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BAND 93 2012 BRAUNSCHWEIGISCHES JAHRBUCH FÜR LANDESGESCHICHTE

BAND 93 2012 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 BRAUNSCHWEIGISCHES JAHRBUCH FÜR

LANDESGESCHICHTE

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Gedruckt mit Förderung der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 BRAUNSCHWEIGISCHES JAHRBUCH FÜR

LANDESGESCHICHTE

IM AUFTRAGE DES BRAUNSCHWEIGISCHEN GESCHICHTSVEREINS

HERAUSGEGEBEN VON BRAGE BEI DER WIEDEN

Der ganzen Reihe Band 93

2012

SELBSTVERLAG DES BRAUNSCHWEIGISCHEN GESCHICHTSVEREINS

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Das Braunschweigische Jahrbuch für Landesgeschichte erscheint in der Regel jährlich. Die Zusendung von Manuskripten erbitten wir an die Schriftleitung in: 38302 Wolfenbüttel, Forstweg 2, Telefon (0 53 31) 93 52 45 [email protected]

Anmeldungen zur Mitgliedschaft im Verein, die zum freien Bezug der Zeitschrift berechtigt, werden an die gleiche Anschrift erbeten. Über das Programm und die Aktivitäten informiert auch www.braunschweigischer-geschichtsverein.de

Der Mitgliedsbeitrag beträgt 21,00 E, für Jugendliche in der Ausbildung 10,00 E. Bankkonten: NORD/LB, Kontonr. 144 592, BLZ 250 500 00 Postbank Hannover, Kontonr. 95 047 306, BLZ 250 100 30

Schriftleitung: Dr. Brage Bei der Wieden

Bibliographie: Ewa Schmid M. A.

Rezensionen und Anzeigen: Dr. Silke Wagener-Fimpel Dr. Martin Fimpel

Vertrieb: Buchhandlung Graff Sack 15 38100 E-Mail: [email protected]

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung für sämtlich Beiträge vorbehalten. © 2012 Braunschweigischer Geschichtsverein e. V.

ISSN 1437-2959

Druck und Verarbeitung: oeding print GmbH, Braunschweig

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Vorstandsmitglieder des Braunschweigischen Geschichtsvereins

1. Vorsitzender Dr. Brage Bei der Wieden 2. Vorsitzender Ulrich Hagebölling Schatzmeister Dipl.-Kfm. Sascha Köckeritz Geschäftsführer Dr. Werner Arnold Ehrenmitglieder Dr. Horst-Rüdiger Jarck Dr. Manfred Garzmann

Beirat Dr. Annette Boldt-Stülzebach Dr. Hans-Henning Grote Dr. Walter Hagena Dr. Cecilie Hollberg Dr. Christian Lippelt Prof. Dr. Jochen Luckhardt Dr. Heike Pöppelmann Prof. Dr. Thomas Scharff Dr. Henning Steinführer Prof. Dr. Harmen Thies

Ehrenbeirat Dr. Dieter Lent Prof. Dr. Gerhard Schildt Dr. Gerd Spies Dr. Mechthild Wiswe

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 INHALT

Aufsätze

„Dar de Rade alle ghilde unde de meynheyt to Brunswig medde vorunrechtet unde beswaret hadde“. Die Große Schicht in Braunschweig als Verfassungskrise im Zusammenleben der städtischen Gemeinschaft von Alexander Herwig...... 13

Das Schwankbuch von Till Eulenspiegel – ein Buch aus Braunschweig. Bewährte und neue Argumente von Herbert Blume...... 41

Musikinstrumentenkäufe am frühneuzeitlichen Hof der Wolfenbütteler Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg von Sigrid Wirth...... 71

„alle Eysen omnia ferra in plurali numero in 24 stunden in stael zu transmutiren“. Der Kepler-Briefpartner Nicolaus von Vicken im Rechtsstreit mit dem Syndikus des Stiftes Halberstadt wegen eines alchemistischen Kontraktes von Nils Lenke, unter Mitarbeit von Nicolas Roudet...... 99

Friedrichs des Großen Westreisen in Verbindung mit seinen Besuchen am Braunschweiger Hof von Ingrid Münch...... 119

Bemerkungen zu Hitlerinterpretationen von Braunschweigern (Deutung und Wahrnehmung von Hitlers Herrschaft und Person) von Dieter Lent...... 135

Kleinere Beiträge

Zum Wappen Heinrichs des Löwen von Arnold Rabbow...... 167

Die Wohnungen Herzog Anton Ulrichs im Schloss Wolfenbüttel und im Schloss Salzdahlum von Hans-Henning Grote...... 181

Ermittlungen zur Abdankungsurkunde des letzten Herzogs von Braunschweig von Brage Bei der Wieden...... 197

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Ergänzende Mitteilungen über Louis Levin (1865-1939) Von Dieter Miosge...... 209

Bibliographie

Bibliographie zur Braunschweigischen Landesgeschichte 2011 – mit Nachträgen von Ewa Schmid...... 215

Rezensionen und Anzeigen

B e r n h a r d t M . : Was ist des Richters Vaterland? Justizpolitik und politische Justiz in Braunschweig zwischen 1879 und 1919/20 (Ch. Behrens)...... 269

Buck M. / Derda J. / Pöppelmann H. (Hrsg.): Tatort Geschichte. 120 Jahre Spurensuche im Braunschweigischen Landesmuseum (S. Wagener-Fimpel)...... 247

D o l l e J . : Die Die Schatzverzeichnisse des Fürstentums Göttingen 1418-1527: Teil 1: Edition Teil 2: Einführung und Handschriftenbeschreibung (U. Schwarz)...... 255

E r n s t W. : Braunschweigs Unterwelt – Kanäle und Gewölbe unter der Stadt, Bd. 1 (N.-M. Pingel)...... 268

H a a s I . : Leben im Kollegiatstift St.Blasii in Braunschweig. Braunschweig (I. Guerreau)...... 253

H e r r m a n n B . : „Die Merkers“ – Lebensroman eines Arbeiters (M. Fimpel)...... 275

H u c k S t . : Soldaten gegen Nordamerika. Lebenswelten Braunschweiger Subsidientruppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (H.-R. Jarck)...... 260

J u r a n e k C h . : Gegen eine ganze Zeit – der Schriftsteller und Zeichner Hans Graf von (1818-1854) (G. Schildt)...... 266

K r a b a t h S t . : Luxus in Scherben. Fürstenberger und Meißener Porzellan aus Grabungen (U. Strauß)...... 263

K r u e g e r T h . : Sammellust. Eine Einführung in das Sammeln von Porzellan aus Fürstenberg (U. Strauß)...... 264

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 L u p a M . : Spurwechsel auf britischen Befehl. Der Wandel des Volkswagenwerks zum Marktunternehmen 1945-1949 (M. Fimpel)...... 276

P o e c k D . W. : Die Herren der Hanse. Delegierte und Netzwerke (H. Steinführer)...... 257

R i e d e r e r G . : Auto-Kino. Unternehmensfilme von Volkswagen in den Wirtschaftswunderjahren (M. Fimpel)...... 276

R i e g e r D . : platea finalis. Forschungen zur Braunschweiger Altstadt im Mittelalter (H. Pöppelmann)...... 249

S t r o b a c h B . : Privilegiert in engen Grenzen. Neue Beiträge zu Leben, Wirken und Umfeld des Halberstädter Hofjuden Berend Lehmann (1661-1730), 2 Bde. (S. Wagener-Fimpel)...... 258

W i e m a n n G . : Hans Löhr und Hans Koch – Politische Wanderungen (F. Winterhager)...... 272

Chronik

Chronik des Braunschweigischen Geschichtsvereins November 2011 bis Oktober 2012 von Werner Arnold...... 279

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 VERZEICHNIS DER AUTOREN Dr. Werner Arnold, Wolfenbüttel Dr. Brage Bei der Wieden, Wolfenbüttel Dr. Dr. Herbert Blume, Braunschweig Dr. Hans-Henning Grote, Wolfenbüttel Alexander Herwig, M. A., Wolfenbüttel Dr. Nils Lenke, Rheinbach Dr. Dieter Lent, Wolfenbüttel Dr. Ingrid Münch, Bad Fallingbostel Arnold Rabbow, Ewa Schmid, M. A., Wolfenbüttel Sigrid Wirth, Wolfenbüttel

VERZEICHNIS DER REZENSENTEN Dr. Christian Behrens, Uelzen – Dr. Martin Fimpel, Wolfenbüttel – Dr. Isabelle Guerreau, Wolfenbüttel – Dr. Horst-Rüdiger Jarck, Wolfenbüttel – Dr. Norman-Mathias Pingel, Braunschweig – Dr. Heike Pöppelmann, Braunschweig – Prof. Dr. Gerhard Schildt, Braunschweig – Dr. Ulrich Schwarz, Wolfenbüttel – Dr. Henning Steinführer, Braun- schweig – Dr. Ulrike Strauß, Braunschweig – Dr. Silke Wagener-Fimpel, Wolfenbüttel – Dr. Friedrich Winterhager,

SIGLEN BBL 1996: Braunschweigisches Biographisches Lexikon, 19. und 20. Jahrhundert BBL 2006: Braunschweigisches Biographisches Lexikon, 8. bis 18. Jahrhundert BLM: Braunschweigisches Landesmuseum BsJb: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte BsM: Braunschweigisches Magazin HAB: Herzog August Bibliothek NLA-StA WF: Niedersächsisches Landesarchiv-Staatsarchiv Wolfenbüttel StadtA BS: Stadtarchiv Braunschweig Zitierrichtlinien finden sich im Internet: http://www.braunschweigischer-geschichtsverein.de/wp-content/uploads/2009/09/Zitier- richtlinien2.pdf

Redaktionsschluss für das kommende Jahrbuch: 15. August 2013

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 „Dar de Rade alle ghilde unde de meynheyt to Brunswig medde vorunrechtet unde beswaret hadde“1 Die Große Schicht in Braunschweig als Verfassungskrise im Zusammenleben der städtischen Gemeinschaft

von

Alexander Herwig

Bei dem Versuch der Vergeltung einer von Erzbischof Peter von gegen die Her- ren von Wenden zu Jerxheim initiierten Strafexpedition war Herzog Ernst von Braun- schweig-Lüneburg mitsamt einer stattlichen Anzahl der angesehensten und reichsten Bürger Braunschweigs in der Schlacht am Elme 1373 in Gefangenschaft geraten. Inwieweit die Stadt Herzog Ernst ihre Gefolgschaft schuldete oder nicht, soll hier nicht thematisiert wer- den.2 Erwähnenswert ist allerdings, dass der Schutz ausgedehnten Landbesitzes der Braun- schweiger Bürger eine Rolle gespielt haben könnte.3 Nach Vermittlung des Magdeburger Rates wurde das Geld zur Auslösung der Gefangenen auf 4000 Mark Silber taxiert.4 Damit hatten sich Braunschweigs Verbindlichkeiten auf einen Schlag nahezu verdoppelt.5 Obwohl der Schoss schon bei einem vergleichsweise hohen Prozentsatz von 20 von 100 lag, sahen die Räte den einzigen Ausweg in der zusätzlichen Erhebung einer Kornzise,

1 Brief der braunschweigischen Gilden an die Zünfte in Lüneburg, Lübeck und . In: Chroniken der deutschen Städte. Bd. 6. Bearb. v. Ludwig Hänselmann. Leipzig 1868, S. 350-351, hier S. 351. 2 Ludwig Hänselmann sieht die Niederlage verschuldet durch „die Rauflust der herrschenden Geschlech- ter“, während Reimann die eidliche Bindung nicht ganz ausschließen möchte; vgl. ders.: Der Aufruhr des Jahres 1374. In: Die Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 313-409, hier S. 329; Hans Leo Reimann: Unruhe und Aufruhr im mittelalterlichen Braunschweig. Braunschweig 1962, S. 46. 3 Vgl. Rhiman Alfred Rotz: Urban Uprisings in : Revolutionary or Reformist? The Case of Brunswick, 1374. In: Viator 4 (1973), S. 207-223, hier S. 218. 4 Urkundenbuch der Stadt Braunschweig. Bd. 6. Bearb. v. Josef Dolle. Hannover 1998, Nr. 815 S. 849; vgl. Ludwig Hänselmann: Die Niederlage am Elme. In: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 303-312; Heinrich Mack: Die Finanzverwaltung der Stadt Braunschweig bis zum Jahre 1374. Breslau 1889, S. 108 f. 5 Die hemelik rekenscop listet die Hauptursachen für die steigende Schuldenlast detailliert auf. Dem- nach sorgte neben der expansiven Landgebietspolitik (Garzmann) die Auslösung Herzog Magnus II. aus Hildesheimer Gefangenschaft (3800 für das Schloss Wolfenbüttel) und schließlich die genannten Lösegeldforderungen des Erzbischofs Peter von Magdeburg für einen Anstieg auf 9987 ½ Mark am Vorabend der Großen Schicht; vgl. Hemelik rekenscop. In: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 121-207, hier S. 133 ff.; Anton von Kostanecki: Der öffentlicher Kredit im Mittelalter. Nach Urkunden der Herzogtümer Braunschweig und Lüneburg. Leipzig 1889, S. 44.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 14 Alexander Herwig vermutlich waren noch weitere Steuern intendiert.6 Als die Pläne in der Gemeinde be- kannt wurden, entstand ein tumultuarischer Aufstand (gemeinhin als Große Schicht7 be- zeichnet), in dessen Folge die amtierenden Räte hingerichtet oder vertrieben wurden. Der Gemeine Rat konstituierte sich neu, die vertriebenen Geschlechter wandten sich an die Hanse, die Braunschweig ein Jahr später aus der Gemeinschaft der Kaufleute ausschloss und erst 1380 wieder aufnahm. Den Abschluss der städtischen Krise stellt die 1386 voll- zogene Verfassungsänderung dar. Die etwaigen Folgen für die Stadt aus der Verhansung werden hier nicht weiter be- handelt. In der Forschung besteht ohnehin Konsens darüber, dass die Hanse auf den inne- ren Verlauf des Aufruhrs keinen Einfluss hatte.8 Gegenstand der vorliegenden Untersu- chung ist der oppositionelle Widerstand gegen die städtische Obrigkeit. Ausgehend von einer Analyse der Zusammensetzung der widerstrebenden Gruppen wird erstmals eine Differenzierung zwischen den die Erhebung anführenden Personen und den Mitgliedern des ersten Neuen Rates vorgenommen. Der Tod von acht Ratsherren infolge der Großen Schicht wurde von der Forschung bisher hinsichtlich der Kausalkette zwar dargelegt, befriedigende Erklärungen bezüglich der Opferzahl aber nicht angeführt. Ausgehend von einem in den Quellen beschriebenen, geheimen Gremium der kommunalen Selbstverwaltung, das als Geheimer Rat in die Dis- kussion eingeführt wird9, werden Rückschlüsse auf Intention, Planmäßigkeit und Legiti- mität des Protestes gezogen. In einem letzten Schritt soll der Charakter der Erhebung beschrieben werden. Für die Untersuchung wurde dabei auf die einschlägigen Quellen zurückgegriffen, in erster Linie Urkunden braunschweigischer und hansischer Provenienz sowie die Dege- dingbücher der Weichbilder. Insbesondere der Briefwechsel zwischen den Gilden in Braunschweig und den aus der Stadt Vertriebenen erfährt eine eingehende Analyse. Zu einzelnen prosopographischen Studien wurden „Das hamburgische Pfundzollbuch von 1369“10 und „Das Handlungsbuch Vickos von Geldersen“11 berücksichtigt. Hinsichtlich des Schichtverlaufs musste ausdrücklich die hemelik rekenscop mit einbezogen werden. Die Einbettung des schichtboicks des Hermen Bote12 in die übrige Quellenlandschaft

6 Vgl. den Brief der Braunschweiger Gilden an die Zünfte in Lüneburg, Lübeck und Hamburg, gedruckt in: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 350-351, hier S. 350. 7 Der Begriff „Schicht“ taucht schon in den mittelalterlichen Quellen auf und beschreibt allgemein ein Ereignis oder einen Vorfall, wurde aber bereits im 14. Jahrhunderts synonym für Aufruhr und Auf- stand verwendet; vgl. Mittelniederdeutsches Wörterbuch. Hrsg. v. Karl Schiller und August Lübben. Bd. 4. 1878. 8 Matthias Puhle: Die „Große Schicht“ in Braunschweig. In: Jörgen Bracker u.a. (Hrsg.): Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos. 4. Aufl. Lübeck 2006, S. 812-822, hier S. 813 f. 9 Die Bezeichnung bezieht sich auf die Politik innerhalb dieses Gremiums, die geheim also nicht-öffent- lich praktiziert wurde. Die Verbindung zwischen Opfern und Mitgliedern des Geheimen Rates setzt aber voraus, dass den Zeitgenossen seine Existenz bekannt war. 10 Hans Nirrnheim (Bearb.): Das hamburgische Pfundzollbuch von 1369. Hamburg 1910. 11 Hans Nirrnheim (Bearb.): Das Handlungsbuch Vickos von Geldersen. Hamburg u. Leipzig 1895. 12 Dat schichtboick. In: Chroniken der deutschen Städte. Bd. 16. Hrsg. von Ludwig Hänselmann. Leipzig 1880, S. 299-493.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Die Große Schicht in Braunschweig als Verfassungskrise 15 gestaltet sich zeitweilig problematisch, weshalb im konkreten Fall anderen Quellen Vor- rang eingeräumt wurde. Angesichts der zahlreichen Literatur zum Thema13 hofft der Autor, doch neue Impulse zum Forschungsgegenstand geliefert zu haben.

Entstehung der ratsherrlichen Opposition

In der Geschichtswissenschaft besteht die Tendenz, das Spätmittelalter als Krisenzeit zu charakterisieren.14 Angesichts der zahlreichen Unruhen im urbanen wie im ländlichen Raum sowie des Pesteinbruchs in Europa Mitte des 14. Jahrhunderts erscheint diese Be- zeichnung auf den ersten Blick gerechtfertigt. Dabei rückten allerdings die kulturelle Blü- te, die wirtschaftliche Prosperität und, nicht zu vergessen, der Anstieg der Schriftlichkeit in den Städten in den Hintergrund. Die negative Konnotation der Begriffe „Unruhe“, „Aufstand“ und „Revolte“ wird dabei nicht zuletzt durch die chronikalische Überlieferung geprägt, die sich allzu meist in der Einflusssphäre der wie auch immer gearteten patrizi- schen Obrigkeit befand. Auf diesen Punkt wird später noch zurückzukommen sein. Die überkommenen Herrschaftsstrukturen werden im Spätmittelalter mittels unter- schiedlicher Protestformen durch Bürger oder Bauern in Frage gestellt.15 Davon betroffen ist „das gesamte Gesellschafts- und Herrschaftsgefüge“.16 In der Stadt stehen sich dabei die privilegierte Führungsgruppe um die ratsfähigen Geschlechter, auch als Patrizier oder meliores bezeichnet17, und die nichtprivilegierte Mehrheit der Stadtbevölkerung, mitunter alle nicht-ratsfähigen Gruppen der Kommune gegenüber. Bei den zum Teil gewaltsamen

13 Um nur die wichtigsten zu nennen: Die Erläuterungen Ludwig Hänselmanns zur Großen Schicht in: Chroniken der deutschen Städte (wie Anm. 1); Mack (wie Anm. 4); Heinz Germer: Die Landgebiets- politik der Stadt Braunschweig bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts. Göttingen 1937; Karl Czok: Zum Braunschweiger Aufstand 1374-1386. In: Hansische Studien. Heinrich Sproemberg zum 70. Ge- burtstag. Berlin 1961 S. 34-55; Werner Spiess: Von Vechelde. Die Geschichte einer Braunschweiger Patrizierfamilie 1332-1864, Braunschweig 1951; Reimann (wie Anm. 2); Rotz (wie Anm. 3); Jürgen Bohmbach: Die Sozialstruktur Braunschweigs um 1400. Braunschweig 1973; Reinhard Barth: Argu- mentation und Selbstverständnis der Bürgeroppostionen in städtischen Auseinandersetzungen des Spät- mittelalters. Lübeck 1403-1408 – Braunschweig 1374-1376 – Mainz 1444-1446 – Köln 1396-1400. Hamburg 1974; Manfred R. W. Garzmann: Stadtherr und Gemeinde in Braunschweig im 13. und 14. Jahrhundert. Braunschweig 1976; Wilfried Ehbrecht: Die Braunschweiger „Schichten“. Zu Stadt- konflikten im Hanseraum. In: Gerd Spies (Hrsg.): Brunswiek 1031 – Braunschweig 1981. Folgeband zur Festschrift, Braunschweig 1982, S. 37-50; Matthias Puhle: Braunschweig und die Hanse bis zum Ende des 14. Jahrhunderts. In: Gerd Spies (Hrsg.): Brunswiek 1031 – Braunschweig 1981. Die Stadt Heinrichs des Löwen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Festschrift zur Ausstellung. Braunschweig 1982, S. 105-129; Bernd Kannowski: Bürgerkämpfe und Friedebriefe. Rechtliche Streitbeilegung in spätmittelalterlichen Städten. Köln 2001. 14 Vgl. Ferdinand Seibt (Hrsg.): Europa 1400. Die Krise des Spätmittelalters. 1984. 15 Peter Blickle: Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800. 2. erw. Aufl. München 2010, S. 7. 16 Ebd. 17 Grundsätzlich bleiben hier die von Carl-Hans Hauptmeyer beschriebenen Grundsätze der städtischen Führungsschicht bestehen, vgl. ders.: Vor- und Frühformen des Patriziats mitteleuropäischer Städte. Theorien zur Patriziatsentstehung. In: Die alte Stadt 6 (1979), S. 1-20, hier S. 5 f.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 16 Alexander Herwig

Auseinandersetzungen steht fast immer die Frage nach der Besetzung des Rates im Mittel- punkt.18 Ausgehend vom 13. Jahrhundert bleibt bis ins 15. Jahrhundert hinein kaum eine größere Stadt im Reich von Unruhen oder Revolten verschont. Das ausgehende 13. und beginnende 14. Jahrhundert ist durch partiell tiefgreifende sozio-ökonomische Veränderungen der städtischen Gesellschaft gekennzeichnet. Das ge- burtsrechtlich privilegierte Patriziat war überwiegend aus der städtischen Fernhandels- schicht entstanden.19 In ihr vereinte sich anfangs sowohl die politische als auch die wirt- schaftliche Elite – auf sie beschränkte sich die Ratsfähigkeit. Um die Jahrhundertwende etwa setzt ein Prozess ein, der die gesellschaftlichen Schranken zunehmend verwischt. Viele Teile der städtischen Obrigkeit vollziehen einen strategischen Wechsel. Statt weiter in den lukrativen aber risikobehafteten Fernhandel investieren sie lieber in vergleichswei- se konservative Anlagen wie Grundbesitz und Renten. Die von Rhiman A. Rotz zusam- mengetragenen Ergebnisse zum Grundbesitz Braunschweiger Bürger im städtischen Um- land zeugen von erheblichen Investitionen der städtischen Führungsschicht.20 Untersuchungen von Militzer und Irsigler für das Kölner Meliorat oder Düker für die Lübecker Geschlechter zeigen, dass Braunschweig in dieser Hinsicht keine singuläre Er- scheinung ist.21 Die Attraktivität der Investition ergab sich neben der relativen Sicherheit auch durch den Umstand, dass die Erwerber dadurch Lehnsmänner ihrer jeweiligen Lan- desherren wurden, was wiederum mit einer Steigerung des Prestiges einherging.22 Die Imitation der adeligen Lebensform hatte damit, nach Weingelagen, Festen und Rittertur- nieren, ihren Höhepunkt erreicht.23 In Braunschweig ließ der Altstädter Rat sogar einen Weingarten anlegen und bestellte einen Gärtner zu seiner Pflege.24 Die vakanten Stellen im städtischen Fernhandel besetzten aufstrebende Handwerker, die sich verstärkt auf gewerbliche Tätigkeiten verlagert hatten. Die Aufsteiger entwickel-

18 Vgl. Erich Maschke: Verfassung und soziale Kräfte in der deutschen Stadt des späten Mittelalters, vor- nehmlich in Oberdeutschland. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 46 (1959), S. 289-349 u. 433-476, hier S. 289 f. 19 Hans Planitz: Deutsche Rechtsgeschichte. Graz 1950, S. 128 f. 20 Rotz (wie Anm. 3), S. 222 f. 21 Klaus Militzer: Führungsschicht und Gemeinde in Köln im 14. Jahrhundert. In: Wilfried Ehbrecht (Hrsg.): Städtische Führungsgruppen und Gemeinde in der werdenden Neuzeit. Köln 1980, 1-24, hier: S. 8; Franz Irsigler: Soziale Wandlungen in der kaufmännischen Führungsschicht Kölns im 14. und 15. Jahrhundert. In: Hansische Geschichtsblätter 92 (1974), S. 59-78, hier: S. 60 ff.; Albert Düker: Lü- becks Territorialpolitik im Mittelalter. Hamburg 1932, S. 19 f. 22 Vgl. Norbert Kamp: Sozialer Rang und öffentliche Verantwortung im spätmittelalterlichen Braun- schweig, Braunschweig 1981, S. 7. Ähnliches gilt für die Hansestadt Köln; vgl. Militzer (wie Anm. 21), S. 4 f. 23 Vgl. Kamp (wie Anm. 22), S. 7; für Köln, Militzer (wie Anm. 21), S. 3. Die Magdeburger Schöp- penchronik berichtet von der Einladung der Magdeburger Räte an ihre Kollegen in Braunschweig zu einem Fest in ihrer Stadt; vgl. Magdeburger Schöppenchronik, in: Chroniken der deutschen Städte. Bd. 7. Bearb. v. Karl Janicke. Leipzig 1868, S. 168 f. Über Recht und Bedeutung zur Teilnahme an Festlichkeiten siehe Erich Maschke: Mittelschichten in den deutschen Städten des Mittelalters. In: ders.; Jürgen Sydow (Hrsg.): Städtische Mittelschichten. Protokoll der VIII. Arbeitstagung des Arbeits- kreises für südwestdeutsche Stadtgeschichtsforschung Biberach 14.-16. November 1969. Stuttgart 1972, S. 1-31, hier S. 4. 24 Vgl. Mack (wie Anm. 4), S. 71.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Die Große Schicht in Braunschweig als Verfassungskrise 17 ten eine ungemeine wirtschaftliche Prosperität; einige schlossen ökonomisch zum Stadt- adel auf oder übertrafen diesen sogar.25 Gemäß ihrer ökonomischen Proportion forderten die homines novi26 eine Beteiligung am Stadtregiment und eine Gleichrangigkeit mit den privilegierten Geschlechtern.27 Sie sahen sich durch die vom Rat praktizierte Landge- bietspolitik zum Schutz des vor der Stadt gelegenen Grundbesitzes des Stadtadels nicht mehr repräsentiert.28 Die Geschlechter beantworteten die Emergenz dieser Emporkömm- linge aus der städtischen Mittelschicht mit Abschließungstendenzen, da sie eine Gefähr- dung ihrer bevorrechtigten Stellung fürchteten.29 Während zuvor die Vermögensverhält- nisse das wichtigste Lagermerkmal zur Verortung in einer bestimmten Schicht der Stadtgesellschaft gewesen war, wurde zunehmend die Zugehörigkeit zu einer alteingeses- senen Familie oder einem bestimmten Geschlechterverband das entscheidende Krite- rium.30 Bereits in dieser Phase, die sich bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts vollzogen haben dürfte, kam es in mehreren Städten des Reiches zu innerstädtischen Unruhen. In der Mehrheit blieben die Protestaktionen jedoch erfolglos, da die Opposition große Teile der Stadtgemeinde nicht mobilisieren konnte. Der Einbruch der Pest spätestens in den 1350er Jahren in vielen Städten des Reiches war der Katalysator für neue Konflikte. Die Seuche war maßgeblich für die spätmittel- alterliche Agrarkrise verantwortlich.31 Die Renten aus Grundbesitz verringerten sich spürbar. Mitglieder der Geschlechter mussten einen erheblichen finanziellen Aderlass verkraften. „Dass die heftigsten Unruhen in diese Zeit fallen, dürfte nicht von ungefähr sein. Grundrentenbezieher, die verarmten oder jedenfalls von ihrem bisherigen Reichtum einiges eingebüßt hatten, sahen sich bedroht, wenn die bisher benachteiligten Bevölke- rungsschichten … jetzt zum Sturm auf privilegierte Positionen ansetzten.“32 An den mit zunehmender Heftigkeit ausgetragenen Auseinandersetzungen wurde die Fragilität der städtischen Herrschaftskonzeption sichtbar. In Braunschweig konnten die Geschlechter ihre Dominanz in der Stadtverwaltung zunächst behaupten. Ratsstühle wurden weiterhin durch Kooptation innerhalb der rats- fähigen Familien vergeben, wodurch der vorherrschende Einfluss der Altstadt in der

25 Bohmbach (wie Anm. 13), S. 26, 27 u. 32. Eine ähnliche Entwicklung hat Militzer für Köln festge- stellt; vgl. ders. (wie Anm. 21), S. 9. 26 Zum Begriff homines novi, siehe Czok (wie Anm. 13), S. 44 f; Spiess (wie Anm. 13), S. 26. 27 Militzer (wie Anm. 21), S. 9 f. 28 Peter Johanek: Bürgerkämpfe und Verfassung in den mittelalterlichen deutschen Städten. In: Hans Eu- gen Specker (Hrsg.): Einwohner und Bürger auf dem Weg zur Demokratie. Von der antiken Stadtrepu- blik zur modernen Kommunalverfassung. Stuttgart 1997, S. 45-73, hier S. 60. 29 Eine ähnliche Entwicklung wurde schon in der römischen Republik beobachtet. 30 Maschke (wie Anm. 23), S. 8. 31 Grundlegend dazu: Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter. 2. Aufl. Hamburg 1978. Kritische Stimmen zur Abelschen Theoriebildung seien allerdings nicht verschwiegen. Gewichtige Einwände er- hebt z. B. Ernst Schubert: Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittel- alter. Darmstadt 1992, S. 5-9; ders. (Hrsg.): Geschichte Niedersachsens. Band II, 1: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert. Hannover 1997, S. 749 f.. 32 Hartmut Hoffmann: Das Braunschweiger Umland in der Agrarkrise des 14. Jahrhunderts. In: Deut- sches Archiv für die Erforschung des Mittealters 3 (1981), S. 162-286, hier S. 254.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 18 Alexander Herwig städtischen Politik ungebrochen blieb.33 Da die Stadtverfassung keine Möglichkeit für eine Reform außerhalb des Willens der Geschlechter bot, blieb der öffentliche Protest das einzige Mittel für Veränderungen.34 Solange die Stadtführung solide gehandhabt wurde, konnten die auf Reformen drängenden Kräfte nicht auf eine Mobilisierung der Mehrheit der Gemeinde hoffen. Bis dahin aber fehlte jedem Widerstand die nötige Stoß- kraft. Zeugnis davon legen die in den Braunschweiger Stadtbüchern registrierten Un- ruhen zwischen Pestzug und Großer Schicht in den Jahren 1359, 1363, 1364 und 1368 ab. 1359 mussten die Beckenwerker Engelemestidde und Cramere als Wortführer einer Hundertschaft Urfehde vor dem Gemeinen Rat schwören.35 Letzterer wurde nur vier Jah- re später erneut vor den Rat zitiert, wobei ersterer für ihn bürgte.36 1364 wurden Heneke Grimovel, Ebeling Winkelman, Jorden Radewerchte und Groten Herwighe wegen Auf- ruhrversuchs aus der Stadt verfestet.37 1368 leisteten Eytze Kramer, Ratsherr der Alten- wiek, und Bernd van Remlinge eine Urfehde vor dem Gemeinen Rat.38 Die Wortführer der Opposition waren überwiegend im Warenhandel, vermutlich dem Vertrieb von Tu- chen, Laken und Becken, tätig (Remlinge, Eytze Kramer), auch wenn die Fernhandels- betätigung nur für Engelemestidde zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte.39 Dieser ist vermutlich mit Hinrik Engelemstidde d. Ä., einem Beckenwerker und Tuchhändler aus der Neustadt, identisch, der Mitglied im ersten Rat nach der Großen Schicht und später sogar Bürgermeister wurde.40 Mit anderen Worten: Hier protestierten Angehörige einer gut si- tuierten Gruppe gegen die Politik des Rates. Allein die Quantität zeigt das hochbrisante Konfliktpotenzial der Stadt im Vorfeld der Großen Schicht! Anlass zur Kritik bot vor allem die städtische Finanzpolitik. Ihr Mangel lag nicht un- wesentlich im fehlenden Rechnungswesen.41 Die Kämmereirechnungen der Gemeinen Stadt beispielsweise führten lediglich die Ausgaben ohne Bemerkungen über etwaige Ein- künfte.42 Spätestens in der Phase der extensiven Landgebietspolitik musste der Rat den Überblick über Gewinn- und Verlustrechnen verlieren. Hinzu kam, dass offenbar das politische Übergewicht der Altstadt dazu geführt hatte, dass sich finanzielle Angelegen-

33 Wilfried Ehbrecht: Eintracht und Zwietracht. Ursache, Anlass, Verlauf und Wirkung von Stadtkon- flikten. In: Matthias Puhle (Hrsg.): Hanse – Städte – Bünde. Die sächsischen Städte zwischen Elbe und Weser um 1500. Bd. 1: Aufsätze. Magdeburg 1996, S. 298-321, hier S. 306. 34 Kamp (wie Anm. 22), S. 9 f. 35 Urkundenbuch der Stadt Braunschweig. Bd. 5. Bearb. v. Josef Dolle. Hannover 1994, Nr. 433 S. 502, vgl. Thomas Beddies: Beckenwerkerhandwerk in Braunschweig. In: Martin Kintzinger (Hrsg.): Handwerk in Braunschweig. Entstehung und Entwicklung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Braun- schweig 2000, S. 105-128, hier S. 113. Die Schreibung der Namen folgt den Verzeichnissen der Braun- schweiger Urkundenbücher 5 bis 7, um eine bessere Vergleichbarkeit zu gewährleisten. 36 UB Stadt Braunschweig 6 (wie Anm. 4), Nr. 137 S. 162. 37 Ebd., Nr. 167 S. 264. 38 Vgl. Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 315. 39 Handlungsbuch (wie Anm. 11), Nr. 491 S. 82. 40 Vgl. Hanserecesse. Die Recesse und andere Akten der Hansetage von 1256-1430. bearb. v. Karl Kopp- mann, 1. Abteilung, Bd. 3. Leipzig 1875, Nr. 344 S. 352 f. 41 Hänselmann (wie Anm. 2), S. 324. 42 Ebd.

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heiten des Weichbildes mit denen der Gesamtstadt vermischt hatten bzw. die Altstädter Räte Gelder aus der Stadtkasse veruntreuten, um damit Mitgliedern gleichen Standes Hypothekenanleihen zu gewähren oder um selbst welche aufzunehmen.43 Dass der nach- träglich gezahlte Schoss (Nachschoss) der Altstädter Kasse zufloss, bedeutete einen kla- ren Verstoß gegen die Bestimmungen der Weichbildeinung von Altstadt, Neustadt und Hagen, die die Schosszahlungen dem Gemeinen Rat zugesprochen hatten.44 Erst nach der Großen Schicht wurde dieser Missstand im Zuge der Verfassungsreform behoben.45 Der von Thomas Scharff eruierte Anstieg der Schriftlichkeit in der Umgebung des Rates nach der Großen Schicht zeugt vom Willen des neuen Regiments, diese Missstände zu beseitigen.46 Vor der Großen Schicht wird dagegen kaum jemand außerhalb der städtischen Füh- rungsgruppe von der immensen Schuldenlast Kenntnis erlangt haben, da die Verwal- tung im engsten Kreis des Rates unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehandhabt wurde. Die Heftigkeit der Ausschreitungen nach Bekanntwerden der Finanzpolitik deutet jedenfalls darauf hin. Selbst die Gildemeister werden erst in den Beratungen mit dem Gemeinen Rat zur Schosserhöhung Einsicht in finanzielle Detailfragen der Kommune erhalten haben. Dagegen muss vorausgesetzt werden, dass die Gemeinde Kenntnis über die städtische Burgen- und Landpolitik hatte. Geradezu planmäßig hatte der Braunschweiger Rat seit 1331 in unregelmäßigen Intervallen Burgen und Schlösser in der Landflur als Pfand für sich erworben. Was in der frühen Phase noch als sinnvolle Investition für die Sicherheit des Handels gerechtfertigt werden konnte47, wurde nach 1363 geradezu extensiv. In ra- scher Folge erwarb der Rat die Rechte über mindestens acht Pfandschlösser48 und hatte Einfluss über die Winzenburg und das Schloss Jerxheim. Dass sie allein aus Erwägungen zum Schutz des Gewerbes angeeignet wurden, scheint in Hinblick auf ihre Lokation zwei- felhaft, erhärtet sich unterdessen, wenn man den Grundbesitz Braunschweiger Bürger außerhalb der Stadtmauern als Größe mit einbezieht. Die Pfandschlösser erstreckten sich fast ausschließlich östlich und südöstlich der Stadt. Für Braunschweig als exportorientier- tem Gewerbestandort gerade in Bezug auf die Tuchproduktion war allerdings die Verbin-

43 Mack (wie Anm. 4), S. 71 u. 78; vgl. Rhiman Alfred Rotz: The uprising of 1374: Source of Bruns- wick’s Institutions. In: BsJb 54 (1973), S. 61-73, hier S. 62. 44 Kostanecki (wie Anm. 4), S. 42. 45 Mack (wie Anm. 4), S. 79 f.; Hemelik rekenscop (wie Anm. 5), S. 152 f. 46 Vgl. Thomas Scharff: Pragmatik und Symbolik: Formen und Funktionen von Schriftlichkeit im Um- feld des Braunschweiger Rates um 1400. In: Christoph Dartmann; Thomas Scharff; Christoph Friedrich Weber (Hrsg.): Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schrift- kultur. Turnhout 2011, S. 351-370, hier S. 358 ff. 47 Manfred Garzmann (wie Anm. 13, S. 238 f.) teilt die Landgebietspolitik in eine strategisch-sinnvolle von 1331 bis 1355 und eine wenig effektive Phase von 1357 bis 1374 ein. 48 Dabei handelte es sich um die Schlösser Esbeck mit Schöningen (1363), Vorsfelde (1364), (vor 1365), Liebenburg (1366), Wolfenbüttel (1370), Neuhaus (1372), Königslutter (vor 1374) und Gifhorn (vor 1374). Vermutlich wurde in dieser Zeit auch das Schloss Fallersleben erworben; vgl. Germer (wie Anm. 13), S. 95-98.

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dung nach Norden in Richtung Hamburg von Bedeutung.49 Die Zunahme von Lander- werb im Laufe des 14. Jahrhunderts korreliert mit der steigenden Pfandschlossnahme.50 Ihre Funktion zur Verteidigung von Eigentum der politisch-ökonomischen Elite wird da- rin sichtbar.51 Die Kosten zur Instandhaltung der Schlösser, ganz zu schweigen von laufenden Ab- gaben für Ausrüstung und Unterhalt der Burgmannschaft und des Burgvorstehers52, wa- ren immens. Mitunter hatte der Rat Anleihen aufnehmen müssen, um in den Besitz eines Schlosses zu kommen.53 Die zinslichen Abschläge drohten bald, die städtischen Finanzen zu ruinieren. Als nach der verlorenen Fehde am Elme noch die Lösegeldzahlungen für die Braunschweiger Bürger aufsummiert werden mussten, drohte der Stadt der finanzielle Kollaps. Interessanterweise gab es jedoch auch 1392 nur eine knappe Mehrheit für die Abstoßung der Pfandschlösser.54 Dabei mögen besonders Erwägungen zur Rentabilität eine Rolle gespielt haben. Der Einwand der hemelik rekenscop, man sei „van dranghes weghene“ in den Besitz des Wolfenbütteler Schlosses gekommen, ist damit zu relativie- ren.55 Beachtet werden muss jedoch, dass die Mehrheit der Gemeinde nicht an einer Aus- weitung der städtischen Landpolitik interessiert war: „[they] did not want their towns to be territorial powers … or at least they did not want to pay for such power“.56 Damit ging sie wahrscheinlich auch mit einigen Kreisen exportorientierter Altstädter Kaufleute konform, die sich bald nach der Schicht im Neuen Rat politisch beteiligten.57 Während des Auf- ruhrs blieben sie – soweit bekannt – von den Ausschreitungen unversehrt.58

49 Frühe Handelsverbindungen zwischen Braunschweig und Hamburg sind ab 1241 belegbar; vgl. Schrei- ben Braunschweigs an Hamburg vom 28. Aug. 1241, gedruckt in: Urkundenbuch der Stadt Braun- schweig. Bd. 2. Hrsg. v. Ludwig Hänselmann. Berlin 1895, Nr. 104 S. 39 f. In der Folge ist von einer Intensivierung der Verbindungen beider Städte auszugehen; vgl. ebd. Nr. 118, 158, 181 u. 198 sowie Hansisches Urkundenbuch. Bd. 2. Bearb. v. Konstantin Höhlbaum. Halle 1879, Nr. 435 S. 138. 50 Rotz (wie Anm. 43), S. 67. 51 Vgl. Garzmann (wie Anm. 13), S. 230. Eine ähnliche Entwicklung in der Burgenpolitik hat unlängst Thomas Hill für Bremen nachgewiesen; vgl. ders: Die Stadt und ihr Markt. Bremens Umlands- und Außenbeziehungen im Mittelalter (12.-15. Jahrhundert), Weimar 2004, S. 277 ff. 52 Der Vogt der Burg Campen erhielt 20 Mark, der der Asseburg 30 und der des Schlosses Hessen 50 Mark, der Vogt der Hornburg erhielt sogar 60 Mark; vgl. Germer (wie Anm. 13), S. 55. 53 Zum Erwerb der Asseburg und der Hornburg sowie des Schlosses Wolfenbüttel hatte die Stadt jeweils Renten verkaufen müssen; vgl. Urkundenbuch der Stadt Braunschweig. Bd. 3. Hrsg. v. Ludwig Hänsel- mann und Heinrich Mack. Berlin 1905, Nr. 326, S. 244; Germer (wie Anm. 13), S. 19. 54 Vgl. hemelik rekenscop (wie Anm. 5), S. 144, 151; Otto Fahlbusch: Die Finanzverwaltung der Stadt Braunschweig seit dem großen Aufstand im Jahre 1374 bis zum Jahre 1425. Eine städtische Finanzre- form im Mittelalter. Breslau 1913, S. 14. 55 Vgl. hemelik rekenscop (wie Anm. 5), S. 135. 56 Rhiman A. Rotz: The Lubeck Uprising of 1408 and the Decline of the Hanseatic League. In: Procee- dings of the American Philosophical Society 121 (1977), S. 1-45, hier S. 41. 57 Beispiele sind Hans und Henrik Doring, Hannes van Evensen, Eggeling van Schanleghe, Henningh Salghe, Hans van Sunnenberch, Herman van Wetelemestide und der „junge“ Holtnicker; vgl. Rotz (wie Anm. 43), S. 68 Anm. 39. 58 Ebd., S. 68.

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Obrigkeit und Opposition: Die Verantwortlichkeit des Geheimen Rates

In der neueren Forschung besteht ein Hang, die Ursachen der Großen Schicht lediglich in einer verfehlten Finanz- und Steuerpolitik zu suchen.59 Dieser monokausal-verkürzte An- satz übergeht vielfach die Forschungsergebnisse zur städtischen Sozialstruktur. Mögli- cherweise ist das ein Ergebnis der gegenwärtigen politischen Situation: Historiker neigen dazu, frühere Zustände aus eigenen Erfahrungen zu erklären. Vertreter dieser Ansicht nehmen auch eine Restitution der alten verfassungsmäßigen Kommunalverwaltung an, wodurch die Verfassungsänderung von 1386 – der Abschluss der städtischen Krise – zu einer Konzession der Braunschweiger Geschlechter an die Gilden mutiert.60 Diese These lässt sich nach genauer Analyse der Zusammensetzung der Konflikt- gruppen in der Großen Schicht nicht aufrecht halten. In der Regel setzte sich die Oppo- sition bei Stadtkonflikten nicht aus einer homogenen Gruppe zusammen, sondern war vielmehr eine Gemengelage aus Gemeindemitgliedern verschiedenster Schicht­­zu­ gehörig­keiten.61 Dies sollte inzwischen communis opinio sein. Im konkreten Fall lassen sich die Anführer der Großen Schicht identifizieren. Frühere Forschungen vermuteten eine Übereinstimmung in der Zusammensetzung des ersten Neuen Rates mit den führen- den Köpfen des Aufruhrs.62 Dank der ausgezeichnet fortgesetzten Edition des Braun- schweiger Urkundenbuches durch Josef Dolle müssen in zukünftigen Untersuchungen jedoch die Anführer des Protestes von den Mitgliedern des Neuen Rates differenziert werden. Dolle fand in der Lüneburger Abschrift eines Briefs der Vertriebenen an die Hansestädte einen zusätzlichen Absatz, der über die Namen der Protestführer informiert (Tabelle 1). Dieser Absatz fehlte in der bisher genutzten Göttinger Abschrift.63 Die Quelle belegt, dass die Protestführerschaft offenbar noch keinen Sitz im Neuen Rat (Tabelle 2) garantierte. Mit Hinrik Brandenborch, Hannes Ekerman, Hinrik van Engelemestidde d. Ä., Ecghelingh Cappelle, Hermen Scheveben und Clawes van Urde sind nur rund ein Drittel von ihnen vertreten.

Name Herkunft Tätigkeit (Fern-) Handel, Sonstiges Brandenborch, Hinrik Altstadt Kaufmann (?) (?) Duvel, Bertold Altstadt Ekerman, Hannes Hagen Wandschneider Tuche, Becken64 Engelemestidde, Hinrik van (d. Ä.) Neustadt Beckenwerker Tuche65

59 Exemplarisch sei hier nur auf die jüngste Erscheinung verwiesen: Felicitas Schmieder: Die mittelalter- liche Stadt. 3. Aufl. Darmstadt 2011. 60 Vgl. Hermann Dürre: Geschichte der Stadt Braunschweig im Mittelalter. Wolfenbüttel 1875, S. 299. 61 Kannowski (wie Anm. 13), S. 22 f.; Barth (wie Anm. 13), S. 124 ff. 62 Rotz (wie Anm. 3), S. 132. 63 Vgl. UB Stadt Braunschweig 5 (wie Anm. 35), Nr. 821 S. 854-856. 64 Hanserecesse (wie Anm. 40) I 3 Nr. 344, S. 376. Klageartikel Braunschweigs über verlorene Waren aus dem Flandernhandel 1385; Hans Ekerman und seine Kinder verloren einen Ballen Becken. 65 Handlungsbuch (wie Anm. 11), Nr. 491 S. 82.

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Name Herkunft Tätigkeit (Fern-) Handel, Sonstiges Engelemestidde, Hinrik van (d. J.) Neustadt Beckenwerker Cappelle, Ecghelingh Hagen Kaufmann (?) (?) Muntarius, Ludeman Burg (?) Vogt66 Peyne, Thileke van Hagen67 Hutmacher (?) Rechte (Richard?) de cramere Neustadt (?) Beckenwerker (?) Rode, Hannes (d. Ä.) Hagen Knochenhauer68 Scheveben, Hermen Hagen69 Handwerker (?) Schiltreme, Luder Altewiek70 Ratsherr der Altenwiek Slanstedde, (Henning?) Hagen71 Solde, Egghert van Neustadt (?) Kaufmann Tuche, Becken72 Urde, Clawes van Hagen Kaufmann Tuche73 Voghes, Hans Hagen74 Tabelle 1: Anführer der Großen Schicht nach Angaben der Vertriebenen

Die im schichtboick angegebene Initiative des Hagens in der Schicht lässt sich an der Provenienz der Beteiligten bestätigen. Sowohl bei den genannten „schichtmekern“ (8) als auch im Neuen Rat (8) stellt der Hagen die Hälfte der Mitglieder und verdrängt damit die Altstadt als dominierendes Weichbild in der städtischen Politik. Eine einfache Rivalität der Weichbilder Altstadt und Hagen ist die Schicht allerdings nicht gewesen, wenn auch die Gegensätze zwischen der patrizisch geprägten und politisch führenden Altstadt auf der einen und dem genossenschaftlich geprägten Hagen auf der anderen Seite eine solche Deutung durchaus zuließen. In einem solchen Fall wären die Handwerker das prägende Element des Neuen Rates gewesen. Während die Handwerker gegenüber den Kaufleuten an den beteiligten „schichtmekern“ noch rund die Hälfte ausmachen, ist das Handwerk im Neuen Rat deutlich unterrepräsentiert (max. 5 zu 12).75 Daneben ist auffällig, dass alle

66 Vgl. UB Stadt Braunschweig 6 (wie Anm. 4), Nr. 447 S. 518 f. 67 Sein Haus in der Fallerslebener Straße, vgl. UB der Stadt Braunschweig 6 (wie Anm. 4), Nr. 164 n, S. 258. 68 Sein Sohn ist Knochenhauer, weshalb sein Vater vermutlich schon diesen Beruf ausübte; vgl. Nr. 2 g, S. 36. 69 Sein Haus in der Wendenstraße, vgl. Urkundenbuch der Stadt Braunschweig. Bd. 7. bearb. v. Josef Dol- le. Hannover 2003, Nr. 1112 d, S. 957. 70 Ratsherr der Altenwiek (1363-1374), vgl. UB Stadt Braunschweig 6 (wie Anm. 4), Nr. 891 S. 905. 71 Sein Steinhaus auf dem Hagenmarkt, vgl. UB Stadt Braunschweig 6 (wie Anm. 4), Nr. 450 p, S. 534. 72 Pfundzollbuch (wie Anm. 10) Nr.127 S. 35. 73 Ebd. Nr. 96 S. 27, Nr. 221 S. 48, Nr. 341 S. 63. 74 Sein Haus in der Wendenstraße, vgl. UB Stadt Braunschweig 6 (wie Anm. 4), Nr. 511 e S. 596. 75 Grundsätzlich ist es schwierig, anhand der Genossenschaftslisten Einschätzungen zu den tatsächlich ausgeführten Beschäftigungen zu gewinnen, da innerhalb der Gilden nicht nach gewerblichen oder handwerklichen Tätigkeiten unterschieden wurde. Wie die Tabellen zeigen, konnten Beckenwerker da- durch auch im Warenhandel involviert sein.

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Ratsherren, die nach Aussage der Vertriebenen die Führung des Protestes inne hatten und zusätzlich in den Neuen Rat gewählt wurden, gewerblich tätig waren. Offenbar setzte man hier auf Altbewährtes. Wahrscheinlich konnten die meisten am Widerstand beteiligten Handwerker die für die Ratstätigkeit notwendige Abkömmlichkeit auch gar nicht erfül- len.76 Abgesehen von Eggeling van Schanleghe hatte keines der neuen Ratsmitglieder bisher ein Ratsamt bekleidet. Die in den folgenden Jahren eintretenden Neubesetzungen mögen der mangelnden Erfahrung in dieser Hinsicht geschuldet sein.77 Mit einiger Sicherheit jedoch gehörten weder „schichtmeker“ noch die Abgeordneten des Neuen Rates den rats- fähigen Geschlechtern an.78 So kann der Anlass und der frühe Verlauf der Großen Schicht rekonstruiert werden: Nach der Schilderung der hemelik rekenscop wurden die Gildemeister zur Debatte über die vom Rat intendierte(n) Steuererhöhung(en) hinzugezogen.79 In Braunschweig scheint der Rat bis dahin eine relative Entscheidungsfreiheit gegenüber der Bürgergemeinde ge- wonnen zu haben. Die Entscheidung, unter Einbeziehung der Gildemeister zu tagen, zeigt das Bedürfnis der Führungsschicht, die Bestimmung auf einen möglichst breiten Konsens zu stellen. Gleichzeitig werden Privilegienforderungen der Gildemeister als Entgegen- kommen für ihre Zustimmung kategorisch abgelehnt worden sein.80 Vermutlich gingen diese Forderungen auch über das Maß dessen hinaus, was der Rat an Zugeständnissen machen konnte, ohne seine überlegene Stellung zu verlieren. Von einem friedlichen Aus- tausch der beiden Parteien – man habe sich zunächst am Mittag freundschaftlich getrennt, um die Beratungen später fortzusetzen, und die Schicht sei durch ein falsches Gerücht entstanden81 – wie uns die hemelik rekenscop glaubhaft machen möchte, ist nicht aus- zugehen. Entscheidend ist, dass die Gildemeister hier wahrscheinlich zum ersten Mal über das finanzielle Defizit der Kommune unterrichtet wurden, obwohl der Steuersatz schon eine beträchtliche Höhe erreicht hatte.82 Es entstand eine heftige Diskussion. Die Gemüter er- hitzten sich dabei so sehr, dass von Seiten des Rates offen Gewalt angedroht wurde. Ein „ungheluckech mynsche“ (hemelik rekenscop) soll dann die Gemeinde informiert ha- ben, wodurch die Ereignisse der Schicht ihren Anfang genommen haben. Das schichtboick folgt in seiner Schilderung zunächst der Beschreibung der heme- lik rekenscop. Die Gruppen sollen sich am Mittag ergebnislos getrennt haben und ver- tagten sich auf später. Die Gildemeister gingen zu den „Morgensprachen“ ihrer Gilden. Auf dem Schuhhofe in der Altstadt hatten sich zu diesem Zweck die Schuhmacher und

76 Die Mitgliedschaft im Rat erforderte die Anwesenheit bei Ratssitzungen, die Übernahme von Ämtern, eventuell auch die Teilnahme an langwierigen außenpolitischen Missionen, die, abgesehen von den Strapazen und Gefahren der Reise, auch eine finanzielle Belastung darstellten; vgl. Bernd Fuhrmann: Die Stadt im Mittelalter. Stuttgart 2006, S. 78; Maschke (wie Anm. 23), S. 28. 77 Rotz (wie Anm. 3), S. 215. 78 Ebd., S. 211. 79 hemelik rekenscop (wie Anm. 5), S. 137. 80 Karl Zwing: Klassenkämpfe im alten Braunschweig. Soziale Bilder aus Braunschweigs Vergangen- heit. Jena 1919, S. 19; Dürre (wie Anm. 50), S. 158. 81 hemelik rekenscop (wie Anm. 5), S. 137. 82 Ebd.; Dürre (wie Anm. 50), S. 158.

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Gerber versammelt, die dort umgehend von ihren Meistern über die Diskussionspunkte informiert wurden.83 Laut Hermen Bote soll nun von der dortigen Versammlung die Ini- tiative für den Aufstand ausgegangen sein, indem die Gilden umgehend in einem Protest- zug zum Haus des Thile van Damme marschierten. Daneben übernahm Bote jedoch auch die Darstellung des „ungheluckech mynsche“, bei ihm ein „cleynsmed van deme Mey- mershove“, der im Hagen das Gerücht gestreut hätte, der Rat bedrohe die Gildemeister bei ihrem Leben.84 Augenscheinlich hielt Bote die Beschreibung der hemelik rekenscop für authentisch, weshalb er sie in sein Werk einfließen ließ. Ob die von ihm genannten Schus- ter und Gerber eine besondere Rolle spielten, kann nicht verifiziert werden. In jedem Falle übernahmen ihre Vorsteher offenbar keine Führungsrolle innerhalb der Protestbe- wegung.

Name Herkunft Tätigkeit (Fern-) Handel, Sonstiges Albertes, Hans Altstadt Knochenhauer Brandenborch, Hinrik Altstadt Kaufmann (?) (?) Ekerman, Hannes Hagen Wandschneider Tuche, Becken85 Engelemestidde, Hinrik van (d. Ä.) Neustadt Beckenwerker Tuche86 Ghilsum, Cord / Henrik (?) van Gerber Grote Jan, Hans Neustadt Zöllner, Kaufmann (?) Tuche87, Saline88, Renten89 Ingeleben, Ludelef van Hagen Kaufmann (?) (?) Kannegetere, Bertold Sack90 Handwerker (?) Cappelle, Ecghelingh Hagen Kaufmann (?) (?) Kemme, Hennig van Neustadt91 Kaufmann Tuche92 Lodewighes, Clawes Hagen Wandschneider Tuche93, Renten Odelem, Tile van Hagen Beckenwerker Tuche Osterrode, Bertolt van Altstadt Münzmeister (?)

83 schichtboick (wie Anm. 12), S. 311 f. 84 Ebd., S. 311. 85 Pfundzollbuch (wie Anm. 10), Nr. 127 S. 35, Nr. 221 S. 48, Nr. 285 S. 56, Nr. 389 S. 71. 86 Handlungsbuch (wie Anm. 11), Nr. 491 S. 82. 87 Ebd. 88 Urkundenbuch zur Geschichte der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande. Bd. 6. Bearb. v. Hans Sudendorf. Hannover 1867, Nr. 133 S. 148 f. 89 Bohmbach (wie Anm. 13), S. 12. 90 Sein Haus in der Sackstraße, vgl. UB Stadt Braunschweig 6 (wie Anm. 4), Nr. 66 ai, S. 87. 91 Sein Haus an der Andreaskirche, vgl. UB Stadt Braunschweig 5 (wie Anm. 35), Nr. 408 m, S. 478. 92 Vgl. Sophie Reidemeister: Genealogien Braunschweiger Patrizier- und Ratsgeschlechter aus der Zeit der Selbständigkeit der Stadt (vor 1671). Braunschweig 1948, S. 95. 93 Pfundzollbuch (wie Anm. 10), Nr. 96 S. 27, Nr. 221 S. 48, Nr. 341 S. 63.

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Name Herkunft Tätigkeit (Fern-) Handel, Sonstiges Schanleghe, Eggeling van Hagen Kaufmann Renten94, Saline95, Ratsherr Scheveben, Hermen Hagen96 Handwerker (?) Urde, Clawes van Hagen Gewandschneider97 Tuche98 Valberg, Ludelef (mester) Altstadt99 Kaufmann (?) Renten

Tabelle 2: Mitglieder des ersten Neuen Rates nach Spieß100

Nach Bekanntwerden des Gerüchts wird sich also im Hagen rasch eine Bürgergemeinde versammelt haben. Am wahrscheinlichsten ist, dass sie Richtung Brüdernkirche zogen, um ihren Genossen zu Hilfe zu kommen. Vielleicht bildete sich auf diesem Zug schon eine „sammenunge“, ein Schwurverband. Mutmaßlich werden sich einige oder viele Teil- nehmer bereits bewaffnet haben. In jedem Fall werden die meisten Ratsherren, kaum dass sie von dem Anmarsch der aufgebrachten meynheyt erfuhren, versucht haben, in ihre Häuser zu flüchten. Bei ihrer Flucht wird es ihnen jedenfalls eher um ihre persönliche Sicherheit gegangen sein als um eine warme Mahlzeit (sic!), wie uns das schichtboick weismachen möchte. So werden sich die Gildemeister der aufgebrachten Menge angenom- men haben. Vielleicht sahen einige von ihnen in diesem Moment die Chance auf Verän- derung, vielleicht konnte man der Menge zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr Herr werden. Die Offenbarung der städtischen Schulden wird jedenfalls ihre Wirkung auf die Gemeinde nicht verfehlt haben. In Windeseile wird sich die Nachricht in der ganzen Stadt verbreitet haben und immer weitere Teile der städtischen Gemeinschaft werden sich dem Protestzug angeschlossen haben, neben den Angehörigen der Gilden besonders Mitglie- der der unteren Gesellschaftsschichten.101 Die Situation eskalierte schließlich, als ein Mob in die Rathäuser eindrang, Inventar zerschlug, den Wein auslaufen ließ und an Geld

94 Vgl. Barth (wie Anm. 13), S. 136. 95 UB der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande 6 (wie Anm. 88), Nr. 133 S. 148 f. 96 UB Stadt Braunschweig 7 (wie Anm. 59), Nr. 1112 b S. 957. 97 Vgl. Barth (wie Anm. 13), S. 136 98 Pfundzollbuch (wie Anm. 10) Nr. 96 S. 27, Nr. 221 S. 48, Nr. 341 S. 63. 99 Sein Haus in der Schützenstraße, vgl. UB Stadt Braunschweig 6 (wie Anm. 4), Nr. 112 a, S. 122. 100 Vgl. Werner Spiess: Die Ratsherren der Hansestadt Braunschweig, 1231-1671. Mit einer verfassungs- geschichtlichen Einleitung. 2. Durch eine Ratslinie verm. Aufl. Braunschweig 1970, S. 260 f. Die drei von Spiess aufgeführten Ratsherren der Altenwiek haben wahrscheinlich nicht dem Gemeinen Rat an- gehört. Sie wurden daher weggelassen. Detlev Hellfaier hat überzeugend dargelegt, dass Hans Meyse d. Ä. und sein gleichnamiger Sohn keine Ratsherren waren, sondern zum Gefolge des Herzogs Ernst gehörten; vgl. ders.: Johannes Meyse Vater (1335-1377) und Sohn (1357-1416). Eine Untersuchung zur Neubildung des Braunschweiger Rates (1374) und zur Biographie zweier Bürger im Gefolge des Her- zogs Ernst von Braunschweig. In: BsJb 55 (1974), S. 46-71. Der Liste hinzugefügt wurde Hannes Al- bertes, für dessen Mitgliedschaft einige Indizien sprechen; vgl. Rotz (wie Anm. 3), S. 122 ff.; Barth (wie Anm. 13), S. 139. Kursiv hervorgehoben sind die nach den Aussagen der Vertriebenen „schicht­ meker“ mit Sitz im Rat. 101 Garzmann (wie Anm. 13), S. 255.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 26 Alexander Herwig nahm, was zu finden war.102 Der Schilderung der Vertriebenen wird durch die Gilden nicht widersprochen, weshalb sie in den Grundzügen auf diese Weise vonstattengegangen sein wird. Zwei Sachverhalte müssen allerdings getrennt voneinander bewertet werden. Erstens: Die übermäßige Gewalt gegen Gebäude, Hausrat und Luxusgüter der Obrigkeit, mitunter auch gegen Angehörige der Geschlechter selbst, wird durch einen ungezügelten Mob ver- übt worden sein. Zu ihm werden wir Teile der Plebs und besonders die Armen rechnen müssen. Augenscheinlich hatten die Anführer des Protestes zu diesem Zeitpunkt keine Kontrolle über diese Gruppe bzw. betrachteten die gewalttätigen Ausschreitungen als Kollateralschäden. Zweitens: Die Inhaftierung zahlreicher Ratsmitglieder und deren Anhänger sowie die Hinrichtung von acht Ratsherren durch die Anführer der Protestbewegung geschehen unter Berufung auf gemeinschaftliche Rechte und Verhaltensweisen.103 Der führende Per- sonenkreis um die Gewandschneider des Hagen sah sich dazu befugt, einzelne Ratsmit- glieder für ihre Verfehlungen wider der civitas, im Namen der Gemeinde ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Das ist ersichtlich, weil viele Bürger aus den angesehensten Familien unangetastet blieben und bereits kurz nach den Ereignissen am Wiederaufbau der Ord- nung beteiligt waren.104 Das lässt wiederum darauf schließen, dass diese Aktion zielge- richtet war und sich auf eine bestimmte Gruppe beschränkte. Überhaupt hat es die Forschung bis heute versäumt, eine plausible Erklärung für die Opfer der Großen Schicht zu finden. Die Kausalitätsfrage wurde zwar ganz allgemein mit der Verantwortlichkeit der Ratsmitglieder beantwortet, warum sich die Gewalt aber allein auf diesen Zirkel beschränkte, ist bisher nicht befriedigend erläutert worden. An dieser Stelle soll der Versuch einer Beweisführung aufgrund einer Indizienkette gewagt werden. Die ersten Todesopfer waren Brun van Ghustede und Hans van Gotinge, die vielleicht noch an Ort und Stelle niedergeschlagen wurden, so jedenfalls deutet es der Brief der aus Braunschweig Vertriebenen an.105 Die Braunschweiger Gilden haben allerdings Affekt- handlungen gegen die Opfer immer bestritten, weshalb auch hier den Hinrichtungen ir- gendeine Art Gerichtsverfahren vorausgegangen sein mag.106 Eine Handlung außerhalb des bestehenden Rechts wird nicht im Sinne der führenden Köpfe der Schicht gewesen sein, da sie Prozesse gegen die Schuldigen anstrebten. Danach zog die Gruppe Richtung Altstadtmarkt, ergriff den Bürgervorsteher Thile van Damme und brannte sein Haus nie-

102 „Se sloghen twe ut deme Rade dot mit exsen unde mit speten unde mit barden, unde schindeden do ere unde ander lude hus, (…)unde vredebrakeden in den husen, unde toslogen dische, kisten unde venster, (…)unde sloghen de wine ud unde breken de kisten up, unde nehmen de phenninghe.“, Brief der Ver- triebenen an die auswärtigen Gilden. In: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 359. 103 Reimann (wie Anm. 2), S. 50. 104 Ebd., S. 49. 105 „Des venghen se den meynen Rad in allen vif wikbelden, unde slogen ute dem Rade mit vorsate Brune von Ghustede unde Hanse von Ghötinghe döt mit exsen unde mid swerden, unde schindeden do ere hus.“,º Brief der Vertriebenen an die Hanse. In: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 346- 348, hier S. 347. 106 Die gleiche These vertreten Reimann (wie Anm. 2), S. 50 und Johanek (wie Anm. 28), S. 69 f.

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der.107 Ihn selbst setzte man zusammen mit Hans van Hemestede, Herman van Gustede und Henningh Loutzeken zunächst gefangen, ehe man sie noch am gleichen Tag „uppe deme markede“ hinrichtete.108 Was Dolle für das Verfahren für van Damme konstatiert, können wir für die anderen drei Opfer übernehmen: „Diese Hinrichtung ohne Gerichts- verfahren sowie das Verwüsten und Abbrennen seines Hauses entsprachen durchaus den Rechtsbräuchen jener Zeit für ein begangenes schweres Unrecht.“109 Zwei Tage später wurden noch an Cord Doring und Ambrosius van Sunnenberch „ok de hovede“ die Todes- urteile vollstreckt.110 Anhänger und der Anhängerschaft Verdächtigte sowie Familien- mitglieder hatte man am ersten Tag eingekerkert, verfestete sie anschließend aus der Stadt, jedoch nicht ohne ihnen vorher die Urfehde abgenommen zu haben, die von den Flüchti- gen natürlich prompt als nichtig erklärt wurde.111 Ob man auf Seiten der Opposition sogar so weit ging, Thile van Damme und Cord Doring, ihres Zeichens „führende Ratsherren“, an eine Schandsäule im Hagen zu fesseln, lässt sich nicht eindeutig ermitteln, da dieser Umstand nur vom schichtboick überliefert ist.112 Das Binden an die Schandsäule stellte im Mittelalter eine Ehrenstrafe dar und wur- de angewendet bei Sittlichkeits-, Fälschungs- und Vermögensdelikten, mithin aber auch bei Ehrverletzungen, Meineid und Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Der so Gerich- tete verlor neben seiner Ehre auch seine bürgerliche Existenz.113 Was aber könnte die Hingerichteten von ihren übrigen Ratskollegen abgehoben haben, dass nur sie dieses schwere Schicksal ereilte? Die Antwort geben die Vertriebenen in ihrem Brief: „Eyn wonheyt was to Brunswig unde van aldere herud ghewesen, dat der eldesten vere ud deme Rade ud der Aldenstad, twe ud deme Hagene, twe ud der Nigenstad, desse achte pleghen to des Rades rekenscop to gande, unde wisten des Rades hemeliche ding, unde

107 „Tylen van deme Damme deme branden se sin husº unde alle dat dar inne was …“, Chroniken der deut- schen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 346-348, hier S. 347. So berichtet auch die Detmar-Chronik, die wo- möglich auf Augenzeugenberichte der Vertriebenen zurückgreifen konnte; vgl. Detmar-Chronik III von 1101-1395. In: Chroniken der deutschen Städte. Bd. 19. bearb. v. Karl Koppmann, S. 187-596; Ein- trag zum Jahre 1374 S. 550: „se wurden den borghermester Tilen van deme Damme mit smaheit vor de stad; se lepen an sin hus unde nehmen wat se vunden; dar mede stickeden se dat an unde brendent to grunde, unde dar na houwen se em den kop af.“ 108 Ebd. Mit „uppe deme markede“ aus dem Brief der Vertriebenen, wird vermutlich der Altstadtmarkt, als politischer Mittelpunkt der Kommune, gemeint sein. 109 Josef Dolle: Art. „Tile von Damm“. In: BBL 2006, S. 701; vgl. Hans Planitz: Die deutsche Stadt im Mittelalter von der Römerzeit bis zu den Zunftkämpfen. Graz 1954, S. 252. 110 Brief der Vertriebenen, in: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 347. 111 Brief der Vertriebenen Cord Backerman, Herman van Ghustede, Ermbrecht und Rolef van Veltstede so- wie Ludolf von Wenthusen an die Bürger der Altenwiek, in: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 362-364, hier S. 362: „Alse gi [der Neue Rat, Anm. d. V.] scriven van orveyde unde von eyden, de we der stad unde den borghern ghesworn hedden, des wetet: wat we to der tyd dar don mos­ ten, … hir umme dat alsodan eyde sin wedder god, wedder recht, wedder ere, wedder ghude wonheyt, unde ok alsodanne bedunghen eyde ok ghestilk recht, keyserrecht, wicbelderecht to holldende.“ 112 schichtboick (wie Anm. 12), S. 312 ff. 113 Wolfgang Schild: Art. „Pranger“. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7. München 1995, Sp. 168-169.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 28 Alexander Herwig anders nemant van den radluden,o unde nemen rekenscop van den kemerern, unde hadden ere rekenscop van manighem jare wol bescreven.“114 Diesem Achter-Ausschuss stand der älteste Ratsherr der Altstadt vor. Thile van Dam- me war seit 1339 Ratsherr dieses Weichbildes (damit dienstältester Ratsherr), spätestens seit 1365 „führender Ratsherr“ (als Vorläufer des Bürgermeisteramtes) und zudem einer der reichsten Einwohner Braunschweigs.115 Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Thile van Damme der einflussreichste Bürger und damit Hauptverantwortlicher für den politischen Kurs der Kommune gewesen ist. Die Missstände des Gemeinwesens wird man also besonders an seiner Person festgemacht haben. Wer wenn nicht er sollte diesem Ge- heimen Rat vorgestanden haben? Wie die Vertriebenen erklären, wurde die städtische Finanzpolitik allein durch dieses Gremium „unde anders nemant van den radluden“ kon- trolliert, und zwar nicht-öffentlich.116 Führen wir die Indizienkette weiter. Neben van Damme kommen noch Cord Doring, Brun van Ghustede und Hans van Hemestede aus der Altstadt, Hans van Gotinge und Herman van Gustede waren Ratsherren des Hagen, Ambrosius van Sunnenberch gehörte dem Neustädter Rat an.117 Henningh Loutzeken wird dagegen als Mitglied des Säcker Rates geführt und ist damit das einzige Mitglied, welches nach der Aufteilung aus dem Raster fällt.118 Inwieweit in Hinblick auf seine lange Ratstätigkeit eine Ausnahme in der Besetzung des Geheimen Rates gemacht wurde, lässt sich vielleicht durch andere Quellen belegen, womöglich aber nicht mehr verifizieren.119 Aus diesem Umstand schloss Hän- selmann einen Zusammenhang zwischen den acht Hingerichteten und dem Ausschuss kategorisch aus.120 Weiterhin ist nur Heinrich Mack auf die Existenz dieses Gremiums eingegangen, ohne allerdings Konsequenzen über Intention, Planmäßigkeit und Charak- ter der Großen Schicht abzuleiten.121 Danach verschwindet dieser Punkt aus der For- schungsdiskussion. Das ist außerordentlich überraschend, ist doch die Übereinstimmung bei sieben der acht Mitglieder evident!

114 Antwort der Vertriebenen auf die Briefe der Braunschweiger Gilden an die Gilden in anderen Hanse- städten, in: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 357-361, hier S. 359. 115 Dolle (wie Anm. 109), S. 701. 116 Brief der Vertriebenen an die auswärtigen Gilden, in: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 359. 117 Die folgenden Weichbildzugehörigkeiten basieren weitestgehend auf Spiess (wie Anm. 100), S. 254 ff. 118 UB Stadt Braunschweig 6 (wie Anm. 4), Nr. 345 S. 422. 119 Der 1408 schriftlich niedergelegte Ordinarius der Stadt beschreibt die Besetzung der Beutelherren, des Nachfolgegremiums des Geheimen Rates, wie folgt: „Vortmer settet unde biddet de ghemeyne rad orer seuene vt deme rade unde radsworen, de der meynen stad vpname vnde vtgyfft vorwaren schullen, alse twe ut der Oldenstad, twe ut dem Haghen, eynen ut der Nigenstad, eynen ut der Oldenwyk, vnde eynen ut dem Sacke. Dussen seuen schal de ghemeyne rad antworden vnde se vpnemen laten alle wat dem rade wird ghebracht in de tollenbode in de beyden zisekesten, dat sy wynzise, beertollen, van den teyghe­ len, van deme Notberghe, Lyntberghe, mettenpenninghe vnde wur van dat sy dat men in de twe zisekes­ ten plecht to schuuende: dar moghen se to gan io ouer de ver wekene edder wan one dat bequeme we­ sen dunket, vnde dat dar vtnemen, vnde vp de muntsmeden bringhen, vnde dar wedder van vtgeuen alse hirna ghescreuen is.“, Urkundenbuch der Stadt Braunschweig. Bd. 1. Hrsg. v. Ludwig Hänsel- mann. Berlin 1873, Nr. 63 Art. 36, S. 156 f. 120 Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 359 Anm. 2. 121 Mack (wie Anm. 4), S. 99.

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Es gibt einen weiteren Hinweis, der auf einen Zusammenhang zwischen den Opfern und dem Geheimen Rat schließen lässt. Denn niemand anderes als die Vertriebenen selbst zie- hen diese Schlussfolgerung (und nebenbei wird diesem Punkt weder vom Neuen Rat noch von den Gilden in Braunschweig widersprochen). In ihrem Brief heißt es nämlich weiter: „… unde hedden ere rekenscop van manighem jare wol bescreven. Hedde me se van en eschet, er se se mordeden, se hedden se en gherne dan, unde de noch leven moghen der vormund- escop wol vore komen vor vorsten unde vor heren, vor stede unde vor alle bederve lude.“o 122 Entgegen der bisherigen Forschungen muss daher festgestellt werden, dass es sich bei den Aktionen gegen Ratsmitglieder sowie deren Angehörige und Sympathisanten um zielgerichtete, eventuell sogar geplante Maßnahmen einer entschlossenen Gruppe von Anführern gehandelt hat. Dabei stehen die Hinrichtungen – nicht Ermordungen (!) – von acht führenden Mitgliedern des Gemeinen Rates in direktem Zusammenhang mit der Existenz eines Gremiums zur Prüfung der städtischen Finanzen, das hier als Geheimer Rat tituliert wurde. Als weiteres Indiz sei angefügt, dass es sich bei allen acht Opfern um die in ihren Weichbilden jeweils dienstältesten Ratsmitglieder gehandelt hat.123 Infolge- dessen ergeben sich klare Abstufungen in den Urteilen gegen die Verantwortlichen der kommunalen Verwaltung: Die Hauptverantwortlichen bezahlen ihre Taten wider die Ge- meinde mit dem Tod, weitere Ratsmitglieder werden ihrer Freiheit beraubt und zunächst in die Kerker gesperrt, ehe sie mitsamt der Mitwisser, Angehörigen und Gesinnungsge- nossen aus der Stadt vertrieben werden.

Im Zentrum des Konfliktes: Das bonum commune und die Legitimitätsfrage

Der Neue Rat und die Gilden in Braunschweig rechtfertigten die Aktionen gegen die Mit- glieder des Geheimen Rates in Schreiben an die Gilden in anderen Hansestädten. Man hatte inzwischen in Braunschweig erfahren, dass die Hanse einen Ausschluss der Stadt aus ihrem Bund erwog.124 Da man bei der patrizisch geführten und durch freundschaft- liche Bande mit den Vertriebenen vernetzten Hanse wenig Erfolg bei einer Intervention auszumachen glaubte, wandten sich die Braunschweiger Gilden an ihre Genossen in Lü- neburg, Lübeck und Hamburg, also vornehmlich an die Städte, in denen die Verfesteten Zuflucht gesucht hatten. Man erklärte, „dat unse unde alle ghilde unde de meynheyt to Brunswig uter mate sere beswaret unde ghedrucket weren van deme Rade darsulves,o also dat se uns unde andern ghilden unde der

122 Antwort der Vertriebenen auf die Briefe der Braunschweiger Gilden an die Gilden in anderen Hanse- städten, in Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 359. 123 Vgl. Die Ratslisten bei Spiess (wie Anm. 100), S. 254-261. 124 „… us hebben wol vorstan laten summelike wise bederve ludeº ud anderen steden, unse vrunde, … dat se alle gilde unde de gantzen menheyt to Brunswig willen vorvolgen, … dat se de kopludeº unde de borghere ghemeynlichen to Brunswig vorwisen willet ute des kopmannes hense unde rechte in allen landen … .“, Brief der Gilden an die Gilden in Lüneburg, Lübeck und Hamburg, gedruckt in: Chroni- ken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 350-351, hier S. 350.

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menheyt groten sulfwolt dicke unde vele bewiseden, unde leten uns in menghen unsen saken nicht to rechte komen.“125 Weiterhin äußerte man „bose vormundescop“ des Rates, der trotz der hohen Steuer- einnahmen „de sted in groten schaden unde in grote scult ghebracht“ hätte.126 Als Be- kräftigung führten die Verfasser an, die Stadtoberen hätten nicht nur eine Kornzise, son- dern zusätzlich Abgaben auf Laken, Häuser, Wein, Bier, Kühe und anderes Vieh, Handelsgüter „unde van anderen dinghen, des vore nicht ghewesen hadde“ beabsichtigt.127 Damit hätte der Rat gegen die Freiheit der Stadt, der Gilden und der Gemeinde versto- ßen.128 Deswegen sei dem Rat diese Schicht widerfahren, an der nicht nur alle Gilden, sondern auch die „meynheyt to Brunswig“ teilgenommen habe. Gleichzeitig weisen sie alle Anschuldigungen des Mordes von sich: „Unde dit ist gheschen openbar mid ordelen unde vor gerichte: des don se sere unrechte alle dejene, de us dar umme vor mordere hal- den willet.“129 Um die Hanse milde zu stimmen, wurde außerdem betont, dass die Be- hauptungen, die Schicht sei auch gegen die Kaufmannschaft gerichtet gewesen, falsch sei und man hoffe, „ghildebrodere, koploude unde meynheyt to Brunswig an dessen saken nicht [to] vorunrechten“.130 So entspann sich also ein Rechtsstreit, in dem die Vertriebenen verlauten ließen, der Rat habe die Gilden und die Meinheit bei allen Rechten gelassen.131 Diese dagegen hätten den Rat hintergangen, ihn vertrieben und Teile von ihm ermordet, „unvorclaget vor eren herren eder vor jemande, ane gherichte“132. Dabei hätten vor den Toren der Stadt neben Herzog Albrecht von Braunschweig-Lüneburg noch ein Hildesheimer Jurist mitsamt einer Abordnung von Ratsmitgliedern aus Hildesheim, und Helmstedt ihre Vermittlung angeboten.133 Ein wenig makaber mutet der Vorwurf an: „Eyn wohnheyt was to Brunswig … dat der eldesten achte [ud deme Rade] pleghen to des Rades rekenscop to gande … . Hedde me se van en eschet [aufgefordert, Anm. d. V.], er se se mordeden, se hedden se en gherne dan … .134 Die Erklärung der Gilden, man habe über die Schuldigen zu Gericht gesessen, kontrastieren sie mit den gewaltsamen Ausschreitungen. Die Taten seien alle ohne Richter mit „sulfwolt“ und „unrechte“ begangen worden.135 Das Recht der Anhö- rung sei missachtet und vollendete Tatsachen geschaffen worden. Insgesamt sei die Schicht „wedder ere unde wedder ghoude wonheyt“ – niemand habe das Recht auf Selbst- justiz. Die Vertriebenen hätten sich an die Seestädte gewandt, weil ihre Stimme in diesem Prozess sonst nicht gehört würde.

125 Ebd., S. 350. „Sulfwolt“, eigentlich „Selbsthilfe, eigenmächtige Gewalttat“, meint hier die Unterminie- rung und Beschneidung bürgerlicher Rechte; vgl. Barth (wie Anm. 13), S. 170. 126 Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 350. 127 Ebd. 128 Ebd., S. 350 f. 129 Ebd., S. 351. 130 Ebd. 131 Brief der Vertriebenen vermutlich an die Gilden in Lüneburg, Lübeck und Hamburg, gedruckt in: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 357-361, hier S. 358. 132 Ebd. 133 Ebd. 134 Ebd., S. 359. 135 Ebd.

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Der Brief der Vertriebenen erweckt den Anschein, als sei grundsätzlich ein Protest in der Stadt zugelassen, wenn er sich an die hergebrachten Regeln hielte. Bei genauerer Be- trachtung ist jedoch die Strategie der Obrigkeit, Protest und Widerstand in der Kommune zu kanalisieren, ja zu kriminalisieren, erkennbar.136 Dazu gehörte insbesondere die An- weisung, verdächtige Aktivitäten gegen Stadt und Rat umgehend zu melden.137 Dies hätte die Bürgergemeinde dem Alten Rat jährlich durch ihren Eid geschworen und somit Eid- bruch begangen.138 Der sich jährlich wiederholende Schwur der Bürger war eine eidliche Selbstbindung (coniuratio reiterata) an das ius civitatis. Die Gemeinde erklärte damit, dem Rat als ihrem legitimen Vertreter sowohl dienlich als auch gehorsam zu sein.139 Der Bürgerverband „er- mächtigte dadurch das Stadtregiment zur Normgebung und unterwarf sich in seinem Ge- horsamseid im vornhinein den neuen Satzungen“140. Die bürgerliche coniuratio schaffte einen befriedeten Bezirk, in der sich alle Mitglieder dem städtischen Recht unterwar- fen.141 Wer den Eid nicht leistete, sollte die durch die Stadt gewährte pax iurata nicht ge- nießen.142 Die sogenannte Einung der Bürgergemeinde durch den geschlossenen Frieden galt ursprünglich nur für einen bestimmten Zeitraum. Meist musste der Schwur bei der Neubesetzung des Ratskollegiums in jährlichem Turnus erneuert werden.143 „Die Wirk- samkeit des Eides führte zu seiner universellen Verwendung, die wiederum eine starre Norm bewirkte.“144 Die in ihren Anfängen auf Interessenkonformität basierende Kommu- nenbildung verklärte sich zu einem autokratischen Gefüge, in dem die ratsfähigen Ge- schlechter mehr und mehr die Vormachtstellung errangen. Laut Ebel war Mitte des 13. Jahrhunderts die Entwicklung des freien Eides hin zur Eidespflicht vollzogen.145 Die Stadt gewährleistete üblicherweise einen „Zustand der Gewaltlosigkeit mit den Merkmalen der Sicherheit (securitas) im Recht und vor (unrechter) Gewalt, der Ruhe (tranquillitas, Ruhe und Gemach) sowie im Sinne der Abwesenheit oder des Verbots von

136 Ehbrecht (wie Anm. 33), S. 301. 137 Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 358, 138 Brief der Vertriebenen an die Altewiek, in: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 362-364, hier S. 362 f. 139 Vgl. Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250-1500. Stadtgestalt, Recht, Stadt- regiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. Stuttgart 1988, S. 81, 91; Wilhelm Ebel: Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts. Weimar 1958, S. 23. 140 Isenmann (wie Anm. 139), S. 81; vgl. Ebel (wie Anm. 139), S. 39: „Der Rat kann aber durch den Ge- horsamseid auch zum Legislativgebot ermächtigt (zumindest: anerkannt) sein, der Eid also das schon vorhandene wie das zukünftige, vom Rat zu setzende und den Bürgern zur Nachachtung zu gebietende Willkürrecht umfassen (…)“. 141 Ebel (wie Anm. 139), S. 5 u. 11; vgl. Lothar Kolmer: Promissorische Eide im Mittelalter. Kalmünz 1989, S. 214; Otto Brunner: Stadt und Bürgertum in der europäischen Geschichte. In: ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1968, S. 213-224, hier S. 221; Otto Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft. Berlin 1868, S. 255. 142 Ebel (wie Anm. 139), S. 48 ff. 143 Kolmer (wie Anm. 141), S. 211. 144 Ebd., S. 214. 145 Ebd.

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Blutrache, Fehde und anderen Formen der Selbsthilfe“146. Der städtische Bürger hatte demnach eine ausgesprochene Friedenspflicht. „Das Friedensgebot diente als Mittel der Friedensbewahrung dem Ziel, einen Streit möglichst durch Vergleich und Sühne zu be- enden, es gar nicht erst zu einem Gerichtsurteil kommen zu lassen. Denn das Urteil be- endete zwar den Rechtsstreit, den Krieg des Rechtes, war aber weniger geeignet, tatsäch- lichen sozialen Frieden zu stiften (…).“147 Der städtische Frieden beruhte in besonderer Weise im Gesamtschwur der Bürgerversammlung und des Rates und ist eng mit dem Leitmotiv der Eintracht (concordia) verknüpft.148 Beide sind Bedingung für die Heraus- bildung des „gemeinen Nutzens“ (bonum commune, salus publica). Jeder Rat musste sich in Interdependenz zur Bürgerversammlung dazu verpflichten, das bonum commune zu mehren und Schaden von der Stadt abzuwenden.149 „Das gemeyne beste aber bedeutete zunächst im Sinne einer Minimaldefinition die Verminderung des sozialen Konflikt- stoffs.“150 Eine „Verringerung der potentiellen Konflikthaftigkeit“151 durch Regle­ mentierung des alltäglichen Lebens in Form von Direktiven sollte die Handlungsfreiheit der Kommune gewährleisten. Außerhalb der Urbanität stellte das bonum commune keine besondere Handlungsanweisung dar.152 „Es war die Ausnahmestellung der Stadt in ihrem politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umfeld, in der das städtische Satzungsrecht begründet und durch die es legitimiert war.“153 Im weiten Beziehungsgeflecht der Kommune waren Spannungen vorprogrammiert, auch weil der subjektiven Rechtsauffassung ein weiter Raum konzediert wurde.154 Es war daher von Bedeutung, Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln, um die Handlungsfähig- keit und die wie auch immer geartete Autonomie der Kommune nicht zu gefährden. So musste nach jeder Auseinandersetzung zwischen Rat und Bürgerschaft der Stadtfrieden neu geschworen werden. Mitunter wurden Konflikte auch mit Friedebriefen beigelegt, die durch Kompromiss eine Vermittlung zwischen den Konfliktparteien herbeiführen soll- te.155

146 Isenmann (wie Anm. 139), S. 74. 147 Ebd., S. 75. 148 Ebd., S. 91. Der Stellenwert der concordia lässt sich heute noch eindrucksvoll an der Inschrift des Lü- becker Holstentores ablesen: „Concordia domi, foris pax.“ – Einheit nach innen, Frieden nach außen. 149 Wilfried Ehbrecht: Bürgertum und Obrigkeit in den hansischen Städten des Spätmittelalters. In: Wil- helm Rausch (Hrsg.): Die Stadt am Ausgang des Mittelalters. Linz a. d. Donau 1974, 275-302, hier: S. 276. Eine gute Zusammenfassung zum wechselseitigen Verhältnis von Rat und Gemeinde liefert Blickle(wie Anm. 15), S. 54. 150 Wilhelm Janssen: Städtische Statuten und landesherrliche Gesetze im Erzstift Köln und im Herzogtum Kleve (1350-1550). In: Giorgio Chittolini; Dietmar Willoweit (Hrsg.): Statuten, Städte und Territo- rien zwischen Mittelalter und Neuzeit in Italien und Deutschland, Berlin 1992, S. 271-294, hier S. 288. 151 Pierangelo Schiera: „Bonum Commune“ zwischen Mittelalter und Neuzeit. Überlegungen zur substanziel- len Grundlage der modernen Politik. In: Archiv für Kulturgeschichte 81 (1999), S. 283-303, hier S. 294. 152 Ebd., S. 297. 153 Janssen (wie Anm. 150), S. 289. 154 Alfred Haverkamp: „Innerstädte Auseinandersetzungen“ und überlokale Zusammenhänge in deut- schen Städten während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In: Reinhard Elze; Gina Fasoli (Hrsg.): Stadtadel und Bürgertum in den italienischen und deutschen Städten des Spätmittelalters. Berlin 1991, S. 89-126; hier S. 99 f. 155 Kannowski (wie Anm. 13), S. 2.

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In Braunschweig scheint der Rat als oberste Instanz in seinen Entscheidungen eine relative Autonomie gegenüber der Gesamtgemeinde erlangt zu haben, da beispielsweise die Gildemeister nur noch in Ausnahmefällen zur Beschlussfassung hinzugezogen wur- den. Zweimal im Jahr (in der Woche nach Quasimodogeniti und nach Michaelis) wurde das sogenannte Echteding (im niederdeutschen Stadtrechtsbezirk auch Bursprake ge- nannt) verlesen, eine Zusammenstellung der örtlichen Rechtsregeln.156 Die Verlesung der Stadtrechtsbücher erinnerte die Gemeinde an den Kodex ihrer eidlichen Bindung und an das Friedensgebot.157 Die von der Forschung herausgearbeiteten generellen Verlaufsformen für Unruhen158 sind auch auf die Große Schicht übertragbar. Das Zusammenrufen der Gemeinde bei be- gangenem oder empfundenem Unrecht entsprach den gegebenen Rechtsverhältnissen der universitas civium.159 Der „oplouf“ („Auflauf“) oder „Bannerlauf“ der Bürgergemeinde stand üblicherweise am Beginn der Erhebung.160So schließt sich auch in Braunschweig die Gemeinde zu einer „sammenunge“, einem Schwurverband, zusammen, besetzt die Stadttore und übernimmt die Kontrolle über den Rat.161 „Zwar besteht zwischen Rat und Bürgerschaft ein wechselseitiges Verhältnis von Schutz und Gehorsam, doch als Schwur- verband sieht die Gemeinde im Rat ihr repräsentatives Organ, nicht ihre Obrigkeit … .“162 Während eigenmächtige Gewaltmaßnahmen (sulfwolt) von Bürgern Friedensbruch und damit Eidbruch darstellten (die im schlimmsten Fall mit Verbannung aus der Stadt und der Zerstörung des Hauses geahndet wurden)163, galt den Zeitgenossen der in die Öffent- lichkeit getragene Protest mittels Schwureinung als durchaus legitim.164 Um der Gefahr einer solchen Einung zu begegnen, wurde bereits früh die Meldepflicht für Aufruhr- und Verschwörungsversuche gegen den Rat in die Rechtsstatuten aufgenommen. In Braun- schweig wird Aufruhr oder Verschwörung gegen den Rat spätestens seit 1293 offiziell unter Strafe gestellt.165 Eidbrüchige standen mit „liff vnde guth (…) in des rades gewalt“, in des Rates Gnade oder sie mussten „an des rades mynne leven“.166 Die Chronistik hat in vielen Fällen eine verzerrte Darstellung einer ihr Recht wahr- nehmenden Bürgerschaft hin zu „schichtmekern“ und Aufrührern vermittelt, was im All-

156 Ebel (wie Anm. 139), S. 34; vgl. Ordinarius, gedruckt in: UB Stadt Braunschweig 1 (wie Anm. 119), Nr. 63, Art. 131 S. 179: „Vortmer in der ersten weken na sunte Micheles daghe alle iar schal de rad dat echte dingh kundeghen laten, vnde schal me dat holden myt lüdende vnde myt den richten to kundeg­ hende in den wykbelden alse vorscreuen is des mandaghes na Quasimodogeniti.“ 157 Ebel (wie Anm. 139), S. 34. Bei der Verlesung ging man wegen des Umfanges der Stadtrechtsbücher bald dazu über, eine Auswahl der wichtigsten zu verlesen; vgl. ebd., S. 34. 158 Vgl. Blickle(wie Anm. 15), S. 54. 159 Kannowski (wie Anm. 13), S. 64; Reimann (wie Anm. 2), S. 131; Wilfried Ehbrecht: Art. „Auf- ruhr“. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1. München 1980, Sp. 1206 f. 160 Kannowski (wie Anm. 13), S. 64. 161 Blickle (wie Anm. 15), S. 54. 162 Ebd., S. 54. 163 Insbesondere wenn sich die Tat gegen die Gemeinschaft richtete; Isenmann (wie Anm. 139): Deutsche Stadt, S. 75 u. 90; Ebel (wie Anm. 139), S. 3. 164 Vgl. Ehbrecht (wie Anm. 149), S. 276 f. 165 Vgl. Vertrag zwischen Rat und aufständischen Gilden vom 5. Aug. 1293, gedruckt in: UB Stadt Braun- schweig 1 (wie Anm. 119), Nr. 11 S. 16. 166 Ebd. Nr. 11, 39, 53, 61, 62.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 34 Alexander Herwig

gemeinen daraus resultierte, dass sie Instrument der herrschenden Obrigkeit war, gegen die sich der Protest richtete. Oft wähnte man das Wirken des douvels (Teufels) in den Erhebungen, der Eintracht und Ordnung der Stadtgemeinde gefährdete.167 Wo die For- schung früher oft diesen Vorstellungen gefolgt ist, haben neuere Untersuchungen ein dif- ferenziertes Bild entworfen. Im Fall von Braunschweig sahen sich die Bürger nicht mehr an ihren Eid gebunden, da der Rat bereits durch seine verfehlte (Finanz-) Politik das bonum commune verletzt und den Eidbruch herbeigeführt hatte.168 Die Gemeinde der Bürger, also die Gemeinschaft jener, die das Bürgerrecht inne hatten, nimmt hier ein im Gewohnheitsrecht verankertes Widerstands- recht war und versucht „auf dem Boden des Rechts bleibend zu handeln“.169 Dies ist für die Gruppe um die Anführer zu konstatieren, denen ein Großteil der genossenschaftlichen Ge- meinschaft zuzurechnen ist. Eben jene erklären ja, die Aktionen seien „gheschen openbar mid ordelen unde vor gerichte“.170 Auch die Vertriebenen räumen ein, dass die Opfer nicht hinterrücks erschlagen wurden, sondern an zentrale öffentliche Orte gebracht wurden.171 Damit ist die Frage nach der Legitimität jedoch nicht beantwortet. Nach Peter Blickle ist für einen verfassungskonformen Protest die Frage nach der Herrschaftsform entscheidend. Wenn die Kommune auf dem genossenschaftlichen Prinzip basiert bzw. der Rat lediglich Exekutivorgan der Gemeinde ist, ist der Widerstand durch einen Schwurverband legitim.172 Nun muss im Braunschweiger Fall festgestellt werden, dass die ratsfähigen Geschlechter zu- nehmend eine Patrizierherrschaft aufgebaut hatten, die erst nach der Großen Schicht durch die Verfassungsreform von 1386 vom genossenschaftlichen Prinzip (wenigstens de jure) ab- gelöst wurde.173 De facto blieb das Regiment aber in der Hand der neugebildeten ministeria- len Führungsschicht aus alteingesessenen Geschlechtern und homines novi. Der Aufruhr kann anhand der Gegebenheiten als verfassungsmäßig gelten, wenn nämlich die Aussagen der Beteiligten zu einer Beurteilung hinzugezogen werden. Die Vertriebenen geben selbst an, dass der Alte Rat mit Kaufleuten, Gewandschneidern, Wechslern, Lakenmachern, Gerbern, Beckenwerkern, Kramern, Schuhmachern, Schmie- den und Kesselgießern besetzt gewesen sei.174 In diesem Zusammenhang müssen diese

167 Auch die Detmar-Chronik sieht in Aufständischen in Braunschweig das Werk des Teufels; vgl. Chro- niken der deutschen Städte 19 (wie Anm. 107), S. 549. 168 „… dar de Rad alle ghilde unde de meynheyt to Brunswig medde vorunrechtet unde beswaret hadde, is deme Rade disse schicht wedervaren.“, Brief der Gilden an die Gilden in Lüneburg, Lübeck und Ham- burg, in: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 350-351, hier S. 351. 169 Reimann (wie Anm. 2), S. 48. 170 Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 351. 171 „… de hovede af uppe deme markede“, Brief der Vertriebenen an die Hanse, in: Chroniken der deut- schen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 346-348, hier S. 347. 172 Vgl. Blickle(wie Anm. 15), S. 54. 173 Lediglich 25 der 103 Sitze wurden nun durch die Weichbilde besetzt; vgl. Matthias Puhle: Die Braun- schweiger „Schichten“ (Aufstände) des Späten Mittelalters und ihre verfassungsrechtlichen Folgen. In: Manfred R. W. Garzmann (Hrsg.): Rat und Verfassung im mittelalterlichen Braunschweig. Braun- schweig 1986, S. 235-251, hier S. 245. 174 Brief der Vertriebenen an die auswärtigen Gilden, gedruckt in: Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 357-361, hier S. 358. Dass die Mitglieder tatsächlich noch handwerklichen Tätigkeiten nachgingen, ist auf Grundlage des Ehrenamtes und der Abkömmlichkeit die das Ratsamt forderte und mit sich brachte, äußerst zweifelhaft; vgl. Kannowski (wie Anm. 13), S. 174 f.

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Behauptungen weder der Verfassungsnorm noch der Verfassungswirklichkeit entspre- chen. Zwar ist klar, dass sie damit etwas völlig anderes bezwecken wollten, in die Öffent- lichkeit wird dadurch aber das Bild einer genossenschaftlichen Einung transportiert. Auch an anderer Stelle teilen sie die Ansicht, Widerstand in der kommunalen Gesellschaft sei grundsätzlich legitim.175 Demnach müsste nach zeitgenössischem Denken die Große Schicht grundsätzlich in verfassungskonformen Bahnen verlaufen sein. Dem ist nur hin- zuzufügen, dass die Gilden explizit die Verantwortung für den Tod der acht Ratsherren übernehmen.176 Ein solches Verfahren ist nur schlüssig, „wenn sie nicht das untrügliche Gefühl hatten, im Recht zu sein“.177 Dies ist insofern nicht überraschend, als sich, wie Barth überzeugend dargelegt hat, beide Parteien dieselben Wertvorstellungen teilten.178

Die Große Schicht in Braunschweig: Eine Verfassungskrise

Nachdem die Legitimität des Aufstandes festgestellt worden ist, bedarf es der Klärung der Frage, welcher Art von Protestform die Große Schicht in Braunschweig zuzuordnen ist. In der Forschung sind die konfliktartigen Vorgänge in spätmittelalterlichen Städten mit Begriffen wie „Bürgerunruhen“, „Zunftunruhen“, „Zunftrevolution“ oder „Kommunenbewegung“ be- schrieben worden. Die nahezu wertfreie Bezeichnung „Stadtkonflikt“ scheint derzeit kaum noch Verwendung zu finden. Blickle fasst die Begebenheiten allgemein unter „Unruhen“ zusammen, die „Protesthandlungen von (mehrheitlich allen) Untertanen einer Obrigkeit zur Behauptung und/oder Durchsetzung ihrer Interessen und Wertvorstellungen“ sind.179 Freilich möchte er diesen nicht zu einem Wissenschaftsbegriff erheben.180 Maschke sieht in der Antagonie zwischen Patriziat und Zünften die entscheidende Triebfeder für Aufstände. Dabei bildet die Bürgerschaft „das aggressive Element, das auf Veränderungen drängt“.181 Der DDR-Historiker Karl Czok brachte die „Auseinandersetzungen der bürgerlichen Opposition mit den machthabenden Geschlechtern oder Patriziern“ auf den kleinsten ge- meinsamen Nenner und nannte sie „Bürgerkämpfe“.182 Die Benennung fand insgesamt positive Aufnahme durch die Forschung.183 Im Gegensatz zu den oben genannten Be-

175 Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 360. 176 Das schichtboick spricht von einem neunten Opfer, einem Ratsherrn aus dem Sack, der den Aufstän- dischen am Beginn der Erhebung entgegengetreten sein soll und dafür erschlagen wurde. Da die Ver- triebenen diesen Vorfall nicht aufführen, obwohl er ihnen zum Vorteil gereicht hätte, muss die Darstel- lung stark bezweifelt werden; vgl. schichtboick (wie Anm. 12), S. 313 f. 177 Kannowski (wie Anm. 13), S. 53; Reimann (wie Anm. 2), S. 50. 178 Barth (wie Anm. 13), S. 171. 179 Blickle (wie Anm. 15), S. 5. 180 Ebd. 181 . Ebd., S. 8 182 Karl Czok: Zunftkämpfe, Zunftrevolution oder Bürgerkämpfe. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig 8 (1958/59), S. 129-143, hier S. 143. 183 Wilfried Ehbrecht: Art. „Bürgerkämpfe, städtische“. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 2. München 1983, Sp. 1046 f.; vgl. Johanek (wie Anm. 28), S. 55; Isenmann (wie Anm. 139), S. 195 f.; Kannowski (wie Anm. 13), S. 9 f.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 36 Alexander Herwig griffsbestimmungen „Zunftunruhen“ und „Zunftrevolution“ vermag „Bürgerkämpfe“ den Charakter der Auseinandersetzungen besser einzufangen. Gerade hinsichtlich der Großen Schicht in Braunschweig verbietet sich die Bezeichnung als „Zunftunruhen“. Wie gezeigt wurde, ist es vor allem eine wirtschaftlich-sozial herausgehobene Gruppe von Kaufleuten, die politische Teilhabe am Stadtregiment fordert. Zwar können sie nach den Abschließun- gen der Geschlechter nur im Verbund mit Gilden und Gemeinde eine gewaltsame Verän- derung herbeiführen, insgesamt geht aber weder die Initiative noch die Führerschaft ihres Protestes von den Gilden aus. Auch eine einfache Übernahme der Programmatik des Begriffs „Bürgerkämpfe“ im Sinne Czoks birgt Hindernisse. Czok lehnte die Bezeichnung „Verfassungskämpfe“ für den Untersuchungsgegenstand stets ab. Bei den Erhebungen sei es nicht um Verfassungs- fragen, sondern um Macht gegangen.184 Beachtet man allerdings die Verfassungsrefor- men, die wiederholt das Ende einer städtischen Krise eingeläutet haben185 (in Braun- schweig die Verfassungsreform von 1386, der Große Brief von 1445), muss ein Nexus zwischen beiden Phänomenen bestanden haben. Legt man für den Begriff „Verfassung“ die Definition von Willoweit zugrunde, wonach sie „diejenigen rechtlichen Regeln und Strukturen, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen“186 umfasst, dann muss die Verfassungsfrage als Streitgegenstand bei städtischen Unruhen angesehen werden.187 „Die Frage nach … Kontrolle der Finanzpolitik des Rates durch Institutionen der Bürgergemeinde ist eine Frage nach Prinzipien, welche für die politische Ordnung fundamental sind“.188 Gleiches gilt im übrigen für die Vorenthaltung bestimmter Rechte durch eine abgeschlossene Gruppe privilegierter Mitglieder der Stadtgemeinde.189 Fragen der Verfassung und der Macht bedingen sich hier reziprok. Unter diesen Gesichtspunkten ist die Große Schicht in Braunschweig in erster Linie als Krise der Verfassung zu werten. Czok verkennt, wie Kannowski überzeugend dargelegt hat, die rechtlichen Aspekte des Protestes, „ob die Handelnden sich an Regeln orientieren, die sie für verbindlich erachten und wie diese gegebenenfalls beschaffen sind“190. „Die bürgerliche Opposition erstrebte die Änderung von Vorschriften, die das Ge- meinwesen prägten. Diese Novellierung wollten sie … rechtsförmlich beziehungsweise schriftlich fixiert haben.“191 Deshalb sind „Bürgerkämpfe“ im engeren Sinne als Verfas- sungskonflikte zu charakterisieren. Die Große Schicht in Braunschweig war in erster Linie ein Verfassungskonflikt. Auf- strebende Kaufleute suchten eine Reform des geltenden Herrschaftssystems, um am Ge- meinderegiment zu partizipieren. Dabei intendierten sie keine Revolution der bestehen- den Ordnung, sondern beriefen sich dagegen ausdrücklich auf bestehendes gutes Recht.

184 Czok (wie Anm. 182), S. 133, 142. 185 Was übrigens auch Czok als Ansicht vertrat; vgl. ders. (wie Anm. 13), S. 37. 186 Dietmar Willoweit: Deutsche Verfassungsgeschichte vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. Ein Studienbuch. München 2005, S. 2. 187 Kannowski (wie Anm. 13), S. 66. 188 Ebd. 189 Ebd. 190 Ebd.; vgl. Willoweit (wie Anm. 186), S. 3. 191 Kannowski (wie Anm. 13), S. 67 f.

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In der Lokalgeschichtsschreibung wurde versucht, die Ereignisse der Schicht mit einem fortschreitenden „Demokratisierungsprozess“ zu umschreiben. Anhänger dieser These wa- ren insbesondere Hänselmann und Spiess.192 Die Große Schicht sei dabei ein wichtiges Etappenziel gewesen, ehe der demokratische Gedanke im Großen Brief von 1445 seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht habe.193 Spiess und Zwing beschrieben die Vorgänge in Braunschweig zudem als „revolutionär“.194 Von einer Revolution kann aber keine Rede sein, da nur eine Reform, ein „größerer Anteil an der Macht und eine Verbreiterung der Macht- basis innerhalb der städtischen Gesellschaft als Grundlage eines ansonsten unveränderten Herrschaftssystems das Ziel der Aufständischen“, erreicht wurde.195 Dabei muss angemerkt werden, dass die bestehenden städtischen Ordnungen in der Regel keine friedlichen Lösun- gen zur Änderung oder Reform vorsahen, wenn sich die jeweils herrschende Obrigkeit als reformresistent erwies. Somit blieb ein Aufstand die mehr oder weniger einzige Alternative, eine Änderung der Verfassungsgegebenheiten herbeizuführen.196 Die homines novi wollten keine Revolution, sondern lediglich eine Reform des städti- schen Herrschaftssystems.197 Allerdings konnten sie erst in der Allianz mit den Hand- werkern, die ihnen die nötige Stoßkraft verlieh, auf eine Änderung des Status quo hof- fen.198 Bei der untersuchten Opposition gegen die Geschlechterherrschaft handelte es sich, wie gezeigt, nicht allein um Handwerker, ihr gehörten vom „finanzkräftigen Kaufmann“ bis zum „ärmsten Bewohner“ sogar einzelne Mitglieder der Geschlechter an.199 Damit verlieren die Begriffe „Zunftkämpfe“ und speziell „Zunftrevolution“ ihre Berechtigung. Auch die These nach einem Demokratisierungsprozess muss als anachronistisch zu- rückgewiesen werden. Die Verfassungsreform von 1386, die die Ratsbeteiligung über- wiegend auf das genossenschaftliche System aufbaute, verschleierte die reale Machtkon- stellation, sah diese doch ein Übergewicht der Geschlechter und homines novi vor, die zusammen das „neue braunschweigische Patriziat“ bildeten.200 Sobald sie ihre Positionen (wieder-) erlangt hatten, schirmten sie ihre Privilegien gegen nachstoßende Bevölkerungs- gruppen ab. Letztlich bewirkte die Große Schicht daher nur eine Verteilung der Macht auf eine breitere Basis, eine Oligarchisierung.

192 Chroniken der deutschen Städte 6 (wie Anm. 1), S. 124; Werner Spiess: Die Goldschmiede, Gerber und Schuster in Braunschweig. Meisterverzeichnisse und Gildefamilien, Braunschweig 1958, S. 10. 193 Werner Spiess: Fernhändlerschicht und Handwerkermasse in Braunschweig bis zur Mitte des 15. Jahr- hunderts. In: Hansische Geschichtsblätter 63 (1938), S. 49-85, hier S. 82. 194 Spiess (wie Anm. 192), S. 13 Anm. 10 u. ders. (wie Anm. 13), S. 26; Zwing: Klassenkämpfe, S. 12 ff. 195 Martin Kintzinger: Handwerk, Zunft und Stadt im Mittelalter. In: ders. (Hrsg.): Handwerk in Braun- schweig. Entstehung und Entwicklung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Braunschweig 2000, 13-64, hier: S. 46. 196 Rhiman Alfred Rotz: Investigating Urban Uprisings with Examples from Hanseatic Towns, 1374-1416. In: William C. Jordan; Bruce McNab; Teofilo F. Ruiz (Hrsg.): Order and Innovation in the Middle Ages: Essays in Honor of Joseph R. Strayer, New Jersey 1976, S. 215-236, hier S. 232. 197 Kintzinger (wie Anm. 195), S. 46. 198 Rotz (wie Anm. 3), S. 213. 199 Garzmann (wie Anm. 13), S. 255; Czok (wie Anm. 13), S. 35 sowie Reimann, Rotz und Bohmbach in verschiedenen Arbeiten. 200 Spiess (wie Anm. 13), S. 26; Reimann (wie Anm. 2), S. 79 f.; Czok (wie Anm. 13), S. 45; Rotz (wie Anm. 43), S. 71.

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Schlussbetrachtung

Die Häufung von städtischen Unruhen gerade in Bezug auf Hansestädte hat in der For- schung immer wieder Fragen zu übergreifenden „Grundtendenzen allgemeiner Natur“201 hervorgerufen, die heute abstrahiert werden auf folgende Charakteristika: – Beschränkung der Ratsfähigkeit in den Städten auf einen kleinen Kreis alteingesesse- ner Familien (Patriziat), – den ökonomischen Aufstieg einiger Handwerker durch Verlagerung auf kaufmänni- sche Tätigkeiten und das Verlagssystem bei Vorenthaltung der politischen Partizipa- tion am Gemeinderegiment, – Amtsmissbrauch einiger weniger bis nahezu aller Mitglieder des Rates sowie Erhö- hung von Steuern infolge diskreditierter städtischer Haushalte beispielsweise durch kostspielige Erwerbungen von Privilegien bzw. durch Investitionen in die städtische Landgebietspolitik.202 Diese Entwicklung vollzieht sich in ihren Grundzügen auch in der Vorzeit der Großen Schicht. Im Gegensatz zu vorangehenden Erhebungen ist dieser Protest erfolgreich, da erstmals die Mehrheit der Gemeinde mobilisiert werden kann. Wie gezeigt wurde, besteht dabei keine vollständige Übereinstimmung in den Anführern der Schicht und den Mit- gliedern des ersten Neuen Rates. Während sich Handwerk und Gewerbe unter den führen- den Köpfen des Aufstandes noch die Waage halten, dominiert das kaufmännische Ele- ment unter den neuen Ratsherren. Beiden gemeinsam ist jedoch das Übergewicht des Hagen, das zunächst die Altstadt als führendes Weichbild ablöst. Angehörige der Ge- schlechter waren im Neuen Rat zunächst nicht vertreten. Hinsichtlich des Protestes müssen zwei Gruppen voneinander getrennt betrachtet wer- den. Die Zerstörungen und Plünderungen gehen auf das Konto eines gewalttätigen Mobs verschiedener Schichtungen, während die Anführer der Protestbewegung bei der Inhaftie- rung und Hinrichtung einzelner Gemeindevorsteher auf die Einhaltung geltenden Rechts bedacht sind. Sie lassen die Mitglieder eines Gremiums der geheimen kommunalen Fi- nanzverwaltung, hier als Geheimer Rat in die Forschungsdiskussion eingeführt, hinrich- ten. Rat und Gilden in Braunschweig rechtfertigten ihr Vorgehen mit böser Vormund- schaft des Alten Rates, insbesondere der Verletzung des bonum commune durch finan- zielle Misswirtschaft trotz erhöhten Steueraufkommens. Sie betonten, gerechte Urteile im Sinne der Anklage gefällt zu haben. Es entwickelt sich ein Rechtsstreit zwischen den aus Braunschweig Vertriebenen und den neuen Machthabern, in dessen Verlauf sich die Ge- schlechter an die Hanse um Vermittlung wenden. Die obrigkeitlichen Tendenzen der Kri- minalisierung ungewollter Elemente in der spätmittelalterlichen Stadt zum Zwecke der Herrschaftssicherung treten auch im Braunschweiger Fall deutlich zu Tage. Der Protest der Gemeinde beruhte dabei durchaus auf dem im Gewohnheitsrecht ver- ankerten Widerstandsrecht. Die Herrschenden hatten den wechselseitig geleisteten Eid

201 Puhle (wie Anm. 13), S. 121. 202 Ähnliche Beispiele gibt es für Bremen (Hill (wie Anm. 51), S. 247, 277 ff.) und Lübeck (Düker (wie Anm. 21), S. 20 ff.).

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Die Große Schicht in Braunschweig als Verfassungskrise 39 zwischen Rat und Bürgergemeinde gebrochen, wobei zu vernachlässigen ist, ob es sich um tatsächliche oder nur subjektiv empfundene Verfehlungen gehandelt hat. Bei den füh- renden Oppositionellen ist innerhalb der Erhebung der Wille, auf Grundlage geltenden Rechts zu handeln, deutlich spürbar. Da auch die Vertriebenen dem Widerstand in der kommunalen Gesellschaft durchaus Existenzberechtigung einräumen, ist der Protest als legitim anzusehen. Dass die Gilden explizit die Verantwortung für die Hinrichtung der Ratsherren übernehmen, stützt diese These. Im Ergebnis handelt es sich bei der Großen Schicht in Braunschweig um einen durch sozio-ökonomische Veränderungen herbeigeführten Verfassungskonflikt. Die oppositio- nellen Gruppen verfolgten dabei keine Revolution der bestehenden Ordnung, sondern le- diglich eine Verfassungsreform. Die Ergebnisse der Schicht sind statt als Demokratisie- rung besser als Ausweitung der Oligarchie (Aristokratie) zu beschreiben, da das Übergewicht in der Stadtpolitik von den Geschlechtern auf das „neue Patriziat“ überging.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Das Schwankbuch von Till Eulenspiegel – ein Buch aus Braunschweig. Bewährte und neue Argumente

von

Herbert Blume

1.

Das Jahr 2011 war – im Hinblick auf die alljährlich anfallenden Jubiläen – neben anderem auch ein „Jahr des Eulenspiegelbuchs“. Die Aufschrift „500 Jahre Till Eulenspiegel“ auf einer zu diesem Anlass von der Deutschen Post herausgegebenen Sonderbriefmarke trifft das, worum es ging, allerdings nur ungefähr, denn die Existenz der literarischen Figur Eulenspiegel ist nicht erst seit 1511, sondern schon seit 1411 schriftlich bezeugt.1 Doch unterstellen wir gern, dass das kürzere Wort Eulenspiegel an dieser Stelle nicht irrtüm- lich, sondern metonymisch für das eigentlich gemeinte, aber längere Wort Eulenspiegel­ buch steht. Was die Post 2011 nämlich feiern wollte, war das Jubiläum des ältesten erhal- tenen Drucks des Buches von Till Eulenspiegel, als dessen Entstehungsdatum sich das Jahr 1510/1511 hat rekonstruieren lassen (ein Titelblatt ist nicht erhalten).2 Die frühesten uns bekannten Drucke des Eulenspiegelbuchs (1510/11, 1515 und 1519) sind in Straßburg in der Offizin von Johannes Grüninger entstanden.3 Da es seit längerem gute Gründe für die Annahme gibt, den Straßburger hochdeutschen Frühdrucken habe eine niederdeut- sche Vorlage aus Braunschweig zugrunde gelegen, war das Eulenspiegelbuch-Jubiläum von 1510/11 eines, dessen auch in Braunschweig zu gedenken war. Doch hat das Jubi­

1 In einem 1411 geführten Briefwechsel der Kuriengeistlichen Dietrich von Niem (* 1345 in Nieheim bei Paderborn, später zeitweise Bischof von Verden) und Johannes Schele (* 2. H. 14. Jh. in Hannover, spä- ter Bischof von Lübeck) ist von Eulenspiegel-Geschichten die Rede, mit denen man nicht seine Zeit vertun solle, noch nicht aber von einem Eulenspiegelbuch. Für das Problem der geographischen Her- kunft des Eulenspiegel-Stoffes bemerkenswert scheint mir dabei, dass beide Briefschreiber dem nieder- deutschen (nicht etwa oberrheinischen) Sprachbereich entstammen, Schele sogar dem ostfälischen. – Zu diesem Briefwechsel: Christiane Schuchard: Die Deutschen an der päpstlichen Kurie im späteren Mittelalter (1378-1447). Tübingen 1987, S. 236-241. 2 Peter Honegger: Ulenspiegel. Ein Beitrag zu Druckgeschichte und zur Verfasserfrage. Neumünster 1973. – Jürgen Schulz-Grobert (Das Straßburger Eulenspiegelbuch. Studien zu entstehungsge- schichtlichen Voraussetzungen der ältesten Drucküberlieferung. Tübingen 1999, bes. S. 51-60) hat auf eine Reihe von Unsicherheitsfaktoren aufmerksam gemacht, deren sich Honegger bei seiner Datierung auf 1510/11 nicht bewusst war, doch entwickelt Schulz-Grobert selbst keinen eigenen Datierungsvor- schlag. Somit kann Honeggers Datierung nicht als widerlegt gelten. 3 Das Titelblatt des ältesten komplett erhaltenen Druckes von 1515 lautet: „Ein kurtzweilig lesen von Dyl/ Vlenspiegel gebore[n] vß dem land zuo Brunßwick. Wie/ er sein leben volbracht hatt. xcvi seiner geschichten.“ Druckername, Ort und Jahr gehen aus dem Kolophon des Drucks hervor.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 42 Herbert Blume läumsjahr des Eulenspiegelbuch-Erstdrucks für mich nur den einen, den bloß kalendari- schen Anlass zu dem Vortrag4 bedeutet, der diesem Aufsatz zugrunde liegt. Den anderen, wesentlichen Anstoß hat mir die Tatsache gegeben, dass mir in letzter Zeit mehrfach von Historikern die Frage gestellt worden ist, ob denn die seit Jahrzehnten als hochgradig gesichert geltende Annahme, der Braunschweiger Zollschreiber Hermann Bote (um 1450-um 1520) dürfe als Autor dieser zu postulierenden niederdeutschen Vor- lage gelten, nicht doch aufgrund jüngerer Publikationen ins Wanken geraten sei. Ich möchte im Folgenden versuchen, auf solche Fragen eine Antwort zu geben, und zwar aus der Perspektive des germanistischen Sprachhistorikers, besonders des Philologen des Niederdeutschen und seiner Geschichte. Keinerlei Rolle zu spielen hat bei meinen Ant- worten ein wie immer auch beschaffener Braunschweiger Lokalpatriotismus. Nicht einen wissenschaftsfremden Städtewettbewerb zwischen Straßburg und Braunschweig gilt es ja auszutragen,5 sondern es geht einfach nur um Rankes Frage, „wie es eigentlich gewesen“. Für einen gründlichen Forschungsbericht zu den hier anstehenden Problemen reicht we- der die kurze Zeit eines Vortrags aus noch der begrenzte Raum eines Aufsatzes. Ich werde mich deshalb hier auf die wesentlichen Stationen der seit dem 19. Jahrhundert in der Germa- nistik geführten Diskussion über die Herkunft des Eulenspiegelbuchs6 konzentrieren und den Schwerpunkt dabei auf die Zeit seit 1970, insbesondere seit 1999 legen. Vor allem gehe ich dabei auf die Publikationen von Christoph Walther, Peter Honegger, Georg Bollenbeck, Edward Schröder, Bernd Ulrich Hucker und Jürgen Schulz-Grobert ein. Zuvor noch ganz wenige Worte über das Eulenspiegelbuch des frühen 16. Jahrhun- derts und seinen Protagonisten. Wer nicht gerade Literaturhistoriker ist, kennt Till Eulen- spiegel heute als den verschmitzten, alles wortwörtlich nehmenden Spaßmacher, der die Leute an der Nase herumführt, der mit seinen Streichen aber niemandem wirklich weh tut. Till Eulenspiegels lustige Streiche überschreibt, ganz in diesem Sinne, Richard Strauss 1895 seine „Sinfonische Dichtung“, lustig und lieb zwinkert uns sowohl der Eulenspiegel auf dem Braunschweiger Bäckerklint-Brunnen (1905) wie auch der des Denkmals in Mölln (1950) zu, und vollends der Till des Braunschweiger Kommerz-Karnevals ist an lustiger Harmlosigkeit kaum zu überbieten. Dieser heutige Till, zugleich auch der Eulen- spiegel der Kinderbücher, ist eine domestizierte Spätform des ursprünglichen, brutal-ag- gressiven Eulenspiegel.7 Der wird im alten Eulenspiegelbuch durchgängig ein „Schalk“

4 Gehalten in Braunschweig am 13.10.2011 im Rahmen der Vortragsreihe des „Braunschweigischen Ge- schichtsvereins“. Der Text dieses Aufsatzes ist gegenüber dem Vortragstext überarbeitet und in vieler Hinsicht erweitert worden, dabei sind einige Stilmerkmale gesprochener Sprache bewusst erhalten ge- blieben. – Da die Vortragsreihe des Geschichtsvereins sich vor allem an Historiker, darüber hinaus aber auch an ein breites Spektrum interessierter „gebildeter Laien“ richtet, war an manchen Stellen in- haltlich weiter auszuholen, als ein germanistisches Fachpublikum es erwarten dürfte. 5 Jürgen Schulz-Grobert (Straßburger Eulenspiegelbuch, wie Anm. 2) fasst die Diskussion um Origi- nalsprache und Entstehungsort des Ulenspiegel erstaunlicherweise als Ausdruck eines „literarhistori- schen Lokalpatriotismus“ auf (so S. 2 f.). 6 Mit Eulenspiegelbuch und (zum Zweck der stilistischen Variation) Ulenspiegel ist, wie in der For- schung üblich, im Folgenden das Straßburger Schwankbuch gemeint, mit Eulenspiegel dessen Zentral- figur. Die Schreibweise Ulenspegel steht für die zu postulierende niederdeutsche Übersetzungsvorlage. 7 Die Domestikation der literarischen Kunstfigur Eulenspiegel, d. h. die Entfernung der aggressiven, unflätigen und bösen Charakterzüge des „Helden“ aus dem Schwankbuch, setzt im 18. Jahrhundert ein, und man kann darin eine Facette des allgemeinen Fortschreitens des „Prozesses der Zivilisation“ (Norbert Elias) sehen.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Das Schwankbuch von Till Eulenspiegel 43 genannt. Das Wort Schalk bezeichnet um 1500 auf nieder- wie auf hochdeutsch den arg- listigen, oft auch ruchlosen Übeltäter und Gesetzesbrecher, wobei die Skala „schäl­kischer“ Missetaten sich (in heutigen Begriffen) vom groben Unfug über die Beleidigung, den ge- rissenen Trickbetrug, die Sachbeschädigung, den Diebstahl, die Körperverletzung, den Haus- und Landfriedensbruch bis zum Hochverrat und Totschlag erstrecken kann. Eulenspiegels schälkische Untaten decken einen großen Bereich dieses Spektrums ab. Er beleidigt vorsätzlich die Bürger und Ratsleute einer Hansestadt (Bremens? Braunschweigs?), indem er sie als eine Gemeinschaft von „Schälken“, also unehrenhaften, betrügerischen Leu- ten verunglimpft.8 In zahlreichen Historien des Schwankbuches besteht die Pointe darin, dass Eulenspiegel die Häuser, Betten, Tische, Speisen usw. der von ihm Heimgesuchten sach- beschädigend mit seinem Exkrement verunreinigt. Sachbeschädigung liegt gleichfalls vor, wenn er den Handwerkern, bei denen er sich als Geselle ausgegeben hat, das Werkzeug mut- willig ruiniert oder ihre kostbaren Arbeitsmaterialien vernichtet.9 Und um Körperverletzung mit billigender Inkaufnahme des Todes seiner Opfer handelt es sich sowohl in Nürnberg, wo er absichtsvoll aus einer Pegnitzbrücke Bohlen entfernt, so dass die Stadtsoldaten (die er durch ruhestörenden Lärm zur Verfolgungsjagd provoziert) im Dunkeln tief hinab in den Fluss stürzen und dabei schlimmste körperliche Schäden erleiden,10 als auch im Kloster Ma- riental bei Helmstedt, wo er aus einer Treppe mehrere Stufen herausnimmt und der Abt und die Mönche dann nachts ebenfalls ins Leere treten und sich beim Sturz in die Tiefe schwer verletzen.11 Und eine besonders infame (zugleich misogyne) Art der Körperverletzung liegt vor, wenn Eulenspiegel eine Herbergswirtin, bei der er übernachtet hat, ohne ernsthaften Grund mit ihrem bloßen Gesäß in die glühende Herdasche setzt.12 In vielen der fast 100 Historien des Buches, wenn auch längst nicht in allen, bedient Eulenspiegel sich dabei des gezielten wortklauberischen Missverstehens von Arbeitsaufträgen, so beim Zu-Tode-Kochen des Hundes Hopf anstelle des Hopfen-Kochens im Kessel des Einbecker Bierbrauers13 und beim Eulen-und-Meerkatzen-Backen anstelle des Brotbackens in Braunschweig.14 Den meisten (wiederum nicht allen) von ihm Heimgesuchten, die übrigens aus sämt- lichen Ständen und Gruppen der Gesellschaft stammen, von ganz oben bis ganz unten, vom Papst bis zu den Siechen und Blinden, kann man – wenn man die Historien ein wenig genauer liest – einen Verstoß gegen die Pflichten vorwerfen, die ihnen innerhalb des mit- telalterlichen Stände-Ordo obliegen. Das Eulenspiegelbuch lässt sich insofern als Stände-

8 Hist. 73, in der er vor dem Rathaus Steine sät, zum Zeichen dafür, dass anständige Leute in dieser Stadt nicht gedeihen können. In heutigen Begriffen: Eulenspiegel bezeichnet, zunächst allegorisch, dann mit Worten, die dortigen Ratsleute (die ja mehrheitlich Kaufleute waren) als ein Gremium von (Wirtschafts-)Kriminellen. 9 So z. B. beim Tischler in (Historie 62), beim Bierbrauer in Einbeck (Historie 47), beim Schmied (Historie 40). 10 Historie 32. Sie brechen sich Arme und Beine, einer schlägt sich „ein Loch in den Kopf“. 11 Historie 89. Auch in Mariental kommt es zu Beinbrüchen. 12 Historie 84. 13 Historie 47. 14 Historie 19. – In den Pointen Eulenspiegels, die auf gezieltem Missverstehen beruhen, liegt fast immer ein Für-eigentlich-Nehmen von uneigentlich (z. B. ironisch, metaphorisch, redensartlich) Gesagtem oder aber ein vorsätzliches akustisches Missverstehen ähnlich klingender Wörter vor. Zur Typologie von Eulenspie- gels Pointen siehe: Herbert Blume: Hermann Bote. Braunschweiger Stadtschreiber und Literat. Studien zu seinem Leben und Werk. Bielefeld 2009. (Darin Kap. 15: Von Straßburg nach Göteborg. Texterosion und kulturelle Transposition im ältesten schwedischen Ulspegel-Druck von 1661, S. 325-353.)

