VI Alfred Andersch: Texte Und Dokumente
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
VI Alfred Andersch: Texte und Dokumente 1. Ein erster Anlauf zum Sansibar-Stoff? Eine Landschaftsskizze des jungen Andersch Alfred Andersch: Anblick der Nordsee (Husum), 30.8.1943 Im Hafen macht sich der kleine Dampfer, der den Verkehr zwischen den Halligen und dem Festland vermittelt, zur Abfahrt fertig. Es riecht nach Holz, Brackwasser und ge- trockneten Fischen. Ich gehe den Deich entlang, der seewärts führt. Wenn ich mich um- drehe, sehe ich den flimmrig-grauen Strich der Stadt unter dem Himmel liegen. Unter- wegs überholt mich der Dampfer, eine Kette klirrt und die Bugwelle wirft einen Strudel der Frische auf. In der Weite, in die er steuert, wird er langsam kleiner. Es ist die Weite der See. Der Deich schwingt sich dem Meer in einer mächtigen, weit ausholenden Bewegung entgegen. Dort ruht es still, rosagraue Wolken spiegelnd oder blausanft bis in die Ferne hin. Zwischen Himmel und Wasser schwebt die Insel, langgezogen und violett. Schafe beweiden den Deich, ich höre ihr Knabbern. Stille sonst. Möwengekreisch. Manuskript, Nachlass Alfred Andersch, DLA Marbach, Konvolut: Kurzprosa, die norddeutsche Landschaft beschreibend (1939–1943), Nr. 80.583 Vgl. dazu den Beitrag von Volker Wehdeking in diesem Band. N. Ächtler (Hrsg.), Alfred Andersch, DOI 10.1007/978-3-476-05482-1, © 2016 J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart 2. Im Geist der »offenen Diskussion« – Anderschs Rundfunk-Konzept Alfred Andersch: Das Mitternachtsstudio (1948) Alfred Andersch Frankfurt/M., den 1. August 1948 DAS MITTERNACHTSSTUDIO Gesichtspunkte und Vorschläge Die nachstehend vorgetragenen Gesichtspunkte zur zentralen Wortsendung von Radio Frankfurt stellen meine persönliche Meinung dar und sollen die kritische Stellungnah- me herausfordern. 1. Qualität: Das MNS steht hinsichtlich Qualität, Niveau und Zumutungen an das Mitge- hen der Hörer ausserhalb der beliebten Diskussion über »Rücksicht auf den Hörer« etc. Voraussetzung einer »Sendung für Anspruchsvolle« ist gerade die Zumutung höchster Ansprüche. Niveau hat natürlich nichts zu tun mit esoterischem Quatsch oder uferlosem »geisteswissenschaftlichen« Geschwätz. 2. Aktualität: Das MST steht in stärkstem Masse unter dem Gesetz der Aktualität. Die Aktualität wissenschaftlicher und literarischer Sendungen von hohem Niveau muss aber genau definiert werden: sie ist eine Zeitnähe auf der ihnen eigenen Ebene. Aus- gangspunkt ist der Mensch, und zwar nicht der Mensch »an sich«, sondern der Mensch in der Nachkriegswelt des 2. Weltkrieges mit all ihren Problemen und künstlerischen Formtendenzen. Nur eine Bezugnahme auf den konkreten Menschen unserer Zeit kann diese Sendung[en] tiefer und wirklicher legitimieren und ihnen gleichzeitig eine echte Wirkung verschaffen. Abzulehnen sind jene Fluchttendenzen, die mit den Begriffen des »Ewigen« und »Überzeitlichen« operieren; sie waren im 3. Reich sinnvoll, weil in ihnen sich eine Distanz zum System ausdrückte; heute würden sie einen Verzicht auf die erre- gende Diskussion bedeuten. Das »Ewige« muss sich daraus ergeben, dass die Aktualität mit den höchsten Masstäben gemessen wird. 3. Inhalt: Die Themata des MST ergeben