HANNES LIEBRANDT

»DAS RECHT MICH ZU RICHTEN, DAS SPRECHE ICH IHNEN AB!«

HANNES LIEBRANDT

»DAS RECHT MICH ZU RICHTEN, DAS SPRECHE ICH IHNEN AB!«

Der Selbstmord der nationalsozialistischen Elite 1944/45

FERDINAND SCHÖNINGH Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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E-Book ISBN 978-3-657-78696-1 ISBN der Printausgabe 978-3-506-78696-8 INHALT

VORWORT ...... 9

EINLEITUNG ...... 11

I. SELBSTMORD ZWISCHEN KRIMINALISIERUNG, IDEALISIERUNG UND HEROISIERUNG – DER SUIZID IM URTEIL DES NATIONAL SOZIALISMUS ...... 34

1. Selbstmord und Freitod in der deutschen Geschichte ...... 34

2. »Den Tod geben, den Tod nehmen« – Der Totenkult des Nationalsozialismus ...... 50

3. Nationalsozialistische Instrumentalisierung: Selbstmorde als Verbrechen, Opfergang und Heldenverehrung ...... 64

II. DER ABGESANG DER NATIONALSOZIALISTISCHEN ELITE – SELBSTMORDE UNTER DEM HAKENKREUZ ...... 87

1. Die nationalsozialistische Elite – Versuch einer Annäherung. . . . . 87

2. Die politische Führung des Dritten Reichs...... 95 2.1 Die Paladine Hitlers...... 96 2.2 Die Reichsminister des Dritten Reichs ...... 103 2.3 Die politischen Generale – Selbstmorde bei den Reichs- und Gauleitern ...... 114 2.4 »Statisten in Uniform« – Die Suizidalität unter den Reichstagsabgeordneten ...... 132 2.5 Die kommunale Elite – Selbstmorde unter den Oberbürgermeistern ...... 149

3. Die militärische Führung des Dritten Reichs ...... 164 3.1 Selbstmorde in der deutschen Wehrmachtsführung...... 164 3.2 Selbstmorde in der Waffen-SS ...... 180

4. Selbstmorde in den Mordzentren des Dritten Reichs ...... 196

5. Die Mörder unter der Robe des Richters – Selbstmorde in der Justizelite ...... 218

6. Suizide nach 1946 ...... 245 6 Inhalt

III. »GÖTTERDÄMMERUNG« – DER INSZENIERTE TOD IM NATIONALSOZIALISMUS ...... 260 1. , , Heinrich Fehlis, Franz Böhme – »Wir alle, gleichgültig, welchen Rock wir tragen, bürgen mit unserem Leben dafür, daß die Festung Norwegen gehalten wird.« ...... 261 2. Ernst-Robert Grawitz, Werner Heyde, Irmfried Eberl – »Vor Gott trete ich gefasst und unterwerfe mich seinem Spruch.«. . . 266 3. , Joseph Goebbels, Hans Krebs, Wilhelm Burgdorf – »Wir haben nur noch ein Ziel: Treue bis in den Tod!« ...... 274 4. Walter Model, Günther von Kluge, Henning von Tresckow – »Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben«...... 288 5. Heinrich Himmler, Odilo Globocnik – »Der wertvolle Teil des deutschen Volkes geht mit uns unter, was mit dem Rest geschieht, ist ohne Bedeutung.«...... 301 6. Hermann Göring, Robert Ley – »Und wenn ich sterben muß, so will ich lieber als Märtyrer sterben und nicht als Verräter.«. . . . 311

SCHLUSSBETRACHTUNG ...... 330

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ...... 340

ABBILDUNGSVERZEICHNIS ...... 354

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN ...... 356

REGISTER ...... 357 Sterben müssen alle, das wissen sie, mögen sie sich auch alle zum innerlich frohen Sterben bereitfinden! Walter Model, März 1945

VORWORT

Die vorliegende Arbeit wurde von der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als Dissertation am 13.07.2016 angenommen. Mein besonderer Dank gilt den drei Gutachtern der Arbeit: Prof. Dr. Hermann Hiery, PD Dr. Felix Hinz, Prof. Dr. Jan-Otmar Hesse.

Auch 70 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur erscheint die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Anbetracht zahlreicher Neu- erscheinungen keineswegs abgeschlossen. Mit Erstaunen, Interesse, aber auch Skep- sis wurde mir begegnet, als ich mein Dissertationsprojekt zum Suizid der national- sozialistischen Elite vorstellte. Mich jedoch erstaunte vielmehr, dass dieses Themenfeld in keiner einzigen Studie -weder national noch international- dezidiert und systematisierend untersucht wurde. Dieses Forschungsdesiderat war Heraus- forderung und Ansporn zugleich und daher gebührt der erste Dank meinem Dok- torvater, Prof. Dr. Hermann Hiery, der mich in zahlreichen Gesprächen auf die Notwendigkeit dieser Studie hingewiesen, mich in jeder Phase des Promotions- projekts unterstützt und mir stets bei komplexen Problemen und Fragestellung geholfen hat. Während meiner Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bay- reuth hatte ich das große Glück, hilfsbereite und gleichsam kompetente Kolleginnen und Kollegen zu haben, mit denen ich mich jederzeit austauschen konnte. Leider fehlt mir der Raum, hier alle persönlich zu erwähnen, doch möchte ich PD Dr. Stefan Benz hervorheben, der nicht nur einzelne Kapitel mit wissenschaftlichem Sachverstand präzise analysierte, sondern mir auch Perspektiven aufzeigte, die ich vorher noch nicht verfolgte. Nach meinem beruflichen Wechsel an die LMU München wurde mir weiterhin ausreichend Forschungsfreiraum eingeräumt. Dafür möchte ich Dr. Josef Memmin- ger und Prof. Dr. Michele Barricelli meinen Dank aussprechen, die mir darüber hinaus in jeglicher Hinsicht ihre Unterstützung zusicherten. Leider kann ich mich nicht bei den zahlreichen Mitarbeitern der Archive und Bibliotheken gebührend bedanken, die ich im Laufe meiner Recherchen kennenlernen durfte. Ohne diese Hilfestellungen wäre eine derartige quellenbasierte Studie kaum denkbar gewesen. Ich denke, dass jede/r Wissenschaftler/in durch sein/ihr (erstes) Promotionspro- jekt nachhaltig geprägt wird, nicht nur hinsichtlich des eigenen Berufsverständnis- ses, sondern ebenso in charakterlicher Hinsicht. Sich täglich neu zu motivieren, größere und kleinere Rückschläge verkraften zu können und dennoch am For- schungsziel festhaltend - dazu braucht es nicht minder die Familie. Daher gilt der letzte, aber wohl wichtigste Dank meinen Eltern Martina und Uwe Liebrandt, deren Unterstützung ich während meiner gesamten Studien- und Promotionszeit sicher sein konnte. Vielen Dank!

EINLEITUNG

»Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben.« (Henning von Tresckow; 21. Juli 1944)

21. Juli 1944: Als Henning von Tresckow diese letzten Worte an seinen Freund im militärischen Widerstand, Fabian von Schlabrendorff, übermittelte stand das Schick- sal des Generalmajors bereits fest. Tresckow wusste, dass der Suizid die nunmehr einzig verbliebene Möglichkeit darstellt, den Racheakten der Nationalsozialisten zu entgehen. Der Selbstmord ist hierbei das Resultat eines idealistischen Ziels, welches durch das letztlich misslungene Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 scheiterte. 07. Oktober 1946: Emmy Göring, die letzte Ehefrau des deutschen Reichsmar- schalls Hermann Göring, erscheint zu ihrem letzten Besuch in Görings Zelle in Nürnberg. Acht Tage später findet man den ehemaligen Oberbefehlshaber der deut- schen Luftwaffe leblos in seiner Zelle, Todesursache: Selbstmord. Die Flucht Gö- rings vor der eigenen Verantwortung war lange geplant und bereits im Gespräch mit seiner Ehefrau angekündigt:

»[...] diese Ausländer können mich ermorden, aber das Recht, mich zu richten, haben sie nicht, das spreche ich ihnen ab.«1

19. Juli 1969: Günter Grass wird zum Kirchentag in eingeladen um aus seinem damals noch unveröffentlichten Roman »Örtlich betäubt« vorzutragen. Während der Veranstaltung betritt ein Mann das Podium und erregt durch wirre Äußerungen das vorwiegend studentische Plenum. Menschen wie er, die während des Nationalsozialismus an Deutschlands Größe geglaubt haben, wären nunmehr »Verbrecher«, gehasst und gemieden von der Öffentlichkeit zugleich. Er wolle nun ein Zeichen des Protests setzen, holt eine Zyankali-Kapsel hervor und sagt: »Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS«.2 Der Suizident war der 56-jährige Apotheker Manfred Augst, ein ehemaliger einfacher Volksgenosse, der sein Ableben als ritualisierten Protest inszenierte. Drei Fälle des Suizids, die unterschiedlicher kaum sein könnten und dennoch ein gemeinsames Phänomen skizzieren, welches bislang bezugnehmend auf den Natio- nalsozialismus zu lange vernachlässigt wurde. Der Selbstmord als autodestruktive Gewalt innerhalb weiter Teile der Bevölkerung gilt als Spezifikum der Geschichte des Nationalsozialismus. Nie zuvor und nie danach erscheint der Selbstmord von politischen, militärischen und gesellschaftlichen Eliten sowie einfachen Bürgern so bedeutend wie während der Phase des Nationalsozialismus.

