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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 20. September 1999 Betr.: Barak, Geldschieberei, Berlin sraels Ministerpräsident Ehud Barak, 57, war von seinem 17. Lebensjahr an in der IArmee und brachte es bis zum Generalstabschef. Nun hat sich der Mann des Krie- ges vorgenommen, das Werk seines politischen Ziehvaters Jizchak Rabin zu voll- enden und den Konflikt mit den Palästinensern ein für alle Mal beizulegen. Wie er das schaffen will, erläuterte er vergangenen Donnerstag in Tel Aviv den SPIEGEL- Redakteuren Stefan Aust,Annette Groß- bongardt und Romain Leick. In seinem ersten großen Gespräch mit einem deut- schen Medium entwarf Barak seine Vision eines künftigen Nahen Ostens. Zu fortgeschrittener Stunde fand die Dis- kussion ein jähes Ende: Ein Sicherheits- berater stürmte herein und sagte, er müsse den Ministerpräsidenten „auf der Stelle“ wegbringen. Noch im Hinausge- hen beantwortete der Regierungschef die Fragen der SPIEGEL-Leute. Den Grund für die plötzliche Hektik erzählte Barak FOTOS: A. BRUTMANN FOTOS: Großbongardt, Aust, Barak ihnen am nächsten Morgen: Im Haus eines Freundes hatte er sich gegen Mitternacht mit seinem palästinensischen Verhandlungspartner Jassir Arafat getrof- fen. Bei Gänseleber und gegrilltem Fisch – laut Barak eine „vertrauensbilden- de Maßnahme“ – hätten die beiden den hürdenreichen Weg zum Frieden bespro- chen (Seite 227).

or knapp einem Jahr bekam SPIEGEL-Redakteur Jürgen Hogrefe, 50, – damals VKorrespondent in Jerusalem – Hinweise auf eine große Geldschieberei: Israe- lische Rentner beklagten sich, sie würden um ihre Zahlungen aus Deutschland geprellt. In Berlin war SPIEGEL-Redakteur Peter Wensierski, 45, auf der glei- chen Spur. Er hatte von der Verhaftung eines Rechts- anwalts erfahren, dem die Staatsanwaltschaft Steuer- hinterziehung in zweistelli- ger Millionenhöhe vorwirft. Fortan recherchierten die beiden SPIEGEL-Journalis- ten gemeinsam und legten in monatelanger Arbeit eine Hogrefe (r.), israelische Rentner internationale Affäre frei: Rund eine Milliarde Mark deutsche Rentengelder waren nicht in Israel gelandet, son- dern auf Konten obskurer Geschäftemacher. Das Ergebnis der Recherchen liest sich wie ein Krimi: „Das Milliarden-Ding“ (Seite 44).

och vor einem Jahrzehnt führte die Mauer durch Berlin, nun wird Deutsch- Nland von dort aus regiert. Der radikale Wandel fasziniert Neu-Berliner und Besucher aus aller Welt. SPIEGEL-Redakteur und Alt-Berliner Michael Sontheimer, 44, hat die Metamorphose der Stadt seit 1990 beobachtet. Jetzt legt er im SPIEGEL- Buchverlag eine Momentaufnahme der deutschen Metropole im Umbruch vor: „Berlin, Berlin – der Umzug in die Hauptstadt“.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 38/1999 5 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Deutschland Panorama: Geheimpapier belastet Berlins Seite 24 Innensenator / Finanzbeamter wechselt Front ..... 19 Kirchenstreit um die Abtreibung Kirche: Machtkampf mit dem Vatikan...... 24 Hauskrach bei den Katholiken Regierung: Schröder und Schäuble zur Zusammenarbeit verdammt ...... 27 um die Abtreibung: Der Bann- SPD: SPIEGEL-Gespräch mit Franz strahl des Papstes gegen den Müntefering über die Krise seiner Partei ...... 29 Verbleib der Kirche in der staat- Angst an Rhein und Ruhr ...... 31 lichen Schwangeren-Beratung Parteien: Wie konservativ sind junge Wähler?...... 34 beschert den deutschen Bischö- Hauptstadt: Industriespionage fen die größte Krise seit Beste- gefährdet Flughafen-Pläne...... 36 RAF: Tödlicher Schlag gegen dritte Generation.... 38 hen der Republik. Die Funda- Affären: Die Geldschiebereien mit mentalisten haben sich durch- den deutsch-jüdischen Renten ...... 44 gesetzt, Oberhirten werfen sich Kriminalität: Prozess gegen Münchner Intrigantentum vor, Laien wol- Prügel-Polizisten...... 62 AFP / DPA len kirchenunabhängige Bera- Strafjustiz: Gisela Friedrichsen über das dritte Verfahren gegen Monika Böttcher, Papst Johannes Paul II. tungsgremien gründen. geschiedene Weimar ...... 66 Sekten: Weltuntergangs-Phantasten im Gemeinderat...... 72 Verkehr: Mit dem Schwimmpanzer in die Elbkneipe ...... 76 Die Rentenräuber Seite 44 Kommentar Rudolf Augstein: Die „höchste Stelle“...... 26 Rund eine Milliarde Mark aus der Rentenkasse der Bundesversicherungsanstalt für An- gestellte ist nicht bei denen angekommen, für die sie gedacht war: bei Rentnern in Is- Spiegel des 20. Jahrhunderts rael. Gewiefte Geschäftemacher in Deutschland und Israel leiteten den größten Teil des Das Jahrhundert des geteilten Geldes auf private und Firmenkonten um. Deutsche und israelische Staatsanwälte Deutschland – 40 Jahre DDR: ermitteln in der Affäre vor allem gegen zwei Rechtsanwälte in Tel Aviv und Berlin. Hans Michael Kloth über die Ära Honecker..... 79 Wirtschaft Trends: Umbau im DaimlerChrysler-Vorstand / Fusion Veba/Viag perfekt...... 95 Geld: Schönheitsaktien ohne Phantasie / Spekulation mit Daewoo-Anleihe...... 97 Aufsteiger: Die neuen Chefs Seiten 106, 120 Wirtschaftspolitik: Das französische Wunder ..... 98 Führungswechsel in zwei deutschen Internet: Ende der Anarchie? ...... 101 Affären: Immobilienschwindel im Osten ...... 104 Konzernen. Beim Springer-Verlag soll Deutsche Bahn: Interview mit dem neuen Ex-„Bild“-Chef Larass die Führung Bahnchef Hartmut Mehdorn ...... 106 übernehmen. Darauf verständigten Störfall Transrapid...... 106 sich im Stillen die Großaktionäre. Strom: Chaos um Energiemarkt ...... 109 Laut verkündete die Regierung, dass Volkswagen: Ärger um Auslands-Fabriken ...... 112 Videospiele: Bill Gates greift an...... 114 der Manager Mehdorn neuer Bahn- chef wird. Mehdorn outet sich im T. BARTH / ZEITENSPIEGEL BARTH T. Medien DPA Interview als Bahnfan: „Da kann man Trends: Eins zu Null für TM 3 / Neues Mehdorn Larass auch mal ein Nickerchen machen.“ „Tagesschau“-Konzept ...... 117 Fernsehen: TV-Zerrbilder aus dem Schulalltag... 118 Vorschau ...... 119 Verlage: Führungswechsel bei Springer...... 120 Produzenten: Das Comeback des Ex-RTL-Programmdirektors Marc Conrad ...... 124 TV-Geschichte: ARD-Reihe zur Mauer ...... 125 Shoot-out in Wien Seite 38 Ausland Er war über Norwegen, Panorama: Manipulationen belasten Japans Österreich und Syrien in Atomprogramm / Uno-Entwicklungshelfer den Libanon geflüchtet, kämpfen ums Geld ...... 217 jetzt fand er in Wien den Russland: Chaos um Jelzin ...... 220 Tod: Polizisten erschossen Bomben von der Geheimpolizei ...... 222 am vergangenen Mitt- Interview mit Gouverneur Alexander Lebed über Terrorismus und Krieg im Kaukasus ...... 223 woch den mutmaßlichen Osttimor: Gefährliche Aufgabe für RAF-Terroristen Horst Uno-Friedenstruppe...... 224 Ludwig Meyer und ver- Nahost: SPIEGEL-Gespräch mit Israels hafteten seine Begleiterin Premier Ehud Barak über Chancen Andrea Klump – kein und Barrieren des Friedensprozesses ...... 227 Österreich: Kanzler Klima kämpft Fahndungserfolg, sondern um Wiederwahl...... 232 Zufall. Unbehelligt hatten Grossbritannien: Urgroßmutter als die beiden Deutschen als Spionin entlarvt ...... 236 Untermieter eines Stu- Angola: Der vergessene Krieg ...... 237 denten in der österreichi- VIENNA REPORT Kosovo: Einsame Stimme der Vernunft ...... 242 schen Hauptstadt gelebt. Erschossener Terrorist Meyer Weltbevölkerung: Die Menschheit wächst auf sechs Milliarden ...... 246

8 der spiegel 38/1999 Titel Länger gesund Medizinbetrieb: Labyrinth der Heilkunst .... 127 Körperkult: Wellness-Paläste verdrängen die Kraftmaschinen ...... 134 Ernährung: Welche Diät hilft gegen Krankheit? ...... 140 Herzinfarkt: Rotwein zur Vorbeugung ...... 144 Schönheit: Fortschritte bei Kosmetik und Chirurgie...... 148 Sex: SPIEGEL-Gespräch mit John Bancroft, dem Leiter des Kinsey-Instituts...... 156 Forschung: Wie alt wird der Mensch?...... 162 JUMP NIBAUER / TONY STONE / TONY NIBAUER Kuren: Wein, Weib und Wasserspiele ...... 168 Senioren: Happy mit der neuen Hüfte ...... 174 Hormon-Kur: Verjüngungs-Cocktails in Palm Springs...... 178 Klinik: Wie überlebt man als Patient im Krankenhaus?...... 182 Krebsvorsorge: Programme zur Früherkennung nützen wenig...... 184 Hormone: Therapie der Wechseljahre – Wohltat oder Risiko?...... 188 Die Hitzewallungen des Mannes ...... 190 Umwelt: Öko-Krankheiten häufen sich...... 194 Stress: Strategien gegen ein fatales Erbe aus der Steinzeit ...... 196 Medikamente: Psychopillen – Doping für den Alltag ...... 202 Gedächtnis: Mit Hirnjogging den Geist ROSENFELD / IMAGINE R. FROMMANN / LAIF trainieren ...... 207 Fitness-Training, Yoga, Krebsvorsorge Alter: Die Belle Époque des Lebens...... 213

Kultur Szene: Autoren-Aufstand bei Rowohlt / Die sechste Milliarde Seite 246 Fotokünstler Wackerbarth über Ideenklau...... 253 Debatte: Ludger Lütkehaus zum Streit Am 12. Oktober erreicht die Menschheit laut Uno-Berechnung die sechste Milliarde. um Sloterdijk und Habermas ...... 256 Besonders schnell wächst die Bevölkerung auf den katholischen Philippinen. Uno-Pro- Bestseller ...... 258 jekte in Slums und Dörfern kämpfen gegen die Macht der Kirche und der Tradition. Architektur: Farbrausch am Bau...... 260 Zeitgeschichte: Die Lebenslügen von Hitlers Vorzugsminister Albert Speer...... 264 Vorabdruck aus der Speer-Biografie Seite 302 von Joachim Fest ...... 266 Sagenstadt Vineta aufgetaucht? Entertainer: Interview mit Altstar Julio Iglesias Ist ein Berliner Archäologe der sagenhaften Ostsee-Metropole Vineta auf die Spur über Blondinen und Depressionen...... 276 Stars: Wie Westernheld John Wayne gekommen? Vor 800 Jahren soll die damals größte Stadt Europas versunken sein. sich beim US-Geheimdienst bewarb ...... 284 Unweit von Rügen tauchten mögliche Überreste der mittelalterlichen Boomtown auf. Kino: Der Mengele-Thriller „Nichts Eine Tauchfirma will den Barther Bodden jetzt mit Sonargeräten absuchen. als die Wahrheit“ ...... 289 Wissenschaft + Technik Prisma: Forschungserfolge durch Einwanderer / Seite 310 Bewegliche Gesichtsprothesen...... 293 Steffis neue Liebe Prisma Computer: Schlauer Sicherheitsgurt / Nach ihrem Rücktritt ord- Freigabe für US-Verschlüsselungstechnik...... 294 Meteorologie: Der Kampf der Sturmforscher net Steffi Graf auch das gegen den Hurrikan „Floyd“ ...... 296 Privatleben neu: Sie über- Archäologie: Lag bei Rügen einst raschte ihre Fangemeinde Europas größte Stadt?...... 302 mit der Trennung von Raumfahrt: Spionagesatellit für jedermann ...... 306 ihrem Lebensgefährten Sport Michael Bartels und tur- Tennis: Daviscup entscheidet Beckers Zukunft... 308 telte in Amerika mit dem Stars: Steffis neues Doppel...... 310 Weltranglistenersten An- Fußball: Die Ohnmacht Otto Rehhagels ...... 312 dre Agassi. Die Beziehung Briefe ...... 10 Impressum...... 16, 318 der Seelenverwandten Leserservice ...... 318 DPA entwickelt sich zur Me- H. RAUCHENSTEINER Chronik...... 319 dienromanze des Jahres. Graf Agassi Register ...... 320 Personalien...... 322 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 324

der spiegel 38/1999 9 Briefe

lichkeit normal? So souverän wie Holland? Die Kinder von Goethe, Marx, Himmler „Berlin hat trotz Mauerfall und und Coca-Cola sind immer noch eine Mil- Hauptstadt seinen typischen Charakter, lionenansammlung von Bausparkassen-Ver- trags-Inhabern. Es fehlt ihnen der Wesens- die deutsche ,Flegelstadt‘ zu sein, kern.Auch Berlin wird da nicht helfen, son- nicht verloren. Damals wie heute tobt dern eher die Zweifel mehren. Berlin muss seine Qualifikation zur Hauptstadt erst mal sich dort die Jugend aus, um danach unter Beweis stellen. Werden die Berliner entweder unterzugehen oder – geläutert – Repräsentanten hysterisch reagieren, wenn die Stadt mit den Problemen der gesam- in den Provinzen Karriere zu machen.“ ten Republik, wie der Arbeitslosigkeit, iden- Michael Müller-Hegen aus Darmstadt zum Titel tifiziert wird? Werden von hier aus dann „Aufbruch zur Weltstadt New Berlin“ die großen politischen Reformentwürfe SPIEGEL-Titel 36/1999 kommen? Ich bin da eher skeptisch. Berlin Hans Wallow Ex-SPD-MdB Berlin zu „ertragen“, und einiges an Heim- Und sie mischen sich doch reisekosten ins heimelige Bonn einsparen. „Die echten Balina.“ Adrienne Woltersdorf Nr. 36/1999, Titel: Aufbruch zur Weltstadt New Berlin Freiburg Stephan Liebenow ist offensichtlich keine. Sonst wüsste sie, dass im Berlinischen nicht jedes „er“ zum Abgesehen von der prognostizierten sog- Ich verstehe die Begeisterung von Schrö- „a“ wird, schon gar nicht bei Berlin und sei- haften Entwicklung Berlins zur Weltstadt der, der erste Bundeskanzler im neuen nen Abwandlungen. Es ist der typische Feh- im Herzen Europas, zur politischen und Berlin zu sein. Trotzdem haben mich zwei ler des Möchtegern-Berlinernden; gehört kulturellen Metropole, birgt Ihre Titel- Sätze in diesem Artikel gestört. Illustration eine hintergründige, wenn auch Es heißt dort „Geschichte ist wahrscheinlich unbewusste Ironie. Schließ- ihm piepe“ und: „Für ihn ist die lich wissen wir bereits seit den Brüdern Nachkriegszeit endgültig vor- Montgolfier, dass solche Ballone mit nichts bei.“ Ein Privatmann darf sich als heißer Luft gefüllt sind und überdies so ausdrücken. Als deutscher oftmals recht aufgeblasen erscheinen. Bleibt Bundeskanzler ist Schröder mit nur zu hoffen, dass Berlin es schafft, die der deutschen Vergangenheit – Ballastsäcke deutscher Trägheit und schwer- nolens volens – verbunden. mütiger Egozentrik abzuwerfen, denn dann Tel Aviv (Israel) Dr. Max Münz kann dieser Ikarus es wirklich schaffen, auf- zusteigen und auch oben zu bleiben. Berlin kann sich rühmen, das Drage (Schlesw.-Holst.) Christoph Purschke rüdeste Verkaufspersonal in ganz Deutschland zu haben,

Der Umzug nach Berlin mag zwar spekta- vielleicht sogar auf der ganzen SANDBERG T. kulär und auch durchaus historisch und da- Welt. Diejenigen, die mir be- Szene-Café in Berlin: „Raunzbackenmäßig im Resto“ her medienwirksam sein, aber in der allge- gegnet sind, wären in Frankreich meinen Euphorie über den „Wechsel“ von längst entlassen worden.Anstatt Millionen haben kann sie es nicht. Dafür sind ihre Bonn nach Berlin scheinen die Menschen in Imagekampagnen zu stecken, sollte der sonstigen Wahrnehmungen etwas einseitig. zu vergessen, dass sich zwar die Häuser än- Berliner Senat besser Benimmkurse für ,,Sehn Se, dit is Balin!“ Balin vielleicht; dern, nicht aber die Regierungen. Da braucht Berliner Verkäuferinnen anbieten. Berlin ist, wie sie ja auch zum Schluss ein- es etwas mehr als einen örtlichen Wechsel. Straßburg (Frankreich) Michael App räumt, insgesamt anders. „Dit“ gibt es auch Bochum Markus Pietraszek nicht. Es heißt ,,det“. Ich weiß, es ist nicht Der Umzug der Staatsorgane von Bonn leicht, aber man kommt in Berlin auch ganz Moloch Berlin: Die Deutschen schicken sich nach Berlin ist der letzte formale Versuch gut mit Hochdeutsch durch. an, die gleichen Fehler zu machen wie einst der politischen Klasse in Deutschland, eine Berlin Jörg Karau die Italiener in Rom und die Franzosen in so genannte Normalisierung zu erreichen. Paris. Kampfeinsätze für die Bundeswehr durch- Seit fast zehn Jahren fahre ich mit meiner Port-Blanc (Frankreich) Freddi Kollmus zusetzen war das vorletzte große Hindernis. Taxe in ganz Berlin, vor zwei Jahren bin ich Es dient immer noch dem Bestreben, sich zu von West nach Ost gezogen, Freunde und Das neue Berlin, gekennzeichnet durch Ge- verstecken oder in anderen Nationen auf- Bekannte wohnen in der ganzen Stadt.We- schwindigkeit, durch ständige Veränderung, zulösen. Sind wir jetzt bis zur Unkennt- der bei der Arbeit noch privat verschwende durch das Zusammentreffen der Kulturen, unvereinbare Gegensätze. Ist dies so neu? Ein kleiner Blick in die Klamottenkiste hilft. Vor 50 Jahren der spiegel vom 22. September 1949 Die wunderbaren Couplets von Otto Reut- Der „größte Industrieprozess“ seit Kriegsende beginnt in Hamburg Der ter helfen weiter: „Berlin ist ja so groß“, Direktor der Phrix-Werke Adolf Grom wegen Veruntreuungen angeklagt. „’s ist das Geheimnis von Berlin“, „Ich Moskau kann sich auf seinen Statthalter in Ungarn, Matyas Rakosi, kann das Tempo nicht ertragen“. All die verlassen Er ist Favorit des Kreml außerhalb der Sowjetunion. Die als neu bezeichneten Eigenschaften Berlins britische Kronkolonie Malta hat große Geldsorgen Meistbietend zu versteigern. Igor Strawinskis Neue Musik wird in Deutschland populär Ein wurden von Reutter wunderbar beschrie- Fanatiker an Genauigkeit und Präzision. Erster Film-Vertrag seit Ufa- ben, nur dass dies Anfang dieses Jahrhun- Zeiten für Zarah Leander Regisseur von „Gabriela“ ist Geza von Cziffra. derts war. Somit gehört eine Otto-Reutter- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de CD ins Handgepäck jedes Abgeordneten. Titel: Motorradrennfahrer Friedel Schön Diese würde mancher/m helfen, das neue

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Werbeseite ich einen Gedanken an diese Ost- West-Vergangenheit. Probleme damit sind mir fremd. So sehen das auch die meisten Fahrgäste. Daher werde ich den Eindruck nicht los, dass die Me- dien von Zeit zu Zeit nach der ,,Mau- er in den Köpfen“ suchen und das dann verbreiten. Berlin Jens Geißler

Ich bin vor vier Jahren in den Osten BERGMAN / GAMMA STUDIO X J. gegangen und sage zum Trotz gegen Dorfszene in Polen Ihr Vorurteil: Und sie mischen sich Ein langer Weg von Vorgestern nach Übermorgen doch, lernen voneinander und ge- winnen neue Freunde. Muss doch mal ge- Tirschtiegel). 1993 wurde diese Freundschaft sagt werden. mit einem Partnerschaftsvertrag besiegelt. Potsdam Muriel K. Helbig Seitdem finden gegenseitige Besuche zwi- schen den Gemeinderäten, Vereinen, Schü- Sitze gerade raunzbackenmäßig im „Res- lern und Bürgern statt. Zu vielen privaten to“ und dönere mir einen. Amüsiere mich Feiern wird gegenseitig eingeladen. Selbst- köstlich über Tanja Dückers Szene-Ge- verständlich gibt es auch in meiner Ge- plapper, das ja wohl neue U-30-Leser zum meinde Vorbehalte, und es gibt Bürger, die SPIEGEL spülen soll: eine Sprache wie ein diese Partnerschaft konsequent ablehnen. rasch wirkendes Abführmittel. Kann mir Ich lasse mich aber nicht beirren und wer- Drum’n’Bass-Tanja nicht auch mal die de an dieser Partnerschaft weiter arbeiten Spaßnischen von München erklären? Aber und sie nach Möglichkeit noch stärker för- Bayern ist „ferner als das Mittelmeer“, pro- dern. Der Graben zwischen West und Ost ist vinzeirig eben und nur mit Kultur gesegnet auch heute noch sehr tief. Geknüpft werden statt mit „Culture“. muss ein Band der Völkerverständigung, wie Furth (Bayern) Thomas Lochte es in Asendorf und Trzciel begonnen wurde. Asendorf (Nieders.) Peter Muus Bürgermeister von Asendorf Der Graben ist noch sehr tief Nr. 36/1999, Außenpolitik: Neue Nähe zu Polen Sie schreiben, für manche Deutsche sei Po- len das Land „der schwarzen Madonna“ Ich habe ein Jahr in Polen gearbeitet und und „der Autodiebe“. Als gebürtiger Pole den Eindruck gewonnen, dass die Mehrheit habe ich diesen Satz als beleidigend emp- der dortigen Bevölkerung noch Jahrzehnte funden. Die polnisch-deutschen Beziehun- brauchen wird, sich wirtschaftlich wie men- gen sind nicht so solide, dass sie solche tal auf einen Beitritt zur EU vorzubereiten. Beleidigungen verkraften. Suchen die Deut- Wer dies ignoriert und politische Schnell- schen von Herzen die Freundschaft mit schüsse vorbereitet, tut dies entweder aus Polen, sollten sie lieber auf die positiven Unkenntnis oder als Erfüllungsgehilfe der polnischen Eigenschaften fokussieren. deutschen Industrie. Da hegen viele Polen Villeneuve d’Ascq (Frankreich) vermutlich den richtigen Verdacht, denn Prof. Dr. Lech Pawlowski sie haben wohl auch schon von den Be- dingungen des Binnenmarkts gehört: Ein Spargel stechender Saisonarbeiter hat eben Spekulativ historischer Großentwurf keine Chance gegen den Druck westeuro- Nr. 36/1999, Intellektuelle: Mode-Philosoph Peter päischen Geldes. Das Ganze gilt natürlich Sloterdijk über „Menschenzüchtung“ auch umgekehrt: Mit dem Tag, an dem wir mit Polen den Euro teilen, hilft nur noch Mit Argusaugen wacht der SPIEGEL über gemeinsames Beten! Wer jemals eine Nacht die moralische Hygiene des bundesdeut- in einem alten polnischen Provinzhotel schen Diskurses.Wehe, wenn da einer aus- zugebracht hat oder auch einen der vielen schert! Da erlaubt sich doch tatsächlich die- Beinahezusammenstöße mit Vieh auf pol- ser Sloterdijk, Thesen zu verbreiten, die so nischen Schnellstraßen erlebt hat, wird die gar nicht in die bequeme Links-tolerant- Ansicht teilen, dass sich Polen noch lange weltoffen-liberal-kritisch-antifaschistisch- Zeit auf dem Weg von Vorgestern nach etc.-Schablone passen –, also schnell drauf- Übermorgen bewegen wird. hauen. Die moralinsaure Aufregung ist Göttingen Frank H. Henning nichts anderes als das trotzige Umklam- mern geistiger Besitzstände. Bei den Berichten über die deutsch-polni- Nußloch (Bad.-Württ.) Oliver Mohr sche Freundschaft darf nicht vergessen wer- den, dass einen großen Beitrag zur Versöh- Hier soll der Überbringer schlechter Nach- nung auch die Vereine und Gemeinden ge- richten gelyncht werden mit der Behaup- leistet haben. Meine Gemeinde Asendorf tung, er würde pränatale Selektion propa- pflegt seit 1990 eine Freundschaft zu gieren. Sie wird praktiziert. Das ist für die der Stadt und Gemeinde Trzciel (früher denkende Zunft ein traumatisierendes Fak-

14 der spiegel 38/1999 Briefe tum. Bisher hinken wir losgelösten For- schern und den Profit-Visionären der Bör- sen mit einem abgegriffenen Humanismus- Fetisch harmlos hinterher. Schaffen wir endlich eine international tragfähige Wer- tebasis und durchsetzbare Gesetzesgrund- lagen, statt Vordenker wie Sloterdijk auf dem Nebenkriegsschauplatz zu verteufeln. Göttingen Andreas Clausen

Die Kritik von Reinhard Mohr an Sloter- dijks großformatigen Züchtungsphantasien ist sicher überzeugend, aber um einen Hin- weis auf den aktuellen Stand kleinformati- ger gentechnischer Laborforschung zu er- gänzen. Nichts unterstreicht dies deutlicher als der Umstand, dass dasselbe SPIEGEL- Heft nicht nur die ,,Züchtung des Über- menschen“ zum Thema macht, sondern auch einen Beitrag über das Forschungs- projekt zur Züchtung intelligenter „Über- mäuse“ bringt. Dabei handelt es sich natür- lich nicht um ein Mäuseprojekt, sondern um ein Menschenprojekt. Die Gentechnik, einerseits, geht offenbar bei ihrer Interven- tion am Menschen von der Korrektur an der leiblichen Hülle zur Gestaltung des geis- tig-emotionalen Kerns über und zielt da- bei in ihren medizinspezifischen Varianten auf Hilfe gegenüber individuellen Krank- heiten und Defekten. Demgegenüber im- pliziert Sloterdijks ,,Zarathustra-Projekt“ mit seiner philosophisch-ideologischen Flankierung der technischen Realisation, wieder einmal in Gestalt eines spekulativ historischen Großentwurfs, die Enttabui- sierung einer totalitären Obszönität: der Koppelung von gentechnischem Potenzial und Herrschaftseliten/Wissenschaftseliten mit Zuchtkompetenz. Bremen Prof. Dr. Reinhard Damm ZEITENSPIEGEL Umstrittener Philosoph Sloterdijk Sophistischer Taschenspielertrick?

