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So hat diese unbedingte Reinheit & Richtigkeit, Pünktlichkeit des Innens, des ICH, am Außen, am Bruch, an der Differenz, dem Abgrund: an Teilung, Trennung, Wechsel, Zufall denn ihr Übungsmaterial, ihr Nessushemd, ihre Feuerprobe, ihre Folterung.

Salomo Friedlaender/Mynona

Detlef Thiel

Maßnahmen des Erscheinens

Friedlaender/Mynona im Gespräch mit Schelling, Husserl, Thiel - Maßnahmen des Erscheinens Benjamin und Derrida libri nigri 23

ISBN 978-3-88309-782-4 23 Verlag Traugott Bautz GmbH Detlef Thiel

Maßnahmen des Erscheinens

LIBRI NIGRI

23

Herausgegeben von

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Die libri nigri werden am Mitteleuropäischen Institut für Philosophie, Fakultät für Humanwissenschaften der Karls-Universität Prag herausgegeben. www.sif-praha.cz Detlef Thiel

Maßnahmen des Erscheinens

Friedlaender/Mynona im Gespräch mit Schelling, Husserl, Benjamin und Derrida

Verlag Traugott Bautz GmbH Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

Verlag Traugott Bautz GmbH D-99734 Nordhausen 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany ISBN 978-3-88309-782-4 Inhaltsverzeichnis

I „Indifferentismus polarer Observanz“ Friedlaender/Mynona – Biobibliographische Skizze . . . 9 II „die Polarität den Klauen der Romantiker entreißen“ Friedlaender/Mynonas Alternative ...... 25 1. Vorfelder des Polarismus ...... 27 2. Polarität und Indifferenz bei Schelling . . . . 32 3. Romantische Naturphilosophie ...... 40 4. Friedlaender/Mynonas Schellingkritik . . . . 53 5. Kritischer Polarismus – Der elektrifizierte Kant . . 63 III „Sie sind der Meinung, daß Sie leben?“ Methodenfragen bei Husserl und Friedlaender/Mynona . . 71 1. Zwei Fotos und allerhand Polemik . . . . . 72 2. Der naive Polarismus der Phänomenologie . . . 77 3. Friedlaender/Mynona liest Husserls Krisis-Schrift . . 84 4. Ein Werkexperiment ...... 99 IV „Kabbalisten aller Länder, vereinigt euch!“ Walter Benjamin liest Friedlaender/Mynona . . . . 107 1. Unberührbare Mitte, 1915-19 ...... 109 2. Erich Unger und der Goldberg-Kreis . . . . . 117 3. Politische Theorie, 1920-21 ...... 127 4. Zur Praxis schöpferischer Indifferenz, 1922-32 . . 138 5. Logik der Extreme, 1933-40 ...... 149 6. Adorno. Wie man Bücher und Menschen entsorgt . . 153

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V Wie konstruiert man einen Autor? Derrida with/out Friedlaender/Mynona . . . . . 163 1. „Schreibe-Thier“ ...... 164 2. Polarität ...... 165 3. Phänomen und Reflexion ...... 169 4. Sehnerven ...... 170 5. Stereographien ...... 170 6. Oppositionen ...... 172 7. différance = Schöpferische Indifferenz . . . . 174 8. backspinning ...... 181 9. Indifferentismus ...... 181 10. Atomystik ...... 184 11. Urworte ...... 185 12. Exorbitant ...... 187 13. S’effacer ...... 189 14. Idiosynkrasien ...... 190 15. Heideguerre ...... 191 16. Sexuelle Indifferenz ...... 195 17. Der Jude, die Frau ...... 199 18. Spiegelungen ...... 204 19. Schwarzweiß ...... 206 20. Der letzte Mensch ...... 206 21. Exappropriation ...... 208 22. Auto-Immunität – integer vitae ...... 210 23. Der Bettler ...... 212 24. Es gibt keinen Bruder ...... 213 25. Ein anderer Hiob ...... 215 26. André Gide ...... 216 27. Telepoiese ...... 217 28. Todesstrafe ...... 218 29. Als ob ich tot wäre ...... 219 30. Heliozentrismen ...... 222 31. Gespenster ...... 223 32. Automobil ...... 224 33. Versprechen ...... 225 Literaturverzeichnis ...... 227 Namenverzeichnis ...... 241

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„Maßnahmen des Verschwindens“ hieß eine viel beachtete Ausstellung im Kul- turzentrum Gasteig, München, Sommer 1993: „Salomo Friedlaender/Mynona, Anselm Ruest, Heinz Ludwig Friedlaender im französischen Exil“. Hartmut Geerken, Nachlaßverwalter der drei Exilanten, hatte die Ausstellung und, unter demselben Titel, eine Hörspiel-Trilogie im Bayerischen Rundfunk konzipiert. Die Formulierung stammt von Friedlaender/Mynonas Sohn Heinz Ludwig und meint, auf behördlichen Sprachgebrauch anspielend, die Deportationen jüdischer Flüchtlinge aus Frankreich in die Massenvernichtungslager im Osten: „Betreffen die Maßnahmen des Verschwindens denn auch ältere Leute? Ach, wüßte ich Euch nur geborgen!“1 Es ist höchste Zeit, den Titel umzudrehen! Ende 2005 erschien der erste Band der „Gesammelten Schriften“ von Friedlaender/Mynona (im Folgenden: F/M), herausgegeben von Geerken und mir. Seitdem sind dreizehn Bände veröf- fentlicht, insgesamt werden es wohl 35. Das Projekt ist ungewöhnlich: außerhalb akademischer Institutionen und etablierter Verlage finanziert es sich durch sei- nen Autor selbst, posthum.2 Der Fall F/M ist gravierend. In der neueren deutschen Geistesgeschichte passiert es nicht oft, daß ein in seiner Blütezeit bekannter und geschätzter Philo- soph und Satiriker, Autor von 34 selbständigen Publikationen, im 63. Lebensjahr ins Exil gezwungen, seitdem von der Forschung so gut wie vergessen bleibt. Vor einigen Jahren konnte ich über 100 Texte aus dem Zeitungsgrab exhumieren. Manche Germanisten wissen von Mynona dem Satiriker; sein philosophisches Werk aber ist bis heute unerforscht, eine neue Landschaft voll offener Fragen. Dem abhelfen zu wollen, bedeutet zunächst, zahllose, oft ineinander verfilzte Mißverständnisse und Fehleinschätzungen, Verzerrungen und Verkürzungen aufzulösen und eine Arbeit des geduldigen Wiederherstellens und Vergleichens zu beginnen. Ihre Wirkungen sind noch nicht absehbar. Um einen Anfang zu machen, um Ansätze und Anreize zu geben, werden hier, nach einem Überblick über Leben und Werk des Helden, vier exemplarische Kapitel aufgeschlagen. In Kapitel II geht es um F/Ms Leitmotiv: Polarität und Indifferenz. Aber stammt das nicht aus der klassischen deutschen Philosophie, von Schelling und seiner Schule? Tatsächlich kommen beide Konzeptionen einander manchmal bis zur Verwechselbarkeit nahe. Ein Vergleich soll die Affinitäten verdeutlichen, aber auch die tiefen Unterschiede, besonders in der jeweiligen Stellung zu Kant.

1 Postkarte, 3. August 1942. Vgl. Hauff 1993, 21. 2 Geerken, seit 1960 aktiv auf den Spuren F/Ms, hat den in seinem Besitz befindlichen Nachlaßteil (etwa ein Drittel) an die Akademie der Künste verkauft (AAFMAG). Ein Überblick über die Edition und ihre Vorgeschichte bei Thiel 2007.