1 Göring, Emmy: An der Seite meines Mannes. Begebenheiten und Bekenntnisse. Preußisch- Oldendorf 19722, S. 305. 2 Weiterführende Informationen zu diesem Fall vgl. Scheub, Ute: Das falsche Leben. Eine Vater- suche. München 2007, S. 7ff. 12 Einleitung

Historisch-anthropologische Dimension des Selbstmords Dabei ist der Mensch das einzige Lebewesen, das überhaupt zum willentlichen Töten des eigenen Ichs fähig ist. Der Trieb, sich eigenhändig das Leben zu nehmen, ist in der Tierwelt vollkommen unbekannt3 oder zumindest noch unzureichend erforscht. Die Suizidalität ist dementsprechend auch ein Teil der menschlichen Psy- che, ja ein Alleinstellungsmerkmal der menschlichen Spezies. Sie findet sich in jeder menschlichen Zivilisation, offenbarte sich bereits in primitiven Gesellschaften und durchzieht alle Epochen der Geschichte. Nur der Mensch ist dazu fähig, Zukunft zu imaginieren und damit ein Geschichtsbewusstsein aufzubauen, das im besonde- ren Falle ganz entscheidend den Entschluss zum Selbstmord begünstigen kann. Jan Assmann spricht davon, dass Geschichtsbewusstsein zu einer »anthropologischen Universalie«4 geworden ist und es ließen sich hier zahlreiche Beispiele anführen, bei denen der Selbstmord als Rechtfertigung vor der Nachwelt erscheint. Der Selbst- mord ist somit nicht einfach nur ein letztes Geschehnis, sondern strahlt auf die Existenz des Daseins zurück. Und erst durch die Fähigkeit, den eigenen Tod zu imaginieren, lässt er sich letztlich eigenständig herbeiführen. Die moralische Wer- tung des Suizids wurde bereits in der Antike kontrovers diskutiert. In Tragödie und Epik wurden Selbstmörder nicht selten als Helden verehrt. In Erinnerung bleiben römische Feldherrn wie Publius Quinctilius Varus, die sich nach militärischen Nie- derlagen oder in ausweglosen Situationen in das eigene Schwert stürzten. Der un- terschiedliche Umgang mit der militärischen Niederlage prägt somit entscheidend das zeitgenössische und historische Urteil und kann gegebenenfalls einen Personen- kult auch im Angesicht des eigenen Untergangs bewirken. Mit der Ausbreitung des Christentums in Europa begann die Phase der Kriminalisierung des Suizids, an deren Ende jedoch keineswegs die Beseitigung des Selbstmords als gesellschaftliches Phänomen stand.5 In Mittelalter und Früher Neuzeit wurde der Selbstmord nicht selten als Anomalie, als pathologische Krankheit aufgefasst. Suizidenten wurden jenseits der öffentlichen Friedhöfe regelrecht verscharrt und posthum aus der christ- lichen Gemeinschaft ausgeschlossen.6 Die christliche Lehre geht dabei von einer Verletzung der Prokura Gottes aus und betrachtet den Selbstmord als Sünde, da die Verfügungsgewalt über den Körper nicht beim Individuum, sondern bei Gott selbst liege.7 Erst mit Beginn des 18. Jahrhunderts und der zunehmenden Individualisie- rung des Menschen erhielt der bis dato primär theologisch geführte Diskurs aufklä- rerische, psychoanalytische und historisierende Elemente.8

3 Eine Ausnahme bilden hier möglicherweise die Lemminge, denen ebenso ein suizidales Verhal- ten nachgesagt wird. 4 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. München 1992, S. 66. 5 Ausführlich hierzu: Baumann, Ursula: Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Su- izids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Weimar 2001, S. 15ff. 6 Zur Geschichte des Selbstmords ausführlich: Minois, Georges: Geschichte des Selbstmords. Düsseldorf 1996. 7 Vgl. Augustinus, Aurelius: De civitate dei. Buch 1. Kapitel 20. Dt: Thimme, Wilhelm [Hg.]: Vom Gottesstaat. Bd.1, München 1977. 8 Eine genauere Darstellung der historischen Dimension des Selbstmords fi ndet sich in Kap. I.1 »Selbstmord und Freitod in der deutschen Geschichte«. Einleitung 13

Auch wenn die Aufklärung aller Erklärungsmuster des Suizids unmöglich er- scheint, so werden die meisten Selbstmorde durch die Primäremotionen Angst und Furcht beeinflusst. Angst vor der Gefangennahme, Furcht vor einem siechenden Tod, Angst vor dem allmählichen Verlust der menschlichen Würde, Furcht vor der Enthüllung der eigenen Vergangenheit, Angst vor der sich anbahnenden Vereinsa- mung – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Dazu gesellen sich Gefühlszustände wie Melancholie, Depression und Resignation, die den Freitod zusätzlich begüns- tigen und die letztlich bewirkten, dass der Selbstmord auch als Anomalie, als patho- logische Erkrankung aufgefasst wurde. Diese Gefühlszustände wiederum entwickeln sich meist erst zu einem bedrohlichen Maße durch äußere Bedingungsfaktoren, auf die der einzelne Mensch oftmals nur bedingt Einfluss hat. Neben privaten Proble- men sind es vor allem politische Umwälzungen, die Not und Leid unter der Be- völkerung hervorrufen und ein Klima der Angst und Furcht schaffen. Die poten- tiellen Ursachenkomplexe und Katalysatoren des Selbstmordes sind somit Konstanten der Menschheitsgeschichte und daher zeitlich übergreifend. Zu diesen zählen seit jeher Kriege, da sie zum einem das Leid der allgemeinen Bevölkerung erhöhen, aber auch oftmals die gesellschaftliche und politische Elite in den Suizid treiben. Kriege bedeuten politische Umwälzungen, wirtschaftliche Not, privates Elend. Kriege stellen den Überlebenswillen der unmittelbar Beteilig- ten auf eine harte Probe, an der stets einzelne Personen und gesellschaftliche Grup- pen scheitern und in Folge dessen in den Selbstmord flüchten. Religiöse Empfin- dungen und staatliche Ideologien können, müssen jedoch kein Hindernis darstellen, der Suizid erscheint als intimer und unzugänglicher menschlicher Akt, der den Individualismus des Menschen auch in Zeiten staatlicher Bevormundung deutlich offenbart.

Suizide als Massenphänomene des Zweiten Weltkriegs Der Zweite Weltkrieg stellt mit insgesamt über 50 Millionen Opfern den bislang größten und weitreichendsten Konflikt überhaupt dar. Er bildete in vielfältiger Hin- sicht eine tiefe historische Zäsur und setzte auch bezüglich des Selbstmordes in der Gesellschaft und in der Elite neue Dimensionen. Überall dort, wo das Elend des Krieges die Bevölkerung erfasste, zeigen sich Selbstmorde, die teilweise gar in Mas- sensuizide mündeten. Frauen und Kinder brachten sich ebenso um wie ihre Männer. Zahlreiche Juden beendeten in den Konzentrationslagern ihre Pein und zogen den eigenhändigen Tod einem Leben in Sklaverei vor. Einfache Soldaten setzten sich kurz vor der feindlichen Übernahme den »Gnadenschuss«, um dem vermeintlichen Terror der heranrückenden Soldaten zu entgehen. Alte und Greise weigerten sich ihr Hab und Gut zu verlassen, welches sie sich ein Leben lang aufgebaut hatten und wählten den Tod anstatt der Flucht. Der »totale Krieg«, den Goebbels 1943 ausgerufen hatte und der Europa jahrelang in Angst und Schrecken versetzte, kam spätestens 1944 in das Reich zurück und traf nun die deutsche Bevölkerung mit aller Härte. Zahlreiche Abschiedsbriefe, Tagebücher und persönliche Briefe zeugen von den dramatischen Szenen, die sich im Frühjahr 1945 überall in Deutschland abgespielt haben müssen. Die deutsche Propaganda, die bis in die letzten Kriegstage nichts an ihrer Radikalität und Effizienz einbüßte, befeuerte dieses permanente Klima der Angst. Der drohen- 14 Einleitung de Überfall der »slawischen Horden« aus dem Osten bedeute das Ende des Abend- landes, so die Botschaft der Nationalsozialisten. Standgerichte und ad hoc Verfahren waren das sichtbarste Signal, dass jegliche Form der Kapitulation mit dem Tod be- straft werden würde. Gauleiter, Kreisleiter und SS-Einheiten verhinderten bis zuletzt die Flucht von »Volksgenossen«, um den »Endkampf« aufrecht zu erhalten. Der Einmarsch der gegnerischen Truppen traf die Bevölkerung daher besonders hart. Der Selbstmord avancierte zur Ultima Ratio, zur Möglichkeit der Flucht, sowohl vor den Sowjets als auch vor dem eigenen Regime. Der , der die Aufklärung und Dokumentation der Suizide im Reich als nationalen Aufgabenbereich deklarier- te, zog Ende März 1945 ein eindeutiges Resümee:

»Ein Großteil des Volkes hat sich daran gewöhnt, nur noch für den Tag zu leben. Es wird alles an Annehmlichkeiten ausgenützt, was sich darbietet. Irgendein sonst belangloser Anlaß führt dazu, daß die letzte Flasche ausgetrunken wird, die ursprünglich für die Feier des Sieges, für das Ende der Verdunklung, für die Heimkehr von Mann und Sohn aufgespart war. Viele gewöhnen sich an den Gedanken, Schluß zu machen. Die Nachfrage nach Gift, nach einer Pistole oder sonstigen Mitteln, dem Leben ein Ende zu bereiten, ist überall groß. Selbstmorde aus echter Verzweiflung über die mit Sicherheit zu erwartende Katastrophe sind an der Tagesordnung.«9

Besonders hart traf die 1945 einsetzende Suizidwelle die vorpommersche Kleinstadt Demmin, in der sich fast 5% der Bevölkerung das Leben nahm.10 In brachten sich allein im April und Mai 1945 mindestens 4858 Menschen selbst um und ver- hinderten somit einen Übergriff der feindlichen Soldateska.11 Richard Bessel ver- deutlicht das Ausmaß der Suizidwelle, die keine gesellschaftlichen, kulturellen oder religiösen Grenzen setzte:

»It was not just many prominent Nazi leaders but also thousands of lesser functionaries of the regime and ordinary citizens who took their own lives violently during this suicide period. People shot themselves, hanged themselves, drowned themselves, poisoned themselves; in many cases fathers killed their entire families before turning their weapons on themselves.«12

Der Selbstmord stellt während des Zweiten Weltkriegs daher gewiss kein Randphä- nomen dar, er zeigt sich bei Kriegsgewinnern und Kriegsverlierern gleichermaßen.

