Selbstbildnis, 1936, Öl auf Leinwand, 77,5 × 55 cm, Sammlung Christina und Volker Huber, Offenbach am Main

n Tafel 1 Idylle und Apokalypse Rudolf Schlichters Landschaften

Herausgegeben von Mark R. Hesslinger

Mit Beiträgen von Christian Drobe, Dirk Heißerer, Mark R. Hesslinger, Sigrid Lange und Olaf Peters Der Katalog erscheint anlässlich der Ausstellung Idylle und Apokalypse Rudolf Schlichters Landschaften im KunSTMuSeuM HOHenKARPfen bei Hausen ob Verena

vom 14. April bis n1. Juli n019 Inhalt

5 Inhalt

7 Friedemann maurer Provokation und Wahrheitssuche Ein Vorwort

12 Sigrid Lange Einleitung Rudolf Schlichter – Leben und Werk

30 dirk Heißerer Fluchtort „Landschaft“ Rudolf Schlichter zwischen Schwäbischer Alb und Surrealismus

62 OLaF PeterS Rudolf Schlichter, die Landschaft und der Mensch Bemerkungen zu einigen Werken der „Inneren Emigration“ 1934 – 1942

70 CHriStian drObe Natur, Technik und der Dämon im Menschen Rudolf Schlichters Landschaften und die Abgründe der Industrialisierung

82 mark r. HeSSLinger Auf die Straße geworfen Kulturelles Gedächtnis und zivilisationskritische Allegorie Rudolf Schlichters?

101 Literatur 104 Abbildungsnachweis 105 Die Autoren 106 Wir danken herzlich 107 Über die Kunststiftung Hohenkarpfen 108 Impressum Speedy als Madonna vor Schwäbischer Alb, 1930/1934, Öl auf Leinwand, 78 × 50 cm, Kunststiftung der Sparkasse Calw

