine Forderung: Weil bei TUI die rund zifika des deutschen Systems Bescheid wissen.“ 80 Prozent der Beschäftigten, die im EU-Ausland arbeiten, nicht im Aufsichtsrat repräsentiert seien, dürften künftig Kehrtwende der EU-Kommission nur noch Anteilseigner in dem Gremium sitzen. Erzberger Zu diesen Spezifika gehört auch die hohe Akzeptanz: Beim folgte damit dem Vorbild von Volker Rieble, dem Direktor Festakt zum 40-jährigen Mitbestimmungsjubiläum lobte des arbeitgeberfinanzierten Zentrums für Arbeitsbeziehun- der damalige Bundespräsident Joachim Gauck die Unter- gen und Arbeitsrecht (ZAAR) an der Ludwig-Maximilians- nehmensmitbestimmung als „Kulturgut“. In einem viel Universität in München, der wie kaum ein Zweiter schon beachteten Beitrag im Handelsblatt sprachen sich DGB- seit Jahren das Pferd der vermeintlichen Europarechtswid- Vorsitzender Hoffmann und Arbeitgeberpräsident Kramer rigkeit der Mitbestimmung reitet. für den Erhalt der Unternehmensmitbestimmung aus. All das blieb nicht ohne Wirkung. Als der EuGH im DGB: Mitbestimmungskritiker haben Schiffbruch erlitten Januar 2017 zur mündlichen Verhandlung lud, sprangen Dieses Pferd ist nun zu Tode geritten – und die Genugtuung neben der Bundesregierung auch Österreich, Frankreich, bei den Gewerkschaften groß. „Die deutschen Mitbestim- Luxemburg und die Niederlande für die Mitbestimmung mungskritiker haben in Luxemburg Schiffbruch erlitten“, in die Bresche. Und die EU-Kommission vollzog eine Kehrt- sagte DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann und sprach von wende um 180 Grad. Wiederum ohne jeden Vorbehalt er- einem „großen Erfolg für die Demokratie in der Wirtschaft“. klärte sie die Arbeitnehmermitbestimmung zum „wichti- Michael Guggemos, Geschäftsführer der Hans-Böckler- gen politischen Ziel“ und die deutschen Gesetze für Stiftung, betonte: „Damit ist eine akute Gefahr für die europarechtskonform: „Jede daraus möglicherweise resul- Rechte ­von Millionen Arbeitnehmern abgewehrt – und tierende Beschränkung der Freizügigkeit von Arbeitneh- zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in den ande- mern kann durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden, ren 17 EU-Ländern, in denen Beschäftigte eine gesetzlich das System der Mitbestimmung und dessen soziale Ziele verbriefte Mitsprache in den Leitungsgremien ihrer Unter- zu schützen.“ EuGH-Generalanwalt Henrik Saugmands­ nehmen haben.“ gaard Øe hatte sich in der Anhörung zwar noch kritisch Urteil des Das Verfahren, befand Norbert Kluge, Mitbestim- gegeben, doch in seinem Schlussantrag gut drei Monate Europäischen mungsexperte der Stiftung, sei zu Recht eine „juristische später machte auch er sich Argumente der Protagonisten Gerichtshofs in Geisterfahrt“ genannt worden. Doch so abstrus die Argu- der Mitbestimmung zu eigen. Und das höchste europäische der Rechtssache mente der Klägerseite vielen Fachleuten auch erschienen, Gericht folgte ihm. C-566/15 (Erz- berger vs. TUI) zunächst waren es die Gegner der Mitbestimmung, die sich Ein Erfolg. Gleichwohl gibt sich Lasse Pütz keinen Il- im Original­ über Rückenwind freuen durften: In einer ersten schriftli- lusionen hin. „Die Kritiker“, sagt der Böckler-Experte, „wer- wortlaut chen Stellungnahme hatte sich die Europäische Kommis- den sich jetzt neue Hebel suchen, um die Mitbestimmung bit.ly/2uBp0Eq sion im Februar 2016 noch ohne jeden Vorbehalt auf die anzugreifen – und dabei wird der Einfluss auf die europäi- Seite der Gegner geschlagen. sche Rechtsetzung sicher eine zentrale Rolle spielen.“ Die Spätestens damit war klar: Es reichte nicht, die besseren nächste Abwehrschlacht ist bereits zu schlagen: Die EU Argumente zu haben, ihnen musste auch größerer Nach- plant eine Richtlinie zur grenzüberschreitenden Fusion druck verliehen werden. Gemeinsam machten sich Hans- und Aufspaltung von Unternehmen – und noch ist darin Böckler-Stiftung und Gewerkschaften an die Verteidigung nicht ausgeschlossen, dass Firmen ihren formalen Sitz ein- der Mitbestimmung im juristischen wie im öffentlichen fach in das Land mit den geringsten Beteiligungsrechten Diskurs. In fachwissenschaftlichen Aufsätzen und Vorträgen für Arbeitnehmer verlegen können. Eine Einladung zur wurde deutlich gemacht, was auf dem Spiel steht, und die Mitbestimmungsflucht. Und ein eklatanter Widerspruch Argumentation der Klägerseite zerpflückt. Die Stiftung wid- zu dem flammenden Bekenntnis zur Mitbestimmung, das mete dem Thema mehrere Publikationen und veröffentlichte­ die EU-Kommission vor dem EuGH abgelegt hat.

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 31 Und was sagen Sie zur Mitbestimmung?

WAHLPROGRAMME Die SPD ist nah beim DGB, die CDU bleibt hinter ihrem Arbeitnehmerflügel zurück, Grün zeigt sich etwas unentschieden, die Linke hat viele eher visionäre Forderungen. Ein Blick auf die Mitbestimmung in den Wahlprogrammen

Von Michael Bolte und Rainald Thannisch. Beide arbeiten in der Grundsatzabteilung beim DGB-Bundesvorstand in Berlin, sie sind zuständig für betriebliche Mitbestimmung und Unternehmensmitbestimmung.

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Union: Mitbestimmung sucht sive Mitbestimmung des DGB. Betriebsrätebe- man vergebens hinderung wird als das benannt, was es ist – Wahlprogramme sind mehr als eine An- demokratiefeindlich­ – und muss verfolgt und sammlung unverbindlicher Versprechen. Sie nachhaltig sanktioniert werden. Den Betriebs- sollen einen Vorgeschmack darauf geben, wie und Personalräten sollen Werkzeuge an die wir uns nach dem Willen der jeweiligen Partei Hand gegeben werden, die sie für die Gestaltung die Welt von morgen vorzustellen haben. von „guter“ (nicht nur digitaler) Arbeit brauchen. „Für ein Deutschland, in dem wir gut und Zur Unternehmensmitbestimmung macht sich gerne leben“. Schon der Titel verrät, dass die Uni- die SPD die von DGB und Gewerkschaften vor- on eher mit Beständigkeit punkten möchte. Da- gelegten Forderungen zur Schließung von her verwundert es nicht, dass die betriebliche Schlupflöchern zur Vermeidung der Unterneh- Mitbestimmung nur an einer einzigen mensmitbestimmung zu eigen und wird recht Stelle auftaucht und die Unternehmens- konkret: Genannt wird die Erstreckung des deut- mitbestimmung vollständig fehlt. schen Mitbestimmungsrechtes auch auf Unter- Mitbestimmung als Teil der sozialpartner- nehmen in ausländischer Rechtsform, die Schlie- schaftlichen Gestaltung von „guter Arbeit“ sucht ßung der „Lücke im Drittelbeteiligungsgesetz“ man bei der Union vergebens – der fortgeschrie- und die Klarstellung, dass die Mitbestimmung bene mitbestimmungspolitische Stillstand ist in einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) hier offenbar Programm. Das ist umso bedauer- neu verhandelt werden muss, wenn die Zahl der licher, als die Mitbestimmung starke und leben- Beschäftigten in Deutschland über die Schwel- dige christlich-soziale Wurzeln hat, was sich auch lenwerte der deutschen Mitbestimmungsgesetze darin zeigt, dass die Christlich-Demokratische steigt. Sehr zu begrüßen ist ebenfalls, dass der Arbeitnehmerschaft (CDA) auf ihrer Bundes­ Schwellenwert für die Geltung der paritätischen tagung im Mai 2017 in Ludwigshafen einen Mitbestimmung – wie es auch DGB und Gewerk- Leitantrag beschlossen hat. Dort hat die CDA schaften fordern – auf 1000 Beschäftigte abge- gefordert, den Kündigungsschutz bei Betriebs- senkt werden soll. ratswahlen zu erhöhen und die Unternehmens- mitbestimmung auf Unternehmen ausländischer Bündnis 90/Die Grünen: Ja zu Betriebsräten, Rechtsform zu erstrecken. Leider wurden diese unterbelichtet bei kollektiven Regelungen Impulse ebenso wenig in das Wahlprogramm Die Grünen legen ihre Schwerpunkte sehr der Union übernommen wie der Gedankenan- deutlich auf andere Themen als die stoß von Bundestagspräsident , Arbeitswelt im Allgemeinen oder CDU, der auf dem Festakt „125 Jahre IG Metall“ die Mitbestimmung im Besonderen. am 4. Juni 2016 laut darüber nachdachte, „ob es In ihrem Programm „Zukunft wird wirklich der Weisheit allerletzter Schluss“ sei, aus Mut gemacht“ steht individuelle „dass mit dem Auslaufen des Bergbaus und dem Selbstbestimmung hoch im Kurs, wird Rückgang der Stahlindustrie“ die Montan- offensichtlich als progressiver angesehen. mitbestimmung „in die Geschichtsbücher Durchaus findet sich aber das Bekenntnis wandert“. zu „starken Betriebsräten“, die besser ge- schützt werden sollen, und auch die Senkung SPD: Große Schnittmengen mit den der Schwellenwerte für die paritätisch besetz- DGB-Gewerkschaften ten Aufsichtsräte auf 1000 Beschäftigte fehlt Im Gegensatz zur Union besinnt sich die SPD nicht im Programm. Doch über diese auf die Stärken der von ihr stets geförderten Basics geht die grüne Programmatik gesetzlichen Mitbestimmung, wenn es um die leider nicht sehr weit hinaus. Gestaltung der Arbeit der Zukunft geht. In ih- Viel Raum nimmt die Gestaltung Fotos: shutterstock Fotos: rem Programm „Es ist Zeit für mehr Gerechtig- der Arbeitszeit ein. Selbstbestimmter soll sie keit: Zukunft sichern, Europa stärken“ finden nach Meinung der Grünen werden. Das ist gut. sich erfreulich große Schnittmengen Aber dass diese Selbstbestimmung nur möglich mit dem Forderungskatalog der Offen- ist, wenn gesetzliche, tarifvertragliche und

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 33 Die mitbestimmungspo- schließlich auch betriebliche Regelungen der Mitbestimmung den größten Raum ein. Ihre litischen Forderungen für den nötigen individuellen Freiraum sorgen, Forderungen nach Ausbau der betrieblichen und des DGB und seiner Mit- wird ausgeblendet. So wie die Tatsache, dass es der Unternehmensmitbestimmung gehen zu- gliedsgewerkschaften unter www.dgb.de/mit- ohne eine gestärkte kollektive Mitbestimmung meist in die richtige Richtung – wobei Ausnah- bestimmung flächendeckend keine größeren individuellen men hier die Regel bestätigen. Gestaltungsmöglichkeiten geben wird. Das Feh- Zur Bundesratsinitiative len dieses Zusammenhangs verwundert umso FDP: Schweigen ist besser als bekämpfen http://bit.ly/2ugSuHi mehr, als die Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Der Titel des FDP-Wahlprogramms, Anforderungen des DGB Die Grünen in der ausgehenden Legislaturperi- „Schauen wir nicht länger zu“, (sondern an die Parteien zur Bun- ode inhaltlich wegweisende Anträge zur Stär- handeln wieder mit einem parlamentari- destagswahl 2017 kung der Betriebsräte und der Unternehmens- schen Mandat), gilt nicht für die Mitbestim- http://bit.ly/2uFYDxK mitbestimmung in den Bundestag eingebracht mung. Die taucht im Wahlprogramm der FDP hat. Das Wissen um die Herausforderungen der nicht auf. Wie bereits 2013, als die FDP aus dem Mitbestimmung ist in der Partei in jedem Fall Bundestag flog, wo sie nun wieder hinein möchte. vorhanden. Doch das Schweigen im Walde ist besser als der Bleibt zu hoffen, dass die Grünen den Mut Furor in den Jahren zuvor, als die Brüderle-FDP finden, in Zukunft die scheinbar alte, kollektive eine ganze Reihe von Vorschlägen vorgelegt hatte Mitbestimmung mit der scheinbar neuen, indi- und die Mitbestimmung Schritt für Schritt schwä- viduellen Selbstbestimmung zu verbinden. chen oder abbauen wollte.

Die Linke: Visionäre Forderungen neben Fazit Praxisnähe SPD und Linke haben auch zur Bundes- In ihrem Programm gibt sich die Linke kämpfe- tagswahl 2017 substanzielle Forderungen zur risch. „Die Zukunft, für die wir kämpfen: Sozial. Weiterentwicklung der Mitbestimmung vorge- Gerecht. Frieden. Für alle“ steht ganz oben. Wer legt; insbesondere bei der SPD fällt die große darin liest, erkennt, dass aller Wahrscheinlichkeit Schnittmenge zu den Forderungen der gewerk- nicht alle Ziele in den folgenden vier Jahren er- schaftlichen Offensive Mitbestimmung auf. Dies reicht werden können. So ist die Forderung nach gilt ebenso für die Grünen, wenn auch mit deut- einer faktischen Ausweitung der Montanmitbe- lichen Abstrichen – und nur, wenn man die stimmung auf alle privaten, öffentlichen und überzeugenden Anträge der grünen Bundestags- gemeinwirtschaftlichen Unternehmen mit mehr fraktion in die Betrachtung einbezieht. als 100 Beschäftigten eine interessante Forderung, Bei den Unionsparteien hingegen ist es dem aber kein realitätsnahes Umsetzungskonzept. Arbeitnehmerflügel nicht gelungen, seine mit- Auch dass die Belegschaft – noch vor dem Auf- bestimmungspolitische Beschlusslage in das sichtsrat – bei wirtschaftlichen Fragen Wahlprogramm einzubringen. Hier wird vom erheblicher Bedeutung eine Abstim- DGB und den Gewerkschaften noch nachzuar- mung durchführen soll (übrigens beiten sein. eine alte Forderung der katholischen Denn einen weiteren mitbestimmungspoli- Arbeitnehmerbewegung), ist – obwohl tischen Stillstand können wir uns nicht leisten. ein spannender und zukunftsweisender Ge- Es bleibt daher sehr zu hoffen, dass die künftige danke – vermutlich bei keiner der anderen Bundesregierung der Aufforderung des Deut- Parteien durchsetzungsfähig. Gleichwohl schen Bundesrates von Februar 2017 nachkommt, bleibt zu konstatieren, dass die Linken neben „die gesetzliche Mitbestimmung der Arbeitneh- den genannten eher visionären Forderungen merinnen und Arbeitnehmer zu erhalten, auszu- auch viele praxisnahe Forderungen zur Verbes- bauen und damit an die genannten Herausfor- serung der Rechte der Betriebsräte und zum derungen anzupassen“. Vor allem dann, wenn das Kündigungsschutz bei Betriebsratswahlen auf- entsprechende „Lastenheft“, der Koalitionsver- greifen. Und sie räumen – im Vergleich trag, verhandelt wird – nach der Bundestagswahl aller hier betrachteten Wahlprogramme – am 24. September.