Forschungsstand Umso erstaunlicher ist daher die heutige Sichtweise und das derzeitige Forschungs- interesse auf diesen Aspekt der Geschichte, der bislang unvollständig und stark

9 Boberach, Heinz [Hg.]: Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Bd.17. Herrsching 1984, S. 6735. 10 Vgl. Baumann, Ursula: Vom Recht auf den eigenen Tod, S. 376. Genaueres hierzu: Vgl. Huber, Florian: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945. Berlin 2015. 11 Vgl. Keller, Sven: Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45. München 2013, S. 204. 12 Bessel, Richard: The War to End All Wars. The Schock of Violence in 1945 and Its Aftermath in . In: Lüdtke, Alf (u.a.) [Hg.]: No Man’s Land of Violence. Extreme Wars in the 20th Century. Göttingen 2006, S. 78. Einleitung 15 reduzierend wahrgenommen wird. Das Phänomen selbst ist bekannt und findet sich als Bemerkung in nahezu jeder Publikation zum Untergang des Dritten Reichs, eine grundlegend analysierende Studie zu dem Suizid führender nationalsozialistischer Eliten hingegen bleibt weiterhin ein Forschungsdesiderat. Der Aspekt des Selbst- mordes als autodestruktive Gewalt innerhalb der Zivilbevölkerung wurde in den letzten Jahren verstärkt in den historiographischen Fokus gerückt, wie die Publika- tionen von Christian Goeschel13 und Florian Huber14 deutlich belegen. Goeschel folgt dabei einem stark personifizierenden Ansatz und historisiert das Phänomen des Suizids konsequent. Im Gegensatz zur vorliegenden Studie wendet er sich im empirischen Hauptteil ausgewählten Suizidenten der Gesellschaft zu und sieht de- ren Selbsttötung als Konsequenz aus einer totalen Umwertung gesellschaftlicher Normen. Elitensuizide werden angesprochen und ebenfalls historisiert, jedoch ohne Anspruch einer systematischen Untersuchung. Florian Hubers Monographie ist nun bereits dem Titel nach zu urteilen der Gegenentwurf zur vorliegenden Studie, da ausschließlich Selbstmorde der »kleinen Leute« untersucht werden. Die stark auf Emotionen und Empathie ausgerichtete Studie wird durch individualisierende Dar- stellungen ergänzt und vermag somit ebenfalls keine vergleichende Analyse zu ini- tiieren. Einzelne Lokal- und Regionalstudien zur Suizidalität des Dritten Reichs sind zwar ebenfalls erschienen, meistens handelt es sich jedoch um medizinge- schichtliche Analysen, die nur rudimentär die historische Dimension abdecken.15 Die Täterperspektive hingegen und somit der ausschließliche Fokus auf die nationalsozialistische Elite16 bildet somit keinen konkreten Ansatzpunkt dieser Studien. Auch in den großen Gesamtdarstellungen zum Nationalsozialismus und zum Dritten Reich sucht man vergeblich nach einer intensiven Beschäftigung mit der Thematik. Klaus Hildebrand erwähnt lediglich den Selbstmord Hitlers, ohne diesen auch nur ansatzweise genauer zu erörtern.17 Richard J. Evans hingegen thematisiert ausführlicher die nationalsozialistische Inszenierung des Untergangs, konzentriert sich in seinen Ausführungen jedoch auf die unmittelbare Endkriegsphase in Berlin, wodurch einzelne Fälle des Selbstmords regelrecht aufgelistet werden.18 Evans trifft jedoch auch verallgemeinernde Aussagen bezüglich der Motivation der Selbstmor- de und sieht vor allem im »verborgenen Ehrgefühl« sowie in der Furcht vor der Demütigung und Schande die entscheidenden Beweggründe.19 Eine differenzierte

13 Goeschel, Christian: Suicide in Nazy Germany. Oxford 2009. 14 Huber, Florian: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945. Berlin 2015. 15 Susanne Hahn untersuchte beispielsweise die Suizidalität anhand der Stadt Leipzig. Hahn, Susan- ne: Suizidalität im Dritten Reich. Theorien, Realitäten und Reaktionen. Dargestellt am Beispiel der Stadt Leipzig. In: Ders. (u.a.) [Hg.]: Ergebnisse und Perspektiven in der sozialhistorischen Forschung in der Medizingeschichte. Kolloquium zum 100. Geburtstag H.E.Sigerist.12–14.Juli 1991. Leipzig 1991, S. 174–187. 16 Die Klärung des Elitenbegriffs für die vorliegende Studie erfolgt genauer in Kap. II.1. 17 Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich. München 1979. 18 Konkret spricht Evans die Selbstmorde von Göring, Ley, Himmler, Globocnik, Grawitz, Kammler, Dannecker, Bouhler, Rust, Thierack, Bumke, Conti, Henlein, Model, Blaskowitz und Bormann an. Evans, Richard: Das Dritte Reich. Bd.3. München 2008, S. 907ff. 19 Vgl. Ebd. S. 908. 16 Einleitung

Analyse der Beweggründe oder eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Selbst- mordthematik findet natürlich nicht statt und ist auch nicht Ziel der Gesamtdar- stellung. Erstaunlicherweise spricht Evans gar konkrete Suizidzahlen an, die jedoch nicht rekonstruiert werden können, da der spezifische Rechercheweg sowie die gewählten Analysekriterien nicht konkret aufgezeigt werden.20 Selbiges gilt für die Studien Ian Kershaws, die sehr stark auf Hitler fokussieren und dementsprechend seinen Selbstmord ausführlich darstellen, jedoch keinen Bezugsrahmen zum Ge- samtphänomen erstellen.21 Auch Kurt Bauer vermag in seiner Studie keine hinreichende Untersuchung des Suizids zu initiieren, vielmehr beschränkt er seine Ausführungen zum Ende des Dritten Reichs auf ca. 15 von weit über 500 Seiten. Der Elitenselbstmord erscheint als reines Randphänomen.22 Die neuere Täterforschung, die sich nachhaltig und auf breiter Basis erst in den 1990er Jahren den Tätern des Holocausts zuwandte und sich somit als Subdisziplin der Holocaust-Forschung etablierte, interessierte sich augenscheinlich ebenfalls wenig für das Kollektivphänomen des Elitenselbstmords.23 Der Topos der »Täter- gesellschaft«, wie ihn Daniel Goldhagen 1996 in den wissenschaftlichen und öffent- lichen Diskurs einbrachte24 zeigt vordergründig den problematischen Trend, den Täterbegriff inflationär auszuweiten, wodurch das Feld der Täterinnen und Täter quantitativ ausgeweitet wurde.25 Das Forschungsinteresse galt zunächst den bio- graphischen Werdegängen und vor allem sollte gezeigt werden, dass viele Täter biografisch durch ein Kontinuum von Gewalterfahrungen geprägt gewesen seien.26 Auch wenn diese »Brutalisierungsthese« durch jüngere Analysen nachhaltig in Fra- ge gestellt wurde27, skizziert sie dennoch das hauptsächliche Forschungsinteresse. Die zunehmende Diversifizierung der Täterstrukturen hat jedoch dazu geführt, dass zunehmend die »killling fields« und »bloodlands« im Osten und damit auch die Direkttäter vor Ort in den historiographischen Fokus rückten.28 Mittlerweile sind