i Tafel n Friedemann maurer Provokation und Wahrheitssuche Ein Vorwort

Die frühjahrsausstellung des Kunstmuseums Hohenkarp- dem neckartal, von Hegau und Schwäbischer Alb, die eine fen ist Rudolf Schlichter (geboren 1890 in Calw und gestor- ganz besondere Handschrift tragen. ben 1955 in München) gewidmet. Sein breit angelegtes Werk unverwechselbar ist die Verräumlichung von Zeugen- oder als Maler, Zeichner und Schriftsteller spiegelt den kreativen umlaufbergen der Rauen Alb, die Schlichter exemplarisch Spannungsbogen eines sich im gefährlichen Sog der zwei ins Bild setzt: Bleibend der Kornbühl bei Salmendingen als Weltkriege ausbildenden Schaffens, dessen An fänge im einer der imposanten Härtlinge des Schwäbischen Jura – Ju gendstil und Dadaismus wurzeln, das seine akademische dem Hohenkarpfen ähnlich. Aus formung im Kreis der „Karlsruher Veristen“ um Karl Schlichter ist kein Idylliker, kein Romantiker; er stellt nur Hub buch, Georg Scholz und Willi Müller-Hufschmid er hält. die von der Industrialisierung geprägte, nutzbar gemachte Person und Werk erfahren einen bizarren Aufstieg in der Welt, die vom Schmiedegott Hephäst bearbeitete natur vor Berliner Bohème mit dem Salonkommunismus ehemaliger Augen. Diese hephästische Landschaft weist auf die Wucht Soldatenräte und agitierender Linksintellektueller. Zu industrieller Zerstörung der natur hin und auf die Selbst - Schlichters freundeskreis zählt Bertolt Brecht, dessen Por- gefährdung des Menschen durch einen Ressourcen ver- trait eines seiner bekannten Werke ist, und vor allem George schlingenden, ungebremsten fortschritt. Schlichters Kunst Grosz, mit dem er das Zentrum der 19n4 gegründeten Roten ist nie harmlos; er will allenthalben die Wahrheit ans Licht Gruppe, einer Vereinigung kommunistischer Künstler, bil- bringen. Kein Wunder, dass er – 193i nach umge- det. 19n9 bricht der damals durch Portraits von Größen der zogen und ab 1939 in München lebend – mehrfach in Kon- Weimarer Republik und Buchillustrationen arrivierte Künst- flikt mit der Staatsmacht gerät, kurzzeitig inhaftiert ist und ler mit dem Kommunismus, wendet sich unter dem einfluss als „entarteter Künstler“ mit wichtigen Arbeiten aus den der Schweizer Schauspielerin „Speedy“ Köhler, die er 19n9 Museen verbannt wird. heiratet, dem Katholizismus zu und befreundet sich mit nach dem Zweiten Weltkrieg sucht Rudolf Schlichter in der ernst Jünger und ernst von Salomon. Beschäftigung mit dem Surrealismus einen neuanfang, Dass der Person gewordene Bürgerschreck, der stilistisch setzt auch in der kunsttheoretischen Auseinandersetzung nunmehr mit Ausdrucksformen der neuen Sachlichkeit und mit seinem eintreten für die Bewahrung des Gegenständ - des expressiven Realismus Ansehen erlangt, sich 193n aus- lichen als entscheidendem Kriterium für eine ästhetische gerechnet in der württembergischen Bischofsstadt Rotten- wie politische Aussage bleibende Impulse. burg am neckar niederlässt, offenbart einen radikalen in - Schlichter rechnet mit seinem vielschichtigen Werk zu jener neren Bruch mit dem politisch, moralisch wie kulturell „verschollenen Generation“ der ersten Hälfte des n0. Jahrhun- schillernden Leben in der europäischen Metropole . derts, die Rainer Zimmermann eindrücklich beschrieben An die Stelle einer spezifischen Großstadtästhetik der Wei- hat. und: Rudolf Schlichter passt in die Ausstellungsphilo- marer Zeit, wie sie Schlichter neben Grosz und Dix wie sophie des Hohenkarpfen, weil er mit seiner unangepasst- kaum ein anderer ausgeprägt hat, tritt die Konzentration auf heit, mit seiner Originalität, mit seiner Wucht der Provoka- Landschaftsdarstellung mit Motiven aus dem Schwarzwald, tion und bohrenden Wahrheitssuche die Zeiten überdauert.

h Max Schlichter, 1930, Öl auf Leinwand, 110 × 100 cm, Fischer Kunsthandel & Edition, Berlin

