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So hat diese unbedingte Reinheit & Richtigkeit, Pünktlichkeit des Innens, des ICH, am Außen, am Bruch, an der Differenz, dem Abgrund: an Teilung, Trennung, Wechsel, Zufall denn ihr Übungsmaterial, ihr Nessushemd, ihre Feuerprobe, ihre Folterung.

Salomo Friedlaender/Mynona

Detlef Thiel

Maßnahmen des Erscheinens

Friedlaender/Mynona im Gespräch mit Schelling, Husserl, Thiel - Maßnahmen des Erscheinens Benjamin und Derrida libri nigri 23

ISBN 978-3-88309-782-4 23 Verlag Traugott Bautz GmbH Detlef Thiel

Maßnahmen des Erscheinens

LIBRI NIGRI

23

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Die libri nigri werden am Mitteleuropäischen Institut für Philosophie, Fakultät für Humanwissenschaften der Karls-Universität Prag herausgegeben. www.sif-praha.cz Detlef Thiel

Maßnahmen des Erscheinens

Friedlaender/Mynona im Gespräch mit Schelling, Husserl, Benjamin und Derrida

Verlag Traugott Bautz GmbH Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

Verlag Traugott Bautz GmbH D-99734 Nordhausen 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany ISBN 978-3-88309-782-4 Inhaltsverzeichnis

I „Indifferentismus polarer Observanz“ Friedlaender/Mynona – Biobibliographische Skizze . . . 9 II „die Polarität den Klauen der Romantiker entreißen“ Friedlaender/Mynonas Alternative ...... 25 1. Vorfelder des Polarismus ...... 27 2. Polarität und Indifferenz bei Schelling . . . . 32 3. Romantische Naturphilosophie ...... 40 4. Friedlaender/Mynonas Schellingkritik . . . . 53 5. Kritischer Polarismus – Der elektrifizierte Kant . . 63 III „Sie sind der Meinung, daß Sie leben?“ Methodenfragen bei Husserl und Friedlaender/Mynona . . 71 1. Zwei Fotos und allerhand Polemik . . . . . 72 2. Der naive Polarismus der Phänomenologie . . . 77 3. Friedlaender/Mynona liest Husserls Krisis-Schrift . . 84 4. Ein Werkexperiment ...... 99 IV „Kabbalisten aller Länder, vereinigt euch!“ Walter Benjamin liest Friedlaender/Mynona . . . . 107 1. Unberührbare Mitte, 1915-19 ...... 109 2. Erich Unger und der Goldberg-Kreis . . . . . 117 3. Politische Theorie, 1920-21 ...... 127 4. Zur Praxis schöpferischer Indifferenz, 1922-32 . . 138 5. Logik der Extreme, 1933-40 ...... 149 6. Adorno. Wie man Bücher und Menschen entsorgt . . 153

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V Wie konstruiert man einen Autor? Derrida with/out Friedlaender/Mynona . . . . . 163 1. „Schreibe-Thier“ ...... 164 2. Polarität ...... 165 3. Phänomen und Reflexion ...... 169 4. Sehnerven ...... 170 5. Stereographien ...... 170 6. Oppositionen ...... 172 7. différance = Schöpferische Indifferenz . . . . 174 8. backspinning ...... 181 9. Indifferentismus ...... 181 10. Atomystik ...... 184 11. Urworte ...... 185 12. Exorbitant ...... 187 13. S’effacer ...... 189 14. Idiosynkrasien ...... 190 15. Heideguerre ...... 191 16. Sexuelle Indifferenz ...... 195 17. Der Jude, die Frau ...... 199 18. Spiegelungen ...... 204 19. Schwarzweiß ...... 206 20. Der letzte Mensch ...... 206 21. Exappropriation ...... 208 22. Auto-Immunität – integer vitae ...... 210 23. Der Bettler ...... 212 24. Es gibt keinen Bruder ...... 213 25. Ein anderer Hiob ...... 215 26. André Gide ...... 216 27. Telepoiese ...... 217 28. Todesstrafe ...... 218 29. Als ob ich tot wäre ...... 219 30. Heliozentrismen ...... 222 31. Gespenster ...... 223 32. Automobil ...... 224 33. Versprechen ...... 225 Literaturverzeichnis ...... 227 Namenverzeichnis ...... 241

