Gründung der Stiftung

Das Verständnis des Menschen aus seiner Geschlechtlichkeit – ein Ansatz Wilhelm von Humboldts Klaus M. Beier

Understanding Human Beings kelt, wo­nach ein umfassendes Verständnis des Menschen die gedankliche­ Integration von Sinnlichkeit und Verstand on the Basis of their Sexuality voraussetzt. In diesem Zusammenhang formulierte er – an Approach of Wilhelm von nicht nur seine Überzeugung einer Einheit von Körper und Seele, sondern­ auch die von der Überwindung indi- Humboldt vidueller Begrenztheit durch den ergänzenden Austausch mit anderen, wobei er dies als ein basales Naturprinzip ansah, welches durch die Ge­schlechtsunterschiede evi- Abstract dent wäre, weil aus der liebenden Ver­bindung zweier In the early phase of his work Wilhelm von Humboldt geschlechtlich unterschiedlicher Individuen eben jene (1767-1835) developed an anthropological concept accor- Ergänzung – sowohl körperlich als auch seelisch – resul- ding to which the comprehensive understanding of man- tieren könne. So formulierte er die Überlegung, dass kind requires the intellectual integration of sensuality and auch ein Gedanke der „feinste und letzte Sprössling der reason. In this context he formulated his belief in the unity Sinnlichkeit“ sei. Entsprechend findet man sein Modell of body and soul, as well as his conviction that individual der ‚Dialogik‘ in den späteren sprachwissenschaftlichen limitations can be overcome through the complementary Studien wieder und noch im Alter fasste er den Plan, exchange with others. He understood this as a basic prin- seine Geschlechterforschung weiter auszubauen und eine ciple of nature, evident in sexual differences, because in „Geschichte der Abhängigkeit im Menschengeschlecht“ the loving relationship of two sexually different individuals schreiben zu wollen. Durch diesen anthro­ ­pologischen precisely this completion, both of the body and the soul, Ansatz ist Wilhelm von Humboldt aufs Engs­te ver- can be achieved. knüpft mit dem Modell von Geschlechtlichkeit, wie es in He formulated the reflection that a thought is the der modernen Sexualwissenschaft und ihrem klinischen „finest and last sprout of sensuality.“ In his later work on Anwendungsfach der Sexualmedizin ausgearbeitet wurde. linguistics one again encounters his model of ‚dialogic‘, Gleich­wohl sind diese Vorarbeiten Wilhelm von Humboldts and late in life he conceived the plan to further deve- und sein diesbezüglich eigentliches Vermächtnis im kol- lop his research on the sexes and to write a „History lektiven Gedächtnis nicht haften geblieben. Dies ist Hin­ of Dependency in Mankind.“ Wilhelm von Humboldt’s tergrund der im Jahre 2006 gegründeten Wilhelm von anthropological approach is closely related to the model Humboldt Stiftung. of sexuality developed in modern sexual science and its Schlüsselwörter: Wilhelm von Humboldt, Geschlechter­ ­ clinical application as sexual medicine. Nonetheless, this stu­dien, Sexualwissenschaft, Wilhelm von Humboldt Stiftung preliminary work of Wilhelm von Humboldt and his legacy in this regard have not been retained in public memory. This is the background for the founding of the Wilhelm von Humboldt Foundation in 2006. Lücken im kollektiven Gedächtnis Keywords: Wilhelm von Humboldt, Genderstudies, Sexual Science, Wilhelm von Humboldt Foundation­ Wer sich im Hauptgebäude der Humboldt-Universität (Un­ter den Linden 6) über die Treppe zur ersten Etage Zusammenfassung be­gibt, stößt auf der Seite der Büros von Präsident Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) hatte in der Frühzeit und Vize-Präsidenten auf eine Gedenktafel, die auf sei­nes Schaffens ein anthropologisches Konzept entwic- Wil­helm von Humboldt als Universitätsgründer hin­ Sexuologie 13 (2–4) 2006 166–177 / Elsevier-Urban & Fischer http://www.elsevier.de/sexuologie Das Verständnis des Menschen aus seiner Geschlechtlichkeit 167 weist. Dort steht als Charakterisierung seiner Tätig­ Alexander, Protagonist der modernen Naturwis­sen­ keiten: „Bildungsreformer, Staatsmann, Sprachwis­ schaften, Verfasser des „Kosmos“ und „Zweiter Ent­ sen­schaftler“, wodurch allerdings sein Bemühen um decker Amerikas“, hat mit der Gründung­ der Universität eine möglichst umfassende Anthropologie (unter Ein­ nicht das Geringste­ zu tun und soll hier aber offenbar beziehung der „physischen und moralischen Natur des die Naturwissenschaften verkörpern, Wilhelm hinge- Menschen“) nicht zum Ausdruck kommt – insbesondere gen die Geisteswissenschaften, so dass in den Brüdern nicht hinsichtlich seiner Auffassung, dass hierfür eine ge­wissermaßen die Universitas, die Einheit aller Wis­ wissenschaftliche Durchdringung menschlicher Ge-­ sen­schaften, repräsentiert wird. schlechtlichkeit­ als Ausgangspunkt dienen sollte. So sinnvoll diese Anliegen auch sein mag, Wil­ Darüber hinaus scheint selbst seine unbestrittene helm engt es zu Unrecht auf eine bloß geisteswissen­ ­ Großtat der Universitätsgründung in den Jahren 1809/ schaftliche Perspektive ein, die er selbst lediglich in 1810, die er in seiner nur 14monatigen Amtszeit als einem wichtigen Ergänzungsverhältnis zum naturwis­ Abteilungsleiter der Sektion Kultus im Preußischen senschaftlichen Erkenntniszugang sah. Innenministerium umsetzte – im übrigen mit einem Hierin war er sich mit , seinem unerhörten Geschick bei den Berufungen (Evangelische mutmaßlich bedeutsamsten Freund und Weg­gefährten Theologie: Schleiermacher; Jurisprudenz: Savigny; einig, der sich in einem Brief an Körner über die Medizin: Hufeland; Philosophie: Fichte; Altphilologie: ­ausschließlich naturwissenschaftliche Erkenntnis­aus­ F.A. Wolf; Geschichte: Niebuhr; Agronomie: Thaer; richtung wie folgt äußert: Chemie: Klaproth) – in der gesellschaftlichen Wahr­ neh­mung merkwürdig zu verblassen. Für die nach­ „Es ist der nackte, schneidende Verstand, der die kommenden Generationen steht Wil­helm eindeutig Natur, die immer unfasslich und in allen ihren im Schatten seines jüngeren Bruders Alexander (vgl. Punkten ehrwürdig­ und unergründlich ist, schamlos Berglar 1996), was sich nicht zuletzt auch darin zeigt, ausgemessen haben will, und, mit einer Frechheit, dass es eine im höchste Ansehen stehende Alexander- die ich nicht be­greife, seine Formeln, die oft nur von-Humboldt-Stiftung seit längerem­ gibt. leere Worte und im­mer nur enge Begriffe sind, zu Hieran dürfte die universitäre Ge­schichtsschreibung ihrem Maßstabe macht“ (Schiller an Körner, 6.08. mit ihrer Legendenbildung nicht ganz unbeteiligt ge- 1797; zit. n. Horowski­ et al. 1995: 30). we­sen sein: So sind beispielsweise auf dem Platz vor dem Hauptgebäude der Universität beide Humboldt- Schiller gehörte im übrigen zu den wenigen Zeitgenos- Brü­der mit Denkmälern verewigt: Wenn man zum sen Wilhelms, die dessen Werk für bedeutsamer hielten Gebäude hin blickt, zeigt das linke Wilhelm, das rechte als das seines Bruders. Er fand bei Wilhelm jene ergän- Alexander (vgl. Abb. 1). zende Bezugnahme auf die sinnliche Natur des Men- schen, die er für entscheidend hielt. In welch hohem Maß Humboldt Schiller verbunden war, zeigt ihr Briefwechsel, ebenso wie Humboldts viel zitierte Persönlichkeitsschilderung­ Schillers nach des- sen frühem Tod (vgl. Humboldt 1830), aber auch dass Humboldt bereits im ersten Jahrgang der von Schiller von 1795 bis 1797 herausgegebenen Zeitschrift die „Ho­ ren“ zwei umfangreiche Artikel publizierte (vgl. Abb. 5). Der bereits erwähnte Antagonismus zwischen Ale­ xander und Wilhelm – hier der Naturwissenschaftler, da der Geisteswissenschaftler – hat im Verhältnis beider zueinander im übrigen nie eine Rolle gespielt. Im Gegenteil, eher sah Wilhelm in seinem Bruder den idealen Mitstreiter für die Entwicklung einer um­f­as­ senden Anthropologie. In diesem Sinne schreibt er über seinen Bruder an den gemeinsamen Studienfreund, den schwedischen Diplomaten und Dichter Karl Gustav von Brinkmann:

Abb. 1 Ansicht der Humboldt-Universität mit den Denkmälern Wilhelm „[...] Ich glaube, sein Genie tief studiert zu haben (1767 – 1835) und Alexander von Humboldts (1769 – 1859) und dies Studium hat mir in dem Studium des 168 Klaus M. Beier

Lebens und Zeitdaten (I)

Abb. 2 Büste Wilhelm von Humboldts (1808)

Menschen überhaupt völlig neue Aussichten hatte Gottlob Johann Christian Kunth (1757–1829) verschafft. Das Studium der physischen Natur nun die Oberaufsicht über den Unterricht in Geschichte, mit dem der moralischen zu verknüpfen, und in das Deutsch, Mathematik, Lateinisch, Griechisch und Fran­ Universum, wie wir es erkennen, eigentlich erst zösisch. Eine öffentliche Schule hat Humboldt, der spä- die wahre Harmonie zu bringen, oder wenn dies ­­tere Schulreformer, niemals besucht. Kunth wurde preu­ die Kräfte eines Menschen übersteigen sollte, das ßischer Staatsrat und Mitarbeiter Freiherr von Steins, Studium der physischen Natur so vorzubereiten, der wiederum Wilhelm ans Kultusministerium berief. dass dieser zweite Schritt leicht werde, dazu, sage 1787 studierte er gemeinsam mit seinem Bruder ich, hat mir unter allen Köpfen, die ich historisch ein Semester an der Universität Frankfurt/Oder (Rechts­ und aus eigener Erfahrung in allen Zeiten kenne, wissenschaft), wechselt 1788 – wiederum gemeinsam nur mein Bruder fähig erschien.“ (Wilhelm an Karl mit Alexander – an die Universität Göttingen und lernte Gustav von Brinkmann, 18.03.1793, zit. n. Meyer- in diesem Jahr auch seine spätere Frau, Caroline von Abich 2004: 20) Dacheröden, kennen. Diese war die einzige Tochter des Präsidenten Tatsächlich wird Alexander in seinem Hauptwerk, der Domänenkammer des Fürstentums Minden, Carl dem „Kosmos“, welches erst 1845, also 10 Jahre nach Friedrich von Dacheröden und seiner Frau Ernestine von Wilhelms Tod, zu erscheinen begann, dieses Erkennt­ Hopfgarten. Zwischen ihrer Erstbegegnung 1788 und nisideal von der Harmonie der physischen Natur mit der der Hoch­zeit im Juni 1791 sind eine Vielzahl stürmisch- moralischen Natur des Menschen auch aufgreifen. Aber leidenschaftlicher Briefe im Empfindsamkeits- und auch diese Breite im Denken Alexanders ist im kollek- Wert­her-Stil überliefert, die noch um 3000 Seiten tiven Bewusstsein nicht mehr präsent – er gilt zualler­ Kor­respondenz ergänzt werden, die etwa während der erst als Naturwissenschaftler. Tren­nungspha­sen aufgrund der diplomatischen Tätig­