8 Tafel 3 Die Muer, 1927, Öl auf Leinwand, 77 × 68 cm, Städtische Museen Calw / Eigentum des Landes Baden-Württemberg

9 Tafel 4 Géza von Cziffra, 1926–27, Aquarell, 62,5 × 49 cm, Fischer Kunsthandel & Edition, Berlin

10 Tafel 5 Meine Frau mit Katze, 1930, Aquarell, 53,5 × 42 cm, Privatsammlung

11 Tafel i Sigrid Lange Einleitung Rudolf Schlichter – Leben und Werk

Rudolf Schlichter war Maler, Zeichner und Schriftsteller – nen, flüchtete Schlichter zunächst in Traum welten und eine faszinierende Persönlichkeit mit obsessivem Charak- verschlang Bücher, die ihm halfen, seine Phantasien zu ter, widersprüchlichen Meinungen und Idealen. Das bewältigen. erst in der Halbwelt der Residenzstadt begann umfangreiche Gesamtwerk des Künstlers reicht von frühen Schlichter, angeregt von seinem Vorbild Oscar Wilde, seine akademisch geschulten Arbeiten über Jugendstil, Dada, Andersartigkeit in der Rolle des Dandys und Bohemiens, neue Sachlichkeit, expressiven Realismus bis hin zum Sur- geschminkt und gepudert, mit auffäl liger Bekleidung und realismus der nachkriegszeit. Bekannt sind heute jedoch Knöpfstiefeln, auszuleben. vor allem seine in den 19n0er Jahren entstandenen Berli- Trotz aller eskapaden und gelangweilt von dem akade - ner Großstadtszenen und Portraits von Intellektuellen der mischen Kunstbetrieb, trieb Schlichter sein Studium vor Weimarer Republik. er gilt neben George Grosz und Otto allem bei Professor Walter Georgi (18h1–19n4) erfolgreich Dix als einer der bedeutenden Vertreter des sogenannten voran und wurde 1914 Meisterschüler von Caspar Ritter veristischen flügels der neuen Sachlichkeit. (18i1–19n3).n Das Studium an der Kunstakademie in Karls- Schlichter wurde am i. Dezember 1890 in der pietistisch ruhe war für Schlichter weniger hinsichtlich seiner künstle- geprägten Kleinstadt Calw im nordschwarzwald in Würt- rischen Ausbildung wichtig. Wegweisend waren vielmehr temberg geboren. er war das sechste Kind des Lohngärt- der Austausch mit den Studienkollegen, Ausstellungsbesu- ners franz Xaver Schlichter (185n–1893) und der Pauline che und Diskussionen über künstlerische Stile und Inhalte. Rosine, geborene Schmalzried (185h–194n).1 In Calw Die ersten von Schlichter bekannten Werke, wie beispiels- absolvierte er zunächst die katholische Volksschule und weise das Bildnis seiner Mutter [Tafel 4], lassen den akade- besuchte anschließend die höhere Lateinschule am Ort. mischen Stil unter dem einfluss der Impressionisten noch Ausgestattet mit einem schon früh erkannten zeichneri- deutlich erkennen. In anderen Bildern finden sich bereits schen Talent, begann Schlichter danach kurzfristig eine avantgardistische einflüsse des expressionismus, futuris- Ausbildung zum emailmaler im nahegelegenen Pforz- mus und der Abstraktion, wie beispielsweise das Aquarell heim. es folgte von 190h bis 1909 der Besuch der Württem- Der Sturm [Tafel h].3 es sind aber vor allem druckgraphi- bergischen staatlichen Kunstgewerbeschule in Stuttgart. sche Arbeiten aus den Jahren zwischen 1910 und 1914, die Auf empfehlung des dortigen Schuldirektors wechselte Schlichters zeichnerisches Talent belegen und für eine Schlichter schließlich auf die Großherzoglich-Badische damals bevorzugte Strategie junger Künstler stehen, Ideen Akademie der Bildenden Künste in . spontan umzusetzen, die künstlerische entwicklung zu Bereits als Jugendlicher hatte Schlichter sich in einer überprüfen und zugleich eigene Werke zu erschwinglichen Außenseiterrolle gesehen, die maßgeblich durch wachsende Preisen zu verkaufen.4 sexuelle Obsessionen für Knöpfstiefel, Strangula tionen und Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, wurde Schlichter Gewaltphantasien befördert wurde. In dem Wissen, damit aufgrund seiner Kurzsichtigkeit zunächst vom Kriegsdienst den moralischen Vorstellungen nicht entsprechen zu kön- zurückgestellt und erst 191i als Militärfahrer an die West-

