„Philosophie Ist Keineswegs Harmlos“ Zum 150
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Seite 9 Beiträge zur Bild deutsch-jüdischen bedingt Geschichte aus dem Salomon Ludwig Seite 5 Seite 7 Seite 15 Steinheim-Institut Zahlen Diskurs Samson beredt kartiert vertieft 9. Jahrgang 2006 Heft 4 „Philosophie ist keineswegs harmlos“ Zum 150. Geburtstag von Ernst Marcus Detlef Thiel es Kuriosums halber“ schloss Gershom Scho- Dlem seine genealogische Studie über Walter Benjamin mit der Bemerkung, dass dieser „auch mit Karl Marx einen gemeinsamen Ahnen hatte“. Benjamins Ur-Urgroßmutter, Brunella (Breinele) van Geldern (1757–1821), war die älteste Schwes- ter von Heinrich Heines Mutter; Brunellas Enke- lin, Brunella Mayer (1827–1919), soll Heine auf seinen Knien geschaukelt haben; ein Urenkel wie- derum der jüngeren Brunella war Günther An- ders.1 Und ein anderer entfernter Verwandter von Karl Marx war Ernst Moses Marcus. Von ihm ist hier zu berichten. Im Hauptberuf Jurist, widmete er sich in freien Stunden der Philosophie und machte es sich zur Aufgabe, die Lehre Immanuel Kants gründlich durchzuarbeiten und allgemein verständlich darzustellen. Der philosophische Au- todidakt Marcus steht in einer Linie authentischer Kant-Interpretation, die freilich bis heute kaum als solche wahrgenommen wurde. Doch zunächst zu seinem Leben und seiner Fa- milie. Am 3. September 1856, vier Monate nach Sigmund Freud, wurde Marcus in Kamen, Westfa- rat“, 1924 tritt er in den Ruhestand. Am 30. Okto- len, geboren, ältester Sohn von Robert Marcus und ber stirbt Marcus. Sein Leben erscheint äußerlich, Frau Berta, geb. Marx. Er absolviert das Gymnasi- wie bei Kant, als ein Privatissimum; innerlich aber um in Soest, beginnt 1876 an der Universität Bonn bedeutet es Arbeit an den Grundlagen der Philoso- ein Jurastudium; nach einem Jahr wechselt er an phie und der Kultur. die Universität Berlin. 1885 wird er zum Gerichts- Marcus heiratet 1893 Berta Auerbach (Vreden, assessor ernannt, arbeitet als Assessor und Richter Westfalen 1869 – Essen 1918); sie engagiert sich als in westfälischen Städten: Kamen, Castrop, Unna, Frauenrechtlerin und initiiert das erste Mädchen- Hörde, Hagen, Gelsenkirchen. 1889 erhält er gymnasium in Essen. Die älteste Tochter, Dora-De- durch Schopenhauers Parerga und Paralipomena bora, genannt Dore (1894–1979), studiert in Hei- Zugang zur Philosophie Kants. Am 3. Mai 1890 delberg Mathematik und Physik, dann Rhythmik wird er zum Amtsrichter in Essen ernannt. 1913 und Gehörbildung am Institut des schweizer Re- lehnt er die Versetzung auf einen anderen Richter- formpädagogen und Komponisten Emile Jacques- posten ab, um sich die „pax philosophica“ zu be- Dalcroze in Dresden-Hellerau; nach dem Examen wahren. 1916 erhält er den Titel „Geheimer Justiz- 1913 setzt sie dieses Studium in Bonn fort. 1914 Rabbiner Samuel mit Bild von Ernst Marcus und Büste Mynonas Foto: Alte Synagoge Essen heiratet sie Artur Jacobs (1880–1968). Der promo- kenntnisproblem. Wie man mit der Radiernadel phi- vierte Mathematik-, Physik- und Philosophielehrer losophiert (1905, 21919); eine Einführung in Kants hatte sich 1912 und nochmals 1917–20 mit Mar- Kategorienlehre, welche ein gründliches Verständ- cus philosophisch