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In Kapitel III wird F/M einem berühmten Zeitgenossen gegenübergestellt. In Husserls Phänomenologie spielt eine spezifische Polarität eine wichtige Rolle, die seltsamerweise noch kaum thematisiert wurde, vor allem nicht von Husserl selbst. F/M hat den Erstdruck der Krisis-Schrift studiert; seine aufschlußreichen Lektürespuren werden dokumentiert. Sein Motiv der Indifferenzierung erscheint als ungleich radikalere Fassung der phänomenologischen Reduktion. Kapitel IV ist einem anderen berühmten Zeitgenossen gewidmet. Walter Benjamin war 25 Jahre lang ein intensiver und origineller Leser F/Ms. Auch das ist bislang allzu sehr im Dunkel geblieben; daher werden erstmals alle bisher bekannten Dokumente versammelt. Dasselbe gilt für die F/M-Interpretationen zweier Autoren aus Benjamins Umfeld: Erich Unger und Adorno. Kapitel V schließlich illuminiert in einer Serie ,stereoskopischer’ Moment- aufnahmen eine keineswegs unwahrscheinliche Begegnung. Viele Elemente Der- ridas finden sich bereits bei F/M, freilich oft in noch roher, rudimentärer Form. Auch diese beiden Autoren laufen teils parallel, teils divergent. Der Punkt ihrer größten Nähe und Distanz liegt in der Konfrontation von différance und (schöp- ferischer) Indifferenz. Die vom klassischen Derrida zwischen 1965 und 1975 entwickelte Konzeption der abendländischen Metaphysik ist polaristisch, seine ganze Arbeit bestreitet die Möglichkeit von Indifferenz. Die fünf hier miteinander ins Gespräch gebrachten Autoren nenne ich ,kon- struiert’. Schelling und Derrida profilierten sich durch rege Publikationstätigkeit sozusagen selbst – was freilich ohne die Resonanz des Publikums unmöglich wäre. Husserl und Benjamin, zu Lebzeiten nur in engeren Kreisen bekannt, wur- den erst posthum durch editorische Anstrengungen in kulturelle Größen trans- formiert. Mehrere Generationen von Philosophieprofessoren haben daran gear- beitet, Figuren wie Dilthey, Cohen, Heidegger, Scheler, Cassirer, Simmel zu Klassikern des modernen Denkens zu machen, wobei heute kaum mehr gefragt wird, warum sie denn so repräsentativ, so obligatorisch sein sollen. Dagegen ist F/M ein noch in Konstruktion befindlicher Autor.

Teile von Kapitel III wurden (unter demselben Titel) am 3. November 2008 im Institut für Phänomenologische Forschung, Bergische Universität Wuppertal vorgetragen, auf freundliche Einladung von Prof. Dr. László Tengelyi & Dr. Hans-Dieter Gondek. Detlef Thiel, Herbst 2012

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I „Indifferentismus polarer Observanz“ Friedlaender/Mynona – Biobibliographische Skizze

Aus den ersten drei Jahrzehnten dieses Lebens liegen kaum Dokumente vor; viele Einzelheiten verlieren sich im Dunkel. Salomo Friedlaender, geboren am 4. Mai 1871 in dem Städtchen Gollantsch (Kreis Wongrowitz, preußische Provinz Posen; heute Gołańcz, Wojwodschaft Wągrowiec, Polen); Altersgenosse von Franz Blei, Christian Morgenstern, Heinrich Mann, Marcel Proust, Paul Valéry, Friedrich Ebert, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, William Stern, Paul Cassirer, Lyonel Feininger, Ernest Rutherford .... Sein Vater Ludwig (Elieser) Friedlaender (Schneidemühl, heute Piła 1843 - Posen 1898), Sohn eines jüdischen Gemeindevorstehers, studierte Medizin in Berlin,1 promovierte 1868 bei dem Lungenspezialisten Louis Waldenburg, lebte als angesehener Arzt in Posen, seit 1895 Oberarzt für innere Krankheiten an der Rohr’schen Stiftung. Vettern des Vaters waren Waldenburg sowie Moritz Laza- rus (1824-1903) und der Sprachforscher Heyman Steinthal (1823-99), die Be- gründer der Völkerpsychologie. Zu entfernten Verwandten zählen Hugo Haase (1863-1919, Sozialdemokrat, Mitglied des Reichstags), Arthur Eloesser (1870- 1938, Literaturhistoriker), Ludwig Lewisohn (1882-1955, Schriftsteller, früh in die USA emigriert), Fritz Friedlaender (1901-80, Journalist und Schullehrer, nach Shanghai emigriert, seit 1946 in Melbourne). F/Ms Mutter Ida Weiß (1847-1891) war Sängerin und Pianistin. Er hatte vier jüngere Geschwister: Michael, Lina, Anna, Agathe und eine Stiefschwester, Irene. Anna (1874-1942) heiratete 1899 Salomon Samuel (1867-1942); er war seit 1894 erster Rabbiner der Gemeinde Essen, gründete den Verein für jüdische Ge- schichte und Literatur, plante die Neue Synagoge am Steeler Tor. Sein Bruder Ernst Samuel (1878-1943), F/Ms Vetter und Schwager, war nach seiner Promo- tion bei Oswald Külpe 1905 unter dem Anagramm Anselm Ruest bekannt als Li- teraturhistoriker, Dichter und Philosoph, von Stirners anarchistischem Indivi- dualismus, später von Bahnsen beeinflußt.

1 F/Ms Angabe, sein Vater sei Studienfreund und Zimmergenosse des späteren Marbur- ger Neukantianers Hermann Cohen gewesen (F/M 2003, 42 f.), beruht auf einer Ver- wechslung mit dem Breslauer Ophthalmologen Hermann Cohn (1838-1906).

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Wegen chronischen Asthmas legt F/M erst mit 23 Jahren das Abitur ab, 1894 in . Er steht bereits im Bann Schopenhauers. Im selben Jahr beginnt er ein Medizinstudium in München, wechselt zum Sommer 1895 nach Berlin für Zahnmedizin, ab Sommer 1896 für Philosophie. Er hört u. a. bei Carl Stumpf, Wilhelm Dilthey, Friedrich Paulsen, Max Dessoir. In das Jahr 1896 datiert er ein Initiationserlebnis, hervorgerufen durch asketische Experimente bis an den Rand einer Nervenkrise: 1 „Jetzt erschien mir geradezu visionär die Idee der Ideen: Unendlichkeit. [...] ei- ne Raserei des Schmerzes und der Freude, das tragischste Pathos [...] Ich geriet in ein messianisches Fühlen. [...] Ich hatte da Etwas konzipirt. Aber Was? Eine große dynamische Lehre, in einem Bilde vorläufig: eine Farbenleiter der Unendlichkeiten. [...] Entdeckung der Dreidimensionalität der Unendlichkeit selbst: Entdeckung der eigentlichen Bedeutung des dimensionalen, weiterhin po- larischen Prinzips.“ Er veröffentlicht seinen ersten Aufsatz, von dessen absurdem Pessimismus er sich bald distanziert,2 und verfaßt ein verschollenes Buchmanuskript, „Von der lebendigen Indifferenz der Weltpolarität“. Zum Sommer 1897 wechselt er an die Universität Jena, hört bei Otto Liebmann und Rudolf Eucken. Im Februar 1898, sieben Jahre nach der Mutter, stirbt der Vater. F/M beendet das Studium im Oktober 1899, die Dissertation wird von Liebmann genehmigt, doch fällt er durchs Rigorosum; im zweiten Anlauf, Februar 1902, besteht er die Prüfung.3 Für seine akademischen Lehrer in Jena kann er sich kaum erwärmen. Eucken bildet später eine Zielscheibe des Spottes; über seinen Examinator, den „berühm- ten Kantianer“ Liebmann spricht er ein knappes Urteil: „So berühmt dieser Ge- heimrat auch war, so hatte er doch von Kant nur einen falschen Schimmer.” 4 Denn er hielt das Ding an sich für Kants „Hauptfehler“, für eine „Konzession an den Dogmatismus“; werfe man diesen „Pseudo-“ oder „transzendenten Unbe- griff“ weg, so sei Kants System gerettet.5