Herkunft – Ausbildung – Partnerschaft

Der Vater stammt aus einer pommerschen Offiziers- familie, nimmt an den drei schlesischen Kriegen selbst als Offizier teil und wird später Kammerherr am Hof des Thronfolgers Friedrich Wilhelm II. Die fast 20 Jahre jüngere Mutter aus einer hugenottischen Abstammungs­ linie – Mädchenname Colombe – brachte bedeutenden Besitz in die Ehe ein, insbesondere das . 1766 heiraten die Eltern, 1767 wird Wilhelm ge­­ boren, 2 Jahre später der Bruder. Die Erziehung lag in den Händen von Hauslehrern und über 10 Jahre Abb. 3 Wilhelm von Humboldts Eltern Das Verständnis des Menschen aus seiner Geschlechtlichkeit 169

Lebens und Zeitdaten (II)

Abb. 4 Caroline von Humboldt, geb. von Dacheröden (1766–1829) keiten Humboldts entstanden. So schreibt Wilhelm in Wesen gefunden zu haben [...] Allein der Umgang der Anfangsphase der Ehe an Caroline: mit gewissen Naturen und keine darf man dabei so nennen wie meine Frau, hat durch sich selbst etwas „Du erst hast sie mir gegeben, diese Zuversicht unmittelbar und in jedem Moment Bildendes. Bei des Erwartens. Du erst hast jede bange Sorge, meiner Frau kommt aber noch hinzu, dass, da einer je­den ängstlichen Zweifel an künftigem Glück der Hauptzüge in ihrer Ehrfurcht für jedermanns zer­stört. Nie, in den kühnsten Aufflügen meines Freiheit ist, das Bildende nur immer jeden in seiner­ sehnenden Herzens, träumt‘ ich mir eine Seligkeit Freiheit weiterführt“. (Wilhelm an Friedrich Gott­ wie die, welche jetzt mir schon so nahe ist. lieb Welcker, 23.12.1809, zit. n. ebd.: 32) Wir werden nun unzertrennlich miteinander leben, miteinander werden sich nun alle unsere Ideen, Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten: Wilhelm un­sere Empfindungen entwickeln, jeder Tag wird von Humboldt hat aus der Beziehung zu seiner Frau uns inniger ineinander verschlingen.“ (Wilhelm an die authentische Grunderfahrung ableiten können, Caroline, 18.05.1790, zit. n. Berglar 1996: 37) sich von einem Partner in der eigenen Entwicklung be­dingungslos gefördert zu fühlen („ihre Ehrfurcht für Keiner der späteren Briefe lässt den Eindruck aufkom- jedermanns Freiheit“). Durch sie überschreitet er die men, die Bedeutung ihrer Beziehung hätte im Laufe der ihm auferlegten Grenzen und vermag sich weiter zu Partnerschaft auch nur für einen der beiden abgenom- entwickeln. Dies geht aus dem gleichen Brief hervor, men. Nach 25 Jahren Ehe schreibt Caroline: in dem er zum Ausdruck bringt, dass seine Frau ihn eigentlich gerettet habe. Dort heißt es: „Bin ich doch nur in der Welt der Schönheit und der Fülle durch Deine unendliche Güte und „Ich habe eine ordentlich unselige Fähigkeit, mich wer kann mehr wie ich von ihr durchdrungen jeder Lage anzupassen, und stand, als ich mich sein, süßes Leben, kann tiefer Dich kennen als versprach, eben auf dem Punkt, ganz und rettungslos die, die mit jedem Atemzug Deine Liebe, Deine in äußeren Verhältnissen und uninteressanten Men­ Schonung, Dein mildes Tragen und Verzichten schen zu versinken, als mich meine Verbindung auf eigenen momentanen Genuss erfahren und in und der sich darauf notwendig gründende Plan, sich eingesogen hat. Ich will solche Liebe nicht selbständig und mich zu leben, plötzlich wie aus gegen die halten, die ich in anderen sehe und einem Schlummer herausriss“. (Wilhelm an Frie­d­- um mich erfahre. Sie steht über ihr wie das mild rich Gottlieb Welcker, 23.12.1809, zit. n. ebd.: 32) ausströmende Licht des Himmels über dem Licht irdischer Flammen.“ (Caroline an Wilhelm, 11.07. 1817, zit. n. ebd.: 38) Grenzen des Individuums – Gegenüber seinem Freund dem Philologen Friedrich Schranken des Geschlechts Gottlieb Welcker bekennt Wilhelm in einem Brief vom 23.12.1809: Nachdem Humboldt Caroline von Dacheröden gehei- „Es ist wirklich ein unglaubliches Glück, solch ein ratet und seine Position als Referendar am Kammer­ 170 Klaus M. Beier

Abb. 5 Titelbild und Inhaltsverzeichnis der ersten Ausgabe der „Horen“

gericht aufgegeben hatte, entstehen mehrere Dieser sprach in der Kritik der reinen Vernunft zwar Publikationen, die bereits die Schlüsselelemente seines von „zwei Stämme[n] der menschlichen Erkenntnis, späteren Denkens enthalten. So belegen beispielweise die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns seine Schriften über das Verhältnis von Staat und In- unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit dividuum sei­ne Einsicht in die zu berücksichtigenden und Verstand“ (Kant 1787, Einleitung), ging dieser Be­grenztheiten der Individuen: unbekannten Wurzel jedoch nicht nach. Statt dessen findet sich die Frage der Geschlechterdifferenz in seiner „Alles unser Wissen und Erkennen beruht auf all­ „An­thro­po­logie in pragmatischer Hinsicht“ aus dem gemeinen, d.i. wenn wir von Gegenständen der Jahre 1798 in eine Anmerkung verbannt, – verbunden Er­fahrung reden, unvollständigen und halbwahren mit der Befürchtung,­ die Vernunft könne sich in ein Ideen, von dem Individuellen vermögen wir nur mächtiges „Dunkel“ verlieren, wenn sie sich dieser Fra­ wenig aufzufassen, und doch kommt hier alles auf gen annäh­ ­me (vgl. König 1992: 51). individuelle Kräfte, individuelles Wirken, Leiden Vor diesem Hintergrund war es zweifellos ein und Geniessen an.“ (Ideen über Staatsverfassung, mutiger Schritt, dass der junge Hum­boldt 1795 in seinen durch die neue Französische­ Konstituzion veran­ beiden Artikeln „Über den Ge­schlechtsunterschied lasst, 1792, GS I : 79) und dessen Einfluss auf die or­ga­nische Natur“ (GS I: 311–334) und „Über die männliche­ und weibliche Humboldt wollte über die allgemeinen Bestimmungen Form“ (GS I: 335–369) in Schillers­ „Horen“ sich dieser des Menschseins hinausgreifen und nicht von einer „unbekannten Wur­zel“ zuwandte. blut­leeren Abstraktion, sondern von dem wirklichen, Schwerpunktmässig geht es um die schicksal­ ­hafte dem individuellen Menschen sprechen. Mensch ist Bedeutung der Geschlechtlichkeit für den in­di­viduellen letztlich­ für ihn nur ein Sammelname für eine beliebig Menschen, was zunächst bedeutet, In­di­vidualität als große Anzahl verschiedenartigster Individuen und Schranke zu begreifen, denn als die Realisierung einer Schicksale (vgl. Borsche 1990). Für eine Antwort auf be­stimmten­ Möglichkeit aus einer Vielzahl anderer­ die Frage nach dem unverwechselbaren Eigensein des trägt sie den Stempel des Endlichen. Individuums und seiner sinnlichen Wahrnehmungen, Auf die Frage der Geschlechtlichkeit bezogen, schien es ihn aus seiner Sicht daher zwingend auf die präsentiert sich Individua­ ­lität v.a. als männliche oder Geschlechtlichkeit des Menschen – den Ausgangspunkt weibliche und in den Horen-Artikeln versucht Hum­ der Sinnlichkeit – zu verweisen. boldt nun, Sinn und Zweck dieser offen gege­be­nen und Im ausgehenden 18. Jahrhundert war das philoso­ in allen Bereichen des Organischen sich durchhaltenden phi­sche Feld von den Arbeiten Immanuel Kants besetzt. Geschlechterdifferenz dahingehend zu erfassen, dass er Das Verständnis des Menschen aus seiner Geschlechtlichkeit 171

Ge­schlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die or­ganische Natur 1795, GS I: 333f)