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Generation hoffnungslos

SPANIEN Was passierte mit den Milliarden aus dem Jugendprogramm der EU? Jobs werden bis zur Schmerzgrenze subventioniert und Geld benutzt, um Sozialausgaben zu sparen.

Text und Fotos von Reiner Wandler, Journalist in Madrid

ramatische Zahlen über die Jugendarbeits- Drittel dieses Geldes erhalten. Heute, knapp vier Nein, wir wandern nicht aus! No losigkeit in Südeuropa führten 2013 dazu, Jahre und etliche Milliarden Euro später, müssen nos vamos. Demonstration der Juventud sin futuro in Madrid. dass Brüssel das europäische Programm die EU-Kommission und der Europäische Rech- D„Jugendgarantie“ auflegte. Die EU stellte nungshof eingestehen, dass das Programm nur zunächst 6,4 Milliarden Euro und später weitere bedingt Erfolge zeigt. In Spanien werden Stimmen zwei Milliarden zur Verfügung, damit jeder Ju- laut, die ganz offen von einem Scheitern reden. gendliche spätestens nach vier Monaten ohne Job Die zweitgrößte spanische Gewerkschaft UGT ein hochwertiges Beschäftigungsangebot, eine beklagt den fehlenden sozialen Dialog rund um Fortbildung, einen Ausbildungsplatz oder ein die Jugendgarantie und warnt davor, dass das Pro- Praktikum erhalten sollte. Spanien hat knapp ein gramm so zum Scheitern verurteilt ist.

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 35 Kritik von der Gewerkschaftsjugend sem Jahr sind die Arbeitsämter angehalten, jun- „Ein Flop“ ist das europäische Arbeitsbeschaf- ge Menschen, die sich arbeitssuchend melden, fungsprojekt für Miriam Morales, die Spreche- direkt einzuschreiben. rin der Gewerkschaftsjugend bei Comisiones Obreras (CCOO) in Madrid. Auch Victor Relo- Die spanische Variante der Ich-AG ba, Vizepräsident des Spanischen Jugendrates Gewerkschafterin Miriam Morales spricht an, (CJE) – das ist der Dachverband aller spani- was auch der Europäische Rechnungshof beklagt: schen Jugendorganisationen inklusive Gewerk- „Ein Teil des Geldes wurde benutzt, um bereits schaftsjugend –, findet kaum ein gutes Wort. bestehende Programme zu finanzieren.“ Unten Nach Griechenland ist Spanien das EU-Land kam oft genau das Gleiche an wie vor der euro- mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit. „Bis päischen Intervention. Ein typisches Beispiel ist Ende 2016 haben sich gerade einmal 423 000 der „Plan für junge Unternehmer“, mit dem jun- Jugendliche – und damit weniger als ein Drittel ge Arbeitslose zu Selbstständigen herangezogen der Zielgruppe – in die Jugendgarantie einge- werden sollen – eine Art spanischer „Ich-AG“. schrieben“, erklärt der 25-jährige Reloba. „Das Dieser Plan bestand bereits vor der Jugendgaran- Programm hätte durchaus Chancen geboten, tie und wurde dann in das europäische Pro- die wir leider verpasst haben“, sagt die 26-jähri- gramm integriert. ge Miriam Morales. „Das Programm trägt zur wachsenden Preka- Die Ergebnisse der Jugendgarantie sind be- risierung junger Arbeitnehmer bei“, kritisiert scheiden: 2016 bekamen 2249 junge Spanier ei- Miriam Morales. Nur 20 Prozent der Gelder ge- nen festen Arbeitsplatz. 47,5 Prozent derer, die hen in die Kernaufgabe des Programms, wie Be- an der Jugendgarantie teilnehmen, warten vier ratung, Weiterbildung und Vermittlung. 38 Pro- Monate später noch immer vergebens auf ein zent der EU-Gelder gehen in den „Plan für junge Jobangebot. Und laut Zahlen des Europäischen Unternehmer“. Weitere 40 Prozent der Gelder Rechnungshofes waren 62,3 Prozent der jungen werden dazu genutzt, Anreize für die Unterneh- Spanier, die 2015 eingeschrieben waren, sechs „Es verstrich fast mer zu schaffen, damit sie junge Arbeitslose ein- Monate nach Ende des Programms wieder ohne stellen. Wer jemanden aus der Jugendgarantie Arbeit und studierten auch nicht. „Ni-ni“ – die ein Jahr, bis das unter Vertrag nimmt, bekommt sechs Monate „Weder-Noch“ – werden diese jungen Menschen Programm umge- lang die Sozialversicherung erlassen. in Spanien genannt. Deshalb sind viele Teilnehmer des Pro- Im Jahr 2013, auf dem Höhepunkt der Krise, setzt wurde. Bis gramms nach einem halben Jahr wieder auf der lag die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien bei über heute kennen Straße. „Der ‚Plan für junge Unternehmer‘ zer- 50 Prozent. Heute sind es noch immer 43 Prozent. stört die Arbeitsverhältnisse, wie wir sie bisher Die Zahlen sind aber nicht dank des EU-Pro- viele Jugendliche kannten“, sagt der Soziologe Jorge Moruno. Was gramms gesunken. Der Rückgang ist vielmehr es nicht.“ die Konservativen „emprendedor“, Unternehmer, die Folge ständig zunehmender befristeter Teil- nennen, sei meist nichts anderes als ein Schein- zeitverträge – und eine Folge der Abwanderung selbstständiger, der zu wesentlich schlechteren

junger Arbeitskräfte ins Ausland. So hat die Zahl Vielctor R oba, Vize des Spani- Bedingungen Arbeiten übernimmt, die früher der Spanier unter 30 Jahren, die im Ausland leben, schen Jugendrates (CJE) ein Festangestellter ausführte. von 2009 bis 2017 um 79 Prozent zugenommen. Moruno beobachtet eine weitere Degradie- Laut Nationalem Statistikamt (INE) sind es mitt- rung der Arbeitsbedingungen. Zu Beginn der lerweile 769 845 Personen. Krise stand der Begriff „Mileurista“, der Tausend- Victor Reloba vom Jugendrat zählt eine gan- Euro-Verdiener, für den Niedriglohnsektor. „Ein ze Reihe von Faktoren auf, die erklären, warum Mileurista ist heute ein glücklicher Mensch“, er- das Programm in Spanien nicht funktioniert: klärt der Soziologe. „35 Prozent der arbeitenden „Es verstrich fast ein Jahr, bis es überhaupt um- Spanier verdienen weniger als 600 Euro im Mo- gesetzt wurde. Bis heute kennen viele der Ju- nat“, zitiert er offizielle Statistiken. Schuld daran gendlichen aus der Zielgruppe das Programm ist die Zunahme an Teilzeitverträgen, die meist nicht“, erklärt der CJE-Vizepräsident. Statt der auch noch befristet sind. Die Arbeitslosigkeit Arbeitsämter kümmerten sich die autonomen geht zurück. Doch immer weniger Menschen Regionen um die Jugendgarantie. Erst ab die- können von ihren Einkünften leben.

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„Diese Prekarisierung trifft junge Menschen be- sonders stark. Zur bisherigen Diskriminierung nach sozialer Schicht und Geschlecht kommt jetzt noch die generationelle Diskriminierung“, sagt Virginia Rodríguez. „Bis 2015 wurde die Jugendgarantie hochgelobt. Jetzt zeigt sich, dass wir damals recht hatten, als wir vor dem Schei- tern warnten“, erklärt die 35-jährige Anwältin und Politologin, die die Forschungsabteilung der Stiftung Por Causa koordiniert. „Die Jugendga- rantie war nichts weiter als ein kleines Pflaster auf einer großen Wunde“, ist sie sich sicher. „Wäh- rend die EU-Gelder ausgegeben wurden, gingen die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und die Prekarisierung weiter.“ Die 27-jährige Esther Herrera ist eine derer, die sich in die Jugendgarantie einschrieben. „Das war 2015. Ich war seit fast zwei Jahren arbeitslos“, erinnert sie sich. Erst nach einigen Monaten kam die Antwort, sie erfülle die Kriterien nicht. Her- rera gehört zum „Prekären Büro“, einer Gruppe Ein Verdienst von 600 Euro ist Gewalt, hat dieser von jungen Menschen, die sich mit der Situation Demonstrant in Madrid geschrieben. auf dem Arbeitsmarkt beschäftigen. Sie kommen alle aus dem, was einst die Bewegung „Jugend ohne Zukunft“ (JsF) war – einer Gruppe, die ent- scheidend mit bei der Gründung der Empörten- bewegung 2011 und der Linkspartei Podemos „Viele Teilnehmer 2014 beteiligt war. se angeboten, die sie schnell auf ein befristetes, „Unsere Erfahrung mit der Jugendgarantie ist, des Programms meist schlecht bezahltes Arbeitsverhältnis vorbe- dass die Angebote nicht zu den Qualifikationen sind nach einem reiten sollen. „Diese Kurse werden von eigens passen“, erklärt Herrera. Sie kritisiert, was auch gegründeten Akademien abgehalten“, sagt er. Die die Gewerkschaften kritisieren: dass es kein pro- halben Jahr wie- Jugendgarantie privatisiert einen Teil der Bil- grammbegleitendes Gremium gibt, in dem Ju- der auf der Straße. dung. „Außerdem wird ein Teil der Gehälter der gend- und Arbeitnehmerorganisationen vertre- Lehrer an den staatlichen Erwachsenenschulen ten sind. Und die Unterneh- aus diesem Topf bezahlt“, sagt Cabornero. Das sei mer stellen den dem Zuständigen bei den Behörden auf einer Schnelle Kurse und Geschäft mit der Sitzung „rausgerutscht“. Weiterbildung nächsten ein.“ Damit nicht genug: Spaniens konservative Selbst diejenigen, die eigentlich mit den jungen Regierung hat weiter gehende Pläne für die Gel- Menschen aus der Jugendgarantie arbeiten sollen, der aus Brüssel. Zu den bisher bewilligten 2,36 haben kaum Informationen. Eduardo Cabornero Miriam Morales, Sprecherin- Milliarden Euro sollen weitere 900 Millionen Gewerkschaftsjugend, CCOO ist Lehrer und Mitglied der Direktion an einer nach Spanien fließen. Die Idee: künftig die Löh- Schule in Entrevías, einem der ärmeren Stadttei- ne junger Arbeitnehmer mit bis zu 400 Euro über le Madrids, an der Erwachsene den Hauptschul- die Jobgarantie und damit über EU-Gelder zu abschluss nachholen können. „30 Prozent meiner finanzieren. Das sieht ein Haushaltsentwurf vor, Schüler gehören zur Zielgruppe der Jugendga- der seit Mai im Parlament diskutiert wird. Der rantie, aber nur fünf Prozent sind eingeschrieben“, Vorschlag stammt von der rechtsliberalen Partei weiß der 61-Jährige. Ciudadanos, die die konservative Minderheitsre- Was Cabornero beobachtet, gefällt ihm nicht: gierung von Mariano Rajoy unterstützt. Brüssel Anstatt junge Menschen zu motivieren, den hat sich noch nicht dazu geäußert, ob dies zuläs- Schulabschluss nachzuholen, werden ihnen Kur- sig ist oder nicht.

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 37 Diese Gewerkschafter wollen in den Bundestag

Besund tagsWAHL Wie fühlt es sich an, wenn man zum ersten Mal fürs Parlament kandidiert und Wahlkampf macht? Wir befragten sechs aktive DGB-Gewerkschafter/innen aus vier Parteien.

Mensch Breymaier

In Baden-Württemberg will die ehemalige ver.di-ChefinLeni Breymaier mit mehr Emotionen und sozialer Gerechtigkeit für die SPD punkten.

eit Mitte Juli tourt Leni Breymaier, 57, mit Camping- trägen, für gleiches Entgelt für Leiharbeiter ab der ersten tisch und Campingstühlen im Kofferraum durch Arbeitsstunde, für beitragsfreie Kindergärten ... Sie will sich Baden-Württembergs Fußgängerzonen, um im Sep- dabei nicht abarbeiten an den Grünen („Die sind sowieso Stember für die SPD in den Bundestag einzuziehen. schwarzgrün“) und den Linken (die sie aus Frust über die Ihr Wahlkampfformat lautet „3–1–2“: Drei Minuten hört Rente mit 67 vor vielen Jahren schon mal gewählt hat). Der sie den Bürgern auf den Campingstühlen zu, eine Minute Gegner sei die CDU, auch was Europa anbelangt: „Da haben dauert ihre Replik, zwei Minuten der Dialog. Dabei verzich- Merkel und Schäuble versagt. In Europa muss zum Frie- tet sie fast völlig auf die SPD: keine roten Parteiballons, kei- densversprechen das soziale Versprechen hinzukommen. ne Fähnchen, keine Schirme oder Flyer. Weil die Wähler Martin Schulz steht für ein solidarisches Europa.“ Und erst immer größere Bögen um die Werbestände der Parteien die fehlenden Frauen bei den Christdemokraten: „In Baden- machen, soll der Mensch Leni Breymaier überzeugen. Sie Württemberg hat die CDU in 38 Wahlkreisen ganze drei ist geradeheraus, schwäbelt unerschrocken, lacht gern laut Frauen für Berlin nominiert. Alle sehen nur Merkel und auf. Und wird nicht direkt mit den historisch schlechten von der Leyen. Dabei machen wir gleichstellungspolitisch 12,7 Prozent der SPD bei der Landtagswahl 2016 in Verbin- viel mehr als die Kanzlerin, das regt mich schon wieder auf, dung gebracht. „Eine Demütigung“, kommentiert Brey­maier, das kotzt mich an.“ Leni Breymaier, emotional. „die Zahl steckt allen in den Knochen.“ Jetzt soll im konser- „Ich war selten so einverstanden mit meiner Partei wie vativen Südwesten, in dem auch die SPD nie für den linken jetzt“, sagt sie fröhlich am Campingtisch, um gleich ein Flügel der Partei stand, ausgerechnet eine ehemalige Dissensthema hinterherzuschieben: Prostitution, ein Feld, ver.di-Landeschefin als neue Parteivorsitzende die Trümmer das sie schon lange beackert. „Da ist mir die CDU näher als wegschaffen (gemeinsam mit einer früheren Juso-Vizin als meine SPD. Ein riesiger gesellschaftlicher Skandal, für den Generalsekretärin). „Als Linke war ich hier immer in der wir uns in 30 Jahren schämen werden. Deutschland ist das Minderheit, aber die Quintessenz nach vielen Aufarbeitungs- Bordell Europas.“ Noch sei sie damit in der Nische, aber debatten war: Die SPD wünscht sich mehr Emotionen und danach schaut eine wie Leni Breymaier nicht, sie will die mehr Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Das Ergebnis bin ich.“ Debatte darüber. Und sich im September als Parteichefin Am Campingtisch wirbt die frühere Betriebsrätin des- am Wahlergebnis messen lassen. Der Maßstab sind natür- halb dafür, die Rentenkürzungen zurückzunehmen („Wer lich nicht die demütigenden 12,7 Prozent bei der Landtags- CDU wählt, wählt Rentenkürzung“), und für die Rückkehr wahl, sondern die Bundestagswahl 2013 (20,6 Prozent). Ihr zur paritätisch finanzierten Krankenversicherung, für die Ziel: „26 Prozent plus X.“ Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsver- Text Stefan Scheytt – Foto Cira Moro

38 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 politik und gesellschaft Im Wahlkreis der anderen

Kriminalhauptkommissar a.D. Thorsten Hoffmann ist im Häuserwahlkampf in Dortmund unterwegs, um für die CDU zu punkten.