20 Er nennt 8 von 41 Gauleiter, 7 von 47 Höhere SS- und Polizeiführer, 53 von 554 Generälen des Heeres, 14 von 98 Generälen der Luftwaffe und 11 von 53 Admiralen, welche am Ende des Krie- ges Selbstmord verübten. 21 Kershaw, Ian: Hitler 1889–1945. München 2009. Vgl. Kershaw, Ian: Hitler. 2Bde. München 2013; Vgl. Kershaw, Ian: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45. München 2013. 22 Bauer, Kurt: Nationalsozialismus. Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall. Wien 2008. 23 Siehe Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989. Bonn/Dietz 1996. Vgl. Paul, Gerhard [Hg.]: Die Täter der Shoah. Fana- tische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2002. Vgl. ferner Welzer, Harald: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. a.M. 2007. 24 Goldhagen, Daniel: Hitlers willige Vollstrecker. Berlin 1996. 25 Exemplarisch kann hier die bedeutende personengeschichtliche Studie zum Führungskorps des Reichssicherheitshauptamts von Michael Wildt angeführt werden. Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002. 26 Vgl. Mallmann, Klaus Michael/Paul, Gerhard [Hg.]: Karrieren der Gewalt. Nationalsozialisti- sche Täterbiographien. Darmstadt 2004. 27 Vgl. Schumann, Dirk: Europa, der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit. Eine Kontinuität der Gewalt? In: Journal of Modern European History 1 (2003). H.1, S. 25. 28 Siehe hierzu: Snyder, Timothy: Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin. New York 2010; ferner Baberowski, Jörg: Räume der Gewalt. Frankfurt a.M. 2015. Einleitung 17 zahlreiche Biographien erschienen, die eine differenziertere Betrachtung der Täter- strukturen zulassen und für die vorliegende Studie deshalb von besonderer Bedeu- tung sind. Einzelne Studien in diesem Zusammenhang vorzustellen erscheint wenig hilfreich, da biographische Studien mittlerweile für die meisten führenden Protago- nisten des Dritten Reichs vorhanden sind. Biographische Kontinuitätsmuster, die entweder die Beteiligung am Massenmord oder den Entschluss zum Selbstmord erklären, sucht man meist vergebens und sollen auch in dieser Studie nicht künstlich gezogen werden. Ebenso wie die Täterforschung gewinnt auch die historische Suizidforschung zunehmend an Bedeutung. Erst seit den 1980er Jahren beschäftigt sich die deutsche historiographische Forschung intensiver mit dem Suizid, auch wenn der Schwer- punkt bislang auf der Frühen Neuzeit liegt. Dies gilt auch für die Monographie von Georges Minois, die zwar als Gesamtdarstellung konzipiert ist, die Zeit von der Französischen Revolution bis zum 20. Jahrhundert jedoch nur in einem 30seitigen Epilog abhandelt.29 Er vertritt jedoch die interessante These, dass sich geschichtli- cher Wandel allein in der Elite vollziehe, während der gewöhnliche und alltägliche Selbstmord immun gegen geschichtliche Einflüsse sei. Deutlich prägen französische und englische Monographien die historiographische Sichtweise auf den Suizid, wie auch anhand der Studie von Michael MacDonalds und Terence Murphy30 über Selbsttötung im frühneuzeitlichen England deutlich wird. Ähnliche Studien existie- ren auch in den USA31, die jedoch allesamt keine ausschließliche Elitenperspektive zulassen. Erst 1999 folgte durch Vera Lind32 eine Monographie, die den Selbstmord in Deutschland in den Fokus rückt. Als Ausgangsbasis dienten ihr rund 300 Fälle vollendeter oder versuchter Suizide, die zwischen 1600 und 1820 in den Herzogtü- mern Schleswig und Holstein begangen worden sind. In gleichem Kontext kann die Studie Florian Kühnels33 aus dem Jahr 2013 eingeordnet werden, der anhand sieben prominenter Suizidenten exemplarisch darstellt, dass der Elitensuizid in Deutsch- land bereits in der Frühen Neuzeit ein wichtiges Thema darstellte. 2001 folgte mit der Habilitationsschrift Ursula Baumanns die erste detaillierte Analyse des Selbst- mordes vom 18. bis in das 20. Jahrhundert, die zwar die Suizidalität während des Nationalsozialismus nicht ausschließlich, aber dennoch in einem eigenen Kapitel berücksichtigt.34 Das Hauptinteresse Baumanns liegt jedoch in der historischen und kulturanthropologischen Diskursanalyse und vor allem im Wandel der unterschied- lichen Suizidauffassungen. Bereits zwei Jahre zuvor hat sie sich in einem Aufsatz

29 Minois, Georges: Geschichte des Selbstmords. Düsseldorf 1996. 30 MacDonald, Michael/Murphy, Terence: Sleepless Souls. Suicide in Early Modern England. Oxford 1990. 31 Kushner, Howard: Self-destruction in the Promised Land: A psychocultural Biology of Ameri- can Suicide. New Brunswick 1989. 32 Lind, Vera: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel. Göttingen 1999. 33 Kühnel, Florian: Kranke Ehre? Adlige Selbsttötung im Übergang zur Moderne. München 2013. 34 Baumann, Ursula: Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Weimar 2001. 18 Einleitung ausschließlich mit dem Suizid im Dritten Reich befasst, wobei auch hier der dis- kursanalytische Ansatz den personengeschichtlichen ersetzt.35 Die historische Sichtweise auf den Suizid während des Nationalsozialismus ist auch in der Studie Sven Kellers von 201336 erkennbar. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine ausgewiesene Suizidstudie, sondern sie untersucht dezidiert den Zu- sammenbruch der Volksgemeinschaft am Ende des Zweiten Weltkriegs. In diesem Rahmen nimmt die Selbstmordwelle am Ende des Krieges eine bedeutende Rolle ein, ist jedoch nur ein Aspekt des von ihm untersuchten inszenierten Untergangs 1945. Weder die Forschungen zum Nationalsozialismus, noch die dezidierte Täter- oder historische Suizidforschung untersuchen demnach den Elitensuizid von hochran- gigen nationalsozialistischen Funktionären in systematischer Hinsicht. Dadurch sind noch immer Vorstellungen präsent, die den Selbstmord ausschließlich auf eine kleine Zahl besonders regimetreuer Eliten beziehen und den Suizid als einseitigen Beleg der nationalsozialistischen Überzeugung erachten.

Gegenstand und Erkenntnisinteresse Die vorliegende Studie soll daher einen Beitrag dazu leisten, die Komplexität des nationalsozialistischen Elitengefüges zu skizzieren und insbesondere den Eliten- selbstmord am Ende des Zweiten Weltkriegs nicht ausschließlich den führenden Re- präsentanten des Staates um Hitler, Himmler, Goebbels, Göring, etc. zuzuschreiben. Diese angesprochenen Fälle reihen sich in ein Gesamtphänomen zahlreicher Kollek- tivtodphantasien führender Nationalsozialisten ein und dürfen keineswegs als isolier- te Beispiele am Ende des Krieges dienen. Das Interesse der historischen Forschung an dem Untergang des Dritten Reichs ist – sofern der Selbstmord den maßgeblichen Untersuchungsaspekt bildet – entweder auf die Zivilbevölkerung oder die politische Führung gerichtet. Das Phänomen lässt sich jedoch weder auf einzelne Gesellschafts- gruppen, noch Elitengruppierungen begrenzen. Auch zahlreiche Militärs, Mediziner, Juristen und Wissenschaftler wählten zum Ende des Krieges den eigenen Tod, ohne dass die Beweggründe so offensichtlich wären wie bei Hitler und seinen Paladinen. Neben den maßgeblich Verantwortlichen des NS-Regimes brachten sich auch Sym- pathisanten um, bei denen ein politisch motivierter Suizid zunächst nicht vermutet wird, wie beispielsweise der Fall des Präsidenten des »Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland«, Walter Frank37, zeigt. Allein aus diesen Gründen erscheint eine Beschäftigung mit dem Thema lohnenswert und auch zwingend notwendig. Eine vergleichende Elitenstudie kann demnach einen wichtigen Beitrag zur nationalsozia-

35 Baumann, Ursula: Suizid im Dritten Reich. Facetten eines Themas. In: Grüttner, Michael (u.a.) [Hg.]: Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup. Frankfurt a.M. 1999, S. 482–516. 36 Keller, Sven: Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45. München 2013. 37 Walter Frank *12.02.1905 †09.05.1945 Historiker; kein NSDAP-Mitglied; 1935: Ernennung zum Professor durch Initiative Hitlers und Rusts; 1936: Gründer des »Instituts zur Erforschung der Judenfrage« in München; 1937: Herausgeber der Reihe »Forschungen zur Judenfrage«; 09.05.1945: Suizid. Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt a.M. 20032, S. 160f. Einleitung 19 listischen Täterforschung leisten und diese um den bedeutenden Aspekt des Eliten- selbstmordes erweitern. Doch wie lässt sich die nationalsozialistische Elite überhaupt kategorisieren und bestimmen? Die hier getroffene Auswahl ist zunächst das Resultat ausgewählter Analysekriterien und Untersuchungen zum Staatsaufbau des Dritten Reichs und bildet einen repräsentativen Querschnitt der nationalsozialistischen Füh- rungsschicht.38 Aufgrund der Komplexität des Staatsgefüges und der Begrenztheit methodischer Zugänge wurden vier exemplarische Elitenebenen (Politik, Militär, Mordzentren, Justiz) zum Untersuchungsgegenstand erhoben. Innerhalb dieser Ebe- nen erfolgte eine neuerliche Kategorisierung, sodass in der Studie der engste politische Führungszirkel, die Reichsminister, die Reichs- und Gauleiter, die Reichstagsabge- ordneten sowie die Oberbürgermeister der größten deutschen Städte die politische Elite abbilden. Die militärische Elite wird streng nach Dienstgraden unterteilt und in - und Waffen-SS-Funktionäre untergliedert. Die hauptsächlichen Prota- gonisten der Mordzentren werden exemplarisch erfasst und setzen sich insbesondere aus Lagerkommandanten, T-4 Gutachtern, Leitern von Tötungsanstalten und wich- tigen Medizinern zusammen, während in der juristischen Elite die wichtigsten Präsi- denten und Richter des Reichsgerichts, des Volksgerichtshofs sowie der Oberlandes- gerichte zusammengeführt werden.39 Die Erfassung der Eliten erfolgt demnach repräsentativ und vor allem multiperspektivisch – eine vollständige Berücksichtigung ist im Rahmen dieser Studie nicht möglich und deshalb versteht es sich von selbst, dass Funktionäre auch keine Berücksichtigung finden werden, die sehr wohl der na- tionalsozialistischen Elite zuzurechnen sind. Die Frage, ob während des Dritten Reichs weibliche Führungskräfte, wie beispielsweise die BDM-Führerinnen, zur na- tionalsozialistischen Elite zu zählen sind, wird in der vorliegenden Studie ausdrücklich verneint. Natürlich gab es Frauen in exponierten Positionen, doch müssten zuerst weitere Führungsebenen wie die Kreisleiter, Ministerpräsidenten oder Führer spezi- fischer NS-Organisationen berücksichtigt werden, wenn tatsächlich die oberste Elite abgebildet werden soll. Zwar gab es mit dem SS-Helferinnenkorps auch innerhalb der SS eine weibliche Führungsebene mit regulärer Mitgliedschaft, doch war selbst diese im SS-Hauptamt zahlreichen anderen SS-Instanzen unterstellt.40 Suizidale Frauen erscheinen in der vorliegenden Studie daher meist als erweiterte Suizide von Ehemann, Ehefrau und ggf. Kindern. Das Erkenntnisinteresse endet jedoch nicht bei der quantitativen, statistischen Erfassung der Suizidenten. Vielmehr findet zwangsläufig auch eine Auseinander-