auseinandergesetzt. Jacobs wird nis der beiden logischen Disziplinen eröffnen und erster hauptberuflicher Dozent der 1919 gegründe- in deren damaligem „anarchischen Zustand“ um- ten Essener Volkshochschule; 1924 initiiert er ei- wälzend wirken sollte (Die Elementarlehre zur all- nen Experimentierkeis für neue Formen des Zu- gemeinen Logik und die Grundzüge der transzen- sammenlebens „in Verantwortung für sich selbst dentalen Logik, 1906, 21911) und eine Einführung und für die Welt“ und für „wissenschaftlichen Ge- in Kants Metaphysik der Sitten (Das Gesetz der Ver- samtunterricht“. Dore gelangt u. a. durch Martin nunft und die ethischen Strömungen der Gegen- Buber zum Zionismus, gründet in Essen eine Grup- wart, 1907; 2. Aufl.: Der Kategorische Imperativ, pe des jüdischen Jugend-Wanderbundes Blau-Weiß. 1921). Aus Arbeitskreisen an der Volkshochschule entwi- Marcus stand in Briefkontakt mit vielen Kant- ckelt sich ab 1920 die „Bundesschule für Körper- forschern: Otto Schöndörffer in Königsberg, Lud- bildung und rhythmische Erziehung“, 1925 ge- wig Goldschmidt in Gotha, Johannes Rehmke, Paul gründet, heute „Dore-Jacobs-Berufskolleg“. Menzer, Rudolf Reicke (erster Herausgeber des Marcus’ zweite Tochter Eva (1896–1979) heira- Opus postumum), Arthur Liebert, Bruno Bauch tet den Maler Hermann von der Dunk (gest. vor u. a. Hermann Cohen, Philosoph und Haupt der 1924); sie leitet einen Montessori-Kindergarten, neukantianischen Marburger Schule, besuchte ihn heiratet nach 1928 wieder (Rosenberg), verwitwet am 8. Februar 1905 in Essen. Das Gespräch drehte erneut und heiratet zum dritten Mal (Hanf). Mar- sich um die Grundfrage, ob Wissenschaft historisch cus’ Sohn Robert (1901–78) studiert an der Techni- bestimmt, mithin veränderlich sei (so Cohen) oder schen Hochschule Berlin (Diplom-Ingenieur); er nicht? Am 3. Juni 1905 kam es zu einer Begegnung emigriert nach Palästina. mit Karl Vorländer.3 Eine ausführliche Kritik an Ernst Marcus veröffentlicht in knapp dreißig Cohens Standpunkt publiziert Marcus 1910; dann Jahren elf Bücher, dazu fünf Studien in Buchlänge tritt eine Schaffenspause ein. Bis 1920 ist er Mit- (vier in der angesehenen Altpreußischen Monats- glied der 1911 gegründeten Schopenhauer-Gesell- schrift), ein Dutzend kleinere Aufsätze und Erwide- schaft. 1912/13 hält er private Vorlesungen, die rungen sowie etwa zwanzig Rezensionen, meist in 1917 gedruckt werden (Kants Weltgebäude). 1914 der Frankfurter Zeitung. Deren Chefredakteur Ro- folgt eine weitere lange Studie zu Kants erster Kri- bert Drill wies in vielen Beiträgen auf den Philoso- tik, zugleich eine Erwiderung auf die Einwände, die phen hin. Marcus’ Erstling erscheint 1899. Genau- Leonard Nelson, Haupt der Neufriesischen Schule er besehen ist es ein Doppelbuch von 400 Seiten, (nach Jacob Friedrich Fries), 1908 gegen die Mög- eine Darstellung von Kants theoretischer Philoso- lichkeit einer Erkenntnistheorie vorgebracht hatte. phie, orientiert an der Kritik der reinen Vernunft, Durch den Krieg und den frühen Tod seiner und ein Kommentar zur Kritik der praktischen Ver- Frau gerät Marcus in eine Krise. Zu dieser Zeit be- nunft. Beide Werke bleiben für Marcus fundamen- ginnt jedoch sein wichtigster Schüler immer ein- tal; mehrfach