ie alte Dame an der Haustür ist freund- erinnert freundlich an die Wahl und versucht, lich-resolut: „Ich wähle Sie nicht“, sagt sie möglichst unaufdringlich seine Ziele zu vermit- zur Begrüßung zu dem Mitfünfziger, der teln: mehr Personal und gute Ausrüstung für die Din Poloshirt, Jeans und Turnschuhen auf Polizei, fair bezahlte Arbeit, mehr Geld für Fami- ihrer Treppe steht, einen Prospekt aus seinem lien. Heute, in Dortmund-Kirchhörde, hat er ein Stoffbeutel kramt, „aber Sie sind im Ort sehr eif- Heimspiel. Hier wohnt er, man mag ihn als Kom- rig!“ Thorsten Hoffmann lacht. „Dann geben Sie munalpolitiker. Doch er ist mitten im SPD-Land: mir doch Ihre Stimme!“, sagt er. „Ich habe schon Seinen Wahlkreis konnte die CDU immer die anderen gewählt“, antwortet die Frau noch nie direkt gewinnen. Hoffmann träumt schulterzuckend. Mit 85 werde sie nicht anfangen, davon, der Erste zu sein. „Ich bin in einigen Punk- bei der CDU ihr Kreuz zu machen. ten eher ein altmodischer Typ“, sagt der 56-Jähri- Thorsten Hoffmann ist im Häuserwahlkampf. ge. Einer, der feste Prinzi­pien habe, auf gutes Fünf Tage die Woche geht er jeweils drei Stunden Benehmen Wert lege und sich selbst über kleine mit jungen Wahlhelfern von Tür zu Tür, klingelt, Ungerechtigkeiten aufrege. Er hat seinen Sohn

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allein großgezogen, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte. Schippt auch mal spontan einer Oma Schnee vor der Haustür weg, en- gagiert sich bei der Tafel. Vielen hier ist Hoff- mann mit seiner zupackend-­natürlichen Art sympathisch. Nur sei er halt in der „falschen“ Partei. Gerechtigkeit ist ihm wichtig. 34 Jahre lang war er bei der Polizei, zuletzt als Krimi- nalhauptkommissar. Davon hat er 14 Jahre in der Dortmunder Unterwelt unter kriminel- len Clans, Zuhältern, Prostituierten, Rausch- gifthändlern und Mördern ermittelt. „Ich war mit Jeansjacke und langen Haaren unterwegs und habe wahrscheinlich mehr erlebt als Schi- manski“, erzählt er lächelnd. Den Glauben daran, dass es mehr gute Menschen gibt als schlechte, konnte er sich trotzdem erhalten. „Ich bin ein Typ, der knallhart durchgreift, der sich aber auch entschuldigen kann und nicht unbelehrbar ist.“ Hoffmann gehört zum Arbeitnehmer­ flügel der CDU, er ist Mitglied der CDA und der Gewerkschaft der Polizei. Ein Linker ist er nicht: „Arbeitgebern muss es gut gehen, damit sie überhaupt Leute einstellen können“, sagt er. Gewerkschaftliche Arbeit hält er für wichtig, aber pragmatisch müsse sie sein: „Die Gewerkschaften sollten die Interessen der Auf Kurs für die Linkspartei Arbeitgeber im Kopf haben – und andershe- Susanne Ferschl, die Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Nestlé Deutschland, sagte Ja, als die rum genauso. Dann kommt man zu einer Linkspartei sie fragte, ob sie mitmachen wolle. Jetzt hat sie einen nahezu sicheren Listenplatz. vernünftigen Einigung.“ Der Dortmunder war schon zur Bundes- tagswahl 2013 angetreten aber zu seiner Ent- täuschung gescheitert. Aber als Ronald Pofal- m Tag der Bundestagswahl wird Susanne Ferschl eines bedauern: dass la 2015 aus dem Bundestag ausschied, rückte ihre Mutter sie nicht wählen kann. Die ist gebürtige Österreicherin und er für ihn nach, arbeitete unter anderem im hat keinen deutschen Pass. Ansonsten läuft es für die Gesamtbetriebs- Innenausschuss und im NSU-II-Untersu- Aratsvorsitzende von Nestlé Deutschland in der Politik derzeit bestens. chungsausschuss, knüpfte Kontakte. Jetzt tritt Auf der bayerischen Landesliste der Linkspartei ist sie auf Platz drei und damit er wieder an, als Wackelkandidat mit Listen- so gut wie sicher im Bundestag. Bislang stellen die bayerischen Linken vier platz 51. Um seine Chance zu wahren, will er Abgeordnete. so viel Wahlkampf machen, wie es eben geht. In der Linkspartei hat die 44-jährige Allgäuerin rasant Karriere gemacht. Vor „Und es sind nur noch fünf Wochen!“ Hoff- drei Jahren sprach sie ein Gewerkschafter und Politiker der Linkspartei an, ob mann klingelt an der nächsten Haustür. sie sich eine Mitgliedschaft vorstellen könne. Sie konnte. Als NGG-Vorstands- Text Carmen Molitor – Foto Dirk Hoppe mitglied (bis 2015), Betriebsratsvorsitzende und Aufsichtsratsmitglied von

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 41 Nestlé ist sie in der Gewerkschaftsszene ein Das mit der „ehemaligen Arbei- bekannter Name. Dass eine Partei irgendwann terpartei SPD“ bei Schmidt ist (zugespitzt) statistische Realität, auf sie aufmerksam werden würde, lag nahe. Ob sowohl was die Mitgliederstruk- die SPD eine Chance bei ihr gehabt hätte? tur, die Funktionäre als auch die „Nein“, sagt Susanne Ferschl bestimmt. „Die Wählerschaft angeht. Aktuell SPD ist für mich nicht glaubwürdig. Sie redet in dazu eine Studie: http://bit. Wahlkämpfen immer von sozialer Gerechtigkeit, ly/2wsgxBr aber nach der Wahl macht sie eine andere Politik.“ Aus ihrem Landesverband stammt auch Klaus Ernst, IG-Metaller und ehemaliges SPD-Mitglied, der einst die Wahlalternative WASG gründete, die später zusammen mit der PDS in der Links- partei aufgehen sollte. Ihren Sprung in die Politik erklärt Susanne Ferschl mit den Grenzen, die sie als Betriebsrätin erlebt: „Ich dachte früher immer, es reicht aus, Betriebsratsarbeit zu machen, um die Arbeitsbe- dingungen der Menschen zu verbessern. Aber wir sind gegenüber den Rahmenbedingungen durch die Politik, wie Befristungen und Leiharbeit, oft hilflos.“ Nachfragen wegen ihrer spannungsgelade- nen Doppelrolle als Betriebsrätin eines Weltkon- zerns und ihrem Engagement in der Linkspartei ist sie mittlerweile gewohnt. „Viele sehen in der Ein Arbeiter und Rebell Linken noch die Ost-Partei“, meint Susanne Fer- Uwe Schmidt ist Betriebsratsvorsitzender in Bremerhaven und SPD-Kandidat. Seine Aufgabe schl. Sie jedoch sieht „ programmatisch die größ- im Bundestag sieht er als Lobbyist für die Häfen und für die Arbeitnehmerinteressen. ten Schnittmengen zu den Gewerkschaften“. Ihre Parteikollegen wiederum hinterfragen kritisch die Rolle von Nestlé als mächtigem Lebensmit- telkonzern, in dessen Aufsichtsrat sie ein Mandat r hat als Hafenarbeiter alles gemacht: Autos, Bananen, Säcke, Fisch. hat. „Solange es den Kapitalismus gibt, wird es „Ich stand bis hier im eiskalten Kabeljau“, sagt Uwe Schmidt und deu- auch Nestlé geben. Die isolierte Kritik an einem tet mit der Handkante die Gürtellinie an. „Machen“ heißt in der Spra- Unternehmen halte ich für falsch. Es geht um das Eche der Hafenarbeiter das Löschen der Schiffsladungen. Viel Handar- System“, antwortet sie dann. Und: „Außerdem beit war das in Bremen und Bremerhaven: Bevor sich die Container bin ich Arbeitnehmervertreterin.“ durchsetzten, mussten die schweren Bananenkisten auf die Förderanlage ge- Im Wahlkampf diskutiert die Kandidatin wuchtet werden. „Danach wusstest du, was du getan hast“, sagt Uwe Schmidt. nun in den Fußgängerzonen mit den Bürgern Jetzt kandidiert der 51-Jährige direkt in einem Wahlkreis, der Bremerhaven über soziale Gerechtigkeit. „Bei mir in Kaufbeu- und die Hälfte von Bremen umfasst – bisher eine sichere Bank für die SPD. ren gibt es Stadtviertel mit elf Prozent Anteil an Ein Arbeiter will für die SPD in den Bundestag? Witze über seinen Minder- Hartz -IV-Beziehern“, erzählt sie. Und so liegt es heitenstatus in der ehemaligen Arbeiterpartei SPD, die nun von Leuten aus nahe, dass Susanne Ferschl im Bundestag am dem öffentlichen Dienst dominiert wird, hat Schmidt schon häufig gehört. liebsten in die Arbeits- und Sozialpolitik einstei- Alle sind für ihn Arbeitnehmer. Doch während er seinen Wagen an Con- gen würde, sie möchte sich starkmachen für die tainern und Parkplätzen mit fabrikneuen Exportautos vorbeisteuert, benennt Einführung der Bürgerversicherung und eine der Hafenarbeiter spezifische Erfahrungen: „Ich weiß, was ein Lohn von stärkere Regulierung der Leiharbeit. „Ja, ich will 9,22 Euro bedeutet – und was solche Löhne mit den Menschen machen.“ Mit mich für das Ende der sachgrundlosen Befristung einem Schmunzeln sagt er: „Ich bin eher lösungsorientiert: Ein Schiff muss einsetzen.“ bearbeitet werden, wenn es reinkommt. In einer Verwaltung neigt man Text Gunnar Hinck – Foto Bernd Feil manchmal dazu, stattdessen immer neue Problembeschreibungen zu finden.“

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Nichts zu verlieren – außer der Wahl

IG-BCE-Gewerkschafterin Nicole Specker hatte noch nie ein partei- politisches Amt – jetzt will sie für die SPD in den Bundestag.

icole Specker will wieder nach Berlin. hatte sie vergangenes Jahr dort schon einmal empfangen. Ausgerechnet Specker, die Nnoch nie ein Parteiamt innehatte und derzeit darum kämpft, für die SPD in den Bundestag einzuziehen, war schon mal ganz offiziell bei der Bundeskanzlerin eingeladen: als Karnevalsprinzessin von Uerdingen.

Uwe Schmidt ist seit 2012 Betriebsratsvorsitzender des Gesamt­ hafenbetriebs Bremerhaven (GHB) und seitdem freigestellt. 2012 gewannen er und seine Mitstreiter die Betriebsratswahl – als Verdianer gegen die offizielle ver.di-Liste. Der amtierende Betriebsrat war kriti- siert worden, dass er zu wenig gegen Entlassungen getan habe. Die Lokalpresse nannte Schmidt und seine Kollegen die „GHB-Rebellen“. Die Gesamthafenbetriebe sind eine Besonderheit der deutschen Seehäfen. Sie werden gemeinsam von ver.di und den Arbeitgeberver- bänden getragen, bei ihnen sind die Hafenarbeiter angestellt. Der GHB wiederum verleiht seine Arbeiter an die einzelnen Mitgliedsun- ternehmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Im Zuge der Wirtschaftskrise 2008, als der Überseehafen von har- ten Umschlagseinbußen betroffen war, ist Uwe Schmidt in die SPD eingetreten. „Die Politik ist die entscheidende Schaltstelle. Man braucht sie, um seine Interessen zu vertreten.“ Seine Aufgabe im Bun- destag sieht er als Lobbyist in Sachen Arbeitnehmerinteressen und Häfen. „Die Gewerkschaften machen nicht genug Lobbyarbeit für die Häfen, und der Bund stiehlt sich aus der Verantwortung“, sagt der GBR. „Dabei haben die Überseehäfen nationale Bedeutung und müs- sen konkurrenzfähig bleiben.“ Schmidt will, dass der Bund mehr in- vestiert und mehr Unterhalt beisteuert. Dafür möchte er Mitglied des Verkehrsausschusses werden: „Dort wird über die Piepen entschieden“, sagt er – und schmunzelt. Text Gunnar Hinck – Foto Jörg Sarbach

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 43 Man kann es ungerecht finden, dass die politisch und gewerkschaftlich en- gagierte Frau vielen Menschen in ihrem Wahlkreis 110 (Krefeld I/Neuss II) vor allem als „unsere Karnevalsprinzessin, die bei Frau Merkel war“ bekannt wurde. Nicole Specker sieht das locker. Sie lacht, als sie von dem Besuch erzählt – und weist darauf hin, dass sie als Karnevalsprinzessin mitten in der Flüchtlingskrise ein politisches Motto wählte: „Uerdingen ist jeck und tolerant, wir feiern mit allen Jecken Hand in Hand.“ Man kommt mit Nicole Specker schnell ins Gespräch: Sie wirkt offen, hu- morvoll und unkompliziert. „Ich kann sehr gut auf andere zugehen und kriege schnell einen Draht zu allen möglichen Menschen“, erzählt sie. „Mitten im Le- ben“ – ihr Wahlkampfmotto – wolle sie auch als Politikerin bleiben. „Das ist es, was mich auszeichnet: wirklich nahe bei den Menschen zu sein, ihre Sorgen und Nöte aus eigener Erfahrung zu kennen.“ Specker wuchs in Krefeld in ein- fachen Verhältnissen auf. Ihr Vater, ein Kraftfahrer, Gewerkschafter und Sozial- demokrat, weckte ihr Interesse an Politik. Als Specker 1988 eine Ausbildung als Chemielaborwerkerin bei der Bayer AG begann, war es für sie deshalb klar, dass sie IG-BCE-Mitglied wurde. Bald darauf trat sie auch in die SPD ein. Einige Jahre arbeitete sie als Gewerkschaftssekretärin bei der Chemiegewerkschaft, heu- te ist sie kaufmännische Angestellte beim Betriebsrat der Covestro Deutschland AG, einer Bayer-Tochter, und Vorsitzende der IG-BCE-Ortsgruppe Krefeld-­ Uerdingen. Über eine parteipolitische Karriere hatte sie nie nachgedacht. Gerade das gefiel der örtlichen SPD, die für die Bundestagswahl auf der Suche nach einem unverbrauchten Gesicht mit Basisnähe war. Vor gut einem Jahr fragten die Genossen, ob sie ihre Bundestagskandidatin werden wolle. „Mein erster Impuls war: Das ist eine Nummer zu groß“, räumt Specker freimütig ein. Aber sie kam ins Grübeln: Denn als Gewerkschafterin und ehrenamtliche Rich- terin am Sozialgericht hatte sie schon viel mitbekommen von den Problemen der Menschen, die am finanziellen Limit leben, und sich darüber geärgert. „Da dachte ich: Vielleicht ist es gut, nicht nur auf der Straße zu fahren, sondern mit daran zu arbeiten, wo die Leitplanken gesetzt werden.“ Fair bezahlte Arbeitsverhältnisse, Zugänge zur Bildung für alle, auskömm- liche Rente auch für Frauen: „Diese drei Themen treiben mich wirklich an“, betont Nicole Specker. „Da muss es echt gerechter zugehen!“ Auch für Mitbe- stimmungsthemen wie den Schutz von Wahlvorständen vor Repressionen der Arbeitgeber und einen besseren Zugang von Gewerkschaften in die Betriebe wolle sie sich einsetzen: „Ich bin froh, dass die SPD den Schulterschluss mit den Gewerkschaften wieder gesucht hat. Das ist der richtige Ansatz!“ Es ist längst nicht ausgemacht, ob Nicole Specker es in den Bundestag schafft. Ihr Wahlkreis ist traditionell „kohlrabenschwarz“, sagt sie. Auch ein Einzug über die Liste ist nicht sicher: Bei der letzten Bundestagswahl haben es alle SPD- Kandidaten bis zum Platz 29 in den Bundestag geschafft. Specker steht auf Platz 28. Sie hänge sich voll in den Wahlkampf rein und denke nicht über eine Nie- derlage nach, sagt die verheiratete Mutter eines 17-jährigen Sohnes. „Ich habe einen tollen Job, eine tolle Familie, ein tolles soziales Umfeld. Ich habe in dem Punkt nichts zu verlieren außer einer Wahl.“ Trotzdem säße sie am 26. Septem- ber lieber im Flieger nach Berlin als im Chempark Krefeld-Uerdingen im Be- triebsratsbüro. Text Carmen Molitor – Foto Jürgen Seidel

