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Bernd Rill (Hrsg.)

NATIONALES GEDÄCHTNIS IN DEUTSCHLAND UND POLEN

Impressum

ISBN 978-3-88795-381-2 Herausgeber Copyright 2011, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel. 089/1258-0 E-Mail: [email protected], Online: www.hss.de

Vorsitzender Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, Staatsminister a.D., Senator E.h. Hauptgeschäftsführer Dr. Peter Witterauf Leiter der Akademie für Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser Politik und Zeitgeschehen Leiter PRÖ/Publikationen Hubertus Klingsbögl

Redaktion Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser (Chefredakteur, V.i.S.d.P.) Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin) Susanne Berke, Dipl. Bibl. (Redakteurin) Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin) Marion Steib (Redaktionsassistentin)

Druck Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Hausdruckerei, München

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Das Copyright für diese Publikation liegt bei der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Namentlich gekennzeichnete redaktionelle Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder. Inhaltsverzeichnis

Bernd Rill Einführung ...... 5

Manfred Alexander Tausend Jahre deutsch-polnische Beziehungen...... 7

Aleida Assmann Das gespaltene Gedächtnis Europas und das Konzept des dialogischen Erinnerns ...... 17

Robert Traba Wie bestimmt die Geschichte die nationalen Erinnerungs- und Gedenkkulturen in Deutschland und Polen? ...... 27

Klaus Ziemer Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ...... 35

Krzysztof Ruchniewicz Der September 1939 und der Zweite Weltkrieg in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur ...... 49

Hans-Erich Volkmann Der Bromberger Blutsonntag – oder von der Gegenwärtigkeit der Geschichte ...... 61

Stephan Lehnstaedt Deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939-1945 ...... 71

Wolfram Wette Hauptmann der – Retter von Juden und Polen in Warschau 1939-1945 ...... 81

Jerzy Maćków Jedwabne und die dunklen Seiten der polnischen Geschichte ...... 91

Jan Rydel Die polnische Exilarmee im Westen und die Besatzung des Emslandes ...... 103

Jan M. Piskorski Krieg, Flucht, Vertreibung und Versöhnung im deutsch-polnischen Kontext ...... 113

Autorenverzeichnis ...... 117

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Einführung

Bernd Rill

Die vorliegende Publikation verarbeitet Bei- im Zweiten Weltkrieg und in der anschlie- träge aus der einschlägigen Expertentagung, ßenden Zeit der Vertreibung der Deutschen die die Akademie für Politik und Zeitgesche- aus Schlesien, Hinterpommern, West- und hen zusammen mit dem Volksbund Deut- Ostpreußen. In der Zeit des „Kalten Krie- sche Kriegsgräberfürsorge e.V. vom 29. bis ges“ waren einzelne ehrliche Versuche zu 30. Juli 2010 durchgeführt hat. Das Thema verzeichnen, aus der Konfrontation der ge- ist von offensichtlicher Bedeutsamkeit nicht genseitigen Schuldzuweisungen und Auf- nur zwischen den beiden Nationen, sondern rechnungen auszubrechen, doch bedurfte es für das politisch-mentale Klima in ganz Eu- erst des Zusammenbruchs der kommunis- ropa. Denn die meisten Nationen Europas tischen Herrschaft in Polen, bis ein dauer- müssen in ihrem historischen Gedächtnis hafter und breiter Dialog in diesem Sinne eine Fülle von zwar gemeinsamer, aber aufkommen konnte. Es dürfte nun rund gewaltsam abgelaufener Vergangenheit zu 20 Jahre nach dem Fall des „Eisernen Vor- bewältigen versuchen, eine Fülle, die den- hanges“ die Zeit reif dafür sein, die betref- noch ihre aktuell und zukünftig dringend fende deutsch-polnische Diskussion zu erforderliche Kooperation nicht behindern dokumentieren, wenn auch nur, wie hier, in darf. Man nehme etwa das Beispiel der zusammenfassender Auswahl und mit der jahrhundertelang zwischen Deutschland und Konzentration auf die Zeit des Zweiten Frankreich gewissermaßen postulierten „Erb- Weltkrieges. feindschaft“: Victor Hugo beschwor bereits das verbindende Bild von Frankreich als Doch unter all den schmerzhaften Einzel- dem Kopf und Deutschland als dem Herz heiten, die dabei erörtert werden müssen, ist Europas – die er sich beide als gleichbe- nicht zu vergessen, dass Deutsche und rechtigt und zusammenarbeitend vorstellte – Polen im Laufe ihrer mittlerweile mehr als da mussten die Deutschen einen Krieg tausendjährigen Gemeinsamkeit weitaus mehr gegen Frankreich führen, um ihre (klein- an friedlichen, im Rahmen des Möglichen deutsche) nationale Einheit gegen das macht- „konstruktiven“ Phasen durchlaufen haben, politisch eifersüchtige Frankreich durchzu- als dass sie gegeneinander gewütet hätten. setzen. Und anschließend stand bis 1919 Dasselbe gilt übrigens auch für das Verhält- noch das von Frankreich abgetretene Terri- nis zwischen Deutschen und Tschechen, torium von Elsaß-Lothringen zwischen bei- dessen nationalistischer Zuspitzung ab dem den Nationen, so dass ernsthafte Bündnis- 19. Jahrhundert eine vorhergehende Zeit der Erwägungen dadurch mindestens bis 1919 Symbiose gegenübersteht, die weitaus mehr ausgeschlossen waren. Mittlerweile hat sich Generationen umfasst hat. Die deutsche die Vision Victor Hugos erfüllt, aber erst Ost-Kolonisation des Hohen Mittelalters nach zwei Weltkriegen, die beiden Völkern etwa, die in ihrem Endergebnis die Sied- unermessliches Leid gebracht haben. lungsgebiete so verzahnte, dass sich daraus im späteren Zeitalter des exklusiven Nationa- Ähnliche Erinnerungen von Hass und ge- lismus die gewichtigsten Probleme ergaben, genseitiger Zufügung von Leiden bestehen lief ab, ohne dass dabei von gewalttätigen zwischen Deutschen und Polen, mit dem Auseinandersetzungen zwischen Deutschen quantitativen und qualitativen Höhepunkt und Einheimischen berichtet wird. Aus- 6 Bernd Rill

nahmen – wie die Zwangs-Christianisierung die Jahrhunderte zurückgreifen. Denn auf der Pruzzen im nachmaligen Ostpreußen – unserem mit Historie gesättigten Kontinent bestätigen die Regel, galten damals als voll- haben auch diese ihre unzerstörbaren Spu- kommen „politically correct“ (eben wegen ren hinterlassen. Daher sind sie auch von des Aspektes der Hinführung zum Glau- fortwirkender Bedeutung und häufiger, als ben), richteten sich gegen Balten und nicht wir in unserem immer noch von den Kampf- gegen Slawen und belasteten, um die Ver- linien der beiden Weltkriege bedrängten bindung zu unserer besonderen Thematik Bewusstsein zu erkennen vermögen, in herzustellen, allenfalls das Verhältnis zwi- einem positiven Sinne. Man muss nur die schen der „classe politique“ bei den Deut- Bereitschaft aufbringen, in die Geschichte schen und Polen, aber nicht das Verhältnis hinabzusteigen, dann relativiert sich der zeit- breiterer Volksschichten zueinander. liche Abstand. Goethe, der so überaus Viel- seitige, hat zwar nicht speziell als Historiker Ähnlich verhielt es sich mit den im Nach- brilliert, aber der angeführte Gedanke, der hinein berüchtigt gewordenen drei „Polni- für alles historische Verständnis grundlegend schen Teilungen“, die von 1772 bis 1795 ist, leuchtete ihm ein. Deshalb reimte er im den gesamten polnischen Staat, die damali- „West-Östlichen Divan“: ge Adelsrepublik, von der Landkarte tilgten. Das war ein klarer Verstoß gegen das inter- „Wer nicht von dreitausend Jahren nationale Recht, der auch nicht durch Er- Sich weiß Rechenschaft zu geben, wägungen über das „Europäische Gleich- Bleib im Dunkeln unerfahren, gewicht“ in Rechtmäßigkeit umgedeutet Mag von Tag zu Tage leben.“ werden konnte, und zwei deutsch bestimmte

Großmächte waren als Teilungsmächte da- Und es sei dem Herausgeber gestattet, diese bei: Preußen und Österreich. Aber es ist ein Einführung mit einem weiteren Zitat zu allzu weiter Weg von diesen Ereignissen schließen, das für die wünschenswerte Ge- hin zu der Konfrontation zwischen Deut- staltung des zukünftigen deutsch-polnischen schen und Polen, die dann im 20. Jahrhun- Verhältnisses ein passendes Motto abgibt: dert stattfand. Hölderlins Wort – Andererseits darf man unter „Geschichte“ nicht nur die Vergangenheit verstehen, die „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende gerade erst abgetan wird, sondern muss in auch.“ Tausend Jahre deutsch-polnische Beziehungen

Manfred Alexander

Über viele Jahrhunderte hinweg haben Deutsche in Polen in einer überwiegend guten und privi- legierten Nachbarschaft gelebt. Nach den Teilungen Polens entwickelte sich in Preußen ein deutsch-polnischer Antagonismus, der nach der Reichsgründung (1871) auf das gesamte deutsch-polnische Verhältnis überging und seine Zuspitzung in einem „Rassenkonflikt“ fand.

Eine Betrachtung der deutsch-polnischen niedergeschlagen hat. In drei Generationen Beziehungen darf sich nicht auf die letzten sind dort auf der Ebene der Herzöge sechs 150 Jahre beschränken, weil sonst der Ein- Ehen zu verzeichnen. Auch ohne Quellen- druck entstehen kann, dass die vorangegan- nachweis ist anzunehmen, dass diesen wohl genen Jahrhunderte nur als Vorgeschichte weitere auf niederer Ebene gefolgt sind, je- der Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts denfalls sind dadurch persönliche Bindun- zu sehen seien. In einer Nachbarschaft von gen entstanden, die die Kenntnis über die über 1.000 Jahren im Herzen Europas sind jeweils andere Seite vertiefte, die Sitten und aber viele Felder und Ebenen zu beachten, religiösen Vorstellungen einander annäher- auf denen die Menschen beider Sprachgrup- ten und häufige Treffen zur Folge hatten. pen in der jeweiligen Zeit einander begeg- Der Streit um Familienerbe, um Rangfragen net sind. Ein kurzer Überblick über solche und Herrschaftsgebiete war „normal“, wie Phasen unterschiedlicher Intensität kann unter sonstigen Verwandten des Hochadels. einen vielseitigen Austausch belegen und Der Chronist Thietmar von Merseburg davor bewahren, dem suggestiven Vers jak berichtet von der Unlust der sächsischen świat światem, niemiec polakowi nie będzie Krieger, unter Heinrich II. gegen den polni- bratem („solange die Welt besteht, wird ein schen Herzog Bolesław zu Felde zu ziehen; Deutscher dem Polen niemals ein Bruder gleichfalls kritisch hatte er sich aber auch sein“) zu erliegen. über die demonstrative Geste der Erhöhung desselben durch Otto III. während dessen denkwürdiger Wallfahrt zum Grab des Mär- 1. Polen im christlichen Europa tyrers Adalbert in Gnesen im Jahre 1000 ausgesprochen. Heiratsbeziehungen bedeu- Als erste Zeitebene bietet sich der Anfang teten aber nicht nur den Umzug einer hoch- der nachbarlichen Beziehungen an, als adeligen Dame an einen anderen Hof, son- Polen mit der Taufe des Herzogs Mieszko dern auch deren Begleitung durch eine ganze (966) der Familie der christlichen Völker Eskorte von Vertrauenspersonen. Die Da- Europas beitrat. Mit der Christianisierung men aus dem Gefolge werden sich oft lokale seines Landes erreichte der Herzog Gleich- Partner gesucht haben, auch wenn dies nicht rangigkeit auf der Ebene der Herrscher, was berichtet wird. Zu ihrem Umkreis gehörten sich unmittelbar in den folgenden Heirats- auch Priester, die zur Einrichtung der neuen beziehungen zwischen seiner Familie und Kirchenorganisation oder zur Verwaltung den sächsischen Adelsfamilien in den sla- der Herrschaftsgebiete benötigt wurden, fer- wischen Gebieten zwischen Elbe und Oder, ner Mönche, die Klöster errichteten und mit darunter auch die Familie der sächsischen ihrer Lebens- und Arbeitsweise auf die lo- Könige von Heinrich I. bis Heinrich II., kalen Bauern Einfluss nahmen. Setzte sich 8 Manfred Alexander

dieser Prozess des Kulturaustausches über die Juden, die sich nicht nur durch die Spra- mehrere Generationen fort, so konnte dies che von den Einheimischen unterschieden, zu beträchtlichen Änderungen in der her- sondern – was damals viel wichtiger war – kömmlichen Lebensweise führen, die im durch Religion und Lebensweise. So ent- Fall der piastischen schlesischen Herzogs- standen im ganzen Land Inseln eigener Kul- familie zum allmählichen Hineinwachsen in tur, die sich von den einheimischen polni- die Sprache des deutschen Nachbarn führte. schen Kräften, dem Adel und den Bauern, Ob den Zeitgenossen dieser Prozess un- unterschieden, mit diesen aber in einen re- angenehm war, wird kaum berichtet; nur gen Austausch eintraten. Darin einen „deut- der böhmische Chronist Cosmas von Prag schen Drang nach Osten“ oder in überhebli- schreibt über Anzeichen von Fremdenfeind- cher Weise eine deutsche Kulturüberlegen- lichkeit in seinem Land, während der entspre- heit zu sehen, verkennt, dass die Weitergabe chende polnische Chronist, der unter der von Waren, Fertigkeiten und Gedanken aus Bezeichnung Gallus Anonymus bekannt ist, dem Westen einen „normalen Vorgang“, selbst aus dem fernen Lothringen stammte, wenn auch mit Zeitverschiebung, darstellte: aber die polnischen Verhältnisse mit über- Im frühen Mittelalter hatten das Mittel- schwänglichem Lob geschildert hat. meergebiet und die Provence ihre Einflüsse in die nordfranzösischen Gebiete und nach Flandern gebracht, im Hochmittelalter gin- 2. Der mittelalterliche gen von den Niederlanden und dem Rhein- Landesausbau land ähnliche Einflüsse in Richtung der slawischen Gebiete aus (Mecklenburg, Betraf diese erste Phase der Kulturkontakte Pommern, Polen, Böhmen und Mähren); nur den engen Kreis der Herrscherfamilien später sollte der polnische Adel im pol- und der Kirche, so ist im fortschreitenden nisch-litauischen Doppelreich weite Gebiete Mittelalter die Dimension beträchtlich Ostmitteleuropas kulturell überformen, und größer. Nach der Einigung der polnischen schließlich haben die Ostslawen ihre russi- Teilgebiete und der Wiederherstellung der sche Kultur bis in den fernen Osten getra- Königsmacht hat sich insbesondere Kazi- gen. mierz „der Große“ (1333-1370) Verdienste um den Landesausbau und die Modernisie- Es ist falsch, in diesem Prozess eine Mas- rung seines Reiches erworben. Er hat frem- senwanderung zu sehen, denn es handelte de Fachleute verschiedener Art ausdrück- sich um „bewegende Gruppen“, wie der lich nach Polen eingeladen und damit eine Gießener Historiker Peter Moraw sie ge- Entwicklung gefördert, die schon vorher nannt hat: Gruppen von Menschen, die sich sichtbar gewesen war. Dies betraf die An- selbst bewegten und anderswo Neues in siedlung von Kaufleuten in den Städten, die Bewegung brachten. Stadtgründungen „zu zugleich das Privileg gesichert erhielten, ih- deutschem Recht“ intensivierten den Han- re ökonomischen und rechtlichen Probleme del und erweiterten die Gewerbetätigkeit, untereinander selbstständig zu regeln und indem sie die Initiative der Bürger freisetz- frei ihrer Wirtschaftstätigkeit nachzugehen. ten und für den Herrscher Steuervorteile Die Übertragung des „ius teutonicum“, die brachten. Die Stadtbürger fremder Herkunft Selbstverwaltung nach dem Magdeburger schoben sich als Schicht zwischen den Stadtrecht oder nach anderen ähnlichen landbesitzenden polnischen Adel und die Rechten (Nürnberg, Lübeck, Wien) wurde einheimischen Bauern, vielfach zum Nutzen zu einem Exportschlager, der auch dort Er- beider. Im Ergebnis dieses Prozesses wurde folge feierte, wo keine Ansiedlung von die „Stadt“ östlich der geschlossenen deut- deutschsprachigen Siedlern nachweisbar ist. schen Sprachgrenze zu einer polyethnischen Eingeschlossen war auch die Einladung an Erscheinung, in der Bewohner verschiede- Tausend Jahre deutsch-polnische Beziehungen 9

ner Sprachen und unterschiedlicher Religio- schen vieler Sprachen und Religionen. Der nen lebten. Dies war jedoch keine Idylle, Adel bildete die Nation im mittelalterlichen denn alle Fremden setzten in ihrem Ge- Verständnis und entwickelte sich aus dem winnstreben mit Monopolen und manchmal polnischen Kleinadel (szlachta) und den li- rüden Methoden ihre Interessen durch und tauischen Magnaten zu einer einheitlichen bewiesen darin auch untereinander wenig Kulturgemeinschaft. Wohl nur die Hälfte Solidarität. Am deutlichsten bekamen dies der Bevölkerung war polnischsprachig; in die Juden zu spüren, deren Anteil an der großen Teilen Litauens sprachen die Bauern Wirtschaft in dem Maße beschnitten wurde, weißrussisch oder ukrainisch, im Süden wie christliche Bewohner ihre Konkurren- kamen dazu Rumänen und Tataren; am ten ausschalten konnten, bis hin zur Einfüh- Unterlauf der Weichsel und im ehemaligen rung der Regel „de non tolerandis Iudaeis“, Ordensstaat lebten deutsche Bauern und der Ausweisung aus einigen königlichen Bürger. Die Städte waren durchweg mehr- Städten Polens. sprachig, wobei neben der deutschen Spra- che in den königlichen Städten besonders Das deutschsprachige Patriziat der königli- das Jiddische in vielen Adelsstädten zur chen Städte war die führende Kraft dieser Sprache der Mehrheit geworden war. Diese Bewegung und formte deren Bild, das bis ethnische Vielfalt wurde durch die religiöse heute in der Anlage der Städte und den ergänzt: Die polnischen Bauern waren ka- Häusern um die Marktplätze sichtbar ist. tholisch geblieben; der Adel war etwa eine Die enge Verbindung zum polnischen Adel Generation lang stark von der Reformation bedeutete ökonomische Vorteile für beide beeinflusst und kehrte erst Anfang des Seiten und bewirkte im 15. Jahrhundert zu- 17. Jahrhunderts zum alten Glauben zurück. nehmend eine Neigung, eine noch engere Teile des Adels und alle Bauern im Osten Verbindung zum Adel einzugehen: Aus der waren aber orthodox, im Westen evange- Krakauer Bürgerschaft sind z. B. die Fami- lisch. In den Städten waren alle Religionen lien der Firlej, Morsztyn und Boner zu nen- dieser Zeit vertreten: Neben den Katholiken nen, die ihre Aufnahme in den polnischen die Calvinisten und Lutheraner, sowie kleine Adel erreichten. Aber die Attraktivität der Gemeinschaften der Antitrinitarier, Arme- Selbstverwaltung des polnischen Adels nier und Muslime; die Juden bildeten in wirkte auch über die Landesgrenzen hinaus, einigen Gebieten gar die Mehrheit. Die wie die Stadtbewohner am Unterlauf der Adelsrepublik war ein Land der Toleranz, Weichsel in ihrer Opposition zum strengen das viele Flüchtlinge aus Glaubensgründen Reglement der Deutschen Ordensritter im aufnahm, aber auch weiterhin vom Zustrom Preußenland bewiesen; so wurde das deutsch- von Fachleuten aller Richtungen und aus sprachige Danzig, das durch Getreideex- allen westlichen Ländern profitierte. Der in- porte aus Polen reich geworden war, nach nere Frieden in dieser Vielfalt wurde dadurch den Niederlagen des Deutschen Ordens im begünstigt, dass Polen von seiner Verfas- 15. Jahrhundert zum treuesten Anhänger sung her keine aggressive Außenpolitik und größten Steuerzahler des polnischen betreiben konnte. Ein Dauerkonflikt bestand Königs. im Süden mit der Verteidigung des Landes gegen das Osmanische Reich; andere Krie- ge wurden vom König aus dynastischen 3. Polen-Litauen als Land der Gründen geführt, und dies betraf im Osten Toleranz das aufstrebende Moskauer Reich, in das König Sigismund in der „Zeit der Wirren“ Das Doppelreich Polen-Litauen war nach (russisch: smuta, 1605-1613) massiv der Union von Lublin (1569) ein seltenes eingegriffen hatte, sowie der Streit um die Beispiel für das Zusammenleben von Men- Krone Schwedens. Konflikte um Territorien 10 Manfred Alexander

deutschsprachiger Bewohner finden sich Teilung (1772) nur Gebiete an der oberen nicht. Die Hilfe des polnischen Heeres bei Duna und am mittleren Dujepr. Der öster- der Befreiung Wiens von der osmanischen reichische Zuerwerb von Galizien und Lo- Belagerung 1683 war entscheidend. In domerien war im Vergleich dazu bedeutsa- verschiedenen Königswahlen traten auch mer. Preußen war der eigentliche Betreiber deutschsprachige Kandidaten auf, und die der Teilung, da es mit dem flächenmäßig Beziehungen der Könige Polens etwa zum kleinen Erwerb am Unterlauf der Weichsel Habsburger Reich waren meist sehr eng. die ersehnte Landverbindung zwischen den Als mit August dem Starken 1697 der säch- brandenburgischen Besitzungen im römisch- sische Kurfürst zum polnischen König ge- deutschen Reich und seinem Anteil an wählt wurde, erreichte für zwei Generatio- Preußen erhalten hatte. Dort war Kurfürst nen lang der Einfluss von Deutschen in Friedrich 1701 zum König in Preußen ge- Warschau seinen Höhepunkt. Dies zeigte krönt worden, in dessen Besitz der Berliner sich auch darin, dass manche deutsche Ade- Zweig schon früher der Hohenzollern über lige im polnischen Dienst das Indigenat, also Vormundschaft und Erbgang gelangt war. die Aufnahme in den polnischen Adel, er- Wie sehr die ehemalige Zugehörigkeit des reichten. Einige Familien entwickelten auch „Preußens königlichen Anteils“ zur Krone einen polnischsprachigen Zweig, wie neben Polens und die ehemalige Lehnsabhängig- den deutschen Döhnhoffs auch polnische keit des „herzoglichen Preußens“ (seit 1525) Denhoffs zu verzeichnen sind. Man kann das Prestigebedürfnis der Hohenzollern be- für das letzte Jahrhundert der Adelsrepublik lastet hatte, geht aus der Tatsache hervor, durchaus von einer privilegierten Stellung dass die Brandenburger sich dreimal bei in- der Deutschen in Polen sprechen. Dem ent- ternationalen Friedensschlüssen ihre Souve- sprach jedoch keine gleichwertige Einstel- ränität von Polen haben bestätigen lassen. lung auf deutscher Seite, denn am Ende des Jahrhunderts finden sich in der beginnenden Konnten die preußischen Gebietsgewinne Publizistik bereits abwertend gemeinte der ersten Teilung aus Sicht der dort mehr- Begriffe wie „polnische Wirtschaft“ oder heitlich deutschsprachigen Bevölkerung im „polnische Unordnung“. Letzterer war al- modernen Verständnis noch gerechtfertigt lerdings aus der innerpolnischen Diskussion werden, so galt dies für die Gewinne aus über die Reformbedürftigkeit des polnischen der zweiten (1793) und dritten Teilung Staates übernommen. (1795) nicht mehr. Berlin war nunmehr zur Hauptstadt eines dynastischen Staates geworden, dessen Bevölkerung etwa zur 4. Die Teilungen Polens und Gründe Hälfte polnischsprachig war. für den preußisch-polnischen Gegensatz Aber nicht die Sprachenfrage war das wich- tigste Argument in dem nun beginnenden Die Teilungen Polens tilgten den Staat, der Gegensatz zwischen der polnischen Bevöl- nach Russland der flächenmäßig größte Eu- kerung und dem vergrößerten „Preußen“, ropas war, von der Landkarte und änderten denn in einem dynastischen Staat war die das Verhältnis der Polen und Litauer zu den Sprache ein eher technisches Problem, wie Teilungsmächten grundlegend. Deren Interes- das Zarenreich und das Habsburger Reich sen waren höchst unterschiedlich: Während bewiesen. Nachdem Friedrich II. im „Sie- Russland unter Peter dem Großen bereits benjährigen Krieg“ (1756-1763) durch Sper- Einfluss auf das ganze Königreich Polen rung der Weichsel und die Prägung minder- gewonnen hatte und die Zarin Katharina II. wertiger Münzen Teile seiner Kriegskosten 1764 sogar ihren Kandidaten für den Thron Polen auferlegt hatte, war Berlin zu einer durchsetzen konnte, erhielt es in der ersten Garantie der polnischen Modernisierungs- Tausend Jahre deutsch-polnische Beziehungen 11

bestrebungen bereit gewesen, die sich in nischen Intellektuellen selbst scharf kriti- der Verfassung vom 3. Mai 1791 niederge- siert worden, die davor gewarnt haben, dass schlagen haben. Auf Druck Katharinas II., die höchste Freiheit der Einzelnen auch die die sich vehement gegen die „französische größte Gefahr für den Staat darstelle. Pest“ an der Weichsel ausgesprochen hatte, brach Friedrich Wilhelm II. jedoch seine Dem polnischen Beispiel völlig entgegen- Zusage und stimmte der zweiten Teilung gesetzt war das Prinzip, mit dem die Kur- zu, die ihm das westpolnische Posener fürsten von Brandenburg ihr armes Land Gebiet eintrug, in der dritten Teilung gar und ihre verstreuten Besitzungen zu einem Masowien mit Warschau. Nun erst wurde einheitlichen Staat geformt haben. Der Kö- das alte „Preußen“ zu „Ostpreußen“, die nig in Preußen verlangte von seinen Unter- Weichselgebiete einschließlich Danzig zu tanen Gehorsam; der „ideale Bürger“ war „Westpreußen“, Masowien zu einem Kunst- der Soldat und der Beamte, der überall in gebilde „Südpreußen“. Friedrich Wilhelm II. den Landesteilen nach denselben Gesetzen avancierte nun zum „König von Preußen“, den Willen des Königs durchsetzen sollte. dessen Name die alte Landesbezeichnung „Ruhe“ war die erste Bürgerpflicht, und des Kurfürstentums der Mark Brandenburg nicht die selbstständige Betätigung des verdrängte. Bürgers für das Gemeinwesen. Der Adel

hatte dem Herrscher zu dienen, in der Ver- Der nun virulent werdende Gegensatz zwi- waltung oder in der Armee. Dieser „auf- schen Preußen und den Polen geht aber über geklärte Absolutismus“ als Mischung von die Herrschaftsveränderungen weit hinaus, guter Verwaltung und Wirtschaftsförderung denn er betraf grundsätzliche Struktur- fand unter Friedrich II. seinen Höhepunkt, merkmale der beiden staatlichen Gebilde. wie in vielen Anekdoten über den „Zucht- Die polnische Adelsrepublik gründete bis meister“ Friedrich erzählt wird. Die Über- zu den Teilungen des Landes auf dem Prin- steigerung dieser Staatsauffassung findet zip der Selbstorganisation des Adels, der sich schließlich in dem Begriff „Staatsrä- etwa 10 % der Bevölkerung ausmachte. Der son“, die den preußischen König dazu ver- Adel mit seinem ausgeprägten Standesbe- führt hat, ohne Rechtsgrundlage die alte wusstsein regierte das Land mit gewählten Landschaft Schlesien den Habsburgern oder vom König eingesetzten Vertretern auf (1740) zu entreißen und seinem Territorium Zeit. Diese Amtsträger mussten den ge- anzugliedern, das dadurch eine noch längere wählten Vertretern der Adelsgesellschaft im gemeinsame Grenze zu Polen erhielt. Als Reichstag (sejm) Rechenschaft ablegen. Friedrich mit viel Glück den Siebenjährigen Diese Idealvorstellung galt über lange Zeit, Krieg überstanden hatte, war sein Land wurde dann aber durch die mögliche Berei- unter dem Namen „Preußen“ zu einer euro- cherung der Amtsträger und den Egoismus päischen Großmacht aufgestiegen, dessen der reichen Familien verwässert und Interesse sich auf Gebietsabrundungen auf schließlich mit der Einführung des „liberum Kosten Polens richtete. veto“ im Jahre 1652 ausgehebelt, als der Einspruch eines einzigen Abgeordneten den Reichstagsabschluss verhinderte. Der „Staat“ Dazu trat ein weiteres grundsätzliches Prob- war in Polen die politische Organisation der lem: Die Teilungen Polens erfolgten zu Adelsgesellschaft und kein Wert an sich; er einer Zeit, als in Europa (Frankreich) und war schwach und besaß nur wenige Beam- in den amerikanischen Kolonien (USA) das te; sein Träger war der adelige Bürger, der Prinzip der „Volkssouveränität“ siegte, das sich für ihn einsetzte. Die Möglichkeiten der polnischen Staatsauffassung sehr ähn- der Korruption und die Einzelinteressen der lich war. Die Teilungen entsprechend einer Magnaten sind vor den Teilungen von pol- „Staatsräson“ widersprachen also völlig dem 12 Manfred Alexander

„Zeitgeist“ und wurden zu einem Dauer- wirkmächtig erwiesen, die bis heute unser problem der europäischen Politik bis ins Denken beherrscht: der Begriff der Nation 20. Jahrhundert. als einer Sprachgemeinschaft. War der Be- griff „Volkssouveränität“ noch ein politi- scher Gedanke gewesen, der – wie in den 5. Die Sprache als Politikum USA – die Bevölkerung eines bestimmten Territoriums unabhängig von ihrer sprachli- Ein weiteres Problem war die Politisierung chen Unterscheidung und Herkunft als Wil- des Faktors „Sprache“, weil sich die Spra- lensgemeinschaft verband, so verstand che von einem Medium der Kommunikati- Johann Gottfried Herder das „Volk“ als eine on – wie das Lateinische in der katholischen durch die gemeinsame Sprache als angeb- Kirche und in der Wissenschaft bis ins lich unveräußerliches Merkmal geprägte 18. Jahrhundert – zu einem Faktor der poli- Gemeinschaft von Menschen, die sich von tischen Identifikation gewandelt hatte. Die anderen eben durch die Sprache unterschied. Aufklärer im 18. Jahrhundert hatten die Im Begriff „Volk“ sah er eine geradezu Vernunft zur Grundlage menschlichen mystische Einheit, die sich in dem Wortfeld Handelns erklärt und dem ancien régime, von „Volkslied“, „Volksmärchen“ und das auf Geburtsrecht und Tradition beruhte, „Volkstum“ äußerte und ihre Höhepunkt im das Todesurteil verkündet. Die französische „Volksgeist“ als dem Gedanken Gottes Sprache wurde, nicht nur durch die Enzy- fand. Der scheinbar objektive Charakter der klopädisten, zur Sprache der Vernunft, so Muttersprache verband sich hier mit dem wie Friedrich II. und auch Katharina II. von politischen Ziel der nationalen Einheit und Russland diese Sprache für ihre politischen damit letztlich mit der Forderung eines Na- Überlegungen verwendeten. Die Revolution tionalstaates. Ist dieser Gedanke noch als von 1789 machte die Gedanken der Aufklä- ein politisches Konzept zu deuten, so waren rer über die Volkssouveränität zu einem die Folgen für die Einzelnen beträchtlich; Exportartikel, der bald in großen Teilen Eu- wenn die Sprache als Voraussetzung einer ropas triumphierte, viele alte Herrschaften „Volksseele“ galt, so unterschied sich eine zum Einsturz brachte und neue „Republi- „Volksseele“ von der anderen, dann konnte ken“ entstehen ließ. Der Begriff der „nation niemand zwei Seelen besitzen, also als française“ war ein politischer Begriff: Als Zweisprachiger die Frage nach der Mutter- Franzose wurde betrachtet, wer sich zu den sprache unbeantwortet lassen, dann war der Ideen der Vernunft (und der Revolution) Sprachwechsel ein Verrat an der Volksseele, bekannte, unabhängig von seiner Herkunft dann musste um jede Seele gerungen werden. und Muttersprache. Napoleon übernahm dieses Erbe und entwickelte eine imperiale Was Herder mit Blick auf die Französische Herrschaft, die ganz Europa in einen mör- Revolution als Aufforderung zur nationalen derischen Krieg hineinzog. Für Polen Einigung der Deutschen formuliert hatte, bedeutete dies nicht die erhoffte Wiederher- gewann in der sprachlichen Gemengelage stellung der alten Republik, sondern die Ostmittel- und Osteuropas eine besondere kurzfristige Existenz eines Herzogtums Sprengkraft. Ein Pole in Oberschlesien z. B. Warschau (1807), das nach der Niederlage konnte ein guter Preuße sein, weil dies seine der Grande Armée in Russland (1812) auf Zugehörigkeit zu einem dynastischen Staat dem Wiener Kongress (1815) (mit der Aus- bezeichnete, aber er konnte kein Deutscher nahme Posens) dem Zarenreich angeglie- werden, ohne seine Identität als Pole auf- dert wurde. zugeben. Selbst die Zweisprachigkeit war kein Ausweg, da sie vom Ansatz her bereits Im Kampf gegen Napoleon hatte sich in den eine innere Zerrissenheit und damit Unzu- Befreiungskriegen aber eine andere Idee als verlässigkeit verriet. Tausend Jahre deutsch-polnische Beziehungen 13

Diese Gedanken haben sich in der ersten ger bestellt worden. Mit dem Oberpräsiden- Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich ten Flottwell begann eine „neue Ära“ der durchgesetzt, wie sich am Bild der Polen in Polenpolitik, die zwar weitere Reformen im Deutschland zeigt. Die Flüchtlinge der sozialen und kommunalen Bereich brachte, „großen Emigration“ nach dem Aufstand aber die traditionellen Kräfte der polnischen von 1830/31 im russischen Teilungsgebiet Gesellschaft – katholischen Klerus und wurden auf ihrem Weg nach Frankreich in Adel – zurückdrängte. Politisch motivierte den deutschen Teilstaaten – über Preußen Prozesse gegen den Erzbischof von Posen- durften sie nicht ziehen – von der Bevölke- Gnesen, Marcin Dunin-Sulgustowski, und rung unterstützt und z. T. begeistert emp- den Anführer einer Gruppe von „Demokra- fangen. Auf dem Hambacher Fest der Stu- ten“, Ludwik Mierosławski, heizten die denten von 1832 waren polnische Fahnen Stimmung an, die sich im Revolutionsjahr zu sehen, und die Parole „Für unsere und 1848 in lokalen Unruhen entlud. Im preußi- Euere Freiheit“ verband die Wünsche des schen Landtag kam es zu hitzigen Debatten deutschen Bürgertums nach einem Verfas- über die polnischen Forderungen nach eige- sungsstaat mit den Wünschen der Polen auf nen polnischen Institutionen in Posen, ge- Wiederherstellung ihres Staates. Aber ob- gen die sich unter anderen auch der junge wohl dort auch die berühmten Polenlieder Abgeordnete Otto von Bismarck vehement gesungen wurden, bleibt fraglich, inwieweit aussprach. Über die Stellung Posens in ei- außerhalb Preußens die Polen als eigene ner zukünftigen Deutschen Republik, um Nation wahrgenommen wurden und nicht die in der Frankfurter Paulskirche heftig ge- etwa als beliebiger Ersatz für mangelndes stritten wurde, und gegen die polnischen revolutionäres Engagement des deutschen Wünsche formulierte der Abgeordnete Jor- Bürgertums dienen mussten. Für Preußen dan in der Polendebatte vom 23. bis 25. Juli galt jedenfalls, dass die Angst vor revoluti- 1848 die deutschen Ansprüche auf Beherr- onären Unruhen und vor einer politischen schung des Landes nach dem Recht des Stär- Emanzipation des Bürgertums größer war, keren und im Sinne eines nationalen Egois- als eine Sympathie mit Gegnern der zaris- mus. Damit begann ein Nationalitätenkampf tischen Unterdrückung im russisch be- zwischen Polen einerseits und den „Deut- herrschten Polen. schen“ andererseits, der sich in den Köpfen vieler Zeitgenossen in den damals gepräg- ten Stereotypen und Verunglimpfungen fast 6. Antipolnische Politik in Preußen bis in unsere Tage fortgesetzt hat. und im Deutschen Reich In Preußen war nach den Ereignissen des Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Stim- Jahres 1848 die Sonderstellung des Groß- mung im „Großherzogtum Posen“ und im herzogtums Posen beendet worden, das nun preußischen Staat nämlich bereits verändert: als eine normale preußische Provinz ver- Nach der Regelung der territorialen Ver- waltet wurde. Dies bedeutete, dass zahlrei- hältnisse auf dem Wiener Kongress war den che polnische Fachkräfte – Lehrer, Offiziere Polen die sprachliche Gleichberechtigung und Geistliche – ihre Stellungen verloren trotz der deutschen Amtssprache zugesi- und gezwungen wurden, ihren Lebensun- chert worden. Ein Mitglied der Familie terhalt in bürgerlichen Erwerbsberufen zu Radziwill war zum Statthalter ernannt wor- suchen. Zwar kam dies langfristig dem den, und viele Polen hatten sich soziale ökonomischen Aufstieg des polnischen Be- Verbesserungen durch die preußische Ver- völkerungsteils entgegen, bewirkte aber eine waltung erhofft. Nach dem Aufstand von innere Abkehr von Preußen, die sich auch in 1830 im russischen Teilungsgebiet war der der Gründung von polnischen Institutionen Statthalter aber abgesetzt und kein Nachfol- im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen 14 Manfred Alexander

Bereich abzeichnete. Der Staat konnte die fremden Arbeiter mit eigenen Traditionen, polnischen Ansprüche zwar zurückdrängen, mit ihrer spezifischen katholischen Religiö- weckte aber mit jeder Maßnahme Gegen- sität, stießen aber verbreitet auf Misstrauen kräfte, die die polnische Position stärkten. und konnten jedenfalls kein adäquates Bild So entstanden Agrargesellschaften zur von der polnischen Kultur des Adels oder Selbsthilfe der polnischen Bauern, Turnver- des gebildeten Bürgertums vermitteln; der eine und Kreditgesellschaften in den Städ- preußische Argwohn gegen die Polen in ten und ein starkes Pressewesen, das ein Posen übertrug sich auf diese Weise in die Bewusstsein der polnischen Identität ver- westlichen Gebiete des Reiches. breitete (polak katolik – „der Pole ist katho- lisch“ im Unterschied zu den protestanti- Antipolnische und antislawische Ressenti- schen Preußen). Der polnische Teil der Ge- ments verbreiteten sich im letzten Jahrzehnt sellschaft in Preußen entwickelte sich zum des 19. Jahrhunderts rasch in der gebildeten Spiegelbild der deutschen Gesellschaft: ge- deutschen Gesellschaft und wurden durch bildet, diszipliniert, arbeitsam und relativ rassistische Gedanken ergänzt, die selbst in wohlhabend. intellektuellen Kreisen Widerhall fanden. Der „Alldeutsche Verband“ und der „Ost- Den entscheidenden Bruch brachte die markenverein“ wurden zu Wortführern ge- Reichsgründung von 1871, denn bis dahin gen eine angebliche „polnische Aggression“, waren die Polen Bürger – wenn auch be- die auch der Staat durch gezielte antipolni- nachteiligt – des preußischen Staates gewe- sche Maßnahmen bekämpfen wollte. Gesetze, sen, nunmehr wurden sie rechtlich deutsche wie das „Feuerstättengesetz“ von 1904, das Staatsbürger, ohne Deutsche sein zu wollen. Verbot der polnischen Sprache in den Schu- Damit aber wandelte sich die antipreußische len und angedrohte Zwangsenteignungen Einstellung der meisten Polen in eine anti- zeigten, dass Preußen – und damit Deutsch- deutsche Haltung, die sich bald weiter land – den Boden der Rechtsstaatlichkeit verstärken sollte. Der „Kulturkampf“, den verlassen hatte und – da selbst durch Hass Bismarck als Reichskanzler entfesselte, traf geprägt – Hass auf der Gegenseite hervorru- zwar die katholische Kirche im gesamten fen musste. Reich, brachte aber in der Kombination mit den nun einsetzenden massiven „Germani- sierungstendenzen“ eine weitere Verschär- 7. Die zweite polnische Republik fung. Die deutsche Sprache wurde in den und die Weimarer Republik Behörden als allein gültig eingeführt, das Polnische in den Schulen zurückgedrängt, Der Erste Weltkrieg brachte den Polen die polnische Schulbücher wurden abgeschafft. ersehnte Eigenstaatlichkeit zurück, wobei Polnisch sollte zur Haussprache herabge- ihnen zu Gute kam, dass alle drei Teilungs- stuft werden. Durch massive finanzielle Hil- mächte in einen Krieg gegeneinander fen versuchte der Staat die Landwirtschaft verwickelt worden waren, und alle drei in deutschen Händen zu stützen, erreichte schließlich zu den Verlierern zählten. Polen aber das Gegenteil, weil die polnischen Ge- musste um alle seine Grenzen kämpfen. Der genmaßnahmen dazu führten, dass mehr erste kurze Krieg erfolgte schon im Januar polnische Bauern als deutsche im Posener 1919 in dem Grenzgebiet zur neugegründe- Gebiet davon profitierten. Dazu trat als ten Tschechoslowakei in Teschen (Cieszyn) Gegenbewegung der Zug polnischer Land- und führte nach langen Verhandlungen zu arbeiter nach Westen, wo jene, die im Zuge einer Teilung des Ländchens. Im Osten war der Landreform ihren Boden verloren hatten, der Wunsch zur Wiederherstellung der alten in der sich rasch entwickelnden Industrie Grenze von 1772 illusorisch, auch wenn der des Ruhrgebietes ihre Arbeit fanden. Die Krieg gegen das sowjetische Russland im Tausend Jahre deutsch-polnische Beziehungen 15

Frieden von Riga (1922) die Grenze ein gu- che Geste gegenüber Polen aus. Deutsche tes Stück weiter östlich ansiedelte, als dies Politiker beklagten die „blutende Grenze“ der kompakt siedelnden polnischen Bevöl- gegenüber Polen, die in der nationalen Po- kerung entsprochen hätte (die etwa bis zur lemik der Zwischenkriegszeit eine ständige 1919 festgesetzten „Curzon-Line“ reichte). Belastung der Beziehungen bedeutete; im Dem schwachen Litauen nahm Polen die „Zollkrieg“ nach 1925 strebte Deutschland alte historische Hauptstadt Wilna (), auch die materielle Schwächung Polens an. was eine Dauerfeindschaft bis zum Zweiten Polen versuchte sich durch ein enges Bünd- Weltkrieg zur Folge hatte. Vom deutschen nis mit Frankreich gegen deutsche Revisi- Nachbarn hatte Polen das Posener Gebiet onswünsche abzusichern, sah sich aber – mit erworben, aber um andere Territorien wurde Ausnahme von Rumänien – nur von Nach- gestritten. Die Siegermächte bestimmten die barn umgeben, mit denen es einen Streit um Landkarte auf der Friedenskonferenz von die Grenzen und um die Behandlung der Versailles; Polen erhielt den versprochenen Minderheiten dieser Nationen auf polni- Zugang zur Ostsee, hauptsächlich dadurch, schem Territorium gab. dass die Stadt Danzig unter Völkerbunds- mandat gestellt wurde und beiden Seiten Polen war mit 27 Millionen Einwohnern offen stehen sollte – was beide Seiten als (1921) ein Vielvölkerstaat, der sich als pol- ungerecht und nicht ausreichend empfan- nischer Nationalstaat verstand, obwohl der den. Am heftigsten wurde um jene Gebiete polnische Bevölkerungsanteil nur etwa gestritten, die nicht einfach an Polen abge- 70 % betrug. Die größte Minderheit stellten treten werden sollten (wie Westpreußen), mit (amtlichen) 14 % die Ukrainer, deren sondern deren Bevölkerung in Volksab- Zahl wohl in Wirklichkeit höher war; die stimmungen über ihre Zugehörigkeit zum Juden, die in manchen Gegenden die Mehr- deutschen oder polnischen Staat entschei- heit der Stadtbevölkerung bildeten, machten den sollten (Südostpreußen, Oberschlesien). etwa 8 % aus; ihnen folgten die Weißrussen Nach erbitterten Wahlkämpfen, die von und die Deutschen mit jeweils etwa 4 %. beiden Seiten als Kampf um die „nationale Angesichts des polnischen Nationalgefühls Identität“ geführt wurden und den Streit und des Sendungsbewusstseins des polni- zwischen Polen und Deutschen bis in die schen Adels als der politisch führenden Ge- Familien getragen hatten, brachten die Ab- sellschaftsschicht bedeuteten diese Bevöl- stimmungen – trotz mehrerer Aufstände – kerungsverhältnisse dauernde Spannungen zwar einen numerischen Sieg der deutschen im Innern und ständige Polemik nach au- Seite, mit der Teilung von Oberschlesien ßen. Zwar wurde die deutsche Minderheit, hatten die Siegermächte aber die polnischen deren größter Teil in Westpolen siedelte, (und die eigenen) Interessen unterstützen aber auch in Streusiedlungen im ganzen wollen. Land zu finden war, eher zurückhaltend be- handelt, wenn man dies mit der Unterdrü- Im Ergebnis des Grenzstreits zwischen Po- ckung der Ukrainer vergleicht, aber die po- len und Deutschland blieb auf beiden Seiten litischen Beziehungen zwischen Warschau eine große Verbitterung, die den Chef der und Berlin waren dauerhaft belastet, wozu obersten Heeresleitung, General von Seeckt auch beitrug, dass die „geheime“ Zusam- dazu führte, von Polen als dem „unerträg- menarbeit der Reichswehr mit der Roten lichsten Nachbarn“ zu sprechen, der mit Armee in Polen bekannt war. Das Misstrauen Hilfe Sowjetrusslands wieder zu vernichten gegenüber dem polnischen Nachbarn fand sei. Während Deutschland die Gebietsabtre- im Rapallo-Vertrag (1922) seine Nahrung tungen im Westen an Frankreich hinnehmen und konnte während der ganzen Existenz musste, und dies im Locarno-Vertrag von der Weimarer Republik nicht abgebaut wer- 1925 auch noch bekräftigte, blieb eine sol- den. Es gehört zur Ironie der deutsch-polni- 16 Manfred Alexander

schen Beziehungen dieser Zeit, dass erst Literaturhinweise Hitler 1934 mit dem Nichtangriffsvertrag mit Polen diese Klammer gesprengt zu Alexander, Manfred: Kleine Geschichte Polens, haben schien – zu Täuschungszwecken, wie Stuttgart, 2. Aufl., 2008. sich dann schon 1939 herausstellen sollte. Broszat, Martin: Zweihundert Jahre deutscher Polen- politik, Frankfurt / M. 1971. Dieser Absturz einer tausendjährigen Nach- barschaft von Deutschen und Polen in eine Rhode, Gotthold: Kleine Geschichte Polens, Darm- tiefe Feindschaft war das Ergebnis eines stadt 1965. Streits von einander entgegengesetzten Na- Hellmann, Manfred: Daten der polnischen Geschich- tionalbewegungen um dasselbe Territorium te, München 1985. an den Grenzen beider Staaten. Dieser Streit Hoensch, Jörg. K.: Geschichte Polens, Stuttgart, ergab sich aus den spezifischen politischen 3. Aufl., 1998. Bedingungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Jaworski, Rudolf / Christian Lübke / Michael G. und er bewirkte die Perversion der Nach- Müller: Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt / barschaft. M. 2000. Das gespaltene Gedächtnis Europas und das Konzept des dialogischen Erinnerns

Aleida Assmann

Der Literaturkritiker Leslie Fiedler hat einmal betont, dass die amerikanische Nation im Gegen- satz zu der englischen oder französischen nicht durch ein gemeinsames Erbe, sondern durch einen gemeinsamen Traum zusammengehalten wird. „Als Amerikaner“, so drückte er sich aus, „sind wir Bewohner einer gemeinsamen Utopie und nicht einer gemeinsamen Geschichte“.1

Die Europäer, so möchte ich mit Fiedler weiterdenken, sind beides: Bewohner einer gemeinsa- men Utopie und einer gemeinsamen Geschichte. In Europa ist beides untrennbar miteinander verbunden.