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„Maßnahmen des Verschwindens“ hieß eine viel beachtete Ausstellung im Kul- turzentrum Gasteig, München, Sommer 1993: „Salomo Friedlaender/Mynona, Anselm Ruest, Heinz Ludwig Friedlaender im französischen Exil“. Hartmut Geerken, Nachlaßverwalter der drei Exilanten, hatte die Ausstellung und, unter demselben Titel, eine Hörspiel-Trilogie im Bayerischen Rundfunk konzipiert. Die Formulierung stammt von Friedlaender/Mynonas Sohn Heinz Ludwig und meint, auf behördlichen Sprachgebrauch anspielend, die Deportationen jüdischer Flüchtlinge aus Frankreich in die Massenvernichtungslager im Osten: „Betreffen die Maßnahmen des Verschwindens denn auch ältere Leute? Ach, wüßte ich Euch nur geborgen!“1 Es ist höchste Zeit, den Titel umzudrehen! Ende 2005 erschien der erste Band der „Gesammelten Schriften“ von Friedlaender/Mynona (im Folgenden: F/M), herausgegeben von Geerken und mir. Seitdem sind dreizehn Bände veröf- fentlicht, insgesamt werden es wohl 35. Das Projekt ist ungewöhnlich: außerhalb akademischer Institutionen und etablierter Verlage finanziert es sich durch sei- nen Autor selbst, posthum.2 Der Fall F/M ist gravierend. In der neueren deutschen Geistesgeschichte passiert es nicht oft, daß ein in seiner Blütezeit bekannter und geschätzter Philo- soph und Satiriker, Autor von 34 selbständigen Publikationen, im 63. Lebensjahr ins Exil gezwungen, seitdem von der Forschung so gut wie vergessen bleibt. Vor einigen Jahren konnte ich über 100 Texte aus dem Zeitungsgrab exhumieren. Manche Germanisten wissen von Mynona dem Satiriker; sein philosophisches Werk aber ist bis heute unerforscht, eine neue Landschaft voll offener Fragen. Dem abhelfen zu wollen, bedeutet zunächst, zahllose, oft ineinander verfilzte Mißverständnisse und Fehleinschätzungen, Verzerrungen und Verkürzungen aufzulösen und eine Arbeit des geduldigen Wiederherstellens und Vergleichens zu beginnen. Ihre Wirkungen sind noch nicht absehbar. Um einen Anfang zu machen, um Ansätze und Anreize zu geben, werden hier, nach einem Überblick über Leben und Werk des Helden, vier exemplarische Kapitel aufgeschlagen. In Kapitel II geht es um F/Ms Leitmotiv: Polarität und Indifferenz. Aber stammt das nicht aus der klassischen deutschen Philosophie, von Schelling und seiner Schule? Tatsächlich kommen beide Konzeptionen einander manchmal bis zur Verwechselbarkeit nahe. Ein Vergleich soll die Affinitäten verdeutlichen, aber auch die tiefen Unterschiede, besonders in der jeweiligen Stellung zu Kant.

1 Postkarte, 3. August 1942. Vgl. Hauff 1993, 21. 2 Geerken, seit 1960 aktiv auf den Spuren F/Ms, hat den in seinem Besitz befindlichen Nachlaßteil (etwa ein Drittel) an die Akademie der Künste verkauft (AAFMAG). Ein Überblick über die Edition und ihre Vorgeschichte bei Thiel 2007.

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In Kapitel III wird F/M einem berühmten Zeitgenossen gegenübergestellt. In Husserls Phänomenologie spielt eine spezifische Polarität eine wichtige Rolle, die seltsamerweise noch kaum thematisiert wurde, vor allem nicht von Husserl selbst. F/M hat den Erstdruck der Krisis-Schrift studiert; seine aufschlußreichen Lektürespuren werden dokumentiert. Sein Motiv der Indifferenzierung erscheint als ungleich radikalere Fassung der phänomenologischen Reduktion. Kapitel IV ist einem anderen berühmten Zeitgenossen gewidmet. Walter Benjamin war 25 Jahre lang ein intensiver und origineller Leser F/Ms. Auch das ist bislang allzu sehr im Dunkel geblieben; daher werden erstmals alle bisher bekannten Dokumente versammelt. Dasselbe gilt für die F/M-Interpretationen zweier Autoren aus Benjamins Umfeld: Erich Unger und Adorno. Kapitel V schließlich illuminiert in einer Serie ,stereoskopischer’ Moment- aufnahmen eine keineswegs unwahrscheinliche Begegnung. Viele Elemente Der- ridas finden sich bereits bei F/M, freilich oft in noch roher, rudimentärer Form. Auch diese beiden Autoren laufen teils parallel, teils divergent. Der Punkt ihrer größten Nähe und Distanz liegt in der Konfrontation von différance und (schöp- ferischer) Indifferenz. Die vom klassischen Derrida zwischen 1965 und 1975 entwickelte Konzeption der abendländischen Metaphysik ist polaristisch, seine ganze Arbeit bestreitet die Möglichkeit von Indifferenz. Die fünf hier miteinander ins Gespräch gebrachten Autoren nenne ich ,kon- struiert’. Schelling und Derrida profilierten sich durch rege Publikationstätigkeit sozusagen selbst – was freilich ohne die Resonanz des Publikums unmöglich wäre. Husserl und Benjamin, zu Lebzeiten nur in engeren Kreisen bekannt, wur- den erst posthum durch editorische Anstrengungen in kulturelle Größen trans- formiert. Mehrere Generationen von Philosophieprofessoren haben daran gear- beitet, Figuren wie Dilthey, Cohen, Heidegger, Scheler, Cassirer, Simmel zu Klassikern des modernen Denkens zu machen, wobei heute kaum mehr gefragt wird, warum sie denn so repräsentativ, so obligatorisch sein sollen. Dagegen ist F/M ein noch in Konstruktion befindlicher Autor.

Teile von Kapitel III wurden (unter demselben Titel) am 3. November 2008 im Institut für Phänomenologische Forschung, Bergische Universität Wuppertal vorgetragen, auf freundliche Einladung von Prof. Dr. László Tengelyi & Dr. Hans-Dieter Gondek. Detlef Thiel, Herbst 2012

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I „Indifferentismus polarer Observanz“ Friedlaender/Mynona – Biobibliographische Skizze

Aus den ersten drei Jahrzehnten dieses Lebens liegen kaum Dokumente vor; viele Einzelheiten verlieren sich im Dunkel. Salomo Friedlaender, geboren am 4. Mai 1871 in dem Städtchen Gollantsch (Kreis Wongrowitz, preußische Provinz Posen; heute Gołańcz, Wojwodschaft Wągrowiec, Polen); Altersgenosse von Franz Blei, Christian Morgenstern, Heinrich Mann, Marcel Proust, Paul Valéry, Friedrich Ebert, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, William Stern, Paul Cassirer, Lyonel Feininger, Ernest Rutherford .... Sein Vater Ludwig (Elieser) Friedlaender (Schneidemühl, heute Piła 1843 - Posen 1898), Sohn eines jüdischen Gemeindevorstehers, studierte Medizin in Berlin,1 promovierte 1868 bei dem Lungenspezialisten Louis Waldenburg, lebte als angesehener Arzt in Posen, seit 1895 Oberarzt für innere Krankheiten an der Rohr’schen Stiftung. Vettern des Vaters waren Waldenburg sowie Moritz Laza- rus (1824-1903) und der Sprachforscher Heyman Steinthal (1823-99), die Be- gründer der Völkerpsychologie. Zu entfernten Verwandten zählen Hugo Haase (1863-1919, Sozialdemokrat, Mitglied des Reichstags), Arthur Eloesser (1870- 1938, Literaturhistoriker), Ludwig Lewisohn (1882-1955, Schriftsteller, früh in die USA emigriert), Fritz Friedlaender (1901-80, Journalist und Schullehrer, nach Shanghai emigriert, seit 1946 in Melbourne). F/Ms Mutter Ida Weiß (1847-1891) war Sängerin und Pianistin. Er hatte vier jüngere Geschwister: Michael, Lina, Anna, Agathe und eine Stiefschwester, Irene. Anna (1874-1942) heiratete 1899 Salomon Samuel (1867-1942); er war seit 1894 erster Rabbiner der Gemeinde Essen, gründete den Verein für jüdische Ge- schichte und Literatur, plante die Neue Synagoge am Steeler Tor. Sein Bruder Ernst Samuel (1878-1943), F/Ms Vetter und Schwager, war nach seiner Promo- tion bei Oswald Külpe 1905 unter dem Anagramm Anselm Ruest bekannt als Li- teraturhistoriker, Dichter und Philosoph, von Stirners anarchistischem Indivi- dualismus, später von Bahnsen beeinflußt.