1 F/M an Salomon Samuel, 27. Feb. 1899; vgl. GS 2, 21 ff. 2 Friedlaender: Schopenhauers Pessimismus und seine Metaphysik des Schönen (1896; GS 2, 117-129) 3 Friedlaender: Versuch einer Kritik der Stellung Schopenhauer’s zu den erkenntnistheore- tischen Grundlagen der „Kritik der reinen Vernunft“, Berlin 1902 (42 S.; GS 2) 4 Mynona: Zu Mynonas 100. Geburtstag (1928; GS 18) 5 „Ein solcher Begriff ist nichts Anderes, als ein Messer ohne Klinge, dem das Heft fehlt. Es ist also nicht nur ein leerer, sondern überhaupt gar kein Begriff. – Hätte Kant nur eini- germaßen herzhaft diesen Pseudobegriff analysirt, anstatt immer scheu daran herumzuta- sten, so hätte er ihn wegwerfen müssen, wie wir hier gethan haben.“ Liebmann 1865, 28 f. u. 64 (mit einer Formel aus Lichtenbergs Sudelbüchern)

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Inzwischen lernt er durch seinen Schwager, den Essener Rabbiner, Ernst Marcus (1856-1928) kennen: Verfasser von zwölf Büchern und zahlreichen Ab- handlungen zu Kant, im Nebenberuf Amtsrichter, seit 1916 Geheimer Justizrat in Essen, hat Marcus, wie F/M, niemals an einer Universität gelehrt; so nahmen ihn bis heute nur wenige Forscher als strengen Kantianer wahr (Otto Schön- dörffer, Ludwig Goldschmidt, August Messer, Hugo Dingler). Sein Einfluß auf F/M ist kaum zu überschätzen: seit 1918 macht F/M sich zu Marcus’ Sprach- rohr, auch in der scharfen Kritik an Albert Einstein. F/M hegt Habilitationspläne, zieht im Sommer 1902 nach Berlin. In den Kreisen der alten Bohème – Paul Scheerbart, Erich Mühsam, Samuel Lublinski, , Else Lasker-Schüler, Martin Buber, Johannes Schlaf u. v. a. – führt er das Leben eines libertin. Geregeltem Broterwerb, bürgerlichen Sicherhei- ten zieht er existentielle Ungebundenheit vor – zeitlebens bleibt er angewiesen auf Unterstützung durch Verwandte und Freunde – „aber muß ein sonst talen- tierter Mann unbedingt arbeiten?“ (GS 8, 324) Gelegentlich verdient er etwas Geld als philosophischer Vorleser. An den Anfängen des Expressionismus nimmt er aktiv teil; von Ende 1902 bis 1914 korrespondiert er mit Elisabeth Förster-Nietzsche, stattet auch dem Nietzsche-Archiv einen skeptischen Besuch ab. Im Oktober 1903 veröffentlicht F/M das kleine Prosastück Freier der Wahr- heit, eine Mini-Philosophiegeschichte von Kant über Schopenhauer zu Nietz- sche, frühestes Beispiel einer anderen Schreibweise, die später ausdrücklich als grotesk bezeichnet wird: „Als Kant, der trockene Schleicher, den berühmten Mord – Meuchelmord, wenn man will, – an der Wahrheit begangen hatte, jener ehrwürdigen nämlich, die schon schrecklich alt und viel zu unsterblich geworden war, so daß sie sich nur noch durch lauter theologische Kraftbrühen bei Lust und Liebe erhielt: Wie erschrak er da innerlich! Wie gab er sich Mühe, so unheroisch wie möglich aus- zusehen!“ ... (GS 7, 83) Zwischen 1904 und 1908 veröffentlicht F/M rund 60 Gedichte in der von Rudolf Pannwitz und Otto zur Linde herausgegebenen Zeitschrift Charon. Pannwitz verschafft ihm den Auftrag für ein populärwissenschaftliches Buch über Julius Robert Mayer, den Entdecker des mechanischen Wärmeäquivalentes (Satz der Erhaltung der Energie). Kenntnisreich und ausgewogen schildert F/M Mayers tragische Biographie, analysiert seine für die moderne Physik grundlegende Ent- deckung und nutzt am Schluß die Gelegenheit zur Präzisierung seines Polaris- mus (1905; GS 12). 1906/7 folgen zwei kleine Einführungen: Logik und Psycho- logie (GS 5) sowie zwei Anthologien zu Schopenhauer und zu Jean Paul (die Ein- leitungen in GS 2).

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Auf die frühen Jahre der Schopenhauer-Begeisterung folgt eine Phase inten- siver Auseinandersetzung mit Nietzsche, genauer: mit dem „Problem Kant- Nietzsche“. Sie kulminiert in der „intellektualen Biographie“ Nietzsches, die durch energische Vermittlung von Georg Simmel Ende 1910 erscheint (GS 9). Das Buch, das bei Philosophen und Literaten bis in die 1930er Jahre zahlreiche Spuren hinterlassen hat, ist ein so glühend intensiver wie kritisch distanzierter Nachvollzug von Nietzsches Lehren. „Ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall.“ (Zarathustra III, Der Genesende) Am Leitfaden dieser Formel ent- wickelt F/M erstmals ausführlich seine eigene Philosophie: Indifferentismus polarer Observanz. Vom Gedanken der persönlichen ,Mitte’ des Lebens aus kann er Nietzsche zeigen, wo er vor sich selber zurückschreckte. F/M hat Simmels Engagement stets gewürdigt, philosophisch konnte er ihm jedoch nichts abgewinnen: „Simmels, wie er selbst empfand, nicht sicher fundiertes, wiewohl gerade des- halb überfein differenziertes Philosophieren ist kritisch abzulehnen; aber seine Menschlichkeit war wundervoll. [...] Vor seinem Tode sprach ich ihn in Berlin [...]. Er äußerte: ,Wie absurd ist es doch, daß man während des ganzen Lebens diejenigen Menschen, mit denen man sich gern unterhalten möchte, so selten spricht.’“ (F/M 2003, 70 f.) Der strengen Ausarbeitung entspringen, wie nach der Dissertation, erneut skur- rile und hintersinnige Einfälle, die seit Ende 1909 – unter dem Namen Mynona, Umkehrung von ,anonym’ – in rascher Folge, wöchentlich, als ,Grotesken’ pub- liziert werden, zunächst in Waldens Zeitschrift und in Franz Pfem- ferts Die Aktion, bald auch in Zeitungen und zahllosen expressionistischen Zeit- schriften. Bis 1935 werden rund 230 Grotesken gedruckt. F/M wagt damit etwas, was kaum jemand tut, der als Philosoph ernst genommen werden will. Doch machen ihn diese meist kurzen, sprachlich höchst raffinierten Prosatexte rasch bekannt – als Satiriker, Humorist, Schnurrenerzähler. Die Grotesken erzeugen fast alle eine Art von Heiterkeit und Verwunderung, sokratisches thaumazein, vom Schmunzeln bis zu lautem Auflachen. Einige Zeitgenossen, etwa Walter Benjamin, haben gesehen, daß die lustige Fassade ernsthaft philosophische Hin- tergründe hat. Eine solche Geste, vorgeführt in meisterhaftem Stil und in allen Tonlagen vom Abstraktest-Akademischen bis zum derben Jargon, ist in Deutschland selten, im 20. Jahrhundert wohl einzigartig. F/M wurde mit Voltai- re und Lichtenberg verglichen.1 Der Schriftsteller Paul Hatvani schrieb 1922:

1 Daß Maximilian Harden F/M als den „deutschen Voltaire“ bezeichnet haben soll, ist wohl eine Erfindung des in derlei Späßen nimmermüden Verlegers Paul Steegemann.