1. Einleitung len Europa ist nicht nur deshalb schwach, weil hier viele unterschiedliche Traditionen Der amerikanische Traum besteht bekannt- zusammengeflossen sind, sondern vor allem lich darin, dass ein jeder, eine jede es in der auch, weil die gemeinsame traumatische Gesellschaft ohne Ansehen der Person, ihrer Gewaltgeschichte noch immer für Span- Klasse, ihres Geschlechts oder ihrer Rasse nungen sorgt. Die Europäer sind nicht nur zu etwas bringen kann. Mit Barack Hussein die Erben einer sehr langen Geschichte, die Obama, dem 44. Präsidenten der Vereinigten bis in die griechische und römische Antike Staaten, ist dieser Traum in eindrucksvollster zurückreicht und über die Bibel auch Über- Weise eingelöst worden. Der europäische lieferungsströme des Vorderen Orients mit Traum ist aber nicht weniger beeindruckend: aufgenommen hat, sie sind auch die Erben Er besteht in der Überzeugung, dass aus einer gemeinsamen Geschichte, die wesent- ehemaligen Todfeinden friedlich koexistie- lich kürzer zurückliegt. Das ist die Gewalt- rende und sogar eng miteinander kooperie- geschichte zweier Weltkriege von ungekann- rende Nachbarn werden können. Da wir in tem Ausmaß, die Europa in Trümmer gelegt den letzten Jahrzehnten viele erschütternde hat. Während die Amerikaner bei ihrem Beispiele dafür haben, wie aus friedlichen Traum von dem Versprechen eines Neube- Nachbarn fast über Nacht Todfeinde und ginns und einer tabula rasa ausgehen, müs- Massenmörder werden (Kosovo, Rwanda, sen die Europäer von dieser gemeinsamen Sudan), ist der europäische Traum heute Erfahrung der Zerstörung ausgehen. Die eu- aktueller denn je. ropäische Utopie ist deshalb nicht jenseits der Geschichte entstanden, sondern eine direkte Antwort auf die Geschichte. Wenn Die Europäer stehen allerdings noch nicht wir also fragen, was Europa im Innersten wirklich in ihrem Traum und in ihrer Ge- zusammenhält, dann müssen wir bei dieser schichte. Was ihnen auf gemeinsamer euro- Geschichte und ihrer Verarbeitung ansetzen. päischer Ebene fehlt, ist jene mobilisierende Europa als vorgestellte Gemeinschaft – das und identitätsbildende Kraft, die National- kann dann auch heißen: Europa als Erinne- staaten in einer integrierenden Symbolik rungsgemeinschaft und Erbe seiner trauma- finden. Die Bindungskraft im transnationa- tischen Geschichte. 18 Aleida Assmann

Ich möchte hier auf drei Schichten des euro- Das Crescendo der Holocaust-Erinnerung: päischen Gedächtnisses eingehen, die gegen- wärtig besonderen Anlass zu Spaltungen und 1945: Kriegsende Konfrontationen in Europa geben: 1965: Auschwitz-Prozess 1985: Weizsäcker Rede die Erinnerung an den Holocaust, 2005: Zentrales Holocaust-Mahnmal

die Erinnerung an den Gulag, Wir können hier ein deutliches Crescendo wahrnehmen, das sich in Schüben aufgebaut die Erinnerung an den Zweiten Welt- hat. Paradoxerweise gilt dabei: Je größer krieg. der zeitliche Abstand, desto stärker ist die Erinnerung geworden. Die Entscheidung für den Holocaust als Gründungsmythos Euro- pas schlägt sich handgreiflich in der ge- 2. Der Holocaust als europäischer dächtnispolitischen Einführung eines neuen Gründungsmythos Gedenktages nieder. Der 27. Januar 1945, Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Die Geschichte des vereinigten Europa hat Rote Armee, war zunächst 1996 durch eine Initiative des deutschen Bundespräsidenten 1950 mit der Zusammenlegung der deutschen Roman Herzog nach der Wiedervereinigung und französischen Kohle- und Stahlproduk- als ein neuer gesamtdeutscher Gedenktag tion begonnen. Wir dürfen nicht vergessen, eingeführt worden. Vier Jahre später ist der dass der Kern dieses Europagedankens die schwedische Präsident Göran Persson ge- Therapie gegen deutschen Größenwahn folgt, der im Rahmen einer internationalen war: Die Maßnahme der Zusammenführung Holocaust-Konferenz im Januar 2000 in deutscher und französischer Kohle- und Stockholm ein transnationales Erinnerungs- Stahlproduktion war ursprünglich als Kriegs- netzwerk ins Leben rief: die Task Force for prävention gedacht, gewann aber schon International Cooperation on Holocaust Edu- bald eine Eigendynamik und wurde zur cation, Remembrance and Research (ITF). Keimzelle einer sich stetig ausweitenden Diese NGO setzte sich ein doppeltes Ziel; Wirtschaftskooperation. Der gemeinsame es bestand darin, wirtschaftliche Wiederaufbau bewährte sich dabei auch, wie sich bald herausstellte 1. die Erinnerung an den Holocaust über um die Erinnerung an die traumatische Ge- die Schwelle des neuen Millenniums zu schichte zu anästhesieren. Nach dem Zu- tragen und in ein Langzeitgedächtnis zu sammenbruch Europas 1945 stand überall verwandeln, das die zeitliche Begren- die Nachkriegszeit zunächst im Zeichen der zung des lebendigen Zeitzeugengedächt- praktischen Bewältigung von Lebensprob- nisses überwindet und lemen sowie der sozialen und politischen Integration. Der kalte Krieg war eine Eiszeit 2. die Erinnerung an den Holocaust über der Erinnerung. Es dauerte 20 Jahre, bis der die nationalen Grenzen zu tragen und Holocaust aus seiner Überlagerung und eine transnational-europäische Erinne- Verdeckung durch den Zweiten Weltkrieg rungsgemeinschaft zu gründen mit einer allmählich (wieder) zum Vorschein kam, ausgedehnten Infrastruktur von Institu- weitere 20 Jahre, bis diesem Menschheits- tionen, Finanzen und Netzwerken. verbrechen im Weltbewusstsein ein Platz zugewiesen wurde, und dann noch einmal Die zeitlich wie räumlich ausgedehnte Erin- 20 Jahre, bis dieses Ereignis in die Form ei- nerungsgemeinschaft der ITF umfasst inzwi- ner transnationalen Kommemoration über- schen 26 Staaten, zu denen neben den USA, führt wurde. Israel und Argentinien 23 europäische Län- Das gespaltene Gedächtnis Europas und das Konzept des dialogischen Erinnerns 19

der gehören. In diesem Zuge wurde der an Kollaboration und Verstrickung in den 27. Januar als neuer Holocaust-Gedenktag Holocaust zurück, in den östlichen Nationen in vielen europäischen Ländern eingeführt. Europas kehrte die Erinnerung an die Nicht selten ersetzte er dabei bestehende Verbrechen des Stalinismus zurück. Gedenktage.2 Am 27. Januar 2005, fünf Jahre nach der Stockholm-Konferenz, gedachte Eine Reihe von neu zugänglich gewordenen zum ersten Mal das Europäische Parlament historischen Dokumenten rückte im Westen in Brüssel der Befreiung von Auschwitz mit den Holocaust in ein neues Bewusstsein einer Schweigeminute und verabschiedete und brachte dabei positive nationale Selbst- eine Resolution, durch die „der 27. Januar in bilder ins Wanken. Kompromittierende Er- der gesamten Europäischen Union zum Euro- innerungen kamen in Schüben hoch und päischen Holocaust-Gedenktag erklärt wird.“3 wurden mit großer Erregung debattiert, was die Eindeutigkeit und Ausschließlichkeit Seit 2005 gehört der Eintritt in die Holo- der herrschenden nationalen Narrative in caust-Erinnerungsgemeinschaft mit Über- Frage stellte. nahme der Verpflichtungen innerhalb des Aufgrund neuer Informationen über Vichy Netzwerks der ITF einschließlich der Ein- und die Geschichte des Antisemitismus in führung des neuen Gedenktages zu den Bei- Ostdeutschland waren Frankreich und die trittsauflagen der EU. Im selben Jahr schloss DDR nicht mehr ausschließlich Widerstands- sich der Generalsekretär der Vereinten kämpfer, nach Waldheim und Jedwabne Nationen, Kofi Annan, dieser Initiative an waren Österreich und Polen nicht mehr aus- und bestimmte den 27. Januar als Jahres- schließlich Opfernationen, und selbst die Gedenktag für die Opfer des Holocaust. neutrale Schweiz musste entdecken, dass Damit erweiterte sich der Horizont des Ge- sich ihre Banken und Grenzen in belastende denkens von einer europäischen zu einer Erinnerungsorte verwandelten. globalen Erinnerungsgemeinschaft. Der Tag wurde definiert als ein Appell an das Welt- Während sich im Westen Europas Täterer- gewissen und als ein dringender Aufruf, innerungen mit Bezug auf den Holocaust frühzeitig und entschieden gegen Intole- verbreiteten, festigten sich gleichzeitig im ranz, Fanatismus, Vorurteile, Ignoranz und Osten Europas die nationalen Selbstbilder Hass vorzugehen. durch Konzentration auf eine kollektive Opfererinnerung an die Zeit der russischen Besatzung und Diktatur des Kommunismus. 3. Die Erinnerung an die Mit der selbstbezüglichen Kultivierung ih- stalinistischen Verbrechen res Opferstatus gingen politische Gefahren (Gulag) einher. Einige osteuropäische Nationen ent- fernten sich von ihrer europäischen Identi- Nach Ende des Kalten Krieges und dem tät, wurden unempfindlich für andere Opfer Aufbrechen des bipolaren politischen Rah- und stellten zum Teil eine Bedrohung dar mens kam es, wie oft betont worden ist, zu für ihre eigenen Minderheiten. einer eruptiven Wiederkehr von Erinnerun- gen. Durch die politische Auflösung des Auf diese Weise hat sich das Gedächtnis Ostblocks und die Öffnung der Archive kam Europas seit dem Zusammenbruch der Sow- es zu mehreren Erinnerungsschüben, durch jetunion gespalten. Janusz Reiter, ehemali- die sich das Geschichtsbild Europas tief- ger polnischer Botschafter in Deutschland, greifend veränderte. Die Erinnerung nahm hat das gespaltene europäische Gedächtnis im Westen und Osten Europas einen sehr auf den Punkt gebracht: „Was seine Erinne- unterschiedlichen Verlauf. In den westlichen rungen angeht, so ist die Europäische Union Nationen Europas kehrte die Erinnerung ein gespaltener Kontinent geblieben. Nach 20 Aleida Assmann

seiner Erweiterung verläuft die Grenze, die de, aktive Schlüsselfigur im Unabhängig- die EU einst von den östlichen Staaten ge- keitskampf Lettlands von 1990 und frühere trennt hatte, nun mitten durch sie hindurch.“ lettische Außenministerin. Sie kämpft ihrer- Dieses gespaltene Gedächtnis steht im seits für die Anerkennung der Opfer des Spannungsfeld zweier Erinnerungsbrenn- stalinistischen Terrors im europäischen Ge- punkte: des Holocaust und des Gulag, die dächtnis. Sie macht geltend, dass auch ein dem Zusammenwachsen einer europäischen Siegergedächtnis sich gegen diese Verbre- Gedächtniskultur vorerst noch im Wege chen nicht immunisieren dürfe, die in die stehen. Verantwortung des heutigen Russland fal- len, und betont: „Der Kampf und Sieg ge- In östlicher Perspektive hält man die Erin- gen den Faschismus kann nicht als etwas nerung an den Holocaust auf Distanz, in gesehen werden, das die Sowjetunion, die westlicher Perspektive hält man die Erinne- zahllose Unschuldige im Namen einer Klas- rung an den Gulag auf Distanz. Der ameri- sen-Ideologie unterdrückte, für immer von kanische Historiker Charles S. Maier zog ihren Verbrechen entschuldet.“8 eine Analogie aus der Kernphysik heran, um den Unterschied zwischen dem Geden- Claus Leggewie hat dieses Dilemma auf ken an den Nationalsozialismus und dem an den Punkt gebracht, als er schrieb: „Die den Kommunismus zu beleuchten: Das Schwierigkeit der europäischen Erinnerungs- „heiße“ Gedächtnis des Nationalsozialismus kultur besteht darin, das Singuläre an der habe, wie Plutonium, eine lange Halbwert- industriell-bürokratischen Vernichtung der zeit in der Geschichte, während das „kalte“ europäischen Juden herauszustellen, ohne Gedächtnis des Kommunismus wie Tritium sie dabei dogmatisch dem historischen Ver- eine wesentlich kürzere Halbwertzeit habe.4 gleich zu entziehen und die systematische Eva Kovács, eine ungarische Historikerin, Ausrottung vermeintlicher Klassen- und kommentierte dies mit folgenden Worten: Volksfeinde und die allseitigen ‚ethnischen „Soweit ich abschätzen kann, trat in den Säuberungen‘ herunterzuspielen.“9 Es ist postsozialistischen Staaten gerade der um- längst nicht mehr nachzuvollziehen, warum gekehrte Fall ein: Das Gedenken an den sich diese beiden Erinnerungen im europäi- Kommunismus wurde zu einem heißen To- schen Gedächtnis noch immer gegenseitig pos, der sogar Massen mobilisieren kann, bedrohen und verdrängen. Denn bereits An- während das Gedenken an den Nationalso- fang der 90er-Jahre, als die Frage nach dem zialismus kalt geblieben ist.“5 Vergleich der beiden Massenverbrechen noch aus der Sorge heraus tabuisiert wurde, Man kann diese europäische Gedächtnis- die Erinnerung an die Verbrechen des Stali- spaltung auch an zwei Gedächtnisaktivis- nismus könnte die soeben etablierte Erinne- tinnen veranschaulichen. Sie können jeweils rung an das Verbrechen des Holocaust rela- als Gallionsfiguren des westlichen Holo- tivieren, wurde in einem Expertenbericht caust-Gedächtnisses und des östlichen Sta- eine Formel gefunden, die es uns erlaubt, linismus-Gedächtnisses gelten.6 Die eine ist der Sorge des Vergleichs explizit zu begeg- Simone Veil, Holocaust-Überlebende, über- nen und das Gespenst der Relativierung zu zeugte Europapolitikerin und seit 2000 Vor- bannen. Die Formel sollte ursprünglich das sitzende der französischen Stiftung für das deutsche Problem des Umgangs mit zwei Gedenken an die Shoah. Sie wiederholt bei Diktaturen lösen, aber sie kann sich auch ihren öffentlichen Auftritten den Leitsatz bewähren im Umgang mit Hindernissen auf „Die Shoah ist unser aller Erbe“, den sie dem Weg zu einer europäischen Gedächt- zum fundamentalen Erinnerungsimperativ niskultur. Als die erste Enquetekommission der westlichen Zivilisation erklärt.7 Die an- über der Frage nach der Gewichtung der Er- dere ist Sandra Kalniete, Gulag-Überleben- innerung an die beiden deutschen Diktatu- Das gespaltene Gedächtnis Europas und das Konzept des dialogischen Erinnerns 21

ren zu zerbrechen drohte, löste der Histori- locaust-Erinnerung inzwischen weit über ker Bernd Faulenbach damals den Konflikt die europäischen Grenzen ausgedehnt hat, mit zwei salomonischen Sätzen: tut sich innerhalb Europas eine signifikante Leerstelle auf. In Russland ist nicht nur das 1. Die Erinnerung an den Stalinismus darf Gedenken an den Stalinismus gänzlich ver- die Erinnerung an den Holocaust nicht drängt, auch das an den Holocaust findet relativieren. dort keinen Anhaltspunkt. Das ist jedoch paradox. Am 27. Januar wird inzwischen in 2. Die Erinnerung an den Holocaust darf immer mehr Nationen jährlich der Befrei- die Erinnerung an den Stalinismus nicht ung des Vernichtungslagers Auschwitz im trivialisieren.10 Jahre 1945 gedacht, doch die Befreier selbst gehören nicht zu dieser ständig wachsenden Im nationalen Gedächtnis herrscht notori- Erinnerungsgemeinschaft. Dabei ist die scher Platzmangel. Durch das Prinzip der Rote Armee im post-sowjetischen Russland gegenseitigen Anerkennung von Erinne- durchaus Gegenstand intensiver nationaler rungsansprüchen und deren Hierarchisierung Kommemoration. In deren Zentrum steht kann jedoch Platz geschaffen und ein un- der „Große Vaterländische Krieg“, in dem versöhnliches „entweder-oder“ in ein „so- Hitler durch Stalin überwältigt wurde. Diese wohl-als-auch“ umgewandelt werden. „Erst Leistung, das schlechthin Böse mit großen die ungeteilte Kommemoration beider tota- Verlusten heroisch überwunden zu haben, litärer Vergangenheiten, der Staatsverbre- bildet heute im post-sowjetischen Russland chen des Nationalsozialismus wie des Stali- den Kern des historischen Selbstverständ- nismus, sprengt den nationalen Referenz- nisses und nationalen Gedenkens. Die Rus- rahmen. Eine antitotalitäre Öffentlichkeit sen erinnern sich an den 9. Mai 1945, also muss genuin europäisch sein, wenn sie den nicht an das Ende des Massenmords an den Gräben des Kalten Krieges entkommen will.“11 europäischen Juden, sondern an das Ende Während ich an diesem Aufsatz schreibe, des Zweiten Weltkriegs und den Sieg der erreicht mich eine Mail aus Brüssel, wo man ruhmreichen Roten Armee samt der zivilen sich im Mai 2011 treffen will „to stimulate Opfer. Das russische nationale Gedächtnis exchange of experience and ideas on how to konstruiert über den problematischen, image- reconcile the two memories (Nazism / Holo- schädigenden Systemwandel von 1990/91 caust and Stalinism) and develop a Euro- hinweg eine lange historische Kontinuität pean rather than national perspective on the von russischer Ehre und russischem Leid. causes and consequences of these two phe- Das ehemalige internationalistische Selbst- nomena for modern European identity. The bild ist dem affirmativen Selbstbild einer meeting is to mark a beginning of a longer imperialen Nation gewichen.12 Dieses Selbst- term process of networking and dialogue.“ bild versperrt sich der Aufnahme eines Ge- Das stimmt hoffnungsvoll, sieht es doch so dächtnisses, das nicht die eigenen, sondern aus, als wäre die Phase dieser Erinnerungs- fremde Opfer betrifft. Es gibt noch einen konkurrenz allmählich abgelaufen. anderen Grund, warum Russland sich der Erinnerungsgemeinschaft des 27. Januar nicht anschließt: Das Datum ist in der russi- 4. Die Erinnerung an den schen Erinnerung bereits belegt mit dem Zweiten Weltkrieg oder: Trauma der Leningrader Hungerblockade Dialogisches Erinnern durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Es gibt aber nicht nur Gegensätze, es gibt auch merkwürdige Asymmetrien im euro- In der europäischen Erinnerungsgeschichte päischen Gedächtnis. Während sich die Ho- lässt sich immer deutlicher ein „Auseinander- 22 Aleida Assmann

treten von Krieg und Holocaust“ erkennen.13 Wie können diese Asymmetrien und Gren- Es wird immer offenkundiger, dass das trau- zen überwunden werden, sodass Europa matische Erbe der verschränkten Gewaltge- von einer gespaltenen zu einer integrierten schichte des zweiten Weltkriegs nicht länger und gemeinsamen Gedächtniskultur findet? in der beschränkten Grammatik traditioneller Um diese Frage zu beantworten, möchte ich nationaler Gedächtniskonstruktionen bear- den Begriff des „dialogischen Erinnerns“ beitet werden kann. In dieser Geschichte gibt einführen. Darunter verstehe ich eine Erin- es vieles, was die Historiker wissen, was je- nerungspolitik zwischen zwei oder mehre- doch keinen Platz im nationalen Gedächtnis ren Staaten, die durch eine gemeinsame erhält, weil bisher der Druck eines persönli- Gewaltgeschichte miteinander verbunden chen Bedürfnisses oder politischen Impera- sind, und die gegenseitig ihren eigenen An- tivs fehlte. Dazu gehören auch viele Gräuel teil an der traumatisierten Geschichte des des Zweiten Weltkrieges, die die Deutschen anderen anerkennen und empathisch das an ihren Nachbarn verübt haben, die dort zu Leiden des Anderen ins eigene Gedächtnis identitätsdefinierenden traumatischen Kern- mit einschließen. Dialogisches Erinnern erinnerungen geworden sind. Während bei steht deshalb auch für die wechselseitige den Deutschen die jüdischen Opfer ins all- Verknüpfung und Aufrasterung allzu ein- gemeine Bewusstsein gedrungen sind, wis- heitlicher Gedächtniskonstruktionen entlang sen die nachwachsenden Generationen so nationaler Grenzen.15 Der Weg zu einem gut wie nichts von den polnischen oder rus- dialogischen Gedächtnis ist freilich ein wei- sischen Opfern der deutschen Kriegsfüh- ter, denn in aller Regel ist das nationale Ge- rung. Die Bombardierung Dresdens ist fest dächtnis monologisch organisiert; es hat die im deutschen nationalen Gedächtnis veran- Aufgabe, die nationale Identität zu stützen kert, aber man weiß in Deutschland kaum und zu zelebrieren. Das Prisma des nationa- etwas von der Zerstörung der historischen len Gedächtnisses tendiert deshalb stets Warschauer Altstadt durch die Deutschen dazu, die Geschichte auf einen akzeptablen und den Opfern des Warschauer Aufstands, Ausschnitt zu verengen. Angesichts einer der meist mit dem durch Willy Brandts traumatischen Vergangenheit gibt es übli- Kniefall berühmt gewordenen Ghetto-Auf- cherweise überhaupt nur drei Rollen, die stand verwechselt wird. Auch die bereits ge- das nationale Gedächtnis akzeptieren kann: nannte Leningrader Blockade von 1941-1944 die des Siegers, der das Böse überwunden durch die Wehrmacht, eine der längsten und hat, die des Widerstandskämpfers und Mär- destruktivsten „Belagerungen“ der neueren tyrers, der gegen das Böse gekämpft hat, Geschichte, bei der annähernd eine Million und die des Opfers, das das Böse passiv er- Russen verhungerten, hat keinen Platz im litten hat. Was jenseits dieser Positionen und deutschen historischen Gedächtnis.14 ihrer Perspektiven liegt, kann gar nicht oder nur sehr schwer zum Gegenstand eines ak- Diese paradigmatischen europäischen „lieux zeptierten Narrativs werden und wird des- de mémoire“, zu denen auch Oradour-sur- halb auf der offiziellen Ebene „vergessen“. Glane gehört, bilden keinen Schulstoff, finden keine Erwähnung in Diskursen und Den monologischen Charakter des nationa- keine symbolische Repräsentation im öf- len Gedächtnisses hat Marc Bloch bereits in fentlichen Raum. Sie machen aber – durch den 20er-Jahren kritisiert. Er schieb: „Hören ihre Asymmetrie der starken Erinnerung auf wir doch endlich damit auf, uns ewig von Seiten der Opfer und des Vergessens auf Nationalgeschichte zu Nationalgeschichte Seiten der Nachfolger der Täter – einen er- zu unterhalten, ohne uns gegenseitig zu ver- heblichen Teil der Last der Vergangenheit stehen“. Er sprach von einem „Dialog unter aus und verformen nachhaltig die europäi- Schwerhörigen, bei dem jeder völlig ver- sche Binnenkommunikation. kehrt auf die Fragen des anderen antwor- Das gespaltene Gedächtnis Europas und das Konzept des dialogischen Erinnerns 23

tet“.16 Das nationale Gedächtnis existiert Leggewie: „Wenn Europa ein kollektives heute keineswegs mehr in Isolation, sondern Gedächtnis haben soll, dann ist dieses ebenso ist mit anderen nationalen Gedächtnissen vielfältig wie seine Nationen und Kulturen. eng verbunden. Der zweite Weltkrieg ist Erinnerung lässt sich nicht mnemotechnisch Teil eines europäischen Gedächtnisses, das regulieren, schon gar nicht durch offizielle von den Mitgliedstaaten nur gemeinsam Staatsakte und routinierte Gedenkrituale und dialogisch getragen werden kann. Die wie am 8. oder 9. Mai. Europäisch kann Europäische Integration kann nicht wirklich jedoch der Weg sein, den wir finden, um fortschreiten, solange die monologischen Untaten unserer Vorfahren gemeinsam zu Gedächtnis-Konstruktionen sich weiter ver- erinnern und daraus behutsame Lehren für festigen. Bei dem, was ich hier mit „dialo- die Gegenwart der europäischen Demokra- gischem Erinnern“ umschreibe, handelt es tien zu ziehen.“19 sich zwar noch keineswegs um eine allge- mein praktizierte Form des Umgangs mit Ein vereinigtes Europa braucht kein einheit- einer geteilten Gewaltgeschichte, aber doch liches, wohl aber ein kompatibles europäi- um eine große kulturelle und politische sches Geschichtsbild. Es geht ganz ausge- Chance, die in dem Projekt Europa enthal- sprochen nicht um ein abstraktes, verein- ten ist. Die Konstellation der Europäischen heitlichtes europäisches Master-Narrativ, in Union bietet einen einmaligen Rahmen für dem sich die Erinnerungs-Perspektiven der die Überführung von monologischen in dia- Betroffenen verwischen, sondern um die logische Gedächtnis-Konstruktionen. Der dialogische Bezogenheit und gegenseitige Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich Anschlussfähigkeit nationaler Geschichts- sprach einmal von der „so lange aufgescho- bilder. Die italienische Oral History For- benen Bearbeitung der Vergangenheit unter scherin Luisa Passerini hat in diesem Zu- dem Realitätsprinzip“, die heute unter der sammenhang eine wichtige Unterscheidung Bedingung des Zusammenrückens in Europa eingeführt. Sie spricht von „shared narrati- umgesetzt werden kann.17 Richard Sennett ves“ (oder gemeinsamen Geschichten) und hat betont, dass es einer Vielfalt widerstrei- „shareable narratives“ im Sinne von an- tender Erinnerungen bedarf, um unange- schlussfähigen Geschichten.20 Dialogisches nehme historische Fakten anzuerkennen.18 Erinnern ist im nationalen Gedächtnis ver- Genau darin liegt das besondere Potenzial, ankert, überschreitet jedoch den Horizont das der europäische Erinnerungsrahmen der Nationen durch eine transnationale Per- bereithält, und das bisher erst ansatzweise spektive. Erst auf der Basis der wechselsei- genutzt worden ist. tigen Anerkennung von ehemaligen Opfern und Tätern kann sich der Blick auf eine Während die monologische Erinnerung die gemeinsame Zukunft öffnen. Solange aller- eigenen Leiden ins Zentrum stellt, nimmt dings die verengten nationalen Geschichts- die dialogische Erinnerung das den Nach- bilder dominieren, herrscht in Europa wei- barn zugefügte Leid mit ins eigene Gedächt- terhin „ein Dialog unter Schwerhörigen“, nis auf. Dialogisches Erinnern mündet nicht um nicht zu sagen: ein schwelender „Bür- in einen auf Dauer gestellten ethischen gerkrieg der Erinnerungen“. Aus der Sack- Erinnerungspakt, eine Form, die ausschließ- gasse heroischer Mythen und Opferkonkur- lich für die Holocaust-Erinnerung geprägt renz führt allein, um mit Peter Esterhazy zu worden ist. Dialogisches Erinnern mündet sprechen, „ein geteiltes europäisches Wis- in ein gemeinsames historisches Wissen um sen über uns selbst als Täter und Opfer“.21 wechselnde Täter- und Opfer-Konstella- tionen. In dieser geteilten traumatischen Das Prinzip des transnationalen dialogischen Gewaltgeschichte sind beide Erinnerungen Erinnerns in Europa hat ein weiterer ungari- aufgehoben. Ich zitiere noch einmal Claus scher Schriftsteller, nämlich György Kon- 24 Aleida Assmann

rád, auf den Punkt gebracht: „Es ist gut, wenn 5. Fazit wir Erinnerungen austauschen und erfahren, was die anderen von unseren Geschichten In Europa liegen Traum und Trauma eng denken. ... Die gesamte europäische Ge- beieinander. Mit dieser Geschichtslast ver- schichte ist zusehends Allgemeingut, das für bindet sich auch ein besonderes Erinnerungs- einen jeden ohne die Verpflichtung nationa- pensum. Das gilt zunächst für das Trauma ler oder anderer Befangenheiten zugänglich des Holocaust, das eine nationale, europäi- ist“.22 Auch damit hat Konrád noch keinen sche und transeuropäische Erinnerung her- Ist-Zustand beschrieben, aber noch einmal vorgebracht hat. Es gilt aber auch für die das besondere Potential beim Namen ge- Traumata des Krieges und Nachkrieges, denn nannt, das der kulturelle Rahmen der EU für die gemeinsame Erinnerung an eine Ge- seine Mitgliedstaaten bereithält. waltgeschichte ist die wirksamste Methode, um die Voraussetzungen, die sie möglich gemacht haben, zu überwinden. In dem Maße, wie die Europäer sich ihrer gemein- samen Geschichte bewusst werden, festigt sich das Haus Europa. Darin liegt die un- vollendete Utopie Europas. Das gespaltene Gedächtnis Europas und das Konzept des dialogischen Erinnerns 25

Anmerkungen

1 Fiedler, Leslie: Cross the Border, Close the Gap, 10 Faulenbach, Bernd: Probleme des Umgangs mit in: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der der Vergangenheit im vereinten Deutschland. Postmoderne-Diskussion, hrsg. von Wolfgang Zur Gegenwartsbedeutung der jüngsten Ge- Welsch, Weinheim 1988, S. 57-74; hier S. 73. schichte, in: Deutschland. Eine Nation – dop- 2 In Luxemburg verdrängte der neue Gedenktag, pelte Geschichte. Materialien zum deutschen der 2007 zum ersten Mal begangen wurde, den Selbstverständnis, hrsg. von Werner Weidenfeld, 10. Oktober, den Jahrestag des Referendums Köln 1993, S. 190. von 1941. In Frankreich besteht der 27. Januar 11 Leggewie, Claus: Der Kampf um die europäische neben dem 16. Juli, dem Tag der größten Juden- Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, razzia unter deutscher Besatzung („Rafle du München 2011, S. 11. Vel’ d’Hiv“, 16./17. Juli 1942), an das sich die Franzosen seit 1995 erinnern, indem sie der 12 Diner, Dan: Gegenläufige Gedächtnisse. Über „Opfer der rassistischen und antisemitischen Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen Verbrechen der Vichy-Regierung“ gedenken 2008, S. 58. und die französischen „Gerechten“ ehren. In 13 Ebd., S. 9. den USA und in Israel hat der 27. Januar als Gedenkdatum keine Geltung. In beiden Staaten 14 Jahn, Peter: 27 Millionen, in: Die Zeit, 14.6.2007. findet das Holocaust-Gedenken im Frühjahr in 15 Entsprechung zum 27. Nissan statt, dem Ende Dazu ausführlicher Assmann, Aleida: Europe: der 60er-Jahre eingeführten israelischen Holo- A Community of Memory? Twentieth Annual caust-Gedenktag. Lecture of the GHI, November 16, 2006, in: 3 German Historical Institute Bulletin 40/2007, Amtsblatt der Europäischen Union vom S. 11-25. 27.1.2005; /eurlex.europa.eu/LexUriServ/Lex UriServ.do?uri=OJ:C:2005:253E:0037:0039: 16 Middell, Matthias (Hrsg.): Alles Gewordene hat DE:PDF Geschichte. Die Schule der Annales in ihren 4 Maier, Charles S.: Heißes und kaltes Gedächtnis: Texten 1929-1992, Leipzig 1994, S. 159. Über die politische Halbwertszeit von Nazismus 17 Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die und Kommunismus, in: Transit 22/2001-02. Unfähigkeit zu Trauern. Grundlagen kollektiven 5 Kovacs, Eva: „Das Gedächtnis der Shoah als Verhaltens, Nachwort 1970, München 1977, mémoire croisée der verschiedenen politischen S. 365. Systeme“, Eurozine 2007, http://www.eurozine. 18 Sennett, Richard: Disturbing Memories, in: com/articles/article_2007-04-18-kovacs-de.html, Memory, hrsg. von Patricia Fara und Keraly Stand: 4.3.2011. Patterson, Cambridge 1998, S. 10-26, hier S. 14. 6 Droit, Emmanuel: Die Shoah: Von einem west- europäischen zu einem transeuropäischen Erin- 19 Leggewie: Der Kampf um die europäische nerungsort?, in: Europäische Erinnerungsräume, Erinnerung; weiter: „Dabei kann Europa sein hrsg. von Kirstin Buchinger, Claire Gantet und Selbstbewusstsein natürlich nicht allein aus der Jakob Vogel, Frankfurt a. M. / New York 2009, Widerlegung seiner Verbrechensgeschichte zie- S. 257-265. hen.“ 7 Ihre Holocaust-Autobiographie ist auch auf 20 Passerini, Luisa: Shareable Narratives? Inter- deutsch erschienen. Veil, Simone: Und dennoch subjectivity, Life Stories and Reinterpreting the leben. Die Autobiographie der großen Europäe- Past, Berkeley 2002, S. 5, 14. rin, Berlin 2009. 21 8 Siehe Droit: Die Shoah, S. 159; Sandra Kalniete Esterhazy, Peter: Alle Hände sind unsere Hände, hat ihr Schicksal in dem Buch „Mit Ballschuhen in: SZ, 11.10.2004, S. 16. im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner 22 Konrád, György: Aufruhr. Rede zur Eröffnung Familie“, München 2005, erzählt. des 50-jährigen Bestehens der Aktion Sühne- 9 Leggewie, Claus: Ende und Anfang des Leids. zeichen am 3.5.2008 im Haus der Kulturen der Der 9. Mai: Europas gespaltene Erinnerung, Welt in Berlin, www.asf-ev.de/fileadmin/asf_ in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 7./8.5.2005, S. 13. upload/aktuelles/Jubilaeum2008/gyoergy.pdf

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Wie bestimmt die Geschichte die nationalen Erinnerungs- und Gedenkkulturen in Deutschland und Polen?

Robert Traba

Beeinflussen historische Ereignisse tatsächlich die Art, wie sie erinnert werden und wie ihrer gedacht wird? Scheinbar wissen wir, worum es geht. Vielleicht unterliegen wir aber auch einer kollektiven Täuschung, dass wir nur glauben, es zu wissen. Denn ist es nicht so, dass wir in zwei Realitäten leben, die paradoxerweise gleich real sind, die sich gegenseitig vervollständigen und ineinander verwoben sind: in der Welt der Fakten, also der Ereignisse (Schlachten, Kriege, Entdeckungen, spektakuläre Haltungen) und in der Welt der Bilder, die wir in unseren Köpfen formen? Natürlich betreffen diese Bilder Ereignisse, die Jahrzehnte oder Jahrhunderte her sind, aber ihre Erinnerungen und Erzählungen sind unglaublich vielfältig, manchmal geradezu wider- sprüchlich.

1. Einführung „Die Geschichte darf nicht zum Sklaven der laufenden Ereignisse werden, man darf sie Ich möchte meinen Beitrag mit einem kur- nicht unter dem Diktat der miteinander zen Kommentar zu seinem Titel beginnen: konkurrierenden Erinnerungen schreiben. In „Die Geschichte bestimmt die nationalen einem freien Staat steht es weder dem Par- Erinnerungs- und Gedenkkulturen“. In lament noch der Judikative zu, die histori- diesem Zusammenhang fällt mir die schon sche Wahrheit festzulegen, geschweige denn klassische Maxime von Ernest Gellner ein, die Freiheit der Historiker mittels der An- „es sind nicht die Nationen, die den Natio- drohung von Strafsanktionen einzuschrän- nalismus schaffen, sondern die Nationalis- ken. … Die politisch Verantwortlichen bit- men, die die Nationen schaffen“ und auch ten wir zu begreifen, dass es zwar zu ihren die berühmte Formulierung von Benedict Aufgaben gehört, das kollektive Gedächtnis Anderson über Nationen als „imagined com- zu pflegen, dass sie aber keinesfalls per Ge- munities / (imaginierte Gemeinschaften)“. setz Staatswahrheiten institutionalisieren sol- Vielleicht wäre es also besser zu fragen: Wie len, die schwerwiegende Konsequenzen für konstruieren Geschichtspolitiken in Polen die Arbeit des Historikers und für die intel- und Deutschland die zeitgenössischen Bilder lektuelle Freiheit insgesamt haben können.“ vergangener Ereignisse? Wie beeinflussen sie Erinnerungs- und Gedenkkulturen? Die- Amtlich dekretierte Gräuel werden nichts se Überlegungen stelle ich zunächst einfach am Verstehen der Geschichte ändern. Stel- in den Raum, gewissermaßen als Memento, len wir uns – schrieb einer der Unterzeich- und wende mich ihnen erst später wieder zu. ner des Appells, Timothy Garton Ash – die Verhandlungen hinter den geschlossenen Brüsseler Türen vor: „Die Polen sagen den 2. Erinnerungspolitik1 Franzosen: schön, der armenische Genozid für den ukrainischen Großen Hunger. Der Die Vertreter der Vereinigung Liberté pour reine Gogol“. Und er fügte hinzu: l’Histoire (Freiheit für die Geschichte) ha- ben in dem sog. Appell von Blois am „Um solchen Dingen die Stirn bieten zu 11. Oktober 2008 geschrieben: können, muss man vor allem über sie Be- 28 Robert Traba

scheid wissen. Man muss in den Schulen Jan Assmann entspricht, wird zusätzlich über sie unterrichten und ihrer öffentlich durch einen politischen Faktor überlagert: gedenken. Um zu unterrichten, muss man for- die Änderung des politischen Systems, die schen. Entdecken, nachprüfen, die Beweise eine Entsperrung der Zensurverbote nach durchsieben, um gegensätzliche Interpre- sich zog. „Das Ende der Zeitzeugenepoche“ tationen möglichst zu verifizieren. Dieser ist eine objektive Erscheinung, gegen die Prozess – die Summe der historischen For- man kaum polemisieren kann. Sie löst auf schungen und Debatten – verlangt eine voll- natürliche Weise die Sperre des notwendi- kommene Freiheit, die einzig durch ein eng gen Mechanismus der Neuinterpretation von abgestecktes Verleumdungs- und Verun- Geschichte. Zugleich gebiert sie eine Ne- glimpfungsgesetz eingeschränkt wird ...“ benerscheinung: die Buchhaltung der Opfer, die Suche nach neuen Dominanten der ei- Ich glaube, dass Ash seinen Artikel nicht genen Identität, gestützt auf die Geschichte. zufällig damit pointierte, sich auf die satiri- sche Welt der Heuchelei und des Zynismus Ich werde mich hier auf zwei Beispiele be- aus den Werken von Nikolai Gogol sowie ziehen, die seit knapp zwanzig Jahren so- die polnisch-ukrainische „historische Alli- wohl meine Forschungsarbeit als auch meine anz“ zu berufen. Den Zusammenstoß natio- öffentliche Aktivität begleiten. naler Interessen, deren Quellen in einer hybriden Vergangenheit und in der gesell- Das erste Beispiel. Es geht um das Problem schaftlichen Struktur stecken, liefert insbe- des erzwungenen Bevölkerungstransfers, vor sondere Ostmitteleuropa. Da genügt es, die allem nach dem 2. Weltkrieg: auf Deutsch realen Streitigkeiten und die aus ihnen fol- „Vertreibung“, auf Polnisch „wysiedlenia“ gende Konkurrenz der Erinnerung von Slo- (Aussiedlungen) und Deportationen, auf waken und Ungarn, Polen und Deutschen, Tschechisch – „odsun“ (Abschiebung) ge- Weißrussen und Litauern, Tschechen und nannt. Allein schon in der Bezeichnung ist Deutschen oder Polen und Ukrainern in Er- die nationale Besonderheit der Wahrneh- innerung zu rufen. Sie stellen einen wichti- mung und der Rezeption dieser Erscheinung gen Faktor der aktuellen Politik dar. Diese enthalten. Zu einem Problem wird nicht die Beispiele öffnen auch neuen Raum für eine Frage, „ob man darüber sprechen und des- Debatte, die nicht unbedingt von einer poli- sen gedenken sollte“, sondern „wie man ge- tischen Dekretierung bedroht sein muss. denken sollte“, „welche Erzählkriterien man Bedroht wird sie jedoch vom „Ende der für die Aussiedlungen im großen Narrativ Zeitzeugenepoche“. Jan Assmann erkennt über das 20. Jahrhundert annehmen sollte?“ darin eine universelle Erscheinung, die auf Während ich die öffentlichen, nicht wissen- die römische Tradition zurückgeht. Der schaftlichen Debatten zu diesem Thema Grenzpunkt, das Ende des „saeculum“, war verfolge, habe ich den Eindruck, dass in den der Tod des letzten Mitglieds der Zeitzeu- letzten Jahren eine eigenartige Magie großer gengeneration. Gegenwärtig können wir Zahlen siegt und „das Bedürfnis, das Un- diese Phänomene am Beispiel der Mitte der recht an den Opfern wieder gutzumachen“, 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts anfangen- sogar um den Preis der Geschichtsfälschung den Explosion von Memuaristik beobach- befriedigt werden soll. Keiner dekretiert ten, die mit den Erlebnissen des Holocaust die Geschichte, doch was entsteht, ist ein im Zusammenhang stand, oder auch in hegemonialer Diskurs, dessen Kern „das Deutschland seit Mitte der 80er-Jahre des ungerechterweise vergessene Leiden“ des 20. Jahrhunderts, als der mit Unterbrechun- eigenen Volkes ist. Alle, die zum Beispiel gen bis heute andauernde „Historikerstreit“ versuchen, die Zahl der Opfer zu rationali- begann. Der Fall Polens und Ostmitteleuro- sieren, den Vertreibungsdiskurs nicht nur in pas, der nur teilweise der Konstruktion von den Kategorien der Menschenrechte, sondern Wie bestimmt die Geschichte die nationalen Erinnerungs- und Gedenkkulturen? 29

auch als eine europäisierte Fortsetzung von sie Anfang 1945 verband, ein durchschnitt- Elementen der völkischen Sprache der 20er- licher Pole vier Jahre oft tragischer deut- und 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts zu be- scher Besatzung erlebt hatte. Und gerade schreiben, werden an den Rand der Debatte diese Besatzung war die primäre Erfahrung gedrängt, weil sie „die Leiden der Opfer“ seines Schicksals. In jener Zeit erlebten die nicht verstehen. heutigen „Vertriebenen“ die „Zeit der Frau- en“, die auf ihre an der Ostfront kämpfen- Im ermländischen Dorf Purda, wo ich zwei den Männer und Söhne warteten. „In der Jahre lang mit polnischen und deutschen Erinnerung an die andere Seite“ – vielleicht Studenten Forschungsarbeiten führte, waren ist gerade das die Formel, die einen neuen die einzigen „Vertriebenen“ nur die „impor- Wert in diese Erzählung bringen könnte? tierten“ Beamten der örtlichen NSDAP- Strukturen, die in Wirklichkeit vor der Ver- Wenn ich es aus der Perspektive der Ge- antwortung und der Rechtsprechung flüch- schichtspolitik Ostmitteleuropas / Polens teten. Sie und ihre Nachkommen sind eben- betrachte, so habe ich den Eindruck, dass falls „Heimatvertriebene“. Die Massenaus- die deutsche Debatte über „Vertreibungen“ reisen begannen in den 50er-Jahren, und ihr sich seit dem Jahr 2000 gar nicht so sehr Höhepunkt fiel in die 70er-Jahre des 20. Jahr- von den historischen Identitätsdebatten z. B. hunderts. Die Kraft der kulturellen Erinne- in Polen oder in der Ukraine unterscheidet. rung ist jedoch so stark, dass in manchen Die Palette der Akteure der öffentlichen Erinnerungen automatisch die Kategorie Diskussion ist anders und differenzierter, „Vertreibung“ auftaucht. das Niveau der Emotionalität nicht ganz so hoch, und die Distanz gegenüber sich selbst Heute werden in der deutsch-deutschen De- größer. Doch der Sinn bleibt der gleiche: batte die „Vertreibungen“ nicht dekretiert, der Versuch, mit Hilfe von Geschichte die sondern in der staatlich sanktionierten For- zeitgenössische Identität aufzuschreiben. mel aufgeschrieben: „Das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Vertreibungen“. Wie In Polen ist es, nach den Erfahrungen des sollen sich in der Konfrontation mit einem Kommunismus, ein Streit um die Prinzi- so definierten 20. Jahrhundert die Nachbarn pien, in Deutschland nur um einen Teil des fühlen, die die deutsche und sowjetische Selbstbildes. Daher hat dieser Versuch in Besatzung erfahren haben, die zerstöreri- Polen noch immer nicht den Charakter von schen Folgen des 2. Weltkrieges, zwei Tota- einem Historikerstreit, sondern von einem litarismen? Droht diese Formel nicht, die ideologischen Streit. Es geht darum, welchen Proportionen und die Bedeutung historischer Platz die Kategorie Nation und Nationalge- Ereignisse zu verwischen? Die „Erinnerung“ schichte in der Konstruktion der modernen über „Geschichte“ dominieren zu lassen? Identität einnehmen werden. Ihre Teilnehmer benutzen häufiger Epitheta als sachliche In letzter Zeit erfahre ich viel über Projekte, Argumente: patriotisch – antipatriotisch, na- in denen polnische und deutsche „Vertrie- tional – kosmopolitisch, und stigmatisieren bene“ an Oder und Neiße einander von den damit „echte Polen“ und „nationale Verräter“. tragischen Schicksalen ihres Heimatverlus- tes erzählen. Jemand hat diese Erscheinung Das zweite Beispiel: Vor einiger Zeit, im sogar mit dem Satz pointiert: „Auf diese Rahmen des deutsch-polnischen Workshops, Weise, durch die Gemeinsamkeit des Schick- habe ich sachlich, strukturell und didaktisch sals, können sich Deutsche und Polen bes- eine ausgezeichnete Ausstellung gesehen: ser verstehen“. Ist das tatsächlich so? In „Das Gleis“ vom Dokumentationszentrum diesem Erzählen geht die Tatsache verloren, Reichsparteitagsgelände in Nürnberg über dass – bevor ein „gemeinsames Schicksal“ die Beteiligung der Deutschen Bahn an der 30 Robert Traba

Endlösung. Die Diskussion um einen Teil nannten Geschichte ersten Grades (histoire der Ausstellung stellt für mich eine Art au premier degré). Diese Art der Darstel- Fallstudie des deutsch-polnischen Missver- lung verlangt in einer Ausstellung statt der stehens dar. Im letzten Teil der Ausstellung Bezeichnung „Auschwitz“ die konsequente kam es zu einem Streit über die Tafel mit Verwendung des Begriffs „Birkenau“. Der der Aufschrift „Auschwitz“. Diese Tafel be- Begriff „Auschwitz“ wurde benutzt, da er findet sich in einer Reihe anderer Tafeln, gleichzeitig auf der Ebene der Geschichte die die Namen von Vernichtungslagern tragen des zweiten Grades (histoire au second und die auf die letzte Etappe der Beteili- degré, Wahrnehmungsgeschichte, Inter- gung der Deutschen Bahn an der Endlösung pretation) als Bestandteil des globalen Dis- verweisen. kurses über den Zweiten Weltkrieg fest etabliert ist. Durch eine Überlagerung der Wie bekannt ist, war Auschwitz nicht voll- ereignisgeschichtlichen Analyse durch Ele- ständig für die Vernichtung bestimmt, als mente der Erinnerungspraxis werden Zah- Vernichtungslager diente nur das Lager len, Daten und Fakten der vielschichtigen Auschwitz-Birkenau. Um von den deut- Geschichte der drei Haupt- und der Neben- schen Besuchern verstanden zu werden, be- lager, aus denen der Lagerkomplex bestand, dienten sich die Autoren der Ausstellung verkürzt erfasst. „Auschwitz“ zählt zu den des Begriffs Auschwitz und dachten dabei transnationalen Erinnerungsorten (Moritz ausschließlich an das Vernichtungslager. Csáky). In diesem Zusammenhang ist das Auf diese Weise wurden die ersten zwei Argument, dass „Auschwitz“ in Deutschland Jahre des Lagers (1940-1942) aus der Be- eben auf eine bestimmte Art und Weise in- trachtung ausgeschlossen, wie auch die ers- terpretiert wird, nicht plausibel. Wir haben ten Opfer dieses Lagers, die u. a. polnische es hier mit einem wahrscheinlich zufälligen Bürger gewesen sind. Diese Tatsache rief Konflikt zweier unabhängig voneinander bei Workshopteilnehmern kritische Reaktio- existierender, aber parallel laufender histo- nen hervor. Die Reaktion unseres Mode- rischer Darstellungs- und Analyseformen rators nach Besichtigung der Ausstellung zu tun. Wenn man in der historischen Dar- lautete so, dass es sich dabei um ein kaum stellung allerdings um wissenschaftliche bedeutsames Detail handele, das keiner der Konsistenz bemüht ist, müsste in der Aus- deutschen Besucher wahrnehme und das im stellung die Bezeichnung „Birkenau“ Ver- Grunde keinen besonderen Einfluss auf die wendung finden, und es müssten nur die Darstellung des Hauptthemas – die Beteili- Zahlen angegeben werden, die die im Ver- gung der Deutschen Bahn an der Vertrei- nichtungslager ermordeten Menschen und bung und Vernichtung der Juden – ausübe. Opfergruppen betreffen. Wenn man den Im Zusammenhang mit dieser Kontroverse Begriff „Auschwitz“ benutzt, sollte man möchte ich zwei Gedanken darlegen: dagegen sowohl die Zahlen der Opfer als auch die Daten der Existenz des „Stammla- 1. Der erste Gedanke bezieht sich auf einen gers Auschwitz“ nennen. Ansonsten geraten historiographischen Widerspruch und be- wir in Gefahr, historische Vorstellungen zu trifft nicht den deutsch-polnischen Kontext. rekonstruieren, statt Ereignisse zu beschrei- Ich denke, dass bei der Anfertigung der Tafel ben. Vor einem solchen Umgang mit dem zwei Kategorien der historischen Darstel- historischen Gedächtnis hat unter anderem lung vermischt worden sind. Dieser Teil der auch der Historiker Reinhard Koselleck Ausstellung konfrontiert uns auf eine inter- gewarnt. aktive Weise mit den Fakten der Verbre- chen in den Vernichtungslagern. Es handelt 2. Der zweite Gedanke betrifft den deutsch- sich dabei also um eine Darstellung auf der polnischen Kontext. Die emotionale, aber Ebene der Ereignisgeschichte, der so ge- vor allem sachliche Reaktion einiger polni- Wie bestimmt die Geschichte die nationalen Erinnerungs- und Gedenkkulturen? 31

scher Teilnehmerinnen auf diese Fehler, bilität und Kompetenz bei der Darstellung wurde – diesen Eindruck habe ich gewon- der Geschichte. Die deutsche und sowjeti- nen, wenngleich ihn niemand so offen aus- sche Vernichtungspolitik in Polen in den gesprochen hat – erstens im Sinn einer pol- Jahren 1939-1941 ist auf ihre Art ein euro- nischen Überempfindlichkeit bezüglich der päisches Phänomen, in dem sich bereits wie eigenen Opfererfahrung und zweitens als in einer Linse die gesamte „Dramaturgie“ ein generell zweitrangiges Problem inter- der folgenden Kriegsjahre zeigt, einschließ- pretiert, weil es nicht den Kern der Ausstel- lich der Vernichtung der Juden. lung berühre. Mir scheint, dass dies keine geeignete Form ist, einen Dialog zu führen. Bei der deutschen Aufarbeitung der Ge- Denn im Voraus wird hier eine nichtrationa- schichte fehlt – so scheint es mir – ein Wort le Kategorie von Argumenten benutzt. Die in der Liste der Erinnerungsorte (lieux de Auseinandersetzung mit Geschichte erfolgt mémoire), nämlich Besatzung / Okkupati- auf der Grundlage von Bezügen auf einen on. Es geht dabei nicht darum, sich auf alle so genannten „Nationalcharakter“. Das Einzelfälle zu beziehen, sondern darum, Problem des „polnischen Opfers“ ist eines dass für alle Opfer – im Unterschied zu den der wichtigen Themen der Geschichte des Tätern – jedes Verbrechen in dem Maße 20. Jahrhunderts. Ich habe zunehmend den spürbar ist, wie es persönlich oder kollektiv Eindruck, dass gewisse Fakten der Geschich- als gesellschaftliche und nationale Gruppe te Polens nicht berücksichtigt werden oder erlebt wird. In Deutschland ist seit dem En- überhaupt nicht bekannt sind, sogar im de der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts der Kreis von Spezialisten. Ich möchte an die- Diskurs über die Opfer des Nationalsozia- ser Stelle dieses Problem nicht weiter ver- lismus der dominierende Diskurs. Heute folgen. kommt ein weiterer Faktor hinzu: Die Deut- schen nicht nur als Täter, sondern auch als Auf der anderen Seite bestimmt der Holo- Opfer des Zweiten Weltkriegs (Bomben- caust – berechtigterweise – einen Haupt- krieg und Vertreibungen) zu sehen. In die- strom des Diskurses über den Zweiten sem Zusammenhang denke ich, dass eine Weltkrieg. Das ist ein Faktum, das ganz größere Sensibilität gegenüber den Polen offensichtlich und zugleich wünschenswert bestehen sollte. Durch die Folgen des Zwei- ist. Eine Gefahr besteht dann, wenn ein ten Weltkrieges kamen 20 Prozent der pol- Mainstream-Diskurs sich in einen hegemo- nischen Bevölkerung ums Leben. Ein wei- nialen Diskurs verwandelt und andere Dis- terer Fakt, der ohne Zweifel das Problem kursteilnehmer an den Rand gedrängt wer- bezüglich der Selbstwahrnehmung der den. Es handelt sich hierbei um ein unge- Polen verschärft, ist der Umstand, dass die wöhnlich schwieriges Thema, aber auch um polnische Historiographie fast 50 Jahre lang eine charakteristische Tendenz. Als vor ein nicht an der globalen Diskussion über dieses paar Jahren die Ausstellung „Verbrechen Thema als gleichberechtigter Partner teilge- der Wehrmacht“ eröffnet wurde, begann die nommen hat. Daher stammen sicher auch Darstellung nicht mit dem Ausbruch des manchmal Minderwertigkeitskomplexe bzw. Krieges 1939, sondern mit dem Überfall der sogar die oben erwähnte Übersensibilität. Deutschen auf die Sowjetunion. Erst die Sensibilität, die meine deutschen Kollegen Timothy Garton Ash findet den Schlüssel bei der Arbeit am Deutschen Historischen zur „Flucht“ im Dekretieren von Geschichte Institut in Warschau erwarben, führte dazu, in der Formulierung „man muss vor allem dass die Ausstellung um einen „Prolog“ be- über sie Bescheid wissen, man muss in den züglich des Zeitraums 1939-1941 ergänzt Schulen über sie unterrichten“. Einen der wurde. Hierbei geht es nicht um eine Op- Wege zum Wissen hat das Beispiel des ferkonkurrenz, sondern lediglich um Sensi- deutsch-französischen Geschichtslehrbuchs 32 Robert Traba

gezeigt. Während der Öffentlichkeitsarbeit die Kulturwissenschaftler, es freuen sich die für den zweiten Band sprach Wolf Lepenies Konstruktivisten: Endlich entfernen sich die eine bezeichnende Botschaft aus, sinnge- Historiker von Ereignisgeschichte. Ich mäß etwa: Dieses Lehrbuch ist wichtig, selbst finde mich übrigens eher in der Kul- doch eine wahre Herausforderung wird erst turgeschichte wieder. Die Erinnerung an die ein deutsch-polnisches Lehrbuch sein, nicht andere Seite bedeutet in diesem Fall, dass nur aus bilateralen Gründen, sondern weil man nach einer Balance zwischen den es Westeuropa ein vergessenes Fragment unterschiedlichen Haltungen gegenüber der der Geschichte Osteuropas nahebringen wird. Vergangenheit suchen sollte. Die ersten Arbeitsergebnisse der Gruppe polnischer und deutscher Experten deuten Eine fundamentale Warnung für den ganzen darauf hin, dass wir tatsächlich die Chance Forschungskomplex des kollektiven Ge- haben, ein außergewöhnliches Projekt zu dächtnisses hat einer seiner größten Kritiker schaffen. Die Politiker schreiben dabei die und zugleich einer der besten deutschen Geschichte nicht vor, doch sie schaffen Historiker, Reinhart Koselleck, formuliert, günstige Rahmenbedingungen für ein ideo- der verstorbene Autor des auch auf Polnisch logiefreies Funktionieren des Projekts. Ich erschienenen Buches „Vergangene Zukunft – denke nicht, dass dieser Weg zu einem Mo- Zur Semantik geschichtlicher Zeiten“. Ko- dell für Europa werden wird, doch sicher- selleck sah die Gefahr in der Verwischung lich reißt es eines der letzten Elemente des der Grenzen zwischen Ereignisgeschichte – Eisernen Vorhangs nieder, und das in Aus- der sogenannten Geschichte ersten Grades, führung von Historikern aus zwei Völkern, und der – vorgestellten – Geschichte zwei- zwischen denen es im 20. Jahrhundert wohl ten Grades. Das fehlende Gleichgewicht die am stärksten konfliktbeladenen Bezie- zwischen diesen beiden Kategorien kann zu hungen gab. Dieses Beispiel wirkt weiter, einer Störung der Wahrnehmung und Be- wofür die große französisch-polnisch- schreibung der sogenannten historischen ukrainische Konferenz „Geopolitik – Ver- Realität führen. Diese Gefahren kann man söhnung und Erinnerung“, die Anfang auf drei Folgerungen reduzieren: die Ent- Dezember 2009 in Kiew stattgefunden hat, realisierung von Geschichte, fehlende Re- als Beispiel dienen kann. Auch für solche präsentativität und den Bau theologischer Projekte hat die Botschaft nach Verständnis Konstruktionen. Im Ergebnis dessen wür- für „eine andere Erinnerung“ einen Sinn. den sich die Unterschiede zwischen dem II.

und III. Reich nicht auf die Realitäten be-

schränken, sondern auf ihre Wahrnehmung

auf der Ebene von Geschichte kollektiver 3. Methode oder Vielfalt der Vorstellungen / Konstruktionen. historischen Kontexte

Ich habe bereits erwähnt, dass wir in Zeiten Am Ende seines Lebens griff Koselleck der „Entdeckung einer neuen historischen jedoch selbst nach den Forschungen zur Quelle“ leben, des Zeitzeugen. Wir leben in Erinnerung, nur tat er das im individuellen der Zeit der Dominanz des „kollektiven Kontext, inspiriert u. a. von der Reflexion Gedächtnisses“ über die „Geschichte“, oft zu eigenen, persönlichen Erfahrungen. In im Geiste der Botschaft „denn Geschichte dem von ihm in der Vierteljahreszeitschrift ist doch Erinnerung“. Je mehr ich mich „Borussia“ publizierten Artikel lese ich eine selbst mit dieser Problematik beschäftige, große Warnung vor der Fetischisierung „kol- desto skeptischer werde ich gegenüber einer lektiver Vorstellungen“ als historischer Rea- Art Kult für eine solche Tendenz. Es freuen lität. Koselleck bemerkt jedoch gleichzeitig sich die Sozialwissenschaftler, es freuen sich die Rolle des Zeugen, der, vom „Schweige- Wie bestimmt die Geschichte die nationalen Erinnerungs- und Gedenkkulturen? 33

zwang“ berührt, in einem bestimmten Mo- Erinnerung bedrohen, sind: P-rofessoren, ment den Mut hat, mit dem Sprechen anzu- P-olitiker, P-riester, P-ädagogen, P-oeten, fangen. Unsere, der Historiker Aufgabe be- P-ublizisten und PR-Spezialisten. Wir ha- steht dann darin, die individuelle Erzählung ben im Team des Zentrums für Historische in den historischen Kontext einzubauen, Forschung der Polnischen Akademie der ohne das Gleichgewicht zwischen Individu- Wissenschaften neun Prinzipien formuliert, alisierung und Kontextualisierung des Bli- die die deutsch-polnischen Erinnerungsorte ckes auf die Vergangenheit zu verlieren. vor ihrer normativen Funktion in der aktuel- len Geschichtspolitik und der Hypostasie-

rung der Realität ausschließlich durch kol- Ich schreibe hier über die kritischen An- lektive Vorstellungen schützen soll. Wir merkungen von Reinhart Koselleck hin- bemerken, dass die heutige Rekonstruktion sichtlich des kollektiven Gedächtnisses, der Erinnerung viel zu oft dazu beiträgt, na- weil ich selbst, gemeinsam mit Hans Hen- tionale Identitätskonstrukte zu verfestigen ning Hahn und einem Team von mehr als oder miteinander konkurrieren zu lassen. 100 Autoren die große Aufgabe übernom- men habe, die deutsch-polnischen Erinne- rungsorte zu beschreiben. Die Skepsis von

Reinhart Koselleck und Klaus Zernack, oder auf der polnischen Seite des Ideenhis- 4. Schlussbemerkung torikers Jerzy Jedlicki und des Germanisten Das Modell bilateraler Erinnerungsorte soll Hubert Orłowski haben bewirkt, dass wir die von Pierre Nora, Hagen Schulze, Etienne „unsere bilateralen“ Erinnerungsorte als his- François oder der Gruppe österreichischer torische Phänomene definiert haben. In die- Kulturwissenschaftler und Historiker um sem Begriff sind sowohl die metaphorische Moritz Csáky vorgeschlagene Perspektive Kraft der Ereignisse, Personen, topografi- erweitern. Es löst aber überhaupt nicht das sche Orte, Artefakte oder auch Symbole, Problem der kollektiven Gedächtnisse im Denkmäler und diskursive Ereignisse ent- Kontext Ostmitteleuropas. Das ist mir bei halten, als auch der Kontext ihres Funktio- der Vorbereitung einer Ausstellung über in nierens in einem konkreten Raum von Tat- den letzten 200 Jahren in Berlin lebende Po- sachen und Ereignissen. So beziehen wir len deutlich bewusst geworden. Es stellte uns also in der Dimension der deutsch- sich heraus, dass es am schwierigsten war, polnischen Nachbarschaft auf die Bezie- die Frage „Wer ist denn ein Pole in Berlin?“ hungsgeschichte von Klaus Zernack. Wir zu beantworten. Zum ersten Mal erfuhr ich untersuchen Mechanismen des Alltagsle- dieses Problem aus eigener Erfahrung. Ich bens, die dazu führen, dass eben „dieses“ musste einen Kollegen finden, der in der und kein „anderes“ Ereignis zu einem Ele- Paul-Robeson-Straße am Prenzlauer Berg ment wird, das Menschengruppen kon- wohnte, wusste jedoch seine Hausnummer struiert, die sich für Deutsche oder Polen nicht. Fast eine Stunde lang las ich die Na- halten / hielten. Wir versuchen, auf diese men an den Klingeln, um im vorletzten Weise der Falle der Normativität bei der Haus den richtigen zu finden. Fast alle Beschreibung von Erinnerungsorten zu ent- Namen klangen merkwürdig bekannt: sla- kommen. wisch-polnisch, doch unter Bruch aller Rechtschreibregeln der polnischen Sprache! Reinhard Kosseleck hat „das Prinzip der Waren das noch Polen? Oder vielleicht sieben P“ formuliert, das vor der Dominanz schon Deutsche? Ist ein Schlesier, der kollektiver Vorstellungen über das Recht „Wasserpolnisch“ spricht, ein Pole? Oder auf individuelle Erinnerung schützen soll. ein aus einem polnischen Schtetl stammen- Diejenigen, die das Recht auf individuelle der Jude ein „Ostjude“? Wen soll man von 34 Robert Traba

den Helden der Erzählung über das polni- Ich kann diese Fragen nicht alle beantwor- sche Berlin einbeziehen und wen ausschlie- ten. Ich übertrage sie jedoch auf die hybride ßen? Wie verhält sich die Kategorie des Struktur Ostmitteleuropas und nehme eine kollektiven Gedächtnisses zu diesem Prob- noch größere Herausforderung wahr. Die lem? Wie bleibt in einem solchen hybriden Massendimension der Nationsbildungspro- Kulturraum, wo sich verschiedene Migrati- zesse dauerte dort oft noch bis zum Anfang onswellen und Haltungen überlappen, die des 20. Jahrhunderts. Wenn wir das kollek- Erinnerung „erhalten“? Wie wird das Bild tive Gedächtnis im Raum der langen Dauer „unserer“ und „nicht-unserer“ Vergangen- beschreiben, berühren wir zwangsläufig nur heit konstruiert? Ob das Verhältnis zwi- einen kleinen Prozentsatz von „Polen“, schen kommunikativem und kulturellem „Ukrainern“, „Litauern“ oder „Slowaken“ Gedächtnis eine spezifische Form annimmt? und so weiter, wodurch wir die Gefahr Kann man auf dem Niveau eines allgemei- schaffen, dass wir uns auch derjenigen be- nen Prinzips die Mechanismen der Erinne- mächtigen, die keine eindimensionale natio- rung und des Vergessens definieren? nale Identifikation verspürt haben.