Der sexualmedizinisch Tätige weiß um die Richtigkeit die­ser Annahmen aus der klinischen Erfahrung: Das Ge­schlecht als Schranke und die daraus resultierenden Ein­engungen der Individuen, die sich insbesondere durch unveränderbare Sexualstrukturen ergeben, wirken sich auf Lebensführung, Beziehungssuche und -gestaltung der Einzelnen nachhaltig aus. Gleichwohl ist darin auch die Chance enthalten, ergänzt zu werden durch einen Partner oder eine Partnerin im Sinne einer gegenseitigen Förderung des jeweils im Anderen angelegten Potentials, das allerdings nur dann entfaltet werden kann, wenn im Abb. 6 Titelblatt, Kritik der reinen Vernunft (1781) und Immanuel Kant, jeweiligen Gegenüber authentische Akzeptanz (nicht Sepiazeichnung (1786) zu verwechseln mit unkritischer Bejahung) der eigenen Bedürfnisse und Wünsche gefunden wird (vgl. Beier & sie unter die These vom „Geschlecht als Schranke“ Loewit 2004). stellt: Analog dazu lässt sich Humboldts Gedanke vom „Geschlecht als Schranke“ nicht im Sinne einer „Überall muss man sich gewöhnen, das Geschlecht ne­gativen ausschließenden Funktion verstehen, sondern als Schranke zu betrachten, da es von der Summe positiv als Vervollkommnung durch den Anderen. Denn der Anlagen, welche der Begriff der Gattung in daraus entsteht das Neue – das eben mehr ist als das, sich fasst, immer eine gewisse Anzahl einseitig was nur im jeweils Einzelnen angelegt ist, denn erst das aus­schließt.“ (Über die männliche und weibliche Zusammenspiel er-zeugt (vgl. Trabant 1986): Form, 1795; GS I: 353). Die beiden Geschlechter verrichten, „die bei­den Dieses ‚Begrenztsein‘ durch die Geschlechtszugehörig­ gro­ßen Operationen der Natur, die, ewig wieder­ keit ist aber nicht nur Kennzeichen von Individualität, kehrend, doch so oft in veränderter Gestalt erschei­ ­ sondern­ läßt auch die Vernunft defizitär erscheinen: nen, Er­zeugung und Ausbildung des Erzeugten.“­ (Über den Geschlechtsunterschied­ und dessen Ein­ „Der Verstand aber kann nur dürftige Abstraktionen fluss auf die or­ganische Natur 1795, GS I: 333) liefern, und hier ist es uns gerade um ein voll­ stän­diges sinnliches Bild zu tun, weil der wahre Humboldt versteht dies als maßgebliches Naturprinzip: Geist der Geschlechtseigentümlichkeit nur in dem lebendigen Zusammenwirken aller einzelnen Züge „Die Natur wäre ohne ihn (gemeint ist der Ge-­ sich ausdrücken kann.“ (ebd.: 336) schlechts­unterschied, der Verf.) nicht Natur, ihr Rä­derwerk stände still [...], wenn an die Stelle dieses Es geht also um ein Zusammenspiel zwischen den Unter­schiedes eine langweilige und Erschlaffende Geschlechtern, welches geeignet ist, die Endlichkeit der Gleichheit träte.“ (ebd.: 311) individuellen Begrenzungen zu überwinden: Bezüglich auf die einander entgegenwirkenden Kräfte­ „So sind nun zwischen beiden Geschlechtern die der Geschlechter heißt es an anderer Stelle, sie fördern: Anlagen vertheilt, welche es ihnen möglich ma-­ chen, dies unermessliche Ganze zu bilden. Nur „[...] gemeinschaftlich die wunderbare Einheit der dadurch gelang es der Natur, widersprechende Natur, welche zugleich das Ganze aufs innigste Eigen­ ­schaften zu verbinden, und das Endliche verknüpft, und das Einzelne aufs vollkommenste dem Unendlichen zu nähern. [...] Dieser erhabenen ausgebildet zeigt.“ (ebd.: 328) Bestimmung­ genügen sie aber nur dann, wenn sich ihre Wirksamkeit gegenseitig umschlingt, Dieses Prinzip ist universal; es erstreckt sich auf alle und die Neigung, welche das Eine dem Anderen Bereiche menschlichen Lebens. Humboldts Auf­fas­sung sehn­suchtsvoll nähert, ist die Liebe.“ (Über den nach bedarf es 172 Klaus M. Beier

Humboldt entwickelt hier ganz klar den Gedanken vom Ursprung des Geistes aus der Geschlechtlichkeit, von der Verwurzelung des Intellektuellen im Sinnlichen (vgl. König 1992) und nimmt vorweg, was Sigmund Freud ein Jahrhundert später mit dem Begriff der „Sublimierung“ verknüpfte – die Vertauschung eines ursprünglich sexuellen Zieles mit einem anderen, nicht mehr sexuellen, aber psychisch mit ihm verwandten Bestreben. Was bei Kant als zwei unterschiedliche Stämme­ der Erkenntnis ­vermittelt wird, nämlich Verstand und Sinnlichkeit, erweist sich bei Humboldt als ein einziger Abb. 7 Immanuel Kant (1791) Baum der Erkenntnis, der im sexuellen Erkennen wur­ zelt (vgl. Trabant 1986) und dessen Ausgangspunkt in der Geschlechterdifferenz liegt. „nur einer mäßigen Anstrengung des Nachdenkens, Bei Kant, dem damaligen­ „Übervater der Philo­ um den Begriff des Geschlechts weit über die so­phie“, stieß dieser Ansatz auf taube Oh­ren. Sein be­schränkte Sphäre hinaus, in die man ihn ein­ Brief an Schiller, in dem er sich für die zu­gesandten schließt, in ein unermessliches Feld zu verset­zen.“ Horen bedankt, läßt die damalige Provoka­ ­ti­on jedoch (ebd.: 311) zwischen den Zeilen erahnen:

Die Schranken der geschlechtlichen Individualität wer­ „So ist mir nämlich die Natureinrichtung, dass alle den aufgehoben in der Verbindung mit dem kom­ Besamung in beyden organischen Reichen zwey plementären Geschlechtspartner und führen zur Geschlechter bedarf, um ihre Art fortzupflanzen, Er­weiterung beider. Was Humboldt in seiner eigenen jederzeit sehr erstaunlich und wie ein Abgrund des Beziehung erlebte, war ja, dass seine Entwicklung von Denkens für die menschliche Vernunft aufgefallen“. der Partnerin gewünscht wurde. Die Weitung des Anderen (30. März 1795, zit. n. König 1992: 52) führt zur eigenen Weitung – körperlich und geistig. Auch dies deckt sich mit den klinischen Erfah­ Überträgt man Humboldts Überlegung vom „Gedanken rungen der Sexualmedizin: Wer mit Paaren arbeitet, weiß, als letzten Sprössling der Sinnlichkeit“ auf Kant selbst, wie viele Beziehungen scheitern, weil die Part­ner wech- so drängt sich die Frage auf, inwiefern dessen Urteil über selseitig nicht das Gefühl haben, die für die eigene Ent­ den „Abgrund“ nicht auch biographisch bedingt sein wicklung förderliche Annah­ me­ beim anderen zu finden, mag, denn über dessen partnerschaftliche Beziehungs­ wodurch das Poten­tial der In­ter­subjektivität un­aus­ fähigkeit vermag­ die Forschung am wenigsten Auskunft geschöpft bleibt. zu geben. So ist beispielsweise lediglich die Rede da-­ Und: Wie groß das Glück ist, wenn im Verlauf von, er sei „kein erklärter Feind der Ehe“ gewesen und sexual­thera­peutischer Interventionen, Paare die zwi­ habe „zweimal den festen Vorsatz gehabt zu heiraten,­ schen ihnen bestehende­ Barrieren abbauen können, um doch sei er mit dem Entschluss und dessen Ver­wirk­li-­ gegenseitig die eigene „Weitung“ durch „Weitung des chung so langsam vorangekommen, dass er gegenüber­ anderen“ zu erfahren (vgl. Beier & Loewit 2004). Konkurrenten ins Hintertreffen geriet“ (Schultz 2005: Humboldt hat das Modell der „Geschlechtlich­keit“ 48). Unbefriedigend ist auch die fol­gende Schilderung auch hinsichtlich der geistigen Welt mit Konse­ ­quenz zu aus dem Kantschen Lebensumfeld: Ende gedacht. So sei dem gegenseitigen Zeugen und Empfangen „Besonders mit dem englischen Kaufmann Joseph Green verband ihn eine jahrelange Freundschaft, „nicht bloß die Fortdauer der Gattung in der Kör­ die in täglicher Gewohnheit gepflegt wurde. Im perwelt vertraut. Auch die reinste und geistigste Gar­tenhaus Greens trafen sich nach dem Essen Empfindung­ geht auf demselben Wege hervor die Freunde, wobei es sich oft ereignete, dass und selbst der Gedanke, dieser feinste und letzte Kant ihn bei seiner Ankunft schlafend vorfand. Sprössling der Sinnlichkeit verläugnet diesen Der Philosoph setzte sich dann in einen anderen Ur­sprung nicht.“ (Über den Ge­schlechtsunterschied Lehnstuhl neben ihn und folgte ihm in den Schlaf. und dessen Einfluss auf die or­ganische Natur 1795, Ein weiterer Freund, Wilhelm Ludwig Ruffmann, GS I: 316, Hervorhebung d. Verfasser) Bankdirektor in Königsberg, betrat als Nächster das Das Verständnis des Menschen aus seiner Geschlechtlichkeit 173

Gartenhaus und zögerte nicht, sich ebenfalls dem Lebens und Zeitdaten (III) Schlaf anzuvertrauen.“ (zit. n. ebd.: 49f)

Inwieweit diese Legendenbildung von einer „asexuellen“ Lebensführung von Kant selbst gewollt sein mag, scheint weniger bedeutsam als die sexualmedizinische Gewissheit, dass es eine menschliche „Asexualität“ nicht gibt. Bindungswünsche bestehen immer, können aber – beispielsweise aufgrund einer vor sich selbst ab­gelehnten Sexualstruktur – lebenslang zurückgestellt bzw. mit mehr oder weniger geeigneten Mitteln zu kompensieren versucht werden. Im Übrigen verrät Kant in dem bereits erwähnten Brief an Schiller,­ selbst nicht vollkommen „frei“ von ver­gleich­baren Gedanken (und Empfindungen?) zu Jede lebendige Kraft in einem organischen Wesen ist auf sein, denn er spricht davon, dass ihm „bisweilen“ etwas einen anderen Körper angewiesen, wirkt auf ihn ein und Ähnliches durch den Kopf gehe, er aber „nichts daraus der Körper wirkt auf sie zurück. zu machen“ wüsste: „So ist in jedem organischen Wesen Wirkung und „Die [...] Abhandlung über den Geschlechtsunter­ ­ Rückwirkung verbunden. Wie unbegreiflich nun schied in der organischen Natur kann ich mir, so ein auch das Geschäft der Zeugung ist, so wird doch guter Kopf mir auch der Verfasser zu seyn scheint, soviel wenigstens klar, dass das Erzeugte aus einer doch nicht enträtseln [...] . Etwas dergleichen läuft Stimmung des Erzeugenden hervorgeht [...]. Die einem zwar bisweilen durch den Kopf; aber man Erzeugung organischer Wesen erfordert daher eine weiß nichts daraus zu machen [...]“ (30. März 1795, doppelte, eine auf Wirkung und eine andere auf zit. n. König 1992: 52) Rückwirkung gerichtete Stimmung und diese ist in derselben Kraft und zu gleicher Zeit unmöglich.“ Gleichwohl war damit über Hum­boldt und dessen (ebd.: 319 ) Konzept, das gegenüber der verdrängten „Sinnlichkeit“ bei Kant eine Alternative darstellte, der Stab gebrochen.­ Souveräner wäre zweifellos der Versuch ge­we­sen, aus Von den Geschlechter- zu den dem aufgegebenen Rätsel etwas „zu ma­chen“, hatte der mit der Antike bestens vertraute Hum­boldt seine Sprachstudien und zurück Auffassung doch mit vielfältigen Zeugnissen aus der Kulturgeschichte belegt, die nicht umstandslos übergehbar waren. So stellte er am Schluss seines Humboldts Konzept, das Sinnlichkeit und Verstand Ho­ren-Textes „Über die Geschlechtsunterschiede“ fest: auf einen gemeinsamen, geschlechtlichen­ Ursprung zurückführte, bestimmte auch seine Sprachforschung. „So gehorcht daher die Natur derselben Gottheit, Im September 1800 schreibt er an Schiller: deren Sorgfalt schon der ahnende Weisheitssinn der Griechen die Anordnung des Chaos übertrug.“ „Alle unsere Endlichkeit rührt daher, dass wir uns (Über den Geschlechtsunterschied und dessen Ein­ nicht unmittelbar durch und an uns selbst, sondern fluss auf die organische Natur, 1795, GS I: 334) nur in einem Entgegengesetzten eines Anderen erkennen können, besteht in einem ewigen Trennen, Diesen Ursprung der wirklichen Bewegung sowie das unseres Wesens in einzelne Kräfte, der Welt in Prin­zip des endlichen Denkens verkörpert bei den Grie­ einzelne Gegenstände, der Menschheit in einzelne chen die Gottheit des „Eros“. Er präsentiert nicht die Menschen, des Daseins in vorübergehende Zeiten. Liebe zum Gleichen, die sich nach Ruhe und ewigen­ Da diese Endlichkeit nicht in der Tat aufgehoben Besitz des Ewigen sehnt, sondern die Liebe zum Anderen, werden kann, so muss sie es in der Idee; da es nicht die ihre Erfüllung in der Fülle endlicher individueller auf göttliche Weise geschehen kann, muss sie es auf Gestalten findet (vgl. Borsche 1992). In dem Horen-Text menschliche. Des Menschen Wesen aber ist es, sich hat Humboldt diesbezüglich auch ausgeführt, warum erkennen in einem Anderen; daraus entspringt sein der „Geschlechtsunterschied“ überhaupt notwendig ist: Bedürfnis und seine Liebe.“ (Werke V: 197) 174 Klaus M. Beier