1n front geschickt. Durch einen Hungerstreik gelang es ihm, sich dem Kriegsdienst wieder zu entziehen. In dieser Phase bis zum ende des Krieges zeigen Schlichters Arbeiten ein- flüsse des Dada. Bis Anfang der 19n0er Jahre spielte das Thema Wild-West [Tafeln 9 und 10] eine wichtige Rolle. Die Thematik ist besonders seiner Begeisterung für die Geschichten von Karl May zu verdanken. nach dem Krieg gründete Schlichter 1918 gemeinsam mit einigen Künstlerkollegen die Gruppe Rih. Ihre erste Aus- stellung sorgte in der Öffentlichkeit für viel Diskussion, wie schon die vorausgegangene gemeinsame Ausstellung mit dem Künstlerkollegen Vladimir Zabotin (1884–19ih). Kurzzeitig engagierte sich Schlichter 1918 im Karlsruher Soldatenrat, doch schon 1919 entschloss er sich zu einem umzug in die Metropole Berlin. Der Bruder des Künstlers, Max Schlichter (188n–193n) [Tafel 3], besaß seit 191h mit dem „Schlichters“ ein unter Künstlern und Intellektuellen beliebtes Lokal, nur wenige Schritte von der pulsierenden einkaufsmeile Tauentzien Auf dem Land, 1926, Aquarell auf Papier, 45 × 60 cm, Sammlung Frank Brabant, Wiesbaden entfernt. In den Räumen konnten Künstler ihre Werke aus- stellen und verkaufen. für Rudolf Schlichter war die Gast- stätte wichtiger Treffpunkt für Kontakte zu den avantgar- George Grosz die Rote Gruppe, eine Vereinigung kommu- distischen Kreisen.5 Zu seinen Bekannten gehörte schon nistischer Künstler. In den Medien der linken Parteien und bald der Dichter Bertolt Brecht (1898–195i), dessen Por- Organisationen kommentierte er wie Grosz oft mit beißen- trait eines der bekanntesten Werke Schlichters ist. für die der Ironie tagespolitische ereignisse.i Die Illustration von Brüder John Heartfield (1891–19i8) und Wieland Herz- Büchern wurde ein weiteres wichtiges Standbein seines feld (189i–1988) war er als Illustrator im Malik-Verlag Schaffens.h tätig. Mit George Grosz verband ihn vorübergehend eine Künstlerisch war Schlichter in diesen Jahren einer realisti- intensive Zusammenarbeit und freundschaft. Beide Künst- schen Darstellungsweise verpflichtet, die 19n5 durch den ler teilten sich einige Zeit ein Atelier und zeichneten diesel- Direktor der Mannheimer Kunsthalle, Gustav friedrich ben Modelle. Hartlaub (1884–19i3), anlässlich einer Ausstellung zur 19n0 wurde in der Galerie Burchard Schlichters erste ein- Kunst seit dem expressionismus mit dem Begriff Neue zelausstellung eröffnet. Kurz darauf beteiligte er sich an Sachlichkeit belegt worden war. Auch Schlichter war ver - der Ersten Internationalen Dadamesse. Sein gemeinsam mit treten. In dieser Zeit gewann die Portraitdarstellung für Heartfield geschaffener Preußischer Erzengel – eine lebens- Schlichter an Bedeutung. neben Bildnissen namenloser große Soldatenpuppe mit Schweinskopf – provozierte Modelle waren es besonders Portraits der Intellektuellen einen Skandal und zog ein Verfahren nach sich. Gleichzei- der Weimarer Republik, die ihm auch bei konservativen tig engagierte sich Schlichter in zahlreichen politischen Kritikern Anerkennung einbrachten [Tafel 5]. Organisationen und in der kommunistischen Partei, deren um 19nh lernte Schlichter die aus der Schweiz stammende Mitglied er seit 1919 war. 19n4 gründete er zusammen mit elfriede elisabeth Köhler (190n–19h5), genannt Speedy,

13 An die Schönheit, 1935, Öl auf Leinwand, 100 × 185 cm, Werkphoto im Deutschen Literaturarchiv Marbach experimentierte Schlichter in seinen Bildern vorüberge- hend mit expressiven Ausdrucksformen und einem eher malerischen Stil. kennen und heiratete sie 19n9 [Tafel n]. Speedy Schlichter Aufgrund der persönlichen Veränderungen, aber auch re- hatte sich durch ihr Aussehen und Auftreten in Berlin den signiert von der Wirkungslosigkeit seines bisherigen politi- Ruf einer „Lebedame“ erworben und war mit kleineren schen engagements, verließ Schlichter 193n die Großstadt Rollen gelegentlich in der filmbranche tätig.8 fortan war Berlin, um sich in der schwäbischen Bischofsstadt Rotten- sie Schlichters bevorzugtes Modell, wichtigste Vertraute burg am neckar niederzulassen. Der umzug zurück in die und Bezugsperson. unter ihrem einfluss begann bei württembergische Heimat ergab sich konsequent aus sei- Schlichter jedoch ein wichtiger Wandel, der ihn zurück nem inneren Wandel und war für Schlichter mit der Hoff- zum katholischen Glauben, zum Bruch mit dem Kommu- nung auf einen künstlerischen neuanfang verbunden. nismus und in den Kreis der neuen nationalisten um ernst Schlichter wollte auf Grundlage seiner religiösen und na- Jünger und ernst von Salomon führte. tionalen Überzeugungen einen neuen zeitgemäßen Realis- Der Wandel in Schlichters Weltanschauung steht jedoch mus entwickeln.9 auch im Kontext der zunehmenden Veränderungen der In Rottenburg konzentrierte sich Schlichter vorübergehend Weimarer Republik, die nach einer relativ stabilen Phase fast ausschließlich auf die Darstellung der Landschaft, die um 19n5 mit politischen und wirtschaftlichen Spannungen er in Hunderten von Zeichnungen, meist wieder ganz dem erneut in die Krise geriet. In dieser Phase des umbruchs Realismus verhaftet, festhielt. Viele dieser Zeichnungen ste-

14 hen im Kontext eines geplanten Landschaftsbuchs, das er existenz der beiden gerade erschienenen und indizierten 1935 bei Rowohlt herausbringen wollte.10 autobiographischen Bücher Schlichters bekannt gewesen Schon früh kam es in der Bischofsstadt nach der national - sein, deren Inhalt kaum mit seinen eigenen Moralvorstel- sozialistischen Machtergreifung zu Auseinandersetzungen lungen in einklang zu bringen war. es ist aber offensicht- zwischen der katholischen Bevölkerung und den national- lich, dass Sproll Schlichter als Künstler schätzte und dessen sozialisten, von denen auch Schlichter betroffen war. Pro- wachsende notlage durch den Auftrag lindern wollte. bleme bereiteten auch Schlichters öffentliche Bekenntnisse 193i zog Schlichter nach Stuttgart, nicht zuletzt, weil ihm zu seinen sexuellen Obsessionen: für das mehrbändige Bil- die Kleinstadt Rottenburg keine Möglichkeit bot, am kultu- derlexikon der erotik hatte Schlichter ab 19n9 eine Vielzahl rellen Leben teilzunehmen, seine Kunst auszustellen oder von Illustrationen angefertigt.11 1931 war sein Roman Zwi- mit ihr genügend Geld zu verdienen. In Stuttgart konnte schenwelt. Ein Intermezzo1n erschienen, in dem der Künstler Schlichter 193i in den Räumen des Privatsammlers Hugo seine Veranlagung und seine unkonventionelle Liebes - Borst letztmals vor dem Krieg sein Schaffen recht umfas- beziehung zu seiner frau offenlegte. 193n und 1933 hatte send präsentieren. Kurze Zeit später erhielt Schlichter 193h Schlichter zwei Bände seiner Autobiographie unter den einen Verweis der Reichskammer für Bildende Künste Titeln Das widerspenstige Fleisch und Tönerne Füße13 veröf- wegen seines in der Ausstellung gezeigten Gemäldes fentlicht, deren Schilderungen von Kindheit und Jugend in Blinde Macht, das als Staatskritik beanstandet wurde.18 Im Calw sowie der Zeit des Studiums in Karlsruhe samt detail- gleichen Jahr präsentierte man vier seiner Arbeiten in der lierter erörterung seiner persönlichen Obsessionen von den Ausstellung Entartete Kunst in München und entfernte neuen nationalsozialistischen Machthabern als „pervers- insgesamt siebzehn Bilder aus Museen. Zwar erreichte erotische Selbstdarstellung“ 1933 auf den Index gesetzt Schlichter im Januar 1938 durch die fürsprache von freun- wurden.14 den die Wiederaufnahme in die Reichskammer für Bil- Als Schlichter 1934 in der Zeitschrift Junge Front die Zeich- dende Künste, doch im november desselben Jahres wurde nung Goliath verhöhnt das Volk Israel veröffentlichte, wurde Schlichter aufgrund einer anonymen Anzeige vorüber - diese kurzzeitig verboten und Schlichter vorübergehend gehend inhaftiert und wegen „unnationalsozialistischer aus der Reichskammer für Bildende Künste ausgeschlos- Lebensführung“ angeklagt.19 sen. In den Augen der nS-Behörden waren auf dem nach seiner freilassung zogen die Schlichters 1939 nach Panzer des dargestellten kolossalen Goliaths staatliche München und fanden neue Kontakte im umfeld des Hoheitszeichen zu erkennen, die man durch den – vom Herausgebers der katholischen Zeitschrift Hochland, Carl Betrachter erst noch hinzuzudenkenden – Steinwurf des Muth (18ih–1944). 194n wurden Schlichters Wohnung David angegriffen sah. Im Juni 1935 begann ein Verfahren und Atelier durch einen Bombenangriff zerstört. Infolge gegen Schlichter wegen der autobiographischen Bücher der schwierigen Situation sind aus den Kriegsjahren nur und der genannten Zeichnung, das im Oktober zum Aus- wenige Arbeiten Schlichters überliefert. es gelang ihm nur schluss aus der Reichsschrifttumskammer und dem Reichs- selten, beispielsweise Landschaftszeichnungen in der Deut- verband Deutscher Schriftsteller führte.15 schen Kunstausstellung in München zu platzieren. nur unterstützung fand Schlichter in dieser Zeit bei dem vereinzelt erhielt er Portrait- und Illustrationsaufträge. Der Rottenburger Bischof Joannes Baptista Sproll (18h0–1949), seit Beginn der 1930er Jahre in Schlichters Bildern wieder den er auch porträtierte [Tafel 11].1i Die genauen Hinter- vorherrschende realistische Stil kennzeichnet auch das gründe, die zum Auftrag dieses offiziellen Amtsporträts Werk der nachfolgenden Jahre. führten, sind nicht überliefert.1h Die Wahl von Schlichter Das ende des Zweiten Weltkrieges führte bei Schlichter zu erscheint zwar überraschend, denn dem Bischof dürfte die einer sehr produktiven Schaffensphase, in der er sich mit