1 F/Ms Angabe, sein Vater sei Studienfreund und Zimmergenosse des späteren Marbur- ger Neukantianers Hermann Cohen gewesen (F/M 2003, 42 f.), beruht auf einer Ver- wechslung mit dem Breslauer Ophthalmologen Hermann Cohn (1838-1906).

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Wegen chronischen Asthmas legt F/M erst mit 23 Jahren das Abitur ab, 1894 in . Er steht bereits im Bann Schopenhauers. Im selben Jahr beginnt er ein Medizinstudium in München, wechselt zum Sommer 1895 nach Berlin für Zahnmedizin, ab Sommer 1896 für Philosophie. Er hört u. a. bei Carl Stumpf, Wilhelm Dilthey, Friedrich Paulsen, Max Dessoir. In das Jahr 1896 datiert er ein Initiationserlebnis, hervorgerufen durch asketische Experimente bis an den Rand einer Nervenkrise: 1 „Jetzt erschien mir geradezu visionär die Idee der Ideen: Unendlichkeit. [...] ei- ne Raserei des Schmerzes und der Freude, das tragischste Pathos [...] Ich geriet in ein messianisches Fühlen. [...] Ich hatte da Etwas konzipirt. Aber Was? Eine große dynamische Lehre, in einem Bilde vorläufig: eine Farbenleiter der Unendlichkeiten. [...] Entdeckung der Dreidimensionalität der Unendlichkeit selbst: Entdeckung der eigentlichen Bedeutung des dimensionalen, weiterhin po- larischen Prinzips.“ Er veröffentlicht seinen ersten Aufsatz, von dessen absurdem Pessimismus er sich bald distanziert,2 und verfaßt ein verschollenes Buchmanuskript, „Von der lebendigen Indifferenz der Weltpolarität“. Zum Sommer 1897 wechselt er an die Universität Jena, hört bei Otto Liebmann und Rudolf Eucken. Im Februar 1898, sieben Jahre nach der Mutter, stirbt der Vater. F/M beendet das Studium im Oktober 1899, die Dissertation wird von Liebmann genehmigt, doch fällt er durchs Rigorosum; im zweiten Anlauf, Februar 1902, besteht er die Prüfung.3 Für seine akademischen Lehrer in Jena kann er sich kaum erwärmen. Eucken bildet später eine Zielscheibe des Spottes; über seinen Examinator, den „berühm- ten Kantianer“ Liebmann spricht er ein knappes Urteil: „So berühmt dieser Ge- heimrat auch war, so hatte er doch von Kant nur einen falschen Schimmer.” 4 Denn er hielt das Ding an sich für Kants „Hauptfehler“, für eine „Konzession an den Dogmatismus“; werfe man diesen „Pseudo-“ oder „transzendenten Unbe- griff“ weg, so sei Kants System gerettet.5

1 F/M an Salomon Samuel, 27. Feb. 1899; vgl. GS 2, 21 ff. 2 Friedlaender: Schopenhauers Pessimismus und seine Metaphysik des Schönen (1896; GS 2, 117-129) 3 Friedlaender: Versuch einer Kritik der Stellung Schopenhauer’s zu den erkenntnistheore- tischen Grundlagen der „Kritik der reinen Vernunft“, Berlin 1902 (42 S.; GS 2) 4 Mynona: Zu Mynonas 100. Geburtstag (1928; GS 18) 5 „Ein solcher Begriff ist nichts Anderes, als ein Messer ohne Klinge, dem das Heft fehlt. Es ist also nicht nur ein leerer, sondern überhaupt gar kein Begriff. – Hätte Kant nur eini- germaßen herzhaft diesen Pseudobegriff analysirt, anstatt immer scheu daran herumzuta- sten, so hätte er ihn wegwerfen müssen, wie wir hier gethan haben.“ Liebmann 1865, 28 f. u. 64 (mit einer Formel aus Lichtenbergs Sudelbüchern)