Anmerkung

1 Vgl. Traba, Robert: „Die andere Seite der Erinnerung“ – über das Gedächtnis in der historischen Erfahrung Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert, in: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin, Folge 2, Berlin 2009, Nr. 2, S. 11-21. Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg*

Klaus Ziemer

Der Zweite Weltkrieg bildete zusammen mit den ihm vorausgehenden Jahren ab 1933 sowie den unmittelbaren Nachkriegsjahren eine sehr tiefe Zäsur. 1945 sah nicht nur die politische Landkarte Europas, insbesondere Ostmitteleuropas, ganz anders aus als zuvor. Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs veränderte nachhaltig Mentalitäten, bildete einen entscheidenden An- stoß zur europäischen Integration und änderte auch das Verhältnis von Völkern zueinander. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, wie sich in Deutschland Erinnerung und Gedenken an diese Zeit entwickelt haben.

„Erinnerung“ ist in den letzten Jahren zu ses von einer großen Zahl von Personen ge- einem zentralen Paradigma der Geschichts- teilt werden. Er bedeutet nicht, dass es in schreibung geworden. Schlüsselkategorien einer Gesellschaft nur eine einzige Erinne- sind dabei „kommunikatives“ und „kulturel- rungskultur gibt. Vielmehr können mehrere, les Gedächtnis“. „Kommunikatives Gedächt- sich teilweise beträchtlich unterscheidende nis“ meint die Weitergabe von Ereignissen Erinnerungskulturen in einer Gesellschaft an die Nachfolgenden durch Zeitzeugen, die nebeneinander und zum Teil in offener gewissermaßen „aus erster Hand“ ihre Er- Konkurrenz zueinander bestehen.1 lebnisse weitergeben. Die Vielzahl solcher Berichte wird, verdichtet durch die Interpre- Ein weiterer im Titel vorgegebener Begriff tation der Medien, der Politik und der Wis- betrifft die „Gedenkkultur“. Hier wird im senschaft, zum „kommunikativen Gedächt- Gegensatz zum Erinnern abgehoben auf das nis“, das die Narratio über Ereignisse be- öffentliche Gedenken, auf das, was von stimmt, die die Zeitgenossen selbst nicht Staats wegen erinnert werden soll. Jeder miterlebt haben. Staat bestimmt solche Fixpunkte der ge- meinsamen Erinnerung, etwa durch die Wenn wir wiederum den Zweiten Weltkrieg Festlegung eines Nationalfeiertags, durch als Bezugspunkt für unsere Überlegungen die Bestimmung der Staatsflagge oder des nehmen, befinden wir uns gegenwärtig in Staatswappens, das die gegenwärtige von einer Phase, in der die Zahl derer immer vorhergehenden Staatsordnungen abgrenzen kleiner wird, die diesen Krieg selbst erlebt soll. Hinzu kommen die Bezeichnungen von haben und darüber berichten können. Er Straßen- und zum Teil auch Städtenamen. geht, in den genannten Kategorien gespro- Wir haben gerade in Deutschland die Neu- chen, vom kommunikativen in das kulturelle bestimmung solcher historischen Bezugs- Gedächtnis über. Umso wichtiger wird, was punkte 1933, 1945 und – im Osten des heuti- in diesem kulturellen Gedächtnis gespei- gen Deutschland – 1989/90 erlebt. Gedenken chert ist. und Erinnern an die Zeit des Zweiten Welt- kriegs haben dabei in Deutschland in mehr Der Begriff „Erinnerungskultur“ impliziert, als 60 Jahren beträchtliche Veränderungen dass die Inhalte des kulturellen Gedächtnis- erfahren. 36 Klaus Ziemer

1. Der Umgang mit der jüngsten waren (bis Mitte 1950er-Jahre),4 3. die vor Vergangenheit in den 1950er- und allem strafrechtliche „Aufarbeitung“ (bis frühen 1960er-Jahren Mitte der 1980er-Jahre), und 4. das „Bewah- 5 ren der Erinnerung“ (bis heute). Heute verbinden sich mit der deutschen Rolle im Zweiten Weltkrieg Begriffe wie Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse „Vernichtungskrieg“, „deutsche Verbrechen“, hatten zwar erst ansatzweise die Dimensio- „Holocaust“. In den westdeutschen Massen- nen der von deutscher Seite zu verantwor- medien oder auch Politikerreden der ersten tenden Verbrechen sichtbar gemacht. Für Nachkriegsjahre findet man ein ganz ande- große Teile der Gesellschaft waren damit res Bild. Hier dominierten die Alltagsprob- jedoch bereits die Schuldigen gefunden und leme einer Gesellschaft, die charakterisiert zur Rechenschaft gezogen worden. Die Un- waren durch die weitgehende Zerstörung terstützung breiter Bevölkerungskreise für vieler Städte, durch Arbeitslosigkeit, die das NS-Regime wurde verdrängt, die Deut- Notwendigkeit, Millionen von Flüchtlingen schen waren von Hitler und einer kleinen und Vertriebenen zu integrieren, und die Gruppe von Verbrechern verführt worden Ungewissheit über das Schicksal von An- und eher „Opfer“.6 Erst in den letzten Jahr- gehörigen. Die mentale Disposition der zehnten ist herausgearbeitet worden, wie deutschen Gesellschaft charakterisierte da- stark einzelne Berufsgruppen aktiv den Na- bei eine „diffuse Grundstimmung, die aus tionalsozialismus unterstützt und sich an Frustrationen, Enttäuschungen und einem seinen Verbrechen beteiligt haben, Ärzte, tiefgreifenden Verlust an Lebensorientie- Juristen, Hochschullehrer, bis hin zu Ange- rung resultierte“.2 Entsprechend dominier- hörigen des Auswärtigen Amtes.7 In den ten in der Erinnerung breiter Kreise der vierziger und fünfziger Jahren dominierte Gesellschaft die Entbehrungen des Krieges, dagegen eine Ablehnung der von den Alli- unter Soldaten das an der Front Durchlebte ierten durchgeführten Entnazifizierung und und insgesamt das Bewusstsein, schwere eine Solidarisierung mit von den Alliierten Jahre hinter sich gebracht zu haben. Dies verurteilten Kriegsverbrechern. Entsprechend war, wie Jürgen Danyel festgestellt hat, die war die Erwartungshaltung großer Teile der „Erinnerungskonstellation in der Bevölke- Gesellschaft gegenüber den neuen eigenen rungsmehrheit“, von der alle politischen politischen Institutionen. Die Legitimität Parteien und staatlichen Institutionen im von Bundesregierung und Bundestag wurde Westen wie im Osten Deutschlands ausge- geradezu daran gemessen, wie weit Amnes- hen mussten, wenn sie unter Bezugnahme tiegesetze erlassen wurden und bei den Alli- auf den Zweiten Weltkrieg und das NS- ierten die Freilassung inhaftierter deutscher Regime sinn- und identitätsstiftende Bin- Militärs erreicht wurde. Um Wahlen zu dungen an die neue politische und sozio- gewinnen, mussten Politiker dieser Stim- ökonomische Ordnung herstellen wollten.3 mungslage entsprechen. Gerade die SPD tat sich angesichts dieses Dilemmas mit der Für den Umgang mit dem Nationalsozia- Zustimmung zu einer Reihe von Beschlüs- lismus in der alten Bundesrepublik hat Nor- sen und Gesetzen des Bundestages (Amnes- bert Frei eine plausible Phaseneinteilung tien für NS-Straftäter, Reintegration der so- getroffen: 1. Politische Säuberungen von genannten “Säuberungsopfer“, etc.) schwer.8 1945 bis zum Ende der direkten Herrschaft Vor diesem Hintergrund sind aus heutiger der Alliierten 1949, 2. „Vergangenheitspoli- Sicht unverständliche Maßnahmen zu sehen tik“, also die Amnestierung und durch wie Interventionen der Bundesregierung Gesetzgebung vorgenommene Reintegration zugunsten von Kriegsverbrechern oder die von Personen, die durch ihre NS-Vergan- weitgehende Übernahme des bisherigen genheit mehr oder minder schwer belastet Beamtenapparats. Gleichwohl muss als skan- Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 37

dalös gelten, dass kein einziger Richter zur brechern. Nach den Nürnberger Prozessen Verantwortung für Terrorurteile in der NS- und einigen wenigen Kriegsverbrecher- Zeit gezogen wurde, selbst die Mitglieder prozessen Ende der 1940er- / Anfang der von Freislers Volksgerichtshof nicht.9 Die 1950er-Jahre konnten sich die Täter im weitgehende Blindheit auf dem rechten Auge politischen Klima Mitte der fünfziger Jahre ist die eine Seite der frühen Bundesrepublik relativ sicher fühlen. Erst die Dreistigkeit des (im Falle der Beschäftigung der Justiz mit ehemaligen Polizeidirektors von Memel, nur der frühen ihrer eigenen Vergangenheit auf Wiedereinstellung in den Staatsdienst allerdings nicht Bundesrepublik).10 zu klagen, führte 1958 zum sogenannten Ulmer Einsatzgruppenprozess, bei dem deut- Im Laufe der Zeit konsolidierte sich in der lich wurde, „dass, entgegen der allgemeinen Bundesrepublik die neue demokratische Annahme, bisher nur die Spitze des Eisbergs Ordnung, die ganz wesentliche Impulse für der nationalsozialistischen Verbrechen sicht- ihre Legitimation aus der wirtschaftlichen bar geworden war“.11 Als direkte Folge die- Entwicklung bezog. Allerdings wurden auch ses Prozesses wurde Ende 1958 die Zentral- Normen und Werte der Demokratie zuneh- stelle zur Verfolgung nationalsozialistischer mend internalisiert, wozu nicht zuletzt die Gewaltverbrechen in Ludwigsburg errichtet. schulische wie außerschulische politische Danach wurde eine ganze Serie von Verfah- Bildung wesentlich beitrug. Es entbehrte ren eingeleitet, die ihren Höhepunkt im von daher nicht einer inneren Logik, dass früher 1963 bis 1965 dauernden ersten Frankfurter oder später auch die eigene jüngste Vergan- Auschwitz-Prozess fand. genheit unter den jetzt gültigen Wertmaß- stäben neu gesehen wurde. Der entschei- Im Bundestag gab es 1964/65 die erste, dende Bruch im Umgang mit dieser Ver- teilweise leidenschaftlich geführte Debatte gangenheit vollzog sich in den sechziger über die Verjährung von NS-Verbrechen, Jahren, insbesondere im und nach dem denen jeweils bei Auslaufen von dann ver- Schlüsseljahr 1968. Es brach geradezu ein längerten Verjährungsfristen weitere folgten, Generationenkonflikt auf, in dem die Jünge- bis 1979 die Verjährung von Mord gänzlich ren die Generation ihrer Eltern fragten, wie aufgehoben wurde. Hans-Peter Schwarz die nationalsozialistische Herrschaft über- stellte 1983 fest: „In keinem Land sind im haupt möglich war und welche Rolle die Mit- 20. Jahrhundert die im Auftrag der eigenen glieder der eigenen Familie damals spielten. Regierung und von eigenen Landsleuten Erst zu diesem Zeitpunkt setzte eine breitere begangenen Verbrechen über einen so Auseinandersetzung mit dem Nationalsozia- langen Zeitraum und mit solcher Intensität lismus und mit Einzelaspekten des Zweiten geahndet worden“.12 Freilich war der Ruf, Weltkriegs, der nationalsozialistischen Ver- endlich einen „Schlussstrich“ unter die Ver- nichtungspolitik und deutschen Kriegsver- gangenheit zu ziehen, nicht zu überhören. brechen ein, die in Wissenschaft und Publi- Er wurde nicht nur, aber gerade auch im zistik allerdings sehr intensiv und teilweise Kontext von Kriegsverbrecherprozessen kontrovers geführt wurde und bis heute an- laut, die Jahrzehnte nach dem Geschehen dauert. unter zum Teil völlig unbefriedigenden Be- dingungen wie fehlenden oder erinnerungs- schwachen und bewusst „mauernden“ Zeu- 2. Ebenen der Auseinandersetzung gen stattfanden. mit der Vergangenheit in den 1960er- und 1970er-Jahren Einen Anlass, sich insbesondere mit dem deutschen Militär im Zweiten Weltkrieg Werfen wir zunächst einen Blick auf die auseinanderzusetzen, bot der Aufbau der strafrechtliche Verfolgung von Kriegsver- . Wo sollte angeknüpft werden, 38 Klaus Ziemer

welche Traditionen sollten übernommen, Staat.14 Die Rolle der Wehrmacht wurde in welche ausgeschieden werden? Die Aporien der breiten Öffentlichkeit vor dem Hinter- wurden auch nach außen sichtbar, als 1965, grund der nicht zu leugnenden Kriegsver- also zehn Jahre nach Gründung der Bundes- brechen auf die einer „moralisch integren wehr, ein auch in der Öffentlichkeit heftig Armee“ reduziert, während für die Verbre- diskutierter „Traditionserlass” Antworten auf chen die SS und andere NS-Einheiten ver- diese Fragen zu geben versuchte. Einerseits antwortlich gemacht wurden. Dass diese wurden als Maßstab für die „Traditionswür- Dichotomie so nicht haltbar ist, war für digkeit“ freiheitlich-demokratische Werte größere Teile der Gesellschaft kaum nach- genannt, hinsichtlich der Beurteilung der vollziehbar. Die heftigen Reaktionen auf die Wehrmacht aber keine eindeutigen Aussa- „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger gen gemacht. Der zweite Erlass von 1982 Instituts für Sozialwissenschaften, deren erklärte zwar präziser, das „Unrechtssystem zwei Versionen 1995 bis 1999 und 2001 bis des Nationalsozialismus könne keine Tra- 2004 in etlichen Städten der Bundesrepu- dition begründen“, doch konnte sich „die blik gezeigt wurden,15 unterstrichen, dass politische Führung der Bundeswehr im Zu- dieses Thema weiterhin in hohem Maße sammenhang mit der Traditionspflege bis emotional besetzt war. Diese Diskussion heute nicht zu einem offiziellen Verdikt der führte zur Veröffentlichung eines Werkes Wehrmacht als Organ der NS-Herrschaft zur Rolle der Wehrmacht und ihrer Ange- durchringen“. Ein unter Verteidigungs- hörigen im Dritten Reich und im Zweiten minister Manfred Wörner ausgearbeiteter Weltkrieg mit dem Ziel, die Millionen Sol- dritter Traditionserlass, der auf die ambiva- daten der Wehrmacht nicht pauschal als lente Rolle der Wehrmacht und die Bedeu- Kriegsverbrecher zu verurteilen, sondern tung des Widerstands gegen Hitler für die ihrem Handeln im Einzelnen gerecht zu Traditionsbildung der Bundeswehr hinwies, werden.16 Ein zweites, nicht minder monu- wurde vor der Bundestagswahl 1987 nicht mentales Werk verfolgte die Absicht, eine veröffentlicht und nach Wörners Berufung Beurteilung der Wehrmacht vorzulegen, die zum NATO-Generalsekretär von dessen dem aktuellen Stand der historischen For- Nachfolger nicht weiter verfolgt.13 Dies hatte schung und ihrer benachbarten Disziplinen zur Folge, dass die Abgrenzung der Bun- entsprach, und so zu einer Versachlichung deswehr zu Traditionsbeständen der Wehr- der Diskussion beizutragen.17 Eine ab 2005 macht nicht bis ins Letzte geklärt wurde in Deutschland gezeigte Ausstellung zu und dementsprechend auch für die Öffent- Verbrechen der Wehrmacht während des lichkeit wahrnehmbare Auseinandersetzun- Polen-Feldzuges 1939 vermittelte zwar auch gen, etwa um die Benennung von Kasernen, weitgehend unbekannte Fakten,18 erregte aber von Einheiten der Bundeswehr etc. weiter keinen Skandal mehr. andauerten. Lange Zeit und insbesondere in den An- Die Rolle der Wehrmacht im Nationalsozia- fangsjahren war in der alten Bundesrepublik lismus im Allgemeinen und während des die Bewertung des Widerstands gegen Hit- Zweiten Weltkriegs im Besonderen war in ler ausgesprochen kontrovers und wurde auf den vergangenen Jahrzehnten Gegenstand die Attentäter des 20. Juli 1944 verkürzt, zahlreicher Untersuchungen, deren Resultate denen von vielen der Bruch des Fahneneids von der Öffentlichkeit – zum Beispiel von auf Hitler vorgeworfen wurde. Den Wider- Kriegsveteranen – zum Teil heftig abge- standskämpfern gegen den Nationalsozia- lehnt wurden. Dies galt etwa für die bahn- lismus wurde zunächst eher Unverständnis brechende Studie von Manfred Messer- entgegengebracht. Doch bereits Mitte der schmidt zur politischen Indoktrination der fünfziger Jahre wurden sie sowohl als un- Wehrmacht und ihre Integration in den NS- verzichtbarer Bestandteil der Legitimation Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 39

des neuen deutschen Staates in Anspruch Eiserne Kreuz und der Stahlhelm durch genommen als auch als leuchtende Vorbil- Palmzweige und das christliche Kreuz ab- der präsentiert, die den Deutschen neues gelöst wurden. Selbstbewusstsein vermitteln sollten. Inzwi- schen sind die verschiedenen Verästelungen Ähnliche Akzentverschiebungen in der Er- dieses Widerstands ausführlich erforscht, innerungskultur der alten Bundesrepublik und die Literatur zu diesem Gegenstand ist lassen sich auch am Wandel der Ansprachen kaum mehr überschaubar.19 anlässlich des seit 1950 begangenen Volks- trauertages festmachen. Schon die Änderung Da der Zweite Weltkrieg untrennbar mit dem der Bezeichnung des früheren „Heldenge- Nationalsozialismus verbunden ist, unter- denktages“ in „Volkstrauertag“ machte eine scheidet sich auch das öffentliche Gedenken grundlegend gewandelte Sichtweise deut- an diesen Krieg signifikant vom Gedenken lich. Dominierte in den Ansprachen anfangs an die Gefallenen nach dem Ersten Welt- ein Erinnern an Krieg, Wehrmacht und Sol- krieg oder dem deutsch-französischen Krieg datentod, so überwogen bald „christliche 1870/71. Augenfällig ist dies bei den Krie- Symbole und Denkfiguren, verbunden mit gerdenkmälern, die nach den früheren Krie- häufig wiederkehrenden Metaphern für gen nicht nur der Gefallenen gedachten, Trauer und Versöhnung“.22 Bezeichnend ist sondern ihren Tod als Opfer für das Vater- auch, dass seit etlichen Jahren dieser Tag land überhöhten, das den Sieg erst möglich nicht nur den Toten der beiden Weltkriege, gemacht habe bzw. Verpflichtung für die sondern auch den Opfern der nationalsozia- Zukunft sei. Entsprechend heroisch waren listischen Gewaltherrschaft gewidmet ist. In häufig die Darstellungen auf den Denkmä- der ungeachtet der Unterschiede in sonsti- lern.20 gen Fragen eindeutigen Verurteilung und Distanzierung vom Nationalsozialismus sind Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich sich die im Bundestag vertretenen Parteien zunächst einmal die Frage, „wessen nun einig. eigentlich gedacht werden sollte“, da zu den gefallenen Soldaten ganz neue, in früheren Ein einschneidendes Ereignis für die histo- Kriegen nicht bekannte Opfergruppen hin- rische Bewusstseinsbildung der deutschen zutraten, eine große Zahl ziviler Kriegstoter Gesellschaft bildete die Veröffentlichung der sowie die fast kaum überschaubaren Gruppen so genannten „Ostdenkschrift“ der Evangeli- der Opfer des Nationalsozialismus, Juden, schen Kirche Deutschlands im Oktober 1965. Sinti und Roma, Euthanasieopfer etc., aber In ihr wurde zum einen auf das Schicksal auch Widerstandskämpfer und politische der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Gegner des NS-Staates.21 Eine Sinnstiftung Bundesrepublik eingegangen, zum anderen des Gefallenentodes unterblieb durch offi- aber erstmals seit Kriegsende das Verhältnis zielle deutsche Stellen, sobald diese sich ab Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn Ende der vierziger Jahre zu diesem Thema thematisiert und auf die schwere Schuld äußern konnten. Charakteristisch war in hingewiesen, die Deutschland gegenüber diesem Zusammenhang auch, dass Denk- seinen östlichen Nachbarn auf sich geladen mäler für die Gefallenen in den einzelnen hatte. Die Denkschrift löste eine scharfe, Gemeinden nicht mehr auf zentralen Plät- nicht nur die Evangelische Kirche polarisie- zen, sondern eher auf Friedhöfen errichtet rende Diskussion aus, bereitete aber ein bzw. dorthin verbracht wurden, was die An- Umdenken in Teilen der Gesellschaft und näherung des Kriegstotenkults an den zivilen mittelfristig die Akzeptanz der von der Totenkult unterstrich. In dieselbe Richtung sozialliberalen Koalition ab 1969 geführten ging die zunehmende Verchristlichung der Neuen Ostpolitik vor.23 Willy Brandts Knie- Symbolik der Denkmäler, auf denen das fall vor dem Denkmal des Warschauer Ghet- 40 Klaus Ziemer

tos 1970 löste in Deutschland erneut heftige bolisch auf Augenhöhe mit den Westalliier- Diskussionen aus, wurde aber schrittweise ten hatte setzen sollen, ein schaler Nachge- auch von konservativen Kreisen akzeptiert schmack. und schließlich zu dem Symbol deutsch- polnischer Aussöhnung. Es mochte wie eine Antwort auf Bitburg klingen, als drei Tage später Bundespräsi- dent Richard von Weizsäcker zum 40. Jah- 3. Geschichtspolitische Kontroversen restag des Kriegsendes eine damals heftige der 1980er-Jahre Kontroversen auslösende Rede hielt. Hatte Konrad Adenauer 1955 den Tag des Kriegs- Zwar lagen zur Shoa seit Jahrzehnten ein- endes noch als einen schwarzen Tag in der schlägige Untersuchungen von Historikern deutschen Geschichte bezeichnet, da hier vor, und der Öffentlichkeit war die Pro- die Teilung Deutschlands begonnen habe, blematik spätestens seit dem Frankfurter sah Richard von Weizsäcker im 8. Mai Auschwitz-Prozess bekannt. In das Bewusst- nicht einen Tag der Niederlage, sondern der sein breiter Bevölkerungskreise gelangte das Befreiung. Weizsäckers Appell, die Ver- Thema jedoch erst durch die 1979 ausge- antwortung für die eigene Geschichte „ohne strahlte Fernsehserie „Holocaust“, die Mil- Beschönigung und ohne Einseitigkeit“ an- lionen Menschen bewegte. Seither ist der zunehmen und sein Aufruf, alle Aspekte der Begriff „Holocaust“ in Deutschland geläufig, deutschen Geschichte im Auge zu behalten, wird dieses Thema umfangreich im Schul- wären in den fünfziger Jahren kaum denk- unterricht behandelt und rücken die Opfer bar gewesen. in den Mittelpunkt der Erinnerung. Die Auseinandersetzung um die Bewertung Mit der von Helmut Kohl bei der Übernah- des Nationalsozialismus in der deutschen me seiner Kanzlerschaft 1982 verkündeten Geschichte flammte 1986 im wissenschaft- „geistig-moralischen Wende“ wurden auch lich-publizistischen Bereich mit großer Öf- in der Vergangenheitspolitik neue Akzente fentlichkeitswirksamkeit erneut auf. Auslöser gesetzt. Das 1984 von Kohl auf einer Israel- war ein Artikel des Historikers Ernst Nolte reise geprägte Wort von der „Gnade der in der FAZ vom 6. Juni 1986, in dem er den späten Geburt“ zielte auf eine Entlastung der Nationalsozialismus und den Holocaust his- großen Mehrheit der damaligen deutschen torisierte und damit relativierte. Die scharfe Gesellschaft von der Verantwortung für die Reaktion der Gegenseite vertrat vor allem NS-Verbrechen. Nachdem im selben Jahr – Jürgen Habermas, der Nolte vorwarf, eine dem 70. seit Beginn des Ersten Weltkriegs – ungebrochene, konservative, nationale Iden- Mitterrand mit Kohl in Verdun eine medial tität schaffen zu wollen. Der „Historikerstreit“ einprägsame Versöhnungsgeste vornahm, absorbierte 1986/87 zwar einige Aufmerk- konnte Kohl den US-Präsidenten Ronald samkeit der historisch-politisch interessier- Reagan dazu gewinnen, zum 40. Jahrestag ten Öffentlichkeit, brachte inhaltlich aber des Endes des Zweiten Weltkriegs am 5. Mai keine neuen Erkenntnisse. 1985 in Bitburg gemeinsam einen Kranz auf einem Soldatenfriedhof niederzulegen, auf dem, wie sich im Vorfeld des Besuchs 4. Die Haltung der DDR zum herausstellte, auch Angehörige der Waffen- Zweiten Weltkrieg und zum SS bestattet waren. Zwar ging der Veran- Nationalsozialismus staltung in Bitburg ein Gedenken beider Politiker an die NS-Opfer in Bergen-Belsen Der Umgang von KPD und SED in der SBZ voraus. Doch blieb von der Gedenkstunde bzw. der DDR mit dem Nationalsozialismus in Bitburg, die eigentlich Deutschland sym- wies zwar auf der deklamatorischen und Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 41

legitimatorischen Ebene deutliche Unter- Staat. Hierbei wurde das spezifische Selbst- schiede zu Westdeutschland auf. In mehr verständnis der Führungsschicht von KPD als nur einer Hinsicht ähnelte indes der und SED auf den gesamten Staat übertra- praktische Umgang mit dem Problem zu- gen. Diese politische Führung verstand sich mindest in den ersten Nachkriegsjahren dem als moralisch überlegene Elite, die den Na- Herangehen in Westdeutschland. In beiden tionalsozialismus von Anfang an bekämpft Fällen wurde bis 1948/49 die Entnazifizie- und unter seiner Herrschaft gelitten hatte. rung überwiegend von den Alliierten vor- Zugleich war sie geprägt von großem Miss- genommen, wenngleich dies im Westen trauen gegenüber der Mehrheit der Gesell- eher eine – von den Besatzungsmächten je schaft, die sich nach ihrer Überzeugung vom unterschiedlich gehandhabte – „bürokra- Nationalsozialismus materiell hatte korrum- tische“ Säuberung darstellte, im Osten da- pieren lassen. Beide Faktoren zusammen gegen eine „instrumentalisierte politische führten zu einem Umgang mit dem Natio- Säuberung“,24 die unter der faktischen Regie nalsozialismus, den Jürgen Danyel als „spe- der Sowjetischen Militäradministration in zifische Schlussstrichmentalität“ bezeichnet Deutschland (SMAD) zu einem radikalen hat.26 Eine umfassende Diskussion über den Elitenaustausch in Verwaltung, Justiz, Wirt- Nationalsozialismus unterblieb. Fragen von schaft und Kultur führte. Schuld und Verantwortung, von Anpassung und Opportunismus auch der in der DDR Ab 1948/49 setzten jedoch auch die Behör- lebenden deutschen Bevölkerung vor 1945 den in der Sowjetischen Besatzungszone waren tabu, was einerseits zu einem Defizit (SBZ) bzw. der DDR ebenso wie im Westen an demokratischer Kultur führte, anderer- auf eine schrittweise Integration der Masse seits gerade die Glaubwürdigkeit des so der durch die Entnazifizierungspolitik seit lautstark propagierten Antifaschismus der Kriegsende bisher Ausgegrenzten, ohne dass DDR unterminierte, nicht zuletzt in Polen, diese freilich ihren beruflichen oder besitz- das in besonderer Weise unter dem Natio- rechtlichen Status quo ante zurückerhielten. nalsozialismus gelitten hatte. Aktiv um die Einbindung dieser Personen- gruppe bemühte sich selbst die SMAD, auf Das von ihrer Führung konsequent verfoch- deren Initiative 1948 die Nationaldemokra- tene Selbstverständnis, von Anfang an ein tische Partei Deutschlands (NDPD) gegrün- antifaschistischer Staat gewesen zu sein, zog det wurde. Durch diese Partei sollten ehe- für die DDR eine Reihe von Konsequenzen malige Wehrmachtsangehörige und NSDAP- nach sich. So weigerte sie sich, materiell in Anhänger für die neue Ordnung gewonnen irgendeiner Weise für NS-Unrecht haftbar und in sie integriert werden. In der Praxis gemacht zu werden, und lehnte jahrzehnte- erfüllte sie diese Funktion allerdings nur lang Wiedergutmachungsleistungen nach bedingt. Frappierend sind allerdings die dem Muster der Bundesrepublik kategorisch zeitlichen Parallelen von Gesetzen zur Wie- ab. Bis in die sechziger Jahre hinein ver- derherstellung der staatsbürgerlichen Rechte suchte die offizielle DDR, unter geschickter für ehemalige Wehrmachtsoffiziere und Ausnutzung von Schwachstellen der Bundes- NSDAP-Mitglieder vom 9. November 1949 republik bei der Abgrenzung vom Dritten und 3. Dezember 1952 zu analogen Maß- Reich,27 die Bundesrepublik insgesamt als nahmen in der Bundesrepublik.25 eine Fortsetzung des NS-Staates darzustel- len und für alle aus dem Dritten Reich er- Grundlegend verschieden von der Bundes- wachsenen Folgeprobleme auf Bonn zu ver- republik war indessen der explizite Umgang weisen. Gleichzeitig setzte in der Bundes- mit dem Nationalsozialismus in der Selbst- republik im Laufe der Zeit eine dann nicht darstellung der DDR. Die DDR verstand sich mehr abreißende Auseinandersetzung mit als einen von Anbeginn an antifaschistischen dem Nationalsozialismus ein, während eine 42 Klaus Ziemer

analoge Diskussion darüber, wie weit die und mit der sie sich auch in der Geschichts- eigene Gesellschaft von diesem Problem schreibung schwertat. Ähnliches galt auch betroffen war, in der DDR tabu war. Beide für die Pflege von anderen als sowjetischen Phänomene wurden dahingehend auf den Soldatengräbern. Diese Thematik wurde zum Begriff gebracht, dass die Bundesrepublik Teil erst unter dem Druck kirchlicher Kreise das Problem des Nationalsozialismus inter- aufgegriffen. Noch mehr erstaunt, dass in nalisiert, die DDR dagegen externalisiert der DDR die zahlenmäßig größte Opfer- habe (Rainer-Maria Lepsius). Eine Ausein- gruppe, Juden sowie Sinti und Roma, im andersetzung etwa mit Fragen persönlicher öffentlichen Gedenken ganz im Hintergrund Verantwortung für die Geschehnisse im standen. Die DDR beschränkte sich, wie Nationalsozialismus fand erst relativ spät Danyel, Groehler und Keßler feststellten, in in der Literatur (Christa Wolf oder Franz der Tradition der kommunistischen Arbei- Fühmann) statt. terbewegung von vor 1945 „vorwiegend auf die politisch-sozialen Determinanten von Hatte die Bundesrepublik lange Zeit ihre Antisemitismus und jüdischer Emanzipation Schwierigkeiten mit der Bewertung des und ignorierte die ethnisch-religiöse Kom- Widerstands gegen den Nationalsozialis- ponente dieser Frage. Diese Deutung prägte mus, was sich selbst auf die Attentäter des auch die Sicht auf die NS-Vernichtungspra- 20. Juli 1944 erstreckte, von kommunisti- xis gegenüber den Juden, deren Einmaligkeit schem Widerstand ganz zu schweigen, so und irrationale Motivation verkannt wurde“.30 zeigte sich auch in der DDR eine „politisch Die anti-israelische Grundposition der DDR- motivierte Differenzierung und Hierarchi- Außenpolitik verstärkte eine solche Sicht- sierung“ sowohl des Widerstands als auch weise. Dass gegen Ende der DDR gegenüber von Opfer- und Verfolgtengruppen.28 Eine dem Jüdischen Weltkongress wenigstens in der Anfangsphase der SBZ zu beobach- die grundsätzliche Bereitschaft signalisiert tende Tendenz, alle Gruppen von Verfolg- wurde, zumindest in eher symbolischem Um- ten und Opfern des Nationalsozialismus, fang auch materielle Wiedergutmachung zu auch wenn sie nicht dem kommunistischen leisten, entsprang primär außenpolitischem Widerstand angehört hatten, in der „Verei- Kalkül, kaum aber einer prinzipiellen Revi- nigung der Verfolgten des Naziregimes“ sion früherer Grundsatzpositionen. (VVN) zusammenzufassen, wurde schon Ende der vierziger Jahre aufgegeben, da eine Auf der Ebene öffentlichen Gedenkens auch nur ansatzweise Unabhängigkeit vom gelang es der DDR sogar, gewissermaßen Machtmonopol der SED nicht mehr tole- nachträglich an die Seite der Sieger des rierbar war. Die Widerstandsbewegung des Zweiten Weltkriegs zu treten. Der 8. Mai 20. Juli wurde lange Zeit als eine Auseinan- 1945 wurde im Kanon der Gedenktage der dersetzung innerhalb einer Klasse gewertet, DDR zum Schlüsseldatum, an dem zusam- deren Ziel nicht in der Überwindung der men mit sowjetischen Vertretern am zentra- bürgerlichen Ordnung bestanden habe. Mit len sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow der Durchsetzung des Stalinismus wurde in sowie zahlreichen sowjetischen Ehrenfried- der DDR der Widerstand verengt auf den höfen in der DDR des Kriegsendes gedacht „dogmatisch interpretierten kommunistischen wurde. Der 1. September wurde sowohl als Widerstand“.29 „Internationaler Kampftag für die Opfer des faschistischen Terrors und Kampftag gegen Nicht zu übersehen sind gewisse Schwierig- Faschismus und Krieg“ als auch als „Welt- keiten der offiziellen DDR im Umgang mit friedenstag“ begangen, an dem die politische Problemfeldern wie der Haltung zur Wehr- Führung der DDR ihre jeweils aktuellen macht, mit der sie sich spätestens beim Auf- außenpolitischen Zielsetzungen der Öffent- bau eigener Streitkräfte konfrontiert sah, lichkeit präsentierte. Die Neue Wache Unter Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 43

den Linden diente ab 1969 als zentrales genheit gefunden. Es zeigte sich, dass der „Mahnmal für die Opfer des Faschismus“, 2+4-Vertrag von 1990 doch nicht der end- als Platz, an dem der Antifaschismus der gültige politische Schlussstrich unter den DDR öffentlichkeitswirksam inszeniert wur- Zweiten Weltkrieg war. Die Entschädigung de. Gleichzeitig jedoch verblasste durch die für Zwangsarbeiter vor allem aus den früher geschichtspolitische Konstruktion der offi- kommunistischen Staaten, die die Bundes- ziellen DDR „die konkrete Erinnerung an regierungen jahrzehntelang mit dem Verweis den Nationalsozialismus und an den von auf das Londoner Schuldenabkommen von den Deutschen verursachten Krieg nahezu 1953 und damit auf eine Regelung auf der völlig. Faschismus und Zweiter Weltkrieg im Potsdamer Abkommen angekündigten wurden zu einem abstrakten historischen Friedenskonferenz abgelehnt hatte, wurde Geschehen ohne Akteure“.31 erst von der rot-grünen Koalition in Angriff genommen und 55 Jahre nach Kriegsende Es gab in der DDR freilich sehr wohl eine geregelt. Auseinandersetzung mit der Zeit des Natio- nalsozialismus, mit deutscher Schuld und Auf der symbolischen Ebene wurde staatli- den Verbrechen in den besetzten Gebieten. cherseits die Aussöhnung zwischen Polen Allerdings fand diese Auseinandersetzung und Deutschland vollendet durch den kurz nicht in der „offiziellen“ DDR statt, sondern nach dem Mauerfall ausgetauschten Frie- eher in gesellschaftlichen „Nischen“, insbe- densgruß zwischen Premierminister Mazo- sondere in kirchlichen Gruppen. Bekanntes- wiecki und Bundeskanzler Kohl sowie durch tes Beispiel ist die „Aktion Sühnezeichen“, die Reden von Bundespräsident Roman die gegen den Willen der SED und behin- Herzog zum 50. Jahrestag des Warschauer dert von den DDR-Behörden Reisen nach Aufstands am 1. August 1994 und die Rede Polen und in andere Länder durchführte, um von Außenminister Władysław Bartoszewski dort an der Erhaltung von Gedenkstätten für vor beiden Kammern des deutschen Par- die Opfer deutscher Besatzungspolitik zu laments zum 50. Jahrestag des Endes des arbeiten.32 Zweiten Weltkriegs.

Erst die am 18. März 1990 frei gewählte In Deutschland selbst wurden die von Hel- Volkskammer verabschiedete auf ihrer ersten mut Kohl in den achtziger Jahren initiierten Sitzung am 12. April 1990 eine Resolution, Bauten des Museums der Geschichte der in der sich alle Fraktionen zu den vom natio- Bundesrepublik Deutschland in Bonn sowie nalsozialistischen Deutschland begangenen des Deutschen Historischen Museums in Verbrechen bekannten und namentlich den Berlin verwirklicht. War zunächst von Kri- Völkermord „an den Juden aus allen euro- tikern in heftigen innenpolitischen Diskus- päischen Ländern, an den Völkern der Sow- sionen unterstellt worden, dass diese Museen jetunion, am polnischen Volk und am Volk 33 ein konservatives Bild der deutschen Ge- der Sinti und Roma“ erwähnten. schichte vermitteln sollten, rief ihre Reali- sierung weit weniger Konflikte hervor, da ein eher konsensuales Konzept umgesetzt 5. Der Umgang des vereinten wurde. Hinzu kam das Zeitgeschichtliche Deutschlands mit seiner jüngsten Forum in Leipzig, das die Geschichte der Vergangenheit DDR dokumentiert.

Das vereinte Deutschland hat auf verschie- Heftige Kontroversen löste über Jahre der denen Ebenen verschiedene Antworten auf Bau des 2005 eingeweihten Denkmals für den Umgang mit seiner jüngsten Vergan- die ermordeten Juden Europas aus, das in 44 Klaus Ziemer

unmittelbarer Nähe des Brandenburger Tores dokumentiert werden sollte. Sie ging zwar als zentrale Gedenkstätte für die Opfer des davon aus, dass auch andere Vertreibungen Holocaust errichtet wurde.34 Ebenfalls im in Europa einbezogen werden sollten und Stadtzentrum von Berlin wurden weitere somit das Schicksal von Millionen Deut- Gedenkstätten errichtet, die an andere Opfer schen am Ende des Zweiten Weltkriegs in des Nationalsozialismus erinnern, wie die einen breiteren Hintergrund eingebettet „Topographie des Terrors“ oder das „Denk- würde. Doch wurde insbesondere aus Polen mal für die im Nationalsozialismus ermor- kritisiert, dass a) die im Konzept des „Zen- deten Sinti und Roma“. Während die Be- trums gegen Vertreibungen“ genannten fürworter eines solchen Vorgehens einen anderen Beispiele für Vertreibungen eine Gewinn an Glaubwürdigkeit des heutigen gewisse Beliebigkeit aufwiesen und dass der Deutschland nach innen wie außen sahen, BdV eine Organisation sei, die über Jahr- sich aber das Zentrum der Hauptstadt nach zehnte die deutschen Verbrechen während Meinung der Kritiker allmählich zu einer des Zweiten Weltkrieges ausgeblendet habe Art Museum der schrecklichsten deutschen und den Krieg erst mit dem Heranrücken Verbrechen verwandelte, setzte ab etwa 2000 der Ostfront 1944/45 habe beginnen lassen. eine gegenläufige Tendenz ein, die darauf abzielte, Deutsche auch als Opfer des Zwei- Die Diskussion über das geplante „Zentrum ten Weltkriegs darzustellen. gegen Vertreibungen“ wurde vor allem in Polen sehr intensiv geführt und trübte zeit- Den für die Öffentlichkeit spektakulärsten weilig die deutsch-polnischen Beziehungen. Durchbruch bildete dabei Günter Grass’ In Polen wurden die Pläne vor dem breite- im Jahre 2001 veröffentlichtes Buch „Im ren Hintergrund des neuen deutschen „Op- Krebsgang“, das mit dem Untergang der fer“-Diskurses gesehen und eine Revision „Gustloff“ das Leid von Millionen Flücht- der deutschen Beurteilung des Zweiten lingen thematisierte.35 Mit dieser Publika- Weltkriegs befürchtet. Verstärkt wurden tion setzte eine ganze Welle von Serien in diese Befürchtungen, als die in Deutschland Zeitschriften, Büchern und im Fernsehen weitgehend unbeachtete „Preußische Treu- ein, die immer neue deutsche Opfergruppen hand“ erklärte, zwar seien die östlich von thematisierten, neben Flüchtlingen und Ver- Oder und Neiße gelegenen früher deutschen triebenen die zivilen Opfer des Bomben- Gebiete an Polen abgetreten worden, da- krieges, die beim Einmarsch der Roten durch hätten sich jedoch die privatrechtli- Armee vergewaltigten Frauen, etc. In kaum chen Besitzverhältnisse nicht geändert, so einer dieser Veröffentlichungen wurden dass der polnische Staat die dort gelegenen dabei freilich die Schuld Deutschlands am Immobilien an ihre früheren Besitzer zu- Zweiten Weltkrieg und die deutschen Ver- rückgeben oder Entschädigungen zahlen brechen während des Krieges als Ursache müsse. Als die „Preußische Treuhand“ im für das Leid, das die deutschen Opfer gegen Dezember 2006 22 Einzelklagen beim Eu- Ende des Krieges erfuhren, in Frage ge- ropäischen Gerichtshof für Menschenrechte stellt. einreichte, löste dies in Polen große Beun- ruhigung aus. Im Oktober 2008 wies der Eine andere Qualität gewannen die Aktivi- Gerichtshof die Klagen zurück. täten der im Jahre 2000 vor allem von Füh- rungsmitgliedern des „Bundes der Vertrie- In Deutschland nahmen die Auseinander- benen“ (BdV) ins Leben gerufenen Stiftung setzungen um das „Zentrum gegen Vertrei- „Zentrum gegen Vertreibungen“, die darauf bungen“ spätestens im Vorfeld der Bundes- abzielten, in Berlin eine Einrichtung gleichen tagswahlen 2005 die Gestalt eines parteipo- Namens zu gründen, in der das Schicksal litischen Konflikts an, da Angela Merkel der deutschen Vertriebenen ab 1944/45 der BdV-Vorsitzenden und Hauptinitiatorin Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 45

des Projekts, Erika Steinbach, versprach, bei Eine weitere Ebene der Auseinandersetzung einem Wahlsieg der Union das „Zentrum“ mit der jüngsten Vergangenheit bilden in zu errichten, während die SPD ankündigte, den letzten Jahren entstandene, teilweise dass es mit ihr nicht errichtet würde. Als eindringliche familiengeschichtliche Dar- das Wahlergebnis nur eine Große Koalition stellungen, in denen in den Jahren unmittel- zuließ, lautete der Formelkompromiss in der bar vor, während oder nach dem Zweiten Koalitionserklärung, dass in Berlin ein „sicht- Weltkrieg geborene Personen in der Regel bares Zeichen“ errichtet werde, das „im der Biografie des eigenen Vaters nachgehen Geiste der Versöhnung … an das Unrecht und anhand privater Dokumente aufzeigen, der Vertreibung“ erinnern solle. Im Ergeb- wie tief er und die Familie in das NS- nis kam Ende 2008 ein Gesetz zustande, Regime verstrickt waren.36 Gegenläufig hier- durch das die Stiftung „Flucht, Vertreibung, zu haben Analysen von Familiengesprächen Versöhnung“ geschaffen wurde, die dem und Familiengedächtnis ergeben, dass zu rechtlich neu gefassten Deutschen Histori- unterscheiden ist zwischen kognitiv (etwa schen Museum in Berlin unterstellt wurde. im Schulunterricht) vermitteltem Wissen Bei den Feierlichkeiten an der Westerplatte und emotionalen Vorstellungen von der zum 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Vergangenheit, die von Zeitgenossen des Weltkriegs bekannte sich Bundeskanzlerin Nationalsozialismus unter den Familienmit- Merkel am 1. September 2009 in einer ein- gliedern tradiert werden, die selbst ganz drücklichen Rede, die nichts an Klarheit überwiegend in der Rolle von Opfern und vermissen ließ, zur deutschen Schuld am Helden auftreten.37 Es kann durchaus vor- und im Zweiten Weltkrieg und entzog da- kommen, dass Wissen über den National- mit Vorwürfen die Grundlage, Deutschland sozialismus vorhanden ist, die Verstrickung wolle die Geschichte des Zweiten Welt- der eigenen Familie hierin jedoch verdrängt kriegs revidieren. Politisch umstritten bleibt wird, weil „die vergangenheitspolitische indes weiter die personelle Zusammenset- Kritikfähigkeit der Nachgeborenen oft da zung des Stiftungsrats der Stiftung „Flucht, endet, wo persönliche Loyalität beginnt“.38 Vertreibung, Versöhnung“, was sich auch in Es ist also zu unterscheiden zwischen „Ge- der Fluktuation von dessen wissenschaftli- schichtswissen“ und „Geschichtsbewusst- chem Beirat widerspiegelt. sein“. 46 Klaus Ziemer

Anmerkungen

* Dieser Beitrag beruht in Teilen auf dem Artikel 10 Vgl. u. a. Müller, Ingo: Furchtbare Juristen. Die „Der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, der deutschen Nachkriegsgesellschaft“, den München 1987; Friedrich, Jörg: Freispruch für ich in der Festschrift für Mieczysław Tomala die Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS-Richter „Polska – Niemcy. Nadzieja i zaufanie. Księga seit 1948. Eine Dokumentation, Reinbek 1983.