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„In jedem anderen Lande wäre Mynona ein philosophisches Problem, in Deutschland kennt man ihn kaum. [...] Mynona versucht es, die erstarrten Ge- gebenheiten ad absurdum zu führen: er rekonstruiert eine Kausalität, die er an irgendeiner Stelle bereits aufgehoben hat. (Man könnte ihn den Charley Chap- lin der deutschen Philosophie nennen).“ (GS 8, 506 f.) Worauf der so Geehrte antwortete: „Selbstverständlich wäre es richtiger gewe- sen, Chaplin den Mynona des Films zu nennen ...“1 In der Tat: Chaplin begann seine Filmlaufbahn 1914, wurde aber erst über zehn Jahre nach Mynonas frühe- sten Grotesken in Deutschland bekannt. In das Jahr 1911 fallen F/Ms 40. Geburtstag, ein Besuch des jungen Kom- ponisten Edgar Varèse (22. Juni), eine kurze Korrespondenz mit Georg Lukács (Juli), die Heirat mit Marie Luise Schwinghoff2 sowie die ersten öffentlichen Lesungen von Grotesken und philosophische Vorträge, im „Neopathetischen Cabaret“, bei „Sturm-“ und „Aktions-Abenden“ etc., seit 1916 auch außerhalb . Im Ausland war er nie. Rudolf Blümner, später Ludwig Hardt rezitieren seine Texte. Mit George Grosz, den Brüdern Herzfelde, Conrad Felixmüller, Franz Jung, René Schickele, Kurt Pinthus u. a. gehört F/M zu den Gästen der „Mittwoch-Abende“, die Ludwig Meidner, einer der Protagonisten expressioni- stischer Malerei, um 1913 in seinem Atelier in Friedenau veranstaltet. Seit Herbst 1913 schreibt F/M Rezensionen und Aufsätze für den Berliner Börsen-Courier. Die erste und berühmteste Groteskensammlung erscheint: Rosa die schöne Schutzmannsfrau. Dem Kriegsdienst entgeht er aufgrund seiner asthmatischen Konstitution und durch gespielte Verrücktheit bei den Musterungen. 1915 lernt er kennen, der die Idee des „Präsentismus“ übernimmt; die Berliner Dadaisten, Hannah Höch, Johannes Baader, Richard Huelsenbeck wis- sen F/M zu schätzen. Die Grundgedanken des Nietzschebuches arbeitet F/M zu einem Werk von 500 Seiten aus, das, durch den Krieg verzögert, im Sommer 1918 herauskommt: Schöpferische Indifferenz. Es gilt als sein Hauptwerk; man sollte es besser das Hauptwerk seiner Berliner Zeit nennen. Er hat es zwanzig Jahre später kritisch revidiert: Das magische Ich, doch dieses Buch blieb bis 2001 ungedruckt. In den chaotischen Jahren des ausblutenden Krieges und des versuchten politischen Neuanfangs gelangt F/M auf den Höhepunkt seiner Produktivität und seiner

1 F/M: Mein hundertster Geburtstag und andere Grimassen (Selbstanzeige, 1928; GS 8, 243). Bereits im Brief vom 31. Aug. 1922 an seinen Verleger ging er auf Hatvanis Formel ein: „Ich behaupte kühnlich, daß ich zur Zeit der Einzige bin, der eine gewisse Synthese aus Kant und Clown (Chaplin) darstellt.“ Vgl. auch GS 11, 50. 2 Gardelegen, Altmark 1883 - Paris 1968. Die Heirat fand am 12. September 1911 statt. Im Juni 1913 wird der einzige Sohn Heinz Ludwig geboren (gest. Paris 1988).

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Berühmtheit. 1918 erscheint Hundert Bonbons, satirisch-groteske Sonette, das letzte Viertel voller Sottisen auf zeitgenössische Philosophen und Literaten (GS 16). F/M schreibt einen Groteskenzyklus in Form eines „Unromans“: Die Bank der Spötter (1920; GS 4); er sorgt für die Veröffentlichung einer Broschüre von Marcus, deren Thema ihn, wie auch Hausmann, zeitlebens beschäftigen wird: Das Problem der exzentrischen Empfindung.1 Harry Graf Kessler (2007, 130) notiert im Tagebuch am 10. Februar 1919 den Plan zu einem politischen Debattierklub mit Rudolf Hilferding, Theodor Däubler, Wieland Herzfelde, Kurt Eisner, Albert Einstein, F/M, Maximilian Harden u. a.: das „müßte zunächst überhaupt eine Art von Geheimgesellschaft sein“. – Im ersten Halbjahr 1919 wirkt F/M als Mitherausgeber von Ruests Zeit- schrift Der Einzige; hier bringt er Grotesken und Aufsätze unter. In der „Phan- tasie“ Der Schöpfer, 1920 mit Zeichnungen seines Freundes separat gedruckt (GS 13), illustriert er das Motiv der Schöpferischen Indifferenz: die quasi autotheistische Verwandlung eines Alltagsindividuums in einen nietzscheani- schen Übermenschen, einen metaphysischen Magier. Die Geste spielt auf der Grenze zu Magie, Okkultismus und Spiritismus, doch ist sie bewußt gegen diese seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und USA grassierenden Formen ge- setzt. F/M will seine Magie nüchtern verstanden wissen, es geht um die Selbst- behauptung des Ich in Autonomie und Freiheit. Nach Kriegsende wendet sich F/M entschieden ab von Nietzsche und hin zu Kant. Damit reagiert er sowohl auf die Kritik seines Mentors Ernst Marcus, wie auf die Instrumentalisierung Nietzsches für nationalistische Zwecke. Neben weiteren Groteskensammlungen erscheinen Bücher, deren Themenspektrum so bunt gefächert ist, daß man hinter ihnen kaum ein und denselben Autor vermu- tet. In der frühesten Monographie zu George Grosz (1922; GS 13) verknüpft F/M präzise Analysen der Zeichnungen und sozialen Zustände mit Kunsttheorie und grundsätzlicher Kritik am Kommunismus. Lange vor Kracauers Von Caligari zu Hitler inszeniert er in dem „Berliner Nachschlüsselroman“ Graue Magie (1922) zukunftsweisende Ideen und Thesen zu Theorie und Praxis des Films, der Medien überhaupt, vor allem die dreidimensionale Projektion frei im Raum, ge- stützt auf Kants Äthertheorie im Opus postumum und auf Marcus’ Exzentrische Empfindung; zugleich porträtiert er viele Freunde und Prominente.2 Das für den Schulgebrauch konzipierte Fragelehrbuch Kant für Kinder führt allgemeinver- ständlich in Kants Ethik und Erkenntnistheorie ein (1924; GS 15). In der Paro- die Tarzaniade (1924) stellt er die Strickmuster eines Edgar Rice Burroughs und

1 Mehr dazu an anderer Stelle. 2 Ndr.: Geheimnisse von Berlin. Ein Roman (1931; GS 14)

14 die Rezeptionsschemata des breiteren Publikums bloß (1924; GS 13). F/Ms ein- ziger Sammelband enthält 26 Essays und Rezensionen seit 1907 – ein Bruchteil seiner Produktion.1 In einem weiteren Fragelehrbuch, Katechismus der Magie (1925; GS 15), gibt er, mit Marcus, eine streng rationale Entwicklung jener „Macht des Gemüts“, die Kant im Streit der Fakultäten beschreibt. Zu F/Ms Freunden und Bekannten zählen in den zwanziger Jahren: Arthur Rundt, Theaterdirektor in Wien; Theodor Däubler, Dichter und Kunstkritiker; Egon Friedell, Kulturhistoriker; Fritz Perls, später Begründer der heute weltweit florierenden Gestalttherapie, der F/M entscheidende Impulse verdankt. Arthur Segal, von F/M angeregter Erfinder der Prismatischen Malerei, gibt jahrelang monatliche jours, in deren Mittelpunkt F/M steht; hier treffen sich viele Künstler und Wissenschaftler: Walden, Hausmann, Höch, Grosz, Schwitters, Adolf Behne (Kunsthistoriker), Alfred Döblin, Ernst Simmel (Psychoanalytiker), Ludwig Hilberseimer (Architekt; die drei letzteren figurieren in F/Ms Grotes- ken), gelegentlich auch Feininger, Gropius, Kandinsky, Moholy-Nagy, Hans Richter, Walter Ruttmann (Filmemacher); einmal sollen auch Malewitsch und El Lissitzky zu Gast gewesen sein.2 Einer der tatkräftigsten Helfer F/Ms, durch Geldzuwendungen, Vorspra- chen bei Institutionen und Kollegen usw., war David Baumgardt (1890-1963). Seit Ende 1909 aktiv im „Neuen Club“, promoviert er 1914 in Philosophie, habi- litiert sich 1924 (Franz von Baader und die politische Romantik, 1927), wird 1932 ao. Prof. für Philosophie an der Universität Berlin. Zu seinem historisch-syste- matischen Haupwerk, Der Kampf um den Lebenssinn unter den Vorläufern der modernen Ethik (1933), äußert sich F/M Anfang 1933 kritisch in einem Brief von 37 Druckseiten. Baumgardt emigriert im Oktober 1933 über Paris, Palästina, England in die USA. Trotz aller persönlichen Beziehungen hat F/M zunehmend Schwierigkeiten, zu publizieren. Zwar erscheint Schöpferische Indifferenz in zweiter Auflage 1926, unverändert, aber mit einem „Bekenntnis“ zu Kant und Marcus als neuem Vor- wort; auch werden noch bis 1931 zahlreiche Grotesken in den einstmals berühm- ten Zeitschriften Simplizissimus und Jugend gedruckt; Blümner liest im Novem- ber 1926 einige Stücke im Berliner Rundfunk. Doch häufen sich F/Ms briefliche Klagen über Absagen von Verlegern. Karl Kraus vermittelt 1928 die letzte Gro- teskensammlung: Mein hundertster Geburtstag. Am 30. Oktober des Jahres stirbt Marcus. Paul Steegemann, der in Hannover in seiner berühmten „radikalen Bü-