Sprache dient zum Überwinden dieser Grenzen und jeder einzelne Sprecher, sagt Humboldt, artikuliert sich auf seine individuelle Weise. Bereits in seiner Akademie-Rede im Jahre 1827 „Über den Dualis“ hatte er anhand der pluralischen Sonderform der „Zwei“ herausgearbeitet, dass „Ich und Du“ als Keimzelle des Lebens anzusehen sind. Wie Trabant betont, ist in der Rede über den Dualis von Humboldt das Miteinander- Sprechen als Grundlage liebender Verbindung zwischen Menschen herausgestellt worden, wonach der Kreis geschlossen sei, „der von der Liebe als Grundlage alles geistigen, also auch der Sprache, seinen Ausgang Abb. 8 Wilhelm von nahm“ (Trabant 1986: 24). In dieser Rede heißt es: Humboldt (1827)

„Erst durch die, vermittelst der Sprache bewirkte In sexualtherapeutischen Interventionen spielt ein Dia-­ Verbindung eines Andren mit dem Ich entstehen lo­gik-Modell, das aus der Anerkennung der ‚Dif­fe­ nun alle, den ganzen Menschen anregenden tieferen renz‘ resultiert, eine zentrale Rolle. Im we­sent­li­chen und edleren Gefühle, welche in Freundschaft, Liebe geht es darum, die Kommunikation zwischen Bezie­ und jeder geistigen Gemeinschaft die Verbindung hungspartnern dahingehend zu verbessern, dass die zwischen Zweien zu der höchsten und innigsten Aufmerksamkeit für das, was beim Anderen gerade machen.“ (Über den Dualis, GS VI: 27) anders ist, erhöht und die Mitteilungsfähigkeit für das eigene Empfinden optimiert wird. Dabei kommt auch hier das Denken in Differenzen zum Es geht – ganz im Humboldtschen Sinne – also Tragen, denn Verständigung bedeutet für Humboldt darum, auf das bisher Fremde zu achten und dies in die nicht Übereinstimmung im selben, sondern eigenen Weltsicht zu integrieren, so dass ein Gedanke, der zunächst trennt und die Differenz markiert, ver­ „dass man in der Sprache anderer soviel von dem bin­den bzw. zu etwas Neuem beitragen kann, weil seinigen wiederfindet, um das Fremde daran erfassen sich auf diesen Gedanken mit einem neuen Aspekt und in sich übertragen zu können.“ (Einleitung zum reagieren läßt, der wiederum zum Ausgangspunkt einer Kawi-Werk, 1830 – 1835, GS VII: 603) neuen Differenz werden kann. Hieraus erwachsen die gemeinsamen Potentiale. Und zwar sprachlich wie auch Jeder hat eine je eigene Weltsicht und kann sie ebenso­ körpersprachlich, denn Sprache und Körpersprache wenig wie die der anderen verobjektivieren. Erfahrbar­ ba­sieren auf denselben Prinzipien, denn man merkt ist sie für Humboldt nur in der Erfahrung der Fremdheit auch ohne Worte, ob man körperlich – in seinem des je anderen, d.h. wir erfahren sie in der Anerkennung An­ders­sein – wahrgenommen und akzeptiert wird oder des­sen, was wir an anderen Sprachen und am anderen eben nicht (vgl. Beier & Loewit 2004). Sprechen von uns aus gerade nicht verstehen können Dies funktioniert allerdings nur in der Anerkennung (vgl. Simon 1986). des Anderen, also in der Aufmerksamkeit für genau Diese Welterfahrung aus einer ‚Differenz‘ gegen­ das, was vom Anderen in Abweichung zur eigenen über einer anderen Sprache, denkt Humboldt in einem Weltsicht vorgebracht wird. Ist diese Aufmerksamkeit ana­logen Modell, wie die „Zeugung“ des Gedankens nicht gegeben – indem beispielsweise nur auf das qua Synthese angesichts der ‚Differenz‘ zwischen Sinn­ Gleiche geachtet wird, bzw. nur auf das, was von einem lichkeit und Verstand: selbst ausgeht –, versiegt der Dialog. Aus Humboldts letzten Lebensjahrzehnt stammt „Subjektive Thätigkeit bildet im Denken ein der Plan, eine „Geschichte der Abhängigkeit im Men­ Ob­jekt. Denn keine Gattung der Vorstellung kann schengeschlecht“ schreiben zu wollen. In der Einleitung als ein bloß empfangenes Beschauen eines schon dazu heißt es: vorhandenen Gegenstandes betrachtet werden. Die Tätigkeit der Sinne muss sich mit der inneren „Die Geschichte eines Zustandes des einzelnen Handlung des Geistes synthetisch verbinden und Menschen und des Menschengeschlechts durch alle aus dieser Verbindung reißt sich die Vorstellung Verhältnisse des Privatlebens und alle Ereignisse los.“ (ebd.: 55) der Überlieferung hindurch zu verfolgen, ist ein bis jetzt noch zu wenig versuchtes Unternehmen.“ Das Verständnis des Menschen aus seiner Geschlechtlichkeit 175

[...] „Es müssen nicht nur die Menschen in verschiedenen Zuständen, sondern auch die allgemeinen Zustände an verschiedenen Menschen und Völkern betrachtet werden. Denn gerade sie sind das Bleibende, sich Forterhaltende, da der einzelne, genießende und leidende Mensch kommt und untergeht. [...] Denn die Einheit der Realität hebt die Getrenntheit der Erscheinungen auf.“ (Einleitung zur „Geschichte der Abhängigkeit im Menschengeschlecht“, 1827, GS VII: 654)

Dem Inhaltsverzeichnis dieses Entwurfs ist für das zweite Kapitel folgender Aufbau zu entnehmen (zit. n. Abb. 9 Iwan Bloch (1872–1922) ebd.: 653): festhalten zu können, führten zur ersten differenzierten II. Geschichte des Zeugungstriebes Symptombeschreibung des Morbus Parkinson, an dem 1. Philosophische Erörterung. Grundsätze. Allgemeine Humboldt in den letzten Jahren seines Lebens litt Gesetzgebung. (vgl. Horowski et al. 1995). Dies lässt sich vor allem 2. Beschaffenheit überhaupt aus seinem umfangreichen Briefwechsel mit Charlotte 3. Umgang beider Geschlechter miteinander Diede (vgl. Leitzmann 1909) rekonstruieren, den er 4. Umgang jedes Geschlechtes mit sich von 1814 bis zu seinem Tode – mithin über 20 Jahre 5. Umgang mit Thieren – regelmäßig führte. 6. Umgang mit sich Bereits im Frühstadium der Erkrankung hatte er bei 7. Geschichtliche Ereignisse sich die Mikrographie bemerkt, also das Kleinerwerden 8. Hetaeren der Handschrift. Er beschrieb aber auch alle anderen Symptome wie den Ruhe- und Haltetremor sowie die Bemerkenswert ist, dass er offensichtlich vorhatte, Akinese („Unbehilflichkeit bei freien Bewe­ ­gungen“) die Prostitution („Hetaeren“) genauer zu untersuchen und den Rigor, d.h. die Muskelstarre (einschließlich­ und damit ein Projekt aus seiner Jugendezeit wieder dem „Zahnradphänomen“): aufnehmen wollte, wie aus einem Brief Caroline von Wollzogen hervorgeht, in dem davon die Rede ist, er u Mikrographie: „Mir geht es oft so als ob ich gar wolle eine „Geschichte der Hurerei“ schreiben. (vgl. keine großen Buchstaben machen könnte“ (19.10. Kommentar von Leitzmann in GS VII: 655). 1829) Umgesetzt wurde dieses Vorhaben knapp 100 Jahre u Tremor: „[…] sehr häufig ein unangenehmes Zittern später von Iwan Bloch (1872–1922), der sich in der in den Füßen, das wechselnd stärker und schwächer Vorrede seiner Monographie über die „Prostitution“ (1912) auch auf die Vorarbeiten Humboldts bezieht: „Es erfüllt uns mit Bewunderung, daß hier bereits die sexuelle Frage als ein integrierender Bestandteil des großen Problems der Menschheitsentwicklung aufgefaßt wird, und mit noch größerer, daß sie mit tiefer Einsicht in den Mittelpunkt dieser Entwicklung gestellt wird.“

Humboldts Alter – Beschreibung der Parkinson-Symptome Abb. 10 Typische Haltungsstörung bei Humboldts Interesse für individuelle Daseinsformen, Parkinson wie sie in der seine Aufmerksamkeit­ für körperliche Vorgänge und die Statuette Humboldts hohe Gabe sich selbst zu beobachten und dies präzise von 1834 erkennbar ist. 176 Klaus M. Beier

ist, bisweilen aber auch […] sich gar nicht meldet Da­sein in Kategorien abgesteckt, die heute noch […]“ (28.6.1832) Gültigkeit beanspruchen können:

u Akinese: „Unbehilflichkeit bei freien Bewegungen“ u Geschlechtsunterschiede als Ursprung der Über­ (4.11.1833) windung von individueller Endlichkeit (heißt heute: u Rigor mit „Zahnradphänomen“: „Das Zittern stellt Geschlechtlichkeit als erlebnis- und verhaltensfun­ ­ sich ein und teilt von den Füßen aus, wenn es die­rende Basis der Menschen) auch äußerlich wenig erscheint, dem ganzen Kör­ u Einheit von „physischer und geistiger Natur“ (heißt per, besonders aber den Händen, eine die Gleich­ heute: biopsychosozialer Ansatz) mäßigkeit der Bewegung störende Nervenschwin­ ­ u Gedanke als „letzter Sprößling der Sinnlichkeit“ gung mit.“ (4.11.1833) (Briefen an Charlotte Diede, (heißt heute: keine Kognition ohne Emotion) vgl. Leitzmann 1909) Die Ärzte und auch er selbst sahen es wohl als Alters­ Zum Anliegen der Wilhelm von er­scheinung an, was ein Hinweis darauf ist, dass die Publikation von James Parkinson aus dem Jahre 1817 Humboldt Stiftung in Berlin nicht bekannt war. Der Begriff Parkinson‘sche Krankheit wurde ja ohnehin erst 1876 von Charcot an der Salpetiere in Paris geprägt. Die Beschreibung der In dem „Fragment einer Selbstbiographie“ von 1816 Symptome durch Wilhelm von Humboldt ist jedenfalls schreibt Humboldt: präziser als in der Publikation Parkinsons, was noch mal seine klare Beobachtungsgabe für innere Prozesse „Es giebt in dem Menschen, wie in jedem wirklichen verdeutlicht. Wesen, immer einen gewissen Theil, der nur ihn und sein zufälliges Daseyn angeht und recht füglich von andren unerkannt mit ihm dahinstirbt; dagegen Wilhelm von Humboldt – giebt es in ihm einen anderen Theil, durch den er mit einer Idee zusammenhängt, die sich in ihm vor­ Entdecker des ‚inneren Kosmos‘ züglich klar ausspricht, und von der er das Symbol ist“ (Fragment einer Selbstbiographie, 1816; GS XV: 452) Wilhelm von Humboldts besonderes Vermögen zur Analyse des inneren Er­le­bens scheint ihn prägnant von Wie läßt sich dieser „andere Theil“ Wilhelm von Hum­ seinem Bruder Alexander unterschieden zu haben. 1804 boldts heute denken? Wohl dahingehend, dass das, schreibt er disbezüglich an seine Frau Caroline: was er symbolisierte – weil es sich „in ihm vorzüglich klar“ ausgesprochen hat –, mit seiner Entdeckung und „[...] Seit unserer Kindheit sind wir wie zwei ent­ Be­schreibung des „inneren Kosmos“ des Menschen in gegengesetzte Pole auseinandergegangen, obwohl einen Zusammenhang gestellt wird. wir uns immer geliebt haben [...] . Er hat von früh Die Stiftung wird sich bemühen, genau dieses Ver­ an nach außen gestrebt und ich habe mir ganz früh mächtnis Humboldts, seinem „anderen Theil“, der bis schon ein inneres Leben erwählt, und glaube mir, heute unbeachtet blieb, zu fördern. Die Satzungs­ ­zwe­ darin liegt alles.“ (vgl. v. Sydow 1920: 92) c­ke der Stiftung legen sein umfassendes Modell von Geschlechtlichkeit zugrunde und so heißt es dort: Vielleicht ließe sich sagen: Da, wo Alexander die äußere Natur des Menschen beschrieb und katalogisierte, „Zweck der Stiftung ist die Bewahrung, die För­ be­mühte sich Wilhelm von Humboldt um Einsichten in derung und der Schutz die innere – Alexander stünde dann für die Ent­deckung [...] des ‚äußeren Kosmos‘, Wilhelm für die des ‚inneren‘. des Bewusstseins von Geschlechtlichkeit, Sexualität Alexander konnte die Welt des ‚äußeren Kosmos‘ und Partnerschaft als elementaren Bestandteilen der allerdings in einer Weise vergegenständlichen. die für menschlichen Natur bzw. des menschlichen Lebens die Darstellung des ‚inneren‘ in dieser­ Form nicht und damit der allgemeinen und gesundheitlichen zur Verfügung steht. Wilhelm war also in einem weit Lebensqualität größerem Maße auf die Fähigkeit zur gedanklichen [...] Abstraktion verwiesen; so hat er das menschliche der Prävention, Erkennung, Behandlung und Reha­ ­ Das Verständnis des Menschen aus seiner Geschlechtlichkeit 177

bilitation geschlechtlicher, sexueller und partner­ ­ Literatur schaftlicher Störungen

[...] Berglar, P. (1996): Wilhelm von Humboldt. 7. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowolt. durch unabhängige sexualwissenschaftliche und Bloch, I. (1912): Die Prostitution. Handbuch der gesamten se­xualmedizinische Forschung, Klinik und Lehre Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen, Band I, Berlin: im nationalen und internationalen Bereich.“ Marcus. Borsche, T. (1990): Wilhelm von Humboldt. München: Beck Die Stiftung hat sich entsprechend dem Verständnis Horowski, R.; Horowski, L.; Kielhorn, F. W. (1995): Versuch der mensch­lichen Geschlechtlichkeit, wie es im Den­ über Wilhelm von Humboldt und die Medizin. In: „Der ken Wilhelm von Humboldts angelegt ist, zum Ziel Bär von Berlin“. Jahrbuch für Geschichte. Berlin/Bonn: Westkreuz Verlag. gesetzt, die Bearbeitung sexualwissenschaftlicher Fra­ Humboldt, W.v. (1792): Ideen über Staatsverfassung, durch die gestellungen in Forschung, Lehre und Klinik zu unter­ neue französische Konstituzion veranlasst. In: Berlinische stützen. Den satzungsgemäßen Stiftungszwecken nach Monatsschrift, 19, Januar 1792: 84–98 sind folgende Schwerpunkte möglich: Humboldt, W.v. (1830) Vorerinnerung, in: Briefwechsel zwi­schen Schiller und Wilhelm v. Humboldt. Mit einer u Grundlagenforschung zu menschlichem Bindungs- Vorerinnerung über Schiller und den Gang seiner Geistes­ entwicklung von W. von Humboldt. Stuttgart und Tübingen, und Kommunikationsverhalten bezüglich biologi- in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. scher, psychologischer und sozialer Mechanismen. Humboldt, W.v., Werke in 5 Bänden, hrsg. von Andreas Flit­ u Forschungen zu Auswirkungen von Erkrankungen ner und Klaus Giel (1981), Band 5: Autobiographisches, (und/oder deren Behandlung) sowie von Substan­ Charakteristiken, Dichtungen. Stuttgart: Cotta. zen (und/oder Substanzmittelmissbrauch) auf Sexu­ Humboldt, W.v., Gesammelte Schriften (GS), im Auftrag der alität und Partnerschaft der Betroffenen, z.B. bei (Königlich) Preußischen Akademie der Wissenschaften Krebserkrankungen (Mamma-Ca, Prostata-Ca), hrsg. v. Albert Leitzmann u.a., 17 Bde., Berlin 1903-36 (ND 1967/68) 1. Abt., Werke, Bde. 1–9, 13 (Leitzmann); geis­tiger und körperlicher Behinderung sowie der 2. Abt., Politische Denkschriften, Bde. 10–12 (Gebhardt); Einnahme verschiedener Hormone 3. Abt., Tagebücher, Bde. 14-15 (Leitzmann); 4. Abt., u Verbesserung der sexualmedizinischen Versorgung politische Briefe, Bde. 16–17 (Richter). im Bereich der Niedergelassenen Kant, I (1787): Kritik der reinen Vernunft, Einleitung 2. u Schaffung von medizinisches Versorgungszentren, Auflage. die Spezialbehandlungen für alle sexualmedizini- König, I. (1992): Vom Ursprung des Geistes aus der schen Indikationen vorhalten (z.B. Angebote für die Ge­schlechtlichkeit. Zur chronologischen und systemati- schen Entwicklung der Ästhetik Wilhelm von Humboldts. Begleitung geschlechtsidentitätsgestörter Kinder Frankfurt am Main: Verlag Hänsel-Hohenhausen. und ihrer Eltern, oder aber für die primärpräventive Leitzmann, A. (1909): Wilhelm von Humboldts Briefe an Behandlung der Pädophilie). eine Freundin. Zum ersten Male nach den Originalen her- u Etablierung einer Sprach- und Begriffssystematik ausgegeben von Albert Leitzmann. 2 Bände. Leipzig: Insel zur Intimkommunikation – etwa im Sinne der Verlag. Er­stellung eines entsprechenden Wörterbuches. Meyer-Abich, A. (2004): Alexander von Humboldt. 17. u Förderung sexualmedizinischer Zusammenarbeit Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowolt. Schultz, U. (2005): Immanuel Kant. 3. Auflage, Reinbek bei auf europäischer Ebene Hamburg: Rowolt. Simon, J. (1986): Wilhelm von Humboldts Bedeutung für die Philosophie. In: Wilhelm von Humboldt, Vortragszyklus zum 150. Todestag, hrsg. von Bernfried Schlerath, Berlin: de Geroyter: 128–143. Sydow, von, A. (1920): Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, herausgegeben von Anna von Sydow, Berlin: E.S. Wittler Trabant, J. (1986): Apeliotes oder der Sinn der Sprache. Wil­helm von Humboldts Sprachbild. München: Wilhelm- Fink-Verlag.

Adresse des Autors Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin,Charité-Universitätsmedizin Berlin, Freie- und Humboldt-Universität zu Berlin, Luisenstr. 57, 10117 Berlin, mail: [email protected] Gründung der Wilhelm von Humboldt Stiftung

Vortrag anläßlich der Überreichung der Stiftungsurkunde der Wilhelm von Humboldt Stiftung