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Bildung ist ihm Heilig

Warum Martin Heilig, aktiver GEWler und Grüner in Bayern, auch ohne große Chancen Bundestagswahlkampf macht.

ls Martin Heilig in eine Partei eintrat, war die CSU in Bayern mit weit über 50 Prozent der Stimmen noch mächtiger als heute. Der 18-jährige Azubi zum Baukaufmann ging zu den Grünen. Angetrie- Aben, erzählt er, von dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit und einer intakten Umwelt, zwei „Herzblut“-Themen, damals wie heute. Das war 1993. Inzwischen ist viel passiert: Martin Heilig holte sein Abitur nach, absolvierte ein preisgekröntes Studium, wurde vierfacher Vater. Als er seine Arbeit als Handelslehrer aufnahm, tat er das ganz bewusst an einer Schule, an der Schüler über den zweiten Bildungsweg zum Abitur kommen. Als Nächstes trat er in die GEW ein. Auch hier stand das Streben nach Gerechtigkeit im Fokus, gleich zweifach: Erstens wollte er sich dagegen ein- setzen, dass angestellte Lehrer schlechter gestellt sind als verbeamtete (er gehört zu Letzteren). Und zweitens hatte er erkannt, wie weit Schüler von gleichen Chancen entfernt sind. Die „Auslese nach Herkunft“ sei „krass“, er- klärt er. Kommt ein bayerischer Viertklässler aus einer Akademikerfamilie, wird er mit einer 2,4-fach höheren Wahrscheinlichkeit auf das Gymnasium empfohlen als sein Mitschüler aus dem nichtakademischen Haushalt. „Das ist bundesweit Negativrekord“, so Heilig. Sein Einsatz in der GEW – der Chancengleichheit ebenso ein Kernanlie- gen ist wie die gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit – machte ihn zum Kreis- vorsitzenden Unterfranken; bei den Grünen ist er Vorsitzender des Kreisver- bandes Würzburg. Zurzeit müssen die gewerkschaftlichen Umtriebe zurückstehen. Martin Heilig ist im Bundestagswahlkampf (Slogan: Bildung ist uns HEILIG), wenn auch ohne viel Aussicht, ins Parlament einzuziehen. 2013 holte er als Direkt- kandidat in Würzburg zehn Prozent; das ist für Bayern viel, aber für den Einzug zu wenig. Über die Landesliste, auf der er auf Platz 20 steht, dürfte er es auch kaum schaffen. Warum tut er sich das an? „Weil ich mit Leidenschaft für meine Themen kämpfe“, sagt er. Ein weiteres davon ist der Kampf für eine grünere Wirtschaft, den er mit Verve führt: gegen einen Verbrennungsmotor, der „doch fast schon Geschichte ist“, für Elektromobilität, Windkraft, Pedelecs. Da, sagt der 42-Jährige, „entstehen richtig Arbeitsplätze.“ Im Sinne der Menschen ohne Arbeitsplätze tritt Heilig für ein bedin- gungsloses Grundeinkommen ein. Ein Ende bereiten will er damit vor allem der Stigmatisierung von Arbeitslosen und der damit verbundenen „unglaub- lichen Sozialbürokratie“. Ein entsprechendes Finanzmodell rechnete er in seiner Diplomarbeit vor. Dafür erhielt er den Deutschen Studienpreis und so viel Renommee, dass er noch heute zu Vorträgen eingeladen wird. Nicht als Grüner und auch nicht als Mitglied der Gewerkschaften – die dem Grund- einkommen ja skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Stören tut Heilig das nicht: „Ich bin weder nur Gewerkschafter noch nur Politiker, sondern, wie alle anderen Menschen, eine Persönlichkeit, in der für vieles Platz ist.“ Text Jeannette Goddar – Foto Josef Schmid

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 45 böckler-Tagung Praxistipps für gute Betriebsratsarbeit

Betriebsrat Im Frühjahr 2018 sind Betriebsratswahlen. Auf einer Tagung der Hans-Böckler-Stiftung und der IG BCE haben wir Betriebsräte nach Erfolgstipps gefragt.

Von Gunnar Hinck – Fotos Christian von Polentz/transitfoto

Ständige Kommunikation „Für Betriebsräte ist ständige Kommunikation mit der Be- legschaft extrem wichtig, um noch präsenter zu sein. Wir Gezielte Nachfolge haben eine Mailbox eingerichtet, über die sich die Be- In den Betriebsräten, die die schäftigten auch anonym an uns wenden können. Das Int- IG BCE organisiert, ist fast jeder ranet nutzen wir intensiv, um die Belegschaft mit Infos zu dritte Betriebsratsvorsitzende älter als 55 Jahre. Da muss versorgen. Beide Maßnahmen kamen sehr gut an.“ man sich um die Nachfolge kümmern. Auf der Böckler- Beata Peter, Betriebsratsvorsitzende Bausch & Lomb, Tagung „Besser geht’s mit. Berlin-Spandau bestimmt!“ Ende Mai in Berlin ging es deshalb auch um Qualifizierungsstrategien für Nachrücker – und Karriere­ perspektiven für ausscheidende Betriebsräte. Worauf achten die Profis? Wir haben sieben Statements auf der Tagung gesammelt.

Zugehen auf die außertariflich Beschäftigten „Wir brauchen eine Art Mehrsprachig- keit in der Ansprache der Belegschaft. Konflikten nicht ausweichen Außertariflich Beschäftigte haben an- „Wichtig ist, dass man die Belegschaft dere Bedürfnisse als die Kollegen im bei der Betriebsratsarbeit mitnimmt. gewerblichen und tariflichen Bereich. Der Betriebsrat darf Konflikten nicht Die Außertariflichen und die Jünge- ausweichen. Die Arbeit im Betriebsrat ren haben außerdem eine größere Af- muss auf alle Köpfe verteilt werden. finität zu Informationstechnologien. Und die Sitzungen müssen gut struk- Hier müssen wir uns öffnen, um turiert sein. Das Wichtigste aber ist: Chancen zu nutzen und gleichzeitig Man muss motiviert sein, Be- die Risiken abzuschwächen.“ triebsratsarbeit zu machen.“ Gerhard Röder, Gesamtbetriebsrat und Stefan Mertens, Betriebsratsvorsitzender Kreis Weseler Sprecher AT-Beschäftigte bei Sanofi Abfallgesellschaft, Kamp-Lintfort

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Jüngere früh einbeziehen „Nachwuchsmangel entsteht auch dadurch, dass jüngere Kollegen wenig über die Arbeit eines Betriebsrats wissen. Wenn ein Betrieb ein längere stabile Phase durchlaufen hat, haben die jüngeren Kol- legen keine Erfahrungen mehr damit, wie wichtig ein Betriebsrat im Konfliktfall ist. Nachwuchsgewinnung ist dann kein Selbstläufer mehr. In solchen Situationen ist die Unter- stützung durch die Gewerkschaft besonders wichtig.“

Michaela Jabs, Betriebsratsmitglied Kandidaten gezielt Goodyear Dunlop, Fürstenwalde ansprechen „Früher wurden neue Kollegen oft mehr oder weniger dazu überredet, als Betriebs- rat zu kandidieren. Das führte dazu, dass die Motivation nach ein oder zwei Jahren weg war. Besser ist es, die potenziellen Kandidaten bei ihren Bedürfnissen abzu- holen. Die genaue Zielgruppenansprache ist wichtig. Und es muss rechtzeitig ge- klärt werden, wer im Betriebsrat welche Aufgaben übernehmen will.“

Jan Grüneberg, Abteilung Mitbestimmung der IG BCE

Im Betrieb präsent sein „Die Präsenz im Betrieb ist extrem wichtig. Wenn freigestellte Betriebsräte oft nicht ansprechbar sind, weil sie etwa auf Dienstreise sind oder an Sit- Qualifizieren, ohne auszugrenzen zungen teilnehmen, hat „Mehr Professionalisierung tut jedem das Auswirkungen auf das Gremium gut. Wichtig bei Qualifizie- Verhältnis zur Belegschaft. rungsmaßnahmen für Betriebsräte ist, Nicht nur in den sechs Mona- dass der Vorsitzende sie nicht als ten vor der Wahl muss man Prä- Machtinstrument benutzt. Wenn er senz zeigen, sondern während der manche Mitglieder damit belohnt, dass gesamten vier Jahre.“ sie teilnehmen dürfen, und andere Patricia Erb, Betriebsratsvorsitzende kleinhält, liegt darin auch eine Gefahr.“ Boehringer Ingelheim

Michael Schulte, Betriebsratsvorsitzen- der TÜV Nord College, Recklinghausen

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 47 Böckler-konferenz Mitbestimmung ins Regierungsprogramm

AUFSICHTSRÄte Die Erosion der Aufsichtsratsmitbestimmung muss gestoppt werden, sagt DGB- Vorsitzender Hoffmann. Arbeitsministerin Nahles sieht Chancen, Arbeitnehmerrechte in der EU neu zu verhandeln. Wahlforscher Korte hält Mitbestimmung für ein potenzielles Gewinnerthema. Foto: Anna Weise Foto:

„Dass ganze Anwaltskanzleien unterwegs sind, um die Unternehmensmitbestimmung zu verhindern, löst bei mir Alarmstufe eins aus“, sagt .

ir erleben eine langsame, aber stetige Mitbestimmung nach der Wahl in jedes Re- vorne rangieren, rief er speziell den Förderern Erosion, die Gegner der Mitbestim- gierungsprogramm gehört“. der Hans-Böckler-Stiftung zu: „Ich beglück- Wmung können die Situation einfach Aber will sie das, die Politik? Ja, zumindest wünsche Sie als Aufsichtsräte. Sie verkörpern nur aussitzen.“ DGB-Vorsitzender Reiner Andrea Nahles, SPD, will es. Dass „ganze An- das Sicherheitsversprechen, Sie sichern die Hoffmann beschönigt nichts, als er Daten und waltskanzleien unterwegs sind, um die Unter- Qualität der Arbeit in den Unternehmen.“ Fakten vor 380 Teilnehmern der Aufsichtsrä- nehmensmitbestimmung zu verhindern, das Mehr noch: Mitbestimmung der Arbeitneh- tekonferenz vorstellt. Die tankten neues Wis- ist eine Entwicklung, die bei mir zumindest mer passe in die neue Beteiligungskultur, sen und diskutierten auch ganz praktische Alarmstufe eins auslöst“, sagt die amtierende daran könne man genauso anknüpfen wie an Fragen der Unternehmensmitbestimmung Bundesarbeitsministerin. Und räumt ein: „In Ungleichheitsdiskurse. bei der diesjährigen Böckler-Konferenz für Sachen Mitbestimmung sind wir in dieser Michael Guggemos, Sprecher der Ge- Aufsichtsräte Ende Juni in Berlin. Koalition nicht wirklich weit gekommen.“ schäftsführung der Stiftung, dankte den För- Faktisch könne sich ein Unternehmer Nahles sieht durchaus Chancen, „dass wir derern und machte deutlich, dass es zur Siche- heute „allzu oft aussuchen, ob er die Mitbe- europäisch die Mitbestimmungsflucht stop- rung der Unternehmensmitbestimmung stimmungsgesetze anwendet oder nicht“, kri- pen“, jetzt, mit dem Brexit, da könnten sich nicht unerheblich sei, wer im nächsten Bun- tisiert der DGB-Vorsitzende „diesen unhaltba- doch Frankreich und Deutschland zusam- destag welches Gewicht habe. ren Zustand“. Unhaltbar auch, weil dadurch mentun, um Arbeitnehmervertretungsrechte Von Cornelia Girndt die Unternehmensmitbestimmung der Ar- in der EU neu zu verhandeln. beitnehmer optional wird – statt obligato- Als Mutmacher betätigte sich auch der

risch, wie es der Gesetzgeber vorsieht. Man bekannte Wahlforscher und Politikwissen- Dokumentation der Böckler-Konferenz für werde sich, so Hoffmann, nach Kräften dafür schaftler Karl-Rudolf Korte. Weil in Deutsch- Aufsichtsräte 2017 (mit Fotos, Videos und einsetzen, dass „Sicherung und Ausbau der land Werte wie Sicherheit und Identität weit Audios) bit.ly/ar-konferenz-2017

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W SI-Arbeitszeittagung 2017 Bedarf in Sachen Erholung

Millionen Euro sind im Geschäftsjahr 2015/ 2016 aus den Tantiemen der mitbestimmten Aufsichtsräte dem Haushalt der Hans-Böckler- Stiftung zugeflossen.

