„Wie Die Poesie Bei Dem Deutschen Volke Sich Entwickelt Hat“ Anselm Salzers Literaturgeschichte Von Karl Heinz Huber
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„Wie die Poesie bei dem deutschen Volke sich entwickelt hat“ Anselm Salzers Literaturgeschichte von Karl Heinz Huber Noch eine Literaturgeschichte Im Bücherschrank des Germanisten und klassischen Philologen Pater Anselm Salzer, vorerst in der Mönchszelle, später in der Direktionskanzlei des öentli- chen Stisgymnasiums der Benediktiner in Seitenstetten, standen sie, wie sich die Kulturjournalistin und Dichterin eresia Rak erinnert, Buchdeckel an Buchdeckel nebeneinander: Robert Koenigs Deutsche Literaturgeschichte in 2 Bänden (Bielefeld und Leipzig 1893, 1895), Otto Leixners Geschichte der deutschen Literatur (Leipzig 1897), die Geschichte der deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart von Friedrich Vogt und Max Koch (Leipzig 1897), Wilhelm Lindemanns Geschichte der deutschen Literatur in 7. Auage (Freiburg im Breisgau 1898), die Deutsch- österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn von Johann Willibald Nagl und Jakob Zeidler (Wien 1899), Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaen (Regensburg 1912–1928) und natürlich auch Karl Goedekes Werk Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, das seit 1857 wächst, um auf dem neuesten Stand der Forschung und Werkausgaben zu sein. Wozu denn noch so ein Exemplar in dieser illustren Büchergesellscha? Dem anfangs kaum hörbaren Vorwurf, die Autoren des südlichen deutschspra- chigen Raums, insbesondere solche katholischer Konfession, seien bislang zu wenig repräsentiert, die Dichtung des Mittelalters und die der vorklassischen Zeit werde nicht ausführlich und umfassend genug bearbeitet und es fehle allenthalben an er- läuternder Illustration durch ansprechendes Bildmaterial,1 schlossen sich nach der Jahrhundertwende immer mehr Fachleute und Literaturliebhaber an, auch solche des mittel- und norddeutschen Bereichs. Manche boten ihre Unterstützung für eine neue Literaturgeschichte an, die solchen Ansprüchen gerecht werde, wie aus vielen Dokumenten des Seitenstettner Stisarchivs hervorgeht. Drei seien hier zitiert, die sich in unseren Rahmen bestens fügen: Weimar, 13. August 1902. Geehrter Herr Doktor! Der Vorstand der Goethe-Gesellscha hat kein Bedenken dagegen, daß Sie eine Seite des Facsimile im 15. Bande der Schrien der Goethe-Gesellscha mit Quellenangabe copieren und in die Salzersche Literaturgeschichte auf- nehmen. Hochachtungsvoll und ergebenst Dr. Ruland, Präsident der Goethe-Gesellscha. 159 Weimar, 3. November 1902. Sehr geehrter Herr! Ihrem Ansuchen vom 26. Oktober bin ich leider nicht in der Lage zu entsprechen, da das Goethe- und Schiller-Archiv keinerlei bildliche Darstellungen, sondern nur Handschrien sammelt. Ich rathe Ihnen in dieser Angelegenheit sich an die Verwaltung des Schiller-Hauses in Weimar oder an Schillers Urenkel Freiherrn Alexander von Gleichen-Rußwurm, Greifenstein ob Bonnland (Bayern), zu wenden. Hochachtungsvoll der Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs.2 Das faksimilierte Kniestück Franz Grillparzer auf der Beilage 146 im 3. Band der 2. Auage, eine Kriehuber-Lithographie aus dem Jahre 1858, illustriert den betreen- den Abschnitt und macht den Leser durch einen handschrilich wiedergegebenen Vierzeiler Franz Grillparzers nachdenklich: Nur weiter geht das tolle Treiben, Von Vorwärts! Vorwärts! erschallt das Land; Ich möchte, wärs möglich, stehen bleiben, Wo Schiller und Göthe stand.3 Dies einer der Beiträge, die Anselm Salzer dem Wiener Goethe-Verein verdankt, wie aus einem Brief des Chronik-Redakteurs Rudolf Payer von urn vom 26.9.1902 hervorgeht. Rührend, wie liebevoll und fürsorglich sich hochverdiente Herren aus dem mittel- und süddeutschen Raum um den Verfasser einer Literaturgeschichte anneh- men, deren Aufgabe es sein soll, dem katholisch geprägten literarischen Süden ein ebenso großes Augenmerk zu schenken wie dem Norden, einen Schwerpunkt in der Behandlung der altdeutschen Dichtung zu setzen und allem dichterischen Schaen auch einen umfangreicheren Illustrationsrahmen zu geben, als es bisher geschehen ist. Wer aber sollte so einem Projekt vorstehen? Wer bringt die wissenschaliche Qualikation und schristellerische Kompetenz mit? Irgendein dahergelaufener Schusterbub, wie es in einer Mostviertler Redewendung heißt, konnte mit einer so anspruchsvollen Aufgabe ja nicht betraut werden. Bausteine für die Qualikation Anselm Salzers zum Literarhistoriker Bausteine aus der Gymnasialzeit Anselm Salzer ist so ein Schusterbub. Der Sohn des Schuhmachers Franz Salzer wurde als drittes von sechs Kindern am 8. Oktober 1856 in dem Provinzstädtchen Waidhofen an der Ybbs geboren und auf den Namen Karl Borromäus getau. Den 160 Namen Anselm erhielt er erst beim Eintritt in das Benediktinerkloster Seitenstetten. Nach