Jubileuszowa na 80-lecie Urodzin Profesora 11 Mieczysława Tomali“ (Polen – Deutschland. Birn, Ruth Bettina: Die Strafverfolgung natio- Hoffnung und Zuversicht, Festschrift für Miec- nalsozialistischer Verbrechen, in: Ende des zysława Tomali zum 80. Geburtstag), Warschau Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs, 2002, S. 543-562, veröffentlicht habe. hrsg. von Hans-Erich Volkmann, München / Zürich 1995, S. 397. 1 Vgl. u. a. Assmann, Aleida: Geschichte im Ge- 12 Schwarz, Hans-Peter: Die Ära Adenauer. dächtnis, München 2007; Assmann, Jan: Das Epochenwechsel 1957-1963. Geschichte der kulturelle Gedächtnis, München 2007. Bundesrepublik Deutschland Bd. 3, Stuttgart / 2 Danyel, Jürgen: Die Erinnerung an die Wehr- Wiesbaden 1983, S. 213. macht in beiden deutschen Staaten. Vergangen- 13 heitspolitik und Gedenkrituale, in: Die Wehr- Jacobsen, Hans-Adolf: Wehrmacht und Bun- macht. Mythos und Realität, hrsg. von Rolf- deswehr – Anmerkungen zu einem umstrittenen Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann, Mün- Thema soldatischer Traditionspflege, in: Die chen 1999, S. 1139-1149, hier S. 1140. Wehrmacht. Mythos und Realität, hrsg. von Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann, 3 Ebd, S. 1141. München 1999, S. 1184-1191, Zitate S. 1188. 4 Vgl. hierzu die den Begriff „Vergangenheits- 14 Messerschmidt, Manfred: Die Wehrmacht im politik“ einführende Arbeit von Frei, Norbert: NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundes- 1969. republik und die NS-Vergangenheit, München 2 1996, 1997. 15 Die zweite Version der „Wehrmachtsaus- 5 Vgl. Frei, Norbert: From Policy to Memory. stellung“ ist im Internet einsehbar unter How the Federal Republic of Germany Dealt http://www.verbrechen-der-wehrmacht.de/docs/ with the Nazi Legacy, in: Totalitarian and home.htm, Stand: 13.11.2010. Authoritarian Regimes in Europe. Legacies and 16 Poeppel, Hans / Prinz von Preußen, Wilhelm- Lessons from the Twentieth Century, hrsg. von Karl / von Hase, Karl-Günther (Hrsg.): Die Sol- Jerzy W. Borejsza and Klaus Ziemer, New daten der Wehrmacht. Mit einem Geleitwort York / Oxford 2006, S. 481-489. von Bundesminister a. D. Gerhard Stoltenberg, 6 Sichtbar wird diese Haltung z. B. in der Rede München 1998. des Alterspräsidenten Paul Löbe (SPD) bei der 17 Eröffnung der ersten Sitzung des Deutschen Bun- Vgl. die Einleitung von Rolf-Dieter Müller in: destages am 7.9.1949: „Wir … bestreiten auch Die Wehrmacht. Mythos und Realität, hrsg. von keinen Augenblick das Riesenmaß von Schuld, Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann, das ein verbrecherisches System auf die Schul- München 1999. tern unseres Volkes geladen hat.“ (Verhandlun- 18 Vgl. „Größte Härte ...“: Verbrechen der Wehr- gen des Deutschen Bundestages, Stenographi- macht in Polen, September-Oktober 1939 (Aus- sche Berichte, 1. Sitzung, 7.9.1949, S. 1-3, hier stellungskatalog), hrsg. vom Deutschen Histori- S. 2). Schuld war „das System“, nicht das Volk. schen Institut Warschau. Redaktion: Jochen 7 Vgl. hierzu jetzt Conze, Eckart u. a.: Das Amt Böhler, Osnabrück 2005. Zum Thema selbst und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten siehe die eingehende Studie von Böhler, Jochen: im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehr- München 2010. macht in Polen 1939, Frankfurt am Main 2006. 8 Vgl. Frei: Vergangenheitspolitik. 19 Vgl. u. a. Becker, Manuel / Löttel, Holger / Studt, 9 Vgl. u. a. Jahntz, Bernhard / Kähne, Volker: Christoph (Hrsg.): Der militärische Widerstand Der Volksgerichtshof. Darstellung der Ermitt- gegen Hitler im Lichte neuer Kontroversen, lungen der Staatsanwaltschaft beim Landge- Berlin 2010; Mommsen, Hans: against richtBerlin gegen ehemalige Richter und Staats- Hitler: The Stauffenberg plot and resistance under anwälte beim Volksgerichtshof, Berlin 1986. the Third Reich, London 2009.

Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 47

20 Zum Kult um die Kriegstoten vgl. den bahnbre- 28 Vgl. Danyel, Jürgen / Groehler, Olaf / Kessler, chenden Artikel von Koselleck, Reinhart: Krie- Mario: Antifaschismus und Verdrängung. Zum gerdenkmale als Identitätsstiftungen der Über- Umgang mit der NS-Vergangenheit in der lebenden, in: Identität, hrsg. von Odo Marquard DDR, in: Die DDR als Geschichte. Fragen – und Karlheinz Stierle, München 1979, S. 255- Hypothesen – Perspektiven, hrsg. von Jürgen 276. Dieser Beitrag löste eine ganze Welle von Kocka und Martin Sabrow, Berlin 1994, S. 148- Einzeluntersuchungen zu diesem Thema aus. 152, hier S. 149. 21 Schneider, Gerhard: Kriegstotenkult und Krieger- 29 Ebd., S. 150. denkmäler in der deutschen Kultur, in: erinnern, vergessen, verdrängen. Polnische und deutsche 30 Ebd., S. 151. Erfahrungen, hrsg. von Ewa Kobylińska und Andreas Lawaty, Wiesbaden 1998, S. 331-350, 31 Danyel: Die Erinnerung an die Wehrmacht, hier S. 346. S. 1147. 22 Danyel, Jürgen: Die Erinnerung an die Wehr- 32 macht in beiden deutschen Staaten. Vergangen- Siehe hierzu u. a. Mechtenberg, Theo: Versöh- heitspolitik und Gedenkrituale, in: Die Wehr- nung gegen Widerstände. Kirchliche Poleniniti- macht. Mythos und Realität, hrsg. von Rolf- ativen in der DDR, in: Versöhnung und Politik. Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann, Mün- Polnisch-deutsche Versöhnungsinitiativen der chen 1999, S. 1140. 1960er-Jahre und die Entspannungspolitik, hrsg. von Friedhelm Boll, Wiesław Wysocki und 23 Vgl. hierzu Boll, Friedhelm / Wysocki, Klaus Ziemer, Bonn 2009, S. 296-315, hier Wiesław / Ziemer, Klaus (Hrsg.): Versöhnung S. 298-301. und Politik. Polnisch-deutsche Versöhnungs- initiativen der 1960er-Jahre und die Entspan- 33 Siehe http://webarchiv.bundestag.de/volkskam nungspolitik, Bonn 2009. mer/dokumente/drucksachen/100004.pdf, Stand: 24 Frei, Norbert: NS-Vergangenheit unter Ulbricht 14.11.2010.

und Adenauer. Gesichtspunkte einer „verglei- 34 chenden Bewältigungsforschung“, in: Die Siehe hierzu u. a. Leggewie, Claus / Meyer, geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Natio- Eric: Ein Ort, an den man gerne geht. Das Ho- nalsozialismus und Widerstand in beiden deut- locaust-Mahnmal und die deutsche Geschichts- schen Staaten, hrsg. von Jürgen Danyel, Berlin politik nach 1989, München / Wien 2005. 1995, S. 125-132, hier S. 126, im an 35 die Typologie von Klaus-Dietmar Henke und Grass, Günter: Im Krebsgang. Eine Novelle, Hans Woller in: Politische Säuberung in Euro- Göttingen 2002. pa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kolla- 36 Vgl. u. a. Bruhns, Wibke: Meines Vaters Land, boration nach dem Zweiten Weltkrieg, hrsg. München 2004; Brunner, Claudia / von Selt- von dens., München 1991, S. 10-15. mann, Uwe: Schweigen die Täter, reden die 25 Ebd., S. 128. Enkel, Frankfurt am Main 2004; Timm, Uwe: 26 Vgl. Danyel, Jürgen: Die Opfer- und Verfolg- Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003. tenperspektive als Gründungskonsens? Zum 37 Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuuggnall, Umgang mit der Widerstandstradition und der Karoline: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozia- Schuldfrage in der DDR, in: Die geteilte Vergan- lismus und Holocaust im Familiengedächtnis, genheit, hrsg. von Dems., S. 31-46, hier S. 33 f. Frankfurt am Main 2002. 27 Ein bekanntes Beispiel ist Adenauers Staatssek- retär Globke. Andererseits gibt es, seit die DDR- 38 So Isabel Heinemann in ihrer Rezension des in Archive zugänglich sind, zahlreiche Beispiele Fußnote 38 genannten Titels in H-Soz-u-Kult dafür, dass von DDR-Seiten vorgelegtes belas- vom September 2002, http://www.h-net.org/ tendes Material gegen führende Exponenten der reviews/showrev.php?id=17014, Stand: Bundesrepublik gefälscht war. 27.11.2010.

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Der September 1939 und der Zweite Weltkrieg in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur

Krzysztof Ruchniewicz

Obwohl seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Jahrzehnte vergangen sind, ist der Krieg nach wie vor ein lebendiges Problem. Und dies, obschon unter uns immer weniger Menschen leben, für die diese Jahre eine persönliche Erfahrung waren. Alte und neue Diskussionen haben gezeigt, dass die Unterschiede in der Wahrnehmung des Krieges und seiner Folgen gewichtig ausfallen können. In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts schien die Vergangenheit, vor allem die tragische, angesichts der guten Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen bewältigt zu sein und als eine Mahnung für die Zukunft fungieren zu können.

1. Einführung schen Familien diskutiert.2 Bald darauf er- schienen Quelleneditionen, Monographien, Die Bedingungen für eine gutnachbarschaft- populärwissenschaftliche Bücher und Artikel liche Zusammenarbeit waren sehr günstig, in der Tagespresse. Das Thema der Zwangs- sowohl die inneren als auch die äußeren. migrationen fand darüber hinaus einen Der Zusammenbruch des Kommunismus in wichtigen Platz im Geschichtsunterricht.3 Polen und die Wahl eines ersten nichtkom- Schließlich muss man anmerken, dass die munistischen Ministerpräsidenten, Tadeusz vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Mazowiecki, kündigten ein neues Kapitel in Fragen in den Nord- und Westgebieten der Geschichte Polens an. Der Fall der Ber- Polens von einem wachsenden Interesse an liner Mauer und die Vereinigung Deutsch- der Geschichte dieser ehemals deutschen lands signalisierten eine neue Lage in der Gebiete nach 1945 begleitet wurde.4 ganzen Region. Die Deutschen und ihre Nachbarn, hauptsächlich die Polen, sahen Man konnte den Eindruck gewinnen, dass sich vor neue Aufgaben gestellt – einer posi- man Anfang der 1990er in Polen bewusst tiven Zusammenarbeit in einem sich ver- oder unbewusst darauf verzichtete, Fragen einigenden Europa. Polen und Deutschland der deutschen Aggression und Okkupation unterschrieben Anfang der 1990er-Jahre Ver- zu thematisieren. Dagegen konzentrierte träge, die die Anerkennung der Oder-Neiße- man sich auf die sogenannten „weißen Fle- Grenze endgültig garantierten und den Rah- cken“, also auf die in der öffentlichen men für neue, partnerschaftliche Beziehun- Debatte bisher nicht präsenten Themen. Ein gen in der Zukunft schufen. Die Historiker Novum daran war, dass diese Themen beider Länder begannen die schwierigen Polen nicht nur als Opfer erscheinen ließen; Probleme der Vergangenheit intensiv zu sondern sie warfen Licht auf die ganze Kom- erforschen – vor allem die in der kommu- plexität der Nachkriegszeit.5 nistischen Zeit vernachlässigten Fragen der Vertreibung der Deutschen zum Ende des Das bessere Kennenlernen des Schicksals Krieges und in den ersten Jahren nach 1945.1 der vertriebenen Deutschen weckte sehr oft Letzteres war nicht nur Gegenstand des Mitgefühl, sogar Verständnis für das Un- Interesses der Historiker, es wurde darüber recht, das an einfachen, oft wehrlosen Men- hinaus in den Medien und in vielen polni- schen begangen worden war. Man verglich 50 Krzysztof Ruchniewicz

die Erfahrungen der Polen, die während des vereinigte Deutschland an dieser Debatte. Krieges und kurz danach zunächst von den Hinzu kam eine besondere Hinwendung zu Deutschen, später von den Sowjets ausge- den Schicksalen einzelner, konkreter Perso- siedelt worden waren, mit den Gefühlen der nen, deren Leiden konnte man sich besser Deutschen aus Schlesien oder Pommern. vorstellen.

Die Regierungen Polens und Deutschlands suchten damals in der Geschichte beider In Polen wurde dieses wachsende Interesse Staaten jene Elemente, welche die beiden am Krieg mit Erstaunen, sogar mit Verwun- Nationen zusammenbringen konnten. Für derung aufgenommen. Die Polen akzeptier- viele Polen schien die erneute Erörterung ten eine Stilisierung der Deutschen als der bereits so oft diskutierten Schuld NS- alleinige Opfer in großem Maße nicht. Auch Deutschlands gegenstandslos. Manche denjenigen unter ihnen, die begonnen hat- sahen darin, dass man die Geschichte aus- ten, in den Deutschen Opfer der Ereignisse klammerte und sich auf die Probleme der in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre zu großen politischen Umwälzungen konzen- sehen, gingen die Ansprüche der Deutschen trierte, eine große Chance, das tragische Erbe zu weit. zu überwinden. „Es kam zu einer in den deutsch-polnischen Beziehungen im verge- Hinzu kam das wachsende Interesse der henden Jahrhundert beispiellosen Situation“, deutschen Öffentlichkeit an der „alten“ Ge- schrieb der bekannte Historiker Edmund schichte, das von einigen Vertriebenenorga- Dmitrow in einem Aufsatz über Erinnerung nisationen ausgenutzt wurde. So schlug man und Vergessen in den deutsch-polnischen vor, ein Zentrum gegen Vertreibungen ein- Beziehungen. „Die staatlichen und nationa- zurichten, das – jedenfalls in der ursprüngli- len Interessen drängen beide Seiten dazu, chen Konzeption – hauptsächlich das Leiden aus der historischen Erinnerung das hervor- der vertriebenen Deutschen zeigen sollte.8 zuheben, was der Freundschaft und Zusam- Ähnliche Erfahrungen anderer Nationen, menarbeit dienen kann, anstatt, wie sie das auch infolge der NS-Politik, sollten dagegen bisher getan haben, aus ihr Begründungen nur marginal behandelt werden. Diskussio- für Feindschaft und Kampf zu schöpfen.“6 nen über die Wiedergutmachung für das im Osten hinterlassene deutsche Eigentum leb- Allerdings haben die neuen historischen ten wieder auf. Diese Forderung wurde mit Debatten in Deutschland Ende der 1990er- einer europäischen Rhetorik verbunden – die Jahre gezeigt, dass dieser Eindruck gegen nach dem EU-Beitritt strebenden Staaten Ende des Kapitels „Der Zweite Weltkrieg sollten demnach „europäische Standards“ und seine Folgen“ zu oberflächlich war. In einhalten. Die Tatsache, dass diese Forde- Deutschland rief die Veröffentlichung der rungen anachronistisch waren, entging den Bücher „Der Brand“ von Jörg Friedrich und Initiatoren vollkommen. „Im Krebsgang“ von Günter Grass große Diskussionen hervor.7 Jedes dieser Bücher, die in den deutschen Medien breit kommen- 2. Eine neue Geschichtspolitik tiert wurden, sprach die Frage der Deutschen als Opfer an, auch als Opfer des Zweiten Zur Einforderung von Entschädigungen schuf Weltkrieges. Die Deutschen als Opfer des eine Gruppe Vertriebener eine private Orga- Bombenkrieges oder der Vertreibungen nisation, die „Preußische Treuhand“. Diese waren kein neues Thema; diese Probleme Nachricht elektrisierte viele Polen. Auch waren in der Forschung bzw. in der Öffent- einige polnische Politiker sahen Chancen lichkeit schon früher präsent gewesen. Nun darin, diese Problematik aufzugreifen. Es jedoch beteiligte sich erstmals das gesamte, wurden übertriebene Vorwürfe formuliert, Der September 1939 und der Zweite Weltkrieg in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur 51

wonach die Deutschen – auch finanzielle Siege im Kampf gegen den Kommunismus, Ziele verfolgend – ihre bisherige Einstel- das Erreichen von Zugeständnissen seitens lung zum Zweiten Weltkrieg neu interpre- der Machthaber (sei es im Oktober 1956, sei tieren wollten; aus Tätern wollten sie sich es im Jahre 1989) weniger positiv beurteilt. en bloc in Opfer verwandeln. Die Idee, ein Kompromisse mit den Machthabern sind Zentrum gegen Vertreibungen unter der nicht mehr en vogue – auch dann nicht, Schirmherrschaft des Bundes der Vertrie- wenn sie die gesellschaftliche Autonomie benen zu gründen, wurde eindeutig abge- etwas erweitert haben. Dagegen wurden die lehnt. Als 2005 in Polen eine neue Partei an im Blut ertrunkenen Aufstände der Arbeiter die Macht kam, „Recht und Gerechtigkeit“, in Posen (1956) oder Danzig (1970) stärker die sich u. a. zum Ziel gesetzt hatte, eine exponiert.10 Im Kontext des Zweiten Welt- schärfere Geschichtspolitik (gemeint war krieges war dieser „Kult des Blutes“ anhand die Forcierung des nationalen Geschichts- der Jahrestage des Warschauer Aufstands bildes) zu betreiben, konnte man beobach- 1944 zu beobachten. Die Ruinen und die ten, wie sich die gegenseitigen Beziehungen Asche Warschaus passten eben zum ver- fast täglich verschlechterten.9 breiteten Bild des Polen als eines unschul- digen und edlen Opfers. Das Bild des Polen 2004 fand im polnischen Parlament eine als Verursacher der Aussiedlung oder von stürmische Diskussion über deutsche Kriegs- Pogromen wurde hingegen von vielen Mi- reparationen an Polen statt. Es wurde eine lieus und einem Teil der politischen Eliten Resolution verabschiedet, welche die polni- strikt abgelehnt. sche Regierung dazu verpflichtete, gegen- über den deutschen Partnern aktiv zu wer- den. Auf diese Weise wollte man die Eigen- 3. Hauptelemente der polnischen tumsansprüche eines Teils der Vertriebenen und deutschen Erinnerungskultur um die Preußische Treuhand kontern. Die Übernahme der Macht durch die Brüder Was waren die Hauptelemente der polnischen Kaczyński trug dazu bei, dass sich die und deutschen Erinnerungskultur über den Bedeutung historischer Probleme zwischen Zweiten Weltkrieg? Kann man angesichts Polen und Deutschland vergrößerte. Das der heutigen Kontroversen irgendwelche Ziel war die Wiedergeburt des Patriotismus, gemeinsamen Elemente finden? Resultieren der in den letzten Jahren angeblich aufge- die heutigen Probleme bei der Annäherung geben worden war. Sehr schnell stellte sich der beiden Seiten aus der unterschiedlichen dabei heraus, wie eng die Kaczyński-Partei Sicht auf den Zweiten Weltkrieg in der „Recht und Gerechtigkeit“ und ihre Anhän- Vergangenheit – oder handelt es sich um ger die Vaterlandsliebe definieren. neue Probleme, die eher mit einem Genera- tionswechsel und dem damit einhergehen- Die von dieser politischen Formation for- den Wandel politischer Programme zu tun cierte, sogenannte neue Geschichtspolitik, haben? Gibt es eine Möglichkeit, eine ge- durchkreuzte die Politik des „kritischen Pa- meinsame Perspektive auf die Erinnerung triotismus“. Dieser sollte, vor allem in der an den Zweiten Weltkrieg zu erreichen? Im Schule und in den Medien, durch eine af- folgenden Teil meines Aufsatzes versuche firmative Haltung zur Geschichte von Staat ich, kurz auf die eben gestellten Fragen ein- und Nation abgelöst werden. zugehen.

Es ist zu betonen, dass die neue Geschichts- Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg politik in Bezug auf Fragen der inneren Ge- wurde von unterschiedlichen Faktoren be- schichte Polens große Veränderungen ver- einflusst. Einen wichtigen Platz nahm die ursachte. Generell wurden die friedlichen Geschichtspolitik des Staates ein, der be- 52 Krzysztof Ruchniewicz

stimmte Fakten besonders betonte und an- es gewisse Freiheiten in der gesellschaftli- dere verschwieg. In der kommunistischen chen Diskussion über die Formen der Erin- Zeit bediente man sich dabei in Polen be- nerung an den zurückliegenden Krieg gab. wusster Fälschung und Manipulation. Das Die kommunistische Regierung war darauf wichtigste Element der Erinnerung war und konzentriert, ihre Macht zu festigen und ist nach wie vor die individuelle Erinne- griff noch nicht in den Verlauf dieser Dis- rung. In Polen bestand sie darin, ein Ge- kussionen ein. Aktiv wurden Institutionen, schichtsbild privat von Generation zu Gene- die Beweise für die NS-Verbrechen sam- ration zu überliefern, das man als „echt“, meln sollten. Man vernichtete Denkmäler d. h. nicht von den kommunistischen Macht- der deutschen Besatzung, in den West- und habern erlogen, betrachtete. Diese Art der Nordgebieten tilgte man die Spuren der deut- Überlieferung spielte eine besonders wich- schen Vergangenheit. Zu dieser Zeit erwog tige Rolle für den Fortbestand der Erinne- man, ein Zentrales Museum des Polnischen rung an die aggressive Politik der UdSSR Martyriums in Warschau zu schaffen. gegenüber Polen, da die kommunistischen Machthaber diese völlig aus dem öffentli- Unmittelbar nach dem Krieg begann man chen Diskurs verdrängten. Nicht immer je- sogenannte Denkmäler der Dankbarkeit für doch standen beide Erinnerungsstränge, der die Sowjetische Armee aufzustellen. Dies private und der offizielle, miteinander im war eine Initiative der Machthaber und ein Kampf. Auf einigen Feldern unterstützten Signal für die Art, in welcher das offizielle und ergänzten sich die vom Staat betriebene Bild des Krieges gestaltet werden sollte. Das Erinnerungspolitik und die individuelle Er- erste Denkmal dieser Art wurde in Katto- innerung durchaus. Besonders sichtbar war witz aufgestellt; es wurde im Laufe der Zeit dies im Fall der Wahrnehmung NS-Deutsch- zum Vorbild für andere. Auf dem Sockel lands. Das Bild der deutschen Besatzung standen zwei Gestalten: ein polnischer und und die Rolle der Deutschen deckten sich in ein sowjetischer Soldat. Nach 1989 wurde den Augen eines Durchschnittspolen mit ein Großteil dieser Denkmäler entweder ab- der offiziellen Sichtweise. Die Angst vor gerissen oder an andere, weniger repräsen- den Deutschen war lange Zeit ein Bindemit- tative Stellen versetzt. tel, welches das ungewollte kommunisti- sche Regime mit der ihm unterworfenen Ende der 1940er konnte man eine Verände- Gesellschaft verband. rung in der Einstellung der Machthaber gegenüber der historischen Erinnerung beob- In der polnischen Erinnerung an den Zwei- achten. Sie war mit dem Beginn der Stalini- ten Weltkrieg lassen sich nach dem polni- sierung des Landes zu erklären. Die Macht- schen Historiker und Kulturwissenschaftler haber begannen, ihr Monopol auf unter- Robert Traba drei Perioden unterscheiden:11 schiedliche Sphären des gesellschaftlichen 1. die Periode einer „lebendigen Erinne- Lebens auszudehnen, auf die Formen der rung“ (1944/45-1949), 2. die Periode einer Erinnerung. Immer alltäglicher wurde es, „legalisierten Erinnerung“ (die 1950er- bis die Rolle der UdSSR und der Opfer von- 1970er-Jahre) und Versuche zur „Reanima- seiten der Roten Armee bei der Befreiung tion der Erinnerung“ (Ende der 1970er-Jahre Polens sowie der Einführung des neuen poli- bis 1989) und schließlich 3. die Periode einer tischen Systems zu betonen. Seither hatten „wiedergewonnenen Erinnerung“. Ob diese die Polen offiziell nur noch unter einem Erinnerung tatsächlich „wiedergewonnen“ Besatzer gelitten, unter NS-Deutschland. wurde, ist eine kontroverse Frage. Nur das Martyrium des polnischen Volkes war noch erinnerungswürdig. Die Tragödie Die erste Periode war durch zeitliche Nähe und der Tod anderer Nationen, die ein Teil charakterisiert. Es war auch eine Zeit, in der Vorkriegspolens gewesen waren, vor allem Der September 1939 und der Zweite Weltkrieg in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur 53

der Juden, wurden bewusst umgangen. In Besatzungspolitik dieses Staates, die polni- der Einführung zu dem Reiseführer „Stätten sche Armee im Westen und die legale pol- des Kampfes und des Martyriums in den nische Regierung im Exil wurden aus dem Jahren 1939-1945“, der 1965 u. a. in deut- offiziellen Gedächtnis getilgt. scher Sprache in Warschau publiziert wur- de, war zu lesen: „Polen erlitt unter den am In der Öffentlichkeit herrschte ein selektiver Krieg teilnehmenden Ländern während des Kult um die Opfer des Martyriums. Auf Zweiten Weltkrieges die größten Menschen- diese Weise wurde die Erinnerung an die verluste im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Opfer und die Helden zum größten nationalen Über sechs Millionen Opfer des National- und staatlichen Wert. Die Politik Konrad sozialismus – Männer, Frauen und Kinder , Adenauers und der nachfolgenden Kanzler gefoltert und ermordet, in Gaskammern er- (bis Willy Brandt) war gekennzeichnet stickt und in den Krematorien der Vernich- durch das Fehlen diplomatischer Beziehun- tungslager Auschwitz, Birkenau, Majdanek, gen zu Polen, durch die Nicht-Anerkennung Treblinka, Sobibór, Bełżec, Chełmno (Culm- der deutsch-polnischen Grenze an Oder und hof), im Fort VII in Poznań, Rogoźnica Neiße und – was für unser Thema von Be- (Groß Rosen), Działdowo, Sztutowo (Stutt- deutung ist – durch die Einschränkung der hof) und zahlreichen anderen Vernichtungs- Entnazifizierung. An der Weichsel weckte lagern verbrannt, an Stätten der Massenhin- das eine große Empörung, aber der Erinne- richtungen, auf den Straßen der Städte und rungspolitik der kommunistischen Macht- Städtchen niedergeschossen – das ist der haber kam es durchaus sehr gelegen: Konn- Preis, den das Volk für die Liebe zum te man so doch die Erfahrungen aus der Vaterland und für den Kampf um Freiheit Vergangenheit mit den politischen Proble- bezahlte, das ist das furchtbare Register der men der Gegenwart verbinden. Die UdSSR grausamen Verbrechen.“12 sollte in den Augen der Polen nicht nur als ehemaliger Befreier, sondern auch als aktu- Die zweite Periode der „legalisierten Erin- elle Schutzmacht erscheinen. nerung“ stand unter dem Zeichen der unmittelbaren Einmischung der Machthaber Laut einer Meinungsumfrage aus dem Jahre in die Art und Weise, wie an den Zweiten 1973, die vom Zentrum zur Erforschung der Weltkrieg erinnert wurde. Nach Robert Traba öffentlichen Meinung und Programmstu- wurde der Schwerpunkt dabei auf fünf Leit- dien (Ośrodek Badań Opinii Publicznej i themen gelegt: Studiów Programowych) durchgeführt wur- de, meinten 63 % der Polen, dass man mit die Kämpfe der Polnischen Volksarmee, Jugendlichen über den Kampf der Polen die polnisch-sowjetische Waffenbruder- während des Zweiten Weltkrieges sprechen schaft, müsse. 85 % der Polen gaben an, dass hauptsächlich die UdSSR zum Sieg über die Opfer der sowjetischen Armee, Hitler-Deutschland beigetragen habe (an die Erinnerung an den Verteidigungs- zweiter Stelle wurde Polen mit 38 %, an krieg im Jahre 1939 sowie dritter die USA mit 32 % erwähnt). Der die Erinnerung an den kommunistischen Beitrag Großbritanniens war in den Augen Widerstand (Volksarmee, Volksgarde). der Polen sechs Mal kleiner als der Polens. Die Kämpfe der polnischen Streitkräfte im Dieser Themenkatalog zeugte von einer Westen, die von 1940 an geführt wurden, scharfen Selektion. Die Erinnerung an die erwähnten nur 5 % der Befragten. Unter Heimatarmee, die älteste und größte Unter- den Schlachten des Zweiten Weltkrieges grundorganisation während des Krieges, die wurde an erster Stelle die Verteidigung der Aggression der UdSSR gegen Polen und die Westerplatte 1939 (39 %) erwähnt, weiter- 54 Krzysztof Ruchniewicz

hin die Schlachten um Monte Cassino 1944 städten entfaltete. In den Kleinstädten (33 %) und bei Lenino 1943 (30 %) sowie dominierte dagegen die offizielle Erinne- der Warschauer Aufstand 1944 (25 %). rung, für welche die Machthaber verantwort- Diese Liste spiegelt einen Sieg der inoffi- lich zeichneten. Allerdings gab es darunter ziellen Erinnerung wider, weil hiervon nur nach wie vor eine private und familiäre, Lenino mit der prokommunistischen Armee zu der offiziellen oft konträre Überlieferung. verbunden war. In den 1980er-Jahren begannen die Macht- haber im „Kampf um die Erinnerung“ (Andr- In den Daten dieser Meinungsumfrage ist zej Paczkowski) an Boden zu verlieren. auch eine polonozentrische Dimension des Zweiten Weltkrieges zu erkennen. In der Die Opposition gegen die, mit allen Mitteln Wahrnehmung der Polen standen die Kriegs- forcierte offizielle Erinnerung wäre nicht anstrengungen ihrer Landsleute gleich möglich gewesen, hätten sich nicht trotz hinter jenen der UdSSR und übertrafen an Repressalien und Unterdrückung verschiede- Verdiensten die Weststaaten. ne unabhängige Milieus erhalten. An erster Stelle müssen hier die katholische Kirche Für die weitere Evolution der Erinnerung an und die Laienorganisationen der Katholiken den Zweiten Weltkrieg waren der Beginn genannt werden. Schon im Jahre 1965 der 1980er-Jahre und die Gründung der wandten sich die polnischen Bischöfe mit „Solidarność“ von großer Bedeutung. Wäh- den berühmten Worten „Wir vergeben und rend des „Solidarność-Karnevals“ begann bitten um Vergebung“ an ihre deutschen man das Monopol der Machthaber auf his- Amtsbrüder. Damals lösten diese Worte torische Überlieferung infrage zu stellen. Es große Kritik in der polnischen Gesellschaft wurden zahlreiche Publikationen ohne Ein- aus. Die mutige Botschaft der polnischen griffe der Zensur über die sogenannten Bischöfe wurde erst viele Jahre später ver- Weißen Flecken in der polnischen Ge- innerlicht und verstanden. In den Kirchen schichte gedruckt. Interesse weckte vor fanden sich die Ereignisse und Helden wie- allem die – wie man es nannte – Befreiung der, die von den Kommunisten abgelehnt der Zeitgeschichte von Lügen, u. a. im wurden, ebenso Stätten der Erinnerung an Bezug auf die antikommunistischen Aus- sie (Gedenktafeln, Messen für das Vaterland, schreitungen der Bevölkerung, aber auch historische Vorträge u. ä.). Die politische auf den Zweiten Weltkrieg selbst; bei- Opposition unterschiedlicher Schattierun- spielsweise die Frage nach dem sowjeti- gen, deren Tätigkeit seit den 1970er-Jahren schen Überfall auf das gegen Deutschland immer lebendiger wurde, machte die Ge- kämpfende Polen am 17. Septeber 1939, schichte zu einem Schlüssel für das Ver- oder nach der Ermordung polnischer Ge- ständnis der Gesellschaft. Es wurde an die fangener durch die UdSSR.13 Nach der Ein- Tradition der Aufstände erinnert, vor allem führung des Kriegszustands (13. Dezember an den Warschauer Aufstand 1944. 1981) war die historische Problematik in den illegalen Publikationen konstant prä- Betrachtet man die Akzentsetzung in der sent. Es wurde sogar eine Auswahl von Behandlung der historischen Materie, muss Broschüren über die „wahre Geschichte“ man feststellen, dass die Opposition den für die Schulen vorbereitet. Auch wenn diese Gegenstand des Martyriums der Nation und verbotene Literatur beschlagnahmt wurde, einzelner Personen, der von den kommunis- gelang es den Machthabern nicht mehr, das tischen Machthabern forciert wurde, zusätz- Monopol in dieser Frage zurückzuerobern. lich gestärkt hat. Zu den bereits existieren- An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass den Orten der Erinnerung an die Opfer der der sogenannte „zweite Umlauf“ (Samisdat) NS-Zeit kamen neue hinzu, die den Opfern seine Wirkung hauptsächlich in den Groß- des sowjetischen und polnischen Kommu- Der September 1939 und der Zweite Weltkrieg in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur 55

nismus gewidmet waren. Auf diese Weise mung des Erbes anderer nationaler Kulturen nahm das gängige Bild des Martyriums der als Teil der europäischen Kultur oder die Polen während des Zweiten Weltkrieges eine Form des polnischen Patriotismus. Die aus vollständige Gestalt an. mehreren Phasen bestehende Diskussion über die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkrieges nahm da- 4. Erinnerungsentwicklung bei den meisten Raum ein. In den deutsch- nach 1989 polnischen Beziehungen spielte die Verbrei- tung des Wissens über das Leid der ausge- Nach 1989 wurde die bisherige Art des siedelten Deutschen und in ihrer Folge die Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg einer Anerkennung ihres menschlichen Rechts Revision unterzogen. Aus dem von den auf Sehnsucht nach ihrer Heimat eine große Kommunisten geschaffenen Pantheon wur- Rolle. den die aufgezwungenen Helden entfernt und neue, bisher verleugnete hinzugefügt. Parallel zu diesem kritischen Diskurs über In der Art und Weise der Wahrnehmung die polnische Geschichte, an dem die Me- und der Erinnerung an den Krieg veränderte dien aktiv teilnahmen, konnte man den sich sich aber grundsätzlich nicht viel. Ein inter- verstärkenden nationalkonservativen Dis- essantes Beispiel kann man aus der Schul- kurs beobachten, der sich dagegen wandte. praxis erwähnen. Der Beginn des neuen Es wurden Meinungen laut, dass die Dar- Schuljahres in Polen fällt immer auf den stellung der Polen als Verursacher von Ge- 1. September. In der festlichen Rede des Di- walt und Leid anderer Völker den National- rektors an die Schüler und Eltern wird an stolz zerstöre und den Patriotismus bei den den Kriegsbeginn immer wieder erinnert. Jugendlichen infrage stelle. Diese Stimmen kamen vor allem aus dem nationalkonserva- Zweifelsohne kam nach 1989 ein Zeitab- tiven und dem fundamentalistischen Lager schnitt, in dem die Erinnerung an die Ursa- in der katholischen Kirche. Der Diskurs ist chen des Ausbruchs des Zweiten Weltkrie- vor allem heute sehr sichtbar. Die negativen ges und seine Phasen in unzensierter Form Aspekte in der Haltung der Polen während wiedergewonnen wurden. An Bedeutung im des Zweiten Weltkrieges (die Frage der historischen Diskurs gewann darüber hinaus Kollaboration, der Denunziation, poln. der Topos der Verständigung und Versöh- szmalcownictwo) und in der Reaktion auf nung mit anderen Nationen, allerdings mit den Holocaust sowie die schlechte Behand- unterschiedlicher Intensität und mit unter- lung der Deutschen oder der Ukrainer in der schiedlichen Ergebnissen. Diesen Diskurs Zeit unmittelbar nach 1945 standen nun begleitete die Auseinandersetzung mit der nicht mehr im Zentrum des Interesses. In eigenen Vergangenheit, sowohl mit ihren den letzten Jahren wurde der Schwerpunkt Glanz- als auch den Schattenseiten. Das auf die Helden- und Leidensgeschichte beste Beispiel sind die deutsch-polnischen gelegt. Fast könnte man sagen: „je mehr Beziehungen in den 1990er-Jahren. Die Opfer, desto besser“. Obschon man seit Grundlagen für diese Aktivitäten, die von 15 Jahren weiß, dass in Sibirien 400.000 der katholischen Kirche und ihren Organi- polnische Staatsbürger von den Sowjets sationen eingeleitet worden waren, wurden eingekerkert wurden, sprechen die Medien, in den 1980er-Jahren durch die antikommu- vor allem das staatliche Fernsehen und die nistische Opposition weiterentwickelt. Er- Tagespresse, von 1,5-2 Mio. Personen – wähnenswert sind die Diskussionen über jahrzehntealten Schätzungen exilpolnischer die von Jan Józef Lipski, Jan Błoński und Historiker folgend. Der Kult um die Opfer Jerzy Jedlicki aufgestellten Thesen über die ist auch im bereits erwähnten Jahrestag des Behandlung anderer Völker, die Wahrneh- Warschauer Aufstands zu sehen, der – wie 56 Krzysztof Ruchniewicz

es scheint – zum wichtigsten Element der stand im Schatten anderer Ereignisse, vor Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg stili- allem des Krieges mit der UdSSR, der siert werden soll. Selbstverständlich wird Flucht und Vertreibung der deutschen Bevöl- das historische Ereignis als solches bei die- kerung aus den Ostprovinzen des Reiches. sem Prozess einer Bearbeitung unterzogen, Dieser Zustand dauerte bis zur Vereinigung damit es zum gewünschten Bild des hel- Deutschlands an. denhaften Martyriums passt. Aus diesem Grund wird beim gemeinschaftlichen Er- Im Kontext der Veränderung der Erinne- lebnis des tragischen Jahrestages des Auf- rungskultur sollte auch an die unterschiedli- stands der Warschauer seit einigen Jahren chen Persönlichkeiten des offiziellen Lebens nicht mehr die Frage zugelassen, ob die der Bundesrepublik und der NGOs erinnert damalige Entscheidung zur Ausrufung des werden, die sich die Suche nach einer Ver- Aufstands sinnvoll war, ob er überhaupt söhnung mit Polen zum Ziel gesetzt haben. Chancen auf einen Erfolg hatte; ganz so, als Der erste Bundeskanzler, der das tat, war der wäre Opferbereitschaft ohne jegliche Refle- Sozialdemokrat Willy Brandt. Sein „Knie- xion ein Vorbild für die Haltung eines hun- fall“ vor dem Ghetto-Denkmal in Warschau dertprozentigen Polen in der heutigen Welt. im Dezember 1970 zeigte sehr deutlich die Bereitschaft der demokratischen Bundes- Auch die deutsche Erinnerungskultur an den republik zur Buße, zur Einführung morali- Zweiten Weltkrieg unterlag in den letzten scher Elemente in die Politik. Der Preis für Jahrzehnten bedeutenden Veränderungen. den Ausbruch des Krieges und das Leiden Dies ist nicht nur durch politische Gründe von Millionen polnischer Staatsbürger war bedingt, die mit der Teilung Deutschlands – seiner Meinung nach – der Verlust der nach 1949 in zwei deutsche Staaten und de- deutschen Gebiete jenseits der Oder und ren Eingliederung in gegensätzliche, feind- Neiße. Bei der Annäherung der beiden Ge- liche politische Blöcke zusammenhängen. sellschaften spielten die beiden Kirchen in der Bundesrepublik, die katholische sowie Es scheint, dass an den 1. September in der die protestantische, wie auch unterschiedli- Bundesrepublik weder besonders gedacht che kirchliche Organisationen eine große noch an ihn erinnert wurde. Die „Macht- Rolle (wie z. B. Pax-Christi, Zeichen der übernahme“ der Nationalsozialisten am Hoffnung u. ä.). Eine gewisse Form der 30. Januar 1933 sowie die Niederlage Wiedergutmachung für die Zeit des Krieges, Deutschlands am 8. Mai 1945 waren die ein Zeichen der menschlichen Solidarität, wichtigsten Daten aus ihrer Zeitgeschichte. war die beispiellose „Paketaktion“ Anfang der 1980er-Jahre, als Millionen von Deut- Die Einstellung gegenüber dem Zweiten schen (auch aus der DDR) dem sich in einer Weltkrieg begann sich in der Bundesrepu- großen wirtschaftlichen und politischen blik Ende der Fünfzigerjahre zu verändern. Krise befindenden Polen halfen. Erst die Ereignisse des Jahres 1968 zwan- gen die Gesellschaft zu einer breiteren Dis- kussion. Es fing die eigentliche Periode an, 5. Die Haltung der damaligen DDR in der man sich mit der „braunen“ Vergan- genheit konfrontiert sah. Allerdings waren Der zweite deutsche Staat, die DDR, war diese Diskussionen sehr selektiv geführt von Anfang an nicht an der Auseinander- worden. Es wurden ganze Gruppen von setzung mit dem Problem der „deutschen Opfern bewusst ausgeklammert; die NS-Ver- Schuld“ interessiert. Er wollte als ein antifa- brechen im Osten Europas (mit Ausnahme schistischer Staat gesehen werden, wobei er der Juden) wurden fast verschwiegen. Die damit suggerierte, die Geschichte belaste Okkupation Polens durch das Dritte Reich nur die Bundesrepublik. Auf eine Abrech- Der September 1939 und der Zweite Weltkrieg in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur 57

nung mit der NS-Zeit verzichtend, pflegten mit Recht – die ungeheuren Verluste an die DDR-Machthaber ein tiefes Misstrauen Menschen und Sachwerten, die es infolge gegenüber der eigenen Gesellschaft, die der deutschen und sowjetischen Aggression sich am Bau des NS-Staates beteiligt hatte. 1939-1945 zu verzeichnen hatte. Es muss- „Diese beiden Tatsachen führten zur Her- ten viele Jahre vergehen, bis die Deutschen ausbildung einer spezifischen Einstellung ihre Erinnerung nicht mehr auf ausgewählte zum Nationalsozialismus“, schrieb der deut- Probleme einschränkten, bis sie die Fragen sche Politikwissenschaftler Klaus Ziemer, des Krieges in einem breiteren Kontext se- „die in der Literatur mit dem Begriff der hen konnten. Diese Bereitschaft spielte eine 'Schlussstrichmentalität' beschrieben wurde. große Rolle dabei, die eigene Einstellung Es fand keine breite Diskussion über den gegenüber den sogenannten „Opfern im Nationalsozialismus statt. Zu Tabuthemen Osten“, u. a. den Zwangsarbeitern, zu revi- wurden die Fragen nach der Schuld und dieren. Für diese Revision der Einstellung Verantwortung, Anpassung und Opportu- erwarten die Deutschen jedoch eine gewisse nismus, die die deutsche Bevölkerung betra- Anerkennung – dass man auch ihnen den fen, die vor 1945 im Gebiet der späteren Status von Opfern der Kriegsbarbarei ge- DDR lebten. Das führte einerseits zu den währt. Die Behauptung, dies stelle eine Re- Defiziten in der demokratischen Kultur, an- interpretation des gesamten Zweiten Welt- dererseits zur Infragestellung des von der krieges dar, ist missbräuchlich, weil niemand DDR so laut propagierten Antifaschismus.“14 in Deutschland den verbrecherischen Cha- rakter des Hitler-Regimes anzweifelt. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wurde ritualisiert, die Möglichkeit zu ihrer Gestaltung durch die Gesellschaft verhin- 6. Heutige Betrachtungsweise zum dert. So wurde der 1. September als „Inter- Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nationaler Tag des Kampfes für die Opfer des faschistischen Terrors und Tag des Wie die Frage des Ausbruchs des Zweiten Kampfes mit dem Faschismus und Krieg“ Weltkrieges heute betrachtet wird, lässt sich und „internationaler Friedenstag“ gefeiert. am Beispiel der Feierlichkeiten zum 70. Jah- Der 9. Mai 1945 dagegen wurde zusammen restag des Kriegsausbruchs 2009 verdeutli- mit den sowjetischen Genossen vor dem chen. Großes Interesse galt den offiziellen zentralen sowjetischen Denkmal in Berlin- Feiern auf der Westerplatte und den Reden Treptow und auf den unzähligen sowjeti- der Politiker unserer Nachbarländer. Die schen Friedhöfen begangen. Entscheidung, nach Danzig zu kommen und somit auch offiziell an den Gedenkfeiern Eine gewisse Ausnahme bildeten die Be- teilzunehmen, war ein wichtiges Zeichen, mühungen von Einzelpersonen, vor allem das die deutsche Kanzlerin setzte. Sie zeig- den Christen – Bemühungen, die am Rande te, dass die Deutschen ihre Einstellung zum des offiziellen Lebens in der DDR stattge- Zweiten Weltkrieg nicht geändert haben. funden haben. An erster Stelle sollten hier Vielmehr gedenken sie dieser Tragödie mit die Mitbegründer der Aktion Sühnezeichen, großer Demut und wissen um ihre eigene Lothar Kreyssig und Günter Särchen, er- Verantwortung. Kurz vor dem Auftritt wähnt werden. Putins in Polen zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs gab es in Russland anti- Zweifelsohne war die Erinnerung an den polnische Kampagnen, die die Bedeutung Zweiten Weltkrieg in Polen und Deutsch- und Rolle des Ribbentrop-Molotow-Pakts land unterschiedlich, weil die beiden Natio- reduzieren sollten und Polen gar einer Zu- nen unterschiedliche Standpunkte und Erfah- sammenarbeit mit den Nazis beschuldigten. rungen hatten. Polen unterstrich – und zwar Der Auftritt Putins wurde darum von eini- 58 Krzysztof Ruchniewicz

gen Beobachtern auf der Westerplatte als Region verwies. Außerdem wurde auf die wenig konkret und vage bewertet. Trotzdem Rolle und Bedeutung Polens und anderer ist daran zu erinnern, dass Putin einige sehr Länder Ostmitteleuropas bei der Niederlage wichtige Aussagen getroffen hat, etwa dazu, des Kommunismus auf eine unmissver- einen neuen polnisch-russischen Dialog ständliche Art und Weise hingewiesen. zu starten und ein gemeinsames Haus der „Wir werden nicht vergessen, dass es vor Geschichte zu errichten. Wieder einmal allem Polen waren, die für ihre und unsere zeigten sich die Schwierigkeiten in der pol- Freiheit als erste Breschen in das kommunis- nisch-russischen Verständigung, wie zer- tische Machtsystem geschlagen haben. Wir brechlich dieser Dialog ist und dass er kei- danken zugleich den Anhängern der tsche- nesfalls mit dem deutsch-polnischen Dialog choslowakischen Charta 77, die uns ermu- gleichgesetzt werden kann. Zuletzt hat die tigt haben, in der Wahrheit zu leben. Wir er- russische Seite durchaus guten Willen ge- innern auch all jene, die in Ungarn den Weg zeigt, auch während und nach der Flugzeug- zur Demokratie frei machten und im Som- tragödie von Smolensk im April 2010, bei mer 1989 den Eisernen Vorhang öffneten. der der polnische Präsident Lech Kaczyński Sowjetische Dissidenten haben sich lange und weitere hochrangige polnische Politiker vor Glasnost und Perestroika für die Wah- und Militärs ums Leben kamen. Einige Aus- rung der Menschenrechte eingesetzt.“ Pol- sagen des russischen Präsidenten Medwedjew nische Zeitungen, und zwar unabhängig von weisen auf eine veränderte Wahrnehmung ihrer politischen Ausrichtung, hielten diese der von Stalin begangenen Verbrechen hin. Aussagen der Intellektuellen für wegweisend „Wenn man über Stalin und die Personen, und maßen ihnen eine hohe Bedeutung zu. die unter seiner Führung arbeiteten, redet, dann muss man sagen, dass sie ein Verbre- chen begangen haben. Dies ist für alle selbst- 7. Fazit verständlich“, meinte er im Frühjahr 2010. Es ist schwierig vorauszusagen, ob dieser Eine Verbindung der Jahresdaten 1939 und Trend andauern wird. Aber es sprechen mehr 1989 ist – wie es scheint – ein Zeichen für Argumente dafür als noch im Gedenkjahr die Herausbildung eines neuen Geschichts- 2009. bildes vom 20. Jahrhundert. Das erste Datum war der Beginn einer Tragödie, nicht Obschon das Gedenken an den Kriegsaus- nur einer einzelnen europäischen Nation, bruch mit der Würdigung des 20. Jahres- sondern des ganzen Kontinents, der Welt. tages der friedlichen Revolutionen in Ost- Das zweite Datum bedeutet die endgültige mitteleuropa in gewisser Konkurrenz stand, Überwindung des Konflikts und der Teilung, zog es gebührende Aufmerksamkeit der Öf- die ihren Ursprung im Ausbruch des Zweiten fentlichkeit und ihrer Eliten auf sich. Auf Weltkrieges und seiner politischen Folgen ein großes Echo stieß in Polen eine Erklä- hatte. Es ist auch ein Datum für den Sieg rung von über 140 deutschen Intellektuellen der Demokratie, der Freiheit, der Men- „Das Jahr 1989 feiern, heißt auch, sich an schenrechte. Es scheint, dass die polnische 1939 zu erinnern!“ Es war eine sehr wich- und die deutsche Erinnerungskultur eine gu- tige öffentliche Stimme, die auf die Genese te Chance haben, sich an dieser Stelle zu der Tragödie Polens und anderer Länder der treffen. Der September 1939 und der Zweite Weltkrieg in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur 59

Anmerkungen

1 Vgl. Borodziej, Włodzimierz / Lemberg, Hans 8 Zur Idee des Zentrums gegen Vertreibungen (Hrsg.): Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land vgl. Ther, Phillip: Die Ursachen von Zwangs- geworden … Die Deutschen östlich von Oder migrationen im 20. Jahrhundert und das geplante und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polni- „Zentrum gegen Vertreibungen“, in: Vertreibun- schen Archiven, 4. Bde., Marburg 2000-2004. gen europäisch erinnern? Historische Erfahrun- 2 Bachmann, Klaus / Kranz, Jerzy ( Hrsg.): gen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzep- Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in tionen, hrsg. von Dieter Bingen, Włodzimierz Polen, Bonn 1998. Borodziej und Stefan Troebst, Wiesbaden 2003, S. 215-221; Ther, Philipp: Erinnern oder auf- 3 Vgl. Migdalski, Paweł / Włodarczyk, Edward / klären. Zur Konzeption eines Zentrums gegen Maier, Robert (Hrsg.): Problematyka przymuso- Vertreibungen, in: Zeitschrift für Geschichts- wych przesiedleń i stosunków polsko-niemieckich wissenschaft 1/2003, S. 36-41; Ders.: Ein Zen- po 1945 roku jako przedmiot badań history- trum gegen Vertreibungen. Nationales Gedenken cznych i praktyki szkolnej, Szczecin 2007. oder europäische Erinnerung?, Potsdam 2004; 4 Vgl. Mazur, Zbigniew (Hrsg.): Wspólne Łada, Agnieszka: Debata publiczna na temat dziedzictwo? Ze studiów nad stosunkiem do powstania Centrum przeciw Wypędzeniom w spuścizny kulturowej na Ziemiach Zachodnich i prasie polskiej i niemieckiej, Wrocław 2006; Północnych, Poznań 2000; Mazur, Zbigniew: Kruke, Anja (Hrsg.): Zwangsmigration und Das deutsche Kulturerbe in den polnischen West- Vertreibung – Europa im 20. Jahrhundert, Bonn und Nordgebieten, Wiesbaden 2003; Zybura, 2006; Troebst, Stefan (Hrsg.): Vertreibungsdis- Marek: Der Umgang mit dem deutschen Kul- kurs und europäische Erinnerungskultur. Deutsch- turerbe in Schlesien nach 1945, Görlitz 2005; polnische Initiativen zur Institutionalisierung. Andrzej, Zawada: Niederschlesien. Land der Eine Dokumentation, Osnabrück 2006. Begegnung, Dresden 2005; Nowosielska-Sobel, 9 Joanna / Strauchold, Grrzegorz (Hrsg.): Trudne Traba, Robert: Historia – przestrzeń dialogu, dziedzictwo. Tradycje dawnych i obecnych Warszawa 2006; Wolff-Powęska, Anna: Polskie mieszkańców Dolnego Śląśka, Wrocław 2006; spory o historię i pamięć. Polityka historyczna, Nowosielska-Sobel, Joanna / Strauchold, Grze- in: Przegląd Zachodni 1/2007, S. 3-44 (dort auch gorz (Hrsg.): Dolnoślązacy? Kształtowanie się die neueste weiterführende Literatur). tożsamości mieszkańców Dolnego Śląska po II 10 Siehe Ruchniewicz, Krzysztof: Juni und Oktober wojnie światowej, Wrocław 2007. 1956 im Geschichtsbild der polnischen Gesell- 5 Ruchniewicz, Krzysztof: Der Zickzackkurs der schaft, in: Deutschland Archiv 3/2006, S. 406- polnischen Geschichtspolitik nach 1989, in: 414. Neue Politische Literatur 2/2008, S. 205-223; 11 Ders.: Die polnische Geschichtspolitik nach Vgl. Traba, Robert: Symbole pamięci: II wojna 1989, in: Länderbericht Polen. Geschichte – Po- światowa w świadomości zbiorowej Polaków. litik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, hrsg. Szkic do tematu, in: Przegląd Zachodni 1/2000, von Dieter Bingen und Krzysztof Ruchniewicz, S. 52-67. Bonn 2009, S. 219-233. 12 Wieczorek, Janusz: Vorwort, in: Stätten des 6 Dmitrow, Edmund: Pamięć i zapominanie Kampfes und des Martyriums 1933-1945. Jahre w stosunkach polsko-niemieckich, in: Przegląd des Krieges in Polen. Guide, Warschau 1965, Zachodni 1/2000, S. 18. S. 7. 7 Kettenacker, Lothar (Hrsg.): Ein Volk von Op- 13 Vgl. Karta, Osrodek (Hrsg.): Katalog zbiorów fern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg Archiwum Opozycji (do 1990 roku), Warszawa 1940-45, Berlin 2003; Buras, Piotr / Majewski, 2001. Piotr (Hrsg.): Pamięć wypędzonych. Grass, Benes i środkowoeuropejskie rozrachunki. Antologia 14 Ziemer, Klaus: Stosunek powojennego spo- tekstów polskich, niemieckich i czeskich, łeczeństwa niemieckiego do drugiej wojny Warszawa 2003. swiatowej, in: Przegląd Zachodni 1/2000, S. 29.

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Der Bromberger Blutsonntag  oder von der Gegenwärtigkeit der Geschichte

Hans-Erich Volkmann

Der Bromberger Blutsonntag gilt als Synonym für das spannungsreiche Zusammenleben der deutschen Minderheit mit der polnischen Staatsnation zwischen den beiden Weltkriegen. Bis- lang galten die so genannten Volksdeutschen als Auslöser eines polnischen Massakers am 3. September 1939. Zwischenzeitlich werden Zweifel an dieser Version laut. Der nachfolgende Beitrag will Fingerzeige einer möglichen sachlichen Diskussion des kontroversen Themas geben.