15 Maskerade, 1919, Tusche, 51 × 51 cm, Sammlung Sparkasse Pforzheim Calw An der Bar, 1925, Tusche, 49,2 × 61,1 cm, Sammlung Sparkasse Pforzheim Calw

den vorausgegangenen ereignissen des Dritten Reichs einen direkten Gegenwartsbezug haben. Seine Themen auseinandersetzte. In seinen Bildern rücken Kolosse, waf- sind der untergang der Kulturwelt, aber auch Technik- fenstrotzende Schlachtreihen und brutale unholde den und Zivilisationskritik [Tafel 49]. Stilistisch blieb Schlichter Menschen zu Leibe, wie auf dem Aquarell Sie starb daran überwiegend gegenständlich-realistisch. Gelegentlich [Tafel 14]. finden sich aber auch abstrakte oder formelhafte Arbeiten Wichtiger jedoch als die inhaltliche Auseinandersetzung [Tafel 1h]. Malerische elemente setzte er nun vielfach dazu mit der nationalsozialistischen Diktatur wurde für Schlich- ein, um inhaltliche Aussagen zu verstärken. ter die Suche nach einem neuanfang in der Kunst. Anknüp- Die Suche nach einem neuen künstlerischen Stil fand ihren fungspunkte fand er im französischen Surrealismus der Widerhall in Schlichters engagierter publizistischer Tätig- Vorkriegszeit. Wesentlicher unterschied zu diesem ist bei keit, mit der er sich gegen die Vormachtstellung der ab - Schlichter jedoch, dass seine unwirklichen Welten nicht strakten Kunst in der nachkriegszeit wandte, besonders in mehr unterbewussten Traumbildern entspringen, sondern seiner Streitschrift Das Abenteuer der Kunst, die 1949 er -