Es ist an der Zeit, dass die – modische – Vernunftkritik der Philosophen vom Schla- ge eines Herrn Sloterdijk endlich als das desavouiert wird, was sie tatsächlich ist: ein sophistischer Taschenspielertrick, ein permanentes Fortziehen des eigenen Fun- daments, aber mit der merkwürdigen In- konsequenz der Inanspruchnahme dessel- ben Fundaments, wenn sich diese Art „Denken“ durch Gegenargumentationen belästigt sieht. Sulzbach/Taunus Dr. Wilhelm Jüsten

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Sloterdijk reiht sich würdig in die Reihe verlarvender Denker ein, die seit Hegel Bildungspolitischer Karneval und Heidegger die deutsche Philosophie Nr. 36/1999, Hochschulen: prägen. Er flieht von marxistischen Illusio- Professoren-Gehälter nach Leistung nen in genetische Illusionen. Platos Frage „Wer überwacht die Wächter?“ stellt sich Gern hätte ich gelesen, um wie jedoch neu: „Wer züchtet und zähmt die viel niedriger als 10 bis 15 Pro- humangenetischen Züchter?“ zent der Anteil unterdurch- Bayreuth Dr. Johannes Driendl schnittlich Dienstbeflissener in anderen Berufsgruppen liegt, um Was mir gefehlt hat, war die Pointierung meine Verachtung für die Sippe dessen, worin das ethische Problem an gen- deutscher Professoren auskosten manipulierten Menschen wurzelt. Denn zu können. Die Aussage zu „ge-

ebenso wie die technische Machbarkeit nä- R. FROMMANN / LAIF schickten Berufungs- und Bleibe- her rückt, nehmen Geschichtsbewusstsein Testschläfer im Schlaflabor: Der Spukwelt ausgesetzt verhandlungen“ suggeriert, dass und religiöse Werte immer mehr ab, so dass Bauernschläue die wesentliche ein Verweis auf die Parallelen zum Dritten weiterhin zu häufig, einschlafen zu müssen, Voraussetzung für Mehrfachberufungen Reich langfristig nicht ausreichen wird. In Alpträume zu haben und Kampf mit Hor- sei. Sie unterschlägt die Tatsache, dass einer Zeit immer schnellerer Entwicklun- rorvisionen – vom Schlafvergnügen wird Berufungsverfahren eine besonders an- gen und problematisierten Geburtenrück- zu wenig berichtet. Bei Narkoleptikern spruchsvolle Form der Leistungsüberprü- gangs in den Industriestaaten mag auf den bringt Veränderung von Schlafgewohnheit fung darstellen. Ohne Veröffentlichungen ersten Blick beispielsweise die Züchtung häufig Besserung, mit genetischer Verur- von Rang, ohne substanzielle Drittmittel eines Menschen, der bis in sein hohes Al- sachung lässt sich das ja nicht erklären. und ohne den praktischen Nachweis der ter uneingeschränkt lernfähig bleibt, man- Köln Bernd Sammeck Lehrbefähigung erhält auch im deutschen chem sogar vernünftig erscheinen. Beamtenparadies niemand einen Ruf. Regensburg Marcus Niepmann Imperative „Schlafanfälle“ sind extrem sel- Hagen Prof. Bernd Krämer tene Ereignisse, die eine differenzierte in- ternistisch-neurologische-epileptologische Die Leistungen der Hochschulen zwischen Armut statt Arbeit Abklärung erfordern. Natürlich denkt der den einzelnen Wissenschaften zeigen eine Nr. 37/1999, Panorama – Zitat „normale“ Arzt auch an Narkolepsie und Verschiedenheit, die im linearen Maßstab lässt sie feststellen oder widerlegen. Der eines Gehalts durchaus nicht zu bewerten Sollte ich tatsächlich „unverschuldete Ar- „normale Arzt“ darf sich ein wenig scha- ist. Gemessen an den Kungeleien und Intri- beit“ für das „größte Unglück“ halten, so denfroh trösten, dass den Experten wenigs- gen, die dann außerdem bei einer versuch- wie es im Fragebogen der „FAZ“ stand, den tens der Unterschied von „Morpheus“ ten Einstufung vorauszusehen sind, muss Sie zitieren? Nein, dort war durch einen (Gott der Träume, Sohn des Schlafgottes die mängelbehaftete bisherige Besoldungs- Übertragungsfehler die falsche Antwort ge- Hypnos) und „Orpheus“ (dem schicksal- regelung als das kleinere Übel erscheinen. druckt worden. Natürlich hätte es „unver- rührenden Sänger und Leierspieler) unbe- Kassel Prof. Dr. W. Meyer-Christian schuldete Armut“ heißen müssen. kannt ist und auch Ihnen eine Hamburg Ortwin Runde Fehldiagnose unterlaufen ist. Erster Bürgerm. der Fr. u. Hansest. Hamburg Bielefeld Dr. Wilhelm Schwindt

Sie haben die Symptome der Nar- Dicke Wand zum Unbewussten kolepsie gut dargestellt. Ich habe Nr. 36/1999, Medizin: Die Leiden der Schlafsüchtigen sie in sehr milder Form seit fast 50 Jahren und konnte mich an sie et- Die Suche nach genetischem Anderssein was gewöhnen. Das Wesen der von Narkoleptikern mag zwar für die Ent- Narkolepsie sehe ich ein bisschen wicklung von Medikamenten hilfreich sein, anders. Bei den Gesunden gibt es die umfassende Erforschung des Schlafes eine sehr dicke Wand zum Unbe- und seiner Krankheiten steht weiterhin aus. wussten. Von Alpträumen einmal Gerade Schlafen wird Kindern sehr kon- abgesehen, haben sie dorthin

fliktbeladen beigebracht. Schlaf bedeutet keinen Zugang. Als ich als Kind HOLLANDER / DIAGONAL F. meine psychischen Erlebnisse Anatomie-Vorlesung in Lübeck: Das kleinere Übel? den Ärzten gutgläubig schilderte, merkte ich schon, dass sie auch rein gar Wäre es nicht besser, auf wirklich Be- VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, nichts kapierten. Aber wie sollten die Ärz- währtes wie das Hörergeld zurückzugrei- Regierung, SPD (S. 29), Parteien,Affären: Dr. Gerhard Spörl; für Kirche, te es auch verstehen, wenn sie in dieser Ma- fen, statt weitere 30 Jahre bildungspoliti- SPD (S. 31), Hauptstadt, RAF, Kriminalität, Sekten: Clemens Höges; für Verkehr,Tennis, Stars, Fussball: Matthias Geyer; für Spiegel des 20. Jahr- terie einfach ignorant sind. Und wenn sie schen Karneval zu veranstalten? hunderts: Dr. Dieter Wild; für Trends, Geld, Wirtschaftspolitik, Internet, wüssten, dass die Erlebniswelten mit allen Köln Prof. Dr. Fritz Eggesiecker Affären, Deutsche Bahn, Strom, Volkswagen, Videospiele, Verlage, nur erdenklichen Gruselkabinetten sehr Produzenten: Gabor Steingart; für Fernsehen, TV-Geschichte, Szene, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Debatte, Bestseller, Architektur, Entertainer: Dr. Mathias Schreiber; für wohl real sind, würden sie ganz schön die schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Titel: Jürgen Petermann; für Panorama Ausland, Russland, Osttimor, Gänsehaut bekommen. Bei den Narkolep- Nahost, Österreich, Grossbritannien,Angola, Kosovo, Chronik: Dr. Olaf tikern ist die schützende Wand zum Unbe- Ihlau; für Zeitgeschichte: Dr. Rolf Rietzler; für Prisma, Meteorologie, wussten durchlässig. Man ist den Einflüssen Archäologie, Raumfahrt: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Einer Teilauflage dieser Ausgabe ist ein Prospekt der Fir- Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. aus der weniger schönen Spukwelt ziemlich ma Clark Shoes, Bingen, und eine Postkarte der Firma Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; ausgesetzt. Es wird wohl noch mehr als hun- Handelsblatt/Wirtschaftswoche, Düsseldorf, beigeklebt. Die Gesamtauflage dieser Ausgabe enthält eine Beilage für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Karl-Heinz dert Jahre dauern, bis die Medizin den me- Körner (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) der Firma IBM Deutschland, Stuttgart. Einer Teilauflage chanistischen Realitätsbegriff überwindet. der Postauflage liegt eine Beilage der Firma Gruner + TITELFOTO: Frank P.Wartenberg für den SPIEGEL Berlin Dr. J.-Georg Blomeyer Jahr/National Geographic, Hamburg, bei.

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KURDEN Frühe Warnung er Sturm auf das israelische Generalkonsulat in Berlin Ddurch militante Kurden im Februar dieses Jahres hätte womöglich verhindert werden können: Entgegen den Beteue- rungen des Berliner Innensenators Eckard Werthebach hatten die Behörden offenbar doch konkrete Kenntnis davon, dass Kurden nach der Verhaftung ihres Führers Abdullah Öcalan anti-israelische Aktionen planten. Dies geht aus einem ver- traulichen Dokument hervor, das im „Geheimschutzraum“ des Berliner Abgeordnetenhauses liegt. Bislang hat Werthebach alle Vorwürfe,Verfassungsschutz, Lan- deskriminalamt und Polizei hätten das Konsulat besser schüt- zen können, stets von sich gewiesen. Kategorisch erklärte er etwa am 21. Mai, am Abend des 16. Februar, also dem Tag vor der Erstürmung, hätten „konkrete Hinweise auf die Gefähr- dung“ nicht vorgelegen. Das vertrauliche Dokument – die Druckfassung einer elektro- nisch übermittelten Information des Bremer Verfassungs-

schutzes an die Berliner Kollegen vom Nachmittag des 16. Fe- REUTERS bruar – besagt allerdings etwas anderes. Darin warnt das Landesamt in Bremen, dass ein „im PKK/ERNK- Werthebach,Bergung von Opfern aus dem Berliner Konsulat Gebiet aktiver“ Informant der Behörde am Morgen Dienste bei der Entführung Öcalans. Es seien nun Ak- berichtet habe, die Kur- tionen nach Guerrilla-Taktik vorgesehen. den wüssten von der Zu- Obwohl die Warnung der Geheimdienstquelle weit kon- sammenarbeit kenianischer, kreter war als alle anderen Spekulationen, maßen die griechischer, amerikani- Berliner ihr keine besondere Bedeutung zu. Bei der Ak-

scher und auch israelischer ARIS tion wurden vier Kurden von Israelis erschossen.

STEUERN Konzernbetriebsprüfer hat intern er- GRÜNE klärt, das von ihm kontrollierte Kredit- Ärgerlicher institut habe ihm ein Angebot gemacht. Präsident Joschka Seitenwechsel ußenminister Joschka Fischer will Asich als Quasi-Parteipräsident an in spektakulärer Coup der Com- die Spitze der Grünen setzen – jedoch Emerzbank empört den hessischen Fi- ohne das Amt offiziell zu übernehmen. nanzminister Karlheinz Weimar (CDU). Nach der Wahl in Sachsen bietet Fischer Der bisher für die Bank zuständige der Partei an, sich in den kommenden Konzernbetriebsprüfer des Frankfurter zweieinhalb Jahren weit mehr als bisher Finanzamts, Reinhard Henkel, hat die zu Wahlkampf- und Werbungszwecken Seiten gewechselt und arbeitet seit dem zur Verfügung zu halten. Fischer: „Ich 1. September für das Kreditinstitut. mache das, aber ich mache das nicht al- Henkel, der als hoch qualifizierter Fi- lein.“ Dafür stellt der Ober-Grüne meh- nanzexperte gilt, hatte mit dafür ge- rere Bedingungen: Die Parteispreche- sorgt, dass die Bank mehrere hundert rinnen Gunda Röstel und Antje Radcke Millionen Mark Steuern nachzahlen sollen zurücktreten und durch ein ande- musste (SPIEGEL 22/1996). Der Wechsel res Duo ersetzt werden. Ein Sonderpar- des Kontrolleurs zum bisher von ihm teitag soll die Aufhebung der Trennung geprüften Geldkonzern ist für Weimar von Amt und Mandat beschließen. Für „ein absolutes Ärgernis“. Der Minister, die Parteispitze wünscht er zudem drei der erst Ende voriger Woche von dem Stellvertreter. Ein Generalsekretär soll Vorgang erfuhr, will jetzt prüfen, ob die inhaltliche, personelle und struk- „der Fall noch rückgängig gemacht wer- turelle Reform der Grünen einleiten. den kann und welche Konsequenzen für Ferner verlangt Fischer eine aus dem

die Zukunft zu ziehen sind“. Das N. SCHNARR / BAUMGARTEN Parteiapparat ausgegliederte Wahl- scheint nötig. Ein weiterer Frankfurter Commerzbank-Zentrale in Frankfurt kampfzentrale nach SPD-Vorbild.

der spiegel 38/1999 19 Panorama

Partnern, die Verteidigungshaushalte dürf- ten nicht weiter schrumpfen. Vielmehr müssten die Europäer mehr Geld inves- tieren, um neue Präzisionswaffen anzu- schaffen, ältere Waffensysteme zu moder- nisieren sowie Forschung und Entwicklung zu forcieren. Es sei ein Unding, dass man- gels moderner Funkgeräte die Zuweisung von Zielen an europäische Kampfpiloten nur auf Kanälen möglich war, die von den Serben abgehört werden konnten. Dem deutschen Verteidigungsminister kommen die Forderungen der Amerikaner allerdings insgeheim zupass – als Argumentations- hilfe bei seinem Kampf gegen Kürzungen des Wehretats. Vertrauliche Analysen der Brüsseler Nato- Zentrale fällen ebenfalls ein düsteres Urteil: Die Europäer allein hätten den Krieg gegen Serben-Führer Slobodan Milo∆eviƒ nicht führen, geschweige denn gewinnen können. Es sei ein Fehler

AP gewesen, den Einsatz von Bodentrup- Beladung eines Bundeswehr-„Tornados“ Ende März in Piacenza pen in öffentlichen Erklärungen auszu- schließen. Die Nato hätte Milo∆eviƒ viel- NATO mehr im Unklaren über einen möglichen Rückgriff auf Kampf- truppen lassen sollen. Das hätte den Krieg vermutlich ebenso verkürzt wie eine andere Art der Luftkriegführung. Unzufriedene Sieger Die Allianz, so die Kritik, hätte sofort durch massive Schläge auf strategische Ziele in Serbien Entschlossenheit demonstrieren sol- erteidigungsminister Rudolf Scharping muss sich beim Tref- len, statt zunächst nur einige symbolische Ziele in Belgrad mit Vfen mit seinen Nato-Kollegen in Toronto in dieser Woche auf Marschflugkörpern anzugreifen.Aber auch die Europäer sind in massiven Druck der USA gefasst machen. Washingtons Wehr- der Rückschau unzufrieden: Mangels eigener strategischer Auf- minister William Cohen will mit seinen Partnern aus Europa ins klärungsmittel wie Satelliten sei eine gleichberechtigte Mit- Gericht gehen. Kernvorwurf: Die Europäer geben zu wenig sprache und politische Kontrolle der von den USA beherrsch- Geld für Rüstung aus und gefährden so die Nato-Schlagkraft.Als ten Zielplanung – und so letztlich des gesamten Einsatzes – Lehre aus dem Kosovo-Krieg fordern die Amerikaner von ihren „nicht möglich“ gewesen.

RECHTSEXTREMISMUS Offen ist noch, ob sich Deckerts Haft- GESUNDHEIT zeit, die im Juni 2000 endet, um weitere Ausgang für Deckert fünf Monate verlängern wird. Gegen ein Von Grund auf neu entsprechendes Berufungsurteil des ie baden-württembergische Justiz- Landgerichts Mannheim von 1998 we- m Streit um die Gesundheitsreform Dvollzugsanstalt Bruchsal hat dem gen Beleidigung hatte Deckert Revision Ifordert der für Sozialpolitik zuständi- Rechtsextremisten und ehemaligen eingelegt. ge Unions-Fraktionsvize Hermann NPD-Vorsitzenden Günter Deckert, 59, Kues, der Gesetzentwurf von Ministerin Hafterleichterungen zugebilligt. Andrea Fischer (Grüne) müsse „kom- Deckert, der unter anderem wegen plett zurückgenommen werden“. Erst Volksverhetzung seit November 1995 wenn SPD und Grüne bereit seien, einsitzt, darf seit kurzem mehrmals im „vorbehaltlos und von Grund auf neu Monat das Gefängnis verlassen, um sei- zu verhandeln“, seien Gespräche zwi- ne Familie zu besuchen. Insbesondere schen Regierung und Union in Bund bei der Polizei stößt die Vergünstigung und Ländern vorstellbar. Als Bedingun- auf Unverständnis: Der Holocaust- gen für eine Einigung nennt Kues eine Leugner habe bisher weder Reue noch prozentuale Beteiligung von Patienten Umdenken erkennen lassen. Außerdem an den Kosten für Arzneien sowie die hatte Deckert bei seiner Festnahme Rückkehr zu der Pauschalabrechnung im November 1995 einem Hauptkom- ärztlicher Leistungen. Ferner müsste missar mit den Worten gedroht: „Sie der Einfluss der Krankenkassen redu- sind der Erste, den ich eigenhändig tot- ziert werden. Die Union kann im Bun- schlage, wenn ich wieder rauskomme. desrat allerdings nicht die komplette

Dann weiß ich wenigstens, warum ich AP Reform blockieren: Die Länder müssen gesessen habe.“ Deckert (1995) nur im Krankenhausbereich zustimmen.

20 der spiegel 38/1999 Deutschland

ABGEORDNETE bündnisgrüne Haushälter Oswald Metz- ger viel zu lange: „Eine kleine Brücke Leere Schlange über die Spree wäre nötig“ – den Steg hat das Land Berlin aber gestrichen. ur knapp hundert Bundestagsabge- CSU-Landesgruppenchef Michael Glos Nordnete haben sich bislang in den kündigte gar seine Wohnung, weil er auch für sie gebauten insgesamt 718 dort im Sommer ohne Licht- und Son- Berliner Wohnungen im Moabiter Wer- nenschutz „wie in einem Brutkasten“ der an der Spree eingerichtet. Mehr als geschwitzt habe. Bei ähnlichen Be- 400 Unterkünfte in der schwerden ihrer so genannten Bundes- Parteifreunde klärt die schlange stehen leer. SPD-Umzugsbeauf- Viele Parlamentarier tragte Ilse Janz dar- sind weder mit dem über auf, dass auch in Standort noch dem ge- einer Stadt wie Berlin botenen Standard zu- Jalousien käuflich zu frieden. Einen Balkon erwerben sind. oder wenigstens einen Doch schon die Kalt- winzigen Austritt am mieten, von 14,50 Fenster vermissen fast Mark bis 19,50 Mark alle. Noch nicht mal ei- pro Quadratmeter, nen Haken, „wo man finden die Parlamenta- Kleider zum Lüften rier zu teuer. Ein SPD- aufhängen könnte“, Haushälter zog aus, entdeckte die Parla- weil er am Potsdamer mentarische Geschäfts- Platz weniger zahlen führerin Brigitte Bau- muss. Jetzt werden die meister (CDU). Ein Wohnungen, die der Bäcker für die Früh- Bund mit 90 Millionen stücksbrötchen ist nicht Mark bezuschusst hat,

in der Nähe. Zum MELDEPRESS auf dem freien Markt Reichstag braucht der „Bundesschlange“ in Berlin angeboten.

THÜRINGEN als Landesvorsitzender an. Warum kommt der Widerstand so spät? „Konsequenzen aus Schuchardt: Nach einem solchen De- saster muss man die Konsequenzen zie- dem Desaster“ hen. Dass Dewes dennoch weiterhin Parteichef bleiben will und dazu noch Gerd Schuchardt, 57, nach dem Fraktionsvorsitz greift – das früherer Landesvorsit- hat das Fass zum Überlaufen gebracht. zender der Thüringer SPIEGEL: Sie wollen Dewes partout los- Sozialdemokraten werden? und Noch-Wissen- Schuchardt: Er kann hier seine Arbeit schaftsminister der als Landtagsabgeordneter leisten, wenn Großen Koalition, er will. Es geht nicht um die Person, über die Zerreißprobe sondern um die Richtung der Thüringer

in seiner Partei M. DARCHINGER SPD. Viele von uns sind in die SPD von Kurt Schumacher, und SPIEGEL: Sie machen Landeschef Richard Hans-Jochen Vogel eingetreten. Wir Dewes für das schlechte Abschneiden wollen uns nicht in der Partei von Otto Ihrer Partei bei der Landtagswahl ver- Grotewohl wiederfinden. antwortlich. Ist die Schuld nicht eher bei SPIEGEL: Jetzt sitzen Sie zusammen mit der Bundespartei zu suchen? der PDS auf der Oppositionsbank. Schuchardt: Das Ergebnis wäre nicht so Schuchardt: Es wird einen Wettbewerb desaströs, wenn Richard Dewes nicht in der Opposition geben. Wir werden darauf bestanden hätte, die PDS-Option anders als die PDS keine Luftschlösser aufrechtzuerhalten. Die Leute haben bauen. Wir werden uns als soziale, aber ein Recht zu wissen, welche Option sie auch realistische Alternative zur Allein- wählen, wenn sie sich für die Sozialde- regierung der CDU profilieren. mokraten entscheiden. SPIEGEL: Wie wollen Sie denn Ihr Ver- SPIEGEL: Sie wollen jetzt Fraktionsvor- hältnis zur PDS klären? sitzender werden, der bisherige Frak- Schuchardt: In einer offenen Diskussion tionschef Frieder Lippmann tritt beim und möglichst auch mit einem Partei- vorgezogenen Parteitag gegen Dewes tagsbeschluss im November.

der spiegel 38/1999 21 Panorama Deutschland

WAHLKAMPF Wahlschlappen gebeutelten Grünen in Am Rande Berlin wenigstens halbwegs zur alten Nackte Verzweiflung Größe aufhelfen – immerhin haben sie ein Ergebnis von 13,2 Prozent zu vertei- SPD am Drücker erlins Bündnisgrüne gehen mit vol- digen. „Wir dachten an etwas Spritziges Blem Körpereinsatz in die Endphase und etwas Erotisches und geben nun al- Eine Stadt im Ruhr- des Stimmenfangs zur Abgeordneten- les, was wir haben“, begründet Initiator gebiet. Wahlkampf hauswahl am 10. Oktober. Für ein Wer- Bernd Köppl (Zweiter von rechts) die für die Stichwahl be-Dia, das von dieser Woche an auf 58 „leicht ironische Pepp-Auflage“, zu der der Oberbürgermeis- Kinoleinwänden der Hauptstadt er- er seine Parteifreunde wochenlang über- ter. Nachdem nun scheinen soll, ließen sich acht männ- reden musste („Wir sind ja nicht alles SPD-General Franz liche Kandidaten, darunter Ex-Frak- Adonisse“). Nicht nur die in FKK-Fra- tionschef Wolfgang Wieland (Vierter gen „etwas freizügigeren Ost-Berliner“ Müntefering dem von rechts) und Verkehrsexperte Micha- will der Anästhesist so zur Wahl bewe- Parteivolk Hausbe- el Cramer (rechts) hüllenlos ablichten. gen, er hofft auch die „frauliche Seite suche bei potenziel- Die nackte Werbung soll den durch der Gesellschaft“ anzusprechen. len Wählern verord- net hat, machen sich die ersten Genossen auf den Weg.Wir haben die fünfte Drücker- kolonne auf ihrer Runde durch Bottrop-Fuhlenbrock begleitet: Sozialdemokrat: „Gut’n Tach, ich komm von der SPD.“ Wähler (nach hinten): „Vatter, der Mann vonner Sekte is wieder da.“ Vatter (von hinten): „Wir geb’n nix.“ Wähler: „Wir geb’n nix.“ Sozialdemokrat: „Ich will Sie nur ermuntern, beim nächsten Mal SPD zu wählen.“ Wähler: „Watt is? Wieso datt denn?“ B. KELLER Sozialdemokrat: „Wir sind hier Kinowerbung der Berliner Bündnisgrünen doch immer gewählt worden, Sie können uns doch nicht einfach ab- wählen.“ UNTERSUCHUNGSAUSSCHÜSSE Wähler: „Klar können wir.“ Nachgefragt Sozialdemokrat: „Aber die SPD ist Pfahls gegen Hombach doch die Partei der kleinen Leute.“ Betragen erwünscht Wähler: „Muss ich jezz auch son ie Bundestagsfraktion der Grünen Dwill einen Untersuchungsausschuss Anzuch tragen wie der Kanzler? zu den Vorgängen um den flüchtigen Einige Bundesländer führen in Von Brimborium oder wie datt CSU-Politiker Ludwig-Holger Pfahls ihren Schulen sogenannte Kopf- heißt?“ einsetzen. Pfahls, ehemals Staats- noten, etwa für Betragen und Sozialdemokrat: „Äh, nein, das mit sekretär im Verteidigungsministerium Fleiß, wieder ein. Wie finden Sie diese Regelung? dem Anzug war doch nur wegen der und Präsident des Bundesamts für Ver- neuen Mitte, bisken Eindruck schin- fassungsschutz, steht im Verdacht der Gesamt West Ost den und so.Auch das Schröder-Blair- Bestechlichkeit und Steuerhinterzie- gut 67% 63% 81% hung im Zusammenhang mit Waffenge- Papier, also, wenn Sie sich daran Einem zukünftigen Arbeitgeber kann es Anhalts- schäften mit Saudi-Arabien. Der Aus- punkte für das Benehmen eines Bewerbers geben stören, war bestimmt auch nicht so schuss, so das Kalkül der Grünen, könn- gemeint …“ te womöglich die Mitwisserschaft noch schlecht 23% 26% 14% Vatter (von hinten): „Isser wech?“ aktiver CSU-Politiker aufdecken. Kopfnoten sagen zu wenig über Wähler: „Nee.“ Doch der Koalitionspartner SPD mag die Leistung eines Schülers aus Sozialdemokrat: „Unser Herz dem Wunsch nicht entsprechen. Die schlägt doch immer noch links.“ Union, so fürchtet die SPD, würde um- gehend einen Untersuchungsausschuss Vatter (von hinten): „Watt hat er zu den Immobilienaffären des ehemali- denn eigentlich?“ gen Kanzleramtsministers Bodo Hom- Wähler: „Weiß nich, irgendwatt mit- bach fordern, vor dem womöglich auch Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 14. und 15. September; rund 1000 Befragte; tem Herzen.“ Bundeskanzler Gerhard Schröder aus- an 100 fehlende Prozent: keine Meinung

sagen müsste. D. AUSSERHOFER/JOKER

22 der spiegel 38/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

Deutsche Bischöfe (auf der Frühjahrsvollversammlung)*: Den Papst verschaukelt

KIRCHE Bannstrahl aus Rom Intrigen in den eigenen Reihen und ein erneutes Veto aus dem Vatikan gegen den Verbleib der Katholiken in der staatlichen Schwangerenberatung erschüttern den deutschen Episkopat. Die Kirche der Bundesrepublik schlittert in die größte Krise ihrer Geschichte.

linder Zufall oder göttliche Fügung heimlich den Kompromiss: Der Kölner Kar- Meisner, 65, aus Köln, Sterzinsky, 63, aus verhinderten am vergangenen Mitt- dinal Meisner intervenierte hinter dem Berlin und Wetter, 71, aus München an sei- Bwoch kirchlichen Zoff hoch am Him- Rücken Lehmanns, des Vorsitzenden der nen Sommersitz Castel Gandolfo und ließ mel. Nur der Mainzer Bischof Karl Leh- Deutschen Bischofskonferenz, im Vatikan – seinen deutschen Adlatus Joseph Ratzinger mann fand Aufnahme in der Lufthansa- und stürzte damit die deutsche katholische Tacheles mit ihnen reden: Die trickreiche Maschine, als er und seine Mitbrüder vom Kirche in die größte Krise seit Gründung Lösung, den Schein zwar auch fürderhin strapaziösen Besuch bei ihrem Chef nach der Bundesrepublik. auszustellen, aber mit dem Zusatz „Diese Hause strebten. Für die Kardinäle Georg Anfang vergangener Woche beorderte Bescheinigung kann nicht zur Durch- Sterzinsky, Friedrich Wetter und Joachim Johannes Paul II., 79, den Mainzer Bischof führung straffreier Abtreibungen verwen- Meisner war kein Platz mehr. Lehmann, 63, sowie die drei Kardinäle det werden“ zu versehen, könne der Es war wohl auch besser so: Denn die Vatikan nicht hinnehmen, weil das Papier geistlichen Herren sind zerstritten wie „weiterhin als Zugang zur Abtreibung“ be- noch nie in der Geschichte der deutschen nutzt würde. In Klardeutsch: Der Papst katholischen Kirche – ausgerechnet über verlangte den Ausstieg aus der staatlichen ein Thema, bei dem den klerikalen Singles Beratung. jede praktische Kompetenz fehlt: über die „Die deutsche Kirche darf keine Schei- Abtreibung. ne ausstellen, die dann am Ende doch nur Erst im Juni hatten sich die 27 Diöze- zur Abtreibung benutzt werden“, dekre- sanbischöfe einmütig darauf verständigt, tierte Ratzinger, Präfekt der vatikanischen weiter bei der Schwangeren-Konfliktbera- Glaubenskongregation, seinen Confratres. tung mitzumachen. Nur der konservative Die deutschen Oberhirten würden dem- Fuldaer Oberhirte Johannes Dyba enthielt nächst einen neuen Brief vom Papst erhal- sich, alle anderen stellten sich gegen die ten, den er, Ratzinger, „auf der Grundlage Forderung des Papstes, keine Beratungs- der vom Heiligen Vater erteilten Weisun- scheine mehr auszustellen, die zur Ab- gen“ schon zu Papier gebracht habe. Jo- treibung berechtigen. Doch ausgerechnet hannes Paul war während der Lektion

einer, der dafür war, torpedierte klamm- KNA nicht dabei.

* Oben: Beim Eröffnungsgottesdienst im Februar in Lin- Bischof Lehmann, Chef* gen; unten: am 26. Juni 1998 in Rom. Von Rom gedemütigt 24 Ein Debakel für die deut- An ihrer Spitze der Papst schen Bischöfe, an dem sie selbst – obwohl die Haltung selbst nicht unschuldig sind. Johannes Paul II. schizoide Die Scheinlösung war von Züge aufweist: Einerseits hat vornherein ein unredlicher dieser Papst einen scharfen Kompromiss – der Papst, der Blick für die Ungerechtigkei- in seinem Brief an die deut- ten in der Gesellschaft, für schen Hirten vom Juni ein- die Verelendung und Unter- deutig gegen das Festhalten drückung der Massen in vielen am staatlich vorgeschriebenen Ländern. Er geißelt die men- Beratungspapier votiert hat- schenunwürdigen Zustände te, musste sich verschaukelt bei seinen zahllosen Reisen fühlen. ebenso wie in seinen – viel zu

Das dämmerte im Nach- DPA wenig beachteten – Enzykli- hinein auch jenen Funda- Kardinal Meisner ken. Andererseits stellt er mentalisten im Episkopat, starrsinnig eherne Prinzipien allen voran dem Kölner Kardinal Meis- tradierter kirchlicher Dogmatik und Moral ner, die im Juni im Bischofsrat der von über den Auftrag der Kirche, den Menschen Lehmann initiierten Kompromissformel in ihren konkreten Nöten zu helfen. zugestimmt hatten. Ihnen wurde offen- Der Papst wird nicht müde, den Hunger bar inzwischen klar, dass sich trotz päpst- in der Welt anzuprangern, doch einer ver- licher Intervention an der Praxis der ka- nünftigen Geburtenplanung widersetzt er tholischen Beratungsstellen nichts ändern sich mit dogmatischer Sturheit, weil sie ei- B. BOSTELMANN / ARGUM würde – weil der Staat augenzwinkernd ner rein statisch verstandenen katholischen auch den neuen Schein akzeptieren Moral widerspricht. Und dass Empfäng- Beim anschließenden Mittagessen gab würde. nisverhütung das simpelste Mittel gegen sich der Papst leutselig, plauderte zwischen Für den pragmatischen Seelsorger Leh- Abtreibungen ist, bleibt außerhalb seines den Gängen mit seinen Gästen über Gott mann ist das Verdikt aus Rom die schwers- Horizonts. und die Welt. Über den Anlass der Visite in- te persönliche Niederlage seiner Amtszeit. Leidtragende dieses fundamentalisti- des mochte er nicht debattieren. Mit ihrem Bannstrahl gegen die Mehrheit schen Denkens sind jene, denen der Papst Lehmann hatte es zwar nicht wahrhaben der deutschen Bischöfe haben die dogma- eigentlich helfen will: die Armen in der wollen, aber geahnt. Er sei „überzeugt“, tischen Ideologen im Vatikan überdeutlich überbevölkerten Dritten Welt etwa oder der Papst werde den deutschen Kompro- gemacht, wer in der katholischen Kirche eben schwangere Frauen, die in Ge- miss akzeptieren, verkündete er hoff- bestimmt, wo es langgeht. wissensnot bei der Kirche Beistand suchen. nungsfroh vor vier Monaten. Die Politik bringt der be- Doch vorsichtshalber fügte vorstehende Austritt der Kirche er damals hinzu: „Wenn das Stütze der Beratung aus der staatlichen Beratung gleich nicht so ist, würden wir das Knapp ein Drittel der bundesweiten Schwan- doppelt in Verlegenheit: Zum einen mit Sicherheit schon bald gerenberatungsstellen wurden 1998 von der zerbricht damit der mühsam genug er- hören.“ katholischen Kirche getragen. zielte gesellschaftliche Konsens in der Fra- Sicherheit haben er und sei- katholische Beratungsstellen andere ge des Schwangerschaftsabbruchs. Für alle ne Mitbrüder jetzt. Bei der am Caritas-Verband, Sozialdienst Beratungsstellen Parteien war es ein Beruhigungspflaster Montag dieser Woche begin- katholischer Frauen (SkF) zur Schwangerschafts- auf eigene moralische Skrupel, dass die ka- beratung ermächtigte nenden Herbstvollversamm- Ärzte nicht eingerechnet tholische Kirche sich nicht einfach aus der lung der Bischofskonferenz in 54 Verantwortung stahl. Dazu zwingt sie nun 42 Fulda kriegen sie es auch SCHLESWIG- 6 140 7 das Veto aus Rom. schriftlich: Kurz vor der HOLSTEIN Zum anderen ist in Teilen der Republik Abendandacht am Montag HAMBURG MECKLENBURG- die vom Gesetz vorgeschriebene flächen- VORPOMMERN händigt ihnen der Apostoli- 2 2 deckende Beratung schwangerer Frauen sche Nuntius in der Berliner 3 5 nicht mehr gewährleistet, wenn sich plötz- 104 6 30 Republik, Erzbischof Giovan- BREMEN lich die bundesweit 270 katholischen Be- 52 47 ni Lajolo, die Order des Paps- 37 BERLIN ratungsstellen ausklinken (siehe Grafik). tes aus. 61 3 4 Zwar hat Werner Remmers vom Zen- Für den Diplomaten kein NIEDERSACHSEN SACHSEN- BRANDENBURG tralkomitee der deutschen Katholiken leichter Gang. Denn auch ihn ANHALT (ZdK) bereits angekündigt: „Sollte der hat Meisner desavouiert: La- 58 Ausstieg kommen, dann werden wir als ka- NORDRHEIN- 41 72 jolo hatte Lehmann ausdrück- WESTFALEN tholische Laien einen eigenen Rechtsträger 23 6 lich versichert, der Vati- 36 bilden, der die Beratungsstellen in der bis- kan werde die vorgesehene 31 HESSEN THÜRINGEN 8 herigen Form weiterführt und von der Scheinlösung hinnehmen. RHEINLAND- SACHSEN Amtskirche nicht belangt werden kann.“ Darauf hatten sich die Bischö- PFALZ Nach Kirchenrecht dürfte sich ein solcher fe bei ihrer Entscheidung im 6 11 Rechtsträger als Verein bürgerlichen Rechts Juni verlassen. SAARLAND 52 auch dann „katholisch“ nennen, wenn er Mehr oder weniger freund- 43 von der Amtskirche unabhängig ist. lich verpackt, wird in der Epis- 24 14 Doch eine solche Neugründung brächte tel aus Rom stehen: Helft den BADEN- BAYERN erst einmal eine Menge Probleme, vor al- in Not geratenen Schwangeren WÜRTTEMBERG lem bei der Finanzierung von Personal und auch weiterhin – aber ohne Räumen. Das ZdK will dabei Hilfestellung den vermaledeiten Schein. leisten, indem es die Dachorganisation für

der spiegel 38/1999 25 Kommentar

derartige Hilfsvereine schafft und bei den Länderregierungen ihre Anerkennung als staatlich sanktionierte Beratungsstellen be- treibt. 80 Prozent der Personalkosten wür- Die „höchste Stelle“ den nach diesen Plänen die Länder tragen, 20 Prozent sollen durch Spenden beige- RUDOLF AUGSTEIN bracht werden. Unter dem Motto „Donum vitae“ (Ge- en mühsam erreichten Frieden beginnen und zu gewinnen. Dann schenk des Lebens) wurde dafür am ver- in der Abtreibungsfrage stört konnte die große Abrechnung kom- gangenen Freitag schon mal ein Konto ein- Dein einziger Mensch, der Pole men. Welch ein Fest! gerichtet. Der Sozialdienst katholischer Wojtyla. Er will Frauen weiterhin schi- Unter Nichtkatholiken wird heute Frauen, der neben der Caritas die meisten kaniert wissen. nicht mehr bezweifelt, dass die römi- katholischen Beratungsstellen betreibt, hat Roma locuta, causa finita, Rom hat sche Kirche einen despotischen Kurs bereits signalisiert, er gesprochen, die Sache ist entschieden. verfolgte und verfolgt. Auf Jesus kann werde mitmachen. So erledigte Rom jede Streitigkeit auch sie sich nicht berufen; ihm war der Be- Wie der von Rom ge- in entferntesten Provinzen und Vasal- griff einer Kirche völlig fremd. demütigte Bischof Leh- lenstaaten. So ist es damals wie heute. In den ersten drei Jahrhunderten mann auf die Niederlage Der ohnehin schon arg schrumpfen- klagten die Christen über eine grausa- reagiert, ließ er bis zum den katholischen Kirche, die sich bisher me Verfolgung durch den Staat. Bis- Wochenende offen. In oft mittels ihrer zahlreichen Nebel- marck bemerkte hämisch, wo die Kir- Fulda steht am Dienstag werferbrigaden durchgesetzt hat, steht che verfolgt worden sei, habe sie Frie- die Neuwahl des Vorsit- nun die ärgste innere Spaltung seit dem den und Toleranz gepredigt. Als von zenden der Bischofs- Dogmenstreit von 1870 bevor. Verfolgtwerden nicht mehr die Rede konferenz an, die der Damals setzte der störrische Pius IX. sein konnte, habe sie damit begonnen, Mainzer seit zwölf Jah-

allen bisherigen Schwindeleien die nicht nur Andersgläubige, sondern auch ren leitet. Nach den Re- LINGEN M. v. Krone auf. Gegen den Widerstand na- die eigenen Christen zu verfolgen. geln der Political Cor- Nuntius Lajolo mentlich der deutschen Bischöfe ver- Die von der römischen Kirche in- rectness müsste Leh- kündete er das Primats- und das Un- szenierten Martern und entsetzlichen mann eigentlich auf eine erneute Kandi- fehlbarkeitsdogma für sich selbst und Qualen mit Todesfolge, die Verbren- datur verzichten. Doch die Mehrheit der für alle Päpste vor und nach ihm. Der nungen bei lebendigem Leibe sind den wahlberechtigten 78 Diözesan- und Weih- geistige Kopf der deutschen Amtskir- Verbrechen Hitlers und Stalins ver- bischöfe wird versuchen, ihn davon abzu- che, der Mainzer Bischof Ketteler, der gleichbar. Die Kirche und ihr hoher halten. das Projekt für wahnwitzig hielt, ging Klerus konnten sich den Feuertod des Allzu groß ist der Zorn darüber, wie in- nach der Verkündung ins Knie: Heiliger Christen Jan Hus (1415) und die qual- trigant die Minderheit um den Kölner Kar- Vater, jetzt glaube ich. volle Verbrennung des phantasievollen dinal Meisner mit Lehmann und ihnen Die Selbstfesselung der römischen Philosophen Giordano Bruno (1600) selbst umgesprungen ist. Die „Frankfurter Kirche durch die beiden Dogmen war rechenschaftslos leisten, stets geleitet Allgemeine“, Leib- und Magenblatt ka- nicht wie ein Dieb in der Nacht gekom- vom Heiligen Geist. Das muss ein sehr tholischer Kleriker, högte sich, „die allge- men. Seit Jahrhunderten war das Thema wandlungsfähiger Herr gewesen sein. genwärtige Anrede ,Mitbruder‘“ dürfte Gesprächsstoff. Eine starke Minderheit Seit dem Dogmenstreit von 1870 hat von nun an unter den Oberhirten „noch der Prälaten trat beständig für eine Stär- kein Papst mehr seine treue Anhänger- hohler“ klingen als „Parteifreund“ unter kung der päpstlichen Gewalt ein. schaft in einem für die Kirche so wich- Politikern. Der zunehmenden Macht des hölli- tigen Land wie Deutschland durch sei- Doch im trotzigen Votum für Lehmann schen Liberalismus begegnete die rö- ne Anweisung zum Ausstieg aus der dürfte die Revolte der Bischöfe gegen Rom mische Kurie mit einem immer rasche- staatlichen Schwangerschaftsberatung sich auch schon erschöpfen. Unter den ka- ren Drehen an der Obskuranten-Orgel. derart brüskiert und, wie ein gelehriger tholischen Führungskadern stehen straffe Lange Jahre unterhielt der Vatikan Schüler des Machiavelli, durch Aufsta- Disziplin und unbedingte Loyalität zu beispielsweise keine offiziellen Bezie- chelung einer ihm hörigen Minderheit ihrem Oberhaupt über allem. Nicht zuletzt hungen zum italienischen Staat. Erst so tief gespalten. Er handelt wie ein deshalb hat die römische Kirche alle Wir- Mussolini gelang 1929 eine Einigung längst pensionsreifer Beamter, der von ren ihrer fast 2000-jährigen Geschichte mit dem Vatikan. der Macht nicht lassen kann.Vom Stell- überlebt. Dass ein deutscher Bischof aus Anders war die Lage bei dem ge- vertreter Christi auf Erden ist er zum dieser Loyalität ausbrechen könnte, ist tauften Katholiken . Er sah bloßen Stellenbesetzer abgesunken. nicht zu erwarten, allenfalls stehen ein paar im Vatikan einen nicht zu unterschät- Die deutschen Bischöfe werden zuletzt aus Altersgründen ohnehin absehbare De- zenden Machtfaktor, der auf Dauer allesamt ihre Gründe finden, sich diesem missionen bevor. ausradiert werden musste. Aber ge- Papst Johannes Paul II., ihrer „höchsten In der Sache hat Lehmann sich schon mach, gemach. Er musste sogar seinen Stelle“, zu unterwerfen. Schließlich weiß im Juni eindeutig festgelegt. „Für mich und von ihm eingeplanten Krieg erst ge- der Papst, wen er sich zum Bischof er- mein Bild von der Kirche“, so der Bischof winnen, dann konnte er den Radier- koren hat.Auch den katholischen Laien- damals im SPIEGEL, „ist das Verbleiben in gummi zur Hand nehmen. gremien, sollten sie denn den angekün- der staatlichen Schwangerenberatung theo- Ein entschlossener Widerstand des digten Aufstand wagen, werden die logisch und geistlich lebensnotwendig. Sich Papstes und der katholischen Bischöfe Bischöfe den Geldhahn zudrehen. hier in bequeme Nischen zurückzuziehen hätte ihn um einen Sieg gebracht. Wir können nur auf die Knie fallen, und zu sagen: ,Lass doch diese Welt ka- Innenpolitisch ein Meister, brauchte er die Lateiner unter uns mit ironischem puttgehen, was kümmert mich der Pfuhl?‘ einen Modus Vivendi. Den Segen der Murmeln: „Roma locuta, habemus – das ist für jeden, der wirklich Seelsorger Kirche brauchte er, um seinen Krieg zu papam.“ ist, unerlaubt.“ Was nun, Bischof Lehmann? Ulrich Schwarz, Peter Wensierski

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dass vor allem Gerhard Schröder davon profitiert? REGIERUNG Vergangene Woche signalisierte der Op- positionschef schon mal patriotisch moti- vierte Kompromissbereitschaft. „Das Land Blockieren oder passieren ist uns wichtiger als die Partei“, verkündete Schäuble während der Haushaltsdebatte Weil Stillstand keiner Partei nützt, signalisieren Bundeskanzler „Wir werden keine Obstruktion leisten.“ Auch Kanzler Schröder, seit langem mal Gerhard Schröder und CDU-Chef Wolfgang Schäuble wieder in der Rolle des unbeugsamen jetzt Bereitschaft zu einer informellen Großen Koalition. Kämpfers für die Vernunft, warb nach hef- tigen Angriffen auf die Opposition am it den neuen Zeiten Ende für ein Miteinander. Es gebe, so will Peter Struck der Kanzler, „eine grundsätzliche Ge- Munbedingt mithal- sprächsbereitschaft“. ten. Griffbereit liegt auf dem Aus der Parteizentrale schalmeite Schreibtisch des SPD-Frak- der designierte SPD-Generalsekretär tionschefs ein Vermerk, der Franz Müntefering: „Ich glaube, dass penibel die Stimmenverhält- ein Mann wie Schäuble sehr wohl nisse in Bundesrat und Ver- weiß, dass eine Große Koalition der mittlungsausschuss zeigt. Vernunft nötig wäre.“ In den vergangenen Wo- Tatsächlich ist das Einigungspo- chen kam Struck mit der tenzial ziemlich groß. Parteiüber- Korrektur kaum nach – so greifend ist unstrittig, dass die Ren- rasch änderten sich die tensteigerung niedriger ausfallen, die Mehrheiten. „Neu“ steht an Staatsverschuldung gestoppt, die Kos- jedem Nachwahl-Montag tenexplosion im Gesundheitswesen handschriftlich am Rand des eingedämmt, der Sozialstaat ver- aktualisierten Zahlenwerks. schlankt werden muss. Die rhythmischen Ein- Sowohl Arbeitsminister Walter schläge in der Kanzlerpartei Riester als auch die Unionsexperten SPD könnten erzwingen, gehen davon aus, dass das Renten- was der Wähler im vergan- niveau sinken muss. In der CDU wur- genen Herbst ohnehin den die Sparrunden, die Riester jetzt wünschte: eine Große Ko- will, schon wohlwollend diskutiert. alition. Das rot-grüne Regie- Den Plan des Arbeitsministers, klei- rungsbündnis, interpretier- ne Renten auf das Niveau der So- ten die Wahlforscher, war zialhilfe anzuheben, kritisiert die eher Betriebsunfall als Union kaum und befürwortet wie die Wählerwille. SPD das Fördern privater Vorsorge. Nun rückt das Volk un- Auch bei dem Vorhaben von Bun- nachsichtig das Resultat von desinnenminister Otto Schily, Gehäl- 1998 zurecht. Schon mit der ter und Pensionen der Beamten zwei Wahl in Hessen, wo nun Jahre lang an die Inflationsrate an- CDU und FDP regieren, hat- zupassen, leistet die CDU nur sym- te die rot-grüne Koalition bolischen Widerstand. Den Minister- die absolute Mehrheit im präsidenten, die den größten Teil der Bundesrat verloren. Nach deutschen Beamten beschäftigen, Thüringen ist der Genossen- käme der Plan sehr entgegen. Anteil auf 26 Stimmen ge- Gemeinsam ließen sich auch die

sunken. Faktisch sind Verän- A. VOELKEL / MELDEPRESS leidigen Details einfacher klären, derungen im Land nur mit Koalitionäre Fischer, Schröder*: Rhythmische Einschläge zum Beispiel beim Kindergeld. Für einer Großen Koalition mög- eine Anhebung von 250 auf lich, wie zu Helmut Kohls Neue Mehrheit sichere SPD-Stimmen 270 Mark sind alle. Doch Zeiten – Koalitionsmehrheit Hamburg während Finanzminister im Bund, Oppositionsmehr- Stimmenverhältnis im Bundesrat Hans Eichel die Kosten in heit in den Ländern. Mecklenburg- Höhe von rund vier Milliar- Enthaltungen Vorpommern Unklar ist nur, wie CDU- sichere oder wechselndes den Mark zu je 42,5 Prozent Chef Wolfgang Schäuble Unions-Stimmen Stimmverhalten Sachsen- auf Bund und Länder und taktieren wird: Lassen die Anhalt den Rest auf die Kommunen Saarland Rheinland- Branden- Konservativen den Kanzler Thüringen Pfalz Bremen Berlin burg* Schleswig- verteilen will, verweisen die mit seinen Reformen allein Sachsen Holstein Provinz-Kämmerer auf ei- 4 3 4 3 4 4 3 3 und ziehen sich, wie einst Hessen 4 4 Nieder- nen gesetzlich vorgesehe- 5 4 SPD-Chef , Bayern 6 6 sachsen nen, allerdings nie vollstän- den Ruf der Blockierer zu? dig erfüllten Verteilungs- 6 15 6 NRW Oder helfen sie mit beim Baden- schlüssel, der dem Bund 74, Württem- 28 26 Umbau – auf die Gefahr hin, berg den Ländern nur 26 Prozent 69 STIMMEN abverlangt. Nach der mit * Vorige Woche im . *voraussichtlich Große Koalition kontrollierter Aggression ge-