Quelle: Jahresbericht 2016 der Hans-Böckler-Stiftung (bit.ly/jahresbericht-hbs-2016) Foto: Max Bolze Foto: Kai Seiler, Arbeitsgestalter in NRW, sprach über Ruhezeiten und Erholung. STUDIENFÖRDERUNG Schlüsselbegriffe der aktuellen Arbeitszeitdebatte sind: Höchstarbeitszeit, Fritz-Bauer-Preis für gesetzliche Erholungszeit wie auch Regeln zu flexibler Arbeitszeit. Diese Themen stellten das WSI und Initiatorin Elke Ahlers Mitte Juli auf den Böckler-Stipendiatin Prüfstand und luden in Düsseldorf gut 140 Gäste und Redner zum Aus- tausch. Kai Seiler, Leiter des Landesinstituts für Arbeitsgestaltung in NRW, Die Böckler-Stipendiatin Franceline Delgado Ariza hat für sprach über „Ruhezeiten und Erholung“. Es gäbe einen Teufelskreis von ihre Dissertation über die strafrechtliche Aufarbeitung des zu viel Arbeitsdruck, der zu Stress, Überforderung und schlussendlich paramilitärischen Unrechts in ihrer Heimat Kolumbien den Schlafproblemen führen kann. Zudem sei mittlerweile bekannt: Zu viel von Justizminister Heiko Maas initiierten Fritz-Bauer-Preis Arbeit führt zu weniger Leistung – wenn dies nicht vernünftig durch verliehen bekommen, der mit 5000 Euro dotiert ist. Ihre Erholungsmaßnahmen kompensiert wird. Dabei existieren eine Menge Arbeit, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, schlägt eine innovativer Pausen- und Erholungskonzepte, sagt Seiler, der in Deutsch- Brücke von Fritz Bauers Tätigkeit als Generalstaatsanwalt land dringend Nachholbedarf in Sachen Erholungskultur sieht. für nationalsozialistische Verbrechen zum aktuellen Frie- Der ehemalige Rechtsprofessor der Universität Halle-Wittenberg, densprozess in Kolumbien. Die scheinbare Widersprüch- Wolfhard Kohte, mahnte die Arbeitgeber, dafür Sorge zu tragen, dass lichkeit des Titels, „Die Rolle des Strafrechts in Übergangs- Arbeitszeiten eingehalten werden. Er schilderte die Problematik, dass prozessen ohne Übergang: Überlegungen anhand des Falls diese mittlerweile im beträchtlichen Umfang überschritten würden: 17 Kolumbien“, erklärt sich dadurch, dass es, formal gesehen, Prozent der Beschäftigten arbeiten regelmäßig mehr als 48 Stunden in keinen Übergang wie einen Putsch oder eine Revolution der Woche. gab; vielmehr gab es unter einer Regierung, Mehr Informationen in der Dokumentation bit.ly/wsi-arbeitszeittagung die ihre Anteile am Konflikt hat, einen Pro- zess, der in vielen Ele- menten den klassischen Übergangsprozessen ähnelt. Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Frankfurter Goethe- Universität hatte die „Zu viel Arbeit auf der einen Seite führt zu von Professor Prittwitz weniger Leistung auf der anderen.“ betreute Arbeit mit „summa cum laude“ be-

Foto: Cornelius Prittwitz Foto: wertet. K ai Seiler, Leiter des Landesinstituts für Arbeitsgestaltung in NRW

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 49 EINE FRAGE, Lenny Liebig Publikationen Was macht ihr Stipendiaten Magazin holt Silber auf der 14. documenta? beim BCM-Award

Das Magazin Mitbestimmung ist in diesem Jahr für den begehrten Best-of-Con- tent-Marketing-Preis nominiert worden – in der Kategorie Non-Profit, Verbän- de, Institutionen. Wer es schafft, von der 200-köpfigen Jury des BCM-Forums nominiert zu werden, muss etwas vorzeigen können. Wer dort einen Goldpreis abräumt, gehört zur Königsklasse der Unternehmenskommunikation. Und das feierten bei der Preisverleihung in einer Berliner Fabrik Ende Juni die Kreativen der deutschsprachigen Werbeszene zusammen mit ihren Auftraggebern aus Presseabteilungen von Unternehmen und Verbänden. Auch wenn es dann doch nur für einen Silberpreis für die Ausgabe 2/2016 des Magazins reichte – es ist ein großer Erfolg für die Hans-Böckler-Stiftungmit

Foto: privat Foto: ihrer traditionsreichen Publikation präsent zu sein in dieser illustren Runde der großen Werbeformate. Ein Erfolg auch für die Redaktion der Mitbestimmung, Im „Superkunstjahr“ erkunden wir ausgewählte für deren Autoren und Fotografen und die Agentur Signum communication Kunstobjekte auf der documenta. Die ist diesmal GmbH in Mannheim. Zwei Botschaften konnte man ganz klar mitnehmen: außergewöhnlich politisch – zumal unter dem Gedruckte Magazine liegen absolut im Trend. Und: Traut euch was! Spielt mit Motto „Von Athen lernen“. Wir, das sind 19 Sti- tradierten Erwartungen, überrascht, verblüfft. Nach dem Motto: „The best mar- pendiatinnen und Stipendiaten der Hans-Böckler- keting doesn’t feel like marketing.“ Stiftung. Ich war gerade zur Seminarvorbereitung in Kassel. Geflüchtetenpolitik wird an allen Ecken und Enden thematisiert, Vertreibung, Krieg und

Armut sind zentrale Themen der documenta. Ab- privat Fotos: solut toll ist, dass wir fünf Tage Zeit haben. Wir schaffen uns Zugänge, wir nähern uns – auch mit den Mitteln der Theaterpädagogik – und disku- tieren, was Kunst kann und was heute als Kunst gilt. Und wir schauen uns 15 Arbeiten genauer an. Wie den Vorhang aus Rentierskeletten, der ein norwegisches Gesetz kritisiert, das es den indige- Magazin bei Preisverleihung, Redakteurinnen Hasel (l.), Girndt, Projektleiter Münzenmayer nen Sami vorschreibt, ihre Rentiere zu schlachten. Gespräche mit Referentinnen und Referenten und einem Kurator zu organisieren war nicht so einfach. Wir freuen uns auf ein Künstlergespräch BÖCK LER SchuLE mit dem Altstipendiaten Erik, der freie Kunst studiert hat und eine Brau-Manufaktur betreibt Sozialer Aufstieg – Thema ab der 9. Klasse (siehe dazu das Porträt Seite 52). Wir sind übri- gens eine bunt gemischte Gruppe, einige Teilneh- Eine neue Unterrichtseinheit von Böckler Schule, die für den Unterricht ab der mer studieren ein Fach fern der Kunst, das wird 9. Klasse geeignet ist, behandelt soziale Mobilität: Welche Rolle spielt Bildung? interessante Debatten geben. Und haben alle Menschen die gleichen Bildungschancen? Eine Infografik zeigt, wie unterschiedlich Bildungserfolge in Akademiker- und Nichtakademiker- Haushalten ausfallen. „Eine Stipendiatin unserer Stiftung erzählt, wie sie trotz Lenny Liebig, 20, studiert in Münster Germanistik widriger Umstände den Bildungsaufstieg geschafft hat“, sagt Anke Thiel, die den und Kunst. Mit Frederike Bosse und Leonie Adam hat er das Begleitseminar zur documenta Bereich Böckler Schule leitet. Am Ende der Unterrichtseinheit wird diskutiert, vom 23. bis 27. August organisiert, gefördert ob und wie sozialer Aufstieg auch ohne formale Bildung gelingen kann. hat es die stipendiatische Projektkommission. www.boeckler.de/39580.htm

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Wir – Die Hans-Böckler-Stiftung

Forschung IMK macht Studie für die Uli Baatz Foto: Mindestlohnkommission

Das IMK analysiert im Auftrag der Mindestlohn- kommission seit April die makroökonomischen Effekte der Einführung des gesetzlichen Mindest- lohnes in Deutschland aus keynesianischer Pers- pektive. Untersucht werden damit die Auswir- kungen des Mindestlohns auf Wachstum, Pro- duktivität, Verteilung sowie Preise und Gewinne und vor allem auf die Beschäftigung. „ Die Min- destlohnkommission wollte zwei Denkrichtun- gen haben, einmal die keynesianische Theorie und einmal die neoklassische“, sagt IMK-Direktor Gustav Horn. So wird die gleiche Frage­stellung vom RWI in Essen aus neoklassischer Perspektive untersucht. Dass zwei Studien vergeben wurden, sei „sehr spannend, weil wir unsere Prämissen offenlegen und es für die Mindestlohnkommis- sion die Entscheidungsgrund­lage rationaler macht“, sagt Horn. Die Studie wird von IMK-Wissenschaftler Andrew Watt koordiniert. Zum Forschungsver- bund gehören neben vier IMK-Forschern zwei WSI-Wissenschaftler und die Berliner Ökono- men Camille Logeay (HTW) und Hansjörg Herr (HWR). Außerdem habe man sich mit Jürgen Kromphardt, dem Ehrenvorsitzenden der Keynes- Die Teamassistentinnen am IMK Gesellschaft, einen hochkarätigen Ratgeber ge- holt, freut sich Horn. Die Studie wird Ende des „Das Institut publiziert viel“, sagt Susanne Stöger (l.) und listet die IMK-Reports, Jahres fertiggestellt, ihre Ergebnisse werden in den die Studies, die Working Papers auf. Für diese Publikationen werden von ihr Mindestlohnbericht 2018 einfließen. und Pia Korn (m.) Tabellen und Grafiken aufbereitet – nach den Vorgaben der Wissenschaftler. Auch deren Powerpoint-Präsentationen optimieren die Teamas- sistentinnen bei Bedarf. Und sie unterstützen die 15 IMK-Ökonomen bei klei- neren Veranstaltungen und Videokonferenzen. Birgit Hoffmann (r.) wiederum macht die klassische Orga, Abrechnungen, Dienstreisen, Verwaltung, und sie ist zuständig für das Sonderprojekt Mindestlohnkommission. „Das Klima ist sehr gut und familiär“, freuen sich die drei, und sie lassen daran die jährlich zehn Nachwuchswissenschaftler teilhaben, die am IMK ein Praktikum machen.

Mitarbeiterinnen am IMK Birgit Hoffmann, Telefon: 02 11/77 78-332, [email protected] Pia Korn, Telefon: 02 11/77 78-345, [email protected] Susanne Stöger, Telefon: 02 11/77 78-121, [email protected]

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 51 aus der stiftung der aus 52 Mitbesti A Von Eri Brau-Künstler Der Al dasein fristet. Künstler und Nicht obschon das, Amüsierviertels, und Schatten - ein gelegen,Langem zentral seit ter Arbei- einstigen beitragen,eines quartiers ment zur kulturellen Belebung des Wohn- geschlossenen Metzgerei, will das Etablisse venieren.“ Untergebracht in einer vor Jahren inter zu künstlerisch versuchen,fer. „Wir aufhängt“,Bilder paar ein die Schä- erklärt dium alsMeisterschülerab. pferd“ schloss der 29 Konzept für die „Braumanufaktur Stecken- Galerie ist. Und ein Kunstprojekt: Mit dem eine Bar, die gleichzeitig auch Brauerei und öffnete er im vergangenen Herbst in Kassel Alt,er Johannes Ingenieur spezialisierten Energien erneuerbare auf dem Freund, einem mit Zusammen menbringen. Stiftung will die Sphären dauerhaft zusam- Hans der Stipendiat ehemalige KunsthochschulesolventKasseler der und 100 Tagen wiedervorbei ist. bare Liaison ein – bis die documenta nach kel.untrenn- eine gehen Kunst Alltag und Spekta- großen beim mitmachen gendwie ir will Kunstwerke,jeder zeigen Kirchen Galerien, zu werden Geschäfte Ideen, ßen all Kunst. In allen Winkeln und Ecken sprie documenta wird, dann ist plötzlich allüber Weltkunstausstellung der Schauplatz zum und dasnichtnurwähr tstipendiaten der tstipendiaten -

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Foto: privat - B ier edn Brau beiden ment auf. schäfte nahmen das Bier schon in ihr Sorti - Ge und Kneipen Kasseler andere Etliche Ale und heißt „läuft“ – und das tut es auch: scheint seinLebensmottozusein. Es probieren. nur es muss Man Schäfer. auf neun Quadratmetern? Klar geht das, sagt Meisterschülern 35 von professors.Werke Kunst seines Meisterklasse der Schau ner ei- in Kunstausstellungen,gipfelnd selnde Comic Konzerte, mer, so hofft Schäfer, wird seiner Bar soll sich bald ändern. Der documenta das Überleben,aber fürs Nebenjob einen Freiheit gegeben, michzuentwickeln.“ große eine mir hat Stipendium „Das sen. das, meint Schäfer, sei „unbezahlbar“ gewe stützung, die Netzwerke, das Türenöffnen – Unter ideelle Die bezog: Büchergeld nur materiell er wenn dafür.auch Undnung derung durch die Stiftung war die Anerken- internationalen Theaterprojekten. Die För fa turell aktiv. Er engagierte sich in einer Anti­ kul- und politisch Jugendlicher als bereits er war stammend, Odenwald im Ort nen der Hans diesen Weg gehen konnte, verdankt er auch rie „Odenwälder „Odenwälder www.braumanufaktur-steckenpferd.de . - rpe i vn h mitbegründeten ihm von im Gruppe, - Br Man könnte auch sagen: Es läuft für die Noch braucht der Kulturunternehmer der braucht Noch auerei Schub verleihen. Geplant sind - Böckler - Kü Bündnis gegen Rechts“,gegen in Bündnis slr Ds Ei Schäfer Erik Dass nstler. - - Stiftung. okhp ud wech- und Workshops Aus einem klei- - - Gale Som------aus der stiftung

Der documenta-Sommer wird Erik Schäfers Bar-Galerie in Kassel einen Schub verleihen.

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 53 events termine, die sie sich merken sollten Foto: Werner Bachmeier Werner Foto: Automobilzulieferer-Konferenz Die deutsche Automobilzulieferindus­ trie gerät durch Internationalisierung und Digitalisierung von Produkten unter

Foto: J. H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung Foto: Veränderungsdruck – mit erheb­lichen Auswirkungen für Betriebe und Be- schäftigte. Wie können Betriebsräte diese Transformationen mitgestalten? Veranstaltung vom 27. bis 28. September in Saarbrücken Eva Jacobs, Hans-Böckler-Stiftung 100 Jahre Telefon: 02 11/77 78-118 Heinz Oskar Vetter [email protected]

Heinz Oskar Vetter (1917–1990) hat als DGB-Vorsitzender viele Jahre die Ge- schicke der deutschen Gewerkschaften geprägt. In den turbulenten Jahren von Unternehmens­strategie Digitaler Kapitalismus 1969 bis 1982 begleitete er die Politik Wie können Unternehmensstrategien auf In Kooperation mit der Hans-Böckler-Stif- Stimmigkeit und Plausibilität überprüft tung fragt die Friedrich-Ebert-Stiftung der sozialliberalen Koalitionen unter werden? Das wird in diesem Fachsemi- auf ihrem Diskussionsforum: Ist der digi- Willy Brandt und Helmut Schmidt. Ein nar für Aufsichtsräte diskutiert mit nam- tale Kapitalismus eine echte Revolution Meilenstein für die Gewerkschaften haften Referenten wie Marc Eulerich und oder nur ein Hype? Und wie könnte die- war die Durchsetzung der paritäti- Martin K. Welge – mit Blick auf die se Revolution so gestaltet werden, dass schen Unternehmensmitbestimmung Markt- entwicklung und Wettbewerbsfä- sie sozialen Fortschritt hervorbringt? higkeit. 1976. Jedoch musste auch die Krise und Veranstaltung vom 2. bis 3. November schließlich die Abwicklung der Ge- Veranstaltung vom 12. bis 13. September in Berlin in Düsseldorf meinwirtschaft von ihm bewältigt wer- Irin Nickel, Friedrich-Ebert-Stiftung den. Ab 1979 wurde Heinz Oskar ins Sebastian Campagna, Telefon: 0 30/2 69 35-8318 Hans-Böckler-Stiftung Europäische Parlament gewählt und [email protected] Telefon: 02 11/77 78-170 wirkte dort für weitere zehn Jahre. Die Idee eines in Frieden vereinten Euro- [email protected] pas prägte seine Generation. Anlässlich des 100. Geburtstages von Heinz Oskar Vetter laden die Hans-Böckler-Stiftung Die Globalisierungskrise und der DGB zu einer Gedenkveran- Werkverträge auf dem Prüfstand Key-Note-Speaker beim internationalen IMK-Kongress ist Branko Milanovic von Die Nachwuchsforschergruppe Werkver- staltung ein. Mit dabei sein werden der City University of New York. Thema träge der Universität Darmstadt nimmt Elmar Brok, MdEP, und DGB-Vorsit- ist die Globalisierungskrise, die Gewinner Werkverträge aus organisations-, arbeits- zender Reiner Hoffmann. und Verlierer und wachsende Ungleich- und industriesoziologischer Perspektive heit produziert. Welche Politik wäre hier unter die Lupe. Stipendiaten und Stipen- angesagt? Tagungssprache ist Englisch. diatinnen der Stiftung sind willkommen. Veranstaltung am 21. Oktober Veranstaltung vom 9. bis 11. November Veranstaltung vom 26. bis 27. Oktober in Mülheim/Ruhr in Berlin in Darmstadt Jennifer Büsen, Hans-Böckler-Stiftung Sabine Nemitz, Hans-Böckler-Stiftung Telefon: 02 11/77 78 111 Telefon: 02 11/77 78-234 Tagung-werkvertraege@ [email protected] ifs.tu-darmstadt.de [email protected]

54 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 aus der stiftung

zur sache darüber sollten wir reden

„Das neue Gesetz bleibt hinter den Erwartungen zurück.