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Inzwischen lernt er durch seinen Schwager, den Essener Rabbiner, Ernst Marcus (1856-1928) kennen: Verfasser von zwölf Büchern und zahlreichen Ab- handlungen zu Kant, im Nebenberuf Amtsrichter, seit 1916 Geheimer Justizrat in Essen, hat Marcus, wie F/M, niemals an einer Universität gelehrt; so nahmen ihn bis heute nur wenige Forscher als strengen Kantianer wahr (Otto Schön- dörffer, Ludwig Goldschmidt, August Messer, Hugo Dingler). Sein Einfluß auf F/M ist kaum zu überschätzen: seit 1918 macht F/M sich zu Marcus’ Sprach- rohr, auch in der scharfen Kritik an Albert Einstein. F/M hegt Habilitationspläne, zieht im Sommer 1902 nach Berlin. In den Kreisen der alten Bohème – Paul Scheerbart, Erich Mühsam, Samuel Lublinski, , Else Lasker-Schüler, Martin Buber, Johannes Schlaf u. v. a. – führt er das Leben eines libertin. Geregeltem Broterwerb, bürgerlichen Sicherhei- ten zieht er existentielle Ungebundenheit vor – zeitlebens bleibt er angewiesen auf Unterstützung durch Verwandte und Freunde – „aber muß ein sonst talen- tierter Mann unbedingt arbeiten?“ (GS 8, 324) Gelegentlich verdient er etwas Geld als philosophischer Vorleser. An den Anfängen des Expressionismus nimmt er aktiv teil; von Ende 1902 bis 1914 korrespondiert er mit Elisabeth Förster-Nietzsche, stattet auch dem Nietzsche-Archiv einen skeptischen Besuch ab. Im Oktober 1903 veröffentlicht F/M das kleine Prosastück Freier der Wahr- heit, eine Mini-Philosophiegeschichte von Kant über Schopenhauer zu Nietz- sche, frühestes Beispiel einer anderen Schreibweise, die später ausdrücklich als grotesk bezeichnet wird: „Als Kant, der trockene Schleicher, den berühmten Mord – Meuchelmord, wenn man will, – an der Wahrheit begangen hatte, jener ehrwürdigen nämlich, die schon schrecklich alt und viel zu unsterblich geworden war, so daß sie sich nur noch durch lauter theologische Kraftbrühen bei Lust und Liebe erhielt: Wie erschrak er da innerlich! Wie gab er sich Mühe, so unheroisch wie möglich aus- zusehen!“ ... (GS 7, 83) Zwischen 1904 und 1908 veröffentlicht F/M rund 60 Gedichte in der von Rudolf Pannwitz und Otto zur Linde herausgegebenen Zeitschrift Charon. Pannwitz verschafft ihm den Auftrag für ein populärwissenschaftliches Buch über Julius Robert Mayer, den Entdecker des mechanischen Wärmeäquivalentes (Satz der Erhaltung der Energie). Kenntnisreich und ausgewogen schildert F/M Mayers tragische Biographie, analysiert seine für die moderne Physik grundlegende Ent- deckung und nutzt am Schluß die Gelegenheit zur Präzisierung seines Polaris- mus (1905; GS 12). 1906/7 folgen zwei kleine Einführungen: Logik und Psycho- logie (GS 5) sowie zwei Anthologien zu Schopenhauer und zu Jean Paul (die Ein- leitungen in GS 2).