der spiegel 38/1999 27 Deutschland führten Haushaltsdebatte steht der Fahr- unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Fens- den? Eine Große Koalition, auch wenn sie plan für die Regierung fest: Das Sparpaket terredner und TV-Inszenierer sind nicht ge- nur informell besteht, ist der Alptraum des hat die Mehrheit der Fraktion gefunden, fragt. Meist dominiert in diesem diskreten kleinen Koalitionspartners, der bei den die Verabschiedung im Bundestag im No- Gremium die Vernunft, denn die Streit- Wahlen vor sich hin siecht. vember scheint sicher. Nun arbeitet Eichel hähne sind zum Ergebnis verdonnert. Kein Wunder, dass sich bei den Grünen – nicht nur im eigenen Lager – an der Schon der Zeitdruck zwingt die diskre- Alarmstimmung ausbreitet. Letzte Woche Mehrheit im Bundesrat. te Runde in diesem Herbst zu Resultaten. erregten sie sich über die Ankündigung des Bis zur dritten Lesung – vermutlich am Denn ab 2000, so hat es das Bundesverfas- scheidenden Verkehrsministers Franz Mün- 4. November – soll es keine offiziellen Ge- sungsgericht festgelegt, müssen die Fami- tefering, den umstrittenen Magnetzug spräche mit der Union geben. Spätestens lien steuerlich entlastet werden. Transrapid in einer schlanken einspurigen dann kann die gekappte Rentenerhöhung Für die Union wird die Zusammenar- Version bauen zu wollen (Seite 106). aus dem Gesamtpaket herausgenommen beit mit der Regierung „eine schwierige In einem Brief an Umweltminister Jür- werden, um der Union im Bundesrat die Operation“, räumt Unions-Fraktionsvize gen Trittin, der bis zum Amtsantritt des Zustimmung zu erleichtern. Friedrich Merz ein. Sie riskiert, dass sie neuen Ministers Reinhard Klimmt kom- Denn bei der Rentenreform will die Uni- dem Kanzler hilft. „Natürlich wird Schrö- missarisch das Verkehrsressort leitet, teilte on nicht mitziehen, nachdem Rot-Grün die der uns benutzen, um seine eigenen Leute die Fraktion der Grünen mit, dass sie „ei- mit dem Hinweis zu be- nen einspurigen Bau des Transrapids nicht sänftigen, dass Kompro- mittragen“ könne. Münteferings „plumper misse wegen der CDU sein Trick“ steigere die Kosten in Wirklichkeit müssen“, meint General- von sechs auf über neun Milliarden Mark. sekretärin Angela Merkel. „Ökologisch und finanzpolitisch unsinnig“, Merz kündigt an, man wetterte Fraktionschef Rezzo Schlauch. werde „die Latte sehr, sehr Nervösere Abgeordnete raunten schon hoch legen“. Doch die vom „Ausstieg aus der Koalition“. Union ist in der schwäche- Endgültig könnte Panik ausbrechen, ren Position. Verweige- wenn der Ausstieg aus der Atomenergie rung, da sind sich Partei- nicht akzeptabel gelingt. Spätestens dann spitze und Ministerpräsi- stellt sich die Frage, wozu die Grünen noch denten einig, kann sie sich regieren. Und die Chancen auf eine Ver- nicht leisten. Drei Jahre einbarung zwischen Regierung und der Nu- Blockade würde die Kund- klearindustrie scheinen zu schwinden. schaft kaum goutieren. Eine Staatssekretärsrunde, dominiert Selbst die vordergrün- von niedersächsischen Vertrauten des Bun- dig brillanten Wahlergeb- deskanzlers und angeführt vom Wirt- nisse werden kaum dauer- schaftsstaatssekretär Alfred Tacke, hat in haft Freude machen. Im- den Sommerferien vertraulich geprüft, ob mer weniger Bürger gehen Schröders Forderung nach einem entschä- zur Wahl, auch, weil sie digungsfreien Atomausstieg machbar sei. Politik parteiübergreifend Vorläufiges Ergebnis der Runde: nein. als ergebnisloses Gezanke Vor allem die Genossen halten die von wahrnehmen. Merkel: Trittins Staatssekretär Rainer Baake anvi- „Blockade führt die CDU sierte Ausstiegsfrist von 25 Jahren für un- mit Sicherheit in die Irre.“ realistisch. Nun haben die Experten vier Fest steht vielmehr, dass Wochen Fristverlängerung bekommen. die Wähler offenbar nur Auch die Gespräche, die Umweltminis- mit einer gemeinsamen ter Trittin und der Ober-Grüne Joschka Anstrengung von SPD und Fischer am vergangenen Freitag mit den

AP CDU zu ihrem Glück zu Bossen der Atomindustrie führten, ließen Christdemokraten Schäuble, Merz: „Keine Obstruktion“ zwingen sind. Der Bürger, nichts Gutes ahnen. so erklärte vergangene „Fischer wird scheitern“, prophezeit un- Blüm-Reform nach der Wahl kassiert hat- Woche Renate Köcher vor der Sozial- gerührt ein Kabinettsmitglied. Denn die te. Die SPD aber besteht auf der Korrek- staatskommission der CDU, stelle Forde- Energie-Bosse, die bis vor kurzem noch tur. Dann sind die inflationsbezogenen An- rungen an die Politik, die sich diametral eine Front bildeten, sind wegen der Kon- passungen für Beamte, Pensionäre, Bezie- widersprächen. kurrenz nach der Liberalisierung des her von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe- Laut der Chefdemoskopin des Mei- Strom-Marktes inzwischen von tiefstem empfänger leichter durchsetzbar. nungsforschungsinstituts Allensbach sei gegenseitigen Misstrauen beseelt. Zum entscheidenden Gremium der in- eine Mehrheit von 64 Prozent für niedri- So kann es passieren, dass überhaupt formellen Großen Koalition wird vom gere Steuertarife. Die dafür notwendige keine Einigung über einen Ausstieg zu 2. Dezember an der Vermittlungsausschuss Streichung von Ausnahmetatbeständen Stande kommt, zugleich aber die Castor- von Bundestag und Bundesrat. Dort stellt lehnen ebenso viele jedoch strikt ab. Transporte wieder rollen – und die Grünen die SPD mit dem Hamburger Bürgermeis- Die paradoxe deutsche Gemütslage – Ja kämen um einen weiteren Sonderparteitag ter Ortwin Runde den Vorsitz und die zu Reformen, Nein zu den Maßnahmen – nicht herum. Mehrheit mit 18 zu 14 Stimmen. kann offenbar nur durch eine Große Ko- Dass sich die Basis beim Herzensthema Schon für Willy Brandt, Helmut Schmidt alition überwunden werden: Dann entfällt Atom noch einmal der Regierungslinie oder Helmut Kohl war der Vermittlungs- für den Wähler die Fluchtmöglichkeit, sein unterwirft wie beim Kosovo-Parteitag, ausschuss der Ort des Kompromisses, wenn Glück einfach bei der jeweils anderen scheint so gut wie ausgeschlossen. „Dann Bundestag und der von den Ländern be- Volkspartei zu suchen. fliegt alles in die Luft“, orakelt ein alter schickte Bundesrat nicht zueinander ka- Und wo bleiben die Grünen, wenn die Kämpe. Tina Hildebrandt, men. Das Besondere: Die Kommission tagt Volksparteien zur Zusammenarbeit fin- Horand Knaup, Gerd Rosenkranz

28 der spiegel 38/1999 SPIEGEL-GESPRÄCH „Wir sind umgekegelt“ Der designierte SPD-Generalsekretär Franz Müntefering über die Wahlniederlagen seiner Partei, die Wege aus der Krise und die Arbeitsteilung mit Kanzler Schröder

SPIEGEL: Herr Müntefering, wie fühlt man nenne das gern: gleiche Augenhöhe, das sich als Verantwortlicher einer Partei mit Gefühl, das wirklich gegeben sein muss, einer scheinbar unaufhaltsamen Nieder- dass alle die gleichen Chancen haben und lagenserie? dass auch keiner oben oder unten ist, kei- Müntefering: Das ist schon bitter, klar.Aber ner Herr und keiner Knecht. unaufhaltsam sind die Niederlagen nicht. SPIEGEL: So haben richtige Sozialdemokra- Wir müssen den Stopp bis Anfang nächsten ten schon immer geredet. In der Partei Jahres hinkriegen. Ich sehe die Chancen heißen sie heute Traditionalisten und gel- als nicht so schlecht an. ten als un-, wenn nicht gar antimodern. SPIEGEL: Die Wahl in Berlin, am 10. Okto- Müntefering: Man macht es sich zu einfach, ber, geben Sie von vornherein verloren? wenn man so schlicht die Traditionspartei Müntefering: Zwischendurch muss man und die Moderne unterscheidet. Die, die auch um jeden Meter kämpfen, das ist klar. heute alt sind und die man im Ruhrgebiet als Aber der eigentliche Punkt muss im Früh- Traditions-Sozialdemokraten bezeichnen jahr in Schleswig-Holstein und Nordrhein- würde, wollten immer auch etwas Neues. Westfalen gewonnen werden. SPIEGEL: Also gibt es den Unterschied gar SPIEGEL: Die Wende sollen Sie als Gene- nicht zwischen denen, die der „Seele der ralsekretär herbeiführen.Was Sie vor allem Partei“ nahe sind und den kalten Machern dazu befähigt, heißt es, ist die Tatsache, auf Innovationskurs? dass Sie „ein richtiger Sozialdemokrat“ Müntefering: Es mag sein, dass der Stil und sind. Was ist das? die Lebensweise, dass solche scheinbaren Müntefering: Wir sind eine Volkspartei, und Äußerlichkeiten sich unterscheiden. deshalb gehören alle dazu. Die mit der Bi- SPIEGEL: Ist die Auseinandersetzung um bel und die mit dem Kapital unter dem den Kaschmir- und Party-Kanzler nur eine Arm, dem von Marx und auch dem von der Äußerlichkeit? Börse. Das war für mich überhaupt immer Müntefering: Es ist ganz sicher so, dass bei das Wichtigste an dieser Partei. manchen unserer Mitglieder sich mit Par- SPIEGEL: Trotzdem sind Sie offenbar so- tei auch eine gewisse Art von Zurück- zialdemokratischer als andere. genommenheit verbindet: sich nicht auf- Müntefering: Wenn mir das ein bisschen drängen, sich nicht nach vorne drängen, nachgesagt wird, dann hängt das zusam- sich nicht hervortun wollen. Das ist eine men mit Nordrhein-Westfalen und meiner Tugend gewesen, die eine große Rolle ge- Biografie. Ich bin Volksschüler, und man spielt hat. hat dann eine bestimmte einfache Art, zu SPIEGEL: So wie Ihr Vorsitzender Gerhard sprechen und sich zu bewegen. Schröder eben nicht ist. SPIEGEL: Können Sie dieses „Einfache“ ge- Müntefering: Sie fragen nach der Gefühls- nauer beschreiben? lage. Ich kenne viele alte Genossinnen und Müntefering: Ich bin konservativ groß ge- Genossen im Ruhrgebiet. Das sind Leute, worden, in einem katholischen Elternhaus. die geprägt sind durch die Falken, zum Teil Für mich war ganz wichtig, dass die Sozi- noch Erfahrungen aus Kriegszeit, aus Ver- aldemokraten – noch vor der eigentlichen folgungszeit haben, Leute, die ihr Leben Brandt-Zeit – Bildung für alle forderten lang einfach geblieben sind. und in Nordrhein-Westfalen auch umzu- SPIEGEL: Diese Leute sind bei der Kommu- setzen begannen. nalwahl in Nordrhein-Westfalen zu Hause SPIEGEL: Die Forderung haben Sie als Chan- geblieben, weil sie sich in der SPD nicht ce begriffen? mehr wieder erkennen. Müntefering: Ich war 14, als ich aus der Müntefering: Ja. Die Wahl am 12. Septem- Schule kam, und 16, als ich meine kauf- ber war die Ohrfeige. Aber jetzt kommen männische Lehre beendete. Meine Lebens- wir in die Stichwahl rein, und es gibt zum erfahrung war, dass Leute an mir vorbei- Beispiel in Dortmund eine gute Chance. zogen, von denen ich eingebildeterweise Wir werden kämpfen. meinte, die können das auch nicht besser SPIEGEL: Um wieder Erfolg zu haben, müss- als ich. te die SPD aber auch die Jugend errei- SPIEGEL: Diese Erfahrung beflügelt Sie im-

mer noch? M. DARCHINGER * Vor dem Willy-Brandt-Haus in Berlin. Müntefering: Das ist für mich eigentlich das Das Gespräch führten die Redakteure Horand Knaup Parteimanager Müntefering* Tiefste geworden, was mich bewegt. Ich und Jürgen Leinemann. „Bestimmte einfache Art zu sprechen“

der spiegel 38/1999 29 Deutschland chen, die mit der Partei nicht mehr viel Müntefering: Ja. Ich selbst habe im Wahl- Diskussion führen müssen über die Per- anfangen kann. kampf oft gar nicht begriffen, was meine spektiven sozialdemokratischer Regie- Müntefering: Die junge Generation hat das Mitarbeiter mit den neuen Medien – In- rungspolitik im Vorlauf zum Parteitag im Gefühl, dass wir nicht weit genug nach vor- tranet und Internet – alles veranstaltet ha- Dezember. Das kann kein einsamer Be- ne denken. Sie hat schon ein bisschen ben. Ich habe nur gesagt: Wir müssen das schluss sein, das Thema muss durchgekne- Angst, dass all der Wandel zu ihren Lasten haben. Ihr müsst die Menschen erreichen. tet werden, durchaus in öffentlicher Dis- geht. Macht das. kussion. SPIEGEL: Liegt das auch an Personen? SPIEGEL: Was muss die Parteizentrale SPIEGEL: Auf diese Weise wollen Sie die ge- Müntefering: Junge Leute haben heute ein von morgen leisten? Muss das ein Kam- wünschte Grundsatzdebatte führen? ganz anderes Verhältnis zur Politik, sie sind pagnenzentrum sein, eine Denkfabrik oder Müntefering: Die Partei muss sich zuerst distanzierter. Ich glaube nicht, dass einer aber vor allem ein Dienstleistungsunter- mit der Regierungspolitik auseinander set- von uns eine ganz besondere Popularität nehmen? zen, nicht so sehr mit der programmati- bei ihnen hat wie früher Willy Brandt. Ich Müntefering: Die Parteizentrale ist vor allen schen Grundlage. Da sehe ich überhaupt glaube allerdings auch nicht, dass Schäuble Dingen eine Dienstleistungszentrale. Die keine großen Notwendigkeiten. oder Stoiber das schaffen. Die Grünen in- wichtigste Aufgabe des Generalsekretärs SPIEGEL: Sie hätten das Schröder-Blair- zwischen auch nicht mehr. oder kommissarischen Bundesgeschäfts- Papier zu diesem Zeitpunkt nicht formu- lieren lassen? Müntefering: Dass man Grundsatzdiskus- sionen führt, auch auf europäischer Ebene, ist klar. Aber für das, was wir bis 2002 in der Bundesregierung zu tun haben, brau- chen die Sozialdemokraten kein neues Grundsatzprogramm. Die Grundwerte sind klar. SPIEGEL: Das ist Auslegungssache. Müntefering: Auf dem Parteitag muss klar sein, dass mit dem Sparprogramm die Politik nicht zu Ende ist. Es muss klare Aussagen zu den Perspektiven sozialde- mokratischer Regierungspolitik geben, und es muss erkennbar sein, dass man es ge- meinsam will, und zwar mit Gerhard Schröder an der Spitze. SPIEGEL: Das berühmte Mannschaftsspiel soll vorgeführt werden, das Oskar Lafon- taine vermisste? Müntefering: Wir sind umgekegelt, ganz klar. Wir müssen uns jetzt neu aufstellen, und da ist es gut, wenn der Laden zusam- men ist. Ich denke alles auf den Parteitag hin. Das ist für mich wirklich ein strategi- scher Punkt.Wenn der Parteitag gelingt, ist

J. DIETRICH / NETZHAUT DIETRICH J. auch wieder Luft da. Wahlkämpfer Müntefering*: „Um jeden Meter kämpfen“ SPIEGEL: Herr Müntefering, Sie sind selbst Fußballspieler, wie sehen Sie Ihre Rolle im SPIEGEL: Wo sind Sie denn nun traditionell führers ist zu helfen, Vertrauen zu gewin- Team? Sind Sie der neue Libero der SPD? und wo modern? nen und zu sichern. Müntefering: Ich habe noch das alte WM- Müntefering: Traditionell bin ich darin, dass SPIEGEL: Was heißt das? System gelernt, bei Dettmar Cramer. Da ich die Geschichte der Partei, die Ge- Müntefering: Zunächst einmal ein besseres wusste man noch genau, was ein linker schichte der Arbeiterbewegung, auch die Zusammenwirken zwischen Kanzleramt, Läufer ist. Heute weiß man das überhaupt Lieder und die Formen, die sich damit Partei, Fraktion und Ländern. Organisieren nicht mehr. Die haben alle immer so verbinden, mag. Ich bin gern bei Jubi- heißt nicht, dass da Kommandos ausgege- falsche Nummern auf dem Rücken, ein läen und anderen Gelegenheiten, wo die ben werden, sondern dass man sich klar Durcheinander. Alten zusammen sind und sagen: Wir ha- darüber wird, welches Thema kommt, wem SPIEGEL: Aber wo Ihre Funktion und Ihr ken uns unter und marschieren miteinan- wir das erzählen müssen, wo man dafür Platz ist, das wissen Sie? der. Das ist vielleicht sentimental, aber ich werben muss und wer sich an welcher Stel- Müntefering: Gemessen am Libero-System mag das. le um die Sache kümmert. bin ich die Vier, wie einst „Katsche“ SPIEGEL: Und inwiefern ist Franz Müntefe- SPIEGEL: Aber für die Partei spricht der Schwarzenbeck. ring modern? Vorsitzende das letzte Wort. SPIEGEL: Ausputzer. Und Schröder ist der Müntefering: Indem ich weiß, dass die Din- Müntefering: Das muss klar sein. Aber er Kaiser? ge sich verändern müssen. Nichts ist sicher. kann diese Aufgabe delegieren. Wenn ir- Müntefering: Der Parteivorsitzende hat die Veränderung ist unverzichtbar und deshalb gendjemand etwas sagt, was nicht abge- Nummer fünf. auch Reformpolitik, die den Wandel ge- stimmt und delegiert ist, dann muss man SPIEGEL: Die trug damals Franz Becken- staltet. auch in der Lage sein zu sagen, das ist nicht bauer. SPIEGEL: Und die Reformen lassen Sie dann Meinung … Müntefering: Aber er hätte nicht so gut sein machen? SPIEGEL: … der Partei, sondern eine per- können, wenn der Schwarzenbeck nicht so sönliche. Die ist aber noch möglich? ein harter Bursche gewesen wäre. * Am 21. August im nordrhein-westfälischen Kommu- Müntefering: Natürlich. Ich glaube sogar, SPIEGEL: Herr Müntefering, wir danken nalwahlkampf in Dortmund. dass wir in diesem Herbst eine intensive Ihnen für dieses Gespräch.

30 der spiegel 38/1999 ren die SPD-Ratsmehrheit – und der CDU- OB-Kandidat Volker Geers geht mit Vor- sprung in die Stichwahl. In Köln schaffte es nach den dubiosen Aktienkäufen des SPD- Kandidaten Klaus Heugel (SPIEGEL 35, 36/1999) mit Anne Lütkes sogar eine Grü- nen-Frau in die Endausscheidung – ein bundesweites Novum. Der Bonner CDU- Überraschungs-Spitzenreiter im ersten Wahlgang, der sich dem Volk auf Plakaten markig vorstellte („Mein Name ist Stahl. Helmut Stahl“) bedankte sich beim „Wahl- helfer Gerhard Schröder“ – und bei den Schöpfern der rot-grünen Verkehrspolitik der Stadt, die viele Bürger aufregt. In Bielefeld, Münster und sogar in der

C. KRUSKA Traditions-Hochburg Essen erwischte es Kommunalwahlkämpfer Clement: „Die haben jetzt alle Fracksausen“ die Sozis noch schlimmer. Der forsche Europa-Experte Detlev Samland musste als sich zu lassen. In der Industriestadt Lever- Essener OB-Kandidat für die „Arroganz SPD kusen, wo Christdemokrat Paul Hebbel der Macht“ (CDU-Wahlsieger Wolfgang vorn liegt, ist die Lage ähnlich. Selbst im Reiniger) büßen, mit der seine Genossen 43 Heißer Hintern roten Gelsenkirchen mit dem Malocher- Jahre lang die Stadt regiert hatten: So etwa Stadtteil Schalke darf CDU-Jungstar Oliver wurde ein von der SPD durchgepaukter Um die Mehrheit im Land Wittke, 32, auf einen Sieg spekulieren. Beschluss zum Philharmonie-Neubau (Kos- Die Sozialdemokraten selbst rechnen ten: rund 100 Millionen Mark) erst nach ei- fürchten nach der verheerenden damit, dass fast überall dort, wo sie hinten nem Bürgerbegehren zurückgezogen. Wahlniederlage in den lagen, die Ergebnisse irreversibel sind. „Die „Wir dachten, das hätten die Leute Kommunen die Sozialdemokraten Zeit bis nächsten Sonntag ist zu knapp, um längst vergessen“, sagt Britta Altenkamp- in NRW. Zu Recht. die Wende zu schaffen“, klagt ein SPD- Nowicki, Mitarbeiterin des geschassten Landesvorständler. Ministerpräsident Cle- Kandidaten. Haben sie nicht. Kleinlaut uf dem Plakat in der Düsseldorfer ment weiß auch, warum: „Die Menschen gesteht die SPD-Ratsfrau, die Partei SPD-Zentrale strahlt der nordrhein- sind natürlich gern bei den Siegern.“ wisse nicht mehr, „was die Menschen Awestfälische Regierungschef Wolf- Nur in 3 von 30 Großstädten – Duisburg, denken“. gang Clement – und küsst seine Frau Karin. Oberhausen und Aachen – hatten die So- Auch vielen in der Landtagsfraktion, „Erfolg macht sexy“, steht unter der Idylle. zis im ersten Anlauf den Posten des Stadt- sagt SPD-Fraktionsvize Ernst Martin Wals- Das Bild ist ein Unikat: Die Werbe-Idee oberhauptes geholt, Christdemokraten ken, werde nun „der Hintern heiß, weil wurde als zu wenig staatsmännisch aus- siegten hingegen elfmal. der Flächenbrand näher kommt“. Clement sortiert, und zur Zeit dürfte sie wohl kaum Wahlanalytiker wie der Parteienforscher solle stärker sozialdemokratische Seelen en vogue sein. Nach der verheerenden Nie- Ulrich von Alemann führen die Niederla- streicheln: „Wir müssen uns dringend pro- derlage der SPD bei den Kommunalwahlen ge vor allem darauf zurück, dass SPD- filieren, notfalls auch gegen Berlin.“ am vorvergangenen Wochenende stolpern Stammwähler aus Frust über Sparpaket Das dürfte schwierig werden. Clements die seit Jahrzehnten erfolgsverwöhnten und Rentendebatte zu Hause blieben.Aber Dilemma, analysiert Richard Hilmer, Ge- Genossen völlig verunsichert auf die Land- auch die Landespolitik sei „nicht hilfreich“ schäftsführer des Meinungsforschungsin- tagswahl im Mai 2000 zu. gewesen. Hinzu kam eine Kette lokaler stituts Infratest dimap, bestehe darin, dass Nach den Bürgermeistern fürchten nun Skandale und Ärgernisse – viele Wähler er sich einen „vergleichsweise Erfolg ver- die ersten SPD-Landesparlamentarier um haben nach Jahrzehnten der SPD-Macht sprechenden“ Anti-Berlin-Wahlkampf gar ihre Posten – und fordern eilig Kurskor- an Rhein und Ruhr offenbar Filz und allzu nicht leisten könne, ohne unglaubwürdig rekturen zu Gunsten verprellter Stamm- selbstbewusstes Rumwursteln satt. zu werden. Denn er hatte den Saarland- wähler. Derweil höhnen Alt-Akteure wie Im Affären geplagten Dortmund (SPIE- Verlierer Reinhard Klimmt kräftig für eben der frühere nordrhein-westfälische Arbeits- GEL 34/1999) kippte erstmals seit 53 Jah- solche Wahlkampfkapriolen abgestraft. und Sozialminister Friedhelm Farthmann Erste NRW-Genossen proben (SPD) über die einst glorreichen Genos- dennoch die Gratwanderung. Das sen: „Die haben jetzt alle Fracksausen.“ strategische Dilemma sei „auflös- Völlig zu Recht, denn die Folgen des bar durch eine differenziertere SPD-Kollapses können auf die Schnelle Nähe und Ferne zum Bund“, ora- kaum auskuriert werden. Kommenden kelt Bildungs- und Wissenschafts- Sonntag ist Stichwahl in 131 Kreisen und ministerin Gabriele Behler. Spit- Kommunen, und den Sozialdemokraten zen-Sozis möchten auch einen Ge- drohen in ihrer alten Hochburg NRW wei- neralsekretärs-Posten in der Partei tere Watschen vom Wähler. schaffen, weil Landeschef Franz So hat in der Landeshauptstadt Düssel- Müntefering zu oft in Berlin sei. dorf der fast unbekannte OB-Kandidat Noch nie, sagt Alt-Sozi Farth- Joachim Erwin (CDU) plötzlich gute Chan- mann, habe die NRW-SPD so nah cen, auch im zweiten Anlauf die promi- am Abgrund gestanden wie jetzt:

nente SPD-Dame Marlies Smeets hinter DPA „Die Lage für Clement ist äußerst gefährlich. Wenn der wegbricht, Essener CDU-Sieger Reiniger können wir einpacken.“ „Arroganz der Macht“ Georg Bönisch, Andrea Stuppe 31 Werbeseite