vierjähriger Volksschulzeit4 und einem Jahr Realschule in seiner Heimatstadt absolvierte er in der Klosterschule Seitenstetten seine Gymnasialstudien von 1867– 1875 mit Auszeichnung. Zwei seiner Lehrer gaben ihm erste bedeutende Impulse zur Weckung des literaturhistorischen Interesses: der Historiker P. Gottfried Frieß und der Germanist und klassische Philologe P. Robert Weißenhofer, die in den Sechzigerjahren ihre Lehramtszeugnisse an der Universität Wien erworben hat- ten.5 Beide Patres waren neben ihrer Lehrtätigkeit unermüdlich und mit großem Erfolg publizistisch tätig, P. Gottfried Frieß vor allem auf dem Gebiet der Ordens- und Landesgeschichte, P. Robert Weißenhofer als Verfasser zahlreicher histori- scher Erzählungen, deren Protagonisten junge Leute sind, aus deren Perspektive die Ereignisse der heimatlichen Geschichte gesehen werden. Mit diesen epischen und weiteren dramatischen Werken meist kirchengeschichtlichen Inhalts hatte er bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts für die literarische Bildung der Jugend auch deshalb großen Einuss, weil P. Anselm Salzer neben seiner Arbeit an der Literaturgeschichte die Neuauagen und Veröentlichungen noch nicht publizierter Dichtungen seines ehemaligen Lehrers in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts besorgt hat.6 P. Robert Weißenhofer war auch Verfasser des Textbuchs für die ierseer Passionsspiele und Mitarbeiter an der 24-bändigen landeskundlichen Enzyklopädie Die Österreichisch- Ungarische Monarchie in Wort und Bild, auch „Kronprinzenwerk“ genannt, weil es von Kronprinz Rudolf herausgegeben wurde.7 P. Gottfried Frieß, Träger der goldenen Medaille für Kunst und Wissenscha, war für die Jahre 1885/86 von Papst Leo XIII. in die vatikanischen Archive nach Rom berufen worden, um an der Herausgabe der Regesten von Papst Clemens V. mitzu- arbeiten.8 Durch das Wirken dieses Geschichtslehrers, der außer seinen Arbeiten in Bibliothek und Archiv des Sties Seitenstetten auch als Konservator der k.u.k. Zentralkommission für Kunst und historische Denkmale in N.Ö. tätig war, wird dem Gymnasiasten Karl Salzer schon früh Einblick in das wissenschaliche Arbeiten ge- währt, vor allem aber die Freude an der Geschichtsforschung geweckt, durch den Deutschlehrer P. Robert Weißenhofer speziell die Begeisterung für das Studium der Geschichte der Literatur. Bausteine der Universitätsjahre Nach der Matura wird Anselm Salzer Benediktiner in Seitenstetten, studiert in St. Pölten ab 1876 eologie und empfängt im Jahr 1880 die Priesterweihe. Der Abt schickt den wissenschalich interessierten und bald auch erfolgreichen Mitbruder nach Innsbruck zum Studium der Germanistik und Klassischen Philologie, damit er wie sein ehemaliger Deutschlehrer an dem aufstrebenden Stisgymnasium Deutsch, Latein und Griechisch unterrichte. Die wichtigste Bezugsperson wird für Anselm 161 Salzer der Germanist Ignaz Vinzenz Zingerle, Edler von Summersberg, der von 1859 bis 1892 den Lehrstuhl für Germanistik innehat.9 Dieser war in jungen Jahren kurz- fristig Benediktinermönch in Marienberg in Südtirol gewesen. Deshalb, vor allem aber durch die wissenschalichen Arbeiten Salzers schon während der Universitätsjahre, hatte er früh sein Augenmerk auf den jungen Studiosus gelenkt. Salzer hatte bereits nach vier Studiensemestern Die erste neuhochdeutsche Übersetzung der Otfridischen Evangelienharmonie in der Zeitschri für deutsche Philologie10 vorgelegt; im selben Jahr den Aufsatz Über die Entwicklung der christlich-römischen Hymnenpoesie und ihre Bedeutung für die althochdeutsche Poesie. Mit besonderer Berücksichtigung der Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg in den Studien und Mittheilungen aus dem Benedictinerorden,11 sowie Die christlich-römische Hymnenpoesie und Otfrid von Weißenburg, Brünn 1883.12 Kein Wunder, dass der Professor so einen Ausnahme- Schüler in seinen engeren Kreis auf Schloss Summersberg bei Gudaun in Südtirol aufgenommen hat.13 Aus diesen Quellen hat sich die Dissertation Die christlich-rö- mische Hymnenpoesie in ihrer Entwicklung und Beziehung zu Otfrid’s von Weißenburg Evangelienharmonie gespeist, die Anselm Salzer bei Universitätsprofessor Zingerle zur Erlangung der Doktorwürde eingereicht hatte. Schon nach acht Semestern pro- movierte Salzer und erwarb das Lehramtszeugnis für Latein und Griechisch, das für Deutsch bereits ein Jahr zuvor „durch Ermächtigung des hohen Ministeriums mit Erlasse vom 10. März 1883, Zahl 4458“.14 Aus dem bisher Gezeigten ist als erster Schwerpunkt der germanistischen Studien das sogenannte alte Fach festzustellen, im Besonderen die Zeit der karolingisch- ottonischen Renaissance mit den lateinischen, alt- und mittelhochdeutschen litera- rischen Denkmälern. Weitere Schwerpunkte sind erkennbar, wenn man den Index lectionum,15 das im Stisarchiv erhaltene Studienbuch, durchforscht. Salzer inskribiert im