hat er einzelne Lehrstücke daraus auf dringlicher auf ihn hinzuweisen: Salomo Friedlaen- seine Weise entfaltet. Seine Absicht war, auf Lehrer der/Mynona, der durch seinen Schwager, Dr. Salo- zu wirken, dadurch indirekt aufs Volk.2 Diesen pä- mon Samuel, Rabbiner in Essen, 1899 in Kontakt dagogischen Impuls hat er zeitlebens beibehalten. mit Marcus gekommen war und ihn seitdem jähr- Kennzeichnend für Marcus’ Rigorosität ist sein lich besucht. Im Herbst 1917 bemüht sich Friedla- Widerruf einer früheren Studie (Versuch einer Um- ender/Mynona bei Herwarth Walden, dem Heraus- bildung der Kant’schen Kategorienlehre, 1900). Bis geber der expressionistischen Zeitschrift Der 1907 folgen noch vier Bücher: eine „exakte Lö- Sturm, um den Druck einer kleinen Schrift von sung“ des von David Hume aufgeworfenen Er- Marcus, Das Problem der exzentrischen Empfin- kenntnisproblems, welches Kant aus seinem dog- dung und seine Lösung (1918). Marcus entwickelt matischen Schlummer erweckte (Kants Revoluti- darin eine Frage, die sich ihm bereits 1892, bei sei- onsprinzip (Kopernikanisches Prinzip), 1902); eine ner frühen Schopenhauer-Lektüre stellte: Wie ge- 2 „humoristisch-satirische Darstellung“ (Das Er- langen wir zu Wahrnehmungen, die im Raum au- ßerhalb unseres Leibes liegen? Seine Hypothese ist auf den ersten Blick bizarr: Die Sinnesempfindun- gen haben ihren Ort nicht im Gehirn, auch nicht am Ende der Sinnesorgane (Retina, Trommelfell, Fingerspitzen usw.), sondern außerhalb derselben, ja außerhalb der den Leib begrenzenden Haut, eben an den empfundenen Dingen selbst. Das Gehirn nimmt nicht nur passiv auf, was von außen herein- kommt, sondern es gibt zugleich aktiv hinaus – frei- lich der Form, nicht dem Stoff nach. Steht Marcus hier gleichsam mit einem Bein au- Salomo Friedlaender ßerhalb des Kantischen Bodens? Oder führt er An- (4.5.1871– 9.9.1946) deutungen weiter, die bei dem „Chinesen von Kö- nigsberg“ tatsächlich zu finden sind?4 Solche Fra- und Die Zeit- und Raumlehre Kants (Tr a n s z e n d e n - gen wird man auch stellen an ein um 1920 verfass- tale Ästhetik) in Anwendung auf Mathematik und tes Manuskript, das Marcus aus Furcht vor Naturwissenschaft (1927). Nach Marcus’ Tod bil- Missbrauch verschlossen hielt. Wieder sorgt Fried- den seine engsten Freunde und Schüler ein Kurato- laender/Mynona für die Publikation: 1924 er- rium unter Leitung des Berliner Notars Udo Ruk- scheint die Theorie der natürlichen Magie. Streng ser.7 Die Korrespondenz wird gesammelt, der abgewiesen werden alle okkultistischen etc. Assozi- Nachlass geordnet, man wollte die Anhänger des ationen, wie sie damals im Schwange waren. Viel- Philosophen durch Kolloquien vereinigen und das mehr geht es um die Entfaltung jener vom späten Werk bekannt machen. Friedlaender/Mynona ver- Kant beschriebenen „Macht des Gemüts, durch den stärkt seine Bemühungen: Bis 1932 publiziert er bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister Aufsätze und Zitatsammlungen, verfasst ein Schul- zu sein“. Materie ist, so Marcus, Reflex des Be- buch (Kant für Kinder, 1924), einen Katechismus wusstseins, nicht Ursprung des Geistes; eine Vor- der Magie (1925), einen Mahnruf (Der Philosoph stellung (Wille, Bewusstsein, Intellekt) wirkt