sich aus dem unter 2 Gesagten. Die Sendun- gen sollen funkische Konkretionen dessen sein, was im wissenschaftlichen und künst- lerischen Bereich »in der Luft liegt«. Es muss den Hörer »existentiell« (um ein übles Modewort zu gebrauchen) angreifen, und es muss die Hand auf alle neuralgischen Punkte der Zeit legen. Dabei gibt es für die Darstellungsart zwei Gefahrenquellen: das Parvenuhaft-Modische und den tierischen Ernst. Zwischen diesen Extremen muss das MST sachlich und humorvoll geführt werden und sich damit das Vertrauen der Hörer erwerben. Es muss den geistig und künstlerisch interessierten Menschen in unserer Zeit fesseln und erregen, darf daher nie langweilig sein, muss ihn aber gleichzeitig die Subs- tanz echten Wissen[s] und echter Werte spüren lassen, die Verantwortung also, mit der hier die Dinge zur Diskussion werden. Im Geist der »offenen Diskussion« – Anderschs Rundfunk-Konzept 341 Die Themen umfassen den gesamten Bereich des geistigen Lebens und lassen sich in zwei grosse Abschnitte gliedern a) Wissenschaftliche (soziologische) Sendungen b) Literarische Sendungen Es muss die grösst-mögliche gegenseitige Durchdringung von Soziologie und Ästhetik angestrebt werden. Die in der Anlage gegebene graphische Darstellung zeigt den von mir vorgeschlagenen Zusammenhang von allgemeiner Aufgabenstellung und einzelner Sendung. Sie versucht, das MST in seinem Gesamtzusammenhang zu zeigen, in seiner geistigen »Linie«, die, konsequent durchgeführt, von hohem erzieherischen Wert sein könnte, gerade weil hier nicht »erzogen«, sondern eine offene Diskussion gepflogen wird, veranstaltet von Men- schen, die in der gleichen Situation stehen wie das Publikum, an das sie sich wenden. In der Praxis werden sich literarischer und wissenschaftlicher Bereich, wie auch die ein- zelnen Probleme und Formkreise ständig überschneiden. Beispiel: Eine Darstellung des Künstlers Sartre kann im Rahmen der Existentialis- mus-Sendung erfolgen. – Das Köstler-Porträt greift ebensosehr ins Politische wie ins Literarisch-Künstlerische. – Die Sendung »Europäische Avantgarde« berührt nicht nur die Problematik neuen Denkens, sondern auch die Frage der Stellung des Menschen zur Politik usw. 4. Musik: Der musikalische Teil des MST wurde hier nicht eigens behandelt. Das MST ist seiner Natur nach in erster Linie Wortsendung. Doch braucht die Musik hier nicht nur eine illustrierende oder auflockernde Funktion auszuüben. In der dargebotenen Musik muss der Geist der Epoche in seinen traditionalistischen wie in seinen revolutionären Strömungen ebenso spürbar sein wie im gesprochenen Wort. Einzelne Sendungen (Re- portage Kranichstein, die Jazz-Sendung) können der Musik allein vorbehalten werden. 5. Funkform: Das MST steht allen funkischen Darbietungsformen (Hörspiel, Lesung, Gespräch etc.) grundsätzlich offen. Der besondere Inhalt macht aber auch das funkische Experiment zur Pflicht und man kann nur hoffen, dass sich für das MST ein ihm eigener Stil entwickelt. Aus der Mischung von Reportage, freiem Gespräch, Spielszene und Le- sung und der damit verbundenen Musik müsste eigentlich ein solcher Stil zu entwickeln sein. Doch wäre dies ein Optimalergebnis, das hier nur angedeutet werden kann, weil es experimentell erarbeitet