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 44 Herbert Blume panorama einer aus den Fugen geratenen, verkehrten Welt, eines mundus perversus le- sen,15 und Eulenspiegel macht, so verstanden, die Mängel dieser Welt dann durch ein maßloses Noch-Schlimmer-Machen der Schäden sichtbar. Diese Darbietung einer, wohin man blickt, defekten, korrupten Welt, Eulenspiegels hemmungslose Maßlosigkeit im Be- strafen, verbunden mit der fäkalischen Obszönität vieler Geschichten (das Wort scheißen kommt endlos vor) mögen der Grund für den außerordentlichen buchhändlerischen Erfolg des Eulenspiegelbuchs gewesen sein, der schon im 16. Jahrhundert sowohl auf deutsch wie noch im selben Jahrhundert auch mit Übersetzungen in viele andere Sprachen16 ein- setzt und der bis heute noch kein Ende gefunden hat. Die Sprache der Straßburger Ulenspiegel-Frühdrucke ist ein erkennbar elsässisch ge- prägtes Hochdeutsch. Die Streitfrage, um die es geht, lautet: Ist das Eulenspiegelbuch von vornherein in dieser Sprache geschrieben und dann also ein Straßburger Originalerzeug- nis, oder liegt ihm nicht vielmehr eine niederdeutsche Vorlage zugrunde, aus der es über- setzt ist? – Das Niederdeutsche, heute „Plattdeutsch“ genannt, hat bis in unsere Gegen- wart als eine von vielen Norddeutschen als Zweitsprache neben dem Hochdeutschen noch gesprochene, aber so gut wie nicht mehr geschriebene17 Mundart überlebt. Um 1500 da- gegen war Niederdeutsch in Braunschweig wie in den übrigen norddeutschen Städten die einzige Sprache (neben dem Latein der wenigen Gelehrten), die man sprach und (wenn man nicht Analphabet war) auch schrieb. Im Gegensatz zu seinem heutigen mündlichen Nachfahr Plattdeutsch war das damalige Schreibniederdeutsch eine elaborierte, dem ge- schriebenen Hochdeutsch gleichrangig zur Seite stehende Kultursprache, die allen Be- dürfnissen intellektuellen Schreibens (in Recht und Verwaltung, Handel, Historiographie, Bibelübersetzung, Erbauungsschrifttum etc.) genügte. Diese Schreibsprache ist gemeint, wenn im Folgenden von Niederdeutsch die Rede ist.

2.

Meine Revue der Forschungsmeinungen zur Herkunft des Schwankbuches beginne ich mit dem epochemachenden Aufsatz, den Christoph Walther (1841-1914)18 unter dem Titel Zur Geschichte des Volksbuches vom Eulenspiegel 1893 veröffentlicht hat.19 In seinem

15 Siehe: Eberhard Rohse: „Gy eerliken stede“ – Stadtbürgerlich-hansische Welt am Beispiel von Her- mann Botes „Radbuch“. In: Matthias Puhle (Hrsg.): Hanse. Städte. Bünde. Die sächsischen Städte zwischen Weser und Elbe um 1500 [Ausstellungskatalog]. Magdeburg 1996. Bd. 1, S. 575-602. – Her- bert Blume, Bote (wie Anm. 14), darin Kap. 13: Oldendorf. Untersuchungen zur Topographie der 88. Historie des Eulenspiegelbuchs und Überlegungen zu seinem Entstehungsort (S. 281-305). 16 Noch im 16. Jahrhunderts liegen Übersetzungen bzw. Übertragungen des Buches ins Niederländische, Englische, Französische, Dänische, Jiddische und Latein vor. Viele weitere Sprachen folgen auf dem Fuße. 17 Zwar ist es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Eduard Schmelzkopf, Klaus Groth, Fritz Reuter und nach diesen viele andere mehr) zu einer gewissen Renaissance des Niederdeutschen als Sprache der schönen Literatur gekommen, doch werden die (keineswegs immer nur harmlos-epigonalen) Hervor- bringungen niederdeutscher Autoren heute im Buchmarkt insgesamt wenig zur Kenntnis genommen. 18 Norddeutschen Mittelalterhistorikern ist Christoph Walther als einer der Autoren des Mittelniederdeutschen Handwörterbuchs von Lübben und Walther (1888) wohlbekannt. Der Lexikograph Walther war zu seiner Zeit einer der gründlichsten Kenner der mittelniederdeutschen Sprache und insbesondere ihres Wortschatzes. 19 In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 19 (1893), S. 1-79.

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Aufsatz geht er erstmals systematisch (denn auch er hatte Vorläufer) der Tatsache nach, dass man beim Lesen der hochdeutschen Frühdrucke immer wieder auf Wörter und Wen- dungen stößt, die gar nicht hochdeutsch sind, sondern niederdeutsch, oder aber auf hoch- deutsche Ausdrücke, die als solche, obwohl hochdeutsch, im Satzkontext ganz dunkel bleiben, die aber, sobald man sie als Fehlübersetzungen aus dem Niederdeutschen auf- fasst, bei einer Rückübersetzung ins Niederdeutsche unmittelbar sinnvoll werden. Auf den 260 Seiten des Straßburger Drucks hat Walther rund 130 derartige Wörter und Wen- dungen ermittelt; im Durchschnitt findet sich also auf jeder zweiten Buchseite ein nieder- deutsches Element bzw. ein hochdeutsches mit erkennbar niederdeutschem Hintergrund. Ein Beispiel mag uns die 52. Historie liefern, die im Druck von 1515 so beginnt: „Eins- mals kam Ulenspiegel gen Aschersleuen vnd waz winters not vnd dürre zeit […].“20 Eulen- spiegel, einer ohne festen Wohnsitz, fragt sich, in wessen Haus er den kalten Winter und die, wie wir lesen, „dürre Zeit“21 warm und vor allem kostenlos verbringen kann. Wieso denn aber herrscht im Winter „dürre Zeit“? Langanhaltende Trockenheit ist ja doch ein Sommer- problem, und zwar eines der Bauern, doch keins, das den nicht-sesshaften Eulenspiegel, den Landstreicher, im Winter plagen könnte. Hier liegt, so Walther, offensichtlich ein Straßbur- ger Übersetzungsfehler vor. In der niederdeutschen Vorlage muss gestanden haben: düre tit ‚teure Zeit‘, im Sinne von Teuerung, was im älteren Deutsch gleichbedeutend mit Hungers­ not ist. Der elsässische Übersetzer hat nicht begriffen, dass dem niederdeutschen Wort dür das hochdeutsche teuer entspricht22 und hat an dieser Stelle fälschlich das niederdeutsche Adjektiv dür ‚teuer‘ mit dem ähnlich klingenden hochdeutschen Wort dürr wiedergegeben – wodurch der Text von 1515 an dieser Stelle sinnlos geworden ist. Mir ist die feste Fügung düre Tiet im Sinne von ‚Hungersnot‘ noch aus meiner eigenen, partiell zweisprachig (hoch- und plattdeutsch) verlaufenen Nachkriegs-Kindheit der 1940/50er Jahre bekannt. Meine Großeltern sagten beim Anblick abgerissen gekleideter, abgemagerter Leute bisweilen: „Dä sieht ja ût wie de düre Tiet.“ Also: ‚Der sieht ja aus wie die Hungersnot‘. In dieser nur noch allegorischen Verwendungsweise hat der mittel- niederdeutsche Ausdruck im Plattdeutschen somit bis mindestens 1950 fortgelebt.23 In Historie 22 (Eulenspiegel als untätig bleibender Turmbläser, der nicht verhindert, dass seinem gräflichen Dienstherrn die Kuhherde von der Weide gestohlen wird) gelingt es dem Grafen von Anhalt, den Viehdieben wenigstens einen Teil der Beute wieder abzujagen. Wir lesen dazu im Druck von 1515 „Der graff ylt den feinden nach […] vnd holt auch ein huffen specks vff seinen finden vnd hüwen zuo mitt sieden vnd brieten“24 ‚Der Graf eilte den Feinden nach […] und holte auch einen Haufen Speck von seinen Feinden, und [sie] schlach- teten und sotten und brieten‘. Aus Freude über die geretteten Kühe wird also ein Festmahl veranstaltet. Aber wieso heißt es dann ein huffen specks ‘? Um Kühe geht es doch, nicht um

20 Kursiv werden hier und im Folgenden Buchstaben gesetzt, die sich durch Auflösung von Kürzeln ergeben. 21 Dyl Vlenspiegel. In Abbildung des Drucks von 1515 (S 1515) hrsg. von Werner Wunderlich. Göppin- gen 1982, Bl. 0ii, r. 22 So, wie der niederdeutsche Familienname Dürkoop dem hochdeutschen Theuerkauf entspricht. 23 Walther, Volksbuch vom Eulenspiegel (wie Anm. 19), S. 19, weist auf den Übersetzungsfehler mnd. dür > fnhd. dürr nur in knappster Form hin. Ich habe sein Argument hier ausführlicher dargestellt. 24 Dyl Vlenspiegel 1515 (wie Anm. 21), Bl. Fv, r. – Gegen Ende des Satzes ist dem Straßburger Übersetzer offensichtlich die Syntax „entgleist“. Statt „mitt sieden vnd brieten“ wäre eher „vnd sutten vnd brieten“ zu erwarten. Ich übersetze nach diesem Emendationsvorschlag.

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Schweine. Walther plädiert deshalb dafür, dass in der niederdeutschen Vorlage nicht speckes gestanden habe, sondern das im Hochdeutschen ganz unbekannte Wort queckes, Genitiv von queck, welches ‚Vieh‘, insbesondere aber ‚Rindvieh, Kühe‘ bedeutete.25 Was wir bei der Ulenspiegel-Übersetzung an dieser Stelle beobachten, ist im 15./16. Jahrhundert beim inner- deutschen Übersetzen gang und gäbe: Wenn die Übersetzer Wörter der Mundart, aus der sie übersetzen, nicht kennen, geben sie diese häufig einfach mit ähnlich klingenden Wörtern ihrer eigenen Mundart wieder, und dann auch ohne jede Rücksicht auf den Sinn des Satzes.26 Gemäß dieser Praxis wird an dieser Stelle das in Straßburg nicht verstehbare (weil unbe- kannte) niederdeutsche Wort queckes kurzerhand durch hochdeutsch specks wiedergegeben sein. Stellen dieser Art gehören zu Walthers Indizien dafür, dass den Straßburger Früh­ drucken eine niederdeutsche Übersetzungsvorlage zugrunde gelegen hat. Diese zwei Beispiele müssen hier genügen, um Walthers methodisches Vorgehen zu veranschaulichen: eine streng empiriebasierte Argumentation, gestützt auf intensive Kenntnis des nieder- und hochdeutschen Wortschatzes um 1500. Walthers Plädoyer für eine zu postulierende niederdeutsche Vorlage ist, wie zu zeigen sein wird, im Prinzip noch heute gültig.27 Als Entstehungsort der niederdeutschen Vorlage nimmt er Braun- schweig an, und als ihren möglichen Autor erwägt bereits er vorsichtig Hermann Bote, dessen Name erst kurz zuvor, 1880, durch Ludwig Hänselmanns Schichtbuch-Edition28 der Vergessenheit entrissen worden war.

3.

Mit einem großen Sprung begeben wir uns nun von 1893 in das Jahr 1973. In diesem Jahr veröffentlichte der Schweizer Rechtsanwalt und Bibliophile (aber: Nicht-Germanist) Peter Honegger seine Untersuchung Ulenspiegel. Ein Beitrag zur Druckgeschichte.29 Honegger hatte unter dem Vorsatzblatt eines aus dem 16. Jahrhundert stammenden, von ihm erwor- benen Buches eine Anzahl von (dort als Deckelfutter dienenden) Makulaturblättern eines bis dahin unbekannten grüningerschen Ulenspiegel-Drucks entdeckt. Mit Hilfe eines fast 25 Walther, Geschichte des Volksbuches (wie Anm. 19), S. 27 f. 26 Ausführlich dazu: Werner Besch: Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert. Stu- dien zur Erforschung der spätmittelhochdeutschen Schreibdialekte und zur Entstehung der neuhoch- deutschen Schriftsprache. München 1967, S. 335 f. 27 Dass der Straßburger Übersetzer/Bearbeiter/Drucker im Rahmen seiner Tätigkeit noch eine kleine Zahl von „Zusatzhistorien“ hinzugefügt hat, ist in der Forschung prinzipiell nicht umstritten. 28 Der Braunschweiger Stadtarchivar Ludwig Hänselmann hatte 1880 das bis dahin als anonym geltende Schicht­ buch (mnd. Titel der Handschrift: Dat schicht boick) von 1510/14 ediert und es durch paläographischen Ver- gleich als ein Werk des Braunschweiger Zollschreibers Hermann Bote bestimmen können: [Ludwig Hänsel- mann, Hrsg.:] Die Chroniken der niedersächsischen Städte: Braunschweig. 2. Bd. Leipzig 1880 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert. 16) [2. Aufl. Göttingen 1962], S. 269-493. – Das Schichtbuch ist in seinem Kern ein Exempelbuch, das mit dem Mittel der chronikalischen Darstellung von sechs Braunschweiger Bürgeraufständen zwischen 1294 und 1514 explizit-adhortativ an die Ratsmitglie- der appelliert, derlei Unheil durch Verzicht auf politisches Rivalisieren der Ratsfamilien und durch Konzentra- tion auf das Gemeinwohl der Stadt künftig zu vermeiden, um nicht die Autonomie Braunschweigs gegenüber den auf Unterwerfung der Stadt unter ihre Gewalt bedachten Herzögen zu gefährden. Vgl. Eberhard Rohse, „Gy eerliken stede“ (wie Anm. 15), S. 577. – Zu Bote im Überblick zuletzt: Herbert Blume, Bote (wie Anm. 14), darin: Kap. 2: Hermann Bote – Leben und Werk (S. 19-42). 29 Siehe Anm. 2.

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kriminalistisch anmutenden Drucktypenvergleichs konnte Honegger feststellen, dass Grüninger eben jene Typen, mit denen die im Buchdeckel gefundenen Seiten gesetzt sind, in den Jahren 1510 und 1511 auch für andere von ihm gedruckte Bücher benutzt hat. Da- her die Datierung von Honeggers Fragment auf 1510 oder 1511, kurz: 1510/11. Doch sind damit Honeggers Verdienste um das Eulenspiegelbuch noch nicht vollständig beschrieben. Er, der Laienphilologe, konnte auf etwas aufmerksam machen, das die zünfti- ge germanistische Ulenspiegel-Philologie in mehr als 100 Jahren hätte bemerkt haben kön- nen und sollen: Wenn man die Initialen der fast 100 Historien der Straßburger Drucke (z. B. 1515) hintereinander schreibt, so erhält man (1) viermal in Folge – wenn auch in mehrfach gestörter Form – das Alphabet und (2) die Buchstabenfolge ERMANB, also: vier ABC-Ak- rosticha plus ein Namensakrostichon. Honegger deutete die Sequenz ERMANB als kür- zelartigen Hinweis des Autors auf seinen eigenen Namen: Herman Bote, und in diesem Punkt folgt ihm die große Mehrzahl der Ulenspiegel-Philologen30 bis auf den heutigen Tag. In einer Hinsicht hat Honegger allerdings geirrt: Im Gegensatz zu der durch Walthers Untersuchung etablierten, auch vor ihm schon geäußerten und im 20. Jahrhundert dann zur communis opinio gewordenen Einsicht, das Straßburger Eulenspiegelbuch sei ein in Straßburg aus dem Niederdeutschen übersetzter Text, vertrat er die Meinung, Bote selbst habe seinen Ulenspiegel gleich auf hochdeutsch verfasst, um ihn im hochdeutsch-sprachi- gen Straßburg drucken lassen zu können. Die niedersprachlichen deutschen Einsprengsel im Text seien keine sprachlichen Restposten, dadurch entstanden, dass ein elsässischer Übersetzer damit nicht zurechtgekommen sei, und die er deshalb entweder einfach habe stehen lassen oder aber grob falsch wiedergegeben habe, vielmehr habe der (wie Honeg- ger meinte) hochdeutsch schreibende Bote nicht bemerkt, dass ihm diese niederdeutschen in seinen hochdeutsch intendierten Text hineingerutscht seien. Dass Honegger mit seiner Behauptung von vornherein im Irrtum war, lässt sich leicht zeigen, wenn man einen vergleichenden Blick auf in Braunschweig (und anderen nord- deutschen Städten) von niederdeutschen Schreibern, also Leuten wie Bote, im frühen 16. Jahrhundert verfasste Texte wirft, die hochdeutsch gemeint sind. In ihnen wimmelt es geradezu von niederdeutschen Wörtern, umgerechnet auf den Satzspiegel des Ulenspiegel wären es mehrere -zig pro Seite; ihre Schreiber stehen mit der hochdeutschen Sprache noch sichtlich auf Kriegsfuß. Ein markantes Beispiel dafür bildet ein 1515 von der Kanz- lei des Braunschweiger Rats an den Rat der Stadt Frankfurt am Main gerichteter, zwar hochdeutsch intendierter Brief, dessen Wortmenge aber – je nach Zählweise – 15 bis fast 20 Prozent niederdeutsche sowie eindeutig niederdeutsch geprägte Elemente enthält.31 Im Eulenspiegelbuch dagegen begegnen niederdeutsche Elemente insgesamt selten: durch-

30 Zur Aussagekraft der Sequenz ERMANB zuletzt: Ulrich Seelbach: Vier Alphabete und (k)ein Autor? Ist der Ulenspiegel signiert? In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 128 (2005), S. 77-114. 31 Der Brief ist abgedruckt bei: Ludwig Hänselmann: Mittelniederdeutsche Beispiele im Stadt-Archive zu Braunschweig. 2., veränderte und um ein Register vermehrte Auflage, besorgt von Heinrich Mack. Braun- schweig 1932. Siehe dazu auch: Dieter Cherubim: Mehrsprachigkeit in der Stadt der frühen Neuzeit. In: Det- lev Schöttker, Werner Wunderlich (Hrsg.): Hermen Bote. Braunschweiger Autor zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wiesbaden 1987, S. 97-118. Und: Herbert Blume, Bote (wie Anm. 14), darin Kap. 11: Zu ver- meintlichen Ostfalismen im Eulenspiegelbuch und zum Problem einer niederdeutschen Vorlage der Straßbur- ger Drucke (S. 237-263, hier S. 255-261). – Der Brief von 1515 ist das früheste (und noch quasi einen errati- schen Block bildende) Dokument von Versuchen der Braunschweiger Ratskanzlei, hochdeutsch zu schreiben. Der Übergang zur hochdeutschen Korrespondenz setzt in Braunschweig erst in den 1530er Jahren ein.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 48 Herbert Blume schnittlich auf jeder zweiten Buchseite nur eines, was weniger als 2 Promille entspricht. Der Übersetzer, auf den die Textform des Straßburger Ulenspiegel zurückgeht, kann also hochdeutsch. Honeggers Vorstellung, dass der nicht akademisch gebildete Hermann Bote, der Braunschweig und sein nächstes Umland nie verlassen hat, in der Lage gewesen sei, das Eulenspiegelbuch auf hochdeutsch zu verfassen, ist im Hinblick auf alles, was wir über die Sozialgeschichte des frühneuzeitlichen Sprachenwechsels in Städten wie Braun- schweig wissen, ganz und gar anachronistisch. Auch Honeggers zur Stützung seiner The- se angeführte Behauptung, Bote habe mit seinen von ihm (wie Honegger meint) auf hoch- deutsch verfassten politischen Liedern ja bewiesen, dass er diese Sprache beherrsche, ist zutiefst irrig. Dass die erst Jahrzehnte nach Botes Tod in einer hoch- und niederdeutschen Mischsprache überlieferten Lieder ursprünglich niederdeutsch waren, lehrt schon die Be- trachtung der Reime weniger Gedichtzeilen. Bote hat seine Lieder unzweifelhaft und ganz offensichtlich auf niederdeutsch verfasst.32

4.

In seiner 1985 gedruckten Siegener Habilitationsschrift mit dem Titel Till Eulenspiegel. Der dauerhafte Schwankheld33 hat der 2010 viel zu früh verstorbene germanistische Lite- raturwissenschaftler Georg Bollenbeck Honeggers irrige These vom hochdeutsch schrei- benden Ulenspiegel-Autor Bote kurzerhand übernommen. Bollenbecks Forschungsinter- essen lagen, abgesehen von seinem Buch über Botes Ulenspiegel, eher im 19. und 20. Jahrhundert sowie auf dem Gebiet der allgemeinen Literatursoziologie und -theorie. Nie zu seinen Arbeitsfeldern gehört haben die Sprache und die Sprachgeschichte Nord- deutschlands im späten Mittelalter. Bollenbeck vermochte daher gegenüber Honeggers Spekulationen über eine hochdeutsche Schreibkompetenz Botes keine kritische Position einzunehmen.34 Vielmehr hat er sie ungeprüft aufgegriffen und sogar noch mit einem materialistischen Unterbau versehen: Für Bollenbeck ist der Braunschweiger Zollschrei-

32 Siehe dazu grundsätzlich: Herbert Blume, Bote (wie Anm. 14), darin Kap. 8: Hermann Botes Ludeke- Holland-Lieder und ihre Überlieferung (S. 161-186, insbes. S. 186). 33 Georg Bollenbeck: Till Eulenspiegel. Der dauerhafte Schwankheld. Zum Verhältnis von Produktions- und Rezeptionsgeschichte. Stuttgart 1985. 34 Bollenbecks Unkenntnis der mittelniederdeutschen Sprache und ihrer Geschichte äußert sich z. B. darin, dass er die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrenden, somit völlig haltlosen Spekulationen Heinz- Lothar Worms über den „oberdeutsch schreibenden Verfasser [Bote] des Eulenspiegelbuchs“ ernst nimmt und sie als wissenschaftlich „begründet“ [sic] bezeichnet (weil sie seine gleichlautende These, wie er ver- meint, stützen können). Siehe: Georg Bollenbeck: Hermann Bote – die Spannung zwischen lebensge- schichtlicher Realität und Umweltkonzept als eine Grundmotivation des Schreibens. In: Herbert Blume, Eberhard Rohse (Hrsg.): Hermann Bote. Städtisch-hansischer Autor in Braunschweig. 1488-1988. Beiträ- ge zum Braunschweiger Bote-Kolloquium 1988. Tübingen 1991, S. 57-67. Hier: S. 65, Anm. 25. – Die Nie- derdeutsch-Ferne Bollenbecks schlägt sich im selben Aufsatz (S. 59) außerdem darin nieder, dass er eine längere Passage aus Botes Schichtbuch nicht nach Hänselmanns Edition (1880) des mittelniederdeutschen Originaltextes, sondern nach dessen neuhochdeutscher, sprachlich unzuverlässiger Übersetzung von 1886 (die streckenweise eine freie Bearbeitung ist) zitiert: Ludwig Hänselmann: Das Schichtbuch. Geschich- ten von Ungehorsam und Aufruhr in Braunschweig 1292-1514. Nach dem Niederdeutschen des Zollschrei- bers Hermann Bothen und anderen Überlieferungen. Braunschweig 1886 [Nachdruck Hannover 1979].

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Das Schwankbuch von Till Eulenspiegel 49 ber Bote ein Autor, dessen Sprachenwahl von frühkapitalistisch-kaufmännischem Den- ken bestimmt ist, denn: „Bote schreibt oberdeutsch, um mit seinem Eulenspiegel einen größeren literarischen Markt zu erreichen. Diesen bietet der bevölkerungsreichere und ökonomisch wie kulturell höher entwickelte süddeutsche Raum.“35 Bollenbecks (im Brustton des Indikativs vorgetragene) Vermutung ist verwegen, denn Honorarleistungen der Drucker bzw. Verleger an Buchautoren (damals übrigens fast immer in Form von Frei- exemplaren oder anderen Buchprodukten des Hauses, selten in Geldform) setzen erst im Laufe des 16. Jahrhunderts ein (an dessen Schwelle Botes Ulenspiegel ja noch steht) und sind auch am Ende des Jahrhunderts noch keineswegs die Regel.36 Da die Quellenlage zu diesem Problem, was das 16. Jahrhundert betrifft, mager ist, bewegt sich Bollenbeck mit seiner These, Bote habe aufgrund kaufmännischer Motive hochdeutsch geschrieben, auf sehr dünnem Eis. Seine Überlegungen zum Problem der nieder- oder hochdeutschen Sprachform von Botes zu postulierendem Ulensp(i)egel haben daher nichts zu dessen Lösung beigetragen.37

5.

Wagemutig geworden durch sein mehrfaches Finder- und Entdeckerglück in Sachen Ulen­ spiegel, hatte Honegger 1975 einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er über das Eulenspie­ gelbuch hinaus nun auch noch Botes Urheberschaft am Reynke de Vos, am niederdeut- schen Narrenschyp und an weiteren Lübecker niederdeutschen Frühdrucken von Rang für erwägenswert erklärte.38 Für diese Vermutung hat er, völlig zu Recht, die entschiedene Kritik der Fachleute hinnehmen müssen.39 Von denen, die Honegger dennoch blind ge- folgt sind, ist zuallererst Bernd Ulrich Hucker zu nennen, der bereits ein Jahr darauf in einem biographischen Bote-Artikel40 das, was Honegger nur mit wenigen Worten erwo- gen hatte, in Bezug auf Reynke de Vos nunmehr als hochgradig gesichert breit darstellte. Leider sind Honeggers irrige Vermutungen und die daraus entwickelten „Feststellungen“

35 Bollenbeck, Till Eulenspiegel (wie Anm. 33), S. 45. 36 Siehe: Harald Steiner: Das Autorenhonorar – seine Entwicklungsgeschichte vom 17. bis 19. Jahrhun- dert. Wiesbaden 1998, S. 106-109. 37 Der Einschätzung von J. Buchloh, dass in Bollenbecks Arbeit „die wissenschaftlichen Beiträge zu Bote und zum Eulenspiegelbuch gründlich aufgearbeitet“ seien, wird man sich daher nicht anschließen dür- fen. Siehe: Julia Buchloh: Hans Baldung Grien und Dyl Ulenspiegel. Studien zu den Illustrationen und zur Text-Bild-Struktur des Straßburger Eulenspiegeldrucks S 1515. Diss. TU Berlin 2005 (www. opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2005/1095/pdf/buchloh_julia.pdf.), S. 11. Buchlohs Urteil überrascht umso mehr, als sie im weiteren Verlauf ihrer Arbeit den Forschungsstand der germanistischen Ulen­ spiegel-Forschung über Bollenbeck hinaus bis ca. 2000 durchaus eingehend referiert. 38 Peter Honegger: Eulenspiegel und die sieben Todsünden. In: Niederdeutsches Wort 15 (1975), S. 19-35. 39 Insbesondere: Timothy Sodmann: Reynke de Vos. Ein Buch und seine „Verfasser“. In: Blume/Rohse, Hermann Bote (wie Anm. 34), S. 246-260. 40 Bernd Ulrich Hucker: Hermann Bote, um 1467-1520. In: Edgar Kalthoff (Hrsg.): Niedersächsische Lebensbilder. Bd. 9. Hildesheim 1976, S. 1-21.

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Huckers auch von einigen Literaturwissenschaftlern für erwägenswert, ja sogar für wahr- scheinlich gehalten worden.41 Hatte Hucker 1976 im wesentlichen nur Honeggers Ideen entfaltet, so wechselte er seit 1980 die wissenschaftliche Leitfigur. Sie hieß nunmehr Edward Schröder, in dessen Fuß- stapfen er nun trat. Hucker hatte im Nachlass des großen Göttinger Germanisten und Ulenspiegel-Editors Edward Schröder (1858-1942) dessen unvollendete und zunächst un- gedruckt gebliebene Untersuchungen zum Volksbuch von Eulenspiegel entdeckt, die er dann 1988 zusammen mit Wolfgang Virmond edierte.42 Die Frage nach ursprünglicher Sprache, Herkunftsort und zu vermutendem Autor des Buches beantwortet Schröder dar- in wie folgt: niederdeutsch ja, Braunschweig ja, aber Bote nein. Schröder begründet seine Ablehnung Botes als des potentiellen Autors mit drei kuriosen Argumenten. Nur eines davon sei hier referiert. Schröder war aufgefallen, wie vertraut der Autor des Ulenspiegel mit den unterschiedlichen deutschen Münzsorten ist. Eine solch ausgebreitete Münz- kenntnis könne nur ein weitgereister „Geschäftsmann größern Stils“43 besitzen, aber kein kleiner Zolleinnehmer wie Bote. Schröder bezieht sich in seinen Untersuchungen u. a. auch auf Botes Schichtbuch, doch kann er es allenfalls oberflächlich bzw. auszugsweise gelesen haben, denn er hätte sonst wissen müssen, dass gerade das Schichtbuch-Kapitel Van der pagemunte eine gründliche Darstellung der Währungs- und Münzverhältnisse des 15. Jahrhunderts ist, die zu Botes Zeit in Deutschland ihresgleichen nicht hat.44 Unter den Schriftstellern seiner Zeit darf Bote als der beste Kenner der damaligen monetären Verhältnisse überhaupt gelten. Die gute Münzkenntnis des Ulenspiegel-Autors spricht also nicht gegen, sondern für Bote. Bei nur etwas genauerem Hinsehen implodiert dieses Argument Schröders geradezu, und das gilt auch für seine zwei weiteren, wie ich andern- orts45 habe zeigen können. Im Anschluss an Schröders Fehlurteil nennt Hucker seit Beginn der 1980er Jahre in seinen Veröffentlichungen das Eulenspiegelbuch dann das Werk eines „anonymen Ver-

41 Zu nennen sind hier zunächst Dieter Wunderlichs Artikel zu Reineke Fuchs und zum Narrenschyp in: Landesausstellung Niedersachsen 1985. Stadt im Wandel. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Cord Meckse- per. Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 568-570, sowie: Werner Wunderlich: „Till Eulenspiegel“. Mün- chen 1984, S. 18 f. Auch die Arbeit von Heinz-Lothar Worm: Reynke de vos. Ein Beitrag zur Verfasser- frage (Diss. Gießen 1984) ist von Honeggers und Huckers Vermutungen unübersehbar inspiriert. Wunderlich stützt sich in seinen Katalogbeiträgen auch auf Worms Dissertation. Dort wie auch in einem wenig später erschienenen Aufsatz (zu Bote als Ulenspiegel-Autor) hatte Worm sich bemüht, seine Hypo- thesen mit Hilfe sprachlicher Indizien zu begründen, sich dabei allerdings unübersehbar als Laie in sprachhistorischen Dingen zu erkennen gegeben. Worms deshalb inhaltlich insgesamt missglückte Publi- kationen haben für die Bote-Forschung nichts erbracht. Zu Worms sprachhistorischen Fehleinschätzun- gen: Herbert Blume: Zu vermeintlichen Ostfalismen im Eulenspiegelbuch und zum Problem einer nieder- deutschen Vorlage der Straßburger Drucke. In: Blume, Bote (wie Anm. 14), S. 237-263. 42 Edward Schröder: Untersuchungen zum Volksbuch von Eulenspiegel. Nach dem unvollendeten Manu- skript von etwa 1936 hrsg. von Bernd Ulrich Hucker und Wolfgang Virmond. Göttingen 1988. 43 Ebenda, S. 87. 44 Dazu: Matthias Puhle: Stadt und Geld im ausgehenden Mittelalter. Zur Münzgeschichte „Van der Pa- gemunte“ des Braunschweiger Autors Hermen Bote. Braunschweig 1988. 45 Herbert Blume: Rezension von Schröder, Untersuchungen (wie Anm. 42). In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 114 (1991), S. 240-246, sowie: Herbert Blume: Hermann Bote – Autor des Eulenspiegelbuches? Zum Stand der Forschung. In: Blume, Bote (wie Anm. 14), S. 211-235.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Das Schwankbuch von Till Eulenspiegel 51 fassers“. Hucker hat sich seitdem eine private Erklärung der Entstehung des Ulenspiegel zurechtgelegt: Zugrunde liege dem verfasserlosen Buch eine von Hucker behauptete Eu- lenspiegel-Sage, in der Erinnerungen an mehrere Kleinadlige (Tyle von , Till von Uetze u. a.) sowie eine Koboldsage aus dem Kloster Mariental bei Helmstedt zusam- mengeflossen seien.46 Sogar wenn Hucker hiermit Recht hätte, wäre dies für die Ulen­ spiegel-Philologie allenfalls von marginaler Bedeutung. Ihr geht es um das Buch und dessen Hauptperson, die literarische Kunstfigur Till Eulenspiegel. Mit einem Vergleich gesagt: Goethes Faust-Drama, der Witz, die Weisheit und die Schönheit seiner Verse, die Gültigkeit vieler seiner Sentenzen, die Tragödie Gretchens lassen sich nicht aus der Vita des historischen Dr. Faust aus Knittlingen begreifen. Daher haben Huckers agnostizisti- sche Ansichten zum Verfasser des Ulenspiegel in der Germanistik kein Echo gefunden.

6.

Im Titel von Jürgen Schulz-Groberts 1999 erschienener Marburger Habilitationsschrift Das Straßburger Eulenspiegelbuch47 ist die These des Autors formuliert. Nicht in Braun- schweig sei der Autor des Schwankbuchs zu suchen, sein Name sei auch keinesfalls Her- mann Bote und schon gar nicht liege dem hochdeutschen Straßburger Text eine nieder- deutsche Vorlage zugrunde. Nach Schulz-Groberts Ansicht ist das Eulenspiegelbuch vielmehr ein von vornherein auf hochdeutsch verfasster „literarischer Scherzartikel“,48 den sich die Straßburger Gelehrten Johann Geiler von Kaysersberg, Sebastian Brant, Jakob Wimpheling, Heinrich Bebel, Johannes Pauli, Thomas Murner und insbesondere Johannes Adelphus Muling gemeinsam „vor dem Setzkasten der Straßburger Offizin Grüningers“49 ausgedacht haben sollen. Hätte Schulz-Grobert mit dieser Hypothese Recht, so müsste er auf mindestens drei Fragen eine plausible Antwort haben. Erstens: Warum verübt Eulenspiegel seine Streiche ganz überwiegend in einem nord- deutsch-niederdeutschen Bereich, dessen Zentrum Braunschweig ist? Um hier nur wenige solcher Handlungsorte des Eulenspiegelbuchs zu nennen: Braunschweig, Wolfenbüttel, Kneitlingen, Ampleben, Kissenbrück, Büddenstedt, Helmstedt, Mariental, Peine, Hohen­ eggelsen, weiter entfernt: u. a. Bremen, Lübeck, Rostock, Berlin, Halle a. d. S. (auch die zwei zuletzt genannten damals noch niederdeutsch-sprachig), Goslar und Einbeck. Ins- gesamt erscheinen 36 niederdeutsche Orte als Handlungsorte, manche davon mehrmals. Demgegenüber sucht Eulenspiegel nur neun mittel- und süddeutsche Städte auf, am wei- testen im Süden liegen Bamberg und Nürnberg. Warum aber kommt der Südwesten, zu- mal der Oberrhein (mit Städten wie Straßburg, Schlettstatt, Colmar, , Freiburg, Hei- delberg), im Ulenspiegel überhaupt nicht vor? Dort hätten die von Schulz-Grobert bemühten Gelehrten sich doch am besten ausgekannt. Auf diese Frage bleibt der Verfasser die Antwort schuldig.

46 Zuletzt: Bernd Ulrich Hucker: Tile von Kneitlingen. In: BBL 2006, S. 701 f. 47 Schulz-Grobert, Straßburger Eulenspiegelbuch (wie Anm. 2). 48 Ebenda, S. 275. 49 Ebenda, S. 228.

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Zweitens: Woher hätten die Straßburger Scherzartikel-Produzenten ihre stupende Ortskenntnis der Mikrotopographie des Ulenspiegel-Handlungsraums haben sollen? Wie hätte man denn im fernen Elsass damals z. B. wissen können, dass zwischen Kneitlingen und Ampleben (schon die Kenntnis dieser Namen in Straßburg ist erstaunlich) ein Bach fließt (es gibt ihn heute noch), in den in Historie 1 die alkoholisierte Taufpatin (bzw. Hebamme) mitsamt dem Baby Till hineintorkelt? Das Eulenspiegelbuch wimmelt von solchen Mini-Details, deren Kenntnis einer elsässischen Autorengruppe im Jahr 1500 nicht zuzutrauen ist. Schulz-Grobert versucht dieses Problem mit der pauschalen Behaup- tung aus der Welt zu schaffen, es habe zu jener Zeit eben bereits „kommunikative Struk- turen“ gegeben, „die selbst lokale Detailinformationen überregional abrufbar [!] mach- ten.“50 Zwar gesteht er, über die „Wirkungsmechanismen“ dieser Strukturen nichts Exaktes zu wissen,51 doch führt er als Kronzeugen für die am Oberrhein (wie er meint) exzellenten Kenntnisse norddeutscher Topographie eine von Sebastian Brant verfasste, postum von Caspar Hedio edierte Streckentabelle für die Reise von Straßburg nach Lü- beck und Rostock an. Diese Tabelle enthält allerdings so viele abstruse Fehler, dass sie in der Praxis unbenutzbar gewesen wäre. Um nur einige davon zu nennen: Die Entfernungs- angaben sind oft um ein vielfaches falsch, (Hannoversch-)Münden liege zwischen Treysa und Kassel, Northeim und Nordhausen seien zwei Namen ein und derselben Stadt, Mölln (unrichtig Mylnheim geschrieben) liege am Südufer der Elbe, die dort eine Meile (also ca. 7-9 km) breit sei, statt Rostock sage man auch Rosco.52 Die Angaben dieser immer wieder ins Märchenhafte hinübergleitenden Tabelle, seines wichtigsten Beweisstückes, hält Schulz-Grobert allen Ernstes für „präzise“.53 Bereits damit löst sich seine Hypothese von der profunden Straßburger Kenntnis der norddeutschen Topographie und damit auch die von der Autorschaft der dortigen Gelehrten in Luft auf. Wie denn soll ein Straßburger Gelehrter, der Northeim und Nordhausen für die zwei verschiedenen Namen einer einzi- gen Stadt hält, von den abgelegenen Dörfern Kneitlingen und Ampleben und dem zwi- schen ihnen fließenden Bach Kunde haben können? Drittens: Wie verhält sich Schulz-Grobert zu dem vor ihm allgemein als gültig ange- sehenen Befund, das Eulenspiegelbuch enthalte eine Vielzahl niederdeutscher Sprach- splitter? Um das zu widerlegen, hätte er das gesamte von Walther erörterte Wortmaterial (oder doch wenigstens einen großen Teil davon) kritisch inspizieren müssen. Dieser Arbeit jedoch entzieht er sich. Von Walthers ca. 130 Fällen nimmt er sich ganze acht vor, und nicht einmal bei diesen wenigen verfangen seine Einwände durchweg.54 Rund 95 Prozent der von Walther als niederdeutsche Spuren erachteten Textstellen lässt Schulz-Grobert gänzlich unbeachtet, doch hindert ihn dies nicht daran, Walthers auf gründlicher Kennt- nis des Ulenspiegel wie der mittelniederdeutschen Sprache insgesamt gegründete Kon-

50 Ebenda, S. 84. 51 Ebenda. 52 Ausführlicher zu diesen und weiteren Irrtümern des Itinerars: Herbert Blume: Rezension von: Schulz- Grobert, Straßburger Eulenspiegelbuch (wie Anm. 2). In: Daphnis 30 (2001), S. 363-369.; Herbert Blume: Untersuchungen zur Topographie der 88. Historie des Eulenspiegelbuchs und Überlegungen zu dessen Entstehungsort. In: Blume, Bote (wie Anm. 14), S. 281-305, insbes. 296-299. 53 Schulz-Grobert, Straßburger Eulenspiegelbuch (wie Anm. 2),S. 82. 54 Einzelheiten bei Blume, Rez. Schulz-Grobert (wie Anm. 52).

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jekturen pauschal als Belastungen des Textes mit „überflüssigen Problemen“55 und als „hochgradig verstiegen“56 zu bezeichnen. Trotz alledem kommt auch Schulz-Grobert nicht umhin zuzugestehen, dass im hoch- deutschen Straßburger Text hier und da niederdeutsche Elemente erkennbar sind. Die, so Schulz-Grobert, seien dann vom Straßburger Gelehrtenteam – das neben vorzüglicher Kenntnis norddeutscher Topographie (s. o.) eben auch weitreichende „überregional aus- gerichtete Sprachkenntnisse“,57 sogar niederdeutsche, besessen habe – quasi als eine Art sprachliches Dekor absichtlich über den Text gestreut worden, um ihm ein niederdeut- sches Kolorit zu verleihen. Also etwa so, als wenn heute ein Norddeutscher, der es sich in den Kopf gesetzt hätte, einen in der Schweiz und nirgends sonst spielenden Roman zu schreiben, die handelnden Personen ab und zu „Grüezi“ sagen und sie nicht vom Fahrrad, sondern vom Velo absteigen ließe. Aber so ist es ja im Eulenspiegelbuch gerade nicht. Häufig liegen die niederdeutschen Elemente nur verdeckt vor, als übersetzungsbedingte Entstellungen, genauer gesagt: als zwar hochdeutsche Wörter, die leider aber im Satzzusammenhang Nonsens ergeben, wie wir im Fall specks/queckes gesehen haben. Von einem Straßburger Einsatz von „Regio- nalismen als mundartliche[r] Beglaubigung“,58 also von über einen hochdeutschen Text zum Schluss noch ausgebreiteten niederdeutschen „Streuseln“ kann in solchen Fällen überhaupt nicht die Rede sein. Die niederdeutschen Spuren liegen oft auch noch viel tiefer verborgen als im Fall specks/queckes, so dass es geradezu „sprachlich-archäologischer Grabungsarbeit“ bedarf, um sie freizulegen. Wie kompliziert die Beschaffenheit solcher Spuren oft ist, lässt sich am Beispiel der 16. Historie zeigen, die in Peine spielt.59 Sie besteht aus zwei Teilen, von denen uns hier nur der zweite interessiert. Dort lesen wir, dass Eulenspiegel aus Peine (wo er übernachtet hat) in Richtung Rosenthal hinausreitet, bald aber wieder umkehrt, und zwar dann durch Peine hindurch in Richtung Celle. In Peine lungern vor der Burg die wachhabenden, dürftig bekleideten Burgknappen herum. Die fragen Eulenspiegel, woher er denn komme. Er antwortet: aus Koldingen. Darauf die Knappen: Was lässt uns denn der Winter ausrichten? Eulenspiegel daraufhin: Gar nichts. Er wird es euch schon selber sagen. Und reitet davon. Einem heutigen nur des Hochdeutschen kundigen, vielleicht gar süddeutschen Leser muss (wie dem elsässischen Leser um 1511) die Pointe dieser Geschichte rätselhaft bleiben. Sie ist nicht auf Anhieb zu verstehen, weil man dazu (a) die Topographie von Peine und Umgebung kennen und (b) plattdeutsch können muss sowie außerdem (c) an einigen Stellen logische Schlussfolgerungen zu ergänzen hat, die der Text nicht explizit vollzieht, sondern

55 Schulz-Grobert, Straßburger Eulenspiegelbuch (wie Anm. 2), S. 118. 56 Ebenda. 57 Ebenda, S. 126. 58 Ebenda (Wortlaut einer Kapitelüberschrift). 59 Zum Folgenden vgl. Herbert Blume: Koldingen, Rosenthal, Peine. Zur Topographie der 16. Historie des Eulenspiegelbuchs. In: Blume, Bote (wie Anm. 14), S. 265-279.

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überspringt. Im einzelnen: (1) Man muss wissen, dass Rosenthal auf dem Weg von Peine60 nach Koldingen61 das erste Dorf ist, das man durchquert. Eulenspiegel täuscht mit seinem kurzen62 Hin-und-her-Ritt also zielbewusst nur vor, er komme aus Koldingen, so dass er damit die Schlusspointe provozieren kann. (2) Man muss weiterhin wissen, dass der Weg von Rosenthal nach Celle durch Peine hindurch führt. (3) Niederdeutsch muss man können, um zum Ortsnamen Koldingen automatisch das pld. Adjektiv koolt ‚kalt‘ zu assoziieren, denn nur dann ist man in der Lage (wie Eulenspiegel und die Knappen es tun), die zwei folgenden, im Text ausgesparten Schlüsse zu ziehen: (4) In Koldingen is et koolt (nomen est omen). (5) Weil dem so ist, kann in Koldingen der Winter zu Hause sein. (6) Nur auf der Basis der Konklusionen Nr. 4 und 5 begreift man dann, dass die Knappen Eulenspiegel veräppeln wollen, indem sie ihn in verkappter Form danach fragen, ob er, der ja (weil aus dem kalten Koldingen kommend) ein Experte in Sachen Winter sein muss, wisse, ob der nächste Winter denn streng oder milde ausfallen werde. (7) Und wiederum nur dann wird einem klar, dass Eulenspiegel auch hier wieder geschickt das letzte Wort behält, indem er den vorwitzigen Knappen den anscheinend damals geläufigen Koldingen-Kalauer gleich- sam um die Ohren schlägt, die als arme, deshalb unberittene Söhne armer hildesheimischer Landadliger63 nicht mit ihren Mit-Knappen ausreiten können, sondern stattdessen als Wächter vor der Burg des bischöflichen Vogts Dienst tun müssen, noch dazu aufgrund ihrer Armut kaum etwas auf dem Leibe tragen (im Ulenspiegel werden sie „nacket“ genannt) und aus eben diesem Grund einen strengen Winter mehr als andere Leute fürchten müssen. Dieses im Text großenteils unterirdisch verlaufende Geflecht aus regionaltopographi- schen Präsuppositionen und Anspielungen, unausgesprochenen Schlussfolgerungen und sozialkritischer Aggressivität64 ist nun alles andere als ein dem Text von einem Straßbur- ger Gelehrtenteam „als mundartliche Beglaubigung“ nachträglich aufgepapptes Stück sprachlichen Zuckerguss-Dekors. Und schließlich: Wer am Oberrhein hätte denn die sub- tilen Witzeleien der 16. Historie begreifen sollen? Für was für eine süddeutsche Leser-

60 Burg und Stadt Peine, bis dahin im Besitz der Grafen von der Asseburg, wurden 1258 vom Bischof von Hil- desheim erobert, und Peine wurde damit Sitz einer hildesheimischen Vogtei. Um die Knappen eines der (je- weils aus dem landsässigen stiftischen Adel berufenen) Burgvögte handelt es sich in der 16. Historie. Vgl. August Köster: Geschichte der Stadt Peine und ihrer Umgebung. […] Hrsg. von H. M. Finger. Peine 1937. 61 Die Eigentumsrechte an der im 13. Jh. von einer Familie von Betheln gegründeten Burg Koldingen (und dem zugehörigen Dorf), an der Leine zwischen Hannover und Sarstedt gelegen, waren das Spät- mittelalter hindurch zwischen den Bischöfen von Hildesheim und den Herzögen von Braunschweig und Lüneburg umstritten. Von ca. 1380 bis zum Ende der Hildesheimer Stiftsfehde (1523) war Koldingen Sitz einer bischöflichen Vogtei, danach welfisch-hannöverscher Amtssitz (bis 1852). Siehe: Werner Spiess: Die Großvogtei Calenberg. Die Ämter und Vogteien Calenberg, Springe, Langenhagen, Neu- stadt vor Hannover und Koldingen. Topographie, Verfassung, Verwaltung. Göttingen 1933, S. 133-148. 62 Er macht sich nicht einmal die Mühe, die ganze Strecke bis nach Rosenthal zurückzulegen, sondern kehrt auf halbem Weg schon wieder um: […] vnd reit gen Rosendal zu/º vnd kort widerumb vnd reyt wi­ der geen Peynen zuº. Dyl Vlenspiegel 1515 (wie Anm. 21), Bl. E, v. 63 Im Text werden die Knappen als „bankresen“ bezeichnet. Dazu: Edward Schröder: Bankrese. Zum Eulenspiegel, Historie 16. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 24 (1903), S. 34-35. 64 Der Witz des asozial, außerhalb bzw. unterhalb des Stände-Ordo lebenden Eulenspiegel richtet sich hier gegen eine Schar von ihm im sozialen Rang von Geburt an überlegenen Angehörigen des Adelsstandes, denen es allerdings materiell fast so erbärmlich geht wie ihm. Jedoch hat er ihnen, wie die Historie zeigt, die Waffe des größeren rhetorischen und gesprächstechnischen Raffinements voraus. In der Rea- lität des Wortgeplänkels ziehen die Knappen daher den kürzeren.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Das Schwankbuch von Till Eulenspiegel 55 schaft denn sollten die Elsässer Gelehrten ein Schwankbuch geschrieben haben, dessen oftmals so beschaffene Pointen zu verstehen niemand in Straßburg, im Elsass, ja über- haupt im oberdeutschen Sprachbereich in der Lage gewesen wäre? Entdecken kann man solche Textstrukturen nur durch ein close reading des Eulenspiegelbuchs. Daran mangelt es in Schulz-Groberts Arbeit allzu sehr – und wohl aus diesem Grunde hat er weder die sprachliche Kompetenz der intendierten Leserschaft noch die ihr zu unterstellende Welt- kenntnis in seine Überlegungen einbezogen und ist so zu irrigen Ergebnissen gelangt. Auch in der 4. Historie der Schwankfolge wird offenbar, dass das Eulenpiegelbuch weder von Schulz-Groberts Straßburger Gelehrtenschar verfasst noch für ein oberdeut- sches Lesepublikum geschrieben worden sein kann. Die 4. Historie, die auch heute noch einigermaßen bekannt ist, erzählt, wie Eulenspiegel, sechzehnjährig und inzwischen im Seiltanzen und anderen Gauklerkünsten geübt, den Jugendlichen im Heimatdorf seiner Mutter ankündigt, er werde ihnen ein besonderes Seiltanz-Kunststück vorführen, wenn ihm zu diesem Zwecke ein jeder seinen linken Schuh ausleihe. Die 120 Schuhe fädelt er auf eine Schnur, steigt auf das über ihren Köpfen gespannte Seil, öffnet nach wenigen Schritten die Schnur, die Schuhe fallen auf den Boden, und binnen kurzem beginnt ein heftiges Raufen und gegenseitiges An-den-Haaren-Ziehen unter der Dorfjugend, weil man uneins ist, welcher Schuh denn wem gehöre. Doch enthält die Historie außer diesem burlesken Geschehenskern noch einiges We- sentliche mehr. Am Schluss der 2. Historie war Eulenspiegel von seiner inzwischen ver- witweten Mutter, die ohne den Ernährer der Familie gemeinsam mit ihrem Sohn Hunger litt, ermahnt worden, doch endlich ein Handwerk zu erlernen, er sei immerhin schon sechzehn Jahre alt. Zu Anfang der 5. Historie wirft die Mutter dem Sohn nochmals vor, dass er kein Handwerk lernen wolle, er beantwortet ihre Vorwürfe jedoch mit Schweigen. Vielmehr bereitetet er sich, wie wir in Historie 3 und 4 sehen, inzwischen bereits für ein Leben außerhalb der ständischen Ordnung vor, auf ein Leben als landfahrender Gaukler, als einer, der zwar nichts gelernt hat, doch vorgibt, in allen Berufen zu Hause zu sein. Dass Eulenspiegels Lebenslaufbahn schon in seiner Jugend auf eine Existenz am Rande der Gesellschaft, ja sogar in der Asozialität zusteuert, kündigt sich aber nicht nur in sei- nen Seiltänzer-Fähigkeiten und in den sorgenvollen Ermahnungen der Mutter, sondern außerdem in einem Halbsatz kurz vor Ende der 4. Historie an: „vnd saß also in dem huß bei seiner mutero vnd bletzte helmstetesche schuch.“o 65 Was sind „helmstedtische Schuhe“,66 und was bedeutet die Tatsache, dass Eulenspie- gel sie flickt? Die Antwort auf diese Fragen ist Hans Wiswe67 zu verdanken: In Helmstedt hatte sich die Gilde der Schuhmacher schon seit dem 13./14. Jahrhundert zur wirtschaft- lich bedeutendsten und wohlhabendsten aller dortigen Gilden entwickelt.68 Seit 1393 wa-

65 Dyl Vlenspiegel 1515 (wie Anm. 21), Bl. Biii, r. 66 Die folgenden Ausführungen zu den „helmstedtischen Schuhen“ nach: Herbert Blume: Untersuchun- gen zur Topographie der 88. Historie des Eulenspiegelbuchs (wie Anm. 52), S. 302. 67 Hans Wiswe: Sozialgeschichtliches um Till Eulenspiegel. In: BsJb 52 (1971), S. 62-79. 68 Noch heute wird die Helmstedter Walpurgis-Kirche „Schusterkirche“ genannt. An ihr besaß die finan- ziell potente Schuhmachergilde seit dem späten Mittelalter das Patronat. Nach dem Stadtbrand von 1600 finanzierte die Gilde den Wiederaufbau der Kirche. Nach wie vor entsendet auch heute die Schuh- macher-Innung einen „Patron“ in den Kirchenvorstand von St. Walpurgis.

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ren fremde Schuhmacher vom Helmstedter Jahrmarkt ausgeschlossen. Darüber hinaus aber war die Spezialität der Helmstedter Schuhmacher und Gerber die Produktion von Schuhen als Konfektionsware, offenbar in großer Menge. Die unteren und untersten Schichten der Stadt- und Landbevölkerung, die sich die sonst üblichen maßgearbeiteten Schuhe nicht leisten konnten, kauften diese billigen vorgefertigten „helmstedtischen Schuhe“, die in Helmstedt selbst und in seinem Umland auf Märkten angeboten und im Hausierhandel auch auf den Dörfern vertrieben wurden. Wenn Eulenspiegel sich also Geld damit verdient, „helmstedtische Schuhe“ zu flicken, dann repariert er – der sich damit als ungelernter (von allen Schuhmachern verachteter) Flickschuster unterhalb jeder bürgerlichen Zünftigkeit befindet – die Schuhe der kleinen Leute, auch die der Ärmsten der Armen. Damit vollzieht Eulenspiegel, über das Erlernen akrobatischer Landfahrer- künste hinaus, einen weiteren Schritt auf seinem Weg in die spätere Asozialität. Im Braunschweiger Land war diese in der 4. Historie ganz nebenbei aufscheinende Art von „Schuh-Manufaktur avant la lettre“ offensichtlich an die Stadt Helmstedt gebunden, und dem niederdeutschen Autor des Eulenspiegelbuchs war auch diese regionale Besonder- heit bekannt, so wie er sie auch bei seinen Lesern als bekannt voraussetzt, was sich in seiner knappen, nicht weiter erläuterten Nennung der „helmstedtischen Schuhe“ erweist. Stellt man die so erheblichen wie erstaunlichen Kenntnisdefizite in Rechnung, die um 1500 in den Köpfen namhafter Straßburger Gelehrter hinsichtlich der Identität, der Na- men und der geographischen Lage norddeutscher Städte wie Rostock, Schwerin, Mölln, Nordhausen, Northeim, (Hannoversch) Münden herrschten (s. o.), bedenkt man darüber hinaus, dass in der Ulenspiegel-Historie 88 sogar die an sich reichsweit bekannten Namen Einbeck (Bierproduktion) und Lübeck (Hauptort der Hanse) miteinander verwechselt werden, so dürfte es fraglich sein, ob man in Straßburg überhaupt von der Existenz eines braunschweig-lüneburgischen Landstädtchens namens Helmstedt wusste, geschweige denn, ob man gar von der Sonderrolle vernommen hatte, die die Helmstedter Schuh- macher-Gilde mit der Massenproduktion billiger Schuhwaren einnahm. Aber auch falls man wider alle Wahrscheinlichkeit all diese Kenntnisse in Straßburg dennoch besessen hätte, so wäre eine oberdeutsche Leserschaft mit dem so lakonischen wie kryptischen Hinweis darauf, dass Eulenspiegel „helmstedtische Schuhe“ flickte, heillos überfordert gewesen. Ein Autor, der möchte, dass die von ihm intendierte Leserschaft seine Texte auch versteht, formuliert so nicht. Auch der Befund, den uns die Betrachtung der 4. Ulen­ spiegel-Historie bietet, spricht also gegen Schulz-Groberts Straßburg-Hypothese und für die Annahme, dem Eulenspiegelbuch liege eine niederdeutsche Vorfassung zugrunde.

7.

In der Diskussion der Frage, ob die hochdeutschen Straßburger Ulenspiegel-Frühdrucke Übersetzungen einer niederdeutschen Vorlage seien, kommt der 10. Historie eine herausra- gende Bedeutung zu. Der Inhalt der unappetitlichen Geschichte in Kürze: Eulenspiegel hat es mithilfe der Lüge, er sei ein „Höfling“, verstanden, als Knappe in den Dienst eines Ritters zu treten. Als der Ritter zusammen mit ihm an einem Feld entlang reitet, auf dem Hanf wächst, erklärt ihm der Ritter, dass Hanf dasjenige Kraut sei, aus dem man die Stricke ma-

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Das Schwankbuch von Till Eulenspiegel 57 che, mit denen Räuber und auch Raubritter am Galgen aufgeknüpft werden. Deshalb möge Eulenspiegel, wo immer er Hanf erblicke, „hineinscheißen“. (Dass der Dienstherr seinen Knappen Eulenspiegel zu dieser drastischen, als symbolisch-apotropäische Geste versteh- baren Tat auffordert, lässt den Schluss zu, dass auch er ein Leben als Raubritter führt, als einer, der selber den Galgenstrick zu fürchten hat.) Kurz darauf wird Eulenspiegel, der in der Küche hilft, vom Koch des Ritters beauftragt, eine Schüssel Senf aus dem Keller zu holen, die auf dem Tisch des Ritters noch fehle. Eulenspiegel tut wie geheißen, erinnert sich im Keller an die Weisung seines Dienstherrn (die den Hanf betraf), verrichtet seine Notdurft nun aber in das Gefäß mit dem Senf, rührt kräftig um und setzt das Ganze danach auf die ritterliche Tafel. Die Tischrunde wird nach einer ersten Kostprobe von Entsetzen gepackt, man zitiert den Koch herbei, der kostet ebenfalls, speit sogleich aus und ruft: „der senff schmeckt gleich als wer darin geschissen.“69 Eulenspiegel, der sich das Lachen nicht ver- beißen kann, rechtfertigt seine Schandtat mit dem (scheinheiligen) Hinweis darauf, dass ja der Ritter selbst ihn geheißen habe, seine Notdurft in den Senf zu verrichten, wo immer er seiner ansichtig werde. Daraufhin der Ritter: „du feiger schalck [unseliger Spitzbube] das sol dein vnglück sein/ das krut das ich dir zeugt das heißt senep oder senff vnd das dich der koch bringen hieß das heißt senept“70 – und er nimmt einen Knüppel, um Eulenspiegel zu schlagen, der aber ergreift die Flucht „vnd kam nit wider.“71 Anstatt den Ritter hier die Wörter für ‚Hanf‘ und ‚Senf‘ einander gegenüberstellen zu lassen (was das einzig Sinnvolle gewesen wäre), gibt das Straßburger Eulenspiegelbuch von 1515 die empörte Replik des Ritters sinnloserweise einfach nur als eine Folge dreier verschiedener Lautformen des Senf-Wortes (senep/senff/senept) wieder. Damit ist die Pointe zerstört. Offensichtlich war der Straßburger Bearbeiter mit der Übersetzung der Pointe überfordert. Allerdings musste er das auch sein, denn den Wörtern, die im Mittel- niederdeutschen hennep und sennep lauteten, entsprachen im Elsass die frühneuhoch- deutschen Wörter hanf und senf. Die mittelniederdeutschen Wörter (hennep/sennep) rei- men miteinander, die frühneuhochdeutschen (hanf/senf) aber nicht, und deshalb funktioniert die Pointe dieser Historie (die ja darauf aufbaut, dass Eulenspiegel indirekt vorgibt, einem Hörfehler erlegen zu sein und deshalb hennep mit sennep verwechselt zu haben) nur in Norddeutschland. Im oberdeutschen Sprachgebiet hingegen kann eine auf diese Pointe zugespitzte Schwankgeschichte nicht entstanden sein, denn dass jemand statt des Wortes Hanf das vokalisch ganz anders klingende Wort Senf verstanden haben sollte, ist von vornherein unglaubhaft.72 – Jeder von uns, der sich in mehr als einer Sprache be- wegen kann, kennt Witze, die ihrer wortspielerischen Pointe wegen nur in einer bestimm-

69 Dyl Ulenspiegel 1515 (wie Anm. 21), Bl. C ii, v. 70 Ebenda, Bl. C iii, r. 71 Ebenda. 72 Dem Leser des 21. Jahrhunderts scheint es befremdlich, dass Eulenspiegel und offenbar auch seine Ge- sprächspartner den Hanf (eine grüne Pflanze) als auch den Senf (einen Gewürzbrei) unter dem gemein- samen Oberbegriff „Krût“ subsumieren. Mit dem heutigen Wort Kraut wäre das nicht mehr möglich. Im 15. und 16. Jh. jedoch war krût sowohl im Mittelniederdeutschen als auch im Elsässischen um 1500 polysem: es bedeutete einerseits ‚grüne Pflanze‘, andererseits ‚Würze‘ (außerdem: ‚Schießpulver‘). Im Hinblick auf die Bedeutung von krût kann Eulenspiegels (wenn auch nur vorgebliches) Missverständnis also in beiden Sprachen durchaus Plausibilität für sich in Anspruch nehmen. Das Wort bildete somit kein Übersetzungsproblem.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 58 Herbert Blume ten Sprache erzählbar sind. Diese Witze zu erzählen muss man sich dann leider im ande- ren Land manchmal verkneifen, so gut sie auch in die Gesprächssituation gerade passen könnten. Wäre das Straßburger Eulenspiegelbuch eine dortige Originalschöpfung, so hät- te der Urheber deshalb auf die Hanf-Senf-Geschichte (wäre sie ihm denn bekannt gewe- sen) verzichtet und stattdessen lieber eine Historie mit einer ganz anderen Pointe erzählt. Wie wenig Vertrauen der Straßburger Übersetzer in die Verstehbarkeit (und Übersetz- barkeit) der Hanf-Senf-Pointe gesetzt hat, zeigt sich darin, dass er seinen hochdeutschen Lesern im vorhinein, gleich zu Beginn der 10. Historie, eine Verständnishilfe zu geben bemüht ist. Der erste Satz der Geschichte endet nämlich mit den Worten: „[…] vnd bei dem weg stund hanff daz heißt man im land zuo sachsen da Vlenspiegel her ist/ hennep“.73 Diese metasprachlich-kommentierende, zweisprachig-kontrastive Erläuterung des Straß- burger Redaktors (sie beginnt mit daz heißt man und endet mit hennep) ist zwar völlig korrekt, nur nützt sie ihm am Ende der Geschichte nicht, weil der Ritter im Dialog mit Eulenspiegel weder metasprachlich zwischen den Sprachen hin- und herspringen noch sie kontrastiv von außen betrachten kann, sondern auf seine eine einzige Muttersprache an- gewiesen ist: ein elsässisches Oberdeutsch, in dem der Nahezu-Gleichlaut der Bezeich- nungen für Hanf und Senf nun einmal nicht existiert. An dem mit „daz“ beginnenden Halbsatz ist noch ein weiteres Detail von Interesse. In der kurzen Verständnishilfe für den elsässischen, oberdeutschen Leser lesen wir: „daz heißt man im land zuo sachsen da Vlenspiegel her ist/ hennep.“ Wieso eigentlich „ist“? Wieso steht der Relativsatz „da Vlenspiegel her ist“ eigentlich im Präsens? Das Erzähl- tempus des gesamten Eulenspiegelbuchs – abgesehen von der sinnvoll zwischen verschie- denen Tempora wechselnden Vorrede – ist das Präteritum. Stünde im Relativsatz, um den es geht, statt des präsentischen „ist“ die präteritale Form „was“, so bezöge sich das Ver- bum unbezweifelbar auf die literarische Figur Eulenspiegel: der beging (Prät.) die Schand- tat mit dem Senf – und war (Prät.) ja übrigens (wie bei dieser Gelegenheit quasi nachge- tragen würde) aus dem Sachsenland her. Mit der überraschenden, einmaligen Setzung des Präsens „ist“ jedoch ändert sich – für die Dauer eines Lidschlags – die Erzählperspektive. Rekapitulieren wir kurz, welche seman- tischen Funktionen das grammatische Tempus „Präsens“ im Deutschen innehaben kann.74 – Das „eigentliche“ Präsens bezeichnet die Gegenwärtigkeit des Sachverhalts, auf den der Satz referiert, z. B.: Ich sitze gerade am PC. Diese Funktion liegt in unserem Re- lativsatz nicht vor. – Das Präsens bezeichnet oft auch künftiges Geschehen, besonders in gesprochener Sprache, z. B.: Morgen abend halb acht treffen wir uns vorm Theater. Auch diese Funktion ist hier nicht gegeben. – Das sog. praesens narrativum liegt dann vor, wenn ein ganzer Text (Novelle, Roman, Kapitel), obwohl von zeitlich Zurückliegendem handelnd, durchgängig in der gram- matischen Form des Präsens erzählt wird (so z. B. Falladas Roman Kleiner Mann, was nun). Um diese Funktion geht es hier ebenso wenig.

73 Dyl Vlenspiegel 1515 (wie Anm. 21), Bl. Cii, r. 74 Die folgende Typologie der Präsens-Funktionen ist angelehnt an die sehr ähnliche Darstellung in: Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Auflage. , Leipzig, Wien, Zürich 1998, S. 147-150.

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– Das sog. praesens historicum, auch szenisches Präsens genannt, dient dazu, innerhalb eines an sich im Präteritum erzählten Textes eine unvermittelte dramatische Zuspit- zung des Geschehens sprachlich zu markieren (etwa: M. schloss frohen Mutes die Tür hinter sich zu, nahm den Weg zum Bahnhof, kaufte dort eine Zeitung und ging weiter in Richtung Büro. Plötzlich ertönt ein lauter Knall – M. zuckt zusammen.). Zweifellos liegt in Historie 10 auch das praesens historicum nicht vor. – Schließlich dient das Präsens auch zur Benennung von zeitlos bzw. allgemein Gültigem, so z. B. in Aussagen wie: Einmal eins ist eins. Die Astern gehören zur Familie der Korbblüt­ ler. Die Elbe fließt in die Nordsee. Eben diese semantische Funktion hat das im Präsens stehende Wort „ist“ im Relativsatz „da Vlenspiegel her ist“ in der 10. Historie inne. Die Verbform „ist“ im Relativsatz „da Vlenspiegel her ist“ kann als Indiz dafür gewertet werden, dass mit dem Namen Vlenspiegel an dieser Stelle das Eulenspiegelbuch und nicht so sehr dessen Zentralfigur gemeint ist. Indem der Straßburger Bearbeiter, nur während dieses kurzen Relativsatzes, aus dem erzählenden Präteritum ins Präsens „fällt“ (das hier, wie wir gesehen haben, etwas zeitlos Gültiges benennt, und nicht etwa die Figur Eulen- spiegel mit ihren in bunter Folge changierenden Lebenssituationen), schlüpft er für die- selbe kurze Zeitspanne in eine andere Rolle: er wird vom Historien-(Nach-)Erzähler plötzlich zum Kommentator des Erzählten – und gibt bei dieser Gelegenheit, vermutlich ungewollt, zu erkennen, dass er nach einer Vorlage arbeitet, einem Buch, das aus dem „land zuo sachsen“ kommt („her ist“). So verstanden, steht im Relativsatz des Straßburger Drucks von 1515 der Name Vlenspiegel in gleicher Weise metonymisch für das Buch, dessen Hauptfigur der Träger dieses Namens ist, wie es rund 500 Jahre später auf der Jubiläumsbriefmarke der Deutschen Post wiederum der Fall wurde. Das rhetorische, in seinen Spielarten viel umfassendere Verfahren der Metonymie, mit dessen Hilfe hier mit Vlenspiegel/Eulenspiegel bald auf die Figur, bald auch auf das Buch referiert wird, steht in einer langen, seit der Antike belegten Tradition. So konnten z. B. Goethes Zeitgenossen von sich sagen, ihren Werther gelesen zu haben, und heutige Gymnasiasten können uns erzählen, demnächst stehe Felix Krull auf dem Programm. Genannt wird der Name des Helden, gemeint ist das Buch. Wir dürfen also die Passage, um die es hier geht, ohne damit ihren Sinn zu verfälschen, getrost wie folgt paraphrasieren: „im land zuo sachsen da daz bucho von Dyl Vlenspiegel her ist.“ Zu den zwei bisher genannten Indizien, die in Historie 10 auf eine niederdeutsche Übersetzungsvorlage der Straßburger Frühdrucke hinweisen, gesellt sich ein drittes: die Überschrift des Kapitels. Sie lautet: „Die. x. history sagt wie Ulnspiegel ein hoffiunger ward/ vnd in75 sein iunckher76 leerte/ wa er fund das krut henep/ so solt er daryn scheissen/ da scheiß er in senep/ vnd meint henep vnd senep wer ein ding.“77 Die Tatsache, dass die niederdeutschen Wörter henep und senep als Fremdkörper, erratischen Blöcken gleich, in dieser knappen hochdeutschen Inhaltsangabe stehen (und das gleich doppelt), wird man so deuten können, dass der Bearbeiter hier, wo für eine sprachvergleichende Erläuterung nun einmal nicht der Raum gewesen wäre (Überschriften sollen nicht zu lang sein), die

75 Emendiert aus fälschlich gedrucktem iu. 76 Emendiert aus fälschlich gedrucktem innckher. 77 Dyl Vlenspiegel 1515 (wie Anm. 21), Bl. C, v.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 60 Herbert Blume ihm fremden Wörter (dabei um den Leser recht unbekümmert) einfach hat stehen lassen,78 möglicherweise in der Absicht, das Problem im Haupttext der Historie kommentierend anzusprechen. Unzweifelhaft haben wir auch in der Überschrift der 10. Historie Spuren einer niederdeutschen Übersetzungsvorlage vor uns.

8.

Die starken Indizien für eine niederdeutsche Vorlage, die in den hier unter diesem Aspekt erstmals genauer erörterten Historien 4 und 10 (sowie auch in Historie 16) vorliegen, die aber auch in weiteren Historien anzutreffen sind,79 erlauben es, die auf den Titelblättern zahlreicher Ulenspiegel-Drucke des 16. und 17. Jahrhunderts zu lesende explizite Be- hauptung, das Eulenspiegelbuch sei aus „Sachsischer sprach“ übersetzt worden, in neuem Licht zu betrachten. Zum ersten Mal findet sich der Hinweis auf eine niederdeutsche Übersetzungsvorlage auf dem Titel eines 1539 bei Jakob Frölich in Straßburg gedruckten Ulenspiegel. Das Titelblatt hat folgenden Wortlaut: Wunderbarliche/ vnnd seltzame hystorien/ Tyll Vlnspiegels/ auß dem land zuo Braun- schweig bürtig/ newlich auß Sachsischer sprach auff guto Hochdeütsch verdolmetscht. Ge- truckt zuo Straßburg/ bey Jacob Frölich/ im M.D.XXXIX. Jar.80 Die „Volksbücher“-Bibliographie von B. Gotzkowsky81 verzeichnet für das 16. und 17. Jahrhundert insgesamt 17 bewahrte Ulenspiegel-Drucke, deren Titelblätter den Hin- weis tragen, das Buch sei aus dem Niederdeutschen übersetzt.82 In der Diskussion um die Originalsprache des Eulenspiegelbuches hat die Behauptung des Frölich-Titelblatts von 1539 „aus Sachsischer sprach verdolmetscht“ insgesamt nur eine recht periphere Rolle gespielt. Vor allem sind hier wiederum die Autoren Peter Honegger und Jürgen Schulz- Grobert zu nennen, die beide versuchen, Frölichs Zusatz als irrelevant zu eskamotieren. Honegger83 zitiert die nahezu identischen Titelblätter des Straßburger und des Kölner 78 Unverständliche bzw. vom Übersetzer nicht verstandene Wörter des Ausgangstexts (nachlässigerweise) notfalls unverändert in den Zieltext zu übernehmen war eine verbreitete Praxis beim interdialektalen Übersetzen im deutschen Sprachbereich des 15. und 16. Jahrhunderts. Siehe dazu Besch, Sprachland- schaften (wie Anm. 26). Der Ulenspiegel bildet insofern keine Ausnahme. 79 Auf die meisten davon hat bereits Walther, Geschichte des Volksbuchs (wie Anm. 19), aufmerksam gemacht. 80 Bodo Gotzkowsky: „Volksbücher“. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Drucke. Teil I: Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts. Teil II: Drucke des 17. Jahrhunderts. Baden-Baden 1991-1994. Hier: Teil I, S. 474. 81 Ebenda, Bd. I, S. 468-488; Bd. II, S. 141-143. – Der Wortlaut dieser Behauptung variiert im Laufe der Jahr- zehnte nur darin, dass in späteren Drucken „auff guto Hochdeutsch“ oft durch „auf gut Deutsch“ ersetzt ist. 82 Es sind dies außer dem Frölich-Druck von 1539 (1) die folgenden Ausgaben: (2) Köln: Jan van Aich (Lupuspresse) 1539, (3) Augsburg: Alexander Weißenhorn 1540, (4) Straßburg: Jakob Frölich 1543, (5) Ingolstadt: Alexander Weißenhorn 1544, (6) Frankfurt a. M.: Hermann Gülfferich 1545, (7) Frankfurt a. M.: Hermann Gülfferich 1549, (8) Straßburg: Jakob Frölich 1551, (9) Frankfurt a.M. : Jobst Gran 1555, (10) Frankfurt a. M.: Weigand Han, um 1558, (11) Frankfurt a.M.: Christian Egenolffs Erben 1580, (12) o. O.., Drucker unbekannt, 1593, (13) Eisleben: Andreas Petris Erben 1594, (14) o. O.., Dru- cker unbekannt, 1618, (15) Frankfurt a. M., Drucker unbekannt, 1625, (16) o. O.., Drucker unbekannt, 1697, (17) o. O.., Drucker unbekannt, 17. Jh. 83 Honegger, Vlenspiegel (wie Anm. 2), S. 72.

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Drucks von 1539 sogar vollständig, behauptet dann aber, der Übersetzungs-Hinweis „aus Sachsischer sprach“ im Frölich-Druck von 1539 beziehe sich gar nicht auf eine nieder- deutsche Vorlage, sondern auf irgendwelche (von Honegger ad hoc vermuteten) hochdeut- schen Ulenspiegel-Drucke vor 1539, in denen die niederdeutschen Relikte besonders mas- siv gewesen seien. Von einer niederdeutschen Vorlage möchte Honegger also nichts wissen, vielmehr versucht er, die eindeutige Aussage des Titelblatts auf diese Weise um- deutend, seine sprachgeschichtlich nicht begründbare These vom hochdeutsch schreiben- den Bote zu retten. Schulz-Grobert stellt seine Auseinandersetzung mit dem Wortlaut des Frölich’schen Titelblatts von 1539 unter die plakative Kapitel-Überschrift „Der Mythos vom niederdeutschen Ur-Ulnspegel“,84 ohne dann aber an empirischem Material darzu- legen, wieso es sich denn bei der in der bisherigen Forschung meist postulierten nieder- deutschen Vorlage um einen bloßen Mythos und nicht um ein Stück (erschließbare) litera- turgeschichtliche Realität handele. Da Schulz-Groberts Abhandlung insgesamt als ein Versuch der „Entmythologisierung“ bisheriger Eulenspiegelbuch-Forschung angelegt ist, mag hier anstelle erneuter Einzelkritik der Hinweis auf die Auseinandersetzung mit sei- nen Thesen in Abschnitt 6 dieses Aufsatzes genügen. Indessen eignet sich Frölichs Hinweis auf eine niederdeutsche Übersetzungsvorlage auf seinem Titelblatt von 1539 (wie hier erstmals zu zeigen sein wird) viel besser dazu, die einstmalige Existenz einer solchen Vorlage wahrscheinlich zu machen denn sie als bloße Fiktion abzutun. Ohne jeden Zweifel hat Frölichs Hinweis auf den niederdeutschen Hin- tergrund seines Druckes werbende Funktion und darf schon deshalb im Verdacht stehen, auf bloß Fingiertes hinzuweisen. Doch lohnt sich der genauere Blick. Zweifellos ist dem Wort „newlich“ zu misstrauen: eine neu übersetzte Textfassung, die von den auf Grünin- gers Frühdrucke zurückgehenden Ausgaben vor 1539 unabhängig wäre, liegt nämlich weder in Frölichs 1539er Druck85 noch im anonymen Druck von 161886 vor. Frölichs „newlich“ ist somit Fiktion, die in ihrer Wirkungsabsicht dem in jüngeren „Volksbuch“- Nachdrucken nicht seltenen Vermerk „Gedruckt in diesem Jahr“ ähnlich ist. Dagegen dürfte der Passus „auß Sachsischer sprach auff guto Hochdeütsch verdol- metscht“ weitaus belastbarer sein. Immerhin handelt es sich bei dieser Behauptung ja um die Aussage eines Straßburger Bürgers, der Zeitgenosse von Johannes Grüninger (um 1455-ca. 1531) war: des Druckers Jakob Frölich (vor 1500-ca. 1557), quasi eines Zeitzeu- gen. Dass Grüninger und Frölich als Angehörige desselben Gewerbes in der damals (an unseren Maßstäben gemessen) mit etwa 28.000 Einwohnern87 kleinen Stadt einander

84 Schulz-Grobert, Straßburger Eulenspiegelbuch (wie Anm. 2), S. 5-9. 85 Dazu Honegger, Vlenspiegel (wie Anm. 2), 86 Dazu Blume, Von Straßburg nach Göteborg (wie Anm. 14), passim. – Honeggers wie auch mein Urteil basiert auf Stichproben. Eine eingehendere Kollationierung in Betracht kommender Drucke zwischen 1539 und 1697 mit Grüningers Druck von 1515 war im zeitlichen Rahmen dieser Studie nicht zu leisten. 87 Dieser Annäherungswert ergibt sich aus der Darstellung von: Pierre Neymarck: Notes de statistique historique. La liberté d’émigrer des habitants de Strasbourg. In: Journal de la Société statistique de Pa- ris 62 (1921), S. 240-242, hier: S. 242. – Nach Berechnungen, die in aktuellen Internet-Publikationen zu finden sind, ist im Blick auf das frühe 16. Jh. für Straßburg sogar nur die Zahl von gut 16.000 Ein- wohnern anzusetzen. Wegen der (medienbedingt) schwer überprüfbaren Herkunft dieser Zahl ist hier dem Aufsatz von Neymarck der Vorzug gegeben worden.

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kannten, muss außer Frage stehen. Frölich, der in Straßburg88 1520 durch seine Ehe- schließung mit der Witwe Barbara Vehin (womit er zugleich das Bürgerrecht erwarb) erstmals bezeugt ist, war zu diesem Zeitpunkt bereits Faktor (Geschäftsführer) in der Offizin des 1519 verstorbenen Druckers Matthias Schürer im Auftrag von dessen Witwe. 1530 firmiert er erstmals als selbstständiger Drucker. Da Grüninger 1531/32 starb, haben er und Frölich mindestens zwölf Jahre lang als Berufskollegen in derselben Stadt gewirkt: Frölich ist ja bereits Faktor in der Schürer’schen Druckerei, als Grüninger seinen 1519er Ulenspiegel druckt. Es ist daher nicht abwegig anzunehmen, dass man unter Kollegen gegenseitige Kenntnis auch von Details der Entstehungsgeschichte mancher Drucke des anderen hatte, so dass Frölich durchaus hätte wissen können, dass Grüningers frühe Ulen­ spiegel-Drucke letztlich auf eine niederdeutsche Vorlage zurückgehen. Aus welchem Grund kann Frölich es überhaupt für gewinnbringend erachtet haben, auf dem Titelblatt seines Grüninger-Nachdrucks von 1539 die Behauptung einzufügen, dieser sein Vlnspiegel sei (vor erst kurzer Zeit) „aus Sachsischer sprach auff guto Hochdeutsch ver- dolmetscht“ worden? Warum der Hinweis auf die niederdeutsche Herkunft des Textes? Be- denkt man das Desinteresse sogar der Straßburger Bildungsoberschicht an norddeutschen Angelegenheiten, das sich u. a. in dem grotesk verunglückten Itinerar Sebastian Brants und Caspar Hedios offenbart,89 bedenkt man außerdem, dass Norddeutschland sich gerade an- schickte, die eigene Schriftsprache zugunsten der hochdeutschen aufzugeben, wohingegen es eine umgekehrte Tendenz nie gegeben hat, bedenkt man schließlich, dass die deutsche Prosaliteratur des 15. bis frühen 17. Jahrhunderts zum überwiegenden Teil aus Übersetzun- gen bzw. Übertragungen italienischer und französischer Renaissanceromane und -novellen sowie lateinischer Texte der Antike besteht,90 so wie man sich im Deutschland des 16. Jahr- hunderts auch in der Architektur, der Gartenkunst, der Musik von südlichen, vor allem ita- lienischen Vorbildern der Renaissance inspirieren ließ – bedenkt man dies alles, hätte dann Frölichs expliziter Hinweis darauf, dass das Schwankbuch aus der Sprache einer terra incognita, des im Süden weitgehend unbekannten, als kulturfern empfundenen Nieder- deutschland übersetzt sei (und nicht etwa aus dem Italienischen), sich nicht letztlich absatz- hemmend, also zu seinem Nachteil auswirken müssen? So war es nicht. Den Schlüssel zum Verständnis der intendierten Funktion von Frölichs Hinweis bietet uns das Wort „gut“o in der Sequenz „auf guto Hochdeütsch“. Heute gebrauchen wir die Redewendung „auf gut deutsch (gesagt)“ entweder in den Bedeutung ‚rundheraus, unverklausuliert gesagt‘, oder wir kündigen damit deftige Worte an, die außerhalb des Rahmens der Wohlanständigkeit liegen. Seit dem 16./17. Jahrhundert ist „auf gut deutsch“ in der Bedeutung ‚offen, verständlich reden‘ belegt.91 Das Deutsche

88 Die folgenden biographischen Angaben zu Frölich und Grüninger nach: Christoph Reske: Die Buch- drucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing. Wiesbaden 2007, S. 871-872 u. 883-884. 89 Siehe oben, Abschnitt 6. 90 Siehe Gotzkowskys Bibliographie (Anm. 80) sowie die Untersuchung von Xenia von Ertzdorff: Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts. Darmstadt 1989. 91 Lutz Röhrig: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Bd. 1. Freiburg, Basel, Wien 1994, S. 316-318. – Um die häufig mit eingeschlossene Bedeutung ‚ohne Umschweife, geradeheraus‘ geht es an dieser Stelle nicht.

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Wörterbuch der Brüder Grimm führt für 1618 den Beleg „gut teutsch ‚nudis verbis dicere‘„ an.92 Indem Frölich die geläufige Redensart hier modifiziert (statt „auf gut deutsch“ lesen wir „auff guto Hochdeutsch“), will er den potenziellen Buchkäufer glauben machen, er halte eine (noch relativ neue) Ausgabe des Ulenspiegel in Händen, die in verstehbarem Hoch-Deutsch abgefasst sei, die (so darf man ergänzen) erforderlich gewesen sei, weil das zugrunde liegende niederdeutsche (also nicht in „gutem Hochdeutsch“ gedruckte) Origi- nal für den durchschnittlichen elsässischen (und überhaupt süddeutschen) Leser nun ein- mal viel zu schwer lesbar gewesen sei. Kurzum: Frölich verspricht den Kaufinteressenten: Hier habt ihr einen nicht-niederdeutschen, in gutes Hochdeutsch überführten Ulenspiegel, einen, den ihr versteht. Dies impliziert auch, dass es damals in Süddeutschland Leute gab, die unschöne Leseerfahrungen mit dorthin verschlagenen niederdeutschen Ulenspegel- Exemplaren gemacht hatten, weil der Text sich ihnen nicht restlos erschloss. Unwahr ist Frölichs Behauptung einer neuen Übersetzung: was er nachdruckt, ist Grüningers Text. Doch spricht dies keineswegs gegen Frölichs Kenntnis der Grundtatsache, dass der Ulen­ spiegel ein Stück Übersetzungsliteratur aus dem Niederdeutschen ist, zumal Honeggers und Schulz-Groberts Einwände dagegen (wie zu zeigen war) ja nicht verfangen. Als Er- gänzung zu den Textindizien, die oben anhand der Historien 4, 10 und 16 exemplarisch dargestellt worden sind, dürfen wir Frölichs Zusatz auf dem 1539er Titelblatt als ein wei- teres, und zwar gewichtiges Indiz für eine (wenn auch nicht erhaltene) niederdeutsche Vorlage der Straßburger Frühdrucke betrachten.

9.

Ging es in den Abschnitten 6 bis 8 um die Erörterung von Indizien, die für ein nieder- deutsches Ulenspegel-Schwankbuch als Übersetzungs-Vorlage der Straßburger Früh­ drucke sprechen, so engen wir nunmehr den Fokus der Überlegungen auf die Frage ein, was denn auf Braunschweig (im Gesamt des niederdeutschen Sprachbezirks) als Entste- hungsort eines solchen Ulenspegel hindeutet. Zunächst fällt auf,93 dass die Stadt Braun- schweig und eine Reihe von Orten in ihrer näheren Umgebung (Kneitlingen, Ampleben, der als Höhenzug, Büddenstedt, Kissenbrück als Sitz des Gerichtsbezirks Asseburg, Wolfenbüttel, Hoheneggelsen, Peine, Helmstedt) als Handlungsorte der Historien einen auffälligen Schwerpunkt des Geschehens im Ulenspiegel bilden. Darüber hinaus verfügt der Erzähler über eine erstaunliche Ortskenntnis innerhalb der Stadt: So wohnt z. B. der Stiefelmacher in Historie 45 auf dem Kohlmarkt, gleichsam Wand an Wand mit dem Schuhhof,94 wo die Schuhmacher ansässig waren. Oder: Am Schluss von Historie 19, der Eulen-und-Meerkatzen-Geschichte, verkauft Eulenspiegel (am Vorabend von St. Niko- laus) geschäftstüchtig seine Backwaren genau vor der (dann gut besuchten) kleinen Niko- laus-Kapelle, unauffällig in einer vom Damm nahe dem Bohlweg abzweigenden Sack-

92 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 2. Leipzig 1860 (Neudruck Mün- chen 1984), Sp. 1047-1048. 93 Das im Folgenden summarisch Aufgeführte ist in der Forschung vielfach registriert worden, ausführ- lich zuerst von Walther, Volksbuch vom Eulenspiegel (wie Anm. 19), S. 51 f. 94 An ihn erinnert noch heute der Name der Schuhstraße.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 64 Herbert Blume gasse gelegen, die man als Braunschweiger kannte, die von einem Ortsfremden aber kaum wahrgenommen worden wäre. Eine herausragende Rolle in der Diskussion der Frage, ob denn ein Braunschweiger der Ulenspegel-Autor gewesen sei, kommt indessen der Historie Nr. 1 zu, die Eulen- spiegels Geburtsort Kneitlingen nennt und von seiner Taufe in Ampleben samt den an- schließenden feucht-fröhlichen Turbulenzen berichtet. Ohne jede erzählerisch-inhaltli- che Notwendigkeit (vielleicht nur, um zu versichern, dass es dieses Ampleben wirklich gibt), gleichsam en passant, lässt der Autor uns zu Ampleben an dieser Stelle u. a. wis- sen: „die kirchen vnd daz dorff da bei/ hatt nun der wirdig Arnolff pfaffenmeier apt zuo sunten [Jlien].“ 95 Kenntnis des über das Braunschweiger Umland hinaus ja nicht rele- vanten Umstands, dass um 1500 ein gewisser Arnold Papenmeier Abt des Braunschwei- ger Ägidienklosters war, der in dieser Eigenschaft in Ampleben die grundherrlichen Rechte ausübte, konnte man durchaus in Braunschweig, kaum aber im fernen Straßburg besitzen. Die stupende Kenntnis gerade dieses (in der Sache völlig korrekten) Details spricht für einen Braunschweiger als Ulenspegel-Autor. Dies nun bestreitet Schulz-Gro- bert, indem er einerseits darauf aufmerksam macht, dass Abt Papenmeiers Name ja in dem um 1508 in Braunschweig bei Hans Dorn gedruckten Tytel boek (einem Leitfaden für die Wahl der korrekten brieflichen Anrede geistlicher und weltlicher Würdenträger) als Beispiel angeführt und damit „als epistolare Exempelfigur […] überregional abruf- bar“ gewesen sei.96 In Straßburg habe man daher den Namen und das geistliche Amt Papenmeiers durchaus kennen können. (Darüber, wie man dort aus dem Tytel boek denn auch Informationen über die grundherrlichen Rechte Papenmeiers in Ampleben hätte gewinnen sollen, schweigt Schulz-Grobert sich allerdings aus.) Andererseits aber sei die Kenntnis von Braunschweiger Details bei den (Straßburger) Eulenspiegelbuch- Autoren so groß auch wieder nicht, denn in Wahrheit sei gar nicht der Abt von St. Ägi- dien, sondern die Stadt Braunschweig Grundherr in Ampleben gewesen.97 Hier nun irrt Schulz-Grobert. Die Stadt hatte von 1454 bis mindestens 1540 Ampleben (Burghof, Pfarrhof und Ländereien) an das Ägidienkloster verpfändet, und dessen Abt übte die grundherrschaftlichen Rechte aus.98 Der Ulenspiegel-Autor erweist sich also als her- vorragend informiert. Wie gezeigt werden konnte, beruhen Schulz-Groberts Zweifel an der Aussagekraft der 1. Historie zugunsten eines Braunschweiger Ulenspegel-Autors teils auf anachronistischen Vorannahmen (überregionale „Abrufbarkeit“ [sic] biogra- phischer Daten im 16. Jahrhundert), teils auf mangelnder Information über konkrete Details (Verpfändung Amplebens an das Kloster). Als Fazit ist festzuhalten, dass sich

95 Dyl Vlenspiegel 1515 (wie Anm. 21), Bl. Aiii, v. – Ilien ist die mittelniederdeutsche Sprechform von Egidien. Zu Abt Papenmeier im Konflikt mit dem Braunschweiger Rat (in P.s Todesjahr 1510) vgl. auch Schichtbuch (wie Anm. 28), S. 406f. Siehe Eberhard Rohse: Der Chronist als Hagiograph. Der Braun- schweiger Stadtheilige Sankt Autor im Werk Hermann Botes. In: Eulenspiegel-Jahrbuch 38 (1998), S. 11-69, hier S.12 f, 96 Schulz-Grobert, Straßburger Eulenspiegelbuch (wie Anm. 2), S. 20. 97 Ebenda, S. 19. 98 Hermann Kleinau: Geschichtliches Ortsverzeichnis des Landes Braunschweig. Bd. I: A-K. Hildes- heim 1967, S. 24. – Vgl. hierzu auch: Herbert Blume: Rez. von Schulz-Grobert, Straßburger Eulenspie- gelbuch (wie Anm. 2). In: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit 30 (2001), S. 363-369.

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gerade in Historie 1 – noch deutlicher und eindrücklicher als in mehreren anderen His- torien – Indizien kristallisieren, die auf einen Braunschweiger als Autor des Eulenspie­ gelbuchs hinweisen.99

10.

Hat sich in der bisherigen Erörterung die Waage also eindeutig zugunsten der Annahme geneigt, dass die Straßburger Eulenspiegelbuch-Frühdrucke auf einer niederdeutschen Vorlage basieren und dass diese in Braunschweig entstanden sein dürfte, so bleibt ab- schließend die Frage nach dem mutmaßlichen Autor100 des Schwankbuchs zu stellen. Walther101 hatte 1893 den Braunschweiger Hermann Bote (wenn auch noch recht zurück- haltend) als Autor vorgeschlagen, wohl weil er angesichts der Erzählqualität, die in Botes (kurz zuvor ediertem) Schichtbuch zutage tritt, dem Braunschweiger Verfasser dieses le- bendig erzählten Exempelbuchs auch die Urheberschaft am Ulenspiegel zutraute. Honeg- gers 1973 publizierte Entdeckung des Akrostichons ERMANB wurde in der Fachwelt zunächst als eine späte empirische Bestätigung des von Walther nur als Vermutung ins Spiel Gebrachten aufgenommen. Erst 1988 regte sich Widerspruch gegen Honeggers Deu- tung des Akrostichons, indem Hucker – inzwischen Edward Schröder folgend, der Bote als Autor mit (wie oben gezeigt werden konnte) nicht stichhaltigen Argumenten abgelehnt hatte – an die Stelle Hermann Botes versuchsweise eine Reihe von Braunschweiger Bote- Zeitgenossen als potenzielle Ulenspiegel-Autoren setzen wollte, deren Rufname ebenfalls Herman/Hermen war und deren Familienname mit B begann. Die Namen Herman Bans- leve, H. Barbeke, H. Berckenvelt, H. Besten, H. Bobel hatte er dem Namenregister von Hänselmanns Schichtbuch-Edition entnommen.102 Da Bote 1988 schon seit Jahrzehnten als Autor eines breiten schriftstellerischen Œuvres bekannt war, Huckers Ersatzkandida- ten jedoch allesamt literarhistorische „nobodies“ sind, von denen man auch sonst kaum etwas weiß, hat Huckers Vorschlag keine Resonanz gefunden. Dass Schulz-Grobert, des- sen Zentralthese ja die Nichtexistenz einer niederdeutschen Übersetzungsvorlage ist, des- halb auch nicht mit einem Ulenspiegel-Autor Bote rechnen kann, versteht sich. Die Deutung der Buchstabenfolge ERMANB als versteckte Selbstnennung des Au- tors Hermann Bote, 1973 vom Juristen und Hobby-Philologen Honegger sprachhistorisch nicht völlig schlüssig begründet, ist inzwischen, nicht nur was das Fehlen des anlautenden H angeht, mit einem wissenschaftlich wesentlich solideren Fundament versehen worden.

99 Für Braunschweig spricht außerdem der von Timothy Sodmann entdeckte Holzschnitt eines Eulenspie- gel-zu-Pferde in einem Druck des Braunschweiger Druckers Hans Dorn vom Anfang des 16. Jhs.: Timothy Sodmann: Braunschweig und der niederdeutsche Eulenspiegel. In: Niederdeutsches Wort 20 (1985), S. 209-215. 100 Unter „Autor“ ist, in Übereinstimmung mit den Auffassungen der frühen Neuzeit, nicht notwendiger- weise der „Urerfinder“ der erzählten Historien, sondern vielmehr deren Kompilator und Bearbeiter zu verstehen, was die Hinzufügung neuer, in Gesprächen erfahrener oder selbst erfundener Geschichten jedoch nicht ausschließt. 101 Walther, Volksbuch vom Eulenspiegel (wie Anm. 19). 102 Bernd Ulrich Hucker (und Wolfgang Virmond): Nachbemerkung. In: Schröder, Volksbuch vom Eu- lenspiegel (wie Anm. 42), S. 113-122, hier: S. 122.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 66 Herbert Blume

Ulrich Seelbach hat 2005 in einem umfangreichen Aufsatz103 plausibel machen können, dass (vor dem Hintergrund des frühneuzeitlich sich herausbildenden Arminius- bzw. Her- mann-Mythos) auch „die Zeitgenossen Botes die Namen Arminius, Hermann, Hermen, Harmen und eben Erman als Varianten ein und desselben Namens“104 begreifen konnten. „Warum sollte nicht der Chronist Bote eine absichtlich altertümliche Namensform gewählt haben, um seinen Namen ins Spiel zu bringen?“105 Im selben Aufsatz macht Seelbach zu- dem in minutiöser Textanalyse sichtbar, dass sich die Fehlstellen in den vier hochdeut- schen Alphabet-Akrostichen der Straßburger Frühdrucke auf einfache Weise reparieren lassen, wenn man die hochdeutschen Anfangswörter der betreffenden Historien in genau jenes ostfälische Mittelniederdeutsch (rück-)übersetzt, das Bote in seinen übrigen Werken schreibt.106 Seelbachs Aufsatz ist somit ein eindrucksvolles Plädoyer sowohl für „einen Verfasser eines niederdeutschen Eulenspiegel-Buches und einen oberdeutschen Verfasser/ Bearbeiter“107 als auch für den Ulenspiegel-Autor Hermann Bote. Darüber hinaus sei hier abschließend auf ein weiteres in der Forschung bislang nicht beachtetes Indiz aufmerksam gemacht, welches darauf hindeutet, dass als Autor des Eu­ lenspiegelbuchs insbesondere der Braunschweiger Zollschreiber (Hermann Bote) in Be- tracht kommt. Auffällig war in Hist. 1, wie ungemein präzise informiert über die um 1500 aktuelle grundherrschaftliche Zugehörigkeit Amplebens der Erzähler sich zeigt. Gerade der Zollschreiber der Stadt musste genaue Kenntnisse dieser Art jedoch von Amts wegen besitzen. Ein Beispiel aus dem von Bote im Ratsauftrag verfassten Zollbuch108 mag das, stellvertretend für weitere mögliche, illustrieren. Der Braunschweiger Zollschreiber hatte von den durchreisenden Kaufleuten und den auf den Märkten der Stadt ihre Waren anbietenden Bauern des Umlandes außer dem Zoll, dessen Höhe sich nach Art und Menge der Waren bemaß, zusätzlich auch noch das Wege- geld (wechpennich), das je nach Wagentyp pauschal zu entrichten war, zu erheben. Im Kapitel „Wechpennige“ des Zollbuchs geht Bote auf die besonders gelagerte Wegegeld- pflicht der Bauern des Dorfes ein, zwischen Wolfenbüttel und Halberstadt auf halberstädtischem Territorium gelegen. Roklum dürfte (vermutlich im 13. Jahrhundert) als Pfand in den Besitz der Grafen von Asseburg gelangt sein; nach deren Entmachtung 1258 ging die Asseburg samt ihrem Gerichtsbezirk (und dem Pfand Roklum) in das Eigen- tum der Braunschweiger Herzöge über. Burg und Gericht wurden von diesen im 14. und fast das gesamte 15. Jahrhundert hindurch mehrfach an die Stadt Braunschweig verpfän- det. Stadtbraunschweiger Pfandbesitz blieb das Gericht auch noch über die Zerstörung der

103 Seelbach: Vier Alphabete (wie Anm. 30). 104 Ebenda, S. 112. 105 Ebenda. 106 Damit verfolgt Seelbach nicht das Ziel einer sprachlichen Rekonstruktion der niederdeutschen Vorlage. Honegger hatte die Brüche in den Akrostichen durch methodisch fragwürdige, relativ willkürliche Um- bauten der Kapitelabfolge des Ulenspiegel zu heilen versucht, Seelbach kommt ohne solche Eigen- mächtigkeiten aus. 107 Ebenda, S. 81. 108 Dat tollen boyk der stad to Brunswick van dem gude dat [me] dar vt vnde in dr[e]cht dat tolbar is. Stadtarchiv Braunschweig B I 9, Bd. 57. – Vgl. Herbert Blume: „Tollenschriver“ in Braunschweig und „Hogrefe“ im Papenteich? Beobachtungen zu Botes Leben anhand seines Zollbuchs. In: Blume, Bote (wie Anm. 14), S. 187-210.

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Asseburg (1492) hinaus bis 1569, allerdings erscheint Roklum erstmals um 1510 nicht mehr in den Verzeichnissen der zum Gericht Asseburg gehörenden Dörfer, scheint also von Halberstadt ausgelöst worden zu sein. 1584 finden wir Roklum dann wieder als Eigentum des Halberstädter Domkapitels bezeichnet.109 Roklum war somit Objekt zweier ineinander verschachtelter Verpfändungen: zunächst an den jeweiligen Grundherren der Asseburg und obendrein, mitsamt dem Gerichtsbezirk Asseburg, auch an die Stadt Braun- schweig. Bote schreibt sein Zollbuch 1502/03 nieder, als Roklum sich offenbar in einem Zu- stand der Noch-Zugehörigkeit zum Asseburger Gericht (d. h. unter der Gewalt des Rates bzw. der von St. Ägidien) und der Noch-nicht-Rückführung in halberstädtisches Eigen- tum befindet, wenn er, im Sinne eines „je nachdem“, über Roklums Wegegeld-Pflicht notiert: „Sunder dat torpp to Rokele is dat jn deme heren denste to der Asseborch so is dat fry ouer is dat vnder deme domproueste [sc. to Haluerstat. HB] so gyft dat den wechpen- nige.“110 Wie aus der Offenheit der Formulierung (denn das Zollbuch sollte ja viele Jahre benutzbar bleiben und möglichst weniger Korrekturen bedürfen) zu erschließen ist, hatte Bote als einer der Ratsschreiber Einblick in die finanzpolitischen Planungen und Ver- handlungen des Braunschweiger Rates. Mit seiner Erwägung, auch der Dompropst von Halberstadt könne wohl eines Tages wieder Grundherr von Roklum sein, hat er à la lon- gue sogar Recht behalten.111 Einem Braunschweiger Zollschreiber, der sich in Sachen Roklum – und zwar von Berufs wegen – so gründlich auskennt, dürfen wir vorbehaltlos auch die entsprechenden Kenntnisse für das Dorf Ampleben zutrauen. Gerade seine Rats- schreibertätigkeit und die damit einhergehende Einsicht in politische und rechtliche Inter- na, die im Braunschweiger Rat verhandelt wurden, aber auch die Notwendigkeit, solche Kenntnisse im Berufsalltag des Zolleinnehmers umzusetzen, machen – wie der Fall Rok- lum zeigt – Bote zu demjenigen, der in Braunschweig als Autor einer niederdeutschen Ulenspiegel-Vorlage besonders in Betracht kommt, und zwar mehr als sämtliche anderen bisher in der Forschung als Ulenspegel- oder Eulenspiegelbuch-Verfasser erwogenen Per- sonen innerhalb und außerhalb Braunschweigs.

11.

Die kritische Sichtung der wesentlichen seit 1893 geleisteten Diskussionsbeiträge zur Fra- ge nach dem Entstehungsort des Eulenspiegelbuchs hat ergeben, dass die hochdeutschen Straßburger Frühdrucke des Schwankbuchs (1510/11, 1515, 1519) zweifelsfrei auf einer (kurz zuvor entstandenen) niederdeutschen Übersetzungsvorlage basieren, als deren Au-

109 Das Vorstehende nach: Hermann Kleinau: Geschichtliches Ortsverzeichnis (wie Anm. 98), Bd. I, S. 31, Bd. II, S. 487 f. 110 Bote, Zollbuch (wie Anm. 108), S. 141. 111 Das Bistum Halberstadt ist über seine Vereinigung mit dem Kurfürstentum Brandenburg schließlich preußisch geworden. Roklum, heute zu Niedersachsen gehörig, ist erst 1941 im Zuge eines großräumi- gen Gebietstauschs der preußischen Provinzen Hannover und Sachsen mit dem Land Braunschweig, der mit der Gründung der Reichswerke Watenstedt-Salzgitter einherging, braunschweigisch geworden und 1945 dann in der britischen Besatzungszone verblieben.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 68 Herbert Blume tor mit höchster Wahrscheinlichkeit der Braunschweiger Zollschreiber (und damit: Rats- schreiber) Hermann Bote gelten darf. Die gegen die (gesamte oder partielle) Gültigkeit der Trias „niederdeutsche Sprache, Braunschweig, Bote“ im Lauf der Jahrzehnte biswei- len vorgetragenen Einwände haben sich recht leicht widerlegen lassen. In der Mehrzahl der Fälle mangelte es den Kritikern (zu denen im Fall des Eulenspiegelbuchs ja Juristen, Historiker, Grundschulpädagogen gehören, aber auch Germanisten ohne Erfahrung in der Philologie des Niederdeutschen und seiner Geschichte) von vornherein an zureichender Sprachgeschichtskenntnis, so dass ihnen entweder Fehlurteile unterlaufen sind oder aber sie die solchermaßen entstandenen Irrtümer anderer kritiklos in ihre eigenen Publikatio- nen übernommen haben, wo sie dann oft als gesicherte Erkenntnisse dargestellt sind. Fraglos nicht zu diesem Typus des „Eulenspiegelforschers“ gehörte der bedeutende Göt- tinger Germanist Edward Schröder (1858-1942), der sich Jahrzehnte seines Lebens hin- durch immer wieder forschend mit dem Eulenspiegelbuch befasst hat. Die evidenten Irr- tümer, die ihm dennoch bei der Zurückweisung der Bote-These unterlaufen sind (einer davon auch sprachhistorischer Art), lassen sich wohl dadurch erklären, dass Schröder im hohen Alter keine Gelegenheit mehr gefunden hat, seine (von ihm ja unvollendet hinter- lassenen) Untersuchungen zum Volksbuch von Eulenspiegel (1936) abzuschließen und für eine Drucklegung nochmals kritisch durchzusehen.112 Die bereits an sich befremdliche Vorstellung, ein Straßburger Ulenspiegel-Autorenteam habe um 1500 über ein „network“ von Kommunikationsmöglichkeiten verfügt, mit dem es Informationen über kleinste Rea- litätsdetails braunschweigischer Städte und Dörfer habe „abrufen“ können, war durch ei- nige Proben aufs Exempel leicht ad absurdum zu führen. Die Haltbarkeit der grundlegen- den „bewährten“ Argumente für die Trias „niederdeutsch, Braunschweig, Bote“ hat sich auf diese Weise als unerschüttert erwiesen. Die hier vorgetragenen „neuen“ Argumente sind verschiedener Natur. Zunächst ist die in der bisherigen Forschungsdiskussion schon oft gestellte Frage, ob denn dieser oder je- ner (im Hinblick auf seinen Bildungsgrad, seine Konfessionszugehörigkeit, seine sonsti- gen Schriften etc.) als Textproduzent überhaupt in Frage komme, erweitert worden durch die Einbeziehung der Rezipientenseite: Was für ein Publikum wäre denn kurz nach 1500 prädestiniert oder zumindest in der Lage gewesen, das Eulenspiegelbuch lückenlos zu verstehen? Die genauere Inspektion der Historien 4 (helmstedtische Schuhe), 10 (Hennep/ Sennep) und 16 (Koldingen) vermittelt exemplarisch die Antwort: kein Straßburger ober- deutsches Publikum, sondern eines aus der niederdeutschen, der Braunschweiger Gegend. Weiterhin konnte hier erstmals auf zwei Stellen des Eulenspiegelbuchs aufmerksam ge- macht werden, an denen die sonst immer nur postulierte niederdeutsche Vorlage schwarz auf weiß genannt wird: die metonymische Nennung in Historie 10 („da Vlenspiegel her ist“) und Jakob Frölichs deutlicher Hinweis auf dem Titelblatt von 1539: „aus Sachsischer sprach auff guto Hochdeütsch verdolmetscht“, ein Zusatz, der zwar werbende Funktion hat, aber grundsätzlich dennoch nicht unwahr ist. Neu ist schließlich die Einbeziehung von Botes Zollbuch in die Diskussion um den Autor des Ulenspiegel. Botes von Amts wegen vorzügliche Kenntnisse der grundherrschaftlichen Verhältnisse im Braunschweiger Um-

112 Schröders Manuskript ist 1988 von Hucker und Virmond ediert worden: Schröder, Volksbuch von Eu- lenspiegel (wie Anm. 42).

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land (Beispiel: Roklum) sprechen wegen ebenso präziser Kenntnisse in Sachen Ampleben dafür, dass der Zollschreiber als Autor der niederdeutschen Vor-Fassung des Schwank- buchs gelten darf. Die als Überschrift gewählte Formulierung „Das Schwankbuch von Till Eulenspiegel – ein Buch aus Braunschweig“ hat demnach Bestand. Zweierlei jedoch darf dabei nicht übersehen werden. Erstens: Die in dieser Überschrift zwar nicht ausgesprochene, aber doch mit gemeinte Behauptung, Hermann Bote sei der Autor einer niederdeutschen Vor- lage der Straßburger Ulenspiegel-Frühdrucke, stützt sich nach wie vor einzig auf ein In- dizien-Gebäude, das aus einer Vielzahl je für sich plausibler Elemente besteht. (Bei wei- tem nicht alle stützenden Indizien sind hier zur Sprache gekommen, und eine Anzahl weniger belastbarer sind vorsätzlich unerwähnt geblieben.) Mit den obenstehenden Aus- führungen ist das Gesamt-Netz (um ein anderes Bild zu verwenden) der Indizien zwar wiederum engmaschiger und damit sehr tragfähig geworden, besonders was den nieder- deutsch-braunschweigischen Ursprung betrifft, doch ist eben weiterhin kein zeitgenössi- sches Zeugnis bekannt, das expressis verbis Bote als den Autor benennt. Botes Autor- schaft ist also weiterhin eine nur erschlossene, wenn auch eine mit inzwischen überaus hoher, hier noch weiter befestigter Wahrscheinlichkeit, die an Sicherheit grenzt. Zweitens: Der literarische Welterfolg des Eulenspiegelbuchs, seine Übersetzungen, Übertragungen, Bearbeitungen, die in einer kaum mehr zu überschauenden Zahl von Sprachen unserer Welt vorliegen, das Eigenleben der Eulenspiegelfigur in anderen Literatur- und Kunstgat- tungen sowie Medien, im Journalismus, in der Werbung, im Karneval u. a. m. – das alles ist nicht von Braunschweig ausgegangen, sondern von den Straßburger Frühdrucken. Da diese aber – wie hier gezeigt werden konnte – eben kein Straßburger Originalprodukt sind, sondern bis auf wenige Historien in einer niederdeutschen, Braunschweiger Vorlage wur- zeln, darf man in diesem Sinne das Eulenspiegelbuch durchaus als das bezeichnen, was es ist: als ein Buch aus Braunschweig.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Musikinstrumentenkäufe am frühneuzeitlichen Hof der Wolfenbütteler Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg

von

Sigrid Wirth

Zumeist werden in musikwissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Hofmusik des 16. und 17. Jahrhunderts einzelne Musiker oder Komponisten, Musikinstitutionen oder die regionalen bzw. überregionalen Netzwerke in den Mittelpunkt gestellt, über die ein perso- neller und musikalischer Austausch stattfand. Auf den Umfang und Ablauf der Akquisi- tion von Musikinstrumenten zur Ausführung höfischer Musik hingegen wird meistens nur am Rande eingegangen, zumal die Aktenlage (bzw. deren Mitteilung) diesbezüglich oft dürftig zu sein scheint. Es gibt verschiedene Berichte über schriftliche Belege der Instrumentenausstattungen der Hofkapellen bzw. den Instrumentenbesitz frühneuzeitlicher Fürstenhöfe. Musik­ instrumente dienten natürlich in erster Linie zum Gebrauch der Hofmusiker zur Ausfüh- rung der Musik in der Kirche und vor der Tafel. Ein Beispiel eines Inventars einer Hof- kapelle gibt Noack für den Darmstädter Hof; neben sporadischen Instrumentenkäufen ab 1569 nennt sie ein Inventar des Instrumentenbestandes von 1623.1 Desweiteren wurden Instrumente auch von den Herrschenden selbst zum eigenen Gebrauch genutzt (so gibt das Nachlassinventar Elisabeths von Hessen-Kassel (1596-1625), der Tochter des Landgrafen Moritz, Auskunft über die Musikinstrumente, die sich in ihrem persönlichen Besitz be- fanden),2 oder als Kunstkammerobjekte gesammelt. Als Beispiel für Letzteres sei die Schilderung des Kunsthändlers Philipp Hainhofer anlässlich seines Besuches am Dres­dner Hof im Jahr 1629 genannt, die einen Einblick in den Instrumentenbestand der dortigen Kunstkammer gestattet.3 Weitere Zeugnisse großer Sammlungen, allerdings außerhalb des deutschen Raums, bieten die Instrumenteninventare Marias von Ungarn und Heinrichs VIII. von England aus dem 16. Jahrhundert. Darüber hinaus sind auch Händler­inventare erhalten geblieben, so z. B. ein Verzeichnis über einen durch die italie- nischen Musiker Alessandro Orologio und Francesco Sogabria für die Kasseler Hofkapel- le getätigten Kauf von Musikinstrumenten im Jahr 1595.4

1 Elisabeth Noack: Musikgeschichte Darmstadts vom Mittelalter bis zur Goethezeit. In: Beiträge zur Mittelrheinischen Musikgeschichte: Bd. 8: Mainz 1967, S. 66. 2 Claudia Knispel: Das Lautenbuch der Elisabeth von Hessen. Frankfurt a. M. 1993, S. 37. 3 Bettina Jessberger: Soll die gantze Musica auffwarten und die besten newen Stücke künstlich und wol musiciren. In: Die Musikpflege in der evangelischen Schlosskapelle Dresden zur Schütz-Zeit. Sächsi- sche Studien zur älteren Musikgeschichte: Bd. 3. Hrsg. v. M. Herrmann. Altenburg 2009, S. 171. 4 Ernst Zulauf: Beiträge zur Geschichte der Landgräflich-Hessischen Hofkapelle zu Cassel bis auf die Zeit Moritz des Gelehrten, Kassel 1902, S. 48.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 72 Sigrid Wirth

Durch Analyse derartiger Hofkapell-, Hausstands- und Nachlassinventare, Verzeich- nisse oder Rechnungen neu hinzugekaufter bzw. der Reparatur vorhandener Instrumente können vielfältige Informationen gewonnen werden. Nicht nur die Art und der Umfang der instrumentalen Ausstattung der jeweiligen Hofkapelle wird durch sie deutlicher, es lassen sich u. U. auch Rückschlüsse auf das ausführbare Repertoire und dessen Änderung über die Zeit hinweg ziehen und Rückschlüsse auf innovative Ideen der für die Hofmusik Verantwortlichen gewinnen. Für den Wolfenbütteler Herzogshof der Zeitspanne 1570-1626 gibt es bisher keine systematische Auswertung und Beschreibung des Musikinstrumentenbestandes bzw. sei- nes Erwerbs. Dieser Aufsatz soll diese kleine Lücke füllen und gemäß der oben beschrie- benen Kategorisierung von Instrumentenerwerb und -besitz die Wolfenbütteler Gegeben- heiten referieren. Die Grundlage der Informationen bilden vorrangig die weitgehend erhaltenen Hofkammerrechnungen des Wolfenbütteler Hofes. Auf den umfangreichen Themenkomplex der großen, von David Beck, Esaias Compenius und Gottfried Fritzsche im herzoglichen Auftrag erbauten Orgeln kann hier nur im Rahmen der aus den Kammer- rechnungen ersichtlichen Informationen eingegangen werden, für Weiterführendes wird auf die spezielle Literatur verwiesen.5 Am Hof der Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg Julius (1528-1589), Heinrich Ju- lius (1564-1613) und Friedrich Ulrich (1591-1634) entstand im Laufe des ausgehenden 16. und des beginnenden 17. Jahrhunderts eine Hofkapelle, die besonders unter Herzog Hein- rich Julius der Verpflichtung und dem Drang zur höfischen Repräsentation genügen musste. Enge dynastische Beziehungen der Wolfenbütteler Fürstenfamilie bestanden mit den Höfen Brandenburgs und Sachsens, dem dänischen Hof Christians IV., mit dem Bückeburger Hof des Grafen Ernst III. zu Holstein-Schaumburg und später auch mit dem englischen Königs- haus unter James I. Diplomatische Kontakte des Herzogs Heinrich Julius bestanden z. B. zum Kasseler Hof des Landgrafen Moritz zu Hessen-Kassel sowie zu Kaiser Rudolf II. an dessen Prager Hof. Durch diese vielfältigen Beziehungen kam es bei zahlreichen Besuchen und Gegenbesuchen bei familiären oder politischen Anlässen auch zu Kontakten der Musi- ker untereinander. Ein Bestehen in diesem Wettbewerb der musikalischen Repräsentation setzte eine entsprechende quantitative und qualitative personelle Besetzung der Hofkapelle voraus, jedoch auch eine adäquate Ausstattung mit Instrumenten. Minderwertige Instru- mente oder eine lückenhafte Ausrüstung konnten einen noch so guten Vortrag scheitern lassen und damit dem herrschaftlichen Ruhm Abbruch tun. Was war dem Landesherrn die Musik wert? Nicht allein die Anzahl und Qualität der Musiker und die Höhe ihrer Besoldung, sondern auch die Art und Qualität der Instrumen- te können womöglich darüber Aufschluss geben. Aus Instrumenteninventaren lassen sich die oft nur dürftigen Angaben aus Hofbesoldungslisten über die Besetzung der verschie- denen Instrumentengruppen innerhalb der Hofmusik ergänzen, wenn jene – wie im Bei-

5 Wolf Hobohm: Zur Geschichte der David-Beck-Orgel in Gröningen. Nebst Bemerkungen zum kultur- geschichtlichen Hintergrund. In: Bericht über das 5. Symposium zu Fragen des Orgelbaus im 17./18. Jahrhundert. (Beiheft zu den Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation von Musik des 18. Jahrhunderts). Hrsg. v. Eitelfriedrich Thom. Blankenburg 1985, S. 50-70; Gerhard Aumüller: Überlegungen zur Beck-Orgel der Schlosskapelle Gröningen. In: Praetorius-Blätter 20 (2010), S. 3-14. Jean-Charles Ablitzer: Organum Gruningense Redivivum. Belfort 2009.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Musikinstrumentenkäufe am frühneuzeitlichen Hof der Wolfenbütteler Herzöge 73 spiel des Wolfenbütteler Hofes – nur den Kapellmeister und den Hoflautenisten als solche benennen. Auch erhaltene Musikerbestallungen geben zumindest in Wolfenbüttel hierü- ber außer den Angaben Cantor, Instrumentist oder Musikant, bzw. die recht diffuse Flos- kel, der Musiker solle „sich auf allerhand Instrumenten gebrauchen lassen“ häufig keine Klarheit, falls sie überhaupt erhalten geblieben sind. Zu welchen Gelegenheiten war Repräsentation durch Hofmusik den Herrschenden be- sonders wichtig? Regierungsübernahmen, Heiraten, diverse weitere Familien- oder Hof- feste mit hochrangigem Besuch stellten besondere Anforderungen an den Kapellmeister und seine Musiker. Rechnungen über Instrumentenankäufe als Zeichen der Erneuerung oder Erweiterung der Kapelle zu derartigen Gelegenheiten geben entsprechende Einblicke, lassen Rückschlüsse auf den Stellenwert der Hofmusik zu, wo Schilderungen der Festlich- keiten und der näheren Umstände und Inhalte der dargebotenen Festmusik meist fehlen. Waren die Mitglieder der Fürstenfamilie selbst musikalisch aktiv, oder waren sie nur passive Musikkonsumenten? Nachlassinventare oder in Hofkammerrechnungen ver- zeichnete Instrumentenankäufe für bestimmte Personen geben hierüber Auskunft. Auch erscheint interessant, zu betrachten, wer am Hof mit der Aufgabe derartiger Käufe betraut wurde, wo die Instrumente gekauft und welche Preise gezahlt wurden. Der wissenschaft- liche Wert derartiger Angaben geht hierin über die bloßen Bestandsangaben von Instru- menten in Inventaren hinaus. Der Vergleich diesbezüglicher Daten verschiedener Höfe bzw. Institutionen und die Frage nach Änderungen der Kaufstrategien über die Zeit hin- weg können weiterführende Erkenntnisse erbringen. In den erhaltenen Archivalien des Wolfenbütteler Hofes der betrachteten Zeitspanne lassen besonders die Hofkammerrechnungen einen Einblick in die Handelsbeziehungen des Hofes zu. Neben den in den Ämtern des Fürstentums selbst erzeugten Produkten wurden Güter über ein weit verzweigtes Handelsnetz angekauft, so v.a. über die Herbst- und Früh- jahrsmessen in Frankfurt und Leipzig. Diese dienten durch ihre internationale Auswahl besonders dem Ankauf von Luxusgütern und ausländischen Waren. Für bestimmte Mate- rialien, z. B. Stoffe zur jährlichen Fertigung der Hofkleidung, wurden jedoch auch andere Bezugsquellen differenziert genutzt6 und über viele Jahre hinweg beibehalten. Der Verwen- dungszweck bestimmte hierbei den Bezugsort der Waren. Darüber hinaus kamen auch aus- wärtige Händler, beispielsweise aus Nürnberg oder Augsburg, recht regelmäßig an den Hof, um ihre Waren zu verkaufen oder Handelsabschlüsse anzubahnen. Zur Regierungszeit des Herzogs Julius zählt ein erstes Inventar vom August 1570 die Instrumente auf, die dem Hoforganisten Antonius Ammerbach vom ehemaligen Haus- mann Heinrich Meiernheine übergeben wurden:7 Eine Quarttposaune mitt 6 setzstückenn vier bugeln vnd ii muntstucken Vier posaunen Jhede mitt 6 setzstücken zwein bugeln vnd zweien muntstuck So x Bombartten groß vnd klein Ein futter Zincken darinnen viere Ein futter krumpfeifen darinnen sexe

6 So wurden weiße Engellische Lacken aus Stade gekauft, schwarzer Stoff aus Augsburg, Meißnisch Tuch aus Torgau sowie für Winterkleidung graues Futtertuch von der Tuchmachergilde in Zwickau und aus Borchtorff. 7 NLA-StA WF, 3 Alt, Nr. 117, fol.10.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 74 Sigrid Wirth

Ein futter Zwerpfeiffen darinnen viii Ein futter plogkflotten darinnen vii Polnische Geigen viere. Eine recht umfangreiche Sammlung also, die nicht nur dem Gebrauch der noch kleinen Hofkapelle, sondern auch dem Hausmann Schaper mit seinen Gesellen zur Ausführung der Stadtmusik sowie des An- und Abblasens auf dem Schlossturm und der Begrüßung von Gästen diente. Die Besetzungen werden je nach Anlass gewechselt haben, die Blasinstru- mente werden natürlich eher im Freien und auf dem Turm erklungen sein, die Geigen, Zin- ken und Blockflöten zur Hochzeitsmusik der Bürger und vor der herzoglichen Tafel. Für Wolfenbüttel sind keine Stadtmusikordnungen aus dem 16. Jahrhundert erhalten geblieben, die Aufschluss über das Vorhandensein und die Ausführungsvorschriften eines kleinen oder großen Spiels geben könnten. Die Kommisse, 1580 als Mühle aus Stein erbaut, wurde erst 1602 ihrer Bestimmung als (feuersicheres) Hochzeits- und Tanzhaus zugeführt. In der Zeitspanne 1571 bis 1626 werden in den Rechnungen der Wolfenbütteler Hof- kammer mehrfach Musikinstrumentenkäufe verzeichnet. Hingegen sind weniger Musik- instrumenteninventare erhalten geblieben als es gegeben haben muss. So wurde eine Zah- lungsanweisung an Kapellmeister im Jahr 1614 Zubehuff der Music und Instrumenten, vermuge zweier beygefügten Verzeichnus gegeben, die nicht mehr auf- findbar sind.8 Genauere Aufschlüsse, welche Instrumente für den Hof der Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg angekauft wurden, bietet zunächst ein Briefwechsel des Herzogs Julius (1528-1598) mit Johann von Asbeck, dem Amtmann von Gandersheim und späteren Propst von Lamspringe aus den Jahren 1571 und 1573. Ein vom 16. Mai 1571 datierendes Verzeichnis9 über eine ausgeführte Instrumentenlieferung aus Köln listet Vier der besten Lauthen, vier Zittaren, jedes Stück für 1½ Dlr vier Quinternen, darzu ein Italienische Lyhr vnd ein Hackebredt jedes für 1 Dlr thuit zusammen 18 Daler auf, sowie das Trink- geld von 1,18 Dalern des Lauthenmachers Knechten für iren Fleiß.10 Im Januar 1573 berichtete von Asbeck von der Ankunft weiterer Instrumente. Aus seinem Schreiben geht hervor, dass der gleiche Kölner Lautenmacher wie bereits 1571 beauftragt worden war, 16 Lauteninstrumente anzufertigen. …Vnd obwoll ein stück bes­ ser, auch theurer als das and[ere Jahr], hats doch der Meister, E.F.G. zu vnderthenigem Gefallen, bei dem vorigen Kauff, eins dem andern Zum besten, nemblich, Jedes Stück einen philips Taler, zu 42 g[roschen] gerechnet, In vnderthenigkeit bleiben lassen, Ma­ chen also Sechs Zehen stück -- 33 fl 12 g. Es sein auch darbey ein halbe lade Lauthen Seiden, vnd Zittheren Seiden, Die Lauten Seiden kosten vier, die anderen aber einen Ta­ ler, thuet --9 fl. Von Asbeck, obwohl kein Kaufmann, fungierte hierbei als Agent, der im

8 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 69, Bd. 2, Kammerrechnungen (im Folgenden abgekürzt als KR) 7/1614- 7/1615: Ausgab Extraordinarie: Nr. 1 und Ca: 30, fol. 246r. 9 Bereits teilweise, jedoch teils inkorrekt wiedergegeben bei Werner Flechsig: Thomas Mancinus, der Vorgänger von Praetorius im Wolfenbütteler Kapellmeisteramt. In: BsJb 2. F. 4 (1932), S. 63-139, hier S. 88/(30). 10 NLA-StA WF, 4 Alt 19, Nr. 4304 (Original), Quittierungen für Einkäufe durch Herzog Julius, 16. Mai 1571: Quittierung für Johann von Asbeck über empfangene Gelder der Kammer für aufgeführte Liefe- rung von Waren laut dem aufgeführten Verzeichnis.