1. Einführung schen Minderheit, die er vor allem durch die territoriale Inkorporation deutscher Ost- Im polnischen historischen Gedächtnis sind gebiete – Pommerellen, Posen, Teile Ober- Deutschland und die Deutschen, nicht zu- schlesiens – übernommen hatte. Auf der letzt in Reaktion auf den Nationalsozialis- Pariser Friedenskonferenz war Polen im mus, bisweilen immer noch negativ besetzt, Frühsommer 1919 die völkerrechtliche Ver- und zwar als Axiom politischer Gegenwarts- pflichtung eingegangen, Kulturautonomie, gestaltung. So mahnte der einstige polnische Besitzstand, berufliche Freizügigkeit, aber Regierungschef Kaczynski mehr Einfluss auch politische Selbstvertretung der Min- seines Landes in der EU an: „Hätte Polen derheiten zu respektieren, wobei es sich bei nicht die Jahre 1939 bis 1945 durchgemacht, dieser Verpflichtung um ein konstitutives wäre es heute ein Staat mit einer Bevölke- Element des polnischen Staates handelte. rung von 66 Millionen … . Wir verlangen Die Einhaltung des Minderheitenschutzver- nur das, was uns genommen wurde“.1 trages wurde vom Völkerbund überwacht. Gleichwohl handelt es sich um ein zeitlich Denn in Genf war man sich darüber im Kla- noch weiter zurückliegendes, geschichtliches ren, dass Deutschland ebenso auf Revision Bewusstseinsphänomen, das wir seit Ende des Versailler Vertrages sann, wie Polen den des 19. Jahrhunderts kennen. Bis dahin Minderheitenschutzvertrag nur in der festen unterschieden die Polen zwischen dem preu- Entschlossenheit akzeptiert hatte, ihn obsolet ßischen Staat als Teilungsmacht und den werden zu lassen. Deutschen als Kulturnation, der, gemeinsam mit der polnischen, die Staatsnation versagt Die Polen stellten zwar mit einer Mehrheit geblieben war. Das sollte sich mit Bismarck von rund zwei Dritteln die Staatsnation, ändern. Nun besaßen die Deutschen ein deren Handlungsspielraum allerdings durch Reich, dessen polnische Bewohner sich das Selbstbestimmungsrecht der Minderhei- einem Germanisierungsdruck ausgesetzt ten – hauptsächlich Ukrainer und Weißrus- sahen, der zugleich ihre konfessionelle Iden- sen – seine Begrenzung fand. In ihren deut- tität gefährdete. schen Mitbürgern sahen die Polen, zumin- dest in den Westgebieten, einen völkisch Der von den Siegermächten des Ersten und politisch nicht assimilierungsfähigen Weltkrieges geschaffene neue polnische Fremdkörper und somit das gravierendste Staat war mit einer existenzbedrohenden Hemmnis eines notwendigen innen- und Hypothek belastet, nämlich mit seiner deut- außenpolitischen Konsolidierungsprozesses 62 Hans-Erich Volkmann

des jungen Staates. Um einer Revisionspoli- tärischen Präventivschlages, eine latente tik des Reiches die bevölkerungspolitische Gefahr, die Hitler zu Beginn des Jahres Rechtfertigung zu entziehen, verfolgte War- 1934 durch den Abschluss eines Nichtan- schau eine so genannte Entdeutschungsstra- griffspaktes mit dem potenziellen Aggressor tegie. Als besonders integrationsresistent endgültig bannte. Möglich geworden war galten, nicht unbegründet, die mehr als dieses Arrangement aufgrund des voraus- 150.000 deutschsprachigen Landesangehö- gegangenen Austritts Deutschlands aus dem rigen, die von dem Recht Gebrauch ge- Völkerbund, was auch Polen die Möglich- macht hatten, für die deutsche Staatsange- keit bot, diesem die Zusammenarbeit in Sa- hörigkeit zu optieren. Sie mussten das Land chen Minderheitenschutz aufzukündigen, der verlassen. Ihre landwirtschaftlichen Flächen somit zu einer bilateralen deutsch-polnischen wurden eingezogen, wie die polnische Angelegenheit wurde. Da das NS-Regime Regierung überhaupt die Bodenpolitik als wissen ließ, dass es seine Verantwortung eines der wirkungsvollsten Instrumente zur für die deutsche Minderheit in Polen nicht Schwächung der deutschen Minderheit „zum Hebel für ein Aufrollen der Grenzfra- handhabte. Als Assimilationshindernis be- gen“2 machen werde, schienen von deut- trachteten die polnischen Behörden das von scher Seite die Voraussetzungen für eine ihnen zu tragende deutsche Schulwesen, das Normalisierung der Beziehungen zwischen das Zusammengehörigkeitsgefühl der deut- Berlin und Warschau geschaffen. schen Minderheit mit den Reichsdeutschen bewusst machte. Auf administrativem Wege gelang es, deutschsprachige Kinder pol- 2. Hitlers Bemühungen um Polen nischen Schulen zuzuweisen, das waren 1925/26 über 33 % und 1929/30 bereits Hitler bemühte sich, Polen im Rahmen des über 45 %. Im Zeitraum von 1922 bis 1928 Antikomintern-Paktes (Deutschland, Italien, ging die Zahl deutscher Schulen von 1.100 Japan) auf einen gemeinsamen Kurs gegen auf 300 zurück, allerdings auch als Folge Moskau einzuschwören, und dies unter der Abwanderung ins Reich. Allmählich Hintanstellung prinzipieller Lösungen wie wurden die Deutschen mit Hinweis auf z. B. der Danzig-Frage. Für ihn war eine mangelnde polnische Sprachkenntnisse aus polnische Juniorpartnerschaft im Kampf dem öffentlichen Dienst entfernt, die politi- gegen die Sowjetunion selbst volkstumspo- sche Vertretung der Volksgruppe im Sejm litisch attraktiv. Denkt man an die Umsied- durch Wahlgesetzmanipulation neutralisiert. lung der Südtiroler zu Gunsten der territo- rialen Integrität Italiens, so spricht etliches Solange es Deutschland an politischen und dafür, dass Hitler nach einem erfolgreichen militärischen Mitteln zur Revision der öst- gemeinsamen Vorgehen gegen die Sowjet- lichen Verhältnisse fehlte, bestand die union die deutsche Minderheit in Polen als Weimarer Republik auf Respektierung des prädestinierte Stammbevölkerung eines er- Minderheitenrechts, weil man unter seinem weiterten östlichen Lebensraumes dorthin Schutz die Deutschen polnischer Staatsan- verfrachtet hätte. Vor allem passte Polen in gehörigkeit in den Kulturraum des Reiches die europäischen Neuordnungspläne des integrieren, ihnen vielfache wirtschaftliche „Dritten Reiches“, die eine kontinentale und politische Unterstützung zuteil werden Autarkie auf der Basis einer Arbeitsteilung lassen konnte. Da man polnischerseits von zwischen Agrarüberschuss- bzw. Rohstoff- der nachfolgenden nationalsozialistischen ländern und Industrienationen vorsahen. Regierung einen aggressiven Revisionismus Darüber hinaus ließ sich das mit deutscher und volkstumspolitisch begründeten Expan- technologischer Unterstützung im Entstehen sionismus erwartete, prüfte man in War- befindliche zentralpolnische Industrierevier schau ernsthaft die Möglichkeit eines mili- womöglich an deutschen rüstungs- und Der Bromberger Blutsonntag  oder von der Gegenwärtigkeit der Geschichte 63

kriegsökonomischen Bedürfnissen ausrich- Bromberg. Nachdem eine deutsche Gruppe ten. Noch im Sommer 1938 besaßen für das aus dem Hinterhalt polnische Truppen Auswärtige Amt Rüstungsaspekte Vorrang beschossen hatte, wurden zahlreiche Volks- vor Volkstumsfragen. „Im Interesse der deutsche in einem Ausbruch wilden Hasses Durchführung des (rüstungsorientierten) Vier- misshandelt und mindestens 100 ermor- jahresplans“ war man bereit, eine in man- det“.4 Von dieser These distanzierte sich in cher Beziehung unerwünschte und auf eine den endneunziger Jahren ein inzwischen in Schwächung der deutschen Volksgruppe Deutschland assimilierter polnischer Kolle- hinauslaufende Durchbrechung der geraden ge, indem er sich außer Stande erklärte, aus- Linie in der Politik des Reichs gegenüber lösendes Moment und Ablauf des Pogroms der deutschen Volksgruppe in Polen“3 in rekonstruieren zu können.5 Inzwischen hält Kauf zu nehmen. Immerhin partizipierte ein renommierter polnischer Historiker in Polen 1938 von der Liquidierung der Tsche- Bromberg die Schlüssigkeit einer bislang choslowakei, indem es sich deren hoch ausschließlichen Indizienbeweisführung industrialisiertes Olsa-Gebiet einverleiben einer volksdeutschen Initialzündung des durfte. polnischen Massakers für nicht hinreichend überzeugend.6 In der Tat fehlt nicht das ein- Doch Polen entzog sich einer deutschen po- leuchtende Motiv, nämlich das litisch-ökonomischen Umarmung. Nach der der Rache an einem sich in Auflösung be- Errichtung des Protektorats Böhmen und findlichen polnischen Truppenteil. Es fehlen Mähren und der Wiedereingliederung des allerdings die Tatwaffen, bildliche Dokumen- Memelgebietes militärisch in die Zange tationen des Tathergangs sowie die nament- genommen und in seiner Existenz bedroht, liche Benennung volksdeutscher Täter und lehnte es Hitlers Forderung nach Einglie- vermuteter Infiltranten aus dem Reich und derung Danzigs ins Reich und des Baues aus Danzig. Ebenso fehlen Belege einer exterritorialer Verkehrswege durch den reichsdeutschen Verantwortlichkeit. Korridor ab, suchte Rückendeckung bei den Westmächten und erreichte am 31. März 1939 eine französisch-britische Garantie- 3.1 Spurensuche erklärung. Im April kündigte Hitler den Nichtangriffspakt, spielte nun die volkstums- Die Spurensuche führt noch einmal bis in politische Karte aus und ließ Kriegsvor- den Beginn der NS-Ära zurück. Zwischen bereitungen treffen. Der Bromberger Blut- den verbalen Zusagen Warschaus ab 1934, sonntag am 3. September 1939 lieferte ihm die Nationalitätenfrage nicht zum Prüfstein dann die nachträgliche propagandistische der deutsch-polnischen Beziehungen wer- Rechtfertigung des Überfalls zwei Tage zu- den zu lassen, und den tatsächlichen Polo- vor. nisierungsbestrebungen klaffte fortan eine immer größere Lücke. Es ist ein Kennzeichen polnischer Zwischenkriegsgeschichte, dass 3. Die Bromberger Ereignisse es nicht gelang, Außen- und Innenpolitik halbwegs aufeinander abzustimmen. Einer Die Bromberger Ereignisse wurden in der allgemeinen minderheitenfeindlichen Stim- polnischen wie in der seriösen deutschen mung Rechnung tragend, fuhr das Innen- Nachkriegshistoriografie zunächst tenden- ministerium einen stringenten Kurs der ziell übereinstimmend so dargestellt, wie es Entdeutschung. Selbst dort, wo das Außen- noch in einem 1992 vom Institut für Zeitge- ministerium gegenüber dem Innenressort schichte herausgegebenen Band steht: „Zu erfolgreiche Überzeugungsarbeit zu leisten den schlimmsten antideutschen Ausschrei- vermochte, zeigte sich dieses nur selten in tungen kam es am 3. September 1939 in der Lage, auf die maßgeblichen regionalen 64 Hans-Erich Volkmann

politischen Kräfte, die Wojewoden, in es für Polen beunruhigend genug, dass all- ihrem Verhalten gegenüber der deutschen mählich Inhalte und Abläufe der Aktivitäten Minderheit mäßigend einzuwirken. Ohne deutscher Autonomieeinrichtungen immer Garantie seines territorialen Besitzstandes mehr von jenseits der Grenze programmiert und seiner nationalstaatlichen Souveränität wurden. Für kritische Beobachter entfrem- seitens des deutschen Nachbarn sahen Poli- dete die bewusstseinsmäßige Einbeziehung tik, Publizistik, Wissenschaft und eine in in die NS-Volksgemeinschaft die deutsche dieser Ansicht nahezu geschlossene polni- Minderheit ihren polnischen Mitbürgern und sche Gesellschaft keinerlei Veranlassung, in dem polnischen Staat. „Hitler sei für die dem Bemühen nachzulassen, erwarteten deutsche Minderheit eben der ‚Führer’, von deutschen Revisionsansprüchen durch Ent- dem man die eigentlichen Ziele und Aufga- deutschung und Polonisierung den Boden ben dieser neuen deutschen Volksgemein- zu entziehen. Es häuften sich antideutsche schaft erwarte“, resümierte ein volksdeut- Demonstrationen, die sich im Sommer 1938 sches Presseorgan.7 zu Ausschreitungen z. B. in Form von Be- schädigungen von Gebäuden in Bromberg Anlässlich der französisch-britischen Garan- und in Thorn (dortiges Konsulat) ausweiteten. tieerklärung brach unter der polnischen Be- völkerung ein Sturm der Begeisterung aus. Die Ursachen dieser sich verschärfenden Weite Kreise der Öffentlichkeit empfanden Konfliktsituation sind einmal in der expan- dies als Erweiterung der polnischen Außen- sionistischen deutschen Volkstumspolitik politik von der Bilateralität mit Deutschland unter dem Motto „Heim ins Reich“ zu se- zur europäischen Dimension. Flankiert von hen – dokumentiert an der Annexion Öster- antideutschen Tiraden der polnischen Presse reichs und des Sudetengebietes. Und zum fanden nun Ausschreitungen der Straße anderen, und damit im Zusammenhang ste- gegenüber Eigentum und Mitgliedern der hend, in den Nazifizierungsanstrengungen volksdeutschen Minderheit mit Schwerpunkt gegenüber der deutschen Minderheit. Tat- in Posen / Pommerellen statt. Polnische Be- sächlich ist die Stimulation des völkischen hörden bemächtigten sich deutscher Lehr- Bewusstseins der deutschen Minderheit anstalten und Begegnungsstätten. Es folgten seitens nachgeordneter Einrichtungen von Entlassungen deutscher Arbeiter und Ange- Reichsministerien und Gliederungen der stellter. Antideutsche Kanzelreden und an- NSDAP als Einstimmung und Vorbereitung dere kirchliche Bekundungen verstärkten auf eine wie auch immer geartete Änderung die Animositäten. Proteste gegenüber den der politischen Verhältnisse in den drei Deutschen als verfasste Minderheit erreich- ehemaligen deutschen Teilgebieten betrie- ten im Laufe des Jahres 1939 die Qualität ben und von dem betroffenen Deutschtum kollektiver Terrormaßnahmen. Auf dem in Polen auch so verstanden worden. Inso- Obersalzberg gab der polnische Außenmi- fern entsprach die deutsche Verselbststän- nister Beck gegenüber Hitler zu verstehen, digung der Volkstumspolitik unterhalb der dass er in Anbetracht der öffentlichen Mei- Ebene von Reichskanzlei und Auswärtigem nung keinen Spielraum mehr besaß für ein Amt der Situation auf polnischer Seite. konstruktives außenpolitisches Zusammen- gehen mit Deutschland. War das Deutschtum in Polen während der Weimarer Republik in erster Linie auf Den Polen steckte noch ein zweiter natio- Wahrung und Durchsetzung seiner Minder- nalsozialistischer Stachel im Fleisch. Wie heitenrechte bedacht, so änderte sich dies anderswo im Ausland, so überspannte auch zum Jahresbeginn 1933. Zwar kam es nicht in Polen ein parteipolitisches Netz der zu einer Gleichschaltung der Minderheiten- NSDAP die zahlreichen dort lebenden organisationen durch das Reich. Doch war Reichsdeutschen. Ein Landesgruppenleiter Der Bromberger Blutsonntag  oder von der Gegenwärtigkeit der Geschichte 65

hielt die Fäden in der Hand, unterstützt von Dem polnischen Spitzelsystem blieb dies Kreis- und Ortsgruppenleitern. Nach strikter nicht verborgen. Am 1. September 1939 fühl- Berliner Weisung war die polnischerseits ten sich die Polen in all ihren antideutschen genehmigte NSDAP-Organisation ausschließ- Ressentiments bestätigt. Sie haben den deut- lich für den parteiorganisatorischen Zusam- schen Überfall in hypertropher militärischer menhalt, die ideologische Ausrichtung und Siegeszuversicht und entschlossen, sich bei politische Schulung von Reichsdeutschen dieser Gelegenheit der deutschen Minder- zuständig und hatte „jede … irgendwie ge- heit als nationalstaatlichem Fremdkörper zu artete Beeinflussung von Volksdeutschen zu entledigen, geradezu herbeigesehnt. Erste unterlassen“.8 Verbindungen zur deutschen Opfer waren volksdeutsche Soldaten in der Minderheit und deren Organisationen erga- polnischen Armee, die man zu Beginn des ben sich aber von selbst, weil z. B. Reichs- Polenfeldzuges des Diversantentums, des deutsche nicht selten in volksdeutschen Un- militärischen Verrats zu Gunsten Deutsch- ternehmen arbeiteten. Wo Reichsdeutsche lands bezichtigte. Eine Reihe der in der pol- kulturelle, schulische und sportliche Min- nischen Armee stehenden Volksdeutschen ist derheiteneinrichtungen nutzten, beziehungs- von polnischen Kameraden ermordet worden. weise Volksdeutsche Veranstaltungen der Hier jagte die polnische Armee zweifelsfrei NSDAP besuchten, schritten die polnischen ein Phantom. Behörden ein und griffen mit abschrecken- den Maßnahmen bis hin zur Ausweisung Eine enthemmte Volkswut, die sich auch durch. Bisweilen hatten die konsularischen anderen Orts im Vorfeld der Wehrmacht Vertretungen ihre liebe Not mit der politi- entlud, kam in Bromberg in besonderem schen Disziplinierung eifernder Amtsträger Maße zum Ausbruch, weil die deutschen der NSDAP. Diese rekrutierten sich nicht Truppen das Territorium einfach umgangen selten aus parteipolitischem Führernach- hatten. In Bromberg wusste man durch Ra- wuchs, zum Teil primitivster Sorte, den der diomeldungen von dem ersten Luftangriff Danziger Forster insgeheim aus- des Zweiten Weltkrieges überhaupt, dem gebildet hatte. Traf er doch längst ohne maß- Terrorangriff auf Wieluń, der die Stadt dem gebliche politische Vorgabe aus Berlin Erdboden gleich machte. Was als Psycho- eigenmächtig personelle Vorkehrungen für schock für die polnische Bevölkerung die Übernahme der Parteiherrschaft im Falle gedacht war, schlug sich in Bromberg als einer ethnisch begründeten Neugestaltung mordlüsterner Hass gegenüber dem dortigen der östlichen Verhältnisse. Deutschtum nieder. Hinzu kam der Anblick sich mehr oder weniger ungeordnet auf dem Tief im politischen und historischen Be- Rückzug befindlicher Einheiten der eigenen wusstsein Polens hat sich die Überzeugung Armee, der die Siegeszuversicht der Brom- von den Reichs- und Volksdeutschen als berger Polen in aggressive Verzweiflung Fünfter Kolonne in Vorbereitung und Durch- gegenüber der deutschen Volksgruppe als führung eines deutschen militärischen Über- vermeintlicher Ursache des Krieges um- falls eingegraben, festzumachen an Brom- schlagen ließ. Zudem bot die militärische berg. Tatsächlich lassen sich Anwerbeaktio- Lage in Bromberg nach Auffassung polni- nen der militärischen Abwehr und des SD für scher Einwohner und bewaffneter Kräfte V-Leute, Spione und Saboteure für Ober- Zeit und Gelegenheit für befürchtete deut- schlesien recht genau, für Westpreußen / sche Diversantenaktivitäten. Pommerellen und Bromberg im Einzelfall ebenso nachweisen wie tatsächlich durchge- Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das führte Anschläge, so die letztlich geschei- Gerücht, das über den Rundfunk gesendete terten gegen den Jablunka-Tunnel und die Deutschlandlied sei das erwartete Signal für Weichselbrücke von Dirschau.9 volksdeutsche Sabotageakte und einen 66 Hans-Erich Volkmann

bewaffneten Aufstand. Ein solches Signal ihrem Hass Ausdruck zu verleihen, zeigte hätte der Instruktion für deutsche Saboteure die Ermordung von Volksdeutschen in den widersprochen, eben um der Geheimhaltung ersten Septembertagen z. B. im Kreis willen, nach eigener Lageeinschätzung und Hohensalza, wo 471 Ermordete, im Kreis erst unmittelbar im Vorfeld der Wehrmacht Stornik, wo 215 Ermordete, und im Kreis tätig zu werden. Sabotage und volksdeutsche Kosten, wo 153 Ermordete registriert wur- Aufstandsbemühungen in Bromberg wurden den. Es schwanken die Angaben zwischen nicht durch das Massaker an den Volks- 3.315 und 12.857 im Zuge des deutschen deutschen verhindert. Vielmehr hatte die Überfalls umgekommener Volksdeutscher, polnische Administration bereits vor dem eingeschlossen Gefallener in den Reihen der deutschen Überfall mögliche Diversanten polnischen Armee. Aus propagandistischen und Rädelsführer verhaftet, Anwesen nach Gründen erhöhte Hitler die Zahl auf 62.000. Waffen untersucht und selbst Jagdgewehre In Bromberg allein starben nach den wohl beschlagnahmt. Unmittelbar nach Kriegs- zuverlässigsten Erhebungen 366, im Land- beginn wurden etwa 10-15.000 Angehörige kreis 457 Volksdeutsche durch polnische der deutschen Minderheit, völlig unzurei- Hand.10 chend ausgerüstet und versorgt, auf Todes- märschen in das Landesinnere getrieben. Am 2. September setzte man auch führende 3.2 Bedeutung Vertreter der Deutschen Brombergs in Marsch, so dass auch personell nahezu alle Das Bromberger Massaker bedeutete für das Voraussetzungen für Sabotageakte fehlten. NS-Regime nicht nur die propagandistische Die für Kampfgruppen tatsächlich erfassten Legitimation des Polenfeldzuges nach außen, Volksdeutschen befanden sich zum Zeit- sondern die Enthemmung der Einsatzgrup- punkt des Überfalls noch weitgehend im pen und eines Großteils der Wehrmachtan- Reich und kamen wie Reichsdeutsche oder gehörigen, deren indoktriniertes Polenbild Danziger Saboteure in Bromberg nicht zum Realitätsbezug erhielt. Jetzt schien sich zu Einsatz. Polnische Darstellungen, die Volks- bestätigen, was im Merkblatt des Ober- deutschen unterstellen, illegal Waffen be- kommandos der Wehrmacht für den Ein- schafft und mit Unterstützung eingeschleus- marsch in Polen stand, dass nämlich der ter deutscher Saboteure die besagten polni- Pole „willkürlich und rücksichtslos gegen schen Truppen beschossen zu haben, sind andere“ vorgeht. „Grausamkeiten, Brutali- also zweifelhaft. tät, Hinterlist und Lügen sind Kampfmittel, die er an Stelle der ruhigen Kraft in der Er-

regung gebraucht.“ Darauf hatte sich nach Es hat in der Tat Bestrebungen in Danzig Auffassung der Wehrmacht der deutsche gegeben, von dort aus einen Minderheiten- Soldat ebenso einzustellen wie auf eine Be- selbstschutz für den Kriegsfall zu bewaff- völkerung, die sich in „ihren Hassgefühlen nen. Nach Kontaktaufnahme des Oberkom- bis zur Sinnlosigkeit und blindem Fanatis- mandos der Wehrmacht mit Staatssekretär mus“ steigern konnte.11 Als am 6. Sep- von Weizsäcker (Auswärtiges Amt) wurde tember 1939 die deutschen Besatzer in von der Waffenausgabe an Volksdeutsche Bromberg einmarschierten, handelten sie ausdrücklich abgeraten. entsprechend. Drei Tage später zog der die vollziehende Gewalt innehabende Wehr- Wahrscheinlicher ist, dass nicht volksdeut- machtgeneral Zwischenbilanz: „… Erschos- sche, sondern polnische Offiziere Schüsse sen 200-300 polnische Zivilisten. Kommis- abgaben, um Ordnung in die sich auflösen- sarischer Oberbürgermeister Kampe schätzt de Truppe zu bringen. Dass die Polen eines die Zahl der Erschossenen auf mindestens besonderen Vorfalles nicht bedurften, um 400. Genaue Zahlen sind nicht zu ermitteln. Der Bromberger Blutsonntag  oder von der Gegenwärtigkeit der Geschichte 67

Durchgeführt von Polizei, SD-Einsatzgruppe tember 1939 die Gründung von zivilen und Truppe, vornehmlich Flieger-Nachrich- Sondergerichten verfügt. In Anbetracht der tenregiment 1“.12 Vorkommnisse in Bromberg nahm eines dieser Gerichte am 6. September dort seine Noch aber eskalierte die Gewalt. Deutsche Tätigkeit auf. Hier galt es, Feinde des deut- Bewohner Brombergs stellten sich den schen Volkes zu bestrafen, die als „Gegner deutschen bewaffneten Kräften zur Selek- der rassischen, volklichen und geistigen tion und Denunzierung von Polen zur Ver- Substanz unseres Volkes“14 eine spezifisch fügung und beglichen oft alte Rechnungen. nationalsozialistische Rechtsgröße darstell- Die deutschen Besatzer feierten eine regel- ten. Der spätere Präsident des Volksgerichts- rechte Willkürorgie, nicht selten angespornt hofes und damalige Staatssekretär im Reichs- und beklatscht von Volksdeutschen, die bei justizministerium, Roland Freisler, war Razzien „schlagt sie tot“ skandierten. eigens nach Bromberg gereist, um Richtern und Staatsanwälten dies zu verdeutlichen. Dies war der rechte Zeitpunkt, einen loka- len Rachefeldzug in einen rassenideologi- Die Tätigkeit des Sondergerichts Bromberg schen Vernichtungskampf umzuetikettieren. bestand 1939 und 1940 überwiegend in der Am 11. September übertrug Hitler die Säu- Verhandlung von so genannten September- berungsaktionen mit dem delikten. Insgesamt fällte es bis 1944 dies- speziellen Auftrag, 500 Geiseln standrecht- bezüglich 225 Todesurteile, insgesamt 338 lich zu erschießen. Die Wehrmacht wurde z. B. wegen Waffenvergehens, zumeist unter angewiesen, die Organe des Reichsführers- Missachtung gültiger Rechtsnormen nach SS nicht zu behindern. Sie fühlte sich sogar dem sog. Polenstrafrecht, dafür aber unter bemüßigt, den Handlanger zu spielen, indem Beachtung höchst persönlicher Eigeninter- sie half, die 500 Exekutionsopfer zusammen- essen. Denn kein Richter besaß die Qualifi- zutreiben, bei denen es sich nun nicht mehr kation zum öffentlichen Justizdienst, konnte um September-Täter, sondern um Mit- sie aber durch Bewährung im Osten auf glieder der polnischen Intelligenz und des Grund politischer Willfährigkeit erlangen. Klerus handelte. In einer richterlichen Ver- Die in der Regel erfolgte Übernahme von nehmung 1967 gab ein Einsatzgruppenführer im „Dritten Reich“ korrumpierten Juristen zu Protokoll: „Schon in Bromberg galt bei nach 1945 in den Bundesdienst garantierte uns die Parole, dass die polnische Intelligenz auch den Bromberger Richtern eine kom- 13 ausgerottet werden sollte“. plikationslose Nachkriegskarriere, nachdem eine erblindete Justitia alle mangels Bewei- sen vom Verdacht nationalsozialistischer 4. Die Folgen Unrechtsfindung freigesprochen hatte.

Mit dem Bromberger Blutsonntag hatte der Überfall auf Polen eine neue inhaltliche Welchen Stellenwert haben nun der Brom- Qualität erreicht, nämlich die des rassischen berger Blutsonntag und seine Folgen im Vernichtungskrieges, gleichsam als Probe- historischen Gedächtnis, zunächst im deut- lauf für den Überfall auf die Sowjetunion. schen? Schon in Polen sollte sich zeigen, dass die Wehrmacht mit zu den Herrschaftsinsignien Bromberg stand seit dem Ende des 1. Welt- des nationalsozialistischen Unrechtsregimes krieges als Synonym für eine polnische West- zählte, was auch für die Justiz gilt. expansion: „… nimmermehr kann Preußen- Deutschland sich mit einem Bromberg, Zur Befriedung des rückwärtigen Heeres- Graudenz, Thorn …, Posen in polnischer gebietes hatte die Wehrmacht am 1. Sep- Hand abfinden“, schrieb 1920 Generaloberst 68 Hans-Erich Volkmann

von Seeckt, um zwei Jahre später deutlicher tischen Entwicklungen, die die nationalen zu werden, er, der sich als Pommer fühlte Errungenschaften in Frage stellen könnten. und dessen Vater Ehrenbürger von Posen Ein Sozialpsychologe schrieb dazu: „Die gewesen war: „Polens Existenz ist unerträg- osteuropäischen Transformationsgesellschaf- lich, unvereinbar mit den Lebensbedingun- ten“, eingeschlossen mithin die polnische gen Deutschlands …, es muss verschwinden Gesellschaft, „haben erhebliche Selbstver- und es wird verschwinden“.15 Der Brom- gewisserungsbedürfnisse und sind auf der berger Blutsonntag stand schließlich im Suche nach einer integrativen Geschichte, deutschen historischen Gedächtnis für das wobei es hauptsächlich Opfernarrative sind, bereits beschriebene negative Polenbild, für die diese Suche anzuleiten scheinen“. Sei- Hass gegenüber allem Deutschen, der durch ner Auffassung zufolge „scheint das erhöhte die Vertreibung der Deutschen aus den Bedürfnis nach Selbstvergewisserung gegen- Gebieten jenseits von Oder und Neiße seine über der Vergangenheit … die Folge einer Dynamisierung fand. So jedenfalls artiku- erheblichen Unsicherheit in Bezug auf die liert es eine neonazistische Publizistik, wie Zukunft zu sein“.16 Dies findet seinen Nie- ein Blick ins Internet zeigt. Die Vertriebenen derschlag in einer höchst emotionalisierten verstehen sich als Opfer polnischer histori- Politik Polens gegenüber der Bundesrepu- scher Entwicklung auf Kosten Deutschlands. blik bei Überschätzung des politischen Ein- flusses der Heimatvertriebenen. Ins historische Gedächtnis und politische Bewusstsein der polnischen Nation haben Das moderne Opferverständnis Polens und sich die vermeintlichen Schüsse der Volks- der deutschen Vertriebenen beruht seit deutschen auf polnische Truppen als Aus- Jahrzehnten auf einer Erinnerungskultur der druck eines auf Kulturdünkel in Verbindung betroffenen Zeitzeugen, wie sie nur unter mit imperialem Machtstreben beruhenden der Voraussetzung des Kalten Krieges ent- Ostexpansionismus tief eingegraben. Die stehen konnte. Wir Historiker müssen dafür Folgen der so genannten Septemberereig- Sorge tragen, dass unter anderen politischen nisse und der deutschen Besatzungspolitik Vorzeichen des europäischen Zusammen- überhaupt bilden aber lediglich ein Element wachsens die Entmythologisierung der Er- im historischen Selbstverständnis der Polen innerungskultur stattfindet. Solange wir im als Opfer, als Opfer vor allem der beiden Diskurs über den Bromberger Blutsonntag großen Nachbarn Russland und Deutsch- von polnischer Seite verzweifelt auf der Su- land. Die Opferrolle ist geprägt, und das gilt che nach volksdeutschen Schützen bleiben auch für die deutschen Vertriebenen, von und uns deutscherseits mit Genugtuung auf dem Anspruch auf Wiedergutmachung erlit- die Schultern klopfen, dass die Bösewichte tenen Unrechts und, wo diese erfolgt ist wie womöglich allein die Polen waren, haften wir in Polen durch die Regelung der Oder- noch einem nationalistischen historischen Neiße-Problematik, von der Furcht vor poli- Bewusstsein an. Der Bromberger Blutsonntag  oder von der Gegenwärtigkeit der Geschichte 69

Anmerkungen

1 Polen rechnet Kriegstote auf, in: Badische Zei- 9 Schindler, Herbert: Mosty und Dirschau 1939, tung, 22.6.2007, S. 1. Freiburg 1972, S. 101-158. 2 Neurath an den deutschen Gesandten in War- 10 Jansen / Weckbecker : Der „Volksdeutsche schau, 14.11.1934, zit. nach Pieper, Helmut: Selbstschutz“; Heike, Otto: Die deutsche Min- Die Minderheitenfrage und das Deutsche Reich derheit in Polen bis 1939, Leverkusen 1985; 1919-1933/34, Hamburg 1974, S. 329. Rasmus, Hugo: Pommerellen, Westpreußen 3 Aufz. des Ausw. Amts, August 1938, in: Akten 1919-1939, München / Berlin 1989. zur deutschen auswärtigen Politik, Serie D, 11 Bd. 5, Göttingen 1953, S. 59-63, hier S. 61. Merkblatt des OKW, undatiert [August] 1939. 4 Jansen, Christian / Weckbecker, Arno: Der Geheim! Polen – Staatsgebiet und Bevölkerung. „Volksdeutsche Selbstschutz“ in Polen 1939/40, Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), RH 26- München1992, S. 27. 17/77. 5 Kotowski, Albert S.: Polens Politik gegenüber 12 KTB Kommandant für das rückwärtige Heeres- seiner deutschen Minderheit 1919-1939, Wies- gebiet 580 (26.8.1939-4.10.1939), BA-MA RH baden 1998. 23/167. 6 Urban, Thomas: Historikerstreit über den 13 Weitbrecht, Dorothee: Der Exekutionsauftrag „Bromberger Blutsonntag“, in: Süddeutsche der in Polen, Filderstadt 2001, Zeitung, 14.9.2006. Gemeint ist Włodzimierz S. 25. Jastrzębski. 14 7 Bericht des deutschen Generalkonsulats Posen, Heydrich, Reinhard: Die Bekämpfung der Staats- 27.9.1937, an das Ausw. Amt über einen Artikel feinde, in: Deutsches Recht 6/1936, S. 121. des „Oredownik“ vom 23.9.1937. Politisches 15 Deutsche und Polen, hrsg. von Andreas Lawaty Archiv des Ausw. Amts (PA), Botschaft War- und Hubert Orłowski, München 2003, S. 63. schau/7. 8 Schreiben des Generalkonsuls von Thorn, 16 Welzer, Harald: Erinnerungskultur und Zu- 12.2.1939, an Botschafter v. Moltke, Warschau. kunftsgedächtnis, in: Aus Politik und Zeitge- PA Botschaft Warschau 64/8. schichte 26-26/2010, S. 6-23, hier S. 17.

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Deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939-1945

Stephan Lehnstaedt

Die fünfeinhalb Jahre deutscher Herrschaft in Polen zwischen September 1939 und Januar 1945 waren von Gewalt und Genozid geprägt. Die nationalsozialistische Polenpolitik1 kennzeichneten vor allem drei Elemente: Wirtschaftliche Ausbeutung, Germanisierung des Landes sowie Mas- senmord und Holocaust. Andere Punkte wie etwa Kultur oder Propaganda2 traten dabei in den Hintergrund. Der vorliegende Überblick konzentriert sich anhand der wichtigsten Forschungs- ergebnisse auf zentrale Ereignisse und Folgen der deutschen Herrschaft, fragt aber auch nach der Motivation der Besatzer, die die Politik ausführten und so zu Tätern wurden.

1. Grundlagen nationalsozialistischer Arbeitskräfte, über die „deutsche Herren- Polenpolitik menschen“ herrschen sollten. Der polnische Staat als eine in deutschen Augen künstli- Die Vorkriegsüberlegungen der national- che Schöpfung des Versailler Vertrags war sozialistischen Führungselite in Bezug auf auszulöschen, seine rassisch minderwertige Polen waren wenig tiefgreifend und zeich- Bevölkerung zurückzudrängen und ihrer Eli- neten sich vorwiegend durch ihre Brutalität ten zu berauben. In weiten Teilen konnten aus. Polen war als einer der Gewinnerstaa- die Nationalsozialisten dabei auf einen Rück- ten des Ersten Weltkriegs bis Anfang 1939 halt in der deutschen Gesellschaft bauen, offiziell ein befreundeter Staat und poten- in der ein Grundkonsens vorherrschte, der zieller Bündnispartner Deutschlands gegen den polnischen Staat ablehnte und zudem die Sowjetunion. Überraschend ist das vor negative Vorurteile über angeblich faule, allem deshalb, weil Polen das Land war, das unterentwickelte Menschen aufwies. In der nach dem Krieg die größten territorialen deutschen Bevölkerung stießen territoriale Gewinne aus der deutschen Niederlage vor- Eroberungen in Polen auf große Zustimmung, zuweisen hatte – neben Westpreußen vor denn sie galten als Rückgewinnung verlo- allem Gebiete um Posen und Kattowitz. renen Bodens, nicht jedoch als rassistische Expansion.4

Die nationalsozialistische Politik zielte daher Der schnelle und deutliche militärische Sieg zuvorderst auf die Rückgewinnung dieser in nur sechs Wochen ermöglichte zuvor- Territorien ab – und die Neugewinnung derst eine Aufteilung des eroberten Landes, weiteren Landes. Hitler selbst charakteri- wobei die Sowjetunion aufgrund der Abma- sierte seine Ziele kurz vor Kriegsbeginn am chungen des Hitler-Stalin-Pakts5 Gebiete in 22. August 1939 vor Vertretern der Wehr- Ostpolen erbeutete. Der an Deutschland macht wie folgt: „Vernichtung Polens im fallende Westen Polens wurde in mehrere Vordergrund. Ziel ist die Beseitigung der Verwaltungseinheiten aufgeteilt: Warthegau, lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer Danzig-Westpreußen, Ostoberschlesien und bestimmten Linie. … Herz verschließen 3 Generalgouvernement. Schnell erwies sich, gegen Mitleid. Brutales Vorgehen.“ dass die Politik für die neu gewonnenen Regionen keinesfalls einheitlich war, ob- Die nationalsozialistische Rassenideologie wohl sich doch gemeinsame miteinander sah Polen nur noch als Reservoir billigster verbundene Aspekte identifizieren lassen. 72 Stephan Lehnstaedt

2. Wirtschaftspolitik den von dort alleine 1,3 Millionen Tonnen Getreide und fast ebenso viele Kartoffeln Die deutsche Wirtschaftspolitik in Polen war nach Deutschland geliefert. Die Folge war nicht auf einen Aufbau oder nur die Erhal- eine gigantische und absichtliche Hungers- tung der Substanz bedacht, sondern zielte not. 1941 erhielten Deutsche offiziell auf eine möglichst schnelle und vollständi- 2.310 Kalorien pro Tag, Polen 654 und ge Ausbeutung des eroberten Landes – und Juden 184.8 Alleine im Warschauer Ghetto wurde damit auf dem Rücken der Einhei- starben fast 80.000 Menschen an den direk- mischen verwirklicht. Gerade wegen ihrer ten und indirekten Folgen dieser Unterer- Rücksichtslosigkeit zeigten sich in der Wirt- nährung.9 Auch die eingegliederten Gebiete schaft aber nie die beabsichtigten Erfolge, waren von dieser Politik betroffen, der die Hitler seinem für das Generalgouver- Warthegau lieferte 1942/43 etwa 13 % des nement zuständigen Vasallen im deutschen Getreide- und 30 % des Zucker- Oktober 1939 wie folgt beschrieben hatte: verbrauchs.10

„Danach kam nur eine Ausnutzung des Lan- Doch als verfügbare Ressourcen betrachte- des durch rücksichtslose Ausschlachtung, ten die Nationalsozialisten auch Menschen; Abtransport aller für die deutsche Kriegs- knapp 2,8 Millionen Polen wurden ins Reich wirtschaft wichtigen Vorräte, Rohstoffe, verschleppt – 15 % der arbeitsfähigen Be- Maschinen, Fabrikationseinrichtungen usw., völkerung. Sie wurden als Zwangsarbeiter Heranziehung der Arbeitskräfte zum Ein- in Fabriken eingesetzt und mussten die Rüs- satz im Reich, Drosselung der gesamten tung am Laufen halten. Wie die aktuelle Wirtschaft Polens auf das für die notdürf- Forschung zeigt, profitierten deutsche Fir- tigste Lebenshaltung der Bevölkerung un- men nicht nur finanziell, sondern auch durch bedingt notwendige Minimum … in Frage. einen Lernprozess, der sie gewissermaßen Polen soll wie eine Kolonie behandelt auf die heutige globalisierte Wirtschaft vor- werden, die Polen werden die Sklaven des bereitete: Sie lernten, mit internationalen Großdeutschen Weltreichs werden.“6 Belegschaften dezentral und unter Einsatz von wenig Maschinen Spitzentechnologie Tatsächlich gingen die Nationalsozialisten zu produzieren.11 sogleich zur Enteignung von polnischem, vor allem aber jüdischem Besitz über. Mit Doch Zwangsarbeit gab es auch vor Ort. Hilfe vor allem der sogenannten Haupttreu- Alleine im Jahr 1944 mussten 250.000 Po- handstelle Ost (HTO), aber auch zahlreicher len Stellungen entlang der Weichsel gegen deutscher Privatbanken, wurden viele Be- die Rote Armee ausheben, vorher arbeiteten schlagnahmungen durchgeführt; bis Ende Hunderttausende etwa im Straßenbau, bei 1941 wurden alleine in den nun zum Reich Flussregulierungen oder Erdarbeiten. Betrof- gehörenden Gebieten über 200.000 Immo- fen von solchen Arbeiten waren auch Juden, bilien und fast 40.000 Industrieobjekte be- von denen bis 1942 rund 60.000 in Lagern schlagnahmt, in der Landwirtschaft 8,1 Mil- arbeiteten und mehrere 100.000 in den Ghet- lionen Hektar enteignet. Nutznießer waren tos schufteten; nach den Mordaktionen im deutsche Unternehmen, aber auch private Rahmen der Aktion Reinhardt 1942 (Tarn- 7 Einzelpersonen. name für die systematische Ermordung aller Juden und Roma des deutsch besetzten Die Landwirtschaft hatte nun für das Reich Polens in der Zeit des Nationalsozialismus) zu produzieren, obwohl das Generalgouver- wurden die Ghettos in Arbeitslager um- nement eigentlich auf Lieferungen von außen gewandelt bzw. die überlebenden Juden in angewiesen war. Während des Krieges wur- solche deportiert. Deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939-1945 73

Die deutsche Zivilverwaltung organisierte kurze Skizzierung deutet das grundsätzliche die Zwangsarbeit sowohl der Juden als auch Problem dabei an: eine Germanisierung der Polen Hand in Hand mit der SS. Wie in Polens war nicht ohne Vertreibungen, Um- den anderen Bereichen der Wirtschaft kam siedlungen und Mord möglich. Planungen es zwar manchmal zu Kompetenzstreitig- dafür lagen zu Beginn des Polenfeldzugs keiten, aber über die Ziele war man sich jedoch noch fast gar nicht vor. Doch bereits weitgehend einig.12 Neueste Untersuchun- am 8. September 1939 wurde die „Einwan- gen zur jüdischen Arbeit zeigen eine Ten- dererzentralstelle“ (EWZ) gegründet, die denz, die so auch in den anderen Wirt- gemeinsam mit dem „Rasse- und Sied- schaftsbereichen erkennbar ist: Die lokalen lungshauptamt der SS“ für die Auswahl und deutschen Führer waren primär an ihrem Verteilung der Siedler zuständig war. Das eigenen Fortkommen interessiert. Solange Gegenstück der Einwandererzentralstelle in der Wirtschaftspolitik keine konkreten war die „Umwandererzentralstelle“ – hinter Vorgaben gemacht wurden, suchten sie diesem Euphemismus verbarg sich diejenige ihren eigenen, teilweise privaten Vorteil. Behörde, die hauptsächlich die Vertreibung Wenn Berlin etwas anderes forderte, stellte der Polen und Juden organisieren sollte. das kein Problem dar. „Dem Führer entge- Die Zivilverwaltung begann gemeinsam genarbeiten“ und die vermeintlichen oder mit SS- und Polizeieinheiten bereits Ende vermuteten Wünsche der Staatsspitze zu September 1939 mit der Aussiedlung uner- erfüllen, bedeutete gerade in Osteuropa, die wünschter Bevölkerungsgruppen aus den eigene Karriere zu fördern. Aus diesem westlichen Gebieten Polens ins General- Grunde war die Wirtschaftspolitik kaum gouvernement. Nur wenig später wurden aus weitsichtig und verfolgte nur kurzfristige dem Baltikum und anderen – vorwiegend Ziele; an einen Aufbau oder nachhaltige sowjetischen – Ländern die ersten Deutsch- Ökonomie dachte niemand. stämmigen geholt und etwa im Warthegau

angesiedelt. Dies geschah im Rahmen eines

Abkommens mit der Sowjetunion, wobei 3. Germanisierungspolitik bemerkt werden muss, dass die deutschen

Umsiedler zwar durch günstige Bedingun- Von einer zielgerichteten Besatzungspolitik gen und großzügige Landzuteilung gelockt kann am ehesten noch auf dem Feld der wurden, aber gleichwohl nicht die Wahl Germanisierung die Rede sein. Hinter diesem hatten, in ihrer östlicheren Heimat zu blei- Begriff verbirgt sich der Versuch, den pol- ben. Die Gesamtzahl lag bei etwa 770.000 nischen Boden mit deutschen oder deutsch- Menschen.13 stämmigen Kolonisten neu zu besiedeln; nicht gemeint ist damit, die Polen gewis- Über die zahlenmäßigen Vertreibungsopfer sermaßen zu Ariern zu machen. Schon diese informiert folgende Tabelle:14

„Wilde“ Aussiedlungen (Danzig-Westpreußen) 35.000 Warthegau 630.000 Schlesien 81.000 Danzig-Westpreußen 124.000 Bezirk Białystok 28.000 Bezirk Zichenau 25.000 Region Zamość 116.000 Truppenübungsplätze im Generalgouvernement 171.000 74 Stephan Lehnstaedt

Insgesamt mussten mehr als 1,2 Millionen 1939, und sie richtete sich gegen alle Teile Polen unter ethnischen Verschiebungen lei- der Gesellschaft. Jochen Böhler hat mit sei- den – wobei die Tabelle nicht die jüdischen nen Untersuchungen zu den ersten Monaten Vertriebenen und Deportierten enthält. Hin- des Krieges zeigen können, dass Gräuel ge- zuweisen ist auch darauf, dass die ursprüng- gen die Zivilbevölkerung bereits während lichen Pläne Hitlers sogar die Umsiedlung des Feldzugs von der Wehrmacht ausgeübt von acht Millionen Menschen ins General- wurden.16 Zu ersten Pogromen kamen neben gouvernement vorsahen, aber letztlich nur Demütigungen und körperlichen Übergrif- der erste der drei sogenannten „Nahpläne“ fen auch Morde; Plünderungen wurden häu- realisiert werden konnte. Dennoch war im fig von Vergewaltigungen begleitet. Die Wartheland während des Krieges rund die Verbrechen im Umfeld der Eroberung des Hälfte der Bevölkerung von Aussiedlungen, Landes erwiesen sich als Auftakt auf dem Lagereinweisungen und Deportationen be- Weg in den Rassen- und Vernichtungskrieg. troffen. In den ersten Wochen des Feldzugs schickte Die Vertreibung lief so ab, dass jeder Pole Berlin auch sogenannte Einsatzgruppen offiziell einen Koffer mit Ausrüstungsge- nach Polen aus, die zusätzlich weit über genständen, seine Bekleidung, eine Decke, 10.000 Menschen massakrierten.17 Polen er- Verpflegung für 14 Tage sowie 20 Złoty – litt im Krieg nach Weißrussland die höchsten etwa 10 Reichsmark – ins Generalgouver- Verluste pro Tausend Bewohner. Von etwa nement mitnehmen durfte. Selbst diese 35 Millionen Menschen in den Landesgren- radikalen Maßnahmen, die eine Beraubung zen von 1938 starben etwa 5,7 Millionen, der Bevölkerung bedeuteten, wurden noch die meisten von ihnen durch die Deutschen durch wilde Austreibungen konterkariert, bei ermordet, ein kleinerer Teil auch von der denen Straßen und ganze Dörfer von Polizei Sowjetunion. Die wenigsten der Opfer star- umstellt und innerhalb nur einer Stunde ben als Kombattanten, sondern als Zivilis- alle Einwohner vertrieben wurden. Massive ten. Über die Hälfte der Opfer waren Juden, Gewaltanwendung gegen langsame oder rund 3 Millionen. Diese Dimensionen unwillige „Umsiedler“ war an der Tages- sprengen jede Vorstellung, sie bedeuten ordnung. einen Verlust von 16-17 % aller Polen – nahezu jeder sechste Einwohner verlor sein Die letzte große Umsiedlung war die Leben.18 Vertreibung und Verschleppung der etwa 500.000 Bewohner Warschaus nach der Bei den deutschen Morden war ein ständiges Niederschlagung des Aufstandes im Okto- Ineinandergreifen von Politik, Wirtschaft ber 1944. Etwa 300.000 von ihnen kamen und schlichtem Terror zu beobachten. Die in andere Orte des Generalgouvernements, ersten Verbrechen während des Feldzugs 90.000 wurden zur Zwangsarbeit ins Reich waren in wenigen Fällen „nur“ Pogrome verschleppt, 60.000 in KZs eingewiesen.15 oder „Vergeltungsmaßnahmen“, vielmehr gingen die Einsatzgruppen gezielt gegen die polnische Führungsschicht vor, unter ande- 4. Gewalt und Genozid rem in der sogenannten „Intelligenzaktion“. Geht man über die reine Zeit der Kriegfüh- Ähnlich wie schon die Wirtschaftspolitik rung hinaus, so waren in den letzten vier war also auch die Germanisierung selbst in Monaten des Jahres 1939 bereits rund Ansätzen nur mit brutalsten Maßnahmen 100.000 polnische Opfer zu beklagen – von gegen die Einheimischen zu verwirklichen. den etwa 83.000 Personen mit akademi- Gewalt war ein konstituierendes Element der scher Ausbildung wurde rund ein Drittel deutschen Herrschaft. Sie begann bereits ermordet.19 Deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939-1945 75

Betrachtet man nun die Zeit bis zum Ein- Ghettos blieben nicht verschont.25 Wen die marsch in die Sowjetunion, so waren eher Nazis nicht in die Vernichtungslager ver- weniger Tötungen zu beobachten als vielmehr schleppten, der musste in den nun als Ar- die gezielte Entrechtung der Menschen. Die beitslager dienenden Ghettos Sklavenarbeit Juden wurden in Ghettos gesperrt – nach leisten.26 Im Frühjahr 1943 wurden auch die Erkenntnissen des US Holocaust Memorial restlichen Juden im Rahmen einer zynisch Museums gab es für das polnische Territo- „Erntefest“ genannten Aktion ermordet. rium von 1938 über 800 davon.20 Die deut- sche Politik setzte zunächst auf deren Aus- Die Vernichtung der Juden hinterließ in der beutung in Form von Arbeit in den Ghettos Wirtschaft der Nationalsozialisten eine gro- selbst, aber auch in zahlreichen Lagern. Die- ße Lücke, weil die fehlenden Arbeitskräfte se Wirtschaftspolitik konnte noch nicht als nicht kompensiert werden konnten. Nach- Vernichtung durch Arbeit bezeichnet wer- dem fast drei Millionen Polen im Reich als den, zunächst waren die Juden noch beliebte Zwangsarbeiter schuften mussten, blieb in Arbeitskräfte.21 Polen kaum jemand, der dort noch für die Rüstung einsetzbar gewesen wäre. Gleich- Doch bereits 1941 zeigte sich, dass dies nicht zeitig erlaubte der Holocaust aber auch eine so bleiben würde. Aus Berlin verdichteten enorme Bereicherung, da den Juden ihre sich die Hinweise, dass der Mord an den Vermögenswerte geraubt werden konnten. Juden erwünscht sei, und die lokalen Macht- Mit deren Verschwinden aus den Städten haber waren nur zu gerne bereit, diesen wurden zudem zahlreiche Wohnungen frei, Wünschen Folge zu leisten.22 Und tatsäch- wovon wiederum die Besatzer profitierten; lich verfolgten die Besatzer zumindest im zwar gab es auch Polen, die aus dem Mord Hinblick auf die Juden überhaupt keine lang- an ihren Mitbürgern während des Krieges fristigen Ziele, sondern bewegten sich von Gewinn zogen, aber im Vergleich mit den einer Übergangslösung zur nächsten: Nach- Deutschen war ihre Zahl verschwindend ge- dem ein Verbleib der Juden in Polen schon ring. 1939 nicht geplant war, hatte auch ihre Arbeit nur der kurzfristigen Bereicherung Für die Nationalsozialisten eröffnete der der Deutschen sowie der unmittelbaren Genozid noch weitere Perspektiven für die Vermeidung von Kosten durch ihre bloße Germanisierung, denn die Juden ließen zahl- Existenz gedient. Der jüdische Arbeitsein- reichen Hausrat zurück, der den deutschen satz brachte den lokalen Machthabern durch- Umsiedlern zur Verfügung gestellt werden aus Vorteile, aber die finanziellen Gewinne konnte. Sie waren es auch, die in den west- waren bei weitem nicht hoch genug, um da- lichen Gebieten Polens oftmals in jüdische für einen Konflikt mit der Berliner Staats- Wohnungen und Häuser einzogen.27 Nicht führung zu riskieren, die seit Herbst 1941 zuletzt bedeutete der Mord an drei Millio- die Vernichtung forcierte.23 nen Juden auch, dass diese Menschen nicht mehr ernährt werden mussten; das war zwar Die Vernichtung der Juden begann zunächst auch vorher nur in sehr geringem Maße ge- 1941 in Westpolen, als die Juden des Warthe- schehen, aber die Nationalsozialisten sahen gaus im Lager Kulmhof ermordet wurden.24 keinen Grund, dass wegen Juden auch nur Ab Mitte 1942 griff der Genozid auch auf ein Deutscher schlechter essen sollte. das Generalgouvernement über. So wurden im Sommer 1942 unter dem Decknamen Die zahllosen Interdependenzen zwischen „Aktion Reinhardt“ in nur sechs Wochen Völkermord, Politik und Wirtschaft zeigen rund 300.000 Juden des Warschauer Ghet- sich auch in der Politik gegen katholische tos nach Treblinka deportiert und dort Polen, die schließlich nicht „nur“ als Zwangs- vergast. Doch auch die anderen, kleineren arbeiter eingesetzt wurden, sondern eben- 76 Stephan Lehnstaedt

falls der Beraubung und Umsiedlung zu- doch einen bewussten eigenen Willen und gunsten der Deutschen ausgesetzt waren. So die Überwindung von ethisch-moralischen ist zum Beispiel für den Warschauer Auf- Normen voraus; die persönliche Verantwor- stand 1944 festzustellen, wie sehr die deut- tung des Einzelnen ist umso mehr zu beto- schen Massenmorde mit den Vorstellungen nen, als kein einziger Fall von Befehlsnot- der deutschen nationalsozialistischen Elite stand überliefert ist: Wer sich weigerte, an für die Zukunft Polens in Verbindung stan- Mordhandlungen teilzunehmen, musste nicht den. Schon vor 1944 hatte es Pläne für die um sein eigenes Leben fürchten, selbst Haft- Umwandlung Warschaus in eine „deutsche“ strafen waren eine Ausnahme. Stadt gegeben,28 aus der rund eine Million Einwohner ausgesiedelt werden sollten. Nun Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich bot sich die Gelegenheit, diese Pläne umzu- seit einigen Jahren mit der bislang unwider- setzen. legten Erkenntnis, dass für „ganz normale Männer“ die Ermordung eines anderen Heinrich Himmler hatte in diesem Sinne den Menschen eine gewissermaßen alltägliche Befehl gegeben, sämtliche nichtdeutschen Handlungsoption darstellte – und sucht nach Einwohner Warschaus ohne Ansehen von Erklärungen dafür.30 Am Beispiel Warschaus Alter, Geschlecht oder Beteiligung am Auf- lässt sich zeigen,31 dass die Besatzer über stand zu töten und die Stadt dem Erdboden den Massenmord an der jüdischen Bevölke- gleichzumachen. Die deutschen Truppen setz- rung bestens informiert waren. Sicherlich war ten diese Vorstellung um. Wie oben schon ihnen die Dimension des Genozids nicht in erwähnt, wurde über eine halbe Million der Gesamtheit ersichtlich, dafür fehlten Warschauer in Lager bzw. nach Deutsch- Informationen aus anderen Teilen Europas. land verschleppt; weitere 200.000 wurden Doch schon die Auslöschung des jüdischen noch in der Stadt selbst getötet, höchstens Teils der Stadt, die die Besatzer beobachten ein Viertel davon Kombattanten. Die Stadt konnten, erlaubte ihnen Rückschlüsse auf selbst zerstörten die Deutschen mit großer die nationalsozialistische Politik und ihre Systematik: Im Januar 1945 lagen rund 85 % Ziele. Die Judenvernichtung war eine öf- der Gebäude in Schutt und Asche, 10 % als fentlich zugängliche Nachricht, die in vielen Folge des Feldzugs von 1939, 15 % als Folge Lokalen als alltägliche Information ohne des Aufstands im Ghetto, 25 % im Zuge des besonderes Aufsehen oder gar moralische Warschauer Aufstands und 35 % infolge Empörung ausgetauscht wurde. Nur wenige systematischer deutscher Zerstörungsaktio- Deutsche in Warschau standen den Verbre- nen nach dem Aufstand. Was heutzutage in chen grundsätzlich ablehnend gegenüber. Warschau sichtbar ist, ist beinahe alles Das Interesse für die reinen Gewalttaten rekonstruiert. war deutlich größer als das Mitleid oder gar die Identifikation mit den Opfern. Der Genozid war nicht grundsätzlich umstritten, 5. Die Täter: sondern höchstens seine Ausführung. „Ganz normale Männer“?29 Wieso aber war die Gewalt ein Alltagsphä- Die deutsche Politik erwies auch im War- nomen, das keiner Rechtfertigung bedurfte? schauer Aufstand 1944 ihre zerstörerische Aus ihrer schieren Quantität, ihrer ständigen Kraft, ohne nennenswerte schöpferische Zie- Wahrnehmbarkeit und ihrer Präsenz in der le zu verfolgen. Gerade angesichts des mil- täglichen Kommunikation folgerten die lionenfachen Mordes stellt sich die Frage, meisten Besatzer, dass die Ermordung der wieso so viele „normale“ Deutsche zu Tätern jüdischen Bevölkerung nicht moralisch ver- wurden – sei es auf Befehl oder auf eigene werflich wäre, sondern ein normales, üb- Initiative, immer setzte eine Tötungshandlung liches oder sogar notwendiges Geschehen Deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939-1945 77

darstellte. Je mehr Zeit sie im Osten ver- ihren Teil zum Massenmord beitrugen, schien brachten, desto selbstverständlicher wurde der Einzelne individuell nicht dafür verant- diese Auffassung. wortlich. Genauso wenig konnte er aber die Morde verhindern, denn er schien auswech- In einem falsch verstandenen Pflicht- und selbar und letztlich nur ein kleines Rädchen Kameradschaftsgefühl hatten die Besatzer innerhalb der Okkupationsherrschaft. keine Bedenken gegen die vorgeblichen „Notwendigkeiten“ des Genozids zu haben, Die meisten Deutschen gewöhnten sich nach und wenn es sie doch gab, hieß dies, in einen kurzer Zeit daran, ständig verschiedenste unausgesprochenen moralischen Konflikt Formen direkter oder struktureller Gewalt mit den Kameraden zu geraten, weil deren in ihrem Alltag wahrzunehmen, etwa Depor- vermutete Interessen in Zweifel gezogen tationen zur Zwangsarbeit, Ghetto, Hunger wurden. Wer sich daher an der Gewalt und Betteleien, aber auch Hinrichtungen beteiligte, wusste sich mit der Masse der oder zumindest deren öffentliche Bekannt- Besatzer einig. Zur Übereinstimmung mit machungen. In einer Art Anpassungsprozess dem staatlichen Handeln kam die Gemein- betrachteten die Deutschen diese ständigen samkeit mit Kollegen und Kameraden, die Angriffe auf das Leben der Besetzten als die gleichen Handlungen begingen, ermög- Normalität. Die kontinuierliche Steigerung lichten oder stillschweigend guthießen. Wer der Gewaltformen bis hin zur Niederschla- mit den Zielen der Mehrheit übereinstimm- gung des Aufstands 1944 sorgte zudem da- te, brauchte sich ob seiner Ansichten nicht für, dass ein gradueller Anpassungsprozess zu rechtfertigen, sondern gehörte zur Ge- stattfinden konnte, der letztlich beinahe jeg- meinschaft. Und gerade weil alle Besatzer liche Exzesstaten akzeptabel erscheinen ließ. 78 Stephan Lehnstaedt

Anmerkungen

1 Vgl. die immer noch grundlegenden Studien bei Ausbeutung der Landwirtschaft im General- Eisenblätter, Gerhard: Grundlinien der Politik des gouvernement], Lublin 1991.