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PARTEIEN Glatte Zumutung Sind die Jungwähler konservativ? Nicht unbedingt, aber sie wollen Ergebnisse und verab- scheuen Polit-Rituale.

ie der Nachwuchs tickt, wusste Helmut Kohl schon immer. „Die Wjunge Generation“, verkündete der Altkanzler vergangenen Dienstag un- term Berliner Funkturm feierlich, „gehört zu den Besten, die es gibt. Kein Wunder, sie stammt ja von uns ab.“ Das Publikum, mehr als tausend meist Grauhaarige, ju- belte begeistert. Kein Wunder, dass die Augen des Patri- archen so wohlgefällig auf der Jugend ru-

hen. Ob im Saarland, Brandenburg, Thürin- M. DARCHINGER gen, Nordrhein-Westfalen oder Sachsen – Junge Genossen im Berliner Willy-Brandt-Haus*: „Die SPD gilt als Loser-Partei“ bei den Wahlen der vergangenen Wochen errang die traditionelle Rentnerpartei CDU der CDU, in Brandenburg halbierte sich die als Loser-Partei.“ Maßnahmen wie das bei den 18 bis 30 Jahre alten Wählern enor- Zustimmung der Jungen zur SPD dagegen. 100000-Ausbildungsplätze-Programm oder me Zuwächse, die SPD dagegen verbuch- Doch Demoskopen wie Dieter Roth von die Aufstockung des Bildungshaushalts sei- te oft zweistellige Verluste. Selbstbewusst der Mannheimer Forschungsgruppe Wah- en „überhaupt nicht angekommen“. Ein behauptet Parteichef Wolfgang Schäuble: len warnen davor, die Zahlen zu über- Reinfall auch Gerhard Schröders vermeint- „Wir sind die Partei der Jugend.“ schätzen. Denn auch bei den Erst- und licher Mediencoup, Hans Martin Bury, 33, In der Ära Kohl galten Deutschlands jun- Jungwählern profitierte die CDU nach Ein- als Staatsminister ins Kanzleramt zu holen. ge Leute meist als linksliberal, heute ist es schätzung der Forscher vor allem von einer Nicht an jugendlichen Vorzeige-Politi- modern, sich als Konservativer zu outen deutlich gesunkenen Wahlbeteiligung. kern sei der Nachwuchs interessiert, folgert und Anzug zu tragen. Dieses „Novum in Die hohe Mobilisierung der konservati- der Sozialdemokrat Roth, sondern „an ei- der politischen Landschaft“ stellte der ven Wähler bei gleichzeitiger Apathie der ner Art positiver Political Leadership“. SPD-Abgeordnete Michael Roth, 29, schon Rot-Grün-Wähler verzerrte die Zahlen ge- Gute Voraussetzungen für die eher auto- nach den Landtagswahlen in seinem Hei- waltig. Unterm Strich hat die CDU, wie die ritär strukturierte CDU. matland Hessen fest. SPD auch, netto an Wählern verloren. Es Dass der Wertekanon der Jungen nicht Seine Kölner Kollegin Ursula Heinen, fällt bei den Prozenten nur nicht auf. mehr mit den klassischen Rechts-links-Ka- 33, Sprecherin der Jungen Gruppe der Uni- So ist die CDU keineswegs die Partei tegorien zu fassen ist, räumen auch junge onsfraktion, genießt hingegen die „wach- der Jugend. „Im Grunde findet seit einem Abgeordnete der Regierungskoalition wie Jahr nur ein Aufholprozess statt“, sagt Mat- der Grüne Matthias Berninger, 28, ein: thias Jung von der Forschungsgruppe Wah- „Bestes Beispiel ist die Einstellung zur Fa- len. Erstmalig in ihrer Geschichte gelinge es milie, die sich komplett geändert hat.“ der lange vor allem bei älteren Herrschaf- Während sich rot-grüne Bildungspoliti- ten beliebten CDU, nun in allen Alters- ker gern über Kopfnoten oder Studienge- gruppen gute Ergebnisse zu erzielen. bühren ereiferten, könne sich der Nach- Konservieren lässt sich dieser Trend kei- wuchs darüber immer weniger empören, nesfalls. Wie die Ostdeutschen insgesamt im Gegenteil. Berninger: „Gerade bei Jun- sind junge Wähler jederzeit für jede Über- gen gibt es eine starke Orientierung an raschung gut. Im Gegensatz zu eher par- Leistung und Wettbewerb.“ teitreuen Älteren „entscheiden sich die Die Union frohlockt. Und die SPD? Bei Jungen viel häufiger von Wahl zu Wahl der kommt das Thema mit Verspätung an.

DPA ganz neu“, meint Forscher Roth. Der un- Dass ihr die Jungen abhanden gekommen Wahlkämpfer Kohl (in Cottbus) geduldige Nachwuchs will Ergebnisse und sind, war nach den Schlappen in Thüringen „Partei der Jugend“ keine Polit-Rituale. Als glatte Zumutung und Nordrhein-Westfalen kein Thema. empfindet die Jugend, die sich unter er- Dabei verfügt die SPD-Fraktion über sende Offenheit der Jungen uns gegen- heblichem Wettbewerbsdruck sieht, eine den mit 23 Jahren jüngsten Bundestagsab- über“. Zu einer Party für Erstwähler in Regierung, die nicht weiß, was sie will. geordneten, Carsten Schneider aus Erfurt. Köln etwa strömte das Jungvolk in Scha- So dienen die Youngster als Seismograf Der sieht sich allerdings zuallererst als ren. Noch vor einem Jahr, auf der Musik- für gesellschaftliche Stimmungen und wir- „Vertreter der jungen Generation und des messe Popkomm, waren die jungen CDU- ken zugleich als Trendverstärker. Der Ge- Ostens“. Ob er nicht auch Sozialdemokrat Aktivisten froh, wenn sie von den verein- nosse Roth erkundigt sich bei seinem sei, fragte ihn vergangene Woche jemand zelten Gästen nicht beschimpft wurden. 19-jährigen Bruder über die Stimmungslage aus dem Publikum bei einer Diskussion Die Wahlanalysen scheinen den Trend der Jugend. „Die SPD“, so der Befund, „gilt im Willy-Brandt-Haus. Nach kurzem Zö- zur CDU zu bestätigen. Beinahe jeder gern antwortete Schneider: „Gewiss – ich zweite Wähler unter dreißig im Saarland * Carsten Schneider, Nina Hauer, Dilek Kolat und Hans- hab ja das Parteibuch.“ Petra Bornhöft, und in Thüringen machte sein Kreuz bei Peter Bartels am vergangenen Dienstag. Tina Hildebrandt

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einem Projekt mit unkalkulierbaren Risi- FLUGHAFEN ken gemacht hat. Damit ist das sechs Milliarden Mark teu- Bruchlandung re Prestigeobjekt noch lange vor dem ers- ten Spatenstich tief im regionaltypischen Untergrund versackt – eine Melange aus Filz und Inkompetenz, garniert mit allen vorm Start Zutaten eines prallen Wirtschaftskrimis. Eine Melange aus Inkompetenz, Zunächst hob das Oberlandesgericht Filz und Industriespionage macht Brandenburg die Vergabe an ein Konsor- tium um den Baukonzern Hochtief we- die Planung des neuen Haupt- gen Verfahrensmängel auf. Dann flogen stadt-Airports zum Abenteuer mit angebliche schmutzige Tricks auf – die unkalkulierbaren Risiken. Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Be- trugsverdachts. Die Konkurrenten vom n der deutschen Hauptstadt wird nicht Bau denunzieren sich nun wechselseitig, unter Weltniveau geplant: Der neue und Anwälte der Investoren drohen den IFlughafen Berlin Brandenburg Interna- Politikern unverhohlen mit Schadenser- tional, berauschten sich die Gesellschafter satzklagen in dreistelliger Millionenhöhe. im Internet, sei „das größte Infrastruktur- Die Situation ist derart verfahren, dass projekt seit dem Bau des Kanaltunnels“ sogar der kaufmännische Geschäftsführer zwischen Frankreich und England. Das der bund- und ländereigenen Flughafen- Jahrhundertwerk soll die Me- tropole endlich an die Welt an- Geplanter Großflughafen (Computersimulation): schließen. Berlin bietet derzeit zwar Direktflüge nach Ulan stellungstermin noch eingehalten werden Bator und Pjöngjang, aber für soll, müssen die Unterlagen für das kom- die Wiederaufnahme einer plizierte Planfeststellungsverfahren noch Non-Stop-Verbindung in die in diesem Jahr eingereicht werden. Dabei USA bot der Regierende Bür- weiß man derzeit nicht einmal, wer den germeister Eberhard Diepgen Airport schließlich bauen und betreiben (CDU) den großen Airlines so- wird – die Bundesarchitektenkammer ver- gar Subventionen aus der langt bereits ein „sauberes neues Verfahren Staatskasse an. ohne Mauscheleien“. Also müssen die Ge-

Mit dem Ausbau des ehema- MROTZKOWSKI W. sellschafter und die von ihnen eigens ge- ligen DDR-Zentralflughafens Flughafen-Gesellschafter*: „Vergesst das Projekt“ gründete Planungs-Projektgesellschaft PPS verbinden sich große Hoffnun- jetzt selbst aktiv werden. gen: Schönefeld soll 35 Millionen Passagie- holding BBF, Kilian Krieger, vor Mitarbei- Das wird teuer. Nach internen BBF-Be- re jährlich abfertigen und zum Luftkreuz tern klagte: „Es ist eine Katastrophe für rechnungen müssten der Bund und die bei- für Osteuropa und Fernost werden. Noch Berlin und Brandenburg, aber die Politik den Länder in den kommenden drei Jahren vergangene Woche versicherten die Ge- wird es nicht hinkriegen.Vergesst das Pro- mindestens 1,5 Milliarden Mark vorstrecken sellschafter – der Bund sowie die Länder jekt.“ Der erboste Diepgen feuerte Krieger – für die Entwässerung des Bodens, neue Berlin und Brandenburg – der Airport wer- vergangene Woche im Schnellverfahren. Straßen und Schienen sowie die Umsied- de termingerecht 2007 fertig. Doch der wirkliche Kraftakt steht den lung des 334-Seelen-Dorfs Diepensee.Aber Doch das ist vor allem Zweckoptimis- Politikern noch bevor. Wenn der Fertig- keiner hat dafür entsprechende Mittel in mus: Mittlerweile ist zweifelhaft, ob die seinem Haushalt bereitgestellt. Jets jemals im Fünf-Minuten-Takt im Mär- * Bundesverkehrsminister Franz Müntefering, Branden- Hinzu kommt: Wird Schönefeld nicht kischen starten und landen werden. Immer burgs Ministerpräsident Manfred Stolpe, Berlins Regie- rechtzeitig fertig, ist die Konkurrenz in render Bürgermeister Eberhard Diepgen bei der Ver- neue Dokumente tauchen auf und bele- tragsunterzeichnung mit dem Hochtief-Konsortium im Leipzig und München womöglich schneller. gen, dass Industriespionage Schönefeld zu März. Dann war der Traum vom Luftkreuz nur ma Wirtschafts- und Ingenieurberatungs- Jetzt ist die WIB aus dem Rennen, den gesellschaft (WIB) des Ex-Senatsbediens- Job übernahm das Planungsbüro Spieker- teten Herbert Märtin unterhalten haben. mann aus Stuttgart. Über jeden Zweifel ist In einem bei einer Durchsuchung der auch diese Geschäftsverbindung nicht er- FAG aufgefundenen Vermerk vom 14. März haben: Spiekermann und ein Mitglied des 1997 wird vorgeschlagen, drei Mitarbeiter IVG-Konsortiums sind über ein Projekt am der FAG an Märtins Büro auszuleihen, da Flughafen Leipzig verbandelt. „eine stille Beteiligung der FAG an der Be- Die Furcht, das Milliardengeschäft zu ver- arbeitung des Projektes sinnvoll erscheint“. passen, treibt die Konzerne in ihren Stel- Gegen den FAG-Vorstandsvorsitzenden lungnahmen zu ungewohnter Offenheit. Das Wilhelm Bender und den FAG-Projektlei- Hochtief-Konsortium räumt ein, monatlich ter Peter Henkel wird wegen dieser Aktio- 50000 Mark an eine ehemalige Mitarbeite- nen ermittelt. Bender bestreitet Unregel- rin Märtins gezahlt zu haben, damit sie mäßigkeiten: „Wir haben die sauberste Lö- für ein „öffentlichkeitswirksames Erschei- sung gewählt.“ Auch Märtin gehört zu den nungsbild“ bei „Meinungs-Multiplikatoren“ Beschuldigten, auch er bestreitet. Justizse- und in der „Politik“ sorge.Aus dem gleichen nator Ehrhart Körting (SPD) forderte den- Grund habe man auch „mehrere Verträge noch, Hochtief auszuschließen. mit Journalisten abgeschlossen“. Davon würde wohl, wenn man das Pro- Aber man sei auch Opfer gewesen, Ob- jekt nicht komplett neu ausschreiben und jekt „umfangreicher Ausforschungen“. Es damit den Zeitrahmen vollends sprengen gebe seriöse Hinweise darauf, dass: will, der zunächst unterlegene Konkurrent, π „Informationsabschöpfungen durch bis- das IVG-Konsortium, profitieren. Doch die lang Unbekannte“ erfolgt seien. Des- Luftkreuz für Osteuropa und Fernost halb habe man im Mai 1998 die Fax- Anschlüsse der „wesentlichen Entschei- kurz. „Der Großflughafen hat nicht den dungsträger“ mit einer „Telefax-Ver- Hauch einer Realisierungschance“, höhnt schlüsselung versehen“; bereits der Berliner bündnisgrüne Ver- π das schriftliche Kaufangebot für „12 bis kehrsexperte Michael Cramer. 15 Stunden“ auf dem Weg zum Binden Die verantwortlichen Politiker von Diep- in der Druckerei verschwunden gewesen gen bis zu Brandenburgs Ministerpräsident sei. Eine spätere Untersuchung „nach Manfred Stolpe möchten bis zu den Berli- kriminaltechnischen Methoden“ habe ner Wahlen am 10. Oktober das ganze Aus- ergeben, dass dieses „geöffnet und maß ihrer Bruchlandung vor dem Start nur durchgeblättert“ wurde;

zu gern verschweigen. Bis dahin soll auch BZ π Details aus Hochtief-Schreiben mit Hil- noch nicht offiziell über den intern disku- Beschuldigter Märtin fe einer auffälligen „Nähebeziehung“ tierten Ausschluss des Hochtief-Konsor- „Die sauberste Lösung gewählt“ und „enger persönlicher Kontakte“ tiums befunden werden. möglicherweise an die IVG gelangt sei- Doch das wird kaum durchzuhalten IVG könnte dasselbe Schicksal wie Hoch- en – eine feine Umschreibung für den sein. Nahezu täglich gibt es neue Details tief ereilen. Laut Märtin wurde ihm sogar Verdacht der Industriespionage. aus dem erbitterten Konkurrenzkampf der „das Angebot gemacht“, seine Firma „in Die Aktienkurse von Hochtief fielen Industrie um den Airport-Neubau. die Projektgesellschaft des IVG-Konsor- zeitweilig um rund 15 Prozent, die Nerven In den Vertragsklauseln war den vom tiums einzubinden“. Was die Sache be- liegen blank. Vorstandsmitglied Wolfhard Staat beauftragten Planern jeder Kontakt sonders pikant macht: Ein Gespräch sei, Leichnitz will sogar Schadensersatzforde- zu den Bietern verboten. So weit die Theo- so die IVG-Anwälte, auf „ausdrücklichen rungen gegen die FAG geltend machen, rie.Vor allem Hochtief und dessen Partner, Wunsch“ des Chefs der brandenburgischen wenn Fehler des Partners zum Ausschluss die Frankfurter Flughafen AG (FAG), so Staatskanzlei Jürgen Linde (SPD) geführt von Hochtief führen. Leichnitz: „Das sind sieht es die Staatsanwaltschaft, sollen ge- worden – dabei hatte Linde als Aufsichts- wir unseren Aktionären schuldig.“ zielt klandestine Geschäftsbeziehungen zu ratschef der PPS eigentlich die Korrektheit Wolfgang Bayer, Dinah Deckstein, Georg der von der PPS beauftragten Planungsfir- des Verfahrens zu kontrollieren. Mascolo, Dietmar Pieper, Steffen Winter Deutschland

TERRORISTEN „Fast wie beim Duell“ Österreichischen Polizisten gelang ein Schlag gegen die Rote Armee Fraktion: In Wien erschossen sie Horst Ludwig Meyer und verhafteten seine Begleiterin Andrea Klump – glatter Zufall, die beiden lebten dort lange unbehelligt als Untermieter eines Studenten.

in paar Fingerabdrücke, Zigaretten- Hofrat Max Edelbacher, Chef des Wie- stummel, Haare – viel ist da nicht. ner Sicherheitsbüros, versuchte persönlich, ESeit knapp drei Jahren sichtet eine sie zum Sprechen zu bringen – ohne Erfolg. Sonderkommission des Wiesbadener Bun- Die Hände hielt sie zu Fäusten geballt, den deskriminalamts (BKA) abgelegte Akten, Daumenabdruck mussten Beamte von ei- stöbert in Asservaten und versucht so, den nem Wasserglas nehmen. letzten Terroristen der Roten Armee Frak- Der Shoot-out von Wien und die zufäl- tion auf die Spur zu kommen. Taktische lige Festnahme lenken das Augenmerk wie- Aufgabe: Eingrenzung des „potenziellen der aufs größte Fahndungsfiasko der deut- Täterkreises durch neue und fundierte Er- schen Polizeigeschichte – die Suche nach kenntnisse“. den RAF-Terroristen der sogenannten drit- Doch Experten der „Koordinierungs- ten Generation. gruppe Terrorismusbekämpfung“ haben Von den seit 1985 begangenen tödlichen VIENNA REPORT die RAF längst für tot erklärt – bevor die VIENNA REPORT Verbrechen, zu denen sich die RAF be- Terrortruppe dann selbst im April 1998 Passfotos der RAF-Verdächtigen Meyer, Klump kannte, ist keines annähernd aufgeklärt – ihre Auflösung bekannt gab. Auch das Beretta mit Schalldämpfer-Gewinde ausgenommen der Bombenanschlag auf Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz die Frankfurter U. S. Air Base im August meldete „Zweifel“ an, ob einige der Schalldämpfergewinde sowie ausgefräster 1985 (2 Tote, 23 Verletzte). Letztes RAF- mit Haftbefehl Gesuchten tatsächlich Seriennummer. Opfer war 1991 Treuhand-Chef Detlev „zum Kreis der Illegalen“ gehörten – Seine Begleiterin Andrea Klump hieß Karsten Rohwedder. und nannte ausdrücklich zwei Namen: laut Ausweis Monica Arini. Sie war mit ei- Die RAF-Terroristen verhöhnten ihre Jä- Horst Ludwig Meyer, 43, und Andrea nem Messer bewaffnet, hatte einen nach- ger sogar. „Sie wissen nicht viel über uns“, Klump, 42. gemachten Fahrschein in der Tasche, dazu hieß es in einer Erklärung von 1996, „sie Am Mittwoch vergangener Woche wur- gerade mal 100 Schilling. haben noch nie wirklich durchgeblickt, wie de der gelernte Starkstromelektriker Mey- Beide trugen doppelte Kleidung, für unsere Strukturen aussehen oder wer in er bei einer wilden Schießerei mit Polizis- Fahnder ein sicherer Hinweis auf ein be- der RAF organisiert ist.“ ten in Wien getötet – Meyer trug einen vorstehendes Verbrechen. Die Deutsche Etliche Mitglieder der zweiten Genera- gestohlenen italienischen Pass auf den sagte bei ihrer Festnahme nur einen einzi- tion waren Anfang der achtziger Jahre Namen Francesco Spinola bei sich und gen Satz: „Ihr tut euren Job – und ich tue plötzlich spurlos verschwunden – sie ver- eine Beretta-Pistole vom Kaliber 7,65 mit meinen.“ bargen sich in der DDR. Ihre Nachfolger wichen dem Fahndungsdruck ebenfalls aus, sie gingen in den Nahen Osten. Das war so gut wie alles, was die Polizei hier zu Lan- de von ihnen wusste. Einige Terror-Verdächtige, wie etwa der Arztsohn Christoph Seidler, hielten es im selbst gewählten Refugium nicht mehr aus. Seidler hatte sich nach Vorgesprächen mit einem Kölner Verfassungsschützer (Deck- name: „Hans Benz“) 1996 gestellt. Der Haftbefehl gegen ihn, der ursprünglich schwerster Mordtaten beschuldigt worden war, ist längst aufgehoben; ob es jemals eine Anklage geben wird, ist ungewiss. Im Mai dieses Jahres kam aus libane- sischem Exil auch Barbara Meyer heim – die schon lange getrennt lebende Ehefrau des in Wien Getöteten. Sie und ihr Mann hatten sich Anfang der achtziger Jahre stark in der RAF-Sympathisantenszene engagiert, sie besuchten inhaftierte Terro- risten und arbeiteten bei dem „Komitee gegen Isolationsfolter“. Im Herbst 1984 verschwand das Paar von

AP der Bildfläche – und mit ihm offenbar auch Herrhausen-Attentat 1989: „Neue und fundierte Erkenntnisse“ Andrea Klump. Die Meyers setzten sich

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stellt – beim Schusswechsel verletzte Mey- er, aus beiden Waffen feuernd, einen der Verfolger, ehe er tödlich getroffen zusam- menbrach. Wie tief Meyer und Andrea Klump in terroristische Verbrechen verstrickt sind, ist längst nicht geklärt. Nach ersten Ein- schätzungen deutscher Sicherheitsexper- ten scheint es eher, als gehörten sie einer Fraktion von Versprengten an, die den Er- mittlern bis zum Wiener Show-down nicht bekannt war – Ex-Desperados der deut- schen Linken, die sich heute möglicher- weise mit Hilfe anderer Terrorgruppen oder Sympathisanten verbergen. Ein Staatsschützer vermutet sogar, dass sie „längst keine Staatsfeinde mehr sind, son- Verhaftete Klump (im Wiener Sicherheitsbüro): „Ihr tut euren Job – und ich tue meinen“ dern nur noch Allgemeinkriminelle“. Dafür könnte spre- über Norwegen und Österreich nach Syri- chen, dass mit Meyers en ab, um schließlich in den Libanon über- Beretta im August 1996 zusiedeln. Barbara Meyer arbeitete als bei einem Überfall auf ei- Pflegerin in einem Hospital der libanesi- nen Wiener Supermarkt schen Stadt Saida, gar nicht weit davon eine Verkäuferin nieder- lebten Gesinnungsgenossen – japanische geschossen wurde.Waren Militante, niederländische Extremisten die klammen Deutschen oder Italiener der Roten Brigaden. die Täter? Ihren Mann, gab Barbara Meyer bei ei- Wie nahe die beiden ner Vernehmung zu Protokoll, habe sie an der RAF-Kommando- letztmalig 1987 gesehen.Wohin er ging und ebene dran waren, ist un- was er trieb, ist bis heute weitgehend un- ter Fahndern umstritten. klar. BKA-Experten vermuten, er könne „Ziemlich dicht“ scheint sich zusammen mit Andrea Klump lange einem die Beleglage, dass Jahre bei befreundeten italienischen Rot- Meyer am Mordanschlag brigadisten aufgehalten haben. auf den Siemens-Mana- Am 20. Mai dieses Jahres erschossen ger Karl Heinz Beckurts Mitglieder der Brigate Rosse in der römi- und seinen Fahrer Eck- schen Via Salaria den früheren Staats- hard Groppler am 9. Juli sekretär und Hochschullehrer Massimo Meyer, Klump (vor dem Polizeizugriff): Doppelte Kleidung 1986 beteiligt gewesen D’Antona. Der Mordanschlag gab den ita- sei; dann müsste er aller- lienischen Terrorspezialisten Rätsel auf – Mitte Juli fiel Zeugen ein Pärchen auf, dings vom Libanon aus zum Attentat ein- war es doch der erste tödliche Anschlag das sich häufig an einer Straßenkreuzung gereist sein. seit elf Jahren, außerdem blieb das Motiv im Wiener Bezirk Donaustadt herumtrieb. Bei Andrea Klump scheint der Fall unklar. Offenbar kundschafteten Meyer und anders zu liegen. Dass sie den Schritt aus Aber es hieß, auch eine Frau habe dem Klump ein Objekt aus – in der Nähe liegen der illegalen Unterstützerszene in die Mordkommando angehört; als öffentlich mehrere Banken und ein Wettbüro. RAF-Spitze je vollzog, gilt als unwahr- über eine Kooperation von Rotbrigadisten Von Konspiration, auf die gerade Terro- scheinlich. BKA-Experten sind überzeugt, und übrig gebliebenen RAFlern gemut- risten der dritten Generation großen Wert dass sie eher eine beliebig einsetzbare maßt wurde, wiegelte Regierungschef gelegt hatten, keine Spur: Beide standen Legionärin war. Massimo D’Alema ab: Er schloss die fast immer zur gleichen Zeit dort und tru- So hat Klump einen Fingerabdruck auf „ausländische Spur“ nachdrücklich aus. gen, trotz sommerlicher Hitze, langärmeli- jenem roten mit Sprengstoff beladenen Jetzt, nach dem Wiener Fall, soll geprüft ge Hemden und Jacken. Motorrad hinterlassen, mit dem im spani- werden, ob möglicherweise doch die bei- Vergangenen Mittwoch tauchten sie wie- schen Rota vor über zehn Jahren eine von den Deutschen beteiligt waren – auch der auf, sonnenbebrillt, Baseballkappen amerikanischen Soldaten gern besuchte wenn sie nach Überzeugung der Polizei auf dem Kopf. Ein Anwohner alarmierte Disco in die Luft gejagt werden sollte. Nur bereits seit 1996 im österreichischen Un- die Polizei und schoss ein Foto von den ein Zufall verhinderte ein Blutbad. tergrund lebten. Verdächtigen. Madrid hat einen internationalen Haft- Ein ahnungsloser Jurastudent hatte sie Als sich eine junge Polizistin näherte befehl gegen Klump erlassen, die Deut- damals als Untermieter aufgenommen. Sie und nach den Ausweisen fragte, zog Mey- schen auch. Der Generalbundesanwalt be- bewohnten in der Springergasse im zwei- er seine Pistole. Auch die Beamtin griff schuldigt sie unter anderem, am Attentat ten Stock zwei Zimmer; er nannte sich Jens nach ihrer Dienstwaffe. „Die beiden“, so auf den Deutsche-Bank-Vorstandssprecher Jensen und behauptete, aus Dänemark zu ein Zeuge, „standen sich Auge in Auge ge- Alfred Herrhausen beteiligt gewesen sein. Sie trug sich als Heide Vieri ein. genüber, fast wie bei einem Duell.“ zu sein. Dem Paar ging es offenbar finanziell Meyer, ausgebildeter Karatekämpfer, ge- Einziger Hinweis: die Aussage eines psy- sehr schlecht. Um in Wien mit Bus oder lang es zusammen mit Andrea Klump, die chisch kranken Zeugen, den kaum noch Bahn fahren zu können, fälschten sie, ziem- Polizistin niederzuwerfen und ihr die Waf- einer ernst nimmt. Unter Staatsschützern lich grob, die Tickets. Sie machten auf Na- fe zu entreißen. Das Paar flüchtete. Eine gilt Klumps Beteiligung daher längst als turfreunde und lasen viel. Manchmal ar- halbe Stunde später wurde es von Elite- höchst unwahrscheinlich. Georg Bönisch, beitete Klump als Babysitterin. polizisten nahe eines Kindergartens ge- Georg Mascolo