1i schien und im Kontext der damals geführten Debatte um wurde erst durch Ausstellungen des italienischen Kunst- abstrakte und gegenständliche Kunst zu sehen ist. Seine händlers emilio Bertonati 19h0 und 19h1 in dessen Ga - Bilder konnte er bereits in den ersten größeren Kunstaus- lerien in München und Mailand wiederentdeckt.n0 erste stellungen der nachkriegszeit zeigen. ein Höhepunkt sei- retrospektive Ausstellungen konzentrierten sich noch auf nes öffentlichen Wirkens der nachkriegszeit war schließlich Schlichters Arbeiten der 19n0er Jahre.n1 erst danach wur- die Teilnahme an den Biennalen 1948 und 1954 in Venedig. den auch spätere Arbeiten Schlichters von der kunsthistori- Schlichter starb am 3. Mai 1955 nach einer Darmkrebsope- schen forschung und in Ausstellungen gewürdigt.nn Die ration in einem Münchener Krankenhaus und wurde am öffentliche Wahrnehmung seines Werks ist jedoch noch i. Mai auf dem Münchener Waldfriedhof beigesetzt. Sein immer auf wenige bekannte Werke überwiegend aus den künstlerisches Werk geriet schnell in Vergessenheit und 19n0er Jahren beschränkt.

Anmerkungen chelschwein, Die rote Fahne, Simplicissimus, Quer- 1i Rudolf Schlichter: Übersicht über meinen Bil- 1 Biographische Daten soweit nicht anders ver- schnitt u.a. dungsgang, meine künstlerische und politische merkt: Horn 1984/ Kat. Ausst. Berlin 1984, h Siehe Heißerer 1998, S. n3–i4. entwicklung (Bewerbungsschreiben), in: Met- S. 3a-1ia; Hofmann/ Präger 1984/ Kat. Ausst. 8 Metken 199h/ Kat. Ausst. Tübingen 199h, Kat. ken 1990 a, i5–i9, S. ih. Berlin 1984, S. 1ha-3na; Bergius 1984, Kat. nr. 103, S. 190– 191. 1h Ausst. Kat. Koblenz n015, Kat. nr. i9, S. 144– Ausst. Berlin 1984, S. 33a-4ia; nungesser 1984, 9 Heißerer 199h/ Kat. Ausst. Tübingen 199h, 145 (Bearb. Sigrid Lange). Kat. Ausst. Berlin 1984, S. i5a-hia; Horn 1990, S. 5i–in. 18 Zum Gemälde Blinde Macht: Metken 1984/ Kat. S. 9–38; Sudhoff 1999, S. 3in–ih; Kat. Ausst. 10 Heißerer 199h/ Jünger-Schlichter, S. 1n. Ausst. Berlin 1984, S. hha; Kat. Ausst. Tübingen Tübingen 199h, S. 9–n5; Schlichter 1991 (193n); 11 Bilderlexikon der erotik, Bd. II (19n9) mit ei- 199h, Kat. nr. 14h, S. n53– n5i (Bearb. Günter Schlichter 199n (1933); Ottnad n00h, S. 3n4– nem Artikel zu Schlichter und Abbildungen sei- Metken); Peters 1998, S. nn9– nin. 3ni; Lange n015/ Kat. Ausst. Koblenz n015, ner Werke; Bd. III (1930) mit Illustrationen zu 19 Ausst. Kat. Koblenz n015, Kat. nr. 10n, S. 188 S. 13–1h. verschiedenen Artikeln. (Bearb. Sigrid Lange). n Connelly n014, S. 41, Anm. ni. 1n Schlichter 1994 (1931). n0 Kat. Ausst. Milano 19h1. Vgl. auch Vallora 199i. 3 Hoffmann/ Präger 1984/ Kat. Ausst. Berlin 1984, 13 Schlichter 1991 (193n); Schlichter 199n (1933). n1 Kat. Ausst. Berlin 1984; Kat. Ausst. Tübingen S. 1ha-3na. 14 ein ursprünglich geplanter dritter Band wurde 199h. 4 Connelly n014, S. 4h–50. erst posthum 1995 mit dem Titel Die Verteidi- nn Peters 1998, S. 99ff. und S. nn9ff.; Lange n011; 5 Schebera n005, S. 114– 133. gung des Panoptikums veröffentlicht. Drobe n014; Kat. Ausst. Koblenz n015. i Schlichter war Mitarbeiter verschiedener Zeitun- 15 Zu den Ausschlüssen auch Heißerer 199h/ Jün- gen: Gegner, Knüppel, Ulk, Montag Morgen, Sta- ger-Schlichter, S. 41i– 418.

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