1 F/M: Wie durch ein Prisma. Gedanken und Blicke im Zeichen Kants (1924; GS 2/3) 2 Vgl. Roters 1995, 183 f. Nicht alle Namen dieser Gästeliste lassen sich bisher anhand von Dokumenten nachweisen.

15 cherreihe“ Die Silbergäule Mynonas Schauergeschichte Unterm Leichentuch so- wie den Kant für Kinder verlegt hatte, versucht in Berlin sein Glück mit Parodien auf publikumswirksame Neuerscheinungen. Als Antwort auf Im Westen nichts Neues inszeniert er im Oktober 1929 F/Ms umfassende Kulturkritik: Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt? (GS 11) Das Buch erregt Aufsehen, denn es bringt mit der Geburtsurkunde Remarques und anderen Dokumenten zum ers- ten Mal Licht in die vom Ullstein-Verlag kalkulierte legendäre Vorgeschichte dieses Autors. Zugleich betreibt F/M eine ironische Dekonstruktion des bis heute meistverkauften Buches deutscher Sprache. Seine massive Kritik an Remar- ques Unentschiedenheit in der Frage Pazifismus/Bellizismus stößt auf Zustim- mung bei den Rechtsradikalen, die Remarque als „Frontbesudler“ etc. betrach- ten; die Linken jedoch empören sich: F/M leite Wasser auf die Mühlen der Na- zis. Kurt Tucholsky, der früher F/Ms Grotesken bewundert hatte, vergreift sich mit einer unangemessen geifernden Beschimpfung in der Weltbühne. F/M rea- giert sofort, doch seine geharnischte Replik kann erst im Frühjahr 1931 gedruckt werden: Der Holzweg zurück oder Knackes Umgang mit Flöhen (GS 11). Ihm gelingt es, noch zwei schmale Bücher zu veröffentlichen: den biogra- phisch-systematischen „Mahnruf“ Der Philosoph Ernst Marcus als Nachfolger Kants (1930; GS 15) sowie Kant gegen Einstein (Ende 1931; GS 1). Dieses Frage- lehrbuch bündelt die von Marcus und F/M seit 1921 in vielen kleineren Beiträgen geführte Kritik. Ungeachtet seines Weltruhmes möge Einstein nicht bei David Humes Skepsis stehenbleiben, sondern Kants Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer mitvollziehen. Alles Relative setzt ein Absolutes voraus. Als Physi- ker und Mathematiker leiste Einstein Beachtliches, doch wegen mangelhafter erkenntniskritischer Schulung verwechsle er Fiktionen mit Realität. Diese letzten Bücher werden freilich kaum noch rezipiert; auf Grundsätzli- ches zielende Kritik am Zeitgeist war bald definitiv unerwünscht. F/M bleibt unbeirrt. Im Frühjahr 1932 schließt er ein Kompendium ab: Vernunftgewitter. Brevier nach Ernst Marcus (erscheint in GS 17). Zur selben Zeit schreibt die Weimarer Gesellschaft der Bibliophilen einen Wettbewerb „Bibliophile Novel- len“ aus; F/Ms Text Biblianthropen (später umbenannt in Der antibabylonische Turm) wird preisgekrönt. Die Drucklegung verzögert sich, im Lauf des Jahres 1933 nimmt der neue, gleichgeschaltete Vorstand Anstoß an gewissen Formulie- rungen – „gebildeter Pöbel ... z. B. Rassenethiker u. dgl.“ Der Druckereibesitzer E. W. Tieffenbach, der u. a. für die Soncino-Gesellschaft eine Probe der hebrä- ischen Bibel hergestellt hatte, droht im Oktober mit dem KZ Oranienburg; in letzter Sekunde gelingt F/M mit Frau und Sohn die Flucht nach Paris.1

1 Der Hergang ist dokumentiert in GS 13.

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Das Exiltrauma verarbeitet F/M in zwei Novellen mit teils grotesken und mystischen, teils politischen Zügen: Der lachende Hiob und Magische Revolution. Sie werden im Oktober 1935 in Paris gedruckt; das Heft von 60 Seiten ist die letzte selbständige Publikation (Editions du Phénix; GS 13). Schwer greifbar, in der Exilforschung selten erwähnt, harrt es bis heute seiner Deutung. In der zwei- ten Novelle analysiert F/M die nationalsozialistische Ideologie und Machtstrate- gie. In langen Dialogen wird ein „Führer“ von einem „Freund“, „Propagator“, „Propagauner“, „Propapagei“, darüber belehrt, wie ein ganzer Staat gestohlen werden kann – „Nietzsche ist ein Macht-Philosoph, den wir stellenweise verwen- den können“, speziell seine Assassinendevise „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“.1 Aber es gibt einen „Gegen-Nietzsche“: Kant. Dessen letzte Anhänger kultivieren die „organophysische Macht des Geistes“, mit der sie der Vernunftherrschaft zum Sieg über die Naturmacht verhelfen (GS 13). Es gibt, knapp ein Jahr nach der sog. Machtergreifung, wohl nur wenige Analysen von solcher Hellsichtigkeit. Was viele Emigranten zunächst nur für ein Intermezzo hielten, gerät für F/M zur Matratzengruft. Außer ein paar Leserbriefen im Pariser Tageblatt und der Pariser Tageszeitung und kleinen Rezensionen (zu Kants Opus postumum, zu Einstein; ein Anti-Nachruf auf Spengler) kann er nichts mehr veröffentlichen; die Lebensbedingungen verschlimmern sich zusehends: isoliert, mittellos, in den letzten Jahren krank – „Aber wir hungern halbwegs“ (24. Juli 1934); „Wir hun- gern fast“ (8. Juni 1936); „ich lebe nur noch innen. Außen hungern wir, haben Mietssorgen etc.“ (13. Juli 1937); „Wir halten die sich verteuernde Wohnung mit Mühe und hungern halbundhalb“ (27. Jan. 1938); „man friert & hungert & Geld- sorgen zehren“ (29. Okt. 1941) .... Trotz allem pflegt F/M eine intensive, fast vollständig erhaltene Korrespon- denz und schließt dreizehn Buchtyposkripte und sechzehn teils umfangreiche Aufsätze ab. Die 170 philosophischen Tagebücher seit August 1933 geben direk- ten Einblick in die Gedankenwerkstatt. In fast durchgehend ausformulierten Sätzen, mit seiner ganzen Sprachkunst, entfaltet F/M aus Stichwörtern geduldig lange Gedankenketten, ähnlich wie Nietzsche. Nach der anfänglichen Krise kommt es zu einer wahren Explosion des privaten Schreibens. Allein 1935 füllt er 30 Hefte Notizbücher, etwa 600 Druckseiten, dazu 700 Seiten Briefwechsel; 1936 sind es etwa 670 und 400 Seiten. Diese erstaunliche Produktion war bislang fast völlig unbekannt, über Umfang und Inhalte der Bücher existierten nur Ver- mutungen.2 Hier sei wenigstens eine Skizze gegeben.

1 Nietzsche: Also sprach Zarathustra IV, Der Schatten 2 Die Korrespondenz umfaßt etwa 5600 Druckseiten, die Bücher 2100, die kleineren Texte 600, die Tagebücher und Alltags-Diarien 3500 (bislang drei Viertel transkribiert).

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Am 14. April 1934 hält F/M im Rahmen der von dem Schriftsteller Her- mann Skalde (Dr. Alfred Haag) gegründeten „Kulturphilosophischen Vereini- gung“ einen öffentlichen Vortrag: Der geistige Kompaß (Immanuel Kants Lehre; GS 22). 1934 entsteht der Aufsatz Moral und Politik (11 S.; GS 22). Im Sommer beginnt er mit der kritischen Revision der Schöpferischen Indifferenz; die Nieder- schrift von Das magische Ich. Elemente des kritischen Polarismus ist im November 1935 beendet (F/M 2001; kritische Ausgabe in GS 19). Vergebens bemüht er sich um Publikation; der Pariser Verlag Alcan teilt ihm Anfang 1937 mit, man sei bereit, das Buch zu drucken, sofern man einen Zuschuß von 20.000 Francs erhal- te – für F/M absurd. Inzwischen entstehen weitere Bücher: Kant für Künstler (Oktober 1934), eine Zusammenfassung der ersten beiden Drittel der Kritik der Urteilskraft; Gut und Böse (Januar 1935)1 sowie das „Philosophiegeschichtchen“ Kant und die sieben Narren (Dezember 1934; GS 6). Darin beschreibt F/M lustvoll, wie Kant mit Hilfe seines Assistenten Marcus in einer eigens dafür errichteten Heilanstalt verirrte Philosophen und den „sorgfältig kultivierten Defekt der Moderne“ ku- riert – Historismus, Relativismus, Psychologismus, Vitalismus, Biologismus usw. In oft harten, stets sachlichen Diskussionen werden Schopenhauer, Bergson, James, Bahnsen und andere zur Raison gebracht; hoffnungslos bleiben Fälle wie Nietzsche, Keyserling, Rudolf Steiner. Bei einem von der „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft und Kunst im Ausland“ organisierten Autorenabend in der Librairie Lifa liest F/M am 6. April 1935 aus Der lachende Hiob.2 Es ist sein zweiter und letzter öffentli- cher Auftritt in Paris. Im Sommer 1936 beschreibt er in der „Autobiographi- schen Skizze“ Ich (1871-1936) auf knapp 70 Seiten seinen inneren Werdegang, erzählt Einzelheiten seines Lebens, stets verflochten mit philosophischen Refle- xionen (F/M 2003). Anfang 1938 beendet er das Fragelehrbuch nach Kants kleine- ren kritischen Schriften, eine didaktische Bearbeitung von 22 ausgewählten Auf- sätzen Kants seit 1784, mitsamt der Friedensschrift und der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (GS 23). Im Mai wendet er sich an die American Guild for German Cultural Freedom, eine Hilfsorganisation zur Unterstützung emigrierter Intellektuellen; sein Antrag wird befürwortet von René Schickele, Heinrich Mann, Alexander Moritz Frey, Arnold Höllriegel (Richard Bermann)

1 Gut und Böse. Fragelehrbuch zum Unterricht in den Elementen des Vernunftglaubens nach Immanuel Kants „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (GS 23) 2 Die Lifa (Librairie française allemande, 17, rue Meslay, Nähe Place de la République) war ein Treffpunkt antifaschistischer Emigranten. Die Notgemeinschaft wurde 1934 von Anselm Ruest und Magnus Hirschfeld gegründet.

18 und David Baumgardt (die Gutachten sind überliefert). Im Sommer gibt Erika Mann – „auf vieler Menschen Betreiben“ – 50 $ an F/M, „widerstrebend, wie sich versteht, aber er soll am Verhungern sein, war einmal nicht unbegabt, wennschon unleidlich wohl immer, ist von der ,Guild’, weil von uns nicht empfohlen, abge- lehnt worden“.1 Allerdings erhält F/M 1938 und 1939 für jeweils drei Monate eine Werkbeihilfe von 30 $ monatlich. Zu Marcus’ zehntem Todestag, Oktober 1938, faßt F/M dessen Kantkritik in einer aufschlußreichen Standortbestimmung zusammen (Ernst Marcus als Kri- tiker Kants; 16 S., GS 22); in diesem Monat schließt er das umfangreichste Kon- volut ab: Vereinzelte Bemerkungen zum System des magischen Ich. Es enthält in über 240 durchnumerierten Paragraphen Präzisierungen und Variationen von Das magische Ich (360 S.; GS 20). Wenig später beendet er Das Experiment Mensch. Essay, Teil I von fünf Teilen, zusammen 150 S.; GS 21); er schickt den Text im März 1939 an den Verlag Emil Oprecht, Zürich – abgelehnt. Nach Sommer 1939 entstehen drei verschiedene Abhandlungen mit dem Titel ICH- Heliozentrum (140, 34 u. 80 S.) sowie Interregnum und Entscheidung (135 S.; alle in GS 21). Von den kürzeren Studien seien genannt: Der Vernunftmensch I und II (1939 oder später; 30 u. 43 S.); Das Gesetz der Mitte (1939 oder später; 35 S.); Über die Form der Politik (1938/39; 30 S.); Der Mensch als subjektive kopernika- nische Sonne (1941/2; 40 S.; alle in GS 22). Die Grundgedanken werden hier in zunehmender Straffung und Formalisierung weitergeführt, eingewoben immer wieder aktuelle Beobachtungen zu Kultur, Politik, Wissenschaft. Mehrfach wird Kants politische Theorie reformuliert. Bislang noch nicht genauer datiert werden können der Aufsatz Vom syste- matischen Menschenleben (20 S.) sowie der nur als Entwurf überlieferte Pädagogi- sche Roman (1941 oder später; 180 S., GS 23); darin beschreibt F/M die Ge- schichte einer musterhaften Erziehung, wobei er zwanglos jene Unternehmun- gen vorwegnimmt, die seit etwa 1980 in Westeuropa und außerhalb unter dem Namen Philosophische Praxis florieren. Hinzu kommen zwischen 1920 und 1938 rund zwanzig unpubliziert geblie- bene Rezensionen zu jeweils aktuellen Titeln von: Konstantin Brunner, A. M. Frey, Ernst Barthel, Hugo Dingler, Felix A. Theilhaber, Max Picard, Paul A. Robert, Arnold Hahn, Kurt Hiller, Hermann Steinhausen (Eugen Gürster) u. a.; einige ungedruckte Leserbriefe und Exzerpte aus aktuellen Büchern von Alexis Carrel, Ernst Zimmer, Ernst Fraenkel, Walther Riese u. a. (alle in GS 22). Die Situation wird dramatischer. 21. Juli 1939 Ausbürgerung (Liste 125). Kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September wird F/Ms 26-