werden muss. 6. Mitarbeiter: Die Aufgaben, die das MST sich stellt, können ohne einen Kreis quali- fizierter und freier Mitarbeiter nicht erfüllt werden. Die Beschaffung des wissenschaft- lichen und literarischen Materials ist ohne solche »Spezialisten« nicht möglich. Über- haupt kann das MST nicht die Leistung eines Einzelnen sein, sondern muss in einer Art aufgeschlossenem und lebendigem »team-spirit« geschaffen werden. Ideal wäre es, wenn für die Gesprächsführung mit Menschen aller Lebensschichten, wie sie meine Vor- schläge vorsehen, ein Reporter von hohem geistigen Volumen und grösster Lebendigkeit gefunden werden könnte. 342 VI Alfred Andersch: Texte und Dokumente Anlage 1: Schema Mitternachtsstudio Im Geist der »offenen Diskussion« – Anderschs Rundfunk-Konzept 343 Alfred Andersch Anlage 2 zu »Das Mitternachtsstudio« Vorschläge für Sendungen Hier sind nur diejenigen Sendungen näher erläutert, deren Inhalt aus der graphischen Darstellung nicht ohne weiteres ersichtlich ist. Sämtliche Titel sind vorläufige Arbeitsti- tel. Der Sprung in das Nichts. Eine Existentialismus-Sendung. Wir organisieren eine muntere Debatte mit Prof. Bollnow, Mainz, Prof. Gadamer, Frank- furt, Dr. Clemens Münster und unbekannten Sprechern (Studenten usw.), die »existenti- elle« Fragen stellen. Diese Debatte montieren wir mit illustrierenden Texten von Heideg- ger, Jaspers, Marcel, Aron, Sartre, Camus, Jünger u. a. Künstlern und Philosophen und schliessen evtl. mit einer Szene von Sartre. Spezieller Mitarbeiter: Egon Vietta. Europäische Avantgarde. Ein zum reportagehaften Gespräch geformter Querschnitt durch meine im Herbst bei den »Frankfurter Heften« erscheinende Anthologie mit Texten von: Köstler, Denis de Rougemont, Vercors, Camus, Sartre, Simone de Beauvoir, Kahler, Malraux, Spender, Ko- gon u. a., die einen Querschnitt durch die europäische Situation ergeben wird. Die Gesellschaft verändert sich. Der wirtschaftlich-gesellschaftliche Strukturwandel, dargestellt in Gesprächen mit Prak- tikern der Wirtschaft und Arbeitern, die das Phänomen der Entstehung neuer Klassen (der Manager- und Spezialisten-Kategorien) beleuchten sollen. Dazu Texte von Schum- peter, Sering, Hilferding, Burnham, Röpke, Ortlieb, Sternberg, Welty, Nell-Breuning. Spezieller Mitarbeiter: Dr. Minssen, München. Mann und Frau 1948. Eine Reportage aus Gesprächen mit Heimkehrern, Studenten, jugendlichen Schwarz- händlern, Geistlichen, Ärzten, berufstätigen Frauen, jungen Mädchen, Amerikanern usw. Dazu Versuche aus der jüngsten Literatur, die eine Vertiefung der faktischen Ge- sprächs-Feststellungen geben. Staat in der Krise. Wir schildern die Krise, in die der Mensch, und inbesondere der Deutsche, in seiner Einstellung zum Staat geraten ist, in Gesprächen mit Menschen aller Lebensschichten. Es wird dabei besonders um die Frage der »staatsfreien Sphären« gehen. Dazu Zitate aus Teynbee, Denis de Rougemont, Huizinga u. a. Die Neu-Entdeckung des lieben Gottes. Eine aus Planck, Pascual Jordan, Ravink, Lenin, Mach, Jeans, de Broglie, Huxley u. a. montierte Diskussion über das Thema des Verhältnisses von Naturwissenschaft (beson- ders der neuen Physik) zur Religion. Spezieller Mitarbeiter: Dr. Clemens Münster, Frankfurt. 344 VI Alfred Andersch: