BOOKLET EDITOR Antonin Scherrer 11 XI
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1 Jean-Luc Darbellay Musik, die lebt 2 3 Gleichermassen berufen zur ars musica und zur die aber auch als Bindeglieder zum nächs- Die ungemein farbige und vitale Musik reduziert rhythmische Verdichtungen und aleatorisches Auf- ars medicina, wendet sich der international geach- ten Abschnitt führen. […] Die Klangzen- sich jedoch nicht auf diese Assoziationen, die vor brechen der Satzstruktur zu einer Art Tuba mirum tete Schweizer Komponist und Dirigent Jean-Luc tren werden häufig durch bewegliche allem auf das wiederholt ausbrechende Klangmag- entwickelt. Im Goldenen Schnitt schliesslich kehrt Darbellay innerhalb seines künstlerischen Wirkens Arabesken der Holzbläser und Streicher ma des Anfangs gerichtet sind. Vielmehr folgt das die Musik über eine solistische, fast palindromische unverkennbar den Menschen zu. Sowohl in seiner umspielt […]. Ich verwende zur Realisierung einsätzige Werk insgesamt einer parabelartigen Figur zum Ausgangspunkt zurück. Die Erwartung Tätigkeit als praktizierender Arzt als auch in seinem dieses Effektes eine “Mikrokanontechnik”. Spannungskurve mit anschliessenden brodelnden eines damit verbundenen versöhnlichen Schluss- kompositorischen Schaffen lässt er die Offenheit Rasche Läufe werden in sehr eng aufei- Streicherflächen, seufzerähnlichen Gesten der Holz- gedankens erfüllt sich allerdings nicht, sondern es zur Begegnung erkennen. In seiner Klangsprache nander folgenden kanonischen Einsätzen bläser und Korrespondenzen etwa zwischen lang kommt zu einer zweiten, chromatisch geprägten überwiegen demzufolge: die Freude an der Ausei- von vielen Instrumenten ausgeführt und nachhallenden Klavierclustern sowie Gong- und «Verwirrung», die recht unvermittelt abreisst und so nandersetzung mit historisch gewachsenen Vorga- bilden damit die Grundlage für bewegliche Tamtamschlägen. Als sich die Streicher nach den Konfliktpotential über das Werk hinausträgt. ben, die auffällige Sympathie für Interpreten, die Clusterstrukturen, die letztlich als vertika- so erreichten Ruhepunkten erneut einblenden und musikalisches Leben erwecken, sowie die oft von le und diagonale Resonanzräume wirken. gemeinsam mit Bläsern und Schlagwerk reprisen- Obgleich Jean-Luc Darbellay hier ebenfalls einer eruptiven Ereignissen oder scharfen Kontrasten aus- Das unhörbare Einsetzen von gewissen artige Aufbruchimpulse geben, verändert sich der rein musikalisch verständlichen Form entspricht, gehenden Botschaften an die Hörer. Dabei zeigen Instrumenten, die eine melodische Phrase wiederkehrende tumultuarische Charakter, denn gibt er dennoch verbale Hinweise auf die Aktualität sich meist Tendenzen zum Ausgleich, zur Sammlung verlängern, führt zudem zur Bildung von nun treten energiegeladene Tonrepetitionen und seines künstlerischen Tuns, wenn er im Untertitel aufbauender Energien, zu übergreifender Harmonie. harmonischen Strukturen, die sich ganz aufstrebende, nahezu choralhafte Momente hervor, anfügt: «Mardi, le 11 septembre 2001 NYC sous un organisch aus dem bewegten Klangmate- die eine deutliche Aufhellung des musikalischen ciel d’azur» – und im Programmheft der Urauffüh- Die originellen klanglich-strukturellen Erscheinun- rial ableiten.» Geschehens mit sich bringen. rung ergänzt: «Das Auftragswerk zum 50-jährigen gen, die mit dieser Grundhaltung verbunden sind, Jubiläum des Leipziger Hornquartetts wurde zu benennt der Komponist selbst anhand von Oyama. Um diese höchst filigranen und zugleich von ele- Einen in gewisser Weise umgekehrten Weg musi- einer Art kleinem Requiem. [...] Das “Menetekel”, Über dieses im Jahr 2000 geschaffene erste grosse mentarer Kraft getragenen, semantisch vielschich- kalischer Formung verfolgt Jean-Luc Darbellay in die “Feuerschrift” auf der riesigen Fassade des New Orchesterwerk, das im Auftrag von Radio Suisse tigen Prozesse zu veranschaulichen, weist Jean-Luc Azur pour quatuor de cors. Dieses im Herbst 2001 Yorker World Trade Centers spricht eine eigene Spra- Romande/Espace 2 entstand und jener Einrichtung Darbellay mit seinem Werktitel auf den Namen geschriebene Stück vereinigt zu Beginn alle vier che … Ein unglaublicher, unfassbarer Kontrast zum sowie dem Orchestre de la Suisse Romande und Diri- eines der japanischen Küste vorgelagerten Vulkans, Instrumentalstimmen auf einem Ton, der durch azurblauen Himmel über der Stadt, die sich im gent Fabio Luisi gewidmet ist, schreibt er treffend: der während der Entstehung dieser Komposition von Stopfdämpfer die im Titel angekündigte Aura des “Indian summer” sonnt…» heftigen Eruptionen erschüttert wurde. Ausserdem Sphärischen erhält und sich über Sekund- und «Ich versuche stets, musikalische Kern- bedeutet «Oyama» im Japanischen auch «grosser Tritonuskonstellationen allmählich zu einem Im direkten Anschluss an diese Komposition entstand strukturen festzulegen, in deren Gravi- Berg» – womöglich eine versteckte Anspielung des Klangfächer weitet. In den Augenblicken, wo sich noch 2001 a quattro für vier Hörner und Orchester, tationsfeld sich das klangliche Material Komponisten auf die ihn inspirierenden heimat- dieser wunderbar homogene Klang jedoch durch gewidmet den vier Solisten, «meinen treuen musikali- zu kristallinen Formen verdichten kann. lichen Alpen mit all ihren faszinierenden Schön- andere Artikulationen sowie Transpositionen kaum schen Weggefährten Thomas Müller, Olivier Darbellay, Oft gibt es Zentraltöne, auf denen sich heiten, aber auch den erschreckend bedrohlichen merklich zu verändern beginnt, kündigt sich ein Daniel Lienhard, Matteo Ravarelli», sowie René Karlen, Akkorde aufbauen, die umspielt werden, Naturgewalten. erregender Zerfallsprozess an, der sich dann über dem Auftraggeber beim Berner Symphonie-Orchester, 4 5 und Petri Sakari, dem Dirigenten der Uraufführung. spannungsgeladene Pausen, um – nach Aussage des Im Gegensatz zu diesem effektvollen Schlagzeug- rungen von Darbellay bereits aus seiner Kindheit. Diesmal steht den undogmatisch dodekaphon gefärb- Komponisten – «die Destabilisierung und die Suche stück von 1998/99, das dem Percussion-Art-Ensemble Doch die entscheidenden Impulse für die 2005 ten Klangfontänen des Orchesters der erstaunlich nach dem Wesentlichen» nachzuempfinden, die von Bern gewidmet ist, gibt die nur zwei Seiten umfas- abgeschlossene Komposition gingen von Wolfgang vielfältig modellierbare Einzelton es der vier stark einem der abstraktesten Kunstwerke des bei Bern sende Partitur von Chant d’adieux pour Violon et Amadeus Mozarts unvollendeter Totenmesse aus, aufeinander bezogenen Hörner gegenüber, sodass geborenen Malers und Grafikers ausgehen. Klee schuf Alto (2001) keine persönlichen Bezugspunkte. Aber dem nicht nur entstehungsgeschichtlich geheimnis- sich ein Gleichgewicht zwischen Soloinstrumenten das Werk mit den nur bruchstückhaft sichtbar wer- der Titel verweist auf die hier vorliegende Transkrip- vollen Requiem KV 626. Gemeinsam mit seiner Frau und Ensemble herstellt, aus dem eine empfindsa- denden Zeichen 1933, nach schweren Angriffen auf tion der gleichnamigen Komposition für Klarinette Elsbeth Darbellay, die wie der Komponist am Berner me Melodik erwächst. Auf den weiteren Fortgang seine künstlerische Identität und kurz vor seiner damit und Bassetthorn von 1998. Das ursprüngliche Werk Konservatorium eine Ausbildung im Fach Klarinette des konzertanten Geschehens macht der Kompo- verbundenen Entlassung als Professor der Düsseldor- entstand für einen Bekannten aus dem Umkreis durchlief und sich zudem als Bassetthornistin profi- nist selbst aufmerksam, indem er bemerkt: «Vom fer Akademie. der Thüringen Philharmonie Suhl, der damals im lierte, übernahm er oft die Bassetthorn-Stimmen bei Hornquartett, das “im Herzen” des Orchesters wirkt, Kontext des Fusionsprozesses des Orchesters sei- Aufführungen des Mozartwerkes. Dabei begeisterte wurden in a quattro Klangperspektiven entworfen, Gestimmte und ungestimmte Gongs, Becken und nen Abschied nahm. Der ergreifend verinnerlichte er sich an diesem in der Mittellage höchst feinsinnig die von jenem aufgenommen, reflektiert und beant- Tamtams – laut Partitur «unhörbar einsetzend/die pentatonische Gesang des Streicherduos nun mag und zart klingenden Instrument sowie an den von wortet werden. Die Bläsergruppe entspricht dabei höheren Instrumente immer leiser als die tiefen, als einen Zusammenhang mit diesem Ereignis nahe Mozart insgesamt gefundenen kompositorischen der Besetzung des Schumann’schen Konzertstücks op. “Farbtupfer”» – und kurz darauf Vibraphon «gestri- legen und hat doch hauptsächlich eine nicht verba- Lösungen, sodass sich mehr und mehr der Wunsch 86 und bildet streckenweise ein “Concertino”, das mit chen» sowie Marimbaphon «mit Fingern tremoliert» lisierbare, im Unergründlichen wurzelnde «zeitlose» nach einer eigenen künstlerischen Gestaltung dieser den Solisten dialogisiert und sich mit ihnen vermischt. schaffen zu Beginn von Shadows für fünf Schlag- Dimension. Texte herauskristallisierte. Kontrastierende Holzbläser und Schlagzeuginterventi- zeuger eine weiträumig nachhallende Atmosphäre onen erweitern und kommentieren die von der Horn- des Geheimnisvollen, Fernen, vielleicht sogar des Lange vor der Erteilung des Kompositionsauftrags Mit der Auswahl dieser literarischen Vorlage zielt gruppe geprägten melodischen und harmonischen Jenseitig-Transzendenten. (Sicher nicht zufällig durch Chefdirigent Fabio Luisi und das Sinfonie- der Komponist auf eine musikalisch geformte über- Elemente.» erinnert das Dreitonmotiv e2-es1-cis2 an Pierre Bou- orchester sowie den Chor des Mitteldeutschen greifende Einheit, weil er sich bei der Vertonung lez’ Mémoriale für den verstorbenen