Piet Nijs

Speech on the Occasion of the zum Wiener Kongreß. Von Juli bis September 1815 nimmt von Humboldt an den Friedensverhandlungen in Presentation of the Charter Paris teil. Am 11. September wird er als Gesandter nach of the Wilhelm von Humboldt England berufen, wo er vom 5. bis zum 30. Oktober bleibt. Foundation Wie Professor Dr. Dr. K. Beier hier schon eindrucks- voll dargestellt hat: Wilhelm von Humboldt lebte und arbeitete unglaublich kreativ in einer Zeit, als in Europa Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe KollegInnen! Kunst und Krieg ihre Allgewalt neben- und gegen- Anläßlich der Gründung der Wilhelm-von-Humboldt- einander zeigten. Einerseits unsterbliche Höhepunkte Stiftung möchte ich als Vorstandsmitglied der European von Kunst, Kultur und Wissenschaft, andererseits töd- Federation of Sexology Ihnen gern einige Kernge­dan­ liche Tiefe von menschlicher und mitmenschlicher ken mitteilen. Destruktivität. Europa demonstrierte, wie Fahne und Wilhelm von Humboldt, diese geniale Inkarnation Kreuz, auch und gerade im Namen der göttlichen Liebe des deutschen Geistes, war auch Europäer, ein Europäer und der Vaterlandsliebe die größten Blutspuren in der „avant la lettre“. Aus seiner Biographie können wir ent- Geschichte der Menschheit ziehen können. nehmen, dass er im Alter von 22 Jahren 1789 nach Paris Dieses Sozialschicksal bestätigte für viele die und in die Schweiz reist. 1789 war genau das Jahr, in Wahrheit: „L’amour et la fortune se changent comme la dem die Französische Revolution am 14. Juli ausbricht lune.“ Und auch gerade in dieser Kriegszeit in Europa und die Bastille gestürmt wird. war Wilhelm von Humboldt ein leuchtendes Vorbild, Als Dreissigjähriger macht von Humboldt eine das friedensorientiert die Gegenpole und Gegenspieler Reise nach Wien (Herbst 1796) und übersiedelt im auf der europäischen Bühne als Gegner zur Begegnung No­ve­mber nach Paris. Er wird der Erste Konsul von orientieren konnte. So war es damals in unruhigen Zei-­ Na­po­leon Bonaparte. Im Jahr 1800 reist er für sieben ten, aber auch heute bleibt die Aktualität, ja die Auf­ Mo­nate nach Spanien, ein Jahr später begibt Wilhelm gabe, die Wiedervereinigung. von Humboldt sich allein in die französischen und Wir haben mit dankbarer Freude erleben können: spanischen Regionen des Baskenlands. Von 1802 bis Die schizophrene Spaltung von Europa ist zum Ende 1808 ist er (preussischer) Resident beim Päpstlichen gekommen. Die Wiedergeburt Europas ist gerade sym- Stuhl in Rom. bolisiert worden in der Wiedervereinigung Deutschlands, Am 14. Juni 1810 erfolgt die Ernennung zum auch wenn diese Geburt nicht so harmonisch geschieht, Staats­minister und Gesandten in Wien. Im Februar wie die antiken griechisch-römischen Kunstwerke dies 1814 tritt Wilhelm von Humboldt als preußischer idyllisch dargestellt haben. Im Europa von morgen er-­ Be­voll­mächtigter auf dem Kongreß zu Chantillon auf. warten wir auch eine immer intensivere Begegnung In der Periode von April bis Juni 1814 ist er mit dem zwischen dem westlichen technischen Wissen und der alliier­ ­ten Hauptquartier in Paris. Im August 1814 reist östlichen Weisheit. Nicht die politische, sondern die er als zweiter Vertreter Preußens neben Hardenberg geistige Auseinandersetzung zwischen Ost und West Sexuologie 13 (2–4) 2006 178–180 / Elsevier-Urban & Fischer http://www.elsevier.de/sexuologie Vortrag anläßlich der Überreichung der Stiftungsurkunde der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftung 179 mit dem Ziel einer west-östlichen Weltkultur wird das Dritten zwischen den Partnern, gegenüber dem ano­ Denken der Zukunft sein, mit einer Wiederbelebung der nymen Experiment; spirituellen Kräfte. Es wird zu einer Begegnung kom- u der Kosmos der Sinne gegenüber der entfleischten men zwischen der östlichen Seele, mit ihrer tragischen Rationalität. (P. Petersen: Der Therapeut als Künst­ Biographie in all ihren Tiefen, und den westlichen ler. Stuttgart/Berlin: Mayer Verlag, 2001) Computern und Robotern, mit einem unverwundbaren Griff auf die materielle Produktion. Die westlichen Während sein Bruder Alexander von Humboldt eine Computer und Roboter be­we­gen sich in einer Land-­ phy­sische Weltbeschreibung des Kosmos geschaffen schaft von absterbender Na­tur und zugrundegehender hat, ist Wilhelm von Humboldt ein Entwurf des inneren Kultur, mit blinden Augen. Kosmos des Menschen, auch als Kosmos der Sinne Für eine neue Zukunft geht es nicht um die Beherr­ zwischen Mann und Frau, gelungen. schung der Welt oder die Besetzung einer Region, son- Ja, es ist die erotische Weisheit im Rahmen dern um die Bewohnung oder um die Wiederbewohnung einer Anthropologie von Wilhelm von Humboldt mit Europas und der Erde im friedlichen Zusammenleben einer Fülle, wo Sinn(gebung) sich entfaltet aus der der Völker. Sinnlichkeit der Polarisierung der Geschlechter heraus, Im Gegensatz zu der entzauberten Welt der Vergan­ jenseits der Aussage von Kraus: genheit kommt die Wiederverzauberung der Welt in einer neuen Zukunft, wo der wiedergewonnene Eros „Des Weibes Sinnlichkeit die kreativen Kräfte bringen wird: vom pädagogischen ist der Urquell, an dem Eros (nach Spranger) zum therapeutischen Eros. sich des Mannes Geistigkeit Gerade 100 Jahre nach der Geburt der Sexual­ Erneuerung holt.“ wissenschaft könnte ich als Sexualmediziner angesichts dieser positiven Wendung hinterfragend sagen: ist dies Findet hier nicht die konkrete Inkarnation der „conjunc- Weisheit, die erotische Weisheit statt einer reduzieren- tio oppositorum“ nach Cusanus statt? den Naturwissenschaft? Vaclav Havel hat beschrieben, welche Qualitäten Denn, was bindet uns, nach 100 Jahren Sexualwis­ wir pflegen sollten, um als zukunftsfähige Menschen sen­schaften, und was verbindet uns mit Wilhelm von leben zu können: „Seele, persönliche Spiritualität, Humboldt? eige­ner Einblick in die Dinge aus erster Hand; der Mit seinem Leben und Wirken ruft Wilhelm von Mut, wir selbst zu sein und den Weg zu gehen, den uns Humboldt uns, auch hier und jetzt, zur Rehumanisie­ unser Gewissen aufzeigt, Bescheidenheit ange­sichts der rung der Medizin und der Gesellschaft auf. geheimnisvollen Ordnung des Seins, Vertrauen in des-­ Unser Auftrag ist es, zu einer Rehumanisierung der sen fun­damentale Richtung und vor allem Vertrauen immer technisch einseitiger werdenden Medizin beizu- in die eigene Subjektivität als das hauptsächliche Ver­ tragen und zu einer Wiedergeburt und Metamorphose bindungsglied zur Welt [...]“ (zit. n. Freundes­brief der des Therapeuten. In diesem Sinne muß es zu einer Offensiven junger Christen, 1992, 3: 86–87) Rehumanisierung unserer technokratischen Gesellschaft Gelten diese Aussagen nicht auch für den Lebens­ kommen. Und vielleicht geht es zu Beginn eines neuen weg von jedem Therapeuten, aus der Vergangenheit in Jahrtausends nicht nur um eine gesunde Biosphäre die Zukunft? Jeder Therapeut soll sich immer wieder­ und eine lebbare Erde, vielleicht geht es um die einsetzen für Rehumanisierung, für integrales Denken­ Rettung des menschlichen Lebens überhaupt, um das und für globale Verantwortung der Ärzte und Thera­ Weiterleben in einer humanen Welt im Lebensstil der peuten. Verantwortung (Jonas). Also: Keime für eine neue An diesem historischen Tag und Ort fühle ich Welt, für eine neue Therapie, für neue TherapeutInnen. mich auch persönlich mit Dankbarkeit erfüllt. Denn, Der Sexualmediziner als Brückenbauer – eine pontifi- damals, im Jahr 1968, bekam ich als junger Assistent kale Aufgabe. und Forscher unerwartet ein Dozentenstipendium der Und es soll uns gelingen, in den medizinischen Alexander von Humboldt-Stiftung. So wurde mir ein Disziplinen, Gegenwelten mit neuen Grundwerten zu bereichernder Aufenthalt bei Professor Dr. Dr. Hans schaffen (P. Petersen): Giese am Institut für Sexualforschung in Hamburg er- mög­licht. Auf diese Weise hat eine Deutschland-Er­fah­ u der Begriff der Begegnung, auch in der Begegnung rung für mich angefangen, die sich noch immer fortset- der Geschlechter, als ein neues Prinzip, gegenüber zen darf. Meine Dankbarkeit bleibt groß und tief. dem objektiven Wissen; Dankbarkeit gegenüber den KollegInnen in der gynä- u das Prinzip des Dialogs mit dem Entstehen des kologischen Psychosomatik und in der Sexualmedizin, 180 Piet Nijs

die jahraus, jahrein mir die Entdeckungsfreude des Sie bilden die Symphonie der Begegnungsfreude: mit Dialogs und der Konfrontation schenkten. Sie hielten einem Orchester, reichlich besetzt mit vielen und sehr und halten die Flammen des begeisterten Einsatzes für verschiedenen Instrumenten.. eine Rehumanisierung der technischen Medizin lodernd. Darum, von Freude und Dankbarkeit erfüllt, in Sie begeisterten und begeistern immer wieder diesem historischen Hörsaal überreiche ich, auch im meine therapeutische Arbeit mit den Strahlen eines the­ Namen der European Federation of Sexology, die ra­peutischen Eros, vor allem in Stunden, in denen es Stif­tungsurkunde der Wilhelm von Humboldt Stiftung dunkel werden kann. an Herrn Hartwig Marx, Vorstandsvorsitzender der Dankbarkeit gegenüber diesen vielen deutschspra- Wilhelm von Humboldt Stiftung. chigen KollegInnen, denen ich seit 1968 in so vielen Ich bin mir dabei bewußt, welche Herausforderun­ Gesichtern und Gestalten bei Seminaren, Kon­gressen gen auf den Vorstand und das Kuratorium der Stiftung und Fortbildungsveranstaltungen begegnen durf- zukommen. Und ich hege die große Hoffnung: dass te. Sie bildeten und bilden Lebensstationen der Wie­ auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft Deutschland dererkennung, mit der Freude zwischen Verbündeten, in Europa wieder seine Rolle als primus inter pares mit dem Ahnen zwischen gleichgestimmten Seelen. zukunftsoffen aufnehmen wird.

Adresse des Autors Prof. em. Dr. med. Piet Nijs, Institut für Ehe- und Sexualwissenschaften, Kath. Universität Leuven, Capucienenvoer 35, 3000 Leuven, Belgien, mail: [email protected]

Gründung der Wilhelm von Humboldt Stiftung

Von links nach rechts:

Hartwig Marx Christoph Joseph Ahlers Kurt Loewit Margy Gerber Reinhild Bartunek Karl W. Raff Klaus M. Beier

Vorstand Kuratorium

Vorsitzender Vorsitzender Hartwig Marx, Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier, Berater in eigener Praxis, Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin Duisburger Str. 4, D-10707 Berlin, der Charité-Universitätsmedizin Berlin, [email protected], Fon +49. 30. 88 70 77 32 [email protected], Fon +49. 30. 450 529 301

Forschung und Finanzen Stellvertretende Vorsitzende Dr. med. Alfred Pauls, Prof. Dr. med. Kurt Loewit, Internist und Sexualmediziner, Berlin, Em. Professor für Sexualmedizin, Universität Innsbruck, Koordinator für Forschung und Wissenschaft am Institut für Prof. Dr. med. Dr. jur. Reinhard Wille, Sexualwissenschaft und Sexualmedizin, Universitätsklinikum Em. Professor für Sexualmedizin, Universität Kiel Charité Berlin, [email protected], Fon +49. 30. 450 529 303 Kuratorinnen und Kuratoren Dr. med. Reinhild Bartunek, Gynäkologin und Malerin, Berlin Organisation Prof. Dr. phil. Margy Gerber, Em. Professorin für Germanistik, Dipl.-Psych. Christoph Joseph Ahlers, State University Ohio, USA Wissenschaftlicher und Klinischer Mitarbeiter am Institut für Dr. phil. Cornelie Kunkat, PR-Beraterin, Berlin, Sexualwissenschaft und Sexualmedizin, Universitätsklinikum [email protected], Fon +49. 30. 324 44 42 Charité Berlin, Prof. Dr. med. Karl W. Raff, Physiologe, Berlin [email protected], Fon +49. 30. 450 529 305 Prof. Dr. ing. Klaus Rebensburg, Professor für Informatik, Universität Potsdam, Leiter Forschungsschwerpunkt Informatik TU, Berlin