Foto: Uli Baatz Foto: Oliver Emons sagt, was das Umsetzungsgesetz zur CSR-Richtlinie für Aufsichtsräte bedeutet.

m April ist das CSR-Richtlinie-Umset- zwei Arten von Unternehmen betroffen sind: neue Gesetz vom Wirtschaftsprüfer lediglich, zungsgesetz in Kraft getreten, welches einerseits große Kapitalgesellschaften und an- zu prüfen, ob überhaupt eine nichtfinanzielle Ieine EU-Richtlinie zur Offenlegung von dererseits große Kreditinstitute und Versiche- Erklärung vorliegt. Die inhaltliche Prüfpflicht Nachhaltigkeitsinformationen in nationales rungsunternehmen, auch wenn sie nicht obliegt auch hier dem Aufsichtsrat. Recht umsetzt. Es schreibt vor, dass künftig kapitalmarktorientiert sind, aber mehr als 500 Es steht somit die Frage im Raum, wie der große Unternehmen, Versicherungen und Mitarbeiter haben. Zudem muss die Bilanz- Aufsichtsrat selbst diese Prüfung nichtfinan- Kreditinstitute regelmäßig über ihre „nicht- summe mindestens 20 Millionen Euro und/ zieller Berichte organisieren wird. Er sollte finanzielle“ Lage Auskunft geben – also auch oder die Summe der Umsatzerlöse mindestens dies schon aufgrund der Haftungsproblema- über Arbeitnehmer- und Sozialbelange. 40 Millionen Euro betragen. Unternehmen tik tun. Dazu muss er den Prüfauftrag erwei- Unterschiedliche Stakeholder hatten in wie Aldi werden schon aufgrund ihrer Rechts- tern, denn eine solche Prüfung ist kein Be- der Vergangenheit vermehrt Interesse signa­ form nicht erfasst. standteil der üblichen Jahresabschlussprüfung. lisiert, von Unternehmen auch über nicht­ Nicht nur die geringe Reichweite des Ge- Die großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaf- finanzielle Inhalte informiert zu werden. Zu- setzes ist problematisch. Da die EU die Büro- ten wittern hier ein neues Geschäftsmodell dem haben Nachhaltigkeitsthemen generell kratie begrenzen wollte, bleiben die Veröf- und werden sehr bereitwillig diesen Job über- an Bedeutung gewonnen. Die Richtlinie und fentlichungspflichten hinter dem zurück, was nehmen. Auch Transparenzstandards wie der das Gesetz erscheinen vor diesem Hintergrund man sich ursprünglich erhofft hatte. Auch die Deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK) wer- zunächst als positive Signale, die das Thema Rolle der Akteure auf Arbeitnehmerseite bei ben damit, alle Anforderungen zu erfüllen. Nachhaltigkeit auf die Agenda der Aufsichts- der Verfassung und Prüfung der Berichte ist Welcher Standard sich durchsetzen wird, ist räte bringen werden. nicht klar geregelt. Hinzu kommt, dass man noch nicht abschließend zu beurteilen. Bei einem genauen Blick relativiert sich die nichtfinanziellen Erklärungen schwer dieser Eindruck jedoch schnell. Der Kreis der überprüfen kann.

Unternehmen, die in Deutschland in die Bringt die Richtlinie somit nur ein weite- Oliver Emons leitet ein Wirtschaftsreferat in Pflicht genommen werden, ist mit geschätzten res Geschäftsmodell für Wirtschaftsprüfer der Abteilung Mitbestimmungsförderung der 540 deutlich zu klein. Die meisten dieser Un- und ein Mehr an Haftung für Arbeitnehmer- Hans-Böckler-Stiftung. ternehmen verfassen schon heute Nachhaltig- vertreter in Aufsichtsräten? Oder wird sie die CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz keitsberichte. Die Zahl ist so gering, weil von Arbeit von Aufsichtsräten bereichern können? http://bit.ly/1PfWebA der Pflicht zur Abgabe einer „nichtfinanziel- Aufgrund der überwiegenden Defizite in der len Erklärung“ in ihren Lageberichten (alter- Umsetzung fällt das Urteil eher in Richtung Stellungnahme des DGB zum Gesetzentwurf nativ in gesonderten Berichten) ausschließlich neues Geschäftsmodell aus. Zwar verlangt das http://bit.ly/2uEXJza

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 55 gelesen Rente mit 70

Erst der Knochenjob, dann die knappe Rente

P OLITIK Das Schwarzbuch „Rente mit 70“ lässt Menschen zu Wort kommen, die ihr Geld nicht am Schreibtisch verdienen.

Die Menschen werden immer äl- Fulda arbeiten heute 24 Prozent der Vollzeiterwerbstätigen für ter, also können sie auch länger weniger als zehn Euro pro Stunde. „In Konsequenz wird uns arbeiten – so lautet die simple das in zehn bis 15 Jahren riesige Probleme durch Altersarmut Rechnung vieler Wirtschaftspro- bringen“, warnt Rolf Müller, ehemaliger Betriebsratsvorsitzen- fessoren, Politiker und Lobbyisten. der des Klinikums Fulda. Sie verrichten ihre Tätigkeiten al- Schon heute beziehen mehr als eine halbe Million Men- lerdings in ergonomisch schonen- schen über 65 Jahre Grundsicherung. Die Zahl wird in Zukunft der Weise, während viele Berufe steigen. Petra Vogel, Reinigungskraft in einem Bochumer Kran- mit starken körperlichen Belastun- kenhaus, wird nach 40 Arbeitsjahren 656 Euro Rente zu erwar- gen einhergehen. ten haben. Ob sie die 460 Euro Warmmiete dann noch zahlen „Wir finden, ein Blick in die kann, weiß sie nicht. „Es ängstigt mich schon sehr,“ sagt die tägliche Arbeitsrealität ist überfäl- 59-Jährige, die stolz darauf ist, dem Staat nie auf der Tasche lig: Damit wird plastisch greifbar, warum für viele Beschäftigte ­ gelegen zu haben. die Rente mit 70 geradezu eine Bedrohung darstellt.“ So be- Das Schwarzbuch ist ein Fundus konkreter Erfahrungen gründen Annelie Buntenbach, Markus Hofmann und Ingo aus der Arbeitswelt in der Art von Gesprächsprotokollen. An- Schäfer vom DGB-Bundesvorstand die Herausgabe des dererseits hätte man sich gelegentlich eine stärkere Strukturie- Schwarzbuchs „Rente mit 70“. Darin kommen mehr als 40 Per- rung gewünscht. Manche Abschweifungen führen völlig weg sonen zu Wort, die die Anforderungen ihres Alltags schildern. vom Thema, an anderer Stelle hätte man die Infos gerne vertieft. Darüber hinaus gibt es zu einzelnen Problemen kurze Infor- Gleichwohl ist ein vielfältiges Mosaik entstanden über jenen mationstexte. Teil der Arbeitswelt, der sich nicht am Schreibtisch abspielt. Immer mehr Menschen bestellen Tierfutter per Post. Für Wer systematische Informationen zur Rentendebatte sucht, ist die Zusteller bedeutet das, bis zu 30 Kilogramm schwere Pakete­ hier falsch. Wer dagegen meint, dass die soziale Realität eine oft mehrere Stockwerke hochzuschleppen. Selbst kleine Kühl- wichtige Grundlage politischer Entscheidungen sein sollte, schränke werden heute als Paket verschickt. Im Supermarkt dem sei das Buch zur Lektüre empfohlen. gibt das Rollband an der Kasse eintönige Bewegungen vor, die Von Annette Jensen, Berlin Verkäuferinnen müssen ständig stehen oder knien. „Schonar- beitsplätze gibt es im Einzelhandel gar nicht! Und es gibt auch nicht überall Bereiche, wo man sich zwischendurch mal ein Annelie Buntenbach/Markus Hofmann/Ingo Schäfer (Hrsg.): wenig erholen kann“, berichtet eine Betriebsrätin. Rente mit 70. Ein Schwarzbuch. Berlin, Christoph Links Verlag In der Autoindustrie ist Gruppenarbeit weitgehend abge- 2017. 192 Seiten,15 Euro schafft. Jetzt herrscht das ganzheitliche Produktionssystem, das den Beschäftigten wieder jeden Handgriff bis ins Detail vor- schreibt und in dem jede Sekunde verplant ist. Um Teile im Fazit Motorraum einzubauen, müssen sich die Beschäftigten ständig Wichtiges Buch zur Rentendebatte, bücken, anderswo erfordert die Montage Über-Kopf-Arbeit mit Nah dran an der Harten Arbeits- sechs Kilogramm schweren Schraubern. Was, wenn es nach einem harten Arbeitsleben trotzdem nicht reicht? Im Landkreis wirklichkeit

56 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 medien

Der Islam wird heimisch in Europa Drei Fragen an Hans-Joachim Schabedoth

Das moderne Europa hat sich verändert und verändert sich – auch durch die Muslime, die hier leben. Die in der tür- kischen Hauptstadt Ankara geborene

Soziologin Nilüfer Göle, die seit 2001 als Benno Kraehahn Foto: Professorin an der Pariser Uni lehrt, un- tersucht, wie sie leben. Seit den 1980er Jahren, schreibt Göle, sei die „muslimi- sche Religiosität“, die zuvor auf die Le- benswelt der Migranten beschränkt schien, im gesamten gesellschaftlichen Leben Europas auszumachen: „Der Is- lam wird im öffentlichen Leben Europas sichtbar.“ Die Kontroversen um den Islam sind zu einem entscheidenden Der SPD-Bundestagsabgeordnete, Gewerkschafter und vielfache Faktor für die Diskussion um die normative Ausrichtung der europä- Autor bilanziert die Große Koalition. ischen Gesellschaften geworden. Zugleich setzen sich die Muslime von den Interpretationen des Islams in ihren Herkunftsländern ab. Es entsteht ein neues Geflecht von Religionen und Kulturen; Europa Nach Jahren als hauptamtlicher IG-Metaller – was hat Sie am entwickelt sich in unerwartete Richtungen. meisten an der Arbeit als Abgeordneter überrascht? Der Streit um die Verhüllung der Frau dominiert die Debatte um Die Ritualhaftigkeit der Abläufe war gewohnheitsbedürftig. Islam und Integration. Göle stellt für den Umgang mit der Verschlei- Ich war Teil eines höchst arbeitsteiligen Gesamtprozesses, erung zwei unterschiedliche Positionen gegenüber. Frankreich und konnte aber, mit Zuständigkeit für Industriepolitik im Aus- Deutschland hätten sich für einen „didaktischen Laizismus“ entschie- schuss für Wirtschaft und Energie, an der einen oder ande- den. Im März 2017 hat der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass ein ren Stelle Sinnvolles bewirken helfen. Kopftuchverbot am Arbeitsplatz unter bestimmten Bedingungen zulässig sein kann. Großbritannien habe sich dagegen für den „angel- Sie beschreiben die SPD als treibende Kraft in der GroKo. Die sächsichen Multikulturalismus“ entschieden. Hier wie in den USA SPD profitiert aber nicht bei Wahlen und Umfragen. Woran und in Südamerika sei das Kopftuch kein öffentliches Thema. liegt das? Sind nur die Medien schuld? Die Autorin plädiert für Toleranz im Umgang mit dem Islam und Wenn die Treiberleistung der SPD und ihre Funktion als für einen „Horizont der Möglichkeiten“. Wer den Nährboden des Richtungsweiser der Koalition nicht ausreichend wahrge- Extremismus eindämmen wolle, schreibt Göle, der müsse nach Chan- nommen werden, wäre es einfach, die Schuld nur bei ande- cen des gesellschaftlichen Miteinanders suchen und die Unterschiede ren zu suchen. Warum gelingt es uns nicht, die SPD-Mitglie- nicht zu einer Collage, sondern zu einem Gewebe verarbeiten. Mus- der zu engagierten Werbern für unsere Politik zu machen? lime seien zu europäischen Bürgern geworden. „Der Mut, die Privat- Und so ganz nebenbei: Gewerkschaftsmitglieder sind ja auch sphäre zu verlassen und in seiner Besonderheit Gesicht zu zeigen“, nicht bloß Zuschauer in der Opernloge. Sie haben eine Deu- sei – nach Hannah Arendt – der beste Beweis für eine angewandte tungskompetenz für das Geschehen auf der politischen Staatsbürgerschaft. Bühne und können mithelfen, Widerstände zu überwinden. Leider merkt man dem Buch beim Lesen an, dass es eine For- schungsarbeit ist. Wer das aber akzeptiert, erhält kluge Argumente Martin Schulz soll Kanzler werden, fordern Sie und stellen für die Verteidigung eines Europas, das nur stark sein kann, wenn es Angela Merkel ein schlechtes Zeugnis aus. Würden Sie Mer- offen bleibt. kel im neuen Bundestag nicht mehr zur Kanzlerin wählen? Von Michaela Namuth, Rom Angela Merkel hat ihre Zeit gehabt. Sie hat dabei schwere Fehler gemacht. Das fängt beim unbedachten Agieren in der Flüchtlingskrise an, reicht über Versäumnisse bei Zu- kunftsinvestitionen und hört bei ihrer austeritätsfixierten Europapolitik noch nicht auf. Im neuen Bundestag will ich Nilüfer Göle: Europäischer Islam. Muslime im Alltag. Berlin, Martin Schulz zum Kanzler wählen. Wagenbach 2016. 304 Seiten, 24 Euro Die Fragen stellte Gunnar Hinck.

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 57 Digital, aber nicht sexy Wissensarbeit

Der Journalist Matthias Der neue MBF Report „Wissensarbeit“, verfasst von Martin Becker hat selbst Anna Arlinghaus, versammelt aktuelle arbeitswis- in Fabriken, Callcentern senschaftliche Erkenntnisse zu Tätigkeiten, die sich und als Clickworker ge- durch eine hohe Informationsverarbeitung sowie arbeitet. Effizienzsteige- durch räumliche und zeitliche Entgrenzung aus- rungen durch Roboter zeichnen. Die Autorin spricht von informationsbe- in der Pflege und Com- zogenen Tätigkeiten höher Qualifizierter. Als typi- puter in der Bildung sche Berufe nennt sie unter anderem: Architekt, hält er für soziale und Sachverständiger oder Gutachter. Doch auch Tätig- ökonomische Irrwege. keiten in der Industrie oder in weniger qualifizierten „Rationalisierung ohne Segmenten des Arbeitsmarktes dürften heute Ele- Sinn und Verstand“, so steht es in seinem gründlich mente von Wissensarbeit enthalten, was den Report, der auf einer aktuellen recherchierten Buch. Es ist all denen als Lektüre Literaturstudie beruht, bedeutsam erscheinen lässt. Das Arbeiten von zu Hause, empfohlen, die die Auswirkungen der digitalen die Nutzung von Cloud-Diensten und digitalen Netzwerken nehmen beständig Techniken auf die Arbeitswelt einschätzen wollen. zu. Der Report benennt recht handfest Chancen und Risiken neuer Arbeitsfor- „Der Kardinalfehler der neuen Automatisierungs- men und weist zugleich auf offene Forschungsfragen hin. debatte besteht darin, technische Möglichkeiten mit tatsächlichen Arbeitsprozessen zu verwechseln“,

schreibt Becker. Schon immer haben Unternehmen Anna Arlinghaus: Wissensarbeit. Aktuelle arbeitswissenschaftliche Erkennt­ versucht, ihre Beschäftigten zu kontrollieren – und nisse. Reihe MBF Report, Nr. 35, Düsseldorf 2017. 16 Seiten. Kostenloser schon immer haben die Arbeitenden Wege gefunden, Download unter www.boeckler.de > Veröffentlichungen > MBF Report das System auszutricksen. Immer wieder erwiesen sich die angekündigten Effekte als übertrieben, wie Becker nachweist. Trotzdem ist absehbar, dass sich Sie wollen mehr Publikationen aus der Hans-Böckler-Stiftung? die neuen Techniken rasant ausbreiten und viele Besuchen Sie www.boeckler.de (Veröffentlichungen). Arbeitsplätze kosten werden. Einfache Tätigkeiten werden noch langweiliger und anstrengender, viele Fähigkeiten und Fertigkeiten verkümmern. „Worin der Gewinn der Gewinner eigentlich besteht, ist quergelesen weniger klar“, schreibt Becker. Von Helmut Ortner Künftig entscheiden Maschinen über die Kredit- vergabe. Die Bankangestellten teilen den Kunden Der Autor erklärt die Wirkung von Einkommensun- lediglich das Ergebnis mit, dessen Zustandekommen gleichheit: So wie es das „gute“ und das „schlechte“ sie nicht durchschauen, das sie aber trotzdem recht- Cholesterin gibt, gibt es auch eine „gute“ und eine fertigen müssen. Die Algorithmen, die den Program- „schlechte“ Ungleichheit. Verwirrend? Nein. Was men zugrunde liegen, sind nur der Chefetage be- paradox scheint, hat eine immanente Logik. Der kannt. Auch das mittlere Management wird serbisch-US-amerikanische Ökonom Branko Mila- entmachtet. Parallel kannibalisieren Plattformen novic beschreibt ökonomische Hintergründe und den Handel und viele Dienstleistungsbranchen. schaut auf die historischen und globalen Daten. Sei- Becker ist kein Maschinenstürmer. Er erinnert ne These: Im Kapitalismus kann es beides geben, uns aber daran, dass entscheidend ist, wer die Tech- Phasen von Ungleichheit und Phasen von Gleichheit. nik gestaltet – und mit welchem Ziel. Und doch müssen wir dringend heute was tun. Was Von Annette Jensen, Berlin aber sind die zeitgemäßen Mittel? Milanovic gibt kluge Antworten und beschreibt, wie die Zukunft einer gerechteren globalen Welt aussehen kann. Originell – und ohne ideologische Scheuklappen. Matthias Martin Becker: Automatisierung und Aus- beutung. Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapi- talismus? Wien, Promedia Verlag 2017. 239 Seiten, Branko Milanovic: Haben und Nichthaben. Eine kurze Geschichte der Ungleich- 19,90 Euro heit. Stuttgart, Theiss Verlag 2017. 264 Seiten, 24,95 Euro

58 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 medien

Das politische Lied Foto: shutterstock Foto:

Fela Kuti: „Coffin for Head of State“ (1983)

Them steal all the money Them kill many students Them burn many houses Them burn my house too Them kill my mama So I carry the coffin (…)

Fela, Nigerias Rebell

leich 1000 Soldaten sind angerückt, um Rhythmuspassagen, von Bläsersätzen gespiel- die Dodan-Baracken in Obalende, die Präsi- ein Anwesen in einem Armenviertel der te Melodiesegmente, der Gesang setzt spät ein. dentenresidenz. Die Wachen richten ihre GHauptstadt Lagos zu stürmen. Am Die Stücke dauern bis zu einer Stunde. „Afro­ Gewehre auf ihn und seine Begleiter. Kuti lässt 18. Februar 1977 prügeln sie auf die knapp beat“ nennt Kuti die Richtung. den Sarg von seinen Frauen Richtung Ein- 100 Leute ein, die dort leben, vergewaltigen Kuti ist Sänger, Saxofonist, Tänzer, Kom- gang tragen und fragt: „Wollt ihr wirklich auf Frauen und brennen die Gebäude ab. Der ponist, Agitator und ein begnadeter Perfor- Frauen schießen?“ Seine Botschaft: Präsident Angriff gilt dem Musiker Fela Kuti. Auf dem mer. Aber auch ein widerborstiger Star, der Obasanjo und Vizepräsident Yar’Adua waren Gelände lebt er mit seinen 27 Frauen, mit sich dem Musikbusiness verweigert. Seine für den Tod der Mutter verantwortlich, sie Musikern und Familie, sein Bruder betreibt Texte sind politisch, direkt und entschieden, sollen den Sarg zu sich nehmen und ihre hier eine Klinik, die Arme gratis behandelt. er singt meist in nigerianischem Pidgin. Er Schuld eingestehen. Kuti nennt den Ort die Kalakuta-Republik. sieht die Eliten als durch Assimilation ent- Stattdessen veröffentlicht die Regierung Die Soldaten stoßen Kutis 78-jährige Mutter fremdet und kämpft bis zu seinem Tod 1997 einen Bericht über den Angriff auf die Kala- aus einem Fenster im ersten Stock. Fela Kuti für ein vereinigtes Afrika, das seine Kraft aus kuta-Republik, indem sie die Schuld an dem überlebt den Übergriff schwer verletzt. Doch eigenen Traditionen und Religionen schöpft. Brand einem „fehlgeleiteten, unbekannten alles, was er besaß, wird ein Opfer der Flam- Abgestoßen von der revolutionären Paro- Soldaten“ zuschiebt. Kuti schreibt darüber men: sein Haus, sein Tonstudio, der berühm- le „Der Kampf geht weiter“, wählt er sein Cre- zwei Songs: In „Unknown Soldier“ verspottet te Club „The Shrine“, von dessen Bühne er bei do: „Der Kampf muss aufhören!“ Doch da- er den Regierungsbericht über den Anschlag. den Auftritten seiner Band regelmäßig nach sieht es in Nigeria nicht aus. Das Land Und in „Coffin for Head of State“ demaskiert Korrup­tion, Unterdrückung und Armut an- ist 1960 unabhängig geworden, nur um zu er sich gottesfürchtig gebende Despoten, geprangert hatte. Schon oft hatte die Polizei erleben, wie die Macht in die Hände korrup- christliche wie islamische, die das eigene Volk Kuti festgenommen. Doch der Einsatz der ter Militärs übergeht. Kutis Mutter ist eine ausrauben. Den Präsidenten und seinen Vize Armee ist eine neue Dimension. Kuti, in ei- Aktivistin, die erste Frau in Nigeria, die Auto nennt er namentlich. nem christlichen Elternhaus aufgewachsen, fuhr. Ein Jahr nach dem Überfall auf Kalaku- Von Martin Kaluza, Berlin ist während eines USA-Aufenthaltes zum po- ta stirbt sie an den Folgen des Fenstersturzes. litischen Musiker geworden. Seine afrikani- Fela will ein Zeichen setzen. Als die Amtszeit sche Musik knüpft an den Soul und Funk des Präsidenten Olusegun Obasanjo endet, Das Lied hören/ansehen: James Browns an: lange, sich wiederholende zieht Fela mit einem symbolischen Sarg vor bit.ly/coffin-for-head-of-state

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 59 durchgeklickt

Wahlhilfe aus Stuttgart

www.bundestagswahl-bw.de

ie Landeszentrale für politische Bildung in gelungen ist: Das System aus Überhang- und Aus- Baden-Württemberg hat zur Bundestags- gleichsmandaten kann dazu führen, dass es im Dwahl eine Website eingerichtet – im Ver- Bundestag mit über 650 Abgeordneten ziemlich gleich zu anderen Online-Angeboten ist sie defi- eng wird. Derzeit sitzen dort 630 Abgeordnete; nitiv die informativste. Die Seiten-Macher aus ohne Überhangmandate wären es nur 598. Stuttgart verbinden aktuelle Informationen wie Als Web-Auftritt einer staatlichen Behörde Umfragen mit Hintergründen zum Wahlsystem argumentiert die Seite staatstragend. Mit „zehn und zu den Wahlprogrammen. Dabei werden guten Gründen“ wird aufgefordert, wählen zu nicht die offiziellen Programme heruntergebetet, gehen. Merkwürdig ist das Argument, den Wahl- sondern es wird prägnant zusammengefasst. Den zettel lieber ungültig zu machen, als zu Hause zu Autoren gelingt es, die Unterschiede zwischen bleiben. Ungültige Stimmen spielen für das den Programmen zu benennen, ohne zu werten. Wahlergebnis keine Rolle. Die Website ist über- Witzig sind die Kurzporträts der im Bundestag sichtlich, wenn auch etwas langweilig aufgebaut. vertretenen Parteien, die wie Chats aufgebaut Bewegtbilder fehlen. Das ist schade, denn die sind. Unter der Rubrik „Partei-Übersicht“ erfährt Hauptzielgruppe sind eindeutig Jungwähler. der Nutzer, dass auch die „Magdeburger Garten- Von Gunnar Hinck, Berlin partei“ und die „Hip-Hop-Partei“ zur Wahl zuge- lassen sind. Ob sie auch antreten, stand bei Re- Fazit daktionsschluss nicht fest. Besonders verdienstvoll ist die Rubrik zum Glebal te Informationen Wahlrecht. Hier wird endlich verständlich erklärt, zur Wahl in biederem wie die Sitzverteilung berechnet wird und warum die Wahlrechtsreform von 2013 nur teilweise Gewand

60 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 medien

apps nachgefragt DB-Zugradar Die App der Deutschen Bahn ist eine praktische Hilfe für

Vielfahrer. Auf einer Karte kann der Nutzer live die Zugbe- privat Foto: wegungen verfolgen und so erkennen, wo die Eisenbahn ungefähr steckt, auf die man wartet. Die Angaben basieren D aniele Gioco ist Betriebsrat nicht auf GPS-Daten, sondern auf Prognosen und Meldun- bei der Bayer AG in Lever­ gen der Bahnhöfe. Ganz genau sind die Ortsangaben des kusen und war vorher Mit- Zugradars daher nicht, aber ausreichend. Aktuelle Störun- glied der JAV. gen im Streckennetz sind leider nicht abrufbar. Ich klicke auf … Abonniert habe ich …

Kostenlos für Android und iOS … die Rheinische Post, das Handelsblatt, den Kölner … faz.net für alles und igbce. Stadt-Anzeiger und auf dju-Arbeitszeit-App de für alles rund um meinen YouTube­ den Blogger Rayk Der vorbildliche Arbeitszeitermittler des ver.di-Journalis- Job. Anders. tenverbandes dju ist auch für andere Berufe bestens geeignet. Sekundengenau wird die Arbeitszeit dokumentiert. Mit Ich lese gerade … Abschalten kann ich … einem Wisch stoppt der Nutzer den Zähler und aktiviert ihn wieder, wobei zwischen Arbeitsende und Pause unter- schieden wird. Automatisch erstellt die App eine Tagesauf- stellung und sortiert die Arbeitszeiten nach Wochen und … Sprenge Deine Grenzen: Mit Monaten. Eine umfangreiche Bedienungsanleitung hilft. Motivationstraining zum Erfolg … abends mit Freunden, bei von Jürgen Höller. Spaziergängen und im Urlaub.

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im Fokus blog-tipp Helmut Naujoks

Am Telefon gibt sich der Anwalt, der Zukunft der Arbeit laut seiner Homepage „konsequent Der Blog wird vom gleichnamigen Ressort des IG Metall und ausschließlich Arbeitgeberinteres-

Vorstands betrieben und versteht sich als Diskussionsplatt- sen“ vertritt, verbindlich. Derzeit steht Karlheinz Schindler Foto: Naujoks schwer unter Beschuss. Laut form rund um das Thema Arbeit 4.0. Vorkenntnisse sind Recherchen von SZ, WDR und NDR hilfreich, um den Beiträgen, die oftmals sehr technisch sind, soll er mit einem Detektiv zusammen- folgen zu können. Kürzel wie GPS (ganzheitliche Produk- gearbeitet haben, der illegale Metho- tionssysteme) oder CPS (cyberphysische Systeme) werden den angewendet hat, um Betriebsratsmitglieder loszuwerden. Nau- nicht eigens erklärt. Dennoch bekommen auch interessier- joks ist der bekannteste jener Riege von Anwälten, die auf „die Kündigung der Unkündbaren“, auf Betriebsräte und Arbeitnehmer, te Laien spannende Einblicke, beispielsweise ob Algorith- die einen erweiterten Kündigungsschutz haben, spezia­lisiert ist. In men ein eigenes Rechtssubjekt der Mitbestimmung sein der Kritik stehen sie schon länger, vor allem durch Gewerkschaften. können (Antwort: Derzeit nicht, aber zukünftig möglich). Jetzt haben die umfangreichen Recherchen von „Panorama“ und SZ Gut ist, dass regelmäßig neue Beiträge erscheinen. Weniger Licht in das „System Naujoks“ gebracht. Der Detektiv ist ausgestie- gut ist, dass die Blogbeiträge zu lang sind und fast immer gen; Unternehmen, die mit dem Detektiv und Naujoks zusammenge- arbeitet haben, distanzieren sich heute von ihren Methoden. Helmut Aufsätzen gleichen. Kurze, knackige Einwürfe würden dem Naujoks erklärt, dass er „niemals wissentlich unwahre Tätigkeitsbe- Blog guttun und mehr Leser anziehen. Die Kommentar- richte von Detektiven verwendet“ habe. funktion wird nur wenig genutzt.

http://bit.ly/2hqhKGP Skript zum Nachlesen: www.blog-zukunft-der-arbeit.de http://bit.ly/2vt7a7r

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 61 RÄTSEL Das Pioneer Health Centre im Londoner Arbeiterviertel Peckham ist mehr als eine Freizeitstätte. Es ist ein soziales Experiment.