1 Erika Mann an die Eltern, 1. Juni 1938

19 jähriger Sohn Heinz Ludwig in Paris interniert. Nach sechsjähriger Odyssee durch neunzehn französische und schweizer Lager, darunter die berüchtigen Les Milles und Gurs, kehrt er zu den Eltern zurück. Am 14. Juni 1940 wird Paris kampflos von deutschen Truppen besetzt, am 16. Juli 1942 die größte Juden- Razzia durchgeführt, la rafle du vel d’hiv. Während dieser Zeit verläßt F/M fast zwei Jahre lang seine Wohnung nicht – „seit Ende 1941 war ich noch nicht wie- der im Freien, bin also eine Art Gefangener – Stuben-Arrest. Aber so vermeide ich die entsetzlichen asthmatischen Herzkrämpfe.“1 Zum aufgezwungenen ex- tremen survival training gehören zwei lange Zyklen in Knittelversen: Magie (nach I. Kant und E. Marcus) und Kopernikantiade (Sommer 1941; GS 16). F/M mußte seine Bibliothek in Berlin zurücklassen – „seit 33 bin ich von meinen Büchern getrennt, es kommt einer Amputation gleich“; nach jahrelangen Bemühungen standen die achtzehn Kisten im Herbst 1941 versandfertig auf dem Bahnhof Halensee – und wurden zerbombt.2 In der Nacht zum 11. Februar 1943 dringt die französische Polizei im Auftrag der Gestapo in die Wohnung ein, um F/M abzuholen; er ist aber schon über der Altersgrenze von 65 Jahren und nicht transportfähig. Dafür wird seine Frau Marie Luise ins Lager Drancy deportiert – obwohl sie den im Jahr zuvor aus Nazideutschland beschafften ,Ariernachweis’ vorzeigen kann. F/M setzt alle Hebel in Bewegung: „nach neunwöchigem Sana-, vielmehr Satanoriumsaufenthalt ist meine Lise wohlbehalten bei mir eingetroffen und wir erleben sozusagen neue Flitterwochen ....“3 Im August 1943 fixiert F/M handschriftlich auf kleinen Zetteln eine aus- führliche Auseinandersetzung mit Marcus, ein intensives inneres Zwiegespräch (Dialog übers Ich; 50 S.; GS 6); im Herbst folgen rund 120 philosophische Sonet- te, darunter eines mit dem Titel Gelber Fleck – diesen hat er sich niemals ange- heftet. In der wohl letzten Abhandlung, Ideenmagie, reagiert er auf die Nachricht von den Atombombenabwürfen mit der Aufforderung, die „subjektive Atom- bombe“ zu mobilisieren (1945/46; 40 S.; GS 22). Der sehr verstreut überlieferte Briefwechsel von 1879 bis 1946 ist gekenn- zeichnet durch Kontinuitäten: Mit vielen Personen steht F/M über Jahre und Jahrzehnte in Kontakt, meist bis zum Tod eines Partners. Hierzu gehören: Salo- mon & Anna Samuel (1899-1942), Ernst Marcus (1900-28; 77 Stücke), Paul Scheerbart (1904-15), René Schickele (1904-38), Herwarth Walden (1904-31), Rudolf Pannwitz (1904-06), Georg Simmel (1909-18), Samuel Lublinski (1907- 09), Martin Buber (1907-12), Kurt Hiller (1911-46), Ida Lublinski (1912-42),

1 F/M an Herta Samuel-Ruest, 30. Mai 1943 2 F/M an Unbekannt, 1. Sept. 1938; an Anselm Ruest, 13. Okt. 1941 3 F/M an Anselm Ruest, 17. April 1943. Vgl. Hauff 1993, 21 f.

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Arthur Segal (1914-44), Alfred Kubin (1915-46; 160 Stücke), Raoul Hausmann (1915-31), Erwin Loewenson (1916-46), David Baumgardt (1921-46), Friedrich Schulze-Maizier (1921-32), Lothar Homeyer (1928-46), Rebecca Hanf (1929- 44), Emil Tuchmann (1929-46), Walther Riese (1930-40), Arthur Liebert (1931- 38), Doris Hahn (1934-1942). Erhalten sind kürzere Korrespondenzen mit Georg Lukács (1911) und Ro- main Rolland (Dez. 1934); ohne Antwort blieben F/Ms Schreiben an Prominen- te wie Henri Lichtenberger (Germanist, Nietzscheaner; März 1934), Victor Gollancz (Verleger in London; Mai 1934), Thomas Mann (Nov. 1937), Haile Selassie (von Mussolini ins englische Exil getrieben; Mai 1938), André Gide (Aug. 1940). Verschollen sind Briefe F/Ms von 1934 an Albert Schweitzer, Jac- ques Brunschvicg (Neukantianer, Herausgeber Pascals), Sylvain Lévi (1863-1935, Indologe und Orientalist am Collège de France) sowie an Karl Jaspers (1946).1 Über die Briefe innerhalb der Familie sei nur gesagt, daß F/M in seiner Schwester Anna eine Vertrauensperson hatte; im Exil erweitert sich der Adres- satenkreis um Kinder und entferntere Verwandte, Neffen, Nichten, andererseits reduziert er sich durch Tod bzw. Ermordung. Von Anfang an setzt F/M seine philosophischen Ansichten gern ausführlich auseinander, oft gerät ihm das zu veritablen Traktaten, auch an Partner, die nicht unbedingt vom Fach waren. Die- se Weise des Sichaussprechens wird ihm im Exil zur Notwendigkeit: „Übrigens sind briefliche Korrespondenzen, da ich nichts veröffentlichen kann, meine Atemluft geworden.“ (an Walther Riese, 21. Juli 1936) Die philosophisch be- deutsamsten Briefwechsel führt F/M mit Marcus, Hiller, Kubin, Rebecca Hanf (1863-1944, Freundin Marcus’, Philosophin), Walther Riese (1890-1976, Neuro- loge, kantianischer Philosophiehistoriker), Doris Hahn (Dorothea Sunderhoff, 1895-1972, Künstlerin, Freundin und erste Nachlaßverwalterin F/Ms). Über seine Elendszeit bemerkt F/M: „Hier schrieb ich privatim meine allerbesten Din- ge, mehrere Bücher, 1000 Druckseiten, die wahrscheinlich nimmermehr veröf- fentlicht werden, noch nicht einmal posthum. [...] der allereinsamste Denker, der auf alle äusserlichen Eitelkeiten sogar der posthumen Publikation resigniert.“ (an Salomon Samuel, 3. April 1942) Allzu spät erlebt F/M noch bescheidenste Ehrungen. Zum 75. Geburtstag im Mai 1946 wird er bei einem öffentlichen Abend zum Ehrenmitglied des „Deutschen Kulturkreises Paris“ ernannt.2 Kurz danach erscheint, in der chileni- schen Exilzeitschrift Deutsche Blätter, seine letzte Publikation, eine von keiner aktuellen Mode beirrte, mit Kants roter Tinte geschriebene scharfe Kritik an

1 „Brunschvick, Lichtenberger null.“ Tagebuch 8, April/Mai 1934 2 Rudolf Leonhard an F/M, 4. Mai 1946

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Sartres bis heute gelesenem Essay L’existentialisme est un humanisme.1 Am 1. August schickt F/M eine Postkarte an die New Yorker Zeitung Aufbau: Man möge eine Notiz über jene Ernennung bringen: „Mein Motiv ist gewiß nicht Eitelkeit, sondern Sachlichkeit. Trotz Todkrankheit publiziere ich immer noch und brauche Interesse. Nicht Unsterblichkeit, sondern Tod ist phantastisch, und ich glaube an keine Unheilbarkeit, nur an äußerste Schwierigkeit.“ Am 9. September 1946 stirbt er, 75 Jahre alt, wird auf Armenkosten im jüdi- schen Teil des Pariser Friedhofs Pantin beerdigt. Rudolf Leonhard hält die To- tenrede, einige Zeitungen bringen die Meldung, dann breitet sich, von seltenen Erwähnungen und Erinnerungen noch lebender Zeitgenossen abgesehen, für zwanzig Jahre eine Decke des Vergessens über ihn aus, die bis heute noch nicht weggezogen wurde. Das wäre wohl anders, wenn F/M noch einige Jahre länger gelebt, wenn er einige Aufsatz hätte veröffentlichen können, oder wenn Hans- Georg Gadamer im Herbst 1959, von Hermann Kasack um ein Gutachten zu F/Ms Buchtyposkript Das magische Ich gebeten, sich etwas mehr Mühe gegeben hätte – aber die Vorbereitung seines Hauptwerkes Wahrheit und Methode war ihm wohl wichtiger.2 Deshalb geht es hier um Maßnahmen des Erscheinens. – Es gab mehrere Rezeptionsphasen, jeweils geknüpft an Editionen. Erste Im- pulse kamen von der großen Expressionismus-Ausstellung im Deutschen Litera- turarchiv in Marbach 1960 mit dem von Paul Raabe besorgten Katalog. 1965 gab Ellen Otten eine Sammlung von 37 Grotesken heraus;3 fünf Jahre später folgten neun Grotesken in einer von Hartmut Geerken edierten Anthologie.4 Die Berli- ner Jüdische Gemeinde ehrte 1971 F/M, Karl Abraham und Alfred Kerr durch Gedenktafeln an ihren letzten Wohnungen. 1972 veranstaltete die Akademie der Künste in Berlin eine wirksame Ausstellung anläßlich der Gründung des F/M- Archivs; dessen Grundstock bildeten die von Doris Hahn und ihrem Lebensge- fährten Karl Schodder, Lektor im Verlag Paul Steegemann, aufbewahrten Doku- mente.5 Hartmut Geerken gab 1980 zwei Bände mit 66 Grotesken und drei län-