Sexuologie 13 (2–4) 2006 182–186 / Elsevier-Urban & Fischer http://www.elsevier.de/sexuologie Visionen, Namen und Werte – Ziele der Wilhelm von Humboldt Stiftung 183

kreten Problemstellungen bei der Behandlung sexueller Visionen, Namen und Störungen. Ein anderer Schwerpunkt wird deutlich durch die Werte – Ziele der Integration der Gesellschaft für Praktische Sexualmedi- zin (GPS) in die Stiftung, womit neben der Forschung Wilhelm von Humboldt der Aspekt der Weiterbildung auf dem gesamten Fach- gebiet der Sexualmedizin als einem zentralen Anliegen Stiftung der Stiftung zum Ausdruck kommt. Das Beispiel der GPS zeigt aber darüber hinaus, das Hartwig Marx Menschen die Möglichkeit haben, unter dem Dach der Wilhelm von Humboldt Stiftung, entsprechend deren Satzung ihre Vision, ihren Namen und auch ihre Werte Innerhalb der deutschen Stiftungslandschaft sieht sich sowohl gemeinnützig als auch privatnützlich selbst über die Wilhelm von Humboldt Stiftung dazu verpflichtet, ihren Tod hinaus zu erhalten. eine Lücke zu schließen. Konkret soll es darum gehen, Wenn die Stiftung den großen Namen Wilhelm von dabei zu helfen, dass ein zentraler Bestandteil unseres Humboldts trägt, dann ist dies weiterhin mit der Aufga- Menschseins – nämlich das sexuelle Erleben und Ver- be verbunden, das hiermit übernommene Erbe zu erfor- halten – in den Mittelpunkt von Lehre und Forschung schen, zu bewahren und weiter zu entwickeln. rückt. Die Stiftung versteht sich entsprechend ihrer Sat- Dies bezieht sich vor allem die zentrale Rolle, die zung somit als eine Institution, unter derem Dach viel- Humboldt der Sexualität im gesamten­ menschlichen fältige Aktivitäten, die sich den Fragen der Sexualität Spektrum des menschlichen Erlebens und Verhaltens im weitesten Sinne widmen, Platz finden können. Das zugewiesen hat. Spektrum dieser Aktivitäten, für das die Stiftung eine Ich hoffe, es gelingt Kuratorium und Vorstand der Plattform bieten will, richtet zum einen auf konkrete neu gegründeten Stiftung, in deren Namen ich hier spre- Forschungsfragen, wie etwa die der Familienplanung, che, dieses wissenschaftliche Vermächtniss zu bewah- oder auf die vielfältigen sexuellen Probleme, die sich ren und in seinem Sinne tätig zu werden, was seinen aus dem gegenwärtigen rasanten Wandel der gesell- Ausdruck auch in der jährlichen Verleihung eines Stif- schaftlichen Verhältnisse ergeben, bis hin zu den kon- tungspreises finden soll.

SATZUNG der WILHELM VON HUMBOLDT-STIFTUNG tation geschlechtlicher, sexueller und partnerschaftlicher Störungen. §1 Name, Rechtsform, Sitz f) der Prävention, Erkennung, Behandlung und Rehabilita- tion von Einschränkungen der geschlechtlichen und sexu­ 1. Die Stiftung führt den Namen: „Wilhelm-von-Hum- ellen Selbstbestimmung. boldt-Stiftung“. Sie ist eine rechtsfähige Stiftung bürgerli- durch unabhängige sexualwissenschaftliche und sexual- chen Rechts und hat ihren Sitz in Berlin. medizinische Forschung, Klinik und Lehre im nationalen und internationalen Bereich. Die Stiftung dient damit der §2 Stiftungszweck Förderung von Wissenschaft und Forschung, der öffentli- chen Gesundheitspflege sowie der Bildung. 1. Zweck der Stiftung ist die Bewahrung, die Förderung 2. Bewahrt, gefördert und geschützt werden soll der Stif- und der Schutz tungszweck durch wissenschaftliche Forschung, klinische a) der geschlechtlichen, sexuellen und partnerschaftlichen Versorgung und fachliche Ausbildung auf folgende Art Gesundheit. und Weise: b) der geschlechtlichen, sexuellen und partnerschaftlichen a) Forschung: Förderung von sexualwissenschaftlichen Selbstbestimmung. und sexualmedizinischen Forschungsvorhaben zur Ver- c) des Bewusstseins von Geschlechtlichkeit, Sexualität und mehrung des Wissens über die Inhalte des Stiftungs­ Partnerschaft als elementaren Bestandteilen der mensch­ zwecks sowie zur Gewinnung einer empirisch fundierten lichen Natur bzw. des menschlichen Lebens und damit der Datengrundlage für die Erfüllung des Stiftungszweckes. allgemeinen und gesundheitlichen Lebensqualität. Dies kann z.B. geschehen in Form der Vergabe von Sti- d) des Verständnisses für und des Wissens über die Grund­ pendien oder sonstigen Formen der Forschungsförderung lagen geschlechtlicher, sexueller und partnerschaftlicher nach definierten und für die Öffentlichkeit zugänglichen Gesundheit und (Beziehungs-) Zufriedenheit. Vergabekriterien. Forschungsergebnisse werden zeitnah e) der Prävention, Erkennung, Behandlung und Rehabili- veröffentlicht. 184 Wilhelm von Humboldt Stiftung

b) Klinik: Förderung von sexualtherapeutischen Versor- perschaften, Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie gungsangeboten, insbesondere sexualmedizinischer Dia­ ausländische Körperschaften zur Verwirklichung der in § gnostik und Behandlung bei geschlechtlichen (d.h. die 2 genannten Zwecke teilhaben. Geschlechtszugehörigkeit betreffenden), sexuellen und 3. Die Weiterleitung von Mitteln an Dritte erfolgt nur, partnerschaftlichen Störungen. Des Weiteren Förderung sofern sich der Empfänger verpflichtet, jährlich spätestens der Qualitätskontrolle sexualmedizinischer Versorgungs­ drei Monate nach Abschluss eines jeden Geschäftsjahres leistungen durch die Einrichtung von fachspezifischen Su- einen detaillierten Rechenschaftsbericht über die Ver- pervisions- und Selbsterfahrungs-Angeboten. Dies kann wendung der von der Stiftung erhaltenen Mittel vorzule- z.B. geschehen durch Förderung konkreter Behandlungs- gen. Ergibt sich aus diesem Rechenschaftsbericht nicht, und Supervisionsangebote durch einschlägig qualifizierte dass mit diesen Mitteln ausschließlich die satzungsmäßi- Einrichtungen oder Therapeuten. gen Zwecke der Stiftung verfolgt werden oder kommt der c) Lehre: Förderung von Aus-, Fort- und Weiterbildung Empfänger der Mittel der Pflicht zur Vorlage des Rechen- im Bereich Sexualwissenschaft, insbesondere durch die schaftsberichtes nicht nach, so wird die Förderung durch Förderung von sexualwissenschaftlichen und sexual- die Stiftung unverzüglich eingestellt. medizinischen Lehrveranstaltungen an Hochschulen und 4. Der Stiftungsvorstand, erlässt bei Zustimmung des Ku- anderen Ausbildungsstätten, durch postgraduelle, sexu- ratoriums Richtlinien über die Vergabekriterien für Sti- almedizinische Fort- und Weiterbildungskurse, durch pendien und anderen Förderungen, die auch im Falle der Fachvorträge und Fachpublikationen sowie durch sonstige Abänderung der vorherigen Zustimmung des Finanzamtes Mitteilungen und Publikationen im Rahmen einer umfas- bedürfen. senden Öffentlichkeitsarbeit in Sinne des Stiftungszwecks. 5. Ein Rechtsanspruch auf Zuwendung von Stiftungsmit- Dies kann z.B. geschehen durch die Finanzierung von teln besteht nicht. Dozentenhonoraren für Lehrveranstaltungen, Vorträge, Seminare, Workshops sowie durch Finanzierung von In- §4 Stiftungsvermögen ternetangeboten, Informationsbroschüren, Zeitschriften und Büchern. 1. Die Stiftung ist mit einem Vermögen ausgestattet, des- sen Höhe im Stiftungsgeschäft näher bestimmt ist. 3. Der Stiftungszweck wird des Weiteren verwirklicht 2. Das Stiftungsvermögen kann durch Zuwendungen durch die jährliche Ausschreibung eines Preises für be- (Geldbeträge, Sachwerte, Rechte und sonstige Gegenstän- sondere Verdienste um den in der Satzung definierten Stif- de) erhöht werden. Werden Spenden nicht ausdrücklich tungszweck. zum Vermögen gewidmet, so dienen sie ausschließlich und Die Verleihung des Preises erfolgt nach definierten und für unmittelbar zeitnah den in § 2 genannten Zwecken. die Öffentlichkeit zugänglichen Vergabekriterien an Per- 3. Das Vermögen der Stiftung ist in seinem Bestand zu er- sonen, die durch großen Einsatz als engagierte Unterstüt- halten. Es darf nur veräußert oder belastet werden, wenn zer, Mitarbeiter oder auch Betroffene in von der Stiftung von dem Erlös gleichwertiges Vermögen erworben wird. geförderten Vorhaben und Projekten einen besonderen Zur Erreichung des Stiftungszweckes dienen grundsätzlich Anteil an der Erfüllung des Stiftungszweckes beigetragen nur die Erträge des Vermögens sowie die Zuwendungen, haben. soweit sie nicht nach Absatz 2 das Vermögen erhöhen. Der Stiftungspreis wird jährlich am 22. Juni (Geburtsda- 4. Das Stiftungsvermögen ist sicher und ertragbringend tum von Wilhelm von Humboldt: 22.6.1767) verliehen. anzulegen. Die Höhe des Stiftungspreises beträgt ein Prozent des Stif- 5. Die Stiftung ist berechtigt, im Rahmen der Bestimmun- tungsertrages des Vorjahres, soweit dies mit den übrigen gen der Abgabenordnung Aufgaben der Stiftung vereinbar ist. a) Erträge aus der Vermögensverwaltung sowie sonstige Der Stiftungspreis kann im Ganzem, halbiert oder gedrit- zeitnah zu verwendende Mittel einer freien Rücklage zu- telt verliehen werden. zuführen; b) zeitnah zu verwendende Mittel einer zweckgebundenen §3 Stiftungsaufgabe Rücklage zuzuführen, soweit und solange dies erforderlich ist, um ihre steuerbegünstigten Stiftungszwecke nachhaltig 1. Die Stiftung verfolgt ausschließlich und unmittelbar erfüllen zu können. Dies gilt insbesondere zur Finanzier- gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuer- ung konkreter langfristiger Vorhaben. begünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung (AO). 6. Die Stiftung kann im Jahr ihrer Errichtung und in den 2. Die Stiftung kann – entsprechend den Regelungen in zwei folgenden Kalenderjahren Erträge aus der Vermögens­ der Abgabenordnung – an der Unterstützung und der Be- verwaltung und Gewinne aus wirtschaftlichen Geschäfts­ schaffung von Mitteln für andere steuerbegünstigte Kör- betrieben ganz oder teilweise ihrem Vermögen zuführen. Satzung 185