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Auf die frühen Jahre der Schopenhauer-Begeisterung folgt eine Phase inten- siver Auseinandersetzung mit Nietzsche, genauer: mit dem „Problem Kant- Nietzsche“. Sie kulminiert in der „intellektualen Biographie“ Nietzsches, die durch energische Vermittlung von Georg Simmel Ende 1910 erscheint (GS 9). Das Buch, das bei Philosophen und Literaten bis in die 1930er Jahre zahlreiche Spuren hinterlassen hat, ist ein so glühend intensiver wie kritisch distanzierter Nachvollzug von Nietzsches Lehren. „Ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall.“ (Zarathustra III, Der Genesende) Am Leitfaden dieser Formel ent- wickelt F/M erstmals ausführlich seine eigene Philosophie: Indifferentismus polarer Observanz. Vom Gedanken der persönlichen ,Mitte’ des Lebens aus kann er Nietzsche zeigen, wo er vor sich selber zurückschreckte. F/M hat Simmels Engagement stets gewürdigt, philosophisch konnte er ihm jedoch nichts abgewinnen: „Simmels, wie er selbst empfand, nicht sicher fundiertes, wiewohl gerade des- halb überfein differenziertes Philosophieren ist kritisch abzulehnen; aber seine Menschlichkeit war wundervoll. [...] Vor seinem Tode sprach ich ihn in Berlin [...]. Er äußerte: ,Wie absurd ist es doch, daß man während des ganzen Lebens diejenigen Menschen, mit denen man sich gern unterhalten möchte, so selten spricht.’“ (F/M 2003, 70 f.) Der strengen Ausarbeitung entspringen, wie nach der Dissertation, erneut skur- rile und hintersinnige Einfälle, die seit Ende 1909 – unter dem Namen Mynona, Umkehrung von ,anonym’ – in rascher Folge, wöchentlich, als ,Grotesken’ pub- liziert werden, zunächst in Waldens Zeitschrift und in Franz Pfem- ferts Die Aktion, bald auch in Zeitungen und zahllosen expressionistischen Zeit- schriften. Bis 1935 werden rund 230 Grotesken gedruckt. F/M wagt damit etwas, was kaum jemand tut, der als Philosoph ernst genommen werden will. Doch machen ihn diese meist kurzen, sprachlich höchst raffinierten Prosatexte rasch bekannt – als Satiriker, Humorist, Schnurrenerzähler. Die Grotesken erzeugen fast alle eine Art von Heiterkeit und Verwunderung, sokratisches thaumazein, vom Schmunzeln bis zu lautem Auflachen. Einige Zeitgenossen, etwa Walter Benjamin, haben gesehen, daß die lustige Fassade ernsthaft philosophische Hin- tergründe hat. Eine solche Geste, vorgeführt in meisterhaftem Stil und in allen Tonlagen vom Abstraktest-Akademischen bis zum derben Jargon, ist in Deutschland selten, im 20. Jahrhundert wohl einzigartig. F/M wurde mit Voltai- re und Lichtenberg verglichen.1 Der Schriftsteller Paul Hatvani schrieb 1922:

1 Daß Maximilian Harden F/M als den „deutschen Voltaire“ bezeichnet haben soll, ist wohl eine Erfindung des in derlei Späßen nimmermüden Verlegers Paul Steegemann.

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„In jedem anderen Lande wäre Mynona ein philosophisches Problem, in Deutschland kennt man ihn kaum. [...] Mynona versucht es, die erstarrten Ge- gebenheiten ad absurdum zu führen: er rekonstruiert eine Kausalität, die er an irgendeiner Stelle bereits aufgehoben hat. (Man könnte ihn den Charley Chap- lin der deutschen Philosophie nennen).“ (GS 8, 506 f.) Worauf der so Geehrte antwortete: „Selbstverständlich wäre es richtiger gewe- sen, Chaplin den Mynona des Films zu nennen ...“1 In der Tat: Chaplin begann seine Filmlaufbahn 1914, wurde aber erst über zehn Jahre nach Mynonas frühe- sten Grotesken in Deutschland bekannt. In das Jahr 1911 fallen F/Ms 40. Geburtstag, ein Besuch des jungen Kom- ponisten Edgar Varèse (22. Juni), eine kurze Korrespondenz mit Georg Lukács (Juli), die Heirat mit Marie Luise Schwinghoff2 sowie die ersten öffentlichen Lesungen von Grotesken und philosophische Vorträge, im „Neopathetischen Cabaret“, bei „Sturm-“ und „Aktions-Abenden“ etc., seit 1916 auch außerhalb . Im Ausland war er nie. Rudolf Blümner, später Ludwig Hardt rezitieren seine Texte. Mit George Grosz, den Brüdern Herzfelde, Conrad Felixmüller, Franz Jung, René Schickele, Kurt Pinthus u. a. gehört F/M zu den Gästen der „Mittwoch-Abende“, die Ludwig Meidner, einer der Protagonisten expressioni- stischer Malerei, um 1913 in seinem Atelier in Friedenau veranstaltet. Seit Herbst 1913 schreibt F/M Rezensionen und Aufsätze für den Berliner Börsen-Courier. Die erste und berühmteste Groteskensammlung erscheint: Rosa die schöne Schutzmannsfrau. Dem Kriegsdienst entgeht er aufgrund seiner asthmatischen Konstitution und durch gespielte Verrücktheit bei den Musterungen. 1915 lernt er kennen, der die Idee des „Präsentismus“ übernimmt; die Berliner Dadaisten, Hannah Höch, Johannes Baader, Richard Huelsenbeck wis- sen F/M zu schätzen. Die Grundgedanken des Nietzschebuches arbeitet F/M zu einem Werk von 500 Seiten aus, das, durch den Krieg verzögert, im Sommer 1918 herauskommt: Schöpferische Indifferenz. Es gilt als sein Hauptwerk; man sollte es besser das Hauptwerk seiner Berliner Zeit nennen. Er hat es zwanzig Jahre später kritisch revidiert: Das magische Ich, doch dieses Buch blieb bis 2001 ungedruckt. In den chaotischen Jahren des ausblutenden Krieges und des versuchten politischen Neuanfangs gelangt F/M auf den Höhepunkt seiner Produktivität und seiner