Reiches gegenüber dem Generalgouvernement, 9 1939-1945, Diss. Frankfurt 1969; Broszat, Mar- Vgl. Sakowska, Ruta: Menschen im Ghetto. Die tin: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, jüdische Bevölkerung im besetzten Warschau Frankfurt 1972; Madajczyk, Czesław: Die 1939-1943, Osnabrück 1999, S. 40. Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 10 Vgl. Röhr, Werner: Zur Wirtschaftspolitik der 1939-1945, Berlin (O) 1987 (gekürzte Ausgabe deutschen Okkupanten in Polen 1939-1945, in: eines mehrbändigen polnischen Werks). Krieg und Wirtschaft. Studien zur deutschen Wirt- 2 Vgl. etwa den Klassiker Kleßmann, Christoph: schaftsgeschichte 1939-1945, hrsg. von Dietrich Die Selbstbehauptung einer Nation. NS-Kultur- Eichholtz, Berlin 1999, S. 221-251, hier S. 243. politik und polnische Widerstandsbewegung, 11 Vgl. den Kommentar von Budrass, Lutz in: Düsseldorf 1971, sowie aktuell Jockheck, Lars: Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im Propaganda im Generalgouvernement. Die NS- „Dritten Reich“. Im Auftrag von MTU Aero Besatzungspresse für Deutsche und Polen 1939- Engines und BMW Group, hrsg. von Andreas 1945, Osnabrück 2006. Heusler u. a., München 2010; siehe auch Her- 3 Baumgart, Winfried: Zur Ansprache Hitlers vor bert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis den Führern der Wehrmacht am 22.8.1939, in: des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirt- Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16/1968, schaft des Dritten Reiches, Bonn 1999; Łuczak, S. 120-149. Czesław: Praca przymusowa Polaków w Trze- 4 ciej Rzeszy [Die Zwangsarbeit von Polen im Vgl. Kershaw, Ian: Der Überfall auf Polen und Dritten Reich], Warszawa 1999. die öffentliche Meinung in Deutschland, in: Poli- tischer Wandel, organisierte Gewalt und natio- 12 Vgl. Musial, Bogdan: Deutsche Zivilverwaltung nale Sicherheit. Beiträge zur neueren Geschichte und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Deutschlands und Frankreichs. Festschrift für Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin, Wiesbaden Klaus-Jürgen Müller, hrsg. von Ernst Willi 1999; Pohl, Dieter: Nationalsozialistische Ju- Hansen u. a., München 1995, S. 237-250. denverfolgung in Ostgalizien. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbre- 5 Vgl. Hillgruber, Andreas: Der Hitler-Stalin-Pakt chens, München 1997; Młynarczyk, Jacek: Ju- und die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. denmord in Zentralpolen. Der Distrikt Radom Situationsanalyse und Machtkalkül der beiden im Generalgouvernement 1939-1945, Darm- Pakt-Staaten, in: Historische Zeitschrift 230/ stadt 2007; Seidel, Robert: Deutsche Besatzungs- 1980, S. 338-361. politik in Polen. Der Distrikt Radom 1939- 6 Bömelburg, Hans-Jürgen / Musial, Bogdan: Die 1945, Paderborn 2006. deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939-1945, 13 in: Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1945- Vgl. Wasser, Bruno: Himmlers Raumplanung 1949, hrsg. von Włodzimierz Borodziej und Klaus im Osten. Der in Polen 1940- Ziemer, Warschau 2000, S. 43-111, hier S. 78. 1944, Basel u. a. 1993. 14 7 Vgl. Loose, Ingo: Kredite für NS-Verbrechen. Vgl. Bömelburg / Musial: Besatzungspolitik, Die deutschen Kreditinstitute in Polen und die S. 92 f. Ausraubung der polnischen und jüdischen Be- 15 Vgl. Borodziej, Włodzimierz: Der Warschauer völkerung 1939-1945, München 2007; Rosen- Aufstand 1944, Frankfurt 1944. kötter, Bernhard: Treuhandpolitik. Die „Haupt- treuhandstelle Ost“ und der Raub polnischer 16 Vgl. Böhler, Jochen: Auftakt zum Vernichtungs- Vermögen 1939-1945, Essen 2003. krieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt

8 2006; Ders.: Der Überfall. Deutschlands Krieg Vgl. Łuczak, Czesław: Polityka ludnościowa i gegen Polen, Frankfurt 2009. ekonomiczna hitlerowskich Niemiec w okupo- wanej Polsce [Die Bevölkerungs- und Wirt- 17 Vgl. Krausnick, Helmut / Wilhelm, Hans Hein- schaftspolitik NS-Deutschlands im besetzten rich: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Polen], Poznań 1979, S. 535-556. Siehe auch Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und Rajca, Czesław: Walka o chleb 1939-1944. des SD 1938-1942, Stuttgart 1981; Mallmann, Eksploatacja rolnictwa w Generalnym Guber- Klaus-Michael u. a.: Einsatzgruppen in Polen. natorstwie [Kampf ums Brot 1939-1944. Die Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008.

Deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939-1945 79

18 Vgl. Bömelburg / Musial: Besatzungspolitik, 25 Vgl. „Aktion Reinhardt“. Der Völkermord an S. 102 f. den Juden im Generalgouvernement 1941-1944, 19 Vgl. Wardzyńska, Maria: Był rok 1939. Op- hrsg. von Bogdan Musial, Osnabrück 2004.

eracja niemieckiej policji bezpieczeństwa w 26 Polsce. „Intelligenzaktion“, Warszawa 2009. Vgl. Browning, Christopher: Jewish Workers 20 in Poland. Self-Maintenance, Exploitation, De- Ich danke Martin Dean vom US Holocaust struction, in: Nazi Policy, Jewish Workers, Ger- Memorial Museum für diese Auskunft. man Killers, von Dems., Cambridge 2000, S. 58- 21 Vgl. Gruner, Wolf: Jewish Forced Labor Under 88. the Nazis. Economic Needs and Racial Aims, 1938-1944, New York 2006, S. 230-275. 27 Vgl. exemplarisch Lehnstaedt, Stephan: Volks- 22 Aus der umfassenden Holocaust-Literatur siehe deutsche in Tschenstochau. Nationalsozialisti- Longerich, Peter: Der ungeschriebene Befehl. sche Germanisierungspolitik für Täter, Profiteure Hitler und der Weg zur „Endlösung“, München und Zuschauer des Holocaust, in: Zeitschrift für 2001; Ders.: Politik der Vernichtung. Eine Ostmitteleuropa-Forschung 57/2008, S. 425-452.

Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen 28 Judenverfolgung, München 1998. Vgl. Gutschow, Niels / Klain, Barbara: Ver- nichtung und Utopie. Stadtplanung in Warschau 23 Vgl. Lehnstaedt, Stephan: Jewish Forced La- 1939-1945, Hamburg 1994. bour in the Small Ghettos of Warthe- land, in: Studies (im Erscheinen); 29 Vgl. Browning, Christopher: Ganz normale Män- Klein, Peter: Die „Gettoverwaltung Litzmann- ner? Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die stadt“ 1940 bis 1944. Eine Dienststelle im „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1999. Spannungsfeld von Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik, Hamburg 2009; 30 Vgl. stellvertretend Paul, Gerhard (Hrsg.): Die Browning, Christopher: „Nazi Ghettoization Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten Policy in Poland 1939-1941“, in: Central Euro- oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2002. pean History 19/1986, S. 343-368. 24 Vgl. Alberti, Michael: Die Verfolgung und Ver- 31 Vgl. hierzu und im Folgenden Lehnstaedt, Ste- nichtung der Juden im phan: Okkupation im Osten. Besatzeralltag in 1939-1945, Wiesbaden 2006. Warschau und Minsk 1939-1944, München 2010.

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Hauptmann der Wehrmacht Wilm Hosenfeld Retter von Juden und Polen in Warschau 1939-1945

Wolfram Wette

Bis heute wissen wir nur von wenigen Soldaten und Zivilisten in der deutschen Besatzungsver- waltung in Polen, die sich der Vernichtungspolitik verweigerten und sich unter Inkaufnahme eines hohen persönlichen Risikos dazu entschlossen, entgegen der Befehlslage verfolgten polnischen und jüdischen Menschen zu helfen und sie womöglich vollständig vor dem Zugriff der deut- schen Verfolger zu retten. Einer dieser mutigen „Retter in Uniform“ war Hauptmann der Reserve Wilm Hosenfeld.

Wilm Hosenfeld kam im September 1939 Erhalten gebliebene und vor kurzem veröf- als Feldwebel der deutschen Wehrmacht mit fentlichte Briefe und Tagebuchnotizen Wilm einem Landesschützenbataillon nach Polen. Hosenfelds2 lassen erkennen, in welchem Zunächst wurde er als Kommandant eines Umfang und aus welchen Motiven heraus Kriegsgefangenenlagers in Pabjanice bei dieser Wehrmachtsoffizier in den folgenden Lodz eingesetzt, in dem sich polnische Offi- Kriegsjahren hauptsächlich in der deutsch ziere und Soldaten befanden. Dort wurde er besetzten Hauptstadt Warschau verfolgten sogleich mit der Atmosphäre des Vernich- Juden und Polen geholfen hat. Sein Biograph, tungskrieges konfrontiert. Über seine Er- der Bremer Unternehmer und Autor Dirk lebnisse berichtete er seiner Frau in einem Heinrichs, ein Förderer der Historischen Frie- Brief vom 19. September 1939 im Tone der densforschung, sagt über ihn, er sei nicht im Empörung: eigentlichen Sinne ein Antimilitarist oder Pazifist gewesen, wohl aber – bei aller patrio- „Jeden Tag kommen Tausende an. … Es tischen Gesinnung – ein „Herzenspazifist“,3 lässt sich natürlich gar nicht vermeiden, dass der niemals das Gebot der Achtung des auch Härten entstehen, weil die Massen zu Nächsten aus den Augen verloren habe. Im groß sind. … Die Deutschen werden sofort Folgenden werden einige dieser solidari- ausgeschieden, die Juden und Polen ebenso schen Hilfeleistungen für Verfolgte vorge- für sich gestellt. Die Deutschen entlässt stellt. man sofort in ihre Heimat. Die Juden haben nichts zu lachen. Mich empört die rohe Be- handlung.“1 1. Beispiele für Hosenfelds Damit kündigte sich bereits an, dass Hosen- Hilfeleistungen feld aufgrund seiner humanen Grundhaltung über kurz oder lang in Konflikt mit dem von Eine erste solidarische Aktion unternahm der Wehrmacht vorgegebenen Normensys- Hosenfeld bereits im Herbst 1939 in der Nä- tem geraten musste. Aus seiner Empörung he des Kriegsgefangenenlagers Pabjanice. über die menschenunwürdige Behandlung Der Feldwebel wurde von einer schwange- der Juden und Polen erwuchs bei ihm schon ren Polin angesprochen und um Hilfe gebe- bald die Willensentscheidung, möglichst vie- ten. Sie teilte ihm mit, dass sich ihr ver- len Verfolgten zu helfen, um ihnen wenigs- wundeter Mann im Lager befände, und bat tens ein Weiterleben zu ermöglichen. ihn, diesen doch frei zu lassen. Hosenfeld 82 Wolfram Wette

versprach dies, ermittelte den Mann und ließ ten Viehwaggons, in denen sich halb ver- ihn tatsächlich frei. Auch in einigen anderen hungerte und halb verdurstete Polen befan- Fällen ließ Hosenfeld auf eigene Verant- den, unter ihnen viele Frauen und Kinder, wortung und befehlswidrig kriegsgefangene die man aus dem Warthegau ausgesiedelt Polen zu ihren Familien heimkehren.4 hatte, um ihre Wohnstätten und Höfe für volksdeutsche Ansiedler frei zu machen. Am In Węgrow – einem Ort in der Nähe des ge- nächsten Tage brachte Hosenfeld Brot, Kä- nannten Kriegsgefangenenlagers Pabjanice – se und Wurst mit, verteilte die Lebensmittel sah Hosenfeld, wie ein SS-Mann einen pol- an die Kinder und suchte das Gespräch mit nischen Schuljungen abführte, der aus einer den Verfolgten. Nach Hause schrieb er über Scheune einen Arm voll Heu gestohlen hat- dieses Erlebnis: „Wenn ich an Euch, meine te. Als Strafe und zur Abschreckung wollte lieben Kinder daheim, denke, dann steigt es der SS-Mann das Kind erschießen. Nach mir heiß in der Seele hoch, und ich möchte Hosenfelds eigenem Bericht „stürzte [er, alle diese Unglücklichen trösten und sie um Hosenfeld] sich weinend auf den SS-Mann Verzeihung bitten, dass die Deutschen so und schrie ihn an: ‚Sie können das Kind mit ihnen sind. So ruchlos, unbarmherzig, doch nicht umbringen!’“ Der SS-Mann zog so grausam, so unmenschlich. Eine tiefe daraufhin seine Pistole und bedrohte Hosen- Traurigkeit legt sich in meine Seele … .“7 feld mit den Worten: „Wenn du nicht sofort verschwindest, legen wir dich auch um!“5 Hosenfeld sah mit eigenen Augen, wie die Er konnte den Jungen offenbar nicht retten. deutsche Besatzungsmacht mit kriegsgefan- genen Polen und mit den Juden umging. Er Im November 1939 wurde Hosenfeld Zeu- fühlte mit den Verfolgten, begann damit, ge, wie SS-Männer polnische Intellektuelle die polnische Sprache zu lernen und suchte verhafteten – wohl wissend, was mit ihnen Gelegenheiten, mit polnischen Familien geschehen würde. Er empfand Verzweiflung, Kontakte aufzunehmen, mit ihnen ihre Feste Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts der zu feiern und ihre Gottesdienste zu besu- deutschen Vernichtungspolitik. Am liebsten chen. Im Juli 1942 vertraute er seinem Tage- wollte er seinen Soldatenrock ausziehen und buch an, dass er sich selbst keineswegs von zerreißen.6 Wie sein Tagebuch beweist, war Schuld frei sprach: „Wir sind alle mitschul- Hosenfeld über eine Vielzahl von Verbre- dig. Uns alle, unser ganzes Volk, wird eine chen informiert, weil er Augen und Ohren furchtbare Vergeltung und Rache treffen. … nicht verschloss, sondern alle Eindrücke und Was sind wir Feiglinge, dass wir, die besser Nachrichten speicherte und sie dann abends, sein wollen, das alles geschehen lassen. am Schreibtisch – in langen Briefen an seine Darum werden wir auch mitgestraft werden, Angehörigen und in seinem Tagebuch – zu auch unsere unschuldigen Kinder wird es verarbeiten versuchte. Hosenfelds Aufzeich- treffen, denn wir machen uns mitschuldig, nungen sind ein neuerlicher Beleg dafür, indem wir die Frevel zulassen.“8 dass ein deutscher Soldat im Osten, der wissen wollte, was vor sich ging, über sehr Im Juli 1943, nach der Vernichtung des viele Verbrechen informiert sein konnte. Wie Warschauer Ghettos durch die Deutschen, durch ein Wunder wurden die vielen Feld- vertraute Hosenfeld seinem Tagebuch be- postbriefe dieses Retters übrigens niemals eindruckende Beobachtungen und Einsich- von den militärischen Zensurbehörden ent- ten an. Er schrieb: deckt. „Das ganze Ghetto ist eine Brandruine, so Am 14. Dezember 1939 beobachtete Hosen- wollen wir den Krieg gewinnen, diese Bes- feld auf dem Bahnhof von Sokolow nahe tien. Mit diesem entsetzlichen Judenmas- Węgrow einen Personenzug mit angehäng- senmord haben wir den Krieg verloren, eine Hauptmann der Wehrmacht Wilm Hosenfeld 83

unaustilgbare Schande, … einen unauslösch- kehrt auch ihm einmal behilflich sein. Ho- lichen Fluch haben wir auf uns gebracht. Wir senfeld nannte seinen Namen nicht. So gin- verdienen keine Gnade, wir sind alle mit- gen die beiden Männer auseinander – und schuldig. Ich schäme mich, in die Stadt zu sahen sich niemals wieder. gehen, jeder Pole hat ein Recht, vor unser- einem auszuspucken, täglich werden deut- Später, als die Wehrmacht aus Polen ver- sche Soldaten erschossen. Es wird noch trieben war, erfuhr Szpilman von seinem schlimmer kommen und wir haben kein Freund und Kollegen, dem Geiger Zygmunt Recht, uns darüber zu beschweren, wir ha- Lednicki, dass ein kriegsgefangener deut- ben's nicht anders verdient, jeden Tag wird scher Offizier nach ihm gefragt hatte. Aber es mir unheimlicher zumute.“9 besagtes Lager wurde alsbald verlegt und Szpilmans Versuche, seinen Retter wieder Im Jahre 1944 versorgte Hosenfeld den vom zu finden, hatten keinen Erfolg. Was ihm Sicherheitsdienst der SS gesuchten Priester blieb, war nur der im Manuskript seiner Stanislaw Cieciora mit falschen Papieren „Warschauer Erinnerungen 1939 bis 1945“ und versteckte ihn in seinen Sportstätten. geäußerte Wunsch, dass „jener Deutsche – Auch dessen Schwager Kroschel rettete er der einzige Mensch in deutscher Uniform, vor der Erschießung.10 dem ich begegnet bin – glücklich in seine Heimat zurückgekehrt“ ist.12 Tatsächlich aber starb Wilm Hosenfeld 1952 in russi- 2. Hilfeleistung für den jüdischen scher Kriegsgefangenschaft. Pianisten Wladyslaw Szpilman

Hauptmann Wilm Hosenfeld leistete auch 3. Gefährdung und Risiko einen Beitrag zur Rettung des jüdischen Pi- anisten Wladyslaw Szpilman aus Warschau. Welchen Gefahren setzte sich ein Wehr- Der verfolgte Künstler, der sich seit Jahren machtoffizier aus, der im deutsch besetzten im Untergrund durchgeschlagen hatte und Polen jüdischen und polnischen Menschen dem in dieser Zeit viele anständige Polen half und sie vor der Vernichtung zu retten mit Verstecken und Lebensmitteln geholfen versuchte? hatten, suchte im November 1944 in einer Ruine fieberhaft nach etwas Essbarem. Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu- Plötzlich rief ihn ein deutscher Offizier an, nächst auf die Befehlslage zu verweisen. und er hielt sein Ende für gekommen. Als Als die Wehrmachtführung erkannte, dass Szpilman dann erkannte, dass der deutsche der „von oben“ vorgegebene ideologische Offizier ihn nicht erschießen wollte, son- Antisemitismus nicht überall geteilt wurde, dern beabsichtigte, ihm zu helfen, indem er gab der Chef des Heerespersonalamtes, Ge- ihm versprach, ihm Lebensmittel zu be- neral der Infanterie Rudolf Schmundt, im schaffen, wagte er es, die ungläubige Frage Oktober 1942 eine geheime Verfügung her- an ihn zu richten: „Sind Sie Deutscher?“ Der aus, in welcher er den Offizieren eine ein- Offizier errötete, wie Szpilman in seinen deutige antisemitische Einstellung abver- Lebenserinnerungen berichtet, und schrie fast langte: „Jeder Offizier“, hieß es dort, „muss heraus: „Ja! Ich bin Deutscher! Und nach all von der Erkenntnis durchdrungen sein, dass dem, was geschehen ist, schäme ich mich in erster Linie der Einfluss des Judentums dafür … .“ Dann drückte er dem Mann die dem deutschen Volk den Anspruch auf Le- Hand und verschwand. Der jüdische Pianist bensraum und Geltung in der Welt streitig nannte dem Offizier noch seinen Namen: macht. … Der Offizier muss deshalb aus „Szpilman. Polnischer Rundfunk.“11 Er füg- innerer Überzeugung heraus das Judentum te noch hinzu, vielleicht könne er umge- und damit jede Verbindung zu ihm ableh- 84 Wolfram Wette

nen. Wer gegen diese kompromisslose Hal- 4. Eine Skizze der Sozialisation tung verstößt, ist als Offizier untragbar. Die von Wilm Hosenfeld unterstellten Offiziere sind in geeigneter Weise zu belehren.“13 Der Heerespersonal- Wilm Hosenfeld wurde im Jahre 1895 in chef orientierte das Offizierkorps also am dem hessischen Dorf Mackenzell als siebtes Leitbild eines vom Rassismus überzeugten von neun Kindern geboren. Er stammte aus Weltanschauungskämpfers. Der Begriff „un- einem katholischen Elternhaus und war ein tragbar“ signalisierte unmissverständlich, tief religiöser Mensch. Sein Vater war Leh- dass ein Offizier, der sich judenfreundlicher rer. Neben den Eltern und der katholischen Verhaltensweisen schuldig machte, seiner Kirche prägte ihn auch die Wandervogel- Position enthoben und aus dem Heeres- bewegung. Im Ersten Weltkrieg meldete dienst entlassen werden konnte. Tatsächlich sich Wilm Hosenfeld als Kriegsfreiwilliger, hat es solche Fälle gegeben.14 wurde Vizefeldwebel und Offiziersanwär-

Neben dieser allgemein gehaltenen Ver- ter. Nach dem Kriege ging er, den Spuren fügung gab es im deutsch besetzten Polen des Vaters folgend, in den Schuldienst und eine – durch Plakate in polnischer und in engagierte sich in der Reformpädagogik. Im deutscher Sprache landesweit bekannt ge- Jahre 1933 trat er der NSDAP und der SA machte – Androhung von Todesstrafe für bei und warb in seinem Einflussbereich als jegliche Art von Judenhilfe.15 Dort war zu Dorflehrer für Hitler und das nationalsozia- lesen: Personen, die geflüchteten Juden listische Gedankengut.

„wissentlich Unterschlupf gewähren, Be- Seit Ende der dreißiger Jahre geriet der Leh- köstigung verabfolgen oder Nahrungsmittel rer Hosenfeld in ambivalente Situationen, verkaufen“, unterliegen der Todesstrafe.16 die schließlich zu einer Abwendung vom Dieser Befehl war in erster Linie an die Ad- Hitler-Staat und zu selbst verantwortetem resse der polnischen Bevölkerung gerichtet. Handeln führten. Dieser allmähliche innere Tatsächlich haben deutsche Sondergerichte Wandel begann mit seiner Kritik an den 795 polnische Judenretter zum Tode verur- Methoden der Jugendführung in der Hitler- teilt und hingerichtet. Weitere 200 Juden- Jugend, setzte sich fort mit seiner Distanzie- retter wurden willkürlich, ohne Gerichts- rung vom staatlich verordneten Antisemi- verfahren, ermordet. Zu diesen Opfern ge- tismus, der nach seiner Überzeugung gegen hörten der polnische Landwirt Wladyslaw die Menschenwürde verstieß, und wurde Rutkowski und seine Ehefrau Genowefa schließlich irreversibel durch die schockar- Rutkowska, die wegen „Beherbergung und tigen Erlebnisse, welche die Mordtaten von Verköstigung“ von Juden auf ihrem Hof SS und Wehrmacht in Polen 1939/40 und von einem deutschen Sondergericht in Petri- dann in der Sowjetunion bei ihm auslösten. kau am 23. Juni 1943 zum Tode verurteilt Diese Entwicklung unterschied ihn gründ- wurden.17 lich von der großen Mehrheit der Soldaten Ob die Androhung der Todesstrafe für Juden- im Osten, die eben nicht in gleicher Weise hilfe oder „Judenbegünstigung“, wie man es aufwachten. Die meisten Wehrmachtsolda- damals nannte, auch für deutsche Soldaten ten entschieden den moralischen Konflikt galt, ist nicht eindeutig zu ermitteln. Allge- zwischen Pflichterfüllung und Gewissen, so mein lässt sich feststellen, dass die meisten er denn auch bei ihnen vorhanden war, nicht Soldaten, die bereit waren, Verfolgten zu im Sinne der Humanität. helfen, keine genaue Vorstellung davon hat- ten, was ihnen im Falle einer Entdeckung Ein Jahr nach der Eroberung und Besetzung widerfahren würde. Genau diese Unkalku- der polnischen Hauptstadt Warschau durch lierbarkeit des Risikos war „von oben“ so die Wehrmacht kam Hosenfeld zur dortigen gewollt. Oberfeldkommandantur, wo er die Aufgabe Hauptmann der Wehrmacht Wilm Hosenfeld 85

hatte, die Aufsicht über sämtliche Sportstät- rungsbuch auch Passagen aus den Tagebü- ten zu führen, welche die Wehrmacht be- chern von Wilm Hosenfeld auf. Damit wur- schlagnahmt hatte. Er tat dort von 1940 bis de dieser ungewöhnliche Wehrmachtoffi- Herbst 1944 Dienst. Rein äußerlich betrach- zier erstmals einer interessierten deutschen tet weist seine militärische Laufbahn keine Öffentlichkeit bekannt. besonderen Merkmale auf. Er wurde im Lau- fe des Krieges vom Feldwebel zum Haupt- Durch die „Warschauer Erinnerungen“ von mann befördert. Mit dem Vormarsch der Szpilman angestoßen, hat Dirk Heinrichs Roten Armee geriet er im Januar 1945 in Persönlichkeit und Leben des Hauptmanns russische Kriegsgefangenschaft. Wilm Hosenfeld näher erforscht, hauptsäch- lich auf der Basis der Quellen, die in der Weil der Reserve-Feldwebel Hosenfeld schon Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem auf- 1939 für den Frontdienst – übrigens zu sei- bewahrt werden, aber auch durch Einsicht- nem Bedauern – nicht mehr jung genug war, nahme in Teile des persönlichen Nachlasses wurde er im Zweiten Weltkrieg mit Etap- von Wilm Hosenfeld. Seine Forschungser- penaufgaben betraut. Das ist insofern von gebnisse wurden 2002 in dem Band „Retter Bedeutung, als wir heute wissen, dass Hilfe- in Uniform. Handlungsspielräume im Ver- leistungen für Verfolgte in der Regel nicht nichtungskrieg der Wehrmacht“ veröffent- an der Front stattfanden, sondern in den licht.21 rückwärtigen Gebieten, die von der Wehr- macht besetzt und von der Militär- und Den nächsten Schritt in der Rezeptions- Zivilverwaltung wirtschaftlich ausgebeutet geschichte bildete die umfangreiche Tage- wurden. Dort ergab sich für diejenigen, die buchedition von Thomas Vogel, die 2004 helfen und retten wollten, die Chance, soge- erschien.22 Dieses Werk wurde mit öffent- nannte Arbeitsjuden, aber auch Kriegsgefan- lichen Mitteln aus dem Verteidigungsetat gene, unter dem Deckmantel militärischer produziert. Das ist insoweit bemerkenswert, Interessen zu schützen.18 als hier ein Ungehorsamer gewürdigt wird, für den das militärische Prinzip von Befehl und Gehorsam nicht die vorrangige Hand- 5. Erst vergessen, dann nach lungsorientierung darstellte. Ähnliches hatte Jahrzehnten wieder entdeckt es schon einmal gegeben. Am 8. Mai 2000 benannte der damalige Bundesminister Vermutlich wüssten wir bis zum heutigen der Verteidigung, Rudolf Scharping, eine Tage kaum etwas über Wilm Hosenfeld, Kaserne der Bundeswehr in Rendsburg, hätte ihm der polnische Pianist Wladyslaw Schleswig-Holstein, nach dem Feldwebel Szpilman nicht in seinem autobiographi- und Judenretter Anton Schmid, für den die schen Bericht über seine Jahre des Leidens Humanität ebenfalls ein höheres Gut dar- im Warschauer Ghetto ein Denkmal gesetzt. stellte als der militärische Gehorsam. Dieses Buch erschien erst im Jahre 1998 in deutscher Sprache unter dem Titel „Das Weithin bekannt, auch international, wurde wunderbare Überleben. Warschauer Erinne- der bislang vergessene Hauptmann der deut- rungen 1939 bis 1945“.19 Die Publikation schen Wehrmacht Wilm Hosenfeld im Jahre wurde von dem Liedermacher und Schrift- 2002, als der aus Polen stammende Regisseur steller Wolf Biermann betreut. Ihm war es, Roman Polanski die Überlebensgeschichte wie er in einem angehängten Essay berich- des jüdischen Pianisten Wladyslaw Spzilman tet, gelungen, den Namen des unbekannten verfilmte. Sein Film „Der Pianist“ wurde Wehrmachtoffiziers zu ermitteln und damit unter anderem in deutschen und polnischen die Brücke zum Überleben von Szpilman zu Kinos und später noch mehrfach im Fernse- schlagen.20 Biermann nahm in das Erinne- hen gezeigt. 86 Wolfram Wette

6. Hilfe für verfolgte Juden in Polen Professor Feliks Tych, Direktor des Jüdischen durch Polen und Deutsche Museums in Warschau, selbst ein Überle- bender des Holocaust, hielt am Auschwitz- Hosenfeld gehört zu der winzigen Minder- Gedenkstag 27. Januar 2010 im Deutschen heit von Angehörigen der deutschen Wehr- Bundestag die Gedenkrede. Er schilderte bei macht, die gegen den Strom schwammen, dieser Gelegenheit, dass er selbst von einer die Verfolgten halfen und sie dadurch vor ganzen „Kette von guten, mutigen Men- dem Zugriff der staatlich legitimierten schen“ gerettet worden sei. Als Historiker Mörder retteten. Bekanntlich gehörten der machte er die folgenden Zahlenangaben: Wehrmacht in den Jahren 1939 bis 1945 „In Polen retteten etwa 200.000 Menschen etwa 18 Millionen Männer und eine halbe in Stadt und Land unter Einsatz ihres Le- Million Frauen an. Bislang konnten nicht bens mindestes 40.000 Juden, aber gleich- einmal 100 Helfer und Retter in Uniform zeitig fanden sich Menschen, die Juden, wel- ausfindig gemacht werden. Das muss nicht che sich versteckt hatten, denunzierten oder heißen, dass es nicht mehr von diesen an- der Polizei übergaben.“26 ständigen und mutigen Menschen gegeben hat. Aber sie haben keine – für den Historiker greifbaren – Spuren hinterlassen. 7. Stiftung des Hosenfeld / Szpilman- Preises der Universität Lüneburg Es mag von Interesse sein, auch einmal zu fragen, in welchem Umfang polnische Im Jahre 2004 stiftete die Leuphana Univer- Staatsbürger ihrerseits Judenhilfe leisteten.23 sität Lüneburg einen „Hosenfeld / Szpilman- Noch vor einem Jahrzehnt wäre eine Be- Gedenkpreis“. Er ist inspiriert von der Szene, antwortung dieser Frage mangels einschlä- nämlich dem zufälligen Zusammentreffen giger Forschungen kaum möglich gewesen. des Wehrmachtoffiziers Hosenfeld mit dem Denn im kommunistisch regierten Polen, verfolgten, fast verhungerten jüdischen Pia- also in den Jahren 1945 bis 1990, gab es of- nisten Szpilman, der sich seit mehreren Jah- fenbar kein Interesse an Fragen dieser Art. ren im Untergrund versteckt hielt. Während Erst mit der Wende begann sich dies all- andere Preise an eine bestimmte Persönlich- mählich zu ändern, angestoßen von Histori- keit erinnern, die Herausragendes geleistet kern anderer Länder. 2003 veröffentlichte hat, geht dieser Preis einen eigenen Weg. Er Gunnar S. Paulsson seine Forschungsergeb- will zum einen den Mut und die Risiko- nisse in dem Buch Secret City. The Hidden bereitschaft des Retters als vorbildliche Tat Jews of 1940-1945.24 Im Jahr dar- würdigen – ähnlich wie der Staat Israel, der auf, 2004, erschien die von Israel Gutman Judenretter als „Gerechte unter den Völkern“ herausgegebene Enzyklopädie des Holocaust ehrt –, zum anderen will er aber auch den in deutscher Sprache. Der Polen-Artikel Geretteten ehren, dem wir häufig – so auch dieses vorzüglichen Werkes informiert auch im Falle Szpilman – die Überlieferung der über die polnischen Judenretter, die von Rettergeschichte verdanken, also das Zeugnis. der Gedenkstätte Yad Vashem im Auftrage des Staates Israel geehrt worden sind. Am Der Idee dieser gemeinschaftlichen Wür- 1. Januar 2006 waren dies 5.941 polnische digung liegt die folgende Beobachtung zu- Bürger. Das sind mehr als in jedem anderen grunde: Das Opfer stößt unter extremen europäischen Land. Mit dieser Zahl ist das Bedingungen einen Hilferuf aus und wird Rettungsgeschehen in Polen jedoch längst gehört. Zwischen Retter und Gerettetem nicht erfasst. Nach Schätzungen von Histo- entsteht eine ethische Erfahrung „Von-Ange- rikern haben etwa 2,5 % der polnischen Be- sicht-zu-Angesicht“, wie es der französische völkerung – zwischen 160.000 und 360.000 – Philosoph Emmanuel Levinas formuliert jüdischen Mitbürgern geholfen.25 hat.27 Man könnte auch sagen: Es entsteht Hauptmann der Wehrmacht Wilm Hosenfeld 87

spontan eine humane Beziehung, und zwar die israelische Gedenkstätte Yad Vashem trotz des von Feindseligkeit geprägten Um- benötigt, um sich davon zu überzeugen, dass felds, wie es beispielsweise für das deutsch Hosenfeld diese höchste Ehrung, die der besetzte Polen während des Zweiten Welt- Staat Israel an Nicht-Juden vergibt, auch krieges charakteristisch war. wirklich zusteht. Insbesondere galt es, den Vorwurf der sowjetischen Behörden zu Das wichtigste Anliegen des Hosenfeld / entkräften, dass sich Hosenfeld an Kriegs- Szpilman-Gedenkpreises besteht darin, „ethi- verbrechen beteiligt habe. sches Widerstandshandeln in Gestalt von Hilfe- und Rettungstaten der öffentlichen Mir fiel die ehrenvolle Aufgabe zu, im Jüdi- Aufmerksamkeit zu empfehlen“. Gewürdigt schen Museum Berlin, wo die posthume werden sollen unter anderem Arbeiten, die Verleihung durch einen Vertreter des Staa- sich „in geschichtswissenschaftlicher Hin- tes Israel erfolgte, eine Laudatio zu halten. sicht … in exzellenter Weise der Untersu- Namens der Historikerinnen und Historiker, chung ethisch-praktischen Widerstandshan- die sich seit dem Jahre 2000 um die Erfor- delns innerhalb der deutschen Bevölkerung schung der Geschichte der Judenretter aus im Allgemeinen und der Wehrmacht im Be- der Wehrmacht gekümmert hatten, gab ich sonderen angenommen haben“.28 der Hoffnung Ausdruck, dass die Botschaft, die von der Würdigung Hosenfelds ausgeht, Die Jury, die den Preisträger oder die Preis- „in der Öffentlichkeit mehr als bislang zur trägerin ermittelt, besteht aus polnischen und Kenntnis genommen wird: Die Botschaft deutschen Persönlichkeiten. Bislang wurde nämlich, dass es in der Nazi-Zeit auch dort, der Lüneburger Preis dreimal vergeben und wo man es am wenigsten erwartet hätte, zwar an zwei Historikerinnen und einen Pä- nämlich in der Wehrmacht, wenigstens ver- dagogen. Der würdevollen Verleihung des einzelt ein humanes Rettungshandeln gege- Preises in der Universität Lüneburg wohn- ben hat.“ ten jeweils die Nachkommen von Wilm Hosenfeld sowie die Witwe von Wladyslaw In Deutschland steht eine angemessene Eh- Szpilman bei, ebenso Vertreter der polni- rung für Wilm Hosenfeld bislang aus. Wie schen Botschaft in Deutschland. könnte eine solche aussehen? Einen wichti- gen Hinweis gibt Hosenfeld selbst in einer

Tagebuchnotiz vom August 1940. Nach einer Die Edition der Briefe und Tagebücher Hosenfelds wurde im Jahre 2008 auch in Offiziersbesprechung in Warschau machte polnischer Sprache publiziert.29 Ein Portrait er eine Aufzeichnung, aus der hervorgeht, dieses „Retters in Uniform“ erschien auf dass ihm sein Status als zwangsverpflichte- dem Titelblatt einer polnischen Zeitschrift. ter Reserveoffizier stets bewusst war. Denn Nach dem Eindruck von Detlev Hosenfeld, er beurteilte jene seiner Kameraden, die Be- einem Sohn des Retters, ist sein Vater heute rufsoffiziere waren, in der folgenden Weise: in Polen wahrscheinlich bekannter als in „Sie sind nichts anderes als Soldaten. Das Deutschland.30 bin ich nicht. Meine Leistung liegt auf an- derem Gebiet, aber das gilt [jetzt hier im Krieg] nicht; deswegen ist unsereiner be- lastet und unsicher. Es gäbe nichts Schöne- 8. Ehrung Hosenfelds als res, als in die alte Lebensaufgabe zurück- „Gerechter unter den Völkern“ kehren zu dürfen.“31 Die alte Lebensaufgabe war die Pädagogik an einer Volksschule. Es Im Jahre 2009 wurde Wilm Hosenfeld vom wäre also eher nicht im Sinne Wilm Hosen- Staat Israel als „Gerechter unter den Völ- felds, wenn man, wie es schon mehrfach in kern“ geehrt. Ein ganzes Jahrzehnt lang hatte Vorschlag gebracht wurde, eine Kaserne 88 Wolfram Wette

der Bundeswehr nach ihm benennen würde. verordneten Judenhass und selbst im Herr- Als Namensgeber einer Grund- und Haupt- schaftsapparat der Wehrmacht keineswegs schule würde er sich wohl besser aufgeho- unmöglich war, aktiven Anstand zu prakti- ben fühlen. zieren. Ihr Beispiel vermag uns eine humane Orientierung zu geben und uns Mut zu Wir können den heute und morgen leben- machen. Wir können erkennen – und das ist den Menschen – in Deutschland wie in Po- wohl das Wichtigste –, dass es selbst damals len und anderswo – durch die Persönlichkeit ein Stück Freiheit, einen gewissen Hand- von Wilm Hosenfeld und anderer Retter in lungsspielraum, gegeben hat, sich so oder Uniform erkennen, dass es auch unter der so zu entscheiden, für das Schlechte – oder rigiden Hitler-Diktatur mit ihrem staatlich für das Gute.

Anmerkungen

1 Brief Hosenfelds an seine Frau vom 19.9.1939, 11 Szpilman: Das wunderbare Überleben, S. 171- in Hosenfeld, Wilm: „Ich versuche jeden zu ret- 176. ten“. Das Leben eines deutschen Offiziers in 12 Ebd. Briefen und Tagebüchern. Im Auftrag des Mili- tärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von 13 Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA RL 5/793), Thomas Vogel, München 2004, S. 250. Luftwaffenpersonalamt, hier Abschrift O. K. H. Berlin, 31.10.1942. 2 Ebd. 14 Siehe Wette, Wolfram: Reichswehr, Wehrmacht, 3 Heinrichs, Dirk: Hauptmann d. R. Wilm Hosen- Antisemitismus und militärischer Widerstand feld – Retter in Warschau, in: Retter in Uni- (1933-1939), in: NS-Verbrechen und der mi- form. Handlungsspielräume im Vernichtungs- litärische Widerstand gegen Hitler, hrsg. von krieg der Wehrmacht. Mit einem Geleitwort Gerd R. Ueberschär, Darmstadt 2000, S. 19-30. von , hrsg. von Wolfram Wette, Frankfurt/M. 2002, S. 69-88. 15 Vgl. zu diesem Komplex Dörner, Bernward: Justiz und Judenmord. Todesurteile gegen 4 Ebd., S. 71 f. Judenhelfer in Polen und der Tschechoslowakei 5 So berichtete Wilm Hosenfeld seinem Sohn 1942-1944, in: Ausbeutung, Vernichtung, Öf- Helmut. Siehe Biermann, Wolf: Brücke zwischen fentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozia- Wladyslaw Szpilman und Wilm Hosenfeld, ge- listischen Lagerpolitik, hrsg. von Norbert Frei, baut aus 49 Anmerkungen. Essay, in: Das wun- Sybille Steinbacher und Bernd C. Wagner, derbare Überleben. Warschauer Erinnerungen München 2000, S. 249-263. 1939-1945. Aus dem Polnischen von Karin Wolf. 16 Bekanntmachung des Stadthauptmanns Dr. Vorwort von Andrzej Szpilman. Anhang von Franke, Tschenstochau / Polen, vom 24.9.1942, Wilm Hosenfeld. Mit einem Essay von Wolf betreffend Androhung der Todesstrafe für die Biermann, Düsseldorf u. a. 1998, Taschenbuch Beherbergung von geflüchteten Juden. Origi- 1999, S. 205-231, hier Nr. 36, S. 224. nalplakat im Jüdischen Historischen Museum 6 Heinrichs: Hauptmann d. R. Wilm Hosenfeld – Warschau. Retter in Warschau, S. 73. 17 Pisarek, Kinga: Antisemitismus und Judenret- 7 Ebd., S. 74 f. tung in Polen während des Zweiten Weltkrieges. Phil. Magisterarbeit, Freiburg 2006 (unveröf- 8 Tagebucheintragungen vom 23.7.1942, 13.8.1942, fentlicht), S. 40, 95, Urteil gegen das Ehepaar 1.8.1942, 6.7.1943 5.12.1943 und 28.12.1943. Rutkowski ebd., S. 98-101. Zit. ebd., S. 74-76. 18 Siehe im einzelnen Priemel, Kim C.: Wirtschafts- 9 Tagebucheintragung vom 16.6.1943, zit. ebd., krieg und „Arbeitsjuden“. Möglichkeiten zur S. 77. Rettung von Juden in Vilnius, 1941-1944, in: 10 Ebd., S. 72. Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter aus

Hauptmann der Wehrmacht Wilm Hosenfeld 89

Wehrmacht, Polizei und SS. Mit einem Geleit- 25 Pisarek: Antisemitismus und Judenrettung, S. 92. wort von Bundespräsident Johannes Rau, hrsg. 26 Tych, Feliks: Der lange Schatten des Holocaust, von Wolfram Wette, Frankfurt/M. 2004, S. 305- in: Freiburger Rundbrief 3/2010, S. 179- 322. 185, hier S. 182 f. Text auch im Internet: 19 Szpilman: Das wunderbare Überleben, S. 171- www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschic 176. hte/gastredner/tych/index.html. 27 20 Biermann, Wolf: Brücke zwischen Wladyslaw Miething, Frank: Die Würde des Menschen. Der Szpilman und Wilm Hosenfeld, gebaut aus 49 An- jüdisch-französische Denker Emmanuel Levinas, merkungen. Essay, in: Szpilman: Das wunder- der vor zehn Jahren in Paris starb, wäre heute bare Überleben, S. 205-231. 100 Jahre alt geworden, in: Badische Zeitung, 12.1.2006, S. 9. Dieser Gedanke wurde von der 21 Siehe Wette: Retter in Uniform, S. 69-88. Lüneburger Initiative übernommen. Siehe dazu

22 Därmann, Iris: Der Hosenfeld / Szpilman-Ge- Hosenfeld: „Ich versuche jeden zu retten“, denkpreis. Zur Konzeption, in: Der Hosenfeld / S. 250. Szpilman-Gedenkpreis, hrsg. von der Universi- 23 tät Lüneburg, Lüneburg 2006, S. 7-15, hier S. 8. Vgl. dazu die Untersuchung von Kosmala, Beate: Ungleiche Opfer in extremer Situation. Die 28 Därmann: Der Hosenfeld / Szpilman-Gedenk- Schwierigkeiten der Solidarität im okkupierten preis, S. 13. Polen, in: Solidarität und Hilfe für Juden wäh- 29 rend der NS-Zeit. Regionalstudien 1: Polen, Ru- Hosenfeld, Wilm: „Staram się ratować każ- mänien, Griechenland, Luxemburg, Norwegen, dego“. Życie niemieckiego oficera w listach i Schweiz, hrsg. von Wolfgang Benz und Juliane dziennikach, Warszawa 2008. Wetzel, Berlin 1996, S. 19-97. 30 Brief von Detlev Hosenfeld an den Verfasser, Kiel, 6.8.2010. 24 Paulsson, Gunnar S.: Secret City. The Hidden Jews of Warshaw, 1940-1945, New Haven, 31 Hosenfeld: „Ich versuche jeden zu retten“, Ein- London 2003. trag vom 3.8.1940, S. 369.

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Jedwabne und die dunklen Seiten der polnischen Geschichte

Jerzy Maćków

Die Jedwabne-Debatte von 2000 bis 2002 hatte ursprünglich die Ermordung von einigen Hun- dert Juden durch ihre polnischen Nachbarn am 10. Juli 1941 zum Thema. Diese Diskussion hat aber darüber hinaus eine große Wirkung auf die polnische Geschichtsforschung und die natio- nale Identität der Polen entfaltet. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob die notgedrungen verspätete Auseinandersetzung mit den „dunklen Seiten“ der modernen polni- schen Geschichte von den deutschen Erfahrungen mit der „Aufarbeitung der Geschichte“ profi- tieren könnte.