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AFFÄREN Das Milliarden-Ding Deutsche und israelische Staatsanwälte ermitteln gegen Anwälte in Tel Aviv und Berlin: Rund eine Milliarde Mark aus der deutschen Rentenkasse, für israelische Rentner gedacht, landete auf Konten privater Geschäftemacher. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte nahm die Geldschieberei hin.

ie alte Dame spricht kaum noch Einen Kredit von 85392 Mark habe sie malige Krankenschwester, „aber dieser Be- deutsch. Viele Worte ihrer Kind- aufnehmen müssen, um eine anständige trug – da tut mir das Herz weh.“ Dheitssprache hat sie vergessen, seit Rente von der BfA zu erhalten. Es seien Gerade 240 Mark kamen nach diver- sie 1948 nach Palästina kam. Weil sie aber aber nur 210 Mark bei ihr angekommen, sen Umwegen monatlich bei ihr an. Mit keinen anderen Ausweg sah, setzte sich die klagte Shelley Katz, 70. Ihre Schulden wer- über 70000 Mark hat sie sich dafür ver- pensionierte Musikwissenschaftlerin Shel- de sie frühestens im Jahre 2014 abbezahlt schulden müssen. „Ein furchtbarer Schwin- ley Katz im Dezember 1996 an den haben. „Ich werde dann, wenn ich lebe, 85 del“, klagt die vierfache Großmutter. Schreibtisch ihrer bescheidenen Wohnung Jahre alt sein. Gott, erbarme dich meiner!“ Weil der Briefwechsel mit der Bundes- in Rischon Lezion bei Tel Aviv und schrieb Dvora Reichert, 74, saß im Ghetto von versicherungsanstalt in Berlin und ande- einen Brief an die Bundesversicherungs- Warschau, bekam in Auschwitz die Num- ren Behörden nicht half, wandten sich die anstalt für Angestellte (BfA) in Berlin – mer 476 41 auf den Arm tätowiert. „Ich beiden Frauen an das Center for German auf deutsch. habe einiges mitgemacht“, zürnt die ehe- Pension Ltd. in Tel Aviv.Hunderte ratloser, U. KEREN U. Perry

Reppenhagen BHF-Brief an Perry, beschuldigte Anwälte: Kompliziertes System fürs große Geschäft

44 der spiegel 38/1999 Das System der Geschäftemacher Juni 1980 In-Kraft-Treten eines deutsch-israelischen Rentenabkommens. Israelische Juden können eine Rente aus Deutschland erhalten, ISLE wenn sie sich rückwirkend mit einem einmaligen OF MAN Betrag in die Rentenkasse einkaufen. BfA abgetretene Rentenanteile BERLIN

Rentenzahlungen der BfA FRANKFURT Seit 1987 November 1986 Die BGF auf der Isle of Man erhält über die Frankfurter Perry erreicht in Frankfurt, dass die BHF-Bank für die Konten von der BfA die abgetretenen Rentenanteile nötigen Nachentrichtungen insgesamt 375 Millionen 30 000 (zwei Drittel). Vom letzten Drittel bleibt den Rentnern Mark Kredit an die eigens gegründete Gesellschaft durch auch nicht viel: Davon zieht die „BG Assistance“ „BG Financing“ (BGF) gibt. Sicherheit für die BHF: „Irgun“ (BGA) Prämien für Versicherungen, Honorare und die Abtretung der zu erwartenden „Einmalzahlung“ vermittelte Gebühren aller Art ab. für die bereits seit Juni 1983 aufgelaufenen Renten- Renten- An die eigentlichen Empfänger in Israel wird ansprüche. Die BfA erlaubt zudem, das zwei Drittel Restrenten an anträge nur ein kleiner Rest überwiesen. der fortlaufenden Renten abgetreten werden. Israelis, oft nur 100 bis 300 Mark enttäuschter, verbitterter Israelis im fort- Einige tausend Israelis hoffen auf ein geschrittenen Alter suchten mittlerweile günstiges Urteil, um in voller Höhe Anfang 1983 Rat im schlichten Büro in der Drojanow- an die von der BfA bewilligten Ren- Der Anwalt Israel Perry gründet die Organisation Straße in Tel Aviv. ten zu kommen. „Irgun“ in Tel Aviv. Sie verspricht israelischen Rentnern Dort quellen die Regale über von Ein- In diesem Herbst, zwölf Jahre nach eine „deutsche Rente“ auch ohne Eigenkapitalein- gaben, Beschwerden, Klagen. Der einzige, Beginn der ersten Ermittlungen, will satz. „Irgun“ vermittelt für die notwendige Nachent- der den Überblick über das vergilbende die israelische Justiz nun einen der richtung bei der BfA einen Kredit. Dafür müssen zwei Drittel der Rente abgetreten werden. Weitere Papiergebirge behalten hat, ist Zvi Avra- größten Fälle von Betrug und Steuer- Zahlungen werden für eine Lebensversicherung hami, Leiter der Schutzorganisation für die hinterziehung zur Anklage bringen, aufgenommen. Die von der „Irgun“ übervorteilten Rentner. Er stöhnt: „Man den das Land je gesehen hat. Noch angeworbenen Rentner unterschreiben hebt Stein um Stein hoch – mal schaut ein im September wird wohl auch die stapelweise Formulare. Skorpion darunter hervor und mal eine Staatsanwaltschaft in Berlin Anklage Schlange. Aber immer ist da was.“ wegen Steuerhinterziehung gegen ei- TEL AVIV Avrahami kümmert sich um die aben- nen Anwalt erheben, der derzeit wie- Juni 1983 teuerlichen Auswüchse einer Geldschiebe- der auf freiem Fuß ist – gegen eine Re- Am Tag vor Ablauf der Abgabefrist reichen Perry und rei, welche die Geschichte der Beziehung kordkaution von 10,5 Millionen Mark. sein Berliner Anwalt Frank Reppenhagen Kartons zwischen Deutschland und Israel um ein Im Fadenkreuz der Ermittler ste- mit knapp 30000 Anträgen bei der Berliner BfA ein. peinliches Kapitel bereichert. Staatsan- hen zwei Rechtsanwälte: Israel Perry, So sammeln sich bis zur fälligen Nachentrichtung wälte beider Länder haben mittlerweile 57, aus Tel Aviv und Frank Reppen- bereits Rentenansprüche an. mehrere Meter Akten beschlagnahmt. hagen, 58, aus Berlin. Die israelische Kanzleien von Rechtsanwälten und ei- Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Rentner nes Anlageberaters in Wiesbaden, Berlin Perry wegen Betruges und Steuer- und Tel Aviv sowie die Geschäftsräume der hinterziehung. BHF-Bank in Frankfurt am Main, die mit In Berlin erwartet Reppenhagen einem Geschäftsvolumen von 94 Milliarden ein Verfahren „wegen des Verdachtes Mark zu den zehn größten Banken in der Steuerhinterziehung in besonders Der damals zuständige Arbeitsminister Deutschland gehört, wurden durchsucht. schwerem Fall“. Darauf stehen – wegen Herbert Ehrenberg (SPD) kann sich an die Und noch immer ist nicht ganz klar, wie der Höhe der Steuersumme und falls das Umstände der Gesetzgebung nicht mehr weit die Verantwortung einer der größten Gericht „groben Eigennutz“ feststellt – bis erinnern: „Das ist zu lange her, niemand deutschen Behörden – der BfA in Berlin – zu zehn Jahre Gefängnis. wird von mir erwarten, dass ich mich an für die Affäre reicht. Doch dass der Schaden tausender israe- Details erinnere.“ Auf rund eine Milliarde Mark, vorsichtig lischer Rentner nach Abschluss aller Ver- Israelis sollten das Recht bekommen, geschätzt, berechnet die Staatsanwaltschaft fahren auch materiell gesühnt werden sich rückwirkend vom 1. Januar 1956 bis für Wirtschaftskriminalität in Jerusalem den kann, ist fraglich. Der größte Teil des um- zum 12. Juni 1980 in die deutsche Renten- Betrag aus der deutschen Rentenkasse, der geleiteten Geldes ist nach einem raffinier- kasse einzukaufen – zu extrem günstigen auf Konten von Anwälten, Agenturen und ten System auf die Seite gebracht worden, Bedingungen: Sie mussten nur die niedri- dubiosen Firmen landete, die in Steuer- wohl auf Nimmerwiedersehen. gen Monatsbeträge aus früheren Zeiten oasen wie der Isle of Man oder im liech- Dabei stand am Anfang eine gute Ab- nachentrichten, die Rente aber, auf die sie tensteinischen Ruggel residieren. Geschäf- sicht. Am 12. Juni 1980 trat auf Beschluss so Anspruch erwarben, sollte zum Stand temacher in Deutschland und Israel nutzten des Deutschen Bundestags eine „Verein- von heute ausbezahlt werden. Eine loh- Gesetzeslücken und die Arglosigkeit von barung zur Durchführung des Abkommens nende Investition vor allem für ältere An- Rentnern aus, um sich zu bereichern. Die vom 17. Dezember 1973 zwischen der Bun- tragsteller, die schnell in den Genuss einer BfA unternahm nach Ansicht vieler Opfer desrepublik Deutschland und Israel über beachtlichen Rente kommen konnten. zu wenig, um den womöglich „kriminellen Soziale Sicherheit“ in Kraft, die alle An- Dazu mussten die Berechtigten nicht Missbrauch eines deutschen Rentengeset- zeichen einer Goodwill-Aktion gegenüber einmal irgendwann in Deutschland gelebt zes“, so ein Fahnder, zu unterbinden. Israel trug. „Das sind versteckte Entschä- oder unter den Nazis gelitten haben. Auch In Israel sind knapp 1000 Zivilverfahren digungsleistungen“, sagt BfA-Direktor Juden aus Osteuropa oder Einwanderer und Beschwerden vor Gerichten anhängig. Klaus Michaelis heute. aus dem Jemen etwa konnten sich bewer-

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Werbeseite Deutschland ben und sogar – kurios – israelische Staats- ahnen können, dass die „Organisation“ mit Im Mai 1983 trafen sich Bienstock, Rep- bürger arabischer Abstammung. unsauberen Methoden arbeitete. Doch sie penhagen und Perry in dessen Büro in Tel Die noble Geste verstellte den verant- ließ die „Irgun“ gewähren. Aviv, um Verträge über ihre Zusammenar- wortlichen Politikern und BfA-Juristen of- Die israelischen Antragsteller erfuhren beit abzuschließen. Diese Kontrakte und fenbar den Blick aufs Ganze: Sie schufen, von Perrys Organisation, dass sie die ein- die in den Jahren danach offenbar mehr- wie sich herausstellte, keine hinreichende malige Gelegenheit besäßen, eine deutsche fach geänderten Abmachungen sind heute Vorsorge gegen Missbrauch. Mittlerweile Rente zu bekommen, ohne zuvor eigenes Gegenstand der Ermittlungen in Israel und gibt BfA-Verwaltungsdirektorin Renate Geld aufbringen zu müssen. Dafür würde Deutschland. Sie regeln unter anderem die Bosien zu: „Das haben wir nicht abgese- die Organisation schon sorgen. „Die Leu- Höhe der Honorare, welche die drei An- hen, dass das solche Folgen hatte. Wir sind te sind geströmt“, erinnert sich Bienstock. wälte für die Bearbeitung der Rentenan- da mit großer Naivität rangegangen.“ Im feinen Hotel Astoria von Tel Aviv mie- träge erhoben. Dass es hier um ein Millio- Die Sache ließ sich zunächst harmlos an. tete „Irgun“ zwei Stockwerke an, um den nengeschäft ging, war dem Trio schnell klar, Trotz der extrem guten Konditionen hatten Massenansturm bewältigen zu können. In das geht aus seinem Briefwechsel hervor. sich bis Juni 1983 nur wenige Israelis für die Jerusalem, Haifa und gar am Rande der Die Tricksereien begannen gleich zu Be- deutsche Rente interessiert. Die BfA wies Wüste Negev, in Beerscheba, richtete sie ginn des Geschäfts. Bienstock berichtet, lediglich mit einer kleinen Notiz im Stile provisorische Büros ein. Rund 30000 Israe- dass drei unterschiedliche Verträge ge- amtlicher Verlautbarungen in israelischen lis beantragten die deutsche Rente. schlossen wurden: ein offizieller zwischen Tageszeitungen auf die Möglichkeit hin. Weil Perry und Bienstock die Kampagne der „Organisation“ und Reppenhagen, der Am 13. Juni 1983, dem letztmöglichen improvisiert hatten, gab es nicht einmal fortan als Bevollmächtigter der Antrag- Termin, bekam die BfA-Zentrale am Fehr- belliner Platz in Berlin jedoch unerwarte- ten Besuch. Die Rechtsanwälte Perry und Reppenhagen schleppten kartonweise Luftfracht herein, Inhalt: knapp 30000 An- träge aus Israel. Die verblüfften BfA-Leu- te schafften die Kartons zunächst in einen eilends hergerichteten Raum, der sogleich versiegelt wurde. Die Last-Minute-Aktion war der Auftakt zu einem glänzenden Deal für eine Hand voll gerissener Geschäftemacher. Für die BfA freilich war es der Auftakt zum viel- leicht ärgerlichsten Verlustbringer ihrer Ge- schichte. Der Berliner Anwalt Reppenhagen gibt heute zu, dass er Anfang 1983 zwei rühri- gen Kollegen in Tel Aviv die ungewöhnliche Chance zum Geldverdienen eröffnet hatte. „Das Abkommen wird nicht ausgenutzt, da ist doch was drin“, habe er Perry und Abraham Bienstock erzählt, die bis dahin

kleinere Kanzleien in Tel Aviv betrieben. A. BRUTMANN Reppenhagen: „Ich sagte zu den beiden: Israelische Rentner Kudlo, Reichert, Morduchowitz: „Ein furchtbarer Schwindel“ ,Passt auf!‘“ Perry und Bienstock witterten bald das große Ding – und gingen die Antragsformulare. „Wir haben alles aus steller auftrat. Die Mandanten sollten dafür Sache generalstabsmäßig an. dem Boden gestampft“, erinnert sich Zvi 12 Prozent einer Fünf-Jahres-Rente als Ho- Das Duo pumpte sich bei israelischen Avrahami. Der heutige Chef der Rentner- norar bezahlen: bei einer Rente von 1000 Banken 100000 Dollar, so Bienstock, um als Schutzorganisation war zu Beginn der Mark im Monat 7200 Mark pro Rentner. „Organisation für die Durchführung des Kampagne noch Generalmanager der „Ir- Bienstock berichtet, dass sich Reppen- Sozialversicherungsabkommens Israel- gun“. Doch bald verließ er die Firma: „Das hagen in Unterverträgen verpflichtete, ein West-Deutschland“ in ganzseitigen Zei- stank gegen den Wind.“ Drittel seiner Einnahmen an Perry und ein tungsannoncen und Hauswurfsendungen Das Rentengeschäft ließ sich bestens an. weiteres Drittel zu Gunsten der Mutter quer durch Israel für die „Deutsche Rente“ Weil jeder Antragsteller rund 100 Mark Ge- Bienstocks nach Vaduz zu überweisen.Von zu werben. bühr zahlen sollte, „waren unsere Spesen diesen Verträgen, so Bienstock, existierten Der hebräische Name für Organisation gleich wieder drin – und noch ein bisschen jeweils nur zwei Exemplare. lautet Irgun. In diesem Wort schwingt für mehr“, freut sich Bienstock noch heute. Er will sich auch erinnern, dass Rep- jeden Israeli viel mit: Es steht für Staat, So- Reppenhagen, der einige Jahre zuvor ein penhagen fragte, wie er denn in Deutsch- lidität und Vertrauen. Die umworbenen Wiedergutmachungsverfahren für einen land steuerlich verfahren solle: Nominell Rentner hegten keinen Zweifel, dass sie es Verwandten Perrys erfolgreich betrieben kassiere er sämtliche Honorare, müsse mit einer regierungsoffiziösen Stelle zu tun hatte, wurde in Deutschland Korres- gleichwohl zwei Drittel am Fiskus vorbei hatten. pondenzanwalt von „Irgun“ und Bevoll- an seine Partner schleusen. Perry habe ihn Die Firmengründer unterstützten diesen mächtigter der angeworbenen Rentner. beruhigt: „Sorge dich nicht, wir werden Eindruck noch: Anfangs benutzten sie in Er brachte noch eine weitere unschätz- eine Lösung finden.“ Er fand offenbar kei- ihren Schreiben das Logo der BfA. Erst bare Qualifikation mit: Bevor er seine ne, die im Einklang mit deutschen und nachdem sich ein Berliner Rechtsanwalt, Kanzlei als Rentenexperte eröffnet hatte, israelischen Steuergesetzen steht. der gelegentlich israelische Rentner vertrat, war er zuvor drei Jahre lang bei der BfA Die Teilnehmer der Runde erinnern sich mehrmals beschwert hatte, untersagte die zum Inspektor ausgebildet worden: „Da allerdings unterschiedlich an diese Unter- deutsche Rentenbehörde den Gebrauch. habe ich gelernt, was Jura ist, da wurden redung. Reppenhagen: „Ich kann mich Schon zu diesem Zeitpunkt hätte die BfA die Grundlagen für später gelegt.“ zwar an das Gespräch, aber nicht an eine

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Werbeseite um wiederum die Kredite abzusi- chern. Perry hatte sich ein raffiniertes Finanzierungssystem ausgedacht, das selbst einen israelischen Staatsanwalt begeistert: „Einfach genial.“ Es hat freilich einen ent- scheidenden Mangel: Es ent- spricht in mancher Hinsicht und in vielen Fällen nicht den Gesetzen. Das System funktionierte wie folgt: In der Regel vergingen zwi- schen der Antragstellung bei der BfA und der Auszahlung der ers- ten Rente drei bis sechs Jahre. Die BfA musste den Antrag prüfen, ein aufwendiges Verfahren: Schulzei- ten, Ausfallzeiten, Zeiten der Ver- folgung und Vertreibung mussten ermittelt werden. Das schleppte

H. SCHAEFER sich dahin, obwohl rund 200 BfA- BfA-Zentrale in Berlin: „Das sind versteckte Entschädigungsleistungen“ Mitarbeiter eigens die israelischen Rentenanträge bearbeiteten. solche Äußerung erinnern.“ Auch Perry War ein Antrag schließlich bewilligt, kün- verneint: „Dieses Gespräch hat nicht so digte die BfA eine „Einmalzahlung“ an, stattgefunden, auch nicht sinngemäß.“ meist mehrere 10000 Mark pro Rentner. Das Reppenhagen, behauptet Perry heute, war der Betrag, der seit Antragstellung auf- habe zunächst alle Gebühren an Perry oder gelaufen war. Darauf spekulierte Reppen- die „Organisation“ weiterleiten sollen. 1987 hagen, der seinem israelischen Partner Perry dann, als die ersten Renten flossen, bekam die deutsche Rentenformel erklärt hatte. Reppenhagen ein Viertel der Gebühren, zwei Die BfA verlangte von den jüdischen Viertel gingen an Perrys „Irgun“, den Rest Rentnern die Nachentrichtung ihrer Beiträ- sollte Bienstock bekommen. Bienstock wie- ge für die Jahre zwischen 1956 und 1980 derum behauptet, Perry habe das so kon- erst nach Bewilligung des Antrages. Zwi-

struiert, dass „das ganze Geld über Reppen- BÖNING / ZENIT J.-P. schen Ein- und Auszahlung lagen selten hagen kommt und irgendwie verschwindet“. BfA-Direktor Michaelis mehr als sechs Monate. Dann folgten die Die Steuerfinte holte das Trio später ein. „Uns ist das schon aufgefallen“ monatlichen Rentenzahlungen. Am 27. Januar 1999 klingeln frühmorgens Ein Kredit für die Finanzierung der gleichzeitig in Reppenhagens Privatwoh- Nach Erkenntnissen der Staatsanwalt- Nachzahlung war, wenn überhaupt, nur für nung in der Berliner Uhlandstraße und in schaft in Jerusalem sollen alles in allem in kurze Zeit nötig. Das wussten die Ge- den Räumen seiner Kanzlei in der Keith- Deutschland und Israel bis heute 120 bis 130 schäftemacher, jedoch nicht die von „Ir- straße etwa 20 Beamte der Steuerfahn- Millionen Mark allein an Rechtsanwaltsho- gun“ beratenen Rentner, wie aus der Fül- dung. Sie präsentieren Durchsuchungsbe- noraren und Vermittlungsgebühren unter- le der Beschwerden hervorgeht. fehle und prüfen das beschlagnahmte Ak- schiedlichster Art kassiert worden sein. Die meisten von ihnen verfügten nicht tenmaterial an Ort und Stelle. Bienstock war bereits Ende 1983 ausge- über ausreichende Ersparnisse, die sie bei Am zweiten Tag der Durchsuchung wird stiegen. 1986 ließ er sich auszahlen – nach der BfA hätten einzahlen können. Das Reppenhagen, der währenddessen in seiner seinen Angaben erhielt er eine Million nutzte Perry aus. Zusammen mit dem Kanzlei hin- und herwuselt, „wegen des Mark, was er heute noch als „die größte deutschen BfA-Experten Reppenhagen dringenden Tatverdachts der Steuerhinter- Einfalt meines Lebens“ bezeichnet. Er erstellte die „Irgun“ individuelle Renten- ziehung in einem besonders schweren Fall“ fühlt sich von Perry „furchtbar betrogen“. berechnungen, ermittelte den Nachzah- verhaftet. Er verbringt seine erste Nacht Seit Jahren führt Bienstock in Israel Pro- lungsbetrag – und offerierte dem Rent- hinter Gittern in den Tempelhofer Arrest- zesse gegen seinen ehemaligen Geschäfts- ner, praktischerweise, sogleich einen zellen des Polizeipräsidiums. Dann wird er partner und Freund: Der habe ihm da- Kredit. in die Untersuchungshaftanstalt Moabit mals falsche Zahlen über den möglichen Um in den Genuss der deutschen Rente verlegt, zwölf Wochen bleibt er hinter Erfolg des Rentengeschäfts vorgelegt und so zu kommen, mussten sich die meisten Schloss und Riegel, dann kommt er für eine seinen Preis „auf eine lächerliche Rentner also zunächst einmal verschulden. Kaution von 10,5 Millionen Mark frei. Summe gedrückt“. Bienstock, mittlerweile Sie wussten, dass sie deswegen später einen Noch ist nicht klar, wie viele Steuern der Steuerhinterziehung überführt, musste Teil ihrer Rente an den Kreditgeber abtre- Reppenhagen hinterzogen haben soll. Die über eine halbe Million Mark nachzahlen. ten mussten. israelischen Ermittler gehen von mindes- Die Honorare, auf die das Trio Per- Viele „Irgun“-Opfer beklagen zudem, tens 80 Millionen Mark aus, die als Ho- ry/ Reppenhagen/ Bienstock spekulierte, sie hätten Perrys Kredite eigentlich gar norare israelischer Rentner unversteuert machen jedoch nur einen Teil des Ge- nicht aufnehmen müssen. Sie hätten über über seine Konten geflossen seien. schäfts mit den deutschen Renten aus. Der genügend Reserven verfügt, um die Nach- Die deutschen Ermittler nennen einst- eigentliche Umsatz wurde – und wird bis zahlung zu begleichen. Doch die „Organi- weilen noch keine konkreten Zahlen. Die heute – mit teuren Krediten erzielt, die die sation“ habe sie genötigt, die Kredite in hinterzogene Steuersumme sei jedoch „in Antragsteller von Perrys „Irgun“ vermittelt Anspruch zu nehmen. jedem Fall höher als die für Reppenhagen bekamen. Viel Geld kam zudem mit im- Lipa Morduchowitz, Jahrgang 1917, be- hinterlegte Kaution“. Reppenhagen selbst mensen Lebensversicherungsprämien her- richtet, er hätte „ganz einfach den ganzen schweigt sich aus: „Kein Kommentar dazu.“ ein, die betagte Israelis zahlen mussten, Vorschuss selbst zahlen“ können, „doch

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Werbeseite die zwangen mich, den Kredit aufzuneh- mussten. „Das war zwar nicht ganz billig“, men“ – immerhin 57238 Mark. so BfA-Mitarbeiterin Bosien, „aber durch- In vielen Fällen wäre ein Kredit auch aus noch zu marktüblichen Preisen.“ gar nicht nötig gewesen: Denn oft über- Es war aber noch immer nicht das Ende stieg die Summe der einmaligen Auszah- der planmäßigen Abzockerei. „Hochgra- lung jenen Betrag, den die Rentner nach- dig kriminell“ findet ein Staatsanwalt in zahlen sollten. Weil zwischen Einzahlung Jerusalem, „wie die Lebensversicherungs- und Erstattung selten mehr als sechs Mo- prämien eingetrieben wurden“. nate lagen, hätte ein kurzfristiger – günsti- So wurden mitunter alle Prämien für die ger – Zwischenkredit genügt. gesamte Laufzeit der Versicherung gleich zu Viele der betagten Israelis wurden of- Beginn der Vertragszeit kassiert. Das waren fenbar gedrängt, Kreditlaufzeiten in Kauf nicht selten Beträge, die höher waren als der zu nehmen, die gelegentlich sogar ihre sta- Rentenkredit selbst. Die meisten Antrag- tistische Lebenserwartung überschritten. steller verfügten nicht über so viel Geld. So sollte Morduchowitz bis zum 84. Le- Kein Problem für Perry: Er verschaffte den bensjahr hohe Zinsen zahlen. In der Regel Rentnern sofort den nächsten Kredit – natür- lag der „Irgun“-Zinssatz bei zehn Prozent, lich zu hohen Zinsen. Das waren unnötige manchmal wurde noch mehr verlangt. Versicherungen für überflüssige Kredite. „Verrückt“ findet Gregorios Makries, Jahrelang wurde die BfA mit Beschwer- Zweigstellenleiter der Otto Scheurmann den aus Israel eingedeckt. Immer wieder Bank in Berlin, dieses Geschäftsgebaren. klagten Rentner darüber, dass sie nicht ein- Seine Bank ist auf Rentnerkredite nach mal jenes Drittel bekamen, das ihnen frei Israel spezialisiert. Bei der Scheurmann zustehen sollte. Die BfA ließ die Betroge- Bank werde ein Kredit „sofort vollständig nen mit ihren Problemen allein. getilgt“, wenn die Einmalzahlung von der „Sofern Sie der Meinung sind, die von BfA eintreffe, so Makries. Als Sicherheit Ihnen angesprochene Organisation ... habe für den kurzfristigen Zwischenkredit reicht sich betrügerisch betätigt, müssen sie dem Berliner Banker die Nachricht der diese Vorwürfe gegen diese Organisation BfA, dass der Antragsteller eine Zahlung selbst richten“, beschied die BfA in einem zu erwarten hat. Brief an Te’ena Schutzer aus Tel Aviv am Der Kredit, „an dem wir nur mäßig Geld 25. März 1997: „Die BfA ist für solche Vor-

verdienen“, sei „eher eine Gefälligkeit“, so GÜNTHER J. würfe nicht der richtige Ansprechpartner.“ Makries. Für Perrys Organisation und die BHF-Zentrale in Frankfurt Der Holocaust-Überlebende Yaakov Banken, bei denen sich Perry das Geld für Überweisungen an Steueroasen Kudlo beklagte sich schon im Juli 1990 über die Rentnerkredite selbst kurzfristig be- „Reppenhagen und die Organisation von sorgte, wurde dieses „verrückte“ Verfahren später, als die Abzockerei sichtbar wurde, Perry“, indem er detailliert seinen Fall be- zu einer Geldmaschine. keine Möglichkeit mehr, einzuschreiten. schrieb: „Wie können solche Menschen Die BfA genehmigte diese Methode im Höchstens 36 Monatsrenten aus der ein- Versicherte vertreten, wenn sie von den Grundsatz. Dabei stützte sie sich auf Para- maligen Rückzahlung, so hatte die BfA mit Berechtigten Renten rauben, im allgemei- graf 53, Absatz 2 Nummer 2 des 1. Sozial- Reppenhagen ausgehandelt, durften zur Ab- nen von alten, gebrechlichen Leuten, die gesetzbuchs. Danach ist die Abtretung ei- zahlung des Kredits verwendet werden. sich nicht verteidigen können?“ ner Rente grundsätzlich zulässig. Sie muss Höchstens zwei Drittel der monatlichen Kudlo bat die „sehr geehrten Herren“ jedoch erkennbar „im wohlverstandenen Rentenzahlungen durften für Zinsen und von der BfA eindringlich um Hilfe. Die Interesse des Berechtigten“ liegen.Was im Tilgung des restlichen Kreditbetrags drauf- Antwort der Behörde auf seinen langen wohlverstandenen Interesse der jüdischen gehen.Wenigstens ein Drittel der Zahlungen Brief bestand aus einem Vierzeiler: Ob er Rentner lag, handelten Reppenhagen und aus Deutschland, so lautete die unzweideu- damit einverstanden sei, dass man seinen zwei BfA-Mitarbeiter aus. tige Bestimmung aus Berlin, sollten die Brief an Reppenhagen weiterleite. Reppenhagen zum SPIEGEL: „Unser Rentner zur freien Verfügung haben. BfA-Direktor Michaelis erklärt das Ver- Ziel war, möglichst viele Abtretungen zu Dieses Verfahren hält BfA-Direktor halten seiner Behörde so: „Hier hat ein erreichen.“ Ziel der Aktion sei die „Si- Michaelis für „korrekt, entsprechend den Sachbearbeiter die formale Rechtsposition cherung der Honorare“ gewesen. BfA- Formalien“. Komplett illegal aber ist nach eingenommen.“ Es habe schließlich eine Direktor Michaelis gesteht ein, dass er den Auffassung der Staatsanwaltschaft in Jeru- Vollmacht des Rentners für Reppenhagen Zweck der Übung durchschaute: „Wir salem, wie Perry in vielen Fällen mit den vorgelegen. wussten natürlich, dass die daran verdienen restlichen, angeblich freien Renten- Die BfA schaut seit vielen Jahren zu, wollten, ist doch klar. Einen anderen Ver- Dritteln verfuhr. wie in vielen Fällen fast das gesamte Geld, dacht hatten wir nicht.“ Weil die Kredite, die „Irgun“ den Rent- das israelischen Rentnern zugedacht war, Die BfA nahm hin, dass der weitaus nern vermittelte, oft eine lange Laufzeit in den Taschen dubioser Geschäftemacher größte Teil des Geldes aus der deutschen hatten, verlangte die Organisation als Si- verschwindet. Rentenkasse nicht die Senioren in Israel cherung den Abschluss einer Lebensversi- Skandal im Skandal: Israelische Staats- erreichte, sondern an Kreditgeber,Agenten cherung zu Gunsten des Kreditgebers. anwälte fanden heraus, dass Lebensversi- und Anwälte ging.Wenn der Sinn der Ren- Auch dafür wurden Gebühren fällig, zu- cherungen mit der Firma Shimshon häufig tenvereinbarung darin bestanden haben dem lagen die Versicherungsprämien hoch. nur über kurze Zeit oder gar nur für einen sollte, israelischen Juden eine erkleckliche „Perry hat ihnen eine extrem teure Le- Tag abgeschlossen worden waren. Die Rent- Rente für einen ruhigen Lebensabend zu- bensversicherung verkauft“, meint ein ner aber mussten für lange Laufzeiten zah- kommen zu lassen, ist das Ziel so gut wie Staatsanwalt in Jerusalem. Die Berliner len.Auch von mindestens einem dieser Fäl- vollkommen verfehlt worden. Rentenversorger erlaubten, dass die Rent- le hatte die BfA aus einem Beschwerdebrief War die BfA zunächst blauäugig, indem ner sechs Promille der monatlichen Zah- Kenntnis. Michaelis: „Aus meiner Sicht war sie den kommerziellen Missbrauch der Ver- lungen aus dem angeblich frei verfügbaren ein Anlass zum Einschreiten nicht gegeben. ordnung nicht einkalkulierte, so sah sie Drittel als Versicherungsprämie zahlen Wir konnten doch einem Bevollmächtigten

54 der spiegel 38/1999 Deutschland nicht unterstellen, dass er seine Mandant- Sitz in der atlantischen Steueroase, wickel- schaft nicht ordentlich vertritt.“ te die Zahlungen für Rechtsanwaltsho- Mittlerweile haben die Rentenexperten norare, Gebühren und die Lebensversi- der BfA eingesehen, dass die Vereinba- cherungen der Rentner ab. Das war selbst rungen, die sie mit der „Irgun“ und Rep- für die Profis aus Jerusalem anfangs ein penhagen getroffen haben, beileibe nicht schier undurchschaubares Gewirr. immer im Interesse der israelischen Rent- Ein halbes Jahr lang prüfte ein deutscher ner sind. „Man hat das Problem damals Beamter die umfangreichen Unterlagen nicht gesehen“, gesteht BfA-Verwaltungs- aus Israel. Dann stand sein Urteil fest: Hier- direktorin Bosien heute ein, das Ergebnis bei handele es sich um einen Fall „von her- sei „nicht im beabsichtigten Sinne“. ausragender Bedeutung“. „Wir hatten erlaubt, dass die Einmal- Das Landeskriminalamt Berlin schickte zahlung bis zu 100 Prozent abgetreten wer- im März 1998 zwei Beamte nach Jerusalem, den konnte. Das ist das ganze Problem“, wo sie acht Tage lang „von morgens bis sagt Bosien. Inzwischen hat die BfA we- abends Akten wälzten“, um sich in den nigstens diesen Fehler korrigiert. „Jetzt Fall einzuarbeiten. Die Profis hatten er- können wir Auszahlung und Nachzahlung hebliche Mühe, die komplizierte Materie verrechnen. Das haben wir aus dem Fall zu durchschauen. Perry gelernt.“ Den betroffenen Rentnern Am 27. Januar 1999 rückten Ermittler in Israel nützt die späte Reue der deut- nicht nur in Berlin bei Reppenhagen an, schen Rentenversicherer freilich nichts. sondern auch in den Geschäftsräumen der Am 13. August 1997 erreichte das Aus- BHF-Bank in Frankfurt sowie deren da- wärtige Amt über die israelische Botschaft maliger Tochter FKB. Andere Beamte

Der Fall Yaakov Kudlo Der Israeli Yaakov Kudlo, Jahrgang 1920, abgezogen wurden. Die „Irgun“ überwies ihm Überlebender des Warschauer Ghettos, stellte monatlich lediglich 100 Mark. Kudlo kündigte 1983 über die „Irgun“, eine Organisation des seine Zusammenarbeit mit „BG Assistance“ Rechtsanwalts Israel Perry in Tel Aviv, einen (BGA), einer Service-Agentur, die für die Rentenantrag bei der Bundesversicherungsan- „Irgun“ die Abwicklung besorgte, auf und ließ stalt für Angestellte (BfA) in Berlin. Zunächst sich den Rest der Rente von der BfA direkt musste Kudlo für die zurückliegenden Jahre überweisen. Daraufhin verklagte ihn die BGA. Rentenbeiträge nachbezahlen. Dafür nahm Nach sieben Prozessjahren erhielt Kudlo er auf Vermittlung von „Irgun“ einen Kredit in Recht. Vor Gericht hatte er erfahren, dass mitt- Höhe von 62 538 Mark auf. lerweile durch die eingegangenen Verträge Im März 1990 erfuhr er, dass ihm von seiner Schulden in Höhe von 226 124,10 Mark auf- Rente monatlich 1170,40 Mark für den Kredit, gelaufen waren – fast das Vierfache der ur- für Anwaltshonorare und weitere Gebühren sprünglichen Kreditsumme.

Kudlo-Beschwerdebrief

Kudlo A. BRUTMANN ein Rechtshilfeersuchen der Ermittlungs- durchsuchten die Privat- und Geschäfts- behörden in Israel. Die baten um Amtshil- räume des freiberuflichen Investment-Ban- fe, weil der Fall Perry vor Ort nicht hinrei- kers Martin H. in Wiesbaden, der Perrys chend aufzuklären war. Neben den Details wichtigster Mann bei der Kreditbeschaf- der Honorarvereinbarungen und eventuell fung gewesen war. hinterzogener Steuern wollten die Israelis Bei diversen Kreditinstituten hatten wissen, wie Perry sich das Kapital beschafft Reppenhagen und Perry vorgesprochen, hatte und wohin der Profit geflossen war. doch kein Banker wollte so recht glauben, Zwischenzeitlich hatten die Ermittler her- dass die BfA derartige Konditionen bot. ausgefunden, dass die deutsche BHF-Bank in „Die waren tatsächlich und juristisch un- Frankfurt Perry mit einem 375 Millionen- gläubig“, so Reppenhagen, „,wo gibt’s Mark-Kredit versorgt hatte. denn so was?‘ bekamen wir immer wieder Die Rentner in Israel hatten ihren Kre- zu hören.“ dit stets von einer ominösen Firma mit dem Einzig der BHF-Bankdirektor Martin H. Namen BGF („F“ für Financing) bekom- erkannte die sicheren Profitmöglichkeiten, men. Sitz der Firma: die Isle of Man, weit die das Rentengeschäft barg. 1992 kündig- draußen vor Englands Küste. Die BGF be- te H. bei der BHF und arbeitet seitdem als kam ihr Geld von der BHF-Bank in Frank- Perrys Finanzberater. furt. Eine weitere Firma mit dem Namen Das in Frankfurt und Wiesbaden be- BGA („A“ für Assistance), ebenfalls mit schlagnahmte Aktenmaterial erwies sich

der spiegel 38/1999 55 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland als äußerst wertvoll. Zwei Staatsanwälte schäbige Rest, manchmal reisten aus Israel an, um es zu sichten. In nur noch 100 Mark, wan- den Bergen von Papier fanden sich Hin- dert schließlich auf die weise darauf, wo das schöne Rentengeld privaten Konten der geblieben sein könnte: Unterlagen über ge- israelischen Rentner. plante und vollzogene Firmengründungen Viele Rentner haben in aller Welt, darunter eine Fast-Food-Ket- davon erst in ihren Pro- te in China, Dokumente über Geldanlagen, zessen erfahren. Vor Ge- über ein Luxus-Appartement in Manhattan richt begriffen sie auch, und den Erwerb eines Bildes von Marc dass sie immense Zah- Chagall im Wert von 1,5 Millionen Mark. lungsverpflichtungen ge- Die israelischen Staatsanwälte waren genüber der BGA einge- hoch beglückt. Daheim hatte sich Perry als gangen waren. Sie bekla-

weitgehend vermögenslos bezeichnet. Kei- A. BRUTMANN gen sich, sie seien bei der nes seiner israelischen Konten wies hohe Rentner-Ratgeber Avrahami: „Das stank gegen den Wind“ Unterzeichnung der Ver- Beträge aus. träge überrumpelt wor- Perry und Martin H. hatten das Finan- Das BHF-Konto Nummer 597930 lautet den. „Man hat mir 100 Seiten Papiere vor- zierungskonzept für den Rentendeal im auf die Gesellschaft BGA, der die besonde- gelegt“, erinnert sich Dvora Reichert in Tel Frühsommer 1986 ersonnen. Die BHF-Bank re Aufmerksamkeit der Staatsanwälte gilt. Aviv. „Als ich sagte, ich wüsste nicht, was schlug Perry zunächst vor, eine Firma auf „Die beiden Firmen sind wie zwei Schwes- das alles zu bedeuten hat, haben sie gesagt, der Kanalinsel Jersey zu gründen, wie die tern“, sagt Zvi Avrahami, Leiter der Be- ich würde das sowieso nicht verstehen.“ Isle of Man, wo die Firma schließlich ange- troffenenorganisation in Tel Aviv: „Die eine Manchmal war angeblich auch Druck im siedelt wurde, eine Steueroase. In einem ist Professorin, die andere ist eine Hure.“ Spiel. „Sie haben mir gesagt, ich müsste so- „Letter of Commitment“ vom 25. Juni 1986 Zwei Drittel aller Beträge, welche die fort 13380 Mark für den deutschen Anwalt regt die Bank (Mitunterzeichner: Martin H.) BfA monatlich im Rahmen des Rentenab- überweisen, wenn ich nicht unterschreibe. Perry an, sich für diese „Firma mit einem kommens überweist, landeten zunächst auf Das war doch glatte Erpressung“, erinnert einzigen Geschäftsinhalt“ Anteilseigner ei- dem Konto der BGF. Auch die einmaligen sich Pinchas Dagan, der bei Prozessbeginn gener Wahl auszusuchen. Deutsche Ermitt- Nachzahlungen, pro Antragsteller zwi- bemerkte, dass er bei den Rentenräubern ler erkennen an solchen Formulierungen schen 20000 und knapp 100000 Mark, gin- mit 150152 Mark in der Kreide stand, ob- die Gründung einer Briefkastenfirma. gen von der deutschen Rentenkasse erst wohl er nur einen Kredit von rund 50000 Die BHF habe laut Perry darauf ge- mal Richtung Isle of Man. Mark aufgenommen hatte. drängt, sowohl die BGF als auch die Das restliche Drittel, das nach den an- Gänzlich unverständlich ist, warum die Schwestergesellschaft BGA im Ausland an- geblich strikten Auflagen der BfA den BfA die verschlungenen Finanzierungswe- zusiedeln. Zu den Gründen schweigt die Rentnern in Israel frei zur Verfügung ste- ge unbeanstandet akzeptierte. „Uns ist das Frankfurter Privatbank. hen soll, landet zwar auf Namenskonten mit der Isle of Man schon aufgefallen. Wir Die Ermittler glauben, die Motive zu ken- der Rentner, für die die BGA jedoch Voll- dachten, das hat steuerliche und Devisen- nen: So sei einerseits verschleiert worden, machten besitzt. gründe, wird aber schon korrekt sein“, sagt dass es sich bei der Firma in Wahrheit um Von diesen Konten zweigt die BGA nun BfA-Direktor Michaelis. „Das musste uns eine einzige Person, um Perry, gehandelt den Betrag vom restlichen, eigentlich frei nicht interessieren“, meint Michaelis-Kol- habe. Zum anderen hätten „die günstigeren verfügbaren Drittel der Rente für Lebens- legin Bosien heute lapidar. Verhältnisse in Bezug auf das Haftungs- versicherungsprämien, Gebühren und Warum eigentlich nicht? Schließlich ging recht“ eine Rolle gespielt – und auch in Be- sonstige Honorare ab. Auch Reppenhagen es um deutsches Rentengeld und um den zug auf die Steuern. „Man hätte das Ganze bekam seine Honorare von der BGA. Der Anspruch von BfA-Rentnern. natürlich auch in Frankfurt gründen können“, so ein Er- mittler. Dann allerdings wären Steuern in Deutsch- land angefallen. Perry bestreitet, der Hin- termann der BGF zu sein, die später ihre Geschäftsadresse in der Steueroase Liechten- stein angab. Als Geschäfts- führer dort firmiert Louis Oehri, deutschen Fahndern schon aus anderen Steuer- ermittlungen bekannt. Die BGF nahm laut Ver- trag vom 21. November 1986 bei der BHF zunächst einen Kontokorrentkredit von 175 Millionen Mark auf. Durch eine Zusatzvereinbarung vom 24. Mai 1991 wurde der Kredit auf 375 Millio- nen Mark aufgestockt, „zweckgebunden zur Finan-

zierung des Rentenabkom- KALINER F. mens“. Juden im Warschauer Ghetto (1941): „Dieser Betrug – da tut mir das Herz weh“

58 der spiegel 38/1999 Offensichtlich entschied sich die BfA für einen anderen Weg der Konfliktbereini- gung: Sie änderte nachträglich die Rechts- auffassung. In einem Schreiben vom April 1989 „zur Vorlage bei israelischen Gerichten“ – Ak- tenzeichen 303 – 21/000.11 – verändert die BfA plötzlich die ursprünglichen Auflagen zur Verwendung des deutschen Renten- gelds. „Zwischenzeitlich hat die BfA ihre Rechtsauffassung geändert“, beschied die BfA einer Beschwerdeführerin im Au- gust 1991. Zwar sollte, wie bisher, „das verbleibende Drittel der laufenden Ren- te … an den Rentenempfänger gezahlt“ werden. Doch „dieser kann es auch zur Rückzahlung des Darlehens verwen- den“. BfA-Direktor Michaelis zum SPIE- GEL: „Was der Rentner mit seinem frei verfügbaren Drittel anfängt, ist seine Sache.“ Diese nachgeschobene Passage sei „ein- deutig nicht im wohlverstandenen Interes- se der Rentner“, beschwert sich Betroffe- nen-Vertreter Avrahami. Der BfA-Unterzeichner aller Ände- rungsanzeigen ist mittlerweile pensioniert und steht für Auskünfte nicht mehr zur Verfügung. Die Auffassung einzelner Mit- arbeiter interessierte die BfA in dieser Af- färe ohnehin nicht in jedem Fall. Reppenhagen erinnert sich, dass er bei seinen Besuchen in der BfA durchaus „Kri- tik, ja Ablehnung von zwei unteren Sach- bearbeitern“ zu hören bekommen habe. „Die maulten schon mal: ,Wie kann man die Gesetzeslage nur so schamlos ausnut- zen?‘“, erzählt er. Einige Beschwerden israelischer Rent- ner erreichten 1997 auch das Arbeitsminis- terium in Bonn, das die Dienstaufsicht über die BfA führt. Der damalige Minis- ter Norbert Blüm (CDU) antwortete Te’e- na Schutzer am 10. Februar 1998, dass „nach Mitteilung der BfA“ keine Einzel- heiten über eine Abtretung des frei ver- fügbaren Rentendrittels an Kreditgeber vorlägen. Eine kühne Behauptung, denn die BfA hatte sich seit 1988 mit diesem Problem zu befassen. Blüm in der vergan- genen Woche zum SPIEGEL: „Ich muss mich doch darauf verlassen können, was die BfA sagt.“ Er könne sich nicht daran erinnern, dass „das in meinem Haus mal ein Thema war“. Die deutsche Staatsanwaltschaft hat es abgelehnt, gegen die BfA zu ermitteln. Auch die BHF-Bank und ihr Ex-Direktor H. sind für die Staatsanwälte derzeit nicht von Interesse. Ein Verfahren wegen Betrugs steht nur in Israel bevor: gegen „Irgun“-Chef Perry. Dvora Reichert, das Perry-Opfer, ist mittlerweile 74 und nicht mehr bei aller- bester Gesundheit. Doch sie will durch- halten: „Ich will noch erleben, dass Perry ins Gefängnis kommt.“ Jürgen Hogrefe, Peter Wensierski

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KRIMINALITÄT „Wie in einem Nazi-Film“ Brutale Misshandlung Unschuldiger, Drogendeals im Dienst – Skandale plagen die Münchner Polizei. Fünf Ermittlern wird jetzt der Prozess gemacht.

en letzten Wies’n- Abend wollte Florian DHuth, 21, noch einmal richtig genießen. Gemeinsam mit seinem Bruder und vier Freunden setzte sich der Phy- sikstudent bei zünftiger Blas- musik ins „Augustiner“-Zelt auf der Münchner Theresien- wiese. Huth verzehrte ein Hendl und trank eine Maß Bier dazu, dann machte sich die Gruppe am 4. Oktober vorigen Jahres kurz vor Mit- ternacht auf den Heimweg. Am nächsten Tag fand sich Huth bei zwei Ärzten wieder. Der eine, Internist, stellte im Nacken „acht bis zehn Zen-

timeter lange, striemenförmi- SAUER J. ge Strangulationsspuren“, ein Polizeieinsatz bei der Wies’n (1998): „Halt dein Maul“ „kleines Hämatom“ an der linken Augenbraue, ein „cir- Mit der Anklage gegen die ca zwei Zentimeter großes vier Beamten und der Haupt- Hämatom“ am Schädel und verhandlung gegen einen eine „frische, blutig tingierte Fünften wegen Drogenhan- klaffende Perforation“ des dels, die diesen Montag be- linken Trommelfells fest. Der ginnt, erreicht die Skandal- andere, Hals-Nasen-Ohren- serie bei der Münchner Poli- Arzt, konstatierte, man kön- zei, die in den vergangenen ne „von Glück sagen, dass Monaten mehrfach auch das der Patient nicht größeren Parlament im Freistaat be- Schaden erlitten hat“. Denn: schäftigt hat, einen vorläufi-