38 Grundlegend hierzu die strukturgeschichtliche Studie von Martin Broszat aus dem Jahr 1969. Vgl. Broszat, Martin: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfas- sung. Lausanne 1969; Vgl. Bracher, Karl Dietrich: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struk- tur, Folgen des Nationalsozialismus. Köln 1969; Vgl. ferner: Hirschfeld, Gerhard/Kettenacker, Lothar [Hg.]: Der »Führerstaat«: Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches. Stuttgart 1981; Vgl. Frei, Norbert: Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933–1945. München 1987; Vgl. Kershaw, Ian: Hitlers Macht. Das Profi l der NS- Herrschaft. München 1992; Ebenfalls unerlässlich sind Gesamtdarstellungen des Dritten Reichs, welche die Herrschaftsstruktur thematisieren. Vgl. Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich. München 1979. Vgl. Evans, Richard: Das Dritte Reich. 3 Bde. München 2004–2009. 39 Eine ausführliche Bestimmung des Elitenbegriffs erfolgt in Kap. II.1. 40 Vgl. Mühlenberg, Jutta: Das SS-Helferinnenkorps. Ausbildung, Einsatz und Entnazifi zierung der weiblichen Angehörigen der Waffen-SS 1942–1949. Hamburg 2010. 20 Einleitung setzung mit den vermeintlichen Motiven und den jeweiligen Hintergründen der Suizidenten statt. Das Projekt zielt demnach auf eine Historisierung des Suizids innerhalb einer definierten Führungsschicht ab, in dessen Zentrum die Darstellung der Suizidhäufigkeit, gruppenbiographische Analysen sowie die Eruierung der ver- meintlichen Motivlage stehen werden. Insbesondere das letztgenannte Erkenntnis- interesse soll eine Leitfrage der Studie bilden, die maßgeblich davon bestimmt wird, ob der Suizid als Flucht vor der Verantwortung, als Schuldbekenntnis oder als be- wusste Form der Resignation zu sehen ist. In öffentlichen und teilweise auch wissen- schaftlichen Diskursen wurden die Beweggründe der nationalsozialistischen Täter für den Selbstmord oftmals pauschalisiert und die genauen Hintergründe vernach- lässigt. Der Suizid wurde als Indiz der nationalsozialistischen Gesinnung und somit als Schuldbekenntnis angesehen und damit wurden per se alle Selbstmörder unter Generalverdacht gestellt. Als exemplarisches Beispiel dient hier der Selbstmord des Generalfeldmarschalls Walter Model, der insbesondere im öffentlichen Bewusstsein noch heute als besonders regimetreuer Offizier dargestellt wird.41 Dabei bietet das Verhalten der entsprechenden Funktionäre am Ende ihres Lebens erstaunliche und keineswegs einseitige Rückschlüsse auf den Grad der nationalso- zialistischen Überzeugung und auf ihre Einstellung zur NS-Bewegung. Ebenfalls zeigt sich, wie einst skrupellose Machthaber und Verbrecher im Angesicht des be- vorstehenden Untergangs nur allzu menschliche Ängste und Sorgen teilten. Die Sichtweise auf einzelne Eliten kann sich durch die unmittelbare Beschäftigung mit dem Selbstmord vielleicht nicht grundlegend ändern, aber doch massiv erweitern. Biographien zu diesen Tätern, die mittlerweile für große Teile der NS-Elite erhältlich sind, behandeln zwar zwangsläufig den Selbstmord, können jedoch keine verglei- chende Analyse initiieren. So zeigt sich im Frühjahr 1945 deutlich, welche Funktio- näre bis zuletzt und konsequent treu zur NS-Bewegung standen und somit mit ihr untergehen wollten. Andere Fälle wie beispielsweise von Himmler, Göring und Bormann belegen, dass viele Funktionäre trotz großspuriger Aussagen eher prag- matisch als idealistisch gehandelt haben. Nur in vergleichender Perspektive können Kontinuitäten und Diskontinuitäten hervorgehoben und die verschiedenen Eliteng- ruppen bezüglich ihres nationalsozialistischen Bewusstseins unterschieden werden, wodurch bereits ein möglicher Ursachenkomplex des Suizids schemenhaft erscheint. Das Schicksal der einfachen Bevölkerung, von jüdischen Häftlingen und auch von Kriegsgegnern wird im Gegensatz zu den Studien von Keller und Huber konsequent ausgeblendet, auch wenn einzelne Informationen zum Verständnis beitragen wer- den. Für die skizzierte Leitfrage der vermeintlichen Motivation ist zu bedenken, dass 1945 nicht nur ein totalitäres und terroristisches Regime zusammenbrach, sondern für zahlreiche Funktionäre ein gesamtes historisches Denksystem. Das Selbstverständnis der nationalsozialistischen Ideologie wird durch Alfred Rosen- bergs bedeutendste Schrift »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« erkennbar, in der er bezeichnenderweise mit einer längeren Abhandlung über die neue, sich anbahnen- de Weltgeschichte referiert:

41 Ausführliche Darstellung des Selbstmords in Kap. III.4. Einleitung 21

»Es beginnt heute eine jener Epochen, in denen die Weltgeschichte neu geschrieben werden muß. Die alten Bilder menschlicher Vergangenheit sind verblaßt, die Umrißlinien der handelnden Persönlichkeiten erscheinen verzeichnet, ihre inneren Triebkräfte falsch gedeutet, ihr gesamtes Wesen meist ganz verkannt. Ein junges und sich doch als uralt erkennendes Lebensgefühl drängt nach Gestaltung, eine Weltanschauung wird geboren und beginnt willensstark mit alten Formen, geheiligten Gebräuchen und übernommenen Gehalt sich auseinanderzusetzen. Nicht mehr ge- schichtlich, sondern grundsätzlich. Nicht auf einigen Sondergebieten, sondern überall. Nicht nur an den Wipfeln, sondern auch an den Wurzeln.«42

Die neue nationalsozialistische Gedankenwelt bricht mit alten Traditionen und da- raus entsteht eine komplett neue Weltanschauung. Der eschatologische Diskurs der Nationalsozialisten verwies bereits in der Frühzeit der Bewegung auf den bevorste- henden Endkampf. Sollte die »arische Rasse« in diesem Ringen unterliegen, wären nicht nur Chaos und Niedergang die Folge, sondern sogar das Ende der Sinnhaftig- keit von Geschichte. Die Eschatologie würde so zur Apokalypse. Weiter spricht Rosenberg von der »Erkenntnis, daß beim vollständigen Verschwinden dieses ger- manischen Blutes aus Europa [...] die gesamte Kultur des Abendlandes mit untergehen müßte.«43 Der nationalsozialistische Diskurs enthält zahlreiche dieser Chaos-Ver- heißungen, die in Anlehnung an den Untergang Roms eine kommende kulturelle und auch historischen »Leere« prophezeiten. Es werden »das Abendland und sein Blut untergehen wie Indien und Hellas einst auf ewig im Chaos verschwanden«44, sofern sich die nationalsozialistische Idee nicht durchsetzen werde. Vor dem Hintergrund des Untergangs einer ganzen Weltanschauung kann der Elitenselbstmord auch als konsequente Fortführung der eigenen materialen Ge- schichtsphilosophie beurteilt werden. Teile der NS-Elite waren der festen Über- zeugung, dass die Geschichte auf nachweisbaren Gesetzmäßigkeiten beruhe, dass sich der Nationalsozialismus quasi vor der Geschichte behaupten müsse. Ausschlag- gebend für das Geschichtsinteresse war nicht ein wie immer geartetes Maß an his- torischer Wahrhaftigkeit, dessen Differenzierungsleistung den Effekt praktischer Nutzbarmachung nur herabgemindert hätte. Vielmehr sollte Geschichte als Forum weltanschaulicher Indoktrination dienen, wodurch die Historizität der Lehre von zweitrangiger Bedeutung ist. Geschichte und Vergangenheit wurden innerhalb die- ses Bezugsrahmens demnach nicht rekonstruiert, sondern konstruiert, um sie schließlich für die konkrete Ausgestaltung der neuen Weltordnung nutzbar zu ma- chen.45 Es wird sich noch zeigen, wie intensiv und zahlreich nationalsozialistische Funktionäre in Abschiedsbriefen die Zerrüttung des eigenen Geschichtsbilds als Erklärungsmuster für den Suizid heranziehen. Die Weltanschauung darf dabei auch nicht einseitig als theoretisches Sinndeu- tungssystem verstanden werden, sondern sie wurde durch die Praxis während des Nationalsozialismus handlungstheoretisch fundiert und bestätigt. Je länger der Dienst für das Regime dauerte, desto stärker wurde diese Weltanschauung zur

42 Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Ge- staltenkämpfe unserer Zeit. München 1934, S. 21. 43 Ebd. S. 81. 44 Ebd. S. 115. 45 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich. Paderborn 1998, S. 138. 22 Einleitung eigenen Handlungsmaxime, mit dem Ergebnis, dass in der Endphase des Kriegs die Abhängigkeit zwischen Funktionär und Weltanschauung oftmals existenzieller Na- tur war, die zwangsläufig den Selbstmord förderte. Die Untersuchung hat daher zwei Ebenen historischer Analyse. Sie klärt einer- seits das historische Phänomen, anderseits fragt sie nach der Macht handlungslei- tender Motive mit dem Fokus, inwieweit die Geschichte selbst über die Weltan- schauung handlungsmächtig ist. Es geht also zugleich um Wirksamkeit und Relevanz eines Geschichtsbewusstseins, das sich über materiale Geschichtsphilosophie defi- niert, d. h. eine Reflexion/Reflexivität und Variation (Pluralität der Orientierung, Kontroversität der Geschichten über Vergangenheit) ausschließt und bestenfalls Einsicht in einen Grundsatzirrtum erhält. Die Erkenntnis dieses Denkmusters be- steht darin, dass Geschichte im Falle einer militärischen Niederlage Deutschlands keinen Sinn mehr ergibt, da sie weniger als nostalgische Verklärung der Vergangen- heit aufgefasst wird, sondern als Handlungsmaxime für die Gegenwart und Zukunft. Da im Augenblick des Untergangs die eigene Zukunft verwehrt wird, ist Geschich- te und somit auch die persönliche Weiterexistenz nicht mehr von Bedeutung. Der Nationalsozialismus erscheint in solcher Sichtweise als Vollstrecker eines geschicht- lichen Schicksals und als Vollender der deutschen Geschichte zugleich. Die endzeitliche Perspektive war insbesondere für Goebbels und Hitler zu einer unverzichtbaren Leitgröße geworden.46 Das Ende der nationalsozialistischen Idee markiert für sie auch das Ende der deutschen Geschichte. Sie war zunächst aufge- hoben in der Utopie einer weltanschaulichen Totalität und als diese Vision im Früh- jahr 1945 scheiterte, war der Selbstmord von einer Ultima Ratio zu einer geschicht- lichen Notwendigkeit geworden. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass im Denken Hitlers und anderer führender Eliten nicht mehr der Endsieg, sondern die Choreographie eines geschichtsmächtigen Kollektivuntergangs verankert war. Die säkulare bzw. epochale Bedeutung des Nationalsozialismus speist sich daher aus der eigenen Totalitätsidee, die weit über den bloßen Untergang eines Staates, einer Partei oder einzelner Funktionäre hinausging. Selbst in den letzten Stunden des Dritten Reichs wurden historische Analogien gezogen und somit der irrational anmutende Endkampf legitimiert. Als Exempla dienten der heroische Kampf Friedrichs des Großen im Siebenjährigen Krieg gegen eine schier unüberwindbare Anzahl an Feinden, aber auch an Sparta und an Rom wurde erinnert, die ebenfalls wie das Dritte Reich schier übermächtigen Gegnern gegenüberstanden.47 Alle drei Beispiele zeugen von der heroischen Opferbereit- schaft, die notfalls im Selbstmord ihre Krönung finden sollte, wie die Selbstmord- absichten Friedrichs des Großen, der Opfertod eines Leonidas sowie der Suizid

46 Siehe hierzu die Monographie von Frank-Lothar Kroll, der sich intensiv mit dem Geschichts- denken führender Nationalsozialisten beschäftigt und die Endzeitperspektive als gemeinsames Muster dargestellt hat. Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich. Paderborn 1998. 47 Bezeichnenderweise legitimierten die Nationalsozialisten die eigene Praxis oftmals mit dem Ver- weis auf die griechisch-römische Antike. Die bewusste Anknüpfung an idealisierte historische Vorbilder (insb. Antikenrezeption) zeigt sich ganz offen in den Selbstzeugnissen kurz vor dem Selbstmord. Vgl. Chapoutot, Johann: Der Nationalsozialismus und die Antike. Darmstadt 2014, S. 380ff. Einleitung 23 eines Publius Quinctilius Varus belegen. Hitler selbst ließ keinen Zweifel aufkom- men, dass mit einem »Finis Germaniae« auch sein eigenes Ende gekommen sei. Zahlreiche weitere Funktionäre folgten Hitler in diesem Untergangsszenario, be- zeichnenderweise jedoch nicht Alfred Rosenberg, der sich in den Jahren zuvor noch als stärkster Verfechter des eschatologischen Kampfes profilierte. Die vermeintli- chen Motive des Selbstmordes sind mit rein normativen Kriterien daher kaum zu erfassen. Punktuelle Beispiele von Funktionären, die sich explizit nicht selbst rich- teten, sollen daher die doppelte Sichtweise auf das Phänomen gewährleisten und die Problematik der Motivlage verdeutlichen. Dass der hier angerissene ideologisch motivierte Suizid eine besondere Stellung einnehmen wird, lässt sich auch daran erkennen, dass zahlreiche Nationalsozialisten mit einer positiven Nachwelteinschätzung rechneten oder diese zumindest erwarte- ten. Insbesondere Göring erhoffte sich durch seine eigens auferlegte patriotische Selbstbehauptung während der Nürnberger Prozesse und der Stilisierung seines Selbstmords als notwendiges Opfer die posthume Verehrung, ja sogar die Apotheose der eigenen Person. Zu diesem Nachruhm gehörte jedoch auch, Indizien der eigenen Verbrechen zu beseitigen. Noch in den letzten Kriegstagen wurden massenhaft Akten vernichtet und Krematorien in den Konzentrationslagern gesprengt, um das Ausmaß des Holocausts zu vertuschen. Im Angesicht der militärischen Niederlage erweist sich somit das eigene Tun als verbrecherisch, da mit dem Untergang auch die Weltanschau- ung widerlegt ist, die diese Verbrechen deckte. Viele führende Nationalsozialisten flüchteten demnach nicht nur vor der alliierten Rechtsprechung, sondern auch vor einem Leben jenseits ihrer Weltanschauung. Diesem freiwilligen Einverständnis mit dem eigenen Tod wurde damit ein Sinn zugeschrieben: Ein Heldenmythos konnte geboren werden, der die Zeiten überdauert. Die »Finis Germaniae« sollte alle zuvor idealisierten Zivilisationen ausgerechnet im Augenblick des Untergangs überstrahlen, der Selbstmord stellte letztlich die Krönung dieses Endkampfes dar. Die Selbsttötung als Topos des eigenen Denksystems und als Folge des Endes der eigenen Weltanschauung führte bereits bei Adeligen im Übergang zur Moderne in manchen Fällen zu einer regelrechten Todessehnsucht wie die Beispiele Friedrich des Großen sowie Napoleon Bonapartes belegen. Die Ästhetisierung des Suizids als heroisches Fanal ist dabei gewiss ein Erbe der Antike und möglicherweise gar Aus- druck eines »antiken Herrschergeists« wie Voltaire dem preußischen König beschei- nigte.48 Speziell an Friedrich dem Großen lässt sich auch zeigen, wie nachhaltig die Nationalsozialisten ausgewählte Ideale des Preußenkönigs übernahmen. Friedrich II. war ein äußerst beliebtes Filmsujet während des Dritten Reichs und Hitler selbst suchte nach historischen Anknüpfungspunkten und fand sie in Friedrich II.49 Die möglichen Ursachen und Erklärungsmuster des Elitenselbstmords sind viel- fältig und gestalten sich im Einzelfall höchst unterschiedlich. In den seltensten Fällen lässt sich hierbei eine eindeutige Aussage treffen. Dieser Umstand ist für die vorliegende Studie von besonderer Bedeutung, da nicht der Anspruch erhoben werden kann, jeden Suizid zweifelsfrei aufzuklären.

48 Vgl. Kühnel, Florian: Kranke Ehre? Adlige Selbsttötung im Übergang zur Moderne. München 2013, S. 159. 49 Siehe hierzu die Filme »Der alte und der junge König« (1935) sowie »Der große König« (1942). 24 Einleitung

Perspektiven und Fragestellungen Für die historische Betrachtung dieses Themenkomplexes kann und darf sich der Untersuchungszeitraum nicht auf das Jahr 1945 beschränken, da sich auch noch Jahrzehnte nach dem Dritten Reich ehemalige Funktionäre selbst richteten. Diese Fälle des Suizids sind besonders interessant und werden auch separat betrachtet. Da jedoch der Fokus auf Selbstmorden im Zusammenhang mit dem Untergang des Dritten Reich liegt, werden nur Suizide berücksichtigt, die ab dem Jahr 1944 began- gen wurden. Danach wird jedoch kein zeitlicher Endpunkt gesetzt, da Selbstmorde, die nach 1946 vollzogen wurden, in den meisten Fällen noch einen deutlichen Bezug zum Nationalsozialismus aufweisen oder aus den Folgen des Dritten Reichs resul- tierten. Die hauptsächlichen Fragestellungen können nur über quantitative und qualita- tive Zugangsweisen erfasst werden. Quantitativ in der Hinsicht, dass die national- sozialistische Elite nach fest bestimmten Kriterien zunächst definiert und einge- grenzt wird, damit anschließend eine Bestimmung der Suizidalität innerhalb dieser Elite erfolgen kann. Dabei stellt sich die Leitfrage, ob es innerhalb der national- sozialistischen Elite bestimmte Führergruppen gibt, die zahlenmäßig überpropor- tional vertreten sind und von welchen Handlungskontexten diese bestimmt wurden. Qualitativ dadurch, dass nicht die reinen Zahlen über die Häufigkeit des Selbst- mordes ausreichen, um das Phänomen historisch korrekt einordnen zu können, sondern vor allem die Hinter- und Beweggründe des Suizids, die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der historischen Entwicklung und nicht zuletzt die Gemeinsam- keiten und Unterschiede zwischen den Suizidenten eruiert werden müssen. Lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Verstrickung in Kriegsverbrechen und der Häufigkeit der Suizidalität feststellen? Spielt das Alter, die Konfession oder die soziale Herkunft eine gewichtige Rolle beim Entschluss zum Suizid? Oder ist allein die Machtstellung und somit die Bedeutung innerhalb des NS-Ranggefüges ein In- dikator für den Entschluss zum Selbstmord? Die potenziellen Fragen an den Selbst- mord sind zahlreich und es wird sich zeigen, dass in vielen Fällen pauschalisierende Aussagen nicht ausreichen, um die Hintergründe verstehen oder sogar nachempfin- den zu können. Der qualitative Untersuchungsgegenstand stößt daher oftmals an seine Grenzen, wodurch die Hintergründe zwar vermutet und etwaige Ursachen- komplexe eingegrenzt werden können, die exakte Erschließung jedoch offen bleiben muss. Die Arbeit berücksichtigt in ihrer methodischen Grundausrichtung mehrere bio- graphische Forschungsansätze, ohne sich einem ausgewählten Ansatz vollständig zu verschreiben. Durch die Erforschung mehrerer Personenkollektive anhand ver- gleichender Analysen der individuellen Lebensläufe wird ein kollektivbiographi- scher Ansatz verfolgt. Lawrence Stone versteht in einer Kollektivbiographie zu- nächst die »Untersuchung der allgemeinen Merkmale [...] einer Gruppe von handelnden Personen der Geschichte durch ein zusammenfassendes Studium ihrer Lebensläufe.«50 In dieser allgemeinen Formulierung stellt die Kollektivbiographie keinen neuen methodischen Ansatzpunkt dar und Stone erwähnt selbst, dass die