1 F/M: Mein hundertster Geburtstag und andere Grimassen (Selbstanzeige, 1928; GS 8, 243). Bereits im Brief vom 31. Aug. 1922 an seinen Verleger ging er auf Hatvanis Formel ein: „Ich behaupte kühnlich, daß ich zur Zeit der Einzige bin, der eine gewisse Synthese aus Kant und Clown (Chaplin) darstellt.“ Vgl. auch GS 11, 50. 2 Gardelegen, Altmark 1883 - Paris 1968. Die Heirat fand am 12. September 1911 statt. Im Juni 1913 wird der einzige Sohn Heinz Ludwig geboren (gest. Paris 1988).

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Berühmtheit. 1918 erscheint Hundert Bonbons, satirisch-groteske Sonette, das letzte Viertel voller Sottisen auf zeitgenössische Philosophen und Literaten (GS 16). F/M schreibt einen Groteskenzyklus in Form eines „Unromans“: Die Bank der Spötter (1920; GS 4); er sorgt für die Veröffentlichung einer Broschüre von Marcus, deren Thema ihn, wie auch Hausmann, zeitlebens beschäftigen wird: Das Problem der exzentrischen Empfindung.1 Harry Graf Kessler (2007, 130) notiert im Tagebuch am 10. Februar 1919 den Plan zu einem politischen Debattierklub mit Rudolf Hilferding, Theodor Däubler, Wieland Herzfelde, Kurt Eisner, Albert Einstein, F/M, Maximilian Harden u. a.: das „müßte zunächst überhaupt eine Art von Geheimgesellschaft sein“. – Im ersten Halbjahr 1919 wirkt F/M als Mitherausgeber von Ruests Zeit- schrift Der Einzige; hier bringt er Grotesken und Aufsätze unter. In der „Phan- tasie“ Der Schöpfer, 1920 mit Zeichnungen seines Freundes separat gedruckt (GS 13), illustriert er das Motiv der Schöpferischen Indifferenz: die quasi autotheistische Verwandlung eines Alltagsindividuums in einen nietzscheani- schen Übermenschen, einen metaphysischen Magier. Die Geste spielt auf der Grenze zu Magie, Okkultismus und Spiritismus, doch ist sie bewußt gegen diese seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und USA grassierenden Formen ge- setzt. F/M will seine Magie nüchtern verstanden wissen, es geht um die Selbst- behauptung des Ich in Autonomie und Freiheit. Nach Kriegsende wendet sich F/M entschieden ab von Nietzsche und hin zu Kant. Damit reagiert er sowohl auf die Kritik seines Mentors Ernst Marcus, wie auf die Instrumentalisierung Nietzsches für nationalistische Zwecke. Neben weiteren Groteskensammlungen erscheinen Bücher, deren Themenspektrum so bunt gefächert ist, daß man hinter ihnen kaum ein und denselben Autor vermu- tet. In der frühesten Monographie zu George Grosz (1922; GS 13) verknüpft F/M präzise Analysen der Zeichnungen und sozialen Zustände mit Kunsttheorie und grundsätzlicher Kritik am Kommunismus. Lange vor Kracauers Von Caligari zu Hitler inszeniert er in dem „Berliner Nachschlüsselroman“ Graue Magie (1922) zukunftsweisende Ideen und Thesen zu Theorie und Praxis des Films, der Medien überhaupt, vor allem die dreidimensionale Projektion frei im Raum, ge- stützt auf Kants Äthertheorie im Opus postumum und auf Marcus’ Exzentrische Empfindung; zugleich porträtiert er viele Freunde und Prominente.2 Das für den Schulgebrauch konzipierte Fragelehrbuch Kant für Kinder führt allgemeinver- ständlich in Kants Ethik und Erkenntnistheorie ein (1924; GS 15). In der Paro- die Tarzaniade (1924) stellt er die Strickmuster eines Edgar Rice Burroughs und

1 Mehr dazu an anderer Stelle. 2 Ndr.: Geheimnisse von Berlin. Ein Roman (1931; GS 14)

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