1. Jedwabne und die Heute liegt Jedwabne im Nordosten Polens – Jedwabne-Diskussion unweit der zwei größeren Städte: Białystok und Łomża – und gehört somit zum soge- Es gibt zwei Jedwabne in Polen: zum einen nannten „Polen B“ („ściana wschodnia“ – die kleine Stadt (heute knapp 1.800 Bewoh- „Ostwand“). Diese pejorative Bezeichnung ner) und zum anderen eine mit ihrem Namen ist nicht mit dem noch in der Vorkriegszeit sich verbindende Diskussion, die in den Jah- eher abwertenden Begriff der (östlichen) ren 2000-2002 geführt wurde und bis heute „Randländer“ – „Kresy“ – zu verwechseln. kein Äquivalent in irgendeinem anderen Der häufig als Eigenname fungierende Ter- postkommunistischen Land findet. Sie gilt minus Kresy bezieht sich auf die polnischen als die größte, die in den polnischen Medien Ostgebiete der Zwischenkriegszeit (und auch seit dem Zweiten Weltkrieg stattfand.1 im historischen Polen), die der polnische Staat aufgrund der deutsch-sowjetischen Ihren historischen Hintergrund bildeten die Zusammenarbeit im Jahre 1939, des Verrats Geschehnisse vom 10. Juli 1941. An diesem der polnischen Westalliierten im Zweiten Tag hat eine Gruppe der polnischen Be- Weltkrieg und der expansiven Politik Sta- wohner – in der Stadt lebten damals ca. lins verloren hatte. Heute ruft dieser Begriff 2.500 Menschen, davon waren wahrschein- in Polen häufig idealisierend-verklärende lich 40 % ethnische Juden2 – hunderte ihrer Reminiszenzen an das „verlorene Paradies“ jüdischen Nachbarn auf grausame Art und hervor.3 Weise ermordet, den Großteil von ihnen in einer Scheune bei lebendigem Leibe ver- Nur im Hinblick auf die Geographie lag brannt. Ein ähnlich tragisches Schicksal Jedwabne zur Zeit des zweiten polnischen erlebten die sich damals in Jedwabne auf- Staates (1918-1939) zentraler, als dies nach haltenden jüdischen Flüchtlinge, die ausge- der im Jahre 1945 durchgeführten „West- rechnet dort den Schutz vor anderswo in der verschiebung Polens“ der Fall ist. Vom so- Region tobenden Pogromen suchten. Das zialen und wirtschaftlichen Entwicklungs- Städtchen war zuvor, spätestens am 23. Juni stand her ähnelte der Ort durchaus den meis- 1941, von den Deutschen, die am 22. Juni ten Kleinstädten in den Kresy-Gebieten, in die Sowjetunion angegriffen hatten, einge- denen der wöchentliche, von den Bauern aus nommen worden. Die Schergen, die dieses der Umgebung besuchte Markt den ökono- Verbrechen begingen, waren aber höchst- mischen Rhythmus bestimmte. Auf dem wahrscheinlich ausschließlich Polen. wirtschaftlichen Gebiet war der ethnische – 92 Jerzy Maćków

polnisch-jüdische – Konflikt zuweilen un- In vielen Ortschaften der Gegend beteiligten übersehbar, zumal in Jedwabne die antise- sich uniformierte Deutsche (Wehrmacht, mitische „Nationale Demokratie“ politisch , SS, Sicherheitspolizei, Sicherheits- stark war.4 dienst, Polizei) am Morden, obgleich es sich bei den meisten unmittelbaren Tätern um

unter deutscher Patronage agierende Polen Infolge des Ribbentrop-Molotow-Paktes kam handelte.7 So hatten sich am 7. Juli 1941 in Jedwabne nach dem 17. September 1939, Radziłów, einer kleinen, 18 km nordöstlich als die Rote Armee im Osten Polens einfiel, von Jedwabne entfernten Stadt, mehrere unter sowjetische Besatzung (die Deutschen Polen am Verbrennen von Juden in einer haben zwar die Stadt im September 1939 Scheune beteiligt. Sehr viele Zeugen berich- erobert, aber am Monatsende an ihre dama- ten, dass die Deutschen – außer dass sie ligen kommunistischen Verbündeten abge- selbst die Juden drangsalierten, beraubten geben). So begann die wechselvolle Kriegs- und ermordeten – auch die polnischen Aus- geschichte Jedwabnes, deren Höhepunkte schreitungen beobachteten und fotografier- die Zerschlagung eines relativ starken ten. Die erste Verbrennung beim lebendigen antisowjetischen Untergrundes durch den Leibe – am 27. Juni 1941 in Białystok – bei NKWD im Jahre 1940, der besagte Mord an der mindestens 700-800 Juden umkamen, Juden und der noch in die ersten Nachkriegs- wurde durch das deutsche 309. Polizei- jahre hinein dauernde Widerstand gegen die bataillon durchgeführt.8 Es ist wichtig zu kommunistische Herrschaft darstellten. wissen, dass die Deutschen – die Sicher- heitspolizei und der Sicherheitsdienst – nicht Die Diskussion um Jedwabne brachte nicht nur in Polen während der ersten Besatzungs- zuletzt die bis dato in Polen unbekannte zeit die sogenannten Selbstreinigungsaktio- Tatsache ans Licht, dass der Einmarsch der nen initiierten und organisierten, in denen Deutschen am 22. Juni 1941 in vielen zuvor die jeweilige lokale Bevölkerung gegen die von der Sowjetunion besetzten Gebieten Juden vorging.9 durch die polnische Bevölkerung als Be- freiung begrüßt wurde. Sie offenbarte zu- Das enorme Interesse an Jedwabne ist in dem, dass es nicht nur in Jedwabne, sondern Polen erst seit dem Jahr 2000 festzustellen. in der gesamten zwischen Łomża und Bi- Selbst unter vielen polnischen Historikern ałystok gelegenen Region (beide Städte sind waren die Geschehnisse, die sich in der ca. 80 km voneinander entfernt) zu mehreren besagten Gegend nach dem 22. Juni 1941 grausamen antijüdischen Ausschreitungen abgespielt hatten, bis dahin unbekannt, und gekommen war, bei denen die Polen die die „normalen“ Polen konnten darüber nicht Mörder waren. Nach den Angaben der deut- Bescheid wissen.10 Denn die polnischen schen Feldkommandantur in Łomża vom Kommunisten haben nicht nur viele Helden- 14. Juli sollen die Polen in Wąsocz (ca. 30 km taten ihrer politischen Gegner bzw. gegen nördlich von Jedwabne) die Juden sogar Polen gerichtete kommunistische Verbrechen noch vor dem Ankommen der deutschen aus dem polnischen Geschichtsbewusstsein Truppen in einer Scheune „erledigt“ haben.5 tilgen wollen, weshalb in der Geschichts- Auch in „Kolno, Rutki, Grajewo und schreibung der Volksrepublik Polen (und Szczuczy[n]“ – schreibt Paweł Machcewicz folglich im Geschichtsbewusstsein der in einem sehr informativen Beitrag zu die- Polen) weiße Flecken entstanden sind. sem Thema – „verübte meist kurz nach dem 22. Juni ein Teil der lokalen polnischen Bevölkerung aus eigenem Antrieb Juden- Die Kommunisten hatten aber auch kein pogrome, die offenbar nicht direkt von den Interesse daran, die „dunklen Seiten“ der Deutschen veranlasst worden waren“.6 polnischen Geschichte aufzuarbeiten. Sie Jedwabne und die dunklen Seiten der polnischen Geschichte 93

gaben sich zwar im Sinne des Marxismus- konnte es für sie eine glaubwürdige rationale Leninismus durchaus als die Vertreter des Legitimationserzählung auf der Grundlage Proletariats aus, das angeblich kein Vater- der historischen Wahrheit nicht geben. Des- land kennt. Doch bereits in der Stalin-Ära halb mussten für ihre Legitimation die natio- präsentierten sie sich dennoch – übrigens nalen Emotionen mobilisiert werden, wobei ganz im Einklang mit der für sie vorbild- die kollektive Selbstgefälligkeit der Nation, haften Lehre Stalins, der sich im Zweiten auf die bekanntlich auch in den westlichen Weltkrieg bekanntlich des russischen Natio- Demokratien für Legitimationszwecke (all- nalgefühls bedient hatte – als „national in zu) oft zurückgegriffen wird, die zentrale der Form“ (und selbstverständlich „sozialis- Rolle spielte. Während in den Demokratien tisch im Inhalt“). die freie Diskussion zumindest einige Teile der Eliten vor den Folgen der nationalen

Selbstgefälligkeit schützt, erstickte der kom- Nach den Erschütterungen des „Polnischen munistische Totalitarismus jede freie und Herbstes“ im Jahre 1956, die den in der wahrhafte Auseinandersetzung gerade über Bundesrepublik gern als „Nationalkommu- die neueste Geschichte im Keim. nisten“ apostrophierten Władysław Gomuł- ka an die Macht (wieder)gebracht und nun Der Quasikonsens der Volksrepublik Polen erneut die existenzielle Abhängigkeit der nach 1956 basierte zum einen auf dem Ver- Volksrepublik von der Sowjetunion ver- sprechen der Kommunisten, sie würden deutlicht hatten, brauchten die polnischen sich, um der gesellschaftlichen Akzeptanz Kommunisten wie nie zuvor eine wirksame ihrer Herrschaft willen, stärker als je zuvor Legitimation ihrer Herrschaft. Denn die um die sozialen, ökonomischen und kultu- „Abkehr vom Stalinismus“ nach 1956 be- rellen Belange des Volkes kümmern.12 Zum deutete, dass die kontinuierliche, massive anderen baute er auf der Bemühung auf, die Gewaltanwendung nicht mehr das wichtigs- rudimentären nationalen Gefühle der Unter- te, die politische Stabilität garantierende tanen zu befriedigen. Die Regierenden grif- Herrschaftsinstrument sein durfte. Anstelle fen in diesem Zusammenhang auf zwei des staatlichen Terrors wurde auf den Qua- Mythen zurück: den der makellosen Nation sikonsens gesetzt. Im totalitären Staat stellt mit einer heldenhaften Geschichte und den er eine Art ungeschriebenes Abkommen einer makellosen kommunistischen Partei. zwischen den Regierten und den Regieren- Der erste Mythos schöpfte aus der besagten den dar, dessen Inhalt zwar die Herrschen- kollektiven Selbstgefälligkeit, zu der jede den allein definieren, dies aber durchaus Nation tendiert. Der zweite Mythos wieder- unter Berücksichtigung der realen Wünsche um entstammte dem Marxismus-Leninismus der Untertanen. Die Machthaber waren zwar und war insofern in Polen artifiziell. Die in der Lage, den Quasikonsenses jederzeit falsche, gleichwohl aber gern geglaubte einseitig zu „kündigen“. Es steht jedoch au- Vorstellung einer makellosen polnischen ßer Frage, dass er die Polen freier als zuvor Nation wurde von den Kommunisten als die atmen ließ.11 Er konnte allerdings nur dann eigene ausgegeben, damit die ebenso falsche, systemstabilisierend wirken, wenn die Kom- aber in Polen nicht akzeptierte Behauptung munisten im Volk nicht als rechenschafts- glaubwürdiger erscheinen konnte, niemand pflichtige Agenten des Kreml, sondern als wäre imstande, dem polnischen Volk so gut natürlicher Bestandteil der nationalen Ge- zu dienen, wie die kommunistische Partei. meinschaft wahrgenommen wurden. Die Verbreitung der Wahrheit über Jedwabne (und andere dunkle Seiten der polnischen Da die Volksrepublik Polen in vielem einer Geschichte) hätte sowohl dieses emotional von Stalin geschaffenen sowjetischen untermauerte Legitimationskonstrukt als auch Kolonie (bzw. einem Protektorat) ähnelte, den Quasikonsens torpediert. 94 Jerzy Maćków

Nach dem Ende des Kommunismus im Jah- Internet zu finden.17 Die wohl aufschluss- re 1989 hatte Polen noch gut ein Jahrzehnt reichste, nicht-polnische Auswahl von Tex- gebraucht, um sich den dunklen Seiten sei- ten zu Jedwabne ist allerdings auf Englisch ner Geschichte zu stellen. Die Jedwabne- erschienen.18 Debatte begann im November 2000, d. h. mehrere Monate nachdem das Büchlein von Jan Tomasz Gross über den 10. Juli 1941 2. Dimensionen der Diskussion unter dem Titel „Nachbarn. Eine Geschich- te der Vernichtung eines jüdischen Städt- Die Lektüre vieler Beiträge der Jedwabne- chens“13 erschienen war (Mitte Mai 2000). Diskussion lässt ihre zentralen, häufig sich Offenbar war die Zeit jetzt reif für eine sol- einander überschneidenden Aspekte erken- che Auseinandersetzung. nen.

Am Ausgang der kommunistischen Ära, im Zum Ersten wurde über die Schuldfrage Jahre 1988, war dem Journalisten-Ehepaar gesprochen und gestritten. Wer war schuld Danuta und Aleksander Wroniszewski in am Massaker? Waren es die unmittelbaren der gleichen Angelegenheit ein großes Täter, deren Zahl man mittlerweile auf gut Medienecho noch nicht vergönnt gewesen. vierzig schätzt? Waren es vielleicht alle Inspiriert durch den Bericht eines Überle- Bewohner des Städtchens, von denen sich benden des Jedwabne-Massakers – Szmul einige mit der Rolle eines stummen Zeugen Wasersztejn – vom 5. April 1945, hatte es des sich vor ihren Augen Abspielenden trotz der Zensur in einer Wochenzeitung aus abfanden, während sich andere offenbar in Łomża eine Reportage über Jedwabne pub- ihren Häusern verkrochen? Reicht Angst als lizieren können, in die sowohl die Erinne- Rechtfertigung für die Tatsache aus, dass rungen Wasersztejns als auch die Gespräche kaum Berichte über die Hilfsversuche von mit den Stadtbewohnern über die besagten Polen für die von anderen Polen abge- Ereignisse Eingang fanden.14 Auch einige in schlachteten jüdischen Nachbarn existieren? den neunziger Jahren verstreut publizierte Waren es schließlich die antisemitischen Texte über die Pogrome von Juni / Juli 1941 Polen, die noch vor dem Krieg ein Klima sowie das beträchtliche Interesse am Jed- produziert hätten, das die Barbarei am wabne-Mord, das in den polnischen Medien 10. Juli 1941 zumindest begünstigte? Und seit April 2000 feststellbar war,15 hatten welche Art von Schuld trifft die jeweilige noch keine große Debatte auslösen können. Kategorie der Polen? Es fällt auf, dass es sich dabei um jene Fragen handelt, für die Die mediale Auseinandersetzung um Karl Jaspers in seiner berühmten Schrift Jedwabne dauerte etwa bis 2002, wobei im „Die Schuldfrage“, die unmittelbar nach Frühling 2001 in der polnischen Presse dem Krieg erschienen war,19 seine Lands- monatlich mehr als 150 Artikel zu diesem leute zu sensibilisieren versuchte. Thema erschienen. An der Debatte beteilig- ten sich sowohl Historiker als auch zuwei- Zum Zweiten ging es in der Jedwabne-De- len prominente Journalisten sowie Publizis- batte um die polnische Nation. Wenn schon ten, und sie selbst wurde zum Gegenstand ohne jeden Zweifel die Polen den Mord in zahlreicher Diskussionen wie Untersuchun- Jedwabne begangen haben, dann fragt man gen in Polen und außerhalb Polens.16 Das sich, welche Bedeutung das dann für die Buch von Gross ist im Jahre 2001 unter dem bisher vorherrschende polnische Selbstein- Titel „Nachbarn. Der Mord an den Juden von schätzung der eigenen Rolle im Zweiten Jedwabne“ beim C.H.-Beck-Verlag auch Weltkrieg hat? Stellt die in Polen vorherr- auf Deutsch erschienen. Die wichtigsten schende Überzeugung, die polnische Nation Texte der Diskussion sind auf Deutsch im gehöre zu den Völkern, die im Zweiten Jedwabne und die dunklen Seiten der polnischen Geschichte 95

Weltkrieg am meisten gelitten hatten, bloß Man konnte zudem nicht umhin, sich immer einen Mythos dar? Wenn ja, soll man dann wieder die Frage zu stellen, ob die Jedwabne- vielleicht dazu übergehen, die Polen als eine Diskussion selbst nicht den Antisemitismus „Nation von Tätern“ zu sehen? Oder waren belebte. Insbesondere konnte sie den in sie Täter und Opfer zugleich? Und wie ist Polen ohnehin populären Stereotyp von der ihr Verhalten gegenüber den Juden im Ver- angeblichen jüdischen Affinität zum Kom- gleich mit den anderen am Zweiten Welt- munismus genährt haben. krieg beteiligten Nationen einzuschätzen? Zum Vierten tauchte in der Jedwabne-De- Zu diesem nationalen Aspekt der Diskussi- batte das Problem der juristischen Verant- on gehört auch die nicht minder interessante wortung für das am 10. Juli 1941 Gesche- Frage, welche Bedeutung Jedwabne für die hene auf. Einhellig war die Meinung – die heutigen Polen hat bzw. haben soll, die in auch im Bericht des Instituts für Nationales keinerlei Weise die Schuld für die damali- Gedenken (IPN) vom 9. Juli 2002 vertreten gen Ereignisse tragen können. wird –, dass im juristischen Sinne für das Verbrechen die Deutschen die Verantwor- tung tragen, und zwar ungeachtet der ge- Schließlich war in diesem nationalen Kon- richtlich zu verfolgenden kriminellen Schuld text die Frage wichtig, welche Bedeutung der polnischen Schergen. Diese deutsche für die polnische Nation das Buch von Gross Verantwortung ergäbe sich alleine schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte. aus der Tatsache, dass die Besatzer die Man kann wagemutig behaupten, dass seit Jurisdiktion über Polen beanspruchten. Die 1989 eine Art Neuformung der polnischen direkte bzw. indirekte deutsche Anstiftung Nation im Gange ist, die nach gut zwei Jahr- zum Mord und dessen unzweideutige Billi- hunderten fehlender politischer Souveräni- gung durch die Besatzer verstärke lediglich tät (abgesehen von den Jahren 1919-1939) diese Verantwortung. sich selbst gleichsam neu erfinden muss. Polen und die Polen aus dem Jahre 2000 Zum Fünften war es auch eine Art „polni- unterschieden sich bereits sehr von Land scher Historikerstreit“, in dem nach den und Volk aus dem Jahre 1989. Die rapide Ursachen für den Mord gesucht wurde. Es Modernisierung Polens muss nicht zuletzt musste aber auch den Fragen, wie er sich auch kollektive Komplexe hervorgerufen genau abgespielt hat und wie viele Opfer es haben. Wie reagiert eine verunsicherte Na- gegeben hatte (Gross hat in seinem Buch tion auf einen solchen, aus der – mittlerweile die Zahl 1.600 genannt), nachgegangen recht fernen – Vergangenheit kommenden werden. Paukenschlag? Während Gerichtsdokumente, Zeugenaus- Zum Dritten handelte es sich bei der Jed- sagen, aufgeschriebene Erinnerungen und wabne-Diskussion um eine Debatte über den die vom damaligen Justizminister Lech polnischen Antisemitismus. Eine wichtige Kaczyński angeordnete Exhumierung der Frage in diesem Zusammenhang betraf den Opfer20 deren Zahl hat schmelzen lassen (ca. Katholizismus: Ist der polnische Antisemi- 340), bleiben – wie immer bei historischen tismus katholisch? Man fragte aber auch Ereignissen – die Ursachen für das grausige nach dessen anderen Eigenschaften, zumal Geschehen am meisten umstritten. Die Über- viele Polen bisher gern geglaubt hatten, zeugung, die Raubsucht primitiver Men- dass er kein solches Potenzial von brutaler schen, die sich am Eigentum der Juden be- Gewalt besitzt, wie sie es „den Russen“, reichern wollten, sei die Ursache gewesen, „den Ukrainern“ und selbstverständlich erwies sich im Zusammenhang der Diskus- „den Deutschen“ oft attestierten. sion als Minderheitsmeinung. 96 Jerzy Maćków

Die meisten Diskussionsteilnehmer wiesen Tatarenfrauen und räudigen Judenfressen, dagegen darauf hin, dass, nicht nur in der wir alle gehen nicht aus freien Stücken Vorstellung des mordenden Mobs, „die wählen„. … In einem anderen Flugblatt Juden“ vom 17. September 1939 bis zum wurde erklärt: ‚Wir wollen den wahrhafti- 22. Juni 1941 mit den sowjetischen Besat- gen christlichen Glauben, nicht die von den zern gezielt gegen Polen und die Polen vor- Juden und Stalin aufgezwungene Heuchelei gegangen waren. Vor diesem Hintergrund und Falschheit.„“21 erschienen die Pogrome als Racheakte. In

Jedwabne war offenbar die Überzeugung In der Diskussion leugnete jedoch niemand verbreitet, „die Juden“ seien an der Denun- die polnische Schuld am Mord in Jedwabne. ziation des in der Umgebung aktiven anti- Es gab allerdings Klagen seitens einiger kommunistischen Untergrundes beteiligt ge- Diskussionsteilnehmer, die Debatte umgehe wesen (was historisch falsch ist). Aus dem gezielt diese Problematik des jüdischen gesamten sowjetisch besetzten Ostpolen Antipolonismus. Derartige Stimmen gingen gibt es wiederum Berichte, die „den Juden“ normalerweise mit der Kritik an den tat- Freude über die Zerstörung des polnischen sächlichen und vermeintlichen Schwächen Staates nach dem 17. September 1939 so- der Forschungsleistung von Jan Tomasz wie über die anschließenden Zwangsdepor- Gross einher. Diese Haltung ließ den Main- tationen Tausender Polen nach Sibirien, die stream der Diskussion als einen Angriff Denunziationen der polnischen Offiziere, gegen den guten Ruf Polens erscheinen. So Beamten, Lehrer bei der sowjetischen argumentiere z. B. Jerzy Robert Nowak,22 Besatzungsmacht sowie die Teilnahme am dem im Dezember 2005 vom Stadtrat die sowjetischen Regierungs- und Repressions- Ehrenbürgerschaft Jedwabnes zuerkannt apparat unterstellen. wurde.

Beispiele für die Überzeugung von der Wenngleich die Vorstellungen vom Kommu- angeblich typisch jüdischen Affinität zum nismus als dem Werk der Juden keineswegs Kommunismus brachte der Historiker in Polen erfunden wurden und spätestens Krzysztof Jasiewicz in die Debatte: seit der Machtübernahme der Bolschewiki in Russland im gesamten Europa populär „So fand sich im Dorf Lubeszczyńskie im waren, haben sie in Polen den Zwillingste- Rayon Bielsko in der Wahlurne zur Wahl reotyp von żydokomuna („Judeokommune“, der Delegierten des Obersten Sowjet der „Judeokommunismus“) hervorgebracht. Er UdSSR und der BSSR (März 1940) ein Zet- verbindet den Antikommunismus mit dem tel mit folgendem Inhalt: ‚Es lebe Polen! modernen Antisemitismus, wobei die schlich- Jan Turlejski [kandidierte für den Rayon – te Überzeugung, Angehörige einer Nation K.J.] ist ein Bandit. Raus hier, sonst werden hätten gleiche Eigenschaften, weshalb sie wir Dich am erstbesten Baum aufhängen, für die jeweilige Nation repräsentativ und bis Du verreckst, Hurensohn, Judenfresse ... . für die Taten der anderen Angehörigen auch Nieder mit den Kommunisten!„. [Die ande- verantwortlich seien, das moderne Element ren Beispiele betreffen den] Inhalt von darstellt. In diesem Vorurteil schien der An- Flugblättern, die während der Kommunal- tikommunismus zumindest so stark wie der wahlen [in Białystok im] (Dezember 1940) Antisemitismus ausgeprägt zu sein, weil bei verteilt wurden: ‚An alle Juden! Gott gebe, den antijüdischen Pogromen zuweilen spon- dass ihr die Wahlen nicht erlebt, dass euch tan jene Polen von ihren Landsleuten um- alle die Cholera holt. Dreckig wie Schweine gebracht bzw. den Deutschen zur Bestra- seid ihr nach Polen gekommen und so wer- fung ausgeliefert wurden, die zuvor mit den det ihr es auch wieder verlassen ... Ha! Ihr Sowjets kollaboriert hatten.23 Jedwabne und die dunklen Seiten der polnischen Geschichte 97

Schließlich – sechstens – muss auch der po- Ermordung als auch solche symbolischen litisch-internationale Aspekt der Jedwabne- Rituale einschloss, die die angebliche Ver- Diskussion erwähnt werden. Diese wurde antwortung der Juden für die kommunisti- besonders in Israel sowie in den Vereinigten sche Herrschaft verdeutlichen sollten. Dieses Staaten von Amerika zur Kenntnis genom- Schema findet sich in zahlreichen anderen men und aufmerksam studiert. Das große antijüdischen Ausschreitungen von damals deutsche Interesse an Jedwabne scheint wieder, wobei einige seiner Elemente – et- wiederum nicht selten dem Wunsch zu ent- wa die Erniedrigung durch die erzwungene springen, die Verantwortung für den Holo- „Reinigung“ des Marktplatzes – in ihrer caust mit anderen Völkern zu teilen. Dafür symbolischen Bedeutung recht „deutsch“ scheint der Umstand zu sprechen, dass in anmuten und der früher erfolgten Drangsa- der Jedwabne-Angelegenheit der Fokus der lierung von Juden in Wien ähneln. deutschen Medien auf den polnischen Anti- semitismus, seine Ausprägungen im Krieg Nach umfassenden Untersuchungen zum und den heutigen Umgang mit ihm gerichtet Mord in Jedwabne am 10. Juli 1941 wurde ist. Dagegen bleibt die Problematik der im Bericht u. a. festgestellt: deutschen Verantwortung für die ethnischen „An diesem Tag, Donnerstag am Morgen, Konflikte von damals ausgespart, obwohl begannen in Jedwabne die Bewohner der diese bis heute nachwirken. angrenzenden Dörfer zu erscheinen, um sich

am geplanten Mord an den jüdischen Stadt- Zwar gab es in der kommunistischen Zeit bewohnern zu beteiligen. Am Vorabend wa- mehrere Gerichtsverfahren gegen die am ren noch einige Juden von ihren polnischen Jedwabne-Mord Beteiligten – mit gut einem Bekannten gewarnt worden, dass eine kol- Dutzend Verurteilungen (darunter eine To- lektive Aktion gegen sie vorbereitet werde. desstrafe, die später zu 15 Jahren Haft umge- wandelt wurde). Es wurden darüber hinaus Seit den Morgenstunden des 10. Juli 1941 einige Tausend Polen wegen anderer gegen wurden die Juden zunächst gezwungen, ihre die Juden gerichteten Verbrechen verurteilt. Häuser zu verlassen; anschließend wurden Doch wurde nicht der Versuch unternom- sie zum Marktplatz getrieben. Dort wurde men, alle Polen juristisch zu belangen, die ihnen befohlen, das zwischen den Pflaster- in den Kriegsjahren den Juden Unrecht an- steinen des Marktplatzes wachsende Gras getan hatten. Die Selektivität der Rechtsgel- zu jäten. Die polnischen Bewohner aus tung und die politische Abhängigkeit der Jedwabne und benachbarten Ortschaften Gerichte waren für den kommunistischen begingen Gewaltakte an den Zusammenge- Totalitarismus typisch. triebenen.

Zahlreiche Zeugen behaupten, dass an die- 3. Offizielle Stellungnahme zu sem Tag uniformierte Deutsche in der Stadt Jedwabne – Bericht des IPN angekommen waren. Diese wahrscheinlich kleine Gruppe von Deutschen half dabei, An dieser Stelle ist es angebracht, auf die die verfolgten Menschen zum Marktplatz zu Ereignisse des 10. Juli 1941 genauer einzu- treiben. Darauf beschränkte sich aber ihre gehen, wozu der erwähnte Bericht des IPN24 aktive Rolle bei den Ereignissen. Die zur vom 9. Juli 2002 besser geeignet ist als die Verfügung stehenden Quellen lassen keine doch nicht immer zuverlässige Untersuchung Aussage darüber zu, ob die Deutschen dar- von Jan T. Gross. Bemerkenswert ist, dass über hinaus die Opfer zum Ort des Mas- das Geschehen in Jedwabne nach einem be- senmordes begleiteten und an der Scheune stimmten Schema verlief, das sowohl das anwesend waren. Die Zeugenaussagen dar- Quälen der Opfer, deren Erniedrigung und über widersprechen einander. 98 Jerzy Maćków

Eine Gruppe der auf dem Marktplatz ver- Das nur unvollständige Ausmaß der Exhu- sammelten jüdischen Männer wurde dazu mierungsarbeiten verhindert die Verifizie- gezwungen, das außerhalb des Marktes, rung der Hypothese über die Existenz noch nämlich … an der Straße Richtung [des eines weiteren bzw. weiterer Massengräber Dorfes] Wizna stehende Lenin-Denkmal zu auf dem jüdischen Friedhof, weshalb die zerstören. Danach, gegen 10.00 Uhr, wurde genaue Festlegung, wie viele Juden am Tag dieser Gruppe befohlen, einen Teil der zer- dieser Ereignisse in Jedwabne umgebracht störten Lenin-Büste auf einer Holzliege zum worden sind, unmöglich ist. … Marktplatz und anschließend zur Scheune zu tragen. Diese Gruppe dürfte 40 bis Die Anzahl von 1.600 Opfern scheint jeden- 50 Menschen gezählt haben, darunter waren falls sehr wenig wahrscheinlich. … Am der lokale Rabbi und der Beschneider. Wie Tag des Verbrechens hielten sich zweifellos diese Opfer anschließend umgebracht worden auch Juden u. a. aus Wizna und Kolno in sind, ist unbekannt, ihre Leichen wurden in Jedwabne auf, wo sie Schutz suchten. einem in der Scheune ausgehobenen Loch Nichtsdestotrotz überlebte eine bestimmte begraben. Die Teile der zerstörten Lenin- Gruppe der Juden. Es kann angenommen Büste wurden ins Grab auf die Körper der werden, dass es zumindest einige Dutzend Umgebrachten geworfen. Juden gab, die nach dem Mord bis zum Ende 1942 in der Stadt bzw. in ihrer Umgebung Die andere, größere Gruppe der Juden wur- lebten. Danach haben die Deutschen die de laut einer Zeugenaussage nach einer kleinen Ghettos durch Zusammenführung Stunde bzw. nach anderthalb Stunden vom aufgelöst. … Markt weggeführt. Ein anderer Zeuge sagte wiederum aus, dass dies erst am späten Was die Teilnahme der Polen an diesem Nachmittag geschah. Diese zur Scheune ge- Verbrechen angeht, so muss angenommen führte Gruppe zählte einige hundert Men- werden, dass sie bei dessen Durchführung schen, wahrscheinlich um 300. Darauf lässt die Schlüsselrolle spielten. Es darf wieder- jedenfalls die Zahl der … entdeckten Lei- um angenommen werden, dass die Deut- chen schließen, die ein archäologisch-an- schen die Polen zum Mord angestiftet hat- thropologisches Team gefunden hat, das mit ten. Die passive Anwesenheit der deutschen der Exhumierung beauftragt wurde. Polizei in Jedwabne sowie der anderen uni- formierten Deutschen – vorausgesetzt, dass Diese größere Gruppe setzte sich aus Op- sie am Ereignisort tatsächlich gewesen fern beider Geschlechter, unterschiedlichen waren – wäre jedenfalls mit ihrem Einver- Alters, darunter auch Kindern und Säuglin- ständnis für das Verbrechen gegen die jüdi- gen, zusammen. Diese Menschen wurden in schen Stadtbewohner gleichzusetzen gewe- eine Bronisław Śleszyński gehörende Holz- sen. In diesem Zusammenhang muss unter- scheune geführt, die mit einem Strohdach ge- strichen werden, dass es gerechtfertigt ist, deckt war. Nach der Schließung des Gebäu- den Deutschen – im weiten Sinne – die recht- des wurde dieses in Brand gesetzt, vermutlich liche und kriminelle Mitschuld zuzuweisen. mit Kerosin, das aus dem früheren sowjeti- schen Warenhaus herangebracht wurde. Konkret wurde die Mordtat von den polni- schen Bewohnern Jedwabnes und der anlie- Es soll zudem klargestellt werden, dass noch genden Ortschaften begangen – es handelte vor der Räumung des Marktes vereinzelt sich dabei schätzungsweise um zumindest Morde an Juden begangen worden waren. 40 Menschen. Auf der Grundlage des im Das erwähnt unter anderem das Opfer Zusammenhang der Strafverfahren von 1949 Awigdor Kochaw, der damals auf dem und 1953 gesammelten Archivmaterials wie Marktplatz anwesend war. auch auf der Basis der anderen Beweise, die Jedwabne und die dunklen Seiten der polnischen Geschichte 99

im Laufe der gegenwärtigen Untersuchung nicht leicht, die im Titel dieses Abschnitts verifiziert werden konnten, muss angenom- gestellte Frage eindeutig mit „ja“ zu beant- men werden, dass diese Menschen am Mord worten. aktiv beteiligt und mit Stöcken, Balken so- wie anderen Geräten bewaffnet waren. Zuallererst muss anerkannt werden, dass sie in Bezug auf Ostdeutschland keinen Sinn Die Beweislage ermöglicht keine Antwort hat, und zwar sowohl für die DDR-Zeit als auf die Frage, weshalb sich die Mehrheit auch für die Ära nach der Wiedervereini- der Jedwabne-Bewohner während des Ver- gung. Denn vieles weist darauf hin, dass eine brechens passiv verhielt. Im Besonderen Debatte der Ostdeutschen über die Verbre- kann die Frage nicht beantwortet werden, chen ihrer Groß- und Urgroßväter sowie ob diese Passivität der Billigung des Mor- den Umgang mit ihnen auf dem Gebiet der des oder der Angst entsprang, die durch die ehemaligen DDR niemals zustande kom- Brutalität der Verbrecher verursacht worden men wird. Es scheint für die Ostdeutschen war. viel einfacher, sich selbst als die in der Nachkriegszeit „zu kurz gekommenen Deut- Nachdem das Verbrechen vollzogen wor- schen“ zu bemitleiden. Aus Sorge um die den war, wurde das Eigentum der Opfer kollektive Befindlichkeit ihrer ostdeutschen geplündert. Weder das Ausmaß der Plünde- Landsleute heraus fordern die Westdeut- rung noch die Zahl der daran beteiligten schen eine solche Diskussion in den neuen Menschen konnten genau bestimmt wer- Bundesländern nicht. den.“ Demgegenüber steht es außer Frage, dass auf institutioneller und fachlich-historischer 4. Standpunkt zur Frage: Heißt von Ebene die westdeutsche Aufarbeitung der Deutschland lernen „Aufarbeitung nationalsozialistischen Vergangenheit für der Geschichte“ lernen? die Polen durchaus als Vorbild gelten soll. Die Zahl der Institutionen und Projekte Die Antwort auf diese Frage erfordert es, sowie die Qualität der durch die westdeut- zunächst zu bestimmen, was das erwünschte schen Historiker erbrachten Forschungen Ergebnis eines solchen Aufarbeitens sein zum Nationalsozialismus lassen mittlerweile sollte. Angesichts dessen, dass die juristisch den beschämend späten Beginn der publi- nicht belangten polnischen Schergen aus zistischen und wissenschaftlichen Ausein- dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr am Le- andersetzung damit25 in Polen lediglich als ben sind, können die Polen kaum aus der eine Schwäche erscheinen. bekanntlich umstrittenen deutschen Erfah- rung in den Sachen der juristischen Aufar- Schlechter verhält es sich allerdings selbst beitung der verbrecherischen Vergangenheit in den alten Bundesländern mit den Ergeb- lernen. nissen der Geschichtsaufarbeitung außerhalb der Forschungsenklaven. Alle redlichen Be- Dagegen scheint es möglich, in Polen die mühungen im schulischen Geschichtsunter- Wahrheit über die polnischen Verbrechen richt ändern wenig daran, dass die deutsche an den Juden zu verbreiten und Empathie Nation über das Dritte Reich nur ein selek- für die Opfer zu empfinden. Damit wird an- tives Wissen hat. Mittlerweile ist sogar das gesichts der Schwere der Untaten die Latte Wissen über den Holocaust sehr oberfläch- zwar nicht besonders hoch gehängt, aber es lich, während die Verbrechen an Sinti und kann heutzutage auch nicht mehr erwartet Roma sowie an den slawischen Völkern so werden. Selbst wenn man jedoch nur einen richtig niemals den Eingang in das histori- solchen realistischen Anspruch erhebt, fällt es sche Bewusstsein der Deutschen gefunden 100 Jerzy Maćków

haben. Es kommt hinzu, dass diese Bevöl- Vertriebene und Spätaussiedler genannt) kerungsgruppen nach wie vor zu denjenigen und der Opfer jener Nationen gedacht wer- gehören, die in der deutschen Nation auf die den, zu denen die Deutschen den Krieg ge- geringste Gegenliebe stoßen. bracht hatten. In solch einem Klima können bekanntlich ab und zu sogar die Täter öf- Auch hinsichtlich der Beschäftigung mit den fentlich zu „Widerstandskämpfern“ erhoben Tätern zeigt sich die deutsche Geschichts- werden, wodurch dem nationalen Kollektiv aufarbeitung selektiv. Das seit mehreren hinsichtlich der Moral und der kognitiven Jahren deutlich zurückgehende öffentliche Fähigkeiten seiner Angehörigen Schaden Interesse für das Dritte Reich ist ohnehin zugefügt werden kann. auf Hitler und seine engsten Mitarbeiter fixiert. Dagegen konnte eine recht über- Obwohl auch vielen Polen nicht zuletzt in schaubare öffentliche Diskussion über die der Jedwabne-Angelegenheit der Wunsch „gewöhnlichen Deutschen“ und ihre Beteili- eigen ist, sich vor der eigenen Verantwor- gung an den Verbrechen des Dritten Reiches tung für die polnischen Verbrechen davon- nur durch ein aus dem Ausland kommendes zustehlen, scheint die polnische Nation den- Buch angestoßen werden.26 Wäre es tatsäch- noch von solch einem Schaden geschützt zu lich erstrebenswert, wenn sich die Polen sein. Denn wenn die Polen zwischen den darauf beschränken würden, die Pogrome Jedwabne-Mördern und etwa den polnischen ihrer Landsleute gegen die Juden zu bekla- Juden-Rettern nicht unmissverständlich gen und etwa die dunklen Seiten der Aus- unterscheiden würden, müssten sie das Ge- siedlung der Deutschen bzw. die Umsied- denken ihrer zahlreichen in jeglicher Hin- lung der Ukrainer nach 1945 ausblendeten? sicht unschuldigen und oft heldenhaften Kriegsopfer aufgeben. Sie müssten sich Gegen das pauschale Lob der deutschen dann gleich auch von der Tradition des Geschichtsaufarbeitung spricht zudem die polnischen Staates verabschieden, der im in dem offiziellen bundesdeutschen Trauer- Zweiten Weltkrieg – verkörpert durch die Prozedere seit Jahrzehnten erkennbare Ten- Exilregierung und den ihr unterstellten Un- denz, die als „Abstrahierung des Bösen“ tergrund im Lande28 – sich sowohl gegen bezeichnet werden könnte. Sieht man von die antijüdischen Pogrome wie auch gegen Holocaust und (erst mit jahrzehntelanger die Kollaboration mit beiden Okkupanten Verspätung) Sinti und Roma ab, so werden wandte. Sie würden dann nicht nach ge- recht selten die konkret von den Deutschen schichtlicher Wahrheit suchen, sondern ihre Umgebrachten oder Drangsalierten genannt, Geschichte leugnen. sondern vielmehr allgemein „die Opfer“ bedauert.27 Auf diesem Wege kann in einem Aber so einfach, wie die meisten Polen bis Atemzug der deutschen „Vertriebenen“ (so 2000 dachten, ist diese Geschichte dann werden mittlerweile allesamt Flüchtlinge, auch wieder nicht. Jedwabne und die dunklen Seiten der polnischen Geschichte 101

Anmerkungen

1 Siehe Szarota, Tomasz: Mord w Jedwabnem, vertieften Wissensstandes und musste darüber Udział ludności miejscowej w Holokauście, in: hinaus die im Kommunismus typischen Umwe- Karuzela na Placu Krasińskich. Studia i szkice ge nehmen, um die Problematik der polnischen z lat wojny i okupacji, hrsg. von Dems., War- Täter des Pogroms anzudeuten. Alles in allem szawa 2008. wurde die Brisanz seines Aufsatzes u. d. T. „Eksterminacja ludności żydowskiej w okręgu 2 Wenn in diesem Aufsatz von Polen und Juden białostockim“, der in „Biuletyn Żydowskiego die Rede ist, ist die Nationszugehörigkeit Instytutu Historycznego“ 50/1966 veröffentlicht ethnisch gemeint. Selbstverständlich waren die wurde, nicht erkannt. Juden von Jedwabne (und überhaupt innerhalb der Grenzen des polnischen Staates) polnische 11 Siehe dazu Maćków, Jerzy: Die Krise des Tota- Staatsbürger und haben sich häufig als Polen litarismus in Polen. Die Totalitarismus-Theorie bzw. jüdische Polen verstanden. als Analyse-Konzept des sowjetsozialistischen 3 Staates. Eine Analyse der System- und Struk- Dazu kritisch Beauvois, Daniel: Trójkąt turkrise der Volksrepublik Polen in den siebzi- ukraiński. Szlachta, carat i lud na Wołyniu, Po- ger und achtziger Jahren, Münster / Hamburg dolu i Kijowszczyźnie 1793-1914, Lublin 2005, 1992, S. 145 ff. S. 12 ff. 12 4 Im Volksmund: „Die Regierenden tun so, als Machcewicz, Paweł: Rund um Jedwabne – würden sie regieren, die Regierten wiederum Neue Forschungsergebnisse polnischer Histori- tun so, als würden sie arbeiten.“ ker, in: Der Beginn der Vernichtung. Zum Mord an den Juden in Jedwabne und Umgebung im 13 Gross, Jan Tomasz: Sąsiedzi. Historia zagłady Sommer 1941. Neue Forschungsergebnisse żydowskiego miasteczka, Sejny 2000. polnischer Historiker, herausgegeben von Paweł 14 „Kontakty“, 10.7.1988. Machcewicz, Edmund Dmitrów und Tomasz Szarota, Osnabrück 2004, S. 19-94, 53 f. 15 Dazu Machcewicz: Rund um Jedwabne, S. 49 ff. 5 Szarota, Tomasz: Mord in Jedwabne. Doku- 16 Exemplarisch seien nur genannt: Dmitrów / mente, Publikationen und Interpretationen aus Machcewicz / Szarota: Der Beginn der Vernich- den Jahren 1941-2000. Ein Kalendarium, in: tung; Polonsky, Antony / Michlic, Joanna B.: ebd., S. 209-252, S. 213. The Neighbors Respond: The Controversy over the Jedwabne Massacre in Poland, Princeton 6 Machcewicz: Rund um Jedwabne, S. 51. 2004, htttp://books.google.de/books?id=AfeGB 7 Dmitrów, Edmund: Die Einsatzgruppen der 5yz0ooC&pg=PA47&lpg=PA47&dq, Stand: deutschen Sicherheitspolizei und des Sicher- 12.12.2004. heitsdienstes zu Beginn der Judenvernichtung 17 Siehe die von „Deutsche-Polnische Informa- im Gebiet von Łomża i Białystok im Sommer tionsbulletin TRANSODRA“ 23/2001 zusam- 1914, in: Der Beginn der Vernichtung. Zum mengestellte Dokumentation von 53 Texten Mord an den Juden in Jedwabne und Umge- aus polnischen Zeitungen („Dziennik Bałtycki“, bung im Sommer 1941. Neue Forschungser- „Gazeta Polska“, „Gazeta Pomorska“, „Gazeta gebnisse polnischer Historiker, herausgegeben Wyborcza“, „Głos Szczeciński“, „Kontakty“, von Paweł Machcewicz, Edmund Dmitrów und „Kurier Poranny“, „Polityka“, „Res Publica Tomasz Szarota, Osnabrück 2004, S. 95-208, Nowa“, „Rzeczpospolita“, „Tygodnik Pows- S. 185 ff. zechny“, „Tygodnik Solidarność“, „Więź“, 8 Ebd., S. 148 ff. „Wprost“, „ Znak“, „Życie“), http://www.dpg- 9 brandenburg.de/text/nr23.htm, Stand: 5.12.2010; Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammen- Siehe zudem: Jedwabne. Der polnische Histori- hang die komparative Studie von Szarota, To- kerstreit und die Frage von Schuld und Verant- masz: U progu zagłady. Zajścia antyżydowskie wortung, in: „Osteuropa-Archiv“ vom Januar i pogromy w okupowanej Europie. Warszawa, 2001, A228-A249. Auch das hier bereits oft Paryż, Amsterdam, Antwerpia, Kowno, Wars- zitierte Buch von Szarota / Dmitrów / Machce- zawa 2000. wicz muss in diesem Zusammenhang wieder 10 Dazu Szarota: Mord in Jedwabne. Zwar hat der erwähnt werden. Historiker Szymon Datner bereits im Jahre 18 Polonsky / Mychlic: The Neighbors Respond. 1966 einen Artikel über den Jedwabne-Mord veröffentlichen können, doch tat er das auf der 19 Karl Jaspers: Die Schuldfrage, Heidelberg / Zürich Grundlage seines damaligen, notgedrungen nicht 1946. 102 Jerzy Maćków

20 Bei Exhumierungsarbeiten im Mai / Juni 2001 25 Es sei daran erinnert, dass erst die Studenten- hielt man sich an die Anweisung des Rabbis bewegung und die – nach den Worten des His- von Warschau und Łódź, die Knochen der torikers Saul Friedländer – „extrem kitschige“ Ermordeten nicht zu verlegen. Deshalb konnte amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ in der weder die genaue Opferzahl festgelegt noch die Bundesrepublik das Interesse der Öffentlichkeit Frage beantwortet werden, wie alle Opfer um- am Holocaust geweckt hat. Siehe das Inter- gekommen sind. view mit Friedländer, in: Süddeutsche Zeitung, 10.1.2011. 21 Zit. nach Jasiewicz, Krzysztof: Unerforschte 26 Es geht um mediale Reaktionen auf das in Nachbarn, „Gazeta Wyborcza“, 9./10.12.2000, Deutschland sehr umstrittene Buch von Gold- in: TRANSODRA 23/2001; http://www.dpg- hagen, Daniel Jonah: Hitler‟s Willing Executio- brandenburg.de/nr23/unerforschte_nachbarn_ ners. Ordinary Germans and , jasiewicz.pdf, Stand: 10.12.2010. New York 1996. 27 22 Beispielhaft dafür Nowak, Jerzy Robert: Jews Die Neue Wache in Berlin stellt (seit 1993) ein Murdering . Jedwabne and the atrocities in anschauliches Beispiel für diese Art Geschichts- East Poland 1939-1941 (part II), „Głos“ 8 (886), politik dar, die offensichtlich aller Menschen http://www.naszawitryna.pl/jedwabne_en_16.ht gedenken will, die – so ist der dort angebrach- ml, Stand: 15.1.2011; Ders.: 100 Falsehoods of ten Gedenktafel zu entnehmen – wegen „des J. T. Gross (1-3), „Niedziela – Tygodnik Ka- Krieges“, „der Folgen des Krieges“, „der Ge- tolicki“ vom 27.2.2001, http://www.naszawit waltherrschaft“ und „der totalitären Diktatur“ ryna.pl/jedwabne_en_55.html, Stand: 15.1.2011. gelitten haben bzw. umgekommen sind. Dabei wird eine religiös anklingende Diktion bemüht, 23 Machcewicz: Rund um Jedwabne, S. 68 ff. obwohl inhaltlich jeglicher Bezug zur Trans- zendenz penibel vermieden wird. Das auf der 24 „Jedwabne”: Final Findings of Poland's Institute Gedenktafel vorzufindende „Gebet“ mutet daher of National Memory, http://info-poland.buffalo. aufgesetzt und kitschig an. edu/classroom/J/final.html, 14.11.2010. Über- 28 Wenngleich dieser Untergrund selbst von Anti- setzt vom Autor dieses Artikels. semitismus nicht ganz frei war.

Die polnische Exilarmee im Westen und die Besatzung des Emslandes

Jan Rydel

Die polnische Exilarmee entstand ab September 1939 in Frankreich nach der Besetzung Polens durch die deutschen und sowjetischen Truppen. Nach der Niederlage Frankreichs wurde sie in Großbritannien durch die Exil-Regierung der Republik Polen organisiert. Die Soldaten dieser Armee kämpften u. a. in Narvik und Tobruk, bei Monte Cassino, in der Normandie und später in Belgien, Holland und Deutschland. Ein Teil der polnischen Armee wurde nach dem Krieg bis 1947 als Besatzungstruppe im Emsland eingesetzt.

