Nachwort Zur Dritten Auflage
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Nachwort zur dritten Auflage Seit Erscheinen der Erstauflage dieses Buches im Jahre 1993 haben sich hinsicht- lich der Rezeption des Verfolgungsschicksals der Zeugen Jehovas im „Dritten Reich" eine Reihe gravierender Veränderungen vollzogen. Jahrzehntelang blieb den Zeugen Jehovas eine öffentliche Würdigung als Opfer- gruppe versagt. Auch in der Wissenschaft stieß ihre Geschichte im großen und ganzen auf kein Interesse. Dieses Los teilen die Zeugen Jehovas mit anderen Grup- pen von Nazi-Verfolgten, deren gesellschaftliche Marginalisierang auch nach 1945 fortdauerte, beispielsweise den Sinti und Roma. Im Osten Deutschlands, wo unter Verweis auf die revolutionäre Tradition der herrschenden Partei und die im eigenen Land angeblich erfolgte Einlösung des antifaschistischen Vermächtnisses die Bevölkerung von der Verantwortung für die Vergangenheit freigesprochen bzw. exkulpiert wurde, waren die Zeugen Jehovas, die nach ihrem Verbot in der DDR im August 1950 erneuter Verfolgung ausgesetzt waren, allenfalls ein Thema für die Staatssicherheit. Sie wurden feindlicher Nach- richtentätigkeit und staatsfeindliche Handlungen bezichtigt. Um den für die DDR mißlichen Umstand, daß es sich bei den Zeugen Jehovas um Nazi-Verfolgte han- delte, zu begegnen, wurde vor keiner Diffamierung zurückgeschreckt: Bei der Füh- rung der Zeugen Jehovas habe es sich um „vom Großkapital gekaufte", „faschi- stisch kompromittierte religiös-politische Abenteurer" gehandelt, die um die „Gunst der Nazis" geworben und sich später zum „massenweisen Verrat der eigenen Glau- bensbrüder an die Gestapo" bereit erklärt hätten1. Im Westen Deutschlands, wo in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten Erin- nerungsverweigerung und Schuldabwehr in der Bevölkerung vorherrschten und der Reintegration der Verantwortlichen aus Verwaltung, Kriegswirtschaft und Wehrmacht weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde als der Rehabilitation der Nazi-Verfolgten, beschränkte sich lange Zeit die Beschäftigung mit „Verfolgung und Widerstand" im wesentlichen auf den 20. Juli, auf die Weiße Rose sowie die Bekennende und die Katholische Kirche. Ende der 70er Jahren trat hier mit der Hinwendung zur Lokal- und Regionalgeschichte, der Vergegenwärtigung der Ereignisse der Jahre 1933 bis 1945 am jeweiligen Lebensort und dem alltagsge- schichtlichen Zugriff eine Änderung ein, in deren Folge der Widerstand aus Arbeiterkreisen, resistente Milieus z. B. im katholischen Bayern und das Schicksal der bis dahin aus der Erinnerung ausgegrenzten Verfolgtengruppen in den Blick gerieten. Doch die Zeugen Jehovas blieben auch in diesen Jahren einer stark zuneh- menden Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Ge- schichtsbüchern, Fernsehdokumentationen oder Gedenkreden zumeist unerwähnt. In der Einleitung zur Erstauflage habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß die langjährige Zurückhaltung in Wissenschaft und Öffentlichkeit meines Erachtens nicht allein auf die allgemeine Vernachlässigung von Randgruppen und auch nicht nur auf die den Zeugen Jehovas entgegengebrachten gesellschaftlichen Ressenti- 1 Vgl. Gebhard, Zeugen Jehovas, S. 75, 203, 158, 171; siehe auch S. 20-22. 544 Nachwort ments sowie die insbesondere von den Kirchen forcierte „Aufklärung über Sekten" zurückzuführen ist. Zumindest teilweise finden das mangelnde Interesse und die Zurückweisung dieses Themas auch ihre Begründung in der Struktur und Eigenart der „Wachttturm Bibel- und Traktatgesellschaft" selbst. Zu der unterbliebenen Aufarbeitung und Würdigung haben meiner Überzeugung nach auch der exklusive Anspruch dieser umstrittenen Glaubensgemeinschaft, deren Leitende Körperschaft alleinige Wahrheit beansprucht und sich als einzig wahre und authentische Vertre- terin des göttlichen Willens sieht, und nicht zuletzt die Abschließung der Organi- sation nach außen beigetragen. Forschungsbemühungen so es sie denn gab trafen lange Zeit bei der Wachtturm-Gesellschaft auf Vorbehalte.- Zu den Archiven- der Watch Tower Bible and Tract Society und ihren Zweigbüros erlangten Außen- stehende keinen Zugang. Ängste und schlechte Erfahrungen, insbesondere mit Journalisten, denen in erster Linie an zweifelhaften „Enthüllungsstories" gelegen war2, aber auch der Wunsch nach einem Deutungsmonopol in Fragen der eigenen Geschichte werden diese nonkooperative Haltung bestimmt haben. Hier ist mittlerweile eine weitreichende Änderung eingetreten. Seit etwa 1993/94 vollzieht sich auf Seiten der Wachtturm-Gesellschaft in Fragen der Geschichts- darstellung ein Prozeß zunehmender Öffnung3, der von einer mit großem Aufwand und Engagement betriebenen Öffentlichkeitsarbeit begleitet wird. Während die WTG vor einigen Jahren noch „keinerlei Nutzen in einer historischen Aufarbei- tung" sah4, verweist sie