Von Marc von Lüpke

62 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 fundstück

portlich geht es in dieser Turnhalle im Lon- Rätselfragen doner Arbeiterviertel Peckham zu. Die Hal- Welcher Architekt entwarf das Sle, ein moderner Bau aus Glas und Beton, Pioneer Health Centre? ist Teil des Pioneer Health Centre, das den Fami- lien der benachbarten Straßen Sport- und Frei- In welchem Jahr führte Groß- zeitaktivitäten bietet. Das Gebäude beherbergt britannien eine Dezimalwäh- neben der Sporthalle eine Bibliothek, ein riesiges rung ein und schaffte damit Schwimmbecken, verschiedene Gesellschaftsräu- die Münzeinheit Shilling ab? me, eine Kinderkrippe sowie eine Kantine mit Selbstbedienung. Insgesamt ist der 1935 von ei- Unter welchem britischen nem britischen Ingenieur und Architekten er- Premierminister wurde 1948 richtete Komplex für rund 2000 Familien ausge- das staatliche National Health legt. Die Gebäude sind von Tageslicht durchflutet. System gegründet? Korkböden ermöglichen das Barfußlaufen. Die Benutzung kostet lediglich einen Shilling Alle richtigen Einsendungen, Foto: Fred Ramage/Keystone/Hulton Archive/Getty Images Archive/Getty Ramage/Keystone/Hulton Fred Foto: pro Woche. Allerdings gehen die Besucher der die bis zum 22. September 2017 Einrichtung eine weitere Verpflichtung ein: Ein- bei uns eingehen, nehmen an mal im Jahr müssen sie sich von den Ärzten einer Aus­losung teil. George ­Scott Williamson und Innes Hope Pearse­ untersuchen lassen, die das übrige Jahr über die Besucher beobachten und bei Bedarf in medizi- Preise nischen Fragen Rat bieten. Denn das Pioneer 1. Preis: Gutschein der Bücher- Health Centre ist mehr als eine Freizeitstätte. Die gilde Gutenberg, Wert 100 Euro Institution ist Schauplatz einer breit angelegten 2.–4. Preis: Gutschein der Sozialstudie, des sogenannten Peckham-Experi- Büchergilde Gutenberg, Wert ments, das bereits 1926 in einem kleineren Ge- 50 Euro bäude begonnen hatte. Durch die vielfältigen Angebote sollen die Schicken Sie uns die Lösung Nutzer aus eigenem Antrieb Verantwortungsbe- Redaktion Mitbestimmung wusstsein für ihre Gesundheit und die ihrer An- Hans-Böckler-Straße 39 gehörigen entwickeln. Ermöglicht wurde die 40476 Düsseldorf Einrichtung durch das Engagement verschiede- E-Mail: [email protected] ner britischer Philanthropen, die den Mitgliedern Fax: 0211/7778-225 der „Unterschicht“ nicht zuletzt eine Familien- planung ermöglichen wollten – ausgehend von Auflösung der dem Klischee, dass Schwangerschaften in der Rätselfragen 3/2017 Arbeiterklasse oftmals ungewollt seien. 100 Jahre Trotz seiner Erfolge kämpft das Pioneer Little Rock Health Centre stets mit finanziellen Problemen, 1912 bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird das Haus geschlossen. Erst 1946 nimmt es wieder den Den 1. Preis hat der Betriebsrat Betrieb auf – aus diesem Jahr stammt unser Foto. der Firma Brandt Zwieback aus Vier Jahre später ist endgültig Schluss. Zumal das Ohrdruf gewonnen. Je einen mittlerweile eingeführte staatliche Gesundheits- 50-Euro-Gutschein erhalten system National Health System den Menschen Mario Strammiello aus Wall- ebenfalls Möglichkeiten der medizinischen Be- dorf, Benedikt Engelmeier aus treuung bietet. Heute sind im Gebäude des Pio- Göttingen und Dieter Wilde aus neer Health Centre Apartments eingerichtet. Hamburg.

Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 63 leserforum

um sind die Vergütungszusagen „das vermutlich niemanden ver- im privaten Anbieterbereich no- wundert, der Bekannte hat, die minell und effektiv deutlicher dort arbeiten …“ angestiegen als im öffentlichen Anbieterbereich? Außerdem: Wa- rum werden im privaten Anbie- terbereich mehr Dienstzeitmo- Stressfaktoren bei der delle angeboten, als dieses im Polizeiarbeit öffentlichen Anbieterbereich der bit.ly/stress-polizei Fall ist? Wieso denkt man auch Die Facebook-Seite Mobbing an dieser Stelle nicht über eine Point schreibt unter den Artikel gemeinsame Stärkung des Berufs- Folgendes: „Und das sollte auch bildes nach?“ hier endlich einmal geändert wer- Thomas Schneider mahnt: den. Siehe nur die Einsätze in „Die harten Arbeitsbedingungen Hamburg. Also endlich mehr werden die Personalsituation ins- Schutz für unsere Polizei. Sie leis- besondere der Pflegekräfte weiter ten schon genug unter Einsatz verschärfen. In vielen Kliniken ist ihres Lebens.“ Sör Hector Rott- Webresonanz ein Zweiklassensystem in der weiler bescheinigt dem Artikel Pflege schon Alltag. Hier die gut ein „gutes Timing“ und Wolf- ausgebildeten, einigermaßen be- gang Klein äußert sich wie folgt: zahlten Pflegekräfte. Die Anfor- „Künftig werden immer mehr Frühwarnsystem bei Bosch aber leise und schnell auszahlt derungen an sie und die Arbeits- Polizisten mit Burn-out vorzeitig bit.ly/bosch-gesundheit (für Menschen und die Firma), da verdichtung steigt kontinuierlich. in den Ruhestand gehen. Aber Die Politikerin Beate Müller- der Krankenstand langfristig in Dort immer kürzer und schlech- das scheint ja fast so gewollt zu Gemmeke von den Grünen teilte solchen Firmen sinkt und das ter angelernte Hilfskräfte. Schon sein.“ (bit.ly/fb-stressfaktoren-poli- den Beitrag auf ihrer Facebook- Arbeitsklima besser wird.“ Weite- aus demografischen Gründen zeiarbeit) Seite mit den Worten: „Diese re Kommentare: „Sehr wichtiges steigt die Anzahl der kritischen Betriebsvereinbarung ist super. Thema“, „Das klingt vorbildlich“, Patienten, der älteren Pflegekräfte Die Artikel des Titelthemas Aber das machen nicht alle. Des- „Nachahmenswert“, „Damit steht und des fehlenden Nachwuch- „Angst, Stress & Co.“ des vergan- halb brauchen wir auch gesetzli- und fällt alles ... sollte nicht un- ses.“ (bit.ly/fb-personaldecke-kran- genen Hefts erregten auf Face- che Regelungen!“ (bit.ly/fb-muel- terschätzt werden“, „Sehr gute kenhaus) book und Twitter durchaus eini- ler-gemmeke) Sache, müssten alle machen“, „Es Auf Twitter wurde über den ges an Aufmerksamkeit: Bei Auch auf der Facebook-Seite wäre positiv, wenn andere Unter- Artikel und die Aussage, dass es Facebook erreichten alle Artikel der Stiftung wurde der Beitrag nehmen nachziehen würden“. „dank zahlreicher Hilfsmittel zusammen 78 000 Personen und eifrig diskutiert. Evelyn Kresse heute deutlich seltener Rücken- produzierten 3700 Interaktionen. schreibt: „Ich bin begeistert. Die- oder Gelenkprobleme gibt – aber 18 900 Twitter-Nutzer sahen die se BV würde mich sehr interessie- immer mehr Pflegende an psy- Inhalte und erzeugten 680 Inter- ren. Well done!“ Stefan Hardung Arbeit im Krankenhaus chischen Erkrankungen leiden“, aktionen. äußert sich kritisch: „Da kann bit.ly/krankenhaus-gesundheit diskutiert. @NeugierFB schrieb: man nur noch lachen, ist es doch Gunter Kling schreibt auf Face- „Wir fahren das System, Men- die Firma, die 1996 am ersten book: „Es wird Zeit, endlich die schen weiter zu verschleißen. Seit Boykott des Arbeitsschutzgeset- Reißleine zu ziehen und umzu- Jahren ein bekanntes Problem. zes und den Durchführungen denken. Die Privatisierung war Interessiert es jemanden? Nicht von Gefährdungsbeurteilungen auch hier ein Riesenfehler. Wir einmal die Patienten.“ Und beteiligt war, zusammen mit wei- könnten uns ein Gesundheitswe- @DerBrasselmann: „Der Rück- Und Ihre Meinung? teren großen Unternehmen. sen zum Wohle der Menschen gang von Gelenkerkrankungen Sie haben sich so richtig Nichts ist vergessen, man muss es leisten! Und was machen unsere dürfte mehr daran liegen, dass geärgert über einen Beitrag oder nur immer wieder sagen!“ Politiker in Berlin?“ (bit.ly/fb- Pflegende nicht mehr so lange in fanden eine Reportage ganz toll? Ralf Hoffmann meint: „Ein sparen-des-pflegepersonals) Chris- dem Beruf verweilen.“ @Layher- Schreiben Sie uns!

unterschätztes Thema, was sich tian Nitsch fragt kritisch: „War- Christof ist der Meinung, dass [email protected]

64 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 vorschau

impressum In der nächsten Ausgabe …

Herausgeber: Hans-Böckler-Stiftung, Mitbestimmungs-, N r. 5 | Oktober 2017 Forschungs- und Studienförderungswerk des DGB, Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf Industriepolitik – Verantwortlicher Geschäftsführer: Wolfgang Jäger für die Zukunft gewappnet? Redaktion: Andreas Bullik, Telefon: 0211/77 78-196 Deutschlands Industrie besetzt weltweit Spitzenplätze; Güter wie Au- Cornelia Girndt (verantwortlich), Telefon: 0211/77 78-149 tos, Maschinen, chemische Produkte sind international gefragt. Ihr Margarete Hasel, Telefon: 0211/77 78-192 Kay Meiners, Telefon: 0211/77 78-139 Anteil an der gesamten Wertschöpfung Deutschlands ist unvermindert hoch, sie bietet gute und relativ stabile Arbeitsplätze. Konzeption des Titelthemas: Hasel Doch die Herausforderungen sind immens: Globale Konkurrenz, Redaktion dieser Ausgabe: Bullik/Girndt//Meiners Redaktionsassistenz: Astrid Grunewald getrieben von den Finanzmärkten, die Abhängigkeit von internatio- Telefon: 0211/77 78-147 nalen Markt- und Handelsbedingungen, neue Konzepte von Mobilität E-Mail: [email protected] und Klimaschutz führen zu permanenten Restrukturierungen und

Mitglieder des Redaktionsbeirats: Jens Becker, Veronika Dehnen, einem tief greifenden Strukturwandel. Oliver Emons, Wolfgang Jäger, Rainer Jung, Birgit Kraemer, Wie gut ist die deutsche Industrie darauf vorbereitet? Und wie Sabine Nemitz, Sebastian Sick kann sie modern und zukunftsfähig werden?

Projektmanagement/Layout/Produktion/Artdirection: Wir wollen die Arbeit des „N3tzwerks Zukunft der Industrie“ vor- Signum communication GmbH, Mannheim, stellen, das von der IG Metall mitinitiiert worden ist. Wir zeichnen Nicole Ellmann, Roger Münzenmayer, Rina Roki nach, wie eine Werksschließung verhindert wurde durch ein gelun-

Titelfotos: Alexander Paul Englert, Daniel Kalker genes Belegschafts-Buy-out. Wir fragen, wie ein Zukunftspakt für die Mobilitätsbranche aussehen könnte. Und thematisieren die Zukunft Druck: Offset Company, Wuppertal der europäischen Leitindustrien. Und wir problematisieren, dass Un- Verlag: Bund-Verlag GmbH, Postfach, 60424 Frankfurt/Main ternehmen zur Handelsware geworden sind, und diskutieren ein Anzeigen: Bund-Verlag GmbH, Peter Beuther Übernahmeschutz-Gesetz. (verantwortlich) Thorsten Kauf Telefon: 069/79 50 10-602 E-Mail: [email protected]

Abonnentenservice und Bestellungen: Bund-Verlag GmbH Telefon: 069/79 50 10-96 E-Mail: [email protected]

Preise: Jahresabonnement 50 Euro inkl. Porto, Einzelpreis 9,00 Euro. Der Bezugspreis ist durch den Fördererbeitrag abgegolten.

Abbestellungen mit einer Frist von sechs Wochen zum Jahresende feedback Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion. Dies gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Newsletter. Gibt es in Ihrem Betrieb etwas, über das wir einmal berichten sollten? I SSN 0723 5984 Etwas, das richtig gut läuft, oder etwas, über das Sie sich ärgern? Vermissen Sie ein Thema im Magazin?

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Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 65 mein arbeitsplatz

Manchmal führe ich meine Extra-Infos, Fotos und ein bisschen Vorfreude. Tahal S/N, Gäste ­zu den Moais, den Tempel­ Ich habe die drei Bungalows und unser anlagen. Am Steinbruch, wo 397 Wohnhaus mit eigenen Händen gebaut, zu- Osterinsel, dieser Riesen wie planlos herumstehen, er- sammen mit meinem Schwiegervater, einem zähle ich vom Untergang dieser polynesi- Rapa Nui. Er hat mir seitenlang das Material Chile schen Kultur. Meine Gäste kommen aus aller aufgelistet, das ich in Santiago de Chile be- Welt, sie fliegen fünf bis sechs Stunden herein, stellen, einkaufen, einlagern und verschiffen auf diese Insel, die so isoliert liegt wie kein sollte – und es wurde ein Höllenjob. Es kam anderer bewohnter Ort der Erde. 2010 das schwere Erdbeben, und das Material Mein Arbeitsplatz ist ein 350-x-250-Meter- wurde vom Staat beansprucht. Das Schiff fuhr Grundstück mit Blick auf den James Cook nur einmal pro Monat, und ich hatte überall Point, wo der Erdumsegler 1774 ankerte. Hier mit vermachteten Strukturen zu tun. bin ich der Manager einer Drei-Bungalow- Wir eröffneten am 1. Januar 2011, und ich Anlage, die meiner Frau Tiare gehört, die mei- hatte kein Geld mehr, Bungalow Nummer P eter NAEF, 55, vermietet drei Bungalows ne zwei kleinen Töchter erben werden, denn zwei und drei einzurichten, also arbeitete ich auf der Osterinsel. Der Schweizer hat ein nur Rapa Nui können hier Land besitzen. Ich als Reiseleiter für Studiosus hier auf der Oster­ Dutzend Berufe gemacht, Mechaniker gelernt, Abi nachgeholt, war Fußball­ nicht. Ich werde nie Insulaner sein. insel. Heute haben wir eine Auslastung von trainer, Sozialarbeiter, Flugbegleiter bei Mein Arbeitsalltag besteht darin, die Bun- 75 Prozent, exzellente Bewertungen und sind der Swissair, bis er Reiseleiter wurde und galows zu putzen, in Hanga Roa für das Früh- sehr zufrieden. Wir müssen hier keine Steuern seine Frau Tiare kennenlernte, eine Rapa stück der Gäste einzukaufen und meine bei- zahlen, die Krankenversorgung ist gratis. Ein- Nui von der Osterinsel, die 3600 Kilo­ den Töchter zu umsorgen, wenn meine Frau ziger Nachteil: Ich habe neben meiner Fami- meter vor dem chilenischen Festland liegt. als Flugbegleiterin nach Tahiti und zurück lie so gut wie kein soziales Leben. Jeder bleibt Textdokumentation: Cornelia Girndt fliegt. Und ich maile mit meinen Gästen auf in seinem Clan, es gibt 36 Clans, die regieren Foto: Mike Rabe Englisch, Deutsch, Spanisch, versorge sie mit die Osterinsel.

66 Mitbestimmung | nr. 4 | August 2017 Magazin Mitbestimmung. Betriebsrat PLUS Jetzt auch als App!

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t i e b r : A a m e h t WSI-Herbstforum 2017 l te i t 29. und 30. November 2017, Berlin

Soziale Rechte in Europa Zukunft denken Was hat die Kommission „Arbeit der Zukunft“ gebracht? Ausbauen, stärken und durchsetzen Interview mit Reiner Hoffmann und erstinK Jürgens

Wie können und müssen heute soziale Rechte definiert werden? Wo fehlen sie? Wo gibt es Durchsetzungsdefizite? Wie ist der Vorstoß der EU-Kommission zu einer Säule sozialer Rechte zu beurteilen?

Das wollen wir mit Ihnen diskutieren am Beispiel sozialer Rechte von Solo-Selbstständigen, des Rechts erlag -V

auf angemessene Löhne, der Durchsetzung von Mitbestimmungsrechten in Wertschöpfungsketten sowie nd im Kontext von Grundsicherung und Grundeinkommen. Bu

T meilneh er Eingeladen sind Wissenschaftler/-innen, Vertreter/-innen aus Verbänden und Betrieben, Unsere Kandidaten Angriff abgewehrt Politik und Praxis ahrgang Flagge zeigen – Gewerkschafter, EuGH-Urteil: Die deutsche Mitbestimmung 63.

€ Programm und Anmeldung unter: www.wsi-herbstforum.de die ins Parlament wollen passt zu Europa und seinem Recht

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