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Auftrag des Herzogs die Preisverhandlungen führte, den Transport der Instrumente von Köln über Paderborn (seines Vaters Wohnort) sowie die Abrechnung mit dem Boten regel- te, der die Instrumente bewacht und überbracht hatte. Darüber hinaus mahnte er gegen- über dem Herzog eine baldige Bezahlung des Lautenmachers an, da dieser der Bezahlung nicht woll lange entrathen mag. Der Gesamtpreis betrug 55 Gulden und 4 Groschen bei einem Preis von rund 2 Gulden pro Laute. Dies war ein wirklich recht guter Preis. Zum Vergleich: Der Nürnberger Paul Behaim berichtete 1572, er habe in Leipzig 3 Gulden für eine Laute bezahlt, welchs ein sehr guts und wohlfeils umb das Gelt ist.11 Als Grund für die Beauftragung eines Kölner Instrumentenbauers gibt Herzog Julius selbst an, wo Mehr gemacht, daher am Besten zubekommen.12 Dies setzt eine recht gute Kenntnis des Her- zogs zur damaligen Instrumentenbauindustrie voraus. Köln war in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Lauten- und Geigenmacherstadt bekannt. Kölner Lauten wurden überregional hoch geschätzt und in großen Mengen über Antwerpen, dem großen nord- europäischen Handelszentrum und Umschlagplatz für Waren, u. a. nach England gelie- fert.13 Julius, der selbst Laute spielte, hatte während einer Studienreise im Jahr 1551 Köln, Löwen und Antwerpen besucht und vielleicht noch aus dieser Zeit den Kontakt zu einem Kölner Lautenbauer aufrechterhalten. Seine eigene Laute hatte er 1551 in Antwerpen re- parieren lassen.14 Die Tatsache, dass er als sehr ökonomisch orientierter Landesherr Transportkosten und Verzögerungen in Kauf nahm, zeigt, dass er auf qualitativ gute Ins- trumente Wert legte. Auch wirft dies einen Blick auf die mangelnde Auswahl vor Ort. Die Kölner Instrumente wurden zur einen Hälfte in der Hofmusik, u. a. vf dem Fastel­ abend, also bei den Fastnachtsfeierlichkeiten in der Stadt z. B. durch die Stadtspielleute, vielleicht aber auch zum Gebrauch in der herzoglichen Familie selbst genutzt. Die andere Hälfte der Instrumente diente dem Unterricht der Schüler des Paedagogium Illustre in Gandersheim, das von Herzog Julius als Oberschule im März 1571 begründet wurde und das 1576 in der Helmstedter Universität aufging. Die Bestellung von Quinternen erscheint für das Jahr 1571 instrumentengeschichtlich schon recht spät, sie kamen – zumindest in ihrer monoxylen Bauweise – bereits im 15. Jh. langsam aus dem Gebrauch, überdauerten jedoch mit einem in Spanbauweise gefertigten Korpus noch einige Zeit.15 In unserem Fall werden sie als Diskantinstrumente Anwendung gefunden haben. Aus dem Briefwechsel von 1573 geht auch das Interesse des Herzogs hervor, weitere Instrumente außer Saiteninstrumenten zu kaufen: So hetten wir auch gern alhir … ande­ re Musicalische Instrumente also, Trommiten, Zincken, Fluiten, Zwerchpfeiffen, Kromb­ horner, bomburnen vnd andere…16 Ob auch diese Bestellung ausgeführt wurde, lässt sich

11 Rudolf Wustmann: Musikgeschichte Leipzigs, Bd. 1: Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1926, S. 130. 12 NLA-StA WF, 3 Alt 324, Briefkonzept: Antwort von Herzog Julius auf den Brief J. von Asbecks, fol. 10r-12r. 13 J. M. Ward: A Dowland Miscellany. In: Journal of the Lute Society of America 10 (1977), Appendix L, S. 114. 14 NLA-StA WF, 4 Alt 19, Nr. 32: Rechnungen was Herzog Julius auf seinen Reisen zu Antorff und in Frankreich verzehrt hat, nicht paginiert. 15 Andreas Schlegel; Joachim Lüdtke: Die Laute in Europa 2. Menziken 2011, S. 369. 16 NLA-StA WF, 3 Alt 324, Briefkonzept: Antwort von Herzog Julius auf den Brief J. von Asbecks, fol. 10v.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 76 Sigrid Wirth jedoch nicht mehr feststellen. Fraglich bleibt auch, wer außer den Stadtspielleuten die Instrumente hätte spielen sollen/können. Die von Julius gegründete Hofkapelle umfasste in den 1570er Jahren lediglich etwa sieben Musiker unter Leitung Franz Algermanns. Dieser beklagte 1576 den schlechten Zustand der Kantorei, er sehe sich außer Stande, die Mittelstimmen zu besetzen, nachdem sich ein Sänger heimlich davongemacht habe, noch dazu die Zahl der Instrumentisten zu gering und ihre Ausbildung zu schlecht sei.17 Im März 1580 äußerte Thomas Mancinus, der mittlerweile das Kapellmeisteramt übernom- men hatte, seinen (unerfüllten) Besetzungswunsch nach je zwei Bassisten, Tenoristen und Altisten, acht Diskantisten sowie sechs Instrumentisten, die mitt allerlei instrumenten an der Capellen vnd zu Disch auffwarden können.18 Julius‘ Sohn Heinrich Julius, schon als Knabe zum Bischof von Halberstadt postuliert, lebte überwiegend in seinen Bischofsresidenzen Halberstadt und Gröningen. Anhalts- punkte für Instrumentenbesitz der Herzogsfamilie liefert ein Inventar der Bischofsresi- denz Gröningen vom November 1578 über den Besitz des jungen Herzogs.19 Es nennt drei Tasteninstrumente: Ein groß Instrumentum Musicum mit etzlich Stimmen…, Noch ein and[eres] gemeines Instrument ungefehr Zwey ellen lang vnd 5/4 breit, … Noch ein klein Instrument, wie ein Pult sowie eine Cithar im Futter[al]. Heinrich Julius hatte seit ca. 1578 Unterricht im Orgelspiel durch den Organisten und Kapellmeister Antonius Ammer- bach erhalten. Jedoch beschaffte der Gröninger Organist Carl Lo(r)ff im Dezember 1580 die Seitten aufs fürstlich Instrument.20 Heinrich Julius erlernte aber wohl als Schüler des Gandersheimer Paedagogium Illustre auch selbst das Lauten- bzw. Cisterspiel. Womög- lich entstammte die Cister der erwähnten Kölner Lieferung. Ein Briefwechsel zwischen Heinrich Julius in Halberstadt und seinen Eltern in Wol- fenbüttel aus dem Jahre 1581 beschreibt die Freude des 17-jährigen an einem Geschenk seiner Eltern, einem von dem Orgelmacher alhir gefertigten neuen Orgelpositiv im Wert von 65 Talern. Bei diesem Orgelmacher könnte es sich um den seit den 1570er Jahren in Halberstadt lebenden und wirkenden David Beck (*<1540-†1603) gehandelt haben, der bereits die Orgeln der Halberstädter Martini- und Johanneskirche gebaut hatte.21 Von­ demselbig verfertigt vnd vns itzo zur besichtigung vnd Probierung hat vberantwortet, Von ihme sein etliche verstendige Organisten fordern vnd das Wergk besichtigen vnd Probie­ ren lassen, die es dan ganz künstlich gut vnd wolgemuth befunden, berichtet Heinrich Julius erfreut.22 Ein kleines Vorspiel zur großen Orgelprobe der Gröninger Schlossorgel im Jahre 1596, auf die noch einzugehen sein wird! Sein Plan, den Orgelmacher das Positiv auch in Wolfenbüttel den Eltern vorführen zu lassen, scheiterte jedoch an der Größe des

17 NLA-Hauptstaatsarchiv Hannover (im Folgenden HStA H), Cal. Br. 21, Nr. 329, Kantorei u. Schlosska- pelle 1570-1587: Schreiben von Franz Algermann an Herzog Julius vom 24.8.76. 18 NLA-HStA H, Cal. Br. 21, Nr. 329: Kantorei u. Schlosskapelle 1570-1587: Brief von Thomas Mancinus an Herzog Julius vom 7.3.1580, fol. 25. 19 NLA-StA WF, 1Alt 5, Nr. 92, fol. 47 ff: Erbinventarium Anno 1579. Hausstand Schloss Gröningen, fol. 5v und fol. 6r. 20 NLA-HStA H Cal. Br.21, Nr. 1025: Hofhaltung Schloss Gröningen 1580-81, 22.12.1580, fol. 82v. 21 Zu David Beck siehe Ernst Bittcher; Gerhard Aumüller; Wiebke Kloth: Anmerkungen zu David Beck und seiner Orgel von 1584 in der St. Stephani-Kirche in Helmstedt. In: BsJb 92 (2011), S. 53-74. 22 NLA-HStA H, Cal. Br. 21, Nr. 1015: Briefwechsel Herzog Heinrich Julius mit seinen Eltern 1578-86, fol.4r-5v.

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Instrumentes und den schlechten Straßenverhältnissen. Auch hatte die sachliche Klage des Orgelmachers das ers vmb die fünff vnd Sechzig Tahler nicht verlassen könne, ohne fünf zusätzliche Taler zu erhalten, eine entrüstete Ablehnung des alten Herzogs und die Drohung, dem Sohn bei Nichtbefolgung das Instrument zu entziehen, zur Folge.23 Ein Inventar des im Schloss Wolfenbüttel befindlichen sog. Burgundischen Tanz­ saales, das nach dem Tode des Herzogs Julius 1589 erstellt wurde, listet zwar vorrangig das Mobiliar und die vorgefundenen Bilder und Gebrauchsgegenstände auf, verzeichnet jedoch auf dem leicht erhöht an der Stirnseite des Raumes gelegenen Musikantenstand 1 positif.24 Dies diente dem Hofkapellmeister und Organisten Thomas Mancinus zur Aus- führung der Tafelmusik. Anschaffungsort, -datum und –preis des Instrumentes sind je- doch unbekannt. Bereits ein Jahr später, am 17. Januar 1590, kaufte Mancinus in Braunschweig ein Instrumentum Musicum für 54 Gulden, wahrscheinlich für den Eigengebrauch des Her- zogs Heinrich Julius.25 Dies legt zumindest die Formulierung des Kammerrechnungsein- trags davon Meinem G:f: vnd Hern … gekaufft nahe. Darüber hinaus beschafft er Lauten- und Geigensaiten in dem damals gängigen Handelsformat einer Lade.26 Zeitgleich zu diesem Saitenkauf trifft der neu bestallte Lautenist Friedrich de Drusina aus Hamburg ein.27 Es kann vorausgesetzt werden, dass er seine eigene(n) Laute(n) mit sich führte. Ein weiteres neues Mitglied der Hofkapelle, der Instrumentist Johan de Block bringt im Feb- ruar 1590 sogar gleich mehrere nicht näher bezeichnete Instrumente mit. Genannt wird jedoch eine Bassgeige, die in der Hofkapelle Verwendung finden sollte und deren Kosten ihm von der Hofkammer erstattet wurden.28 Diese ineinandergreifende Organisation von Anwerbung neuer Instrumentisten und Beschaffung passender Instrumente nebst deren Zubehör fällt bereits in die Vorbereitungsphase der großen Hochzeitsfeiern in Dänemark und Wolfenbüttel von Heinrich Julius und der dänischen Prinzessin Elisabeth im April 1590. Die solchermaßen frisch verstärkte und ausgestattete Hofkapelle begleitete mit ca. 14 Personen den Herzog nach Kopenhagen. Vier davon waren Sänger, die übrigen Instru- mentisten. Der nächste „Cluster“ instrumentaler Aufrüstung fällt zusammen mit der Phase der Theateraufführungen am Wolfenbütteler Hof in den 1590er Jahren durch die ab Juni 1592 im Hofdienst stehende englische Komödiantentruppe unter Robert Brown, Thomas Sach- evill und John Breadstreet. Sie hatten bei ihrem ersten Auftritt musiciert und eine Come­ diam agirt, traten in Wolfenbüttel also nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Musi-

23 NLA-HStA H, Cal. Br. 21, Nr. 1015: Brief Herzog Julius an seinen Sohn Heinrich Julius vom 19.6.1581, fol. 9r. 24 NLA-StA WF, 3 Alt, Nr. 324: Uf der Musicanten standt, fol. 30r. S. auch Barbara Uppenkamp: Ein In- ventar von Schloss Wolfenbüttel aus der Zeit Herzogs Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel. In: Kunst und Repräsentation, Beiträge zur europäischen Hofkultur im 16. Jahrhundert. Hrsg. v. H. Borggrefe; B. Uppenkamp. Lemgo 2002 (Materialien zur Kunst- u. Kulturgeschichte in Nord- u. Westdeutschland, Weserrenaissance-Museum Schloss Brake 29), S. 69-108. 25 NLA-HStA H Cal. Br. 21, Nr. 1729: KR 6/1589-6/1590, Januar 1590, fol. 66v. 26 Ebd., fol. 66v. 27 NLA-HStA H, Cal. Br. 21, Nr. 1729: Abrechnungen über Einnahmen und Ausgaben 1589-90, 18. Januar 1590, fol. 67r. 28 NLA-HStAH, Cal. Br. 21, Nr. 1729: KR 6/1589-6/1590, Februar 1590, fol. 76v.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 78 Sigrid Wirth ker in Erscheinung. Herzog Heinrich Julius verfasste in den Jahren 1592-1594 zehn Schauspiele, Dramen und Komödien, die in der Folgezeit in den herzoglichen Residenzen und auf Marktplätzen des Fürstentums und darüber hinaus von den Engländern als ers- tem feststehenden Theaterensemble des deutschen Raumes aufgeführt wurden. Heinrich Julius war der erste deutsche Dichter, der in seinen Schauspielen die Prosaform verwand- te, die Figur des Narren Johan Bousset (Thomas Sachevill auf den Leib geschrieben) schuf und Musik nicht nur als Zwischenspiel zwischen den Akten, sondern auch in die Handlung integriert vorsah. In fünf seiner Schauspiele werden verschiedene Saiteninstru- mente erwähnt oder treten Saiteninstrumente spielende Personen auf, z.T. als Hauptperso- nen. Besonders häufig werden das englische Pandor, Cistern und Lauten erwähnt, hin- gegen keinerlei Blasinstrumente. In der Tragödie „Von einem Buler vnd Bulerin“ (1593) erhält der Verführer Pamphilus auf seine Frage Seind auch Instrumentisten alhie in der Stadt? die Antwort von Sofia: Ja Juncker / Ich kenne einen der spielet gar wol auff der Bassz Geigen / Vnd einen der ist gut auff der Discant Geigen / Wie auch einen ausbündi­ gen Lautenisten / Vnd einen der auff dem Pandor spielet.29 W. Braun wies bereits auf die hier erstmalige Nennung des Pandors im deutschen Raum hin. Der Kauf vom eigen kra­ mer v. alhir vor etzliche Eisen und Meßings Seiten auf Instrumenta zu gebrauchen im Mai 1593 könnte für die Besaitung von Cister, Orpharion oder Pandor getätigt worden sein.30 In der Tragödie „Von einer Ehebrecherin“ (Wolfenbüttel, 1594) erreicht der Ver- führer Pandor spielend sein Ziel, nachdem er beschließt: Ich will versuchen, ob ich sie mit dem Pandor könnte heraus locken. Auch in der Tragödie „Von einem ungerathenen Sohn“ und der Komödie „Von Vincentio Ladislao“ (beide 1594 entstanden) werden mehrfach Lauten, Pandoren und Cistern erwähnt.31 Es sind zwar keine Schilderungen dieser Auf- führungen erhalten geblieben, jedoch zeigt allein die Tatsache der Berücksichtigung typi- scher Instrumente der englischen consort music in der schriftlichen Form der Schauspiele und deren prominente Integration in die Handlung, dass diese Instrumente nun durch den Einfluss der Engländer am Hof vorhanden waren. Ebenso wie Heinrich Julius die unter- schiedlichen deutschen Mundarten seiner Bediensteten gekonnt als Attribut des „einfa- chen Volkes“ in die Stücke übernahm, setzte er das noch neue englische Pandor mehrfach wirkungsvoll ein, um damit Galliarden und Passemezzi in Szenen der erotischen Verfüh- rung und der Eitelkeit musikalisch begleiten zu lassen. Parallel hierzu wird sicher auch entsprechendes englisches Repertoire in die Schauspiel- und Hofmusik eingeflossen sein. Im Jahr 1594 wurde die vom Baumeister Christof Tendeler zu einem prächtigen Re- naissanceschloss umgebaute alte Bischofsresidenz Gröningen wiedereröffnet. Mittlerwei- le verfallen und abgetragen, boten damals große, reich geschmückte Säle den bestmög­ lichen Rahmen für hochrangige Besuche, Bankette, Tänze, aber auch sicherlich

29 Heinrich Julius zu Braunschweig und Lüneburg: Tragœdia Hibeldeha. Von einem Buhler und Buh- lerin. Wolfenbüttel 1593, D-W, M: Lo Sammelband 91 (1). (Akt 1, Szene 1). Vgl. Werner Braun: Bri- tannia abundans. Deutsch-Englische Musikbeziehungen zur Shakespearezeit. Tutzing 1977, S. 338. 30 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 62b, KR 6/1592-7/1593: Ausgab Extraordinarie, fol. 141r. 31 Heinrich Julius zu Braunschweig und Lüneburg: Von Vincentio Ladislao. Wolfenbüttel 1594 [HAB 85.15 Eth. (7)], (Akt 1/Szene 1), sowie ders.: Tragoedia von einem ungeratenen Sohn, welcher un- menschliche und unerhörte Mordthaten begangen… Wolfenbüttel 1594 [HAB M: Lo Sammelband 91 (2)], (Akt 6/Szene 11).

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Musik- und Theatervorführungen. Das bevorstehende Ereignis der Eröffnung schlug sich auch in einer besseren Ausstattung der Hofkapelle mit Instrumenten nieder: Innerhalb von drei Monaten wurden im Frühjahr 1594 aus Nürnberg ein Instrumentum musicum, aus Leipzig zwei Posaunen32 und etzliche Zittaren (d. h. Cistern) aus Frankfurt gekauft.33 Das Tasteninstrument mit allem Zubehör fertigte der Nürnberger Stadtorgelmacher Lorenz Hausleib für 200 Taler.34 Auch Heinrich Julius‘ jüngster Bruder Julius August (1578-1617) erwarb im März 1594 eine Cister.35 Das musikalische Interesse des 13-Jähri- gen fällt ebenfalls in diese Zeit der intensiven Theater- und Musikaktivitäten, die außer den bereits genannten Instrumentenkäufen auch durch die Beschaffung falscher Bärte, Mummerey Kleidung, federbesetzter Hüte etc. ab Sommer 1593 deutlich werden. Wie viel musiziert wurde, lässt sich auch an der Menge der Instrumentensaiten ab- lesen, die allein zwischen 1592 und 1594 gekauft wurden. So bekamen neben dem o. g. Wolfenbütteler Kramer der Harfenist Christian Koch 6/1593 0,16 fl36 und der niederlän­ dische Hoflautenist Gregorius Huwet37 36 fl (6/1592), 18 fl (12/1592), 54 fl (5/1593) und 36 fl (12/1593) erstattet, jeweils zum eigenen Gebrauch. Kapellmeister Thomas Mancinus erhielt 9/1593 und 12/1594 ebenfalls Zahlungen von insgesamt 25 fl für die Saiten der Hofkapellinstrumente.38 Auch die Herzogin Elisabeth kaufte 3/1594 Instrumentensaiten (für ein Tasteninstrument?) für 13 fl.39 Dies ergibt immerhin einen finanziellen Aufwand allein für Saiten von 182 fl in nur 18 Monaten, entsprechend etwa dem Jahresgehalt des Kapellmeisters. Zwischen 1592 und 1596 wurde unter Leitung des Orgelbauers des Halberstädter Domkapitels, David Beck, im Auftrag des Herzogs die große Orgel für die Gröninger Schlosskirche gebaut.40 Die Orgel war mit ihren 59 Registern die drittgrößte im deut- schen Raum und galt bald nach ihrer Fertigstellung weithin als Wunderwerk. Ihr Preis soll insgesamt 10.000 Taler betragen haben, genau lässt sich diese Summe aus den erhal- tenen Rechnungen jedoch nicht mehr belegen. Neben Beck und seinen neun Gesellen leistete auch der Wolfenbütteler Goldschmied Hans Schmid verschiedene Metallarbeiten an der Orgel. Er erhielt – soweit aufgeführt – zwischen Juni 1593 und Februar 1596 ins-

32 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64a, KR 7/1593-6/1594: Ausgab Extraordinarie, März 1594, fol. 174r. 33 Ebd., 19.3.1594. 34 Ebd., 13.2.1594, fol. 173v. Auch der Heidelberger Hof des Kurfürsten Friedrich IV. kaufte im März 1598 für 180 Gulden ein Positiv von Hausleib. Siehe Klaus Winkler: Capell und Musica bey der Chur- fürstlichen Pfaltz, die Heidelberger Hofmusik der reformierten Kurfürsten Friedrich IV. und Friedrich V. In: Begleitheft zur Ausstellung in der Universitätsbibliothek vom 26.-31. Oktober 1987, Heidelberg 1984 (Gesellschaft für Alte Musik Baden-Württemberg e.V.), S. 13. – Nach freundlicher In- formation von Herrn Klaus Martius (Abt. historische Musikinstrumente, Germ. Nationalmuseum Nürnberg) sind zwei Instrumente Hausleibs noch erhalten, sie befinden sich im Metropolitan Museum New York und im Museum Barcelona. 35 Ebd., Ausgabe Junge Herrschaft, 6.3.1594, fol. 98v. 36 Ebd., Gemeine Ausgaben, 19.6.1593, fol. 130r. 37 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 62b, KR 6/1592-7/1593: Ausgab Extraordinarie, Dezember 1592, fol. 139r; Gemeine Ausgaben, Juni 1592, fol. 138r, und 4.5.1593, fol. 190v. 38 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64b, KR 7/1594-7/1595: Gemeine Ausgaben, 13.12.1594, fol. 130v. 39 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64a, KR 7/1593-6/1594: Ausgab Extraordinarie, 2.3.1594, fol. 173v. 40 Siegfried Vogelsänger: Michael Praetorius, Hofkapellmeister und Komponist zwischen Renaissance und Barock. Wolfenbüttel 2008, S. 19.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 80 Sigrid Wirth gesamt 682 Gulden.41 Am 27. Juni 1593 begannen die Arbeiten am Pfeifenwerk, Schmid erhielt zu diesem Termin wegen der angefangenen Orgelpfeiffenwerks zu Groningen die erste Zahlung von 90 fl. Die weiteren Teilbeträge wurden zum Teil über die Wolfenbüt- teler Hofkammer (aufgeführt in den Kammerrechnungen unter dem Kapitel „Kleinodien & Silbergeschirr“), zum anderen aus dem Stift Halberstadt und aus dem Zehenden zu Goßlar finanziert. Neben etzlicher Leuchter ausbesserung erhielt Schmid mehrfach Geld zu Schlaglott in den Orgelpfeiffen, hatte auch allerhand arbeitt an Pfeiffen vnd sonsten gemacht. An dem prunkvoll gestalteten Gehäuse arbeitete u. a. der Maler Joachim Nolte, der zu behuff der Gebäude zu Groningen im August und November 1593 bereits 1800 fl bzw. 1080 fl ebenfalls aus dem Goslarer Zehnten ausgezahlt bekommen hatte.42 Die Zah- lungen an Beck und seine Gesellen werden hingegen nicht aufgeführt. Die Einweihung des Instruments am 2. August 1596 erfolgte in Anwesenheit von Heinrich Julius‘ Schwa- ger, dem dänischen König Christian IV., durch eine Orgelprobe, zu der 54 namhafte deut- sche Organisten, unter ihnen die Gebrüder Hassler, eingeladen worden waren. Die Orga- nisten erhielten 3000 Gulden als Ehrengelder, was über das musikalische Erlebnis hinaus sicher für gute Werbung der an ihre Heimatorte Zurückkehrenden gesorgt haben wird. Dieses Ereignis ist ein Musterbeispiel der Repräsentation durch Musik: Ein Instrument der Spitzenklasse gewann die Funktion eines zur Schau gestellten Statussymbols, seine Wirkung wurde vom Herzog offensiv vermarktet. Der Wert der Orgel bestand nicht nur in ihrer musikalischen Qualität und in ihrem finanziellen Gegenwert, sondern auch im durch sie erworbenen politisch-gesellschaftlichen Ruhm ihres Besitzers. Im Januar 1596 wurden auch Reparaturarbeiten an der Orgel der Wolfenbütteler Schlosskirche verrichtet, so erhielt Hansen Tilen Landmeßern wegen renovirung der Orgel In der Schloßkirchen 10 Gulden aus der Kammerkasse.43 Es ist sicherlich kein Zufall, dass in diese Zeitspanne auch die Besuche des englischen Lautenisten John Dowland44 (ca. Herbst 1594 bis Januar 1595) und des ebenfalls aus Eng- land stammenden Lübecker Ratsviolisten Simon de Tree im April 1595 fielen.45 Wie sich einem Bericht der Musiker Alessandro Orologio und Johan de Block vom November 1595 an den Kasseler Landgrafen Moritz entnehmen lässt, hatten sich im Herbst 1595 auch et­ liche frembde Musici eine Zeit lang in Wolfenbüttel aufgehalten.46 Im September 1594 war ferner der Instrumentist Samuel Völckel aus Ansbach für die Hofkapelle angeworben worden. All dies zeigt die hohe Wertigkeit der Musik für Herzog Heinrich Julius, sowohl

41 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64a, KR 6/93-6/94: Ausgab ins Stift Halberstadt: 27. Juni1593 (90 fl) und 31.8.1593, (90 fl), beides fol. 97r., NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64b KR 7/94-7/95: Kleinodien & Sil­ bergeschirr, 26.2.1595, (36 fl), fol. 105r, NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64c, KR 6/95-6/96: Ausgab ins Stifft Halberstadt, 7.2.1596, (54 fl und 202 fl), fol. 100r. Vgl. Friedrich Thöne: Wolfenbüttel, Geist und Glanz einer alten Residenz, Wolfenbüttel 1963, S. 220. 42 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64a, KR 6/1593-6/1594: Ausgab ins Stift Halberstadt, fol. 97r, bereits er- wähnt Thöne, ebd. 43 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64c, KR 6/95-6/96: Gemeine Ausgabe, 12.1.1596, (10 fl), fol. 132r. 44 Diana Poulton: John Dowland. 2. Aufl. Berkeley 1982, S. 31f. sowie Ward (wie Anm. 13), S. 94-96. 45 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64b, KR 7/94-7/95: Auff Gnaden & Verehrung, 9.4.1595, er erhielt 43 fl, fol. 145r. 46 Staatsarchiv Marburg (im Folgenden: StAMR), 4b, Nr. 260, 5.11.1595. Ich danke Herrn G. Aumüller herzlich für diese Mitteilung. Bereits erwähnt bei Zulauf (wie Anm. 4), S. 48.

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in personeller als auch instrumenten- technischer Hinsicht in dieser Zeit. Als Kapellmeister und Organist ob- lag vorrangig Thomas Mancinus und ab 1604 seinem Nachfolger Michael Praeto- rius die Aufgabe der Instrumentenbe- schaffung. Mancinus sorgte im Juni 1595 für die Renovierung eines Instru­ mentes47 und wickelte im gleichen Mo- nat den Ankauf eine Tenorposaune aus Nürnberg im Wert von 25 fl ab.48 Jedoch wurden auch die Instrumentisten, sozu- sagen als Spezialisten für ihre Instru- mente, mit Ankäufen betraut. So kaufte der Zinkenist der Hofkapelle Wessel Wessaliensis im August 1595 für sich und den zweiten Zinkenisten Orpheus Losius zwei englische Cornette.49 Im März 1596 wurden zwei weitere Zinken (aus England?) angekauft, diesmal aller- dings durch den englischen Schauspieler Thomas Sachevill, der unter seinem Abb. 1: M. Praetorius: Theatrum instrumento­ Künstlernamen Johan Boseth seine Aus- rum, 1619, XIII lagen vom Hof erstattet bekam.50 Er nutzte hierzu sicherlich Kontakte in seine Heimat, die er auch später nach seinem Aus- scheiden aus der Theatertruppe als Gewürz- und Stoffhändler beibehielt und in den Dienst des Hofes stellte. Einen ganz besonderen Instrumentenkauf stellt der Erwerb eines von dem Braun- schweiger Philipp Meyer gefertigten Cornetts dar, darin 82 Demant vnd Rubin versetzet mit einem anhengenden Cleinoth, im Wert von exorbitanten 505 Gulden.51 Dieses Instru- ment war bereits 1592 geliefert worden, wurde jedoch erst im Dezember 1593 bezahlt. Da Meyer gleichzeitig Meins G.F. vnd Herrn Conterfey hergestellt hatte (die sog. „Conterfet- ten“, als Anhänger an einer Kette zu tragen, waren ein beliebtes Geschenk des Herzogs an Gäste etc.), war er wohl am ehesten Juwelier und das Instrument ein Kunstkammerstück. Laut der Schilderung Philipp Hainhofers (allerdings erst 1629) waren auch am Dresdener Hof vier helfenbainine cornet, mit silber beschlagen im Instrumenten- bzw. Kunstkam-

47 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64b, KR 7/1594-7/1595: Gemeine Ausgaben, 10. 6. 1595, fol. 132r. Viel- leicht Reparatur des Positivs vom Musikantenstand im Wolfenbütteler Schloss? 48 Ebd. 49 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64c, KR 7/1595-7/1596: Ausgab Extraordinarie, 4.8.1595, fol. 170v. 50 Ebd., Gemeine Ausgaben, 12.3.1596, fol. 132v. 51 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64a, KR 7/1593-6/1594: Ausgab Edelgestein undt Silbergeschirr, 20.12.1593, fol. 104r.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 82 Sigrid Wirth merbestand vorhanden.52 Durch die über mehrere Generationen bestehenden engen dy- nastischen Verbindungen des Wolfenbütteler und Dresdner Hofes ist denkbar, dass es nicht nur in Bezug auf repräsentative Hofmusik und Anwerbung englischer Komödianten, sondern auch im Musikinstrumenten- und Kunstbereich wechselseitige modische Anre- gungen gegeben hat. Zwar besaß und kaufte das Herzogspaar Kunstgegenstände, vor al- lem Schmuck, aber auch Bilder; für die Existenz einer Kunstkammer oder gar einer Mu- sikinstrumentensammlung im speziellen Sinne gibt es jedoch keine Hinweise.53 Auf einen Instrumentenkauf in Vorbereitung einer Aufführung des Stückes „Buhler und Buhlerin“ im Sommer 1596 könnte die Erwähnung der Zahlung der Hofkammer von 21 Gulden vor eine große Baß: vnd Discantt Geigen, (somit die Formulierung im Schau- spieltext wiederholend) an den Violisten der Hofkapelle Gregor Hoyer hindeuten.54 Zwar enthielten die Bestallungsurkunden der Kapellmeister und Musiker des Wolfen- bütteler Hofes keine Verpflichtungsklauseln zur Beschaffung von Instrumenten und Zu- behör, jedoch erfolgten über die Jahre ihrer Tätigkeit am Hof hinweg mehr oder weniger regelmäßige Zahlungen von jährlichem Saitengeld an die Kapellmeister Thomas Manci- nus, später an Michael Praetorius, sowie an Gregorius Huwet. Der Hoflautenist erhielt jährlich 54 Gulden zum Eigenbedarf, der Kapellmeister (nur!) 12 Gulden pro Jahr für die Instrumente der ihm unterstellten Hofkapellmusiker. Im Gegensatz zu den Kasseler Mu- sikerbestallungen enthielten die Wolfenbütteler Verträge keine Verpflichtung der Musiker zu Pflege und vorsichtigem Umgang mit den ihnen anvertrauten Instrumenten.55 Im Februar 1597 wird der Lautenmacher Martin Ripen aus Gardelegen für den Hof tätig, von dem etzliche gefertigte Instrumenta, d. h. Lauteninstrumente, aber auch viel- leicht andere Saiteninstrumente wie z. B. Gamben zu einem Preis von 54 Gulden für die Hofkapelle erworben werden.56 Zum gleichen Preis werden nur wenige Monate später mehrere Sackpfeifen vom Hersteller Hans Lossein aus Gandersheim gekauft.57 Es hatte sich also zusätzlich zu den Importquellen Leipzig, Nürnberg und Frankfurt zumindest in geringem Umfang auch ein regionaler Handel ausgebildet. Es ist jedoch sehr fraglich, ob die Sackpfeifen als niedere Instrumente Verwendung in der Hofmusik fanden, womöglich dienten sie der Ausstattung der Wolfenbütteler Stadtmusikanten, damit sie als sog. „klei- nes Spiel“ auch mit diesen Instrumenten bei Familienfeiern der niederen Stände aufwar- ten konnten. Im Jahr 1597 betrug die Zahl von Meines Gnedigen Fürsten vnd Hern Musi­ canten und Instrumentisten der Hofkapelle immerhin 21.58 Dieser Eintrag der Hofkammerrechnungen über eine Kostgeldzahlung liefert eine wichtige Information bei Fehlen von Musikerbesoldungslisten dieser Jahre. Kurz hintereinander wurden im Oktober bzw. November 1599 eine Bassgeige und er- neut über den englischen Komödianten Thomas Sachevill Zincken und anderes für die

52 Jessberger (wie Anm. 3), S. 171. 53 Vgl. hierzu auch: Hilda Lietzmann: Herzog Heinrich Julius zu Braunschweig und Lüneburg (1564- 1613), Persönlichkeit und Wirken für Kaiser und Reich. Braunschweig 1993, S. 17. 54 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64c, KR 7/1595-7/1596: Ausgab Extraordinarie, 8.6.1596, fol. 173v. 55 Auch für diese Mitteilung danke ich Herrn G. Aumüller, Marburg. 56 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64d, KR 7/1596-7/1597: Gemeine Ausgaben, 5.2.1597, fol. 121v. 57 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64d, KR 7/1596-7/1597: Gemeine Ausgaben, 26.6.1597, fol. 123v. 58 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64e, Bd. 2, KR 7/1597-7/1598: Auff Gnaden & Verehrung, fol. 68v.

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Hofkapelle gekauft.59 Ein Anlass hierfür könnten die Tauffeierlichkeiten für Christian, den dritten Sohn des Herzogspaares (geboren im September 1599 auf Schloss Gröningen, später „der tolle Halberstädter“ genannt) gewesen sein. Auf größere festliche Aktivitäten im letzten Quartal des Jahres 1599, zu denen hochrangige Gäste u. a aus Brandenburg, Lüneburg, Hessen, Sachsen und der Pfalz anwesend waren, weisen auch Verehrungen an die englischen Komödianten und an Georg Engelhard von Löhneisen, den herzoglichen Stallmeister und Organisator von Festaufzügen, hin. Eine weitere Facette von Instrumentenkäufen stellen diejenigen Instrumente dar, die für eine bestimmte Person beschafft wurden. Dies geschah einerseits im Kleinen, wie bei der Ausstattung des Jungen Tönnies Wissel wilcher das Trummitten lernen soll, dem zu­ behuef einer Trummitten im März 1598 aus der Kammerkasse 16 Gulden gezahlt wur- den.60 Dies ist eine Ausnahme, denn die Bezahlung der Instrumente für die Lehrjungen war sonst nicht üblich. Andererseits wurden auch für die Mitglieder der Fürstenfamilie mehrfach Instrumen- tenkäufe auf ihren Namen bzw. als kostbare Geschenke verzeichnet. Das bedeutendste Musikinstrumentengeschenk stellt sicherlich die von Herzog Heinrich Julius seiner Frau Elisabeth verehrte, von Esaias Compenius gebaute Kammerorgel für Schloss Hessen 1610 dar (s. u.). Im Nachlass der Herzogin von Oktober 1628 sind jedoch keine Musikinstru- mente verzeichnet.61 Auch sein Bruder Herzog Julius August (1578 – 1617, Abt von Mi- chaelstein) erhielt im April 1599 ein Instrument, das vom Kapellmeister für ihn gekauft wurde.62 Zur Regierungszeit Herzog Friedrich Ulrichs erhielten Uff Illmi bevehlich seine Geschwister Hedwig (1595−1650) und Rudolf (1602−1616), sowie seine Tante Dorothea Augusta (1577-1625) jeweils ebenfalls Tasteninstrumente zum Geschenk. So bekam Hed- wig 1615 ein Instrument im Werte von 45 Gulden,63 der Gandersheimer Äbtissin Doro- thea Augusta beschaffte Michael Praetorius 1616 ein Positiff so Illmus der Abtissin ver­ ehret für 66 Gulden64 und für Rudolf kaufte der Instrumentist und Organist der Hofkapelle Stephan Körner ebenfalls 1616 ein hölländisch Clavecordium.65 Die Ankauf- sorte werden leider nicht benannt. Als Herkunftstort des letztgenannten Instrumentes käme Antwerpen in Betracht, das bereits seit dem 16. Jahrhundert führend im Bau von Clavicordien und Cembali war. Michael Praetorius erwähnt in seiner Organographia in diesem Zusammenhang den vortrefflichen Instrumentenmacher zu Antorff Iohannes Bossus.66

59 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64g, KR 7/1599-7/1600: Gemeine Ausgaben, fol. 103v. bzw. Ausgab Ex­ traordinarie, fol. 138v. 60 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64e, Bd. 2, (KR 7/97-7/98), 9.3.1598, fol. 82v. 61 NLA-StA WF, 1Alt23, Nr. 176, fol 40r-52r: Inventarium Generale dero von Gottorff nacher Hamburgk transportirten Sachen im Decembri Anno 1628, Nachlass Hz. Elisabeth, datiert 18.10.1628. 62 NLA-StA WF, 17III Alt, Nr. 64f, KR 6/1598-7/1599: Ausgab der fürstlichen Jungen herschafft, fol. 80r. 63 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 69b, Bd. 2, KR 7/1615-7/1616: Außgabe auff die Junge Herrn & Frewlein, fol. 147r. 64 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 72a, Bd. 1, KR 7/1616-7/1617: Ausgabe auf Frewlein Dorothea Augustam Abtissinnen zu Gandersheimb, fol. 149r. 65 Ebd.: Ausgabe auf Hertzog Rudolffen, 1616, fol. 145r. 66 Michael Praetorius: Syntagma musicum. Bd. 2 (De Organographia). Faksimile-Nachdruck der Aus- gabe Wolfenbüttel 1619. Kassel 1958, S. 16.

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Abb. 2: M. Praetorius: Theatrum instrumen­ Abb. 3: M. Praetorius: Theatrum instrumen­ torum, IV torum, XVI

Es zeigt sich an diesen Beispielen die in die nächste Generation übernommene Wert- schätzung der Musik(-instrumente), nun mit Herzog Friedrich Ulrich als diesbezüglich Agierendem. Er selbst und seine Geschwister hatten durch Michael Praetorius Musik- unterricht auf Tasteninstrumenten erhalten, die fortgesetzte Musikausübung zeigt somit auch seinen nachhaltigen Einfluss. Es wurden jedoch auch Instrumente zur persönlichen Verfügung „aus Gnaden“ dem aus den damaligen südlichen Niederlanden stammenden Hoflautenisten Gregorius Huwet – und nur ihm unter allen Musikern – verehrt.67 Die Huwet geschenkten Instrumente wa- ren dementsprechend hochwertig mit Preisen von 15-21 Gulden. Der durchschnittliche Preis einer Laute lag bei etwa sieben Gulden. Huwet bekam während seiner 25-jährigen Tätigkeit am Hof (1591-1616) insgesamt fünf Lauten verehrt. Darüber hinaus reiste er zwischen Dezember 1593 und Mai 1609 mehrfach zum Ankauf etzlicher neuren lauten zum Michaelis- bzw. Neujahrsmarkt nach Leipzig,68 stattete wohl auch, wie die Menge

67 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 65e, Bd. 2, KR 7/1606-7/1607: Auff Gnaden & Verehrung, 5.3.1607, fol. 235v. NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 68a, Bd. 2, KR 7/1608-7/1609: Ausgabe Extraordinarie, 12.5.1609, fol. 314v. NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 69b, Bd. 2, KR 7/1615-7/1616: Außgabe Extraordinarie, 2.5.1616, fol. 259r. 68 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 65d, Bd. 2, KR 7/1605-7/1606: Ausgab Extraordinarie: 18,10.1605, fol. 297v). Ausgab Extraordinarie, NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 65e, KR 7/1606-7/1607, 1606, fol. 270r.

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der eingekauften Instrumente nahelegt, die Lautenisten der Hofkapelle, evtl. auch eigene Schüler (und Mitglieder der Herzogsfamilie?) mit neuen Instrumenten aus.69 Bei diesen Ankäufen wird erneut, wie bereits bei den o. g. Käufen der Zinken, Streich- und Tasteninstrumente, das Prinzip des „Spezialistenkaufes“ deutlich. Die Messestadt Leipzig hatte seit der Mitte des 16. Jahrhunderts mehrere Instrumen- tenbauer und -händler angezogen.70 So ist seit 1590 der Lautenmacher Peter von Hacken- broich (gest. 1611)71 zu nennen als wichtiger Händler von Lauten- und Geigeninstrumen- ten aus eigener Herstellung sowie auch von Importen aus zahlreichen anderen Gegenden Deutschlands, etwa Erfurt, Köln und dem süddeutschen Donaugebiet. Auch der aus der für den Lautenbau berühmten Füssener Gegend zugewanderte Hans Helmer war als Lau- tenmacher seit 1591 in Leipzig tätig.72 Ein weiterer Händler von Lauten und Saiten war Arnold Findinger d. Ä. (gest. 1613).73 Auch der Instrumentenhandel wurde auch durch die mehrfach jährlich stattfindenden Messen begünstigt,74 die zunehmend zu einer Konkur- renz für Frankfurt wurden. Wie bereits beschrieben, waren die Handelskontakte des Wol- fenbütteler Hofes nach Leipzig auch für andere Waren wie z. B. Druckpapier und Stoffe regelmäßige Praxis. Somit stellte diese Bezugsquelle auch von Lauteninstrumenten für Huwet eine naheliegende Wahl dar. Er nutzte seine Besuche in Leipzig jedoch offensicht- lich auch zur Anbahnung der Veröffentlichung seiner Kompositionen. Auch John Dowland tätigte in England Instrumentenkäufe im Auftrag seines dänischen Dienstherrn Christian IV.; ebenso wie Huwet verband er hierbei den Auftrag mit der Wahrnehmung eigener In- teressen im Druck seiner Kompositionen in London.75 Die Kosten für die zwischen 1597 und 1616 eingekauften Lauten – ohne Ausgaben für Besaitung – betrugen insgesamt 250 fl. Nimmt man den Wert von Huwets fünf Lauten (ca. 90 fl.) und den der 1605 von Praetorius in Frankfurt gekauften Basslaute (10 fl., s. u.) mit zusammen 100 fl an, und veranschlagt den Preis einer „normalen“ Laute mit ca. 7 fl., würde die restliche Summe von 150 fl. die Anschaffung von mehr als 20 Lauten bedeuten. Dies könnte auf mehrere Laute spielende Instrumentisten noch über die ein bis zwei zeit- gleich bestallten Hofkapell-Lautenisten hindeuten. Im Gegensatz zum Kasseler Hof bezog der Wolfenbütteler Hof seine Musikinstru- mente nicht über Agenten. Ein interessantes Beispiel für eine eindrucksvolle Großliefe- rung an den Kasseler Hof stellt das Angebotsschreiben des italienischen Musikers Ales- sandro Orologio dar, der im November 1595 von Halberstadt aus ein breitgefächertes, in

69 Huwet unterrichtete Lautenisten des dänischen und des Dresdner Hofes. Vgl. Godelieve Spiessens: De Antwerpse luitkomponist Gregorius Huet alias Gregory Howet. In: Revue Belge de Musicologie/Belg. Tijdschrift voor Muziekwetenschap 57 (2003) Brüssel 2004, S. 87-111 und Sigrid Wirth: Gregorius Huwet in Wolfenbüttel. In: Geluit – Luthinerie Jahrbuch 2010. De Belgische Luitacademie/Académie belge du Luth. Edegem 2010, S. 2-9. 70 Herbert Heyde: Leipziger Instrumentenbau und –handel im 16. u. 17. Jahrhundert. In: Leipziger Blätter 6 (1985), S. 12. Ich danke Herrn G. Mark, Elsa, für seinen Hinweis auf diesen Aufsatz. 71 Ebd. und Wustmann (wie Anm. 11) S. 166 72 Willibald Leo Frhr. v. Lütgendorff: Die Geigen- und Lautenmacher vom Mittelalter bis zur Gegen- wart. Tutzing 1975, S. 272f. 73 Ebd. und Heyde (wie Anm. 69), S. 12. 74 Wustmann (wie Anm. 11) S. 71ff, sowie v. Lütgendorff (wie Anm. 72), S. 272f. 75 Poulton (wie Anm. 44), S. 61f.

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Italien gefertigtes Instrumentenarsenal verkaufte, das er gott Lob ohn schaden undt un­ versehrt aus Venedig importiert hatte.76 Dieser Bestand umfasste verschiedenste Saiten- instrumente (Geigen aus Cremona, Gamben, Leiern und Lauten samt Saiten und diverser Bögen) sowie Holz- und Blechblasinstrumente (stille, gerade und krumme Zinken, Flöten, Schalmeien, Posaunen, Dulciane, Cornemusen mit Ersatzteilen und Mundstücken) sowie Una bella libraria di musica moderna. Trotz der räumlichen Nähe Orologios und Soga- brias in Halberstadt und ihrer nur wenig späteren Anstellung am Wolfenbütteler Hof gin- gen aus dieser Lieferung keine Instrumente in den Besitz der Wolfenbütteler Hofkapelle über, auch traten die beiden Italiener zu keinem späteren Zeitpunkt in Wolfenbüttel als Instrumentenlieferanten hervor. Der Darmstädter Hof erwarb ebenfalls Instrumente für die Hofkapelle als Großeinkauf, jedoch nicht wie Kassel über einen Agenten, sondern wie der Wolfenbütteler Hof auf der Frankfurter Messe.77 Der Ankauf von Instrumenten italienischer Fertigung war für europäische Höfe nicht ungewöhnlich. Bereits Heinrich VIII. hatte Mitte des 16. Jahrhunderts über die italienische Musiker- und Instrumentenbauerfamilie Bassano Instrumente aus Italien an den englischen Hof liefern lassen. Später brachte auch Heinrich Schütz, Schüler Giovanni Gabrielis, hoch- wertige Musikinstrumente aus der Lombardei von seinem dortigen Aufenthalt für den Dresd- ner Hof mit.78 Auffällig ist, dass Instrumentenimporte aus Italien für Wolfenbüttel nicht zu verzeichnen sind. Wohl waren Präsenz und Einfluss italienischer Musiker in Wolfenbüttel nur gering (sicherlich auch aus konfessionellen Gründen waren nur sehr wenige Italiener am protestantischen Wolfenbütteler Hof bestallt worden), Instrumentisten wurden auch nicht, wie z. B. von den Höfen in Kassel, Bückeburg und Dänemark, zur Ausbildung nach Italien geschickt, jedoch war der Einfluss Italiens in Bezug auf die Kompositions- und Aufführungs- praxis, besonders auf das Werk des Michael Praetorius bekanntermaßen erheblich. Nicht auszuschließen ist natürlich, dass auch die in Leipzig und Frankfurt gekauften Instrumente für den Wolfenbütteler Hof zumindest teilweise aus italienischer Produktion stammten. Nachdem von Thomas Mancinus zum Ende seiner Dienstzeit als Kapellmeister im November 1603 ein Dulcian zu Behuff der Music gekauft worden war,79 tritt erstmalig 1605 der 1604 zum Kapellmeister bestallte Michael Praetorius als Instrumentenkäufer in Erscheinung, als er für die Verwendung in der Hofmusik eine Basslaute in Frankfurt für 10 fl und ein Regal in Kassel im Wert von 111 fl erwirbt.80 Im Januar 1606 erwarb er für den Hof darüber hinaus ein Instrument Symphoniae für 90 fl.81 Praetorius ist uns als Experte der damaligen Instrumentenkunde aus seinem Werk Syntagma musicum 2 be- kannt. Seine profunde Kenntnis der Herkunft, Stimmung, Maße und Einsetzbarkeit der

76 StA MR 4b Nr. 260; vgl. ZULAUF (wie Anm. 4), S. 48. 77 Noack (wie Anm. 1), S. 66f. 78 Wolfgang Steude: Heinrich Schütz in seiner Welt. (Fragment 1983). In: M. Herrmann (Hrsg.): Die Musikpflege in der evangelischen Schlosskapelle Dresden zur Schütz-Zeit. Sächsische Studien zur älte- ren Musikgeschichte 3. Altenburg 2009, S. 24-109, S. 169. 79 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 65b, Bd. 2, KR 7/1603-7/1604: Gemeine Ausgaben, (14,8 fl), fol. 146v. 80 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 65c, Bd. 2, KR 7/1604-7/1605: Gemeine Ausgaben, 30.2.1605, Frankfurt (10,16 fl), fol. 220v. sowie 17 III Alt, Nr. 65d, Bd. 2, KR 7/1605-7/1606: Ausgab Extraordinarie, 17.6.1605, Kassel, (111,12 fl), fol. 247r. 81 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 65e, Bd. 2, KR 7/1606-7/1607, 11.1.1606, fol. 270v.

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gesamten Bandbreite der Musikinstrumente entstammt seinem wissenschaftlichen Inter- esse, das er an den unterschiedlichen Orten seines beruflichen Wirkens verfolgte. So hatte er Einsicht u. a. in die Musikinstrumentenbestände der Höfe in Kassel, Dresden, Halle, Bückeburg und Prag.82 Aus den Instrumentenabbildungen im Syntagma musicum 2 können deshalb – abgesehen von den englischen Instrumenten wie dem Pandor, die durch die englischen Komödianten sicher vorhanden waren und abgesehen von den durch belegte Käufe nachweisbaren Instrumenten – nur sehr bedingt genauere Rückschlüsse auf die Vielfalt der in Wolfenbüttel vorhandenen Instrumente gezogen werden. In den Jahren nach 1604 organisierte Praetorius zunehmend die Reparatur der vor- handenen und die Beschaffung der neuen Instrumente für die Hofkapelle und die Fürsten- familie. So musste im Jahr 1608 die Bassgeige neu verfirnt83 und die alte Orgel in der Schlosskirche in Wolfenbüttel ausgebessert werden. Die Bezahlung der Orgelreparatur durch Jacob Compenius, vermutlich ein jüngerer Bruder von Esaias,84 erfolgte laut den Wolfenbütteler Kammerrechnungseinträgen neben Bargeld auch durch Lieferung von Messing aus der Rautheimer Messingfaktorei an den Orgelbauer.85 Die Beschaffung von Ersatzteilen wie Pergament und Messingdraht für die Reparaturarbeiten wurde u. a. durch den Organisten der Hofkapelle Thomas Mancinus jun., den Sohn des alten Kapellmeisters, ausgeführt und beaufsichtigt.86 Insgesamt ver- schlangen die Reparaturarbeiten eine Summe von ca. 950 fl. Auch der Lohn zu ganzlicher Bezahlung des Orgellwercks von 35 fl. für den Kasseler Orgel- und Cembalobauer Georg Weißland (in dem Eintrag „Weißlau“ genannt) wird unter den Ausgaben für die alte Orgel erwähnt,87 vielleicht war dies jedoch noch ein ausstehender Restbetrag für das im Juni 1605 in Kassel gekaufte Regal. Esaias Compenius arbeitete zur gleichen Zeit, d. h. ab August 1607 bereits an der Kammerorgel von Schloss Hessen für die Herzogin Elisabeth.88 So werden Holzeinkäufe und andere Posten in einem eigenen Kapitel der Kammerrechnungen unter Außgabe auff das holtzern Orgelwergk aufgeführt.89 Auch erfolgten Zahlungen an den Orgelbauer und Schmied Jürgen Leipholtz im Ort Hessen vor etzliche zum holtzern Orgelwergk verfertig­ te Arbeith (6 fl) und den Bildhauer des Wolfenbütteler Hofes, Hermann van de Velde (15 fl), für das reiche Schnitzwerk an der Orgel.90

82 Steude (wie Anm. 78), S. 45. 83 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 68a, Bd. 2, KR 7/1608-7/1609: Gemeine Ausgaben, 12.12.1608, (Kosten: 3,12 fl), fol. 252r. 84 Gerhard Aumüller: Esaias Compenius und seine Familie. Pers. Mitteilung. 85 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 66a, Bd. 2, KR 7/1607-7/1608: Außgabe auff das holtzern Orgelwergk, März 1608, fol. 204v. 86 Ebd. 87 Georg Weißland, Kasseler Orgel- und Cembalobauer (geb. 1560 in Amberg, gest. 1634 in Melsungen. Laut Aumüller (wie Anm. 84), pers. Mitteilung. 88 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 68: Aussgabe an gelde, Summa Aussgabe vom 1. biss den 31. July Ao 1608, fol.100 und fol. 101. Bereits genannt bei Thöne (wie Anm. 41), S. 241. 89 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 66a, Bd. 2, KR 7/1607-7/1608: Außgabe auff das holtzern Orgelwergk, fol. 204r. 90 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 68c, Bd. 2, KR 7/1610-7/1611: Ausgabe auf das Höltzern Orgelwergk, fol. 213/214., o. Datum. Diesen Eintrag und Weiteres zu Hermann van de Velde nennt bereits THÖNE (wie Anm. 41) S. 241.

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Die Orgelmacher erhielten während ihrer Arbeiten in Wolfenbüttel freie Kost im Schloss in Form des sog. „freien Tisches“. Der Küchen Auszugk des Jahres 1612 erwähnt sogar einen separaten Orgelmachertisch.91 Michael Praetorius hatte als Gröninger Kammerorganist des Herzogs Heinrich Julius bereits 1596 die Pflege der großen Orgel übertragen bekommen. Er selbst schreibt im Syntagma musicum 2 über die Notwendigkeit eines fleissigen Organisten für die ständige Wartung größerer Orgeln mit vielen Regal- und Schnarrwerken: Inmassen ich dann in der Grüninschen Orgel bey den vierzehen Schnarrwercken solches ohne Ruhm mir nicht we­ nig angelegen seyn lassen.92 Auch die anderen Orgeln (in der Wolfenbütteler Schloss­ kirche und später die in Schloss Hessen stehende Compeniusorgel Herzogin Elisabeths und die unter seiner Beratung am Ende seiner Lebenszeit entstehende Fritzsche-Orgel der Wolfenbütteler Hauptkirche) und die bereits genannten zahlreichen kleineren Tasten­ instrumente der herzoglichen Familie und der Hofkapelle unterstanden sicherlich seiner Obhut. Als Organisator von Orgelbauten und -reparaturen wurde er weit über Wolfen­ büttel hinaus beratend tätig, z. B. am Bückeburger Hof. Obwohl zahlreiche Trompeter über die Jahre hinweg bei Hofe aufwarteten und Vereh- rungsgelder erhielten, auch ständig etwa 10-15 Trompeter bestallt waren, findet sich nur selten der Kauf von Trompeten verzeichnet. Außer dem bereits oben erwähnten Geschenk an den Trompetenschüler Tönnies Wissel wurden nur einmal (im April und Mai 1599) ins- gesamt 16 welsche Trummitten von Georg Fastert (er wird in dem Kaufeintrag von 4/99 „Jürgen Vastertt“ genannt) in Nürnberg, und zwar im Gesamtwert von 182 Gulden, gekauft.93 Georg Fastert, ein gebürtiger Braunschweiger, war als Handelsmann in Nürnberg ansässig,94 jedoch nicht als Instrumentenbauer tätig. Trompeter und Paukenschläger stellten in der Hof- musikerhierarchie am Wolfenbütteler Hof den niedrigsten sozialen Rang dar, sowohl in der Bezahlung als auch in der Verpflegung waren sie deutlich schlechter gestellt als die Musiker der Hofkapelle oder gar der Hoflautenist.95 Dennoch waren sie es, die bei großen Festlich- keiten prächtig gekleidet ihrer Herrschaft voranritten und sie akustisch anzukündigen hat- ten. Die Existenz ihrer Instrumente spiegelt sich in späterer Zeit jedoch lediglich in zwei Zahlungen von insgesamt 316 fl an den Hofmaler Joachim Nolte für [14] verfertigte Trombter Fahnen wider, im Jahr 1614 anlässlich der Hochzeit Herzog Friedrich Ulrichs mit Sophia von Brandenburg.96 Zu gleicher Gelegenheit erfolgte im September 1614 auch der eingangs

91 NLA-StA WF, 1 Alt 25, Nr. 98: Summarischer Extract aller 4 Quartale des 1. Jahres Anno 1612 der Hofhaltung in Wolfenbüttel; Küchen Auszugk, fol. 87r-93r. 92 Michael Praetorius (wie Anm. 66), S. 195. 93 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 64f, KR 6/1598-7/1599: Ausgab Extraordinarie: 7. April und 17. Mai 1599, fol. 132r sowie 138r. 94 Er erwarb 1580 in Nürnberg das Haus Albrecht-Dürer-Straße 8, verstarb dort am 12.6.1622 und wurde auf dem Johannisfriedhof beigesetzt (mit noch erhaltenem Epitaph von 1580). Nürnberger Trompeten wurden zu dieser Zeit in den Werkstätten Neuschel, Stengel und Schnitzer gefertigt. Für diese Informationen dan- ke ich Herrn Klaus Martius, Abt. Historische Musikinstrumente, Germ. Nationalmuseum Nürnberg. 95 Martin Ruhnke: Beiträge zu einer Geschichte der Deutschen Hofmusikkollegien im 16. Jahrhundert. Berlin 1963, S. 72f. 96 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 68f, Bd. 1, KR 7/1613-7/1614: Ausgab Extraordinarie, 26.6.1614, (99 fl), fol. 219v. sowie 17 III Alt, Nr. 69, Bd. 2, KR 7/1614-7/1615: Ausgab Extraordinarie, 27.8.1614, (217,16 fl), fol. 246r.

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Abb. 4: M. Praetorius: Theatrum instrumen­ torum, VIII

Abb. 5: M. Praetorius: Theatrum instrumentorum, VI, Darstellung der Octavposaune

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 90 Sigrid Wirth erwähnte Instrumentenkauf durch Praetorius.97 Auch Martin Warendorff, einer der Pauker des Hofes, erhielt nur einmal, im August 1611, zu einkauffunge 8 Paucken sparsame 3 Gul- den.98 Hierüber ist es möglich, die Zahl der Paukenschläger die sonst in den Kostgeldlisten unter 10 Trometer und Purckenschlager o.ä. subsummiert werden,99 zumindest zu diesem Zeitpunkt genau zu benennen. Auch anlässlich der Erbhuldigungsfeierlichkeiten für Fried- rich Ulrich im Februar 1616 fertigte Nolte 12 Trommetter und 2 Heer Paucker Fahnen wo­ rauf das Fürstliche Braunschweigische Wappen gemahlt und in der Erbhuldigung in Braunschweig gebraucht.100 Im Laufe des Jahres 1611 erfolgten über Michael Praetorius erneut mehrere Instru- mentenkäufe.101 So erhielt er für eine in die fürstliche Capell gekauffte octafposaune 30 Taler und für eine Lauthe 4 Taler aus der Hofkasse erstattet.102 Leider wird aus dem Eintrag nicht ersichtlich, welcher Herkunft die Instrumente waren. Die Posaune stammte womöglich aus Nürnberg, schließlich schätzte Praetorius besonders Posaunen die vor der Zeit und noch zu Nürnberg gefertiget seyn auf Grund ihrer hohen Tonreinheit.103 Eine Nürnberger Tenorposaune war ja bereits seit 1595 auch in der Hofkapelle vorhanden und daher Praetorius bekannt. Im Syntagma musicum 2 schrieb er, die Oktavposaune sei vor der zeit gar selten gefunden worden. Es seynd aber deren / so ich gesehen / zweyerley Art: Die eine ist gleich noch eins so lang / als die gemeine rechte Posaun / ohne Bügel; Daher sie dann auch wegen der Züge vnd sonsten mit derselben ganz vbereinkommet / Allein daß sie ihren Thon ein Octav tieffer bringen / vnd natürlich das E; intfaltet aber auch / doch mit einem guten Ansatz das D vnd C erreichen kan. Vnd ist dieselbe Art von einem Kunst-Pfeiffer / Hanß Schreiber genand / vor vier Jahren gefertiget worden. Deren Abriß in Sciagraph. Col. VI.VII.104 Vielleicht nahm Praetorius hiermit auf die 1611 von ihm erworbene Octavposaune Bezug. Zumindest ist aus dem folgenden Text der Organographia zu ersehen, dass er mit dem o. g. Instrumentenbauer Schreiber weiterhin in Kontakt stand, da er dessen noch nicht abgeschlossene Entwicklung eines Contrafagotts beschrieb.105 Im Herbst 1611 wird Praetorius zweimal zu Einkauffung etzlicher instrumenta eine Summe von insgesamt 57 Gulden von der Hofkasse erstattet.106 Auch hier bleiben Art und Herkunft der Instrumente unklar, zumal ein begleitendes Verzeichnis fehlt. Herzog Hein- rich Julius hielt sich seit 1600 zunehmend in Prag am Kaiserhof Rudolf II. auf.107 Seine Berufung in das hohe Amt eines Direktors des geheimen Rates am 27. Juli 1611 war der Erfolg für seine hohe juristische Kompetenz, die er in kaiserliche Dienste gestellt hatte.

97 NLA-StA WF, 4 Alt 19, Nr. 4848: Ausgabenbuch Friedrich Ulrichs 1614-16, Nr. 30. Datum 10.9.1614, (93 Taler). 98 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 68c, Bd. 2, KR 7/1610-7/1611: Ausgab Extraordinarie, fol. 275r. 99 NLA-StA WF, 4 Alt 1, Nr. 2260: Kostgeldlisten Hofbeamte und Bedienstete 1592. 100 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 69b, Bd. 2, KR 7/1615-7/1616: Außgab Extraordinarie, 234 fl, fol. 259v. 101 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 68c, Bd. 2, KR 7/1610-7/1611: Ausgab Extraordinarie, fol. 276r. 102 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 68d, Bd. 2, KR 7/1611-7/1612: Ausgab Extra Ordinarie, fol. 241v, o. Datum. 103 Michael Praetorius (wie Anm. 66), S. 232. 104 Ebd., S. 32. 105 Ebd., S. 38. 106 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 68c, Bd. 2, KR 7/1610-7/1611: Ausgab Extraordinarie, fol. 276r. 107 Zur Biographie des Herzogs vgl. Lietzmann (wie Anm. 53).

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Musikinstrumentenkäufe am frühneuzeitlichen Hof der Wolfenbütteler Herzöge 91

So hatte er sich als Vermittler um die Abdankung des Passauischen Kriegsvolks und im Bruderzwist zwischen Kaiser Rudolf und dessen Bruder Matthias bewährt. Ein im Som- mer 1611 auf dem Prager Hradschin für 10.000 Gulden gekauftes Haus wurde zu einem prächtigen Domizil umgebaut, das Heinrich Julius im Herbst des gleichen Jahres bezog. Auch die Mitglieder der Hofkapelle und der Hoflautenist Huwet108 begleiteten ihn zeit- weise nach Prag. So kann die Anschaffung der neuen Instrumente, auch der bereits oben genannten acht Heerpauken, zu dieser Zeit ebenso mit den repräsentativen (musikali- schen) Pflichten im Umfeld des Kaiserhofes in Zusammenhang gestanden haben. Es könnte sich jedoch auch um den Kauf eines zweiten Satzes von Instrumenten zum Einsatz am heimischen Wolfenbütteler Hof gehandelt haben, um wiederholte Transporte – zumin- dest der empfindlicheren Stücke – zwischen Prag und Wolfenbüttel zu vermeiden. Nachdem sich über mehrere Jahre hinweg keine Instrumentenkäufe mehr verzeichnet finden – was sowohl auf den Niedergang der Hofmusik als auch auf die nachlässiger wer- dende Buchführung zurückzuführen sein könnte –, kaufte der Zinkenist der Hofkapelle, Wessel Wessaliensis, im Oktober 1619 ein Standwerk Krumbhorner vnnd gelbe Cornetten im Wert von 54 fl ein.109 Er war ja bereits im August 1596 mit dem Ankauf von Zinken betraut worden. Etwa zu gleicher Zeit wurde die zweite Zinkenistenstelle nach mehrjäh- riger Vakanz mit Michael Bloser neu besetzt. Zwei Inventare, erstellt von Stephan Körner, dem Hofkapellmeister des Herzogs Au- gust d. J., über in Stand gesetzte Blas- sowie neu gekaufte Saiteninstrumente vom 29. No- vember 1641, werfen einerseits einen Blick in die Vergangenheit der Hofmusik zurück und richten andererseits einen Blick in die damalige Zukunft:110 Die Auflistung der repa- rierten Blasinstrumente umfasst einen großen Bombart so in Jahren nicht gebraucht wor­ den, Schalmeien, Diskantschalmeien, ein Diskantkrummhorn, einen Dulcian (der 1603 gekaufte?) sowie Sordunen, d. h. überwiegend in die Klangwelt des 16. Jahrhunderts ver- weisende Instrumente, sicherlich noch aus dem alten Bestand der Hofkapelle. Womöglich war die o. g., von Herzog Julius 1573 gewünschte Instrumentenlieferung seinerzeit doch zustande gekommen. Hingegen zeigen die neu aus Hamburg bzw. über Hamburg aus englischer Fertigung erworbenen Saiteninstrumente – neben der Änderung des unter den Herzögen Heinrich Julius und Friedrich Ulrich bevorzugten Kaufortes – in ihrer Auswahl die veränderten Anforderungen an das Instrumentarium einer „moderneren“ Hofmusik: Eine newe Englische Violl d‘ Gamba wofür zu Hamburg durch Herrn Matthiaß Bader bezalt sein 15 Thall dazu alhir ein futter für 3 Thall, sind 18. Eine Englisch Chitarria von Hamburg verschrieben dafür bezalt 7. Eine Tenor Viol d‘ brachio für 3. Unter dem Einfluss Herzogin Sophie Elisabeths, der 3. Ehefrau Herzog Augusts d. J., die von ihrer Stiefmutter Elisabeth von Hessen – Kassel im Lautenspiel und von Heinrich Schütz in Kompositionstechnik geschult worden war, war eine neue Ära der Hofmusik angebrochen.

108 Steude (wie Anm. 78), S. 93. 109 NLA-StA WF, 17 III Alt, Nr. 72d, Bd. 1, KR 7/1619-7/1620: Ausgab Extraordinarie, 23.10.1619, fol. 130r. 110 NLA-StA WF, 1 Alt 25, Nr. 293, fol. 12r (Saiteninstrumente) und fol. 13r (Blasinstrumente).

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 92 Sigrid Wirth

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die für den Wolfenbütteler Herzogshof zwi- schen 1570 und 1626 überlieferten Informationen zu Instrumentenkäufen und –besitz ein recht heterogenes Bild ergeben. Kam es zur Zeit des Herzogs Julius noch zu Musikinstru- mentenankäufen größeren Umfanges für einen breiteren Nutzerkreis (Hofmusik, Stadt- spielleute, Lehre im Gandersheimer Paedagogium Illustre), beschränkten sich die Käufe unter den Herzögen Heinrich Julius und Friedrich Ulrich zumeist auf die Nutzung in der repräsentativ ausgerichteten Hofmusik auf ihren verschiedenen Ebenen. Zum einen dien- ten die Instrumente der Hoftrompeter und Heerpauker der musikalisch-akustischen Ver- breitung herrschaftlichen Ruhms im Außenbereich bei Besuchen andernorts oder Emp- fang von Besuchern am heimischen Hof. Zum andern dienten die Instrumente dem Gebrauch durch die Musiker der Hofkapelle im Innenbereich der Kirchen und der Ban- kettsäle, sowie im Fall der gekauften Lauten v.a. zur Ausführung der Musik in der Privat- sphäre der herzoglichen Kammer oder vor der Tafel durch den Hoflautenisten. Als weite- re Facette lässt sich für die 1590er Jahre die wohl überwiegend von den englischen Komödianten mit englischen Consort-Instrumenten ausgeführte Schauspielmusik als Wolfenbütteler Besonderheit nennen. Eine weitere, für Wolfenbüttel gut dokumentierbare Ebene stellen die Käufe von überwiegend Tasteninstrumenten zum Musizieren zahlrei- cher Mitglieder der herzoglichen Familie dar. Nicht zu vergessen sind die Initiierung und Förderung einiger der besten Orgelbauten der damaligen Zeit durch die Herzöge Heinrich Julius und Friedrich Ulrich, auf die hier nur am Rande eingegangen werden konnte. Die in Wolfenbüttel genutzten Wege der Akquisition der Instrumente unterscheiden sich, wie berichtet, von denen benachbarter Höfe. Wurden unter Herzog Julius Instrumente in größeren Mengen aus Köln angekauft, so waren die seit den 1590er Jahren bevorzugten Lieferquellen die Messestandorte Leipzig und Frankfurt. Einzelne Instrumente wurden aus Nürnberg sowie aus englischer und niederländischer Erzeugung angekauft, entsprechend einer Bevorzugung hochqualitativer Ware von spezialisierten Produktionsorten. Die Haupt- verantwortung für den Instrumentenbestand, dessen Ausbau und Erhaltung oblag den Ka- pellmeistern Thomas Mancinus bzw. Michael Praetorius. Hervorzuheben ist in Wolfenbüt- tel darüber hinaus jedoch das Prinzip der Spezialistenkäufe, bei denen außer den Kapellmeistern auch einige Instrumentisten mit dem Ankauf ihrer speziellen Instrumente betraut wurden. Sammellieferungen mit Musikinstrumenten durch externe Agenten finden sich hingegen nicht. Hinweise für lokalen Instrumentenbau in größerem Umfang fehlen ebenfalls, ausgenommen die Orgelbauten durch den in Halberstadt wirkenden David Beck. Informationen zu Instrumentenbeständen und -ankäufen können als Indikator ver- wendet werden zum einen für die Beleuchtung des kulturellen bzw. musikalischen Stel- lenwertes besonderer Hofereignisse, über das Wissen um Anzahl und Qualifikation der Hofmusiker und über Festbeschreibungen hinaus, zum anderen für das Ausmaß der Wert- schätzung der Instrumentalmusik und der persönlichen Musikausübung durch die Her- zogsfamilie selbst. Instrumentalmusik, ausgeführt mit Musikinstrumenten oft hochwertiger Qualität, war somit in verschiedenster Form, zu vielfältigen Anlässen, in unterschiedlichsten Be- setzungen, an zahlreichen Orten und zu mannigfaltigen Zwecken möglich und eng ver- woben mit den repräsentativen Ebenen des damaligen Wolfenbütteler Hoflebens.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Musikinstrumentenkäufe am frühneuzeitlichen Hof der Wolfenbütteler Herzöge 93 ­ ­ Lauten Lauten macher macher Hersteller Lorenz Hausleib, Hausleib, alhier“ (Hbs) alhier“ (Köln) (Köln) (D.Beck?) ? ? ? ? ? ? ? ? ? „Orgelmacher „Orgelmacher Preis 0,16 fl 20/36 20/36 200 Tlr (Tlr/fl) 50 Tlr 55 fl 55 30/54

7/12 30/54 11/19 131 fl 1/1,1 Lade Lauten- u. u. Lauten- Lade Lauten- Cistersaiten u. Lautensaiten Lauten u. L-Saiten u. Lauten Eisen- Messingsaiten u. Lautensaiten Harfensaiten Geigensaiten Instrumentum musicum Instrumentum Gamba, 1 Hackbrett Instrumente Saiten Zubehör 16 Lauten Lade“ und „½ 16 4 Lauten, 4 Cistern, 4 Quinternen, da 1 Lyra Was? 1 Positiv 1 Bassgeige u. a. 1 Bassgeige 1 Instrumentum musicum + paratur Halberstadt Leipzig? Köln Köln Nürnberg

Woher? WF ? ? ? ? ? ? re - Halberstadt Braunschweig Köln Köln Wo? Wolfenbüttel WF WF WF ? ? ? ? ? Für wen? Engl. Kom.? Engl. Hofkapelle HK Hz. Julius / / Päd.Hof HK Hz. Julius / / Päd.Hof selbst selbst Selbst selbst Illustre Illustre (HK)

Wofür? ? Funktion? Herzog Hoflautenist Hoflautenist Harfenist Hoflautenist Gandersheim Kapellmeister KM Gandersheim Instrumentist Kramer KM (KM)

Amtmann Amtmann De Block, Henrich Huwet, Huwet, Mancinus, Mancinus, Th. Huwet, Hof N.N. Gregorius Christian Gregorius Mancinus, Th. Koch, Gregorius J. Julius Johan Johan Thomas sen. Wer? Von Asbeck, Von Von Asbeck, Von 2/1590 6/1581 9/1593 6/1593 2/1594 5/1571 5/1593 5/1593 7/1592 Wann? 1/1573 1/1590 1/1590 12/1593 Tabelle 1: Übersicht 1: Tabelle über die Ausgaben für Musikinstrumentenankauf und

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 94 Sigrid Wirth - England? Franz Scherz, Hersteller Philipp feger England Schornstein Cunrad Meyer, Bs Berner, Berner, Juwelier ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? Preis Ca. 200 fl 280/ 25 fl 6/10 (Tlr/fl) 7/12 505 3/5,8 30/54 34 fl 7/12 7/12 10/18 12/21 13 fl 14/25 14/25 besetzt Diamanten Rubinen u. Renoviertes „Instrument“ Saiten 1596 Saiten Saiten 1593 und 1594 Saiten 1593 Saiten 1594 Instrumentensaiten Saiten 1595 2 Posaunen 2 2 englische2 Zinken 2 Zinken 2 Tenorposaune Was? 1 Discantgeige und 1 Bassgeige 1 Cister 1 Cornett, mit vergoldet, „etliche“ Cistern - Frankfurt schweig Nürnberg? Braun Woher? WF ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? Leipzig Frankfurt Nürnberg Wo? WF WF WF WF WF WF WF ? WF WF WF ? Für wen? HK selbst HK HK selbst HK selbst HK selbst HK HK HK HK HK Herzog Heinr. Julius Wofür? Funktion? Herzog Hoflautenist Herzogin Herzog Engl. Komm. Engl. KM Zinkenist KM KM KM KM KM

Violinist Elisabeth Hoyer, Huwet, Hof Hof Heinrich Mancinus, Th. Gregor Gregorius Mancinus, Th. Mancinus, Th. Mancinus, Th. Mancinus, Th. Sachevill, Sachevill, Mancinus, Julius August Julius Thomas sen. Thomas Wer? Wessaliensis, Wessaliensis, Wessel 6/1596 6/1596 8/1595 8/1595 6/1595 6/1595 6/1595 7/1596 3/1594 3/1594 3/1594 3/1594 Wann? 3/1596 12/1594 12/1594

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Musikinstrumentenkäufe am frühneuzeitlichen Hof der Wolfenbütteler Herzöge 95 - ­ Lauten Lossein, Fastertt, Fastertt, macher macher Ripen, Hans, Hersteller Sackpfeifen Mathias, Jürgen ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? Preis 8/14 6/11 6/10 62/111 (Tlr/fl) 50/90 30/54 30/54 30/54 30/54 30/54 40/126 3 fl 15/27 12/21 Saiten 1600 Saiten Saiten Saitengeld 1600 Instrumente Was? Verfirnung einer Bassgeige 1 Dulcian 1 Basslaute 1 1 Regal 1 Laute „aus gnaden“ „etliche“ Sackpfeifen „welsche“ Trompete „welsche“ „etliche“ (Lauten-) „etliche“ „etliche“ Lauten „etliche“ „etliche“ Lauten und „Instrument Symphoniae“ heim Frankfurt Leipzig legen Nürnberg Ganders- Garde-

Woher? ? ? ? ? ? ? ? ? Frankfurt Leipzig? Leipzig Nürnberg Gandersheim Kassel Wo? WF WF WF WF ? ? ? ? Für wen? HK HK HK HK HK HK selbst HK HK HK Selbst / HK? Selbst / HK? Selbst? Selbst Selbst Wofür? Funktion? macher Hoflautenist Sackpfeifen- Hoflautenist Hoflautenist Hoflautenist KM KM KM KM KM KM KM

Lossein, Hans Hof Hof Praetorius, Huwet, Praetorius, M. Praetorius, M. Praetorius, M. Huwet, Huwet, Huwet, Mancinus, Mancinus, Mancinus, Th. Michael Gregorius Gregorius Gregorius Gregorius Thomas sen. Th.. Wer? 2/1597 9/1602 6/1597 2/1605 6/1605 5/1599 7/1603 4/1600 3/1607 Wann? 11/1603 10/1605 1/1606 10/1606 12/1608

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 96 Sigrid Wirth Hersteller Niederlande Niederlande (Antwerpen?) WF WF? WF? ? WF ? ? ? ? ? ? ? ? ? Preis 93 Tlr (Tlr/fl) 55/99 3 fl 36/66 45 fl 34/62 7/13 35/63 39/67 30 fl 15 fl 12/18 13/28 16/29 121/217 Musik“ 8 Pauken Clavecordium“ Instrumente (Restzahlung?) Trompeterfahnen Was? 1 Laute „aus gnaden“ 1 „Instrument“ 1 1 Laute 1 1 Positiv 1 Oktavposaune Tlr), (30 Tlr) 1 Laute (4 14 Trompeterfahnen 14 1 „Instrument“ 1 1 „Holländisch „etliche Instrumente“ „etliche Instrumente“ „allerhand“ Instrumente „etliche Instrumente zu der Leipzig Woher? WF WF WF ? WF WF? ? WF? ? ? ? ? ? ? Leipzig Wo? WF WF WF WF ? WF WF? ? WF ? ? ? ? ? Für wen? selbst Hz. Hedwig Hedwig Hz. HK selbst Hz. Dorothea HK HK HK Hoftrompeter jun. HK HK Hoftrompeter HK Hz. Rudolf Selbst? / HK Selbst? (Geschenk) Wofür? Augusta Augusta - – Funktion? Hoflautenist Paukenschlä Hoflautenist Hofmaler Hofmaler KM KM KM KM KM KM KM KM Organist ger Friedr. Ulrich Friedrich Huwet, Praetorius, M. Hz.i.A. Praetorius, M. Hof / Hz.Hof Huwet, Praetorius, M. Praetorius, M. Praetorius, M. Praetorius, M. Praetorius, M. Martin Praetorius, M. Gregorius Ulrichs Gregorius Nolte, Nolte, Stefan Körner, Körner, Joachim Joachim Wer? Warendorf, Ca. Ca. 8/1611 8/1614 8/1614 8/1614 8/1614 6/1614 9/1614 5/1616 5/1609 Wann? ?/1617 ?/1611 ?/1611 ?/1616 10/1616 1611/ 1612?

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Musikinstrumentenkäufe am frühneuzeitlichen Hof der Wolfenbütteler Herzöge 97 Hersteller WF ? ? Preis 234 6,18 fl (Tlr/fl) 30/54 130/ - hörner Cornette und gelbe Heerpaukerfahnen 3 Felle für3 Felle Heerpauken Was? 12 Trompeter- und 2 Trompeter- 12 „1 Standwerk“ Krumm„1 Woher? WF ? Wo? WF WF ? Für wen? Hoftrompeter Hofpauker HK / Hofpauker/ Wofür? Funktion? Hofmaler Zinkenist ? Hof Nolte, Joachim Wer? Wessaliensis, Wessaliensis, Wessel Ca. 2/1616 Wann? ?1616/ 17 10/1619

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 „alle Eysen omnia ferra in plurali numero in 24 stunden in stael zu transmutiren“. Der Kepler-Briefpartner Nicolaus von Vicken im Rechtsstreit mit dem Syndikus des Stiftes Halberstadt wegen eines alchemistischen Kontraktes.

von

Nils Lenke, unter Mitarbeit von Nicolas Roudet

1. Einleitung

Nachdem die Alchemie lange Zeit als bloßer Aberglaube abgetan wurde, hat sie in den letzten Jahrzehnten ein vermehrtes Interesse der Forschung als Ursprung unserer heutigen Naturwissenschaften erfahren.1 Von besonderem Interesse ist dabei auch die Rolle gewe- sen, die Fürsten spielten, sei es als selbst in der Alchemie Tätige, sei es als bloße Investo- ren. Dabei darf Alchemie eben nicht auf Versuche verkürzt werden, mithilfe des legendä- ren Steins der Weisen aus minderwertigen Metallen Gold herzustellen. Zum einen gab es viele weitere alchemische Prozesse, die funktionieren und wirtschaftliche Bedeutung er- langen konnten. Auch einzelne Schritte des Prozesses der „Goldherstellung“ konnten durchaus erfolgreich demonstriert werden und nährten so die Hoffnung auf ein Gelingen des Gesamtprozesses. Insofern war es völlig normal für adlige und (reiche) bürgerliche Kunden, die Dienste von Alchemisten in Anspruch zu nehmen, einerseits auf dem Gebiet der Metallverarbeitung, zum anderen auf medizinischem Gebiet. Bekanntlich unterhielt auch Kaiser Rudolf II. (1552-1612) mehrere alchemistische Laboratorien, ebenso Land- graf Moritz von Hessen (1572-1632), Herzog Julius von Braunschweig (1528-1589) und in ihrer Nachfolge viele weitere Herren großer, kleiner und kleinster Territorien. Da jedoch naturgemäß viele der ambitionierten alchemistischen Projekte nicht nur bei den Scharla- tanen (die es auch gab), sondern auch bei den ernsthaften Adepten scheitern mussten, kam es häufig zu Auseinandersetzungen zwischen Auftraggeber und Alchemist, auch vor Ge- richt. Die Ausübung der Alchemie war an sich nach der Karolina nicht strafbar,2 aller- dings konnte man versuchen, erfolglose Alchemisten des Betruges anzuklagen, vor allem wenn, was häufig der Fall war, ein schriftlicher Vertrag vorlag. In der Regel saß dabei der Auftraggeber am längeren Hebel, zumal wenn er Landesherr war und die Justiz kontrol- lierte. Notfalls konnten dann neben dem Betrugsvorwurf auch andere Anschuldigungen

1 Zum Themenkreis der Alchemie siehe vor allem: Bruce T. Moran: The alchemical world of the German court: occult philosophy and chemical medicine in the circle of Moritz of Hessen (1572-1632). Stuttgart 1991; ders.: Distilling Knowledge. Alchemy, Chemistry, and the Scientific Revolution. Cambridge (Mass.) 2005; Tara Nummedal: Alchemy and Authority in the Holy Roman Empire. Chicago 2007. 2 Zu Fragen der Alchemie und des Rechts siehe Nummedal (wie Anm. 1), S. 147ff.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 100 Nils Lenke, unter Mitarbeit von Nicolas Roudet instrumentalisiert werden. Dies zeigt das Beispiel Georg Honauers, der Herzog Friedrich I. von Württemberg versprach Eisen in Gold zu verwandeln, dann aber bei sich abzeich- nendem Misserfolg floh. Der Herzog ließ ihn zunächst verfolgen, weil er glaubte, der Betrüger habe die notwendige Tinktur hergestellt, und wolle sie ihm vorenthalten. 1597 wurde Honauer jedoch nach einem Prozess, in dem es nicht nur um den Betrugsvorwurf ging, sondern auch um die Anschuldigung sich als Adliger ausgegeben zu haben, an einem Galgen aufgehängt, den man aus dem Eisen errichtet hatte, das der Alchemist nicht in Gold verwandelt hatte.3 Doch auch kleinere Landesherren bedienten sich ähnlicher Methoden, wie das Beispiel des Alchemisten Johann Dobricius zeigt, den sein Auftrag- geber 1626/7 nicht nur wegen der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen, sondern auch we­ gen der hochstraffbahren laster der hurerey undt unzucht durch seinen Richter verhaften und später gegen eine Geldzahlung wieder freilassen ließ.4 Was hingegen, wenn erstens der Kunde bürgerlich war und sich nicht der Instrumente eines Landesherrn bedienen konnte; und was, wenn der Alchemist Auslöser des Disputes war, weil er sich um seinen Lohn geprellt fühlte? Ein solcher Fall soll hier dokumentiert werden. U. a. demonstriert er die verschiedenen Taktiken und Hilfsmittel, die die Konflikt- parteien einsetzten, um ihre Rechte durchzusetzen. Dazu gehörten neben dem Appell an den Herzog als höhere Instanz auch die gezielte Verleumdung des Opponenten und polemi- sche Anwürfe. Auch war dieser Rechtsstreit wichtig genug, dass Herzog Heinrich Julius mehrfach selber in ihn eingriff, ging es doch u. a. auch um den Vorwurf, auf ihn sei ein Anschlag geplant gewesen. Generell ist eine weitere zu untersuchende Frage, inwieweit sich ein solcher Vorgang wirklich unabhängig von Fürst und Hof abspielen konnte, und wo diese dann doch auch in einem Streit zwischen Privatpersonen direkt oder indirekt präsent waren. Möglich ist dies, weil sich in drei Archiven Akten erhalten haben, die die Rekonstruk- tion des Vorgangs ermöglichen. In Wolfenbüttel findet sich eine Akte5, die sich um die Tätigkeit eines Bruders von Nicolaus, Heinrich von Vicken, als Hofmeister bei Herzog Joachim Karl (1573-1615),6 dreht und in der Nicolaus auch eine Rolle spielt. Zum anderen wird dort eine Gerichtsakte7 von ca. 900 Seiten aufbewahrt, die zahlreiche interessante Dokumente enthält. In Ergänzung findet sich in Hannover ein Bestand von Briefen8, die sich mit einer Inhaftierung Nicolaus von Vickens im Jahr 1609 in Halberstadt beschäfti- gen, und weiterhin ein Brief9 der Wolfenbütteler Räte an den abwesenden Herzog Fried- rich Ulrich (1591-1634)10, in dem sie auch auf den Rechtsstreit mit Nicolaus von Vicken eingehen. Schließlich liegen in Bückeburg in zwei Akten11 insgesamt acht Dokumente aus 3 Nummedal (wie Anm. 1), S. 155f. 4 Nils Lenke: Der Alchemist Johann Dobricius aus Schloss Hardenberg 1626/7, in Vorbereitung. 5 NLA-StA WF 3 Alt, Nr. 359 6 Ein jüngerer Bruder von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel, der zeitweise Dom- probst in Strassburg war. Siehe Inge Mager: Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig- Wolfenbüttel Göttingen 1993, S. 331n 7 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102a-d 8 NLA-Hauptstaatsarchiv Hannover (im Folgenden NLA-HStA H) Celle Br. 71, Nr. 123 9 NLA-HStA H Cal. Br. 22, Nr. 1860 10 Ferdinand Spehr: Friedrich Ulrich, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel. In: Allgemeine Deutsche Biographie 7 (1878), S. 501-505; dieses und alle weiteren Zitate aus der ADB erfolgen nach der digita- len Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: http://de.wikisource.org/ (3. Juli 2012) 11 NLA-Staatsarchiv Bückeburg (im Folgenden NLA-StA BU) F 3 Nr. 239 und 240

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dem Jahr 1614, darunter in Kopie ein „Entschuldigungsbrief“ an die Regentin Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel (1573-1625).

2. Biographische Skizze

Es ist möglich, den Rigaer Adeligen Nicolaus von Vicken12 als Astronomen zu klassifizie- ren, immerhin hat er es auf einen Briefwechsel von mehr als einem Dutzend Briefen mit Johann Kepler (1571-1630) gebracht.13 Er ist auch der erste dokumentierte Leser von Kep- lers Astronomia Nova, und zwar muss diese Lektüre genau während einer der intensivsten Phasen der hier geschilderten Vorgänge erfolgt sein. Sein Stammbuch ist erhalten und ediert,14 was ansonsten an biographischen Informationen vorliegt, ist an anderer Stelle zusammengetragen worden.15 Dabei zeigt sich, dass dieser Nicolaus von Vicken nicht nur als Astronom gesehen werden kann, sondern auch als Politiker, hat er doch in drei Krie- gen u. a. dem polnischen und schwedischen König gedient, mehreren Kaisern und zahl- reichen Fürsten. Für Suermann hingegen ist derselbe Nicolaus von Vicken ein „dubioser Magier aus Hildesheim“16. Etwas modifiziert kann man sich auch dieser Sichtweise an- schließen und ihn als Alchemisten ansehen, wie es zum Thema dieses Aufsatzes passt. Nicolaus von Vicken, geboren um 1570/1, entstammt einer alten bürgerlichen Rigaer Kaufmannsfamilie, erst der Vater wurde 1580 durch den polnischen König, zu dessen Ein- flussbereich Riga gehörte, geadelt, womit dem Sohn ein wichtiges Pfund in den Schoß fiel, mit dem er wuchern konnte. Es sind zwei Brüder bekannt, Heinrich und Dietrich, von denen einer (Heinrich) ebenfalls in den Akten auftaucht. Studiert hat Nicolaus Jura und zwar (min- destens) in Königsberg (immatrikuliert vermutl. 1589), Leipzig (1593) und Rostock (1598). Gleichzeitig hielt er sich in dieser Zeit aber immer wieder am polnischen Hof auf, um Inte- ressen der Familie wahrzunehmen. Dabei kam es wohl auch zu einer Tätigkeit für den pol- nischen König Sigismund III. Wasa, wobei deren genaue Natur unklar ist. Gegen Ende 1600 ging er dann zum neuen schwedischen Reichsverweser und späteren König Herzog Karl IX. über, der einen Krieg mit Polen um Livland begonnen hatte, und diente diesem in Verwal- tungs- und Kriegssachen, zumeist in Deutschland. Dabei führte er unter anderem eine Mis- sion zu Herzog Franz von Sachsen-Lauenburg durch, in deren Verlauf 1601/02 er in Kon-

12 Der Name taucht in vielen Varianten auf: Nikolaus, Nicolas, Niclas, Claus usw. als Vorname und Vicke, Viccius, Ficke, Ficken, Ficcius, usw. als Nachname. Außerhalb von Zitaten wird hier durchgehend die Form Nicolaus von Vicken verwendet. 13 Siehe Michael Gottlieb Hansch: Johannis Keppleri Aliorumque Epistolae mutuae … Leipzig 1718, S. 306ff.; Johannes Kepler: Gesammelte Werke. Bd. 15. München 1951, S. 283 für den Brief aus dem Jahr 1605, S. 532 für den „Nachbericht“ dazu; Keplers Gesammelte Werke. Bd. 16. München 1954, S. 256-390 für die Briefe selbst und S. 444-469 für die „Nachberichte“ zu den Briefen aus den Jahren 1609-11. 14 Christiane Schwarz: Studien zur Stammbuchpraxis der Frühen Neuzeit. Gestaltung und Nutzung des Al- bum amicorum am Beispiel eines Hofbeamten und Dichters, eines Politikers und eines Goldschmieds (etwa 1550 bis 1650). Bern 2002 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung. 66). 15 Nils Lenke, unter Mitarbeit von Nicolas Roudet: ‘Nicolaus Ficke… der sich mit Physiognomie, Astro- logie etc. abgab, übrigens ein schlechter Mann war‘. Biographische Notizen zum Kepler-Briefpartner Nicolaus von Vicken, erscheint in Sudhoffs Archiv 96 (2012, 2). 16 Marie-Theres Suermann: Zur Baugeschichte und Ikonographie des Stadthagener Mausoleums. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, 22 (1983), S. 67-90, S. 69.

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flikt sowohl mit Franz als auch mit Karl geriet; u. a. wurde ihm die Unterschlagung von Geldern vorgeworfen, die er zur Anwerbung von Truppen mit sich führte. Anschließend kam es neben einem Kontakt zu Erzherzog Maximilian (III. von Habsburg, dem „Deutsch- meister“) ab 1603 zu einer Tätigkeit für Kaiser Rudolf II. im Amt eines Truchsess, womit Nicolaus ein weiterer Titel und damit Hilfsmittel im Kampf um die Aufmerksamkeit adliger Gönner zufiel. Möglicherweise hat von Vicken auch an weiteren Höfen eine Tätigkeit an- gestrebt, etwa in Sachsen, doch sind hierzu nur spärliche Hinweise vorhanden. Zur „Initia- tion“ des Juristen von Vicken als Astronom, Astrologe und Alchemist kam es 1599/1600 durch die Lektüre der Schriften des Paracelsus. Mit Kepler stand er ab 1605 in Kontakt. Von Anfang an spielten diese Kenntnisse, die um diese Zeit eine Phase höchster Aufmerksamkeit erlebten, als weiterer Trumpf eine Rolle in jeder Tätigkeit von Vickens, ob für den polni- schen oder schwedischen König, für den Kaiser, oder die sonstigen Dienstherren. Sie dien- ten ihm (zusammen mit seinem Adelstitel und seinem Truchsessenamt) auch als Türöffner bei weiteren potentiellen Brotgebern, darunter dem Hof in Wolfenbüttel.

3. Erste „welfische Phase“

Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel (1564-1613)17 war dabei eine durch- aus logische Wahl. Nicht nur, weil das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel unter ihm seine größte Ausdehnung erfuhr18 und er somit ein durchaus einflussreicher Fürst war, son- dern auch weil er ein bekannter Anhänger der Astrologie und Alchemie war. Er ließ sich zahlreiche Horoskope aufstellen und richtete in Braunschweig und Prag gleich zwei alche- mistische Labore ein; auch Kontakte zu den (angeblichen) Rosenkreuzern unterhielt er.19 Bereits sein Vater Julius hatte Kontakte zu Alchemisten, so zu Philipp Sömmering, den er später hinrichten ließ. Während Sömmering sich Schritt für Schritt an Julius heran- arbeiten musste und diese Annäherung für bürgerliche Alchemisten generell ein Problem war20, hatte von Vicken aufgrund seines Adelstitels bei Heinrich Julius einen gewissen Vorsprung. Dessen Aufenthalte in Prag, die ersten fanden 1598 und 1602 statt, könnten ihn zum ersten Mal mit Nicolaus von Vicken in Kontakt gebracht haben.21 Allerdings scheint auch von Vicken Mühe gehabt zu haben, den Herzog auch nur brieflich zu erreichen, denn in seinem „Entschuldigungs-Schreiben“ an Herzogin Elisa-

17 Hilda Lietzmann: Herzog Heinrich Julius zu Braunschweig und Lüneburg (1564-1613) Persönlichkeit und Wirken für Kaiser und Reich. Braunschweig 1993 (Quellen und Forschungen zur Braunschweigi- schen Geschichte 30). 18 Lietzmann (wie Anm. 17), S. 29. 19 Ebd., S. 16. 20 Nummendal (wie Anm. 1), S. 88f, 98f. 21 1602 trug Heinrich Julius sich ins Stammbuch ein, siehe Schwarz (wie Anm. 14), S. 105ff. Ein Ort ist nicht angegeben. Heinrich Julius und von Vicken hielten sich beide in diesem Jahr in Prag auf, allerdings haben auch die Frau und ein Sohn Heinrich Julius‘ unterschrieben (wohl zu gleichen Zeit), dies spricht gegen Prag als Ein- tragungsort. Evtl. kommt stattdessen die Hochzeit am sächsischen Hof in Frage, zu der von Vicken eine Druck- schrift erstellte („Sygcharma nuptiale … Christiano II … nec non … Hedvigae … scriptum”, Sächsische Lan- des- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur: Hist. Sax. C. 33,15), und bei der Heinrich Julius anwesend war, siehe Eduard Maria Oettinger: Geschichte des dänischen Hofes. Band I. Hamburg 1857, S. 256.

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beth beschwert er sich darüber, dass seine Briefe von Höflingen unterdrückt würden, und das sei ihm in Prag bereits auch schon passiert: wie mir zu Prag mitt meynen briefen ad R[everendissimum] Illustrissimum geschen und Hans von Aachen woll wißendt22. Der bekannte Maler Hans von Aachen war einer der engsten Vertrauten von Heinrich Julius.23 So versuchte es von Vicken nach der Rückkehr des Herzogs nach Wolfenbüttel erneut. Aus der erwähnten Gerichtsakte24 stammt ein Brief Vickens an Herzog Heinrich Julius vom 9. März 1603, geschrieben in Rostock. Das in lateinischer Sprache abgefasste Schrei- ben erwähnt einige der von von Vicken offerierten Künste, so die Astrologie, Philosophia chimia, Chiromantia (Handlesekunst) und Metoposcopia (Stirnlesekunst). Also sollen auch hier die alchemistischen und astrologischen Kenntnisse als Türöffner eingesetzt werden, allerdings mit durchwachsenem Erfolg. Denn von der Kanzlei ist unter dem Datum des 17. März vermerkt: Ihme ist inn der rathe nahmen geantwortet, das es R[ever- endissimo] Illustrissimo mit dem packet eingehandiget, weil man aber keinen bescheidt von s[einer] f[ürstlichen] g[naden] jzo wegen anderer gescheffte erlangen konnen, soll der, sopalt das geschiht, ihme unverhalten pleiben.25 Aus dieser Bemerkung und dem Brief geht hervor, dass von Vicken eine oder mehrere Schriften beigelegt hatte, vermutlich Wer- ke, die er später auch an den Astronomen David Fabricius schickte. In einem Brief von David Fabricius an Kepler vom 13.4.1607 erwähnt dieser, dass Nicolaus Viccius, eques nobilis Livonus in aula Caesaris ihm vor einem Jahr ex Saxonia geschrieben habe de suo quoam libro chyromantico astrologico, metaphysico edendo.26 Die Schriften sind wohl leider verschollen. Das Schreiben Vickens scheint immerhin das Interesse des Herzogs geweckt zu haben, denn am 20. März schickte er einen Brief27 an Herzog Franz von Sachsen-Lauenburg, um eine Referenz über den Absender einzuholen; ob nicht dem Herzog oder seinem Sohn einer Nicolaus Ficcius, ein Liefflender und Herzog Carls inn Schweden Kriegs Commis­ sarius gewesen sein soll bekannt sei, und was es über ihn zu berichten gäbe? Die Antwort fiel für von Vicken – aufgrund der oben erwähnten Betrugsaffäre – wenig schmeichelhaft aus, so dass aus einer Tätigkeit für Herzog Heinrich Julius zunächst nichts geworden sein dürfte. Im Jahr 1605 (datiert 24.10. in Güstrow) erhielt der Herzog dann ein Empfehlungs- schreiben28 von Herzog Karl zu Mecklenburg-Güstrow29 über von Vicken, der ihm selber wiederum von Herzog Bogislaw XIV. von Pommern30 und den Herzögen Friedrich und Wilhelm von Kurland und Semgallen empfohlen worden sei.31 Angestrebt wird eine Tä- tigkeit für Heinrich Julius am Hof in Prag, doch ein Vermerk auf dem Umschlag besagt,

22 NLA-StA BU F 3 Nr. 240, Brief von Nicholas von Vicken an Herzogin Elisabeth, Hildesheim, 2.8.1614 23 Lietzmann (wie Anm. 17), S. 21. 24 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102a-d. 25 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102a, f. 3v. 26 Dr. [Bernhard] Bunte: Über David Fabricius. Zweiter Teil. Auszüge aus dem Briefwechsel des David Fabricius mit Kepler. In: Friesisches Jahrbuch 7 (1887, 2), S. 18-66; hier S. 48. 27 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102a, f. 4. 28 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102a, f. 10r-11r. 29 Wilhelm Fischer, Friedrich Wilhelm Streit: Historischer und geographischer Atlas von Europa. Band 2, 1. Abtheilung. Berlin 1836, S. 175. 30 Gottfried von Bülow: Bogislaw XIV. In: ADB 3 (1876), S. 56-58. 31 Theodor Schiemann: Jacob, Herzog von Kurland. In: ADB 13 (1881), S. 540-546.

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dass niemand zum Dienst am Hofe benötigt würde; es wird nicht klar, ob der Brief Herzog Heinrich Julius überhaupt persönlich erreicht hat. Kurz darauf scheint es jedoch zumindest zu einer Tätigkeit zumindest für einen wel- fischen Verwandten gekommen zu sein, denn 1606 vertritt von Vicken Herzog Johann Friedrich zu Braunschweig-Lüneburg (Harburg) (1557-1619)32 in einem Rechtsstreit mit der Stadt Hamburg.33 Bei Johann Friedrich scheint es sich jedoch eher um ein schwarzes Schaf des Welfenhauses gehandelt zu haben.34 Außer der Gerichtssache ist auch von einer längeren Tätigkeit von Vickens in Hamburg oder Harburg nichts bekannt.

4. Hebekünste und Stahlherstellung

Von Vicken muss jedoch weiterhin versucht haben, in den Dienst Heinrich Julius‘ zu ge- langen, spätestens ab 1609 im Bistum Halberstadt, dessen postulierter Bischof Heinrich Julius ebenfalls war.35 Dabei hat sich von Vicken neben Halberstadt in Blankenburg, so- wie weiteren Orten (genannt werden z. B. und Elbingerode)36 im auf- gehalten. Was ihn dorthin führte, ist wohl der in dieser Gegend praktizierte Bergbau ge- wesen, von jeher ein Anziehungspunkt für Alchemisten37. Passend zu diesem Interesse und typisch für einen Alchemisten38 zeigt sich bei von Vicken auch eine Nähe zu Metall verarbeitenden Berufen, vor allem Goldschmieden. So hat sich Vicken bereits 1599 als Nicolaus Ficcius und dann nochmals 1604 in Breslau in das Stammbuch des Breslauer Goldschmieds Hans Strich (1549/50-1616) eingetragen.39 Auch in Blankenburg hat er zu einem durchreisenden Goldschmied Kontakt, s. u. Schon 1602 hatte sich Georg Engelhardt von Löhneysen (1552-1623)40 in Vickens Stammbuch eingetragen, seit 1589 u. a. Berghauptmann bei Herzog Heinrich Julius und Verfasser eines „Berichts vom Bergwerk“. Er könnte von Vicken also behilflich gewesen sein, eine Tätigkeit für Heinrich Julius zu erreichen. Eine Aufgabe von Vickens scheint dabei die Errichtung einer „Hebekunst“ (d. h. eines Pumpensysteme zur Entwässerung der Stollen) für den Herzog gewesen zu sein, denn sein Widersacher in der Gerichtsakte wirft ihm an einer Stelle vor, er habe gedroht wen von J. F. Gn. [Herzog Heinrich Julius] undt

32 W.C. Ludewig: Otto II., Herzog zu Harburg. In: Vaterländisches Archiv für hannoverisch-braun- schweigische Geschichte, Jg. 1834 (1835), S. 96-130, hier S. 127. 33 Siehe Schreiben von Vickens an die Stadt Hamburg vom 8.2.1606, NLA-StA WF 1 Alt 5a Nr. 102 a, f. 12r bis 14r. 34 In Hannover findet sich unter der Signatur Celle Br. 44 Nr. 1491 die (nicht eingesehene) Akte „Misshel- ligkeiten der Herzöge Wilhelm und Christoph zu Braunschweig-Lüneburg (Harburg) mit ihrem Bruder Johann Friedrich um die Ansprüche Johann Friedrichs trotz erfolgter Abfindung und dessen das ganze Haus Braunschweig kompromittierenden Lebenswandel“. 35 Als Protestant erhielt er nach der Wahl zwar das Indult des Kaisers, aber nicht die Bestätigung des Papstes, hatte das Bistum jedoch trotzdem in ruhigem Besitz, siehe Lietzmann (wie Anm. 17), S. 29. 36 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 109r. 37 Nummendal (wie Anm. 1), S. 85ff. 38 Ebd., S. 32ff. 39 Siehe RAA (http://www.raa.phil.uni-erlangen.de/ (3. Juli 2012)); Schwarz (wie Anm. 14). 40 Karl Theodor von Inama-Sternegg, Jakob Franck: Löhneyß, Georg Engelhard. In: Allgemeine Deutsche Biographie 19 (1884), S. 133-135; BBL 2006, S. 451f.

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dero rhädten die hebekunst ihm nicht solte belohnet werden, das er einen solchen scha­ den im bergkwercke wolte anrichten, der mit einer tonnen goldes nicht solte konnen er­ statted werden. Damit stellt sich von Vicken in die Tradition eines anderen Astronomen und Astrologen, Nicolaus Rensberger.41 Dieser will 1570 in Joachimstal „die seit Anfang der Welt nicht dagewesene Erfindung eines bei Bergwerken, Schmelzhütten, Wasserküns- ten und Mühlen anwendbaren Rades gemacht haben, welches unter Ausschluss der bisher bekannten bewegenden Kräfte ohne Unterlass herumkreise, und mittelst welchem man Tag und Nacht gegen 500 Ltr. Wassers selbst aus einer Tiefe von 100 Lachtern heben und auf einen hohen Berg leiten könne.“42 Unter Nutzung bekannter Energiequellen versuchte sich Ende des 17. Jahrhunderts auch Gottfried Wilhelm Leibniz, ebenfalls im Harz, an der Erfindung einer effizienten Windmühle zum Antrieb von Bergwerkspumpen.43 Ferner zeigt es bereits, dass von Vicken nicht vor Drohungen zurückschreckte, wenn es um das Eintreiben der ihm (angeblich) zustehenden Bezahlung ging. Neben diesen Bemühungen um eine effiziente Bergwerksentwässerung für den Her- zog bot von Vicken privaten Geldgebern an, für sie Stahl zu erzeugen; genannt wird z. B. ein Ernst Kirchoff.44 Natürlich war um diese Zeit die Herstellung von Stahl schon lange bekannt; doch gelang sie noch längst nicht immer, und das Ergebnis hing auch von dem eingesetzten Eisen ab. Überhaupt erst im 19. Jahrhundert wurden verlässliche Methoden gefunden, die immer zum Erfolg führten. Die Stahlherstellung bot von Vicken ebenfalls dem Syndikus des Stiftes Halberstadt, Dr. Christoph Lüder an, der aus Blankenburg stammte und dort einen Hof besaß. Mit ihm geriet von Vicken darüber in einen Konflikt, der zu einer echten Krise in seinem Leben führte. In seinem „Entschuldigungsbrief“ an Herzogin Elisabeth schreibt er dazu in großer Knappheit: … und solches [aufgrund von Vorhersagen eine Warnung aussprechen] habe ich auch anno 1609 mitt R[everendissimo] Illustrissimo gethan, dan, demnach mir godt ßen und horen laßen, das nach R. Illustrissimo solte geschoßen werden, bin ich ins stift Halber­ stadt kommen und R. Illustrissimum gern warnen wollen, weilen ich aber nicht habe konnen zu ihrer f. g. kommen, habe ich Richtern solches vertrauet, welcher mir dan an­ dere unwarheitt, D. Tobby weibe belangendt, nachgeredet und dadurch zu Crotorf45 in haft gebracht, worüber R. Illustrissimus gleigwoll von mir gewarnet, nach ihm gescho­ ßen und gefhelet,46 die theter und wildschützen aber nachmalen inßificirt [?] würden, und s. f. g. dem unglucke damals entkommen.47

41 Zu Rensberger siehe: Nils Lenke, Nicolas Roudet: ‘Spam‘ im 16. Jahrhundert? Ein Brief des Mathe- maticus Nicolaus Rensberger im Stadtarchiv Soest und seine Hintergründe. In Soester Zeitschrift 124 (2012), S. 67-76. 42 Theodor Wagner: Wissenschaftlicher Schwindel aus dem südlichen Böhmen. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 16 (1877/8, 2), S. 112-123, hier S. 123. 43 Eike Christian Hirsch: Der berühmte Herr Leibniz. Eine Biographie. München 2000, S. 130ff. 44 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 113v. 45 Es handelt sich wohl um Schloss Krottorf bei Gröningen, siehe Friedrich Stolber: Befestigungsanla- gen im und am Harz von der Frühgeschichte bis zur Neuzeit: Ein Handbuch. Hildesheim 1968, S. 220. 46 Ein solcher Vorfall kommt in Lietzmanns Biographie nicht vor, jedoch ein Vorfall, bei dem bereits 1606 Soldaten der abtrünnigen Stadt Braunschweig auf Herzog Heinrich Julius schossen, der sich nur durch seine guten Reitkünste retten konnte; siehe Lietzmann (wie Anm. 17), S. 39. 47 NLA-StA BU F 3, Nr. 240, Brief von Nicolaus von Vicken an Herzogin Elisabeth, Hildesheim, 2.8.1614.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 106 Nils Lenke, unter Mitarbeit von Nicolas Roudet

Was hat es nun mit dieser mysteriösen Geschichte auf sich? Dieses lässt sich Stück für Stück aus Indizien in der genannten Gerichtsakte erschließen.

5. Konflikt mit Dr. Lüder: Runde 1

Die Dinge nehmen ihren Lauf, als der genannte Dr. Lüder (als Privatmann) und von Vicken einen Vertrag schließen, nach dem letzterer eine Kunst offenbaren soll, mit der Eisen in Stahl zu verwandeln ist, und als dann nach der Meinung des Dr. Lüder eine Pro- be derselben misslingt. Laut Lüder habe von Vicken den Contract uber die staelkunst mit eigener handt geschrieben undt concipiret und versprochen, ausnahmslos alle eysen om­ nia ferra in plurali numero in 24 stunden in stael zu transmutiren.48 Die Ausdrucksweise (transmutiren) erinnert daran, dass aus der Sicht der Zeit der Unterschied zwischen einer „wissenschaftlichen“ Verbesserung der Stahlherstellung und einer alchemistischen Verwandlung eines Metalls in ein anderes längst nicht so deutlich war wie heute. Auch gab es durchaus alchemistische Rezepte zur Stahlherstellung, so empfahl ein Handbuch aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts je nach Art des herzu- stellenden Werkzeuges andere Tinkturen einzusetzen. Für Feilen waren Leinsamenöl oder das Blut eines Ziegenbocks empfehlenswert, für Schneidewerkzeuge hingegen sol- che aus Rettich oder Erdwürmern und schließlich für Bohrer eine Tinktur aus dem Urin eines Mannes.49 Dass zwischen Auftraggeber und Alchemist ein schriftlicher Vertrag geschlossen wurde, war ebenfalls durchaus üblich.50 Dabei war Dr. Lüder besonders wichtig, dass die versprochene Kunst eine artem universalem51 sein sollte, denn er hätte sich niemals auff die hütte Bennungen oder das Eysen, so alda gefellet, gewilliget, sondern auf der Ver- wendung von Blankenburgischem Eisen bestanden, sintemahl solches ihm wegen seiner güdter zu Blanckenburgk am bequembsten.52 Der Versuch mit Blankenburgischem Eisen sei jedoch gescheitert; ein Zeuge wird gebeten auszusagen, das Nicolaus Vicke die stael­ proba bey Doctor Lüdern nicht machen konnen, sondern eysen vor wie nach geblieben ist, undt Hans Hoppe noch itzo aussaget undt zeuge das Eysen in der handt gehabt. Auf- grund dieser Erfahrung nimmt Dr. Lüder Abschied von seinem Stahl-Abenteuer, er be- schließt darümb mit der staelkunst nicht wollen mehr zuthun haben, das er gesehen, das es eitel bedrugh er nicht in unkosten undt den Leuten in die meuler komen müchte53. Für von Vicken noch schlimmer ist, dass er auch die Bezahlung von etliche viel tausend tha­ ler54 verweigert. Damit beginnt der Konflikt zwischen Auftraggeber und Alchemist. Der letztere ist natürlich rechtlich in einer noch schwierigeren Situation als es ein Auf- traggeber ist, er müsste nachweisen, dass er den Vertrag vollständig erfüllt hat, um sich

48 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 117r. 49 Moran (wie Anm. 1), S. 59. 50 Nummendal (wie Anm. 1), S. 109ff. 51 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 110r. 52 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 111r. 53 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 110r. 54 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 109v.

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dann seinen Lohn einklagen zu können. Dies versucht von Vicken auch, jedoch eher zag- haft. Zum einen stellt er sich zunächst auf den Standpunkt, der Vertrag bestehe noch; er behauptet, Lüder habe ihm nie mitgeteilt, das die staalkunst unrichtig, und doc[tor] dero­ wegen das werk nicht vortsezen konte. Stattdessen habe Vicken mehrmals nachgefragt, warumb doc[tor] nicht dem contract nach das werk fort[zu]sezen urgiret.55 Auch wird als Referenz Ulrich Kirchhoff, Stadtschreiber zu Hasselfelde und der Bruder des genannten anderen Kunden von Vickens, Ernst Kirchhoff, genannt, für den auch Stahl hergestellt worden sei. Dieser sei zu Stolberg geprüft und für gut befunden worden.56 Das spielt je- doch im weiteren Verfahren keine Rolle mehr, und ein weiterer Zeuge, nämlich Adam Stolle, der Eisenfaktor,57 der zur Qualität des hergestellten Stahls qua Amt vielleicht hätte Stellung nehmen können, entzieht sich der Aussage. Er beruft sich mündlich und brieflich darauf, dass er vom Herzog schon persönlich zu den Vorgängen befragt und dabei zur Verschwiegenheit verpflichtet worden sei.58 Hier haben wir einen ersten Hinweis, dass der Herzog sich selbst für den Vorgang interessierte. Daher versuchte von Vicken als nächsten Lösungsansatz wohl, sich mit Dr. Lüder zu vergleichen. Er behauptet, er habe selbst mehrfach über dessen Neffen, Jobst Lüder, ver- sucht mit dem Doktor wegen einer gütlichen Einigung Kontakt aufzunehmen, jedoch ohne Antwort. Ein Zeuge wird zitiert, Vicken habe gesagt, wenn der Doctor ihn anfäng- lich mit 100 Talern abgefunden und versichert hätte, die offenbarte Stahlkunst nicht zu verwenden oder weiterzugeben, dann sei er friedlich geblieben.59 Damit sind die Argumente und Auseinandersetzungen auf der Sachebene bereits aus- geschöpft, von diesem Zeitpunkt an werden ausschließlich noch Argumente „ad homi- nem“ ausgetauscht, wobei die Initiative zunächst durch von Vicken ausgeht. Die Gelegen- heit bestand aufgrund eines Vorfalles der sich schon einige Zeit zuvor im Wirtshaus „Zum güldenen Stern“ in Blankenburg zugetragen hatte. Am Nachmittag des 21. April 1609 sitzen in der Stube über dem Torweg Nicolaus von Vicken, sein Diener, Otto Harder (ein Bekannter aus Blankenburg) und der reisende Goldschmied Jacob Bendelau zusammen, als dann auch Hans Lüder dazukommt, der Bruder des Doktors und wohl eine verkrachte Existenz.60 Die Rede kommt auf Dr. Lüder und die Tatsache, dass seine Mutter einst als Hexe verbrannt wurde. Daraufhin sagt Hans Lüder aus, sein Bruder hätte Herzog Hein- rich Julius aus Rache mit einem magischen Ring61 umbringen wollen. Interessanterweise

55 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 83v-84r. 56 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102c, f. 83r. 57 Herbert, Dennert: Quellen zur Geschichte des Bergbaus und des Hüttenwesens im Westharz von 1524-1631. Clausthal-Zellerfeld 2000, S. 149, 154, 162 kennt einen Eisenfaktor diesen Namens in Blan- kenburg zwischen 1604 und 1607. 58 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102 a, f. 26v. 59 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102b, f. 124v. 60 Die Beschreibungen zu den genauen Umständen variieren von Aussage zu Aussage, so zu der Frage, ob Hans Lüder spontan dazu kam oder von Vicken gesucht und dazu geholt wurde. Siehe NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 79r-v, 93r, NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102b, f. 120r, 127v-128r. 61 Es ist auch von einem annulum magicum die Rede; das Motiv des Zauberrings geht mindestens auf das AT zurück, dort wird von Salomo berichtet, dass ein er einen solchen Ring besaß, siehe Peter Busch: Das Testament Salomos. Die älteste christliche Dämonologie, kommentiert und in deutscher Erstüber- setzung. Berlin 2006, S. 88.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 108 Nils Lenke, unter Mitarbeit von Nicolas Roudet stellt während des ganzen folgenden Verfahrens keiner der Beteiligten die Möglichkeit der Existenz eines solchen Ringes direkt in Frage. Am ehesten noch Dr. Lüder, wenn er versucht, das ganze etwas ins Lächerliche zu ziehen, indem er Zeugen befragen lässt ob zeuge wisse, was annulus magicus sey, wer sie machet undt wo man einen bekommen konte … was der annulus magicus, so zeuge gesehen, vor kraffte undt virtutes gehabt und wozu man ihn gebraucht, … ob der ringk, so Doctor Lüder gehabt, von golde, silber, messingk, staell, eisen oder von anderen Materia gewesen sey, … ob buchstaben, bildt­ nuß, Caracteres oder sonsten etwas auff dem ringe gestanden usw.62 Die bei dem Vorfall Anwesenden nehmen das Ganze jedoch sehr ernst und warnen Hans Lüder, solch eine Anschuldigung eines Mordversuchs könne ernsthafte Folgen nach sich ziehen, wenn er sie nicht beweisen könne. Doch Lüder antwortet, dass er sich zwar aus Rücksicht vor dem großen Ansehen und Einfluss seines Bruders bedeckt halten müs- se, vor dem Herzog selber wolle er aber aussagen. Dies ist natürlich für von Vicken eine Steilvorlage; er beginnt nun nach weiteren Vorwürfen gegen Dr. Lüder zu suchen und eine Anklageschrift gegen den Doktor zu erstellen. Wer ihm dabei außer Hans Lüder als Infor- mant dient, legt er nicht offen; der Doktor beschuldigt jedoch Hans‘ Sohn Jobst, dabei eine entscheidende Rolle zu spielen; diesem sei dafür die Hälfte von Dr. Lüders Besitz versprochen worden für den Fall, dass es gelänge ihn um Leben und Besitz zu bringen.63 Die Umstände der „Konspiration“ werden dabei teils im amüsanten Detail beschrieben.64 Doch auch M. Forster, der Prediger zu Blankenburg, der Organist daselbst und der Eisen- faktor Adam Stolle sollen von Vicken Informationen verschafft haben.65 So kommt ein ganzes Memo mit Vorwürfen gegen Dr. Lüder zusammen, den Inhalt kann man aus den Fragenkatalogen rekonstruieren, die später den Zeugen vorgelegt werden. Die Vorwürfe beziehen sich neben der Geschichte mit dem Ring überwiegend auf Vorgänge aus einer Zeit, als Dr. Lüder in Blankenburg als Kanzler tätig war, in den 1590er Jahren. Zu dieser Zeit war die Grafschaft Blankenburg66 noch im Besitz der Grafen von Blankenburg bzw. ab 1594, nach dem Aussterben dieser Linie, der Grafen von Regenstein. 1599 starben auch diese Grafen aus, und das Lehen fiel nach einigen Streitigkeiten an den Herzog Heinrich Julius in seiner Eigenschaft als Bischof von Halberstadt zurück. Zum einen geht es darum, Dr. Lüder in einem charakterlich schlechten Licht stehen zu lassen: So werden mehrere Zeugen gefragt, ob es nicht so sei, dass viele Leute in Blankenburg und anderswo Dr. Lüder sehr hassten; dass ihm viele eine Niederlage wünschten, dass kaum jemand, der mit Dr. Lüder näheren Umgang hätte, ohne Schaden davon käme, und dass es Notorium unnd publica fama, das in D. Lüder an haut unnt haar nichts gut sey.67 Doch sind auch schwer-

62 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 48r-v. 63 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 91r ff. 64 So wird ein Zeuge aufgefordert zu bestätigen, das des eins nachts wie zeuge zu Nicolao Vicken gefor­ dert, der diener ihm auff der stiegen berichtet, das Jobst Lüder bey Nicolao Vicken in der stuben were, da aber zeuge davuor angeklopffet undt hinein gekomen, da sey Jobst Lüder nicht drinnen gewesen, sondern in die kammer gekrochen und zugehorchet, NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 116v-117r. 65 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 92r. 66 Gustav Adolph Leibrock: Chronik der Stadt und des Fürstenthums Blankenburg“. 2 Bände. Blanken- burg 1864/5. 67 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102c, f. 86v.

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wiegendere Vorwürfe darunter. Einige davon nehmen, wie oben bereits gesehen, ihren Ursprung darin, dass Dr. Lüders Mutter offenbar (und dies wird von den Zeugen bestätigt) durch die Justizbehörden des Herzog Heinrich Julius ihrer groben kundbahren mißthad­ ten halber nach angestelter peinlicher inquisition … zum feuer verurtheilt68 worden war.69 Daraufhin sei Dr. Lüder dem Herzog übel gesonnen gewesen und hätte den Tod seiner Mutter rächen wollen.70 Zum einen hätte dazu der genannte Ring dienen sollen, zum an- deren hätte er seinen Bruder Hans dazu angestiftet, den Herzog mit einer Büchse zu er- schießen. Auch in anderer Weise habe er sich gegen den Herzog gestellt. So habe der Se- kretär Jakob Münnichhoff nach dem Tode eines der Grafen (als also das weitere Schicksal der Grafschaft unklar war) auf Geheiß des Doktors alle Akten der gräflichen Kanzlei durchsucht, viele Briefe und Akten, die dem Herzog hätten nützlich werden können, bei- seite geschafft und verbrannt, und hätte dabei gesagt nun soll der bischoff von Halber­ stadt nicht erfahren, wie es umb die graffschafft stehet, undt wen er auch doll wurde.71 Auch danach hätten Jakob Münichhoff und Dr. Lüder viel wunderliche, böse, meineidige practiken72 gegen den Herzog geübt. Und weiter habe Dr. Lüder dem Rat der Stadt Blan- kenburg einen Eid zukommen lassen, dessen Konzept wiederum Jacob Münnichhoff er- stellt habe, und mit dem sich die Bürger Blankenburgs hätten verpflichten müssen, den Herzog nicht als Obrigkeit und Gerichtsinstanz anzuerkennen, sondern stattdessen an das kaiserliche Gericht zu appellieren. Auch Eigentumsdelikte werden ihm vorgeworfen, so habe er sich ein Vorwerk und einen Hof in Blankenburg angeeignet; die Bauern in Hütten- rode würden von ihm erpresst und ausgebeutet. Wir sehen also, dass von Vicken vor allem Vergehen auflistet, die sich gegen den Herzog richten, der damit quasi als dritte Partei in den Konflikt gezogen wird. Nicht nur dass Vicken diese Gerüchte öffentlich in Umlauf setzt, angeblich hat er auch die singularem infamiam besessen, den Halberstädter Domprediger Johann Terellius73 um eine Veröffentlichung (ediren) der Vorwürfe zu bitten.74 Dies alles scheint bei Dr. Lüder keine Wirkung gezeigt zu haben; nach eigener Aussage hat er solche reden weining geachtet, sondern wen [der befragte Zeuge] densselben gesehen undt mit ihme geredet, er nicht trauwrig, sondern gudts muths gewesen ist, undt gesagt, das lügen kurtze fuesse hetten undt das der stalmacher neben seinem helffer wol würde in seine eigene gruben fallen, so er dem herrn doctor Lüdern gemacht hette.75

68 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102c f. 67v. 69 Die Hexenverfolgung erlebte unter Herzog Heinrich Julius in den frühen 1590er Jahren eine besonders in- tensive Phase, dabei wird auch das Stift Halberstadt genannt. Siehe Schormann (wie Anm. 77), S. 47ff. 70 Diese Anschuldigung ist insofern perfide, als hier nicht nur ein Motiv geliefert wird, sondern nach der gängigen Hexentheorie Hexen in der Verwandtschaft als starkes Indiz dafür galten, dass ein Beschul- digter selbst Zauberer oder Hexe war, siehe Schormann, S. 124f. 71 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102c f. 68v. 72 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102c f. 69r. 73 Dieser stammte aus Laubach, wurde in Nordhausen ordiniert und war dort 1597-1600 Prediger, wurde dann jedoch als Krypto-Kalvinist vertrieben und kam nach Halberstadt, siehe Ernst Günther Förste- mann: Friedr. Ehrn. Lesser’s Historische Nachrichten von der ehemals kaiserlichen und des heil. Röm. Reiches freien Stadt Nordhausen gedruckt daselbst im Jahre 1740. Nordhausen 1860, S. 45. 74 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 117v. 75 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 73v.

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Als alles nicht hilft, lässt von Vicken in einer weiteren Eskalationsstufe daher seine Anklageschrift am 19. August 1609 gleichzeitig durch Boten und einen Notar Dr. Lüder ins Haus bringen sowie auch dem Halberstädter Domkapitel und der fürstlich-braun- schweigischen Regierung zustellen.76 Doch, wie von Dr. Lüder bereits vorhergesagt, wen- det sich dies erstmal gegen von Vicken selbst. Denn der Doktor ist nicht nur Syndikus des Stiftes, sondern übt auch das Amt eines „Fiscals“, also einer Art Staatsanwalt aus,77 und machte von diesem Amt Gebrauch, in dem er von Vicken gefangen nehmen lässt. Leider wird aus den Akten nicht klar, welchen Vorwurf er hierfür benutzt; im späteren Verlauf wirft er von Vicken jedoch zahlreiche Vergehen vor, so seinen Übergang von König Sigis- mund von Polen zu Herzog Karl von Schweden und den Vorfall am Hofe Herzog Franz‘ von Sachsen in Ratzeburg. Dazu kommen noch weitere Vorwürfe (mehr dazu siehe unten), so z. B. der einer in der Prager Neustadt geschwängerten Person.78 Vielleicht ist hier ein Zusammenhang zu der von Vicken für seine Gefangennahme genannten Ursache, die unwarheitt, D. Tobby weibe belangendt (s. o.) herzustellen. Auch hier also ausschließlich ein Angriff auf die Person von Vickens. Einstweilen kam Vicken aufgrund eines Appells an den Fürsten noch glimpflich davon. In einem Schreiben, das als von eigener Hand dekretiert gezeichnet, aber nicht datiert ist, stellt Herzog Heinrich Julius fest: Es hatt das tumcapithell zu Halberstadt auff anhalten ihres syndici D. Lüders ansuchen wieder einen der sich Nicolaus Vicke nennet die hafft gesucht79. Da dieser sein vorgehen nicht animo iniurianti sondern relative gethan80, könne er unter Auflagen freigelassen werden. Zu diesen Auflagen gehört u. a. die Pflicht, einen Ort anzugeben, an dem er angetroffen werden kann, auf Zitationen zu erscheinen usw.; dieses ist durch körperlichen Eid und in Schriftform durch den Häftling zu bestätigen. Mit Schreiben vom 30. August [1609] teilt ein Diener des Fürsten, Heinrich Warneke, Amtmann des Stiftes Halberstadt und des Hauses Gröningen mit, er habe sich am selben Tag nach Krottorf be- geben, und den von adell Nicolao Vicken de Solaea81 gegen Erlegung eines schriftlichen Reverses und Ablegung eines Eides freigelassen. Im beigefügten Revers82 (ebenfalls vom 30. August datiert) verpflichtet sich von Vicken u. a., entweder in Halberstadt oder Wernige- rode verfügbar zu sein, und notwendige Reisen vorher anzuzeigen.

6. Konflikt mit Dr. Lüder: Runde 2

Trotz dieses Vorkommnisses gibt von Vicken seine Sache jedoch noch nicht verloren, und die Dinge kommen wieder ins Rollen, als er am 29. November 1609 wieder einen Brief83

76 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 39v. 77 Gerhard Schormann: Hexenprozesse in Nordwestdeutschland. Hildesheim 1977 (Quellen und Darstel- lungen zur Geschichte Niedersachsens 87), S. 137. 78 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 20r. 79 NLA-HStA H Celle Br. 71 Nr. 123. 80 NLA-HStA Celle Br. 71 Nr. 123. 81 NLA-HStA Celle Br. 71 Nr. 123. 82 NLA-HStA H Celle Br. 71 Nr. 123. 83 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 1r-4v.

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an den Herzog schickt, an seine mehrfachen früheren Beschwerden über den Syndikus Dr. Lüder erinnert und diesem vorwirft, die Ermittlungen (die sich ja gegen ihn selber richten) mit beiden henden vnd fußen wie man sagt zu behindern, und zwar, um die sache zu pro­ tahiren vnd auf die lange bank zuziehen.84 Diesmal scheint er mit seiner Klage bis zum Herzog vorzudringen; am 3. Dezember notiert dieser auf dem Schreiben Vickens ein Dekret, dass den Vorwürfen nachzugehen und die benannten Zeugen zu vernehmen seien. Es wird eine Abordnung unter der Lei- tung des wolfenbüttelschen Gerichtsnotars Friedrich Ortlep85 nach Blankenburg entsandt; dieser hat einen Bericht über die Vorgänge im Dezember 1609 und Januar 1610 erstellt.86 Als Grundlage der Zeugenbefragungen dient ein weiteres, 54-seitiges Dokument das von Vicken einreicht.87 In diesem werden fünfzehn Zeugen aus der Stadt Blankenburg benannt, darunter Dr. Lüders Schwager, der Sekretär Jacob Münnichhoff, dessen Sohn Ulrich, Stadtschreiber in Blankenburg, eine alte Dienerin, die Bürgermeister Heinrich Peine und Lorenz Biedermann, der Eisenfaktor Adam Stolle, den Ratskämmerer Valtin Markmeis- ter sowie mehrere Bürger aus dem nahegelegenen Hüttenrode. Was folgt ist ein Verfahrens- und Prozessgeplänkel zwischen den Kontrahenten. Den genannten Zeugen werden nach dem Dekret des Herzogs Vorladungen zugestellt und Dr. Christoph Lüders aufgefordert, seinerseits Fragen zu formulieren, die den Zeugen gestellt werden sollen. Dieser reagiert am 20. Dezember mit einem Schreiben, in dem er um Auf- schub bittet, da er so schnell die Fragen nicht zusammenstellen könne, und überdies die Feiertage anstünden. Die Gerichtsabordnung informiert hierüber die Prozessbeteiligten, woraufhin von Vicken als Kläger sich sich uber die gebetene dilation zum höchsten be­ schweret.88 Auf diesen groben Klotz setzt Dr. Lüders einen groben Keil mit einem Schrei- ben vom 22. Dezember, in dem er sich gegen von Vickens Unterstellung verwart, er habe aus unredlichen Gründen eine Verschiebung beantragt; für ihn ist von Vicken bei dieser Gelegenheit der meineidige stranckwirdiger etzschelm undt speckhocker sohn auß Riga Nicolaus Vicke … der sich zur hogsten ungebüer vor einen keyserlichen truchsaß … nennen und rühmen thudt. Sintemahl nunmehr auch genucksamb am dage, das er zu Prage, seiner ardt nach, wie ein ander schelm undt dieb die Leute umb gelt undt geldes werdt bedrogen, bey sonnenschein heimlichen weichen, undt das von keyserlicher Mayestät sub - et obrep­ titie89 ausgewürckte truchsaßambt niemals bedient, keine schüssell fallen lassen noch sich bedrüphet90 und alda wegen derer in der Neustadt zu Prage geschwengerten person undt keyserlicher allerhogster ungnade so weinigk als in Liefflandt, Polen, Schweden,

84 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 1r-v. 85 Er gab ein Verzeichnis der im Bereich Wolfenbüttels verhandelten Strafsachen ab 1569 (und bis 1633) heraus, siehe Schormann (wie Anm. 77), S. 48f. 86 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102a, f. 18r-f. 27v. 87 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102c, f. 65v-92r. 88 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102a, f. 19v. 89 Statt „opreptive“. 90 Aus mittelniederdeutsch „bedropen“, hochdeutsch „beträufen“?

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Rhatsburgh undt furstenthumb Anhalt nicht komen noch sich offendlichen sehen lassen darff.91 Unterdessen setzt die Gerichtskommission als Kompromiss die Vereidigung der Zeu- gen auf Freitag, den 22. Dezember fest, verschiebt die eigentlichen Vernehmungen aber auf den Januar. Zum festgesetzten Termin erscheinen um 9 Uhr in der fürstlichen Kanzlei in Blankenburg zwölf der Zeugen, sowie Nicolaus von Vicken persönlich, Dr. Lüder lässt sich wie im ganzen Verfahren durch einen Bevollmächtigten vertreten. Nach einigem weiteren Geplänkel stellt Dr. Lüder am 8. Januar dann seinen Fragenkatalog zu, so dass die Befragungen beginnen können. Auch dieser Katalog ist sehr umfangreich. In der Kombination aus allgemeinen Fragen, speziellen Fragen für einzelne Zeugen, sowie Fra- gen zu den von Vicken behaupteten „Artikeln“ kommen für einige zu Befragende über 100 Fragen zusammen. Aus den Fragen wird die Strategie Dr. Lüders deutlich, die fünf Stoßrichtungen hat. Zunächst stellt er sich als redlichen und allseits beliebten Mann dar, für den gelte, daß hohes unndt niedriges standeß personnen, adell vnndt vnadell, reich unndt arm, unndt menniglichenn mit ihme woll zufrieden gewesenn, ihn geliebett unndt geehrtett habenn, auch ihn vor einen ehrlichen reddelichen Manne [halten].92 Sein Le- benswandel sei ruhig, unauffällig und bescheiden. Seine Arbeitgeber seien mit ihm zu- frieden. Und auch er stellt seine Beziehung zum Herzog als höherer Instanz heraus: Hein- rich Julius sei aus Anlass seiner Hochzeit 1607 sein Gast gewesen. Sein väterliches Erbe habe er zusammengehalten und durch Gottes Gnade weiteres Vermögen ehrlich erworben, seine Geschäft seien stets korrekt gewesen, und die Bauern würden von ihm auch nicht ungebührlich übervorteilt. Als zweites Element der Strategie Dr. Lüders untergräbt er die Glaubwürdigkeit seines Bruders Hans. Dieser, Kronzeuge von Vickens, habe in der Schule und beim Handwerk nichts gelernt, sei stets müßig gegangen und ginge noch heute keinem Handwerk nach. Das von seinen Eltern ererbte Vermögen und die Mitgift zweier Ehefrauen habe er durch- gebracht, u. a. habe Hanß Lüder auf rahtskeller so viell versoffenn, daß ehr auf einmahll ein hauß, in der Judenngeßen gelegenn, dem schenckenn in zalungk wegk geben mu­ ßenn93, noch weitere Häuser, Äcker, Wiesen und sein gesamtes Vermögen habe er mit leichtfertigen Leuten verschwendet, so dass er mittlerweile sogar zur Miete wohnen müs- se. Dazu habe er ein böses ungehaltens lester- undt schendtmaull94. Kurz, wenn man Dr. Lüder und seinen Bruder, die im übrigen seit sechs oder sieben Jahren nicht miteinander gesprochen hätten, vergleiche, so seien sie an Sitten, Lebenswandel und Anstand ganz ungleich, wie Tag und Nacht. Als nächstes bekommt nun von Vicken selber sein Fett weg, was die dritte Stoßrich- tung der Strategie bildet. Ob der Zeuge nicht das gemein geschrey bestätigen könne, dass von Vicken den polnischen König und seine Heimatstadt Riga hintergangen und dem König von Schweden gedient habe, dass er 1601 von Herzog Franz in Ratzeburg gefangen genommen worden sei, weil er Gelder des Königs von Schweden veruntreut hätte, dass er auch aus Prag geflohen sei und sich dort nicht mehr blicken lassen dürfe, und dass er auch

91 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 20r. 92 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 34r. 93 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 35v. 94 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 36r.

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August von Anhalt um 5.100 Taler betrogen habe? Auch dunkle Praktiken werden ihm vorgeworfen, so brüste sich von Vicken selber, seit vielen Jahren einen Teufel oder Geist zu besitzen, der ihm dienen müsse. Und viertens werden auch die von Vicken benannten Zeugen vorsorglich in ein un- günstiges Licht gesetzt. Heinrich Peine war Amtmann des Amtes Heimburg, ist dort aber abgesetzt worden; er hatte während seiner dortigen Zeit ein Verhältnis mit der Ehefrau eines Barbiers. Auch als jetziger Bürgermeister habe er sich finanzielle Unregelmäßig- keiten schuldig gemacht, auch habe er viel Geld im Ratskeller versoffen und sei oft so voll gewesen, dass er während der Bürgersprechstunde eingeschlafen sei. Lorenz Biedermann: hat den Grafen von Mansfeld gedient, ist dann davongelaufen und hat vieles mitgehen lassen. Valtin Markmeister: hat seine Dienerin geschwängert und musste sich mit ihr no- tariell auf eine Geldentschädigung einigen usw. Was fünftens schließlich die Vorwürfe selbst angeht, so seien diese alle unwahr, oder ließen sich erklären. So sei der Hintergrund des ominösen Eides gewesen, dass die Grafen von Reinstein sich für reichsunmittelbar hielten. Als Kanzler habe er diesen Anspruch der Grafen zu respektieren und durchzusetzen gehabt, nichts davon sei geheim gewesen. Und natürlich habe er nie einen magischen Ring besessen oder benutzt. Soweit die Strategie Dr. Lüders. Die eigentlichen Befragungen95 basieren nun auf beiden Fragenkatalogen. Sei es nun, dass alle Vorwürfe Vickens wirklich haltlos waren, oder dass man Angst hatte, sich selbst zu belasten, weil man vom Doktor unter Druck gesetzt worden war (Vicken beschwert sich darüber), oder aus einer innerörtlichen Solidarität heraus, jedenfalls ergaben die Zeu- genbefragungen wenig Belastendes gegen Dr. Lüder. Lediglich die Geschichte mit dem Eid wurde von mehreren Zeugen bestätigt, und einige Zeugen sagten aus, dass tatsächlich auch etwas verbrannt wurde, jedoch mochte niemand bestätigen, dass es sich um wichtige Akten handelte. Ansonsten hatte niemand etwas gesehen, gehört oder gewusst. Auch dass Dr. Lüder allgemein sehr unbeliebt sei, wird so nicht bestätigt. Noch den ganzen Januar hindurch werden weitere Zeugen benannt, vereidigt und be- fragt. U. a. benennt von Vicken nun Zeugen, die zumindest die Ereignisse im „Güldenen Stern“ weitgehend bestätigen. Auch wird das Bürgerbuch der Stadt eingesehen und fest- gestellt, welche Bürger den von Dr. Lüder und Jacob Münnichhoff entworfenen Eid ab- gelegt haben, dieser Eid und ein Entwurf werden ebenfalls sichergestellt. Nach Ende Januar scheint sich das Verfahren aber zunächst verlaufen zu haben; zu- mindest gibt die Akte nichts weiteres dazu preis, wohl weil sich das Geschehen auch wieder nach Halberstadt verlagerte. Die Situation lässt sich am ehesten als Patt zwischen den Kontrahenten ansehen. Dr. Lüder scheinen die Vorwürfe gegen ihn insgesamt nicht geschadet zu haben, denn er wird noch 1625 als Halberstädter Syndikus im Zusammen- hang mit dem Überfall Wallensteins genannt96, er verschwindet ab jetzt als Kontrahent aus den Akten.

95 Die Protokolle finden sich in NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102d, f. 2r-91v. 96 J.O. Opel: Wallenstein im Stift Halberstadt 1625-1626. Halle 1866, S. 6, 37, 79, 80. Dabei werden auch eines seiner Häuser, sowie das Brauhaus „Justi Lüders“ beschädigt.

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7. Erneute Haft im Fürstentum Braunschweig

Und auch für von Vicken scheint zunächst alles gut zu gehen. 1610 gelingt es ihm wohl endlich, Verbindungen nach Wolfenbüttel zu knüpfen. Und zwar scheint der Kontakt über die Herzogin gelaufen zu sein, denn von Vicken schreibt in seinem Entschuldigungs- schreiben an die Herzogin 1614: Ich zweifle nicht, E. f. g. werden sich noch gnedig zuentsinnen haben, das selbige mir fur 4 iharen [1610] einen traum oder gesicht, so ihr vielgeliebter her sohn, itzige regieren­ de obrigkeytt, vom churfurstlichen brandenburgischen wapfen gehabt, durch den capell­ meyster97 schriftlich zugeschickt und selbigen außzulegen gnedig begeret, worauf ich in schriften mich erkleret, das es eine heuradt auß den fürstlichen hauße brandenburgk bedeuten thete.98 Ob nun als Konsequenz aus dem Scheitern seines alchemistischen Experiments für Dr. Lüder oder nicht, scheint von Vicken überhaupt in dieser Phase eher astrologisch als al- chemistisch tätig gewesen zu sein. So wechselte er im Frühjahr und Sommer 1611 zahl- reiche Briefe mit Johann Kepler, datiert in Halberstadt und Wolfenbüttel (11. Januar, 24. Februar, 25. und 29. März, 18. Mai, 6. Juli), u. a. bittet er Kepler um Hilfe bei der Er- stellung von Horoskopen für drei Personen (wobei eine er selbst sein soll). Auch mit dem Theologen und Astrologen Paul Nagel steht er im Sommer 1611 in regem Austausch von Briefen, dabei geht es u. a. um das Verhältnis der verschiedenen, auch okkulten Wissen- schaften untereinander.99 Ebenfalls in das Jahr 1611 fällt dann ein Vorgang,100 der zwar in erster Linie einen Bruder Nicolaus betrifft, doch auch das hier betrachtete Verfahren tangiert. Heinrich von Vicken wurde laut einem Schreiben, das er am 9. Oktober 1611 in Aschersleben an Herzo- gin Elisabeth richtete, im März desselben Jahres auf Vermittlung seiner Brüder Nicolaus und Dietrich zum Hofmeister bei Herzog Joachim Karl (einem Bruder von Herzog Hein- rich Julius) bestellt, was zeigt, dass Nicolaus von Vicken zu dieser Zeit noch einen gewis- sen Einfluss bei Hofe gehabt haben muss. Joachim Karl fasste jedoch schon nach kurzer Zeit eine Abneigung gegen seinen neuen Diener und entließ ihn aus seinem Dienst. Aller- dings geht aus der Akte hervor, dass der Herzog solche Entscheidungen gar nicht treffen konnte, ohne sich mit der Herzogin und dem (in Prag sich aufhaltenden) Heinrich Julius als Oberhäuptern der regierenden Linie abzustimmen. Der Grund der Abneigung ist nicht zu erkennen; man kann jedoch vermuten, dass Heinrich sich durch seinen Versuch unbe- liebt machte, die Finanzen des Herzogs zu sanieren101. Die Räte versuchten Joachim Karl dazu zu bewegen, den Hofmeister wieder in seine Dienste zu nehmen, wie aus dem Kon- zept eines Schreibens von Anton von der Streithorst an die Hofbeamten Joachim Karls vom 17. Oktober zu entnehmen ist. Und hier zeigt sich, dass auch ein abwesender regieren-

97 Gemeint ist Michael Prätorius, Hofkapellmeister ab 1604, der auch an anderer Stelle als Überbringer von Nachrichten genannt wird; siehe Lietzmann (wie Anm. 17), S. 17 und Schwarz (wie Anm. 14), S. 94n. 98 NLA-StA BU F 3, Nr. 240, Brief von Nicolas von Vicken an Herzogin Elisabeth, Hildesheim, 2.8.1614. 99 Schwarz (wie Anm. 14), S. 92ff. 100 NLA-StA WF 3 Alt, Nr. 359. 101 NLA-StA WF 3 Alt, Nr. 359, f. 18r.

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der Herzog indirekt stets präsent ist: neben dem Fakt, dass die Herzogin den neuen Hof- meister vorgeschlagen habe, wird auch die Furcht genannt, so muchte sich hieruber Vicken bey unserm allerseits ge[liebten] fürsten und herren hertzog Heinrich Julius zu Prag beklagen, welches die räthe nicht gern sehen muchten.102 Die Beamten schreiben denn auch an ihren Herren, der sie jedoch harsch bescheidet (Brief vom 26. Oktober), ihren Brief habe er auff der heide wie wier daselbst gejagett103 erhalten, er erklärt sich aber, das wir ihne [Heinrich Vicken] für unsern diener nicht vndt nimmer mehr begeren. In weiteren Schreiben geht es dann nur noch um eine finanzielle Entschädigung für Hein- rich von Vicken. Interessant ist jedoch in unserem Zusammenhang noch ein Briefpaar, dass zwischen Nicolaus und Herzog Joachim Karl in dieser Sache gewechselt wurde. Scheinbar ist Teil der Vorwürfe gegen Heinrich gewesen, dass er (wie auch Nicolaus) seinen Adelstitel nicht zu Recht getragen habe. Aufgrund dieses Angriffes auf diesen wichtigen „Besitzstand“, der ihm Zugang zu Fürsten und weitere Privilegien sichert, schreibt Nicolaus (in einem Brief vom 2. September), er habe erfahren. E. f. g. den h[errn] graffen Ernsten von Nassaw, so woll alß andern soll berichtet und uns diffamirt, haben, das wir keine von adell weren, darumb das unser sehliger vater ein burgermeister geweßen, und aber mich und meinen brudern nicht geburen will, hir zu still zuschweigen, alß thue ich hirmit e. f. g gehormsamlich bitten, sie wollen gnedig von sich schreiben, wer der verlogener schelm, der E. f. g. solchs berichtet, damit whir ihm das ver­ logen maull mogen stopffen konnen, … will auch selbigen und alle, die uns solches nach­ reden, so lange fur verlogen leute vnd ehrendiebe gehalten haben, bis sie solches wahr machen werden, mich auff unsere statliche beweiß, so bei Secretario Friederico Orthlepio eingereicht, wieder des ehrendieb Lüders und seinen anhangen producirt, referirend.104 Joachim Karl reagiert verschnupft auf das Schreiben, er beschwert sich (Schreiben vom 17. September in Calvörde) beim Hof Herzog Heinrich Julius‘ darüber, whaß fur ein hochmutiges schreiben Niclauß Vicke an unß gethann.105 An diesen selbst schreibt er am selben Tag u. a. Nun ist unß an eurem adell oder Burgerstande |: darin man auch ehrli­ chel Leute findet, :| weinig gelegen, er mahnt ihn ernstlich, uns mit solchenn trotzigen schreibenn zuverschonen.106 Der hier angesprochene Rechtsstreit zwischen Dr. Lüder und von Vicken schwelte also im Hintergrund weiter; noch in 1611 hat sich Heinrich Julius dann die Akten zur persönlichen Einsicht extra nach Prag kommen lassen, wo er sich zu dieser Zeit wiederum aufhielt. Dies geht aus einem Schreiben107 des Domkapitels in Halberstadt vom 12.8.1611 hervor, in dem es um Rückgabe der Akte bittet, da sonst der Fortgang des Verfahrens auf- gehalten würde. Noch im selben Jahr verschlechtert sich von Vickens Situation drastisch; er kommt erneut in Haft, und zwar diesmal in Schoningk.108 Dabei bleibt unklar, was genau der

102 NLA-StA WF 3 Alt, Nr. 359, f. 20v. 103 NLA-StA WF 3 Alt, Nr. 359, f. 24r. 104 NLA-StA WF 3 Alt, Nr. 359, f. 14r-v. 105 NLA-StA WF 3 Alt, Nr. 359, f. 13r-v. 106 NLA-StA WF 3 Alt, Nr. 359, f. 15r. 107 NLA-StA WF 1 Alt 5 Nr. 102a, f. 15r-16v. 108 Burg Schöningen, eine Besitzung des Herzogs, und späterer Witwensitz der Herzogin Elisabeth.

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Auslöser war, man kann aber wohl einen Zusammenhang mit dem Rechtsstreit und der Einsichtname durch Heinrich Julius vermuten. Die Umstände der Haft schildert er in seinem „Entschuldigungsschreiben“ aus dem Jahr 1614 recht dramatisch: Ich habe in me­ yner gefengniß zu Schoningk in einem winckell unter dem kote |:so ich salva reverentia, wegen des stanks vnd bosen tractation von mir geben mußen :| ein schreibtafell vergra­ ben und hinder mich laßen mußen109. Noch 1613 sitzt er dort ein; da seine Handlungs- möglichkeiten ansonsten natürlich eingeschränkt sind, versucht er durch Briefe eine Ver- besserung seiner Lage zu erreichen, die er an Höflinge wie Anton von der Streithorst schickt, und die den Herzog wohl nicht erreichen.110 Erst 1614 (Herzog Heinrich Julius war 1613 gestorben) ändert sich die Lage; er ist nun in einer Art Verbannung (weilen ich im lande Brunswigk mich nicht finden zulaßen ver­ sprechn mußen)111, hält sich in Hildesheim auf und versucht zunächst über die Herzogin, in Wolfenbüttel wieder auf einen grünen Zweig zu kommen, wie wir aus dem bereits mehrfach zitierten Entschuldigungsbrief wissen. Dabei lässt sich erkennen, dass von Vicken trotz der Niederlage gegen seinen Kontrahenten Lüder gegenüber potenziellen Kunden weiterhin seine auf hermetischen Künsten basierende Doppelstrategie benutzt: zum einen verspricht er eine Liste von wahren Wundertaten. So würde er einen Weg wei- sen, die rechtlichen Auseinandersetzungen u. a. mit den Herzögen von Lüneburg zu ge- winnen, die rebellische Stadt Braunschweig (mit der man seit Jahrzehnten im Konflikt war)112 ohn blutt und verlhierung der unterthanen113 zu erobern, er würde dazu auch he- rausfinden, aus welchem Tor die Braunschweiger ihren nächsten Ausfall planten. Dazu würde er helfen alle heimliche listige, gefherliche practiken114 der Feinde Braunschweigs abzuwehren, sowie die Finanzen und Einkünfte des Fürstentums neu zu ordnen. Zum anderen jedoch droht er, dass ohne seine Hilfe großes Unheil auf das Haus Braunschweig zukomme. So sei zum einen das Horoskop für den Sohn der Herzogin, Friedrich Ulrich, sehr ungünstig, er gibt einige Details an und stellt dann fest, er fände darin so viell boßes und unglucks, das ich scheue davon zuschreiben. Insgesamt sagt er voraus das seyner f. g. und dem gantzen lande ein so großes ubell und ungluck zustunde, als in etlichen hundert iharen nicht geschen,115 so man ihn nicht um Hilfe bäte. Diese Initiative scheint trotzdem nicht zum Erfolg geführt zu haben, denn von Vicken probierte es kurz darauf auf einem anderen, indirekten Weg, auch diesmal wieder mithilfe hermetischer Versprechen. Es hat- te sich ein Kontakt zu Graf Ernst zu Holstein-Schaumburg116 ergeben, der bei von Vicken

109 NLA-StA BU F 3, Nr. 240, Brief von Nicholas von Vicken an Herzogin Elisabeth, Hildesheim, 2.8.1614. 110 So schreibt er: so bitte ich in unterthenigkeytt, von Antonio von der Steinhorst meynen brief, den ich ihm am mittwoch in den ostern ao 1613 auß meyner gefengniß zu schoningk geschrieben vnd zuge­ schikket und er nachmaln entpfangen, abzufurderen, NLA-StA BU F 3, Nr. 240, Brief von Nicholas von Vicken an Herzogin Elisabeth, Hildesheim, 2.8.1614. 111 NLA-StA BU F 3, Nr. 240, Brief von N. von Vicken an Herzogin Elisabeth, Hildesheim, 2.8.1614. 112 Lietzmann (wie Anm. 17), S. 32ff. 113 NLA-StA BU F 3, Nr. 240, Brief von N. von Vicken an Herzogin Elisabeth, Hildesheim, 2.8.1614. 114 Ebd. 115 Ebd. 116 Helge Bei der Wieden: Ein norddeutscher Renaissancefürst. Ernst zu Holstein-Schaumburg (1569- 1622). 2. Auflage Bielefeld 2010.

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eine astrologische Schrift bestellte.117 Zunächst versucht er den Grafen einzuspannen, um am Hofe in Wolfenbüttel wieder gnädig aufgenommen zu werden, und einige der Konse- quenzen seines Rechtsstreites mit Dr. Lüders aufzuheben. Da er erfahren habe, dass dieser im Begriff sei aufs beylager zu ziehen (die Hochzeit Herzog Friedrich Ulrichs mit Anna Sophia von Brandenburg), und am Hofe in großem Ansehen stünde, so bittet er ihn darum, meyne gerechte sache dahin gnedig zu tingiren und zu promoviren, das ich ins dritte ihar zur unschuldt gefangener mitt einem sicheren gleitte gnedig mochte verßen, zur verhor vor unparteischen adelichen commissarien verstatet und mir meine mitt gewalt entnom­ mene bucher wiederumb restitutiert werden, damitt ich also meyne unschuldt mochte deduciren und an tages licht bringen.118 Da dies wohl ohne Erfolg blieb, versucht er danach auch bei dem Grafen selbst zu „landen“, und bot ihm seine Dienste an, jedoch auch ohne Ergebnis. Dieses ist hier, wie auch spätere Stationen in von Vickens Karriere, die er stattdessen erreichte, u. a. bei Kai- ser Matthias (1616) und beim kurzzeitigen König von Ungarn, Gabriel Bethlen (1621), nicht von Belang. All diese Stationen hatten jedoch eine astrologische oder alchemisti- sche Komponente. Noch 1617 war allerdings der Rechtsstreit, der inzwischen einer zwi- schen ihm und Wolfenbüttel und nicht mehr Dr. Lüder war, nicht endgültig beigelegt, denn in einem Brief der in Wolfenbüttel zurückgelassenen Räte an den verreisten Herzog Friedrich Ulrich heißt es: … Sonsten Niclauß Ficken anlangendt, ob der woll, wofern E. f. gn. zu seinen petitis, will er i. restitutionem famae et cassationem processus. 2. restitutionem librorum et sup­ pellectilis119. 3. Cassationem relegationis & absolutionem â juramento. Und 4. liberam facultatem agendi et in jus vocandi adversarios fast unzeitig fuhret, nicht acquiesciren wollen, allerhandt bedrawung vorgeben mag, so halten wirs jedoch dafur, daß darauff noch zur zeit wenig zupassen und E. f. gn. gewertig sein konnen, was er widder dieselben doch deroselben alle zustehende notturfft vorbehaltlich aufbringen wirdet …120 Ein letztes Mal sehen wir die Doppelstrategie aus Bitte und Drohung mit allerhandt bedrawung im Einsatz, die jedoch ins Leere läuft. Weitere Spuren hat Nicolaus von Vi- cken in den welfischen Landen nicht hinterlassen.

8. Schluss

Der Fall zeigt, wie mühsam es für Alchemisten war, ihre (echten oder vermeintlichen) Ansprüche gegenüber Auftraggebern durchzusetzen. In einem Rechtssystem, das noch mehr Wert auf das „gemeine Geschrei“ als auf objektive Beweise legte, spielten Verleum- dungen und Polemiken eine wichtige Rolle in der „Prozessführung“. Es zeigt sich auch, dass dabei Vorwürfe der Nichterfüllung eines alchemistischen Vertrages unvermittelt

117 NLA-StA BU F3, Nr. 240, Brief von Nicolaus von Vicken an Graf Ernst, 20.10.1614 „in loco“. 118 NLA-StA BU F3, Nr. 239, Brief von Nicolaus von Vicken an Graf Ernst, o. D. 119 Zu den Büchern, um deren Rückgabe von Vicken u. a. kämpft, dürfte auch sein Stammbuch gehört ha- ben; eine Rückgabe scheint jedoch erst einige Zeit später erfolgt zu sein, denn 1619 beginnen die Ein- tragungen wieder, nach einer Pause, die seit 1611 angedauert hatte. 120 NLA-HStA H Cal. 22, Nr. 1860.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 118 Nils Lenke, unter Mitarbeit von Nicolas Roudet neben Gerüchten über die Lebensführung, „zauberische“ Händel neben trivialen Eigen- tumsdelikten oder dem Vorwurf des Landesverrats stehen. Dabei wird auch deutlich, dass wissenschaftliche, experimentelle Methoden noch ein zartes Pflänzchen waren, so dass diese noch keine Prozessführung auf der Sachebene erlaubten, obwohl es in diesem Fall ja durchaus um eine (aus heutiger Sicht) nachprüfbare Behauptung ging. Und schließlich zeigt sich, dass die Auseinandersetzung eines Bürgerlichen mit einem Angehörigen des niederen Adels jederzeit in den Kontext des fürstlichen Hofes eingebettet ist. Der Fürst selber ist u. a. als Appellationsinstanz bei Blockaden im Prozess jederzeit präsent, und die bloße Angst, jemand könne sich beim Fürsten beschweren, versetzt die Hofbürokratie in Bewegung. Ein Adelstitel stellte dabei einen großen Wert da, ermöglichte er doch einen einfacheren Zugang zum Regenten. Entsprechend empfindlich reagierte die Hauptperson dieses Falles auf Versuche, ihm das Adelsprädikat abzusprechen. Doch obwohl der Oppo- nent Dr. Lüder „nur“ bürgerlich war, erlaubte es ihm sein Amt als Syndikus den eigentli- chen Kläger von Vicken zum Angeklagten zu machen, und zweimal ins Gefängnis zu bringen; heute würde man da wohl von Amtsmissbrauch sprechen können. Von Vicken kämpfte noch nach Jahren darum, seine Besitztümer wiederzuerlangen und war weit da- von entfernt, seinen Alchemistenlohn zu erstreiten. Inwieweit dieser Prozess typisch war oder als Einzelfall betrachtet werden muss, kann nur die zukünftige Untersuchung weite- rer alchemistischer Prozesse, vor allem mit Beteiligung „Bürgerlicher“ zeigen.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Friedrichs des Großen Westreisen in Verbindung mit seinen Besuchen am Braunschweiger Hof

von

Ingrid Münch

Wie Alles, was mit der charismatischen Persönlichkeit dieses Königs zusammenhing, fan- den auch seine Reisen die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen, wie die Erinnerungen Thié- baults beispielhaft belegen.1 Denn durch die Zielsetzung: Inspektion und den Reisestil: „Eilfertigkeit“ unterschieden sie sich grundlegend von den traditionellen Kavalierstouren. Friedrichs Reisen betrafen nämlich nicht das europäische Ausland und dessen kulturellen Konsum, sondern dienten einer umfassenden Visitation des eigenen Herrschaftsbereiches, d. h. authentische Informationsbeschaffung und Kontrolle vor Ort über das Funktionieren ziviler und militärischer Behörden. Diese Zielsetzung war schon durch seinen Vater, König Friedrich Wilhelm I., vorge- geben. Friedrich übernahm das Modell und systematisierte die Praxis. Jährlich und in bestimmter Reihenfolge fanden seit 1740 Provinzbereisungen statt, auf denen er von unterwegs mit Kabinettsräten Regierungsgeschäfte wahrnahm.2 Durch die Zersplitterung des preußischen Territoriums – es reichte von Kleve im Westen bis nach Ostpreußen – lag der Reise- und Interessenschwerpunkt, zumal nach dem Erwerb Schlesiens, auf den öst- lichen Landesteilen. Die verstreuten rheinisch-westfälischen Besitzungen suchte Fried- rich seltener auf, insgesamt fünf Mal (1740, 1751, 1755, 1763, 1768) und verband damit stets einen Zwischenaufenthalt von meist 2 ½ Tagen am Braunschweiger Hof. Die gleiche Situation ergab sich auch mit den Badereisen nach Aachen (1742) und Pyrmont (1744, 1746). Die Häufigkeit dieser Besuche erklärt sich zunächst von der Transitlage des Herzog- tums auf dem Weg an den Niederrhein und nach Westfalen. Sowohl von der Altmark her – wenn die Reise des Königs in Potsdam begann – wie auch aus Richtung Magdeburg war Salzdahlum erste Anlaufstation in einem benachbarten Land, bevor in Minden wieder preußisches Territorium erreicht wurde, was im umgekehrten Sinn auch für die Rückrei- sen galt, sofern sie Salzdahlum einschlossen. Doch wird man darüber hinaus noch andere Besuchsmotive vermuten dürfen, wie etwa Bestärkung der politischen und dynastischen Loyalität zu Preußen bei dem auch nach Wien hin traditionell positiv orientierten Her-

1 Dieudonné Thiébault: Mes Souvenirs de vingt ans de séjour à Berlin. Paris 1804. Erste deutsche Be- arbeitung von Heinrich Conrad. 2 Bände. Stuttgart 1901, Kapitel „Reisen“ S. 106-115. Thiébault war 1765 auf Empfehlung d’Alemberts vom König als Professor für französische Grammatik an die Berliner Militärakademie berufen worden und kehrte 1784 nach Frankreich zurück. 2 Ernst Pfeiffer: Die Revuereisen Friedrichs des Großen. Berlin 1904. Nachdruck Vaduz 1965 (Histori- sche Studien 44); Carl Hinrichs: Der allgegenwärtige König – Friedrich der Große im Kabinett und auf Inspektionsreisen. 3. Aufl. Berlin 1943; Gerd Heinrich: Friedrich II. von Preußen. Leistung und Leben eines großen Königs. Berlin 2009, 19. Kapitel: „Der König auf Reisen“ S. 310-321.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 120 Ingrid Münch zogshaus. Der Braunschweiger Hof seinerseits war sehr um die auch von anderen Höfen eifersüchtig umworbene Gunst Friedrichs bemüht, wofür die Luxusrenovierung seines Appartements im Salzdahlumer Schloss 1746 Zeugnis ablegt. Man partizipierte auch gern am royalen und intellektuellem Glanz, wenn der König französische Geistesgrößen der Aufklärung wie Maupertuis und d‘Alembert als Gäste mitbrachte. Die frühen Reisen zeichnen sich durch einen zahlreichen, oft erlesenen Begleiterkreis von repräsentativer Ausstrahlung aus und durch stattliche Reisezüge von bis zu 140 Vor- spannpferden. Diese Normen änderten sich nach dem Siebenjährigen Krieg. Schon die beiden Westreisen 1763 und 1768 fanden mit minimiertem Gefolge und Wagentross statt. Als anstelle der nach 1768 nicht mehr durchgeführten Westreisen Friedrich seine Besuche bei den braunschweigischen Verwandten intensivierte, kam er entweder allein oder nur mit wenigen Begleitern, direkt nach der Magdeburger Revue und reiste anschließend zu- rück nach Potsdam. 1766, 1769, 1770 und 1771 hielt er sich dabei wieder in Salzdahlum auf, 1773, 1775 und 1777 in Langeleben. Die Motivik scheint nun – nach dem Verlust vieler Vertrauter – das Bedürfnis nach familiärer Kontaktverstärkung zu sein. Friedrichs Reisestil war tempo- und programmoptimiert. Er nannte ihn selbst, kenn- zeichnend, eilfertig3. Nie hielt er sich länger als nötig auf, und ließ sich selbst nachts, auf Reisen, über Landesangelegenheiten vortragen (s. Anm. 44). Es gab hin und wieder spon- tane Planänderungen, da einzig die Westreisen ihm Spielraum für seine Inkognito-Aus- flüge (1740, 1755) ermöglichten. Bei den späteren Besuchen überwog Routine, kulminie- rend zum Schluss in Zeit- und Ortskongruenz. Die ersten Reisen als König absolvierte Friedrich 1740 zu den Huldigungen in den Provinzen, wobei schon bald ein anderer Stil des Reisens als bei seinen Vorgängern er- kennbar wurde. So ist u. a. überliefert, dass er die Huldigungsreise nach Ostpreußen in nur neun Tagen bewältigte, nur Keyserlingk, Algarotti und Hacke als Begleiter mitgenommen hatte und Zeremonien umging.4 Berühmt geworden ist die anschließende Huldigungsrei- se nach Westen, mit weitem Umweg über Bayreuth, wegen des spontanen Inkognito-Be- suches Friedrichs mit wenigen Vertrauten in Straßburg, der durch schnelle Aufdeckung des königlichen Inkognitos – ein Deserteur verriet ihn – vorzeitig endete.5 Nach der Wei- terreise rheinabwärts und der Huldigung in Wesel fand auf Schloss Moyland bei Kleve das erste persönliche Treffen Friedrichs mit Voltaire statt,6 bei dem auch Maupertuis schon zugegen war. Beide illustren Gelehrten hatten wiederholt Einladungen nach Berlin erhalten. Maupertuis begleitete den König auf der Rückreise, Voltaire folgte später.

3 Schon 1738 lehnte er – auf der Rückreise von Wesel – die Einladung des hannoverschen Ministeriums zu einer Mahlzeit in Herrenhausen ab, da er zu eilig wäre und am Abend in Braunschweig sein müßte. NLA-Hauptstaatsarchiv Hannover Hann. 92 Nr. 185, Bl. 6. Desgleichen 1768 auf ein entsprechendes Anerbieten Hannovers: daß er wegen der Eilfertigkeit seiner Reise sich nicht aufhalten noch in Herren­ hausen abtreten könne. Hann. 92 Nr. 185, Bl. 36. 4 Friedrich Benninghoven, Helmut Börsch-Supan, Iselin Gundermann: Friedrich der Große. Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Stiftung Preußischer Kulturbesitz anläßlich des 200. Todestages König Friedrichs II. von Preußen. Berlin 1986, S. 66 zu Nr. 16. 5 Ebd., S. 68 zu Nr. 17. 6 Ebd., S. 68 zu Nr. 18. Zu Maupertuis in Moyland s. Hermann von Petersdorff: Friedrich der Große. Ein Bild seines Lebens und seiner Zeit. Berlin 1902, S. 85f.

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Über diesen ersten der im Folgenden vorgestellten 15 Aufenthalte Friedrichs am Braunschweiger Hof7 liegt ein interessantes Besuchsprotokoll vor: d. 19. Nachmittags kam der Konig in Preuhsen mit sein[em] H[errn] Bruder dem Pr[intzen] Aug[ust] Wil­ helm in Salzdalen an, da er aus Cleve über Herford, Coppenbrugge und Hildesheim ge­ komen. In seiner Suite waren der Prinz v. Holstein,8 die 3 Obristen und General Adjutan­ t[en] Borck, v. Kayserling und Graf Wartensleben, der Major und Flugel Adjutant von Munckau9, Mr. Mauperhuis und Mr. Algerotti. Ser[eniss]imus war mit dero beyden eltern h[och]f[ürstlichen] Brudern biß Leifferde entgegen geritten, so weit auch ein Commando gardes zu Pferd gieng, dagegen biß an die Grenze nach Barvecke bis dahin auch der Obrist v. Stamer entgegen geschicket ward, die Dragoners zu 4 Relais postiret waren. Zu Salzdalen war taeglich eine Compagnie Grenadirer mit Fahne und Oberofficiers zur Wacht. Ihro Mayestät wollte keine Ceremonie haben, auch ob Sie da vor der Camer die Sale des gardes schon oben logirte, speisete Sie jedoch unten in der Herzogin Vorgemach und waren von denen hiesigen ein vor allemal mit zu dessen bestimmet die Obristen v. Stamer und v. Honsted und die Cammer Junckern v. Stamer und v. Bothmer. Die Auf­ wartung hatten bey dem König der Hofmarschall v. Krosigk, der Obrist v. Honstedt und der Stallmeyster v. Stamer … Abends spielte Ihro Mayestät mit ihrer Frau Schwester immer Schach und vor die übrige war eine kleine banque angerichtet … d. 20. Abends um 6 Uhr gieng das öffentliche Verlobnuß von des Prinzen Wilhelms Kgl. Hoheit mit der Prinzeßin Louise vor sich. Es wurden nemlich alle dames und cavaliers in das Audienz Gemach hereingerufen, und nach dem dieselbe sich in 2 Hauff gestellet, ließen Ihro May­ estät von den beyden zu Verlobenden sich die Ringe geben und wechselte solche unter ihnen … Den 21. hielt der Konig sich innen, weil Sie von Fieber einen accehs hatten, bis abends. Den 22. früh reisete er von hier wieder ab, da er denn biß Offleben begleitet wurde. Er nahm aber mit sich Serenissimi h[ertz]l[lieben] Bruder Prinz Ferdinand, so unlängst bey ihm in Diensten getretten und ein Regiment zu Fuß so hier im Lande ge­ richtet, bekomen.10 Friedrich wurde als Staatsgast empfangen, nach zeitgemäßem zeremoniellen Regle- ment: Eskortierung ab der Landesgrenze durch Dragoner – Einholung durch den regieren- den Herzog in Begleitung seiner Brüder und der Leibgarde – Ehrenwache vor dem Schloss

7 Die meisten Aufenthalte sind archivalisch wenig informativ, nur zwei (1740, 1777) sind detailreicher überliefert. Schon Friedrich Jeep wies auf mehrmalige Besuche (erwähnt werden fünf!) Friedrichs des Großen in Salzdahlum hin. Ders.: Friedrich der Große in Salzdahlum. In: Wolfenbütteler Kreisblatt, 22.1.1912 (NLA-StA WF 222 N 79). Die Kenntnis dieses Artikels wie einiger anderer Archivalien, so besonders des Hoftagebuches (s. u.) verdanke ich den immer anregenden Hinweisen von Dr. Dieter Lent, ehem. Staatsarchiv Wolfenbüttel. 8 Zum Herzog von Holstein s. Johannes Richter: Die Briefe Friedrichs des Großen an seinen vormali- gen Kammerdiener Fredersdorf. Berlin 1926, S. 69. 9 Namensverschreibung von Münchow. Wilhelmine erwähnt ihn als Adjutanten des Königs bei dessen Aufenthalt 1740 in Bayreuth und gibt ein recht ungünstiges Urteil über ihn ab. Wilhelmine von Bay- reuth – Eine preußische Königstochter. Glanz und Elend am Hofe des Soldatenkönigs in den Memoiren der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth. Neu hrsg. von Ingeborg Weber-Kellermann. Frank- furt/M. 1990, bes. S. 502. 10 Georg Septimus Andreas von Prauns Tagebuch von den Höfen in Blankenburg und Wolfenbüttel: NLA- StA WF VI Hs 5 Nr. 12, S. 283f. zum 19.9.1740.

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– der zur Aufwartung bestimmte Hofkavalierstab.11 Besondere Festlichkeiten scheinen aber mit Rücksicht auf den an Fieberanfällen leidenden König nicht veranstaltet worden zu sein. Abends gab es den üblichen höfischen Zeitvertreib, das Spiel, und sicher auch gehobene Tafelfreuden, wie es die extra aus Braunschweig per Träger geholten Berliner Gläser12 vermuten lassen. Was die Suite betraf: Herzog v. Holstein, Wartensleben, Keyserlingk, Borck, Mün- chow, Algarotti, so spiegelt sich in ihrer Zusammensetzung der elitäre, auch dem Frei- maurertum zugeneigte Freundeskreis der Kronprinzenzeit wieder, der nun auch den Rei- sen geistvolle Färbung gab. Die Attraktion der Reisegesellschaft war aber der berühmte Naturforscher und Lappland-Fahrer Maupertuis13, dessen Präsenz den König sogar zu einem zusätzlichen Besuch unterwegs beim Grafen Albrecht Wolfgang zu Schaumburg- Lippe veranlasste. Ein wohl nicht so häufig zitiertes Dokument, das Tagebuch der Mutter des Grafen, enthält hierzu aufschlussreiche Passagen: „6. September Es gefiel aber dem König, ihn [Graf Albrecht] nach Herford den 15. oder 16. dieses zu bestellen. Den 16.9. reisete mein Sohn nach Herford dem Kg von Preußen entgegen. Sr. Majestät kamen darauf den 17. Vormittags um 11 Uhr zu Bückeburg an, nahm nur eine Tasse Choquelade, besa- hen sich im Hause und reiseten um 12 Uhr wieder ab, sie wollten dieselbe Nacht zu Cop- penbrüggen bleiben und dero Fieber access, welches sie allezeit d. 4 Tag bekamen, ab- warten, hernach nach Salzdahlen gehen, dero Fr. Schwester zu besuchen im Heimweg nach Berlin. Sie bezeigten sehr viel amitié gegen meinen Sohn, waren auch sonst sehr gnädig und höflich gegen Jedermann. Sie hatten Prinz Wilhelm, dero ältesten Hr. Bruder bey sich und den Marggrafen Heinrich von Schwedt, Prinz Leopold von Anhalt-Dessau und den Herzog von Holstein-Königsberg, auch den französischen berühmten Mr. de Me- aupertius, der nach Lappland gereiset gewesen, die Figur der Welt zu erforschen …“14 Maupertuis erster Aufenthalt in Berlin währte allerdings nur kurze Zeit. Vom König im März 1741 ins Feldlager nach Schlesien gebeten,15 geriet er nach der Schlacht bei Moll- witz mit anderen aus der Suite des Königs in österreichische Gefangenschaft und kehrte nach seiner Freilassung nach Paris zurück. Erst 1746 erfolgte die endgültige Übersiedlung nach Berlin, wo er – trotz Wegganges 1756 –bis zu seinem Tode 1759 das Amt des Präsi- denten der Akademie der Wissenschaften innehatte.

11 Wie es z. B. auch seinem Besuch 1743 bei seiner Ansbacher Schwester Markgräfin Friederike zu Grun- de lag. S. dazu Karin Plodeck: Hofstruktur und Hofzeremoniell in Brandenburg-Ansbach vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Ansbach 1972, S. 166f., 170f. 12 Rechnung der Träger in NLA-StA WF 1 Alt 25 Nr. 74, Bl. 77. 13 Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 31. Nordhausen 2010, s. v. Pierre-Louis Moreau de Maupertuis. 14 NLA-StA Bückeburg Dep. 11 A Nr. 6: Tagebücher 1727-1740 der Gräfin Johanna Sophie. Abschriften in Auszügen von V. Koch. Curd Ochwadt: Voltaire und die Grafen zu Schaumburg-Lippe. Bremen 1977, S. 26f. Das Tagebuch ist nicht im Original erhalten. Kochs Abschriften datiert Archivdirektor Dr. Brü- dermann, dem ich für diese und andere Auskünfte danke, anhand des Schriftduktus in die 20er/Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Ich halte den zitierten Abschriftteil für authentisch, denn wesentli- che Informationen stimmen mit denjenigen des Hoftagebuchs überein. Auch hat C. Ochwadt, laut Dr. Brüdermann ein guter Kenner des Fürstlich Bückeburgischen Hausarchivs, die Authentizität der Ab- schrift nicht in Frage gestellt. 15 Benninghoven/Börsch-Supan/Gundermann (wie Anm. 4), 136f. zu Nr. 65 und 66.

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Das herausragendste Ereignis dieses königlichen Staats-/Antrittsbesuches war die Ver- lobung des Prinzen August Wilhelm v. Preußen mit der braunschweigischen Prinzessin Luise Amalie, die beide Herrscherfamilien erneut aneinander band und zugleich eine weite- re Ebene dynastischer Verflechtungen eröffnete, indem Prinz Ferdinand v. Braunschweig, Bruder der Braut, – auf Druck Friedrichs – in den preußischen Militärdienst eintrat. Bei der Abreise von Salzdahlum wurde der König wiederum bis zur braunschweigi- schen Landesgrenze in Offleben eskortiert. Nach Beendigung des 1. Schlesischen Krieges 1742 war Friedrich in hohem Maße erholungsbedürftig und reiste zur Kur nach Aachen, begleitet von seinem jüngeren Bruder Prinz Heinrich, dem Prinzen Ferdinand v. Braunschweig und dem Herzog v. Holstein- Beck, sie alle wohl ebenso gesundheitlich angeschlagen durch die vorausgegangenen mi- litärischen Strapazen.16 Die so kleine Reisegruppe benötigte auf jeder Umspannstation 73 Pferde, hauptsächlich für den Wagenzug, die übrigen zum Reiten und zur Reserve. Von Wesel aus verlief die Rückreise, mit Kurzaufenthalt in Minden, über eine Route, die Fried- rich öfter wählte, wenn er Hannover-Stadt umgehen wollte: Minden-Döhren-Loccum- Hagenburg-Blumenau-Langenhagen-Burgdorf-Peine-Sierße-Vechelde-Salzdahlum.17 Der königliche Gast blieb dort zwei Tage (9.9.-11.9.) und ließ bei Abreise dem fürstlichen Hof- staat ein Trinkgeld von 109 Dukaten überreichen.18 Alle Westreisen Friedrichs führten über weite Strecken durch fremde, d. h. nichtpreu- ßische Territorien und erforderten rechtzeitige Absprachen mit den jeweiligen fürstlichen Regenten bzw. Regierungen bezüglich Durchreisemodus, Vorspannpferden, Passierbar- keit von Wegen und Brücken auf der beabsichtigten Route. So hatte 1744 England, über Friedrichs Reiseabsicht nach Pyrmont informiert, „in Berlin durch seinen Vertreter Lord Hyndford dem Grafen Podewils eröffnen lassen, dass der König mit aller hingebenden Auszeichnung in den hannoverschen Landen auf seiner Reise nach Pyrmont empfangen werden solle: indessen der Kg begnügte sich mit der Versicherung seines Dankes, da er den geradesten Weg über Brg einschlagen und die Lande Sr. Großbritannischen Majestät nicht berühren werde. Aber trotzdem nahm Friedrich seine Reise über das hannoversche Hameln!“19 Zur Überraschung wie auch zur Bestürzung des dortigen Garnisonskomman- deurs, der dem König keinen etikettegemäßen Empfang bereiten konnte. Die Anreise – von Potsdam durch die Altmark – nach Braunschweig erfolgte planmäßig. Auf den Relais Ahnebeck, Wipperteich, Wolfsburg, Mörse, Flechtorf standen die erforderlichen 97 Pfer- de bereit, waren Wagenmeister für die Ordnung auf den Stationen eingesetzt, ebenso Mel- dereiter, die die An- und Abfahrt des Königs von einer Umspannstation zur nächsten an- zeigten. Auch war Obrist v. Stammer dem König nach Wolfsburg entgegengeschickt

16 Der 16jährige Prinz Heinrich hatte 1742 als königlicher Adjutant an der Schlacht von Chotusitz teilge- nommen. Prinz Heinrich von Preußen in Bildnissen seiner Zeit. Ausstellung im Schloß Rheinsberg, 6. Mai bis 19. Juni 1994. Potsdam 1994, S. 9. Prinz Ferdinand von Braunschweig und der Herzog von Holstein-Beck befehligten dabei eigene Truppenteile. 17 NLA-StA WF 4 Alt 1 Nr. 717. 18 NLA-StA WF 1 Alt 25 Nr. 254, Bl. 2 (Designationes von den bei Fürstl. Hofstatt eingekommenen Trinkgeldern); 4 Alt 19 Nr. 54. 19 Karl Janicke: Friedrichs des Großen Aufenthalt in Pyrmont in den Jahren 1744 und 1746. In: Zeit- schrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 1874/75, S. 349-367, bes. S. 350f.

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worden. Ein regulärer Aufenthalt scheint jedoch trotz Trinkgeldzahlung von 100 Duka- ten20 nicht stattgefunden zu haben. Denn Herzogin Philippine Charlotte zeigte sich ge- kränkt darüber, dass Friedrich weder auf der Hin- noch Rückreise nach Pyrmont in Braunschweig abgestiegen sei.21 Die Weiterfahrt ging über Kloster Steterburg-Nettlingen- Bettmar durch hildesheimisches Gebiet und –über das spontan aufgesuchte – Hameln nach Pyrmont, wo der König mit stattlichem Gefolge am 22. Mai eintraf. In seiner Begleitung befanden sich die Obristen v. Borck, v. Keyserlingk, v. Polentz, v. Brandis, v. Meyerinck, Obristlieutenant v. Ingersleben, Major Graf Münchow, Major Kahle, Haupt- mann Lehwaldt, Geheimer Rat Jordan, die Geheimen Kabinettsräte Eichel und Müller, der Geheime Kämmerer Fredersdorf, Generalstabs-Medicus Dr. Lesser, drei Virtuosen.22 Über diesen Badeaufenthalt Friedrichs, der vor dem Hintergrund außergewöhnlich gehei- mer diplomatischer Aktivitäten stattfand (Sukzession in Ostfriesland, Bündnis mit Frank- reich zur Unterstützung Karls VII.), haben die hannoverschen Geheimagenten ausführli- che Berichte hinterlassen (s. dazu Anm. 19). 1746 wiederholte Friedrich seine Badekur in Pyrmont. „Bei der 2.Brunnenkur ließ der engl. Hof wieder beim Grafen Podewils anfragen, ob er die Kurhannoverschen Lande be- rühren und wie lange sein Aufenthalt daselbst dauern werde. Der Kg dankte für die ihm er- wiesene Rücksicht, er werde indessen sich unterwegs nicht aufhalten und außerdem auch nur mit kleinem Gefolge das Hannoversche incognito berühren. Am 17. Mai passirte der Kg bei Ohsen die Weser, und in Hameln wurden ihm zu Ehren die Kanonen dreimal abgefeuert“.23 „Das kleine Gefolge“ kann sich im Kontext der 18 Personen nennenden Pyrmonter Badeliste24 eigentlich nur auf die mit ihm im Reisewagen platzierten Vertrauten, Prinz Heinrich, Rothenburg und Goltz25 beziehen, mit denen er vorher Salzdahlum (vor dem 17.5.) besucht hatte.26 Dort war gerade, nach Plänen des herzoglichen Landbaumeisters Peltier, die Neuausstattung des königlichen Gästeappartements (südliches Appartement) fertig gestellt worden. [Abb. 1] Im 1. Stock des Corps de Logis gelegen, umfasste es meh-

20 NLA-StA WF 4 Alt 19 Nr. 54; 4 Alt 1 Nr. 717; 1 Alt 25 Nr. 254, Bl. 2. 21 Hans Droysen (Hrsg.): Aus den Briefen der Herzogin Philippine Charlotte von Braunschweig. Bd. 1: 1732-1801. Wolfenbüttel 1916 (Quellen und Forschungen zu Braunschweigischen Geschichte 8), Brief vom 15.6.1744, Anm. 1. 22 Hermann Engel: Der Pyrmonter Brunnenarzt und sein königlicher Gast – Friedrich II. und seine bei- den Kuraufenthalte in Pyrmont. In: Dieter Alfter (Hrsg.): Friedrich der Große – König zwischen Pflicht und Neigung. Bonn 2004, S. 117-139, bes. 128, 130; Janicke (wie Anm. 19), S. 358. 23 Ebd., S. 361. 24 Engel (wie Anm. 22), Abb. auf S. 137. Danach gehörten zur Reisegesellschaft des Königs: Prinz Hein- rich, Generalfeldmarschall Herzog v. Holstein-Beck, Generallieutenant Graf von Rothenburg, General v. Borck, Generalmajor v. Goltz, General de la Motte-Fouqué, Obrist v. Meyerinck, Obristlieutenant v. Ingersleben, Obrist v. Buddenbrock, Kapitän v. Lingerfeld, Kapitän v. Lehwaldt, Kammerherr Baron v. Pöllnitz, die Geh. Kabinettsräte Eichel und Müller, Geh. Rat. Darget, Kabinettssekretär Köper, Kriegs- rat Schultz, Hofrat Dr. Lesser. 25 Janicke (wie Anm. 19), S. 365: „ Am 8. Juni 1746 früh um 3 Uhr von hier abgereiset und haben dero Herrn Bruder nebst dem Grafen Rothenburg und General Golz bei sich sitzend gehabt …“ 26 Bis zum 14.5.1746 arbeiteten der Bildhauer Ziesenis, der Stuckateur Buzzi sowie der Maler Ludwig W. Busch noch an der Ausstattung des Appartements. Arbeitsnachweis/Rechnung: NLA-StA WF 75 Alt 57, Bl. 41; http://quellen.perspectivia.net/bestaende/spsg-schatullrechnungen (26.8.2012): Ausgaben pro Jul. 1746. Im Kommentar zur Rechnung Nr. 3 wird mit Bezug auf eine ältere Literaturangabe der 15. Mai als Ankunftstag in Pyrmont genannt.

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Abb. 1: Ansicht des Schlosses Salzdahlum von der Gartenseite (um 1750) (Privatbesitz)

rere Räume, von denen das Schlafzimmer besonders prächtig eingerichtet wurde und da- nach zu den „Glanzstücken des Schlosses“ zählte.27 Gelber Damast war das dominierende textile Grundmaterial, aus dem Tür-, Fenster- und Betthimmelvorhänge gearbeitet waren, ebenso die Kanapee- und Stuhlpolsterbezüge (sogar der Nachtstuhl!) und die gesamte Wandbespannung. Zusätzliche Schmuckakzente setzten das versilberte Rahmenwerk der Tapeten und die Silbertressen an den Bezügen und Vorhängen. Ähnlich beeindruckend muss auch das Vorzimmer oder Blaue Zimmer gewesen sein, dessen Farbkombination Blau-Silber (blaue Tapeten, silbern gefasst, versilberte Stühle und Sessel mit blauem Moir bezogen) sich z. B. auch in den frühen Wohnungen Friedrichs im Charlottenburger Schloss wiederfindet und damit ganz seinem Geschmack angepasst war. Diese künstlerische Be- zugnahme auf gleichzeitige vorbildhafte Berliner Stilausformungen (Friderizianisches Rokoko) belegt einmal mehr den regen Kulturaustausch auch zwischen diesen beiden Hö- fen.28 Offensichtlich suchte man sich in Braunschweig mit dieser kostspieligen und mo- dernen Renovierung besonders zu profilieren – vielleicht gegenüber dem Bayreuther Hof/ Wilhelmine, der zu dieser Zeit bei Friedrich diskreditiert war.29 Dass eine gewisse latente

27 Holger Wittig: Das fürstliche Lustschloß Salzdahlum. Band I: Das Schloß und die Sammlungsbauten. Norderstedt 2005, bes. S. 112, 115f., 208, 220. 28 Justus Lange: „Nach Eben Dieser Anjetzo Beliebten Franzschen Neuen Facon“ – Anmerkungen zur Braun- schweiger Architektur des Rokoko. In: Braunschweiger Rokoko. Braunschweig 2005, S. 30-43, bes. S. 40f. 29 So hatte Markgräfin Wilhelmine der zur Kaiserkrönung nach Frankfurt reisenden Maria Theresia im bayreuthischen Emskirchen ihre Aufwartung gemacht und ihr ein Mittagessen offeriert. S. dazu Dieter J. Weiss: Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth zwischen Kaiserin Maria Theresia und König Fried- rich II. In: Günter Berger (Hrsg.): Wilhelmine von Bayreuth heute. Das kulturelle Erbe der Markgrä- fin. Bayreuth 2009, S. 105-118, bes. S. 105.

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Konkurrenz bestanden haben könnte, scheint im Besuch Voltaires 1743 an beiden Höfen und seiner Befriedigung mit der ihm dort jeweils zuteil gewordenen Gastlichkeit (und den Geschenken) sich anzudeuten.30 Der Genugtuung des Königs für diese Ehrung und freundschaftliche Gesinnung verdankte denn auch der fürstliche Hofstaat ein wahrhaft königliches Trinkgeld von 631 Reichstalern. Die nächste Reise Friedrichs 1751 in die Westprovinzen und zum ersten Mal in das seit 1744 preußische Ostfriesland war und blieb ein singulärer Vorgang durch die Präsenz aller seiner drei Brüder, der Prinzen August Wilhelm, Heinrich und Ferdinand. Gegen- über dem eigenen Land wie auch der europäischen Öffentlichkeit wurde mit dieser perso- nalen agnatischen Verdichtung Geschlossenheit der Dynastie und ihre gesicherte Konti- nuität signalisiert, wie sie in anderer Form in der höfischen Festveranstaltung des Reitturniers „Carrousel“ von 175031 in Berlin Ausdruck gefunden hatte. So war denn auch das Aufgebot für die Reise beträchtlich. Außer den Brüdern des Königs gehörten dazu: Prinz Ferdinand v. Braunschweig, die Obristen v. Wylich, v. Buddenbrock, die Obristlieu- tenants v. Balby, v. Rebentisch, v. Lentulus, die Rittmeister v. Krusemarck, v. Sydow und Beamte (Kabinettsräte, Sekretär). 104 Vorspannpferde für Reise- und Packwagen – dem König standen acht Postpferde zur Verfügung, den Prinzen je sechs – sowie 40 Reitpferde hatte allein das Amt Schöningen für den Transport des ab Magdeburg gestarteten (6.6.) königlichen Reisezuges eingesetzt, der anschließend etappenweise nach Westen dirigiert wurde. Der König reiste separat und traf – nach Übernachtung in Ummendorf – einen Tag nach seinen Brüdern in Salzdahlum ein.32 Für die Weiterreise (9.6.) nach Minden durch hannoversches Territorium war seitens des hannoverschen Ministeriums wieder nach den von Friedrich erwünschten Modalitäten nachgefragt worden. Der König hat hierauf…eine gracieuse Bezeugung zurück thun und daß er, wie voraus bekannt, nirgends sich aufhal­ ten würde, vermelden lassen. Inzwischen ist den Beamten zu Langenhagen und Blume­ nau aufgegeben gewesen, Coffee parat zu halten, der aber nicht gefordert worden ist.33 Dieser Bericht vermerkte übrigens ein Mittagessen Friedrichs auf der Reise beim Grafen Wilhelm zu Schaumburg-Lippe in Hagenburg, welcher Besuch auf der Rückreise von We- sel wiederholt wurde,34 vielleicht im Zusammenhang mit der Verleihung des Schwarzen Adlerordens. Prinz Heinrich, der sich bis Wesel in der Suite des Königs befand, ging an- schließend in besonderer Mission und sozusagen eigener Sache auf „Brautfahrt“,35 die ihn über mehrere Zwischenstationen, z. B. Stuttgart, Frankfurt, und Besuchen seiner Schwes- tern Friederike (Schlangenbad/Ansbach) und Wilhelmine (Bayreuth) nach Kassel führte

30 Ochwadt (wie Anm. 14), S. 32, 36f. S. auch Lange (wie Anm. 28), S. 40. Im Übrigen haben sich Wil- helmine und Philippine Charlotte nie besonders nahe gestanden. 31 Friederisiko – Friedrich der Große. Ausstellungskatalog Neues Palais Potsdam. Die Essays. München 2012, S. 108. 32 NLA-StA WF 2 Alt 4031, Bl. 8-10; 4 Alt 1 Nr. 792. 33 NLA-HStA H Hann. 92 Nr. 185, Bl. 10. 34 Curd Ochwadt (Hrsg.): Wilhelm Graf zu Schaumburg-Lippe. Schriften und Briefe. Band III: Briefe. Frank- furt/M. 1983 (Veröffentlichung des Leibniz-Archivs 8): Briefe an Friedrich II. von Preußen Nr. 111 (S. 89) und Nr. 114 (Nr. 91); Carz Hummel: Landesherr, hannoverscher [!] General, Militärreformer in Portugal. Ein Zeitgenosse berichtet über Wilhelm von Schaumburg-Lippe. Wedemark 2006 (Welfenschriften 19), S. 6. 35 Ernst Berner: Die Brautfahrt des Prinzen Heinrich von Preußen (1751). In: Hohenzollern-Jahrbuch 8 (1904), S. 75-82.

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zum Kennenlernen seiner schon vorab bestimmten zukünftigen Frau, Prinzessin Wilhel- mine v. Hessen-Kassel, die er ein Jahr später heiratete. 1755 reiste Friedrich über Salzdahlum (9.6.-11.6.) erneut nach Westen und mit ihm Prinz Ferdinand v. Braunschweig, Generalmajor v. Wylich, General v. Buddenbrock, General v. Winterfeld, Obristlieutenant v. Balby. Der Wagenzug war noch umfangreicher (140 Vor- spannpferde)36 als 1751. So wurden allein aus den königlichen Haushaltungsbereichen Kü- che, Kellerei und Silberkammer sechs Packwagen mitgeführt und, dort integriert, die den diversen Bereichen zugeordneten 27 Bediensteten. Für ihren Unterhalt zahlte der Braun- schweiger Hof bei jedem Besuch des Königs Kostgeld, das je nach Dienstfunktion zwischen einen Reichstaler zwölf Mariengroschen (Fourier, Kellerschreiber) und neun Marien­ groschen (Silberwäscherin, Kammerlakaibursche) täglich betrug.37 Umgekehrt ließ Fried- rich dem Fürstlichen Hofstaat jedes Mal ein großzügiges Trinkgeld in – seit 1751 bis 1777 – gleichbleibender Höhe von 500 Reichstalern38 zukommen, das ebenso funktionsgestaffelt unter den herzoglichen Bediensteten aufgeteilt wurde. Einen besonderen Bekanntheitsgrad erlangte diese Westreise durch den Inkognito-Ausflug des Königs nach , bei dem er unterwegs auf einem Schiff seinen späteren langjährigen Vorleser de Catt kennen- lernte.39 Die Rückreise über Minden verlief von da aus auf gleicher Route wie 175140 durch vier verschiedene Territorien : Schaumburg, Hessen, Hannover, Hildesheim über Hessisch Oldendorf, Salzhemmendorf, Hildesheim, Nordassel, Saldern, wo ihn das lang wartende Herzogspaar vor seiner Weiterreise nach Potsdam nochmals traf.41 Nach dem Siebenjährigen Krieg nahm der König 1763 sogleich die Provinzbereisung wieder auf, um sich vor Ort über die Kriegsauswirkungen zu informieren. Sein erster Be- such galt Pommern und der Neumark, im Anschluss an die Magdeburger Revue folgte die Inspektion der westlichen Provinzen. Kammerherr Graf Lehndorff notierte dazu in sei- nem Tagebuch: „… der König kehrt von seiner Reise nach Pommern zurück. Die Reise ging sehr rasch vonstatten. Er dinierte in Schwedt, war in Kolberg, Stargard, Gusow, Küs- trin. – Der König reist mit ganz kleinem Gefolge nach dem Clever Land. Der Prinz von Preußen macht die Reise mit …“42 – Nur diese Reise des Königs nach Westen ist in seinen privaten Schatullrechnungen einmal direkt nachweisbar durch die für die jeweiligen Quartiere gezahlten Übernachtungsgelder, die im Normalfall (so in Magdeburg, Hamm, Wesel) zehn Reichstaler, bei besonders prätentiösem Logis (wie in Krefeld beim Seiden- fabrikanten von der Leyen oder in Kleve) 30 Reichstaler oder mehr betrugen.43 Entspre-

36 NLA-StA WF 2 Alt 4031, Bl. 13. 37 NLA-StA WF 1 Alt 25 Nr. 291, Bl. 2. 38 S. dazu NLA-StA WF 1 Alt 25 Nr. 254. 39 Erwähnung bei Zeitgenossen: Thiébault (wie Anm. 1), S. 113; Karl Eduard Schmidt-Lötzen: 30 Jah- re am Hofe Friedrichs des Großen. Aus den Tagebüchern des Reichsgrafen Ernst Ahasverus Heinrich von Lehndorff, Kammerherr der Königin Elisabeth von Preußen. 1907, S. 210, unterm 10. Juni 1755; de Catts eigene Erinnerungen: Willy Schüssler (Hrsg. und Übers.): Friedrich der Große – Ge- spräche mit Henri de Catt. München 1981, S. 2ff. 40 NLA-StA WF 2 Alt 4031, Bl. 15. 41 NLA-StA WF 4 Alt 19 Nr. 54 (Fouragerechnung). 42 Schmidt-Lötzen (wie Anm. 39), Nachträge. Band 1. Gotha 1910, S. 368, unterm 26. Mai 1763. 43 Schatullrechnungen (wie Anm. 26) 1763, Monat Juni (Berechnungen über Einnahmen und Ausgaben pro Monat Jun. 1763).

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chend der bisherigen Praxis war die Reisedauer eng begrenzt, das Reiseprogramm ge- strafft.44 Als Reisebegleiter fungierten der Prinz von Preußen (der spätere Friedrich Wilhelm II.), Herzog Ferdinand v. Braunschweig, die Generäle v. Wylich und v. Borck sowie Gene- raladjutant Graf v. Anhalt. Ihnen schloss sich in Geldern der lang umworbene berühmte Enzyklopädist d‘Alembert an,45 den Friedrich trotz ehrenvoller Offerten nicht dauerhaft für Berlin gewinnen konnte. Am 17. Juni traf diese Reisegesellschaft, zurückkehrend aus Wesel, in Salzdahlum ein46 und wurde mit selbstverständlicher Weltläufigkeit empfangen. „Der König kam an, und da er guter Laune war, so gab er den allgemeinen Bitten, und be- sonders den Bitten des Generals von Retz nach, welchen er wohl leiden mochte, und be- stimmte dem Mahler eine Stunde, während welcher er ihm sitzen wolle. Die Arbeit gelang Ziesenis vortrefflich. Er hatte den Kopf sehr ähnlich und schön gemahlt, und ganz mit dem eigenen Blicke des Königs. Das Uebrige, den blauen zugeknöpften Rock, die weiße Weste, die schwarz sammtnen Beinkleider mahlte er nachher hinzu …“47 So überlieferte der Maler und Kunstschriftsteller J. Domenicus Fiorillo den ihm von seinem Malerkolle- gen Ziesenis selbst mitgeteilten „Vorfall“, der zur Entstehung des einzigen Bildes führte, zu dem Friedrich je gesessen hatte. Dieses – im Auftrag der Herzogin Philippine Charlot- te von Ziesenis geschaffene – Porträtbild sah der englische Reisende James Boswell 1764 bei seinem Abschiedsbesuch am Braunschweiger Hof im Zimmer der Herzogin und be- merkte dazu in seinem Tagebuch, sichtlich unbeeindruckt: „Es ist sehr ähnlich, nur lässt es an Haltung zu wünschen übrig.“48 Der Aufenthalt des Königs (17.-19.6.) war nicht nur mit dieser kunsthistorischen Einma- ligkeit verbunden, sondern stand auch unter dem Aspekt erneuter Dynastiesicherung. Laut Aufzeichnungen des wie immer gut informierten Lehndorffs waren für den 19-jährigen Prinzen von Preußen zwei Heiratskandidatinnen im Gespräch: die braunschweigische Prin- zessin Elisabeth Christine Ulrike und ihre Kusine Prinzessin Philippine Auguste Amalie v. Schwedt, beide über ihre Mütter Nichten des Königs. In Braunschweig suchte man die Wahl zugunsten der eigenen Kandidatin zu beeinflussen. Auf Bitten der Herzogin gewährte

44 Z. B. in Minden. NLA-HStA H Hann. 92 Nr. 185, Bl. 23: Ankunft des Königs am 4. Juni abends 6 Uhr, Abendessen mit der Suite, am nächsten Morgen früh 2 (!) Uhr Vortrag des Kammerdirektors Bären- sprung über Landesangelegenheiten, 3 Uhr Besichtigung des Schlachtfeldes von Minden, anschließen- de sofortige Weiterreise nach Bielefeld. 45 S. Anm. 4, S. 229f. (zu Nr. 5); Johannes Kunisch: Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. Son- derausg. München 2011, bes. S. 448. 46 NLA-StA WF 4 Alt 19 Nr. 54. 47 Karin Schrader: Der Bildnismaler Johann Georg Ziesenis (1716-1776). Leben und Werk mit kriti- schem Oeuvrekatalog. Münster 1995 (Göttinger Beiträge zur Kunstgeschichte 3), bes. S. 104 f. 48 Boswells Große Reise. Deutschland und die Schweiz 1764. Deutsch von Fritz Güttinger. Stuttgart 1955, bes. S. 90; Marlies K. Danziger: Boswell in Braunschweig 1764. Eindrücke eines Aufenthaltes am herzoglichen Hofe. In: BsJb 75 (1994), S. 161-170, bes. S. 168 mit anderer Bewertung („staunte“). – Nach dem mir durch Dr. D. Lent weiter gegebenen Literaturzitat (Herzogin Viktoria Luise: Im Glanz der Krone. Erinnerungen. Göttingen 1967, S. 35 f.) handelt es sich bei dem seit 2009 der Galerie Neuse, Bremen, gehörenden Porträt Friedrichs des Großen (abgebildet als Frontispiz im Katalogband zur dies- jährigen Friederisiko-Ausstellung im Neuen Palais in Potsdam) um die berühmte originale Ölskizze Ziesenis’, die sich noch 1967 im Besitz der Herzogin Viktoria Luise von Braunschweig befand.

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der König seinem Neffen einen verlängerten Aufenthalt am dortigen Hof. „Der Prinz von Preußen, der den König überallhin begleitet hat, ist über Braunschweig gekommen, wo er die Prinzessin gesehen hat, welche allgemein als seine zukünftige Braut gilt. Er soll sie sehr liebenswürdig gefunden haben, und der Hof von Braunschweig tat alles Mögliche, um ihm den Aufenthalt angenehm zu machen. Es fanden Bälle und Opernvorstellungen statt.“49 Bei Rückkehr des Thronfolgers war wohl noch keine definitive Entscheidung gefallen. Denn nun reiste auch die Markgräfin Sophie v. Schwedt an, um ihre Tochter Philippine, „für die der König sehr eingenommen sei“50 vorteilhaft zu präsentieren. Die privaten Schatullrech- nungen belegen die außerordentlichen Aufmerksamkeiten, mit denen Friedrich seine Schwester und Nichte bedachte: feinstes Zuckerwerk auf der Tafel, Kammermusik, Bälle, Theater, großartige Illumination mit 7.592 Lampen in Sanssouci und prachtvolle Geschenke (Tabatièren, Ringe).51 Letztendlich wiederholte sich aber Friedrichs dynastische Doppel- strategie von 1740: Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen verlobte sich (1764) mit Prinzessin Elisabeth Christine Ulrike und ihre Brüder Prinz Friedrich August und Prinz Wilhelm Adolf v. Braunschweig traten in den preußischen Militärdienst ein.52 1766 … grassierten die Blattern und einige Hofdamen bekamen sie, auch die Herzo­ gin hatte sie noch nicht gehabt, ob sie gleich beinahe schon 50 Jahre alt war. Sie bekam die Blattern in einem sehr hohen Grade und litt besonders im Hals. Nachdem sie bereits auf der Besserung war, schickte der König seinen Leibmedicus Cothenius …53 Nach der Magdeburger Revue erschien dann Friedrich selbst in Salzdahlum (7.6.-9.6.). Ein dezidiert familiärer Besuch also, durch welchen in dieser Krankheitssituation der Schwester be- sondere emotionale Nähe, vielleicht auch Verlustängste – Markgräfin Sophie, die jüngere Schwester, war erst 1765 gestorben – wahrnehmbar werden. Im Vorfeld dieses Besuches gab es allerdings unvorhergesehene Verwicklungen, denn die auf den braunschweigischen Relaisstationen eingesetzten Fuhrleute samt Pferden mussten 15 Stunden mehr als geplant – und sonst üblich – auf die Ankunft des Königs warten und verlangten dafür finanzielle Entschädigungen, sog. Wartegeld.54 Die mit 48 Reichstalern 16 Groschen bemessene Summe dürfte als archivalischer Nachklang der durch das Zerwürfnis Herzog Ferdinands v. Braunschweig mit dem Generaladjutanten Graf v. Anhalt während der Revue entstan- denen Turbulenzen zu sehen sein. Herzog Ferdinand schied noch im gleichen Monat aus dem preußischen Militärdienst.55

49 Schmidt-Lötzen (wie Anm. 42), S. 370f., unterm 1. Juni 1763. 50 Ebd., S. 373. 51 Schatullrechnungen (wie Anm. 26), 1763, Monat Aug. 52 Hermann Grussendorf: Aus dem Leben des Prinzen Wilhelm Adolf von Braunschweig (1745-1770). In: BsM 24 (1918), S. 89-97. 53 NLA-StA WF VI Hs 5 Nr. 21 (Aufzeichnungen des braunschweigischen Leibarztes Dr. med. Urban Friedrich Benedikt Brückmann), bes. S. 100ff. Zu Friedrich dem Großen in diesem Zusammenhang S. 96; Schatullrechnungen (wie Anm. 26), Ausgabe pro Jun. 1766, Nr. 22 und 23; NLA-StA WF 1 Alt 25 Nr. 254, Bl. 17: Trinkgeldzahlung am 9.6.1766. 54 NLA-StA WF 4 Alt 19 Nr. 54. 55 Heinrich Winkelmann: Herzog Ferdinand und sein Hof oder Ein braunschweigischer Fürst im Ruhe- stand. In: Christof Römer (Hrsg.): Braunschweig-Bevern. Ein Fürstenhaus als europäische Dynastie 1667-1884. Braunschweig 1997 (Veröffentlichungen des Braunschweigischen Landesmuseums 84), S. 141-160, bes. S. 1.

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Die letzte große Westreise fand 1768 statt. Der König „eilfertig“ wie immer, war nach kurzem Aufenthalt in Salzdahlum56 direkt nach Hannover (7.6.) gefahren –Umspannung dort vor dem Ägidientor,57 nahm dann auf der Weiterreise an mehrtägigen Truppenmanö- vern in Brackwede und Wesel teil58 und besuchte darauf in Het Loo seine Nichte Wilhel- mine, die seit 1767 mit dem Erbstatthalter Willhelm V. von Oranien verheiratet war. Auf der Rückreise: 18. Juni ist der König wieder von Wesel retourniret und durch Braun­ schweig nach Saltzdahlen gegangen. Bei der Durchfahrt paradierten die Regimenter auf der Gasse, es geschahen überhaupt 6 x 36 Kanonenschuß. Den 20. Juni wieder von Saltzdahlen abgereist.59 Dieser zweimalige Aufenthalt des Königs in Salzdahlum ist un- gewöhnlich und dürfte mit der Ehekrise des preußischen Thronfolgers zusammenhängen. Friedrich hatte nämlich nicht nur den Prinzen von Preußen zur Reise mitgenommen son- dern auch dessen Schwäger, die braunschweigischen Prinzen Friedrich August und Wil- helm Adolf, beide nicht unwesentlich in die Eheauseinandersetzungen verwickelt. Mit der zeitweisen Entfernung der Akteure war wohl eine Beruhigung der Stimmung und ein Eindämmen der Gerüchte um die junge Prinzessin von Preußen beabsichtigt. Friedrich tat noch ein Übriges: Er initiierte die Heirat des Prinzen Friedrich August mit Friederike Charlotte Sophie, Erbtochter des Herzogs Karl Christian Erdmann v. Württemberg-Öls, die am 6. September in seiner Anwesenheit in Breslau festlich begangen wurde.60 Schon ein Jahr später, 1769, fand sich Friedrich wieder in Salzdahlum ein (7.6.-9.6.),61 „um sich mit der Herzogin, seiner Schwester, über das Unglück zu trösten, das ihre Fami- lie betroffen hat …“62 Im April 1769 war die Ehe des Prinzen von Preußen geschieden worden und Prinzessin Elisabeth Christine Ulrike63, der die Hauptschuld angelastet wur- de, auf Lebenszeit nach Stettin verbannt. Das konventionskonträre Verhalten – nicht un- ähnlich demjenigen ihrer Urgroßmutter, der Prinzessin von Ahlden – hat die Herzogin ihrer Tochter niemals verziehen und jeglichen Kontakt abgebrochen.

56 NLA-StA WF VI Hs. 5 Nr. 16 (Tagebuchartige Aufzeichnungen des 1814 verstorbenen braunschweigi- schen Oberstlieutenants Georg Gottfried Wilhelmi über allerlei Vorfälle und Tagesereignisse insbeson- dere in Stadt und Land Braunschweig 1745-Sept. 1814): … zum Anno 1768 4. Juni ist der König von Preußen nach Salzdahlum kommen … den 5. Juni wieder abgereist, ist nach Wesel gegangen. Nach diesen Daten müssten bis zur Ankunft in Hannover (7.6.) zwei Übernachtungen unterwegs angenom- men werden, wenn es sich nicht um Datumsverwechselung bei Wilhelmi handelt. 57 NLA-HStA H Hann. 92 Nr. 185, Bl. 36. Bericht des hannoverschen Hofmarschalls v. Lichtenstein über das Umspannen vor dem Ägidientor in Hannover am 7. Juni vormittags 9 Uhr, mit Angabe der mitrei- senden Prinzen. 58 Manöverbericht des münsterschen Militärattachés Leutnant von der Decken. In: Hans H. Klein: Karl Friedrich von Wolffersdorf (1716-1781). Ein streitbarer Sachse im Dienste Friedrichs des Großen. Osna- brück 1984, Anlage 2. 59 S. Anm. 56. 60 Droysen (wie Anm. 21): Brief der Herzogin vom 18. September 1768 an den König mit Dank für diese Versorgung des Sohnes Friedrich August (Anm. 1, dazu Datumsangabe der Hochzeit); Pfeiffer (wie Anm. 2), S. 51, Anm. 21 (mit falscher Angabe der Ehepartner); Zofia Bandurska: Die Geschichte des Schlosses Sibyllenort im Fürstentum Oels. In: Römer (wie Anm. 55), S. 173-190, bes. 175. 61 S. Anm. 56, zum 7. Juni 1769: Ist der König von Preußen nach Saltzdahlen gekommen. 8. Juni: ist der­ selbe nach Antoinettenruh gewesen, bei der Abfahrt von der Antoinettenruh nach Saltzthalen wurden in Wolfenbüttel 4 x 24 Schuß gelöset. 9. Juni: Abreise des Königs. 62 Schmidt-Lötzen (wie Anm. 39), Nachträge. Band 2. Gotha 1913, S. 154 zu 1769. 63 Vgl. BBL 1996, S. 470; Ingrid Münch: Testament und Begräbnis der Herzogin Philippine Charlotte v. Braunschweig-Lüneburg (1716-1801). In: BsJb 68 (1987), S. 51-82, bes. S. 60f.

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Abb. 2 Manöverplan von Körbelitz/Pietzpuhl (1774) (Staatsbibliothek Berlin, Kart. N21703)

Ab 1770 erfolgten die Besuche des Königs in ziemlicher Regelmäßigkeit, stets im An- schluss an die alljährlich nordöstlich von Magdeburg, bei Körbelitz bzw. Pietzpuhl statt- findenden Revuen. [Abb. 2] Von den zu diesen Manövern eingeladenen Gästen, mit denen der König im Barockschloss in Pietzpuhl, im einzigen Gasthaus in Körbelitz64 oder in anderen Unterkünften logierte, wird Mancher von ihm nach Salzdahlum und Langeleben mitgenommen worden sein. Nur einmal lässt sich aus den wenigen Quellen ein Reisebe- gleiter namhaft machen: Generallieutenant v. Krockow,65 von Friedrich sehr geschätzt,

64 Sibylle Badstübner-Gröger (Hrsg.): Schlösser und Gärten in Sachsen-Anhalt. Veröffentlicht für den Freundeskreis Schlösser und Gärten der Mark. Pietzpuhl 1997, bes. S. 3 und 8; Heimatheft der Gemein- de Körbelitz 1997, bes. S. 42ff. Die genannten Publikationen wurden mir von Frau A. Rasch, der ehren- amtlichen Ortsbürgermeisterin der Gemeinde Möser, sowie von Herrn E. Brandt, dem ehemaligen Ge- meinderatsvorsitzenden von Körbelitz, zur Verfügung gestellt. Beiden danke ich sehr für ihre Bemühungen und weiterführende Informationen. 65 S. Anm. 56, zu 1770; zu Krockow s. ferner Schatullrechnungen (wie Anm. 26), 1770, Juni 24, Konzept Nr. 21: Sr. Königl. Majestät Coffeé Rechnung, und Gen. v. Krockow 20 Rtl 7 Gr; NLA-StA WF 1 Alt 291, Bl. 7 (der Name verschrieben in Krackau). Die Kostgeldliste ist zwar undatiert, doch lässt sich das auf Bl. 7 aufgeführte und gegenüber früher, Bl. 2, stark reduzierte königliche Dienstpersonal, zumal in Ver- bindung mit Langeleben, eindeutig auf die späten Besuche Friedrichs beziehen. Vgl. Benninghoven/ Börsch-Supan/Gundermann (wie Anm. 4), S. 230, zu Nr. 6 b mit Abb.; Pfeiffer (wie Anm. 2), S. 46 und 67.

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Abb. 3 Das Fürstliche Jagdhaus Langeleben (NLA-StA WF 50 Slg 65 Nr. 8) der möglicherweise öfter, zumindest aber 1770, Teilnehmer des Königsbesuches in Salz- (6.6.-9.6.) gewesen sein dürfte. Friedrichs Aufenthalt 1771 in Salzdahlum (6.6.-8.6.) fiel mit dem Besuch seiner Nichte, Herzogin Anna Amalia v. Sachsen-Weimar zusammen, die seit ihrer Heirat 1756 nicht mehr in Braunschweig gewesen war. Zu den aus diesem Anlass veranstalteten Festlichkeiten ge- hörte auch die Opera buffa „La sposa fedele“, die am 7. Juni im Beisein des Königs in Salz- dahlum aufgeführt wurde. Anna Amalias diesbezüglich begeisterte Besuchsreminiszenz und Friedrichs positive Beurteilung des jungen Weimarer Erbprinzen lassen sein wohlwol- lendes Interesse an diesem Zweig der braunschweigischen Herzogsfamilie erkennen.66 In den Jahren 1773, 1775 und 1777 fanden die Besuche des Königs immer zu genau dem gleichen Zeitpunkt nun in Langeleben [Abb. 3] statt : 28. Mai ist der König von Preu­ ßen nach Langeleben, allwo vorher unser Hof hingegangen, kommen. Am 29. Mai wieder weggefahren.67 Und der Ablauf wird auch immer derselbe gewesen sein wie der letzte, aufschlussreicher dokumentierte des Jahres 1777. „3 Meilen von Braunschweig entfernt lag das Jagdschloss Langeleben. Es lag mitten im Walde sehr hoch und die Vorderseite mit dem Balkon sah über einen großen Teil des niedri- gen Waldes weg in die freie Landschaft nach Helmstedt, von wo aus, wie auch von der großen Landstraße nach Magdeburg man das Schloss in der Ferne hoch am blauen Walde liegen sah. Hier wo auch schon längst alles öde und verfallen war, sah man noch alte gewirkte Tapeten

66 Günter Scheel: Braunschweig-Wolfenbüttel und Sachsen-Weimar in der zweiten Hälfte des 18. Jahr- hunderts. Dynastische, politische und geistige Beziehungen. In: Wolfenbütteler Beiträge 9 (1994), S. 1-30, bes. S. 20f. 67 S. Anm. 56 zu 1773, 1775, 1777.

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in den unteren Zimmern, und eine schöne Doppeltreppe führte von 2 Seiten zu einem großen Saal hinauf …“68 – Die hier anklingende Romantik des Ortes, als welche sie der Porträtmaler J. Heusinger (geb. 1769) in seiner Kindheit noch vor Abbruch (1830) des Schlosses erlebte, hat Friedrich den Großen wohl kaum bewogen, auf die Annehmlichkeiten seines komfortablen Appartements in Salzdahlum zu verzichten. Vielmehr deutet die kurze Verweildauer seiner drei Aufenthalte hier von z. T. noch nicht einmal 24 Stunden auf einen engen Zeitrahmen, für den sich das topographisch günstiger, weil näher zu Magdeburg gelegene Jagdschloss im Elm als Familientreffpunkt besser eignete. Diese Quartierverlegung erforderte allerdings einen immensen logistischen Mehraufwand. Denn Langeleben war im Unterschied zum ständigen herzoglichen Sommersitz Salzdahlum nur sporadisch bewohnt. Und Alles, was zu einer re- präsentativen Hofhaltung gehörte, musste aus dem ca. 40 km entfernten Braunschweig heran- geschafft werden. Die zunächst vor Ort veranlassten Maßnahmen betrafen die Ausbesserung der Wege auf der Fahrroute des Königs von Offleben über Büddenstedt und Räpke, die Ein- teilung der zum Vorreiten bestimmten Jagd-/Forstbedienten für die Relais Stationen, die An- lieferung von 4 füßigem Brennholz und Wildbret.69 Auch wurde angeordnet, dass das von Braunschweig zur Escortierung S. Preuß. Majestät nach Langeleben und zurück abgehende Carabinier-Commando, durch Jägerburschen den nächsten Weg in den Destedtschen Grund herauf nach Langeleben geführet werde.70 Einen Tag vor Ankunft Friedrichs machte sich dann auch der herzogliche Hof auf den Weg: 38 Kutschen, Chaisen, Pack-und Korbwagen und 162 (!) Vorspannpferde wurden für diesen Transport von Hofstaat, Bediensteten und Tross (Kellerei, Küche, Silberkammer, Betten, Garderobe) nach Langeleben benötigt.71 Selbst der durch einen Schlaganfall halb gelähmte Herzog Karl I. fuhr mit, zeigte etikettegemäße (obligatorische) Präsenz. Die Herzogin hatte Friedrich vorsorglich mit- geteilt, dass der Herzog nicht die Ehre haben werde, mit ihm zu soupieren, da er seinen Arm nicht gebrauchen könne. Er werde ihn auch verändert finden nach dem Schlaganfall, besonders habe er Sprachschwierigkeiten.72 Zur Unterstützung des Herzogs war Leibarzt Dr. Brückmann hinzugezogen worden, der diesen Besuch des Königs als distanzierter Zuschauer miterlebte:73 Wie Friedrich der Große das letztemahl nach Langeleben kam, um seine Schwester die Herzogin zu besuchen, mußte ich den Herzog begleiten, weil ihn einige Zeit vorher der Schlag gerührt hatte. Den Abend vorher mußte ich mit sämtlichen Herrschaften Commers spielen und der Obriste von Riedesel, jetziger General,74 ehe der König ankam, und ich gewannen den Pott, den wir zusammen theilten. Der König kam den andren Tag von Magdeburg um 2 Uhr, ganz mit Staub und Schnupftoback bedeckt

68 NLA-StA WF VI Hs 11 Nr. 120, Kap. IV: Salzdahlum und Langeleben (Lebenserinnerungen J. Heusin- gers, verfasst 1819 in Berlin und 1834 in Braunschweig); vgl. BBL 1996, S. 273. 69 NLA-StA WF 4 Alt 13 Nr. 34. 70 NLA-StA WF 18 Alt C Nr. 5 zum 26. Mai 1777. 71 NLA-StA WF 1 Alt 25 Nr. 132, Bl. 29-31, 36 (Transportliste). 72 NLA-StA WF 299 N Nr. 58: Brief der Herzogin an ihren jüngeren Bruder Prinz Ferdinand v. Preußen vom 8. Juni 1777, Anm. 1. 73 Dr. Brückmanns Platz war lt. Transportliste im Kavalierwagen Nr. 6 vorgesehen (Bl. 36). 74 Wie sein älterer und bekannterer Bruder Friedrich Adolf, der seit 1776 das von England angeworbene braunschweigische Hilfskontingent zur Niederschlagung des Aufstandes in Nordamerika befehligte, war auch Johann Konrad Freiherr v. Riedesel im braunschweigischen Militärdienst, wurde 1783 zum Obristen und 1794 zum Generalmajor ernannt (Terminus post quem für Brückmanns Zeitzeugenbe- richt!) und erhielt 1801 als Generalleutnant seinen Abschied. NLA-StA WF 3 Alt Nr. 714, Bl. 1-3.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 134 Ingrid Münch und fuhr am anderen Morgen früh wieder ab. Ich sah ihn speisen, doch bey der Tafel sprach er fast stets allein und alle anderen beobachteten die größte Ehrfurcht und Stille. Auch sagte mir die Princeß von Öhls Gemahlin unseres Herzogs Friedrich, dass wenn der König in Berlin an Gallatagen speise, er fast allein spreche und Damens und Herrens sehr stille seyn müßten, dass sie sich enthielten, mit einem Glase, Messer, Gabel oder Teller, das geringste Geräusch zu machen. Sein Gesicht hatte keinen Zug von Freundlich­ keit, seine Augen etwas Abschröckendes und sein Alter hatte ihn schon sehr gekrümmt. Als ich ihn soviele Jahre vorher in Salzthalen sah, wie er seine Schwester nach den Blat­ tern besuchte, war er freundlicher und ungleich weniger gebückt. Meine Reisegesell­ schaft nach Langeleben war die Fr[au] Oberhofmeisterin v. Kamke und der H[och]f[­ ürst]l[ich]e Oberhofmeister der Herzogin v. Bülow.75 Herzogin Philippine Charlotte betonte gegenüber ihrem jüngeren Bruder Prinz Ferdi- nand v. Preußen die positiven Momente des Besuches: Der König kam am 28. in Langele­ ben an in sehr guter Gesundheit. Er schien nicht erschöpft zu sein, obwohl er Manöver in Körbelitz abhielt seit 5 Uhr früh und danach noch die 8 Meilen bis hierher. Er hat sich dem Herzog gegenüber sehr gnädig gezeigt. Dem Prinzen Ferdinand, der eigens gekom­ men war, hat er den besten Empfang bereitet, so dass nicht nur ich sondern die ganze Familie entzückt war.76 In der versöhnlichen Haltung gegenüber Herzog Ferdinand – es war das erste Wiedersehen nach den Querelen der Magdeburger Revue von 1766 – und der Anteilnahme an der Krankheit des regierenden Herzogs – Philippine Charlotte bedankte sich später dafür – wird Friedrichs gewachsene emotionale Bindung im Laufe seiner Be- suche zu den Braunschweiger Verwandten deutlich. 1780 starb Herzog Karl I. und die Herzogin, die vor dem Siebenjährigen Krieg nur in bestimmten Zeitabständen nach Berlin eingeladen wurde, reiste seit 1779 jedes Jahr auf Kosten des Königs nach Preußen. Im Übrigen war auch Prinz Heinrich häufiger Gast (mindestens sechs Mal) am Braunschwei- ger Hof, manchmal im gleichen Jahr wie der König, aber nie mehr mit ihm zusammen wie noch 1751.

75 NLA-StA WF VI Hs 5 Nr. 21, S. 95f. Diesen Bericht zitierte schon, leicht gekürzt, Heinz Röhr: Der Elm. Braunschweig 1962, S. 81 im Zusammenhang mit den Reisen Friedrichs. 76 S. Anm. 72.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Bemerkungen zu Hitlerinterpretationen von Braunschweigern (Deutung und Wahrnehmung von Hitlers Herrschaft und Person) von

Dieter Lent

Braunschweigischer Regierungsrat, Reichskanzler, Diktator: Hitler als historisches Problem

Bekanntlich war Hitler als welthistorische deutsche Persönlichkeit als Deutscher ur- sprünglich primär Staatsbürger des Freistaats Braunschweig, schwor den Diensteid auf die Landesverfassung und führte einen entsprechenden Staatsbürgerausweis.1 Darauf war man bis 1945 stolz und nachher davon peinlich berührt.2 Über Hitler als epochale historische Gestalt ist ungeheuer viel publiziert worden. Schon im Jahre 2003 lagen 60 Biographien oder Teilbiographien sowie etwa 100.000 Detailstudien zu ihm vor.3 Und 1984 erfasste ein wissenschaftlicher Forschungsbericht nicht weniger als 1.500 „Hitlerinterpretationen“ seit 1923.4 Dass zwei Braunschweiger, nämlich der Neuzeithistoriker Professor Karl Lange und der nationalsozialistische Staats- sekretär und SS-Gruppenführer (Generalleutnant) Werner Willikens überraschenderwei- se zur Deutung von Hitlers Herrschaft und Person ganz Wichtiges beigetragen haben, ist in der Region Braunschweig weitgehend unbekannt und soll hier erstmals beleuchtet wer- den. Das soll zugleich Anlass sein, die Hitlerdeutungen von einigen ausgewählten histo- risch relevanten oder prominenten Braunschweigern zu betrachten. Hitlers tyrannische Schreckensherrschaft wird bis heute immer wieder neu und im Er- gebnis kontrovers gedeutet.5 In der neueren Geschichte ist er ohne Beispiel. Hitler übertrifft die beiden politischen Massenmörder Stalin und Mao durch die Erfindung der industriell betriebenen Menschenvergasung und als Alleinverantwortlicher für den Zweiten Weltkrieg mit über 55 Millionen Toten.6 Hinsichtlich der in der neuzeitlichen Geschichte einzigartigen

1 Gunnhild Ruben: „Bitte mich als Untermieter bei Ihnen anzumelden!“ Hitler und Braunschweig 1932- 1935. Norderstedt 2004, S. 51 (Abb. des Ausweises). 2 Dieter Lent: „Ich habe dem Lande großen Nutzen gebracht“: Betrachtungen zu dieser Äußerung Hitlers vom Januar 1945 über seine Arbeit als braunschweigischer Regierungsrat 1932; in: BsJb 91 (2010), S. 228. 3 Ralf Georg Reuth: Hitler. München 2005, S. I. – Zu Hitler-Biographien siehe: Gerhard Schreiber: Hitler. Interpretationen 1923-1983. Ergebnisse und Methoden der Forschung. Darmstadt 1984, S. 302 ff. und passim; Wolf-Rüdiger Hartmann: : Möglichkeiten seiner Deutung; in: Archiv für So- zialgeschichte 15 (1975), S. 519 ff. und 16 (1976), S. 586 ff.; Ulrich von Hehl: Nationalsozialistische Herrschaft. München 1996, S. 64 ff. 4 Schreiber (wie Anm. 3); Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick. 3. Aufl. Reinbek 2002, S. 14. 5 Kershaw (wie Anm. 4), S. 11. 6 Geschichte des Zweiten Weltkrieges (Ploetz). 2. Aufl., Würzburg 1960, Teil 1, S. 80 f.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 136 Dieter Lent globalen Dimensionen seiner Hinterlassenschaft von Zerstörung und Hekatomben von Toten ist er vergleichbar eigentlich nur mit Dschingis Khan und dem Mongolenherrscher Timur mit seinen Schädelpyramiden.7 Beide Tyrannen haben in riesigen Räumen nichts Bleibendes außer Verwüstung und Tod hinterlassen.8 Hitler ist zudem total gescheitert und sein Tod im Kellerbunker unter seiner zertrümmerten Reichskanzlei mit der Verbrennung seiner Leiche in deren Areal ähnelt in seiner Theatralik dem Ende des letzten Assyrerkönigs, der sich 614 v. Chr. bei der Eroberung seiner Hauptstadt Ninive in seinem Palast verbrennen ließ (ähnlich die Selbstverbrennung des sagenhaften altorientalischen Königs Sardanapal 883 v. Chr. beim Angriff auf seine Hauptstadt). Der naheliegende und oft vorgebrachte Vergleich mit Napo- leon (kurze Herrschaftszeit als Völkertyrann, Eroberung halb Europas, Scheitern in Russ- land) ist nur partiell stimmig, weil u. a. Hitler als Feldherr ein Versager war und nichts als Abscheu hinterlassen hat. Seine Taten und Untaten gehören in das Totenbuch der Weltge- schichte und in die Globalhistorie des Kulturvandalismus.9 Seine Maßnahmen in Polen be- zeichnete er selbst 1939 als „Teufelswerk“.10 Goebbels war bewusst, dass die Naziführer bei einem Scheitern als die „größten Verbrecher“ aller Zeiten in die Geschichte eingehen wür- den.11 Schon seit 1936 hat man Hitler immer wieder als „dämonisch“ charakterisiert.12 Der phänomenale Aufstieg dieses Österreichers aus dem Nichts als asozialer Bohe- mien zum Beherrscher halb Europas und Kriegsherrn mit zuletzt rd. 50 Gegnerstaaten ist bis heute für die Geschichtswissenschaft ein Rätsel geblieben. Seine zur Reichskanzler- schaft führende Karriere als deutscher Staatsmann begann ebenfalls ganz unten in einem territorial grotesk zerfetzten Kleinstaat mit der vielbespöttelten Scheinernennung zum unscheinbaren Amt eines braunschweigischen Regierungsrats 1932, woran er sogar in der Agonie seiner Herrschaft seine militärische Umgebung im Februar 1945 erinnerte.13 Er hat dieses Amt nie ausgeübt, was in der NS-Parteihierarchie wohlbekannt war.14 Der ehe- malige braunschweigische Regierungsrat (als „Schriftsteller“ mit Scheinwohnsitz in Braunschweig, Hohetorwall 7 angemeldet),15 hielt sich später für eine völlig einzigartige große historische Persönlichkeit, für einen Mann, so wörtlich, „wie es ihn in der Welt noch nicht gegeben habe“.16 Schon 1938 meinte er, dass er als größter Deutscher in die Geschichte eingehen werde.17

7 Ian Kershaw: Hitler 1889-1936. Stuttgart 1998, S. 9; Gerhard Ritter, Geschichte als Bildungsmacht. Stuttgart 1946, S. 25. 8 Hans Dollinger: Schwarzbuch der Weltgeschichte: 5000 Jahre der Mensch des Menschen Feind. Köln [ca. 2009], S. 130 ff. 9 Dollinger (wie Anm. 8), S. 341 ff.; Alexander Demandt: Vandalismus: Gewalt gegen Kultur. Berlin 1997, S. 306: Nachweise im Register „Hitler“. 10 Kershaw: Hitler 1889-1945. 2. Aufl. München 2009, S. 565. 11 Joachim C. Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches. München 1963, S. 137. 12 Konrad Heiden: Adolf Hitler. Augsburg 2011, S. 307 ff.; Schreiber (wie Anm. 3), S. 386 Register „Dämon“; Hugh R. Trevor-Roper: Hitlers letzte Tage. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1965, S. 70 f. 13 Lent (wie Anm. 2), S. 217 ff. 14 Hartmann Lauterbacher: Erlebt und mitgestaltet: Kronzeuge einer Epoche 1923-1945. Preußisch-­ Oldendorf 1984, S. 53 f. 15 Ruben (wie Anm. 1), S. 49 ff. 16 Joachim Fest: Die unbeantwortbaren Fragen: Notizen über Gespräche mit zwischen Ende 1966 und 1981. Reinbek 2005, S. 168 ff. 17 : Er war mein Chef: Aus dem Nachlass der Sekretärin von Adolf Hitler. Hrsg. von Anton Joachimsthaler. 12. Aufl. München 2004, S. 88.

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Zur Kriegsbilanz des Landes Braunschweig (Menschenverluste, Zerstörungen)

Das Regime dieses grauenvollen Zerstörers und Menschenvernichters hat bekanntlich im Freistaat Braunschweig verheerend gewirkt, was bisher zwar oft verstreut, aber nicht ausführ- lich und zusammenfassend dargestellt worden ist.18 Erinnert sei nachfolgend nur flüchtig zum Thema Verlust- und Zerstörungsbilanz in Stichworten. Der blutige Wahnwitz des Krie- ges steigerte sich von Januar bis Mai 1945 zu täglich (!) 10.000 gefallenen Soldaten.19 Da jeder achte männliche Deutsche im Zweiten Weltkrieg sein Leben verlor, kann man mit rd. 36.000 Todesopfern unter den Soldaten im Land Braunschweig rechnen.20 Die Zahl der Luftkriegsopfer ist für Niedersachsen und das Land Braunschweig nicht genau ermittelt. Jedenfalls sind im Luftgau XI (= fast ganz Niedersachsen, Schleswig- Holstein, Mecklenburg und Hansestädte) im Luftkrieg 77.000 Zivilisten getötet und 90.000 verwundet worden.21 Im Jahre 1945 befanden sich im Land Braunschweig 11.000 Schwerkriegsbeschädigte.22 Nach dem Krieg registrierte man hierzulande 25.000 Ver- misste (1950), 30.000 unbenutzbare Wohnungen23 und 85 zerstörte oder beschädigte Kir- chen.24 Die Kriegsschäden und Verluste an Baudenkmälern, in Archiven, Bibliotheken und Museen wurden 1947 bis 1951 in Niedersachsen, d. h. auch für das Land Braun- schweig, aufgelistet.25 Für die unermessliche Menge der zerstörten Kunstwerke (auch in Privatbesitz) exis- tiert bisher nur eine Übersicht über die stadtbraunschweigischen Kirchen.26 Die Todes- opfer und Leiden der Juden, Häftlinge (u. a. ca. 600 Hinrichtungen im Strafgefängnis Wolfenbüttel), ausländischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, die Zustände in den

18 Die Braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region. Hrsg. von Horst-Rüdiger Jarck und Gerhard Schildt. Braunschweig 2000, S. 981 ff.; Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte

des Braunschweigischen Landes vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Jörg Leuschner u. a., Bd. 3, Hildesheim 2008, S. 452 ff.; Dieter Lent: Zur Geschichte und Bevölkerungsbilanz Niedersach- sens im Zweiten Weltkrieg – Militärgeographische Situation, Menschenverluste, Kriegsopfer und Ge- schädigte im Überblick. In: Beiträge zur niedersächsischen Landesgeschichte. Hrsg. von Dieter Bro- sius und Martin Last. Hildesheim 1984, S. 524-544; Geschichte Niedersachsens. Hrsg. von Gerd Steinwascher, Bd. 5, Hannover 2010, passim. – Zur Kriegsbilanz für Gesamtdeutschland s.: Hans- Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4, München 2003, S. 941 ff. 19 Rüdiger Overmans: Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg. 3. Aufl. München 2004, S. 279. 20 Ders., S. 230 f. und passim. 21 Lent (wie Anm. 18), S. 531 f. 22 Dieter Lent: Kriegsgeschehen und Verluste im Zweiten Weltkrieg. In: Jarck/Schildt (wie Anm. 18), S. 1025-1036, hier: S. 1034. 23 Statistisches Handbuch für Niedersachsen 1950, S. 153. 24 Birgit Hoffmann: Kirchen im Bombenkrieg: Folgen des Luftkriegs 1940-1945 auf dem Gebiet der Braunschweigischen Landeskirche; in BsJb. 85 (2004), S. 160. 25 Archive, Bibliotheken, Museen im Arbeitsgebiet der Historischen Kommission. Übersicht über… die Kriegsschicksale 1939-1945; in: Niedersächsisches Jahrbuch 20 (1947), S. 183 ff. – Die Baudenkmäler im Arbeitsgebiet der Historischen Kommission. Eine Übersicht über ihre Kriegsschicksale…; in: ebd. 21, 1949, S. 259 ff.; ebd. 22, 1950, S. 222 ff.; ebd. 23, 1951, S. 265 ff. 26 Wolfgang A. Jünke: Zerstörte Kunst aus Braunschweigs Gotteshäusern… Groß Oesingen 1994.

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KZ-Außenkommandos und Lagern sind in den letzten Jahrzehnten für die Region Braun- schweig gut erforscht und dargestellt worden.27

Grundlegende Hitler-Interpretationen der Braunschweiger W. Willikens und K. Lange

Im Land (Freistaat) Braunschweig lebten im Jahr 1939 rd. 570.000 Einwohner. Die loka- len kleinen Funktionäre der NSDAP auf dem Lande sind in einem Handbuch detailliert namentlich genannt,28 die höherrangigen wichtigeren Parteiakteure bisher jedoch nicht systematisch und gründlich katalogmäßig erfasst und deswegen vielfach unbekannt.29 Von den braunschweigischen Akteuren des NS-Regimes hat einer posthum eine besonde- re Bedeutung erhalten. Es erstaunt, dass eine einzige eher nebensächliche Rede eines eigentlich zweitrangigen Vasallen des Diktators wie die des Staatssekretärs Werner Wil- likens zum Leitfaden der derzeit führenden 1998-2000 erschienenen großen zweibändi- gen Hitlerbiographie des englischen Historikers Ian Kershaw gewählt worden ist. Dieser überragende Hitlerkenner (geb. 1943) war Professor für Moderne Geschichte an der Uni- versität Sheffield und hatte vorher zwei glänzend fundierte Bücher zu Hitler vorgelegt.30 Er stellt darin die „Hitler-Rezeption“ bei den Deutschen und die Forschungskontroversen über Ursprung und Wesen des NS-Staates dar. Die Hauptfrage ist für ihn nicht Hitler als Person, sondern wie seine Macht bei den Deutschen sich entwickeln und bis zum Ende halten konnte. Einen Schlüsselsatz, ein Leitmotiv und Deutungsmuster für das Hitlerre- gime fand er in einer von ihm als „ungewöhnlich“ bezeichneten Rede von Willikens am 21.2.1934 in Berlin im Reichsernährungsministerium vor Vertretern der Landwirtschafts- ministerien, wo er sagt: Da der Führer nicht alle Einzelheiten von oben her befehlen kann, ist es „die Pflicht eines jeden, zu versuchen, im Sinne des Führers ihm entgegenzuarbei- ten“, ohne auf Anweisung von oben zu warten.31 Die archivalische Quelle für diese Rede lagert im Nds. Staatsarchiv Oldenburg.32 Dem Kapitel 13 seines ersten Bandes gab Kershaw den Titel „Dem Führer entgegenarbeiten“. Mit diesem Satz charakterisiert Kershaw das verbindende Element zwischen Volk und Diktator sowie den Antriebsmotor bei den schrecklichen welthistorischen Geschehnissen der zwölf Unheilsjahre. Der

27 siehe alle entsprechenden Literaturhinweise in Anm. 18. – Zusätzlich: Topographie der Erinnerung: Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus im Gebiet der Braunschweigischen Landschaft. Hrsg. von Frank Ehrhardt. Braunschweig 2004 (mit weiterführenden Literaturhinweisen); Reisefüh- rer durch Braunschweig und Umgebung 1930-1945: Der Löwe unterm Hakenkreuz. Hrsg. von Reinhard Bein und Ernst August Roloff. Göttingen 2010 (mit Literaturhinweisen). 28 Adressbuch der Landgemeinden des Landes Braunschweig, 7. Aufl. Braunschweig 1938. 29 Eine Auswahl der allerwichtigsten Personen s.: Braunschweigisches Biographisches Lexikon: 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Horst-Rüdiger Jarck und Günter Scheel. Hannover 1996 (künftig abge- kürzt: BBL 1996). – Etwa 60 vornehmlich durch die Geburtsorte mit dem Land Braunschweig in Ver- bindung stehende NS-Personen werden genannt in: Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Koblenz 2011 (erfasst 4.300 Namen). 30 Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos. Stuttgart 2002; ders. (wie Anm. 4). 31 Ders. (wie Anm. 7), S. 27, S. 665. 32 Ebd., S. 756.

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Hitlerbiograph J. Fest allerdings hielt Willikens Redewendung als Leitlinie für eine Hitlermonographie für deplatziert und ungeeignet, weil der Diktator dabei hinter den Zeitverhältnissen verdeckt bleibt.33 Wer war dieser Parteifunktionär und Staatsbeamte aus dem Kreis Goslar, dem post- hum eine so wichtige Erklärungskompetenz für das Hitlerregime zugesprochen wird? Werner Willikens, 1893 in Vienenburg geboren und 1961 in Wolfenbüttel gestorben, war nach dem Abitur in Goslar Artillerieoffizier im Ersten Weltkrieg. Nach dem Landwirt- schaftsstudium in Halle war er seit 1924 Landwirt in Groß Flöthe (Kreis Goslar), dann 1925 Kreisleiter der NSDAP in Goslar, von 1928 bis 1945 Reichstagsabgeordneter dieser Partei für den Wahlkreis Südhannover-Braunschweig. Von 1931 bis 1933 fungierte er als Präsident des Reichslandbundes, ab 1933 als Stellvertretender Reichsbauernführer und Staatssekretär im Preußischen Landwirtschafts- und später Reichslandwirtschaftsminis- terium, ferner 1935 als Chef des Siedlungsamtes im SS-Reichssicherheitshauptamt.34 Der boshafte Propagandaminister Goebbels notierte über ihn einmal 1930: „ein selten däm- licher Hund“.35 Die zum Teil kritischen wissenschaftlichen Kontroversen zur Tragfähigkeit des Wil- likens-Diktums in Kershaws großer Hitlerbiografie zu referieren, ist hier nicht der Ort. Das gleiche gilt für das unübersehbare Stimmengewirr in der Geschichtsforschung zum noch immer hochaktuellen „Problem (bzw. Rätsel) Hitler“.36 Eines der umstrittensten Hauptprobleme ist dabei immer, ob die Person Hitlers selbst oder die Verhältnisse aus- schlaggebend für das Dritte Reich waren. Der berühmte Historiker Jacob Burckhardt brachte dieses für jede Biographie zentrale Problem auf die Formel „Das Individuum und das Allgemeine“. In das Dickicht der Hitler-Interpretationen vor 1933 begab sich der braunschweigische Gymnasialdirektor und Neuzeithistoriker Karl Lange (1893-1983) mit der Pionierleistung des Buches: Hitlers unbeachtete Maximen. „Mein Kampf“ und die Öffentlichkeit (Stutt- gart, Berlin, Köln, Mainz 1968). Dieses Standardwerk von 211 Druckseiten über das Hitlerbild vor 1933 ist so wichtig für die Hitlerforschung geworden, dass es bei der knapp- gehaltenen Literaturauswahl zum Artikel „Hitler“ in der vorletzten Auflage des Brock- haus-Lexikons an siebenter Stelle unter den nur 26 Literaturhinweisen genannt wird!37 Mit seinem Hitler-Buch und der Monographie „Marneschlacht und die deutsche Öffent- lichkeit“ (1974) war er damals ein Pionier des danach aufblühenden Geschichtswissen- schaftszweiges „Rezeptionsforschung“, d. h. der Erforschung von zeitnaher oder späterer Wahrnehmung, Verarbeitung und Beurteilung von historischen Geschehnissen oder Per- sonen. G. Schreiber würdigt Langes Hitlerbuch als sehr frühes und beispiellos kenntnis- reiches Werk eingehend.38 Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ sowie Hitlers „Mein

33 Joachim C. Fest: Hitler. 2. Aufl. Berlin 2004, S. X. 34 BBL 1996 (wie Anm. 29); Klee (wie Anm. 29), S. 678 f.; Statisten in Uniform: Die Mitglieder des Reichstags 1933-1945. Bearb. von Joachim Lilla. Düsseldorf 2004, S. 730. 35 Klee (wie Anm. 29), S. 678. 36 Forschungsberichte s. u. a.: Kershaw (wie Anm. 4), S. 14, S. 114-146 und passim; Schreiber (wie Anm. 3). 37 Brockhaus: Die Enzyklopädie. 20. Aufl., Bd. 10. Leipzig usw. 2001, S. 123. 38 Schreiber (wie Anm. 3), S. 375: Nachweise im Register.

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Kampf“ waren als Memoirenwerke der wirkungsmächtigsten deutschen Politiker der letz- ten beiden Jahrhunderte Bestseller (250.000 Exemplare vor 1933 und später insgesamt 6 Millionen Exemplare des Kampfbuchs). Doch total unterschiedlicher in Stil, Gedanken- gang und politischer Tendenz sowie in der Leserresonanz konnten beide Werke überhaupt nicht sein. Bedauerlicherweise existiert keine ausführlichere oder mindestens angemesse- ne biographische Würdigung über den doch bedeutenden Neuzeithistoriker Karl Lange, dessen Forschungsschwerpunkte mit mindestens 15 Veröffentlichungen die Bismarckzeit und die Zeitgeschichte waren.39 Seine siebenjährige Kriegsgefangenschaft in Frankreich seit 1915 hat er in einem Büchlein beschrieben [1934]. Von 1950 bis 1958 war er Direktor des Wilhelmgymnasiums in Braunschweig. Er war Mitglied der Deutschen Demokrati- schen Partei und vertrat nach der Habilitation 1930 als Privatdozent und dann als außer- planmäßiger Professor von 1949-1963 an der Technischen Hochschule Braunschweig das Fach „Neuere Geschichte“. Als durchaus innovativer Geschichtsforscher fügt sich Lange in die Reihe der z. T. bedeutenderen Historiker aus dem Lande Braunschweig wie F. D. Häberlin, H. Baumgarten, Ricarda Huch, Oswald Spengler, H. Heffter, T. Vogelsang und Helmut Beumann ein.40 Im Personenregister seines grundlegenden Werkes nennt er rd. 300 Namen zum The- ma. Im ersten Kapitel mit dem Titel „Die Nichtbeachtung des Buches vor dem 30. Januar 1933“ untersucht Lange die Reaktionen von , Universitäten, christlichen Kon- fessionen, politischen Parteien und Politikern. Das zweite Kapitel „Das Echo im Ausland“ ist gegliedert nach Ländern in Europa und Amerika. Im Schlusskapitel wird die Nicht- beachtung von „Mein Kampf“ als Glücksfall für Hitler gewertet, weil er darin seine Deutschland radikal umgestaltenden und den Weltfrieden zerstörenden politischen Ziele hemmungslos dargelegt hatte (Kampf ums Dasein und Recht des Stärkeren in Natur und Menschheit, Lebensraumidee, Geschichte als ewiger Krieg, Rassenkampf, Vernichtung des „jüdischen Marxismus“, Judeneliminierung, Ostexpansion nach Russland, geistige Unterjochung durch Propaganda usw.). Obwohl nach Langes Feststellung „Mein Kampf“ eine entscheidende Bedeutung für Hitlers Politik nach dem 30. Januar 1933 gehabt hat, haben seine Gegner in Deutschland und die Staatsmänner in der ganzen Welt das Buch zu wenig studiert (mit Ausnahme von Churchill und Stalin). Der miserable, sowohl grobe wie gestelzte, ungebildete und umständliche Stil von Hitlers Bekenntnisbuch schreckte potenzielle Leser ab, wie der Hitler-Biograph J. Fest ironisch vorführt.41 Angeblich hat übrigens der Braunschweiger „alte Kämpfer“ Karl Fiehler (1895-1969) stenographische Hilfsdienste bei der Verfertigung von „Mein Kampf“ für Hitler im Landsberger Gefäng- nis 1923/24 geleistet.42 Erstaunlich ist die von Lange aufgezeigte Unkenntnis von „Mein Kampf“ bzw. die Ahnungslosigkeit gegenüber Hitlers Absichten und politischer Befähi-

39 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 366 f.; Braunschweiger Stadtlexikon. Hrsg. von Manfred Garzmann u. a. Braunschweig 1996, S. 86, S. 145; Technische Universität Braunschweig 1745-1995. Hrsg. von Walter Kertz. Hildesheim usw. 1995: S. 884, S. 911 Register: „K. Lange“; Niedersächsisches Landesarchiv – Staatsarchiv Wolfenbüttel – (künftig abgekürzt: NLA-StA WF): 4 Nds Zg. 2011/22 Nr. 118; ebd. 3 Nds 190 (darin: Liste seiner Veröffentlichungen, Vorlesungen und Vorträge bis 1945). 40 Alle genannten Historiker bis auf Helmut Beumann in BBL 1996 (wie Anm. 29) aufgeführt. 41 Joachim C. Fest: Hitler: Eine Biographie. Frankfurt/M. 1973, S. 290 ff. 42 Klee (wie Anm. 29), S. 149.

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gung, seiner künftigen Rolle als welthistorischer Menschenbezwinger in Kreisen der Ge- neralität (u. a. Reichswehrminister General Groener), beim Reichskanzler Brüning, dem Diplomaten Ernst von Weizsäcker, dem Politiker Theodor Heuß, dem Universalhistoriker Oswald Spengler und vielen anderen. Einige Gegner von Hitler indes erkannten in schar- fen Analysen seine Gefährlichkeit (u. a. der Nationalbolschewist Ernst Niekisch) (Nach- weise zum Folgenden s. Personenregister in Langes Werk S. 208 ff.). Sogar ohne die Kenntnis von „Mein Kampf“ äußerte der später weltberühmt gewordene englische Uni- versalhistoriker Toynbee in einem Gespräch mit Hitler 1936 Befürchtungen hinsichtlich eines gefahrdrohenden möglichen Krieges des „Führers“ gegen Russland (Lange hat mit Toynbee deswegen sogar korrespondiert).43 Andere Ergebnisse von Langes Analysen sind (Nachweise zum Folgenden s. Langes Personenregister): Auch Psychologen und Psychia- ter haben eine Erklärung für den rätselhaften Charakter des Diktators gesucht, fanden aber keine Geisteskrankheit in klinischem Sinne. Der bekannte Philosoph Graf Hermann Keyserling sah in Hitler den Typ des Selbstmörders entsprechend der Todesverliebtheit des deutschen Volkes in der historischen Zwangslage der ständigen „Nibelungennot“.44 Churchill hat 1935 „Mein Kampf“ gelesen, 1939 einen Essay über Hitler verfasst und be- schreibt ihn als Charakter mit dunklen Seiten und hassgetrieben. In seinem berühmten Memoirenwerk „Der Zweite Weltkrieg“ (1956, S. 21) bezeichnet er ihn als „Wahnsinnigen, von dämonischer Wildheit“, erfüllt von beispiellosen Hassgefühlen. Wie interpretiert K. Lange selbst in Kenntnis der zahlreichen von ihm ermittelten Analysen den Diktator? Nur verstreut, nicht konzentriert hebt er Folgendes an Hitler her- vor. Eine äußerst tiefschürfende und in allen mir bekannten Hitlerinterpretationen nie vorgebrachte frappierend einfache, aber jedermann einleuchtende Erkenntnis von Lange lautet: „… ein Charakter ist nur im Handeln zu beobachten und zu erkennen.“ Das ließ sich auch auf den Diktator anwenden, denn „Hitler verstand es, sein Wesen immer wieder zu verhüllen“.45 Meines Erachtens wäre der erste Satz als Motto für eine Hitlerbiographie geeignet. Denn er entspricht genau dem Urteil von Hitlers Intimus Albert Speer, der ihn als rätselhaft nicht zutreffend charakterisieren konnte („undurchschaubar“).46 Wesentli- che Charaktereigenschaften waren in Langes Sicht Hitlers Wille zur Macht, Rücksichts- losigkeit, Amoralität, Verstellungskunst, monomanische Unbelehrbarkeit, Maßlosigkeit,47 utopische Wahnideen, Rätselhaftigkeit.48 Als Redner war er ein „Massensuggereur“ mit

43 Karl Lange: Hitlers unbeachtete Maximen: „Mein Kampf“ und die Öffentlichkeit. Stuttgart-Berlin- Köln-Mainz 1968, S. 117 f., S. 197. 44 Hitlers Selbstmordneigung und seit 1944 Vernichtungsdrang gegen das deutsche Volk beschreiben je- weils passim die o. g. Hitlerbiographien von Fest (wie Anm. 41) und Kershaw (wie Anm. 10) sowie Joachim C. Fest: Der Untergang: Hitler und das Ende des Dritten Reiches. Reinbek 2003. – Schon An- fang November 1945 hatte der britische Historiker Trevor-Roper bei seinen Nachforschungen erkannt, dass Hitler gemäß seiner Devise „Weltmacht oder Untergang“ nach dem Scheitern seiner Weltmachts­ pläne einen Untergang für Deutschland inszenieren würde: s. Hugh R. Trevor-Roper: Hitlers letzte Tage. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1965, S. 77 ff. 45 Lange (wie Anm. 43), S. 151. 46 Albert Speer: Spandauer Tagebücher. Frankfurt/M. 1975, S. 633 f. 47 Lange (wie Anm. 43)., S. 12. 48 Ebd., S. 12, S. 26, S. 150.

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pathologisch „dranghaften Anwandlungen auch auf allen anderen möglichen Gebieten“.49 Lange war offenbar stark beeindruckt vom Buch des Psychiaters Johann Recktenwald „Woran hat Adolf Hitler gelitten?“ (1963), von dem er den erwähnten für die Hitler-Inter- pretation originellen Drangbegriff übernahm.50 Die sogenannten psychohistorischen Deutungen gelten im Falle Hitlers inzwischen als eher problematisch.51 Eine Vielzahl von rd. 55 hochinteressanten psychologischen Erklärungsversuchen der Person Hitlers hat nebenbei bemerkt der Psychiater Lange-Eichbaum in einem weitverbreiteten Buch zu- sammengetragen.52 Er hält ihn in Anlehnung an den berühmten Psychiater Oswald Bum- ke für einen schizoiden Psychopathen, aber wie andere Psychologen auch nicht für kli- nisch geisteskrank.53 Eine originelle psychohistorische Deutung des Hitlerismus lieferte übrigens der weltberühmte Psychologe Carl Gustav Jung in seinem Aufsatz „Wotan“ (1936), worin er das Wiederaufbrechen des vom Christentum unterdrückten und ins Unterbewusste abgedrängten irrationalistischen germanischen Heidentums im entfessel- ten „furor teutonicus“ des Dritten Reiches beschrieben hat. Hitler gab als Beruf stets „Schriftsteller“ an (auch im Amtsblatt der braunschweigischen Staatsverwaltung für das Jahr 1932, 11. Jg., S. 41). Über sein Buch urteilt Lange: kein anziehender Schriftsteller (auch nicht als Massenlektüre), fabriziert von einem Redner als Sammlung von Monolo- gen, langweilig, schwere schwülstige Weitschweifigkeit, unlesbar, fast surrealistische Schau der Welt.54 Ob eine stärkere Beachtung von „Mein Kampf“ die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler hätte verhindern können, lässt Lange offen. Jedenfalls war die Nicht- beachtung des aggressiven Elaborats ein Glücksfall für ihn.55 Zu Ende seiner Monogra- phie präsentiert Lange als Ergebnis einer Befragung von 120 politisch interessierten Per- sonen aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis, dass nur 27 Personen (!) „Mein Kampf“ vor 1933 ganz oder teilweise gelesen hatten und dass dessen Inhalt auch noch damals – 1968 – wenig bekannt war. Auch Lange selbst hat erst 1934 einige Kapitel des Buches gelesen.56 Eine Ergänzung zu Langes Buch bietet Philipp W. Fabry (Mutmaßungen über Hitler. Urteile von Zeitgenossen, Düsseldorf 1969). Mit sehr vielen interessanten Zitaten kommen laut seinem Personenregister etwa 400 nach Gesellschaftsgruppen und Parteien sowie Ausland gegliederte Personen zu Wort. Im Gegensatz zu Lange urteilt Fabry, dass Hitlers Gegner sein Kampfbuch „eingehend“ gelesen hätten. Er war ein Meister des Lü-

49 Ebd., S. 25 f., S. 146, S. 173, S. 175. 50 Ebd., S. 26, S. 173, S. 175, S. 150, S. 203 ff. 51 Hartmann 1975 (wie Anm. 3), S. 530; Schreiber (wie Anm. 3), S. 316 ff. und passim: s. Register S. 390. 52 Wilhelm Lange-Eichbaum: Genie, Irrsinn und Ruhm. 6. Aufl. München 1967, S. 381-388. 53 Lange (wie Anm. 43), S. 26. 54 Ebd., S. 145 ff., S. 159. 55 Ebd., S. 147 f. – In einer voluminösen Studie hat Othmar Plöckinger jüngst K. Langes bis heute als wissenschaftliche Standardmeinung verfestigte These von Hitlers Kampfbuch als unbeachtetem und „ungelesenem“ Bestseller bestritten (Plöckinger: Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922-1945. 2. Aufl. München 2011, u. a. S. 1). Auf 400 (!) Druckseiten untersucht er die Rezeptionsge- schichte von „Mein Kampf“ in der Publizistik und folgert, dass das Buch angemessen rezipiert worden sei. Ob Plöckingers Thesen und seine Kritik an Lange angesichts seiner selektiven Quellenbasis im Spezialsektor Publizistik Bestand haben wird, kann erst die künftige Forschung erweisen. 56 Ebd., S. 32 ff., S. 161 ff.

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gens („es lügt aus ihm“) und der Verstellung. Deshalb konnte man ihn nicht richtig deuten und erkannte nicht seinen radikalen total egomanischen Machttrieb.57 Heute schwer nach- vollziehbar ist die von Fabry nachgewiesene Blindheit vieler führender und erfahrener Politiker gegenüber dem Parteiführer Hitler: Reichskanzler Brüning (= nur eine vorüber- gehende Fiebererscheinung, das Gegenteil eines Führers, leicht beeinflussbar) und Reichswehrminister General Groener (= ein ordentlicher, bescheidener Mensch, seine Ziele sind gut). Nur Hitlers ehemaliger Mitstreiter und bis 1928 nationalsozialistischer Reichstagsabgeordnete General Ludendorff warnte 1933 vor dem „größten Demagogen aller Zeiten“.58 Hitlers staatspolitisches Verhältnis zum Land Braunschweig, dessen Hauptstadt er neun Mal besucht hat und auf dessen Verfassung er seinen Amtseid abgelegt hatte, müss- te einmal speziell detaillierter als bislang untersucht werden.59 Im Jahr 1943 verweist Hitler als Fürsorge für die Arbeiter auf die Gründung der Stadt Salzgitter mit ihren 100.000 Einwohnern und die notwendigen modernen Infrastrukturplanungen.60 In den berühmten Tischgesprächen im Führerhauptquartier 1941-1942 kommt Braunschweig im- merhin zwei Mal vor: Er ordnete an, eine Art Landesregierung für Braunschweig solle bei einer Reichsneugliederung erhalten bleiben, damit die Landeshauptstadt als kulturelles Zentrum ihren Rang behält. Auch fiel ihm bei seinem Besuch in Braunschweig (wohl 1935) eine unvergesslich schöne blonde Frau auf. Den „Kleinsiedler“ Heinrich den Löwen lehnte er dagegen wegen seiner Reichsfeindlichkeit ab, schätzte aber den „nordischen Rassekern“ in Niedersachsen hoch ein.61 Ganz im Gegensatz zu seinem Weltanschau- ungshüter und Parteiphilosophen Alfred Rosenberg, der Heinrich den Löwen als einen der größten Deutschen feierte, hatten doch seine Eroberungszüge nach Osten die deutsche „Schicksalsfrage nach Lebensraum und Brot… durch die Niedersachsen mit dem Schwert gelöst, welches vor dem Pflug geschwungen wurde.“62

Führende Nationalsozialistische Akteure aus dem Land Braunschweig

Willikens und Lange sind unverzichtbar grundlegende Interpreten des „Problems Hitler“. Genau so aufschlussreich wäre das jeweilige Hitlerbild der namhaften Täter, Mittäter, Mitwirker und Aktivisten im Hitlerregime vor und besonders nach 1945, kurzum der na- tionalsozialistischen Akteure aus dem Lande Braunschweig, die ihrem Führer „zuarbeite-

57 Ebd., S. 246 f. 58 Philipp W. Fabry: Mutmaßungen über Hitler: Urteile von Zeitgenossen. Düsseldorf 1969, S. 85, S. 91 ff., S. 157 f. 59 Lent (wie Anm. 2); Erwähnungen von Braunschweiger Betreffen siehe: Hitler, Reden, Schriften, An- ordnungen Februar 1923 bis Januar 1933. Hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte. München 2003, Bd. VI (= Register usw.): Personenregister, Ortsregister, Sachregister (u. a. Stichworte „Braunschweig“, „Klag- ges“ usw.). 60 Rainer Zitelmann: Hitler. 2. Aufl. Stuttgart 1989, S. 480. 61 Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942. Hrsg. von Percy Ernst Schramm. Stuttgart-Degerloch 1963, S. 162, S. 165, S. 309, S. 173 f., S. 230, S. 478, S. 355. 62 Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. 94. Aufl. München 1936, S. 478 f., S. 523, S. 637. – Dort auch S. 435 ff. über Wilhelm Raabe als urnordisch-germanischen Dichter!

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 144 Dieter Lent ten“, wie Willikens Formel lautet. Eine unvollständige Auswahl ist im Braunschweigi- schen Biographischen Lexikon nachgewiesen und im ausführlichsten Personenlexikon zum Dritten Reich werden etwa 65 durch die Geburtsorte mit dem Land Braunschweig in Verbindung stehende Personen genannt.63 Hervorgehoben seien hier einige herausragende Führungspersönlichkeiten.64 Es ist erstaunlich, dass aus einem so kleinen Land (unter den 17 Reichsländern rangierte Braunschweig 1935 erst an 12. Stelle!) doch eine bemerkens- werte Anzahl wichtiger NS-Akteure stammte. Höchste Funktionäre der NSDAP waren der Ministerpräsident und NS-Ideologe D. Klagges, der Gauleiter J. Eggeling und der Reichsleiter K. Fiehler (Mitgliedsnummer der NSDAP Nr. 37!). Der nichtbraunschweigi- sche Agrarideologe und Reichslandwirtschaftsminister R. Darré war eng mit der soge- nannten „Reichsbauernstadt“ Goslar verbunden. Hohe Wehrmachtsführer waren der Ge- neralfeldmarschall W. Keitel sowie die Generale A. Heusinger und H. Krebs. Generale der Waffen-SS waren H. Gille, F. Jeckeln und Kurt Meyer („Panzermeyer“). Im Staats- apparat arbeiteten als Staatssekretäre F. Alpers und W. Willikens sowie als Diplomat Friedrich Gaus († 1955). SS-Verbrecher im Offiziersrang und am Holocaust beteiligt wa- ren der Massenliquidator F. Jeckeln, der Einsatzgruppenmordkommandoführer Oswald Schäfer, Gerhard Clages () und Willi Lages (Sicherheitsdienst). Unmenschliche medizinische Experimente verübte der KZ-Arzt R. Rosenthal. Der Kommandant der Konzentrationslager Auschwitz (1943/44) und danach in Natzweiler F. Hartjenstein war aus Peine (seit 1978 im Regierungsbezirk Braunschweig) gebürtig. An der Euthanasieak- tion beteiligt war der Jurist Gerhard Bohne. In der Luftwaffe hatte der Luftfahrtingenieur Professor Ernst Steinmann eine hohe technische Leitungsposition inne.65 Für die Rüs- tungsindustrie der sogenannten „Wunderwaffen“ unersetzlich wichtig war als Giftgasex- perte der Chemiker Gerhard Schrader (1903-1990), Erfinder der höchstwirksamen Kampfstoffe Tabun und Sarin.66 Großbauten in Berlin errichtete der Luftfahrtarchitekt Ernst Sagebiel (1892-1970).67 Der Geograph Ewald Banse begründete das Fach „Wehr- wissenschaft“. Als Experiment schlug u. a. der Anthropologe und Rassenforscher Hans Weinert die Kreuzung eines „Afrikanegers“ mit einer Schimpansin (!) vor. Im militäri- schen Widerstand wirkten der Oberstleutnant Werner Schrader (20. Juli 1944) und in russischer Gefangenschaft der General O. Korfes.68 Der Komponist Norbert Schultze

63 BBL 1996 und Klee (wie Anm. 29). 64 Bis auf Korfes, Steinmann, Sagebiel, N. Schultze und W. Schrader sind alle nachstehend genannten Personen bei Klee (wie Anm. 29) nachgewiesen. – In Statisten in Uniform (wie Anm. 34) werden zu- sätzlich sehr ausführlich vorgestellt: Darré, Eggeling, Fiehler, Jeckeln, Klagges, Lauterbacher und Wil- likens. – Zum SS-Massenmörder F. Jeckeln siehe auch: Deutschlands Generale und Admirale. Hrsg. von Dermot Bradley u. a. Teil 5, Bd. 2. Bissendorf 2005, S. 343 ff. – Wenig bekannt ist hierzulande, dass der berüchtigte Einsatzgruppenmörder (90.000 Tote!) SS-General Otto Ohlendorf (1907-1951) ein Bauernsohn aus Hoheneggelsen (zwischen Braunschweig und Hildesheim) war (s. Bradley/Generale, Bd. 3, Bissendorf 2008, S. 403 ff. und Neue Deutsche Biographie. Bd. 19. Berlin 1999, S. 485 f.). 65 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 589. 66 Neue Deutsche Biographie, Bd. 23, Berlin 2007, S. 508; Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 5, Halbband 2. Stuttgart 1999, S. 705 ff.; Gerd R. Ueberschär und Rolf-Dieter Müller: 1945: Das Ende des Krieges. Darmstadt 2005, S. 69 ff. 67 Ernst Kle: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt/M. 2007, S. 507. 68 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 341 f.

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(1911-2002) vertonte viele populäre Propagandakriegslieder und Filmmusik (u. a. „Kol- berg“ 1945), aber auch das weltberühmt gewordene nachdenkliche Lied „Lili Marleen“.69

Braunschweigische Hitler-Interpretationen (Allgemeines)

Nachfolgend sollen Hitlerinterpretationen von ausgewählten Braunschweigern vorgestellt werden, wobei im Rahmen eines Aufsatzes Verkürzungen der entsprechenden Äußerun- gen in Kauf genommen werden müssen. Hitlerinterpretationen, d. h. das Hitlerbild von bestimmten Braunschweigern ist insofern interessant, weil Führungsrepräsentanten des Freistaats zwischen Harz und Heide im Staat (Ministerpräsident Klagges), in der Landes- kirche (Bischof Johnsen) usw. Nationalsozialisten waren und drei Spitzenoffiziere der Wehrmacht ständigen unmittelbaren Kontakt mit Hitler hatten (Generale Keitel, Heusin- ger, kurzzeitig Krebs). Zum Hitlerbild der größtenteils evangelischen braunschweigischen Bevölkerung (im Jahr 1939 rd. 459.000 Kirchenmitglieder) hat der Kirchenhistoriker Dietrich Kuessner in seinen zahlreichen Veröffentlichungen sehr viele Beiträge geleistet.70 Das Verhalten dieser Landeskirche im NS-Regime verlief in drei Phasen: gewaltsamer Nazifizierungsversuch beantwortet mit Kirchenkampf, dann Kooperation, und schließ- lich Schulterschluss mit dem Führerstaat im Weltkrieg. Eine starke Affinität zum Natio- nalsozialismus war ein Charakteristikum, hinzu kam die elementare deutschgläubige Christlichkeit des Ministerpräsidenten Klagges.71 Die Beschäftigung mit Hitler als politischer Figur begann im Braunschweigischen u. a. mit dem Artikel „Ein Kriegskamerad erzählt“ im sozialdemokratischen Parteiblatt „Volksfreund“ vom 3. März 1932.72 Diesen Artikel hat ein der SPD nahestehender ehema- liger Soldat des bayrischen Infanterie-Regiments „List“ namens Josef Stettner verfasst, in dem Hitler den ganzen Ersten Weltkrieg gedient hatte. In diesem Artikel behauptete Stett- ner, dass der mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse dekorierte Hitler als Meldegänger nur zwischen dem Regimentsstab und dem hinter der Front belegenen Bataillonsstab unter- wegs war und deshalb kaum an Kampfhandlungen teilnahm. Hitlers angebliches „Hel- dentum“ an der Front sei eine Propagandalegende. Tatsächlich ist ein Historiker in einem umfangreichen Buch sensationellerweise jüngst zu einer ähnlichen Einschätzung von Hit- lers Tapferkeit im Weltkrieg gekommen: das Eiserne Kreuz verdanke er hauptsächlich nur seinem guten Verhältnis zum Regimentsstab.73 Bisher konnte man dem Diktator alle posi- tiven Eigenschaften absprechen, nur nicht den mit dem Eisernen Kreuz dokumentierten soldatischen Mut. Ob diese These Bestand hat, wird die wissenschaftliche Diskussion darüber erweisen.

69 Neue Deutsche Biographie. Bd. 23. Berlin 2007, S. 707 ff. 70 Dietrich Kuessner: Ansichten einer versunkenen Stadt. Die Braunschweiger Stadtpfarrkirchen 1933- 1950. Wendeburg 2012, passim; ebd. Schriftenverzeichnis von Kuessner: S. 666 f. 71 Dietrich Kuessner: Die braunschweigische Landeskirche im 20. Jahrhundert. In: Von der Taufe der Sachsen zur Kirche in Niedersachsen. Geschichte der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braun- schweig. Hrsg. von Birgit Hoffmann u. a. Braunschweig 2010, S. 378-405. 72 Thomas Weber: Hitlers Erster Krieg. Berlin 2011, S. 136 ff., S. 141, S. 495. 73 Ebd., S. 136 ff., s. Register „Stettner“ S. 584.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 146 Dieter Lent

Zivilpersonen und Hitler

Der Gesandte bei der Braunschweigischen Landesvertretung in Berlin Friedrich Boden (1870-1947) galt als „Senior des Reichsrats“, als er am 25.2.1932 in Berlin Hitler als braunschweigischen Regierungsrat vereidigte.74 Boden lehnte die NSDAP ab und charak- terisierte Hitler bei dieser Begegnung als höflich und bescheiden, aber als nicht imponie- rende Persönlichkeit.75 Als unauffällige unscheinbare Erscheinung wirkte Hitler eben- falls auf die später zu nennenden Braunschweiger A. Winnig und O. Spengler. Die Begegnung von Herzog Ernst August und Viktoria Luise im Jahre 1933 mit Hitler, der sie nach Berlin eingeladen hatte, ist nur insofern von Interesse, als es sich um den ehe- maligen Landesherrn und somit dem Souverän des Herzogtums Braunschweig handelt und der Gesprächsinhalt von Belang ist. Hitler zeigte sich außerordentlich höflich und freundlich in diesem ausführlichen Gespräch.76 Aufmerksam hörte er zu, als Ernst Au- gust die seit 1918 diskutierte Länderneugliederung in Nordwestdeutschland erörterte und eine Zusammenfassung des hannoversch-braunschweigischen Raumes auf Stammes- grundlage, d. h. unausgesprochen eines Reichslandes Niedersachsen ansprach.77 Hitler antwortete unpräzise zu diesen Problemen und hat bis 1945 die Neugliederung des Rei- ches in Gaue o. ä. aufgeschoben.78 Ganz zu Anfang setzte das Herzogspaar nationale Hoffnungen in den Nationalsozialismus. Dass Hitler die Fürsten jedoch hasste, merkten Ernst August und Viktoria Luise nicht zuletzt, als ihre vier Söhne von 1941 bis 1944 aus der Wehrmacht entlassen wurden.79 Der von Goebbels wegen seines Machtdrangs als „König von Braunschweig“ bespöt- telte80 braunschweigische Ministerpräsident (1891-1971) nahm unter den 17 Regierungschefs der Reichsländer im Dritten Reich 1933 eine Sonderstellung ein: als lange Zeit vielbeachteter nationalsozialistischer Ideologe (auf dem Gebiet der Wirt- schaft, Weltanschauung und Religion, Pädagogik) und als Organisator der Einbürgerung von Hitler in Braunschweig 1932.81 Die Machtergreifung im Lande betrieb er durch mör- derische Terrormethoden mit etwa 25 Todesopfern unter den Regimegegnern – eine

74 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 74 f.; Der Reichsrat. Ein biographisches Handbuch. Bearb. von Joachim Lilla. Düsseldorf 2006, S. 22 f.; Lent (wie Anm. 2), S. 217 ff. 75 NLA-StA WF: 250 N 295. 76 Herzogin Viktoria Luise: Ein Leben als Tochter des Kaisers. 3. Aufl. Göttingen 1965, S. 273 f. 77 Dieter Lent: Das Niedersachsenbewusstsein im Wandel der Jahrhunderte. In: Niedersachsen. Hrsg. von Carl Haase. Göttingen 1971, S. 27-50; Der Weg zum Lande Niedersachsen: Vom Stammesgedan- ken zum Bundesland (Ausstellungskatalog). Bearb. von Dieter Lent. Göttingen 1971; Steinwascher (wie Anm. 18), S. 627 ff.; Thomas Vogtherr: Landesgeschichte und Politik. Georg Schnath und die Begründung des Landes Niedersachsen. In: NdsJb 83 (2011), S. 1 ff. 78 Dieter Lent: Vom Freistaat zum Verwaltungsbezirk. Der verfassungs- und verwaltungspolitische Sta- tuswandel des Landes Braunschweig 1918 bis 1978. In: Übergang und Neubeginn… Niedersachsens in der Nachkriegszeit. Redaktion Dieter Poestges. Göttingen 1997, S. 21 ff. 79 Viktoria Luise (wie Anm. 76), S. 265 f., 302 ff. 80 Lent (wie Anm. 78), S. 22. 81 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 318 f.; Statisten (wie Anm. 34), S. 311 f.; Dietrich Kuessner: Dietrich Klagges – Eine biographische Skizze. In: Es geschah in Braunschweig. Braunschweig (o. J.) [1990], S. 13-31.

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enorm hohe Anzahl von NS-Morden im Reichsvergleich 1933. Denn für das Deutsche Reich rechnet man mit ca. 600 im Jahr 1933 umgekommenen Schutzhafthäftlingen.82 Auf die Führereinbürgerung und den von Hitler finanzierten Braunschweiger „Staatsdom“ konnte Klagges seine besondere Stellung fundamentieren.83 In rd. 14 Büchern (1921- 1974) sowie zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen entwickelte er seine rassistische, nationa- listische, deutsch-christliche und antisemitische Ideologie. In seiner Monographie über Klagges verwertet der Politologe Holger Germann dessen unveröffentlichtes Manuskript „Im Umgang mit Hitler“ (von ca. 1970) im Umfang von mindestens 103 Seiten von Klag- ges aus Privatbesitz (d. h. wohl in der Familie).84 Die absurde Ideologie von Klagges mit Rassenkampf, deutsch-christlichem Heldentum und Judenhass kann hier nicht referiert werden. Aus den o. g. Hitler-Reminiszenzen wird bei Germann nur wenig über Hitler speziell mitgeteilt. Jedenfalls besteht nach Klagges die artgemäße Staatsverfassung der nordischen Rasse in der unbeschränkten Herrschaft eines Einzelnen: somit biete die Dik- tatur Hitlers einen „unwiderleglichen Beweis für die rassische Hochwertigkeit des deut- schen Volkes“.85 In seinem Schlusswort im Klaggesprozess äußerte er 1952: „Wir haben Großes gewollt, und es ist uns vergönnt gewesen, Großes zu tun. Weil unser Werk auch Fehler hatte…, müssen wir jetzt Großes leiden.“86 Der bis zuletzt unverbesserlich unbeirr- bare Nationalsozialist erklärte zu den dunklen Seiten des Dritten Reiches 1973: „bei al- lem konnten einzelne Härten nicht immer vermieden werden“,87 obwohl er zugab, dass Deutschlands Befreiungskampf „in einem Meer von Blut, Tränen und Elend endete“.88 Eine Einsichtnahme bzw. eine Veröffentlichung des Manuskriptes „Im Umgang mit Hit- ler“ wäre für die Hitler-Interpretation im Braunschweiger Land sowie für die Landesge- schichte sicher ertragreich.89 Der 1947 in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft als Hauptmann der Wehrmacht er- mordete braunschweigische Landesbischof Helmuth Johnsen (1891-1947) war früh völ- kisch-national politisch tätig, unterstützte 1923 den Hitler-Putsch in München und trat 1933 der NSDAP bei. Im folgenden Jahr wurde er Bischof der evangelischen Landeskir- che in Braunschweig. Im September 1933 ist Johnsen in Nürnberg begeistert vom Redner Hitler, der „in Wahrheit zum Führertum am deutschen Volk berufen ist“.90 Als Landes- bischof wollte er als nationaler Lutheraner und überzeugter Nationalsozialist völkisches und konfessionell-lutherisches Denken miteinander verbinden.91 Er verkündete 1934: „Je- der im Lande soll wissen, dass ich bewusster Lutheraner bin… Jeder im Lande soll wis-

82 Richard J. Evans: Das Dritte Reich, Bd. 1. München 2004, S. 460, S. 657. 83 Neue Erkenntnisse zum Staatsdom s. Kuessner (wie Anm. 70), S. 295-323. 84 Holger Germann: Die politische Religion des Nationalsozialisten Dietrich Klagges. Frankfurt/M. 1995, S. 187; viele Zitate aus „Umgang mit Hitler“ siehe Anmerkungen ebd. in S. 92 bis S. 181. 85 Ebd., S. 104 f. 86 Rudolf Berg [= Dietrich Klagges]: Angeklagter oder Ankläger? Das Schlusswort im Klagges-Prozess. Göttingen 1954, S. 78. 87 Germann (wie Anm. 84), S. 149. 88 Berg (wie Anm. 86), S. 74. 89 Splitter (Fotoalbum) aus dem Besitz der Familie Klagges gelangten im Jahre 2012 in das NLA-StA WF. – Materialien zu Klagges siehe auch ebd. 67 Slg Nr. 6, 8-14. 90 Dietrich Kuessner: Landesbischof Dr. Helmuth Johnsen 1891-1947. Büddenstedt 1982, S. 51. 91 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 304 f.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 148 Dieter Lent sen, dass ich Nationalsozialist bin“.92 Und 1940 erklärte er: „Unser unauslöschlicher Dank aber gehört dem ersten Soldaten des Reiches, Adolf Hitler“.93 Der als Hitler-Jugendführer in Braunschweig parteipolitisch emporgekommene glü- hende Hitlerverehrer Hartmann Lauterbacher (1909-1988) war seit Dezember 1940 Gau­ leiter des Gaues Südhannover-Braunschweig der NSDAP.94 Er erließ den berüchtigten Aufruf „Lieber tot als Sklav!“ zum fanatischen Widerstand im April 1945, setzte sich selbst aber nach Österreich ab. Im August 1944 erkannte Lauterbacher im Führerhaupt- quartier, dass bei Hitler „körperlich, geistig und seelisch“ ein Verfall einsetzte und sein Leben größtenteils nur noch eine „Selbsttäuschung“ war. Alptraumartig ahnte Lauterba- cher damals, dass mit diesem Verfallsprozess sich die Katastrophe Deutschlands anbahn- te. Am 12. April 1945 sah Lauterbacher zuletzt seinen Führer in gespenstischer Atmo- sphäre im Führerbunker als „völlig gebrochenen“, Mitleid erregenden Mann.95 Da Lauterbacher selbstverständlich in seinen Memoiren die Realitäten positiv frisiert hat, waren seine Eindrücke und Erkenntnisse bezüglich Hitler wohl um Einiges härter, als er darstellt. Andererseits war für ihn das katastrophale Ende des Dritten Reiches unerklär- lich. Doch war das Jahr 1945 für ihn Verpflichtung, auch weiterhin mit Tapferkeit an einen „Sieg“ [doch wohl der NS-Idee, was er verschweigt?] vielleicht in 100 Jahren zu glauben!96 Lauterbachers Hitlerinterpretation wird bestätigt von Kershaw, der Hitler seit 1944 eine „kolossale Selbsttäuschung“ attestierte.97 Der Blankenburger Totengräbersohn August Winnig (1878-1956) war ein bekannter christlich-konservativer sozialistischer Politiker und vielgelesener Volksschriftsteller.98 Als Flüchtling aus Potsdam wieder in seine Heimatstadt gelangt, überkam ihn am Kriegs- ende 1945 im soeben bombardierten Blankenburg ein „Schauder vor der unendlichen Abgründigkeit des Schicksals“ sowie in unklarer Mischung Freude und Schmerz.99 In diesem Memoirenbuch stellt er Betrachtungen über die Ursache der deutschen Katastro- phe an und findet eine bedenkenswerte Formel für die schwer fassbare Deutung der his- torischen Stellung des Mannes aus Braunau: „Man wird bei Hitler stets an Nero denken müssen“.100 Der Vergleich Hitlers mit Nero ist originell und später hat ihn der Kieler Universitätsprofessor Michael Freund († 1972) ebenfalls herangezogen.101 Viel häufiger wird Hitler mit Napoleon verglichen.102 Das Vergleichskriterium war für Winnig, dass

92 Dietrich Kuessner: Kirche und Nationalsozialismus in Braunschweig. Braunschweig 1980, S. 19. 93 Kuessner (wie Anm. 90), S. 66. 94 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 371 f.; Statisten (wie Anm. 34), S. 624 ff. 95 Lauterbacher (wie Anm. 14), S. 230 ff., S. 319 f. 96 Ebd., S. 323 f. 97 Kershaw (wie Anm. 10), S. 848 f. 98 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 660; M. d. R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Hrsg. von Martin Schumacher. 3. Aufl. Düsseldorf 1994, S. 559 f. 99 August Winnig: Aus zwanzig Jahren. Hamburg 1949; 1. Auflage unter dem Titel: „Rund um Hitler“. Aus zwanzig Jahren – Erfahrungen und Erinnerungen. London [1947]. 100 Ebd. (1949), S. 199. 101 Michael Freund: Deutsche Geschichte. Gütersloh 1960, S. 59. 102 Hans-Peter Schwarz: Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten. Berlin 1998, S. 316 (Schwarz zählt Hitler mit Stalin und Mao zu den politischen Monstern des 20. Jahrhunderts). – Werner Maser: Adolf Hitler. 13. Aufl. München 1993, S. 415 ff.

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Nero und Hitler in ihrer jeweiligen Epoche die „Schlimmsten unter den Schlimmen“ wa- ren. Nero, erfüllt von irrwitziger Egomanie und Cäsarenwahnsinn, von seinem eingebil- deten Künstlertum berauscht, regierte hemmungslos in beispielloser Korruption mit blut- dürstiger Grausamkeit. Die ihm fälschlich zugeschriebene Entfesselung des Brandes von Rom als eine Art Weltuntergang erinnert ebenfalls von ferne an die Vernichtungsabsich- ten Hitlers gegenüber Deutschland 1945. Winnig selbst lehnte Hitler ab und hatte Ver- bindung zu oppositionellen konservativen Kreisen. Von Hitlers Erscheinung war er nega- tiv verblüfft und den Stil von „Mein Kampf“ nannte er eine Beleidigung für das deutsche Volk.103 Hitler besuchte Winnig 1931 und wollte ihn für sich gewinnen, doch war er unan- genehm unterwürfig, gehemmt und verkrampft und äußerlich eine unerfreuliche Erschei- nung. Später trug Hitler Winnig erfolglos das Amt des Preußischen Ministerpräsidenten an. Eine ihm vorgeschlagene Besprechung von „Mein Kampf“ lehnte Winnig wegen des ungeordneten Inhalts und unlesbaren Stils ab. Winnigs „Rund um Hitler“ ist angefüllt mit vielen politischen Gesprächen führender Zeitgenossen, die ihrerseits ein unterschiedli- ches „Hitlerbild“ entwerfen. Den tiefsten Grund für das Heraufkommen der satanischen Hitler-Herrschaft sah Winnig in der neuzeitlichen Entchristlichung des Abendlandes.104 Der bedeutende Soziologe Theodor Geiger (1891-1952) veröffentlichte in seiner Amtszeit als Professor an der Technischen Hochschule Braunschweig (1928-1933) einen sehr wichtigen Aufsatz „Panik im Mittelstand“ (1930), in dem er die Wahlerfolge der Nationalsozialisten auf diese Sozialklasse zurückführte, was die spätere Zeitgeschichtsforschung bestätigte.105

Offiziere: Keitel

Ein merkwürdiger Zufall fügte es, dass zwei braunschweigische Generäle, nämlich der oberste militärische Wehrmachtscheforganisator Wilhelm Keitel und der Heeresoperations- planungschef Heusinger am 20. Juli 1944 rechts und links direkt neben Hitler standen, als Stauffenbergs Bombe mit dem von ihrem Landsmann Geheimdienstoberstleutnant W. Schra- der zum Teil vielleicht gelieferten Sprengmaterial zu ihren Füßen explodierte und dass ein anderer Braunschweiger General neun Monate später das Testament des Diktators unter- schrieb. Die allerletzte schriftliche Verlautbarung Hitlers Ende April 1945 war an Keitel ad- ressiert. Dann wiederum unterzeichnete Keitel neun Tage später die Kapitulationsurkunde der Deutschen Wehrmacht. Die gelegentliche personelle Verklammerung der braunschweigi- schen Geschichte mit der deutschen Nationalgeschichte wird hier deutlich, ebenso wie z. B. in der Person des Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig in der Schlacht von Auerstedt 1806 oder dem Wirken Otto Grotewohls in der SED in Ostdeutschland. Wie Gro- tewohl hatte zwar Keitel ein zweithöchstes Amt im Deutschen Staat inne, aber beide waren Marionetten stärkerer diktatorischer Persönlichkeiten. Der 1946 in Nürnberg als Kriegsver- brecher hingerichtete Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel ist in fast allen filmischen Doku-

103 Winnig 1949, (wie Anm. 99), S. 13 f., S. 39 f. 104 Ebd., S. 198 ff. 105 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 202; Braunschweiger Stadtlexikon. Hrsg. von Luitgard Camerer u. a., Braunschweig 1992, S. 83; Nationalsozialistische Diktatur. Hrsg. von Karl Dietrich Bracher u. a. Bonn 1983, S. 752 f.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 150 Dieter Lent mentarsendungen der Medien mit seiner imponierenden militärischen Statur ständig in der unmittelbaren Nähe Hitlers zu sehen. Er war zusammen mit seinem Vorgänger, dem Reichs- kriegsminister W. von Blomberg, als Totengräber der Deutschen Wehrmacht hauptverant- wortlich dafür, dass deren Autonomie bis zur totalen Fügsamkeit unter den tyrannischen Willen des Militärdilettanten Hitler gezwungen wurde. Keitel gilt als Inkarnation des hitler- hörigen hohen Offiziers. Auch war er der klassische Fall des „Schreibtischtäters“ an höchster Stelle. Der im Kreis Gandersheim 1882 geborene Gutsbesitzersohn diente von 1901 bis 1925 in Wolfenbüttel bei der braunschweigischen Artillerie mit vielen Unterbrechungen zuletzt als Hauptmann.106 Seine sehr umfangreichen Lebenserinnerungen von 1901 bis 1914 blieben bisher ungedruckt.107 Als Patriot schämte er sich 1919 wegen des grassierenden Kommunis- mus in seinem Heimatstaat, ein Braunschweiger zu sein.108 Merkwürdigerweise entstand im Juli 1935 ein Foto, das Hitler im Automobil bei der Durchfahrt durch Wolfenbüttel genau gegenüber dem ehemaligen Wohnhaus von Keitel (Neuer Weg 2) darstellt.109 Seine Ernen- nung zum Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) 1938 verdankte der 1935 zum General beförderte Keitel seiner Fügsamkeit. Das OKW war die höchste Kommando- und Verwaltungsbehörde der Wehrmacht als Nachfolgerin des Reichskriegsministeriums, aber ohne jegliche Befehlsgewalt, die bei Hitler lag (Keitel konnte außer im OKW nur seinem Fahrer und dem Burschen etwas befehlen!). Die „Fehlgeburt“ des OKW mit einem ungeheu- ren Arbeitsanfall wurde als „Schreibstube des Gefreiten Hitler“ bespöttelt und der Bürogene- ral Keitel als „Reichskriegssekretär“ charakterisiert.110 Seine Stellung zu Hitler beruhte auf totaler soldatischer Loyalität zum Oberbefehlshaber. Er sah sich als „treuen Schildhalter von Adolf Hitler“ und war auch politisch Nationalsozialist (goldenes Parteiabzeichen!).111 Die Fügsamkeit gegenüber dem Diktator trug ihm den Schimpfnamen „Lakeitel“ und „Jasager“ ein, weil er stets Hitlers Partei ergriff, wenn Offiziere abweichende Meinungen äußerten.112 Er prägte 1940 das makabre Wort vom „größten Feldherrn aller Zeiten“ und argumentierte stereotyp: „der Führer hat immer recht“.113 Hitler seinerseits behandelte den Feldmarschall Keitel unangemessen herablassend als Gehilfen und äußerte, dieser habe ein Gehirn wie ein

106 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 316; Ernst Orth: Geschichte der Braunschweigischen Batterie 1809 und 1813-1913. Wolfenbüttel 1913, S. 273, S. 100; Samuel W. Mitcham: Generalfeldmarschall Wilhelm Kei- tel. In: Hitlers militärische Elite. Hrsg. von Gerd R. Ueberschär. 2. Aufl. Darmstadt 2011, S. 112-120; Gerd R. Ueberschär und Winfried Vogel: Dienen und Verdienen. Hitlers Geschenke an die Eliten. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1999, S. 298 (Register s. „Keitel“). – Wilhelm Keitel: Mein Leben. Pflichterfül- lung bis zum Untergang. Hrsg. von Werner Maser. Berlin 1998. – NLA-StA WF: 324 N (= Familie Kei- tel). 107 Generalfeldmarschall Keitel. Verbrecher oder Offizier? Erinnerungen, Briefe, Dokumente. Hrsg. von Walter Görlitz, Göttingen 1961. – Die in Anm. 106 genannte Memoiren-Edition von Maser hat Mängel! 108 Görlitz, ebd., S. 37 f. 109 Wolfenbüttel unter dem Hakenkreuz. Wolfenbüttel 2000, S. 26. 110 Görlitz (wie Anm. 107), S. 270 f., S. 378, S. 408; Walter Görlitz: Der deutsche Generalstab. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1953, S. 278. – Nach Aussage von Keitel war es im Offizierskorps für die Karriere hoch- gefährlich, vom „Gefreiten“ Hitler zu sprechen: s. Trevor-Roper (wie Anm. 44), S. 48. 111 Görlitz (wie Anm. 107), S. 405, S. 390 f. 112 Ebd., S. 432, S. 113. 113 Reuth (wie Anm. 3), S. 476; Görlitz (wie Anm. 107), S. 271. – Hitler hat im Juni 1940 nach dem Frankreichfeldzug auch selber in einer Proklamation vom „glorreichsten Sieg aller Zeiten“ gesprochen: s. Kershaw 2009 (wie Anm. 10), S. 607 f.

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Kinoportier, sei jedoch „treu – wie ein Hund“.114 Ständig in Hitlers Nähe musste Keitel die Befehle des Diktators in die Wehrmachtsmaschinerie umsetzen und wurde so Komplize ver- brecherischer Anordnungen. Das tat er häufig gegen seine eigene Überzeugung, auch bat er erfolglos um seinen Abschied. Durch seine Stellung ist er auch in fast alle Sphären des Staats- und Parteiapparates hineingezogen worden, ohne dass er je selbst initiativ wurde.115 Wie sah nun Keitel als erfahrener Generalstabsoffizier Hitlers Befähigung als Feld- herr? Er hielt den Diktator für ein militärisches Genie116 mit gewaltigem Wissen über alle militärischen Fragen. Bei alltäglichen militärischen und rüstungstechnischen Problemen war Hitler der Belehrende und Keitel der Belehrte.117 Doch blieb er für Keitel als Mensch ein Rätsel, ein „Dämon“ mit großer diktatorischer aber auch begeisternder Suggestivkraft, der nur machtlose Werkzeuge für seine geheimen Pläne brauchte und grundsätzlich miss- trauisch war gegen alle. Hitler verließ sich nur auf seinen sechsten Sinn.118 Keitel als Soldaten alter Schule erschien der Diktator als „Revolutionär“, dem seine altkonservative militärische Umgebung fremd war.119 Auch sah er die „völlig ungeordnete Denk- und Arbeitsmethode dieses Autokraten“ in militärischen Dingen kritisch.120 Erst im Nürnber- ger Gefängnis erkennt er seine fatale Verstrickung in Hitlers verbrecherische Kriegsfüh- rung und bereut sie. Entlastend erklärt er, dass soldatischer Gehorsam und Treue als oberste Tugenden für nicht erkennbare Zwecke ausgenutzt wurde, dass aber die militäri- sche Pflichterfüllung in Hitlers Regime eine Grenze hätte.121 Damit nähert sich Keitels Erklärung für das Verhalten der Offiziere in der militärischen Katastrophe des Welt- kriegs dem Urteil des bedeutenden Neuzeithistorikers Gerhard Ritter († 1967), der die Pervertierung der positiven deutschen militärischen Tugenden wie insbesondere den Idea- lismus des echten Soldatentums ins abgründig Negative durch Hitler beklagte.122 Den Grund für die Verfallenheit vieler hoher Offiziere an die Suggestivkraft Hitlers erblickt Keitel in der einseitigen Ausbildung auf einen unfreien, auf Gehorsam gedrillten Beruf ohne politische Schulung.123 Trotz seiner späten selbstkritischen Einsichten bezeichnete Keitel 1946 die Widerstandskreise als „pessimistische Meckerer“.124 Vom 1. September bis zum 10. Oktober 1946, d. h. in außerordentlich kurzer Zeit, d. h. direkt vor seiner Hin- richtung am 16. Oktober, hat Keitel noch sehr umfangreiche, später vorzüglich edierte und kommentierte Memoiren für die Jahre 1933 bis 1938 sowie die Zeit vom 20.4. bis 12.5.1945 im Nürnberger Gefängnis niedergeschrieben, denen der Herausgeber mit bio- graphischen Erläuterungen den aufschlussreichen Untertitel „Verbrecher oder Offizier“

114 Mitcham (wie Anm. 106), S. 116; Albert Speer: Erinnerungen. 7. Aufl. Frankfurt/M. 1970, S. 258. 115 Görlitz (wie Anm. 107), S. 270 ff. 116 Ebd., S. 393. 117 Werner Maser: Adolf Hitler. 13. Aufl. München 1993, S. 198. 118 Görlitz (wie Anm. 107), S. 113, S. 318, S. 391, S. 393, S. 405. 119 Ebd., S. 318, S. 40. 120 Ebd., S. 270. 121 Ebd., S. 388 f. 122 Christoph Cornelissen: Gerhard Ritter. Düsseldorf 2001, S. 529 f. – Ähnlich urteilte Altbundeskanz- ler Helmut Schmidt (geb. 1918), wenn er den Zweiten Weltkrieg „eine Tragödie des Pflichtbewusst- seins“ für die Deutschen nennt (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 21.12.2008). 123 Görlitz (wie Anm. 107), S. 406. 124 Ebd., S. 337.

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gegeben hat. Keitels Äußerungen in den täglichen militärischen Lagebesprechungen 1942-1945 bei Hitler sind wörtlich erhalten in den 1962 von Helmut Heiber veröffentlich- ten stenographischen Protokollen (Hitlers Lagebesprechungen, Stuttgart 1962). Im Staats- archiv Wolfenbüttel wird Keitels Testament vom Jahr 1944 verwahrt.125 Sein letztes Wort unter dem Galgen war: „Alles für Deutschland. Deutschland über alles.“ Hitlers Liebe zu Deutschland dagegen, die er noch in seinem Testament beschwor, war geradezu pervers, da er dem deutschen Volk keine Träne nachweinen wollte, wenn es im Weltkrieg besiegt würde und unterging. Auch entschlüpfte ihm in „Mein Kampf“ der verräterische Satz: „die große stupide Hammelherde unseres schafsgeduldigen Volkes“.126 Die letzte schriftliche Äußerung Hitlers erging an Keitel als formal obersten Militär des Reiches. Der Luftwaffenadjutant des „Führers“ N. von Below erhielt am 29. April 1945 eine an Keitel adressierte Nachschrift zu Hitlers Testament. Darin rühmte er die Tapferkeit von Volk und Wehrmacht, aber Verrat und Treulosigkeit im ganzen Krieg habe verhindert, dass er sein Volk zum Sieg führen konnte. Vor allem der Generalstab habe versagt.127 Da die Briten glaubten, Hitler habe über Below geheime Befehle an Keitel für die Fortsetzung des Krieges erteilt, bestätigte Below 1946 im Vernehmungslager Bad Nenndorf fälschlich diesen irrigen Verdacht, um sich aus nervenaufreibenden Verhören zu befreien. Bedauerlicherweise erwähnt von Below in seinen Memoiren nicht, was er genau den Engländern, darunter dem Geheimdienstoffizier und Historiker Trevor-Roper, vorgeschwindelt hat. Auch verliert er kein Wort über den o. g. Hitler-Brief an Keitel.128

Offiziere: Heusinger

Das genaue Gegenteil von Keitel war sein braunschweigischer Landsmann Adolf Heusinger (1897-1982), der Keitel für seinen hohen militärischen Posten für unfähig hielt. Dieser in Holzminden geborene Berufsoffizier war nacheinander von 1940 bis 1944 Chef der Opera- tionsabteilung im Oberkommando des Heeres (OKH), seit 1941 General und von 1957 bis 1964 Generalinspekteur der Bundeswehr.129 Im Juni bis Juli 1944 war er sogar Vertreter des Generalstabschefs. Der heimatverbundene und tiefgläubige Christ war ein zurückhaltend- sachlicher und operativ-hochbegabter unerbittlich genauer Generalstabsoffizier und seit 1937 mit den Aufmarsch- und Operationsplanungen im Generalstab des OKH, der zuletzt aus 29 Offizieren bestand, befasst. Im Krieg im Lager „Mauerwald“ nahe Hitlers Haupt- quartier stationiert musste er dem Diktator regelmäßig Vortrag halten und die Operationen erläutern. Früh verabscheute Heusinger den „Führer“ mit seinem angemaßten Feldherrn- tum, dem Vabanquespielen, der Methode des Bluffs, der starrsinnigen Rechthaberei und tyrannischen Willenskraft, Glaube an Intuition statt Vernunft und seinem Misstrauen gegen

125 NLA-StA WF: 60 B Nds Zg. 1/1996 Nr. 2-4. 126 Adolf Hitler: Mein Kampf. 390./394. Aufl. München 1939, S. 685. 127 Joachim C. Fest: Hitler, Hamburg 2006/2007, S. 1125, S. 1239; I. Kershaw (wie Anm. 10), S. 1060 f., S. 1289; Trevor-Roper (wie Anm. 44), S. 186 ff., S. 208, S. 236 (Register: „Keitel“). 128 : Als Hitlers Adjutant 1937-1945. Mainz 1980, S. 423 ff. 129 Deutschlands Generale und Admirale. Hrsg. von Dermot Bradley. Teil 4, Bd. 5. Osnabrück 1999, S. 383 ff.; BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 271 f.; Adolf Heusinger. Hrsg. vom Bundesministerium der Ver- teidigung. 1987; Georg Meyer: Adolf Heusinger. Hamburg 2001.

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alles, was insgesamt eine unüberbrückbare Trennung zum Generalstab darstellte.130 In die- sem seinen Erinnerungsbuch legt er allerdings einem Generalstabsoffizier des OKH das Urteil in den Mund, Hitler sei zwar „operativ begabt, jedoch er bleibt Dilettant“.131 Seit 1934 hielt Heusinger den Nationalsozialismus für verbrecherisch132 und war Mitwisser und Mit- befürworter zur Ausschaltung des Diktators in Widerstandskreisen seit 1939. Er lehnte aber ein Attentat ab, da die alliierte Forderung nach bedingungsloser Kapitulation eigentlich zum Weiterkämpfen zwinge und ein erträglicher Friedensschluss mit den Gegnern nicht mehr in Aussicht stände.133 Heusingers Urteil über Hitler, der als militärischer Autodidakt durch das starrsinnige Festkrallen an erreichten Frontpositionen im Osten 70 bis 90 Divisio- nen (!) sinnlos geopfert hat,134 gipfelt in der Aussage, dass viele militärische Entschlüsse des militärischen Oberbefehlshabers „außerordentlich verderblich“ waren und er „in einer nie da gewesenen Weise“ die Gebundenheit der Offiziere an ihr soldatisches Ethos (Treueid, Gehorsam) missbrauchte. Auch sollte Keitel als ungeeignet abgelöst werden.135 Im „tragi- schen Ablauf“ des Zweiten Weltkriegs waren für Heusinger „Freiheit und Fügung“, „Schick- sal und Schuld“ auf der Führungsebene der hohen Generalität eng ineinander verwoben.136 Heusinger hielt direkt rechts neben Hitler stehend Vortrag, als Stauffenbergs Bombe explo- dierte und wurde verwundet.137 In einer letzten Unterredung mit Heusinger im September 1944 lobte Hitler dessen kurz vorher ausgearbeitete Denkschrift als „einzige zusammen- hängende Kritik“ über seine Maßnahmen als Oberbefehlshaber des Heeres im Krieg.138 Im Jahre 1950 veröffentlichte Heusinger unter einem aufschlussreichen Titel das Buch „Befehl im Widerstreit“. Darin beschreibt er fesselnd in meisterhaft frei gestalteten Gesprächssze- nen literarisch kunstvoll sein eigenes Erleben an der Seite des Diktators sowie die Stim- mungslagen und Gewissenskonflikte der hohen und höchsten Offiziere angesichts der Füh- rungsprobleme von Hitlers Strategie.

Offiziere: Krebs

Ein dritter General, der in unmittelbarster Nähe zu Hitler ein engster militärischer Berater für einen Monat war, war der Braunschweiger Hans Krebs.139 In dem Erfolgsfilm „Der

130 Adolf Heusinger: Befehl im Widerstreit. Schicksalsstunden der deutschen Armee 1923-1945. Tübin- gen und Stuttgart 1950, S. 209. 131 Ebd., S. 97. 132 Bundesministerium (wie Anm. 129), S. 98. 133 Ebd., S. 390; Widerstreit (wie Anm. 130), S. 249. 134 Widerstreit (wie Anm. 130), S. 370. 135 Ebd., S. 357, S. 386 ff. 136 Ebd., S. 388. 137 Ebd., S. 352 ff. 138 Ebd., S. 366. 139 Braunschweiger Zeitung – Spezial, Nr. 4 (2005): Hans Krebs, Hitlers treuester General (57 Seiten); BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 346; Deutschlands Generale (wie Anm. 129), Teil 4, Bd. 7. Bissendorf 2004, S. 187 ff.; James P. O’Donnell und Uwe Bahnsen: Die Katakombe: Das Ende in der Reichskanzlei. München 1977, S. 478: Register „Krebs“; Henrik Eberle und Matthias Uhl (Hrsg.): Das Buch Hitler. 4. Aufl. Bergisch Glad- bach 2007, S. 668: Register „Krebs“; Gerhard Boldt: Die letzten Tage der Reichskanzlei. 3. Aufl. Hamburg usw. 1947, passim; Joachim Fest und Bernd Eichinger: Der Untergang: Das Filmbuch. Berlin 2004.

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Untergang“ (von B. Eichinger 2004) über Hitlers letzte Tage hat er eine Hauptrolle. Als Berufsoffizier noch Leutnant im Goslarer Jägerbataillon im Weltkrieg stieg er auf zum Militärattachée in Moskau und schließlich zum mit Ritterkreuz und Eichenlaub hochde- korierten General (seit 1942). Der versierte Generalstäbler wurde von Hitler mit der ver- tretungsweisen Wahrnehmung der Geschäfte des verabschiedeten Heeresgeneralstabs Guderian (der enge Beziehungen zu Goslar hatte) am 29. März 1945 betraut. Er galt als anpassungsfähig, opportunistisch und überragend befähigt. Noch 1945 wurde ihm „feste nationalsozialistische Haltung“ bescheinigt. Nach Aussage seines letzten Adjutanten war er jedoch kein Nationalsozialist und sah die Kriegslage im Gegensatz zu Hitler und seiner Umgebung realistisch als hoffnungslos. Da eine Biographie über Krebs nicht existiert – abgesehen von der journalistischen Dokumentation der o. g. Braunschweiger Zeitungs- ausgabe – kann über seine Meinung über den Diktator nichts ausgesagt werden. Auf- schlussreich vielleicht ist aber folgende Äußerung. Einen Tag vor Hitlers Tod lachten der Adjutant und der Ordonnanzoffizier von Krebs laut über die Nachricht, dass der Führer kurz vorher geheiratet hätte. Darauf rief Krebs die beiden resolut zur Ordnung mit den Worten: „Sind Sie wahnsinnig geworden, über Ihren obersten Landesherrn so respektlos zu lachen?“140 Das bedeutet doch, dass die Loyalität gegenüber dem Staatsoberhaupt auch in absurden Situationen unter allen Umständen für ihn die oberste Soldatentugend war. Es kann aber auch gedankenlose zwanghafte Gewohnheit sein, derart korrekt zu reagieren. Hitler schätzte Krebs seit langem auch als Persönlichkeit und hatte zu ihm großes Ver- trauen. Am 29. April übergab Krebs dem Luftwaffenadjutanten von Below die Adresse seiner Frau und einen Brief an General Jodl mit der Nachricht, dass die Lage in Berlin hoffnungslos sei, aber an den anderen Fronten bis zum letzten Mann weitergekämpft wer- den sollte.141 Er selbst äußerte zuletzt: „Es gibt keine verzweifelte Situation, es gibt nur verzweifelte Menschen.“ Krebs unterzeichnete noch Hitlers Testament, verhandelte nach dessen Tod erfolglos mit den Russen über einen Waffenstillstand und verübte Selbstmord, wohl mit Gift. In der Selbstmordwelle bei Kriegsende in Deutschland starben neben Tau- senden von Zivilisten 53 Heeresgeneräle, 14 Fliegergeneräle und 11 Admiräle.142 Seine Leiche wurde von den Russen obduziert und die Reste nach einer grotesken Verlage- rungs-Odyssee bei Magdeburg schließlich 1970 verbrannt. Doch Stalin sagte im Mai 1945 zum Vertreter des amerikanischen Präsidenten, dass Hitler und wahrscheinlich auch Krebs am Leben seien und sich versteckt hielten. Bekanntlich hat Stalin zum Tod von Hitler absichtlich Verwirrung gestiftet, um die Westalliierten irrezuführen.143

Offiziere: Werner Schrader

Beim Attentat des 20. Juli 1944 hatte der Braunschweiger Geheimdienstoffizier Werner Schrader (1895-1944) eine nicht große, aber unerlässliche Schlüsselstellung inne, indem

140 Boldt (wie Anm. 139), S. 75. 141 von Below (wie Anm. 128), S. 406; Trevor-Roper (wie Anm. 44), S. 187. 142 Ian Kershaw: Das Ende: Kampf bis in den Untergang… 1944/1945. München 2011, S. 486 ff.; Chris- tian Goeschel: Selbstmord im Dritten Reich. Berlin 2011, S. 234 ff. 143 Braunschweiger Zeitung (wie Anm. 139), S. 39 f.; Trevor-Roper (wie Anm. 44), S. 30.

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er brisante Akten der Verschwörer sicher getarnt aufbewahrte und Sprengstoff bzw. Zün- der an Stauffenberg weitergab.144 Eine dringend notwendige Biographie bzw. mindestens ein ausführlicher Lebensabriss dieses unbeirrbaren Widerstandskämpfers fehlt bisher. Die leider nur in Fotokopie im Staatsarchiv Wolfenbüttel lagernden sehr ergiebigen Nach- lassmaterialien seines Sohnes Werner Wolf Schrader und inhaltsreiches Sammelmaterial von dem Historiker Professor Ernst August Roloff (= Aufsätze, Vorträge, Exzerpte etc.) usw. bedürfen noch der gründlichen quellenkritischen Sichtung und Auswertung.145 Ro- loff hat in mehreren Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln eine Grundlage für eine weiter- führende Biographie gelegt.146 Deswegen kann über das historisch besonders interessante „Hitlerbild“ von Schrader nur Spärliches mitgeteilt werden. Der aus einfachen Verhältnissen stammende zeitlebens der braunschweigischen Hei- mat verbundene Schrader war Soldat bei den Goslarer Jägern, kehrte als dekorierter Leut- nant aus dem Ersten Weltkrieg zurück und wurde danach Oberlehrer in Wolfenbüttel. Seit 1920 Mitglied im „Stahlhelm“, war er 1926 dessen Führer im Landesverband Braun- schweig und agitierte gegen die Nationalsozialisten, was diese nach einer terroristisch unterdrückten Stahlhelmaktion im März 1933 gewaltsam beendeten. Von Klagges drang- saliert und auch von der Gestapo verfolgt, konnte sich Schrader 1936 in das Amt Abwehr, den militärischen Geheimdienst des OKW retten (1937 Hauptmann, 1944 Oberstleutnant). Als enger Mitarbeiter des Anführers des militärischen Widerstandes, des Generals Oster, wirkte er für den Widerstand. In seinem Panzerschrank waren der von der Abwehr be- schaffte Sprengstoff und Zünder für das Attentat auf Hitler seit 1943 versteckt und vor drohender Entdeckung geschützt; beides gab Schrader Ende Juni 1944 für Stauffenberg an seinen Vorgesetzten weiter. Aber in den Widerstandskreisen zirkulierten verschiedene Sprengstoffe und Zünder aus bis zu vier Hauptlieferungen, die durch viele Stationen (ca. 14 Offiziere) wanderten. Stauffenberg jedenfalls hat die von Schrader verwahrten Spreng- mittel am 20. Juli 1944 nicht benutzt. Die historischen Darstellungen über die Sprengstoff- und Zünderaktion sind z. T. unklar und widersprüchlich.147 Kurz vor seiner Verhaftung erschoss sich Schrader am 28. Juli 1944. Auf seinem Schreibtisch lag ein Zettel mit den

144 BBL (wie Anm. 29), S. 545; Ihr Ende schaut an… Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Harald Schultze u. a., Leipzig (o. J.), S. 432 f.; Ernst August Roloff: In Memoriam Werner Schrader. In: Kirche von unten: Alternatives aus der Braunschweiger Landeskirche, Heft 77/78, 1995, S. 18 ff.; ders.: „Aufstand des Gewissens“ oder Rebellion der Enttäuschten? Motive des nationalkon- servativen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus am Beispiel des Wolfenbütteler Oberlehrers Werner Schrader. In: Wissenschaftliche Zeitschrift des Braunschweigischen Landesmuseums, Nr. 4, 1997, S. 121-152; Chronologisches Verzeichnis der Schüler des Wolfenbütteler Lehrerseminars von 1903 bis Ende der Anstalt 1928. Wolfenbüttel (o. J.), S. 10. – Akten zu Schraders Ehefrau Cornelia S., geb. Kracke: NLA-StA WF: 3 Nds 197 und 12 Neu 13 Nr. 40928. – Zur Abwehr s. Literatur und Archi- valien bei: Das Bundesarchiv und seine Bestände. 3. Aufl., bearb. von Gerhard Granier u. a. Boppard 1977, S. 162 ff. 145 NLA-StA Wf: 250 N 337; 250 N 437; 299 N 316; 250 N 357; s. auch: ebd. Z 65 Nr. 5. 146 NLA-StA WF: 250 N 437. 147 Peter Hoffmann: Widerstand – Staatsstreich – Attentat. München 1969, S. 322 ff., S. 392-396, S. 613, S. 780-782, S. 899; (S. 880 ff. = Foto von Krebs und Heusinger im Führerhauptquartier); ders.: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Stuttgart 1992, S. 386 ff., S. 424 f., S. 585, S. 643; Gerd R. Ueberschär: Für ein anderes Deutschland. Der deutsche Widerstand gegen den NS-Staat 1933-1945. Frankfurt/M. 2006, S. 178 f., S. 212, S. 214, (302).

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Worten: „Ich gehe nicht ins Gefängnis, ich lasse mich nicht quälen.“ Keitel stieß mit vier anderen Generälen des „Ehrenhofs“ der Wehrmacht seinen braunschweigischen Lands- mann und ehemaligen Wolfenbütteler Mitbürger Schrader posthum unehrenhaft aus der Wehrmacht aus. Die von ihm getarnt aufbewahrten hochbrisanten Akten der Verschwörer wurden durch Hinweis seines Fahrers im September 1944 von den NS-Fahndern ent- deckt148 und erhellten dem NS-Regime erstmals das ganze Ausmaß des Widerstandes gegen Hitler seit 1938. Schrader führte anscheinend das Diensttagebuch (oder Teile davon seit 1937) für den Abwehrchef Admiral Canaris, von denen nach der Entdeckung 11 Hef- te Hitler am 5. April 1945 vorgelegt wurden. Angeblich hat Schrader die o. g. Abwehr- akten zeitweise in der Lüneburger Heide vergraben oder zusammen mit den Canaristage- büchern in Groß bei Wolfenbüttel versteckt.149 Der tief Religiöse und Bibelgläubige war als Stahlhelmführer Radikalnationalist und prophezeite u. a. 1928 die „Herrschaft des nationalistischen Frontsoldatentums“ in Deutschland. 1932 vertrat er die These „Nationalismus ist nicht zu Ende gedachter Kommunismus“, wobei er wohl den beiden gemeinsamen Totalitarismus meinte.150 Er war gegen einen Zusammenschluss mit der Harzburger Front 1931 und hatte dort einen Zusammenstoß mit Himmler und dann Hitler, der sich Forderungen an die NSDAP verbat. Damals hielt Schrader die Hitler-Be- wegung angeblich schon für tief nihilistisch, antichristlich und antihuman, sie nähre sich vom Unglück der Menschen. Über Hitlers Scheinerfolge äußerte er stereotyp: „Am Schluss wird zusammengezählt“. Mit seinem Sohn besprach er das Problem des Opfer- todes als positives Vorbild mit biblischen und historischen Beispielen. Nach der Macht- ergreifung äußerte er im März 1933 „Der NSDAP gegenüber hilft nur äußerste Frechheit!“ Er hielt Hitler für einen vielleicht genialen, aber pathologischen Verbrecher; deshalb musste dieser amoklaufende Tyrann beseitigt werden, obwohl Schrader starke religiöse Bedenken gegen einen Mord hatte.151 Im Einklang mit dem Theologen Bonhoeffer, der ebenfalls in der Abwehr war, verkörperte Hitler für Schrader das Böse schlechthin. Wenn die oben referierten Hitler-Interpretationen von Schrader tatsächlich zu belegen sind, so treffen sie sich ziemlich genau mit der einflussreichen Analyse der NS-Bewegung des Nationalsozialisten und späteren Emigranten Hermann Rauschning in seinem bekannten Buch „Die Revolution des Nihilismus… im Dritten Reich“ (1938). Schraders Ehefrau Cornelia, geb. Kracke (1898-1969) wohnte seit 1942 bei ihrem Schwager in Groß Denkte (bei Wolfenbüttel) und war von 1946 bis 1948 Hilfslehrerin an der dortigen Volksschule. Sie starb am 3.10.1969 in Wolfenbüttel, wo sie von 1912 bis 1920 das Lyceum im Schloss besucht hatte. Ein weiterer namhafter Braunschweiger Widerstandskämpfer war bekanntlich der Major Axel Freiherr von dem Bussche-Streithorst (1919-1993).152

148 Michael Mueller: Canaris. Berlin 2006, S. 13-16, S. 429 f.; Joachim C. Fest: Staatsstreich: Der lange Weg zum 20. Juli. Berlin 1994, S. 310 f. (s. auch S. 228). 149 Mueller (wie Anm. 148), S. 13 ff., S. 429 f., S. 23, S. 231, S. 14, S. 420 f. – Eine Studie von Horst Mühleisen über die Canaris-Tagebücher war 2005 in Arbeit. 150 NLA-StA WF: 250 N 337. 151 Ebd., (28.7.1965). 152 Hoffmann, Stauffenberg (wie Anm. 147), S. 393 ff.

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Vergleich mit frühen nichtbraunschweigischen Hitlerinterpretationen

Nach Kriegsende 1945 begann eine immense Auseinandersetzung über Hitler und den Nationalsozialismus, die bis Ende der fünfziger Jahre vorwiegend anklagend oder apolo- getisch ausfiel.153 Für die Braunschweigische Evangelische Landeskirche ist diese Aus- einandersetzung bis ins Detail in den zahlreichen Schriften von Dietrich Kuessner dar- gestellt worden, worauf hier nur verwiesen werden kann.154 Eine erste ungeschönte Beschreibung des Diktators konnte man im Freistaat Braun- schweig nach 1933 erst wieder in der 4. und 5. Ausgabe der Zeitung „Braunschweiger Bote“ der amerikanischen Besatzungsmacht am 25. Mai und 1. Juni 1945 lesen.155 Unter der Überschrift „Hitler – ein Porträt“ wurde dort ein Aufsatz des bedeutenden emigrier- ten jüdischen Hitlerbiographen Konrad Heiden (1901-1966) im Umfang von einer halben Zeitungsseite abgedruckt.156 In diesem Kurzporträt skizziert Heiden Hitler als Genie des Hasses mit fürchterlicher Kraft, das aus dem Nichts kam und im Nichts verschwand, sein Volk nicht liebte, sondern verachtete und nur benutzte und für seine Egomanie für Nichts opferte. Er veranstaltete eine der schlimmsten Schlächtereien der Weltgeschichte an Wehrlosen, welche Verbrechen die Deutschen zwar nicht gewollt, aber zugelassen haben: ganz Deutschland ist nun: „Hitlers Grab“. Als Mensch war er gescheitert, lebte bis zum 25. Lebensjahr als Vagabund und zeitweise im Obdachlosenasyl. Zu seinen nicht abzu- leugnenden Gaben zählte sein Rednertalent. Konrad Heiden hat 1936/1937 die erste große kritische Hitler-Biographie in zwei Bänden im Exil in Zürich veröffentlicht, die bis 1965 als oft verschwiegene Quelle für alle späteren Hitler-Biografien diente.157 Von späteren Hitler-Monographien unerreicht (abgesehen von J. Fest 1973) war Heidens psychologisch tiefschürfende Charakteranalyse sowie die literarisch meisterhafte brillante Darstellung. Seine Deutung des Phänomens Hitler in dieser Biographie war in Stichworten: ein ganz trivialer nichtsnutziger Mensch als früh Gescheiterter mit ungeheuren Minderwertigkeits- gefühlen verwandelt sich durch seine beispiellose Rednerbegabung in geradezu magneti- schem Kontakt mit den Zuhörermassen in eine ganz andere Figur, den „Führer“, und da- mit in einen zahlenmäßig gesehen größten „Massenerschütterer“ der Geschichte. Denn ein gescheiterter Mann und ein gescheitertes Volk verbanden sich, „aber der ganze Führer ist ein trügerisches Versprechen, denn nur Hitler ist die Erfüllung“. Er ist ein „großer Minderwertiger“ und eine „wertlose Größe“. Am Rande des Pathologischen und mit einen Anflug von Dämonie tritt Hitler gegen Europa an und plant die Weltherrschaft.158 Der Amerikaner Walter C. Langer diagnostizierte später 1943 in einem „Psychogramm“ von

153 Schreiber (wie Anm. 3), S. 157 ff.; Ulrich von Hehl: Nationalsozialistische Herrschaft. München 1996, passim; Konrad Kwiet, Die NS-Zeit in der westdeutschen Forschung 1945-1961. In: Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Hrsg. von Ernst Schulin u. a. München 1989, S. 180ff.; Klaus Hildebrand: Hitler-Forschung. In: Historische Zeitschrift 226, 1978, S. 600 ff. 154 Kuessner (wie Anm. 70), S. 577 ff., Bibliographie seiner Publikationen in S. 666 f. 155 NLA-StA WF: Z 70 Nr. 1; Kuessner (wie Anm. 70), S. 608. 156 NLA-StA WF: Z 70 Nr. 1; Kuessner (wie Anm. 70), S. 608 ff., S. 620. 157 Neue Deutsche Biographie. Bd. 8. Berlin 1969, S. 246; Deutsche Biographische Enzyklopädie. Hrsg. von Rudolf Vierhaus. Bd. 4. 2. Aufl. München 2006, S. 564. 158 Konrad Heiden: Adolf Hitler. Eine Biographie. Zürich 2011, S. 20, S. 320, S. 36 ff., S. 229 ff., S. 310 ff., S. 315 ff. und passim.

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Hitler eine neurotische Persönlichkeitsspaltung in einen sanften und zugleich brutalen Menschen.159 Erstaunlich ist, wie hellsichtig Heiden schon 1937 den Gewaltherrscher und Schreckensmann in Hitler vorausahnt. Diese Hitler-Biographie hat u. a. den heutigen Se- nior der braunschweigischen Zeitgeschichtsforschung, Professor Ernst August Roloff (geb. 1926), kurz nach dem Krieg als damals 21-jährigen tief beeindruckt.160 Mit Heiden beginnt die Reihe der wissenschaftlichen Hitlerbiographien, die von A. Bullock (1967), W. Maser (1971), J. Fest (1973) zu I. Kershaw (1998-2000) führt. Trevor-Roper hatte schon 1947 in seinem aufsehenerregenden Buch über Hitlers letzte Tage ein Hitlerporträt ent- worfen, das in vielem noch Bestand hat. Es wäre sehr aufschlussreich, die hier vorgetragenen Hitler-Deutungen von Braun- schweigern mit den wichtigsten Hitler-Interpretationen der deutschen Historiker nach 1945 zu vergleichen. Aber die von G. Schreiber schon 1983 vorgestellte Masse dieser Analysen zeigt, dass das sinnlos wäre. Es sollen nur die beiden zwei führenden preußisch und national orientierten Neuzeithistoriker Meinecke und Ritter kurz erwähnt werden, die als erste nach 1945 Erklärungen für das Entstehen des Hitlerismus veröffentlichten und dabei die Proble- matik der deutschen Geschichte beleuchteten.161 Nach 1945 bemühten sich die Historiker intensiv, von der Erfahrung des Dritten Reiches zurückblickend eine begreifbare Leitlinie der deutschen Geschichte zu finden.162 Der bedeutende Historiker Veit Valentin urteilte 1946 pointiert (aber unhaltbar), „der Nationalsozialismus ist die Summe der deutschen Ver- gangenheit“.163 Die gegenteilige Auffassung sah im Hitlerismus einen von außen kommen- den „Betriebsunfall“. Eine einvernehmliche Deutung der deutschen Geschichte besteht üb- rigens bis heute genauso wenig wie für die Person Hitlers.164 Schon Leopold von Ranke († 1886) hatte eine Darstellung der deutschen Geschichte wegen ihrer Kompliziertheit für fast unmöglich erklärt.165 Auch um 1960 konnte der Mediävist Hermann Heimpel keinen eindeutigen Sinnzusammenhang in der deutschen Geschichte entdecken.166 Meinecke und Ritter bemühten sich, ein Hauptproblem der deutschen Geschichte, nämlich die Verbindung zwischen dem Preußentum und dem Hitlerismus zu untersuchen (Problem des Militarismus, Tag von Potsdam 1933, Friedrich der Große als Hitlers Vorbild im Krieg usw.). Sie waren die letzten Vertreter der altberühmten preußischen Historikerschule. Der 83-jährige Doyen der deutschen Historiker, Friedrich Meinecke (1862-1954), ver- öffentlichte 1946 die vielbeachtete umfangreiche Schrift „Die deutsche Katastrophe“.167 Dieser sozial aufgeschlossene liberale Demokrat erklärte, dass der preußische Militaris-

159 Wolf-Rüdiger Hartmann: Adolf Hitler. Möglichkeiten seiner Deutung. In: Archiv für Sozialgeschich- te 15 (1975), S. 527 f.; Schreiber (wie Anm. 3), S. 319, S. 266. 160 Kuessner (wie Anm. 70), S. 608 f. 161 Schreiber (wie Anm. 3), S. 232 ff., S. 237 ff. 162 Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich. 2. Aufl. München 1980, S. 187 ff., S. 223 f.; Kershaw (wie Anm. 4). 163 Veit Valentin: Deutsche Geschichte. München 1960, S. 694, S. 697. 164 Ernst Schulin: Hermann Heimpel und die deutsche Nationalgeschichtsschreibung. Heidelberg 1999, S. 16 ff. und passim; Hagen Schulze: Kleine deutsche Geschichte. 6. Aufl. München 2003, S. 7 f., S. 226 ff. und passim. 165 Schulin, ebd., S. 19 f.; Otto Westphal: Das Reich. Bd. 1. Stuttgart 1941, S. 6 f. 166 Schulin (wie Anm. 164), S. 81. 167 Friedrich Meinecke: Werke. Hrsg. von Hans Herzfeld. Bd. 8. Stuttgart 1969, S. 321-445.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Bemerkungen zu Hitlerinterpretationen von Braunschweigern 159 mus und der durch Hegel und Bismarcks Blut- und Eisen-Politik immer gröber empor- kommende unsoziale nationale obrigkeitliche Machtstaatsgedanke das Bürgertum poli- tisch antiliberal entarten ließ, das schließlich dann annexionistisch-imperialistische Kriegsziele 1914 bis 1918 erstrebte. Die Dolchstoßlegende beeinflusste das Bürgertum gegen die Demokratie und den Sozialismus. Auf der anderen Seite verrohte die politische Moral durch die Gewalt und Revolution propagierenden Sozialisten. Nietzsches Einfluss wirkte ebenfalls unheilvoll. Der marxistische Kulturphilosoph Georg Lukacs zog übri- gens später in seinem Buch „Von Nietzsche zu Hitler“ (1966) eine direkte politische Ver- bindungslinie zwischen den beiden Gewaltverherrlichern. In Wahrheit galt Nietzsche neben Richard Wagner, P. de Lagarde und H. St. Chamberlain zwar als Ahnherr des Na- tionalsozialismus, aber Hitler selbst hatte nur einige allgemeine geistig-politische Ge- meinsamkeiten mit dem Propheten des Übermenschen und der Herren- und Sklavenvöl- ker.168 Hitler als gewaltiger Ausbeuter seiner Zeitlage und seines Volkes gelang es, so Meinecke, die beiden politischen Haupttendenzen des 19. und 20. Jahrhunderts Nationa- lismus und Sozialismus zu vereinigen und schloss dadurch die Kluft im Volk. In seiner Herrschaft kam ein satanisches Prinzip der Weltgeschichte zum Durchbruch. Als „dämo- nische“ Erscheinung ist er ein Beispiel für die Macht der Persönlichkeit in der Geschichte, doch geht ihm wegen seiner negativen Eigenschaften wirkliche historische Größe ab. Die- ses Erklärungsmuster für das Hitlerregime (von Bismarck zu Hitler) blieb in den Grund- linien lange Gemeingut der Zeitgeschichtsforschung. Der zweite führende Neuzeithistoriker Gerhard Ritter (1888-1967) 169 war national- liberal und protestantisch-preußisch eingestellt und forderte schon 1946 eine historisch- politische Revision des deutschen Geschichtsbildes, das bekanntlich immer wieder total umgeschrieben werden musste (1815, 1866/70, 1918, 1933, 1945, 1989). Er wollte damals die besonders im Ausland verbreitete Geschichtsklitterung einer Unheilslinie in der deut- schen Geschichte von Arminius zu Luther, Friedrich dem Großen und Bismarck zu Hitler widerlegen.170 In den fünfziger Jahren plante er vergeblich, eine Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte zu verfassen.171 Er erklärte seit 1945 bis ca. 1953: Hitlers überreiz- ter Nationalismus hat mit Friedrich dem Großen sowie Preußen und Bismarck fast nichts gemeinsam, sondern ist Produkt des seit den Befreiungskriegen anschwellenden neudeut- schen Nationalismus, der durch Machtstaatsgedanken, imperialistisches Alldeutschtum und Lebensraumidee aufgeheizt war. Dieser neudeutsche unpreußische Nationalismus war militant, weil er im Abwehrkampf gegen Napoleon entstanden war. Führervorläufer von Hitler waren nicht Friedrich der Große oder Bismarck, sondern amoralische Revolu-

168 Maser (wie Anm. 117), S. 189; Picker (wie Anm. 61), S. 27, S. 82; Georg Lukacz: Von Nietzsche zu Hitler. Frankfurt/M. 1966, S. 232. – Zum Kenntnis- und Bildungsstand des Autodidakten Hitler s.: Werner Maser: Adolf Hitler: Mein Kampf – Geschichte, Auszüge – Kommentare. München 1983, S. 85 ff., S. 98 ff., S. 229 und passim. 169 Neue Deutsche Biographie. Berlin 2003, S. 658 ff. 170 Gerhard Ritter: Geschichte als Bildungsmacht. Ein Beitrag zur historisch-politischen Neubesinnung. Stuttgart 1946, S. 24 ff.; Schreiber (wie Anm. 3), S. 223-247. – Zum Problem des preußisch-deutschen Militarismus siehe: Wolfram Wette: Militarismus in Deutschland. Darmstadt 2008. – Zum negativen Preußenbild vgl. u. a.: Christian Graf von Krockow: Warnung vor Preußen. Berlin 1999. 171 Schulin (wie Anm. 164), S. 10 ff.

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tionäre wie Robespierre und Lenin. Die Idee der Massendemokratie seit Rousseau kam hinzu. Hitlers Nationalismus war von dämonischer Gefährlichkeit, weil er in satanischer Mischung gute und bösartige Tendenzen bis zum Wahnsinn gesteigert übertrieb und ver- zerrte. Er missbrauchte den Idealismus im deutschen Volk und vor allem den „Idealismus des deutschen Soldatentums“.172 In der Einleitung zur Erstveröffentlichung von Hitlers „Tischgesprächen“ (1951) wollte Ritter das damals nur aus Verdammung bestehende Hit- lerbild jenseits von Anklage und Verteidigung realistisch verständlich machen, wobei mancherlei Begabungen des vom angemaßten Übermenschentum zum Unmenschen per- vertierten Diktators zur Sprache kamen. In der verbesserten Neuausgabe dieser „Tisch- gespräche“ hat der bedeutende Historiker Percy Ernst Schramm (1894-1970) als ehemali- ger Kriegstagebuchführer im Führerhauptquartier in der Einleitung eine ausführliche Analyse des „Problems Hitler“ vorgelegt. Als Fazit sieht er in Hitler einen „Grenzfall menschlicher Individualität“, in dem das Satanisch-Dämonische Gestalt gewonnen hat.173

Oswald Spengler und Hitler

Zum Abschluss der angeführten Hitler-Interpretationen soll der Blick auf einen weltbe- rühmten in Blankenburg am Harz geborenen Braunschweiger gelenkt werden, von dem man aufgrund seines Wissenstandes und seines eigenen Anspruchs eine profunde Deu- tung des Phänomens Hitler hätte erwarten können. Die Beziehung des aus einer Harzer Familie stammenden Geschichtsphilosophen Oswald Spengler (1880-1936)174 zu Hitler ist aus drei Gründen interessant. Spenglers politisch-historische Vorstellungen wiesen eine beträchtliche Affinität zum Nationalsozialismus auf.175 Er erkannte zweitens als politischer Schriftsteller scharfsinnig die historischen Zeitumstände für das Emporkom- men eines deutschen Diktators, irrte sich aber dann bei einer persönlichen Begegnung fatal über die zukünftige Bedeutung Hitlers. Und endlich war sein Geschichtsbild wie dasjenige Hitlers vom Schicksalsgedanken als zentraler geschichtsleitender Kategorie be- herrscht. In Spenglers Weltbild war das Schicksal ganz im Gegensatz zur messbaren Kau- salität eine organische Notwendigkeit als „Logik der Zeit“, die nur zu erfühlen ist als Bewegungsgeheimnis der Zeit (kosmische Periodizität), wohingegen er die Schicksals- idee des Hitlerismus als „verwässertes Christentum mit Rassequatsch“ verhöhnte.176 In seinem Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ (1918-1922) hat Spengler das Bild der Weltgeschichte mit ungeheurem Erfolg revolutioniert. Acht isolierte Kulturkreise als Subjekte der Weltgeschichte haben nach schicksalhafter Naturgesetzlichkeit unausweich- lich nur eine Lebensdauer von etwa 1.000 Jahren. Das heutige Abendland ist in die Ver-

172 Cornelissen (wie Anm. 122), S. 522-545; Ritter (wie Anm. 170), S. 28 ff. 173 Picker (wie Anm. 61), S. 118 f. 174 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 577; Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit. München 1968; Detlev Felken: Oswald Spengler. München 1988. 175 Felken (wie Anm. 174), S. 228 ff., S. 233 ff. 176 Oswald Spengler: Urfragen. Hrsg. von Anton Mirko Koktanek. München 1965, S. 336 ff., S. 355 f.; ders.: Der Untergang des Abendlandes, 22. Aufl. München 1920, Bd. 1, S. 9 f., S. 4, S. 164 ff.; Kokta- nek (wie Anm. 174), S. 461.

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fallsphase des sogenannten „Cäsarismus“ eingetreten, wo wie in der Spätantike die Solda- tenkaiser nunmehr Diktatoren brutale Weltpolitik betreiben. Kraftvoll kriegerisches Barbarentum würde sich im 20. Jahrhundert durchsetzen. Da alle Weltkulturen exakt gleiche Entwicklungsphasen durchmachen (Entstehen, Blüte, Verfall) meint Spengler, Geschichte vorausbestimmen zu können. So prophezeit er u. a.: Zu einem Goethe werden es die Deutschen nicht mehr bringen, „aber zu einem Cäsar“.177 In der Geschichte herrscht ewiger Kampf und der Mensch ist ein Raubtier. Fast gleichzeitig mit dem in München lebenden Geschichtsphilosophen Spengler vergriff sich der damalige Münchener Lokal- politiker Hitler, der später Weltgeschichte bewirken sollte, an einer Deutung der Weltge- schichte: Er skizzierte 1919 einen unglaublich primitiven und von Halb- bzw. Unbildung strotzenden kruden Entwurf für eine „Monumentale Menschheitsgeschichte“, die von Naturgesetzen („Sieg des Stärkeren“), Rassereinheit, Gegensatz von Ariern und Juden bestimmt ist. Er sinniert auch über Grausamkeit in Natur und Menschheit.178 Spengler behauptete in seiner aufsehenerregenden Schrift „Jahre der Entscheidung“ (1933), der Kampf um die Weltherrschaft hat begonnen und Deutschland soll sich daran beteiligen, denn für jedes Volk gibt es nur „Größe oder Vernichtung“ und vielleicht stehe man schon „dicht vor dem Zweiten Weltkrieg“.179 Schon früher hatte er prophezeit, dass die Deut- schen auf einen Führer warten und auch der „Karikatur“ eines Führers würde das Volk „treu wie ein Hund“ folgen.180 Genau beschreibt Spengler auch den Typus des Demagogen: gescheitert als Mensch, seelisch abnorm, hasserfüllt usw.181 Spengler beendet sein Buch mit den prophetischen Worten: „Da liegen die Würfel des ungeheuren Spiels [um die Weltherrschaft]. Wer wagt es, sie zu werfen?“ Der Mann, der die Würfel des welthistorischen Tragödienspiels sechs Jahre später als Kriegstreiber in die globalpolitische Arena warf, saß im Juli 1933 in Bayreuth dem Ge- schichtsdeuter Spengler leibhaftig in einer Privataudienz gegenüber. Nach einem längeren politischen Gespräch fällte Spengler danach das fatale und groteske Urteil: „Nicht be- deutend…“, „Ein hochanständiger Mensch. Aber wenn man ihm gegenübersitzt, hat man auch nicht ein einziges Mal das Gefühl, dass er bedeutend ist“.182 Da es sich genau um- gekehrt verhält, ist Spenglers Fehlurteil fast unbegreiflich. Folgende Erklärungen für die- ses Versagen wären denkbar. Viele kluge Zeitgenossen konnten beim ersten Kennenler- nen nichts Besonderes an Hitler entdecken (wie z. B. Friedrich Boden und Spenglers Blankenburger Landsmann August Winnig als vielerfahrene Politiker). Ein absoluter Mangel an Menschenkenntnis bei Spengler ist unwahrscheinlich, zumal er Menschen- kenntnis als Prinzip der Geschichtsforschung proklamierte. Da Hitler damals mit Rück-

177 Manfred Schröter: Metaphysik des Untergangs. Eine kulturkritische Studie über Oswald Spengler. München 1949, S. 238. 178 Werner Maser: Hitlers Briefe und Notizen. Düsseldorf 1973, S. 386, S. 289 ff.; ders., Mein Kampf (wie Anm. 168), S. 230 f.; Plöckinger (wie Anm. 55), S. 11 bezweifelt die Existenz eines derartigen Buchprojekts von Hitler. 179 Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. 170. Tausend München [1953], S. XI, S. XV, S. 61. 180 Schröter (wie Anm. 177), S. 245 ff. 181 Spengler, Entscheidung (wie Anm. 179), S. 96 ff. 182 Koktanek (wie Anm. 177), S. 439 ff.; K. Lange, Maximen (wie Anm. 43), S. 151, S. 180.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 162 Dieter Lent sicht auf das Ausland Friedensliebe demonstrieren musste, hat er sich dem Verkünder des kriegerisch imperialistischen Cäsarismus möglicherweise bewusst in der Charaktermas- ke des gutwilligen politischen Biedermanns präsentiert, worauf Spengler hereingefallen ist. Dass Hitler schauspielernd sich verschieden präsentieren konnte, ist u. a. wie erwähnt von Karl Lange prägnant bezeichnet worden: „Hitler verstand es, sein Wesen immer wie- der zu verhüllen“.183 Selbst Hitlers Intimus Albert Speer begriff erst ganz spät 1945, wie viel Verstellung im rätselhaft vielschichtigen Charakter des „hochbegabten Dilettanten“ Hitler verborgen lag.184 Spenglers totales Fehlurteil über den größten politischen Verbre- cher der abendländischen Geschichte ist jedenfalls eine klassische Bestätigung des be- kannten Diktums des Historikers Veit Valentin: die Geschichte Hitlers ist „die Geschich- te seiner Unterschätzung“.185 Spengler bemühte sich erfolglos um ein zweites Gespräch mit dem Reichskanzler Hitler. Doch nach 1934 lehnte er den Nationalsozialismus aufs Schärfste ab, obwohl er diesem bestimmte Stichworte geliefert hatte. Angeblich war Hit- ler teilweise von Spengler beeinflusst, doch der Geschichtsdeuter spottete, dass der ‚Füh- rer’ von seinem Hauptwerk „den ganzen Titel gelesen hat“.186 Er verhöhnte die Rassen- theorie der Partei („Rasseidioten“), Hitler sei ein „Prolet-Arier“ und sein Großvater sei ein serbischer Wanderschuster gewesen.187 Durch Spenglers Tod brach seine Arbeit am zweiten Band von „Jahre der Entscheidung“ mit scharfer Kritik am Hitler-Regime ab, von dem man munkelte, der Titel sei „Der Weg ins Dunkle“.188

Spenglers und Hitlers Schicksalsbegriff

Auffallenderweise war sowohl Spengler wie Hitler ein ausgeprägter persönlicher Schick- salsglauben eigen. Hitler selbst stellte eine echte Beziehung zwischen Spenglers Schicksals- idee und seinem eigenen Schicksalsglauben her, wenn er 1935 erklärte: Spenglers Unter- gang des Abendlandes sei eine „defätistische Weissagung“ und er selbst habe „den von der Vorsehung gestellten Auftrag“, diesen Untergang zu verhindern.189 Bekanntlich glaubte Hitler unbeirrbar bis zuletzt an das Schicksal oder die „Vorsehung“, das ihn in eine phäno- menale Höhe geführt hatte und ihm auch im Krieg den „Endsieg“ wie Friedrich dem Gro- ßen schenken würde.190 Merkwürdig schicksalhaft könnten auch die nur um Haaresbreite missglückten Attentate der Jahre 1939, 1943 und 1944 wirken. Ein Hitlerwort lautet: „Die braune Garde grüßt das Schicksal“.191 Hitlers oft bekundeter Glaube an die Vorsehung war zwar wohl echt, aber im Grunde nur die Überzeugung von einer wirkenden kosmischen

183 Lange (wie Anm. 43), S. 151. 184 Albert Speer: Erinnerungen. 7. Aufl. Frankfurt/M. 1970, S. 483 f.; Fest (wie Anm. 16), S. 35. 185 Lange, Maximen (wie Anm. 43), S. 157. 186 Speer (wie Anm. 184), S. 200; Koktanek, Spengler (wie Anm. 174), S. 458. 187 Felken (wie Anm. 174), S. 225 ff.; Koktanek, Spengler (wie Anm. 174), S. 456 ff. 188 Koktanek, Spengler (wie Anm. 174), S. 454. 189 Koktanek, Spengler (wie Anm. 174), S. 461; Felken (wie Anm. 174), S. 231. 190 Maser 1993 (wie Anm. 117), S. 210, S. 271 ff.; Heiden (wie Anm. 158), S. 311 ff.; Speer (wie Anm. 184), S. 368, S. 570; Michael Rissmann: Hitlers Gott: Vorsehungsglaube und Sendungsbewusstsein des deutschen Diktators. Zürich usw. 2001. 191 Heiden (wie Anm. 158), S. 121.

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Naturgesetzlichkeit.192 Sein Günstling und Lieblingsarchitekt Albert Speer drückte das so aus: „Wenn an Hitler etwas krankhaft war, dann dieser unerschütterliche Glaube an seinen guten Stern…, jedoch war die Fähigkeit zu glauben in den Glauben an sich selbst perver- tiert“.193 Kurz vor seinem Selbstmord bekannte Hitler, schon morgen würden ihn Millionen Menschen verfluchen, aber „das Schicksal wollte es nicht anders“.194 Der Begriff „Schick- sal“ hatte im Dritten Reich einen hohen Stellenwert. So schrieb der in Helmstedt geborene nationalpathetische Schriftsteller Heinrich Bauer (1896-1975)195 in seinem Buch „Schick- salsstunden der deutschen Geschichte“ (1934), der 30. Januar 1933 sei vielleicht die größte Schicksalsstunde der Nationalgeschichte, weil Hitler dem „Befehl“ aus der „Ewigkeit“ folg- te.196 Der Parteiweltanschauungsideologe A. Rosenberg hatte Bauer damals übrigens 1934 gebeten, an einer parteiamtlichen „Geschichte des deutschen Volkes“ als Autor mitzuarbei- ten.197 Rosenberg preist den germanisch-nordisch-deutschen Schicksalsbegriff und setzt sich kritisch mit Spenglers Schicksalsidee auseinander.198 In seinen 1945/1946 verfassten Memoiren beschreibt Rosenberg ausführlich Hitlers Schicksals- und Sendungsglauben.199 Er zitiert dort auch Hitlers Bekenntnis: „Ich gehe mit nachtwandlerischer Sicherheit meinen Weg.“ Von besonderem Gewicht war das Bekenntnis des verabschiedeten Oberbefehlsha- bers des Heeres W. von Fritsch 1938, Hitler „ist Deutschlands Schicksal“ und dagegen „zu machen ist nichts“.200 Sein Nachfolger als Oberbefehlshaber des Heeres W. von Brauchitsch (als Flüchtling 1948 bestattet in Salzgitter-Hohenrode) erklärte nach dem Krieg ebenfalls: „Hitler war das Schicksal Deutschlands, und dieses Schicksal war nicht aufzuhalten“.201 Nun hatte allerdings Meinecke schon 1946 erkannt, dass nicht ein unaufhaltsames Schicksal, sondern politische Zufälle und Intrigen (von Papen usw.) Hitler 1933 an die Macht gebracht haben, denn seine Partei hat bei Reichstagswahlen vorher nie mehr als 37,4 % der Wähler für sich gewinnen können. Aber auch August Winnig sprach in seinem Memoirenbuch viel vom Schicksal (Rund um Hitler, [1947], S. 7 ff., S. 238). Schicksal ist traditionellerweise mit dem Begriff „Tragik“ verbunden („Schicksalstragö- die“; Nibelungenlied, Schillers „Wallenstein“, Richard Wagners „Ring des Nibelungen“). Wagner und seine tragische Schicksalswelt waren für Hitler der absolute Gipfel eines Künst-

192 Picker (wie Anm. 61), S. 83 f. sowie ebd. Stichworte „Gott“, „Naturgesetze“, „Vorsehung“ im Register. 193 Speer (wie Anm. 184), S. 368, S. 570. 194 Joachim C. Fest: Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches. Reinbek 2003, S. 134. 195 BBL 1996 (wie Anm. 29), S. 43. 196 Bauer: Schicksalsstunden. [Hamburg 1934], S. 242 f. – In zwei weiteren Büchern bemühte er sich um eine „Sinngebung“ und das neue Geschichtsbild der deutschen Geschichte („Nation im Werden“) usw.: s. Wilhelm Kosch: Deutsches Literatur-Lexikon: Das 20. Jahrhundert. Bern 2000, Sp. 712 f. 197 NLA-StA WF: 303 N 146. 198 Alfred Rosenberg (wie Anm. 62), S. 396 ff. 199 Großdeutschland: Traum und Tragödie. Rosenbergs Kritik am Hitlerismus. Hrsg. von Heinrich Härtle. München 1969, S. 31 f., S. 203 f., S. 294. 200 Fest (wie Anm. 41), S. 747; Ulrich von Hassel: Vom anderen Deutschland. Zürich 1946, S. 39. 201 Görlitz (wie Anm. 107), S. 287. – Und General Jodl sagte 1943 über Hitler: „Lieber Heusinger, dieser Mann ist unser Schicksal und diesem Schicksal können wir nicht entgehen“ (s. Bundesministerium wie Anm. 129), S. 389. – Im April 1945 beschwor , Hitlers Sekretär und Parteiminister, im Führerbunker das Schicksal und verglich den Endkampf in Berlin mit den Nibelungen: s. Ian Kershaw: Das Ende, Kampf bis in den Untergang… 1944/45. München 2011, S. 343; Fest (wie Anm. 41), S. 997.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 164 Dieter Lent lergenies und der Kunst.202 Der Hitlerbiograph J. Fest attestiert dem „Führer“ in gewisser Weise Tragik und historische Größe, Thomas Mann dagegen prägte das Wort von der „ver- hunzten“ Größe des Diktators und K. Heiden sprach von der „wertlosen Größe“. Ein erst- rangiger Hitler-Kenner wie der bedeutende britische Historiker und Geheimdienstoffizier Trevor-Roper (1914-2003) sprach dem „dämonischen“ Zerstörer Hitler unzweifelhaft histo- rische Größe zu.203 Jacob Burckhardt bestreitet in seinem berühmten Essay seiner „Welt- geschichtlichen Betrachtungen“ über die historische Größe den großen „Ruinierern“ jede historische Größe. Ebenso verhält es sich mit dem Begriff „Tragik“ im Lebenslauf von Hitler. Die steil aufsteigende und sehr plötzlich durch eigene Schuld steil abstürzende Schicksalskurve seines Lebens ähnelt formal der klassischen Tragödiendefinition in der Schrift „Poetik“ des Philosophen Aristoteles. Aber dieser warnt: Schurken können nicht tragisch sein, da die menschliche Teilnahme nicht aufkommen kann! Dennoch bleibt ein unbestimmtes Mischgefühl, dass eine Tragödie stattgefunden hat, was nicht zuletzt Chur- chill, Truman und Hitler selbst so empfunden haben.204 Denn Hitler führte Krieg gegen die halbe Welt und trotzte dem Schicksal im Ankämpfen gegen den drohenden selbstverschul- deten Untergang. Nicht umsonst gab Kershaw seinen beiden Bänden seiner Hitlerbiographie die Titel „Hybris“ und „Nemesis“. Doch kann sich angesichts seiner persönlichen Katastro- phe nicht das Gefühl einstellen, welches Schiller so klassisch formuliert hat: „Das große gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt.“ Für Spengler sind Schicksal, Tragik und Weltgeschichte zuinnerst verbunden, weil er die Historie vom Ende her betrachtet. Da der Mensch sich auf seinem Schauplatz „Geschichte“ gegen die Natur empört, wird er in Spenglers Sicht in nicht allzuferner Zeit seinen Trotz mit dem Untergang büßen.205 Ständig umkreist sein Denken den Begriff der Größe und des Großen in der Geschichte. Der nationale Umsturz von 1933 war für ihn etwas „Gewaltiges“, aber er warnte: „Was als Anfang Großes versprach, endet [möglicherweise] in Tragödie oder Komödie“.206 Das war wiederum hellsichtig, da beides sich entwickelte. Tragikomisch-sati- rische Ingredienzien zum welthistorischen Drama des Hitlerregimes lieferte der Kleinstaat Braunschweig mit dem lächerlichen Regierungsratsposten und Keitels berüchtigtem Aus- spruch „größter Feldherr aller Zeiten“ sowie Hitler selbst (Stil von „Mein Kampf“, Heirat und Klagen über die „Schlechtigkeit der Welt“ am Lebensende usw.).

Hitlers Vernichtungsdrang und Braunschweig

Nach dem Scheitern der Ardennenoffensive erkannte Hitler Ende Dezember 1944, dass der Krieg verloren war und besiegelte Deutschlands Schicksal mit den Worten: „Wir kön- nen untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen“.207 In den Abgrund der Vernich- tung mitgenommen hat er in der Landesregion Braunschweig unübersehbar hauptsächlich 202 Fest (wie Anm. 41), S. 73 ff., S. 699, S. 712 f., S. 997. – Spengler war ebenfalls Wagnerianer. 203 Fest (wie Anm. 41), S. 17-25; ders.: Das Gesicht des Dritten Reiches. [München] 1963, S. 93; ders. (wie Anm. 194), S. 195; Heiden (wie Anm. 158), S. 20. – Trevor-Roper (wie Anm. 44), S. 70, S. 217 ff. 204 Lent (wie Anm. 2), S. 217. 205 Spengler, Urfragen (wie Anm. 176), S. 350, S. 360 und passim. 206 Spengler (wie Anm. 179), S. XII, S. XIV. 207 von Below (wie Anm. 128), S. 398.

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die Landeshauptstadt, die die größte Fachwerkstadt ganz Deutschlands gewesen war. Das heutige disparate, dezentralisierte und unharmonische Stadtbild Braunschweigs mit den merkwürdig isolierten „Traditionsinseln“ inmitten moderner Architektur und Stadtgrund- rissgestaltung zeigt dem Besucher immer noch die Wunden, die der Krieg des ehemaligen braunschweigischen Regierungsrats der historischen Metropole zwischen Harz und Heide geschlagen hat.208 Denn Braunschweig besaß mit 2.000 (!) Fachwerkbauten eine unge- wöhnliche Fülle historischer Bürgerhäuser vom 15. bis ins 19. Jahrhundert und hat seinen Charakter als Fachwerkstadt nach den Kriegszerstörungen völlig verloren. Der Wieder- aufbau nach 1945 war eher ein „Neubau“ und führte zu einer völlig anderen Stadt.209 Sichtbare Zeugen der Kriegsfurie sind hierzulande auch die 20.300 Kriegsgräber in rd. 135 Orten im ehemaligen Regierungsbezirk Braunschweig.210 Ebenfalls mahnen an Hit- lers Krieg die vielen Kriegerdenkmäler in den etwa 465 Gemeinden des alten Landes Braunschweig. Gedenkstätten für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden ebenfalls zahlreich im Lande errichtet.211 Noch im Jahre 1955 lebten in Nieder- sachsen 194.000 Kriegsbeschädigte, 180.000 Kriegerwitwen und 156.000 Kriegshalbwai- sen.212 Doch für Hitler waren militärische Verluste nur Zahlen, die ihn menschlich kaum berührten. Er erklärte sogar einem General: „Verluste können nie zu hoch sein, sie sind die Saat zukünftiger Größe“.213 Er äußerte, Kriegstote und Verkrüppelte im Zweiten Welt- krieg würden durch späteren Geburtenüberschuss ausgeglichen. Der „Bluteinsatz“ im Ostfeldzug wäre gerechtfertigt durch das gottgegebene Naturgesetz des Kampfes ums Dasein der Völker und die Gewinnung neuen Lebensraumes im Osten: „Alles Leben muss mit Blut erkauft werden“.214 Ähnlich zynisch bewertete er die Zerstörungen im Luft- krieg. Im November 1944 offenbarte er seinem Favoriten Albert Speer, jede zerstörte Stadt stärke die Kampfbereitschaft wie ein rückzugsverhinderndes verbranntes Schiff und um das „Gejammer der Leute“ über die Zerstörungen könne er sich nicht kümmern.215 Nach dem Endsieg wollte Hitler die Städte schöner wiederaufbauen, als sie waren, mit

208 Hartwig Beseler und Niels Gutschow: Kriegsschicksale deutscher Architektur. Bd. 1. Neumünster 1988: S. 202-231 Zerstörungen in der Stadt Braunschweig (mit Abbildungen); ebd. S. 200-327 dsgl. in Niedersachsen. 209 Rudolf Fricke: Das Bürgerhaus in Braunschweig, Tübingen 1972, S. 9 ff. und passim; Richard Moder­ hack: Braunschweiger Stadtgeschichte. Braunschweig 1997, S. 210. – Ein Experte wie der braun- schweigische Professor und Architekturhistoriker Reinhard Liess urteilte, dass Braunschweig durch Kriegszerstörungen und Wiederaufbausünden „sich selbst fremd geworden ist“ und nur noch eine „his- torische Stätte“, aber keine historische Stadt mehr sei (Liess: Braunschweig. München 1980 S. 32, 34). 210 Wenn Steine reden können: Kriegsgräberstätten in Niedersachsen. Hrsg. vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge – Landesverband Hannover [= Geheftete Blätter]. Hannover o. J. [ca. 1997], S. 3 (Karte), S. 30 f.: Orte mit jeweiliger Anzahl der Kriegstoten. – Im abgetretenen Landkreis Holzminden existieren zusätzlich noch 380 Kriegsgräber sowie im 1945 abgetrennten Landkreis Blankenburg min- destens ca. 560 Kriegsgräber: s. Ulrich Saft: Krieg in der Heimat bis zum bitteren Ende im Harz. Walsrode 1994, S. 364 ff.; Am Rande der Straßen: Kriegsgräber in der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Kassel [1994/1995], S. 92 ff. (Gräberatlas). 211 Ehrhardt, Topographie (wie Anm. 27). 212 Statistisches Handbuch für Niedersachsen 1956. Hannover 1956, S. 179. 213 Erich von Manstein: Verlorene Siege. Bonn 1957, S. 311; Trevor-Roper (wie Anm. 44), S. 96. 214 Picker (wie Anm. 61), S. 742 f.; Hitler (wie Anm. 126), S. 739 f., S. 742 f. 215 Fest, Gespräche mit Speer (wie Anm. 16), S. 82. – Das von Hitler oft angeführte Beispiel der verbrann- ten Schiffe der Griechen stammt aus den Sagen über Alexander den Großen: s. Friedrich Panzer: Das Nibelungenlied. Stuttgart 1955, S. 38 f.

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„monumentaleren Gebäuden“.216 Die Hauptsache bei Hitlers Städtebau waren axiale Prachtstraßen und sogenannte Stadtforen (mit Glockenturm, Versammlungshalle, Partei- und Verwaltungsbauten) im neoklassizistischen Monumentalstil (ein Beispiel ist Salzgit- ter), dem sogar der Chefarchitekt Speer später Monotonie und Leere vorwarf.217 Ähnli- ches hätte man wohl beim Wiederaufbau der zerstörten Stadt Braunschweig unternommen, wie die im Modell schon ausgeführten Planungen für ein großes „Stadtforum“ im Neu- baubereich des heutigen Hauptbahnhofs zeigen.218 Obwohl Hitler in „Mein Kampf“ und später die besondere kulturelle Bedeutung der ehemaligen deutschen Fürstenstaaten und Reichsländer sowie der Städte hervorgehoben hat, hätte ein nationalsozialistischer Wie- deraufbau vielleicht eine totale Abkehr vom historischen Braunschweiger Stadtbild be- deutet und somit den Untergang der stadtarchitektonischen Identität. All das ist die Folge eines Denkens, das im „Führerwort“ kulminiert: „Im ewigen Kampf ist die Menschheit groß geworden – im ewigen Frieden geht sie zugrunde“.219

216 Albert Speer: Spandauer Tagebücher. Frankfurt/M. 1975, S. 309; Fest (wie Anm. 215), S. 82. 217 Wolfgang Pehnt: Deutsche Architektur seit 1900. Ludwigsburg 2005, S. 202 ff.; Speer (wie Anm. 216), S. 166 ff.; Ralf Blank: Wiederaufbauplanungen (1943-1945). In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 9, 1. Halbband. München 2004, S. 429-432. 218 Bernhard Stubenvoll: Das Raumordnungsgeschehen im Großraum Braunschweig zwischen 1933 und 1945. Nürnberg 1987, S. 180 ff. 219 Hitler (wie Anm. 126), S. 288 ff., S. 305, S. 646, S. 149. – Im April 1942 bekannte er, wenn wir den Krieg verlieren, ist „sowieso alles im Buddel“: s. Picker (wie Anm. 61), S. 38, S. 273.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Zum Wappen Heinrichs des Löwen

von

Arnold Rabbow

Heinrich der Löwe (ca.1129 -1195), Herzog von Sachsen und Bayern, der mächtigste deut- sche Territorialfürst des 12. Jahrhunderts, Vetter und lange gestützt von Kaiser Friedrich Barbarossa, Städtegründer, Wirtschaftsförderer, rücksichtsloser Eroberer, schließlich im Dauerkonflikt mit dem (nieder)sächsischen Adel und nach verweigerter Heeresfolge im Zwist mit Barbarossa 1180 seiner Herzogtümer entsetzt – führte er ein Wappen, und wenn ja, welches? Die Frage scheint längst beantwortet: Natürlich führte er ein Wappen, und was sonst als einen Löwen? Aber so einfach ist die Sache bei näherem Hinsehen nicht. Seit Georg Schnath füh- ren alle Historiker, die sich mit der Angelegenheit befasst haben, ein Siegel Heinrichs als Beweis an,1 und niemandem ist bisher aufgefallen, dass dieses Siegel in mehrfacher Hinsicht nicht stimmig ist und zu Nachfragen durchaus Anlass gibt. Das Siegel, um das es geht, gehört zu einer Urkunde zu Gunsten eines Klosters, die sich heute im Hauptstaatsarchiv Hannover befindet (Hild. Or. 3 Riechenberg Nr. 2) Die Datierung auf 1154 – für das norddeutsche Wappenwesen ein sehr frühes Datum – gilt als gesichert. Es soll im Verlauf dieser Untersuchung im Vergleich zu den sonstigen er- haltenen Siegeln Heinrichs einer kritischen Prüfung unterzogen werden, denn die Siegel sind in einer Zeit, in der es an farbigen Wappendarstellungen noch mangelt, die wich- tigste Quelle früher Heraldik. Zunächst aber steht eine Umschau unter sonstigen möglichen Belegen für eine Wap- penführung Heinrichs an. Der wahrscheinlichste Fundort für solche Belege ist Hein- richs Residenzstadt Braunschweig. Hier steht nicht nur der berühmte Burglöwe2 vor der Burg Dankwarderode, den Heinrich, der sich selbst „Löwe“ nannte, als Zeichen seiner landesherrlichen Präsenz errichten ließ. Dieser Burglöwe ist zwar unheraldisch, spielt aber nicht nur als kunsthistorisch herausragende Freiplastik eine Rolle, sondern auch abbildlich als Siegel- und Münzbild. Die Stadt Braunschweig setzte ihn innerhalb einer Stadtarchitektur in ihr Siegel,3 ohne das Symbol ihres Landesherrn als städtisches Ho- heitszeichen zu beanspruchen.

1 Georg Schnath: Das Sachsenross. 2. Aufl. Hannover 1961, S. 17, Tafel I, Abb.1; Peter Veddeler: Das braunschweigische Leopardenwappen. In: BsJb 77 (1966), S. 23-45; hier: S. 24; ders.: Das Niedersach- senross. Hannover 1996, S. 16. 2 Karl Jordan: 800 Jahre Braunschweiger Burglöwe. Gedanken zur Städtepolitik Heinrichs des Löwen. In: 800 Jahre Braunschweiger Burglöwe 1166-1966. Braunschweig 1966, S. 13-32; Gerd Spies: Der Braunschweiger Löwe. Braunschweig 1985, S. 10f, 36f. 3 H. W[egener]: Die Siegel der Stadt Braunschweig. In: Numismatisch-sphragistischer Anzeiger, Han- nover, 31. Jan. 1894, S. 4-16; Richard Moderhack: Der älteste erhaltene Siegelstempel der Stadt Braunschweig (um 1330): Städtisches Museum Braunschweig. Miszelle 30 (1978).

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Abb. 1 (oben): Braunschweigs Wappen 1366/67 in der vom Rat veranlassten Sachsenspiegel- Handschrift (Foto: Rudolf Fricke) Abb. 2 (rechts): Das Braunschweiger Wappen, wie im Wappenbrief König Albrechts II. vom 15. Oktober 1438 bestätigt. (Foto: StadtA BS)

Aber auch das später, seit 1366/67 nachgewiesene Stadtwappen4 enthielt – fast möch- te man sagen: natürlich – einen Löwen, heraldisch ausgeformt als aufrechten roten Lö- wen auf silbernem Grund, den die Stadt sich 1438 von König Albrecht II. urkundlich bestätigen ließ.5 Falls sich auf anderem Wege eine Wappenführung durch Heinrich den Löwen erschließen ließe, wäre das rot-silberne Braunschweiger Stadtwappen ein plau- sibler Hinweis, dass die Stadt die Farben des landesherrlichen Löwen für ihr eigenes Wappen umgekehrt hätte, dass also Heinrichs Wappen, wenn überhaupt ein Löwe, die- ser ein weißer bzw. silberner in rotem Schild gewesen sein könnte. Dafür gibt es einen weiteren möglichen Hinweis – aus Böhmen, was zwar exotisch klingt, wovon aber noch zu sprechen sein wird. Am Braunschweiger Altstadtrathaus befindet sich eine Wappenplastik, und gleich zweifach, die ganz aus dem Rahmen der späteren welfischen Heraldik fällt6 und die Frage zulässt, ob in ihr ein möglicher Wappenlöwe Heinrichs versteckt sein könnte. Das Kernwappen des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg nach der Aussöhnung der Wel- fen mit dem Stauferkaiser bestand aus drei Löwen: zwei übereinander schreitende, gol- den auf Rot, und ein aufrechter, blauer, in einem mit roten Herzen (ursprünglich See- blättern) bestreuten goldenen Feld. Die beiden schreitenden Löwen stellen das herzoglich

4 Rudolf Fricke: Die ältesten Darstellungen von Braunschweigs „Großem“ und „Kleinem“ Wappen. In: Freundeskreis des Großen Waisenhauses e.V. 4 (1954, 10). 5 Wappenbrief König Albrechts II. vom 15. Oktober 1438; Originalurkunde A I 1 Nr.712 im StadtA BS. Es handelt sich nicht um eine Wappenverleihung, sondern um die Bestätigung des bereits (seit min- destens 1366/67) geführten Stadtwappens. Vgl. Manfred R. W. Garzmann: Wappenbrief von König Albrecht II. für die Stadt Braunschweig von 1438. Braunschweig 1993 (mit Faksimile des Wappen- briefs). 6 Vgl. Arnold Rabbow: Ein heraldisches Doppelrätsel am Altstadtrathaus zu Braunschweig. In: Braun- schweiger Zeitung vom 5. Mai 1969, (Sonderseite) 14; Heraldischer Verein Zum Kleeblatt von 1888 zu Hannover. Jahrbuch 1984/85 (Bd. 22/23 der Neuen heraldischen Mitteilungen), S. 108-125.

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Abb. 3: Das „verkehrte“ lüneburg-braun­ Abb. 4: Zweite Ausfertigung mit Helm und schweigische Wappen am Braunschweiger Alt­ Helmzier des lüneburg-braunschweigischen stadtrathaus (Foto: David Taylor) Wappens am Braunschweiger Altstadtrathaus (Foto: David Taylor) braunschweigische Stammwappen dar, während der aufrechte Löwe für die lüneburgi- schen Landesteile des schon im Namen als „Doppel-Herzogtum“ angelegten Landes- fürstentums steht. Dieses bestand aus Kerngebieten des alten sächsischen Stammesher- zogtums, nämlich aus den dem Löwen nach seiner Entmachtung verbliebenen Eigengütern, die Kaiser Friedrich II. als Territorialstaat wiederherstellte und auf dem Mainzer Hoftag 1235 dem Löwen-Enkel Otto dem Kinde verlieh. Das Doppel-Wappen hatte bemerkenswerterweise keine Verbindung zu einem hypo- thetischen älteren Welfenlöwen, sondern war eine Konstruktion aus Anleihen bei der englischen und dänischen Heraldik, die zwiefach königliche Abstammung der Löwen- Nachfahren verdeutlichen sollte, wobei die zwei schreitenden Löwen (Leoparden) eine geminderte Version des englischen Drei-Löwen-(Leoparden)-Wappens darstellten, der blaue Löwe im Herzenfeld eine vereinfachte Variante des dänischen Wappens, das drei Löwen im Herzen- bzw. Seeblätterfeld enthielt. In diesem Zusammenhang ist anhand früher Darstellungen des lüneburgischen Lö- wen ohne die Seeblätter/Herzen gemutmaßt worden, dass der aufrechte Löwe (dessen blaue Färbung anfangs noch nicht sichtbar war) der ursprüngliche Welfenlöwe gewesen sein könnte.7 Diese Vermutung könnte anknüpfen an die Wappenplastik, die sich am

7 Hermann Grote: Geschichte der Welfischen Stammwappen. In: Münzstudien. 3. Bd. Leipzig 1863, S. 282ff.) nennt Gatterer und v.Praun, denen er jedoch widerspricht.