1 F/M: Jean-Paul Sartres Existenzialismus (GS 3, 885-889) 2 Mehr dazu in der Neuausgabe von Das magische Ich (GS 19). 3 Rosa die schöne Schutzmannsfrau, Zürich 1965; gekürzter Ndr. 1989 4 Die goldene Bombe. Expressionistische Märchendichtungen und Grotesken, hg. H. Geer- ken, Darmstadt 1970 5 Der von Walther Huder bearbeitete Katalog dokumentiert zwar entlegene Materialien, aber auch geradezu kriminelle Machenschaften. Einige der abgebildeten Exponate sind seitdem spurlos verschwunden, etwa das Exemplar von F/Ms Psychologie (Abb. S. 31) oder die beiden Porträtbüsten (Abb. S. 62). Richard Zieglers graphische Fassung der Gro- teske Sautomat und die Sammlung von 48 Postkarten von Marcus an F/M hat Huder nachweislich auf dem Antiquariatsmarkt verkauft (vgl. GS 4, 37 Anm.; GS 5, 14 Anm.).

22 geren Prosatexten heraus; 1982 eine Auswahl der Exilbriefe; 1986, zusammen mit Sigrid Hauff, den Briefwechsel mit Alfred Kubin, der ein Referenzwerk in der ausufernden Kubinliteratur wurde.1 1993 organisierte Geerken die eingangs erwähnte Ausstellung in München. Die zu Lebzeiten F/Ms publizierten Übersetzungen einzelner Grotesken ins Tschechische und Italienische konnten noch nicht aufgefunden werden. Großes Echo in der angelsächsischen Welt hatten die Übersetzungen und gründlichen Kommentierungen von Der operierte Goj durch Jack Zipes sowie von Goethe spricht in den Phonographen und Fatamorganamaschine durch Friedrich Kittler.2 Eine Auswahl aus Ottens 1989 neu aufgelegter Anthologie erschien 2005 in To- kyo; bereits 1971/72 waren in Japan Texte F/Ms übersetzt worden; 2008 folgte Kant für Kinder, 2012 eine Sammlung von Texten zur Politischen Theorie.3 Meh- rere Grotesken wurden ins Italienische und ins Niederländische übersetzt, Aus- züge aus Schöpferische Indifferenz und dem Nietzschebuch ins Spanische (2007). Von einer Wiederentdeckung läßt sich noch keineswegs reden. Die Rezepti- on ist so lückenhaft wie abenteuerlich; einzelne Forscher, meist Germanisten, Kunsthistoriker und Kulturtheoretiker, arbeiten auf eigene Faust, isoliert, ja ohne F/Ms Werk zu überblicken. In der von Fritz Perls begründeten, heute weltweit verbreiteten Gestalttherapie geistert F/Ms Name herum, doch nur we- nige, auch theoretisch interessierte Therapeuten wissen genauer, welche Impulse F/M hier gab. Eine umfassende Synopse seines Werkes ist heute noch kaum möglich. Gleichwohl hat Lisbeth Exner in ihrer Wiener Dissertation von 1996 eben das beansprucht. Sie trägt mit großem Fleiß eine Fülle von Materialien zu- sammen, wertet viele ungedruckte Briefstücke aus und rekonstruiert die Kontex- te; unrealistisch jedoch ist ihre Tendenz, eigene Forschungsergebnisse als defini- tiv hinzustellen und damit einen toten Autor nochmals zu begraben. Aktuelle philosophische Stellungnahmen scheint es kaum zu geben. Peter Cardorff hat 1988 in einer kleinen Einführung einige gute Einsichten formuliert, meint aber, daß F/M nur spärliche Hinweise liefere, wie seine ,Theorie’ in die ,Praxis’ umzu- setzen sei; er blocke unangenehme Fragen ab, weiche aus, sei widersprüchlich, „nicht ganz deutlich“, biete Späße statt Lösungen, habe wenig zu sagen, müsse

1 Mynona: Prosa, München 1980, 2 Bde.; F/M: Briefe aus dem Exil 1933-1946, Mainz 1982; F/M – Alfred Kubin: Briefwechsel, Wien/Linz 1986 2 The Operated Jew. Two Tales of Anti-Semitism, hg. J. Zipes, New York/London 1991, 75-86, Kommentar 110-137; Kittler: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986 (englisch 1999), 93-107; dazu GS 7, 70-75. Die Goethe-Groteske: GS 7, 289-302. 3 Vernunft und Frieden. Ausgewählte Texte zur politischen Philosophie von Salomo Fried- laender/Mynona, hg. H. Geerken, D. Thiel & Hiroo Nakamura, übers. H. Nakamura, Tokyo 2012. Eine zweite Sammlung, Technik und Phantasie, ist in Arbeit.

23 scheitern usw.1 Andererseits bleibt Cardorff (1993, 71) den Nachweis für ein denkwürdiges Zitat schuldig: „In einem einzigen Satz Friedlaenders, in einer einzigen Groteske Mynonas steckt mehr Vitalität und Praxisrelevanz als in der ganzen Theorie kommunikativen Handelns von Habermas.“ –

1 Cardorff 1988, 48, 52, 69, 81 f., 87 f., 102, 120 usw. Vgl. GS 2, 19 f.

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II „die Polarität den Klauen der Romantiker entreißen“ Friedlaender/Mynonas Alternative

„Indifferenz, welche sich extremisiert; Extreme, die einander berühren; das Sel- be, das sich mit sich selber entzweit; Gegensätze, aus ihrer eigenen Identität entspringend und auf sie zurückstrebend. Ich wußte damals noch nicht, welche wichtige Rolle dieser Begriff in der deutschen Romantik gespielt hatte, nach- dem er von Kant in dessen Schrift über die negativen Größen in die Philosophie eingeführt worden war und für Goethe geradezu den Dietrich zur Entriegelung aller Geheimnisse der Natur bedeutet hatte; insbesonders ihrer chromatischen.“ (GS 3, 704) Damals – Anfang der 1890er Jahre, auf die der fünfzigjährige F/M hier zurück- blickt, habe ihn Schopenhauers Farbenlehre auf den Polaritätsbegriff gebracht, dessen Geschichte ihm erst später klar geworden sei. „Im Grunde genommen, ist Polarität mein einziger Gedanke bei Tag & bei Nacht, seit 1896 und früher. Aber sie ist ein wahres Vexierproblem und noch immer ein Urwald mit abenteuerli- chen Schlinggewächsen, weil seit uralters die dogmatische Romantik ihr wildes Unwesen damit treibt.“ (an Doris Hahn, 11. Juni 1934) Wildes Unwesen – dieser Vorwurf soll im Folgenden plausibel werden. Zuvor einige Orientierungspunkte. Ein Stenogramm seiner Urformel gibt F/M im Tagebuch 24, März 1935: „1) Ohne Unterschied keine Erfahrung; 2) Ohne Ich keine Erfahrung; 3) Der Unterschied ist polar; 4) Das Ich ist Indifferenz.“ Unterschiede müssen sich abheben von Ununterschiedenheit, von einer indiffe- renten Latenz. Was als Unterschied hervorsticht, erscheint, apparent wird, muß also sofort bereits different sein. Das läßt sich am präzisesten fassen, wenn man es nicht einfach als Kontrast, Nuance, verschwimmende Gradualität betrachtet, sondern als polar strukturiert: mehr/weniger, klein/groß, hell/dunkel usw. Dem analogen Denken, dem stets ein Rest intuitiven Meinens anhaftet, setzt F/M ein sozusagen digitales Denken entgegen; mit seiner gleichsam ,kalten’ Logik sucht er in allem Gegebenen das darin verborgene oder unterdrückte Nichtgegebene aufzuspüren und gleichfalls geltend zu machen. Erste Bedingung der Erfahrung ist Unterscheidungsfähigkeit; allgemeinste Form des Unterschiedes ist Polarität;

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