jetzt auf die Ergebnisse der historischen Forschung und wirbt damit um öffentliche Anerkennung. Zunächst wurde im eigenen Schrifttum der Anspruch angemeldet, daß bei der Erinnerung an die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes die Verfolgung der Zeugen Jehovas in besonderer Weise gewürdigt werden müsse, da es sich hier um ein einzigartiges Glaubenszeugnis handele. Die Halbmonatsschrift „Erwachet!" stellte in ihrer zum 8. Mai 1993 erschienenen Ausgabe unter der Überschrift „Opfer oder Märtyrer. Worin liegt der Unterschied?" fest: „Tausende von ihnen schickte man in die schrecklichen Konzentrationslager, wo viele entweder hingerichtet wurden oder an den Mißhandlungen starben. Doch sie hätten den Leiden und dem Tod entgehen können. Sie konnten es sich aussuchen; man bot ihnen einen Ausweg an. Sie brauchten nur ein Schriftstück zu unterschrei- ben, durch das sie ihrem Glauben abgeschworen hätten, und wären dann frei- gelassen worden. Die allermeisten lehnten es jedoch ab zu unterschreiben und wurden so nicht nur zu Opfern des NS-Terrors, sondern auch zu Märtyrern. Daher sind zwar alle Märtyrer gleichzeitig Opfer, doch nur wenige Opfer wurden freiwillig zu Märtyrern. Sie waren siegreich angesichts des Todes."5 Nach den in Europa und Nordamerika mit großem öffentlichen Echo begange- nen Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der Befreiung der Konzentrations- 2 Siehe S. 22, Anm. 51. 3 Eine gewisse Öffnung der WTG ist in den letzten Jahren auch im Blick auf einige andere Fragen feststellbar. Dazu zählt, daß Zeugen Jehovas seit Mai 1996 von ihrer Glaubenslehre her erlaubt ist, Zivildienst abzuleisten, was zuvor aufgrund des Zusammenhangs mit der Wehrpflicht als Verstoß gegen das christliche Neutralitätsgebot galt. Siehe näher S. 353, Anm. 127. 4 Siehe S. 38, Anm. 117. 5 Erwachet!, 8.5.1993, S. 4. Nachwort 545 lager erschien ein Themenheft von „Erwachet!" zu der Frage: ,JDer Holocaust Wer - erhob seine Stimme?"6 Neben Informationen zur Verfolgung der Zeugen Jehovas im nationalsozialistischen Deutschland, Ausschnitten aus Zeitzeugenberichten und zeitgenössischen Publikationen der WTG setzte sich die Ausgabe mit der Rolle der Kirchen im Hitler-Staat auseinander, wobei die „Erwachet¡"-Redaktion zu folgen- der Kernaussage gelangte: „Im Gegensatz zu den Kirchen erhoben Jehovas Zeugen ihre Stimme gegen den Nationalsozialismus."7 Die Darstellung suggerierte, die Zeugen seien im Grunde die einzigen gewesen, die bereits frühzeitig „die mör- derischen Absichten des Dritten Reiches" bloßlegten und die „die Grausamkeiten, die an Juden, Polen, Behinderten und anderen begangen wurden", entschieden verurteilten. Ein Leserbriefschreiber aus den USA, dessen Stellungnahme in einer späteren „Erwachet¡"-Ausgabe abgedruckt wurde, gab im Anschluß an diese Darstellung seinen Gefühlen mit den Worten Ausdruck: „Ich habe mich immer wieder gefragt, warum nie jemand seine Stimme gegen den Holocaust erhob. Die Artikelserie ,Der Holocaust Wer erhob seine Stimme?' hat meine Frage beant- wortet. Jehovas Zeugen erhoben- ihre Stimme, und ich bin auf meine Glaubens- brüder unheimlich stolz!"8 Mit speziellen Veröffentlichungen, in denen die religiöse Verkündigung nicht so stark im Vordergrund steht, wandte sich die Wachtturm-Gesellschaft an ihr eher reserviert gegenüberstehenden Bevölkerangskreise. In der um Aufklärung bemüh- ten Broschüre „Jehovas Zeugen. Menschen aus der Nachbarschaft. Wer sind sie?" aus dem Jahr 1995 wird zur Charakterisierung der Glaubensgemeinschaft auch die Verfolgung im Nationalsozialismus hervorgehoben und darauf hingewiesen, daß die kompromißlose Haltung der Zeugen Jehovas, die an gleicher Stelle als „Wider- stand passiver Natur" beschrieben wird, zunehmend öffentlich anerkannt werde9. Als Reaktion darauf, daß „in letzter Zeit [...] Jehovas Zeugen vermehrt ins Blick- feld des öffentlichen Interesses gerückt"10 seien, gründete die Wachtturm-Gesell- schaft im Frühjahr 1996 zur Intensivierung der Pressearbeit einen „Informations- dienst der Zeugen Jehovas". Dieser auf eine Verbesserung der Außendarstellung bedachte Dienst übernahm unter anderem auch die Organisation von Veranstal- tungen, die auf die Zeugen Jehovas als weitgehend „vergessene Opfer des Hitler- Regimes" aufmerksam machen sollen. Gleichzeitig wurde eine Ausstellung erstellt, die mit beeindruckenden Fotos und Dokumenten schwerpunktmäßig über die KZ- Häftlinge mit dem lila Winkel informiert. In Frankreich stellte 1995 ein auf Initia- tive des dortigen Zweigbüros der Watch Tower Society gegründeter Europäischer Kreis der ehemals deportierten und internierten Zeugen Jehovas („Cercle Européen des Témoins de Jéhovah anciens déportés et internés" mit Sitz in Boulogne- 6 Erwachet!, 22.8.1995; vgl. auch die Würdigung der 1995 in ganz Europa ausgerichteten Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der Befreiung und