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Braunschweiger Altstadtrathaus befin- det und ganz aus dem Rahmen der welfischen Heraldik fällt, in der das braunschweigische immer vor dem lü- neburgischen Ein-Löwe-Feld rangiert. Denn eigenartigerweise lässt sich durch diesen Schild gar keine durchgehende senkrechte Teilungslinie ziehen. Auch von Herzen findet sich keine Spur, und überhaupt passt das Wappen nicht zu dem sonst stets üblichen braunschweig- lüneburgischen Schild, weil die Felder- Folge „verkehrt“ ist. Eben dieser Umstand macht eine Deutung dieses Wappens als eine Ver- bindung des Heinrich-Löwen mit den altbraunschweigischen schreitenden Lö- Abb. 5: Variante des deutsch-englischen Wap­ wen unwahrscheinlich. Als Kaiser Karl pens Kaiser Ottos IV. bei Matthew Paris (Foto: IV. den Askaniern die Anwartschaft auf British Museum) die lüneburgischen Lande erteilt hatte und somit eine Halbierung des welfi- schen Territorialstaates zu befürchten war, retteten die Welfen mit Unterstützung eines stadtbraunschweigischen Truppenkon- tingents in der Schlacht von Winsen an der Aller 1388 ihren Besitz. Da die Angelegen- heit für die Welfen von existenzieller Bedeutung war, ist die wahrscheinlichste Erklä- rung für die sonst nirgends vorkommende Stellung des lüneburgischen vor den braunschweigischen Löwen, dass der Wappenschild am Altstadtrathaus für alle Zeiten an den Sieg der welfischen Sache und die Unversehrtheit der welfischen Lande erinnern sollte. Am Altstadtrathaus waren früher noch weitere Wappen sichtbar, nämlich an den Figuren der sächsischen Herrscher, darunter auch Heinrich der Löwe. Diese Figuren waren, wie aus Handwerkerrechnungen hervorgeht, ehedem (spätestens seit 1455) mit bemalten kupfernen Schilden versehen, die leider seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts verschwunden sind. Wenngleich natürlich der Heinrich dem Löwen beigegebene Schild kein zeitnaher Beleg eines tatsächlich geführten Wappens war, so doch immerhin ein Zeugnis dafür, welches Wappen man im 15. Jahrhundert für das seine hielt.8 Auch die häufig in verschiedenen Gestaltungen anzutreffenden Löwen auf Münzen9 bei Kaiser Otto IV. wie schon seinem Vater sind nicht als Wappenbilder seines Vaters zu deuten, sondern als frei gestaltete „welfische“ Löwen. Denn Otto IV. dokumentierte in seiner symbolischen Repräsentation vorrangig seinen eigenen englischen Thronfolge-

8 C. W. Sack: Alterthümer der Stadt und des Landes Braunschweig. I. Bd., 2. Abth. Braunschweig 1852. 9 Zahlreiche Münz-Abbildungen bringen Jochen Luckhardt, Franz Niehoff (Hrsg.): Heinrich der Löwe und seine Zeit. Bd. 1 (Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995). Braunschweig 1995, S. 78- 88, T. I u. II.

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Anspruch10 – sogar mit dem halben eng- lischen Wappen, da sein Onkel Richard Löwenherz ihn mangels eigener Kinder als Thronanwärter favorisierte und da dessen Bruder Johann („ohne Land“) damals ebenfalls noch kinderlos war. Eine scheinbar sensationelle Wap- pendarstellung in der angeblich ältesten europäischen Wappenrolle, die anläss- lich der Krönung Ottos IV. am 9. Juli 1198 zusammengestellt worden sein soll, aber lediglich in einer aus verschiede- nen Überlieferungen gespeisten Kopie des 18. Jahrhunderts vorliegt – sie ent- hält auf der Brust des Reichsadlers Abb. 6: Reitersiegel Welfs VI. von 1152 (Foto: einen Herzschild mit vorne einem und Schweizer Archiv für Heraldik 2 (1916) hinten zwei schreitenden Löwen, von denen der aufrechte angeblich der alte Welfenlöwe sein soll –, ist in Wahrheit wohl nichts anderes als die Altstadtrathaus-Variante des im 18. Jahrhundert wohlbe- kannten braunschweig-lüneburgischen Doppelwappens.11 Ernster zu nehmen ist ein frühes welfisches Reitersiegel von 1152, nämlich von Heinrichs Onkel Welf VI. (Herzog von Spoleto, Markgraf von Tuscien, Fürst von Sardi- nien).12 Es hat sich zwar nicht vom Onkel auf den Neffen vererbt, ist aber immerhin ein redendes Wappen des Trägers in Anspielung auf seinen persönlichen und Geschlechts- namen, da „Welf“ (heute Welpe) ein junges Raubtier, vorzugsweise einen Löwen, be- zeichnet. Wenn dieses Wappensiegel echt ist, dann wäre es in der Tat der früheste er- haltene Beleg eines welfischen Wappens, wobei man freilich berücksichtigen muss, dass in dieser frühen Zeit Wappen noch nicht als erbliche Familien- und erst recht nicht als Territorialwappen fungierten, sondern als persönliches Abzeichen ihres Trägers. Das Erscheinungsbild dieses Siegels, eines sehr frühen Beispiels für ein heraldisches Reitersiegel, ist – je nach der Wirkung auf das Auge des Betrachters – verhältnismäßig roh und ungelenk oder aber ein für die damalige Zeit moderner Entwurf mit künstleri- schen Meriten. Im Zusammenhang mit Welf VI. ist der Blick auf eine andere Darstellung eines frühen welfischen Löwen zu richten, und zwar aus dem von Welf VI. 1147 gegründeten

10 vgl. dazu Arnold Rabbow: Kaiser Otto IV. und sein deutsch-englisches Wappen. Anspruch und Kon- flikt. In: Herold-Jahrbuch N. F. 14 (2009), S. 171-188; Heraldischer Verein Zum Kleeblatt von 1888 zu Hannover. Jahrbuch 2010, S. 62-69. 11 Werner Paravicini: Die älteste Wappenrolle Europas. Ottos IV. Aachener Krönung. In: Archivum Her- aldicum 107 (1993, 2), S. 99-146. Vgl. dazu Rabbow (wie Anm. 10), S. 177; Veddeler (wie Anm. 1), S. 27. 12 Ferdinand Gull: Ein Siegel Herzog Welfs VI. vom Jahre 1152. In: Schweizer Archiv für Heraldik 30 (1916, 2), S. 57-59; Luckhardt/Niehoff (wie Anm. 9), S. 94f.

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Kloster Steingaden,13 in dem er am 15. Dezember 1191 seine letzte Ruhe- stätte fand. Der noch recht urtümlich um 1200 gestaltete Löwe scheint ursprüng- lich kein Wappenlöwe gewesen zu sein, weil der Spitzschild, der ihn umgibt, erst im 14. Jahrhundert ausgehauen worden sein soll. Welfs VI. vor ihm 1167 in Rom an der Malaria verstorbener und an sei- ner Seite beigesetzter Sohn Welf VII. hat kein Wappen hinterlassen. Dass Hein- rich der Löwe das Wappen von seinem Onkel Welf VI. geerbt habe, ist unwahr- scheinlich, da er ja nicht von seinem On- kel abstammte, sondern von dessen Bru- der Heinrich dem Stolzen, von dem aber kein Wappen überliefert ist, und da in der heraldischen Frühzeit Wappen noch nicht als Familienwappen begriffen wurden, sondern als persönliches Wap- pen ihres Trägers. Abb. 7: Der Wappenstein von Steingaden (Foto: Eine verblüffende Spur zu einem Bayerisches Nationalmuseum München) möglichen Wappen Heinrichs des Lö- wen führt – nach Böhmen.14 In der tschechischen literarischen Überliefe- rung spielt die Volkssage um einen Helden namens Bruncvík seit altersher eine Rolle. Dieser – sein Name ist eine Adaption von „Braunschweig“ – ist ein böhmischer Königs- sohn, zieht in die Welt hinaus und erlebt ähnliche Abenteuer wie in der mittelhochdeut- schen Sage Herzog Heinrich. Sein treuer Gefährte ist ein Löwe, der nach der Rückkehr Bruncvíks in die Heraldik eingeht, denn sein Herr erhebt ihn zum neuen Wappentier Böhmens, als das der zwiegeschwänzte silberne Löwe (heute gekrönt) im roten Feld bis zur Gegenwart Staatswappen der Tschechischen Republik geblieben ist. Gerade in Bezug auf den Wappenwechsel hat die Bruncvík-Sage einen realen histo- rischen Kern. Denn das erste Wappen Böhmens war ein rotgeflammter schwarzer Adler im silbernen Feld (Abb. 8) gewesen, der in Tschechien „Wenzelsadler“ (mit Bezug auf den hl. Wenzel) genannt wird und ebenso wie andere Wappenadler des 12. und 13. Jahr- hunderts vom deutschen Adler abgeleitet ist und eine Lehensbeziehung zwischen dem

13 L[orenz] Rheude: Eine Wappenskulptur aus Steingaden in Ob.-Bayern. In: Der Deutsche Herold 44 (1913), S. 217; Eduard Bansa: Betreffend die Wappenskulptur in Steingaden. In: Herold 1913, S. 241; Luckhardt/Niehoff (wie Anm. 9), S. 96ff. 14 Anton Zankl: Adler und Löwe. Geschichte und Sage zu den Wappen von Böhmen und Mähren. Prag 1944; Winfried Baumann: Die Sage von Heinrich dem Löwen bei den Slaven. München 1975, S. 11; Berthold Waldstein-Wartenberg: Böhmen. In: Harald Huber: Wappen. Ein Spiegel von Geschichte und Politik. Karlsruhe 1990, S. 160-164.

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Abb. 8: Das erste (Flammenadler) und zweite (Löwe) Wappen Böhmens (Skizze der Reliefwappen auf dem Grabmal König Przemysl Ottokars I. im St. Veitsdom zu Prag) (Zeichnung: Georg Suchá­ nek) jeweiligen Landesfürsten (vor allem in Grenzregionen des alten deutschen Reichs wie Österreich, Lothringen, Schlesien, Mähren, Brandenburg, Tirol und eben Böhmen) zu Kaiser und Reich verdeutlicht. Just dieser Umstand kann den Anlass zu dem sagenhaf- ten wie dem realen Wappenwechsel geliefert haben, weil Böhmens Herzöge und Könige im Zuge ihrer Selbstständigkeitsbestrebungen die Lehensabhängigkeit abzustreifen ver- suchten. Überhaupt wohnt den beiden häufigsten Wappentieren, Adler und Löwe, ein Gegen- satz zwischen imperialem Anspruch und fürstlicher Landeshoheit inne. Den Tschechen erschien nun gerade Heinrich der Löwe im Konflikt mit Kaiser Friedrich I. Barbarossa als Vorkämpfer eines gemeinsamen Interesses, und so schafften sie das Adlerwappen ab zugunsten eines Löwenwappens. Dass ihr neuer Löwe silbern im roten Feld steht, könn- te ein Hinweis auf die Farbgebung eines Wappens von Herzog Heinrich sein. Dass der böhmische Löwe jedoch zwiegeschwänzt ist, könnte in der heraldisch-rechtlich notwen- digen Unterscheidung vom Heinrich-Löwen begründet sein. Einen weiteren Hinweis auf einen silbernen Löwen in Rot gibt der Versroman „Rein- fried von Braunschweig“ aus dem späten 13. Jahrhundert.15 Reinfried ist eine weitere Verkörperung von Herzog Heinrich, der hier ebenfalls zahlreiche Abenteuer bestehen muss, auch und gerade im Vorderen Orient, den er ja tatsächlich als Pilger ins Heilige Land besucht hat. Der Reinfried-Verfasser, ein namentlich unbekannter, aber literarisch gebildeter Dichter, schreibt seinem Helden einen roten Schild mit einem weißen Löwen zu, seinen Nachkommen indes zwei Löwen, so wie sie in der historischen Wirklichkeit

15 Karl Gödeke: Reinfrit von Braunschweig. Hannover 1851, S. 74; Verszeilen 17195-17218, 17225-17227, 17229.

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von den Herzögen von Braunschweig-Lü- neburg für Alt-Braunschweig geführt wurden. Da der Reinfried-Autor das Zwei-Löwen-Wappen als Zeitgenosse kannte, ist das weniger verwunderlich als der Umstand, dass er das vorige Wappen, also das von Heinrich selbst, zu kennen behauptet und ankündigt, die Gründe für den Wappenwechsel zu erläutern, wozu er jedoch nicht mehr kam, da er seinen Vers- roman wahrscheinlich nicht beendete und da ausgerechnet die angekündigte Passa- ge in der erhaltenen Fassung fehlt. Auf der Suche nach Heinrichs Wappen sind auch seine Söhne ins Auge zu fassen, Abb. 9: Löwensiegel Herzog Heinrichs nach da sie sein Wappen geerbt haben könnten, seiner Absetzung 1180 (Foto: NLA-Haupt­ also Kaiser Otto IV. und Pfalzgraf Hein- staatsarchiv Hannover) rich. Beide nahmen während der Kinder- losigkeit von König Richard Löwenherz und zunächst auch seines Bruders Johann („ohne Land”) in der offenen englischen Thronfolge prominente Plätze ein. Deswegen benutzten beide Wappen, die diesen An- spruch verdeutlichten: Otto IV., indem er den halben deutschen Reichsadler mit den drei englischen Leoparden (schreitenden Löwen) in seinem Schild vereinigte, und Pfalzgraf Heinrich durch ein Wappen mit zwei Leoparden, einer „geminderten“ Version des eng- lischen Wappens, wie sie im Umkreis von König Heinrich II. von Angehörigen der Königsfamilie benutzt wurde. Die zwei schreitenden Löwen wurden, auf Braunschweig bezogen und kombiniert mit dem blauen Löwen (für Lüneburg), zum Stammwappen des späteren, von Kaiser Friedrich II. errichteten Herzogtums Braunschweig-Lüneburg, das bis 1918 in amtlicher Geltung war. Indes existieren vom Pfalzgrafen16, der die rheini2sche Pfalzgrafschaft durch Heirat mit der Tochter Agnes des staufischen Pfalzgrafen Konrad erlangt hatte, auch Siegel mit nur einem Löwen im Wappen. Hat er ihn von seinem Vater ererbt oder steht er für etwas anderes? Dass Pfalzgraf Heinrich ihn von seinem Vater übernommen habe, ist deswe- gen unwahrscheinlich, weil derselbe das Löwenwappen (wenn er es denn überhaupt geführt hat) bei seinem Tode (also beim Erbfall) schon lange nicht mehr geführt hatte. Während der Pfalzgraf auf seinem Reitersiegel von 1196 einen Adlerschild als Amts- wappen seiner pfalzgräflichen Würde trägt,17 erscheint auf einem anderen Reitersiegel von 1196 bzw. 1198/99 tatsächlich ein steigender Löwe im Schild und darüberhinaus ein schreitender Löwe in der Fahne18 (ob er als schreitender oder steigender anzusehen ist,

16 Zu dessen Siegeln s. Bernd Schneidmüller: Die Siegel des Pfalzgrafen Heinrich bei Rhein, Herzogs von Sachsen (1195/96-1227). In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 57 (1985), S. 257- 265. 17 Origines Guelficae … Tomus III. Hannover 1752, T. XVIII, Nr. 1. 18 Ebd., Nr. 4. Vgl. Abb.10.

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Abb. 10: Siegel des Pfalzgrafen Heinrich mit je Abb. 11: Siegel des Pfalzgrafen Heinrich von einem Löwen in Fahne und Wappen. (Origines 1196 (nach Schneidmüller: 1198/99) mit zwei Guelficae. T. III, Tafel XVIII, Nr. 4) übereinander schreitenden Löwen im Schild und einem Löwen in der Fahne (Foto: Staats­ archiv Dresden)

muss offen bleiben, weil bei Gonfanons (Lanzenfahnen) die Bildachse oft nicht parallel zur Stange verläuft, sondern senkrecht zu ihr). Die früher vertretene These, Heinrich habe von seinem staufischen Schwiegervater Konrad den Löwen als Wappen der Pfalz- grafschaft (gold auf Schwarz) übernommen, wird heute einhellig verworfen, auch des- wegen, weil von Konrad Wappen und Siegel fehlen. Was aber symbolisiert der Löwe dann? Jedenfalls kaum Heinrichs Eigenschaft als Welfen, als Begründer des Herzog- tums Braunschweig, denn in den Reitersiegeln von 1201 und 1209 kennzeichnen ihn jeweils zwei Leoparden im Schild als solchen.19 Die Erklärung liefert die Umschrift des Siegels von 1196 bzw. 1198/99, in der Heinrich sich nicht nur „comes palatinus Rheni“, sondern auch „dux Saxoniae“ nennt. Der einzelne Löwe ist hier also kein „welfischer“, der den Geschlechtsnamen „Welf“ als „redendes“ Wappentier symbolisiert, sondern ein Anspruchswappen, das die Restitution des Herzogtums Sachsen20, das mit dem Sturz Heinrichs des Löwen von der Landkarte verschwunden war, symbolpublizistisch for- mulierte, obwohl sie nicht mehr stattfand, sondern allenfalls in verringertem Umfang durch die Gründung des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg 1235 kompensiert wurde. Richten wir den Blick wieder auf Heinrich den Löwen selbst, zunächst auf seine Münzen. Natürlich haben sich Brakteaten von ihm und seinem Sohn Otto IV. mit Lö- wenmotiv erhalten,21 aber mit frei gestalteten, unheraldisch aufgefassten Löwen, nicht jedoch mit einem Löwen im Schild, einem Löwenwappen. Das kann daran liegen, dass Wappen auf Münzen, jedenfalls auf Brakteaten, wegen Kleinheit der Details schlecht

19 Ebd., ebda., Nr. 2; NLA-StA WF 5 Slg 3 Nr. 9. 20 So schon Gustav A. Seyler: Geschichte der Heraldik. Nürnberg 1890, S.246. Zum Anspruch auf das Herzogtum Sachsen s. im Einzelnen Bernd Ulrich Hucker: Kaiser Otto IV. Hannover 1990, S.40ff. 21 Luckhardt/Niehoff (wie Anm. 9), S.79-84.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 176 Arnold Rabbow zur Geltung gebracht werden können. Aber der eigentliche Grund ist, dass Heinrich nach seinem Sturz 1180 und dem Verlust seiner Stellung als Reichsfürst weder ein regu- läres Wappen noch ein übliches Reitersiegel mit Wappenschild und Fahnenlanze be- nutzte. Deswegen müssen nun die wegen ihrer rechtlichen Bedeutung wesentlichen Siegel als wichtigste historische Quelle zur Symbolpublizistik Heinrichs betrachtet werden. Von diesen sind acht bekannt, sieben Reitersiegel und ein Löwensiegel. Letzteres (Typ VIII) stammt aus der Zeit nach der Absetzung Heinrichs, der kein fürstliches Reitersie- gel mit Nennung seiner beiden Herzogtümer mehr führte, und enthält nur noch einen naturalistischen Löwen und in der Umschrift lediglich die Bezeichnung „SIGILLUM HENRICI DUCIS“.22

Die zeitlich davor benutzten Reitersiegel (sämtlich mit bildloser Fahnenlanze) sind:23

Typ I von 1142/1144, erhalten nur an einer Urkunde Braunschweig/Dorla 23./27. Juli 1144 (heute im Hauptstaatsarchiv Hannover) mit Legende „H(E)INRICU(S) DEI GRAT(IA) (SA)XONVM DUX“. Der (realiter) noch jugendliche Herzog hält einen langen Norman- nenschild, dessen eventueller Inhalt nicht mehr zweifelsfrei zu erkennen ist.24 Typ II von 1146/1154, erhalten (stark beschädigt) an einer Urkunde von eventuell 1146 im Staatsarchiv Wolfenbüttel und (am linken Rand stark beschädigt) an einer Gos- larer Urkunde vom 11. Juni 1154 zugunsten des Klosters Riechenberg (Hild. Or.3 Rie- chenberg Nr. 2) im Hauptstaatsarchiv Hannover mit Legende „HENRICVS DEI GRA(TIA) DVX BAWARIE 7 SAX(ONIE)“, die Heinrichs um die Mitte der 1140er Jahre erhobenen und erst auf dem Reichstag von 1154 zu Goslar erfüllten Anspruch auf Bayern formuliert. Schildinhalt heute undeutlich, nach einer Nachzeichnung des 18. Jahrhunderts ein steigender Löwe. Hasenritter bemerkt dazu: „ob der Schild mit dem steigenden Löwen geschmückt war, ist nicht mehr deutlich zu erkennen, Spuren dafür sind noch vorhanden“.25 Es ist dies das Siegel, auf das sich die Zuschreibung eines Lö- wenwappens für Heinrich den Löwen stützt. Das Löwenwappen ist weder das Wappen Sachsens noch dasjenige Bayerns. Territorialwappen im heutigen Sinne gab es damals noch nicht, da Wappenschilde, ehe sie zu Familienwappen wurden, zunächst nur ihren persönlichen Träger repräsentierten.26

22 Z. B. NLA-StA WF 25 Urk 22: http://www.historische-datenbanken.niedersachsen.de/siegel/index.php Nr. 1126 (15.9.2012). 23 Die Siegel-Liste fußt auf: Fritz Hasenritter, Beiträge zum Urkunden- und Kanzleiwesen Heinrichs des Löwen. Greifswald 1936; Karl Jordan: Die Urkunden Heinrichs des Löwen, Herzogs von Sachsen und Bayern. Stuttgart 1960 (Nachdruck von 1949). Die Typnummerierung folgt hier derjenigen der ab- gebildeten Originalsiegel in Luckhardt/Niehoff (wie Anm. 9), S.134-137, 467-469, 594-595. Der Verfasser dankt Herrn Dr. Thomas Franke vom Hauptstaatsarchiv Hannover für freundliche Hilfestel- lung bei der Lokalisation von Originalsiegeln. 24 NLA-Hauptstaatsarchiv Hannover Cal. Or. 100 Bursfelde Nr. 16: http://www.historische-datenbanken. niedersachsen.de/siegel/index.php Nr. 1220 (15.9.2012). 25 Hasenritter (wie Anm. 23), S.53. 26 http://www.historische-datenbanken.niedersachsen.de/siegel/index.php Nr. 3 (15.9.2012).

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Typ III von vor 1156, nur in einem Ex- emplar erhalten an einer Urkunde Herz- berg 24. Juni 1156 (heute im HStA Han- nover): „(HEINRICVS) D(E)I GR(ATI)A DVX BAWARIE ATQ(VE) SAXONIE“. Auf dem (recht klein geratenen) Schild des Reiters ist nichts zu erkennen.27 Typ IV von vor 1152 (nur in zwei Aus- prägungen erhalten, eine vom 1. Februar (vor 1152) (Stiftsarchiv Wilten, Inns- bruck) „HEINRICVS D(E)I GR(ATI)A DVX BAWARIE ET SAXONIE“. Bild stark verwischt. Schildinhalt unklar.28 Typ V von vor 1160, u. a. erhalten an einer Urkunde Corvey 3. Februar 1162 Abb. 12: Siegel Heinrichs des Löwen von 1154 (Staatsarchiv Wolfenbüttel). HEIN- mit Wappenschild in der Nachzeichnung des RICV(S) D(E)I GR(ATI)A DVX BAWA- 18. Jahrhunderts (Origines Guelficae. T. III, RIE ATQ(VE) SAXONIE). Schild unbe- Tafel 1) stimmbar. Die Umschrift schildert jetzt die realen Verhältnisse, da Heinrich seit 1154 tatsächlich mit dem (verkleinerten) Herzogtum Bayern belehnt war.29 Typ VI von 1161/74. Gründungsurkunde des Klosters Riddagshausen 1146 (im Staatsarchiv Wolfenbüttel in zwei fast textgleichen Ausfertigungen). „HEINRICVS DEI GRACIA DVX BAWARIE ET SAXONIE“. Da dieses Typar gesichert nur 1161/74 nachgewiesen ist, ist die Urkunde von 1146 entweder später neu besiegelt worden oder eine Zweitschrift mit Übernahme des ursprünglichen Datums. Schildbild: Strahlenbu- ckel.30 Typ VII von vor 1163. Urkunde vom 12. Juli 116(3) (Landesarchiv Schleswig-Hol- stein in Schleswig). „HEINRI(VS) D(E)I GR(ATI)A DUX BAWARIE ET SAXONIE“. Schildbild: Strahlenbuckel.31 Die bisherige Forschung zu Heinrichs Siegeln hat einen wichtigen, in der Heraldik bekannten Sachverhalt in Bezug auf die Reihenfolge der Siegel übersehen bzw. keine Schlussfolgerungen hinsichtlich der Authentizität daraus gezogen. Die Schildinhalte auf den Reitersiegeln– abgesehen von den nicht mehr gesichert erkennbaren – , also steigen- der Wappenlöwe (Typ II von 1146/54) und Strahlenbuckel (Typ VI von 1161/74 und Typ VII von vor 1163) stehen in keinem stimmigen Verhältnis zueinander. Strahlenbuckel

27 NLA-Hauptstaatsarchiv Hannover Cal. Or. 100 Bursfelde Nr. 8: http://www.historische-datenbanken. niedersachsen.de/siegel/index.php Nr. 1221 (15.9.2012). 28 http://www.historische-datenbanken.niedersachsen.de/siegel/index.php Nr. 1512 (15.9.2012). 29 NLA-StA WF 24 Urk Nr. 8: http://www.historische-datenbanken.niedersachsen.de/siegel/index.php Nr. 4 (15.9.2012). 30 NLA-StA WF 24 Urk Nr. 3: http://www.historische-datenbanken.niedersachsen.de/siegel/index.php Nr. 1 (15.9.2012). 31 http://www.historische-datenbanken.niedersachsen.de/siegel/index.php Nr. 5 (15.9.2012).

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 178 Arnold Rabbow

sind Schildfiguren vorheraldischer Zeit, die mit umbo (zentraler Buckel) und da- von ausgehenden metallenen Verstärkun- gen dem Schild Festigkeit verliehen. Sie sind noch keine Wappenbilder, sondern deren Vorläufer, und einige von ihnen (Kleve, Navarra) sind später zu regulären Wappen geworden. Die Strahlenbuckel gehen den heraldischen Schildinhalten in einer Übergangszeit voraus, bis sie von den zunächst persönlichen und später er- blich werdenden Wappenbildern abgelöst werden. Die Typare VI und VII müssten also zeitlich vor dem Typar II mit dem Lö- wenwappen liegen bzw., anders ausge- Abb. 13: Reitersiegel Herzog Heinrichs vom drückt, müsste das Löwenwappen von Typ VI. Schild mit Strahlenbuckel (Foto: Hel­ 1146/54 zeitlich etwa 20 Jahre später an- muth Wesemann) zusetzen sein. Schon Schnath erwähnt die umge- kehrte Reihenfolge der Schildbilder, jedoch ohne daraus Schlussfolgerungen zu ziehen (a. a. O., S. 18). Ebenso hat Veddeler das Übergewicht der Strahlenbuckel-Schilde (über 20 der erhaltenen Reitersiegel gegenüber einem Wappen) festgestellt, doch bedeute dies „keineswegs, daß der Herzog das Löwenwappen aufgegeben“ habe.32 Da die Strahlen- buckel-Siegel vor dem Löwenwappen rangieren müssen, ist dies in der Tat kein Hinweis auf einen Verzicht des Herzogs auf das Löwenwappen, sondern eher darauf, dass es sich bei diesem, falls echt, um eine spätere Schöpfung handelt. Leider gestattet der Erhal- tungszustand von Typar I 1142/44 keine Deutung des Schildinhalts, als der am ehesten ein Strahlenbuckel zu vermuten ist. Da die Heraldik überhaupt erst im zweiten Viertel des zwölften Jahrhunderts Form angenommen und sich rasch, aber keineswegs blitz- artig, von Nordfrankreich nach England und Kontinentaleuropa ausgebreitet hat, wäre ein regelrechtes Wappen so früh in Niedersachsen unwahrscheinlich, auf jeden Fall 1142/44, als Heinrich ein Jüngling von 13 oder 15 Jahren war, und wohl auch noch für Typar II von 1154. Denn die Wappen verbreiteten sich in der sozialen Schichtung nicht von oben nach unten – gerade die großen Herren, wie Könige und Fürsten, nahmen nicht besonders früh, sondern mit einer zeitlichen Verzögerung, Wappen an –, vielmehr von der oberen Mitte, also dem Adel, nach oben und unten.33 Der Altmeister der niedersächsischen Siegelkunde, Hermann Grote, warnt denn auch, dass alle welfischen Siegel vor dem Ende des zwölften Jahrhunderts als unecht anzusehen seien bzw. dass sie erst nachträglich an den betreffenden Urkunden ange-

32 Peter Veddeler: Das Niedersachsenroß. Geschichte des niedersächsischen Landeswappens. Hannover 1996, S. 16. 33 Ottfried Neubecker: Die ideologische Funktion des Wappenschildes. In: Der Tappert 1968, S. 1-28.

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bracht wurden.34 Grote bekräftigt sein Urteil speziell in Bezug auf das Wappen- Reitersiegel von 1154. Das heißt nicht ohne weiteres, dass die Urkunde von 1154 mit dem als frühestes Wappen Heinrichs geltenden, allerdings nur durch eine im 18. Jahrhundert gezeichnete Abbildung überlieferten Siegel Fälschungen seien. Was die Urkunde anbelangt, so ist sie vom Empfänger formuliert worden. Das Siegel ist ebenfalls vom Empfänger ange- bracht worden – wahrscheinlich beträcht- lich später. Der Begriff Fälschung greift bei vielen Klosterurkunden nicht, weil in rauen Zeiten viele Original-Urkunden zerstört wurden, weshalb die begünstig- ten Klöster keinen Anstand nahmen, sie Abb. 14: Reitersiegel Herzog Heinrichs vom nach bestem Wissen bzw. auf der Grund- Typ VII. Schild mit Strahlenbuckel (Foto: Lan­ lage von vielleicht vorhandenen Urbaren desarchiv Schleswig-Holstein) zu „rekonstruieren“. Da der ursprüngliche Aussteller außer im Urkundentext durch sein Siegel benannt war, nahmen die Empfänger ihre Zuflucht zu selbstgefertigten Sie- geln, die sie an den entsprechenden Dokumenten anbrachten, wobei sie echte Ver- gleichsstücke, soweit vorhanden, als Vorlagen nutzten. Im Falle der hier in Rede stehen- den Urkunde war dies unter Umständen einfach, weil ja die Urkunde in Goslar ausgestellt ist, wo Heinrich auf dem dortigen Reichstag 1154 auch als Herzog von Bayern anerkannt wurde, wie es sich in der Siegelumschrift widerspiegelt. Ob das Original dieses Siegels schon 1146 verwendet worden ist, lässt sich aufgrund des stark beschädigten Siegels an der im Staatsarchiv Wolfenbüttel verwahrten Urkunde nicht feststellen. Es ist aber un- wahrscheinlich, weil der von Heinrich schon in den 1140er Jahren erhobene Anspruch auf Bayern erst 1154 anerkannt worden ist. Das heißt, dass das auf 1154 datierte Siegel damals noch neu war und vom Empfänger diesem aktuell nachgebildet worden sein kann, sofern es nicht erst später (s. o.) entstanden ist. Was die Nachzeichnung in den „Origines Guelficae“ angeht, so gibt sie keinen An- lass, an der Authentizität des Siegels zu zweifeln, obwohl erhebliche Teile in der noch „kompletten“ Zeichnung am Original heute fehlen. Generell ist freilich bei solchen Nachzeichnungen zu bedenken, dass der Nachzeichner in seiner Vorlage Details zu se- hen meinen kann , die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Das Auge ist nicht eine Kamera-Linse, sondern ein „aktives“ Organ, das dem Betrachter etwas als vorhanden vorspiegeln kann, was dieser zu sehen meint oder gern sähe. Das ist in gewissen gezeich-

34 Grote (wie Anm. 7), S. 301. Jordan (wie Anm. 23), S. 12 konstatiert: „Die Besiegelung beider Origina- le ist also – falls nicht überhaupt spätere Beurkundung vorliegen sollte – hier wie auch sonst in der Frühzeit Heinrichs erst nachträglich erfolgt“.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 180 Arnold Rabbow neten Details auch auf der Nachzeichnung zu bemerken,35 abgesehen davon, dass wir nicht wissen, ob Erhaltungsschäden wie die heute festzustellenden schon im 18. Jahr- hundert, vielleicht teilweise, vorhanden waren und der Nachzeichner sie nach bestem Wissen ergänzte, was auch die heute unvollkommene Figur des Wappenlöwen betreffen könnte. Wie auch immer – ein Dynastie- oder Familienwappen hat Heinrich der Löwe 1154 nicht begründet. Seine Nachkommen leiteten das braunschweig-lüneburgische Wappen vom englischen und dänischen Wappen ab und verwendeten zwar als welfisches Emb- lem auch Löwen oder Löwenköpfe, aber nicht als Wappenbilder, sondern in anderer Gestaltung als für den Geschlechtsnamen „Welfen“ redende Symbole , so wie der Löwe selbst, der nach 1154 und erst recht seit seiner Absetzung jedenfalls kein Wappen be- nutzte, sondern einen naturalistisch gestalteten, schreitenden Löwen.36 So bleibt die Fra- ge, ob Heinrich der Löwe tatsächlich schon ein Wappen geführt habe, trotz des einzigen erhaltenen, aber nicht zweifelsfreien Nachweises in der Urkunde von 1154 angesichts der widersprüchlichen Entwicklung von Löwen- und Strahlenbuckel-Belegen weiter of- fen. Jedenfalls blieb sein wappenmäßiges Erscheinen im Jahre 1154 – wenn es denn mit dieser Datierung seine Richtigkeit hat – eine verfrühte Ausnahme. Ungeklärt sind natürlich erst recht die Farben, die jedes Wappen erst konstituieren, aber aus Siegeln nicht hervorgehen. Sie sind allenfalls zu vermuten. Wenn sie existierten, dann spricht einiges (Stadt Braunschweig, Böhmen, Reinfried) für einen silbernen bzw. weißen Löwen im roten Feld. Dass die Suche nach konkreten Belegen für ein Wappen Heinrichs des Löwen nur einen einzigen und nicht hundertprozentig verlässlichen Fund zutage gefördert hat, passt zur Beobachtung, dass gerade hohe Fürsten in der heraldi- schen Frühzeit noch nicht als Wappenträger auftreten. Zu ihnen zählt auch Heinrich der Löwe. Deshalb muss auch in Betracht gezogen werden, dass er vielleicht gar kein Wap- pen geführt hat.

35 Während auf dem Original die Vorderhufe des Pferdes gegenüber der „7“ (=“et“) und dem „E“ stehen, zeigen sie in der Nachzeichnung auf das „IE“ von „BAWARIE“. Die Hinterhufe des Originals stehen auf dem „RA“ von „GRA“, in der Nachzeichnung beide auf dem „A“. Wenn der heute nicht mehr er- kennbare steigende Löwe des Schildes dem Nachzeichner noch sichtbar war, könnte das auf eine späte- re Entstehungszeit des Siegels deuten, da dann die Phase der Schildbuckel-Übergangs-Schildbilder be- reits vorüber war. 36 Dazu ausführlich Dieter Matthes: Bemerkungen zum Löwensiegel Herzog Heinrichs. In: Wolf-Dieter Mohrmann (Hrsg.): Heinrich der Löwe. Göttingen 1980, S. 354-373.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Die Wohnungen Herzog Anton Ulrichs im Schloss Wolfenbüttel und im Schloss Salzdahlum

von

Hans-Henning Grote

Vor 300 Jahren, am 4. März des Jahres 1713, bewegte sich ein Zug von 374 Pferden, Kut- schen und Sänften vom Sternhaus nach Salzdahlum.1 Der russische Zar Peter der Große war mit 237 Begleitern zu einer Kurzvisite Herzog Anton Ulrichs unterwegs. Dieser Be- such stellte gut ein Jahr vor dem Tod des Herzogs 1714 einen bedeutenden Höhepunkt im Leben Anton Ulrichs dar. Fürsten und deren Gesandte, adelige und bürgerliche Reisende weilten regelmäßig zu Visiten in den Schlössern in Salzdahlum und Wolfenbüttel. Höhepunkte des Besucher- programms von fürstlichen Aufenthalten bildeten Schloss Salzdahlum, insbesondere die Große Galerie, die fürstliche Bibliothek in Wolfenbüttel und das Opernhaus auf dem Ha- genmarkt in Braunschweig. Die Besucher lernten nicht nur die großen Kunstschätze und die Hochkultur kennen, sondern auch die Schlossgemächer und deren Ausstattung, die als barockes Gesamtkunstwerk angelegt waren. Aus verschiedenen Reisetagebüchern, Schlossbeschreibungen und einem Inventarverzeichnis lässt sich ein Bild zeichnen, wo und wie der Dichterfürst Anton Ulrich in Wolfenbüttel und Salzdahlum wohnte.2 Die barocken Wohnungen des Dichterfürsten und ihre herausragende kunsthistorische Be- deutung im europäischen Kontext sollen nachfolgend aufgezeigt werden. Im Wolfenbütteler Residenzschloss wurde im ersten Obergeschoss des Nord-Nord- westflügels, anstelle eines Saales, ab 1690 ein Appartement double, eine doppelte Wohn- raumfolge um einen kleinen Festsaal gruppiert (Abb. 1: A, C, D), geschaffen.3 Diese Raumensembles, die heute, trotz einiger Zerstörungen (Privatappartement Herzog Anton

1 Friedrich Thöne: Wolfenbüttel, Geist und Glanz einer alten Residenz. München 1963, S. 111 f. 2 Schlossbeschreibung „von Herrn Flemmer aus Cassel“ in: Gerhard Gehrkens: Das fürstliche Lust- schloss Salzdahlum und sein Erbauer Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Braun- schweig 1974 (Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Geschichte 22), S. 163-171; Zacharias Conrad von Uffenbach: Merkwürdige reisen durch Niedersachsen, Holland und England. Ulm 1753, S. 326-349; Tobias Querfurt: Kurtze Beschreibung Des Fürstl. Lust-Schlosses Saltzdahlum. Braun- schweig [1710]. Der Beschreibung ist ein Kupferstich von Johann Georg Bäck nach Tobias Querfurt beigegeben, der rechts im Blatt (neben einem Stapel Bauholz) mit der Jahreszahl 1710 datiert ist. Nur ein datiertes Exemplar ist erhalten (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, TOP 15 a 2.4); „Spezifica- tion derer auf dem Herzogl. Schlosse zu Wolffenbüttel befindlichen Meubles … ao 1736“: NLA-StA WF 1 Alt 25 Nr. 10. In der „Spezification...“von 1736 , dem einzigen erhaltenen Verzeichnis der Aus- stattung des Schlosses Wolfenbüttel, werden Gegenstände aus verschiedenen Zeiten aufgeführt. Durch Vergleiche mit Inventarverzeichnissen anderer Schlösser können die Objekte von einander geschieden und datiert werden. 3 Hans-Henning Grote: Schloss Wolfenbüttel, Residenz der Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg. Braunschweig 2005, S. 95.

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D 7 H 16 D 10 D 9 D 5 D 6 H 14 H 15 B 2 D 8 H 13 B 1 D 4 D 3 D 2 B 3 D 1 H 7 H 12 A H 8 H 6 C 1 C 9 H 5 C 10 H 11 C 13 C 2 H 4 C 14a C 3 C 11 C 4 H 3 C 14 C 4 C 4a C 8a C 5 H 10 C 7 H 2 C 6 C 8c H 9 C 12 H 1 C 8b F 1 F 2 E 5 E 4 G E 1 K E 2 E 3

Abb. 1: Schloss Wolfenbüttel, 1. Obergeschoss mit Darstellung der Appartments zur Zeit von Her­ zog Anton Ulrich (1690-1714) und Herzog August Wilhelm (1714-1731). E. Arnhold / H. H. Grote

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Ulrichs nach 1945 entfernt. Abb. 1: C 5-C 8), noch weitgehend erhalten sind, bilden den Schwerpunkt der „Historischen Schlossräume“ des Museums Schloss Wolfenbüttel. Das Herzogappartement (Abb. 1: C 1-C 3, C 9, C 10), westlich des Festsaales, des heutigen „Venussaales“ gelegen, ist mit seinem fünf Räume umfassenden Staatsapparte- ment das einzige dieser Art aus dem Zeitalter des Hochbarocks in Norddeutschland. Das Herzoginnenappartement (Abb. 1: D 1-D 8), östlich des Venussaales gelegen, trägt heute neben Formen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts vor allem Überfor- mungen aus der Zeit um 1735. Es wurde zwischen 1735 und 1738 unter Herzog Karl I. für seine Gemahlin Herzogin Philippine Charlotte erneuert.4 Beide Appartements waren ursprünglich ihrerseits als Appartements doubles aufge- baut. Das heutige Herzogappartement war zunächst für den Hauptregenten, Herzog Ru- dolf August zu Braunschweig und Lüneburg, und seine bürgerliche Gemahlin, Madame Rudolfine (Rosina Elisabeth Mente), errichtet worden.5 Aus dem kleinen Festsaal (Abb. 1: A) gelangte man zunächst in die herzogliche Wohnung. Man betrat eine Antichambre (Abb. 1: C 1), dann das Audienzzimmer (Abb. 1: C 2) und schließlich das Schlafzimmer (Abb. 1: C 3). Die Antichambre diente als Warteraum bei Audienzen, die im nachfolgen- den Audienzzimmer stattfanden. Dem Schlafzimmer folgten ein Kabinett (Abb. 1: C 14 a), eine Garderobe (Abb. 1: C 14) und eine Retirade (Abb. 1: C 4a). Dieses Appartement be- wohnte Herzog Rudolf August. Durch eine Tapetentür führte der Weg vom Audienzzim- mer Rudolf Augusts (Abb. 1: C 2) durch einen schmalen Galeriegang (Abb. 1: C 4; später unterteilt) in ein dreiräumiges Appartement, das ursprünglich aus einem Vorzimmer Abb. 1: C 5) und einem Schlafzimmer (Abb. 1: C 6) samt Garderoben (Abb. 1: C 8a-c) bestand. Es diente der bürgerlichen Ehefrau des Herzogs als Wohnung. Daher fehlten in diesem Appartement Audienzzimmer und Kabinett. Auf der Ostseite des Nordflügels lag nach dem Festsaal (heute nach dem Deckenbild, das aus dem ehemaligen Herrenhaus Groß Schwülper stammt, „Venussaal“ genannt) ebenfalls ein weiteres Appartement double, dessen einzelne Appartements jeweils aus fünf Räumen (Antichambre, Audienzzimmer, Schlafzimmer und Kabinett sowie Garde- robe; Abb. 1: D1-D 8) bestanden. Hier wohnten der Mitregent Herzog Anton Ulrich und seine Gemahlin Herzogin Elisabeth Juliane.6 Im Ostflügel des Schlosses befand sich im spätmittelalterlichen Kernbau das Erbprin- zenappartement (Abb. 1: H 2-H 4). Als Herzog August Wilhelm 1695 Witwer wurde, heiratete er ein zweites Mal. Für seine zweite Frau wurde eine Wohnung in der Nähe seines Appartements (Abb. 1: D 4-D 7) geschaffen. Zu diesem Zwecke musste eine Um- gruppierung der Appartements erfolgen.7 Herzogin Elisabeth Juliane zog in die Räume ihres Gatten (Abb. 1: D 1-D 3, D 8) und die neue Erbprinzessin in die Räume von Herzo- gin Elisabeth Juliane (Abb. 1: D 4-D 7). Herzog Anton Ulrich bewohnte nun die Räume von Madame Rudolfine (Abb. 1: C 5-C 8), der Gemahlin seines Bruders, die ihr Apparte- ment aufgegeben hatte.

4 Grote (wie Anm. 3), S. 119 f. 5 Ebd. 6 Siehe Anm. 5. 7 Grote (wie Anm. 3), S. 119.

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Abb. 2: Schloss Wolfenbüttel, Erdgeschoss; nach KDM 1904.

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Es ist fraglich, ob Anton Ulrichs Bruder Rudolph August überhaupt noch sein Appar- tement bewohnte. Es hatte nämlich starke Spannungen zwischen dem brüderlichen Re- genten gegeben. Um 1694 wurden die älteren Schlafzimmer des sogenannten Herzog­ appartements durch den Einbau von Alkoven erneuert.8 Im einzigen überlieferten Inventarverzeichnis des Wolfenbütteler Schlosses (von 1736)9 wird im Schlafzimmer des dreiräumigen Appartements (Abb. 1: C 6) ein Porträtgemälde des dänischen Königs Christian V. erwähnt,10 der ein enger Freund Herzog Anton Ulrichs war und bis 1699 re- gierte. Möglicherweise diente der zum „Venussaal“ gerichtete vordere Anteil des Herzog- appartements (Abb. 1: C 1-C 3) offiziell Herzog Rudolf August, wurde aber von diesem nach 1694 nicht mehr ständig bewohnt und nur zu Staatszeremonien genutzt. Im Lustschloss in Salzdahlum, das heutzutage fast völlig verschwunden ist (1811/1812 abgebrochen), bewohnten Herzog Anton Ulrich und seine Gemahlin je ein Appartement im Erdgeschoss des Hauptgebäudes (Abb. 3: A 1-A 10; B1-B10). Im Gegensatz zu den äl- teren Räumen im Schloss Wolfenbüttel verfügten beide Appartements über zwei Vorzim- mer, ein Audienz- und Schlafzimmer, ein „Grand Cabinet“ und ein kleines Kabinett, zwei Garderoben und je eine Galerie. Die etwa gleichzeitig mit den Wolfenbütteler Gemächern zwischen 1690 und 1694 geschaffenen Appartementräume in Salzdahlum waren auf- grund des Neubaues gegenüber der Raumbegrenzung im Altbau großzügiger und moder- ner gegliedert (zwei Antichambre in Salzdahlum gegenüber einer Antichambre in Wol- fenbüttel, dort diente der kleine Festsaal als erstes Vorzimmer beider Appartements). Die wandfeste und bewegliche Ausstattung beider Schlösser dürfte aber gleichartig gewesen sein. Hier wie dort waren die Wände mit Wirkteppichen oder Großgemälden bekleidet und die Raumdecken mit Stuckaturen und Deckenbildern (in Fresko und Öl) verziert. Die erhaltenen Wolfenbütteler Schlossräume legen Zeugnis ab, wie die Salzdahlumer ausge- sehen haben. Gegenüber den erhaltenen Wolfenbütteler Gemächern trat zu den Stuckatu- ren in Salzdahlum die Kunstgattung der Wandfreskomalerei, wie sie noch heute im Gale- riegebäude in Hannover-Herrenhausen zu finden ist. Aus dem Vergleich der Salzdahlumer Schlossbeschreibungen von Flemmer aus dem Jahre 1697 und Querfurt von 1710 ergibt sich,11 dass nach dem Tod von Herzog Anton Ulrichs Gemahlin (1704) einerseits eine Umnutzung erfolgte, andererseits Teile der be- weglichen Ausstattung umgestellt wurden. Außerdem erfuhren die Räume Herzog Anton Ulrichs eine Erneuerung und Erweiterung. Das Appartement der Herzogin (Abb. 3: B 1-B 10) bezog nun der Erbprinz. Waren ursprünglich wie in Wolfenbüttel sämtliche Raumdecken stuckiert, so vollzog sich nach 1702 ein Stilwandel. Zum ersten Mal trat in der 1702 im Rohbau vollendeten Großen Galerie in Salzdahlum das französische Bandelwerk auf.12 Gegen 1706 erhielt das

8 Hans-Henning Grote: Grosser Herren Palläste … Schlösser im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüt- tel. In: Hermann Korb und seine Zeit, 1656-1735. Barockes Bauen im Fürstentum Braunschweig-Wol- fenbüttel. Braunschweig 2006, S. 79. 9 „Spezification …“ (wie Anm. 2). 10 Ebd., S. 21. 11 Siehe Anm. 2. 12 Querfurt (wie Anm. 2), B; Regine Marth: Die Sammlungen von Rudolph August bis Ludwig Rudolph (1666-1735). In: Das Herzog Anton Ulrich-Museum und seine Sammlungen, 1578, 1754, 2004. München 2004, S. 54.

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B 4B 5 B 4B A 4 A 5

B 3 B 2 A 2 A 3

B 6 B 1 A 1 A 6

B 9 B 7 A 8 A 9

B 8 A 7 C

B 10 A 10

F D E

Abb. 3: Schloss Salzdahlum, Wohnungen im Erdgeschoss zur Zeit Herzog Anton Ulrichs (1694-1714) C – Sommerwohnung Herzog Anton Ulrichs, D – Herbstwohnung Herzog Anton Ulrichs. E. Arnhold / H. H. Grote nach H. Wittig.

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„Grand Cabinet“ (Abb. 3: A 4) eine Deckenmalerei in Bandelwerk auf Goldgrund.13 Ver- mutlich entsprachen die Bandelwerkdecken derjenigen im Schlafzimmer des Herzogap- partements im Wolfenbütteler Schloss. Sie dürften auf Anregungen aus dem Charlotten- burger Schloss bei Berlin zurückzuführen sein. Gegen 1706 dürften auch nördlich neben dem Appartement von Herzog Anton Ulrich die Räume der sogenannten Sommerwohnung des Herzogs (Abb. 3: C) erbaut worden sein. Diese Räume waren anscheinend Ende 1709 noch nicht ganz fertiggestellt, denn Zacharias Conrad von Uffenbach nennt sie in seinem Reisetagebuch nicht.14 Aus dem Vorhandensein von zwei herzoglichen Appartements in Salzdahlum ergibt sich, dass die- se sehr wahrscheinlich – wie etwa gleichzeitig im Wolfenbütteler Schloss – als Staats- (Parade-) und Privatappartement dienten. Da die sogenannte Sommerwohnung vom Au- dienzzimmer (Abb. 3: A 3) und vom Schlafzimmer (Abb. 3: A 6) aus zugänglich war, hatte sie deutlich privaten Charakter. Vor 1709, vielleicht schon gegen 1706/08, hatte sich der Herzog im südöstlichen Uhrturmflügel, nahe der Kapelle (Abb. 3: F), eine Herbst- wohnung (Abb. 3: D) einrichten lassen.15 Sie war ebenfalls ein Privatappartement, weil sie nur aus zwei Räumen, einem Vor- und Schlafzimmer bestand. Uffenbach hebt in seinem Reisetagebuch von 1709 die Schlichtheit der Räume dieser Herbstwohnung hervor. Im Schlafzimmer hing ein Gemäldeporträt von Erzbischof Lothar Franz von Schönborn,16 den Herzog Anton Ulrich 1708 in Mainz besucht hatte und der ihn 1710 in Bamberg in den Schoß der katholischen Kirche führte. Mit dem „Bauwurmb“, wie sich der Erzbischof von Mainz und Fürstbischof von Bamberg selbst nannte, verbanden Anton Ulrich die Leidenschaften zu bauen, zu pflanzen und zu sammeln. Beim Besuch Uffenbachs im Jahr 1709 hingen im Vorzimmer Porträts vom spanischen König Karl, dem späteren Kaiser Karl VI., seiner Gattin Elisabeth Christine und Anton Ulrichs Tochter, der Herzogin Au- gusta Dorothea von Schwarzburg-Sondershausen-Arnstadt.17 Nur wenige Jahre später ließ Herzog Anton Ulrich auch das Appartement double im Wolfenbütteler Schloss umgestalten. Nach dem Tod seiner Frau 1704 wurden deren Räu- me (Abb. 1: D 1-D 3) zu einem Appartement de la société, allgemeinen Veranstaltungs- räumen, umgenutzt und teilweise mit neuen Kaminen18 versehen. Das ehemalige Appartement seines ebenfalls 1704 verstorbenen Bruders wurde nach dessen Tod zu einem Staatsappartement (Abb. 1, C 1-C 3), das ehemalige Appartement Herzog Anton Ulrichs nun zu dessen Privatappartement (Abb. 1, C 5-C 8c) umgewid- met.19 Anregungen mögen vom Zeremonialappartement und Logement des Berliner Stadtschlosses gekommen sein.20 Es entstand um 1706 ein repräsentatives Schlafzimmer

13 Querfurt (wie Anm. 2), A (4). 14 Uffenbach (wie Anm. 2). 15 Ebd., S. 340. 16 Siehe Anm. 15. 17 Ebd. 18 Während sich der Kamin im ehemaligen Audienzzimmer von Herzogin Elisabeth Juliane, der späteren ersten Antichambre des Herzoginnenappartements im Aufbau zweiteilig, ohne Spiegel, darstellt, weist der Kamin im Schlafzimmer, der späteren zweiten Antichambre, einen dreigeteilten Aufbau mit Spiegel auf. Dieser Aufbau lässt sich von Daniel Marots Kupferstichentwürfen ableiten, die ab 1703 erschienen. 19 Grote (wie Anm. 3), S. 95. 20 Siehe Anm. 19.

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(Abb. 1: C 3), dessen ältere Alkovennische durch korinthische, vergoldete Pilaster prunk- voll betont wurde.21 Die flache Raumdecke erhielt Verzierungen durch Bandelwerk und ein Fresko mit einer Darstellung der Morgenröte. Im Alkoven fand ein prächtiges Parade- bett aus goldgelben Damast mit silbernen Tressen Aufstellung.22 Das Schlafzimmer des anschließenden Privatappartements (Abb. 1: C 6) wurde mit einem grünen Damastbett versehen.23 Es ist denkbar, dass das Schlafzimmer des Staatsappartements um 1710, als Herzog Anton Ulrich konvertierte – nach dem Vorbild des Winterpalais des Prinzen Eugen – zum Paradeschlafzimmer umgewidmet wurde.24 Die Wände des Alkovens, in dem das gelbe Damastbett stand, wurden jedenfalls um 1710 zusätzlich durch eine Wand- bespannung aus gelbgeblümten Plüsch aufgewertet.25 Plüsch ist Samt ähnlich, verfügt aber über einen weniger dichten Faserflor. Während zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Berliner Stadtschloss und in der Bamberger Bischofsresidenz hauptsächlich roter Samt an den Wänden der Schlafzimmer verarbeitet wurde, fand im Paradeschlafzimmer des Win- terpalais des Prinzen Eugen in Wien grüner Samt um 1709 Anwendung.26 Ein besticktes gelbes Seidenbett existierte auch im Salzdahlumer Schloss und zwar 1709 in jenem Appartement, in dem König Friedrich I. in Preußen 1706 logierte.27 Stand dieses Salzdahlumer gelbe Seidenbett vielleicht vor 1706 im Schlafzimmer des herzog­ lichen Appartements und wurde anlässlich des Besuches von König Friedrich I. erst um- gestellt? Stammten die Stickereien auf dem Stoff von Herzogin Elisabeth Juliane? Wenn das Bett in der Nachfolge des Bettes des 1701 eingerichteten Paradeschlafzimmers in Versailles steht, müsste es zwischen 1701 und 1706 entstanden sein. König Friedrich I. könnte es anlässlich seines Besuches 1706 kennen gelernt und diese Anregungen in sei- nem Schlafzimmer im Charlottenburger Schloss (gegen 1706) aufgegriffen haben. Dort stand ein ganz ähnliches Bett aus gelbem Damast. Damast galt in Frankreich um 1703 als bevorzugte Stoffart. Vermutlich blieb das Salzdahlumer Bett im Obergeschoss stehen und wurde anlässlich eines Besuches Fried- richs des Großen in ein neu geschaffenes gelbes Schlafzimmer integriert.28 Vorbild der gelben oder gelbgoldenen Betten zur Zeit Herzog Anton Ulrichs war sicherlich das Schlaf- zimmer samt Bett im Paradeschlafzimmer von 1701 in Versailles.29 Die Wände des Raumes vor dem Alkoven des Wolfenbütteler Schlafzimmers (Abb. 1: C 3) waren mit einer Wandbespannung aus Textilien mit Stickereien in Kreuzstichtechnik,

21 Thöne (wie Anm. 1), S. 202. 22 „Spezification…“ (wie Anm. 2), S. 25. 23 Ebd., S. 20. 24 Ulrike Seeger: Stadtpalais und Belvedere des Prinzen Eugen, Entstehung, Gestalt, Funktion und Be- deutung. Wien 2004, S. 31, 48 (Abb.17), 71-72. 25 Siehe Anm. 22. 26 Seeger (wie Anm. 24), S. 71. 27 Uffenbach (wie Anm. 2), S. 337. Im Gegensatz zu Uffenbach, der den Aufstellungsort des Bettes des Königs im nördlichen Appartement des ersten Obergeschosses in Salzdahlum angibt, diente nach Querfurt (wie Anm. 2), S. A (4) das Herzogappartement in Salzdahlum als Königswohnung. Wenn dieses zutrifft, gab es um 1706 keine Umstellung des Bettes. 28 Holger Wittig: Das Fürstliche Lustschloss Salzdahlum. Band I: Das Schloss und die Sammlungsbau- ten. Norderstedt 2005, S. 220. 29 Nicholas d’Archimbaud: Versailles. München 2001, S. 138; Daniel Meyer: Tour of the Kings Bed- chamber. o. O. 1996, S. 14.

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die bahnweise verarbeitet worden war, bekleidet.30 Entweder stammten sie noch aus der Zeit, als dieser Raum unter Herzog Rudolf August zwischen 1694 und 1704 als reines Schlafzimmer diente oder sie gehörten zu einem Bestand aus dem Nachlass von Herzogin Elisabeth Juliane, der Gemahlin Herzog Anton Ulrichs und waren nach 1704 hier ange- bracht worden. In den Jahren um 1709 ließ Herzog Anton Ulrich nach einem Entwurf seines Land- baumeisters Hermann Korb die Nordseite des Wolfenbütteler Schlosses mit einem Fach- werkmantel verkleiden.31 Man begann diese Ummantelung mit dem Nordwestflügel vor dem heutigen „Venussaal“. Im Inneren wurde eine sieben Fensterachsen umfassende Ga- lerie (Abb. 1: B 1) geschaffen, auf deren weiß gefassten Holzverkleidungen Büsten der „alten Herrn Herzöge von Braunschweig“ gemalt wurden.32 Es entstand also eine welfi- sche Ahnengalerie. Im Salzdahlumer Schloss war ein auf die Wand gemalter Welfen­ stammbaum in der Nähe der sogenannten Herbstwohnung des Herzogs vorhanden.33 Ah- nengalerie und Stammbaum stehen im Zusammenhang einer Rückbesinnung Herzog Anton Ulrichs zwischen 1707 und 1710 auf seine Vorfahren.34 Gleichzeitig mit der Innen- raumgestaltung der Galerie wurden auch die Wände des kleinen Festsaales (Abb. 1: A), nun Essgemach, mit einer weißgestrichenen Holzverkleidung versehen, die mit Bandel- werk dekoriert wurde.35 Beide Raumteile, Galerie und Essgemach, verbrannten 1918. Die Lage dieser Galerie vor dem Essgemach greift Anregungen vom Gartenpalais Liechten- stein in der Roßau bei Wien,36 die weiße Holzverkleidung mit Bandelwerkdekoration französische Anregungen im Umkreis von Jules Hardouin-Mansart auf. Der Ahnengalerie folgten westlich weitere Galerien und Kabinette. Vor dem Parade- appartement entstand um 1709/10 eine Galerie und ein Kabinett.37 Die Galerie (Abb. 1: C 9) hatte die Funktion einer zweiten Antichambre. Sie verband mittels Fenstertüren die erste Antichambre (Abb. 1: C 1) mit dem Audienzzimmer (Abb. 1: C 2) und dem „Parade- schlafzimmer“ (Abb. 1: C 3). Galerie und Kabinett greifen erneut Anregungen aus Wien und zwar aus dem Winterpalais des Prinzen Eugen von Savoyen auf.38 Aus dem Palais des Prinzen Eugen in Wien leitete sich wohl auch das thematische Programm der Bilderhängung in der Wolfenbütteler Galerie ab. Hier wie dort waren hauptsächlich Bilder mit christlicher Thematik zu finden.39

30 „Spezification …“ (wie Anm. 2), S. 25. 31 Grote (wie Anm. 8), S. 84. 32 „Spezification …“ (wie Anm. 2), S. 32. 33 Uffenbach (wie Anm. 2, S. 340. 34 Herzog Anton Ulrich ließ 1707 eine Grabtumba für die Gebeine seiner Vorfahren im Braunschweiger Dom errichten, 1708 im Königslutterer Dom die Grabstätte Kaiser Lothars und Herzog Heinrichs des Stolzen barock erneuern und 1710 die Ahnengalerie im Schloss Wolfenbüttel anlegen. 35 Thöne (wie Anm. 1), S. 202; „Spezification …“ (wie Anm. 2), S. 31. 36 Hellmut Lorenz: Liechtenstein Palaces in Vienna. New York 1985, S. 8. 37 Thöne (wie Anm. 1), S. 202. Der Stuckateur Giacomo Perinetti arbeitete 1710 in der Galerie Herzog Anton Ulrichs. 38 Seeger (wie Anm. 24), S. 48, Abb. 17. In Wien befand sich eine Retirade, die als kleines Vorzimmer des Konferenzzimmers genutzt wurde, im Anschluss an die Galerie. Die Lage von Galerie und Kabi- nett lässt sich auch in Salzdahlum finden, wo die Galerie des Herzogs und der sogenannte Flusssaal, das Essgemach, ganz ähnlich angeordnet sind. 39 Seeger (wie Anm. 24), S. 121.

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Während die Gestaltung der Galerie mit einer eichenbraun gestrichenen Holzverklei- dung englische Anregungen, möglicherweise über die „Kleine Eichengalerie“ im Schloss Charlottenburg vermittelt, aufnimmt, war das Kabinett (Abb. 1: C 10) mit einer bahnwei- se wechselnden Wandbekleidung aus gelben Plüsch und blauem Taft versehen. Der bahn- weise eingesetzte Farbwechsel ist typisch für diese Zeit und lässt sich u. a. im Schloss Charlottenburg vor 1705 nachweisen.40 Im Kabinett, das vermutlich zu Beratungen ge- nutzt wurde, hing 1736, dem Kaminspiegel gegenüber, ein weiterer Wandspiegel. Außer- dem befanden sich zwei Porträtgemälde (König Karl III. von Spanien und die Fürstin von Schwarzburg-Sondershausen-Arnstadt; wie zeitlich etwas früher auch im Vorzimmer der Herbstwohnung Anton Ulrichs in Salzdahlum), ein Tisch, zwei Fauteuils und zwei Stühle im Raum.41 In den nach 1710 errichteten Galerien vor dem herzoglichen Privatappartement (Abb. 1: C 11, C 12) hingen noch 1736 Porträtgemälde (Galerie vor dem Antichambre (Abb. 1: C 11): Kardinäle der römisch-katholischen Kirche; Galerie vor dem Schlafzimmer (Abb. 1: C 12): Herzog Ludwig Rudolf und Herzogin Christine Louise)42, die auf Herzog Anton Ulrich verwiesen. Herzog Anton Ulrich ließ um 1710/11 zwei weitere Appartements im Erd- und ersten Obergeschoss des Südflügels für die geplante russische Hochzeit seiner Enkelin Charlotte Christiane Sophie, Tochter seines Sohnes, Herzog Ludwig Rudolf, mit dem Zarewitsch Alexej von Russland einrichten. Diese beiden Appartements sind heute bis auf wenige Reste nicht mehr erhalten. Die sechsräumige 1711 geschaffene Wohnung im Erdgeschoss des Südflügels (Abb. 2: 1a-1f) war für den Zarewitsch bestimmt und verfügte über Vor-, Audienz- und Schlafzimmer, Kabinett sowie zwei Garderoben. Die Wände der heizbaren Räume (zwei Antichambres, Audienz- und Schlafzimmer, zwei Kabinette) waren mit Plüsch bekleidet. Die andere bereits 1710 geschaffene fünfräumige Raumfolge im ersten Obergeschoss (Abb. 1: E 1-E 5), zwischen dem Rittersaal (Abb. 1: F 1), dem heutigen „Theatersaal“ und dem Redoutensaal (Abb. 1: G) ehemals gelegen, die ursprünglich für die welfische Braut vorgesehen war, verfügte über eine Antichambre, ein Schlafzimmer, Re- tirade und zwei Garderoben. Die Wände der Antichambre (Abb. 1: E 1) waren mit bahn- weise eingesetztem roten und gelben Plüsch bekleidet, die des Schlafzimmers (Abb. 1: E 2) mit blauem und gelbem Plüsch versehen. Da das untere Appartement im Frühjahr 1711 noch nicht fertiggestellt worden war, wohnte der Zarewitsch Alexej während seines Aufenthaltes in Wolfenbüttel 1711 vermutlich im oberen Appartement. Beide Apparte- ments wurden schließlich anderweitig genutzt, weil die Hochzeit des Zarensohnes nicht in Wolfenbüttel, sondern am 25. Oktober 1711 in Torgau stattfand. Das obere Apparte- ment diente ab 1711 Herzog Anton Ulrich im Winter als Privatappartement, die untere Wohnung wurde als Gästeappartement genutzt. Das Farbpaar Blau/Gelb, das bereits im Schlafzimmer des oberen Appartements des Südflügels sowie im Kabinetts des Herzogappartements 1710 Einsatz gefunden hatte, regt

40 Sophie Charlotte und ihr Schloss. Ein Musenhof des Barock in Brandenburg-Preußen. München 1999, S. 348, 361. Das Inventar des Schlosses Charlottenburg von 1705: Toilett-Cammer (Raum 110), Schreib-Cabinet (Raum 109). 41 „Spezification …“ (wie Anm. 2), S. 26. 42 Ebd., S. 21, 23.

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zu einigen Reflexionen an. Die Landesfarben waren Rot/Gelb (Gold).43 Diese Farben spiegelten sich in den Thronbaldachinen in den Schlössern Wolfenbüttel und Salzdahlum wider. Der Fürst griff mit seiner Staatsrobe, wie es damals üblich war und auf den Staats- porträts zu sehen ist, bis 1704 diese Farbkombination auf: Er trug ein goldgelbes „Justau- corps“ und einen roten Samtmantel. Nach 1704 wird Herzog Anton Ulrich auf Staatspor- träts mit einem goldgelben „Justaucorps“ und einem blauen Samtmantel dargestellt.44 Greift diese Darstellung vielleicht eine nach französischem Vorbild (Staatsporträt Ludwig XIV. von Hyacinthe Rigaud aus dem Jahre 1701) entstandene Mode auf, die ihren Nieder- schlag auch in den Wandbespannungen fand? Jedenfalls tritt Blau/Gelb als Hoffarbe im 18. Jahrhundert in Wolfenbüttel auf.45 Charakteristisch für die Appartements Herzog Anton Ulrichs ist die zu seiner Zeit sehr fortschrittliche Aufteilung der Räume. Es treten zu den üblichen Audienz- und Schlafzimmern von Anfang an meist zwei Antichambres, zwei Kabinette und zwei Gar- deroben auf. Nach 1704 wird sogar noch, wenn es möglich ist, eine Retirade hinzugefügt. Diese moderne Einteilung dürfte Herzog Anton Ulrich vor 1690 von den Appartements im Hannoverschen Leineschloss übernommen haben.46 Sie tritt erstmals im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel in den Appartements des Herzogs und der Herzogin im Salz- dahlumer Schloss auf. Aufgrund des Raummangels im Wolfenbütteler Schloss wurde dort zunächst auf diese Einteilung verzichtet. Die unter Herzog August Wilhelm, dem Sohn und Nachfolger Herzog Anton Ulrichs, geschaffenen Räume des zwischen 1714 und 1720 aus dem ehemaligen Erbprinzenappar- tement entstandenen Neuen Herzogappartements im Ostflügel (Abb. 1: H 1-H 16) greifen wie die des Neuen Herzoginnenappartements (Abb. 1: D 2-D 7) mit ihrer Innenraumauf- teilung auf die väterlichen Vorbilder zurück. Selbst die Lage der vor dem Staatsapparte- ment gelegenen Gemäldegalerie (Abb. 1: H 11) entspricht der Situation im alten Herzog- appartement (Abb. 1: C 9). Neu gegenüber den Wohnungen seines Vaters ist nun der Einsatz von Samt als Textilmaterial der Wandbespannung. Getreu seinem Motto „Parta tueri“ vollendete Herzog August Wilhelm auch die unvollendeten Ummantelungen des Wolfenbütteler Schlosses nach dem Vorbild der Fassade des Nordflügels, die bereits unter seinem Vater entworfen und gebaut worden war. Aus den verschiedenen Schlossbeschreibungen, Reisetagebüchern und dem Inventar des Schlosses Wolfenbüttel aus dem Jahr 1736 lässt sich auch die Gestaltung der Schloss- räume mit ihrer beweglichen Ausstattung weitgehend rekonstruieren.47 In den Jahren zwischen 1690 und 1714 waren die Appartementräume relativ spärlich möbliert. In den Vorzimmern standen vier bis sechs Stühle und Fauteuils (Sessel) sowie

43 Peter Veddeler: Landessymbole. In: Horst Rüdiger Jarck, Gerhard Schildt (Hrsg.): Die Braun- schweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region. Braunschweig 2001, S. 93. 44 Auf einen Staatsporträt Herzog Anton Ulrichs im Kaisersaal des Gandersheimer Stiftes, das 1707 da- tiert ist, tritt u. a. dieser blaue Samtmantel auf. 45 Anmerkung von den, auf Uniformen und Livreen heutzutage noch vorkommenden, Hoffarben. In: Braunschweiger Anzeigen, 10. Februar 1748, S. 234 f. 46 Alheidis von Rohr, Waldemar R. Röhrbein: Sophie Kurfürstin von Hannover (1630-1714). Hannover 1980, S. 62. 47 Siehe Anm. 2.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 192 Hans­Henning Grote einige Tische, im Audienzzimmer unter einem roten Samtbaldachin ein Audienzstuhl, im Schlafzimmer ein Baldachinbett. In den Garderoben schlief der Kammerdiener in einem Umhangbett aus Leinen oder einer Schlaftruhe, die tagsüber zu einer Bank verwandelt werden konnte. In den Garderoben waren schlichte Nadelholzschränke aufgestellt, in denen die Kleidungsstücke untergebracht waren. In den Garderoben standen, wenn nicht ein Retirade vorhanden war, die Leibstühle. In den Speisezimmern dienten englische Stühle mit Rohrgeflecht als Sitzgelegenheiten.48 Die Wände der Vor- und Audienzzimmer waren zwischen 1690 und 1704 mit großen Ölgemälden, die in Salzdahlum Szenen aus der Geschichte Alexander des Großen wieder- gaben, in Wolfenbüttel mit Wirkteppichen geschmückt. Nach 1704 erwarb Herzog Anton Ulrich für sein Appartement im Salzdahlumer Schloss (Audienzzimmer und Schlafzim- mer; Abb. 3: A 3, A 6) Wirkteppiche nach Entwürfen von Charles le Brun, die vermutlich in Brüssel hergestellt waren und die Geschichte von Atalanta und Meleager zum Thema hatten.49 Die Sitzmöbel bestanden zunächst aus versilberten Holz mit Bezügen aus Kreuz- stickereien. In Salzdahlum und in Wolfenbüttel gab es neben Sitzmöbelbezügen auch Wandbespannungen, die von der Gemahlin Herzog Anton Ulrich, Herzogin Elisabeth Juliane, persönlich in Kreuzstichtechnik hergestellt worden waren.50 Da die Wandbespan- nungen und Sitzmöbel damals „en suite“, also die Sitzmöbel mit dem gleichen Bezugstoff wie die Wandbespannungen gepolstert waren und im gleichen Raum aufgestellt wurden, dürften die im Inventar von 1736 genannten Sitzmöbel in die „Anton-Ulrich-Zeit“ gehört haben. Außerdem gab es nach der Jahrhundertwende auch Nussbaumstühle mit Kreuz- stichpolstern in Wolfenbüttel. Kommoden standen bereits 1697 in den Salzdahlumer Gar- deroben.51 In den anderen Schlossräumen finden die Kommoden erst nach Anton Ulrichs Tod unter seinem Sohn, Herzog August Wilhelm, nach 1714 Aufstellung. Tabourets (Ho- cker) sind 1697 ganz gegen den üblichen Gebrauch in Salzdahlum im Audienzzimmer der Herzogin (Abb. 3: B 3) zu finden.52 Sie lassen sich sonst nur in Wolfenbüttel in den Gar- deroben nachweisen oder sind im Antichambre der Herzogin sowie in den dortigen Gale- rien zu finden.53 In den Wolfenbütteler Audienz- und Schlafzimmern standen je zwei Gueridons (Leuchtertische) und geschnitzte und versilberte Kronleuchter aus Holz hingen von den Decken herab.54 In anderen Räumen hingen Spiegelblaker an den Wänden.55 Ob im Audienzzimmer des Staatsappartements im Wolfenbütteler Schloss auch Silber- möbel standen, bleibt ungeklärt. Da solche Möbel damals aber auch im Hannoverschen Leineschloss vorhanden waren,56 wird man mit sehr großer Wahrscheinlichkeit davon aus-

48 Siehe Anm. 2: „Spezification …“ von 1736. 49 Querfurt (wie Anm. 2), S. A (4). 50 Flemmer (wie Anm. 2), S. 165; Uffenbach (wie Anm. 2), S. 339; Querfurt (wie Anm. 2), S. A 3. Stickereien in Kreuzstichtechnik sind auch von Kurfürstin Sophie von Hannover überliefert (von Rohr, wie Anm. 46, S. 79 ff). 51 Flemmer (wie Anm. 29), S. 165. 52 Ebd., S. 165. 53 „Spezification …“ (wie Anm. 2), S. 18, 31, 35, 62. 54 Ebd., S. 20, 22, 27, 28. 55 Ebd, S. 31. 56 Von Rohr (wie Anm. 46), S. 63.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Die Wohnungen Herzog Anton Ulrichs 193

gehen können, dass dies auch in Wolfenbüttel der Fall war. In Salzdahlum werden solche Möbel nicht genannt. Das Inventar von 1736 führt eine Garnitur von Silbermöbeln im Au- dienzzimmer des Neuen Herzogappartements auf.57 Denkbar ist es, dass diese Möbel nach 1704 für das Wolfenbütteler Audienzzimmer angeschafft wurden und dann im Neuen Her- zogappartement unter Herzog August Wilhelm Wiederaufstellung fanden. Zwei Jahre nachdem Herzog Anton Ulrich 1704 Alleinregent geworden war, wurden im Wolfenbütteler Schloss 1706 eine gelbe Damastwandbespannung im Schlafzimmer des Staatsappartements angebracht und dort mit gelbem Damast bezogene Sitzmöbel auf- gestellt. Weitere im Inventar von 1736 aufgeführte Sitzmöbel mit Damastbezügen in Grün und Rot lassen auf Wandbespannungen in den gleichen Farben schließen.58 Um 1709/10 folgten Wandbespannung in Plüsch. Mit diesem Material waren auch die en suite einge- setzten Sitzmöbel bezogen.59 Waren die stuckierten Kamine zunächst vor 1704 zweiteilig (Feuerloch, Gemälde) aufgebaut, so treten dreiteilige Kamine (Feuerloch, Spiegel, Gemälde) nach 1704 auf. Sie wurden nach Kupferstichvorlagen Daniel Marots gestaltet. Interessanterweise lassen sich im Inventarverzeichnis von 1736 neben Kaminen auch Öfen nachweisen. Zur älteren wie zur neuen Ausstattung der Appartements zählten neben Porträtgemälden vor allem Spie- gel. Die Spiegel dienten als Lichtreflektoren und erhöhten damit den Beleuchtungsum- fang der Räume. Schmückten zunächst mit Stuckaturen, Fresken und Ölgemälden verzierte Decken die Räume, so wandelte sich nach 1703/04 der Geschmack. Von nun an waren flache nicht stu- ckierte Decken in der Mode, die mit Bandelwerkmalereien, angeregt durch die teils ausge- führten teils geplanten Appartements im Charlottenburger Schloss bei Berlin, verziert wur- den.60 Um 1706 wurden die zuvor schlichten Holzböden und Türen durch reichere, teils mit Intarsien nach Anregungen aus Kupferstichen von Daniel Marot versehen, ersetzt.61 In der Salzdahlumer Maison de Plaisance vollzieht sich nach 1694 in Bezug auf die Innenräume ein deutlicher Wandel. Stand die Innenausstattung der Appartements zu- nächst in Bezug auf die Stuckdecken und Decken- und Wandfresken noch unter italie- nisch-französischen Einflüssen, so verschob sich dieses deutlich zum französischen, spä- ter zum französisch-niederländischen Einfluss. Noch vor der politischen Hinwendung Anton Ulrichs nach Frankreich in den Jahren 1698-1701 lässt sich in Salzdahlum der französische Stil z. B. im Audienzzimmer der Her- zogin (Abb. 3: B 3) nachweisen, wo nicht nur Porträts der Mitglieder des Hofes des Son- nenkönigs hingen, sondern die eine Seite des Raumes, nach Vorbild der Spiegelgalerie, außerordentlich früh ganz mit Spiegeln ausgestattet war.62 Nach 1704 zierte auch ein Rie- senspiegel, wie es damals in Versailles üblich war, den Kamin des herzoglichen Audienz- zimmers (Abb. 3: A 3) in Salzdahlum.63

57 „Spezification …“ (wie Anm. 2), S. 63 f. 58 Ebd., S. 20, 21. 59 Ebd., S. 16, 17, 19. 60 Grote (wie Anm. 3), S. 108. 61 Ebd., S. 96. 62 Flemmer (wie Anm. 2), S. 165f. 63 Querfurt (wie Anm. 2), S. A (4).

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 194 Hans­Henning Grote

Nach dem Regierungsantritt Herzog Anton Ulrichs als Alleinherrscher 1704 wurden die älteren Appartementräume in Salzdahlum und Wolfenbüttel erneuert und erweitert. Von nun an waren Zeremonial- und Privatappartements vorhanden. Schloss Salzdahlum nahm nach 1704 immer mehr auch den Charakter eines Residenzschlosses an. Wurden zuvor alle Besucher des Hofes nach Salzdahlum geführt, um Schloss, Garten und Gemäl- degalerie kennen zu lernen, so wohnte Herzog Anton Ulrich bevorzugt ab 1710 in Salz- dahlum und empfing seine Gäste nicht mehr in Wolfenbüttel, sondern in Salzdahlum. Die neuen Einflüsse in Wolfenbüttel und Salzdahlum kamen vom Berliner Stadt- schloss und vom Charlottenburger Schloss sowie verstärkt auch aus Wien. Beide Schlös- ser, in Salzdahlum und Wolfenbüttel, wurden von bedeutenden Architekten fremder Fürs- ten, so z. B. 1712 von Johann Dientzenhofer,64 dem Baumeister Lothar Franz von Schönborn in Pommersfelden, und 1715 von Matthäus Daniel Pöppelmann,65 dem Bau- meister des Kurfürsten August des Starken in Dresden, aufgesucht. Die Lösung von Ga- lerie und Kabinett, die bereits in Salzdahlum vorgebildet war, fand in der ab 1712 errich- teten Gemäldegalerie und dem sogenannten Blumenzimmer im Schloss Weißenstein ob Pommersfelden, das sich Lothar Franz von Schönborn errichten ließ, eine direkte Nach- folge.66 Die überregionale kunsthistorische Forschung hat die Bedeutung der Schlösser und Innenraumgestaltungen Herzog Anton Ulrichs nicht ausreichend erkannt. In einem kürz- lich erschienenen prächtigen Ergebnisband eines Symposiums in Rom über Galeriebauten in Europa findet sich kein Hinweis auf das Gebäude der Salzdahlumer Gemäldegalerie und ihrer Bestände.67 In den Schlössern Herzog Anton Ulrichs entstanden außerordentlich früh im Ver- gleich zu den anderen Fürstenhöfen des Reiches neue Raumschöpfungen. In Salzdahlum waren Grotten, Treppenhaus und Festsaal (1694), ein Porzellankabinett (vor 1697), ein Spiegelsaal (vor 1697), Gemäldegalerien (vor 1697, Große Galerie 1702/03), Orangerie (1701) und ein Bandelwerkkabinett (nach 1704), in Wolfenbüttel ein gelbgoldenes Bett (1706), Staats- und Privatappartement (1706), eine Ahnengalerie (1708/09) und vermut- lich ein „Paradeschlafzimmer“ und Konferenzkabinett (1710) vorhanden. Der Garten des Salzdahlumer Schlosses wies nicht nur die älteste barocke Eremitage (vor 1697), sondern auch die älteste Pagode (1710/13) im deutschen Reich auf. Durch die territoriale Lage des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel abseits der militärischen Schauplätze des Spanischen Erbfolgekrieges (1701-14) und Nordischen Krieges sowie durch den 1706 beendeten Konflikt mit Calenberg-Hannover begünstigt, hatte Herzog Anton Ulrich zwischen 1706 und 1714 endlich freie Bahn, seine Ideen voll- ends in die Tat umzusetzen. Herzog Anton Ulrich, dem es nach seiner Auseinandersetzung um die Vergabe der neunten Kurwürde an seinen Vetter in Hannover, um seine Stellung im Reich ging, griff,

64 Grote (wie Anm. 3), S. 222. 65 Siehe Anm. 64. 66 Heinrich Kreisel Das Schloss Pommersfelden. München 1953, Abb. B. 67 Christina Strunck, Elisabeth Kieven: Europäische Galeriebauten, Galleries in a Comparative Euro- pean Perspective. München 2010.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Die Wohnungen Herzog Anton Ulrichs 195 um seine Position zu verbessern, zum Einsatz von Kunst und Architektur. So entstand in Salzdahlum, einzigartig zu seiner Zeit im Reich, ein ganzes Kunstsammlungsschloss. Trotz der heftigen gegenseitigen Auseinandersetzungen um die Neunte Kurwürde zwischen 1692 und 1706 besuchten Kurfürstin Sophie von Hannover und ihr Sohn Georg Ludwig nach 1706 mehrfach Herzog Anton Ulrich in Braunschweig (zur Messe), Wolfen- büttel und Salzdahlum,68 um die stetig erneuerten und erweiterten Wohnungen des Her- zogs, seine Gärten und Kunstsammlungen in Augenschein zu nehmen. Herzog Anton Ulrich war gerade in den Jahren zwischen 1704 und 1714 stets am Puls der Zeit. In Han- nover gab es neben den Herrenhäuser Gärten und dem prächtig gefeierten Karneval samt Oper und Schauspiel nicht diese Vielfalt, Innovation und Qualität von Architektur und Kunst.

68 Thöne (wie Anm. 1), S. 224.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Ermittlungen zur Abdankungsurkunde des letzten Herzogs von Braunschweig

von

Brage Bei der Wieden

Historische Fakten werden in einem kognitiven Selektionsprozess und durch Interpreta- tion gebildet. Der menschliche Wahrnehmungsapparat wählt aus der unendlichen Zahl möglicher Sinneseindrücke bestimmte aus und bereitet diese für die Verarbeitung durch das Gehirn vor; das Gehirn deutet und gewichtet die angebotenen Informationen, schafft Kontexte und gestaltet Zusammenhänge. Dabei benutzt es das Ordnungssystem der Spra- che. Die so abgelegten Erinnerungen werden durch jedes Abrufen weiter geformt; sie werden anderen Informationen, die das Gehirn verwaltet, angepasst und kohärenter. Einen besonderen Einfluss auf die Erinnerung nimmt der Grad der Emotionalisierung, die sich mit dem erinnerten Erlebnis verbindet. Nicht selten kommt es durch die Einwir- kung einer starken Erregung zu falschen Erinnerungen, d. h. zum Einweben kräftigerer Bilder und Erzählungen, Filmsequenzen oder Lektüreerfahrungen, die dem emotionalen Erleben prägnanteren Ausdruck verleihen als die eigenen Erinnerungsfetzen. Das hat sei- nen Sinn, denn das Gehirn arbeitet nicht zum Zweck der historischen Dokumentation; es muss das erworbene Wissen ständig den Anforderungen des Überlebens anpassen und die Zukunft planen.1 Was sich biologisch nachweisen lässt, kann ebenso wissenschaftstheoretisch begrün- det werden. Jede Beobachtung erfolgt durch ein Subjekt und wird mit dem Selektions- instrument der Sprache bearbeitet. Es handelt sich daher um einen Akt der Interpretation, weshalb zwischen der Tatsachenwiedergabe und der Interpretation von Wirklichkeit kein grundsätzlicher Unterschied besteht. Das erkennende Subjekt kann die Fakten nur im Kontext seiner Erfahrungen deuten und mitteilen.2 Diese Umstände sind zu beachten, wenn es um Erinnerungen und gerade auch um Details erinnerter Geschichte geht. Und ein solches Detail soll im Folgenden betrachtet

1 Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/M. 1995; John Kortre: White Gloves. How we create ourselves through memory. Deutsch: Der Strom der Erinnerung. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt. München 1998; Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004; „Wie wahr sind Erinnerungen?“ Themenschwerpunkt in: Gehirn und Geist. Das Maga- zin für Psychologie und Hirnforschung 5 (2005). Die Darlegungen zur Oral history orientieren sich meistens an den Erfahrungen der Interviewpraxis. Als methodisch wegweisend sei genannt: Reinhard Mann: Validitätsprobleme retrospektiver Interviews. In: Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte „geschichtsloser“ Sozialgrup- pen. Hrsg. von Gerhard Botz, Josef Weidenholzer. Wien 1984, S. 355-370. 2 Chris Lorenz: De constructie van het verleden. Deutsch: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Ein- führung in die Geschichtstheorie. Köln 1997 (Beiträge zur Geschichtskultur 13).

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 198 Brage Bei der Wieden werden: der Umgang mit der Thronverzichtserklärung, die der letzte braunschweigische Herzog am 8. November 1918 unterzeichnete.3 Die Geschichte der Novemberereignisse in Braunschweig ist häufig erzählt worden; das wertvollste Zeugnis zum Abdankungsgeschehen hat die Forschung gleichwohl bisher nicht beachtet. Es handelt sich um das Protokoll, das die herzogliche Generaladjudantur, also un- mittelbar beteiligte Personen, am Tag nach dem Ereignis aufgesetzt hat. Es lautet wie folgt: „Etwa 5 ¾ Nachmittags erschien die aus 3 Mitgliedern des Arbeiterrats und 3 Solchen des Soldatenrats bestehende Deputation. Sie wurde vom Herzog in Gegenwart des Staats- ministers von Wolff, des Wirkl. Geheimen Rats Dr. Knoke, des Obersten Freiherrn Knig- ge und des Majors von Grone empfangen. Sprecher war Herr August Merges, Vorsitzen- der des Arbeiterrates. Sie legten dem Herzog die in Abschrift beigefügte Urkunde vor und erklärten, daß das Telephon gesperrt sei. – Auf die vom Herzog angebotene Erklärung wollten sie sich nicht einlassen, wenn der Herzog die Urkunde nicht unterschriebe, wür- den alle Konsequenzen gezogen werden. Der Herzog bat sich darauf eine kurze Bedenkzeit aus, die auf 20 Minuten bemessen wurde, wobei die Türen besetzt wurden. Während Oberst Freiherr Knigge bei der Depu- tation blieb, erklärten die 3 Zurückgebliebenen (von Wolff, Dr. Knoke, von Grone), daß sie dem Herzog empfehlen müßten, Sich der Gewalt zu beugen. Die Deputation wurde wieder hereingerufen und ihr die Frage vorgelegt, welche Garantien für Seine Königliche Hoheit gegeben würden. Sie erklärten darauf, dass die persönliche Sicherheit des Herzogs und Seiner Familie unbedingt gewährleistet würde, ebenso sein Privateigentum. Seine Königliche Hoheit könne sich auch vollkommen frei bewegen und würde als freier Bürger in ihrer Mitte willkommen sein. – Seine Hoheit trat darauf mit dem Staatsminister und den Herren Seiner Begleitung noch einmal zur Beratung zusammen, zu der auch diesmal Oberst Freiherr Knigge zugezogen wurde. Dieser teilte mit, er habe von der Deputation gehört, dass bei Weigerung des Herzogs das Schloß gestürmt werden würde. Da man damit rechnen mußte, daß der Arbeiter- und Soldatenrat auch das Leben der Kinder Seiner Königlichen Hoheit und damit die Zukunft des Welfischen Hauses ver- nichten würde, und da Höchstderselbe die Sicherheit der Bewohner des Schlosses und der ganzen Bürgerschaft nicht auf’s Spiel setzen wollte, entschloß Er sich, die Urkunde zu unterzeichnen. Dies geschah in Gegenwart der Deputation, auf deren Verlangen die Unterschrift Seiner Königlichen Hoheit von den anwesenden 4 Herren als Zeugen beglau- bigt wurde, wogegen die Mitglieder der Deputation die Anlage unterzeichneten. Der Sprecher August Merges begrüßte Seine Königliche Hoheit als Bürger von Cum- berland und betonte, daß das ganze Volk Ihm diesen Schritt danken würde. Nachdem der Herzog noch einige Worte mit der Deputation gewechselt hatte, wurde sie entlassen. Nach Aufhebung der Telephonsperre wurden die Minister Boden und Krü- ger berufen und von dem Geschehenen in Kenntnis gesetzt. Seine Königliche Hoheit er-

3 Im Folgenden ist nur die Literatur genannt, die für die Argumentation wichtig war. Weiterführende An- gaben finden sich bei Hans-Ulrich Ludewig: Der Erste Weltkrieg und die Revolution (1914-1918/19). In: Die Braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region. Hrsg. von Horst-Rü- diger Jarck. 2. Aufl. Braunschweig 2001, S. 915-944 und Dietrich Kuessner, Maik Ohnezeit, Wulf Otte: Von der Monarchie zur Demokratie. Anmerkungen zur Novemberrevolution 1918/19 in Braun- schweig und im Reich. Wendeburg 2008.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Ermittlungen zur Abdankungsurkunde des letzten Herzogs 199 klärte Sich damit einverstanden, daß Sie ihr Amt als erledigt ansähen und mit dem Arbei- ter- und Soldatenrat zusammenträten, um diesem über die Fortführung der Geschäfte die nötigen Aufklärungen zu geben. Sie erklärten sich bereit, die Behörden sofort von dem Geschehen in Kenntnis zu setzen. Gez. v. Wolff Staatsminister a. D. Gez. Dr. Paul Knoke Wirklicher Geheimer Rat, Chef der obersten Verwaltung und des Kabinetts Seiner König- lichen Hoheit des Herzogs Gez. Frhr. Knigge Oberst u. Flügeladjutant Gez. von Grone Major und Flügeladjutant Seiner Königlichen Hoheit des Herzogs zu Braunschweig und Lüneburg P[ro] N[otitia:] Zu Anl[age] 2 ist zu bemerken, daß der p. Zander mit der Deputation nicht mit erschienen war, seine Unterschrift befand sich auf dem Original der S. K. H. dem Herzoge vorgelegten Urkunde.“4 Anlage 1 bestand im Text der Abdankungsmittei- lung an die Behörden;5 Anlage 2 gab den Text der Abdankungsurkunde wider, den die Mitglieder der Arbeiter- und Soldatendeputation – augenscheinlich zum Verbleib bei der Generaladjutantur – beglaubigt hatten.6 Auf Einzelheiten wird noch zurückzukommen sein; zunächst ist die Anmerkung wichtig, dass die Generaladjudantur mit diesem Protokoll keinen unmittelbaren Zweck verfolgte, keinen rechtlichen und auch keinen propagandistischen. Es diente dazu, die Er- eignisse festzuhalten. Natürlich filterten diese Aufzeichnungen die Fülle der möglichen Wahrnehmungen. Was sich in die Erinnerung der Revolutionäre besonders einbrannte, der Herzog, der ihnen wie seinesgleichen Zigarren anbot, hatte für die Begleitung der Herzogs keine Bedeutung. Bewusst oder unbewusst wollten die Verfasser des Protokolls aber sicherlich das Bedrohliche der Situation darstellen, den Zwang, der den Herzog zur Unterzeichnung der Urkunde bewegt hatte. Diese Sicht der Depossedierten7 kommt deut-

4 NLA-Hauptstaatsarchiv Hannover Dep. 103 XVI, F 75 (Benutzung mit Genehmigung des Prinzen von Hannover). Zeitgenössische Abschriften: NLA-StA WF 5 Urk Nr. 391. 5 Bei den Abschriften NLA-StA WF 5 Urk Nr. 391 findet sich eine andere Anlage: „Anlage 1 zum Ver- merk vom 9. XI. 1918: Nachdem Ich durch Fühlungnahme mit den verschiedensten Bevölkerungskrei- sen die Überzeugung gewonnen habe, daß auch die letzten Vorschläge zur Umgestaltung des Landtags- wahlrechts zur Erhaltung befriedigender Zustände im Herzogtum nicht geeignet sind, habe Ich Mich entschlossen, der Landesversammlung die Streichung aller Sonderwahlen vorzuschlagen, sodaß das Reichstagswahlrecht die ausschließliche Grundlage des geplanten Gesetzes bildet. Braunschweig, den 8. November 1918 gez. Ernst August, gez. von Wolff, gez. Boden, gez. Krüger.“ Vgl. zur Wahlrechtsre- form: Die Entwicklung des braunschweigischen Landtagswahlrechts seit der Neugestaltung im Jahre 1899. In: Beiträge zur Statistik des Landes Braunschweig. Neue Folge 2 (1922), S. 5-11. 6 Unterschriften leisteten: Aug[ust] Merges, Paul Gmeiner, Hermann Schweiß, Herm[ann] Meier, Fried- rich Schubert und H. Finke. 7 Die „Sicht der Depossedierten“ wollte Lothar Machtan in seinem Buch „Die Abdankung. Wie Deutsch- lands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen.“ 2. Aufl. Berlin 2008 schildern. Der Ansatz diente ihm aber primär dazu, die „Entzauberung der ‚Fürstendämmerung’“ (S. 417) zu illustrieren. Die Geschehnisse in Braunschweig referiert er – mit einigen Ungenauigkeiten – im „Präludium“ seiner Abhandlung (S. 11f.).

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 200 Brage Bei der Wieden lich in den Erinnerungen der Herzogin zum Ausdruck, die, zwei Generationen später ab- gefasst, doch auf zeitgenössischen Aufzeichnungen und Dokumenten beruhten. Viktoria Luise spricht in dramatischer Weise davon, dass der Terror regierte; sie fürchtete, die herzogliche Familie würde verhaftet und abtransportiert werden; das Beispiel der ermor- deten Zarenfamilie stand ihr vor Augen. Nachdem die Delegation der Arbeiter und Sol- daten das Schloss verlassen hatte, sucht sie den Herzog sofort auf. „Sie hatten ihm erklärt“, schreibt sie, „der Arbeiter- und Soldatenrat habe die Regierungsgewalt übernommen und der Herzog sei abgesetzt.“8 Also nichts von einer Abdankung oder einer Urkunde. Das war hingegen für die Öffentlichkeit interessanter: Die bürgerlich orientierte Braunschweigischen Landeszeitung (wie auch das Wolfen- bütteler Kreisblatt und das Blankenburger Kreisblatt, freilich einen Tag später) berichtete am 9. November 1918: „In den Abendstunden des gestrigen Tages hat sich eine Abord- nung des Soldaten- und Arbeiterrates in das Herzogliche Schloß begeben, wo dieselbe vom Herzog empfangen wurde. Die Abordnung legte dem Fürsten eine Urkunde vor, laut deren der Herzog für sich und seine Nachkommen auf die Thronfolge Verzicht leisten sollte. Seine Königliche Hoheit ließ der Abordnung Zigarren reichen und erbat sich eine Bedenkzeit von 30 Minuten. Nach einer Beratung mit seinen im Schloß anwesenden Mi- nistern erschien der Herzog schon nach 20 Minuten wieder und übergab der Kommission die vollzogene Abdankungsurkunde. Die Abordnung begab sich darauf nach der 92er Kaserne, wo die Abdankungsurkunde aufbewahrt wird.“9 Die Elemente dieses letzten Berichts erscheinen in fast allen überlieferten Erin- nerungen der Revolutionäre. Einer der unmittelbar Beteiligten, Friedrich Schubert, als Mitglied des Soldatenrates Teil der Delegation, die den Herzog zur Abdankung zwang, erinnerte sich 60 Jahre später: Der Herzog habe die Abgesandten richtig freundschaftlich begrüßt, „als wenn sie Kameraden gewesen wären.“ Merges habe dann gesagt: „Herr Her- zog, Sie werden sich wohl denken können, weshalb wir hier sind.“ Der Herzog habe sich eine Bedenkzeit von 20 Minuten ausgebeten, sei aber schon nach zehn Minuten mit einer Schachtel Zigarren zurückgekehrt: „Meine Herren, Zigarren gefällig? Bedienen Sie sich erst mal. Die können Sie ruhig rauchen, die sind bestimmt gut …“10 Man merkt diesem Bericht an, dass er geformt wurde; dass Schubert wieder und wieder von diesem Erlebnis erzählt hat, bis es die überlieferte Gestalt annahm. Den besonderen Akzent setzte die Tat- sache, dass Schubert, seinerzeit Hauptgefreiter, nachher Kleinviehhändler, Obstverkäufer, Catcher, einmal in seinem Leben mit einem Mächtigen, einer Königlichen Hoheit, ver- kehrt und scheinbar von gleich zu gleich geredet hatte. Dieses Motiv – Konfrontation mit einem Mächtigen: the standing up to the big man – gehört zu den häufigen Oral-history- Elementen; es ist besonders geeignet, das Leben des Erzählers in Verbindung zu dem historischen Zeitgeschehen zu setzen.11

8 Herzogin Viktoria Luise: Ein Leben als Tochter des Kaisers. 3. Aufl. Göttingen 1965, S. 218. 9 NLA-StA WF Z 43 Nr. 29/4. Zur Berichterstattung der Presse sind Brenda Frey: Arbeiterschaft und Bürgertum in Braunschweig zwischen 1918 und 1920. Magisterarbeit Braunschweig 2008, ferner Otte in Kuessner/Ohnezeit/Otte (wie Anm. 3) zu vergleichen. 10 Braunschweiger Zeitung, 25.11.1978. Vgl. NLA-StA WF 299 N Nr. 385. 11 Alessandro Portelli: Oral History as Genre. In: Narrative and Genre. Hrsg. von Mary Chamberlain, Paul Thompson. London 1998, S. 23-45, hier S. 26.

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Nicht unmittelbar an der Abdankung beteiligt, aber gut informiert war als Mitglied des Arbeiterrates Robert Gehrke12, der seine Erinnerungen zum zehnjährigen Revolu- tionsjubiläum am 28.11.1928 in der Neuen Arbeiter-Zeitung mitteilte: „Der Arbeiter –und Soldatenrat verlegte seinen Sitz in die Infanteriekaserne am Fal- lersleber Tor und tagte dort weiter. Am selben Nachmittag noch wurde beschlossen, dem Herzoge die nachstehende Abdankung vorzulegen. Sollte er sich weigern, so sollte seine Abdankung mit Gewalt erzwungen werden. Als Delegation wurden gewählt: Von den Soldaten: Hermann Meyer, Henry Finke, Friedel Schubert; von den Arbeitern: August Merges, Paul Gmeiner und Hermann Schweiß. Die Abordnung fuhr zum Schloß und ließ sich dem Herzoge vorführen. Der Herzog, der mit seinen drei Ministern ebenfalls über die durch die Revolution geschaffene Lage beriet, nahm das Verlangen der Deputation entgegen und bat sich eine längere Bedenkzeit aus. Es wurde ihm eine Bedenkzeit von 30 Minuten gewährt. Nach 25 Minuten war die Beratung des Herzogs zu Ende, und er nahm das Abdankungsverlangen an. Während der Bedenkzeit lief die telegraphische Meldung ein, daß Wilhelm der Letzte, der Schwieger- vater des Herzogs, es vorgezogen hatte, statt an der Spitze seiner Truppen zu sterben, nach Holland zu reisen. Diese Meldung in Ergänzung des Berichtes des Garnisonsältesten – Widerstand nutzlos – bestimmten den Herzog, die Abdankungsurkunde zu unterschrei- ben. Auf Verlangen mußte der Genosse Merges, der die Urkunde ebenfalls mit unter- schrieben hatte, seinen Namen wieder durchstreichen, da es das Prestige des Herzogs angeblich nicht zuließ, dass er sich in die Gewalt einer Zivilperson begebe.“ Das Ministe- rium musste zurücktreten. „Damit war die Herrschaft der Monarchie in Braunschweig beendet.“13 Der Zusammenhang mit dem Weltgeschehen war Gehrke, dem überzeugten Kommunisten, wichtiger als Schubert, der sich – rückblickend – als einen unpolitischen Menschen bezeichnete. Gehrke liefert eine weltanschauliche gefärbte Interpretation. Tat- sächlich konnte er nicht wissen, was den Herzog endlich zur Abdankung bewegt und wie er die Bedenkzeit genutzt hatte. Es musste ihm aber darum gehen, die Revolution für die Kommunisten zu reklamieren: gegen die regierenden Sozialdemokraten; um die Beset- zung der historischen Erinnerung. Stärker noch als Gehrke verdichtete der deutsch-nationale Journalist Hermann Schroff, Redakteur der Braunschweigischen Landeszeitung, eine Auswahl der Ereignisse zu einer Geschichte, die in das Raster seiner Weltdeutung passte. Sein Bericht verlangt trotzdem eine kurze Betrachtung, weil er als erster in Buchform erschien und so alle späteren Dar- stellungen beeinflusste. Schroff richtete seinen Hass auf August Merges, der für ihn die Revolution, die er als Unglück empfand, personifizierte. Merges schilderte er als feigen Großsprecher; er geht soweit zu behaupten, Merges sei gar nicht selbst aufs Schloss ge- gangen, er habe – Hanemann geh du voran – die Matrosen vorgeschickt, die mit der „von ihm auf einen halben Quartbogen geschriebenen Abdankungsformel“ zum Schloss mar- schierten. Er weiß auch, dass die USPD-Leute sich beeilten, „aus der Abdankung des Herzogs Kapital zu schlagen, indem sie die Abdankungs-Urkunde in Faksimiledruck ver-

12 Peter Berger: Brunonia mit rotem Halstuch. Novemberrevolution in Braunschweig 1918/19. Hannover 1979, S. 109. 13 Neue Arbeiter-Zeitung. Organ der KPD für die Gebiete Hannover-Braunschweig, Westfalen-Lippe und Hessen-Waldeck, 28.11.1928: NLA-StA WF Z 58 Nr. 8/3, vgl. 30 Slg 12 Nr. 10.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 202 Brage Bei der Wieden vielfältigten und im Straßenhandel als Postkarte vertreiben ließen.“14 Es ist nicht zu ent- scheiden, ob Schroff bewusst Fakten verfälschte, um Merges zu schaden, oder ob er un- bewusst Realitäten verschob. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Merges die Delegation des Arbeiter- und Soldatenrates, die zum Schloss zog, anführte. Der Vorsit- zende des Soldatenrates hingegen, Zander, fehlte. Der Vollständigkeit halber sei schließlich das Buch von Fritz Wecker (Pseudonym?) angeführt, eines Republikaners und Vertreters des Einheitsstaates, der 1928 mit den Bun- desfürsten und ihren Leistungen abrechnete. Er wusste: „Der Herzog bemühte sich, Hal- tung zu bewahren, wenn er auch nicht ganz die Erschütterung verbergen konnte, zu der ihn die Wucht der schicksalsschweren Stunde zwang.“ Und fuhr fort: „Nun berief der Herzog die im Schlosse bereits anwesenden Minister, um mit ihnen die Sachlage zu be- sprechen und zu einem Beschluß zu kommen. An dieser entscheidenden Besprechung hat auch die Kaisertochter, Herzogin Victoria Luise, teilgenommen, auf deren Rat der bei manchen Anlässen etwas unentschlossene Herzog den größten Wert legte. Die Verhand- lungen dauerten etwa 20 Minuten und endeten damit, daß der Herzog die vorgelegte Ver- zichturkunde ohne irgendeine Einschränkung unterschrieb.“15 Diese Rolle der Herzogin kennen nur Wecker bzw. seine Informanten; sie entspricht auch nicht den Erinnerungen der Herzogin selbst. Aus den zitierten Quellen ist hinsichtlich der Abdankungsurkunde immerhin soviel abzuleiten, dass die Delegierten des Arbeiter- bzw. Soldatenrates, unter ihnen August Merges, dem Herzog einen bereits aufgesetzten Text vorlegen, den dieser nach einer Be- denkzeit unterschrieb. „Die Abordnung begab sich darauf nach der 92er Kaserne, wo die Abdankungsurkunde aufbewahrt wird.“ Das passt zu der Information, dass der Arbeiter- und Soldatenrat diese Kaserne zum Sitz erwählt hatte. Schroff teilt außerdem mit, USPD- Leute hätten die Abdankungsurkunde im Faksimiledruck vervielfältigt und im Straßen- handel als Postkarte vertrieben. Die Urkunde, auf ein Blatt Papier im Format 33 x 21 (42) cm geschrieben, hat folgen- den Text: Ich „Ernst August, Herzog von Braunschweig und Lüneburg“ erkläre: dass ich für mich und meine Nachkommen auf den Thron verzichte, und die Regierung in die Hände des Arbeiter und Soldatenrates lege. [Stempel:] arbeiter-soldatenrat braun­ schweig [Unterschriften:] Ernst August [-] Zander Vor[sitzender] d[es] S[oldatenrates] [-] A. Merges Vors[itzender] d[es] A[rbeiterrates] [Beglaubigung:] Als Zeugen der Echtheit der Unterschrift Seiner Königlichen Hoheit des Herzogs Ernst August Carl v. Wolff Dr. Paul Knoke Frhr. Knigge von Grone.16 Die Frage, was später mit der Urkunde geschah, erhellt aus verschiedenen Quellen. Zunächst war der weitere Verbleib des Dokuments ganz unbekannt. Der Leiter des Braun-

14 Teutonicus [Hermann Schroff]: Braunschweig unter der Herrschaft der roten Fahne. Meinungen, Stimmungen und Tatsachen. [Braunschweig 1919], S. 36, 39. 15 Fritz Wecker: Unsere Landesväter: wie sie gingen, wo sie blieben. Berlin 1928, S. 171f. Wecker bietet auch den Text der Abdankungsurkunde (S. 167) und eine Abbildung ihres Faksimiles (nach S. 160). 16 Edition: Michael Kotulla: Deutsches Verfassungsrecht 1806-1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen. 3. Band: Berg und Braunschweig. Heidelberg 2010, S. 2080 (Nr. 704). Online-Präsenta- tion: http://kulturerbe.niedersachsen.de/viewer/image/isil_DE-1811-HA_STAWO_144_Urk_Nr_1/1/ #topDocAnchor (7.7.2012).

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schweigischen Landeshauptarchivs, Dr. Paul Zimmermann, schrieb am 10.11.1920 an Merges: „Schon seit längerer Zeit fahnde ich nach dem Original der Verzichtsurkunde S. K. H. des Herzogs, die doch unbedingt in das Landeshauptarchiv gehört, in dem alle Staatsurkunden, Verträge u.s.w. verwahrt werden. Neulich erkundigte ich mich nach dem Verbleib der Urkunde bei Herrn Minister Oerter. Er wusste mir auch nichts Bestimmtes darüber zu sagen, riet mir aber, mich an Sie zu wenden; Sie würden am ersten darüber Bescheid wissen …“17 Merges antwortete nicht, aber seine Mitstreiterin Minna Faßhauer erklärte am 23.12.1920 auf einer USPD-Veranstaltung, die Urkunde befinde sich wohlver- wahrt „im Besitz des revolutionären Proletariats“.18 Minna Faßhauer wirkte damals – ebenso wie Merges – für die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), die sich in Reaktion auf die zur sehr von Zweckmäßigkeiten bestimmte Haltung der KPD während des Kapp-Putsches im April 1920 von dieser abgespalten hatte. Vor dem Hinter- grund der ideologischen Auseinandersetzung zwischen den Arbeiterparteien, der Spal- tung der USPD durch die Forderungen der III. Internationale und der Abtrennung der KAPD von der KPD heißt daher „im Besitze des revolutionären Proletariats“: im Besitz einer Einrichtung oder eines Mitgliedes der KAPD.19 Faßhauers Mitteilung mag auch schon von einem anderen Umstand veranlasst worden sein. Unter dem Datum 16.11.1920 hatte Walter Sitzmann aus Stendal, eine eher zwielich- tige Gestalt mit KPD-Kontakten, ein Schreiben an den Geheimrat von Knoke gerichtet und das Original der Abdankungsurkunde zum Kauf angeboten; er erklärte dazu, er ver- mittle den Kauf für einen Dritten: „Ein Herr, der es erworben hat, und nicht genannt werden will, hat es meiner Person anvertraut, kaufte es um [!] nicht Ausländer Amerika- ner in die Hände kommen sollte.“ Um die Diskussion um diesen „Urkundenschacher“, die im Januar 1921 die Öffentlichkeit stark beschäftigte, hier abzukürzen: Sitzmann hat, wie aus dem von ihm beigefügten Abzug ersichtlich, nicht das Urkundenoriginal, sondern nur ein Faksimile besessen.20 Sitzmanns Schreiben an Knoke war nun von der Postüberwa- chungsstelle Dresden, deren Aufgabe darin bestand, die Verschiebung von Wertpapieren und Wertobjekten ins Ausland zu unterbinden, geöffnet und sein Inhalt dem Braun- schweigischen Staatsministerium bekannt gemacht worden. , der Minister- präsident, USPD, hatte den Justizminister August Junke per Marginalverfügung vom 23.11.1920 angewiesen: „Das Original der Abdankungsurkunde ist für den Freistaat von größter Wichtigkeit. Es muß alles getan werden, damit es in den Besitz des Staates kommt.“21 Seither ermittelte die Polizei. Zwei Kriminalbeamte befragten Ende November 1920 Sitzmann, der inzwischen wegen des Verdachts auf Postraub und Sittlichkeitsver-

17 NLA-StA WF 36 Alt Nr. 251 (Tgb.-Nr. 374/20). 18 Volksfreund. Organ der alten Sozialdemokratischen Partei für den Freistaat Braunschweig, 27.12.1920: NLA-StA WF Z 40 Nr. 39/2. Vgl. Burkhard Schmidt: Der Herzogsprozeß. Ein Bericht über den Pro- zeß des welfischen Herzogshauses gegen den Freistaat Braunschweig um das Kammergut (1921/25). Braunschweig 1996 (Beihefte zum Braunschweigischen Jahrbuch 12), S. 54f. 19 Zu diesem Hintergrund: Bernd Rother: Die Sozialdemokratie im Land Braunschweig 1918 bis 1933. Bonn 1990, S. 119-128. 20 NLA-Hauptstaatsarchiv Hannover Dep. 103 XVI Nr. 103 (Benutzung mit Genehmigung des Prinzen von Hannover). 21 NLA-StA WF 42 B Neu Fb. 6 Nr. 277/II. Diese Akte, die Prozessakte, enthält Schriftstücke wie das zi- tierte, die eigentlich in die Parallelakte des Staatsministeriums – 12 Neu 13 Nr. 45103 – gehört hätten.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 204 Brage Bei der Wieden brechen in Stendal in Untersuchungshaft saß. Sitzmann gab an, er habe das Schreiben an Knoke auf Veranlassung eines Kommunisten Otto Meyer aus Hann. Münden aufgesetzt. Diese Spur verlor sich aber. „Hierauf fuhren“, so, dem Wortlaut des Polizeiprotokolls folgend, eine Mitteilung des Presseamtes des Staatsministeriums, „die Kriminalbeamten nach Braunschweig, wo Sitzmann sie an das Haus von August Merges führte. Merges ließ sich auf Unterhandlungen mit Sitzmann nicht ein. Die Kriminalbeamten sprachen als- dann selbst bei Merges vor. Merges erklärte zuerst, dass er die Absicht nicht habe, die Urkunde dem Welfenhaus zu überlassen, er wolle sie nach Amerika verkaufen bzw. die Urkunde mit einer entsprechenden Abhandlung in ausländischen Zeitungen veröffentli- chen. Er glaube auf diese Weise 30-40 000 Mk. zu verdienen.“22 Merges dementierte diese Aussage im Leitartikel der Niedersächsischen Arbeiter-Zeitung, dem Organ der Vereinigten Kommunistischen Partei, vom 7.1.1921: Er habe dem Spitzel Sitzmann nie- mals den Auftrag erteilt, die Urkunde zu verkaufen. Er sei weder in ihrem Besitz und habe er ein persönliches Verfügungsrecht darüber. Die Behauptung, er wolle das Dokument an einen reichen Amerikaner verkaufen, sei ein Märchen und eine Lüge.23 Am 10. Januar erklärte er in einer öffentlichen Versammlung (so die bürgerlichen „Neuesten Nachrich- ten“): „Kein Pferd glaubt, dass die Abdankungsurkunde des Herzogs ein Staatsdokument ist. … Die Urkunde resultiert aus einer revolutionären Handlung. Mag die Urkunde jetzt besitzen wer will, es wäre ein Wahnsinn, sie an die Regierung eines Klassenstaates her- auszugeben. Wir stehen dem Klassenstaat feindlich gegenüber, deshalb haben wir die Pflicht, ihm alles vorzuenthalten. Die Urkunde gehört in ein Revolutions-Museum.“24 Merges räumte bei dieser Gelegenheit zwar ein, es könne einmal die Absicht geäußert worden sein, die Urkunde zu Gunsten inhaftierter Genossen zu verkaufen. Er habe sie aber nicht in seinem Besitz. Alles, was er den Kriminalbeamten mitgeteilt habe, sei Lari- fari und von A bis Z erfunden. So kam die Sache an die Staatsanwaltschaft, die am 11. Januar 1921 gegen Merges Anklage wegen Unterschlagung erhob. Am 13. Juni 1921 wurde das Hauptverfahren er- öffnet; es endete mit Beschluss vom 1. März 1922. Das Verfahren wurde eingestellt, „da nach den angestellten Ermittelungen und nach der ganzen Sachlage der Schluß gerecht- fertigt ist, dass der Angeklagte … aus im wesentlichen politischen Beweggründen heraus gehandelt und politische Zwecke mit der Tat verfolgt hat, mithin die Tat unter das Amnes- tiegesetz vom 11. Januar fällt.“ Der Verbleib der Abdankungsurkunde blieb unbekannt. Die Oerter-Regierung benutzte den Verdacht gegen Merges aber, um diesen und mit ihm die KAPD moralisch zu dikreditieren, und die bürgerliche Presse stimmte empört mit ein. Das Abdankungspapier erfuhr so eine Symbolisierung, ihm wurde ein Denkmalwert bei- gemessen, den verschiedene Anbieter von Faksimiledrucken, die sie – wie Sitzmann – für das Original hielten, auch zu beziffern versuchten. Als Rechtsdokument besaß die Ur- kunde jedoch – unstreitig – keine Bedeutung. Nach dem Staatsrecht der untergegangenen Monarchie handelte es sich bei einem Thronverzicht nicht um einen Akt, der einen Nach- folger hätte binden können: In einer Erbmonarchie rückte bei einer Abdiktion der dafür

22 Die Freiheit. Organ der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei des Freistaates Braunschweig, 10.1.1921: NLA-StA WF Z 56 Nr. 2/1. 23 NLA-StA WF Z 58 Nr. 1. 24 Neueste Nachrichten, 12.1.1921: NLA-StA WF Z 49 Nr. 25/1.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Ermittlungen zur Abdankungsurkunde des letzten Herzogs 205 vorgesehene Nachfolger in das Amt nach.25 Wenn man nun aber privatrechtliche Verhält- nisse unterstellte – das Bürgerliche Gesetzbuch galt über die Verfassungsänderung hinaus fort –, so hätte die herzogliche Seite die in der Urkunde ausgedrückte Willenserklärung wegen der Drohungen, die der Arbeiter- und Soldatenrat anwandte, anfechten können (§ 123 BGB). Merges hatte aber ganz Recht mit seiner Einschätzung, dass nicht die Ur- kunde, sondern allein die Revolution die neuen Verhältnisse begründete. Aus den Ermittlungsakten gegen Merges geht über die Schicksale des Dokuments ver- gleichsweise wenig hervor. Der 38-jährige Zigarrenhändler Karl Eckardt – wohl der USPD-Reichstagsabgeordne- te26 – gab zu Protokoll: „Als die Revolution ausbrach, befand ich mich auf der Reise. Ich kam an dem Abend des Tages hier an, an welchem der Herzog abdankte. Ein oder zwei Tage darauf hatte ich in der Kaserne zu tun, weil ich in den Arb. u. Soldatenrat gewählt war. Ich kam dort in ein Zimmer, das Hochpaterre links vom letzten Eingange der Fallers- lebertorkaserne liegt. In diesem Zimmer hielten sich meiner Erinnerung nach sowohl Mitglieder vom Arb. und Soldatenrat wie andere Personen auf. Auf einem Tische des Zimmers habe ich die Abdankungsurkunde des Herzogs liegen sehen. Sie wurde nicht besonders beachtet und ich nahm sie an mich, um sie in Verwahrung zu bringen. Ich habe die Urkunde einige Wochen oder einige Monate – genau kann ich es beim besten Willen nicht sagen – in meiner Privatwohnung verwahrt; alsdann habe ich sie auf Anfordern herausgegeben, und zwar entweder an den Beschuldigten [Merges] oder an einen derjeni- gen, die beteiligt, d. h. bei der Abgabe der Erklärung zugegen waren.“ In wünschenswerter Klarheit erfahren wir jedoch aus den Prozessakten alles über die Herstellung und Verbreitung der Faksimiles, die Sitzmann und zahlreiche Nachahmer, die Vorteile oder ein Geschäft witterten, getäuscht hatten. Ein Vermerk der Staatsanwaltschaft hält fest: „Der Geschäftsführer der Firma J. G. Huch & Co. G. m. b. H. hierselbst, Graphische Kunstanstalten, Karl Gropp, Helmstedter- str. 32.I, erklärt auf Befragen fernmündlich folgendes: Das Faksimile der Abdankungs- urkunde des Herzogs Ernst August ist von meiner Firma hergestellt. Der noch jetzt bei mir beschäftigte Reproduktionsphotograph Wilhelm Wägele, Korfesstr. 15.III erschien s. Zt. mit der Originalurkunde u. verlangte ein Klischee davon. Wägele war Mitglied des Soldatenrats. Da der mit schräger Maschinenschrift geschriebene Text der Abdankungs- erklärung für Reproduktionszwecke nicht gut geeignet war und meine Privatschreibma- schine eine ganz ähnliche Schrift besitzt, habe ich zunächst eine Wiedergabe des Textes mit meiner Schreibmaschine angefertigt, worauf dann der Photograph Wägele von die- sem Texte, der auf die Originalurkunde aufgedrückt wurde, und der Originalunterschrift eine Photographie hergestellt hat. Nach dieser ist dann das Klischee gemacht. Das Papier

25 Vgl. Helmut Neuhaus: Das Ende der Monarchie in Deutschland 1918. In: Historisches Jahrbuch 111 (1991), S. 102-136; Michael Horn: Zwischen Abdankung und Absetzung. Das Ende der Herrschaft der Bundesfürsten des Deutschen Reiches im November 1918. In: Susan Richter, Dirk Dirbach (Hrsg.): Thronverzicht. Die Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Köln 2010, S. 267- 290, hier S. 280f. 26 Martin Schumacher: M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Na- tionalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1932-1945. Eine biographi- sche Dokumentation. 3. Aufl. Düsseldorf 1994, S. 308f.

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der Originalurkunde bestand nur aus einem Blatte, es war eine Art Büttenpapier. Ein hzl. Blindsiegel befand sich meiner Erinnerung nach nicht an dem Papier.“ Diese Faksimiledrucke wurden zu Beginn der Revolution, so teilte es die Braun- schweigische Landeszeitung am 5.1.1921 mit und so hatte ja auch Schroff berichtet, von Straßenhändlern angeboten und viel verkauft. Das Faksimile unterscheidet sich vom Ori- ginal – wie erwähnt – hinsichtlich der Schreibmaschinentype und durch eine nachträgli- che Veränderung: der Name „A. Merges“ war, als der Faksimiledruck gefertigt wurde, durchgestrichen. Die Durchstreichung ist nachher durch eine Unterpunktung rückgängig gemacht worden. Dieser Umstand hat verschiedene Erklärungen gefunden: 1. „Der Name von Merges ist, soviel bekannt, deshalb wieder gestrichen worden, weil die Revolution nur von der Armee ‚gemacht’ werden sollte.“27 2. Der polizeilichen Aussage eines Bekannten zufolge soll ein gewisser Friedrich Wün- ning sich gerühmt haben, er habe die Urkunde Merges im Herbst 1920 vom Schreib- tisch entwendet. Auf die durchgestrichene Unterschrift angesprochen, habe er be- merkt, „dass M. seinen Namen durchstrichen habe, weil die anderen Persönlichkeiten die Titel zur Unterschrift setzten.“ Und in einer weiteren Vernehmung: „[Wünning] erwiderte, danach habe er Merges auch gefragt. Merges habe ihm gesagt, er sei ärger- lich darüber gewesen, dass die Herren alle mit Titel unterzeichnet hätten und habe ihnen erklärt, wir haben mit der alten Titelgeschichte nichts mehr zu tun, ein derarti-

27 Braunschweigische Landeszeitung, 5.1.1921: NLA-StA WF Z 43 Nr. 32/1.

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ges Schriftstück unterzeichne ich nicht; dabei habe er seinen Namen durchstrichen. Merges habe noch eine neue Urkunde vom Herzog verlangt, was dieser indessen ab- gelehnt habe, er habe darauf die Urkunde eingesteckt, da sie ja genügt habe.“ (5.3.1921). Wünning lag aber – wie spätere Vernehmungen ergaben – nicht einmal das Faksimile, sondern ein Falsifikat vor. 3. „Minister Wolff forderte darauf Merges auf, auch seinen Namen als Zeuge darunter zu setzen (der Name Zander, Vorsitzender des Soldatenrats, befand sich bereits auf der von der Kommission mitgebrachten Urkunde). Merges kam der Aufforderung nach, worauf Wolff meinte, seine Unterschrift sei ja eigentlich doch unnötig. Merges strich darauf mit den Worten: ‚Wie Sie wünschen, meine Unterschrift ist mir ganz gleich- gültig’, seinen Namen wieder durch. Alles andere, was eine bürgerliche Zeitung kürz- lich über die Angelegenheit mitteilte,28 ist eine Fabel.“29 4. „Auf Verlangen des Herzogs mußte der Genosse Merges, der die Urkunde ebenfalls unterschrieben hatte, seinen Namen wieder durchstreichen, da es das Prestige des Herzogs angeblich nicht zuließ, dass er sich in die Gewalt einer Zivilperson begebe.“30 5. Nach einer von Merges Sohn Walter weitergebenen mündlichen Tradition soll der Herzog geäußert haben, wenn er schon abgesetzt werde, dann solle das lieber durch den Vorsitzenden des Soldatenrates als durch den des Arbeiterrates geschehen. Eine letzte Version: Ursprünglich habe der Vorsitzende des Soldatenrates, Zander, die Delegation, die den Thronverzicht erzwang, anführen sollen; er hatte das Dokument auch bereits unterschrieben. Merges habe – entgegen einer früheren Planung – nicht teilneh- men sollen, weswegen seine Unterschrift voreilig gestrichen worden sei.31 Wieder sind die Auswahl der Fakten und die Geschichte, die jeweils erzählt werden sollte, genauer zu betrachten. Merges hatte sich zweifellos die Version der Neuen Arbei- ter-Zeitung bzw. seines Sohnes gebildet; sie klingt auch schon in dem distanzierten On-dit der Landeszeitung vom 5.1.1921 durch. Wenn es jedoch tatsächlich so gewesen wäre, dass der Herzog hier einen Anspruch des Vorsitzenden des Arbeiterrates zurückgewiesen hätte, so wäre dies ein Akt von Heroismus gewesen. Das Protokoll der Generaladjudantur hätte einen solchen nicht verschwiegen. Als sicher immerhin kann gelten, dass Merges die Durchstreichung selber vornahm – und sich später darüber ärgerte, weshalb er sie durch Unterpunktung korrigierte. Das lässt eher eine rasche Handlung des Vorsitzenden des Arbeiterrates vermuten als legitimistische oder militaristische Vorbehalte des Monarchen, die gegen diesen, nicht gegen Merges, auszulegen gewesen wären.32 Aus psychologischen

28 Der Sonntag. Braunschweiger Neueste Nachrichten, 4.11.1928: NLA-StA WF Z 49 Nr. 32/4: „In der Abdankungsurkunde stand anfangs neben der Unterschrift des Herzogs: A. Merges, Vorsitzender des Arbeiterrats. Diese ‚Ehre’ wird ihm von anderer Seite nicht gegönnt worden sein, denn die Unterschrift wurde später durchstrichen und ersetzt durch: Zander, Vorsitzender des Soldatenrats.“ 29 Volksfreund. Organ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 7.11.1928: NLA-StA WF Z 40 Nr. 47/4. 30 Neue Arbeiter-Zeitung, 28.11.1928: NLA-StA WF Z 58 Nr. 8/3. 31 [Walter Deeters:] Dokumente aus dem Niedersächsischen Staatsarchiv in Wolfenbüttel. Eine Archiva- lienausstellung. Göttingen 1974, S. 41. 32 In späteren Berichten wird es so dargestellt, als habe Merges seine Unterschrift streichen müssen und Zander danach unterschrieben. Das wäre eine Fehlinterpretation der Urkunde, denn Zander war ja bei der Erzwingung der Abdankung gar nicht anwesend, sondern hatte das Blatt vorher unterschrieben.

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Gründen haben daher die Versionen, die Wünning und der Volksfreund berichten, eine höhere Wahrscheinlichkeit; sie schließen einander allerdings aus, der Interpret muss sich für die eine oder die andere entscheiden. Wünning ist als Zeuge sicherlich problematisch, da ein enger Kontakt zu Merges lediglich von ihm selbst behauptet wurde. Der Volks- freund, die SPD-Zeitung, kann seine Informationen hingegen von anderen unmittelbar Beteiligten bezogen haben. Ferner ist Wolffs Aufforderung an Merges, seinen Namen wieder zu streichen, vollkommen plausibel, denn dessen Unterschrift besaß auf einer ein- seitigen Willenserklärung des Herzogs keine Funktion. Schließlich eine letzte Quelle, die in den Zitatenteppich dieses Beitrags geknüpft werden muss, ein Vermerk, den Zimmermanns Nachfolger, der Staatsarchivdirektor Dr. Kleinau, am 6.11.1953 aufsetzte: „Die Urschrift der Abdankungsurkunde des Herzogs Ernst August von Braunschweig und Lüneburg vom 8.11.1918 ist mir in Gegenwart des Herrn Vizepräsidenten Dr. Parisius vom Verw.-Präsidium in Braunschweig durch den Sohn des + Herrn A. Merges33, Herrn Walter Merges, Braunschweig, Salzdahlumer Str. 65 II, heute aus dem Nachlaß übergeben. Die Urkunde war nach 1933 jahrelang vergra- ben.“ Weswegen das erst zu diesem Zeitpunkt geschah, wusste die Braunschweiger Zei- tung vom 7. November 1968: Merges habe bestimmt, dass sein Sohn die Urkunde erst nach dem Tod des Herzogs dem Landesarchiv übermitteln sollte. „So zartfühlend war der Revolutionär, der als guter Mensch Rücksicht auf die Gefühle seines Nächsten nahm.“34 Wie auch immer: Die Abdankungsurkunde hat also ihren Platz, nachdem der Streit um das Erbe der Revolution seine Bedeutung eingebüßt hatte, nicht in einem Revolutionsmu- seum (das, wenn es 1921 oder 1928 errichtet worden wäre, das Jahr 1933 nicht überlebt hätte), sondern im Staatsarchiv gefunden, wo sie zum Nutzen der historischen Forschung dauerhaft für alle Zukunft aufgewahrt werden wird.

33 Merges war von Mai 1935 bis Februar 1938 in Wolfenbüttel inhaftiert gewesen, er starb am 6.3.1945 an den Folgen der Haft. 34 NLA-StA WF 73 Z 23 Bd. 11. Ernst August Prinz von Hannover war am 30.1.1953 verstorben.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Ergänzende Mitteilungen über Louis Levin (1865-1939)

von

Dieter Miosge

Der Braunschweiger Oberlandesgerichtspräsident von 1922 bis 1930 Dr. Louis Levin wäre in der Braunschweiger Justiz wohl vollends dem Vergessen anheimgefallen, wenn nicht sein mit feinem historischem Sinn begabter Nachfolger von 1971 bis 1990, Rudolf Wassermann, im Jahre 1988 über ihn eine biografische Studie1 und später einen Aufsatz in dem großen Sammelwerk „Deutsche Juristen jüdischer Herkunft“2 veröffentlicht hätte. Die dafür zu leistende Forschungsarbeit war schwierig genug, denn Levins Personal- akten sind verschwunden, es gibt nicht einmal ein Porträtfoto von ihm. So wurde in der damals im Chefpräsidentenzimmer an der Wand hängenden Galerie der Oberlandesge- richtspräsidenten schlichtweg unterschlagen, dass es einen Oberlandesgerichtspräsiden- ten Levin gegeben hatte. Aber es gab andererseits die Fülle gedruckten Materials, ein Riesenwerk von Levins rechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen und, wie in der Wei- marer Republik gang und gäbe und heutzutage fast gar nicht mehr nachzuempfinden, akribische Presseberichte über Justizbelange in mehreren Braunschweiger Zeitungen ver- schiedener Couleur. Zusammenfassend ergibt sich ein Bild, das ich bereits an Hand der Wassermannschen Forschungen wie folgt zusammenfassend dargestellt habe : Nachdem Exzellenz Wolf, sein Vorgänger, durch den politischen Akt der Herabset- zung des Pensionsalters auf 68 Jahre aus dem Amt befördert worden war, berief die sozia- listische Landesregierung nach einigem Suchen gegen den Protest der hiesigen Richter- schaft Dr. Louis Levin, einen 57-jährigen Schlesier jüdischer Herkunft und Mitglied der linksliberalen DDP, sowie Mitglied des Republikanischen Richterbundes an die Spitze der Braunschweiger Justiz. Levin, zunächst Amtsrichter in Sorau/Schlesien, ab 1905 Amtsgerichtsrat in Berlin- Schöneberg und seit 1919 Kammergerichtsrat, hatte sich 1913 durch das Buch: „Richter- liche Prozessleitung und Sitzungspolizei in Theorie und Praxis“ als rechtsgelehrter Ken- ner des Zivilprozessrechts und als Fürsprecher für einen humanen Umgang mit den Prozessbeteiligten ausgewiesen. Seit 1920 war er Mitglied der Kommission des Reichs- justizministeriums zur Reform der Zivilprozessordnung. In einem ebenso souverän ge- schriebenen Buch von 1916: „Die rechtliche und wirtschaftliche Bedeutung des Anwalts- zwanges“ behandelte er die notwendige und gute Zusammenarbeit zwischen Richtern und

1 Rudolf Wassermann: Louis Levin. Braunschweiger Oberlandesgerichtspräsident 1922-1930. Eine bio- graphische Skizze. Braunschweig 1988 (Stadtarchiv und Stadtbibliothek Braunschweig. Kleine Schrif- ten 19). 2 Louis Levin (1865-1939). Ein „Führer der Praxis”. In: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. Hrsg. von Helmut Heinrichs u. a. München 1993, S. 495-506. Vgl. ferner BBL 1996, S. 379 f.

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Anwälten. Ein drittes seiner Spezialgebiete, das er in Lehrveranstaltungen an der Techni- schen Hochschule als a. o. Professor vertrat und in den juristischen Examina prüfte, war das Arbeits- und Sozialrecht, insbesondere das Sozialversicherungsrecht. Aus seinen vie- len Publikationen ergibt sich das Bild einer hoch bedeutenden, stets der Praxis und der Kultur des Gemeinwesens zugewandten Richterpersönlichkeit, die in vielem der dama­ ligen Zeit ein halbes Jahrhundert voraus gewesen ist. Für Levin gehörte zur Kulturaufgabe „Recht“ außer guten Gesetzen und der sach­ lichen Befähigung eines hohen, unabhängigen rechtsgelehrten Richterstandes noch ein Drittes: Der Wille zur Gerechtigkeit, gerichtet auf die Arbeitsgemeinschaft zwischen Richter und Rechtsanwalt und Staatsanwalt, auf die Erfüllung mit demokratischer und sozialer Staatsgesinnung, auf die Integration „aller mitschwingenden Teile des großen Volksganzen“. Recht war ihm nicht ein Herrschaftsinstrument der Einen gegen die Ande- ren, sondern ein Integrationsinstrument „aus brüderlicher, von Klassen- und Rassenvor- urteilen freier Gesinnung gegenüber allen Volksgenossen, die in Freiheit und Pflicht ge- meinsam für das Volksganze arbeiten“. Levin wehrte sich stets gegen die Unterstellung, dass die Richter schlechthin obrig- keitlich urteilen und den republikanisch-demokratischen Werten gegenüber abgeneigt seien. Er habe viele als reaktionär bezeichnete Richter kennen gelernt, die ein erstaunli- ches feines Gefühl und Verständnis für Freiheit und Würde der Persönlichkeit, für ge- nossenschaftliche Auffassungen und soziale Forderungen besessen haben. Andererseits hätten nicht alle, die sich äußerlich zur republikanisch-demokratischen Staatsform be- kannten, deren Wesen begriffen. Es konnte nicht ausbleiben, dass Levin in seinem Bemühen um eine unabhängige, parteipolitisch unbeeinflusste Personalpolitik im Jahre 1928 mit dem sozialdemokrati- schen Justizminister und Bildungspolitiker Sievers, einem Lehrer, in Konflikt geriet. Wie schon im Falle von Levins Vorgänger Wolf setzte die braunschweigische Regierung die Altersgrenze herab, diesmal auf 65 Jahre, und schickte Levin zum 1. Juli 1930 in den Ruhestand. Die Richterschaft im Herzogtum Braunschweig, die ob ihrer landsmann- schaftlichen Geschlossenheit die Inthronisierung eines Externen, aus Berlin Kommenden, als Zumutung empfunden hatte, bedauerte nun seine Pensionierung und Levin empfand diese als Kränkung. Levin ging nach Berlin zurück und publizierte weiter, bis ihn die Nazis 1933 zum Verstummen brachten. Er starb dort zurückgezogen 1939. Im Rahmen meiner eigenen Forschungen und Befragungen von Zeitzeugen, einige Jahre bevor diese verstarben, gab es einige berichtenswerte Mitteilungen: Frau Resi Regensburger, die Witwe des legendären Rechtsanwalts und DDP-Politikers Norbert Regensburger in Braunschweig3 , erzählte mir 1999 in London, Levin habe nach seiner Ernennung sogleich seinen Parteifreund Regensburger aufgesucht, um Auskunft und Beratung hinsichtlich der Braunschweiger Verhältnisse und insbesondere der juristi- schen zu bekommen. Dieser habe ihrem Mann gesagt, er sei evangelisch geworden, und zwar aus Überzeugung. Das ist denkwürdig, zumal Regensburger als gläubiger Jude Kon-

3 Dieter Miosge: Dr. Norbert Regensburger (1886-1933). Rechtsanwalt und Braunschweiger Politiker. In: Justiz und Anwaltschaft in Braunschweig 1879-2004. 125 Jahre Oberlandesgericht und Rechtsanwalts- kammer Braunschweig. Hrsg. von Edgar Isermann und Michael Schlüter. Braunschweig 2004, S. 218-228.

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vertiten verachtete, weil er stets Opportunismus witterte. Zugleich ist diese Auskunft, zu- sammen mit einer späteren Eintragung im Melderegister der Stadt Braunschweig, geeig- net, die offizielle Statistik des Reichsjustizministeriums in Frage zu stellen, wonach Levin der einzige Glaubensjude unter den Oberlandesgerichtspräsidenten gewesen sei.4 Frau Regensburger erinnerte sich, das kinderlose, liebenswürdige und hoch gebildete Ehepaar Levin habe sich mit „Muttchen“ und „Vatchen“ angeredet. Medizinalrat Dr. Hans Mansfeld, der zweite Sohn des ersten Nachkriegs-Oberlandes- gerichtspräsidenten5 und Neffe des bedeutenden Senatspräsidenten am Reichsgericht Ri- chard Mansfeld, wusste von seinen Eltern, dass die seltenen Abendeinladungen zu Levins in einer gewissen Steifheit abliefen. So habe Levin seinen Gästen zunächst einen Vortrag gehalten, einmal über die Bedeutung Martin Luthers. Ob dieser spärlichen zusätzlichen Nachrichten ist es bedeutsam, dass mir vor einigen Jahren in Fotokopie ein handschriftlicher Brief vom 6.1.1972 aus dem Leo Baeck-Institut in New York zugegangen ist,6 den der Oberlandesgerichtspräsident von 1955-1968, Dr. Friedrich-Wilhelm Holland,7 aus eigenem Erleben auf Bitten von Ernst Hamburger ge- schrieben hatte. Holland, Sohn des Braunschweiger Generalstaatsanwalts von 1908 bis 1930, ist der Amtsvorvorgänger Wassermanns, von dem dieser nur die Mitteilung erhalten hatte, Levin sei ein stiller Mann gewesen, der in Braunschweig „nicht recht habe Fuß fassen können“ und nach seinem Ausscheiden wieder nach Berlin zurückgegangen sei.8 Dieser Brief sei hier nahezu in voller Länge wiedergegeben, soweit er sich mit Levin beschäftigt: Ich habe meinen Amtsvorgänger Levin persönlich kennen gelernt und möchte ihn, wie folgt, beurteilen. Levin war ein hochqualifizierter Jurist, die Tätigkeit als OLG Prä­ sident wurde ihm schwer gemacht. Er war daran nicht ganz schuldlos. Seine Berufung zum OLG Präsidenten erfolgte etwa in den Jahren 1921 oder 1922 unter einer sozialdemokratischen Regierung. Entscheidend wird gewesen sein, dass L. neben sei­ ner guten juristischen Befähigung der Demokratischen Partei angehörte. Er stieß beim OLG Braunschweig auf eiserne Ablehnung. Dass er jüdischer Abkunft war, war nicht der Urgrund des Widerstandes. Man muss sich vielmehr in die damaligen politischen Verhält­ nisse zurückversetzt sehen. Der weit überwiegende Teil der Beamtenschaft hatte die Zeiten der Monarchie nicht vergessen. Levin wurde als ausgesprochener Außenseiter betrachtet. Warum wurde ein Kammergerichtsrat, noch dazu ein Junggeselle, der noch nicht einmal die braunschweigische Staatsangehörigkeit hatte, auf diesen Posten berufen? Manch alter Braunschweiger Richter, der sich wohl Hoffnung gemacht hatte, sah sich enttäuscht. … In seiner richterlichen Tätigkeit fand L. durchaus Anerkennung. Er verstand es je­ doch nicht, durch persönliche Fühlungnahme ein Vertrauensverhältnis in der Richter­ schaft herbeizuführen. Die Art des persönlichen Umgangs verhinderte ein gutes persön­ liches Verhältnis unter der Richterschaft. So ist er in Braunschweig bis zu seiner

4 Deutsche Justiz 1939, 964f. 5 Dieter Miosge: Die Juristenfamilie Mansfeld, in: Justiz im Wandel der Zeit. Festschrift des Oberlan- desgerichts Braunschweig. Hrsg von Rudolf Wassermann. Braunschweig 1989, S. 328 ff. 6 Für das Auffinden dieses Briefes danke ich Frau Professor Dr. Eva Engel, Boston und Wolfenbüttel. 7 Miosge (wie Anm. 3), S.146 f. 8 Wassermann (wie Anm. 1), S. 6.

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Pensionierung (1931?) wohl ein ziemlich einsamer Mann geblieben. Es kam hinzu, dass er in den späteren Jahren seine Haushälterin heiratete, ein Umstand, der auch nicht dazu beitrug, seine gesellschaftliche Stellung zu erhöhen. Levin war sowohl im Referendarexamen, als auch in der Assessorprüfung Vorsitzen­ der der Prüfungskommission. Auch ich habe meine Prüfungen unter ihm abgelegt. Er war sicherlich ein gerechter, aber ein unangenehmer Prüfer. Levin war besonders für allgemeine Versicherungswissenschaft aufgeschlossen. Er prüfte auch in dieser Disziplin zum Leidwesen seiner Prüflinge, er setzte in dieser Disziplin zu hohe Voraussetzungen. Nach seiner Pensionierung verließ Levin Braunschweig und siedelte nach Berlin wie­ der über. Über seine Tätigkeit beim Berliner Tageblatt ist mir nichts Näheres bekannt. Ich habe mich während meiner Tätigkeit als OLG Präsident vergeblich bemüht, über den weiteren Verlauf des Lebens von Levin irgend etwas in Erfahrung zu bringen. Seine Frau soll vor ihm verstorben sein, er selbst soll etwa im Jahre 1936 ihr im Tode gefolgt sein. Alle weiteren Quellen des Nachforschens blieben verstopft. Es herrscht leider Dunkel über seine letzten Jahre, auch ich bin darüber betrübt. Hollands Amtsvorgänger in Braunschweig, Dr. Bruno Heusinger, der spätere Präsi- dent des Bundesgerichtshofs, sagte von Holland, dieser „entspreche dem Bild eines Rich- ters, der die Gaben des Intellekts mit der Lauterkeit des Herzens vereine“9. Das kann ich bestätigen, der ich als junger Richter Holland noch erlebt habe. Aber natürlich spricht aus dem Brief die Auffassung des alteingesessenen Braunschweigers gegenüber dem quasi exotischen Eindringling aus Berlin. Dazu gehört, dass Holland, der beim Weggang Le- vins im Jahre 1930 26 ½ Jahre alt war, von Levins überragender Bedeutung als juristi- schem Schriftsteller nicht viel wissen konnte. Was das Dunkel der letzten Jahre von Levin anlangt, das Holland und Wassermann gleichermaßen beklagt haben, ist beiden etwas Naheliegendes entgangen, was leider die Aura von Tragik und Einsamkeit nur noch deutlicher macht. Es sind zwei Aktenstücke Levin betreffend, die sich im Staatsarchiv in Wolfenbüttel befinden, über die abschlie- ßend berichtet werden soll. Das eine ist die Prozessakte Levin gegen Land Braunschweig aus dem Jahre 1932 – 12 Neu 13 P 312 –.10 Es ging um eine der vielen Klagen gegen die Pensionskürzungen, die für Braunschweiger Pensionäre besonders hart waren, weil zu den vier Kürzungen durch Notverordnungen im Reich noch zwei aus Braunschweig hinzukamen. Das hatte bei Le- vin ab 11.9.1931 zu einer Pensionskürzung von brutto 16.000 RM auf 11.800 RM jährlich geführt, netto von 13.953 RM jährlich auf 7.934,70 RM. Nachdem ein Vergleichsvorschlag am Widerspruch des berüchtigten Nazi-Minister- präsidenten Klagges gescheitert war, hatte Levin bei der 1. Zivilkammer des Landgerichts in einem 30 Seiten langen Urteil verloren und später seine Berufung, über die der Senat seines Nachfolgers Röpcke hätte entscheiden müssen, zurückgenommen. Interessant sind in der Klagschrift die Ausführungen des hochangesehenen jüdischen Rechtsanwalts Mielziner über Levins wirtschaftliche Verhältnisse: Er brauche jährlich 11.000 RM für

9 Miosge (wie Anm. 7). 10 Die korrespondierenden Akten des Oberlandesgerichts liegen im NLA-StA WF unter der Signatur 37 A Neu Fb. 8 Zg. 46/1964 Nr. 304/1-2.

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den Lebensunterhalt. Die ab 1.4.1932 bezogene 5-Zimmer-Wohnung Innsbrucker Straße 29 koste einschließlich Wasser und Warmwasserheizung jährlich 2.500 RM. Die vorheri- ge Wohnung Heylstraße 25 IV habe er aufgeben müssen, sie habe das Doppelte gekostet. Aus den folgenden Ausführungen spricht Verbitterung. Er sei von Braunschweig nach Berlin aus guten Gründen verzogen. Er habe die Herabsetzung des Pensionsalters auf 65 Jahre als eine sachlich ungerechtfertigte, auch ihn persönlich kränkende Maßnahme emp- funden. Dadurch sei seine Lebensfreude gestört. Außerdem hatte er für seine wissen- schaftliche und gutachterliche Tätigkeit mit der Unzulänglichkeit der Bücherei des Braun- schweiger OLGs zu rechnen. Der Haushalt bestehe aus drei Personen, den Eheleuten und der Haushälterin, die zugleich Köchin sei, da der bejahrten Hausfrau Hausarbeiten nicht zuzumuten seien. Andererseits sei der Kläger, der zucker- und steinleidend sei, auf eine sorgsame und kostspielige Diät angewiesen. Er habe daher das monatliche Wirtschafts- geld, das er bisher seiner Frau gegeben habe, nur auf 300 RM (einschließlich der Geträn- ke) ermäßigen können, so dass er jährlich mit einem Betrag von 3500 RM rechnen müsse … Die Hausgehilfin und Köchin erhalte monatlich 50 RM , einschließlich Soziallasten und Weihnachtsgeschenk jährlich 800 RM … Insgesamt sei der Kläger gezwungen, jährlich 3.000-3.500 RM hinzu zu verdienen, um seinen Haushalt aufrecht erhalten zu können. War dieser Sachverhalt noch ganz von den Wirtschaftsverhältnissen in der Weimarer Republik bedingt, so ist das zweite Fundstück im Staatsarchiv – 12 Neu 7 II Nr. 280 – von bösem Naziungeist erfüllt. Durch braunschweigisches Gesetz vom 6.1.1939 wurden die Pensionsbezüge wieder angehoben. Levin hätte statt bisher 7.934 RM jährlich rückwirkend ab 1.4.1937 jährlich 2.477,70 RM mehr erhalten müssen. Der Nazi-Oberlandesgerichtspräsident Nebelung schrieb am 4.4.1939 im Einvernehmen mit dem braunschweigischen Finanzminister an den Reichsjustizminister, weil Levin Jude sei, habe er von einer Pensionserhöhung abge- sehen und bitte um dortige Entscheidung. Obwohl in dem neuen Gesetz eine Sonderreg- lung für jüdische Beamte nicht vorgesehen sei, hätte eine solche getroffen werden müssen, wenn der Fall Levin bekannt gewesen wäre. Nun wörtlich: Es wird dem gesunden Volksempfinden widersprechen, wenn bei der feindlichen Hal­ tung des Judentums gegenüber dem Deutschen Volk und Reich einmal harte Sühnemaß­ nahmen getroffen werden, auf der anderen Seite aber einem jüdischen Beamten höhere Bezüge und erhebliche Nachzahlungen zuerkannt werden. Nach der Reichsgesetzgebung würde die Erhöhung der Pensionsbezüge allerdings rechtens sein. Ich habe trotzdem von einer Neuberechnung abgesehen, da ich annehme, daß der Gesetzgeber in dem Gesetz vom 6.1.1939 hinsichtlich der jüdischen Ruhegehaltsempfän­ ger sehr wahrscheinlich eine Sonderreglung getroffen haben würde, wenn ihm der Fall Levin bekannt gewesen wäre. Ich bitte, in der Angelegenheit zu entscheiden.“ Am 2.11.39 fragte der braunschweigische Finanzminister an, ob eine Entscheidung getroffen sei. Am 8.11.39 erging die Antwort: „...eine Entscheidung ist noch nicht ergan- gen. Levin ist am 19.9. d. J, seine Ehefrau am 8.9. d. J. verstorben“. Auf diese Antwort sind dann im Finanzministerium mit Kopierstift im Abstand von jeweils drei Monaten mehre- re Vorlagedaten gekritzelt worden. Nebelung, dem in seiner Amtsführung und im Umgang mit dem Gerichtspersonal durchaus menschlich korrektes Verhalten nachgesagt wurde, schrieb am 2.3.1949 im Ent-

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 214 Dieter Miosge nazifizierungsverfahren an den öffentlichen Ankläger,11 er sei aus sozialen Gründen Na- tionalsozialist geworden und habe sich aus Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit jeder Gewaltsamkeit und allen polizeistaatlichen Bestrebungen widersetzt … Mit dem Nationalsozialismus, den die ganze Welt heute verabscheut, habe ich nichts zu tun. Aber die Verbrechen der Nazis, von denen sich Nebelung distanzieren wollte, hatten ihre Ursache in den Ideen, denen Nebelung anhing.

11 NLA-StA WF 3 Nds 92/1 Nr. 51776.

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Ewa Schmid

Allgemeines, Landeskunde 1. Barkhausen, Karl-Ludwig: Der englische Sozialist und Volkswirtschaftler Tho- mas Hodgskin besucht den Harz auf seiner Deutschlandreise (1815-20). In: Goslarer Bergkal. Jg. 394. 2012. [2011]. S. 63-65, Abb. 2. Birth, Manfred: Die Allerwelle. Gifhorns neue Freizeit- und Schwimmsportstätte. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 36-39, Abb. 3. Claassen-Bode, Verena und Jürgen: Die liegende Acht – Radwegekonzept (dritter und letzter Teil) – Ringschluss. In: Der Tetzelstein. Jg. 5. Nr. 8. 2011. S. 20-22, Abb. 4. Cornelius, Reiner: Der Harz. Vom Todesstreifen zur Lebenslinie; Mensch und Na- tur am Grünen Band Deutschland. Niederaula: Auwel-Verl. 2011. 232 S., Abb., Kt. 5. Dittmann-Martin, Christiane, Wolfgang Busset: 25 Jahre Partnerschaftskreis Samtgemeinde Wesendorf e. V. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 44-48, Abb. 6. Eder, Ekkehard: Kriegsopfergräber und Mahnmale auf dem Osteroder Friedhof. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 2-25, Abb. 7. Es begann am Heeseberg … Stromatolithe und der Ursprung des Lebens. Staatliches Naturhistorisches Museum; Geopark Harz, Braunschweiger Land, Ostfalen; Sen- ckenberg – world of biodiversity. München: Pfeil 2011. 60 S., Abb., Kt. 8. Faustdick und Ellenlang. Entdeckungsreisen in Deutschlands Städten mit alten Maßeinheiten. Hrsg. v. Regina Junge. Kassel: Verfasser 2011. 72 S., Abb. 9. Feicke, Bernd: Der Roland von Quedlinburg. Symbol königlicher Privilegien für die Kaufleute der Stadt. Antipode zur Stadtherrschaft der Äbtissin des Reichsstiftes. In: Harz-Zs. Jg. 63. 2011. S. 125-138, 4 Abb. 10. Gelbke, Claus-Dieter: Erinnerungen an den Landkreis Blankenburg. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 171-172. 11. George, Klaus: Mit einem Findlingsgarten fing es an. Der Geopark Harz. Braun- schweiger Land. Ostfalen. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 52-53, Abb. 12. Göhler, Peter, Hans-Viggo von Hülsen: Rotary International in Deutschland und in Gifhorn. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 62-64, Abb. 13. Grönig, Irmgard, Gisela Krantz: Von der Liebesruine zum Lebensbaum. Ge- schichte der Villa „Uhlenhorst“ (auch Pillervilla genannt) in Osterode am Harz, Scheerenberger Straße 65. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 68-72, Abb.

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14. Haas, Christian: Zeitorte im Braunschweiger Land. Heide und Harz. [Kulturschät- ze: 84 Zeitorte in neuem Glanz; Kunst und Genuss: Lohnende Ausflugstipps; Zeit- reise: Zwischen Urzeit und Zukunft & Extra-Karte zum Herausnehmen]. 1. Aufl. München: Travel-House-Media 2011. 128 S., Abb., (Merian live!). (ZeitOrte). 15. Der Harz und sein Umland. [Red.: Markus Rhode ]. Nordhausen: Bautz [2011]. 382 S., Abb., Kt. 16. Hentrich, Martin: Vom Kisserling, Menhiren und anderen sagenhaften Steinen zwischen Harz und Bruch. In: Zwischen Harz und Bruch. Heimatzs. f. Halberstadt u. Umgebung seit 1956. H. 64. 2011. S. 39-46. 17. Hodemacher, Jürgen: Lasst uns auf den Brocken zieh‘n … Bewegende Geschichte des herausragendsten aller Berge im Harz. Braunschweig: Appelhans 2011. 76 S., Abb., Kt. 18. Des Kaisers letzte Kleider. Neue Forschungen zu den organischen Funden aus den Herrschergräbern im Dom zu Speyer. Speyer: Historisches Museum der Pfalz Spey- er 2011. 240 S., Abb. [Braunschweig-Bezug] 19. Knappe, Hartmut: Palmen am Harz – der versteinerte Klimawandel. In: Uhlenklip- pen-Spiegel. Nr. 97. 2011. S. 3-12, Abb. 20. Knolle, Friedhart: Auf dem historischen Kaiserweg über den Harz. 45 Kilometer von Bad Harzburg bis Walkenried. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 89-91, Abb. 21. Knolle, Friedhart: Goethes winterliche Brockenbesteigung 1777 – welchen Weg nahm er? In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 242-243, Abb. 22. Knolle, Friedhart: Die korrekte Brockenhöhe beträgt 1141 m ü. Nhn. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 12-13, Abb. 23. Krause, Ortrud: Das Höhlenerlebniszentrum Iberger Tropfsteinhöhle. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 67-70, Abb. 24. Köpp-Grünthal, Carolin, Stefan Liebig: Eine Entdeckungsreise durch Südnieder- sachsen. Leben zwischen Solling, Harz und Weser. 1. Aufl. Clenze: Ed. Limosa 2011. 239 S., Abb., Kt. 25. Küpper, Patrick: Harz. Kompakte Reiseinfos, ausgewählte Wandertouren, über- sichtlicher Kartenatlas. 1. Aufl. Geseke: Publicpress 2011. 192 S., Abb., Kt. (3-in-1-Reiseführer). 26. Kwan, Elisabeth E., Anna E. Röhrig, Peter Steckhan: Frauen der Welfen. Göttin- gen: MatrixMedia-Verl. 2011. 445 S., Abb. 27. Lange, Horst: 200 Jahre Alexisbad. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 107-113, Abb. 28. List, Karlheinz: Erinnerungen an die Wohnverhältnisse in Alt-Osterode (1935 und 1952). In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 73-76. 29. Meibeyer, Wolfgang: Frühere Okerläufe bei der Mühle Rüningen. In: Braunschw. Heimat. Jg. 97, 2. 2011. S. 17-19, 3 Abb. 30. Meibeyer, Wolfgang: Ummern, Pollhöfen und Spechtshorn im Kirchspiel Hohne. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 119-126, 3 Abb.

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31. Metropolregion Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg. Struktur und Ent- wicklung. [Hrsg.: Stadt Braunschweig, Referat Stadtentwicklung und Statistik]. Braunschweig: Stadt 2011. 40 S., Abb., Kt. (Statistik aktuell 01-2011). 32. Mewes, Jürgen: Die Judenbuche beim Tetzelstein. In: Der Tetzelstein. Jg. 5. Nr. 9. 2011. S. 3-4, Abb. 33. Müller, Alfred: Grenzgänge in Zeiten reifer Jugend. In: Landkr. Helmstedt. Kreis- buch 2012. [2011]. S. 103-106. 34. Ohse, Burkhard: 350 Jahre jung – die Schützengesellschaft Hankensbüttel und Isen- hagen. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 114-118, Abb. 35. Papies, Herbert, Friedhart Knolle: Eine Wanderung von Drei-Annen-Hohne über die zum Ottofelsen. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 37-38, Abb. 36. Pharmazie in Braunschweig. Historische und aktuelle Aspekte. Hrsg. v. Peter Dilg. Marburg: Görig u. Weiershäuser 2011. 86 S., Abb., Kt. (Stätten pharmazeutischer Praxis, Lehre u. Forschung 10). 37. Pieper, Friedrich: Vom Forstrevier Bruchberg zum Nationalpark Harz. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 130-134, Abb. 38. Reiter, Barbara, Michael Wistuba: Harz. 1. Aufl. Erlangen: Müller 2011. 263 S., Abb., Kt. 39. Schindler, Eberhard, Volker Wilde: Das Kellwasser-Tal. Ein weltweit bekannter Ort der Geologie. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 50-52, Abb. 40. Schütze, Wolfgang: Wir wandern durch das Harzer Land. Plaudereien über den Harz. 1. Aufl. Clausthal-Zellerfeld: Papierflieger-Verl. 2011. 80 S., Abb., Notenbeisp. 41. Schumacher, Malte: Das Haus der Braunschweigischen Stiftungen stärkt das bür- gerschaftliche Engagement im Braunschweiger Land. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 59-62, Abb. 42. Schwarzenberger, Tim: Der Harz – ein Wintermärchen. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 3-6, Abb. 43. Spengler, Adolf: Histörchen. Kuriositäten und Begebenheiten zwischen Harz und Kyffhäuser. Querfurt: AXON 2011. 122 S., Abb. 44. Stamer, Sabine, Tom Buhrow: Letzter Halt vor der Zonengrenze. Nur nicht im falschen Chor singen! In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 67-74, Abb. 45. Steinberg, Ralf: Natürlich Harz! [Text: Daniel Juhr]. Wipperfürth: Juhr 2011. 176 S., Abb., Kt. 46. Sternal, Bernd, Lisa Berg, Wolfgang Braun: Burgen und Schlösser der Harzre- gion, Band 1. Gernrode: Sternal Media 2011. 2., überarb. Aufl. 180 S., Abb. 47. Sternal, Bernd, Lisa Berg: Der Harz – ein Stück Geschichte Mitteleuropas. Band 1. Von seiner Entstehung bis zur Zeit der Völkerwanderungen. Norderstedt : Books on Demand 2011. Online-Ressource. 48. Thon, Ekkehard: Geschichtlich entlang der Altenau. In: Der Tetzelstein. Jg. 5. Nr. 9. 2011. S. 5-6, Abb.

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49. Tribian, Henning: Restaurant „Zur Linde“ in Hankensbüttel – 1000 Jahre kulinari- sche Genüsse. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 135-139, Abb. 50. Wabbels, Hubert: Die Organisation der Vertriebenen im Kreis Osterode 1948-1952. Teil 1. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 26-37. 51. Wadewitz, Martin, Klaus George :Nationaler GeoPark Harz – Braunschweiger Land – Ostfalen, Abteil Thüringen. In: Das Netzwerk Thüringer Geoparks. Jena: TLUG. 2011. S. 11-27. 52. Wentzel, Harald: Geschichts- und Heimatverein Meine und Umgebung e. V. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 40-43, Abb.

Quellenkunde und Historische Hilfswissenschaften 53. Arnoldt, Hans-Martin: Wolfenbüttel als Aufbewahrungsort für den Forstatlas des Kommunionharzes von 1680 – Ursprung der nachhaltigen Forstwirtschaft im Fürs- tentum Braunschweig-Wolfenbüttel. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 107-114, Abb. 54. Bei der Wieden, Brage: Archive in der Geschichte des Raumes zwischen Harz und Heide. In: Archiv-Nachrichten Niedersachsen. 15. 2011. S. 59-71. 55. Bei der Wieden, Brage: „Das größte und älteste historische Zeitungsarchiv Deutschlands“. Über die Zeitungsausschnittsammlungen des Staatsarchivs Wolfen- büttel. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 51-54, Abb. 56. Berndt, Carsten: Johann Georg Leuckfeld, Roswitha von Gandersheim und die Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu. In: Beitr. z. Gesch. aus Stadt u. Kreis Nordhausen. Bd. 36. 2011. S. 41-58, Abb. 57. Biegling, Bodo: Das Gittelder Wappen. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 210-212. 58. Birkner, Gerhard Kay: Eine Plön-Wolfenbütteler Geheimschrift. In: Zs. d. Ges. f. Schleswig-Holsteinische Gesch. Bd. 136. 2011. S. 89-98, 4 Abb. 59. Ewig, Alexander: Verspottet und gerädert. Zwei Schandbilder auf Asche von Cam- pe aus dem 16. Jahrhundert. Schwerin: Verf. 2011. 36 S., Abb. 60. Krueger, Thomas: Das Digitale Objektportal Fürstenberger Porzellan im weltwei- ten Datennetz – Inventarisieren und Publizieren von historischen Sachkulturgütern im Internetzeitalter. In: Archiv-Nachrichten Niedersachsen. 15. 2011. S. 107-112, 1 Abb. 61. Lisson, Detlev: Schwungvolle Schreibschrift schnörkellos digitalisiert. Irmtraud Müller-Junghaus überträgt Manuskript aus dem 19. Jahrhundert. In: Uhlenklippen- Spiegel. Nr. 98. 2011. S. 36-41, Abb. 62. Malchow, Thomas: Aspekte des Münzwesens im Solling. In: Sollinger Heimatbll. 2011,3. S. 10-15, Abb. 63. Ohainski, Uwe: Urkundenbuch des Augustinerchorfrauenstiftes . Hanno- ver: Hahn 2011. 435 S. (Veröff. d. Hist. Komm. f. Nds. u. Bremen 258); (Quellen u. Forschungen z. Braunschw. Landesgesch. 47).

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64. Pingel, Norman-Mathias: Ricarda Huchs unbekannter Verwandter: Erinnerung und Wirklichkeit. Aus den Personalakten Braunschweigischer Steuer- und Zollbe- amter. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 106-109, Abb. 65. Rödenbeck, Martin: Patenwahl im 17. Jahrhundert bei männlichen Erstgeborenen, Beispiel Braunschweig. Statistische Analyse genealogischer Daten von Mack. In: Genealogie. Bd. 30. 2011. S. 416-429. 66. Schwarz, Ulrich: Steuererhebung im Auftrag des Landesherrn. Zu zwei Bedever- zeichnissen für das braunschweigische Land aus dem frühen 15. Jahrhundert. In: Braunschw. Jb. f. Landesgesch. Bd. 92. 2011. S. 29-51. 67. Steinführer, Henning: Das Urkundenbuch der Stadt Braunschweig Online – Ein neues Angebot für die Stadt- und Landesgeschichtsforschung. In: Braunschw. Jb. f. Landesgesch. Bd. 92. 2011. S. 247-252. 68. Weber, Jörg: Zwei Pläne der Stadt Helmstedt aus dem Jahre 1745 in der Stadtbiblio- thek Braunschweig. In: Altstadt-Kurier. Jg. 16, 2. 2011. S. 20-23, 2 Abb.

Allgemeine Geschichte in zeitlicher Reihenfolge 69. Geschwinde, Michael: Die ungewöhnliche Lehrgrabung der TU Braunschweig auf der Königspfalz Werla. In: Archäologie in Niedersachsen. Bd. 14. 2011. S. 87-89, Abb. 70. Kaminski, Jelena; Sigrid Söllig: Pfalz Werla. Rekonstruktion und Massenermittlung zu Kapelle und „Estrichbau“. Mit einem Beitr. von Markus C. Blaich. In: Nach- richten aus Nds. Urgesch. Bd. 80. 2011. S. 161-178, Abb. Kt. 71. Lönne, Petra: Das römisch-germanische Schlachtfeld am Harzhorn, Landkreis Northeim. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 230-232, Abb. 72. Winzer, Hans-Joachim: Gittelde, die Stauffenburg und die Grafen von Katlenburg. In: Harz-Zs. Jg. 63. 2011. S. 51-90, 9 Abb. 73. Hodemacher, Jürgen: Das edle Geschlecht derer von der Asseburg. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 143-152, Abb. 74. Kaiser, Jürgen: Der Kampf um die Krone. Königsdynastien im Mittelalter. Stutt- gart: Theiss 2011. 183 S., Abb. [Braunschweig-Bezug] 75. Dieterichs, Christian: Nachricht von der Familie „von Grasleghe“. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 145-150, Abb. 76. Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1510-1558). Herrschaft – Konfes- sion – Kultur. Beiträge des wissenschaftlichen Symposiums der Klosterkammer Hannover vom 24. – 26. Februar 2010 im Historischen Museum Hannover. Hanno- ver: Hahn 2011. 345 S., Abb. (Quellen u. Darstellungen z. Gesch. Nds. 132). 77. Kwan, Elisabeth E.: Zwei dänische Königstöchter: Elisabeth, Herzogin von Braun- schweig-Wolfenbüttel und Anna, Königin von England. In: Zwischen Harz u. Bruch. Heimatzs. f. Halberstadt u. Umgebung. H. 62. 2011. S. 39-45. 78. Omodeo, Pietro Daniel: Astronomia, filosofia e teologia nel tardo Rinascimento te- desco : Heinrich Julius di Braunschweig e il soggiorno di Giordano Bruno in Germa-

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nia. In: Giornale critico della filosofia italiana/ fondata da Giovanni Gentile. Ser. 7. Vol. 7. 2011. S. 307-326, Abb. 79. Nebig, Ernst-August: Elisabeth von Calenberg wurde vor 500 Jahren geboren. In: Althannoverscher Volkskalender. Jg. 139. 2011. S. 35-37, Abb. 80. Der Tolle Halberstädter. Christian von Braunschweig – Kriegsunternehmer, sein Heer und seine Feldzüge. [Autor: Stefan Smid, Ill.: Sascha Lunyakov]. Berlin: Zeughaus-Verl. 2011. 63 S., Abb., Kt., Tab. ( & Waffen 16). 81. Kuhlbrodt, Peter: Die Reichsstadt Nordhausen im Dreißigjährigen Krieg 1618- 1648. Teil 1. (1618-1639). Teil 2. 1640-1648). Nordhausen: Atelier Veit 2011. 598 , 612 S., Abb. (Schriftenreihe d. Friedrich-Lesser-Stiftung 23, 24). 82. Blume, Herbert: Herzog Heinrich Julius von Braunschweig und Lüneburg – Renais- sancefürst, Theatergründer, Dramatiker. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 39-52, Abb. 83. Biegel, Gerd: Verkaufte Töchter – vergessene Sohne. In: Braunschw. Heimat. Jg. 97, 1. 2011. S. 16-19, 3 Abb. 84. Walther, Stefanie: Die (Un-)Ordnung der Ehe. Normen und Praxis ernestinischer Fürstenehen in der Frühen Neuzeit. München: Oldenbourg 2011. 421 S. (Ancien Ré- gime Aufklärung und Revolution 39). [Braunschweig-Bezug] 85. Wiesenthal, Vera: Was ist Aufklärung? Das Herzogtum Braunschweig-Wolfen- büttel im 18. Jahrhundert. [Hrsg. Heike Pöppelmann]. [Braunschweig] : Braunschw. Landesmuseum [2011]. 78 S., Abb. (Kleine Reihe d. Braunschw. Landesmuseums 1). 86. Rohr, Alheidis von: Herzberg und Urach. Zwei Begräbnisstätten 1703 für einen welfischen Prinzen. In: Harz-Zs. Jg. 63. 2011. S. 159-166, 4 Abb. 87. Hillegeist, Hans-Heinrich: Die Einnahme und Zerstörung der Burg Scharzfels durch die Franzosen vor 250 Jahren. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 232-237, Abb. 88. Feuerstein-Prasser, Karin: „Ich bleibe zurück wie eine Gefangene“. Elisabeth Christine und Friedrich der Große. Regensburg: Pustet 2011. 119 S., Abb. 89. Mediger, Walther: Herzog Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg und die alliierte Armee im Siebenjährigen Krieg (1757-1762). Für die Publikation aufbereitet u. voll- endet von Thomas Klingebiel. Hannover: Hahn 2011. 1112 S. (Quellen u. Darstellun- gen z. Gesch. Nds. 129), (Quellen u. Forschungen z. Braunschw. Landesgesch. 46). 90. Beck, Barbara: Anton Ulrich von Braunschweig-Bevern. Zu lebenslänglicher Haft verdammt. In: Beck, Barbara: Intrigenopfer. Vom Aufstieg und Fall großer Männer. Wiesbaden: Marixverl. 2011. S. 86-98. 91. Huck, Stephan: Soldaten gegen Nordamerika. Lebenswelten Braunschweiger Sub- sidientruppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. München: Oldenbourg 2011. 317 S. (Beitr. z. Militärgesch. 69). 92. Prinzessin Victoria Luise Adelheid Mathilde Charlotte von Preußen, Herzogin zu Braunschweig-Lüneburg, Prinzessin von Hannover, Prinzessin von Großbritannien und Irland. [von der Jugendzeit bis 1918]. Zsgest. von Thomas Ostwald. Braun- schweig: Ed. Corsar 2011. 36 S., Abb.

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93. Bein, Reinhard: Unruhige Jahre für den Löwen. Reiseführer Land Braunschweig 1912-1932. [Das Braunschweiger Land vom letzten Jahr der Regentschaft des Her- zogs Johann Albrecht von Mecklenburg 1912 zum Regierungsantritt des Herzogs Ernst August von Braunschweig-Lüneburg 1913. Von der Zeit des 1. Weltkriegs zur Räterepublik 1918, zum Freistaat Braunschweig 1919 und zum Ende der Weimarer Republik]. Mit zwei Beitr. von Regina Blume. Braunschweig: Döring 2011. 338 S., Abb., Kt. 94. Rieseberg-Konferenz 2011. Der deutsche Weg zur Demokratie von 1918 bis 1923. Braunschweig: Deutscher Gewerkschaftsbund Bezirk Niedersachsen-Bremen-Sach- sen-Anhalt 2011. 47 S., Abb. (Regionale Gewerkschaftsblätter 46). 95. Weihmann, Susanne: Begegnung mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen. Jugendjah- re in Helmstedt und im KZ Beendorf. In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 137-144, Abb. 96. Heuser, Christine: Mein Aufenthalt im Kloster St. Marienberg 1943-1945. In: Alt- stadt-Kurier. Jg. 16, 2. 2011. S. 7-9, Abb. 97. Möller, Jürgen: Der Kampf um den Harz, April 1945. Der Vorstoß des VII. US Corps von der Weser durch das nördliche Eichsfeld und die Goldene Aue bis in den Raum Sangerhausen, die Besetzung von Nordhausen, die Befreiung des KZ Mittel- bau-Dora und die Kämpfe zur Zerschlagung der deutschen Truppen im Harz. 1. Aufl. Bad Langensalza: Rockstuhl 2011. 351 S., Abb., Kt. 98. Schaffrath, Rainer: Steinhorst 1949 und 1950. Ein Ort für Schulfreizeiten und Fußballtraining. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 82-84, Abb. 99. Grenzziehungen – Grenzerfahrungen – Grenzüberschreitungen. Die innerdeutsche Grenze 1945-1990. Hrsg. v. Thomas Schwark, Detlef Schmiechen-Ackermann und Carl-Hans Hauptmeyer. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2011. 264 S., Abb. [Braunschweig-Bezug] 100. Plumeyer, Johannes: Ein Erlebnisbericht zum Fall der innerdeutschen Grenze zwi- schen Wittingen und Diesdorf. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 127-131, Abb. 101. Messerschmidt, Claus: Nach 66 Jahren. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 71-73, Abb. 102. Gelbke, Claus-Dieter: Schulspeisung und Care-Pakete erfreuten die Schulkinder nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 216-221, 1 Abb. 103. Stütze, Wilfried: Zwischen Pfingstei und Hausschlachtung. Geschichten aus den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, einer längst vergangenen Zeit. Wendeburg: Krebs 2011. 80 S., Abb. 104. Owczarski, Rolf: Blick in die Vergangenheit – 1962. In: Landkr. Helmstedt. Kreis- buch 2012. [2011]. S. 201-211, Abb. 105. Harten, Eva: Meine ersten Ausflüge in den Ostharz. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 191-194, Abb.

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Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte 106. Bernhardt, Markus: Was ist des Richters Vaterland? Justizpolitik und politische Justiz in Braunschweig zwischen 1879 und 1919/20. Berlin: Berliner Wissenschafts- Verlag 2011. 420 S. 107. Blazek, Matthias: Über die Kriminaljustiz in Braunschweig in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 87-91, Abb. 108. Hüttenrauch, Klaus: Gerichts- und Justizvollzug in der Burg Königslutter. Stätte der Gerichtsbarkeit seit vielen Jahrhunderten. In: Der Tetzelstein. Jg. 5. Nr. 9. 2011. S. 17-19, Abb. 109. Korth, Eckhard: Ein Rückblick in die Gifhorner Rechtsgeschichte. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 157-159, Abb. 110. Mewes, Jürgen: Es sollte ein schöner Abend werden. In: Der Tetzelstein. Jg. 5. Nr. 8. 2011. S. 3-5, Abb. [Betr.: Mörder Friedrich Opitz] 111. Reupke, Daniel: Die Braunschweigische Notariatsordnung von 1850 im Kontext. Versuch einer kleinen Notarsgeschichte des Braunschweiger Landes. Teil I: Von den Anfängen bis 1848. In: Braunschw. Jb. f. Landesgesch. Bd. 92. 2011. S. 165-187. 112. Rockstedt, Gerhard: Der neue Landkreis Harz in Zahlen und Fakten. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 157-158, Abb. 113. Sarnighausen, Hans-Cord: Kurhannoversche Amtsjuristen von 1678 bis 1851 in Herzberg und ihre Familien. 2. Teil. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 143, 14 Abb. 114. Scholz, Michael: Der Bischof als Landesherr. Zur Entwicklung des Hochstifts Hal- berstadt zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Territorium. In: Harz-Zs. Jg. 63. 2011. S. 25-50. 115. Uhrig, Hermann: Die Vereinbarkeit von Art. VII des Friedens von Lunéville mit der Reichsverfassung. Tübingen: Verf. 2011. Getr. Zählung (Univ. Diss). [Braunschweig-Bezug]

Kirchengeschichte 116. Gaevert, Horst: Bettelmönche in Hasselfelde. In: Harz-Zs. Jg. 63. 2011. S. 91-124, 6 Abb. 117. Gozdek, Frank-Georg: Spuren des Johanniterordens in Braunschweig. Als Ms. gedr. Braunschweig: Gozdek 2011. 32 S. 118. Halvorson, Michael J.: Baptismal ritual and the early reformation in Braunschweig. In: Archiv f. Reformationsgesch. Internationale Zs. z. Erforschung d. Reformation u. ihrer Weltwirkungen. Bd. 102. 2011. S. 59-86. 119. Heise, Sibylle: Über einige im 18. Jahrhundert getaufte Juden und Heiden. In: Hei- matbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 155-166, Abb. 120. Heuer-Brockmann, Günther: Klostergut Wöltingerode. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 207-209, Abb.

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121. Hillegeist, Hans-Heinrich: 200 Jahre Martini-Kirche in St. Andreasberg und ihr Architekt. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 209-212, Abb. 122. Kaiser, Johannes: Die Reformation im welfischen Territorium. Verlauf der Refor- mation in den Fürstentümern Lüneburg, Wolfenbüttel, Calenberg und Grubenhagen. München: GRIN Verlag GmbH 2011. Online-Ressource. 123. Lohse, Tillmann: Die Dauer der Stiftung. Eine diachronisch vergleichende Ge- schichte des weltlichen Kollegiatstifts St. Simon und Judas in Goslar. Berlin: Akade- mie-Verl. 2011. 557 S., Abb. (Stiftungsgeschichten 7). 124. Meissner, Wolfgang: Evangelisches Männerwerk – Männerarbeit in der Kirche. Geschichte der Männerarbeit in der Braunschweigischen Landeskirche. Braun- schweig: Landeskirchenamt 2011. 159 S., Abb. (Quellen u. Beitr. z. Gesch. d. Ev.- luth. Landeskirche in Braunschweig 20). 125. Meissner, Wolfgang: Die Geschichte der Evangelischen Männerarbeit in der Braun- schweigischen Landeskirche im Überblick. In: Jb. d. Ges. f. nds. Kirchengesch. Bd. 109. 2011. S. 159-181. 126. Muttersbach, Peter: Baptisten im Landkreis Helmstedt von 1851 bis 1872. Akte der Kreisdirection Helmstedt über baptistische Aktivitäten im Herzogtum Braun- schweig, besonders im Landkreis Helmstedt, Niedersächsischen Landesarchiv Staatsarchiv Wolfenbüttel 128 Neu 24 Nr. 22. Schöningen: Verf. 2011. 284 S. 127. Otte, Hans: Herzogin Elisabeth und die Reformation im Calenberger Land. Das Beispiel Rössing. In: Springer Jahrbuch. 2011. S. 59-71, Abb. 128. Pfingsten, Otto: Die Anfänge der Bibelgesellschaft in Braunschweig. In: Braunschw. Heimat. Jg. 97, 1. 2011. S. 25-29, Abb. 129. Roppel, Hans-Peter: 1000. Todestag von Willigis, Erzbischof von Mainz – einem Schöninger. In: Der Tetzelstein. Jg. 5. Nr. 9. 2011. S. 7-9, Abb. 130. Wagener-Fimpel, Silke: Kirche und ländliche Feste im Braunschweiger Land um 1768. In: Die Ausstrahlung d. Reformation. Beitr. z. Kirche u. Alltag in Nordwest- deutschland. Hrsg.: Helge Bei der Wieden. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 2011. S. 215-269. (Studien z. Kirchengesch. Nds. 43).

Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte Bergbau, Hütten, Wasserwirtschaft 131. 750 Jahre Sozialgeschichte im Bergbau. Vorträge aus dem Kolloquium am 20. Janu- ar 2011 in Goslar, hrsg. von Wolfgang Lampe … und Weltkulturerbe Rammelsberg. 1. Aufl. Clausthal-Zellerfeld: Papierflieger-Verl. 2011. 206 S., Abb. 132. Bischoff, Willi: Herzog Heinrich der Jüngere und der historische Harzer Bergbau. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 128-130. 133. Böttcher, Horst: Etwas über dem Meding-Schacht der Grube Bergwerkswohlfahrt und Silbernaal. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 28-31, Abb. 134. Böttcher, Michael: Erinnerung an die Grube Hilfe Gottes des Erzbergwerks Grund. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 50-54, Abb.

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135. Dressel, Hans-Jürgen: Die Wasser hoch halten! Energiekrise in Permanenz im Oberharzer Bergbau. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 93-96, Abb. 136. Emrich, Florian: Die Schachtanlage II. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 81-86, Abb. 137. Gabriel, Heinz: Glashütte Gifhorn – Bodenfunde und neue Erkenntnisse. In: Gif- horner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 65-70, Abb. 138. Gundermann, Thomas: „Oberharzer im Freudentaumel“. Jetzt geht die Arbeit erst richtig los. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 7-9, Abb. 139. Hildebrandt, Werner: „Glück auf, der Löhnungstag bricht an!“ Sozialgeschichtli- che Einblicksversuche in Unterhaltskosten und in steuerliche Eingliederungen von Bergmannsfamilien im Erzbergbau des Oberharzes zwischen 1786 und 1861. In: All- gem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 77-80. 140. Immenroth, Horst: Wolfshagen im Harz. Bergbau und Hüttenwesen. Eine Doku- mentation. Goslar: Goslarsche Zeitung 2011. 151 S., Abb., Kt. (Wolfshagen in der Gesch. d. Zeit, Teil D). 141. Lampe, Wolfgang: Bauarbeiten am Hirschler Teich. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 41-42, 2 Abb. 142. Lampe, Wolfgang: Stilllegung des Erzbergwerks Grund vor 20 Jahren. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 48-49, Abb. 143. Liessmann, Wilfried: Welterbestätte Wiesenbeker Teich und die Kupfergrube Aufrichtigkeit bei Bad Lauterberg im Südharz. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 175- 181, Abb. 144. Liessmann, Wilfried: Der Wiesenbeker Teich hat wieder ein Striegelhaus. In: All- gem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 131-132, Abb. 145. Markworth, Lutz: Verschlossen und verriegelt. Bergbaurelikte der Königlich- Preußischen Berginspektion Clausthal. 2., überarb. Aufl. Clausthal-Zellerfeld: Pa- pierflieger-Verl. 2011. 149 S., Abb., Kt. 146. Peters, Waldemar: Wassermühlen entlang der Kleinen Aller. In: Gifhorner Kreis- kal. 2012. [2011]. S. 90-94, Abb. 147. Radday, Helmut: Das besondere Exponat: der Erzkahn. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 47-49, Abb. 148. Rockstedt, Gerhard: Selketal und Steinbruch Rieder. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 91-93, Abb. 149. Schulz, Frank-Michael: Frühere Wassermühlen in Eitzum im Landkreis Wolfen- büttel. Eitzum: Verf. 2011. 40 S., Abb., Anh. 150. Teicke, Justus: Das Kulturdenkmal Oberharzer Wasserregal. Das bedeutendste vor- industrielle Energiegewinnungs- und –Versorgungssystem der Welt. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 33-50, Abb. 151. Teicke, Justus: Das Kulturdenkmal Oberharzer Wasserregal. Die jüngste deutsche Welterbestätte. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 27-31, Abb. 152. Unger, Christoph: Neuwerk, ein alter Harzer Hüttenort. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 147-152, Abb.

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153. Weiss, Peter: Ein viel bewundertes Bauwerk. Der vor 160 Jahren fertiggestellte Ernst August Stollen bewahrte die Gruben vor dem „Absaufen“. In: Goslarer Bergkal. Jg. 394. 2012. [2011]. S. 121-123, Abb.

Land- und Forstwirtschaft, Industrie, Handel, Handwerk 154. Blumenberg, Karl Jens, Karl Willamowius: Das Böttcher-Handwerk im West- harz. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 185-191, Abb. 155. Bührmann, Wolf Dieter: Die Herzberger Papiermühle 1565-1854. Anfänge der Papier- macherei in Deutschland. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 148-157, Abb. 156. Effenberger, Georg: Stadtforst mit Überschuss. Trendwende 2006. In: Goslarer Bergkal. Jg. 394. 2012. [2011]. S. 91-96, Abb. 157. Falland, Christian: Die Firmen Leybold, Sprenger und Kröncke im Zweiten Welt- krieg und danach. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 109-113, Abb. 158. Falland, Christian: Das „Physikalische Jahr“ in St. Andreasberg. Meine Begeg- nung mit dem Fabrikanten und Erfinder Albin Sprenger (1883-1962). In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 114-122, Abb. 159. Fiedler, Peter: Herzberger Büchsenmacher zog es auch nach Russland. In: Hei- matbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 144-159, 14 Abb. 160. Fischer, Eckhard: Der Omnibusbau der Firma Büssing in Braunschweig. T. 1. In: Braunschw. Heimat. Jg. 97, 1. 2011. S. 10-12; T. 2. Jg. 97, 2. 2011. S. 14-16, 11 Abb. 161. Fricke, Rudolf G. A.: Günther & Tegetmeyer 1901-1958. Instrumente für die Wis- senschaft aus Braunschweig. Wolfenbüttel: AF-Verl. 2011. 304 S., Abb. 162. Grobis, Heike: Brauhausstraße 7: Marstall – „Braunes Haus“ – Fotoatelier. In: Hei- matbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 47-67, 6 Abb. 163. Grobis, Heike: Das ehemalige „Elektrofachgeschäft Bernhard O. Storz“. Bernhard Otto und Adelheid Storz privat. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 99-101. 164. Grüneberg, Helmut: Fr. Jorns Kupferwerk. Das Osteroder Traditionsunternehmen baute und reparierte auch Elektromotoren. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 38-46, Abb. 165. Heine, Heinrich: Die Forstwirtschaft im Wandel der Zeit. Arbeitsverfahren und Nebennutzungen in den Forsten Boitzenhagens. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 140-144, Abb. 166. Kison, Hans-Ulrich: Fragen und Antworten zum Fichtenborkenkäfer im National- park Harz. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 22-26, Abb. 167. Krämer, Willi: Die Geschichte der alten Mühle in Sieber. In: Allgem. Harz-Berg- Kal. 2012. [2011]. S. 158-164, Abb. 168. Kraus, Wilfried: Königslutters ehemalige Konservenindustrie. In: Der Tetzelstein. Jg. 5. Nr. 8. 2011. S. 6-8, Abb. 169. Kreckmann, Ingrid: Einiges über die Alfred Galke GmbH in Gittelde. Verarbei- tung und Vertrieb pflanzlicher Rohstoffe. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 145-147, Abb.

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170. Kreckmann, Ingrid: Über die Sammlung von Pflanzenteilen und Altmaterial wäh- rend des 20. Jahrhunderts in Osterode und Umgebung. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 102-114, 7 Abb. 171. Kreckmann, Ingrid: Über Seidenraupen und ihre Zucht mit Hinweisen auf unsere Region. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 116-118, Abb. 172. Kutscher, Rainer: Am ersten Arbeitstag im neuen Jahr feierten Harzer Holzhauer ihren Waldmannstag. In: Goslarer Bergkal. Jg. 394. 2012. [2011]. S. 105-106, Abb. 173. Kutscher, Rainer: Holzmachen früher und heute. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 9-12, 5 Abb. 174. Landwirtschaft im Braunschweiger Land… Modern und vielseitig. Braunschweig: Landvolkverband Braunschweig 2011. 120 S., Abb. 175. Lehna, Peter: Hofbrauhaus Wolters – Braunschweig … unsere Stadt ist unsere Hei- mat. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 70-71, Abb. 176. Medefind, Heinrich: Dafür musste er Lehrgeld zahlen! In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 93-96. 177. Leckscheidt, Hans W.: Die Rollei – Unternehmensgeschichte – ein Blick zurück. Teil 1. In: Photographica Cabinett. Jg. 18. 2011. Nr. 53. S. 16-24, 14 Abb. 178. Mittmann, Hans: Hoch spezialisiert und der Region verbunden: Die Fleischerei Koithahn in Hattorf/Harz. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 180-184, Abb. 179. Owczarski, Rolf: Lehrzeit 1949-1951. In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 39-56, Abb. [Stahlwerke Salzgitter] 180. Prüsse, Eva: Der Fischladen. In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 87- 92, Abb. 181. Schneider, Bernd: 50 Jahre Baugeschäft Karl Heese, Badenhausen (1961-2011). In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 192-200, Abb. 182. Schubert, Klaus: Rundfunk- und Fernsehgeräte aus Osterode, Tonmöbel aus Wol- fenbüttel. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 181-182, Abb. 183. Uckermann, Rainer: Kinder- und Puppenwagen aus Braunschweig. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 63-66, Abb. 184. Vernichtung industrieller Kerne: Beispiel Voigtländer, Braunschweig. Braunschweig: Deutscher Gewerkschaftsbund Bezirk Niedersachsen-Bremen-Sachsen-Anhalt 2011. 80 S., Abb. (Regionale Gewerkschaftsblätter) (Industriegeschichte 3). 185. Wilhelm, Jürgen: Das Jagdhorn im Raum Gifhorn. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 103-106, Abb. 186. Wilhelm, Jürgen: Zum internationalen Jahr der Wälder 2011. Die Gifhorner Wälder und die Nachhaltigkeit. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 54-58, Abb. 187. Zwei Standorte für Stahl. Ilsenburg und Peine. Braunschweig: Deutscher Gewerk- schaftsbund Bezirk Niedersachsen-Bremen-Sachsen-Anhalt 2011. 87 S., Abb. (Re- gionale Gewerkschaftsblätter) (Industriegeschichte 1).

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Post, Verkehr, Tourismus 188. Bahn, Bernd W.: Altewegeforschung, besonders für den Harz. Zum Unterschied zwischen prähistorischer und mittelalterlicher Wegforschung. In: Harz-Zs. Jg. 63. 2011. S. 199-211. 189. Brandes, Hennig: Der Zweckverband Großraum Braunschweig. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 72-73, Abb. 190. Högemann, Josef: 20 Jahre Harzer Schmalspurbahnen. [Das Dampflokparadies im Harz]. [Gestaltung/Bearb.: Norman Kampmann …]. Freiburg, Br.: EK-Verl. 2011. 96 S., Abb., Kt. (Eisenbahn-Bildarchiv 52). (Eisenbahn-Kurier) 191. Lippert, Norman: Der Einfluss staatlicher Regulierung auf das bundesdeutsche Straßentransportgewerbe von 1949 bis 1975. Berlin: Verf. 97 S. [Masch.schr.vervielf. Braunschweig-Bezug] 192. Reinboth, Michael: Mit dem Linienbus durch den Harz. 100 Jahre Omnibusver- kehr rund um den Brocken. Aufl. Clausthal-Zellerfeld: Papierflieger-Verl. 2011. 183 S., Abb., Kt. 193. Schlincke, Klaus: Osterode am Harz und die Philatelie. Ein kleiner Blick in eine Heimatsammlung. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 84-90, Abb. 194. Schurade, Bernd: Beiträge zur Eisenbahngeschichte im Landkreis Gifhorn. Über- arb. Ausgabe der Bausteine 6-8. Gifhorn: Landkreis Gifhorn, Kreisarchiv 2011. 137 S., Abb. (Materialien zur Archivarbeit 10). 195. Der Weg zu 175 Jahre Staatseisenbahn Braunschweig. Volker Naujock, Koordinie- rung und Redaktion. Braunschweig: Deutscher Gewerkschaftsbund Bezirk Nieder- sachsen-Bremen-Sachsen-Anhalt 2011. 76 S., Abb. (Regionale Gewerkschaftsblät- ter) (Industriegeschichte 2). 196. Zauner, Ernst-Johann: Braunschweig-Wolfsburg – seit 75 Jahren Flughafen. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 25-30, Abb. 197. Zauner, Ernst-Johann: Fliegen und Forschen. 75 Jahre Flughafen Braunschweig- Wolfsburg. Braunschweig: Meyer 2011. 128 S., Abb., Kt. Geschichte des geistigen und kulturellen Lebens Universitäten, Schulen 198. Anders, Helmut: Städtische Oberschule für Jungen Wolfenbüttel 1942-1951. Berlin: Verfasser 2011. ungez. Bl. [Masch.schr.vervielf.] 199. Appuhn, Hans-Günter: Ein Neubau für die Schüler der am 1. Oktober gegründeten Realschule – Einweihung 17. April 1912. In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 121-130, Abb. 200. Bruning, Jens: Academia Norica und Academia Julia. Die Universitäten Altdorf und Helmstedt und ihre Philosophischen Fakultäten im Vergleich. In: Akademie und Universität Altdorf. Studien zur Hochschulgeschichte Nürnbergs. Köln [u.a.]: Böhlau 2011. S. 97-120.

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201. Cherubim, Dieter: Toleranz und Bildung im 18. Jahrhundert. Offene und verdeckte Formen interkonfessioneller Auseinandersetzungen, am Beispiel der Gründung des „Collegium Carolinum“ in Braunschweig (1745). In: Aufgeklärte Zeiten? Religiöse Toleranz und Literatur. Berlin: E. Schmidt 2011. S. 87-99. 202. Donner, Sandra: Die Wege der Frauen. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 99-105, Abb. 203. Gymnasium Raabeschule. (Braunschweig), Festschrift. [Hrsg.: Gymnasium Raabe- schule Braunschweig] 150 Jahre Gymnasium Raabeschule. Braunschweig [2011]. 183 S., Abb. 204. Krause-Hotopp, Diethelm: 40 Jahre Gesamtschulen im Bezirk Braunschweig. Braunschweig: Gewerkschaft Erziehung u. Wissenschaft 2011. 49 S. 205. Kutscher, Rainer: Beengte Klassenräume und geringe Lehrerstellen. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 160-169, Abb. 206. Meyerhof, Ann-Katrin: Forschergeist und Neugierde wecken. KIWI FORSCHER- TAGE für Neugierige im Haus der Wissenschaft. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 67-69, Abb. 207. Meyer-Immensen, Adolf: Wie es vor 150 Jahren zur Gründung einer Schule in Erpensen kam. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 151-156, Abb. 208. Omodeo, Pietro Daniel: Sixteenth century professors of mathematics at the German University of Helmstedt. A case study on renaissance scholarly work and networks. Berlin: Max-Planck-Inst. für Wissenschaftsgeschichte 2011. 20 S. (Preprint. Max- Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte 417). 209. Die Reformuniversität Helmstedt 1576-1810. Vorträge zur Ausstellung „Das Athen der Welfen“. Hrsg. v. Helwig Schmidt-Glintzer. Wiesbaden: Harrassowitz 2011. 188 S., Abb. (Wolfenbütteler Hefte 28). 210. Reinboth, Fritz: Erinnerungen an die Klosterschule Walkenried 1557-1669. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 195-197, Abb. 211. Sandhagen, Petra: Kleine Studierende ganz groß – Die Kinder-Uni Braunschweig. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 44-47, Abb. 212. Die Schule Kralenriede. Das Buch zum 50-jährigen Bestehen. Hrsg. v. Helmut Mey- er und Manfred Erdemenger. Braunschweig 2011. 59 S., Abb. 213. Volkmann, Rolf: Helmstedter Kindesimmatrikulation als Ausweg aus dem Penna- lismus. In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 193-200. 214. Wemheuer, Bärbel: 200 Jahre Universitätsbibliothek Clausthal. In: Allgem. Harz- Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 17-21, Abb.

Architektur, Kunstgeschichte und Denkmalpflege 215. 20 Jahre Altstadtsanierung 1991-2011-Blankenburg Harz. [Hrsg.: Stadt Blankenburg (Harz). Text: Ullrich Baxmann. Fotos: Frank Drechsler ]. Blankenburg 2011. 24 S., Abb., Kt. 216. Armbrecht, Jürgen: Gifhorner Brückenfibel, zusammengestellt vom Gifhorner Brückenclub 1905 e. V. Gifhorn 2011. 159 S., Abb. (Materialien z. Archivarbeit 11).

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217. Braunschweigische Museumslandschaft. Museen, Sammlungen und Heimatstuben in der Braunschweigischen Landschaft. [Projektkoordination, Red.: Florian Halb- auer]. Braunschweig: Appelhans 2011. 88 S., Abb., Kt. 218. Gartenkunst und Gartendenkmalpflege in Sachsen-Anhalt. Halle (Saale): Landes- amt f. Denkmalpflege u. Archäologie Sachsen-Anhalt – Landesmuseum f. Vorgesch. 2011. 279 S., Abb. [Braunschweig-Bezug] 219. Giermann, Joachim: Unamerikanische Umtriebe. In: Altstadt-Kurier. Jg. 16, 2. 2011. S. 15-18, 6 Abb. 220. Gläser, Michael: Romanische Kirchen im Braunschweiger Land. Erfurt: Sutton Verlag 2011. 142 S., Abb. 221. Gockel, Bernhard: Die baukonstruktiven und statischen Anforderungen. In: Gif- horner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 19-20, 3 Abb. 222. Harms, Werner: Kunst am Bau… In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 81-83, Abb. 223. Haupt, Dieter: Die bauhistorische Bestandserfassung und Untersuchung. In: Gif- horner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 11-15, 15 Abb. 224. Henze, Ingrid: „Retter der Renaissancekanzel“. Zur Rückführung der Renaissance- kanzel an ihren historischen Platz in St. Marienberg. In: Altstadt-Kurier. Jg. 16, 2. 2011. S. 4-7, 3 Abb. 225. Hillegeist, Hans-Heinrich: Gold gab ich für Eisen. Zur Ausstellung „Der eiserne Harz“. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 54-55, Abb. 226. Klappauf, Lothar: Erste archäologische Grabungen im Alten Lager des Rammels- bergs bei Goslar. In: Berichte z. Denkmalpflege in Nds. Jg. 31. 2011. S. 72-75, 9 Abb. 227. Kleinberg, Uwe: Architektonisches Konzept und Visualisierungen im Kavalier- haus. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 21-26, 12 Abb. 228. Krabath, Stefan: Luxus in Scherben. Fürstenberger und Meißener Porzellan aus Grabungen ; [Ausstellung Fragmente einer Legende – weißes Gold aus Grabungen, Sächsisches Landesamt für Archäologie, Landesmuseum für Vorgeschichte, Dres- den, Japanisches Palais, 19. Juni bis 12. September 2010; Braunschw. Landesmu- seum, Nds. Landesmuseen Braunschweig, 5. April bis 3. Juli 2011, Museum im Schloss; Porzellanmanufaktur Fürstenberg GmbH, 31. März 2012 bis 12. August 2012]. Dresden: Landesamt f. Archäologie 2011. 64 S., Abb. 229. Krueger, Thomas: Mops! Eine kleine Kulturgeschichte, mit einer Betrachtung von Emanuel Eckardt: Der Mops als Sonnenkönig – Kulturgeschichte eines Beutegrei- fers, Brevier zur Sonderausstellung im Museum im Schloss, Porzellanmanufaktur Fürstenberg, 2. April bis 21. August 2011. Holzminden: Mitzkat 2011. 48 S., Abb. 230. Kunstausstellung Natur – Mensch. 17. Kunstausstellung Natur – Mensch 2011. Im Nationalpark Harz in Sankt Andreasberg vom 11.09.2011 bis 08.10.2011. [Hrsg.: Bergstadt Sankt Andreasberg; Nationalparkverwaltung Harz]. St. Andreasberg; Wernigerode 2011. 148 S., Abb.

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231. Kutscher, Rainer: Denkmäler mahnen vor Krieg und Gewalt. In: Goslarer Bergkal. Jg. 394. 2012. [2011]. S. 67-69, Abb. 232. Marth, Regine: Die Ehrenmale Herzog August Wilhelms in Braunschweig. Auf- trag und Sammlung. In: Barocke Kunststückh. Festschrift für Christian Theuer- kauff. München: Hirmer. 2011. S. 134-141. 233. Der Naumburger Meister. Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen. Pe- tersberg: Michael Imhof. Bd. 1-2. 1567 S., Abb. (Schriftenreihe d. Vereinigten Dom- stifter zu Merseburg u. Naumburg u. d. Kollegiatstifts Zeitz 4). 234. Panoramen der Erinnerung. Das Herzog-Anton-Ulrich-Museum gesehen von Uwe Brodmann. Ausstellung des Herzog Anton Ulrich-Museums in der Burg Dankwardero- de, 22. September 2011 bis 8. Januar 2012. Braunschweig: Appelhans 2011. 76 S., Abb. 235. Reulecke, Cordula: Die fünf Säulen des Baudenkmals: Zu Denkmalpflege, Bau- forschung, Restaurierung, Baukonstruktion, Architektur bei der Instandsetzung des Kavalierhauses in Gifhorn. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 7-10, Abb. 236. Sammellust. Eine Einführung in das Sammeln von Porzellan aus Fürstenberg; Be- gleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Museum im Schloss der Porzellanma- nufaktur Fürstenberg, 11.12.2010 – 3.4.2011. Hrsg.: Thomas Krueger. Holzminden: Mitzkat 2011. 128 S., Abb. (Schriften z. Gesch. d. Fürstenberger Porzellans 3). 237. Schlöder, Elke: Befundermittlung und Restaurierungsmaßnahmen im Kavalier- haus. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 16-18, 14 Abb. 238. Schubert, Silke: Ausbildung zur Handstickerin in der Paramenten-Werkstatt im Kloster St. Marienberg in Helmstedt. In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 83-86, Abb. 239. Schutz, Herbert: Romanesque art and craftsmanship in Central Europe, 900 – 1300: Artistic aspects of the style. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars 2011. XXVIII, 357 S., [24] Bl., Abb. Kt. [Braunschweig-Bezug] 240. Schweitzer, Christian: Kaiserpfalz Goslar – ein neuer Fund auf dem Kaiserbleek. In: Berichte z. Denkmalpflege in Nds. Jg. 31. 2011. S. 76-80, 10 Abb. 241. Thiele, Anette: Sanieren und Authentizität wahren – die Sanierung des Kavalier- hauses und die Folgen für das Museum für bürgerliche Wohnkultur. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 28-30, Abb.

Literatur, Buchwesen 242. Arnold, Werner: Die Entstehung der Bibliothek aus dem Netzwerk. Über Aufbau der Bibliothek Herzog Augusts d. J. zu Braunschweig u. Lüneburg im 17. Jahrhun- dert. Ein Projektbericht. In: Wolfenb. Barock-Nachrichten. 38. (2011). S. 1-35. 243. Etzold, Ute Maria: Zum Buchgewerbe der Altstadt Helmstedts. In: Altstadt-Kurier. Jg. 16, 1. 2011. S. 13-18, 12 Abb. 244. Fahrenkamp, Anna Katharina: Entwicklung einer Methodik zur Verminderung von Deformierungen an den Beständen der brand- und wassergeschädigten Gewebe- bände der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar. Weimar 2011. 151S., Anhang.

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245. Hillegeist, Hans-Heinrich: Der Steiger Hillegeist und Reinecke-Altenau. In: All- gem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 105-108, Abb. 246. Kamp, Jan van de: „auff bitte und einrahten etzlicher frommen Menschen ins hoch- deutsche übersetzt“. Deutsche Übersetzungen englischer und niederländischer re- formierter Erbauungsliteratur 1667-1697 und die Rolle von Netzwerken. Amster- dam: Verf. 2011. 415 S. 247. Kinzel, Till: Lessing und die englische Aufklärung. Bibelkritik und Deismus zwi- schen Esoterik und Exoterik; Vortrag, gehalten am 10. März 2011 im Lessinghaus Wolfenbüttel. Wolfenbüttel: Lessing-Akad. 2011. 20 S. (Wolfenbütteler Vortragsma- nuskripte 12). 248. Krueger, Thomas: Wilhelm Raabe im Weserbergland. Eine literarische und foto- grafische Spurensuche. Fotografie: Jörg Mitzkat. Holzminden: Mitzkat 2011. 112 S., Abb.,1 CD. (Bilder u. Texte aus Südniedersachsen 4). 249. Müsegades, Benjamin: Die Bücher Herzogin Elisabeths d.J. von Braunschweig- Calenberg, Gräfin von Henneberg-Schleusingen (1526 – 1566). In: Jb. d. Henne- bergisch-Fränkischen Geschichtsvereins. Bd. 26. 2011. S. 155-180. 250. Pörzgen, Rainer: Das Bodetal – eine literarische Betrachtung. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 75-78, Abb. 251. Raabe inspiriert. [22 Autorinnen und Autoren schreiben Raabe neu]. Hrsg. von der Arbeitsgruppe Literatur der Braunschweigischen Landschaft. Braunschweig: Appel- hans 2011. 263 S. 252. Schallenberg, André: „… der roman macht ahn die ewigkeit gedencken, denn er nimbt kein endt“. Zur ‚Dauer‘ als ästhetischer Kategorie in Barock und Postmoderne, am Beispiel von Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und Forced Enter- tainment. In: Frühe Neuzeit – Späte Neuzeit. Phänomene der Wiederkehr in Litera- turen und Künsten ab 1970. Bern [u.a.]: Lang. 2011. S. 155-168. 253. Strebe, Horst: Lessing und die Zensur. Vortrag, gehalten am 29. September 2010 im Lessinghaus Wolfenbüttel. Wolfenbüttel: Lessing-Akad. 2011. 48 S. (Wolfenbütteler Vortragsmanuskripte 11). 254. Weber, Friedrich: Geistliche Tradition und Theologische Wissenschaft. Die Biblio- thek der Landeskirche und des Theologischen Zentrums in Braunschweig. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 31-35, Abb. 255. Welke, Martin: Vom Elend der pressehistorischen Forschung in Deutschland. Dar- gestellt am Beispiel der Wolfenbütteler „Aviso“. In: Die Entstehung des Zeitungs- wesens im 17. Jahrhundert. Hrsg. v. Volker Bauer u. Holger Böning. Bremen: Ed. Lumière 2011. S. 135-158. (Presse u. Geschichte – Neue Beitr. 54).

Theater, Musik 256. Biegel, Gerd: 150 Jahre Theater am Steinweg. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 18-24, Abb. 257. Gottschalk, Carola: Verwunschene Geschichten und skurile Gestalten – das Theater der Nacht in Northeim. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 213-215, Abb.

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258. Grote, Hans-Henning: Das Gartentheater im Schlossgarten zu Salzdahlum. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 53-56, Abb. 259. Heidechor 1885-2010. Festschrift zum 125-jährigen Bestehen des Heidechors Gif- horn-Neubokel. Texte: Werner Ulmcke. Gifhorn 2010. 59 S., Abb. 260. Hupp, Alexandra: Die Sanierung und Wiedereröffnung des Lessingtheaters Wolfen- büttel – zwischen Klassischem und Zeitgenössischem – 100 Jahre Theatergeschichte in Wolfenbüttel. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 67-74, Abb. 261. Hupp, Alexandra: Vorhang auf! Die Sanierung und Wiedereröffnung des Lessing- theaters Wolfenbüttel. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 110-112, Abb. 262. Klement, Joachim: Offen. Für die Stadt. Für das Neue. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 41-43, Abb. 263. Lange, Karin, Wolfgang Lange: Spielbetrieb im Lessingtheater – eine Fotostrecke. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 57-66, Abb. 264. Morent, Stefan Johannes: Zur Aufführung der Wolfenbütteler Marienklage Cod. Guelf. 965 Helmstedt, 4. Februar 2012 in Wolfenbüttel. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 9-18. 265. Saile-Haedicke, Ursula: Bühne frei für Eulenspiegel! Ein Schalk macht Theater. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 25-38, Abb. 266. Schmidt-Glintzer, Helwig, Susanne Rode-Breymann: Hören, Lesen und Ver- stehen: Tausend Jahre Musikgedächtnis 800-1800. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 36-40, Abb. 267. „verklingend und ewig“. Tausend Jahre Musikgedächtnis 800-1800. Hrsg. von Susan- ne Rode-Breymann und Sven Limbeck. Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek 2011. 308 S., Abb. (Ausstellungskataloge d. Herzog August Bibliothek 94).

Volkskunde, Sprachgeschichte, Namenkunde 268. Appenzeller, Gerrit: „Geistiges Rüstzeug“ gegen den „Blutzuschuß der Heimat- fremden“. Ein wissenschaftshistorischer Abriss zur Gründung und Arbeit der Braun- schweiger „Forschungsstelle für niederdeutsches Volkstum“ (1947-1950). In: Braunschw. Jb. f. Landesgesch. Bd. 92. 2011. S. 209-222. 269. Appenzeller, Gerrit: Das Niedersächsische Wörterbuch. Ein Kapitel aus der Ge- schichte der Großlandschaftslexikografie. Stuttgart: Steiner 2011. 480 S. (Zs. f. Dia- lektologie u. Linguistik, Beih. 142). 270. Casemir, Kirstin, Franziska Menzel, Uwe Ohainski: Die Ortsnamen des Land- kreises Helmstedt und der Stadt Wolfsburg. 1., Aufl. Teil 7. Gütersloh: Verlag f. Re- gionalgesch. 2011. 298 S., Kt. (Veröff. d. Instituts f. Hist. Landesforschung d. Univ. Göttingen 53). 271. Haas, Gesine-Maria, Brigitta Roy-Feiler: Klöppeln – gestern, heute und morgen. Serie. 1. Teil: Ursprung des Klöppelns. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 73-74, Abb.; 2. Teil: Klöppeln und Oberharzer Bergbau. S. 87-89, Abb.; 3. Teil. Vom Klöppel- ständer zur Plauener Spitze. S. 119-120, Abb.; 4. Teil. Klöppelspitzen in den Harzer

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Trachten. S. 135-136, Abb.: 5. Teil. Klöppeln im 20. und 21. Jahrhundert. S. 154-157, Abb.; 6. Teil. Klöppeln und Klöppelkurse im Harzklub e. V. S. 182-183, Abb. 272. Hodemacher, Jürgen: Fastnacht und Karneval im Wolfenbütteler Land. In: Heimat- buch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 19-24, Abb. 273. Kiehl, Ernst: Sagenhafte Harzgrafen – legendäre Ahnen. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 167-172, Abb. 274. Paersch, Axel: Deutung über den Ortsnamen Oesig. Die Oesig ist ein Teil von Blan- kenburg. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 57-58, Abb. 275. Peters, Rolf: „Sieh, sieh, du böses Kind!“ Die Emmerstedter Totenhand als Beweis- stück kindlicher Versündigung gegen das vierte Gebot? In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 185-191. 276. Radday, Helmut: Karl Reinecke-Altenau und das Oberharzer Brauchtum. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 172-175, Abb. 277. Schäfer, Wolfgang: Es wollt ein Müller früh aufstehen…Volkslieder aus dem Sol- ling (II). In: Sollinger Heimatbll. 2011,4. S. 19-26, Abb. 278. Scheuermann, Ulrich: Flurnamensammlung und Flurnamenforschung in Nieder- sachsen. Bielefeld: Verl. f. Regionalgesch. 2011. 500 S. (Göttinger Forschungen z. Landesgesch. 20). 279. Schmidt, Kurt: Die Wünschelrute im Blickfeld Andreasberger Autoren. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 134-136. 280. Sterly, Marita: Aus dem Frauenleben im Landkreis Helmstedt zur Zeit der Charlot- te von Veltheim (1832-1911). In: Altstadt-Kurier. Jg. 16, 2. 2011. S. 1-3, 3 Abb. 281. Sternal, Bernd, Lisa Berg: Sagen, Mythen und Legenden aus dem Harz. Band 3. 1., neue Ausg. Norderstedt: Books on Demand 2011. 144 S., Abb. 282. Witte, Dietrich: Hexen und Werwölfe am südwestlichen Harzrand. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 183-186.

Natur, Umweltschutz 283. Behrmann, Hans Jürgen: Der Weißstorch im Kreis Gifhorn. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 163-167, Abb. 284. Braemer, Gerhard: Die Avifauna der Braunschweiger Rieselfelder – eine Check- liste, Teil 1. In: Aves Braunschweig. Jg. 2. 2011. S. 37-44, 19 Abb. 285. Brombach, Günter: Ein Buschrohrsänger (Acrocephalus dumetorum) 2011 in den Braunschweiger Rieselfeldern. In: Aves Braunschweig. Jg. 2. 2011. S. 33-34, 3 Abb. 286. Geurts, Sonja: Ästhetik und Naturwissenschaft im Spannungsfeld. Band 1. Natur- ordnungen und Naturbilder in der Landschaftsgartenkunst des 18. und 19. Jahrhun- derts. Band 2. Gartenkunst und Gartenbotanik in Quellen. Abbildungen – Biblio- graphie – Verzeichnisse. Uelvesbüll: Der Andere Verlag 2011. 417, 215 S. 287. Greve, Karl: Sehr alte Saatkrähen (Corvus frugilegus). In: Beiträge z. Naturkunde Nds. Jg. 65. 2011. S. 103. [Betr. an den Braunschweiger Rieselfeldern beringte Saatkrähen]

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288. Heise, Sibylle: Exotische Vögel zwischen Harz und Bruch. In: Zwischen Harz und Bruch. Heimatzs. f. Halberstadt und Umgebung seit 1956. H. 64. 2011. S. 31-35. 289. Heuer, Jürgen: Das Blaukehlchen (Luscinia svecica cyanecula) als Brutvogel an den Klärteichen der Zuckerfabrik Schladen (Landkreis Wolfenbüttel). In: Aves Braunschweig. Jg. 2. 2011. S. 29-31, 1 Abb. 290. Jortzick, Vera: Langzehen-Strandläufer (Calidris subminuta) in der Braunschwei- ger Okeraue nördlich vom Rieselgut Steinhof. In: Aves Braunschweig. Jg. 2. 2011. S. 35-36, 4 Abb. 291. Jürgens, Rolf: Feld- und Haussperling in den Dörfern und Siedlungen am Elm. In: Der Tetzelstein. Jg. 5. Nr. 9. 2011. S. 15-16, Abb. 292. Jürgens, Rolf: Der Gartenrotschwanz – Vogel des Jahres 2011. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 185-188, Abb. 293. Jürgens, Rolf: Naturparadiese in der Samtgemeinde Schöppenstedt. Frühling im Landschaftsschutzgebiet Lah/Küblinger Trift und dem Südelm. In: Der Tetzelstein. Jg. 5. Nr. 8. 2011. S. 15-18, Abb. 294. Karste, Gunter: Der Brockengarten im Nationalpark Harz – Mitglied der „Gemein- schaft der Alpinen und Arktischen Botanischen Gärten in Europa“. In: Gartenkultu- ren in Europa. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2011. S. 132-138. 295. Kieling, Andreas: Der Luchs. Aus dem Buch „Ein deutscher Wandersommer“, Ka- pitel „Vom Harz Richtung Elbe“. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 113-116. 296. Koperski, Monika: Die Moose des Nationalparks Harz. Eine kommentierte Arten- liste. Unter Mitarb. von Markus Preussing …. 1. Aufl. Wernigerode: National- parkverwaltung Harz 2011. 249 S., Abb., Kt. (Schriftenreihe aus dem Nationalpark Harz 8). (Nationale Naturlandschaften). 297. Krafft, Hans Werner: Blütenpracht am Wegesrand. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 189-190, Abb. 298. Krafft, Hans Werner: Singende Schwäne über der Aller. In: Gifhorner Kreiskal. 2012. [2011]. S. 172-174, Abb. 299. Lehmhus, Jörn: Beitrag zur Identifikation von Entenhybriden der Gattung Anas. In: Aves Braunschweig. Jg. 2. 2011. S. 21-28, 22 Abb. 300. Oldekop, Werner: Wie lange leben unsere Kraniche? – eine populationsdynamische Parameterstudie zur Lebenserwartung von Vögeln. In: Aves Braunschweig. Jg. 2. 2011. S. 45-56, 9 Abb. 301. Pannach, Günter: Bestandsentwicklungen der Greifvögel westlich von Braun- schweig, Südost-Niedersachsen. In: Vogelkundliche Berichte zwischen Küste und Binnenland unter Berücksichtigung des Artenschutzes. Bd. 10. 2011. S. 91-106, Abb., Kt. 302. Rieche, Kerstin: Harzer Bergwiesen – ein faszinierendes Kulturerbe. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 96-98, Abb. 303. Thon, Ekkehard: Als im Elm die Wölfe gefangen, gequält und ausgerottet wurden. In: Der Tetzelstein. Jg. 5. Nr. 8. 2011. S. 13-14, Abb.

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304. Schmidt, Helge: Avifaunistischer Jahresrückblick auf 2010 für die Umgebung Braunschweigs. In: Aves Braunschweig. Jg. 2. 2011. S. 3-18, 19 Abb. 305. Velten, Peter: Die Grenzen des Beobachtungsgebietes. In: Aves Braunschweig. Jg. 2. 2011. S. 19-20, Abb. 306. Wimmer, Walter: Winterliche Tierspuren in der Hecke. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 14-15, Abb.

Geschichte einzelner Orte 307. Lange, Karin: Die Erhaltung des Herrenhauses Achim als kulturpolitische Ver- pflichtung. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 171-174, Abb. 308. Isensee, Dietrich: Treue-Bekenntnisse … und keine Vereinsmeierei. TSV „Treue“ Alversdorf (1903 bis 1965). Bad Lauterberg: Kahlmann-Druck 2011. 153 S., Abb. Bad Harzburg s. auch Nr. 20. 309. Borchers, Christa: Das alte Schwimmbad. In: Uhlenklippen-Spiegel. Nr. 97. 2011. S. 34-38, Abb. 310. Knof, Egon: Aus „tiefster Provinz“ in die A-Klasse. Der Harzburger Rennverein hat eine wechselvolle Geschichte. In: Uhlenklippen-Spiegel. Nr. 98. 2011. S. 3-15, Abb. 311. Plaster, Harry: Geschichte rund um das über 135 Jahre alte Hotel „Harzburger Hof“ in Bad Harzburg. In: Uhlenklippen-Spiegel. Nr. 98. 2011. S. 25-32, Abb.; Nr. 99. 2011. S. 3-11, Abb. 312. Plaster, Harry: Seit 145 Jahren gibt es den Namen Belvedere in Bad Harzburg. Zu- erst bekannt als „Hotel Belvedere“. In: Uhlenklippen-Spiegel. Nr. 97. 2011. S. 13-21, Abb. 313. Plaster, Harry: Vor 90 Jahren verstorben. Der berühmte portugiesische Opernsän- ger Francisco d’Andrade (1859-1921) und Bad Harzburg. In: Uhlenklippen-Spiegel. Nr. 100. 2011. S. 29-36, Abb. 314. Wedekind, Hans-Hermann: Von Badestraßen und verschwundenen Schwimm- bädern. In: Uhlenklippen-Spiegel. Nr. 99. 2011. S. 12-17, Abb. 315. Wedekind, Hans-Hermann: „Ein geheimnisvoller Karton“. In: Uhlenklippen- Spiegel. Nr. 97. 2011. S. 39-44, Abb. 316. Wedekind, Hans-Hermann: Eine „Hofschaft“ im Herzogtum Berg als Namengeber für den Bad Harzburger Eichenweg? In: Uhlenklippen-Spiegel. Nr. 99. 2011. S. 18- 19. 317. Wedekind, Hans-Hermann: Neustadt-Harzburg im Jahre 1759 (1. Teil). Ortsstruk- tur 100 Jahre vor dem Wandel zur Kurstadt. In: Uhlenklippen-Spiegel. Nr. 100. 2011. S. 15-22, Abb. 318. Grande, Karl-Heinz: Erinnerungen an eine Kinderzeit in Bornum. In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 33-37, Abb. 319. Ahlers, Rolf: Bauernhausmuseum Bortfeld – 100 Jahre, 19.06.1911 – 1941 – 17.06.1968 – 2011. In: Braunschw. Heimat. Jg. 97, 1. 2011. S. 7-9, 2 Abb. Braunschweig s. auch Nr. 36, 65, 67, 161, 175, 177, 184, 201, 203, 211, 256.

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320. 10 Orte in Braunschweig. Deutsch, english, espanol, russkij. 1. Aufl. Braunschweig: Kotyrba 2011. 58 S., Abb., Kt. 321. 100 Jahre Sportverein Querum von 1911 e. V. Braunschweig 2011. 146 S., Abb. 322. Bein, Reinhard: Die beiden jüdischen Friedhöfe in Braunschweig 1939 bis 1945. In: Juden in Niedersachsen 1938-1945. Forschungsansätze und Forschungsdesiderate. Tagung in Hannover 24. – 25. März 2011. Hrsg.: Arbeitskreis Geschichte der Juden in der Hist. Komm. f. Nds. u. Bremen. Hannover: Arbeitskreis 2011. S. 67-73, Abb. 323. Biegel, Gerd: Zur Geschichte des Gauß-Denkmals. In: Braunschw. Heimat. Jg. 97, 2. 2011. S. 30-31, Abb. 324. Braunschweig bewegen & bewahren. 30 Jahre Richard Borek Stiftung Braunschweig. [Hrsg.: Richard Borek Stiftung, Braunschweig]. Hannover: BWH GmbH 2011. 119 S., Abb., Kt. 325. Braunschweiger Prinzenpark-Rennen. Ausstellung vom 1. September 2011 bis 8. Ja- nuar 2012 hrsg. von Cecilie Hollberg. Braunschweig: Städtisches Museum Braun- schweig 2011 207 S., Abb. 326. Brüderle, Nicole: Aufgetischt. Die herzogliche Tafel der Renaissance; Ausstellung des Herzog Anton Ulrich-Museums in der Burg Dankwarderode, 1. April bis 10. Juli 2011. Braunschweig: Herzog Anton Ulrich-Museum 2011. 91 S., Abb. 327. Ernst, Wolfgang: Braunschweigs Unterwelt, Kanäle und Gewölbe unter der Stadt. Band 1. Der Burgmühlengraben im Wandel der Zeit. Braunschweig: Appelhans 2011. 103 S., Abb. 328. Flake, Uwe: 30 Jahre Kulturzentrum BRUNSVIGA. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 74-77, Abb. 329. Freie Turnerschaft (Braunschweig). Fußballabteilung. 100 Jahre Fußballabteilung. [Red. u. Bearb.: Ralf Krause …]. [Braunschweig]: Freie Turnerschaft e. V. [2011]. 54 S., Abb. 330. Frenzel, Franziska: Die Bibliothek des Herzog Anton Ulrich-Museums zu Braun- schweig und ihre Haussystematik. Wege zu einer bedarfsgerechten Sacherschlie- ßung. Online-Ressource. Leipzig, Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur Leipzig, Diplomarbeit, 2011. 331. Gliesmarode ein Vorort der Stadt Braunschweig. „Die Berliner Straße – Von der Dorfstraße zur städtischen Verkehrsachse“, Karten, Straßen, Häuser, Menschen und Ereignisse. Hrsg.: Manfred Reese, Wolfgang Knust. Braunschweig 2011. 91 S., Abb. 332. Haas, Irmgard: Leben im Kollegiatstift St. Blasii in Braunschweig. Die liturgischen Stiftungen und ihre Bedeutung für Gottesdienst und Wirtschaft. Braunschweig: Ap- pelhans 2011. 534 S. (Braunschw. Werkstücke 113). 333. Haye, Thomas: Das älteste lateinische Loblied auf die Stadt Braunschweig. In: Braunschw. Jb. f. Landesgesch. Bd. 92. 2011. S. 13-28. 334. Heidenbluth, H. Helmut: Braunschweig. Ein Bildband in Farbe. Gudensberg: Wartberg 2011. 72 S., Abb.

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335. Helling, Isolde: 100 Jahre St. Jakobi zu Braunschweig. [Hrsg.: Kirchenvorstand St. Jakobi]. Braunschweig 2011. 97 S., Abb. 336. Himmelsstürmer 2011. Kunst trifft Kirche, temporäre Kunstwerke für 9 Braun- schweiger Innenstadtkirchen; 14. Juni bis 28. August 2011. BBK Braunschweig und Braunschweiger Kirchengemeinden. [Projektleitung Himmelsstürmer: Edith Grum- bach-Raasch …]. Braunschweig: BBK 2011. [28] S., Abb., Kt. 337. Hodemacher, Jürgen: Ein Haus schreibt Geschichte: Das Huneborstelsche Haus. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 92-93, Abb. 338. Horn, Helena: Das Schlossmuseum Braunschweig. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 55-58, Abb. 339. Huhold, Gudrun: Grundstückswert und Grundstücksrecht im Sanierungsverfahren. Wertermittlung im Sanierungsverfahren am Beispiel des Sanierungsgebietes Bahn- hofsviertel II in Braunschweig. Hamburg: Diplomica-Verl. 2011. 124 S., Abb., Kt. 340. Isensee, Ralf: 60 Jahre „Wiederaufbau“ eG – eine Erfolgsgeschichte. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 94-96, Abb. 341. Joger, Ulrich: Es begann am Heeseberg: Stromatolithe und der Ursprung des Le- bens. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 104-105, Abb. 342. Köhler, Edith: Dixieland am Okerstrand. Geschichten und Anekdoten aus Braun- schweig. 1. Aufl. Gudensberg-Gleichen: Wartberg 2011. 79 S., Abb. 343. Meibeyer, Wolfgang: Erinnerung an einen Bauernhaus-Veteranen in Braunschweig- Melverode. In: Braunschw. Heimat. Jg. 97, 1. 2011. S. 13-15, 7 Abb. 344. Meyer, Helmut, Rolf Siebert: 1938-2011. Die ehemalige Luftnachrichtenkaserne Braunschweig-Querum, und ihre spätere Nutzung: Eichendorffsiedlung, Husaren- kaserne der Bundeswehr und Zentrale Aufnahme- und Ausländerbehörde (ZAAB). Braunschweig 2011. 67 S., Abb. 345. Meyer, Ralph-Herbert: Begeisterung wie damals bei „Poppi“. Eintracht mit dem Zweitliga-Aufstieg zurück im Rampenlicht des deutschen Fußballs-eine ganze Stadt zelebriert ihren Kultklub. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 78-80, Abb. 346. Ostwald, Thomas: Der Vampir von Braunschweig. Leutnant Friedrich Oberbeck ermittelt, ein Kriminalfall aus dem Braunschweig des 18. Jahrhunderts. Braun- schweig: Ed. Corsar 2011. 166 S., Abb. 347. Paulus, Simon, Ulrich Knufinke: Der Braunschweiger Wallring. Wegweiser zur Geschichte und Architektur eines kulturhistorischen Denkmals. Mit Fotogr. von Heinz Kudalla. Braunschweig: Appelhans 2011. 144 S., Abb., Kt. 348. Pfingsten, Otto: Rudolfstraße Nr. 7. In: Braunschw. Heimat. Jg. 97, 2. 2011. S. 28- 29, 1 Abb. 349. Quadriga Braunschweig. [Hrsg.: Richard Borek Stiftung, Braunschweig]. [Hanno- ver]: BWH 2011. [40] S., Abb. 350. Radkau-Garcia, Verena: Das Georg-Eckert-Institut als Mitglied der Leibniz-­ Gemeinschaft (WGL). In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 48-50, Abb.

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351. Die Ringe des Königs aus der Sammlung König Ernst Augusts von Hannover (1771- 1851) Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig. Berlin: Kulturstiftung der Län- der 2011. 46 S., Abb. (Patrimonia 357). 352. Rost, Falko: Die Kirche St. Johannes in Hondelage. Patronate der Herren von Hon- delage und des Klosters Riddagshausen, Baugeschichte. In: Braunschw. Heimat. Jg. 97, 2. 2011. S. 6-13, 9 Abb. 353. Rückling, Stefan: Familienbuch der Riddagshäuser Klosterdörfer 1542 – 1648. Die Familien und Einwohner in Riddagshausen (Neuhof), Gliesmarode, Querum, Klein Schöppenstedt und Mascherode zwischen Reformation und Ende des 30jährigen Krieges. Berlin: Verf. 2011. 500 S. 354. Schloss Richmond und Prinzessin Augusta Friederike Louise Herzogin zu Braun- schweig-Lüneburg. Zsgest. [und hrsg.] v. Thomas Ostwald. Braunschweig: Ed. Cor- sar 2011. 20 S., Abb. 355. Schmidt, Güntzel: Madonna in verträumter Landschaft. Die Klosterkirche Rid- dagshausen. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 227-229, Abb. 356. Steinführer, Henning: Vom Archivverein zum Stadtarchiv. Zur Entstehung des Stadt- archivs Braunschweig. In: Archiv-Nachrichten Niedersachsen. 15. 2011. S. 35-42, 4 Abb. 357. Tatort Geschichte. 120 Jahre Spurensuche im Braunschweigischen Landesmuseum. Petersberg: Imhof 2011. 288 S., Abb. (Veröff. d. Braunschw. Landesmuseums 113). 358. Tinius, Iris: Altägypten in Braunschweig. Die Sammlungen des Herzog Anton Ul- rich-Museums und des Städtischen Museums. Wiesbaden: Harrasowitz 2011. 235 S., Abb. (Sammlungskataloge d. Herzog Anton Ulrich-Museums Braunschweig 16). 359. Wauschkuhn, Franz: Bankhaus Löbbecke AG 1761 – 2011. Ein Gang durch 250 Jahre Wirtschaftsgeschichte. Braunschweig: Bankhaus Löbbecke 2011. 55 S., Abb. 360. Wedemeyer, Bernd: Quadriga. Das Viergespann des Residenzschlosses zu Braun- schweig. Braunschweig: Appelhans 2011. 172 S., Abb. 361. Wir lieben unseren Heidberg. Lebensgeschichten von Migrantinnen und Migranten in Braunschweigs Süden, ein Projekt der AWO-Migrationsberatung Braunschweig und Hardy Crueger. Braunschweig: AWO-Bezirksverb. Braunschweig: Migrations- beratung 2011. 52 S. 362. Baiker, Hans-Joachim: Die Chirurgie im Robert-Koch-Krankenhaus in Clausthal- Zellerfeld: Haupt- oder Belegabteilung? In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 55-67, Abb. 363. Hoffmann, Albrecht: Zum Neubau der Clausthaler Pfarrkirche St. Nikolaus vor 50 Jahren. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 83-86, Abb. 364. Lampe, Wolfgang: Der Clausthaler Marktkirchenplatz im Wandel. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 68-70, Abb. 365. Mewes, Jürgen: Der Schlosspark derer von Veltheim in Destedt. Teil 1. In: Der Tetzelstein. Jg. 5. Nr. 9. 2011. S. 11-14, Abb. Dorstadt s. Nr. 63. Eitzum s. Nr. 149. Goslar s. auch Nr. 240.

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381. Krüger, Matthias: „Für den Staat … nur eine Last: Das Juleum wird Kriegseigen- tum. In: Altstadt-Kurier. Jg. 16, 2. 2011. S. 10-14, 7 Abb. 382. Krüger, Matthias: „Für den Staat … nur eine Last“ – wie das Juleum ins Eigentum des Landkreises Helmstedt kam. In: Braunschw. Heimat. Jg. 97, 1. 2011. S. 21-24, 7 Abb. 383. Ludwig, Harald: Die Landeszentralbank in Helmstedt. Kindheitserinnerungen an Helmstedt. In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 117-120. 384. Omodeo, Pietro Daniel: Disputazioni cosmologiche a Helmstedt. Magnus Pegel e la cultura astronomica tedesca tra il 1586 ed il 1588. In: Galilaeana. Journal of Galile- an studies. Bd. 8. 2011, S. 133-158. 385. Schulze, Sibylle: Jugendarbeit in der Helmstedter Stephanigemeinde 1952-1958. In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 111-116, Abb. 386. Der unendliche Faden. Kloster St. Marienberg in Helmstedt. Hrsg.: Tobias Henkel, Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz. Braunschweig 2011. 156 S., Abb. 387. Holzminden. Und seine Umgebung im Weserbergland. Neue Ausg. Holzminden: Mitzkat 2011. 96 S., Abb. 388. Heise, Sibylle: Blicke in Hornburgs Vergangenheit. Hornburg: Stadtarchiv 2011. 79 S., Abb. 389. Heise, Sibylle: Hopfen in Hornburg. Zur Geschichte einer Sonderkultur in einer kleinen Stadt am Harz. Osterwieck: Ostfalia-Verl. 2011. 56 S., Abb. 390. Putscher, Siegfried: Schulgeschichte der Dörfer des Kirchspiels Jembke 1661- 1998 und Weiterentwicklungen des Schulwesens im Raum Wolfsburg-Gifhorn bis 2011. 2., überarb. Aufl. Jembke: Putscher 2011. 143 S., Abb., Kt. 391. Völker, Horst: Chronik der Gemeinde Klein Denkte. zusammengetragen u. hrsg. von Horst Völker. Klein Denkte 2011. 492 S., Abb. 392. Klein Schöppenstedt. Geschichte eines Braunschweigischen Dorfes. Red.: Günter Possekel. Klein Schöppenstedt 2011. 515 S., Abb. 393. Blaich, Markus C.: Die „Fahrt nach Lutter“. Bemerkungen zu Königslutter als Wallfahrtsort des späten Mittelalters. In: Braunschw. Jb. f. Landesgesch. Bd. 92. 2011. S. 223-239, 8 Abb. 394. Begleiter durch den Kaiserdom Königslutter. [Hrsg.: Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz. Texte: Norbert H. Funke]. Braunschweig: Appelhans 2011. 87 S., Abb. 395. Funke, Norbert H.: Ein kaiserliches Bauwerk – die ehemalige Abteikirche St. Peter und Paul in Königslutter. In: Braunschw. Heimat. Jg. 97, 1. 2011. S. 3-6, 4 Abb. 396. Funke, Norbert: Interventionen – Begegnung von Bauwerk und Kunstwerk zu Dia- logen der Ungleichzeitigkeit. Ein Kunstprojekt am Kaiserdom Königslutter. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 116-117, Abb. 397. Kraus, Wilfried: Jugend in Vereinen. Neubeginn nach dem Ende der nationalsozia- listischen Herrschaft 1945. Beispiele aus Königslutter. In: Landkr. Helmstedt. Kreis- buch 2012. [2011]. S. 147-154, Abb. 398. Recker, Bernhard: Die Restaurierung der Stiftskirche zu Königslutter. In: Berichte z. Denkmalpflege in Nds. Jg. 31. 2011. S. 2-6, 9 Abb.

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417. Kreckmann, Ingrid: Das Stadtdorf (Kreis Osterode). In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 35-37, Abb. 418. Moritz, Brigitte: Kloster Walkenried und sein Zisterziensermuseum. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 32-35, Abb. 419. Walkenrieder Lesebuch. Hrsg.: Fritz Reinboth u. Michael Reinboth. Clausthal- Zellerfeld: Papierflieger 2011. 106 S. (Schriftenreihe d. Vereins f. Heimatgesch. Walkenried/Bad Sachsa und Umgebung e. V. 36). 420. Zingler, Marianne: Wallmoden, wo der Hahn noch kräht. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 193-195, Abb. Wolfenbüttel s. auch Nr. 53, 55, 198, 242, 260, 261, 263, 264. 421. 75 Jahre Siedlergemeinschaft Drei Linden Wolfenbüttel 1935-2010. Red.: Petra Dinse- Schultz, Frauke Fruth, Irma Fuhrmeister. Wolfenbüttel 2011. 64 S., Abb., 1 DVD. 422. Bepler, Jochen: Kleine Wolfenbütteler Stadtgeschichte. Regensburg: Pustet 2011. 192 S., Abb., Kt. 423. Busch, Ralf: St. Trinitatis, Wolfenbüttel. 1. Aufl. Regensburg: Schnell & Steiner 2011. 23 S., Abb. (Schnell, Kunstführer 2791). 424. Cott, Georg Oswald: Die Bibliotheksrotunde in Wolfenbüttel. In: Braunschw. Kal. 2012. [2011]. S. 113-115, Abb. 425. Dolle, Dietmar: Das Kaufhaus MONOPOL in Wolfenbüttel. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 167-170, Abb. 426. Dolle, Dietmar [u. a.]: Verlorene Perlen. Eine Würdigung der einst prägenden Fir- men, Einrichtungen und Personen in Wolfenbüttel. Wolfenbüttel: Arbeitsgemein- schaft Altstadt Wolfenbüttel e. V. 2011. 69 S., Abb. (Spurensuche 9). 427. Gröchtemeier, Markus: Jüdischer Rundgang Wolfenbüttel. Hrsg.: Kulturstadt Wolfenbüttel e.V. Wolfenbüttel [2011]. 41 S., Abb. 428. Häusler, Lennart, Daniel Ossenkop: Impressionen aus einer ehemaligen Residenz- stadt: Wolfenbüttel im Jahr 1834. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 135-142, Abb. 429. Hueske, Karl-Ernst: In Wolfenbüttel wurden 41 Stolpersteine zur Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus verlegt. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 115-118, Abb. 430. Grimm Melanie, Claudia Kleine-Tebbe, Ad Stijnman: Lichtspiel und Farben- pracht. Entwicklungen des Farbdrucks 1500 – 1800. Aus den Beständen der Herzog August Bibliothek. [Ausstellung der Herzog August Bibiothek Wolfenbüttel, vom 11. März bis 28. August 2011]. Wiesbaden: Harrassowitz 2011. 108 S., Abb. (Wolfen- bütteler Hefte 29). 431. Museum Schloß Wolfenbüttel. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 77-82, Abb. 432. Der Ort, wo aus Kunst Kultur wird. 25 Jahre Bundesakademie für Kulturelle Bil- dung Wolfenbüttel; Reden zum Jubiläum / [hrsg. von der Bundesakademie für Kul- turelle Bildung Wolfenbüttel. Red.: Andrea Ehlert, Karl Ermert]. Wolfenbüttel:

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461. Strobach, Berndt: Privilegiert in engen Grenzen. Neue Beiträge zu Leben, Wirken und Umfeld des Halberstädter Hofjuden Berend Lehmann (1661-1730). Band 1: Dar- stellung. Band 2: Dokumentensammlung. Berlin: Verf. 171, 123 S., Abb. 462. Kumlehn, Jürgen: Victor Malbeq – unser Freund. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfen- büttel 2012 [2011]. S. 89-95, Abb. 463. Krüger, Matthias: „Wer nicht mitmachte, stand eben abseits“. Über Karl Nies, Kreisleiter der NSDAP in Helmstedt. In: Braunschw. Jb. f. Landesgesch. Bd. 92. 2011. S. 189-208, 1 Abb. 464. Prof. Dr. med. Otto Carl Wilhelm Nordmann (1876-1946). In: Sachs, Michael, Heinz-Peter Schmiedebach, Rebecca Schwoch: Deutsche Gesellschaft für Chirur- gie 1933-1945. Die Präsidenten. Heidelberg: Kaden 2011. XXVIII, 273 S., Abb.S. 131- 149, Abb. 465. Kreckmann, Ingrid: Jobst Freiherr von Oldershausen verstarb am 20. November 2010. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 213-214, Abb. Opitz, Friedrich s. Nr. 110. 466. Henning, Herzeleide: Geschichte(n) der Familie von Reichenbach. Berlin: Pro BUSINESS 2011. 690 S. 467. Eichstädt, Werner; Helmut Schumann: Rudolf Reinecke (1913-2010). In: Vogel- kundliche Berichte aus Niedersachsen. Bd. 42. 2011. S. 210-212, Abb. [Braunschweiger Ornitologe] 468. Beddies, Klaus: Die Lebenserinnerungen des ersten Burgbergwirts [Friedrich Wil- helm Reusche]. In: Uhlenklippen-Spiegel. Nr. 99. 2011. S. 20-23. 469. Kreckmann, Ingrid: Zu Tilman Riemenschneider, seinen Vorfahren und Nachkom- men. Zum 480. Todestag des Bildschnitzers. In: Unser Harz. Jg. 59. 2011. S. 127-130, Abb. 470. Wellner, Axel: Samuel Rochlitz (1660-1726), der erste Sankt Andreasberger Berg- medicus. In: Allgem. Harz-Berg-Kal. 2012. [2011]. S. 97-102, Abb. 471. Schmalz, Björn: Konversion und Netzwerk: Der Glaubenswechsel des Franz Igna- tius Rothfischer im 18. Jahrhundert. In: Historisches Jb. Jg. 130. 2010. S. 97-123. Schiltknecht s. Nr. 456. 472. Ellrich, Hartmut: Die Herzberg-Osteroder Linie der Schimpfschen Familie. In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 122-132, Abb. 473. Schütze, Horst: Meine persönlichen Erlebnisse zum Kriegsende 1945 in Ührde bei Osterode. (Aus der Erinnerung aufgeschrieben von Horst Schütze (*1935), Sohn von August Schütze und Enkelsohn von Gutsschäfer Wilhelm Schütze). In: Heimatbll. f. d. süd-westl. Harzrand. H. 67. 2011. S. 115-121, Abb. 474. Blazek, Matthias: Christian Schwarz (1793-1867), Scharfrichter aus Groß Rhüden. In: Goslarer Bergkal. Jg. 394. 2012. [2011]. S. 81-84, Abb. 475. Thon, Ekkehard: Hans Schwarz – der „Dichter“ und Dramatiker taucht in Schöp- penstedt unter. In: Heimatbuch. Landkr. Wolfenbüttel 2012 [2011]. S. 189-198, Abb. 476. Giermann, Joachim: Blick aus der Schulbank – auf Paul „Pepo“ Schwarz. In: Landkr. Helmstedt. Kreisbuch 2012. [2011]. S. 27-32, Abb. Seckendorff, Friedrich Heinrich von s. Nr. 457.

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477. Ina Seidel. Eine Literatin im Nationalsozialismus, hrsg. im Auftr. des Oberbürger- meisters der Stadt Braunschweig von Anja Hesse. Mit Beitr. von Jan-Pieter Barbi- an, … Berlin: Kulturverl. Kadmos 2011. 190 S., Abb. (Braunschw. kulturwissen- schaftliche Studien 2). 478. Busch, Jan von: Von Butzbach nach Mecklenburg. Ein besonderes Kapitel in der Geschichte der Familie Sinold genannt (von) Schütz. In: Butzbacher Geschichtsblät- ter. Nr. 254. 2011. 2. ungez. Bl., Abb. [Braunschweig-Bezug] Sprenger, Albin s. Nr. 158. 479. Kutscher, Rainer: Polizeimeister Hermann Stein erlag 1947 einer Wildererkugel. In: Goslarer Bergkal. Jg. 394. 2012. [2011]. S. 107-108, Abb. 480. Capelle, Thomas: „Die elende Stisserin“. Der Untergang einer Frau im Netzwerk der Mächtigen im 18. Jahrhundert [Eleonore Luise Stisser]. In: Braunschw. Jb. f. Landesgesch. Bd. 92. 2011. S. 75-127. 481. Wille, Lutz: Die Organisten-, Kantoren- und Pastorenfamilie Werckmeister aus Benneckenstein. In: Harz-Zs. Jg. 63. 2011. S. 167-197, 9 Abb. 482. Reiss-Maaoui, Anneke: Familie Zimmermann. Ein Stück Wolfenbütteler Geschich- te. [Ausstellung … Museum Schloss Wolfenbüttel, 16.07.2011 – 18.09.2011]. Wolfen- büttel: Museum Schloss Wolfenbüttel 2011. 40 S., Abb.

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Meike B u c k / Hans-Jürgen D e r d a / Heike P ö p p e l m a n n (Hrsg.): Tatort Geschich- te. 120 Jahre Spurensuche im Braunschweigischen Landesmuseum (Veröffentlichungen des Braunschweigischen Landesmuseums 113). Petersberg: Michael Imhoff Verlag 2011, 288 S., zahlr. farb. Abb., 29,95 €

2011 feierte das Braunschweigische Landesmuseum sein 120-jähriges Bestehen mit einer großen Jubiläumsausstellung und einem reich illustrierten Begleitband. 120 Exponate als „Spuren des Tatortes Geschichte“ dienten als Anknüpfungspunkt für ebenso viele Geschichten, in denen sich die Erinnerungen und Traditionen aus dem Braunschweiger Land verdichten. Angesichts der Fülle an Objekten in den Magazinen wurde gar nicht erst der Versuch einer lückenlosen Darstellung der Landesgeschichte ge- macht, vielmehr sollten aus der historisch gewachsenen Sammlung des Museums Schlag- lichter auf bestimmte Aspekte geworfen und Einblick in die Sammlungsgeschichte des Hauses ermöglicht werden. Ein einführender Beitrag von Wulf Otte informiert über die Geschichte des Museums, das in seinen Anfängen auf eine Gedenkausstellung anlässlich des 75. Todestages von Herzog Friedrich Wilhelm im Jahre 1890 zurückgeht und 1906 als Vaterländisches Museum in den Räumen des einstigen Paulinerklosters eröffnet werden konnte. Er geht auch auf die Entstehung der einzelnen Standorte ein, die in der Jubiläumsausstellung aus- gewogen berücksichtigt werden, die landesgeschichtliche Abteilung im Vieweghaus eben- so wie die Ur- und Frühgeschichte in der Kanzlei Wolfenbüttel, das Jüdische Museum Hinter Ägidien und die Volkskunde im Bauernhausmuseum Bortfeld. Hierauf folgt der eigentliche Katalogteil. Einziger Ordnungsfaktor der präsentierten Gegenstände ist ihr Alter, doch gibt es außerdem noch eine Unterteilung in die Abteilun- gen „Gedächtnis“ und „Erinnerungen“. Zur letzteren Gruppe gehören Objekte aus dem Zeitraum vom Gründungsjahr des Museums bis in die Gegenwart, einem Zeitraum also, in welchem Geschichte noch als persönliche Erfahrung von Generation zu Generation weitergegeben wird. Über das „Geheimnis der Erinnerung“ reflektiert Meike Buck in einem abschließenden Beitrag. Jedem Objekt ist eine Doppelseite mit Bild- und Textteil gewidmet. Die Artikel der 28 Autoren sind prägnant, gut lesbar und allgemeinverständlich geschrieben, so etwa, wenn ein Faustkeil als „Schweizer Taschenmesser des Neandertalers“ bezeichnet wird. Kleine Anekdoten verleihen den Objekten ihre individuelle Note, außerdem wird in kur- zen Zusammenfassungen verdeutlicht, warum ein bestimmtes Objekt ausgewählt wurde. Die ganze Breite der Sammlungen galt es abzudecken, und das in jeglicher Beziehung. Die Exponate stammen aus allen Teilen des alten Braunschweiger Landes oder sogar aus weiter Ferne, wie ein als Souvenir mitgebrachter indianischer Tabaksbeutel, ein Pilger- zeichen oder importiertes chinesisches Porzellan. Neben überdimensionalen Gegenstän- den wie der Raumsonde Rosetta oder der Braunschweiger Atomzeituhr finden sich so mikroskopisch kleine Fundstücke wie ein mittelalterlicher Traubenkern oder Glasperlen. Während die jüngsten Exponate erst wenige Jahre alt sind, wird das älteste auf 300.000 Jahre geschätzt. Kunstobjekte und Werke berühmter Meister, beispielsweise Altäre und

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Herrscherporträts, stehen Abfallresten und schlichten Gebrauchsgegenständen gegenüber, die Symbole für bestimmte Entwicklungen sind. Beispielsweise steht ein Milchkrug für die agrarischen Wende zur Milchwirtschaft, eine Glasflasche macht deutlich, dass ein Massenartikel der Gegenwart einstmals ein seltener Luxus war. Bestimmte Stücke beziehen wichtige Orte in die Ausstellung ein, die selbst nicht aus- stellbar sind. So ist etwa der Braunschweiger Dom durch den einstigen Lettner und Figu- ren des Hochaltars vertreten, der Kaiserdom in Königslutter durch die Grabbeigaben Kai- ser Lothars und seiner Gemahlin Richenza, eine Pferdetrense dient als Aufhänger für Informationen zur Harzburg, und ein Rektorenornat erinnert daran, dass sich in Helm- stedt einst die erste protestantische Universität Norddeutschlands befunden hat. Bedeutende Persönlichkeiten (Kaiser und Herzöge, der Dichter Wilhelm Raabe) fin- den sich ebenso wie die sogenannten „kleinen Leute“, vertreten beispielsweise durch das Dienstbuch eines Dienstmädchens oder die von einem Sträfling im Gefängnis kunstvoll geschnitzte Holzbank. Die Materialien reichen von Holz, Stein, Knochen, Glas, Metall, Textilien, Kunststoff bis hin zu Fotos und Filmen. Viele Stücke wurden für die Ausstellung erstmals aus den Magazinen geholt und der Öffentlichkeit präsentiert, doch dürfen bei einer solchen Jubiläumsausstellung auch be- rühmte Stücke nicht fehlen, die Generationen von Museumsbesuchern vertraut sind und schon oft in Ausstellungen präsentiert wurden, wie etwa die Kopie des Braunschweiger Löwen, die nagelbesetzte Statue Heinrichs des Löwen oder das lebensgroße Wachsporträt Friedrichs des Großen. Stolz sein kann das Museum auf mancherlei Superlative: das älteste nachgewiesene Schachspiel in Mitteleuropa, hölzerne Brunnenreste als früheste Siedlungsspur des alten Braunschweig, das größte je in Europa gefundene Jadebeil und – mit ca. 300.000 Jahren das älteste Objekt überhaupt – ein Holzgerät aus dem Fundzusammenhang der berühmten Schöninger Speere. Immer wieder wird die Sammlungsgeschichte und Forschungstätigkeit des Mu- seums selbst thematisiert. So zeugen etwa auf Pappe befestigte und mit handgeschrie- benen Schildern versehene Feuersteine von der Sammelleidenschaft des 19. Jahrhun- dertes, während mit dem Lucklumer Münzfund von 2011 eine Neuerwerbung präsentiert wird. Spannend ist es auch zu sehen, wie Stücke, die sich seit langem im Museumsbesitz befinden, durch neue Forschungsmethoden weitere Erkenntnisse liefern können. Als man 2005 eine bereits seit dem späten 19. Jahrhundert im Museum befindliche Urne untersuchte, traten wertvolle anthropologische Erkenntnisse über die bestatteten Perso- nen zutage. Einen glücklichen Zufall stellt der Umstand dar, dass ein 1901 am Heese- berg gefundenes Bronzebecken durch den Fund der zugehörigen Form im Jahre 2008 ergänzt werden konnte! Bewusst präsentiert sich das Landesmuseum nicht nur als „Bildungsort des Verstan- des, sondern auch des Gefühls“ (S. 15). Und tatsächlich bleibt durch das „Zufallsprinzip“ der Chronologie, die schlichte Aneinanderreihung der Objekte viel Raum für Assoziatio- nen und Emotionen. Ganz nah an welthistorischen Ereignissen fühlt man sich beim An- blick jener Kugel, die den Herzog Carl Wilhelm Ferdinand zu Beginn der Schlacht bei Auerstedt ins Auge traf und zu seinem Tode führte. Gezeigt wird auch die Hose seines Sohnes, des „Schwarzen Herzogs“, mit den Spuren der tödlichen Verwundung, die dieser

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1815 in der Schlacht von Quatrebras, zwei Tage vor Waterloo, erlitt. Rührung mag man empfinden beim Anblick eines Brautkleides, das nie getragen wurde, weil der Bräutigam unmittelbar vor der Hochzeit starb, und schmunzelt vielleicht über die Vorstellung frühe- rer Generationen, bei dem (Elefanten?)Knochen, der Jahrhunderte lang im Braunschwei- ger Dom hing, habe man eine Rippe des biblischen Riesen Goliath vor sich. Oder man schaudert bei der Betrachtung eines Eisenstuhls mit Brandspuren, auf dem die Alchemis- tin Anna Maria Ziegler 1575 in einem aufsehenerregenden Prozess verbrannt worden sein soll. Betroffenheit erwecken insbesondere Objekte aus der Zeit des Dritten Reiches, dar- unter solche, an denen gezeigt wird, wie Geschichte für Propagandazwecke missbraucht worden ist. Verdeutlicht wird das etwa am Beispiel der Hornburger Synagoge aus der jüdischen Abteilung des Museums, die durch Neubeschriftung als „Fremdkörper in der deutschen Kultur“ abgewertet wurde, oder auch anhand der Instrumentalisierung Hein- richs des Löwen für den Nationalsozialismus (Präsentation von Haarlocken aus der Her- zogsgruft in einer Schaufassung). Manche Stücke scheinen auf den ersten Blick noch gar kein Museumsgut zu sein, sind sie doch noch Teil der eigenen Lebenswelt oder waren es zumindest bis vor wenigen Jahr- zehnten (ein Eintracht-Fußballtrikot, der Commodore 64 als erster Heimcomputer). Die „Aufwertung“ zum Museumsobjekt regt hier zum Nachdenken an und verändert Sehge- wohnheiten. Dem Leser wird es überlassen, eigene Querverbindungen herzustellen. Vielleicht blät- tert man von dem schon erwähnten Brautkleid zu einem anderen Kleidungsstück, nämlich dem himbeerrotem Kostüm der jungen Herzogin Victoria Louise, die als Stilikone des wilhelminischen Kaiserreiches galt, wird von da weitergeleitet zu den Filmbildern vom Einzug des Herzogspaares ins Braunschweiger Schloss im Jahre 1913, gelangt von da zu dem Zünder, der angeblich dazu dienen sollte, eben jenes Schloss während der November- revolution zu sprengen usw. Der Katalog besticht aber nicht nur durch die reizvolle Mischung völlig unterschied- licher Objekte und die zuverlässigen Informationen, sondern ebenso durch die hervorra- gende Qualität der großformatigen Abbildungen. Neben einem Hauptfoto des Exponats finden sich meistens noch ein oder zwei Erläuterungsfotos mit dem Fundort, einer Aus- grabungsszene, Vergleichsobjekten oder Details. Entstanden ist ein Band, den man immer wieder gern zur Hand nehmen wird und der neugierig macht auf die geplante Neukonzep- tion der Dauerausstellung des Landesmuseums. Silke Wagener-Fimpel, Wolfenbüttel

Dirk R i e g e r : platea finalis. Forschungen zur Braunschweiger Altstadt im Mittelalter. Mit Beiträgen von Volker Arnold und Silke Grefen-Peters (Beiträge zur Archäologie in Niedersachsen 15, hrsg. von der Archäologischen Kommission für Niedersachsen e.V.). Rahden: Verlag Leidorf 2010, 437 S., 210 Abb., 31 Taf., 59,80 €

Das an der liegende Braunschweig gehört zu den bedeutenden hochmittelalterlichen Metropolen in Nordeuropa. Vergleichbar in seiner Bedeutung sind die Städte Lübeck an

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 250 Rezensionen und Anzeigen der Trave und Magdeburg an der Elbe, wobei jede von ihnen ihre individuelle Gründung und Entwicklung aufweist. Ansiedlungen rechts und links der Oker im Bereich der späte- ren Stadt Braunschweig entstanden infolge der Sachsenkriege Karls des Großen. Als Cha- rakteristikum kann für Braunschweig die Entstehung seiner fünf Weichbilder mit jeweils eigenem Stadtrecht gelten. In der Forschungsgeschichte der vergleichsweise jungen Fachdisziplin der Mittelalter- archäologie nehmen die drei Städte Braunschweig, Lübeck und Magdeburg eine schwer- gewichtige Rolle ein, was sicherlich mit ihrer Bedeutung als mittelalterliche Metropolen zusammenhängt. Während Lübeck in der BRD und Magdeburg in der DDR Pionierpro- jekte der jungen Stadtkernforschung nach dem 2. Weltkrieg waren, begann eine systema- tische Untersuchung Braunschweigs erst ab 1976 mit der Einrichtung einer archäologi- schen Denkmalpflege durch Hartmut Rötting. Seine Ausgrabungen in der Braunschweiger Altstadt und deren Publikation in Vorberichten und vor allem deren zusammenfassende Veröffentlichung in dem bis heute wichtigen Band „Stadtarchäologie von Braunschweig“ haben auch überregional große Beachtung gefunden. Erste Ansätze zur Entstehung der fünf Weichbilder Braunschweigs westlich und östlich der Oker sowie der inmitten des Flusses gelegenen brunonischen Burgstiftanlage, der späteren Residenz Heinrichs des Löwen, sind hier auf Basis archäologischer Untersuchungen ein Forschungsschwerpunkt gewesen. Bisher fehlt jedoch eine abschließende Auswertung der Ausgrabungen der 70er und 80er Jahre. Unter Michael Geschwinde, der seit 1993 als Bezirksarchäologe des Nieder- sächsischen Landesamtes für Denkmalpflege tätig ist, erfolgten weitere großflächige Ausgrabungen im innerstädtischen Gebiet Braunschweigs, deren bedeutendste die archäo- logischen Untersuchungen auf dem westlich der Oker gelegenen Gelände zwischen Weberstraße und Lange Straße (1997-1999; Kablitz 2005), an der Güldenstraße (2003- 2004; Alper 2004) und an der Echternstraße (2003-2004; Rieger 2010) sowie zuletzt im östlich der Oker gelegenen Schlosspark (2004; Rieger 2007; Alper 2007) sind. Teile der Ausgrabungen im Bereich des heutigen Schlosses wertete Rieger (2009) in seiner Magis- terarbeit aus, womit erstmals auf einer größeren Fläche systematisch die Besiedlungsge- schichte der frühstädtischen Ansiedlung im Bereich der „brunesguik“ untersucht wurde, das man später als Alte Wiek bezeichnete. Die Ausgrabungen Weberstraße/Lange Straße wie auch der Echternstraße sind im Rahmen von Dissertationen durch Karsten Kablitz (2005) und Dirk Rieger umfassend bearbeitet worden und geben so umfangreiche Ein- blicke in die Besiedlungsgeschichte des unter Kaiser Otto IV. begründeten Weichbildes Neustadt sowie der westlich der Oker gelegenen Altstadt, die sich unter Kaiser Lothar III. zur Stadt Braunschweig entwickelte. In der vorliegenden Veröffentlichung, die als Dissertation von Ingolf Ericsson, Bam- berg, betreut wurde, wertet der Verfasser ein zirka 6000 m² großes Areal mit 650 Befun- den am westlichen Rand der Braunschweiger Altstadt aus. Es handelte sich um eine seit dem 2. Weltkrieg unbebaute Freifläche (Grundstücke Echternstraße 17-28), so dass es erstmals möglich war, mit modernen Methoden „ein zusammenhängendes Siedlungsareal an der Peripherie des größten und bedeutungsvollsten Weichbildes der Stadt Braun- schweig großflächig zu untersuchen“ (S. 11). Naturwissenschaftliche und bauhistorische Beiträge von Elmar Arnhold und Silke Grefen-Peters zu den Tierknochen runden die

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Ergebnisse ab. Rieger wählte für seine Arbeit den Titel „platea finalis“ nach der ersten schriftlichen Erwähnung der Echternstraße im Jahre 1304 (S. 129). Nach einer Einführung in den Forschungsstand und in die mittelalterliche Geschichte Braunschweigs folgt eine Auswertung der Befunde an der Echternstraße. Die ältesten Siedlungsaktivitäten lassen sich als Acker- oder Gartenfläche im Vorfeld der ersten Stadt- befestigung vom späten 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts fassen. Vom späten 12. Jahr- hundert bis zur Zerstörung durch den 2. Weltkrieg belegen die Ausgrabungen eine lücken- lose kontinuierliche Siedlungsentwicklung an der Echternstraße, so dass man über einen Zeitraum von 800 Jahren die Genese des westlichen Altstadtbereiches nachzeichnen kann. Nach mehr als 60 Jahren Unterbrechung setzt sich die Siedlungsgeschichte mit der Errichtung neuer Wohneinheiten nun hier fort. Die Befund- und Fundlage der Grabung erlaubt klare Aussagen zu Parzellen- und Bebauungsstrukturen sowie zur Lebenswelt der Bewohner. Seit Siedlungsbeginn waren hier Gold- und Feinschmiede bis zum Beginn der Neuzeit ansässig, die zu den wirtschaftlich potenten Bürgern der Stadt gehörten. Deren soziale Stellung drückt sich in der Architektur mit Fachwerkhäusern, steinwerksartigen Kellern, Steinkammern und Warmluftheizungen aus. Schwerpunkt der Untersuchungen ist die Entwicklung der Parzellen an der Echtern­ straße und des Braunschweiger Bürgerhauses zusammen mit den infrastrukturellen Ein- richtungen zur Ver- und Entsorgung (Brunnen, Kloaken, Warmluftheizungen, Öfen, Ge- werbeeinrichtungen) (Kapitel 5 bis 8). Dabei zeigt sich, dass in Braunschweig ähnliche Entwicklungsprozesse wie in anderen Städten ablaufen. Auf den zunächst großen Grün- dungsparzellen verdichtet sich die Bebauung seit dem Spätmittelalter, die Parzellen wer- den in immer kleinere Grundstücke aufgeteilt. Straßenseitig werden Pfosten-, Schwell- riegel- und Schwellbalkenkonstruktionen teilweise mit Herdstellen, rückwärtigen Holzkellern und sogar einem Steinkeller errichtet (Phase 1). Zwischen den Stadtbränden 1252 und 1278 (Phase 2) verdichtet sich die Bebauung und ist teilweise mit Warmlufthei- zungen ausgestattet. Ab den Siedlungsphasen 3 und 4 lassen sich Fundamente aus Rog- genstein und Kloaken nachweisen. In der Neuzeit (Phasen 5-6) werden auf den Grund- stücken zahlreiche Nebengebäude und Kloaken errichtet. Aufgrund der starken Zerstörung der Altstadt am Ende des 2. Weltkriegs war bisher eine Überprüfung der siedlungsgeschichtlichen Darstellungen des 19. Jahrhunderts quel- lenkritisch kaum möglich. Der Verfasser hat die modern gegrabene Befundlage auf einer zusammenhängenden Grabungsfläche zu nutzen gewusst. Die Auswertung der archäolo- gischen Quellen mit angeschlossener Betrachtung historischer Quellen zeigt das Poten- zial archäologischer Stadtkernuntersuchungen, die einen zentralen Beitrag zur mittelalter- lichen Geschichte liefern und bestehende Ansichten neu bewerten können. Die „differenzierte Betrachtung des Braunschweiger Bürgerhauses in über 800 Jahren Stadt- geschichte“ […] „stehen den traditionellen Forschungsmeinungen zur Braunschweiger Bürgerhausarchitektur entgegen“ (S. 269). So kann Rieger eine neue Bewertung von Bu- den liefern, deren Definition nicht an einem Haustyp, sondern mit einem bestimmten Rechtsstatus gebunden ist. Auch legt der Verfasser einen neuen Vorschlag zum bisher in der Braunschweiger Forschung als Kemenate bezeichneten Gebäude vor, für die er auf- grund ihres multifunktionalen Charakters den Terminus Steinwerke vorzieht, weil als Kemenaten nur beheizbare Räume oder Gebäudeteile zu bezeichnen sind (Kapitel 7).

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Ausgehend von den Befunden der Grabungsfläche nimmt Dirk Rieger in Kapitel 10 die Stadtbefestigung der Braunschweiger Altstadt in den Blick. In der Fläche lag nach Westen eine Wall-Graben-Anlage aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Auf dem Hinterhof- gelände der Echternstraße 27 konnte der Befund eines Turmuntergeschosses aus dem Ende des 12. Jahrhunderts freigelegt werden, das zwar unmittelbar an der im 18. Jahr- hundert abgebrochenen Stadtmauer stand, aber dessen Baukonstruktion nicht mit dieser verbunden war. Unter Berücksichtigung vergleichbarer Befestigungsanlagen hochmittel- alterlicher Städte sowie von historischen Schrift- und Bildquellen gelingt dem Autor über- zeugend eine Beschreibung der mittelalterlichen Entstehung des Befestigungssystems Braunschweigs, wobei er quellenkritisch auf die schwache archäologische Quellenlage verweist. Trotzdem sind aufgrund der Befunde an der Echternstraße Korrekturen an bis- herigen Deutungen möglich. Die Zusammenführung der unterschiedlichen Quellen er- laubt eine Rekonstruktion von vier Befestigungsphasen: 1. Phase: Wall-Grabensystem aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts unter Lothar von Süpplingenburg; 2. Phase: Ver- stärkung des Walles durch einen Wehrturm im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts in Zusammenhang mit dem Ausbau der Fortifikation unter Heinrich dem Löwen; 3. Phase: Stadtmauer aus Rogenstein auf dem verfüllten ersten Graben mit größerem Graben in Zusammenhang mit Errichtung eines Gesamtberings um die fünf Weichbilder unter Otto IV.; 4. Phase: Anlage eines breiten Walls mit davor gelagertem äußeren Umflutgraben. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts wird die spätmittelalterliche Wallanlage in der sternförmig angelegten barocken Festungsanlage aufgenommen. Vor dem Hintergrund seiner Ergebnisse zur Echternstraße versucht Rieger in Kapitel 11 eine Neubewertung der Quellen zur Entstehung der Braunschweiger Altstadt und ihrer Entwicklung, wobei er deutlich darlegen konnte, mit welchen stadtplanerischen Eingrif- fen bereits ab der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts vorgegangen wurde. Für das 12. bis zum frühen 13. Jahrhundert definiert er drei „Altstadtexpansionen“ (S. 273) unter Lothar von Süpplingenburg, Heinrich dem Löwen und Otto IV., womit die Besiedlung innerhalb dieses Weichbildes erweitert wurde. Neben der Siedlungsgeschichte nimmt die Auswertung des Fundmaterials einen zwei- ten Schwerpunkt ein. Die Keramik ist mit mehr als 12.000 Stücken die mit weitem Ab- stand quantitativ stärkste Gruppe unter der materiellen Kultur des 12. bis 17. Jahrhunderts (Kapitel 12). Anhand der Grabungsstratigraphie kombiniert mit externen Vergleichsdatie- rungen entwickelte Rieger erstmals für Braunschweig eine abgesicherte Keramikchrono- logie, so dass seine klassische Vorgehensweise basierend auf der 1984 veröffentlichten „Rahmenterminologie“ seine Berechtigung hat. Zur besseren Übersicht wäre eine Tabelle über die Laufzeiten der Warenarten wünschenswert gewesen, wie diese für Gefäßformen und -ränder vorliegen. Dirk Rieger hat mit der Auswertung der Ausgrabungen an der Echternstraße die Ent- wicklung der Parzellengefüge vom Hochmittelalter bis zu den Bebauungsstrukturen des 20. Jahrhunderts stellvertretend für die Altstadt, dem wirtschaftlich und politisch bedeut- samsten Weichbild Braunschweigs, präsentiert. Ausgehend vom archäologischen Befund hat der Verfasser in methodisch klarer Trennung der Disziplinen naturwissenschaftliche Ergebnisse und historische Quellen berücksichtigt, wodurch für die Geschichte der Stadt neue Erkenntnisse vorliegen und zahlreiche Korrekturen an bisherigen Vorstellungen

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Rezensionen und Anzeigen 253 möglich sind. Angesichts des siedlungsgeschichtlichen Schwerpunktes darf nicht un- erwähnt bleiben, dass die Ausstattung der gelungenen Publikation zahlreiche farbige Kar- ten und Abbildungen aufweist, die zum Verständnis der Entwicklung von Parzellen und Topographie sowie der Fachwerkrekonstruktionen unerlässlich sind. Mit den Veröffentlichungen zu den seit 1997 durchgeführten Ausgrabungen hat das Niedersächsische Amt für Denkmalpflege vor Ort Forschungslücken geschlossen. Paral- lel dazu sind auf Initiative von Wolf-Dieter Steinmetz, Braunschweigisches Landesmu- seum, Materialstudien zu den Metall- und Glasfunden aus den Grabungen Röttings ent- standen. Ein Desiderat bleibt weiterhin die Befundaufarbeitung der Altgrabungen. Die archäologischen Forschungsergebnisse der letzten 10 Jahre haben für die Geschichte der Genese und der Entwicklung Braunschweigs grundlegende Konsequenzen, vor deren Hintergrund bisherige Ergebnisse und historische Quellen neu überdacht werden sollten und weitere Forschungen solide aufgebaut werden können. In vergleichenden Studien kann nun die Stellung der Okerstadt im nordeuropäischen Raum angemessen Berücksich- tigung finden. Heike Pöppelmann, Braunschweig

Irmgard H a a s : Leben im Kollegiatstift St. Blasii in Braunschweig. Die liturgischen Stif- tungen und ihre Bedeutung für Gottesdienst und Wirtschaft (Braunschweiger Werkstücke, Reihe A, Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv 54). Braunschweig: Appelhans Verlag 2011, 536 S. mit 30 s/w- und Farbabb., 34,90 €

Diese Arbeit – eine von der Philosophischen Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Uni- versität Hannover angenommene Dissertation – versteht sich als eine Antwort auf die von Peter Moraw in den 1970er Jahren formulierte These, dass sich das „innere Leben“ der Kollegiatstifte wegen der nicht nur für das Hochmittelalter, sondern auch für das Spät- mittelalter kaum vorhandenen Quellenüberlieferung zu diesem Bereich praktisch nicht untersuchen ließe. Dies brachte ihn, und in seiner Folge viele jüngere Stiftskirchenfor- scher, dazu, den Forschungsansatz, der sich bisher überwiegend auf die rein faktische oder rechtliche Geschichte beschränkt hatte, auf die Wechselbeziehungen der Stiftskirche mit der Welt zu verlegen, so dass prosopographische, verfassungs-, wirtschafts- und so- zialgeschichtliche Arbeiten in den darauf folgenden Jahrzehnten entstanden. Die Erfor- schung des Stiftslebens, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der liturgischen Aufga- ben der Stiftsherren, dessen Entwicklung im Laufe des Mittelalters und dessen Bedeutung für die Organisation und Evolution des Stifts(-wesens) blieb dafür weitestgehend ein De- siderat oder wurde nur unter begrenzten Teilaspekten angegangen. Irmgard Haas hat, um sich dem „inneren Leben“ der Stifte anzunähern, sich des be- deutenden Kollegiatstifts St. Blasius in Braunschweig angenommen: ausgehend von der Stiftungspraxis, hatte sie als Ziel, die Durchführung der Liturgie in all ihren Facetten nachzuvollziehen und deren Bedeutung für die Entwicklung des Stiftslebens aufzuzeigen. Ihre Erkenntnisse konnte sie aus dem reichen und vielfältigen Quellenfundus gewinnen, der nach Auflösung des Stifts am Anfang des 19. Jahrhunderts ins Staatsarchiv (damals Landeshauptarchiv) Wolfenbüttel gelangt war. Für ihr Vorhaben hat sie sowohl die mittel-

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alterlichen liturgischen Handschriften ausgewertet als auch die reichen Urkundenbestän- de, die u. a. Aufschlüsse über die Stiftungspraxis und die wirtschaftliche Verwaltung der Stiftungen gibt, die Kopialüberlieferung und den Aktenbestand mit den zahlreichen Rechnungen, die auf verschiedene Ämter zurückzuführen sind und somit bestimmte Be- reiche des Stifts beleuchten, herangezogen. Einen Einblick in diese verschiedenartigen Quellen geben im Übrigen die im Anhang präsentierten Abbildungen. Nach einer detaillierten und kritischen Vorstellung der für die Untersuchung in Frage kommenden Quellen wird zunächst die Entwicklung der liturgischen Stiftungen bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts dargestellt: dabei hat die Verfasserin die Chronologie der einzelnen Fest- und Memorienstiftungen akribisch rekonstruiert, unter Berücksichtigung der sozialen Herkunft der Stifter, sowie der Höhe der gestifteten Beträge, der Begünstig- ten und der Gestaltung der Stiftungen. Die Reorganisation des Stiftungswesens am Ende des 14. Jhs, die mit der finanziellen Schieflage des Stifts zusammenhing, wird anschlie- ßend skizziert. Auch für das 15. und 16. Jh. werden die neuen liturgischen Stiftungen dargelegt, wobei weitere Stiftungstypen wie Antiphonen- und Votivstiftungen im Ver- gleich zu den früheren Zeiten hinzukommen und gesondert betrachtet werden. So wird die mit der regen Stiftungspraxis einhergehende Intensivierung der liturgischen Tätigkeit im Stift deutlich. Der im Anhang angebotene, fingierte bzw. rekonstruierte Kalender der Stiftungen für das Jahr 1558/59 führt eindrucksvoll vor Augen, wie sehr diese Tätigkeit das Leben im Stift beansprucht und bestimmt haben muss. Ein weiterer Abschnitt wird den Rahmenbedingungen der Liturgie gewidmet: so- wohl der Raum (Ausstattung des Chores, Art und Ort der Beleuchtung, farbliche und ikonographische Beschreibung der verwendeten Paramente je nach Fest und Altar, das sog. Heilige Kreuz) als auch die Beteiligten und die Wahl der je nach Anlass unter- schiedlichen liturgischen Gewandung werden detailliert beschrieben. Der letzte An- hang bietet in tabellarischer Form einen hilfreichen Überblick dieser vor allem in dem spätmittelalterlichen, sogenannten Sakristeibuch festgehaltenen Bestimmungen. Infor- mationen zur begleitenden Musik (Chor, Orgel- und Glockeneinsatz) vervollständigen die Plastizität dieser Darstellung der liturgischen Handlungen am Kollegiatstift St. Bla- sius. In den letzten beiden Kapiteln werden diese ersten Erkenntnisse in einem breiteren Kontext eingeordnet und analysiert: einerseits soll die Untersuchung der Art der Fest- und Messstiftungen über die Entwicklung der Frömmigkeit zum Ende des Mittelalters Auf- schluss geben (Tradition bei der Heiligenverehrung, Intensivierung der Marienverehrung, Eucharistie- und Passionsfrömmigkeit), zum anderen werden die wirtschaftlichen Konse- quenzen der Stiftungspraxis für das Stift erörtert (Teilnahme an Rentengeschäften, Ver- teilung der Einnahmen auf die Stiftsangehörigen usw.). Trotz des Fehlens zweier Regelaufzeichnungen (Consuetudines und Ordinarius), die für die Erforschung der Feier der Liturgie üblicherweise als aufschlussreiche Quellen he- rangezogen werden, ist es Irmgard Haas auf eindrucksvolle Weise gelungen, durch die ausführliche Auswertung so unterschiedlicher Quellen wie Urkunden, liturgischen Hand- schriften, Rechnungen und Amtsbücher, ein umfassendes Bild des Stiftungswesens am Stift St. Blasius bis ins 16. Jahrhundert hinein darzubieten. Dabei sind nicht nur – wie oft – die Memorialstiftungen, sondern auch weitere Stiftungen in die Untersuchung einge-

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schlossen worden. Diese sorgfältige und eingehende Rekonstruktionsarbeit lässt sich bei den zahlreichen einzeln dargelegten Fällen in beinahe jedem Kapitel ebenso wie bei den Zusammenstellungen der Quellenauswertungen in den Anhängen bemerkenswert ablesen und nachvollziehen und ermöglicht u. a. auch, einzelne Stiftsangehörige, die oft als Stifter auftraten, in einem neuen Licht zu betrachten. Gleichwohl konnte die Verfasserin die all- gemeinen Tendenzen der Entwicklungen der Stiftungspraxis und die Auswirkungen jener Praxis – etwa auf die Stiftsämter, die Wirtschaft, die Liturgie usw. – gut aufzeigen. Sie beweist damit, dass die Beschäftigung mit der „inneren Geschichte“, wenn auch aufgrund der Quellenlage nicht immer möglich, ein nicht aus den Augen zu verlierender Aspekt der Stiftskirchengeschichte sein sollte. Es bleibt zu hoffen, dass die Arbeit vergleichbare Stu- dien über andere Kollegiatstifte nach sich ziehen wird. Isabelle Guerreau, Wolfenbüttel

Josef D o l l e (Bearb.): Die Schatzverzeichnisse des Fürstentums Göttingen 1418-1527. Teil 1: Edition, Teil 2: Einführung und Handschriftenbeschreibung (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 54). Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2011, 987 S., Karten, 68,00 €

Die Publikation mittelalterlicher Urkunden schreitet in Niedersachsen voran wie kaum in einem anderen Bundesland, sei es in Form von Fondseditionen (zuletzt: Kloster Lüne, Augustinerchorfrauenstift Dorstadt, Jacobikloster in Osterode) oder als Pertinenzurkun- denbücher (z. B. UB Stadt Braunschweig Bd. 5-8, UB der Bischöfe und des Domkapitels von Verden). Die Veröffentlichung von registerförmigen Quellen wie Lehnbücher, Urbare und Rechnungen, wie wir sie im späten Mittelalter in größerem Umfang in niedersächsi- schen Territorien vorfinden, darf darüber nicht vernachlässigt werden. Unpublizierte Urkundenfonds sind in den Archiven durch Findbücher schon bis zu einem gewissen Gra- de erschlossen. Für registerförmige Quellen gilt das nicht, eine Indizierung von Personen, Orten und Sachbegriffen, die sie benutzbar machen würden, verbietet sich in den Archi- ven wegen des immensen Aufwandes. Hier hilft nur die herkömmliche Edition durch Spezialisten. Einen Sonderfall der sperrigen Quellen in Registerform stellen die landesherrlichen Steuerbücher des 14. und 15. Jh. dar, deren überlieferte Gesamtzahl bis zum Beginn des 16. Jh. im Deutschen Reich auf rund 700 geschätzt wird (von einfachen Steuerlisten bis hin zu detaillierter Erfassung). Für die Entstehung der Landesherrschaften, die Heraus- bildung der Amtsbezirke, aber auch für die ländliche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sind derartige Verzeichnisse von hohem Quellenwert. Von den welfischen Territorien war bislang im wesentlichen nur das Fürstentum Lüneburg mit Editionen regional begrenzter Schatzverzeichnisse aus dem 15. Jh. bedacht worden (durch Rudolf Grieser 1934 und 1942). Nun legt Josef Dolle für den Bereich des Fürstentums Göttingen, dessen Weg zu einem eigenständigen Territorium insbesondere durch die Herrschaftsteilung von 1345 markiert ist, eine monumentale Edition der im Stadtarchiv Göttingen verwahrten Steuerbücher von 1418 bis 1527 vor (Editionstexte im ersten Band S. 1-641!). Besonderes Interesse verdienen diejenigen Verzeichnisse, die sich

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 256 Rezensionen und Anzeigen auf das gesamte Land Göttingen oder weite Teile davon beziehen, nämlich die Register von 1418 (S. 11-96) und 1448 (S.107-217), dazu einige Veranlagungslisten und Einnahme- verzeichnisse aus späterer Zeit. Alle anderen edierten Texte betreffen im Wesentlichen das engere Gebiet um die Stadt Göttingen. Die von Dolle edierten Quellen sind nach herzoglichen Ämtern und adeligen Gerich- ten gegliedert, so auch die Verzeichnisse von 1418 und 1448. Adels- und Klosterbesitz war zunächst nicht steuerpflichtig, wurde aber dennoch pauschal angegeben (nicht 1418). Der besondere Aussagewert der beiden Aufzeichnungen liegt darin, dass die steuerpflichtigen Dorfbewohner, d. h. die männlichen Haushaltsvorstände, namentlich einzeln erfasst sind: 1418 mit der Stückzahl des Viehbestandes (Pferde, Rinder, Schweine, Schafe) und mit pauschalen Geldbeträgen je Dorf, 1448 dagegen ohne Viehbestand, aber häufig mit Geld- beträgen pro Haushaltsvorstand. Die Erhebung der Steuern wurde in der Stadt Göttingen von den dortigen Ratsherren und -schreibern organisiert. Da ihre oft unsystematisch und konfus geführten Aufzeichnungen aus sich heraus schwer verständlich sind, hat Dolle sich entschlossen, sie in ihrem zeitgeschichtlichen Zusammenhang zu würdigen und in wichtigen Punkten selbst auszuwerten. Herausgekommen ist dabei eine grundlegende Untersuchung zur Steuerpraxis in den göttingischen Landen, zum Werden des Territo- riums, zur Ständegeschichte und den Landtagen im gewählten Zeitraum. Die bescheiden als „Einführung“ betitelte Abhandlung nimmt fast die Hälfte des zweiten Bandes ein. Der Rest des zweiten Bandes enthält eingehende Handschriftenbeschreibungen, Statistische Anhänge, Quellen- und Literaturverzeichnis, Karten und Index der Personen- und Orts- namen. Die Gestaltung der Edition im ersten Band lässt keine Wünsche offen. Sie kann die tabellarische Form der handschriftlichen Vorlagen im Druck breit zur Geltung brin- gen, da sie nicht mit den Zwängen der Raumersparnis zu kämpfen hat, wie sie eine Publi- kation solcher Quellen in Aufsatzform in wissenschaftlichen Zeitschriften und Sammel- bänden mit sich bringt. Dolles Quellenwerk ist für die braunschweigische Landesgeschichte nicht nur als potenzielle Vergleichsstudie interessant. Es liefert vielmehr auch einen direkten Beitrag zur Geschichte des Landes insofern es die beiden späteren herzoglich-braunschweigi- schen Amtsbezirke Gandersheim und Seesen berücksichtigt (1418 mit Namen der Haus- haltsvorstände mit Viehbestand und Pauschalbeträgen je Dorf S. 84-96; desgleichen 1448, aber ohne Viehbesitz S. 158-173). Bemerkenswert ist, dass 1448 die Haushaltsvorstände jeweils als Ackermann oder Kötner klassifiziert werden. Im zweiten Band wertet Dolle die Angaben von 1418 statistisch aus (S. 819-826). Da die beiden Amtsbezirke auch später noch in den göttingischen Steuerlisten vorkommen, ist davon auszugehen, dass sie erst mit der welfischen Herrschaftsteilung im Jahre 1495 dem braunschweigischen Land angeglie- dert wurden (Dolle, S. 669f.; vgl. Kleinau, GOV Nr. 1898). Das Gleiche gilt auch mehr oder weniger für die Stauffenburg bei Gittelde und das kleine Amt Fürstenberg am Sol- ling (Dolle, S. 680, 666f.). Die Stadt Holzminden, an der der wolfenbüttelsche Herzog Heinrich der Friedfertige († 1473) ein Viertel besaß, fehlt erst 1518 in den göttingischen Veranlagungslisten, erst dann dürfte sie dem wolfenbüttelschen Herzog steuerpflichtig geworden sein (a. a. O. S. 667f.). Zur Geschichte Holzmindens und benachbarter Orte ver- öffentlicht Dolle ferner in einem Anhang eine umfangreiche Klageschrift des göttingi- schen Herzogs Otto Cocles von 1410 mit Namen von Bewohnern und eingehenden Auf-

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listungen von erlittenen Schäden (a. a. O. S. 602-610). Dolles Edition wirft also ein Schlaglicht auf die territoriale Vorgeschichte wichtiger Teile des braunschweigischen Landes. Für den Kernbereich des Landes beiderseits der Oker ist an solche Quellenzeugnisse in dieser Zeit nicht zu denken. Immerhin liegen ein Verzeichnis über eine partielle Steuer- erhebung in den wolfenbüttelschen Gerichten Schöppenstedt, , Salzdahlum, Jerx- heim, Campen und Vogtsdahlum von 1422 und eine landesweite Veranlagungsliste von ca. 1413 vor, die beide in Handschriften im Stadtarchiv Braunschweig überliefert sind (siehe Braunschweigisches Jb. für Landesgeschichte 92, 2011, S. 29-51 mit Edition). Im Lichte des Quellenwerks von Dolle erscheint es umso dringlicher, das immer noch unveröffent- lichte umfangreiche Register von Abgaben und Diensten aus den Dörfern der Gerichte Salzdahlum, Evessen, Schöppenstedt, Asseburg und Beddingen, das in das Jahr 1405 datiert werden kann, zu bearbeiten (gleichfalls im Stadtarchiv Braunschweig überliefert). Außerdem ist auf die sehr umfangreichen Steuerbücher der Herren von Bartensleben im Nordosten des Landes von 1435-36, 1462-69, 1471 hinzuweisen (a. a. O. S. 31f.) (in Privat- besitz). Ulrich Schwarz, Wolfenbüttel

Dietrich W. P o e c k : Die Herren der Hanse. Delegierte und Netzwerke (Kieler Werkstü- cke, Reihe E: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 8). Frankfurt a. M. u. a.: Verlag Peter Lang 2010, 768 S., 99,95 €

Die Frage nach dem Charakter und einer wie auch immer gearteten inneren Verfasstheit der Hanse hat mittlerweile Generationen von Forschern beschäftigt. Hingewiesen sei nur auf den zuletzt erschienenen Band des vor kurzem verstorbenen Ernst Pitz über „Bürger- einung und Städteeinung“ (2001). Einen interessanten Beitrag zu dieser Diskussion hat nun der Münsteraner Historiker Dietrich W. Poeck geleistet, der zuletzt durch seine Forschungen über die Rituale der Ratswahl in der vormodernen Stadt hervorgetreten ist, sich jedoch auch schon mehrfach zu Fragen der hansischen Geschichte geäußert hat. Poeck verfolgt in seiner Arbeit, deren Vorgeschichte bis in die frühen 1990er Jahre zurückreicht, einen konsequent prosopographischen Ansatz. In den Mittelpunkt stellt er dabei verwandtschaftliche und partnerschaftliche Beziehungen zwischen einzelnen De- legierten auf den Hansetagen und die geschäftlichen und familiären Netzwerke, in die diese Personen eingebunden waren. Dabei interessiert Poeck v. a. die Frage, wie diese Verflechtungen das Handeln im Kontext der hansischen Politik bestimmten. Da eine solche anspruchsvolle Arbeit für die Gesamtheit der Hansetage von einem Einzelnen nicht zu leisten ist, hat Poeck exemplarisch die Hansetage zu Johannis Baptis- tae 1379 und 1418 ausgewählt und für beide Treffen ausgehend von den Vertretern der Stadt Lübeck die Delegierten und ihre Netzwerke systematisch und tiefschürfend unter- sucht. Die dabei durch die Untersuchung von insgesamt 111 Personennetzwerken erzielten Ergebnisse sind beeindruckend, da sie zum einen die weitgespannten Beziehungsgeflech-

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 258 Rezensionen und Anzeigen te der Hansekaufleute, die nicht selten von Flandern bis Livland und von Gotland bis ins Rheinland reichten, aufzeigen, sondern auch eine sehr interessante „innerhansische“ Mo- bilität deutlich machen. Es gelingt Poeck in nachvollziehbarer Weise aufzuzeigen, dass es die hansischen De- legiertennetzwerke sind, die die auf den Hansetagen gefassten Beschlüsse bestimmen. „In den Beratungen und Diskussionen des Hansetages wurden die einzelnen Netzwerke von den Herren der Hanse zum Netzwerk Hanse verbunden.“ (S. 511) Die Vorstellung einer angeblich seit der Mitte des 14. Jahrhunderts bestehenden „Städtehanse“ ist damit erneut erfolgreich in Zweifel gezogen worden. Die Stadt Braunschweig war auf den beiden untersuchten Hansetagen zwar nicht prä- sent, taucht aber in den Beziehungsgeflechten mehrerer Teilnehmer an durchaus promi- nenter Stelle auf. Beispielhaft sei hier das Netzwerk des Lüneburger Ratsherrn und Bür- germeisters Albert Hoyke (1353-1406) genannt, der mit dem Großen Bürgermeister der Braunschweiger Altstadt, Hermann von Vechelde, den Altstädter Ratsherren Konrad von Ursleve und Heyno van dem Kerkhove, den Neustädter Ratsfamilien Reben und Gherwen sowie der Säcker Ratsfamilie Lutzeke verwandt war bzw. in engen geschäftlichen Bezie- hungen stand. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die – angesichts des Gegenstands ver- ständlich – nicht immer ganz leichte Lektüre des Bandes nicht nur neue Einsichten in den Charakter der Hanse vermittelt, sondern auch neue Ansätze für eine unbedingt wieder zu aktivierende Forschung zur Geschichte der Hansestadt Braunschweig liefert. Henning Steinführer, Braunschweig

Berndt S t r o b a c h : Privilegiert in engen Grenzen. Neue Beiträge zu Leben, Wirken und Umfeld des Halberstädter Hofjuden Berend Lehmann (1661-1730), 2 Bde. Bd. 1: Darstel- lung, Bd. 2: Dokumentensammlung. Berlin: epubli GmbH 2010, 171 S. bzw. 124 S., zahl- reiche s/w-Abb., 20,00 € bzw. 16,00 €

Vor allem zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und dem Beginn des Emanzi- pationsprozesses spielten die sogenannten Hofjuden oder Hoffaktoren eine wichtige Rolle für die Geschichte der mitteleuropäischen Höfe. Zu den bedeutendsten Hofjuden seiner Zeit zählte der Halberstädter Berend Lehmann, der für die Höfe von Preußen, Hannover und vor allem für August den Starken in Sachsen tätig war. Die vorliegende zweibändige Biographie über ihn weist darüber hinaus auch interessante Bezüge zum alten Braun- schweiger Land auf. Auf ein Kapitel zur wechselhaften Rezeptionsgeschichte folgt eine ausführliche Dar- stellung der Bedeutung Lehmanns für seine Heimatstadt, wo seit 2001 ein Museum an sein Wirken erinnert. Das Buch behandelt u. a. die Lebens- und Wohnbedingungen der Juden in Halberstadt um 1700, als dies die Stadt mit der zahlreichsten jüdischen Bevölke- rung Preußens war, nicht zuletzt wegen der günstigen Lage zu den Handelsplätzen Mag- deburg, Braunschweig und vor allem Leipzig. Der Autor kann eine ganze Reihe von Bauten nachweisen, die von Lehmann errichtet oder erworben wurden. Die prächtige Barocksynagoge, die er der Jüdischen Gemeinde

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finanzierte, wurde 1712 eingeweiht. Teilweise sind die Spuren seiner intensiven Bautätig- keit noch heute im Stadtbild sichtbar. Aus braunschweigischer Perspektive von besonderem Interesse ist das dritte Kapitel, in dem es um Lehmanns Aktivitäten in dem kleinen Fürstentum Blankenburg geht, das unter Herzog Ludwig Rudolf zu einer modernen Residenz ausgebaut werden sollte. In diesem Zusammenhang erhielt er auch mehrfach Darlehen von Berend Lehmann. 1717 durfte dieser in Blankenburg sogar ein herrschaftliches Gut erwerben und wurde damit einer der wenigen privilegierten jüdischen Landbesitzer seiner Zeit. Das stattliche Herrenhaus wird heute von der Stadtverwaltung genutzt. Dort erinnern die beiden den Wappenschild über dem Eingang haltenden Bären und die Jahreszahl 1717 an den einsti- gen Besitzer des Gebäudes. Bei dem alljährlichen höfischen Karneval war das Lehmann- sche Herrenhaus häufig Schauplatz von Maskeraden und Theateraufführungen. Doch nicht nur als Finanzdienstleister und Grundbesitzer spielte Lehmann in Blan- kenburg eine Rolle. Kurz nach dem Erwerb des Gutes nämlich startete er ein weiteres Unternehmen, das im Zusammenhang mit seinem Engagement für das religiöse Leben der Jüdischen Gemeinschaft stand. Ab 1696 hatte er bereits den ersten Druck des Babylo- nischen Talmud in Deutschland finanziert und plante nun, in Blankenburg ein weiteres hebräisches Buch herauszubringen, nämlich ein umfangreiches Kommentarwerk zum 1. Buch Mose. Detailliert stellt Strobach die Schwierigkeiten dar, mit denen Lehmann in der Folge zu kämpfen hatte. Nachdem der Versuch gescheitert war, das Werk in einem in Blankenburg ansässigen Betrieb durch einen jüdischen Drucker publizieren zu lassen, er- hielt Lehmann vom Herzog das Privileg für eine eigene Druckerei, allerdings mit zahl- reichen Auflagen, von denen sich diejenigen über die Zensur der zu druckenden Texte als entscheidend herausstellen sollte. Sowohl ein Helmstedter Universitätsprofessor als auch der Pastor der Gemeinde Cattenstedt mussten jede Seite begutachten, bevor sie in Druck gehen durfte. Nicht nur inhaltliche, sondern auch finanzielle Schwierigkeiten verzögerten den Druck immer wieder, so dass der von Lehmann eigens hergeholte Drucker sein Wir- ken in der Residenz abbrach und den begonnenen Druck 1719 in Jeßnitz zu Ende führte. In einem Exkurs wird ein Blick auf weitere Juden geworfen, die zur selben Zeit wie Lehmann in Blankenburg und im braunschweigischen Harz tätig waren. Dabei wird eine vierfache Schichtung der im Blankenburger Raum anzutreffenden Juden sichtbar: Zu- oberst der reiche, durch Wohn- und Besitzrecht privilegierte Hofjude, darunter die nur als Tagesbesucher geduldeten bescheidenen Marktjuden, von ihnen durch „Pacht“ abhängige ärmere Subunternehmer und ganz unten die illegalen umherschweifenden Hausierer. Das vierte Kapitel beleuchtet ein Unternehmen, das der sechzigjährige Lehmann auf dem heiklen Feld der auswärtigen Politik unternahm und basiert auf Recherchen des Au- tors im Hauptstaatsarchiv Dresden. Detailliert schildert er, wie Lehmann einige Jahr- zehnte vor der tatsächlichen Teilung Polens dem Kurfürsten von Sachsen – damals auch König von Polen – und dem König von Preußen ein Projekt zur Teilung jenes Landes unterbreitete. Hier allerdings überschätzte der Hofjude seine Möglichkeiten im Umgang mit den adligen Diplomaten Preußens, Russlands, Sachsens und des Kaiserhofs. Die Plä- ne scheiterten, und Lehmann erfuhr Hohn und Erniedrigung. Ergänzt wird der erste Band durch nützliche Anhänge, u. a. eine Chronologie, die die Eckdaten aus dem Leben Berend Lehmanns den gleichzeitigen Ereignissen in Politik und

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Kultur gegenüberstellt, ferner durch mehrere Stammtafeln, ein Glossar wichtiger verwen- deter Sachbegriffe und Wortbedeutungen sowie ein Personenregister. Während sich der erste Band der Publikation auch an interessierte Laien wendet, soll der zweite Band mit der Dokumentensammlung Wissenschaftlern und Studierenden ein tieferes Eindringen in die Thematik ermöglichen. 55 Dokumente aus verschiedenen Archiven (u.a. Berlin, Dresden, Halberstadt, Magdeburg und Clausthal-Zellerfeld) sind hier sorgfältig ediert und mit Erläuterungen versehen. Besonders hingewiesen sei auf die Nummern 26-37 aus dem NLA-Staatsarchiv Wolfenbüttel, die sich mit den Blanken- burger Ereignissen befassen. Insgesamt kommt Strobach zu einer differenzierten Einschätzung des Hofjuden, der in den Dresdener Akten weniger heroisch erscheine als in der älteren Literatur dargestellt. Bemerkenswert findet er aber, dass Lehmann in seinem außenpolitischen Mitgestaltungs- willen deutlich über den Rahmen dessen hinausging, was bei seinen Standesgenossen an politischer Aktivität bisher beschrieben worden ist und für einen Juden im frühen 18. Jahrhundert „eigentlich“ denkbar gewesen sei. Mancherlei neue Aspekte entdeckt er außerdem im Hinblick auf Lehmanns baulichen Aktivitäten, sein geschicktes Geschäfts- gebaren im Umgang mit Herzog Ludwig Rudolf und sein Engagement für den Druck reli- giöser Literatur. In den letzten Jahren hat sich die Forschung verstärkt mit dem Phänomen der Hofju- den befasst. Mit der vorliegenden, auf profunder Quellenrecherche basierenden Studie hat der Autor hierzu einen wichtigen Beitrag geliefert. Silke Wagener-Fimpel, Wolfenbüttel

Stephan H u c k : Soldaten gegen Nordamerika. Lebenswelten Braunschweiger Subsidien- truppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (Beiträge zur Militärgeschichte 69). München: Oldenbourg Verlag 2011, 317 S., zahlr. Tab. u. Grafiken, 39,80 €

In den Jahren 1775 bis 1783 kämpften 13 britische Kolonien in Nordamerika für ihre Un- abhängigkeit von der britischen Krone. Letzte Auslöser waren die berühmte „Boston Tea Party“ am 16. Dezember 1773 und erste militärische Disziplinierungsmaßnahmen. Am 4. Juli 1776 erklärten die Kolonien ihre Unabhängigkeit. An dem Krieg waren auch deutsche Truppen beteiligt, unter ihnen die Truppen des Herzogs von Braunschweig. Am 9. Januar 1776 unterzeichnete Herzog Karl I. von Braunschweig-Lüneburg den ersten von insgesamt fünf Subsidienverträgen mit dem Königreich Großbritannien gegen dessen aufständische Kolonien in Amerika. Von 1776 bis 1783 schickte das Herzogtum mehr als 5.000 Braun- schweiger Soldaten nach Amerika. 2902 von ihnen kehrten nicht mehr in die alte Heimat zurück. Lange Zeit üblich war die Betrachtung der Subsidienverträge des ausgehenden 18. Jahrhunderts als Mittel eines überlebten Herrschaftsprinzips, nicht nur der Deckung fi- nanzieller Bedürfnisse dienend, sondern auch der Stärkung fürstlicher Macht. Inzwischen sind durch zunehmende Beschäftigung mit der Militärgeschichte und die Übertragung von alltags-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen auf die Forschung neue Impulse gesetzt. Während bisher die Arbeiten der Historiker nahezu gemeinsam den

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einzelnen eingesetzten Soldaten nur schemenhaft erkennbar werden ließen, beschränkten sie sich auf die Darstellung zweier Aspekte: Den Soldaten als Gegenstand der Werbung und den Soldaten als Deserteur auf dem amerikanischen Kriegsschauplatz, in beiden Fäl- len als Objekt staatlicher Willkür. Ein wesentliches Ergebnis aktueller Forschung sieht der Autor in der Erkenntnis, dass das bisher gesehene Bild des Weges, der sich von der Zwangsrekrutierung bis zur Desertion erstreckt, deutlich erweitert werden muss, weil sich auch dem frühneuzeitlichen Söldner größere Handlungsspielräume boten, als lange Zeit angenommen. Mit neuer Fragestellung verfolgt er daher die Absicht, dem einzelnen Sol- daten der Braunschweiger Subsidientruppen während des Einsatzes in britischem Sold auf dem Schauplatz des nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges vor seinem persön­ lichen und vor dem politischen Hintergrund nachzuspüren. Er strebt an, ein Gruppen­ porträt des Braunschweiger Truppenkörpers und seiner Soldaten zu erstellen und zugleich die Darstellung ihrer Lebenswelten, die „gesellschaftlich konstituierte, kulturell ausge- formte, symbolisch gedeutete Wirklichkeit“ (Zitat R. Vierhaus) des Lebens der Soldaten, deutlich zu machen. Sehr klar strukturiert wird dieser Teil der Betrachtung in seinen Einzelteilen, von den „Rahmenbedingungen des Einsatzes“ (S. 25-40) bis zu den „Strukturen der einge- setzten Verbände“ (S. 40-121) untersucht. Von der Analyse des Rekrutenbedarfs bis zu den Werbemethoden, von der Abwägung zwischen freier Werbung oder Dienstverpflich- tung von Landeskindern, letzteres vom Herzog aus ökonomischen Gründen wie auch aus landesväterlichem Pflichtgefühl kategorisch abgelehnt, werden die Hintergründe mit- samt der am Hofe geführten und auch von Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem und Gotthold Ephraim Lessing begleiteten Diskussion vorgestellt. Die Organisation der Wer- bung (S. 64-79) und die Motivation, Dienst zu nehmen (S. 79-86) werden untersucht und auch die Gesichtspunkte für die Angeworbenen wie Karrierehoffnungen, Abenteuerlust, Auswanderungsabsicht oder die Versorgung von Familienangehörigen. Immerhin ver- sorgten 1450 aus Braunschweig stammende Soldaten ihre Familien so mit einem regel- mäßigen Einkommen. Ausführlich analysiert wird die Sozialstruktur der Braunschwei- ger Truppen, deren Inländeranteil beim Ausmarsch 58 % betrug. Die Mehrzahl der übrigen Angeworbenen kamen wiederum aus Regionen in direkter Nachbarschaft, die Übrigen aus aller Herren Länder, vereinzelt sogar Kanadier und Amerikaner, darunter auch acht Farbige (S. 91). Der konfessionelle Anteil der Protestanten beim Ausmarsch betrug 91 %, das Alter der Soldaten der Infanterieregimenter beim Ausmarsch im Schnitt 30 und 31 Jahre, das des Dragonerregiments 26 Jahre, die Soldaten der nachgeführten Rekrutentransporte waren dann jünger und im Altersdurchschnitt 24 bis 25 Jahre alt, einzelne aber bereits 50 Jahre. Den Zwang bei der Werbung übten weniger die Weber als vielmehr die Lebensumstände aus, die den Geworbenen wenig Alternativen für den Broterwerb boten. Bei dem Aufstellungsprozess, in dem schon in Braunschweiger Diensten stehende Landeskinder als professionelles Rückgrat und neu geworbene Ausländer zusammen fünf Regimenter und zwei Bataillone formierten, dominierten ledige, jüngere Männer ohne genau zu bestimmenden beruflichen Hintergrund oder mit einfachen krisenanfälligen Berufen, die vornehmlich der Deckung des dreifachen Grundbedarfs an Kleidung, Nah- rung und Wohnung dienten. Der Anteil der Verheirateten lag in den untersuchten Regi-

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mentern zwischen 17,1 und 40 % der Soldaten, auch abhängig von der Rekrutierung aus der Garnison und der Länge der Verpflichtung. Der verheiratete Soldat galt dem Dienst- herrn als besonders loyal. Es haben auch vor dem Ausmarsch der Truppen regelrechte „Kriegsheiraten“ stattgefunden (S. 103). Etwa 4 % der nach Amerika verschifften Perso- nen waren Soldatenfrauen, so lebten also Teile der Braunschweiger Soldaten dort durch- aus in festen Beziehungen. Probleme ergaben sich aus der „Weiträumigkeit des Kriegs- theaters“ (S. 260), das besondere Herausforderungen an die Logistik vor dem Hintergrund extremer Kälte und ungewohnter sommerlicher Hitze stellte. Unglücksfälle, in erster Li- nie Tod durch Erfrieren und Ertrinken, forderten ähnlich hohe Opfer wie tödliche Ver- wundungen im Gefecht. Ein zweiter Hauptteil widmet sich dann dem Komplex „Ereignisse und Lebenswel- ten“. Das wird interessant vor dem Hintergrund, dass hier das Schicksal der Gemein- schaft mit besonderem Blick auf die Rolle des Einzelnen nachgezeichnet und ergründet werden soll. Dabei ist es das Ziel, mit Rückgriff auf die Methodenvielfalt der verschie- denen Disziplinen der Forschung die Vorzüge dieser Ansätze miteinander zu kombinie- ren. Beste Überlieferungslage ist dafür durch die Vielfalt von Briefen, persönlichen Berichten, Tagebuchnotizen, Bildern, Statistiken und offizieller Korrespondenz gege- ben und ausgewertet. Die Truppe wird dargestellt auf dem Marsch von der „Alten“ in die „Neue Welt“, bei der es keine einzige Desertion gab (S. 123-134) und im Kampf „Die Feldzüge der Jahre 1776/77“ (134-175) mit der Untersuchung von Krankheit, Verwundung und Tod als „struk- turellem Phänomen und individuellem Erlebnis“ und auch der Fahnenflucht. Der Feldzug des Jahres 1777 endete für die Braunschweiger Truppen in einem Desaster, der Gefangen- schaft (S. 175-207). 539 Braunschweiger Soldaten befanden sich danach in amerikani- scher Kriegsgefangenschaft, weitere etwa 1800 Soldaten waren nach Saratoga in so genannte Konventionsgefangenschaft geraten. Vielfältig sind die Schicksale, Problemstel- lungen und Perspektiven der Braunschweiger in der Gefangenschaft, die erst 1783 im Zuge der Friedensverhandlungen mit dem verabredeten Austausch endete. 407 Desertio- nen aus der Gefangenschaft sind offiziell belegt. Der Abschnitt „In Garnison: Der Krieg in Kanada“ (S. 207-230) behandelt das besondere Schicksal der nicht auf dem Territorium der heutigen USA, sondern im benachbarten Kanada eingesetzten Truppen. Der endgülti- ge Friedensvertrag am 3. September 1783 mit der Loslösung der ehemaligen britischen Kolonien vom Mutterland brachte das Ende des Krieges. Das Gros der Truppen lief am 24. September in Stade ein und erreichte nach zweiwöchigem Fußmarsch am 9. Oktober Braunschweig. „Multinationalität“ versus ständischer Universalismus – Selbst- und Fremdbilder des sozialen und kulturellen Umfeldes (S. 235-258) behandelt in 4 Unterkapiteln Deutsche, Briten, Royalisten, ‚Rebellen‘ und ‚Habitants‘ und Indianer. Die große räumliche Distanz zur Heimat, die erste Konfrontation mit den Gedanken der Demokratie und eine erste multiethnische Perspektive durch die Begegnungen mit Indianern, die beide Seiten unterstützten, und versklavten Schwarzen, sind dabei einige der Aspekte, die das Bild aus dem Rahmen der universalen, ständisch gegliederten „Alten Welt“ mit neuen Perspektiven versahen. Dabei handelte es sich nicht um einen dynasti- schen Krieg, wie er den Soldaten vertraut war, sondern in erster Linie um einen Bürger-

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krieg und mit dem Eintreten der Amerikaner für die Idee einer Nation auch um eine Re- volution. Es bleibt die Frage danach, wer die Menschen waren, die im nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg von ihrem Landesherrn vermietet wurden: Waren es geknechtete Fürstendiener oder waren es Freiwillige, die den Soldatendienst wählten, um den Weg in eine bessere Zukunft in der Neuen Welt anzutreten? (S. 259). Die Dissertation sieht die Antworten in den vielen Facetten der Epoche der atlantischen Revolution als einer Sattel- zeit, die bereits Strukturen und Lebenswelten durchdrang. Vor der Folie der Multinationa- lität und der Multiethnizität des Einsatzes begannen auch die Soldaten in nationalen Kate- gorien zu denken. Die landsmannschaftliche Herkunft trat dabei deutlich hinter die Deutschstämmigkeit und Zugehörigkeit zum deutschen Sprachraum zurück. Insgesamt bleibt die Rolle der Braunschweiger Truppen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg randständig. Im Übergang vom noch ständisch geprägten 18. zum bürgerlichen 19. Jahrhundert konnte ein Krieg nur noch dann zu emotionaler Beteiligung der handelnden Akteure füh- ren, wenn er deren eigene Interessen berührte, doch dies war für die Braunschweiger Truppen nicht der Fall. Die hier zu besprechende Arbeit hat sehr differenziert ein Gruppenporträt des Braun- schweiger Truppenkörpers und seiner Soldaten sowie ihrer Lebenswelten erarbeitet. Die archivalischen Quellen sind intensiv erschlossen, das Verzeichnis der gedruckten Quellen und der Literatur umfasst mehr als 350 Titel. 24 Grafiken, 27 Tabellen und ein Personen- verzeichnis vervollständigen das inhaltsreiche und auch von der äußeren Aufmachung sehr ansprechende Buch.

Horst-Rüdiger Jarck, Wolfenbüttel

Stefan K r a b a t h : Luxus in Scherben. Fürstenberger und Meißener Porzellan aus Gra- bungen. Dresden: Landesamt für Archäologie Sachsen 2011, 64 S., 87 farbige Abb., 9,50 €

Eine Ausstellung nur mit Porzellanfragmenten aus dem Müll – dieses ungewöhnliche Konzept stellt der vorliegende Katalog vor: Während repräsentatives Geschirr vor allem in fürstlichen Porzellansammlungen museal erhalten blieb (z. B. im „Japanischen Palais“ in Dresden: S. 55-59), wurde das Gebrauchsgeschirr in bürgerlichen Haushalten bis zum Verschleiß benutzt und dann weggeworfen. Solche Scherben, von Archäologen aus Latri- nen städtischer Haushalte und Abfallgruben der Manufakturen geborgen, belegen nun seine Verwendung und werfen ein neues Licht auf die Herstellungsverfahren und beson- ders auf die bürgerliche Alltagskultur früherer Jahrhunderte (Vorwort S. 3: Regina Smol- nik, Heike Pöppelmann, Thomas Krueger; S. 16, 37). Das Sächsische Landesamt für Archäologie zeigte im Jahr 2010 in Dresden „Frag- mente einer Legende – Weißes Gold aus Grabungen“. Jene Schau wurde dann in Zusam- menarbeit mit dem Braunschweigischen Landesmuseum (BLM) und dem Museum im Schloss der Porzellanmanufaktur Fürstenberg verändert und wanderte unter neuem Titel im Jahr 2011 nach Braunschweig, 2012 nach Fürstenberg. Ergänzend zeigte das BLM – leider ohne Begleitpublikation – in Wolfenbüttel umfangreiche Ergebnisse hiesiger Aus-

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 264 Rezensionen und Anzeigen grabungen („Residenzarchäologie in Braunschweig und Wolfenbüttel“). In Fürstenberg stand der früheste in Europa nachgewiesene und mit Überresten erhaltene Porzellan- brennofen (S. 29-30) im Mittelpunkt der Präsentation. Der Begleitband zur Wanderausstellung beschreibt die Geschichte des Porzellans, seine Herstellungstechniken sowie seine Vorläufer aus Steinzeug und Fayence. Porzellan war ein kostbares Produkt, in China erfunden und in Europa lange nur an Fürstenhöfen vorhanden. Im 17. und 18. Jh. wurde es dann in größerer Menge durch die niederländi- sche Vereinigte Ostindische Companie aus Asien eingeführt (Karte der Seewege: S. 8-9) und auf den Messen, z. B. in Leipzig, verkauft. Diese Importware konnten sich überwie- gend nur begüterte Adelsfamilien leisten. Erst nach seiner Neuerfindung in Sachsen um 1710 durch Johann Friedrich Böttger und der Gründung deutscher Manufakturen – z. B. Meißen in Sachsen und Fürstenberg im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel (S. 6-7, 19, 35) – fand das „weiße Gold“ seinen Weg auch in bürgerliche Haushalte. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein blieb es jedoch ein Luxusgut, erst im 19. Jh. begann die Massenproduktion. Es entstanden Fälschungen und Kopien beliebter Dekore, Konkurrenzunternehmen in Böhmen, Schlesien und Thüringen boten erschwingliche Kollektionen an. Das von Josiah Wedgwood in England als Ersatzmaterial erfundene Steingut wurde bereits seit dem 18. Jh. auch in Deutschland hergestellt. Die Verbreitung der Genussmittel Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak erweiterte die Produktpalette für Porzellan – isolierende Kannen, zierliche Schalen (Koppchen) und Tassen, bemalte Pfei- fenköpfe. Puppenstubeneinrichtungen und Puppenköpfe bezaubern noch heute. Ein be- sonderer Hingucker unter den Exponaten ist ein geblümtes Wasserklosett, um 1900 in London hergestellt und nach Dresden exportiert, eines der frühesten Exemplare in Sach- sen (S. 39). Anders als der neue Titel (s. o.) erwarten lässt, ist der Katalog zur Wanderausstellung weiterhin in seinen Schwerpunkten auf Sachsen und Meißen gerichtet, auch wenn er in Format und Layout, mit festem Einband und vorzüglichen Abbildungen, anderen Begleit- büchern zu Ausstellungen Fürstenberger Porzellans angeglichen ist (vgl. z. B. „Sammel- lust“, s. die nachfolgende Rezension). Deshalb greifen vermutlich vorrangig an braun- schweigischem Porzellan Interessierte eher zu einer der im Literaturverzeichnis (S. 60-62) genannten Veröffentlichungen. Wer aber eine fundierte, knappe Einführung in die Ge- schichte des Porzellans unter dem besonderen Blickwinkel seines Alltagsgebrauchs im deutschen Bürgertum bis ca. 1900 sucht, wird den vorliegenden, ansprechend gestalteten Band gern zur Hand nehmen. Ulrike Strauß, Braunschweig

Thomas K r u e g e r (Hrsg.): Sammellust. Eine Einführung in das Sammeln von Porzel- lan von FÜRSTENBERG. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Museum im Schloss der Porzellanmanufaktur Fürstenberg, 11.12.2010 – 3.4.2011. Mit Beitr. von Bern- hard von Barsewisch, Oliver Baustian, I. B., Thomas Engelke, Hans Dieter Flach, Holger Fischer, Thomas Krueger, Ulf Stein, Jens Storre und Max Michael Viol (Schriften zur Geschichte des Fürstenberger Porzellans 3, hrsg. vom Freundeskreis Fürstenberger Por- zellan e.V.). Holzminden: Verlag Jörg Mitzkat 2011, 168 S., zahlr. Abb., 24,80 €

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Dass Museen neben ihren eigenen Beständen auch Exponate aus Privatbesitz zeigen, be- darf keiner besonderen Erwähnung. Eine ganze Ausstellung nur aus privaten Leihgaben, deren Eigentümer auch selbst die begleitenden Aufsätze schreiben, ist hingegen unge- wöhnlich. Der „Freundeskreis Fürstenberger Porzellan e.V.“ konnte zehn passionierte Sammler dafür gewinnen (Monika Fricke-Klingel, S. 5), 2010/2011 im Museum im Schloss der Porzellanmanufaktur Fürstenberg ihre interessantesten Objekte auszustellen. Aus dieser Auswahl wurde ein chronologisch aufgebauter, „möglichst repräsentativer Querschnitt der gesamten Manufakturgeschichte“ (Thomas Krueger, S. 8). Neun Samm- ler beschreiben in dem hier vorzustellenden Begleitbuch ihren Einstieg in das Sammeln und ihre Interessengebiete. Jens Storre (S. 11-19) kann seltene Porzellanfiguren des 18. Jahrhunderts ohne ein- deutige Porzellanmarken der Fürstenberger Produktion zuordnen. Mit ihm gemeinsam sammelt Max-Michael Viol (S. 21-27), zusammen ergeben ihre Bestände einen Überblick über die Fürstenberger Produktion des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Ein von dem bisher wenig bekannten Landschaftsmaler Andreas Philipp Oettner (1735-1792) be- maltes Service aus Viols Besitz wird von Hans Dieter Flach (S. 29-45) in die von ihm erforschte Biographie dieses Künstlers eingeordnet. Bernhard v. Barsewisch (S. 47-49) verfolgt besonders die Dekorwanderung der sog. Blaumalerei vom chinesischen Vorbild über das Meißener Zwiebelmuster bis zum Bauernporzellan. Oliver Baustians (S. 51-61) Interesse gilt dem Empirestil von 1800 bis 1830 am Beispiel der Tassenmodelle. Span- nend sind in der Zeit des Königreichs Westphalen die Beziehungen zwischen Fürstenberg und Sèvres. Auch eine anonym bleibende Sammlung („I. B.“, S. 63-71) konzentriert sich auf eine bestimmte Tassenform des beginnenden 19. Jahrhunderts, die sog. Campanertasse, die auch – mit Sinnsprüchen bemalt – ein beliebtes Geschenk war. Thomas Engelke (S. 73- 77) zeigt Objekte des Art déco der 1920er Jahre, sein Interesse gilt aber dem ganzen 20. Jh. Mit Gedanken über die Schönheit des Fürstenberger Porzellans (S. 79-83) begleitet Holger Fischer seine Exponate. Ulf Stein (S. 85-87) sammelt ein Service von 1971 in viel- fältigen Dekorvarianten. Ohne Textbeitrag stellte Werner Klausch Münzen, Medaillen und Medaillons aus Fürstenberger Porzellan aus. Die privaten Sammler können ihre große Fachkenntnis und ihre Freude am Porzellan gut vermitteln. Besuchern der Ausstellung und Lesern des Begleitbandes, die von dieser Sammelleidenschaft angesteckt werden, will Thomas Krueger (S. 89-127) eine „Einfüh- rung“ in die Manufakturgeschichte und das Sammeln von Fürstenberger Porzellan geben. Tatsächlich aber bietet er eine eingehende Darstellung der Fürstenberger Entwicklung von 1747 bis heute, ergänzt durch die verständliche Beschreibung der Herstellung von Porzel- lan und praxisnahe Ratschläge zum Sammeln, die gewiss nicht nur für Anfänger eine gute Hilfe sind. Ein Literaturverzeichnis, weitere Literatur- und Quellenhinweise in den Anmerkungen zu den einzelnen Aufsätzen, sowie eine „Markentafel“ zur Datierung von Porzellan anhand der Bodenmarken runden den ansprechend gestalteten und mit vorzüglichen Farbfotos illus- trierten Band ab: „Sammellust“ ist eine gleichermaßen informative wie unterhaltsame Lek- türe für Liebhaber Fürstenberger Porzellans und solche, die es werden wollen. Ulrike Strauß, Braunschweig

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Christian J u r a n e k : Gegen eine ganze Zeit – der Schriftsteller und Zeichner Hans Graf von Veltheim (1818 – 1854) (Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Litera- tur 13). Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2011, 568 S., 80 s/w-Abb., 34,00 €

Das vorliegende Werk ist in vielfacher Hinsicht außerordentlich erstaunlich. Es ist zum einen erstaunlich durch den Facettenreichtum seines Gegenstands, es nähert sich darüber hinaus einer Edition, denn das zeichnerische Werk und vielerlei Aufzeichnungen Velt- heims werden wiedergegeben, soweit sie erhalten sind, und es ist schließlich ein Hilfs- mittel für verwandte Forschungen, denn nicht nur die Archivalien werden aufgeführt, sondern vor allem eine sehr reichliche Bibliographie über Zeit und Ort. Der Gegenstand des Buches ist in erster Linie Hans Graf von Veltheim. Er ist der Sohn des Grafen Werner von Veltheim, der von 1830 bis 1848 leitender Minister der braunschweigischen Regierung gewesen ist. Er entstammt also dem „schwarzen“, in Harbke ansässigen Zweig der Veltheimschen Familie. Hans Graf von Veltheim ist 1818 in Harbke geboren. Er besuchte in Braunschweig das Gymnasium und das Collegium Carolinum und schrieb sich zunächst an der Friedrich- Wilhelms-Universität in Berlin für das Jura-Studium ein. Wahrscheinlich hat er während der beiden Jahre seines dortigen Aufenthalts auch die Bekanntschaft von Karl Marx ge- macht. Ab Wintersemester 1839/40 war Veltheim an der Universität Göttingen einge- schrieben. Ob er tatsächlich studiert hat, muss bezweifelt werden. Sein Vater mahnte ihn vergeblich, sich mehr dem Studium zu widmen, und als Hans 1841 die Universität verließ, hatte er kein Abschlussexamen. Erst Einzelunterricht bei dem Braunschweiger Notar Eduard Trieps befähigte ihn, sich der Staatsprüfung zu stellen, die er dann mit der schwa- chen Note „hinlänglich“ bestand. Eine Tätigkeit Veltheims an einem braunschweigischen Gericht löste sich stillschweigend wieder auf. Er reiste, schloss manche Freundschaft, las, spielte Klavier und begann zu schreiben. Ein Karikaturenzyklus von ihm erschien, der Héliogabale, eine scharfe Abrechnung mit dem Julikönigtum Louis Philippes in Frank- reich. Dass sich das für einen Angehörigen des hohen Adels nicht schickte, erst recht nicht für den Sohn eines leitenden Ministers, hat Hans von Veltheim offensichtlich nicht be- dacht. Der Vater, ohnehin durch die mangelnde Zielstrebigkeit seines Sohnes erbittert, ließ jedenfalls die Karikaturen so weit wie möglich aufkaufen und vernichten. In diesen Jahren vor und nach der Revolution von 1848 entstanden die vier Dramen, die von Hans von Veltheim überliefert sind. Es sind dies „Seekönig“, „Splendiano“, „Die Erben der Zeit“ und „End’ und Anfang“. Juranek stellt sie alle durch eine ausführliche Inhaltsan- gabe vor. Immer geht es um grundlegende Umwälzungen des Staats- und Volkslebens, im- mer gibt es einen Helden, der an den Intrigen anderer Potentaten scheitert. Diese stützen sich zum Teil auf die Volksmassen, welche von den niedersten materiellen Begierden angesta- chelt werden. Die Handlung ist im Einzelnen oft verworren, lange Monologe sind kenn- zeichnend, die Dramen sind mehr geeignet, gelesen als gespielt zu werden. Es hat deshalb auch nur eine einzige Aufführung eines Veltheimschen Stückes gegeben, nämlich des „Splendiano“, und dies erst 1874 in Gera, lange nach dem Tode Hans von Veltheims. Man mag sein zeichnerisches Werk für bedeutsamer halten. Unveröffentlicht ist die aus 10 Blättern bestehende Serie „Vox populi, vox dei“ geblieben. Zeus, das ist der Inhalt, liest im Olymp das Wort „Vox populi, vox dei“ [die Stimme des Volkes ist die Stimme

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Gottes] und begibt sich nun nach Athen, um die Wahrheit dieses Ausspruchs zu erkunden. Dort hat er verschiedene Abenteuer zu bestehen, u. a. wird er grob aus einer Volksver- sammlung hinaus geworfen und schließlich als mutmaßlicher persischer Spion aus Athen entfernt. Zuletzt sieht man ihn wieder im Olymp, wo er einen Leserbrief an das Atheni- sche Volksblatt schreibt und sich gegen den obigen Ausspruch verwahrt. Aufsehen hat 1848 eine Karikatur des Grafen Hans in Braunschweig erregt. Sie stellt Aronheim und Lucius dar sowie in der Mitte August Hollandt, alle drei als lottrige Bän- kelsänger auftretend. Es waren die führenden und tatkräftigen Linksliberalen Braun- schweigs, Hollandt auch gewählter Vertreter der Stadt in der Frankfurter Nationalver- sammlung und dort als Vorsitzender des Volkswirtschaftlichen Ausschusses tätig. Vor der Buchhandlung, die die Karikatur ausgestellt hatte, gab es einen Auflauf, die empörte Volksmenge warf mit Steinen, dies auch auf das Veltheimsche Anwesen auf dem Bohlweg, und eine längere Presseauseinandersetzung folgte, denn einige sahen in der Karikatur eine Verunglimpfung der Männer, die das Volk vertraten, andere in dem Auflauf eine Beeinträchtigung der freien Meinungsäußerung. Hans v. Veltheim ging 1854 freiwillig in den Tod, gequält evt. durch eine Erbkrank- heit. Die tiefere Ursache könnte aber sein, wie Juranek mutmaßt, dass er als bürgerlicher Dichter nicht mehr im Widerspruch zu den aristokratischen Traditionen leben konnte. Und damit sind wir bei dem, was den Grafen Hans von Veltheim bedeutsam macht. Er stand zwischen den Zeiten. Er teilte offensichtlich die politischen Überzeugungen des Adels, konnte sich aber nicht dazu durchringen, zielbewusst eine entsprechende Tätigkeit im Staatsdienst, im Militär oder in Land- und Forstwirtschaft aufzunehmen oder wenigs- tens eine standesgemäße Heirat einzugehen. Der braunschweigische Adel selbst hatte wahrscheinlich erst in den Jahren nach 1840 gemerkt, dass er durch die antimonarchische Revolution von 1830 nicht auf die Siegerseite gelangt war. Es war ihm wahrscheinlich nicht klar, welche Position er einnehmen sollte, aber auch die bürgerliche Gegenseite wusste nicht deutlich, was sie eigentlich anstrebte. Hans v. Veltheim sympathisierte mit den alten Zuständen, aber er sah nirgends etwas Erstrebenswertes. Der alte Absolutismus, nicht sein Ideal, aber doch väterlich-gemütlich, war tot, erkannte er. Ein neuer Absolutis- mus wäre eine Art moderne Diktatur, das spürte er. Ein demokratischer Nationalstaat war für ihn nicht vorstellbar. So war denn unser Veltheim ein Symptom für die schwankende geistige Lage in Braunschweig und Deutschland. Das galt nicht nur für die Politik, das galt auch für die Kunst, wie Juranek deutlich macht. Das vorliegende Buch ist deshalb vor allem kultur- und geistesgeschichtlich von Bedeutung. Juranek geht mit großer Liebe zum Detail vor. Wir erfahren beispielsweise, welche Bücher des Großvaters unseres Veltheim, eines bedeutenden Forstmannes, in Goethes Bibliothek gestanden haben. Die Lehrer am Collegium Carolinum werden vorgestellt. Wir lernen die Anforderungen der verschiedenen Prüfungen kennen. Wir lesen Eindring- liches über die Gartenkultur der Zeit, vor allem über ihre psychische Bedeutung. In den reichlich beigegebenen geistes- und kulturgeschichtlichen Materialien finden sich Perlen, zum Beispiel ein ausführlicher Bericht von Hector Berlioz an Heinrich Heine über ein Konzert, das das hoch engagierte braunschweigische Orchester unter Berlioz’ Leitung für ein ebenso begeistertes Publikum gegeben hat, dies in deutlichem Kontrast zu einer nur gerade hinreichenden Aufführung in Hannover.

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 268 Rezensionen und Anzeigen

Das Werk enthält 80 Seiten Bibliographie, 76 Seiten weitere Texte (literaturgeschicht- liche Wertungen, Quellen zu 1848, zur Kulturgeschichte, zur Rezeption Veltheims und eigene Aufzeichnungen von ihm) sowie rund 80 Abbildungen, darunter vor allem Velt- heims Karikaturen. Sorgfältig gearbeitete Personen- und Ortsregister schließen das Werk. Gerhard Schildt, Braunschweig

Wolfgang E r n s t : Braunschweigs Unterwelt. Kanäle und Gewölbe unter der Stadt. Band 1: Der Burgmühlengraben im Wandel der Zeit, hrsg. v. d. Stadtentwässerung Braun- schweig GmbH. Braunschweig: Appelhans Verlag 2011, 103 S., zahlr. Abb., 19,80 €

Der heute vom Umflutgraben umschlossene Innenstadtbereich der Stadt Braunschweig ist in seinem Grundriss im Laufe der Jahrhunderte Veränderungen ausgesetzt gewesen. Vor der Stadtgründung breitete sich hier die Niederung der Oker und ihr natürliches Flussbett aus. Die großflächigen Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg boten Gelegenheit, das spät- mittelalterliche Straßennetz den Verkehrsanforderungen der Nachkriegszeit anzupassen. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch war der Stadtgrundriss durch die aus sanitären und verkehrstechnischen Gründen erfolgte Kanalisierung der of- fenen Okergräben auf weiten Strecken einer Umgestaltung des Stadtbilds unterworfen. Diese Vorgänge in das Bewusstsein der Gegenwart gehoben zu haben ist das Ver- dienst von Wolfgang Ernst, der bereits vor einigen Jahren durch eine Veröffentlichung über die Bunkeranlagen in der Stadt Braunschweig hervorgetreten ist. Seine jetzige Unter- suchung im Umfang von 103 Seiten trägt den Titel: „Braunschweigs Unterwelt. Kanäle und Gewölbe unter der Stadt. Band 1: Der Burgmühlengraben im Wandel der Zeit.“ Detailliert, aber nicht zuletzt durch zahlreiche Fotos, Gebäudepläne und Karten im- mer anschaulich und verständlich stellt der Autor die in siebzehn Bauabschnitten zwi- schen 1871 und 1898 erfolgte Kanalisierung des Burgmühlengrabens dar. Die Lage des Grabens im Stadtgebiet zwischen Friedrich-Wilhelm-Platz und Inselwall „entspricht in wesentlichen Bereichen dem natürlichen Flussbett der Oker vor der Gründung Braun- schweigs“ (S. 31). Diese Maßnahmen dienten nicht nur der Beseitigung der von den offe- nen Okergräben ausgehenden Geruchsbelästigungen, sondern waren untrennbar verbun- den mit der Lösung der Abwasserfrage, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der wachsenden Stadt als dringende Aufgabe stellte. Als besonderer Vorzug der Veröffentlichung bleibt festzuhalten, dass der Autor nicht nur am Schreibtisch und in Archiven tätig war, sondern die Mitarbeiter der Stadtentwäs- serung bei ihren anstrengenden Aufenthalten in den unterirdischen Kanälen begleitet hat. Zahlreiche Farbfotos geben Auskunft über diese Braunschweiger „Unterwelt“. So enthält neben historischen Mitteilungen die Veröffentlichung auch technische In- formationen über die gegenwärtigen Aufgaben der Stadtentwässerung und Baumaßnah- men in jüngster Vergangenheit wie den Bau des unterirdischen Pumpwerks am Inselwall und die Umleitung des dortigen Burgmühlengrabens. Neben Notauslässen kommen auch Gefahren in den unterirdischen Kanälen und die Rattenplage im Abwassernetz zur Dar- stellung.

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Die aufmerksame Lektüre lässt Straßen und Plätze der Braunschweiger Innenstadt vielfach mit anderen Augen sehen, wobei vor allem die zahlreichen historischen Fotos zum Vergleich mit der Gegenwart einladen. Aus der Fülle der sorgfältig erarbeiteten und mit Anmerkungen abgesicherten stadthistorischen Einzelheiten hier nur ein Beispiel: Der schmale, heute verschlossen gehaltene Gang zwischen den Grundstücken Kohlmarkt Nr. 9 und Nr. 10, der Amestieg, führte als heute nur noch teilweise erhaltener Wassergang zu einer Wasserentnahmestelle am Burgmühlengraben (vgl. S. 34). Dem Untertitel der Veröffentlichung ist zu entnehmen, dass weitere Bände geplant sind. Es bleibt zu wünschen, dass bereits das vorliegende Werk viele interessierte Leser findet. Norman-Mathias Pingel, Braunschweig

Markus B e r n h a r d t : Was ist des Richters Vaterland? Justizpolitik und politische Justiz in Braunschweig zwischen 1879 und 1919/20. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2011, 418 S., 49,00 €

Mit „Was ist des Richters Vaterland?“ überschreibt Markus Bernhardt seine Habilitations- schrift und fragt damit nach den Faktoren, die neben „Recht und Gesetz“ Entscheidungen von Richtern beeinfluss(t)en. Er beantwortet die Frage, indem er „den Richter in einer Art Feld betrachtet, auf das vier verschiedene Kräfte in unterschiedlicher Intensität einwir- ken: 1. die Maßnahmen der Justizverwaltung und des Gesetzgebers, 2. der wie auch im- mer rezipierte zeitgenössische rechtswissenschaftliche Diskurs, 3. das soziale Umfeld des Richters und 4. das soziale Umfeld des Falles oder des Angeklagten“ (S. 19). Einem Vor- schlag Diestelkamps folgend, unterscheidet er dabei drei verschiedene Dimensionen, um das Vier-Kräfte-Feld richterlichen Handels methodisch am besten einfangen zu können: „1. Gesetzgebung, Gesetzesrecht und administrative Praxis (Normengefüge), 2. Richter, Staatsanwälte, Verwaltungsbeamte, Anwälte (Rechtsstab), 3. Urteile und Akten (Rechts- praxis und -dogmatik)“. Die Arbeit ist dementsprechend in drei Großkapitel gegliedert: „Die Braunschwei- ger Justiz im Bundesstaat (1879-1919/20)“ (Erster Teil, S. 33-175), „Das Personal des Landgerichts in Braunschweig zwischen 1879 und 1924“ (Zweiter Teil, S. 179-271) und „Die Strafrechtspraxis der Braunschweiger Landgerichte zwischen 1879 und 1920 im Vergleich“ (Dritter Teil, S. 275-399). Die Richterschaft Braunschweigs bot sich dabei als ideales Untersuchungsobjekt an: Auch nach der Reichsgründung 1871 bildeten die Bundesstaaten den politischen Handlungshorizont des Bürgertums. Das Herzogtum Braunschweig ist vor dem Hintergrund der starken Kontinuität und Stringenz seiner Landesgeschichte im 19. Jahrhundert und da es nach 1879 einen eigenen, mit dem Staatsgebiet identischen Oberlandesgerichtsbezirk bilden konnte, ein „nahezu ideales Objekt“. Im ersten Teil untersucht Bernhardt die institutionell-administrative Seite der Justiz im Herzogtum. Hinsichtlich der Reichsebene fragt er, „ob es der Regierung des Herzog- tums gelungen ist, eigene Vorstellungen in die Gestaltung der künftigen Gerichtsordnung in die Beratungen und Beschlüsse des Bundesrates einzubringen“ (S. 28). Im Ergebnis

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 270 Rezensionen und Anzeigen verneint er die Frage u. a., weil Braunschweig vor dem Hintergrund der mit der Kinder- losigkeit des regierenden Herzogs einhergehenden Thronfolgefrage bei den anderen Re- gierungen lange als preußischer Übernahmekandidat galt (S. 47), so dass etwa Verhand- lungen mit Oldenburg über die Errichtung eines gemeinsamen OLG scheiterten (S. 90). Bemerkenswert ist der Hinweis Bernhardts auf eine möglicherweise von Preußen beab- sichtigte Annexion der kleineren Staaten „auf dem Verwaltungswege“ (S. 91) durch eine wie auch immer geartete Einbindung der Kleinstaaten in das preußische Justizsystem. Allerdings zog die Braunschweiger Regierung nie ernsthaft den Anschluss seines Land- gerichts an ein preußisches Oberlandesgericht in Erwägung. Stattdessen errichtete sie un- geachtet der unverhältnismäßig hohen (Folge-)Kosten ein eigenes Oberlandesgericht und konnte die partikulare Hoheit Braunschweigs dadurch in mehrfacher Hinsicht wahren: Die Identität von Oberlandesgerichtsbezirk und Staatsgebiet ermöglichte der Landesre- gierung die Gestaltung von Ausbildungs-, Zugangs- und Besoldungsregeln, ohne die Be- dürfnisse eines anderen Staates berücksichtigen zu müssen (S. 22). Daneben waren Rechtsfragen aus dem Partikularrecht nicht reversibel, d. h. entsprechende zivilrechtliche Entscheidungen unterlagen nicht der reichsgerichtlichen Überprüfung in der Revisions- instanz, da es bis zum Inkrafttreten des BGB nur für zivilrechtliche Fragen zuständig war, die ein in mehreren OLG-Bezirken geltendes Recht betrafen. Wesentliche Rahmenbedingungen der Gerichtsorganisation Braunschweigs setzten die neuen Reichsjustizgesetze, vor allem das am 1. Oktober 1879 in Kraft getretene Ge- richtsverfassungsgesetz (GVG). Dessen Umsetzung durch Landesrecht bedeutete für das Justizwesen im Herzogtum u. a. einen Paradigmenwechsel: Karrieren im Justizdienst konnten fortan nicht mehr „ersessen“ werden, sondern die Justizverwaltung stellte den Bedarf fest und traf danach aus den geeigneten Bewerbern eine Auswahl. Daraus folgte eine stärkere Abhängigkeit der künftigen Justizjuristen vom politischen Zentrum und eine stärkere Betonung ihrer Beamteneigenschaft (S. 112). Nach der Jahrhundertwende sollten die Kosten der Justiz zum Problem werden: Auf dem Landtag von 1904 traten die Finanzkrise (S. 167) und durch den zunehmenden Finanzdruck in der Phase von 1903- 1916 die historisch gewachsenen strukturellen Probleme des Kleinstaates insgesamt deut- lich zu Tage: Die unmoderne und kostspielige zerrissene Territorialstruktur führte zu einer differenzierten Situation, in der die Anzahl der Amtsgerichte zu hoch, das mit sei- nen knappen Ressourcen für einen vergleichsweise großen Bezirk zuständige Landgericht dagegen zunehmend unter Druck geriet und das OLG schließlich politisch gewollt, justiz- technisch aber überflüssig war (S. 170). Im zweiten Teil seiner Arbeit erstellt Bernhardt ein Sozialprofil der Justizjuristen des Herzogtums, wobei neben geographischer und sozialer Herkunft Ausbildung, Karriere sowie gesellschaftliches und politisches Engagement der Richter im Vordergrund stehen. Neben ihrer Verortung in der sozialen Hierarchie der bürgerlichen Gesellschaft des Her- zogtums stellt er die Einordnung der Richter und Staatsanwälte in die staatliche Hierar- chie der Beamten dar und bildet dafür zwei Gruppen von Justizjuristen, von denen die Angehörigen der einen vor, die der anderen nach 1879 ihr zweites Examen abgelegt haben. Auf der Grundlage seiner sehr detaillierten Untersuchung der sozialen Herkunft der Jus- tizjuristen zeigt er die Bedeutung der Justizbeamten des Herzogtums als „integraler Be- standteil der vornehmen großbürgerlichen Führungsschicht, welche sämtliche Positionen

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in Regierung und Verwaltung unter sich aufteilte“ (S. 203) auf, wodurch der Beruf des Richters oder Staatsanwalts ein außerordentlich großes Ansehen genoss und „keineswegs wie in Preußen ein Pool für die zweite Garnitur oder unzuverlässige Elemente“ war. Bern- hardt weist anschaulich nach, dass nur aus den Merkmalen „Oberschichtangehöriger“ und „Länge der Ausbildung“ die Entstehung von Klassenjustiz nicht erklärt werden kann (S. 240). Daneben geht er auf die Karrieren von Justizjuristen (S. 242 ff.), ihr politisches Engagement in Parteien und Parlamenten (S. 250 ff.) sowie insbes. auf das Welfenpro- blem und die politische Tätigkeit der Richterschaft (S. 258 ff.) ein. Der dritte Teil hat insgesamt 121 (38 politische und 83 sonstige) Strafverfahren zum Gegenstand, anhand derer Bernhardt „das Verhältnis der Richter zu Politik und Gesell- schaft untersucht und vor allem die These der Klassenjustiz überprüft“ (S. 29). Die unter- suchten politischen Verfahren behandelten Majestätsbeleidigung (S. 285 ff.) auch als „politische Waffe“ gegen die Welfen (S. 289 ff.), Massenschlägereien als indirekte politi- sche Phänomene (S. 302 ff.), Verfahren gegen Sozialdemokraten (S. 309 ff.), Straftaten unter den Bedingungen des Krieges (S. 325 ff.) und in Verbindung mit dem Generalstreik von 1919 (S. 335 ff.). Bernhardt weist u. a. auf die politische Instrumentalisierung des Be- griffs „Klassenjustiz“ hin, den vor allem die USPD mit großer Selbstverständlichkeit ge- brauchte, ohne ihn inhaltlich näher zu konkretisieren, so dass die Sachargumente des bürgerlichen Lagers dagegen zumeist ins Leere liefen (S. 363). Aus dem Bereich der nicht- politischen Strafverfahren untersucht er ausgewählte Verfahren zu Eigentums- (S. 377 ff.), Gewalt- (S. 382 ff.), Sexual- (S. 391 ff.) und Täuschungsdelikten (S. 396 ff.) Danach ist – anders als in den politischen Verfahren – in dem Verhalten der Richter gegenüber den verschiedenen Tätergruppen (Unterschichtangehörige und bürgerliche Personen) das zu erkennen, was Liebknecht mit dem Begriff „Klassenjustiz“ umschrieben hat (S. 398): Wurden die Lebensumstände von Tätern aus der Unterschicht nicht weiter thematisiert und deren abweichendes Verhalten mit „vorgefassten Erzählmustern vom gefallenen oder verhinderten Menschen“ erklärt, betrachteten die Gerichte bei den bürgerlichen Tätern auch deren reale Existenz. Die Antwort auf die Ausgangsfrage nach „des Richters Vaterland“ kann nur Braun- schweig lauten: Regelmäßig waren die Richter des Herzogtums geographisch wie sozial immobil und hatten einen begrenzten beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Handlungshorizont, so dass die allermeisten die Grenzen ihres „Vaterlandes“ nicht über- schritten. Begünstigt wurde die „braunschweigische Kirchturmpolitik“ (S. 400) durch die Erfahrung, auf Reichsebene nichts bewirken zu können. Bernhardt zeichnet anschaulich das Bild vom Braunschweiger Staatsbürger, der zwar das gemeinsame Haus des Reiches bewohnte, sich dabei aber in sein Zimmer zurückzog, die Tür verschloss und die Ausge- staltung des Raumes betrieb. Die Studie zeigt, dass Justiz Landessache ist und stellt damit bisherige Forschungs- ergebnisse über die Justiz im Kaiserreich in Frage. Es verbietet sich jedenfalls, von einem Typus des „deutschen Richters“ (S. 404) auszugehen. Die deutsche Justiz kann nicht ver- allgemeinernd anhand der insofern untauglichen preußischen Perspektive beurteilt wer- den, stattdessen muss den regionalen Traditionen größere Beachtung geschenkt werden. Das partikulare Bürgertum mit seinen spezifischen Besonderheiten war Referenzgruppe der Braunschweiger Richter und nicht die deutsche Richterschaft oder eine nationale bür-

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 272 Rezensionen und Anzeigen gerliche „Klasse“. Hieraus zogen die Richter die in ihre Strafurteile einfließenden außer- rechtlichen Handlungsnormen. Abschließend formuliert Bernhardt das Desiderat, es bei künftiger Beurteilung rich- terlichen Handelns zu vermeiden, nur deren Herkunfts- und Ausbildungsbedingungen zur Erklärung heranzuziehen. Vielmehr sollte die „Perspektive unbedingt durch die Hervor- hebung der politischen Rahmenbedingungen“ erweitert werden. War doch die politische Justiz der Braunschweiger Richter nicht nur Ausdruck einer allgemeinen bürgerlichen Identität, sondern „auch Folge des spezifischen Verlaufs der historischen Entwicklung in des Richters ‚Vaterland‘„ (S. 405). Insgesamt legt der Verfasser eine detailreiche, gut zu lesende Untersuchung vor, mit der er nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Justiz- politik und politischen Justiz in Braunschweig leistet, sondern zugleich spannende Fragen für künftige Forschungsvorhaben aufwirft – Wissenschaft, wie sie sein sollte! Christian Behrens, Uelzen

Günter W i e m a n n : Hans Löhr und Hans Koch. Politische Wanderungen. Braun- schweig: Vita-Mine Verlag 2011, brosch., 269 S.; 17,95 €

Die vorliegende Doppel-Biografie schildert die Lebenswege zweier Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die beide zu den Gründern der um 1925/26 bestehenden Landkommune Harxbüttel/Horstkamp gehörten. Diese Gemarkung gehört seit 1974 zur Stadt Braun- schweig. – Das Werk geht auf eine Bemerkung in einem Buch von Prof. Dr. Ulrich Linse zurück (S. 3), der sich verdienstvoll mit den Landkommunen, Lebensreformern und Sek- ten der Weimarer Republik beschäftigt hat. Es ist belegt, dass die Witwe des Bundesministers Herbert Wehner, Greta Wehner, geb. Burmester, 1924 in der Landkommune Harxbüttel geboren wurde. Der damalige Innenminister Gerhard Glogowski hat ihr 1992 die Geburtsurkunde, die durch die schwe- dische Emigration verloren gegangen war, wieder ausstellen lassen. Den breiteren Raum des Werkes nimmt die Lebensbeschreibung von Hans Löhr ein. Er wurde 1896 in Braunschweig als Sohn eines Holzhändlers und späteren Plantagenbe- sitzers geboren. Mit „Plantage“ ist hier ein norddeutsches Obst- und Gemüseanbaugelän- de gemeint. Nach Besuch des Gymnasiums Martino-Katharineum in Braunschweig legte er 1915 die etwas vorgezogene Reifeprüfung ab, um dann als Freiwilliger zu den Fahnen zu eilen. Den Krieg beendete er als Unteroffizier. Er war auch geprägt von der bündischen (frei- deutschen) Jugend, deren Vertreter sich 1913 auf dem Hohen Meißner (S. 28) versammelt hatten. Er bewirtschaftete zunächst den elterlichen Betrieb, also praktisch die Landkom- mune Harxbüttel, und nahm dann mit Genehmigung des sozialdemokratischen braun- schweigischen Ministers Hans Sievers 1927 das akademische Lehrerstudium in Braun- schweig auf, das er um 1930 mit dem ersten Examen abschloss. Wegen eines polemischen schulpolitischen Redebeitrags in einer Versammlung wurde er mit einer Verleumdungs- klage konfrontiert. Er war dann nach Ostern 1930 Hilfslehrer in einem Dorf im damals noch braunschweigischen Solling, in der Siedlung Rottmünde (S. 32). Ende 1930 wechsel-

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te er nach Hamburg und war dort an der Meerweinschule als Lehrer tätig. Eine seine Schülerinnen war hier Greta Wehner. Dann regierte in Braunschweig bald, seit September 1931, ein nationalsozialistischer Volksbildungsminister (D. Klagges). Das zweite Examen hat er (Löhr) damals nicht mehr abgelegt. – Löhr hörte dann, inmitten der Weltwirtschaftskrise, von Zenzl (Kreszentia) Mühsam, der Ehefrau Erich Mühsams, von der allgemeinen Situation in Peru (S. 65) und beschloss eine Expedition in dieses Land, und zwar in das Quellgebiet des oberen Ama- zonas, die sog. Montaña. – Diese an sich solide geplante Expedition von 1932 führte dann nicht zu einer gemeinsamen Ansiedlung, sondern zu örtlichen Zerwürfnissen; aber 1933 war es Hans Löhr auch auf Grund seiner links angesiedelten politischen Haltung ver- wehrt, nach Deutschland zurückzukehren. In Braunschweig war der braune Terror um 1933/34 besonders rabiat. Er blieb dann bis 1951 dort im oberen Amazonas-Gebiet und gründete eine Familie mit einer Nachkommin arabischer Einwanderer (S. 122). Er war Leiter der Werkstätte einer Sanitätskolonie in der Provinz Maynas. – Im September 1951 kehrte er mit Frau und Kindern nach Norddeutschland zurück und bemühte sich, in den niedersächsischen Schul- dienst als Angestellter zurückzukehren, was ihm auch mit Mühe gelang. Eine Entschädi- gung (sog. Sonderhilfe) für die Mühen der lateinamerikanischen Emigration wurde nicht bewilligt, obwohl sich führende Pädagogen für ihn vor dem zuständigen Sonderhilfsaus- schuss des Verwaltungsbezirks Braunschweig verwendeten. – Er engagierte sich dann im sog. Schwelmer Kreis, eines um den Ausgleich von Ost und West bemühten Arbeitskrei- ses, der in Magdeburg und Braunschweig tagte. Er empfand es hingegen als recht unpassend, an der Junglehrer-Arbeitsgemeinschaft teilnehmen zu müssen, die für Lehrer zwischen 1. und 2. Examen eingerichtet war. Kon- frontiert mit der westdeutschen Restaurationspolitik, bewarb er sich um Übersiedlung und Aufnahme in die DDR. – Er hatte im März 1959 (anlässlich einer Trauerfeier für den Pädagogen Paul Oestreich) in Ost-Berlin mit dem aus Braunschweig stammenden Minis- terpräsidenten Otto Grotewohl sprechen können (S. 156). Es ist gut möglich, dass sich Grotewohl nun für ihn eingesetzt hat. – Er wurde dann 1960 für einen Fremdsprachen-Be- ruf bei der östlichen Allgemeinen Deutschen Nachrichtenagentur (ADN) empfohlen. – Im sog. Intelligenzheim Ferch bei Potsdam, einer Art Durchgangslager, wurden er und seine Familie auf ihre Eignung für die sozialistische Lebenswelt zunächst überprüft und es wurden dafür Gutachten ausgewertet. Kurz nach seinem Eintreffen im Ostsektor Ber- lins ist er dort aber im Januar 1961 verstorben. Seine junge Witwe ging später eine neue Ehe mit einem Sprachwissenschaftler ein. Hans Löhrs Halbschwester war die Malerin Anna Löhr (1870-1955), nach der in Braunschweig eine Straße benannt ist. Es wird dann das Leben und Werk von Hans Koch beschrieben. Koch wurde 1897 im heutigen Berlin geboren (Berlin-Wilmersdorf) als Sohn eines Militärgerichtsrates. Im Ers- ten Weltkrieg verwundet, durchlebte er die letzten Weltkriegsjahre in einer Wohngemein- schaft im jetzigen Berlin (Friedenau und dann Charlottenburg-Westend), die ihn in ein an- archo-sozialistisches Fahrwasser brachte. An seiner Seite war Peter Kollwitz, der Sohn von Käthe Kollwitz, kurz vor dem Sturmangriff von Langemarck (S. 178) in Flandern 1914 ge- fallen, so dass er der Bildhauerin von diesem Verlust im Lazarett dann persönlich berichtete.

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War er nun auch der linken Bewegung zugetan, so wurde die straffe zentrale Lenkung der sozialistischen Parteien abgelehnt. Der gemeinschaftliche Siedlungsgedanke hatte hingegen hohen Stellenwert. Hans Koch gründete dann zunächst (mit Unterstützung des Schriftstellers Oskar Maria Graf) die Landkommune Blankenburg bei Augsburg und trat später auch in der Landkommune Harxbüttel in Erscheinung. Dort sind sich Löhr und Koch begegnet (S. 222f.). Er (Koch) entwickelte ein Gerät zum Bodenfräsen und Heckenschneiden mit einem mit Benzin getriebenen Rucksack-Motor und einer entsprechenden Kraft-Übertragung; das wurde in Deutschland und Großbritannien entsprechend patentiert. Der Schweizer Agrarreformer Konrad von Meyenburg hatte ihn zu der Erfindung oder Weiterentwick- lung angeregt. Der Geschäftsführer eines Kleinbauernverbandes, Heinrich Lübke, gab ihm für die Erprobung einen Kredit in Höhe von 2.500 Reichsmark, den er später tilgen konnte. Er (K.) war dann 1926-30 Prokurist in einer Firma in Hagen, in der Bodenfräsen hergestellt wurden. Hernach gründete er eigene Firmen zur Verwertung seiner Erfin- dung in Mecklenburg. Beim Vorrücken sowjetischer Truppen floh er nach Pinneberg und ging dann mit seinem Konzept nach Bad Oldesloe. Dem nunmehrigen Bundespräsi- denten Lübke konnte er 1963 auf der Bundesgartenschau in Hamburg vom Florieren seiner nach ihm benannten Firma „HAKO“ berichten (S. 205). In Bad Oldesloe besteht die Firma heute noch. Ein Prototyp seiner Erfindung steht heute im Deutschen Museum in München (S. 210). Im Jahr 1966 setzte sich Hans Koch zur Ruhe. Er ist (lt. Wikipedia) 1995 verstorben. Allgemeine Überlegungen über den Wert und die Grenzen von Landkommunen fin- den sich auch in diesem Werk. Es war eben noch zu schwierig, sowohl Produktion wie Konsumtion gemeinschaftlich zu gestalten und dabei auch effektive Ergebnisse zu er- zielen. Auch auf die frühen sozialen, teilweise utopischen Konzepte von Robert Owen (1771-1858) wird in einem Exkurs eingegangen (S. 224-227). – Ein gedankenreiches Ka- pitel über Staat und Politik und den Gegensatz von Gesinnungsethik und Verantwor- tungsethik (Max Weber) findet sich hier auch (S. 228-231). Es werden auch Verbindungs- linien zur Odenwaldschule (S. 211-214) in Heppenheim und zu den Landerziehungsheimen gezogen. Ein erweitertes, kommentiertes Glossar (ein Stichwortverzeichnis) gibt es am Schluss und auch ein Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis der Archive und ein Personenregister. Im Glossar werden auch Heinrich Vogeler (1872-1972), ein Protagonist der Landkommu- nen, und sein Sohn Prof. Jan Jürgen Vogeler (1923-2005) erwähnt. Auch der als neutralis- tisch geltende, pädagogische „Schwelmer Kreis“ wird eingehend dargestellt (S. 237 f.). In diesem Werk sind auch Beiträge von Prof. Dr. Michael Wettern (S. 1-2) und Schul- amtsdirektor i. R. Hans Reinhardt (S. 151-157) enthalten. Mehrere Zitate, etwa von Max Weber (S. 215), sind in diesem Werk leider nur aus dem Gedächtnis wiedergegeben. Der Gang der Darstellung wird oftmals zu sehr von Querver- weisen und Exkursen beeinträchtigt. Die präzisen biografischen Daten von Löhr und Koch muss man sich in diesem Werk mühsam zusammensuchen. Manche geographische Bezeichnungen und Personen-Namen sind unrichtig geschrieben. So hinterlässt das Buch einen durchwachsenen, aber überwiegend doch günstigen Eindruck. Friedrich Winterhager, Hildesheim

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Bruno H e r r m a n n : Die Merkers, Lebensroman eines Arbeiters. Hrsg. v. Friedhelm Überheide und Jürgen Schierer. Osterwieck: Ostfalia-Verlag 2011, 15,90 €

Das Buch enthält die in einen Roman gekleidete Autobiographie des Arbeiters, späteren SPD-Landtagsabgeordneten und Betriebsratsvorsitzenden des Peiner Walzwerkes Bruno Herrmann (1888-1957). „Geschichte von unten“ wird hier eindrucksvoll realistisch in 87 knappen Abschnitten erzählt. Herrmanns erste Lebensstation ist zunächst Ostpreußen, wo der Vater (Romanname Franz Merker) seinen Hof wegen Überschuldung 1891 aufge- ben muss. Auf Vermittlung seines Schwagers zieht er mit seiner Familie nach Peine, um als Arbeiter im dortigen Walzwerk, Tochterunternehmen der Ilseder Hütte, den Lebens- unterhalt für seine Familie zu verdienen. Sein Sohn Bruno Herrmann (Romanname Paul Merker) folgt ihm nach mehreren Zwischenstationen in Hannover auch in das Peiner Walzwerk. Der Erste Weltkrieg unterbricht seine dortige Berufstätigkeit. Nach Einsätzen an der West- und Ostfront wird er verwundet und erblindet auf einem Auge. Nach einem Einsatz als Wachsoldat in einem Kriegsgefangenenlager wird Paul Merker schließlich 1916 vom Wehrdienst befreit und kehrt für immer nach Peine zurück. Die Hauptfigur des Romans gibt sich äußerst distanziert zu ihrer Umwelt. Das ver- stärkt den Eindruck der sozialen Kälte, die das Buch zu seinem Hauptthema macht. Die Kritik an der Führungsriege in der Industrie gipfelt beispielsweise in der Beschreibung eines Firmenfestes: „Reserviert sahen die Herren am Vorstandtisch mit spöttischem Lä- cheln der Fütterung der Arbeiter zu“ (S. 62). Diese Kälte wird auch immer wieder erfahr- bar in Formen von Gewalt im Arbeitsprozess und außerhalb bis hin zu Mord. Anderer- seits wird hier keineswegs nur Schwarz-Weißmalerei betrieben im Sinne von – arrogante Führungskräfte in Wirtschaft, Staat, Klerus und Militär auf der einen und gute unter- drückte Arbeiter auf der anderen Seite. Nicht selten übt der Autor auch Kritik an den Arbeitern selbst. Die Hauptfigur bleibt auch gegenüber Arbeitskollegen, ja sogar gegen- über seiner eigenen Familie bemerkenswert distanziert. Es ist ein autobiographischer Ro- man, hat dabei aber literaturtheoretisch sehr viel mit einem Selbstfindungs- und An- kunftsroman zu tun. Der Autor will nicht einfach seine Lebensgeschichte erzählen, sondern eine Hauptfigur zeigen, die sich Gedanken macht über Gott und die Welt und die sich schließlich abwendet von der katholischen Kirche, von den etablierten Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft und sich hinwendet zum Sozialismus. Der Werdegang der Hauptfigur soll den Arbeitern verdeutlichen, dass nicht ein Sichabfinden ihre Situation bessern kann, sondern vor allem Bildung und nicht zuletzt ein Engagement für den Sozia- lismus dazu erforderlich seien. Entsprechend wandelt sich Merker/Herrmann im letzten Abschnitt „Erkenntnisse“ in einen überzeugten Sozialisten, der nach einer gerechteren, freieren Gesellschaftsordnung sucht, die er für sich als ersten Schritt im engen Umfeld schon durch die Teilnahme an der FKK-Bewegung umsetzt. Schade, dass der Roman bereits 1929 abgeschlossen wurde. Natürlich wäre es interes- sant gewesen zu lesen, wie der Weg Bruno Herrmanns im Dritten Reich weiter gegangen ist. Auch in der Kurzbiographie am Ende des Buches erfährt man nichts darüber. Die Einordnung und Interpretation des „Lebensromans“ durch Germanisten und Historiker wäre ebenfalls wünschenswert. Jene werden es bedauern, dass hier nicht der Originaltext Herrmanns vorgelegt wird, sondern eine überarbeitete Version, in der vor allem allzu

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 276 Rezensionen und Anzeigen pathetische und kitschige Stellen stillschweigend geglättet wurden. Auch die autobiogra- phischen Bezüge werden nicht einzeln nachgewiesen, jedoch durch Bildmaterial in Text und Anhang beleuchtet. Für Historiker wäre es beispielsweise interessant, Bruno Herr- manns Spuren in den tausenden von Akten der Ilseder Hütte zu suchen, die im Nieder- sächsischen Landesarchiv -Staatsarchiv Wolfenbüttel verwahrt werden. Ein sehr will- kommenes Buch, gerade weil Arbeiterbiographien eine Seltenheit sind. Martin Fimpel, Wolfenbüttel

Markus L u p a : Spurwechsel auf britischen Befehl. Der Wandel des Volkswagenwerks zum Marktunternehmen 1945-1949, hrsg. v. Manfred Grieger, Heike Gutzmann, Dirk Schlinkert (Historische Notate 15). Wolfsburg: Volkswagen AG 2010, 164 S., zahlr. Abb., 14,90 €

Günter R i e d e r e r : Auto-Kino. Unternehmensfilme von Volkswagen in den Wirt- schaftswunderjahren hrsg. v. Manfred Grieger, Heike Gutzmann, Dirk Schlinkert (Histo- rische Notate 16). Wolfsburg: Volkswagen AG 2011, 196 S., zahlr. Abb., 1 DVD, 19,80 €

Anzuzeigen sind hier zwei neue Publikationen, die in der Reihe Notate der Historischen Kommunikation von Volkswagen erschienen sind. 1999 legte Markus Lupa bereits den Band „Das Werk der Briten. Volkswagenwerk und Besatzungsmacht 1945-1949“ vor. Nun folgt über dasselbe wichtige Thema eine deutlich umfangreichere Darstellung Lupas. Da- bei unterstreicht er – nicht zuletzt gründend auf einer breiteren Quellenlage – noch ent- schiedener als damals die wichtige Rolle der Briten bei der Umstellung des Volkswagen- werks auf die Zivilgesellschaft und die Marktwirtschaft. Diese sei bislang nicht zuletzt deshalb unterbewertet worden, weil der von den Briten 1948 eingesetzte deutsche Gene- ralmanager Nordhoff sich selbst als Gründungsmythos inszenierte und den Anteil der Besatzungsmacht an der Erfolgsgeschichte von VW herunterspielte. Am 11. April 1945 wurde das Volkswagenwerk von amerikanischen Soldaten besetzt. Rasch nutzten die Amerikaner das Werk zur Autoproduktion für eigene Zwecke. Kübelwagen konnten sie auch für ihr Militär gebrauchen. Im Juni 1945 ging die Zuständigkeit an die Briten über. Schon im August 1945 gaben sie den Befehl zur Serienproduktion von 20 000 Zivilfahr- zeugen und beschritten damit den Weg in die Marktwirtschaft. Sie hielten an diesem Projekt trotz des Widerstandes britischer Autohersteller fest. Lupa betont, dass die Briten hier nicht an die Vorkriegszeit nahtlos anknüpfen konnten. Porsche hatte zwar im Dritten Reich den Prototyp eines Volkswagens kreiert, das Dritte Reich aber hatte eben nicht schon den Grundstein für die marktwirtschaftliche Ausrichtung des Unternehmens gelegt. Die Nationalsozialisten dachten planwirtschaftlich. Deren geplante Massenmotorisierung berücksichtigte betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte und Marktrealität nur wenig. Die frühe Entscheidung der Briten gegen eine Demontage des Werks zugunsten einer Wieder- aufnahme der Fahrzeugproduktion wurde vor allem durch zwei Überlegungen motiviert: Aufgrund der vielfachen Zerstörungen in Deutschland und des Zusammenbruchs von Wirtschaft und Verwaltung konnten die Briten nicht von ihrer Besatzung finanziell profi-

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tieren, sondern mussten im Gegenteil die deutsche Bevölkerung in ihrer Existenzsiche- rung unterstützen. Das trieb die Besatzungskosten enorm in die Höhe. Um hier gegenzu- steuern und gleichzeitig für die britische Wirtschaft in der Zukunft wieder Absatzmärkte in Deutschland zu schaffen, entschieden sich die Briten für eine deutliche Ausweitung der deutschen Industrieproduktion – viel früher etwa als Russen, Franzosen, aber auch als die Amerikaner. „Volkswagen ist das erfolgreichste Automobilunternehmen, das die Briten je gegründet haben“. Ohne die Wurzeln des Werkes im Dritten Reich zu ignorieren, könnte man die Publikation von Lupa mit diesem Bonmot des früheren VW-Vorstandschefs Hahn bilanzieren. Die zweite hier anzuzeigende Veröffentlichung von Günter Riederer befasst sich mit Filmen des Volkswagenwerks zur Darstellung von Werk und Produktion sowie zu Werbe- zwecken aus der Zeit von 1949 bis 1971. Es ist ein eindrucksvolles Zeugnis der Entwick- lung des Industriewerbefilms. Das Buch nutzt dabei die neuen digitalen Möglichkeiten und kombiniert die Druckversion mit einer E-Book-Version auf DVD. Dort besteht die Möglichkeit, sich die Filme auch anzusehen! Interpretiert (und gezeigt) werden Filme mit Innen- und Außenaufnahmen des VW-Werks bis hin zu Szenen des VW-Käfers in fernen Erdteilen. Interessant sind auch die Aspekte des frühen Produktplacements in Film und Fernsehen durch Volkswagen. Ein sehr erhellendes Buch nicht nur zur Geschichte von VW, sondern auch zur Werbepraxis in der frühen Geschichte der Bundesrepublik allge- mein. Martin Fimpel, Wolfenbüttel

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Chronik des Braunschweigischen Geschichtsvereins November 2011 bis Oktober 2012

von

Werner Arnold

1. Allgemeines

Die Mitgliederversammlung am 3. Mai 2012 im Roten Saal des Braunschweiger Schlos- ses (19.00-20.00 Uhr) besuchten 40 Mitglieder und Gäste. Der Vorsitzende Dr. Brage Bei der Wieden berichtete über die Publikationen (s. 2), die im Zusammenhang mit den Pub- likationen vereinbarte Kooperation mit der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz (s. 1.1), über die Studienfahrten und Führungen (s. 4) sowie über laufende und geplante Projekte (s. 1.2). Die Vortragsplanung für den Berichtszeitraum erläuterte Dr. Henning Steinführer, der diesen Bereich verantwortet (s. 3). Schatzmeister Sascha Köckeritz wies in seinem Kassenbericht (Abschluss: 31.12. 2011) auf die zentralen Daten hin: Die Einnahmen betrugen 101.255,99 €. In dem Betrag sind 68.778,39 € enthalten, die G. Kunisch in seinem Testament dem Verein vererbt hat. Dieses Geld wird getrennt von den sonstigen Einnahmen verwaltet, so dass über einen Betrag von 32.477,60 € verfügt werden kann. Die Ausgaben beliefen sich auf 38.348,61 €. Die Mehrausgaben von 5.871,01 € gegenüber den Einnahmen sind durch die Exkursions- karte Niedersachsen sowie Folgekosten aus dem Jahr 2010 verursacht. – Die Entwicklung der Mitgliederzahlen ist leicht rückläufig. Die Kassenprüfung durch die Herren Albrecht und Angel wurde am 29.02. 2012 in den Räumen der Bank Credit Suisse in Braunschweig durchgeführt. Herr Albrecht be- richtete für die Kassenprüfer, dass sich bei der Kassenführung und der Rechnungsver- waltung keine Beanstandungen ergeben haben, so dass der Vorstand auf Antrag einstim- mig entlastet wurde. Herr Albrecht und Herr Angel wurden erneut zu Kassenprüfern gewählt.

1.1 Kooperation

Herr Bei der Wieden hat Gespräche mit der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz und der Stiftung NORD/LB-Öffentliche über die Schriftenreihen des Vereins geführt. Die Stiftungen sind bereit, eine finanzielle Basis für die Schriftenreihen des Geschichts- vereins und des Instituts für Braunschweigische Regionalgeschichte zu schaffen. Beim Geschichtsverein betrifft das die ‚Quellen und Forschungen zur braunschweigischen Lan- desgeschichte‘ und das Jahrbuch, während das Institut für Braunschweigische Regional- geschichte eine eigene Reihe plant. Für die Koordinierung der Arbeit wurde ein Fachbei- rat gebildet, in dem der Geschichtsverein durch die Herren Bei der Wieden, Steinführer

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 280 Werner Arnold und Arnold vertreten wird. Die konstituierende Sitzung des Fachbeirats fand am 19.07. 2012 im Haus der Stiftungen in Braunschweig statt. Die zentralen Aufgaben des Gre- miums sind die Prüfung eingehender Manuskripte, bei Annahme zur Veröffentlichung deren sachliche Zuordnung zu einer der Publikationsreihen sowie die redaktionelle Be- arbeitung der Texte.

1.2 Projekte

Die von der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz finanzierte Digitalisierung der Jahrgänge 1902 bis 2004 des Braunschweigischen Jahrbuchs durch die UB Braunschweig wurde abgeschlossen. Die Aufsätze der einzelnen Jahrgänge sind über die Internetseite der Universitätsbibliothek im Portal ‚Brunsvicensien‘ recherchierbar, die Suche nach Stichwörtern ist jedoch nicht möglich. – Frau Dr. Barbara Klössel-Luckhardt hat die Be- arbeitung der Siegel des Klosters Walkenried 2012 abgeschlossen und die Fotos zu den Siegeln wurden ergänzt, so dass das Buch 2013 erscheinen wird. – Der durch Herrn G. Kunisch dem Verein vermachte Betrag (s. o. unter Kassenbericht) muss für eine wissen- schaftliche Arbeit zur Geschichte des Waldes im Braunschweiger Land verwendet wer- den. Herr Bei der Wieden verhandelt mit einem sachlich ausgewiesenen Bearbeiter, der diese Studie möglicherweise durchführen wird. – Der Geschichtsverein und die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel haben aus Anlass des 400. Todestages Herzog Heinrich Julius‘ ein internationales Symposion mit dem Thema: ‚Herzog Heinrich Julius von Braunschweig- Wolfenbüttel (1564-1613): Politiker, Gelehrter und Mäzen mit europäi- schem Profil‘ geplant, das vom 06. bis 09. Oktober 2013 in der Herzog August Bibliothek und im Bürgersaal des Wolfenbütteler Rathauses stattfinden wird. Die Finanzierung ha- ben weitgehend die Stiftungen Braunschweigischer Kulturbesitz und NORD/LB-Öffent- liche zugesagt. Es wurden Referentinnen und Referenten aus Deutschland, Italien, der Tschechischen Republik, Frankreich und den USA eingeladen. Die Vorträge sollen in der Reihe des Geschichtsvereins publiziert werden. Während der Berichtszeit fanden am 19.03 und am 01.10. 2012 Vorstandsitzungen im Staatsarchiv Wolfenbüttel statt. Die Tagesordnungen betrafen die Projekte, die Veröffent- lichungen, die oben erwähnte Kooperationsvereinbarung, die Studienfahrten und Vorträ- ge, sowie die finanzielle Situation. Ein wiederkehrender Punkt ist, dass eine intensivere Teilnahme der Mitglieder an allen Veranstaltungen sehr wünschenswert wäre.

2. Veröffentlichungen

Die Auslieferung des Braunschweigischen Jahrbuchs 92 (2011) hat sich wegen Insolvenz der bisherigen Druckerei erheblich verzögert. Der Band enthält 8 Aufsätze und 3 kleinere Beiträge, dazu die Bibliographie zur braunschweigischen Landesgeschichte sowie Rezen- sionen und Anzeigen. Die Themen der Aufsätze reichen von der Erschließung spätmittel- alterlicher Quellen bis zur Nachkriegsgeschichte in Braunschweig. Eine Erleichterung für die Forschung bildet die Digitalisierung des Braunschweiger Urkundenbuchs, das jetzt im

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 Chronik des Braunschweiger Geschichtsvereins 281

Portal ‚Brunsvicensien‘ über die Homepage der UB Braunschweig recherchierbar ist (H. Steinführer, S.247 ff.). – Als Bd. 48 der ‚Quellen und Forschungen‘ und zugleich als Veröffentlichung der Stiftung Niedersächsisches Wirtschaftsarchiv Braunschweig ist die Dissertation von Andreas Kulhawy: Das Braunschweigische Leihhaus als Instrument der Modernisierung (1830-1918) erschienen. Das 1765 gegründete Institut spielte eine große Rolle bei der Finanzierung öffentlicher Aufträge, die in dem Buch kenntnisreich erörtert werden (Preis: 48.00 €).

3. Vorträge

(Planung: Dr. Henning Steinführer) Klaus Latzel (Braunschweig): „Den Tätern und Opfern von Krieg und Gewaltherr- schaft“? (10.11. 2011, Schloss Braunschweig, Roter Saal) Brage Bei der Wieden (Wolfenbüttel), Horst-Rüdiger Jarck (Wolfenbüttel), Henning Steinführer (Braunschweig): „1891: Die Gründung des Vaterländischen Museums und Sons- tiges aus Stadt und Land“ (13.12. 2011, Forum des Braunschweigischen Landesmuseums) Silke Weglage (Emsdetten): Menschen und Vermächtnisse. Untersuchungen zu den Braunschweiger Bürgertestamenten des 14. Jahrhunderts (1289-1390) (19.01. 2012, Schloss Braunschweig, Roter Saal) Matthias Bernhardt (Bielefeld/ Braunschweig): Braunschweiger Richter zwischen Stand, Beruf und Politik. Zur Geschichte der braunschweigischen Justiz im Kaiserreich (09.02. 2012, Schloss Braunschweig, Roter Saal) Birgit Hoffmann (Wolfenbüttel): Von der Taufe der Sachsen zur Kirche in Nieder- sachsen – Aspekte der Braunschweigischen Kirchengeschichte (15.03. 2012, Schloss Braunschweig, Roter Saal) Jürgen Huck (Wolfenbüttel): Die Festung Wolfenbüttel – Ein Beitrag zu ihrer Bauge- schichte anhand neuerer Grabungen und Auswertung von Bildern und Dokumenten (03.05. 2012, Schloss Braunschweig, Roter Saal) Peter Jungblut (München): Ein verteufeltes Leben. Simson Alexander David – Karrie- re eines Feindbilds (18.10. 2012, Städtisches Museum Braunschweig)

4. Studienfahrten/ Führungen

(Planung: Dr. Christian Lippelt) Heike Pöppelmann (Braunschweig): Führung durch die Ausstellung „Tatort Geschich- te – 120 Jahre Spurensuche im Braunschweigischen Landesmuseum“ (15.11. 2011, Braun- schweigisches Landesmuseum) Cecilie Hollberg (Braunschweig): Baustellenführung im Städtischen Museum Braun- schweig (24.11. 2011, Städtisches Museum Braunschweig) H.-J. Derda, W. Otte, C. Werner: Führung durch die Abteilung Jüdisches Museum des Braunschweigischen Landesmuseums (28.04. 2012, Braunschweig, Ausstellungszentrum Hinter Aegidien)

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 282 Werner Arnold

Fahrt nach Halle: Besichtigungen der Marienbibliothek, des Interdisziplinären Zent- rums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung und der Franckeschen Stiftungen (24.05. 2012) Fahrt nach Memleben und Tilleda: „Auf den Spuren Ottos des Großen“ (23.06. 2012) Brage Bei der Wieden (Wolfenbüttel): Doppelführung zur Geschichte der Waldbe- wirtschaftung in Vergangenheit und Gegenwart im Niedersächsischen Forstplanungsamt und im Staatsarchiv Wolfenbüttel (19.07. 2012) Fahrt nach Magdeburg: Besuch der Ausstellung „Otto der Große und das römische Kaisertum“ und Besichtigung des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt (18.10. 2012)

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 283 Verstorbene Mitglieder

deren Namen der Redaktion seit November 2011 bekannt wurden:

Suse König, Wolfenbüttel († 2011) Lothar Grünheid, Braunschweig († 16.02. 2012) Hans-Joachim Boldt, Braunschweig († 20.04. 2012) Dr. Rudolf Meier, Wolfenbüttel († 24.04. 2012) Joachim Bormann, Braunschweig († 20.05. 2012) Agnes Haase, Wolfenbüttel († 21.05. 2012) Prof. Dr. Dieter Neukirch, Wettenberg († 10.06. 2012) Dr. Gabriele Wacker, († 22.06. 2012) Gunhild Ruben, Braunschweig († 17.07. 2012) Prof. Dr. Henning Piper, Berg/ Pfalz († 15.09. 2012) Rolf Volkmann, Grasleben († 25.09. 2012) Helga Grete, Braunschweig († 2012)

https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202007281501-0 BAND 93 2012 BRAUNSCHWEIGISCHES JAHRBUCH FÜR LANDESGESCHICHTE

BAND 93 2012