Die polnische Exilarmee, die meistens als zedenzfälle, wie etwa den der belgischen Polnische Streitkräfte (Polish Armed Forces) Regierung und der belgischen Armee im im Westen bezeichnet wird, spielte eine gro- Ersten Weltkrieg. Daher stellte eine polni- ße Rolle in der Gesamtkonstruktion der polni- sche Exilregierung nichts Außergewöhnli- schen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. ches dar. Sie wurde auch in der ganzen Welt anerkannt. Es war also die legitime und inter- national anerkannte Regierung der Republik 1. Politischer Rahmen Polen, die über eine eigene bewaffnete Macht verfügte. Die Stationierung und der Einsatz Ich möchte meinen Beitrag mit einer Hand- dieser Armee außerhalb Polens sowie deren voll Fakten über diese Armee beginnen, weil Finanzierung und Logistik wurden in ent- die meisten Deutschen wenig über sie wis- sprechenden internationalen Abkommen ge- sen, wie auch über den polnischen Beitrag regelt. Interessanterweise vereinbarten die zu der Befreiung Europas von dem Natio- polnischen und französischen Generalstabs- nalsozialismus. Die Polnischen Streitkräfte chefs mehrere Monate vor Kriegsausbruch, unterstanden der Regierung der Republik dass die in Frankreich lebenden polnischen Polen im Exil, wobei der Begriff „im Exil“ Staatsbürger im Kriegsfall durch polnische lediglich eine Tatsachenbeschreibung ist und Behörden vor Ort mobilisiert werden und nicht ein Teil der Bezeichnung dieser mit ihrer Hilfe eine Truppe in Stärke von Regierung, weil sie staatsrechtlich ganz fest 25.000 Mann in Frankreich aufgestellt wer- in dem Rechtssystem der polnischen Verfas- den sollte. Eine Art Exiltruppe wurde also sung vom Jahre 1935 verankert war. Der pol- geplant, ohne dass man den katastrophalen nische Präsident Ignacy Mościcki ernannte Ausgang des Feldzuges im September 1939 am 30. September 1939, als er in Rumänien hätte erahnen können. Auf Grund dieses Ab- interniert wurde, gemäß der polnischen Ver- kommens begannen die polnischen Offiziere fassung seinen Nachfolger. Neuer Präsident im Militärlager Coëtquidan bei Rennes in Polens wurde Władysław Raczkiewicz, der – der Bretagne, wo sich heute die berühmte ebenfalls im Einklang mit der Verfassung – französische Militärakademie Saint Cyr be- General Władysław Sikorski, einen führenden findet, schon am 12. September 1939, das liberalen Politiker Polens, zum Premiermi- heißt noch vor der Kapitulation Warschaus, nister ernannte. Die europäische Geschichte mit der Aufstellung neuer polnischer Ein- kannte übrigens schon entsprechende Prä- heiten. 104 Jan Rydel

In Frankreich und später in Großbritannien Armee war. Das Offizierskorps und ein – war die Kompetenzteilung zwischen den nicht sehr großer – Teil der Mannschaften, Polen und dem Gastland ähnlich. Dem polni- insgesamt 38.000 Personen, kamen aus schen Ministerium für Militärische Angele- Polen in den Westen direkt nach dem verlo- genheiten (Ministerstwo Spraw Wojskowych) renen Feldzug gegen Deutschland. Ein Teil und dem Oberkommando unterstanden die davon überschritt die polnisch-rumänische Fragen des Avancements und der Stellen- und polnisch-ungarische Grenze in geschlos- besetzung, polnisch waren die Kommando- senen Formationen am 17. September 1939 sprache, das Militärzeremoniell und die und in den darauffolgenden Tagen, also nach Symbole, die Reglements für den inneren dem Angriff der Sowjetunion auf Polen, als Dienst und die Militärgerichtsbarkeit. Fran- die Fortsetzung weiterer militärischer Ope- zösisch bzw. britisch waren die Reglements rationen in Polen jeden Sinn verloren hatte für den Felddienst. Im Falle des Kriegsein- und nur noch die durch die deutsche Wehr- satzes unterstanden die polnischen Truppen macht eingekesselten Verbände Widerstand dem französischen oder dem britischen Ober- leisteten. Danach folgte eine Welle der ille- befehl, wobei die polnischen Heerestruppen galen Grenzübertritte derjenigen Soldaten, in eigenen Großverbänden eingesetzt wur- die der deutschen oder sowjetischen Gefan- den. Die kleinsten dieser Verbände, die im genschaft entkommen konnten oder noch Rahmen der fremden operativen Verbände nicht mobilisiert wurden. Diese Fluchtbe- zum Einsatz kamen, waren Brigaden. Eine wegung hielt im Grunde bis zur Kapitulation Ausnahme waren naturgemäß die Spezial- Frankreichs im Juni 1940 an. Die polnischen einheiten (die Kommandos) des Heeres. Trotz Soldaten wurden in Rumänien und Ungarn ziemlich klarer Kompetenzteilung mussten interniert, flüchteten jedoch massenweise viele Entscheidungen einvernehmlich ge- über Jugoslawien und Italien oder über das troffen werden, wie z. B. die Entscheidun- Schwarze Meer, die Türkei und Syrien nach gen, welche Art von Truppen die Polen auf- Frankreich. Die rumänischen, ungarischen, stellen sollen bzw. dürfen. Entscheidungen jugoslawischen und sogar italienischen Be- von dieser Bedeutung mussten die Bedürf- hörden waren nicht sonderlich bemüht, diese nisse der Armee des Gastlandes und die Bewegung zu unterbinden, sehr zum Ärger- polnischen Pläne und Möglichkeiten be- nis Berlins. Ein weitaus kleinerer Strom der rücksichtigen. Die Kooperation mit den Flüchtlinge erreichte Frankreich bzw. Eng- Briten war wesentlich leichter als mit den land über Litauen und Lettland, von wo aus Franzosen, da diese überzeugt waren, dass es weiter über Schweden gen Westen ging. die Polen militärisch wenig taugten und ihre Erfahrungen aus dem ersten Feldzug des Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass die neuen Weltkrieges unbedeutend seien. Bei Entscheidung für die Fortsetzung des Kamp- den Briten gab es viel seltener diese Art von fes im Exil gegen die Feinde des Vaterlan- Vorbehalten, und die weitgehende und lang- des sehr eng mit der polnischen politischen anhaltende Interessengemeinschaft erleich- und militärischen Tradition verbunden war. terte in den meisten (aber nicht in allen) Schließlich war gleich nach den Teilungen Fällen, einen Kompromiss zu finden. Polens im 18. Jahrhundert an der Seite der Französischen Republik die erste polnische Exilarmee entstanden, von der sogar die 2. Herkunft der Soldaten Strophen der polnischen Nationalhymne berichten. So galt die Emigration aus dem Die Herkunft der Soldaten der polnischen deutsch und sowjetisch besetzten Polen in Exilarmee war sehr vielfältig. Man muss sie den ersten Monaten nach der Niederlage im aber kennen, weil sie ein wichtiger Faktor September 1939 als die höchste Form der für das ideelle und politische Profil dieser Erfüllung der patriotischen Pflicht. Damals Die polnische Exilarmee im Westen und die Besatzung des Emslandes 105

ahnte man noch nicht, welch gewaltigen Auf- pen über das Kaspische Meer in den Iran gaben die polnischen Patrioten eben im be- fand zwischen März und August 1942 statt. setzten Polen gegenüberstehen und welche Auf diesem Wege verließen 114.000 Polen, Opfer von ihnen verlangt werden. darunter 84.000 Soldaten, die Sowjetunion. Im Iran wurden sie aufgepäppelt und erhiel- Die andere Gruppe der Soldaten dieser ten ärztliche Hilfe. Danach wurde die polni- Armee bildeten die polnischen Staatsbürger sche Zivilbevölkerung auf Flüchtlingslager aus Frankreich, Belgien und Großbritannien, zwischen Indien und Rhodesien verteilt, und die mobilisiert wurden, sowie die Freiwilli- die Soldaten wurden in den Irak verlegt, wo gen polnischer Abstammung mit französi- eine Neuorganisation der polnischen Trup- scher, US-amerikanischer, kanadischer oder pen vorgenommen wurde. Gleichzeitig ver- auch brasilianischer Staatsbürgerschaft. Es sahen sie einen eher harmlosen Besatzungs- waren insgesamt 46.000 Mann für die Exil- dienst in den Nordprovinzen des Landes. armee. In den ersten zweieinhalb Jahren des Ein kleiner Teil der polnischen Soldaten aus Krieges konnte die polnische Regierung im dem Irak (etwa 12.000), darunter vor allem Exil auf keine anderen Menschenreserven Mitglieder der polnischen Luftwaffe und zurückgreifen. Erst ab März 1942 eröffnete der Marine, wurde nach England verlegt, sich eine neue, ferne Quelle der Ergänzun- aus dem Rest – etwa 47.000 frontfähige gen. Es war die polnische Armee in der Soldaten – wurde im Irak und später in Sowjetunion des später berühmten Generals Palästina und in Ägypten das 2. Polnische Władysław Anders. Mit der Aufstellung Korps formiert. Dieses Korps stand unter dieser Armee begann man schon im August dem Kommando von General Anders und 1941, also wenige Wochen nach dem deut- wurde zur Jahreswende 1943/1944 an die schen Angriff auf die UdSSR. Dies geschah italienische Front verlegt, wo es bis zum aufgrund entsprechender Vereinbarungen Ende des Krieges kämpfte. zwischen General Sikorski und Josef Stalin. Die polnische Armee unterstand der polni- Die nächste Kategorie der Ergänzungen der schen Regierung in London. Sie wurde zu- polnischen Exilarmee waren die Soldaten der erst im Raum Orenburg, später in Kasachstan, deutschen Wehrmacht. Zum Dienst in der Usbekistan und Kirgistan aufgebaut. Das deutschen Wehrmacht wurden etwa 250.000 politische Klima um diese Truppen war fast ethnische Polen herangezogen, die selbst von Anfang an schlecht. Die Sowjets be- oder deren Eltern die trachteten die von ihnen politisch unabhän- meist kurz nach der Eingliederung der west- gige Armee zunehmend skeptisch und waren lichen polnischen Gebiete in das Deutsche lediglich bereit, einzelne polnische Divisio- Reich unterzeichnet hatten. Es ist zu betonen, nen an die Front zu schicken. Genau das aber dass in Westpreußen und Oberschlesien nur lehnten die Polen ab, da sie sich nicht sinn- die polnischen Einwohner geduldet wurden, los im Kampf für den Sowjetstaat, der kurz die diesen Schritt machten. Sogar die polni- zuvor noch ihr beispielloser Peiniger gewe- schen Bischöfe in Oberschlesien forderten sen war, in isoliert kämpfenden Einheiten ihre polnischen Gläubigen auf, der Deutschen aufreiben lassen wollten. Aus diesem Grund Volksliste beizutreten. Diese massenhafte erhielten die Polen von den Sowjets kaum Eindeutschung hatte zur Folge, dass tausen- Waffen, und ihre Lebensmittelrationen wur- de Personen polnischer Herkunft bald in der den halbiert. In dieser Situation hießen beide Deutschen Wehrmacht dienen mussten. Ein Seiten den britischen Vorschlag, die polni- Teil von ihnen tendierte vielleicht tatsächlich schen Truppen aus der Sowjetunion in den zum Deutschtum, ein anderer Teil war in- Mittleren Osten zu transferieren und unter different, was die nationale Identität betrifft, britisches Kommando zu stellen, willkom- ein dritter Teil hatte jedoch eine klare und men. Die Evakuation der polnischen Trup- ausgeprägte polnische Identität. Es gab in 106 Jan Rydel

der Wehrmacht sogar Reserveoffiziere und reich-Feldzug waren zwei polnische Infan- Reserveunteroffiziere der polnischen Armee, teriedivisionen und eine Panzerbrigade im die als einfache Soldaten dienten. Diese Einsatz. Vor dem Hintergrund der allge- Männer fühlten sich dem Deutschen Reich meinen Auflösung der französischen Armee in keiner Weise verbunden und wechselten kämpften die Polen tapfer und hartnäckig. die Uniform, sobald sie in alliierte Kriegs- Ihr Beitrag ging aber in der beispiellosen gefangenschaft gerieten und die Möglich- Niederlage Frankreichs unter. Eine polnische keit bekamen, in der polnischen Exilarmee Division sah sich am 20. Juni 1940 nach zu dienen. Es gab auch unzählige Desertio- langer Verteidigung gezwungen, die franzö- nen von Polen aus der Wehrmacht mit dem sisch-schweizerische Grenze zu übertreten Ziel, in die Polnischen Streitkräfte einzutre- und sich internieren zu lassen. Die anderen ten. Die erste große Gruppe dieser Ergän- polnischen Einheiten wurden auf Befehl zungen besonderer Art erreichte die polni- ihrer Kommandeure aufgelöst. Die Soldaten schen Truppen nach der Kapitulation des bekamen die Anweisung, sich einzeln oder Afrika-Korps im Mai 1943. Die polnischen in kleinen Gruppen nach England bzw. in Offiziere waren mit der Ausbildung, Diszip- das unbesetzte Frankreich durchzuschlagen. lin und Zuverlässigkeit dieser Soldaten mit Diese Art von Evakuation war nicht sehr er- Wehrmachterfahrung sehr zufrieden. Mit der folgreich, denn aus der polnischen Armee in Zeit wurden die „Übertritte“ aus der Deut- Frankreich, die etwas über 80.000 Soldaten schen Wehrmacht in die polnische Armee zählte, konnte General Sikorski in England derart zur Routine, dass die polnischen im Juli 1940 lediglich etwa 30.000 Soldaten Fronttruppen mehrere Sammlungen von not- versammeln. Übrigens bildeten die Polen bis wendigen Dokumenten in blanco mit sich zur Ankunft der Amerikaner die mit großem führten, um die Deserteure nach kürzester Abstand stärksten nichtbritischen Truppen Befragung in die eigenen Reihen aufnehmen an der Seite der Briten. zu können. Die ehemaligen Wehrmachtssol- daten erhielten immer eine neue Identität, Im Spätsommer und Herbst 1940 schlug die damit sie – falls sie erneut in deutsche Hände Stunde der polnischen Jagdflieger, die an der gerieten – ihre Familien in den besetzten Battle of Britain teilnahmen. Die schon in Gebieten nicht gefährdeten. Insgesamt beka- Polen sehr gut trainierten und hoch moti- men die Polnischen Streitkräfte auf diesem vierten polnischen Kampfpiloten konnten Wege 89.000 Soldaten. sich in England, nachdem sie von den Bri- ten mit modernen Jagdflugzeugen ausgerüs- tet worden waren, sozusagen erst richtig 3. Kriegsschauplätze und entfalten. In den kritischen Tagen der Battle Schlachtfelder of Britain flogen Polen 15 bis 20 Prozent aller Kampfeinsätze. Die Abschussquoten waren Die Liste der Kämpfe, an denen die Soldaten bei den Polen im Schnitt zweimal besser als der Polnischen Streitkräfte im Exil teilnah- bei den Briten. Aus diesem Grund darf man men, ist lang und enthält sehr viele bekannte sich nicht wundern, wenn im Film „Battle Namen. Der erste Einsatzort des Heeres war of Britain“ polnische Szenen und Dialoge Narvik in Norwegen im Mai und Juni 1940, zu sehen bzw. zu hören sind. Seit dieser wo im Rahmen des alliierten Expeditions- denkwürdigen Schlacht rissen sich die Briten korps eine in Frankreich organisierte polni- um die Flieger der Polnischen Luftwaffe. sche Gebirgsbrigade gegen die Gebirgsjäger Insgesamt gab es dann 15 polnische Ge- des Generals Dietl kämpfte. Diese Brigade schwader, darunter viele Bombereinheiten. war ursprünglich für den alliierten Einsatz Eine der Konsequenzen dieses starken polni- in Finnland gegen die Sowjetunion vorge- schen Engagements an der Seite der Royal sehen, zu dem es jedoch nie kam. Im Frank- Air Force ist unter anderem, dass die polni- Die polnische Exilarmee im Westen und die Besatzung des Emslandes 107

schen Flieger ihre Bomben auch über Köln, Palästina und unterstellte sich dem britischen Hamburg, Berlin und Dresden abgeworfen Oberbefehl. Nach dem Einsatz in Nordafrika haben. Sie waren fester Bestandteil auch der wurde die Brigade wieder in Palästina mit Geschichte des Luftkrieges. den aus der Sowjetunion evakuierten Truppen von General Anders vereinigt und zu einer Neben dem Heer und der Luftwaffe stand Karpaten-Infanterie-Division ausgebaut, die die polnische Marine an der Seite der Briten. mit dem Rest des 2. Polnischen Korps bald Unter polnischer Flagge fuhren während nach Italien verlegt wurde. Das Korps be- des Krieges insgesamt 2 leichte Kreuzer, gann seinen Einsatz in Italien mit einem 10 Zerstörer, 5 U-Boote und etwa 30 Kano- richtigen Paukenschlag, und zwar mit der nen- und Schnellboote. Hervorzuheben ist, Eroberung des Klosterberges Monte Cassino dass die drei besten polnischen Zerstörer in einer verlustreichen Schlacht vom 12. bis noch im letzten Augenblick, nämlich am zum 18. Mai 1944. Im Verlauf weiterer 30. August 1939, aus Gdynia nach Großbri- Kämpfe an der Front in Italien haben die tannien geschickt worden waren, um dem Polen unter anderem Ancona und in der sicheren Untergang angesichts der deutschen letzten Kriegsphase Bologna befreit. Übermacht zu entkommen, so dass sie schon am 7. September auf Patrouille in der Nord- see fahren konnten. Im Laufe des Septembers 4. Exilarmee und die politischen brachen auch noch zwei polnische U-Boote Umstände am Ende des Krieges von der Ostsee nach England auf. Die weni- gen leichten Schiffe der polnischen Marine Diese militärischen Erfolge wurden aller- konnten den Gang des Seekrieges natürlich dings schon im Jahre 1943 durch politische nicht beeinflussen, aber sie haben ihren be- Rückschläge überschattet. Am 13. April 1943 scheidenen Anteil daran gut geleistet. Sie gab der deutsche Rundfunk die Entdeckung waren in Norwegen, Dünkirchen und Diep- der Massengräber bei Katyn bekannt, in pe, in Malta, in den Nordatlantik- und Russ- denen die von den Sowjets erschossenen land-Konvois sowie an den Küsten der polnischen Offiziere gefunden wurden. Die Normandie präsent. Als Beispiel für eine in- polnische Zustimmung zu der Untersuchung tensive Kooperation mit der Royal Navy ist der Massengräber durch das Internationale die Tatsache zu erwähnen, dass bei der Ver- Rote Kreuz nahm Stalin am 25. April zum senkung der „Hood“ durch die „Bismarck“, Vorwand, um die Beziehungen zu der pol- auch drei polnische Offiziere an Bord des nischen Regierung im Exil abzubrechen, britischen Schiffes starben. Kurz danach wur- was automatisch die Rückkehr zu dem terri- de die „Bismarck“ am 26. Mai 1941 durch torialen und staatsrechtlichen Status Quo den polnischen Zerstörer „Piorun“ wieder- aus der Vorkriegszeit in Frage stellte. entdeckt und mehrere Stunden verfolgt. Kurz danach, am 4. Juli 1943, war General Von August bis Dezember 1941 verteidigte Władysław Sikorski bei einer Flugzeug- die polnische Karpaten-Schützenbrigade mit katastrophe in Gibraltar umgekommen, und ihren südafrikanischen, australischen und mit ihm wohl auch der einzige polnische neuseeländischen Kollegen die Wüstenfes- Staatsmann, dessen Stimme bei den Ver- tung Tobruk in Nordafrika erfolgreich gegen handlungen über die Nachkriegsordnung in die Truppen des Deutschen Afrika-Korps und Ostmitteleuropa etwas Gewicht gehabt hätte. gegen die Italiener. Die Karpaten-Brigade Als Ende November 1943 die „Großen Drei“ war 1940 in dem französisch regierten Stalin, Roosevelt und Churchill in Teheran Syrien aufgestellt worden. Als jedoch klar vereinbarten, dass nach dem Krieg die sog. wurde, dass Syrien der Vichy-Regierung treu Curzon-Linie die polnische Ostgrenze sein bleiben würde, ging sie in das benachbarte soll, bedeutete dies den Heimatverlust eines 108 Jan Rydel

großen Teils der Exilsoldaten. Nach der Kon- Division am 8. August 1944 im Rahmen des ferenz in Teheran wurde es auch endgültig 2. Kanadischen Korps in der entscheiden- klar, dass die Sowjets Ostmitteleuropa be- den Phase der großen Kesselschlacht in der freien und militärisch beherrschen und so- Normandie in den Kampf geworfen. Ihre mit auch das Sagen in dieser Region haben Aufgabe war es, die letzten Fluchtwege der würden. Seit dieser Zeit wurden nicht nur deutschen Truppen abzuschneiden. Nach den die Polen im Exil, sondern die Polen im anfänglichen Problemen, die durch techni- Allgemeinen als Störfaktor in der alliierten sche Überlegenheit der deutschen Panzer Maschinerie angesehen. Die politischen Ver- verursacht wurden, hat sie diese Aufgabe mit änderungen führten nicht nur zur Verunsiche- Bravour gelöst, allerdings zum Preis sehr rung der Soldaten der Exilarmee, sondern hoher Verluste. Seit diesem Augenblick galt auch zur Verzerrung ihres Bildes in den an- die polnische Panzerdivision als eine der bes- gelsächsischen Medien. Die Exilarmee war ten in der britischen 21. Armeegruppe. Im in den ersten Kriegsjahren ein Liebling die- Laufe des schnellen Vormarsches befreite ser Medien gewesen, jetzt aber schwiegen sie Ypern, Gent, Lokeren, Vororte von Ant- sie über ihre Verdienste und Erfolge. Auch werpen und Axel. In diesen Städten findet die polnischen Pläne zur wesentlichen Ver- man die nach General Maczek und seiner größerung der Streitkräfte wurden durch die Division benannten Straßen und Plätze. britische Politik vor allem unter dem Druck des Foreign Office vereitelt. Die hier skiz- Ein anderer polnischer Verband und ein an- zierte Verschlechterung der Atmosphäre war derer polnischer Kommandeur erhielten erst zuerst nur für die eingeweihten polnischen Jahrzehnte später die ihnen gebührende An- Politiker und Kommandeure erkennbar; ganz erkennung von den Historikern. Es geht hier offensichtlich wurde sie dann im August um die 1. Polnische Fallschirmbrigade. Die- 1944. se Truppe wurde in England aufgestellt mit dem Zweck, einem Aufstand der Heimat- So waren am D-Day in der Normandie armee in Warschau zur Hilfe zu eilen. Dar- Polen nur durch die Luftwaffe und Marine auf wurde sie vorbereitet und dafür trainier- vertreten. Der erste Verband des Heeres lan- ten die Fallschirmspringer. Als der Auf- dete in Frankreich Ende Juli 1944. Es war stand dann am 1. August 1944 tatsächlich die 1. Polnische Panzerdivision unter dem ausbrach, erfuhren sie, dass die Alliierten Kommando von General Stanisław Maczek. sie nicht nach Warschau fliegen lassen kön- Diese Truppe wies eine aus polnischer Sicht nen und wollen. Daraufhin trat die Truppe in einmalige Kontinuität auf. General Stanisław einen Hungerstreik, der nach einiger Zeit auf Maczek kommandierte recht erfolgreich Bitten ihres beliebten Kommandeurs, Gene- den einzigen motorisierten Verband der ral Stanisław Sosabowskis, beendet wurde. polnischen Armee im September 1939, die Die polnische Fallschirmbrigade nahm dann 10. motorisierte Kavalleriebrigade. Er und vom 19. bis zum 26. September 1944 an der seine Offiziere sowie ein beachtlicher Teil Operation Market-Garden (Brücke von Arn- der Mannschaften konnte sich auf Befehl heim!) teil. Sie wurde, trotz der Mahnungen des Oberkommandos über Rumänien nach General Sosabowskis, der vor dem Krieg Do- Frankreich absetzen, wo sie wieder eine zent für Taktik an der polnischen Akademie Panzerbrigade bildeten, die sich erneut an des Generalstabes gewesen war, falsch ein- der Front gut bewährt hat. Nach deren Auf- gesetzt und erlitt schwere Verluste. lösung versammelten sich diese Soldaten in England, wo sie nach langwierigen Verhand- Im Jahre 1945 nahm die 1. Polnische Pan- lungen grünes Licht bekamen, eine Panzer- zerdivision an den Kämpfen in Holland und division zu organisieren. Nach ihrer Landung in Deutschland teil. Sie befreite das Kon- auf dem Kontinent wurde die polnische zentrationslager Westerbork und einige der Die polnische Exilarmee im Westen und die Besatzung des Emslandes 109

Emslandlager. Am Tag der Kapitulation Rechners gehörten die Polen zu den wich- besetzte sie Wilhelmshaven und Jever und tigsten Spezialisten im berühmten Bletchley entwaffnete beachtliche deutsche Truppen, Park. Der besondere Beitrag der Polen zur die in diesem Gebiet versammelt waren. Entzifferung der deutschen Chiffren wurde jedoch jahrzehntelang von den Großmäch- ten geheim gehalten und geleugnet. Auch in 5. Polnischer Beitrag unseren Zeiten gab und gibt es Versuche, ihn als unbedeutend darzustellen, was stets Der Kriegseinsatz der Polnischen Streitkräf- heftige Proteste in Polen hervorruft. Der te im Exil überstieg sowohl zahlenmäßig als Polnische Nachrichtendienst war aber nicht qualitativ den der Niederländern, Belgier, nur auf diesem Gebiet erfolgreich. Einen be- Norwegern, Tschechoslowaken, Griechen sonderen Einfluss bekam die als „Kontinen- und auch der freien Franzosen General de tale Aktion“ bezeichnete geheimdienstliche Gaulles bei weitem überstieg. In Polen spricht Organisation. Sie diente nicht nur der Infor- man gerne und oft davon, dass, wenn man mationsbeschaffung vor allem im politischen die Anzahl der polnischen Soldaten im Wes- und wirtschaftlichen Bereich, sondern auch ten und die, die an der Seite der Sowjets der Beeinflussung der politischen Eliten in gekämpft haben, zusammenrechnet, sich die den besetzten oder in den mit Deutschland Feststellung ergibt, dass die Polen am Kriegs- verbündeten Ländern Europas im Sinne des ende die vierte militärische Kraft in Europa Widerstandes. In einer sehr glaubwürdigen waren. Nach der Sowjetunion, Amerika und deutschen Quelle, nämlich in einem Bericht Großbritannien! unter dem Titel „Militärische und nachrich- tendienstliche Kräfte im Gesamtrahmen Natürlich war die große, aber auf viele der polnischen Widerstandsbewegung“ vom Kriegsschauplätze verteilte Leistung der pol- 4. April 1945 im Bundesarchiv-Militärarchiv, nischen Truppen nicht kriegsentscheidend. Signatur RH2 / 2328, der durch die Leit- Dies ist wahr, allerdings mit einer sehr stelle III Ost für Frontaufklärung vorbereitet wichtigen Ausnahme, die hier noch nicht wurde, kann man zu diesen Leistungen auf thematisiert wurde. Dies betrifft den großen Seite 23 Folgendes lesen: Beitrag des polnischen Nachrichtendienstes. An erster Stelle muss hier natürlich die „Der polnische ND [Nachrichtendienst] ist wahre Meisterleistung in Form der Entziffe- am gesamt-europäischen Widerstande ge- rung des „Enigma“-Codes und des Nach- gen den deutschen Neubau Europas maß- baus der deutschen Chiffriermaschinen durch geblich beteiligt. Erwähnt sei die wohl mit polnische Mathematiker und Techniker er- Recht vermutete Teilnahme des polnischen wähnt werden. Am 25. Juli 1939 erhielten Nachrichtendienstes am Verrat der verbün- im Zentrum der Polnischen Armee für Ra- deten Länder.“ dioaufklärung und Dechiffrierung in Pyry bei Warschau die verblüfften hohen Offi- In der Tat, der Seitenwechsel der deutschen ziere des französischen und des britischen Verbündeten war unter anderem das Resul- Geheimdienstes (darunter Sir Stewart Men- tat der langfristigen polnischen Operation in zies) jeweils eine durch Polen nachgebaute Ungarn, Rumänien und Italien unter dem Enigma und die Dokumentation der mathe- Decknamen „Tripod“. Ein wichtiges Reser- matischen Dechiffrierungsprozeduren. Nach voir der Agenten und eine wichtige Infor- der Niederlage Polens setzten die polnischen mationsquelle waren die weit und dicht ver- „Kryptologen“ in den entsprechenden Zen- streute polnische Diaspora und die polnischen tren der französischen und britischen Ge- Zwangsarbeiter im ganzen Deutschen Reich. heimdienste ihre Arbeit fort. Sogar nach der Die Briten gaben während des Krieges zu, Einführung des von Alan Turing erfundenen dass die Mehrheit ihrer nachrichtendienst- 110 Jan Rydel

lichen Informationen über den deutschen chen Mitteln allein der polnische ND nicht Machtbereich aus polnischen Quellen stamm- ausgeschaltet werden kann. Es gelang wohl, te. Wie wirksam diese Mitarbeiter des ihn stark anzuschlagen, es gelang jedoch Geheimdienstes sein konnten, zeigt die Tat- nicht, ihn zu zerschlagen. Und wo er auch sache, dass die polnischen Zwangsarbeiter noch so stark angeschlagen wurde, hat er sich und Häftlinge in Kooperation mit der Spio- in erstaunlich kurzer Zeit erholt und aus der nagezelle der Heimatarmee in Stettin die Niederlage nur gelernt: seine Methoden sind deutsche Raketenversuchsanstalt in Peene- immer feiner, sein Wesen immer konspirati- münde ausspioniert haben. Ihre Informatio- ver und damit schwerer fassbar geworden.“ nen waren die Grundlage für den verheeren- den Bombenangriff der Alliierten auf diese strategische Einrichtung. Was die Bekämp- 6. Die Exilarmee in der fung der deutschen V-Waffen betrifft, gelang polnischen Erinnerung dem Nachrichtendienst der Heimatarmee noch ein weiterer Coup. Während der Probe- Die Erinnerung an die Polnischen Streit- abschüsse der V-2-Raketen im Generalgou- kräfte im Exil und an ihre Leistungen im vernement gelang es dem Untergrund, ein Krieg war in der polnischen Gesellschaft nur leicht beschädigtes Geschoss zu über- lebhaft und beliebt. Dazu trug sicherlich die nehmen. Es wurde detailliert untersucht und geschickte Propaganda der Exil-Regierung beschrieben, und die wichtigsten Teile wur- bei: So wurde schon während des Krieges den bei einer der wenigen Luftoperationen ein Reportagen-Band über die polnischen der Alliierten nach einer Landung im besetz- Flieger in der Luftschlacht um England un- ten Polen nach England ausgeflogen. Die ter dem Titel „Geschwader 303“ im Unter- hier schon erwähnte Quelle der deutschen grund veröffentlicht. In der Epoche des Sta- Abwehr schreibt über den polnischen Nach- linismus waren alle Soldaten der polnischen richtendienst zusammenfassend auf Seite Exil-Armee höchst suspekt. Viele namhafte 19-20: Offiziere aus dem Exil, darunter auch die Helden der „Battle of Britain“ wurden grau- „Welch weitgehende Verbreitung und nicht sam verfolgt. Es wurden sogar Todesurteile zu unterschätzende Bedeutung der ND nicht verhängt. In dieser Zeit blieb die Erinnerung nur in Polen, sondern in ganz Europa schon an die Exilarmee natürlich tief im Verbor- seit vielen Jahren hatte, geht eindeutig aus genen. Seit dem Jahr 1956 änderte sich dann den während des Polenfeldzuges erbeuteten die Situation. Im Laufe der Jahre erschienen Akten hervor. Ein zahlreiches, trefflich ge- viele Kriegserinnerungen und die ersten wis- schultes und äußerst fähiges Netz der Agen- senschaftlichen Arbeiten über diese Armee. ten umspannte (und umspannt nach wie vor) Das Buch „Geschwader 303“ wurde zur ganz Europa. … Der Wert, den die polni- Schullektüre. Die ehemaligen Soldaten der schen nachrichtendienstlichen Ergebnisse Exilarmee wurden nun von der politischen für England besitzen, kann leicht daran Polizei in Ruhe gelassen, und ab und zu ermessen werden, dass die englischen Sub- erfuhren sie sogar Anerkennung seitens des ventionen an die polnische Exil-Regierung kommunistischen Staates … Trotzdem ge- in London in erster Linie sich auf dieser Ba- hörten sie im Vergleich mit den ehemaligen sis regeln. In seiner Arbeit für England hat Soldaten der Volksarmee zu den Kriegsteil- der polnische ND jedoch niemals verges- nehmern zweiter Klasse. Bei dem kritisch sen, dass er eigentlich polnischer ND ist.“ denkenden Teil der Gesellschaft, der der kommunistischen Propaganda nicht alles Und weiter auf Seite 22 kann man lesen: abkaufte – und dieser Teil der Gesellschaft „Der bisherige deutsche Abwehreinsatz hat war wahrhaftig nicht klein – genoss der gelehrt, dass mit militärischen und polizeili- Personenkreis der Soldaten der Exilarmee Die polnische Exilarmee im Westen und die Besatzung des Emslandes 111

dagegen eine sehr hohe Autorität. Die Erin- sche Panzerdivision und die Fallschirmbri- nerung an diese Armee war in diesem Kreis gade im Nachkriegsdeutschland versehen sehr rege. Seit den 1970er-Jahren, als man haben, und es ist zugleich die Geschichte häufiger nach Westeuropa reisen durfte, eines Rollentausches, in dem die Polen die gehörten die in London oder in Paris ver- Sieger und Besatzer vertreten und die Deut- öffentlichten historischen Bücher über die schen die Unterlegenen sind. Exilregierung und Exilarmee zu den am meisten geschmuggelten Waren. Der Besitz Angesichts des Zusammenbruchs aller ihrer dieser Bücher war in Volkspolen illegal. Pläne dachte die polnische Exilregierung in den letzten Kriegsmonaten daran, das eigene Meiner Überzeugung nach lag der tiefere Fortbestehen und das der Exilarmee zu si- Grund für eine derartige Verbreitung und chern. Als Lösung wurde der Einsatz sämt- Popularität der Erinnerung an die Exilarmee licher polnischer Truppen bei der Besatzung in einer besonderen Denkkonstruktion. Die in Deutschland erachtet. Ein entsprechendes Exilregierung und die Exilarmee verkör- Angebot wurde den britischen Behörden perten nämlich – wie ich meine – den Gang mit Nachdruck unterbreitet. Das britische der Geschichte, wie er – in den Augen der Kriegsministerium zeigte sich sehr interes- Nichtkommunisten in Polen – hätte sein siert, weil die polnische Exilarmee, die nach sollen. Ich war zutiefst aufgewühlt, als ich dem Kriegsende nicht nur arbeitslos, son- in den 1970er-Jahren im Kulturzentrum der dern auch wahrscheinlich heimatlos werden Exilpolen in London während einer Ausstel- würde, auf diese Weise sinnvoll genutzt wer- lung eine schon gedruckte Serie der polni- den konnte. Mehr noch: die Alliierten erwar- schen Briefmarken gesehen habe, die für den teten, dass die deutsche Bevölkerung der Gebrauch in Polen nach dem glücklichen Besatzung feindlich gegenüber eingestellt Kriegsende vorgesehen war. Die Briefmar- sein wird und dass es eine Widerstandsbe- ken stellten die polnischen Exilsoldaten in wegung der Nazis geben wird. Aus diesem den charakteristischen englischen Stahl- Grund schienen den Briten die Polen als helmen dar, die als Sieger am Warschauer Besatzer gut geeignet, weil sie erfahren und Königsschloss vorbeidefilieren. In Wirklich- – wie man annahm – sehr deutschfeindlich keit war bei diesen Bildern auf perfide Art waren. Als Befürworter einer solchen Lö- und Weise alles falsch: Die Soldaten der sung zeigte sich sogar Winston Churchill, Exilarmee, die sich überhaupt nach dem der dazu noch den Polen ein zusammen- Krieg nach Polen wagten, kamen als demo- hängendes Gebiet in Deutschland überlas- bilisierte Privatpersonen an, ohne Waffen und sen wollte. Der polnische Vorschlag stieß ohne Fahnen. Sie durften nirgendwo defi- allerdings auf vehementen Widerstand des lieren. Und das Warschauer Königsschloss britischen Außenministeriums. Die britischen lag, wie die ganze polnische Hauptstadt, in Außenpolitiker gingen davon aus, dass ein Schutt und Asche. Das Schloss wurde erst längerer Verbleib der Exilpolen in Deutsch- dreißig Jahre nach dem Kriegsende wieder land zu einem unvermeidlichen Streit mit aufgebaut. den Sowjets und mit der Warschauer Regie- rung führen wird, wo die britische Politik doch bemüht war, einen „modus vivendi“ in 7. Polnische Truppen im Emsland: Europa für die Nachkriegszeit zu finden. anstelle eines Epilogs Wenn auch am Ende das Foreign Office seinen Standpunkt durchsetzen konnte, ge- Noch eine Episode aus der Geschichte der lang es der britischen Armee in Deutschland Exilarmee, jener Geschichte ohne „happy in den ersten drei Wochen nach der deut- end“, ist erwähnenswert. Es ist die Geschich- schen Kapitulation, einige Punkte des polni- te des Besatzungsdienstes, den die 1. Polni- schen Plans in die Tat umzusetzen. So wur- 112 Jan Rydel

den die polnische Panzerdivision und die in dieser Region verantwortlich. Die polni- Fallschirmbrigade in die Struktur der Bri- schen Truppen wurden im Frühling 1947 tischen Rheinarmee aufgenommen und nach England abgezogen, die Räumung der bekamen die Landkreise Lingen, Meppen, sog. und der Siedlungen dauerte die Grafschaft Bentheim, Aschendorf und bis Ende August 1948. Etwa die Hälfte der teilweise Leer, sowie Cloppenburg und Soldaten ging schließlich nach Polen zu- Bersenbrück als Besatzungsgebiet zugewie- rück, der Rest blieb im Exil. Die Mehrheit sen. der „displaced persons“ kehrte im Laufe der Zeit nach Polen zurück. Die Pläne der Polen und der befreundeten britischen Kommandeure gingen jedoch viel Die Emsländer, denen die Schrecken des weiter. Man begann damit, die polnischen Krieges weitestgehend erspart wurden, be- Zivilpersonen, die sogenannten „displaced trachteten die Polen als Reiter der Apoka- persons“ (DPs) aus Norddeutschland auf lypse, die ihre karge, aber heile Welt über- dem den polnischen Truppen zugewiesenem fielen. Wenn man die Erinnerungen aus die- Gebiet zu konzentrieren. Man dachte daran, ser Zeit liest oder mit Zeitzeugen spricht, 400.000 Polen im Emsland und in den an- hört man fast immer von Freundschaften, grenzenden Kreisen zu versammeln. Eine die damals im Emsland zwischen Deutschen energische Intervention des Foreign Office und Polen auf privater Ebene geknüpft wur- verhinderte allerdings, dass sich eine so gro- den. Sobald man aber diese Ebene verlässt, ße polnische Kolonie bilden konnte. Auch sieht man, dass die beiden „Communities“ andere polnische Truppen wurden daran sich feindlich gegenüberstanden. In den ersten gehindert, ihr Besatzungsgebiet in West- Nachkriegsjahren waren die Wunden noch deutschland zu beziehen. Nichtsdestotrotz viel zu frisch, um irgendwelche Annähe- versammelten sich im Emsland 19.000 pol- rungsversuche zu erlauben. nische Soldaten und 40.000 polnische „dis- placed persons“. Für ihre Unterbringung wur- den sechs Dörfer und Teile von Papenburg und Meppen ausgesiedelt. Einen besonde- ren Fall stellte das 5.000-Seelen-Städtchen

Haren an der Ems dar. Sämtliche Bewohner wurden ausgesiedelt. Die Polen übernah- Literatur men dort nicht nur Häuser, sondern auch alle städtischen Einrichtungen, wie Schulen, Duraczyński, Eugeniusz: Rząd polski na uchodźstwie. Krankenhaus, Pfarrkirche und alle Hand- 1939-1945. Organizacja – Personalia – Polityka werksbetriebe. Die meisten Polen wurden (Polnische Regierung im Exil. 1939-1945. Organisa- jedoch in den zahlreichen Barackenlagern tion – Personalien – Poltik), Warszawa 1993. untergebracht. Garliński, Józef: Polska w drugiej wojnie światowej (Polen im Zweiten Weltkrieg), London 1982. Auf diese Weise entstand im Mai und Juni Zamoyski, Adam: The Forgotten Few. The Polish 1945 im Emsland eine Art polnische Enklave Air Force in the Second World War, Barnsley 2010. mit vielen Volksschulen, zwei Gymnasien, Biegański, Witold: Regularne jednostki Wojska Pol- einer Volkshochschule, mehreren Zeitungen, skiego na Zachodzie (Reguläre Einheiten der Polni- Theaterensembles und Sportklubs. Gleich- schen Armee im Westen), Warszawa 1973. zeitig nutzten die Polen ihre Bewegungsfrei- Rydel, Jan: Die polnische Besatzung im Emsland. heit, die viel größer als die der Deutschen 1945-1948, Osnabrück 2003. war, um Schwarzmarktgeschäfte im großen Kozaczuk, Władysław: Geheimoperation Wicher. Pol- Stil zu tätigen. Ein Teil der Polen war eben- nische Mathematiker knacken den deutschen Funk- falls für den großen Anstieg der Kriminalität schlüssel Enigma, Bonn o. J. Krieg, Flucht, Vertreibung und Versöhnung im deutsch-polnischen Kontext

Jan M. Piskorski

Sind die deutsch-polnischen Beziehungen wirklich so kompliziert, wie man das nicht selten suggeriert? Unsere Antworten fallen wohl nach der jeweiligen Perspektive unterschiedlich aus.

1. Wie kompliziert sind die Ostdeutschland Kontakte zu den neuen Be- deutsch-polnischen Beziehungen? wohnern von Westpolen. Die deutsch-pol- nische Versöhnung von unten begann. Auf Aus langfristiger Perspektive gesehen sind höherer Ebene begann sie noch früher, und die deutsch-polnischen Beziehungen jedoch zwar mit der sogenannten Ostdenkschrift nicht schlecht. Im Laufe der letzten Jahr- der Evangelischen Kirche in Deutschland so- zehnte gingen sie doch von einer Phase der wie dem Brief der polnischen katholischen totalen Konfrontation in eine Phase der Ko- Bischöfe von 1965, in dem sie ihre Verge- operation über. Es gibt heute ein vereinigtes bung angeboten und um Vergebung gebeten Deutschland und ein unabhängiges Polen, haben. In den achtziger Jahren wurde dies und beide Länder haben befreundete Nach- durch die Hilfsaktionen für das im Kriegs- barn. Vor allem aber gibt es die immanen- zustand versunkene Polen sowie durch die ten Gründe für die deutsch-polnische Feind- historische Rede des Bundespräsidenten schaft nicht mehr. Wir haben sichere und Richard von Weizsäcker unterstützt, sodass rechtlich anerkannte Grenzen. Es gibt tau- man hier nach der Wende – anders als in der sende von nachbarschaftlichen Initiativen. Tschechoslowakei – nicht ganz von vorne Zweifelsohne wächst auch das gemeinsame anfangen musste. Vertrauen, in dessen Klima man die weni- gen übriggebliebenen Probleme lösen kann. Zu Anfang wurde bei diesen Treffen nicht Man muss jetzt also geduldig Strukturen für über die Vergangenheit diskutiert. Beide eine Zusammenarbeit schaffen. „Unter Hit- Seiten hielten sich für Opfer, wobei sie nicht ler“ – schrieben kurz nach dem Krieg im immer, des Kalten Krieges wegen, vonein- Kontext der deutsch-polnischen Beziehun- ander wussten. Erst nach der Wende kam es gen Walter Dirks und Eugen Kogon – „war zum Gespräch über die Vergangenheit, zumal Geduld ein Laster, heute ist es unsere Tu- in den neunziger Jahren ein gutes Klima gend.“ Sie bleibt unsere Tugend auch heute, dafür herrschte. Zuerst erinnerten diese Ge- besonders wenn sie mit dem Prinzip der spräche auf lokaler Ebene an zwei Monolo- Mäßigung verbunden ist. ge, die aber im Laufe der Zeit vielfach zu schwierigen Dialogen wurden.

2. Deutsche und Polen im Gespräch Seit etwa 2000, als das Zentrum gegen Ver- treibungen angekündigt wurde, kam es zu In den siebziger Jahren, als sich im Klima einem deutsch-polnischen Streit um Erinne- der von Willy Brandt initiierten europäi- rung. Jedoch spiegelt er zweifelsohne Pro- schen Entspannung auch die Grenzen etwas zesse im Zusammenhang mit einer neuen öffneten, knüpften die alten Bewohner von Strömung der historischen Kultur in Europa 114 Jan M. Piskorski

wider, in der sich die Aufmerksamkeit von in den Gebieten zwischen Deutschland und den Helden auf die Opfer verschiebt. Trotz Russland gekommen war, hinter dem Vor- der allgegenwärtigen Entschuldigungen will hang des Vergessens hervorzuziehen. Ein Teil jeder Opfer sein. Zweifelsohne hat die Initia- dieser Apokalypse sind Flucht und Vertrei- tive des Zentrums kurzfristig zu einer großen bung der Deutschen. Sie sind aber, wie er Abkühlung in den deutsch-polnischen Be- feststellt, zugleich auch deren unblutigste ziehungen geführt. Auf längere Sicht kann Teile. sie sich aber noch als nützlich erweisen, weil sie beide Seiten dazu zwingt, die eigene Frieden ist Europa nicht für immer und Geschichte erneut zu betrachten. Besonders ewig gegeben. Man muss sich um ihn küm- wichtig ist das für die Deutschen, weil seit mern. Die sich durch Dialog ergebenden dem 19. Jahrhundert ihr Wissen über Polen Räume gemeinsamer Erinnerung können ziemlich oberflächlich ist. Es sei vermerkt, eines seiner Fundamente bilden. Bedingung dass der Streit um die Erinnerung nicht zu dafür ist allerdings eine kritische Erinne- einer dauerhaften Abkehr von jenen Beweg- rung, die nicht versucht, der Geschichte zu gründen geführt hat, die Polen und Deut- entfliehen. Ein Museum, das den Zwangs- sche einander nähergebracht haben. Auch umsiedlungen gewidmet ist, könnte die euro- die Streitigkeiten über Vergangenheit und päischen Erinnerungsprozesse unterstützen. Zukunft verlaufen nicht mehr entlang der Kann aber ein solches Museum im Umfeld nationalen Trennlinien. der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh- nung“ entstehen, wenn sie schon in seinem Namen Geschichte auf den Kopf stellt? 3. Räume gemeinsamer Erinnerung Quelle der ethnischen Säuberungen im Mit- und Frieden in Europa teleuropa des 20. Jahrhunderts ist nämlich der im Namen der Stiftung nicht enthaltene Kein vernünftiger Mensch bestreitet die Krieg. Wir müssen uns nämlich nicht der deutschen Leiden im Zusammenhang mit Vertreibung wegen versöhnen, sondern dem Zweiten Weltkrieg. Gesellschaftliche wegen des von den Deutschen verursachten Prozesse haben aber ihre eigene Dynamik. Krieges, der am Ende auch die Flucht und Nach sechs Jahren grausamen Krieges kann Vertreibung der Deutschen auslöste. Das na- man nicht wieder in denselben Fluss stei- tionale Zentrum gegen Vertreibungen wird gen. Und dennoch war die Welt der „leben- weder der Versöhnung im Hinblick auf die den Ruinen“, wie sie der polnische Priester Vergangenheit noch der friedlichen Zukunft Kazimierz Żarnowiecki 1945 nannte, die Deutschlands und Europas dienen. über viele Jahre bei Hitler und nicht selten wie die Polen ebenfalls bei Stalin zur Schu- „Wenn Europa leben soll“ – rief gleich nach le gegangen war, deren Unterricht nicht zu dem Krieg der deutsche Priester Edmund eifrig gefolgt, wie Detlef Brandes erinnert. Helewski aus Pommern, müssten „die guten Sonst wäre nämlich den Deutschen nach Kräfte, zumal die Nachbarländer Polen und dem Krieg ein völlig anderes Schicksal be- Deutschland sich die Hand für eine bessere schieden gewesen. Zukunft reichen.“ Hätten wir in den letzten Jahren miteinander nicht nur geredet, son- Der bekannte Historiker Timothy Snyder dern auch uns gegenseitig zugehört, hätte es von der Yale University betont, dass der eine solche schwierige Situation wie die mit Westen nach dem Ende des Kalten Krieges dem Zentrum gegen Vertreibungen oder eine Umwertung der Erinnerung vollbrin- dem sogenannten sichtbaren Zeichen nicht gen müsste, um die Apokalypse, zu der es gegeben. Krieg, Flucht, Vertreibung und Versöhnung im deutsch-polnischen Kontext 115

Anmerkung

Stark überarbeiteter und noch stärker verkürzter Migranten, ihre Erinnerung und die Geschichte Vortrag während einer öffentlichen Diskussion (Einleitung), in: A ty zostaniesz ze mną / Du mit Erika Steinbach im Schweriner Schloss im aber bleibst bei mir, von Kinga Konieczny und Juni 2010 (siehe dazu z. B. [afro]: Siedler über- Andrzej Łazowski, Czas / Przestrzeń / Tożsa- winden deutsch-polnische Grenze, in: Nordkurier, mość 2008, S. 15-23. Grundlage für diesen Bei- 10.6.2010 sowie: Die deutsch-polnischen Be- trag sind vor allem die neuesten Werke des Ver- ziehungen – Mitschnitt einer Podiumsdiskussi- fassers, wie: Vom Heldenkult zur Opfervereh- on, in: NDR 1 Radio MV, 10.6.2010) und dann rung. Veränderungen in der Erinnerungskultur, bei der Hanns-Seidel-Stiftung im Kloster Banz in: Pommersches Jahrbuch für Literatur 3, im Juli 2010. Näheres zu der Problematik findet Frankfurt am M. 2010 (im Druck); Am Anfang der Leser insbesondere in folgenden Beiträgen von Flucht und Vertreibung war der Krieg, in: und Büchern des Verfassers: Die „alten“ und Blätter für deutsche und internationale Politik die „neuen“ Pommern, Pommersches Jahrbuch 1/2011; Zwangsmigrationen im Kontext des für Literatur 1, 2003, S. 139-144 (1. Aufl. 2000); Zweiten Weltkriegs. Zwölf ausgewählte Punkte Nationalitätenfrage. Kaum Spielräume: Die der mitteleuropäischen Vertreibunsgeschichte, Vertreibung der Deutschen in Polen, in: Frank- in: Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung: furter Rundschau 20.8.2004; Vertreibung und Neue Forschungen zu Vertreibung und Vertrie- deutsch-polnische Geschichte. Eine Streitschrift, benen, hrsg. von Matthias Stickler, (im Druck, übersetzt von Andreas Warnecke, Osnabrück voraussichtlich 2010 in einer Serie der Ranke- 2005 (2. Aufl. 2007); Gemeinsames in einer Gesellschaft); Wygnańcy. Przesiedlenia i uchodź- leidvollen Geschichte. Chancen zur Überwin- cy w dwudziestowiecznej Europie, Warszawa: dung deutsch-polnischer Differenzen, in: Neue PIW 2010 (im Druck; deutsche Fassung in Vor- Zürcher Zeitung, 7.9.2006; „Wir haben die Tür bereitung – Die Vertriebenen. Zwangsmigratio- abgeschlossen“. Das Problem der Vertreibun- nen und Flüchtlinge in Europa des 20. Jahr- gen im 20. Jahrhundert, in: Merkur 6/2006, hunderts). Siehe auch Zeiher, Katharina: Erst S. 513-521; In den Spurrinnen der Stereotype: zuhören, dann reden. Auf dem Geschichtsforum Deutsch-polnische Verkehrshindernisse, in: ’09: Historiker über Opferkonkurrenz und Ver- Merkur 3/2008, S. 261-266; Autochtone, gangenheit, in: Neues Deutschland, 3.6.2009.

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Autorenverzeichnis

Alexander, Manfred, Prof. em. Dr. phil. Ruchniewicz, Krzysztof, Prof. Dr. Historisches Seminar, Abteilung für Ost- Direktor und Lehrstuhlinhaber für Zeitge- europäische Geschichte, Universität Köln schichte, Willy-Brandt-Zentrum, Universität Breslau

Assmann, Aleida, Prof. Dr. Dr. h.c. Rydel, Jan, Prof. Dr. Lehrstuhl für Allgemeine Literaturwissen- Historisches Seminar, Institut für Geschichte, schaft und Anglistik, Universität Konstanz Jagiellonische Universität Krakau

Traba, Robert, Prof. Dr. Lehnstaedt, Stephan, Dr. Direktor des Zentrums für Historische For- Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen schung der Polnischen Akademie der Wis- Historischen Institut, Warschau senschaften, Berlin

Volkmann, Hans-Erich, Prof. Dr. Maćków, Jerzy, Prof. Dr. Historisches Seminar, Abteilung Neuere Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissen- und Neueste Geschichte, Albert-Ludwigs- schaft, Universität Regensburg Universität Freiburg

Wette, Wolfram, Prof. Dr. Piskorski, Jan M., Prof. Dr. Historisches Seminar, Abteilung Neueste Lehrstuhl für Vergleichende Geschichte Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität Europas, Universität Stettin Freiburg

Ziemer, Klaus, Prof. Dr. Rill, Bernd Lehrstuhl für den Fachbereich Politikwissen- Referent für Recht, Staat, Europäische Inte- schaft an der Kardinal-Stefan-Wyszyński- gration, Integrationspolitik und Dialog der Universität Warschau, Lehrstuhl für den Kulturen, Akademie für Politik und Zeitge- Fachbereich Politikwissenschaft, Universität schehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München Trier .

Verantwortlich: Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München

Herausgeber: Bernd Rill Referent für Recht, Staat, Europäische Integration, Integrationspolitik und Dialog der Kulturen, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München .

„Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen“

Die „Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen“ werden ab Nr. 14 parallel zur Druck- fassung auch als PDF-Datei auf der Homepage der Hanns-Seidel-Stiftung angeboten: www.hss.de/mediathek/publikationen.html. Ausgaben, die noch nicht vergriffen sind, können dort oder telefonisch unter 089/1258-263 kostenfrei bestellt werden.

Nr. 1 Berufsvorbereitende Programme für Studierende an deutschen Universitäten

Nr. 2 Zukunft sichern: Teilhabegesellschaft durch Vermögensbildung

Nr. 3 Start in die Zukunft – Das Future-Board

Nr. 4 Die Bundeswehr – Grundlagen, Rollen, Aufgaben

Nr. 5 „Stille Allianz“? Die deutsch-britischen Beziehungen im neuen Europa

Nr. 6 Neue Herausforderungen für die Sicherheit Europas

Nr. 7 Aspekte der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union

Nr. 8 Möglichkeiten und Wege der Zusammenarbeit der Museen in Mittel- und Osteuropa

Nr. 9 Sicherheit in Zentral- und Südasien – Determinanten eines Krisenherdes

Nr. 10 Die gestaltende Rolle der Frau im 21. Jahrhundert

Nr. 11 Griechenland: Politik und Perspektiven

Nr. 12 Russland und der Westen

Nr. 13 Die neue Familie: Familienleitbilder – Familienrealitäten

Nr. 14 Kommunistische und postkommunistische Parteien in Osteuropa – Ausgewählte Fallstudien

Nr. 15 Doppelqualifikation: Berufsausbildung und Studienberechtigung – Leistungsfähige in der beruflichen Erstausbildung

Nr. 16 Qualitätssteigerung im Bildungswesen: Innere Schulreform – Auftrag für Schulleitungen und Kollegien

Nr. 17 Die Beziehungen der Volksrepublik China zu Westeuropa – Bilanz und Ausblick am Beginn des 21. Jahrhunderts Nr. 18 Auf der ewigen Suche nach dem Frieden – Neue und alte Bedingungen für die Friedenssicherung

Nr. 19 Die islamischen Staaten und ihr Verhältnis zur westlichen Welt – Ausgewählte Aspekte

Nr. 20 Die PDS: Zustand und Entwicklungsperspektiven

Nr. 21 Deutschland und Frankreich: Gemeinsame Zukunftsfragen

Nr. 22 Bessere Justiz durch dreigliedrigen Justizaufbau?

Nr. 23 Konservative Parteien in der Opposition – Ausgewählte Fallbeispiele

Nr. 24 Gesellschaftliche Herausforderungen aus westlicher und östlicher Perspektive – Ein deutsch-koreanischer Dialog

Nr. 25 Chinas Rolle in der Weltpolitik

Nr. 26 Lernmodelle der Zukunft am Beispiel der Medizin

Nr. 27 Grundrechte – Grundpflichten: eine untrennbare Verbindung

Nr. 28 Gegen Völkermord und Vertreibung – Die Überwindung des zwanzigsten Jahrhunderts

Nr. 29 Spanien und Europa

Nr. 30 Elternverantwortung und Generationenethik in einer freiheitlichen Gesellschaft

Nr. 31 Die Clinton-Präsidentschaft – ein Rückblick

Nr. 32 Alte und neue Deutsche? Staatsangehörigkeits- und Integrationspolitik auf dem Prüfstand

Nr. 33 Perspektiven zur Regelung des Internetversandhandels von Arzneimitteln

Nr. 34 Die Zukunft der NATO

Nr. 35 Frankophonie – nationale und internationale Dimensionen

Nr. 36 Neue Wege in der Prävention

Nr. 37 Italien im Aufbruch – eine Zwischenbilanz

Nr. 38 Qualifizierung und Beschäftigung

Nr. 39 Moral im Kontext unternehmerischen Denkens und Handelns Nr. 40 Terrorismus und Recht – Der wehrhafte Rechtsstaat

Nr. 41 Indien heute – Brennpunkte seiner Innenpolitik

Nr. 42 Deutschland und seine Partner im Osten – Gemeinsame Kulturarbeit im erweiterten Europa

Nr. 43 Herausforderung Europa – Die Christen im Spannungsfeld von nationaler Identität, demokratischer Gesellschaft und politischer Kultur

Nr. 44 Die Universalität der Menschenrechte

Nr. 45 Reformfähigkeit und Reformstau – ein europäischer Vergleich

Nr. 46 Aktive Bürgergesellschaft durch bundesweite Volksentscheide? Direkte Demokratie in der Diskussion

Nr. 47 Die Zukunft der Demokratie – Politische Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Nr. 48 Nachhaltige Zukunftsstrategien für Bayern – Zum Stellenwert von Ökonomie, Ethik und Bürgerengagement

Nr. 49 Globalisierung und demografischer Wandel – Fakten und Konsequenzen zweier Megatrends

Nr. 50 Islamistischer Terrorismus und Massenvernichtungsmittel

Nr. 51 Rumänien und Bulgarien vor den Toren der EU

Nr. 52 Bürgerschaftliches Engagement im Sozialstaat

Nr. 53 Kinder philosophieren

Nr. 54 Perspektiven für die Agrarwirtschaft im Alpenraum

Nr. 55 Brasilien – Großmacht in Lateinamerika

Nr. 56 Rauschgift, Organisierte Kriminalität und Terrorismus

Nr. 57 Fröhlicher Patriotismus? Eine WM-Nachlese

Nr. 58 Bildung in Bestform – Welche Schule braucht Bayern?

Nr. 59 „Sie werden Euch hassen ...“ – Christenverfolgung weltweit

Nr. 60 Vergangenheitsbewältigung im Osten – Russland, Polen, Rumänien

Nr. 61 Die Ukraine – Partner der EU Nr. 62 Der Weg Pakistans – Rückblick und Ausblick

Nr. 63 Von den Ideen zum Erfolg: Bildung im Wandel

Nr. 64 Religionsunterricht in offener Gesellschaft

Nr. 65 Vom christlichen Abendland zum christlichen Europa – Perspektiven eines religiös geprägten Europabegriffs für das 21. Jahrhundert

Nr. 66 Frankreichs Außenpolitik

Nr. 67 Zum Schillerjahr 2009 – Schillers politische Dimension

Nr. 68 Ist jede Beratung eine gute Beratung? Qualität der staatlichen Schulberatung in Bayern

Nr. 69 Von Nizza nach Lissabon – neuer Aufschwung für die EU

Nr. 70 Frauen in der Politik

Nr. 71 Berufsgruppen in der beruflichen Erstausbildung

Nr. 72 Zukunftsfähig bleiben! Welche Werte sind hierfür unverzichtbar?

Nr. 73 Nationales Gedächtnis in Deutschland und Polen