7. Die Stiftung ist selbstlos tätig; sie verfolgt nicht in erster dem Vorsitzenden des Kuratoriums zur Kenntnis zu brin- Linie eigenwirtschaftliche Zwecke. Die Mittel der Stiftung gen. Können Beschlüsse des Vorstandes nicht einvernehm- dürfen nur für satzungsmäßige Zwecke verwendet werden. lich herbeigeführt werden, sind sie im Wege der Abstim- Die Stiftung darf keine Person durch Ausgaben, die dem mung mit Stimmenmehrheit zu fassen. Beginn und Ende Zweck der Stiftung fremd sind, oder durch unverhält- der Abstimmung sowie Inhalt und Mehrheitsverhältnisse nismäßig hohe Vergütungen begünstigen. zu den Beschlüssen sind zu protokollieren. Bei entschul- 8. Bis zu einem Drittel des jährlichen Stiftungsertrages digter Verhinderung eines Vorstandsmitglieds ist dessen aus dem Anteil des jeweiligen Stifters kann dazu verwandt schriftliche Stimmabgabe möglich, die dem Vorsitzenden werden, in angemessener Weise den Stifter und / oder des- vor Ende der Sitzung vorliegen muss. Bei Stimmengleich- sen nächste Angehörige zu unterhalten, ihre Gräber zu heit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden. pflegen und ihr Andenken zu ehren. 6. Dem Vorstand sollen Personen angehören, die beson- dere Kompetenz im Hinblick auf die Aufgaben zur Erfül- §5 Organe der Stiftung lung des Stiftungszwecks aufweisen. Ein Mitglied soll in Finanz und Wirtschaftsfragen sachverständig sein. Organe der Stiftung sind erstens: das Kuratorium 7. Der Vorstand kann sich eine Geschäftsordnung geben, und zweitens: der Vorstand die der Zustimmung des Kuratoriums bedarf. Gleichzeitige Mitgliedschaft in beiden Organen ist nicht 8. Die Vorstandsmitglieder können ihr Amt ehrenamtlich möglich. ausüben und haben dann Anspruch auf Erstattung ihrer Auslagen. Reisekosten werden nur erstattet, wenn dadurch §6 Stiftungsvorstand und Geschäftsführung die nachhaltige Zweckerfüllung in dem jeweiligen Jahr nicht gefährdet wird. Sofern Sitzungsgelder oder Auf- 1. Der Vorstand besteht aus drei natürlichen Personen. wandsentschädigungen gezahlt werden, kann der Vorstand Diese wählen aus ihrer Mitte einen Vorsitzenden für ei­ hierüber im Einvernehmen mit dem Kuratorium und nen Zeitraum von jeweils fünf Jahren; die beiden anderen zuständigen Finanzamt und der Stiftungsaufsichtsbehörde Vorstandsmitglieder gelten als Stellvertreter. Richtlinien erlassen. Die Vorstandsmitglieder können ihr 2. Die Mitglieder des Vorstandes werden vom Kuratorium Amt auch in der Position des leitenden Angestellten aus- berufen und abberufen. Für den ersten Vorstand der Stif- üben, wobei die Ausgestaltung des Angestelltenverhält- tung bestimmt das Kuratorium auch den Vorsitzenden. nisses durch das Kuratorium erfolgt. 3. Der Vorstand führt die Geschäfte der Stiftung nach ei- 9. Veränderungen innerhalb des Vorstandes werden der nem vom Kuratorium vorgegebenen Geschäftsverteilungs­ Aufsichtsbehörde unverzüglich angezeigt. Die Wahlnie- plan. Er sorgt für die Erhaltung des Stiftungsvermögens derschriften, die Annahmeerklärung und sonstigen Be- und entscheidet über die Verwendung der Stiftungsmittel. weisunterlagen über Vorstandsergänzungen sind beizufü- 4. Zur gerichtlichen und außergerichtlichen Vertretung der gen. Stiftung ist grundsätzlich jedes Vorstandsmitglied befugt. 10. Der Vorstand stellt rechtzeitig vor Beginn eines jeden Im Innenverhältnis ist die Vertretungsbefugnis jedoch auf Geschäftsjahres einen Geschäfts- und Wirtschaftsplan auf, sein durch den Geschäftsverteilungsplan festgesetztes der die zu erwartenden Einnahmen und Ausgaben enthält. Ressort beschränkt, es sei denn, der Vorstand oder das Ku- Nach Abschluss des Geschäftsjahres erstellt der Vorstand ratorium bestimmt im Einzelfall anders. innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Frist eine Jahresa- 5. Die Beschlüsse des Vorstandes werden in der Regel auf brechnung mit einer Vermögensübersicht und einem Be­ Sitzungen gefasst. Der Vorstand wird vom Vorsitzenden richt über die Erfüllung des Stiftungszwecks. oder seinem Stellvertreter nach Bedarf, mindest aber zwei- mal im Jahr unter Angabe der Tagesordnung und Einhal- §7 Vertretung der Stiftung tung einer Frist von 4 Wochen zu einer Sitzung einberufen. Sitzungen sind ferner einzuberufen, wenn 2 Mitglieder des Die Vorstandsmitglieder bilden den Vorstand der Stiftung Vorstandes dies verlangen. Ein Vorstandsmitglied kann im Sinne der §§ 86, 26 BGB. sich durch ein anderes Vorstandsmitglied vertreten lassen. Der Vorstand ist beschlussfähig, wenn nach ordnungs- §8 Kuratorium gemäßer Ladung mindestens 2 Mitglieder anwesend oder vertreten sind. Ladungsfehler gelten als geheilt, wenn alle 1. Das Kuratorium besteht aus fünf bis neun im Sinne des Mitglieder anwesend sind und niemand widerspricht. Über Stiftungszwecks qualifizierten natürlichen Personen. einvernehmliche Beschlüsse ist eine Niederschrift zu ferti- 2. Der Vorsitzende und die weiteren Mitglieder werden gen und vom Sitzungsleiter und dem Protokollanten zu un- von den Stiftern auf unbegrenzte Dauer ernannt. terzeichnen. Sie sind den Mitgliedern des Vorstandes und 3. Wiederbesetzungen der Position des Vorsitzenden und 186 Wilhelm von Humboldt Stiftung

der weiteren Mitglieder des Kuratoriums in der Folgezeit ung entsprechen und muss steuerbegünstigt sein. Die Bes- beschließt das amtierende Kuratorium mit einer drei Vier- chlüsse bedürfen der Genehmigung der Aufsichtsbehörde. tel Mehrheit. 4. Das Kuratorium tagt mindestens einmal im Jahr. §12 Auflösung Die Mitglieder des Kuratoriums üben ihre Tätigkeit eh- renamtlich und unentgeltlich aus. Sie haben jedoch 1. Über die Auflösung der Stiftung beschließt das Kurato- Anspruch auf Ersatz ihrer notwendigen Auslagen. Rei- rium mit einer Mehrheit von drei Viertel aller Mitglieder. sekosten werden nur erstattet, wenn dadurch die nach- Ein solcher Beschluss wird erst wirksam, wenn er von der haltige Zweckerfüllung in dem jeweiligen Jahr nicht ge- Aufsichtsbehörde genehmigt ist. fährdet wird. 2. Bei Aufhebung der Stiftung ist das Vermögen auf eine andere steuerbegünstigte Körperschaft oder eine juristi­ §9 Aufgaben und Beschlussfassung des Kuratoriums sche Person des öffentlichen Rechts zu übertragen mit der Auflage, es unmittelbar und ausschließlich zur Förderung 1. Das Kuratorium bestimmt den Vorstand gemäß § 6 Abs. von Wissenschaft und Forschung, der öffentlichen Ge- 2 der Stiftungssatzung und überwacht dessen Tätigkeit. sundheitspflege und der Bildung zu verwenden. 2. Es hat die Aufstellung und den Bericht gemäß § 6 Abs. 3. Beschlüsse über die Verwendung des Vermögens bei 10 zu prüfen und über die Entlastung des Vorstandes mit Auflösung der Stiftung dürfen erst nach Einwilligung des zwei Drittel Mehrheit alljährlich zu beschließen. zuständigen Finanzamtes ausgeführt werden. 3. Das Kuratorium wacht über die Einhaltung des Stifter- willens und beschließt in Angelegenheiten von grundsätz­ §13 Stiftungsaufsicht licher Bedeutung. 4. Die Beschlussfassung durch das Kuratorium unterliegen 1. Die Stiftung unterliegt der Staatsaufsicht gemäß insbesondere: den Vorschriften des Berliner Stiftungsgesetzes (StiftG a) Die Genehmigung des Haushaltsplanes und des Jahres- Bln). abschlusses; sie hat mit zwei Drittel Mehrheit der Kurato- 2. Die Mitglieder der Stiftungsorgane sind nach § 8 StiftG riumsmitglieder zu erfolgen. Bln verpflichtet, der Aufsichtsbehörde b) Änderung dieser Satzung (siehe § 11) a) unverzüglich die jeweilige Zusammensetzung der Stif- c) Auswahl der jährlichen Preisträger zur Preisverleihung tungsorgane einschließlich der Verteilung der Ämter inner- gem. § 2, Abs. 3 halb der Stiftungsorgane anzuzeigen, zu belegen (Wahl- 5. Zur Vorbereitung seiner Beschlüsse kann das Kurato- niederschriften, Bestellungsurkunden, Annahme- bzw. rium Sachverständige hinzuziehen. Rücktrittserklärungen oder sonstige Beweisunterlagen) 6. Für die Beschlussfassung und die Sitzungen des Kura- und die jeweiligen Anschriften der Stiftung und der Mit- toriums gelten die Bestimmungen der § 6 Abs. 5 entspre- glieder des Vertretungsorgans mitzuteilen; chend mit der Abweichung, dass die regelmäßige Frist für b) einen Jahresbericht (Jahresabrechnung mit einer Ver- Sitzungsladungen an alle amtierenden Kuratoriumsmit- mögensübersicht - Prüfungsbericht gemäß § 8 StiftG Bln glieder mindestens ein Monat beträgt und mindestens die – und Bericht über die Erfüllung des Stiftungszwecks) Hälfte von ihnen zur Sitzung erscheint. einzureichen, und zwar soll dies innerhalb von drei Monaten nach Schluss des Geschäftsjahres geschehen; §10 Geschäftsjahr der Vorstandsbeschluss über die Feststellung des Jahresbe­ richts und der Kuratoriumsbeschluss nach § 9 Abs. 2 sind Das Geschäftsjahr entspricht dem Kalenderjahr. Das erste beizufügen. Geschäftsjahr ist ein Rumpfgeschäftsjahr und beginnt am Tag der Anerkennung der Stiftung. §14 Schlussbestimmungen

§11 Satzungsänderungen Diese Satzung tritt mit dem Tage ihrer Anerkennung in Kraft. Das Kuratorium kann die Satzung der Stiftung mit einer Mehrheit von mindestens drei Viertel aller Mitglieder än- dern oder ergänzen, sofern dies zur Anpassung an verän- derte Verhältnisse erforderlich ist. Das Kuratorium kann auch den Stiftungszweck ändern. Der geänderte Stiftungs­ zweck muss jedoch im weitesten Sinne die Förderung von Zwecken umfassen, die dem Grundsatz der Stiftungsgründ-