50 Stone, Lawrence: Prosopography. In: Deadalus (1971), S. 64. Einleitung 25 kollektive Biographie seit den 1930er Jahren in der Geschichtsforschung etabliert ist.51 Der Einsatz quantitativer Methoden in der historischen Forschung ist spätes- tens seit den 1990er Jahren selbstverständlich geworden.52 Auch wenn das Feld der dezidiert kollektiven Biographik noch immer sehr überschaubar ist, so wird die Notwendigkeit der Methode kaum bestritten. Alexander Gallus, der die zunehmen- de Bedeutung der Biographik, insb. in der Zeitgeschichtsforschung, mehrfach her- ausgestellt hatte, sieht die Kollektivbiographie als »selbstverständliches Instrument« der modernen Historiographie.53 Die NS-Forschung ist davon natürlich nicht un- berührt geblieben, auch wenn spezifische Studien zu den Repräsentanten staatlicher Institutionen, über Parlamentarier oder über Funktionäre politischer Verbände und Parteien deutlich überwiegen.54 Die wenigen quantitativen Untersuchungen, die den Elitenbegriff konkret aufwerfen, können jedoch genau genommen nicht als quan- titative Untersuchungen gelten, da exemplarische Eliten zuweilen assoziativ anein- andergereiht wurden.55 Für die vorliegende Studie sind zwei methodische Herangehensweisen und da- mit Charakteristika der Kollektivbiographie von besonderer Bedeutung: Anstatt den Fokus einseitig auf historische Einzelpersonen zu lenken, werden Kollektive von Personen anhand ausgewählter Elitenebenen untersucht. Den Ausgangspunkt bildet ein Personenkollektiv, welches durch herrschaftsstrukturelle Analysen be- stimmt wurde. Der Selbstmord bildet das spezifische Analysekriterium. Es werden demnach nicht einfach exemplarische Beispiele berühmter Selbstmörder zum Untersuchungsobjekt erhoben. Die Arbeit grenzt sich damit von rein assoziativen Aneinanderreihungen von Einzelpersonen, die als Eliten betrachtet werden, deut- lich ab. Der Blickwinkel führt stets vom Kollektiv zum Individuum und leitet demnach in eine systematisierende Untersuchung über. Zum anderen werden die biographische Untersuchungen von dem Gedanken geleitet, den Lebenslauf der Selbstmörder als Ganzes zu thematisieren. Entgegen der »traditionellen« Biogra- phik werden also nicht bestimmte biographische Merkmale oder einzelne Lebens- phasen im Detail untersucht, sondern personengeschichtliche Bezugspunkte, die Aufschluss über den Suizid geben könnten. In der vorliegenden Studie bilden das Alter, die Zugehörigkeit zur NS-Bewegung, die Verstrickung in Kriegsverbrechen sowie die vermeintlich nationalsozialistische Indoktrination die maßgeblichen De- terminanten der kollektivbiographischen Untersuchung. Stratifikationstheoreti- sche, sozialisationstheoretische und vor allem generationstheoretische Ansätze sind daher unumgänglich, um den spezifischen Entschluss zum Suizid darzustellen. Es wird sich deutlich zeigen, dass in diesen Ansätzen Erklärungsmuster für den

51 Vgl. Ebd. 52 Vgl. Schröder, Wilhelm Heinz: Kollektivbiographie als interdisziplinäre Methode in der Histo- rischen Sozialforschung. Eine persönliche Retrospektive. Köln 2011. 53 Gallus, Alexander: Biographik und Zeitgeschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Heft 1–2/2005, S. 40–46. 54 Auf das Anführen von Beispielen wurde hier bewusst verzichtet, da schlichtweg eine exempla- rische Auswahl schwerfällt. Zahlreiche dieser Studien werden jedoch in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt und an entsprechender Stelle erwähnt. 55 Vgl. Überschär, Gerd [Hg.]: Hitlers militärische Elite. 68 Lebensläufe. Darmstadt 20112; Vgl. Smelser, Ronald (u.a.) [Hg.]: Die braune Elite. 2Bde. Darmstadt 1993. 26 Einleitung

Selbstmord nachzuweisen sind. Ohne konkrete Ergebnisse der Studie vorwegzu- nehmen, kann bereits gesagt werden, dass in den Kategorien soziale Herkunft – Sozialisation – Generationszugehörigkeit wichtige Ursachenkomplexe für den Entschluss zum Suizid liegen. Die Ursprünge dieser Methodik liegen in der historischen Sozialforschung, unter der im Folgenden die »theoretisch und methodisch reflektierte, empirische, besonders auch quantitativ gestützte Erforschung sozialer Strukturen und Prozesse in der Geschichte« verstanden werden soll.56 Zur Nutzbarmachung dieses Zugangs für die kollektive Biographie empfiehlt sich die Definition von Wilhelm Heinz Schröder, nach der die kollektive Biographie »die theoretisch und methodisch reflektierte, empirische, besonders auch quantitativ gestützte Erforschung eines historischen Per- sonenkollektivs in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext anhand einer ver- gleichenden Analyse der individuellen Lebensläufe der Kollektivmitglieder« dar- stellt.57 Damit ist die grundlegend interdisziplinäre Ausrichtung der Studie vorgegeben, auch wenn der Schwerpunkt ganz eindeutig in der historischen Er- forschung des Phänomens liegen wird. Dem kollektivbiographischen Ansatz ist deutlich intendiert, sowohl Rückschlüsse auf das Typische in den Lebensläufen der Selbstmörder zu ermöglichen, als auch den Blickwinkel auf das Untypische, das Abweichende und Individuelle zu legen. Beide Betrachtungsweisen sind für die Darstellung der entsprechenden Motive für den Selbstmord ganz entscheidend. Wie kam es dazu, dass sich einige Funktionäre zunächst durch typische Lebensläufen auszeichneten und am Ende des Zweiten Weltkriegs ein eher untypisches Verhalten (den Selbstmord) an den Tag legten? Allerdings gelangt bei Fragen nach Erfahrungen und Motiven die mit soziobio- graphischen Daten vorwiegend quantitativ arbeitende Kollektivbiographie an ihre Grenzen. An diesem Punkt werden methodische Zugänge der subjektivierenden Biographieforschung herangezogen, da sich insbesondere die Beweggründe für den Suizid nicht verallgemeinern und somit kollektivieren lassen. Die Motivation für den Suizid kann daher in letzter Konsequenz nur im Einzelfall erschlossen werden, Rück- schlüsse auf das Kollektiv können oftmals nur hinsichtlich des soziokulturellen Hintergrunds und des entsprechenden historischen Kontextes gefällt werden.58 Sta- tistiken und rein vergleichende Angaben reichen deshalb nicht aus, um individuelle Erfahrungen und persönliche Beweggründe darzustellen. In diesem Punkt gewinnt nun die vorliegende Studie durch die methodische Synthese von objektivierenden und subjektivierenden Zugängen ihren besonderen Stellenwert. In diesem qualitati-

56 Defi nition nach Schröder, Wilhelm Heinz: Kollektive Biographien in der historischen Sozial- forschung. Eine Einführung. In: Ders. [Hg.]: Lebenslauf und Gesellschaft. Zum Einsatz von kollektiven Biographien in der historischen Sozialforschung. Stuttgart 1985, S. 8. 57 Ebd. 58 Genaueres zur jüngeren Auseinandersetzung mit biographischer Forschung in der Geschichts- wissenschaft: Vgl. Etzemüller, Thomas: Die Form »Biographie« als Modus der Geschichtsschrei- bung. Überlegungen zum Thema Biographie und Nationalsozialismus. In: Pohl, Karl Heinrich/ Ruck, Michael [Hg.]: Regionen im Nationalsozialismus. Bielefeld 2013, S. 71–90; Genaueres zum Thema »kollektive Biographik«: Vgl. Gallus, Alexander: Biographik und Zeitgeschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Heft 1–2/2005, S. 40–46. Vgl. Hähner, Olaf: Historische Bio- graphik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. (u.a.) 1999. Einleitung 27 ven Ansatzpunkt orientiert sich die Arbeit an dem Konzept der »Mikrostudie«, mit dem auch Richard J. Evans seine Studie über Verbrechen und Strafen von 1800–1914 gegliedert hat.59 Die Makroebene (Kollektivbiographie) wird demnach durch eine Mikroebene (Individualbiographie in Form biographischer Skizzen) punktuell er- gänzt und somit die menschliche Dimension hinter dem Phänomen aufgezeigt. Zwar schließen kollektive Biographie und individuelle Lebenslaufbetrachtung einander nicht aus, doch gewinnen subjektivierende Analysen bei Fragen nach dem Selbst- mord enorm an Bedeutung. Die grundsätzliche Einordnung dieser Studie als Kol- lektivbiographie bleibt davon unberührt. Die in der vorliegenden Studie genutzte Form der Kollektivbiographie meint daher einerseits die Untersuchung eines mög- lichen Wandels, der sich sowohl im individuellen, als auch im kollektiven Lebenslauf zeigt und an dessen Ende in vielen Fällen der Selbstmord stand. Sie meint andererseits die Untersuchung des individuellen Wandels, der auf seinen kontextuellen bzw. ge- sellschaftlichen Lebenslauf rückgebunden werden kann. Bevor ein konkretes Analysemodell für die kollektivbiographische Analyse er- stellt werden kann, muss zunächst ein Personenkollektiv definiert werden. Neben kollektiv- und individualbiographischen Ansätzen bedient sich die Arbeit daher auch prosopographischer Herangehensweisen, auch wenn diese rein der Ermittlung der jeweiligen Funktionärseliten dienen. Oftmals wurden die Begriffe »Kollektiv- biographie« und »Prosopographie« synonym verwendet, obwohl die Prosopogra- phie durch die Altertumswissenschaften als Verzeichnis bekannter Persönlichkeiten Einklang in die Historiographie gefunden hat.60 Methodische Zugänge zu diesen erstellten Listen waren damit noch nicht zwingend inbegriffen.61 In der vorliegen- den Studie wird der Begriff der Prosopographie in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet und meint zunächst die Erstellung eines Verzeichnisses nationalsozialis- tischer Eliten.62 In der Abfolge von prosopographischer Erfassung, kollektivbiographischer Ana- lyse und individualbiographischer Detailbetrachtung in Form biographischer Skiz- zen wird ein methodisches Design erkennbar, welches in drei aufeinander aufbau- enden Stufen die Herangehensweise an die Thematik und damit auch die Gliederung bestimmt. Da sich Subjekte bzw. Individuen jedoch stets auch durch Strukturen konstitu- ieren, können rein biographisch orientierte Ansätze und die bisweilen essentialisti- sche Gegenüberstellung von »Subjekt« und »Struktur« nicht ausreichen, um das Phänomen zu historisieren. Auch wenn die Studie keine explizite Diskursanalyse darstellt, so sind Diskurse für die historische Betrachtung des Elitensuizids unum-

59 Vgl. Evans, Richard: Szenen aus der deutschen Unterwelt: Verbrechen und Strafe 1800–1914. Reinbek bei Hamburg 1997. 60 Vgl. Stone, Lawrence: Prosopography. In: Gilbert, Felix (u.a.) [Hg.]: Historical Studies Today. New York 1972, S. 107–140. 61 Vgl. Schröder, Wilhelm Heinz: Kollektive Biographien in der historischen Sozialforschung, S. 7. 62 Das »Wörterbuch Geschichte« defi niert die Prosopographie folgendermaßen: »In der Alter- tumswissenschaft ein aus den Quellen, d.h. Inschriften, Münzen, den bei Schriftstellern der An- tike vorkommenden Personennamen einschließlich Nachweise, Stammbäume, Behördenlisten etc. erarbeitetes Verzeichnis sämtl. Bekannter Personen innerhalb eines Zeitabschnitts.« Vgl. Fuchs, Konrad/Raab, Heribert [Hg.]: Wörterbuch Geschichte. München 199811, S. 643. 28 Einleitung gänglich. Wichtig ist, dass sich Diskurse eben nicht auf einzelne Individuen redu- zieren lassen, sie sind demnach auch keine Ideologien. Sie sind für Individuen nicht sichtbar aber letztlich entscheidend prägend.63 Erst durch die Verortung der Suizi- denten in einem diskursiven Feld werden die Beweggründe und Handlungsmuster der entsprechenden Funktionäre individualisiert. Der kollektivbiographische An- satz erfordert daher zwingend die Auseinandersetzung mit den entsprechenden Elitendiskursen und durch den vergleichenden Ansatz der Studie kann die Be- grenztheit von Selbstzeugnissen in der Art aufgelöst werden, dass sie sich auf spezi- fische Diskurse beziehen lassen. Die Bedeutung der Diskurse hat unlängst Michel Foucault herausgearbeitet, der hierbei von »einer strukturellen Determination« des Subjekts spricht, wodurch ein gemeinsames »Erfahrungsfeld« geschaffen wird, das Subjekt und Objekt konstituiert und damit das Erfahrungsfeld selbst verändert.64 Das gemeinsame Erfahrungsfeld bildete für die Suizidenten der Zweite Weltkrieg und der Untergang einer gemeinsamen Weltanschauung. Innerhalb dieses Erfah- rungsfeldes prägten sich spezifische Denkstile bzw. Denkkollektive aus, die maß- geblich durch den kollektivbiographischen Zugang herausgearbeitet werden kön- nen und den Entschluss zum Suizid augenscheinlich begünstigten. Ungeachtet ihrer Herkunft aus der Medizin bieten die Studien Ludwik Flecks über gruppenbasierte Denkstile einen wertvollen Ansatz für die Arbeit, da sich deutlich zeigen wird, wie sich durch die Zugehörigkeit zu einer Elitengruppe ein spezifisches Denken entwickeln konnte, welches schließlich auch in den Beweggründen für den Selbst- mord nachzuweisen ist.65 Die Teilhabe an einer Gemeinschaft, die Fleck zum Ausgangspunkt seiner Unter- suchungen machte, wird hierbei insofern umgeändert, dass die Zugehörigkeit zu einer Elitenebene die Herausbildung eines Denkkollektivs ebenso förderte. Mag diese Behauptung auch auf heterogen zusammengesetzte Führungsebenen wie Ärz- te oder Reichsminister weniger zutreffen, so lässt sich die Bedeutung bei Wehr- machtsgenerälen und Gauleitern umso stärker nachweisen. Die Gauleiter des Drit- ten Reichs brachten sich nicht etwa häufiger um, weil sie stärker in die Kriegsverbrechen verwickelt gewesen wären, sondern weil sie auch eigene Denk- muster entwickelten, die von einer existentiellen Abhängigkeit zum Dritten Reich geprägt gewesen sind. Laut Fleck festigt sich ein Denkkollektiv über einen längeren Zeitraum und ge- winnt dadurch eine formale Struktur.66 Sowohl die Generäle der , als auch die Gauleiter67 bilden ein historisch gewachsenes Kollektiv, in welchem elitenspezi- fische Denkstile ganz entscheidend den Entschluss zum Suizid prägten. Der Beruf und damit die Zugehörigkeit zu einer Elite bestimmt also ebenfalls über die innere

63 Vgl. Etzemüller, Thomas: Die Form »Biographie« als Modus der Geschichtsschreibung, S. 79. 64 Foucault, Michel: Autobiographie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), S. 699–702, hier S. 701. 65 Vgl. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einfüh- rung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a.M. 1980. 66 Vgl. Ebd. S. 135. 67 Im Falle der Gauleiter ist damit gemeint, dass diese teilweise bereits lange vor der offi ziellen Machtergreifung der Nationalsozialisten dieses Amt bekleideten und somit einen Großteil ihres Lebens mit dem Nationalsozialismus identifi zierten. Einleitung 29

Verbundenheit zu einer Gemeinschaft. Denkstile prägten demnach Verhaltensweisen und Denkstile können ebenso als Ursachen oder zumindest Katalysatoren von sui- zidalen Netzwerken angesehen werden. Der selbst auferlegte Berufsethos, die Stili- sierung als nationalsozialistische Paladine und somit die gemeinschaftliche Bedingt- heit des Denkens im Allgemeinen bewirkten das Weitere. Diskurs68 und Denkstil69, aber auch Habitus70 sind dabei unabkömmliche De- terminanten bei der Frage nach der Intention. Der Selbstmord führender Eliten ist dabei ein besonders eindrückliches Phänomen, das weder durch rein intentionalis- tische, noch durch dezidiert funktionalistische Zugänge eigenständig aufgeklärt werden kann. Vielmehr ergeben sich spezifische Dispositionen, die in einer be- stimmten Situation kollektive Handlungen, in diesem Fall den Selbstmord, auslösen. Die historische Betrachtung des Suizids erfolgt somit weitaus differenzierter und durch die Fundierung mit Selbstzeugnissen wird schließlich das Phänomen des Elitensuizids erst nachdrücklich historisiert.

Gliederung Neben den genannten methodischen Ansätzen wird die Arbeit grundlegend in drei Untersuchungsebenen -Diskursebene (Kap. I) – Makroebene (Kap. II) – Mikro- ebene (Kap.III) – eingeteilt, die sowohl eine Längsschnittbetrachtung, als auch eine Querschnittbetrachtung auf den Elitensuizid zulassen. Zunächst soll in einem theoretischen Teil die Einstellung des Nationalsozialismus zum Selbstmord und zum Tod im Allgemeinen Gegenstand der Betrachtung wer- den. Die nationalsozialistische Ideologie ist Fortführung, Bruch und Abwandlung zahlreicher Wertvorstellungen, Traditionslinien und pseudo-religiöser Gedanken- welten, die sich dadurch auszeichnen, dass ein kanonisiertes Urteil über viele Be- reiche des privaten und öffentlichen Lebens nicht gefällt wurde. Dazu zählt auch die Bewertung des Todes im Allgemeinen und des Freitodes im Besonderen. Welche Jenseitsvorstellungen wurden von führenden Nationalsozialisten propagiert? Gab es in der nationalsozialistischen Gedankenwelt überhaupt ein Leben nach dem Tod und wenn ja, wie wurde das freiwillige Ausscheiden aus dem Leben eingeordnet? Wurde der Selbstmord als »Verrat« an der Volksgemeinschaft gewertet oder war er stattdessen das sichtbarste Zeichen der vollkommenen Identifikation mit der natio- nalsozialistischen Lehre? Um diese Fragen korrekt beantworten zu können, muss

68 Zur Diskursanalyse ausführlich: Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1992. Vgl. ferner: Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 1991. Vgl. Fou- cault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 19898. Eine gute Einführung zur Thematik fi ndet sich bei Maset, Michael: Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung. Frankfurt a.M./ New York 2002. 69 Für eine Übertragung des Modells auf die Geschichtswissenschaft vgl. Etzemüller, Thomas: So- zialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeut- schen Geschichtswissenschaft nach 1945. München 2001, bes. S. 268–295. 70 Vgl. hierzu: Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grund- lage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1979. Vgl. ferner: Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. 19893.