„Bei solchen Torturen“ kom- EINBERGER / ARGUM T. FOTOS: gen Höhepunkt. me es „nicht selten zu Todes- Polizeiopfer Huth Innenminister Günther fällen“. Beckstein (CSU) hatte sich Die „erheblichen Folgeschäden einer wegen der Häufung gravierender Zwi- körperlichen Misshandlung“, die der Me- schenfälle im größten bayerischen Polizei- diziner diagnostizierte, stammen nicht präsidium eingeschaltet und einen Neun- etwa aus einer üblichen Wies’n-Schlägerei, Punkte-Katalog zur Reform der Münchner sondern nach Feststellung der Staatsan- Polizei vorgestellt. „Schwarze Schafe“, waltschaft München I von einem, der ge- kündigte Beckstein im Frühjahr an, „neh- rade solche Prügeleien verhindern müsste: men wir radikal in den Griff“ (SPIEGEL dem Polizeiobermeister Thomas W., 33. 13/1999). Der soll als Gruppenführer beim Okto- Der Fall der vier Wies’n-Polizisten ist berfest voriges Jahr Besucher zusammen- nun der erste, der als Exempel statuiert geschlagen und misshandelt haben. werden könnte. Die Vorwürfe, die Beamte Nun hat die Staatsanwaltschaft Anklage des Kommissariats für Amtsdelikte gegen gegen W. und drei weitere Beamte erho- ihre Kollegen zusammengetragen haben, ben. Sie wirft ihnen Körperverletzung im klingen kaum glaublich. Derart brutal soll Amt, Freiheitsberaubung, gefährliche Kör- demnach vor allem der Hauptbeschuldig- perverletzung und Verfolgung Unschuldi- te W. gegen zum Teil unschuldige Festbe- ger vor. Neben dem Hauptbeschuldigten sucher vorgegangen sein, dass sich eines W. sind dessen Stellvertreter Matthias S., der Opfer, ein Jurist, „wie in einem 34, sowie Bernd K., 30, und Sabine W., 32, schlechten Nazi-Film“ vorkam. angeklagt, die gemeinsam mit W. auf der Einem Skinhead, den er nach einer Wies’n-Wache dienten. Schlägerei „in Gewahrsam genommen“

62 der spiegel 38/1999 hatte, drohte W. den Ermittlun- Noch vor den Wies’n-Polizis- gen zufolge, er werde ihm gleich ten steht ab diesem Montag das Handgelenk „brechen, wenn ein Beamter der skandalge- du nicht deine Fresse hältst“. plagten Inspektion Ottobrunn Auf der Wache habe der Polizist vor Gericht. Die Staatsanwalt- dem Mann „mit dem Fuß in den schaft wirft Wolfgang R., 45, Magen“ getreten. Dann fesselte vor, im Bekannten- und Kolle- er laut Anklage das Opfer „an genkreis seit 1997 in größerem ein Gitter und hämmerte ihm Stil mit Kokain gedealt zu ha- mehrfach auf den Kopf“. Dabei ben. Die Übergabe des Rausch- habe W. gesagt, er „klopfe gern gifts habe „bis zur Suspendie- auf Glatzköpfe, weil die so rung des Angeschuldigten auf schön hohl klingen“. der Dienststelle in Ottobrunn Mit am schlimmsten erwisch- oder im Dienstfahrzeug“ statt- te es den Ermittlungen zufolge gefunden. Einmal habe R. so- den Studenten Huth. Nachdem gar „während einer Streifen- dieser bei einer Auseinander- fahrt eine handgroße Kokain- setzung vor einem Bierzelt Po- platte mit einem Gewicht von lizisten mit den Worten belei- 100 bis 125 Gramm“ mit sich ge- digt hatte „Die Scheißbullen führt, die er habe verkaufen denken, sie können sich alles wollen. erlauben, nur weil sie eine Uni- Der Beamte, der in einer Zi- form tragen“, wurde er zur Wa- vilen Einsatzgruppe arbeitete che abgeführt. Dort revanchier- und seit März in Untersu- te sich Gruppenführer W., so chungshaft sitzt, hat die Vor- die Anklage, für die Beschimp- würfe zum Teil gestanden. Beste fung. Verbindungen soll er zudem zu W. schubste Huth laut Er- einer Ottobrunner Tabledance- mittlungen „in die Rückenlage Bar gepflegt haben, wo er das zu Boden und trat mit einem Kokain den Ermittlungen zufol- festen Stiefel mit seinem vollen ge teilweise gelagert und wei- Körpergewicht auf dessen rech- tergegeben habe. te Halsseite“. Weiter heißt es in Münchner Oktoberfest: „Mit dem Fuß in den Magen“ Vorige Woche wurde das der Anklage: „Als der Zeuge Nachtlokal durchsucht, der frü- röchelte und den Angeschuldigten W. bat Sein Einsatz gegenüber einem Wies’n-Be- here Betreiber, ein Freund von R., verhaf- runterzugehen, da er keine Luft mehr sucher sei „allenfalls etwas hart gewesen“. tet. Ihm wirft die Staatsanwaltschaft Men- bekäme, antwortete ihm W.: ,Halt dein Die Opfer und ihre Vertreter betrachten schenhandel und gewerbsmäßiges Ein- Maul.‘ Anschließend verlor der Zeuge solche Äußerungen als Hohn. Dagegen sind schleusen von ausländischen Frauen vor. vorübergehend das Bewusstsein.“ sie voll des Lobes über die Aufklärungs- Von diesen Straftaten sollen R. und weite- Thomas W., inzwischen vom Dienst sus- bemühungen der Polizei. Die habe „nicht re Beamte der Inspektion Ottobrunn zum pendiert, und seine beiden Kollegen Mat- den geringsten Versuch unternommen, et- Teil gewusst haben; sie seien nicht einge- thias S. und Sabine W.– die zum Teil an den was unter den Teppich zu kehren“, staunt schritten und deswegen der Strafvereite- Misshandlungen beteiligt gewesen, zum Teil Huths Anwalt Bernhard Fricke, der mit ei- lung im Amt schuldig. nichts gegen sie unternommen haben sollen ner Anzeige im Oktober vorigen Jahres die Diese Vorwürfe, die R.s Anwalt Stephan – haben bislang zu den Vorwürfen ge- Ermittlungen ins Rollen gebracht hatte. Tschaidse bestreitet, prüft inzwischen eine schwiegen. Bernd K., dem gefährliche Kör- Auch der Hofer Rechtsanwalt Tim eigens gegründete „AG Zorro“ der Polizei perverletzung im Amt vorgeworfen wird, Schneider, der ein Opfer als Nebenkläger in einem gesonderten Verfahren. Das, so bestreitet die Anschuldigungen. Sein An- vertritt, lobt die Polizei.Allerdings habe die ein Insider, werde „der Öffentlichkeit noch walt Jochen Dieter Uher beteuert, K. habe Staatsanwaltschaft „schwer gebremst“ und viel Gesprächsstoff liefern“. sich „strafrechtlich nichts vorzuwerfen“. „versucht, das Verfahren klein zu machen“. Wolfgang Krach, Georg Mascolo Werbeseite

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STRAFJUSTIZ „Das war ein unlösbarer Konflikt“ Warum hat Monika Böttcher, geschiedene Weimar, ihren Ex-Mann zuerst gar nicht und dann umso schwerer belastet? Das Frankfurter Landgericht soll nun, nach 13 Jahren, den Mord an den Töchtern der beiden aufklären. Von Gisela Friedrichsen

hronologisch: Monika Böttcher, 41, geschiedene Weimar, wurde am 8. CJanuar 1988 in Fulda als Mörderin ihrer Töchter Melanie und Karola, sieben und fünf Jahre alt, zu lebenslanger Frei- heitsstrafe verurteilt. Als 1995 die Wieder- aufnahme des Verfahrens angeordnet wur- de, hatte sie mit der U-Haft neun Jahre verbüßt. Im April 1997 verkündete das Landgericht Gießen einen Freispruch, der keinen Bestand hatte. Der Fall war noch einmal zu verhandeln. Der Bundesge- richtshof verwies die Strafsache nach Frankfurt am Main, wo sich seit dem 2. September die 21. Große Strafkammer mit dem Tod der Kinder befasst. Heinrich Gehrke, 59,Vorsitzender dieser Kammer, gibt zu Beginn der nun dritten Hauptverhandlung eine Erklärung ab: Man werde sich bemühen, auf die schwierige Situation der Angeklagten Rücksicht zu nehmen, und sich auf das Wesentliche kon- zentrieren. Er sagt aber auch: „Für die For- derung, das Verfahren einzustellen, haben

wir kein Verständnis. Es geht um ein schwe- DPA FOTOS: res Verbrechen an zwei kleinen Kindern. Angeklagte Böttcher: „Ich hatte Probleme, von meinem Mann wegzukommen“ Da kann man nicht einfach das Handtuch werfen. Es gibt in unserer Vergangenheit Die Leitung der Hauptverhandlung, die ke. Unvergesslich seine Befragung des Zeu- weit länger zurückliegende Verbrechen, die Vernehmung des Angeklagten und die Auf- gen Hilmar Kopper, wie er ihn immer mehr aufgeklärt werden konnten.“ Gerade in nahme der Beweise, alles obliegt allein dem Kopper sein ließ, bis die „fast unfassbar Frankfurt. Vorsitzenden. Mancher genießt diese Macht. fahrlässige“ Haltung des Hauptkreditge- In Fulda hat die Angeklagte ausgesagt, Andere überfordert die Last, die diese Macht bers und der „unglaubliche Leichtsinn“ nicht zu ihrem Vorteil. In Gießen hat sie ge- auch ist. Ein Vorsitzender hat zu wissen, wel- der Banken überdeutlich war. schwiegen. Nun sagt sie wieder aus. che Verantwortung sie ihm auferlegt. Im Schneider-Prozess gab es keine Akte, Gehrke ist ein erfahrener die der Vorsitzende nicht im Kopf hatte. Er Vorsitzender Richter. Ihm wusste straff zu ordnen und einzuordnen, gelang es (nach der Aufhe- was in der Beweisaufnahme erarbeitet bung des ersten Urteils), wurde. Auch der Angeklagte begriff das die zweite Hauptverhand- schließlich und ließ von der Legende ab, er lung im so genannten Holz- sei nur unschuldiges Opfer der Banken. schutzmittel-Prozess mit Zu Beginn des Böttcher-Prozesses ergibt einem Kompromiss zu be- sich ein Bild von der Lebenssituation der enden. Für die Nebenklä- Angeklagten, als sie noch in einem osthes- ger wurde damit endlich sischen Weiler nahe der Grenze zur DDR der Weg zu Entschädigun- wohnte. Heirat mit 20, ein Jahr später das gen frei, da erst mit Ab- erste Kind. Sie gibt ihren Beruf als Kran- schluss des bereits zwölf kenpflegehelferin auf, um sich Haushalt Jahre andauernden Straf- und Kinderpflege zu widmen: „Ich wusste, verfahrens die ausgesetzten was auf mich zukam.“ Zivilprozesse wieder in Der Mann arbeitet als Kfz-Schlosser bei Gang kamen. Kali und Salz unter Tage, spielt Tennis und Auch den Prozess gegen geht mit seinen Kollegen ab und zu zum das Fabelwesen Jürgen Kegeln. Sie fühlt sich vernachlässigt, von Schneider, dem die Banken Haushalt und inzwischen zwei Kleinkin- weit über fünf Milliarden dern überfordert. „Sie hatten kein Interes- Verteidiger Maeffert, Strate: „Großes Risiko“ Mark liehen, leitete Gehr- se an den Sportarten?“, fragt der Vorsit-

66 der spiegel 38/1999 zende. „Es gab, als Ihr Mann seinen Hob- Leid getan.“ „Ich habe da meine Schwie- bys nachging, für Sie nichts Entsprechendes rigkeiten“, entgegnet der Vorsitzende. „Sie auf Frauenebene?“ Kein Kontakt mit an- planen mit Ihrem Freund die Zukunft und deren jungen Müttern? Nein, sagt sie: „Es haben zugleich Mitleid mit Ihrem Mann. war, es war – ja, wie soll ich es sagen? Ich Wie haben Sie ihn denn gesehen?“ „Ja, hatte damals die Einstellung, dass ich Kin- schon als einen Menschen, den man nicht der wollte und dafür sorgen musste.“ allein lassen kann.“ „Aber das ist doch ein In dem Haus, in dem die junge Familie unlösbarer Konflikt“, hält ihr der Vorsit- wohnte, lebte ausschließlich Monika Bött- zende vor, „ich kann nicht weggehen und chers Verwandtschaft: ihre Eltern, die gleichzeitig dableiben!“ „Es war aber so“, Großmutter, ihre beiden Schwestern samt sagt Monika Böttcher, „ich war in diesem Familie. „Sie waren dadurch doch unab- Konflikt.“ hängiger als so manche andere junge Mut- Die Angeklagte gab nach dem Tod der ter“, sagt der Vorsitzende, „Sie lebten von Kinder am 4. August 1986 an, sie seien am früher Jugend an in einer Gegend, wo je- Vormittag „verschwunden“.Am 7.August der jeden kennt. Hatten Sie keine Freun- werden die Mädchen erstickt und erwürgt dinnen?“ „Nein.“ gefunden, abgelegt zwischen Büschen und Sie habe dem Mann Vorwürfe gemacht, Brennnesseln an zwei Parkplätzen. sagt sie, erfolglos. Sie arbeitet wieder als Bis Ende August beteuert die Mutter, Krankenpflegehelferin im Nachtdienst und weder sie noch ihr Ehemann hätten etwas bringt währenddessen die Kinder bei ihrer mit dem Verbrechen zu tun. Sogar als sich Mutter unter. Der Mann gilt als ungeschickt herausstellt, dass sie falsche Angaben ge- mit Kindern. macht und die Ermittler in die Irre geführt Nach dem Tod von Vater Böttcher 1983 hat, hält sie daran fest. schließt sich die Angeklagte ihrer jünge- Noch am 28. August, als im Lauf einer ren, mit einem amerikanischen Soldaten Vernehmung ihre strafrechtliche Position verheirateten und mit vielen von dessen von der einer Zeugin in die einer Beschul- Kameraden befreundeten Schwester an. digten gerät, beschreibt sie, wie sie am Vor- Einige Zeit unterhält die Angeklagte eine mittag des 4. August mit den Kindern am intime Beziehung mit einem Arbeitskolle- Spielplatz sprach, ehe sie wegfuhr, um Be- gen ihres Ehemannes. Dann lernt sie im sorgungen zu erledigen. „Musikparadies“, einer Disco in Bad Hers- Am Abend des 28. August wird sie vor- feld, in der amerikanische Soldaten ver- läufig festgenommen.Am nächsten Tag be- kehren, Kevin Pratt kennen. schuldigt sie ihren Ehemann. Er habe die Sie denkt an Scheidung, an ein gemein- Kinder in der Nacht zum 4.August getötet. sames Kind mit Pratt. Der Amerikaner Der Vorsitzende: „Mit unglaublicher De- drängt sie zur Scheidung. Denn die Army tailfülle haben Sie bis dahin ein Bild aus- verbietet ihren Soldaten, sich mit ver- gemalt, das auch Ihr Mann zeichnet. Sie heirateten deutschen Frauen einzulassen. bleiben bei diesem Bild sogar, als es gegen Monika Böttcher unternimmt nichts. Der Sie geht. Und dann plötzlich dieser Wech- Ehemann will keine Scheidung. „Für ihn sel? War es die Erfahrung der Unterbrin- war unsere Ehe ja ganz normal.“ Es gung? War es der Umstand, dass Sie erst- gibt Streit zu Hause. Sie verkehrt weiter mals erlebten, selbst als Täterin angesehen mit Pratt. zu werden?“ „Ja, ich denke schon, ein „Ich denke, ich hatte schon Probleme, Stück mit, ja“, sagt sie verhalten. von meinem Mann wegzukommen“, sagt Gehrke fragt, wann sie den Entschluss sie vor Gericht, „teilweise hat er mir schon gefasst habe – unterstellt, die „Nachtversi- on“ entspricht der Wahr- heit –, ihren Mann zu decken und die Polizei zu täuschen. „Sie haben höchst aktiv daran mitge- wirkt, dass er als freier Mann davonkommt“, sagt der Vorsitzende und zählt ihre Aktivitäten auf. „Das war kein Entschluss“, sagt Monika Böttcher nach lan- ger Pause. „Ich hab es ein- fach weiterlaufen lassen.“ „Sie haben die Dinge nicht mechanisch laufen lassen“, widerspricht Gehr- ke. „Sie haben sich ent- schlossen, am 4. August vormittags Besorgungen zu machen und nicht zur Poli-

R. ROSICKA / RIRO zei zu gehen. Sie kommen Familie Weimar (1983): „Für ihn war die Ehe normal“ heim und starten eine

der spiegel 38/1999 67 Deutschland DPA AP Vorsitzender Richter Gehrke, Prozessakten: „Sie haben die Dinge nicht mechanisch laufen lassen“

Suchaktion. Sie befragen Nachbarn und chen versehen werden, zu erklären. Ich ist laut amtsärztlichem Attest krank, ist rei- Verwandte, Sie haben allen Leuten ein weiß, das ist schwierig. Aber das sind nun se- und vernehmungsunfähig. Ein Gefäl- Schauspiel geliefert, bei dem Sie, Monika mal die Fragen, die sich aufdrängen. Jetzt ligkeitsattest, erklärt die Verteidigung. Das Weimar, aktiv dabei waren. In fünf Ver- ist die Situation, das zu erklären.“ Gericht weist diese Unterstellung zurück. nehmungen erzählen Sie dann eine Story Die Verteidiger Gerhard Strate und Uwe „So ist es nun mal im deutschen Strafpro- mit unglaublichem Detailreichtum, die mit Maeffert bitten das Gericht um Zurück- zess“, sagt Gehrke, „nicht jedes Mittel zur dem Schutz Ihres Mannes gar nichts mehr haltung bei der Befragung. Schließlich sei Wahrheitssuche ist zulässig. Es gibt verbo- zu tun hat. Das geschieht nicht automa- die Verteidigung ein „großes Risiko“ ein- tene Vernehmungsmethoden und das tisch!“ Sie bleibt dabei: kein Entschluss. gegangen, als sie der Mandantin zur Aus- Zeugnisverweigerungsrecht. Ein Gericht Der Vorsitzende fragt, ob sie sich mit sage riet. „Das Gericht hat einen großen kann eine Person, der dieses Recht zusteht, ihrem Mann abgesprochen habe. „Beide Vertrauensvorschuss von uns“, sagt Strate. nicht zu einer Aussage drängen.“ Eltern wissen, dass die Kinder tot sind. Sie Der Vorsitzende erwidert: „Dass Ihre Man- Immer wieder heißt es, Reinhard Wei- wollen eine falsche Geschichte erzählen. dantin aussagt, ist ihre Entscheidung. Ich mar sei nie als Tatverdächtiger behandelt Das setzt ein Konzept voraus, wie man die verstehe das nicht als Vertrauensbeweis, worden. Doch als seine Frau am 29.August Sache darstellen will.“ Die Angeklagte sondern es ist die Wahrnehmung eines 1986 die „Nachtversion“ vorbrachte, wur- aber will weder einen Entschluss gefasst Rechts. Jeder Angeklagte hat das Recht, de er sofort festgenommen. noch eine Absprache mit ihrem Mann ge- seine Sicht der Dinge klarzulegen. Es Ein Haftbefehl gegen den Ehemann wur- troffen haben. „Es gab keine Gespräche? macht keinen Sinn zu Gunsten Ihrer Man- de abgelehnt, weil sich kein Anhalt für sei- Wie im Lotto?“ fragt der Vorsitzende. dantin, bestimmte Fragen nicht zu stellen.“ ne Täterschaft ergab. Beschwerden des Immer mehr Stellen treten blank zu Und wieder erzählt die Angeklagte von Staatsanwalts Sauter wiesen der Haftrich- Tage, die unter der Patina der Jahre und den Schuldgefühlen, ihren Mann betrogen ter, das Amtsgericht und schließlich das der unablässigen Wiederholungen des Im- und die Kinder allein gelassen zu haben. Landgericht Fulda zurück. Sauter er- mergleichen schon verschwunden schie- „Ich wollte nicht schon wieder die Böse krankte schwer und musste den Fall ab- nen. Wieder und wieder hält der Vorsit- sein, die ihn auch noch verrät“, sagt sie, geben. zende der Angeklagten vor, ohne einen „ich war für seine Familie das Letzte.“ Der Vier Verhandlungstage lang erklärte sich simplen und törichten Maßstab dafür an- Vorsitzende: „Deshalb haben Sie Ihren die Angeklagte. Am vergangenen Don- zulegen, wie sich eine Mutter in einer sol- Mann gedeckt? Ich versuche mir immer nerstag erschienen die ersten Zeugen, jene, chen Situation zu verhalten hat: dass sie ein Bild zu machen. Da ist eine Frau, ge- denen ein Zeugnisverweigerungsrecht zu- nichts zur Rettung ihrer Kinder unter- schockt und blockiert. Und da geht Ihnen steht: Die Verwandten Monika Böttchers nahm, als sie diese angeblich nachts tot im gleichzeitig ganz viel durch den Kopf?“ machten von ihrem Schweigerecht Ge- Kinderzimmer fand (ohne zu wissen, ob „Da kamen meine Schuldgefühle hoch“, brauch, auch die Mutter Weimars. sie wirklich tot sind), dass sie ihren Mann antwortet sie. „Als Sie unfähig waren, in Dann die erste Zeugin, die berichtet,Wei- die Leichen angeblich ungehindert weg- das Geschehen einzugreifen?“ „Ja.“ mars Schwägerin: dass sich die verstorbene bringen ließ, sich zu ihm ins Ehebett legte, Die „Nachtversion“ Monika Böttchers Urgroßmutter der Kinder heftigste Vor- am nächsten Morgen Besorgungen mach- hat sich in den 13 Jahren, die darüber ver- würfe machte, auf die Mädchen an jenem te und erst dann einen der Ablageorte auf- gangen sind, nicht geändert, sie ist nicht zu- Vormittag nicht aufgepasst zu haben, als die suchte, um eines der Kinder, es war Mela- gänglicher geworden. Nach wie vor zögert Angeklagte zu Post und Bank fuhr; dass sie nie, von ferne zu betrachten, bevor sie sich die Angeklagte mit ihren Antworten. Der den Kindern doch noch über den Kopf ge- wieder ins Auto setzte und heimfuhr. Vorsitzende: „Frau Böttcher, ist es so streichelt habe.Verteidiger Strate nennt die- „Frau Böttcher“, sagt der Vorsitzende, schwierig? Das sind doch Fragen, die Sie se Angaben ein „absolutes Novum“ und be- „Sie haben sich entschlossen zur Aussage. zigmal publiziert und erörtert haben.“ zweifelt die Erinnerung der Zeugin. Doch Sie haben jetzt die Möglichkeit, alle Punk- Die Verteidigung versuchte, Reinhard das „Novum“ steht im Urteil des Landge- te, die in der Öffentlichkeit mit Fragezei- Weimars Erscheinen zu erzwingen, doch er richts Gießen auf den Seiten 101/102. ™

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lenkte Ufos, ist allein die Sekte SEKTEN spezialisiert. Was Wunder dagegen, dass Von Engeln schon heute Fragen der Ibacher Friedhofsgestaltung die hell ge- wandeten und noch heller er- inspiriert leuchteten Mitbürger beim Be- such der Ratssitzung stark in- Im Schwarzwald tritt der skurrile teressieren. Schließlich ist ihnen in mannigfaltigen Offenbarun- Orden „Fiat Lux“ bei der gen ein hoher Beerdigungsbe- Kommunalwahl an. Nur noch ein darf angekündigt worden – Wunder kann den Einzug letztinstanzlich von ihrer Pro- in einen Gemeinderat verhindern. phetin Uriella alias Erika Bert- schinger-Eicke, bekannt aus m Übungskeller der Trachtenkapelle Funk, Fernsehen und dem Ibach blasen die Tuben Trübsal für Mannheimer Landgericht, wo IFrank Sinatras „final curtain“, da wen- sie 1998 wegen Steuerhinterzie- det sich ein Stockwerk höher auch der Ge- hung zu 22 Monaten auf Be- meinderat des Schwarzwalddorfes den währung verurteilt worden ist. letzten Dingen zu: Auf der Tagesordnung Nachdem der vorhergesagte steht die Friedhofsordnung. Einmarsch der Russen im Au- „Joooa“, stöhnt Bürgermeister Artur gust 1998 irgendwie ausgefallen Meiners, gepeinigt von der drögen Debat- ist und der Heiland stattdessen te im Rat und dem dumpfen Gedröhn des Uriella topexklusiv den Auf- heimischen Fanfarenzugs, da habe der Paul schub des dritten Weltkriegs schon Recht, dass wo polierte Grabsteine durchgekabelt hat, erwarten die in der Sonne gleißen, der ganze Friedhof Fiat-Lux-Jünger nun bis Ende am Ende arg herumglitzern würde. Aber 2000 das größte Massaker aller ob man in Ibach deswegen polierte Steine Zeiten. gleich verbieten soll? Und Bronzeorna- Vier Milliarden Menschen, mente, soll man die auch ablehnen? „Und bedauert Uriellas Ehemann Paul, wie schreibt sich eigentlich Bronze Icordo, bürgerlich Eberhard nach der neuen Rechtschreibung, weiter Bertschinger-Eicke, würden bei mit nz?“ der weltweiten Reinigung weg- Künftig wird Meiners in solchen Kern- geputzt, unter anderem von fragen deutscher Kommunalpolitik nicht Raumschiffen mit Hakenkreu- nur seine CDU und den Duden zu Rate zen. Die sind im Südpol ge- ziehen dürfen, sondern wohl auch den Hei- parkt, „der ja wie der Nordpol

land Jesus Christus, respektive dessen hohl ist“ (Icordo), und werden M. WEBER W. Sprachrohr auf Erden. Die Sekte „Fiat zum Armageddon-Einsatz star- „Fiat Lux“-Vormann Icordo: Durch Rohkost feinstofflich Lux“ („Es werde Licht“), mit 33 Jüngern in ten, sobald ein Meteorit in die Ibach zu Hause, tritt bei der Kommunal- Nordsee plumpst, der Dax gen null sackt te wähnt, fürchtet unnötige Irritationen. wahl am 24. Oktober mit einer eigenen Lis- und die Erde aus ihrer Achse kippt. Zum Beispiel bei der CDU. te an. Bei nur 304 Ibacher Wahlberechtig- Solche Glaubensaxiome will Icordo sei- Die kam in der mit 430 Einwohnern ten kann allenfalls noch ein Wunder den nen künftigen Ratskollegen allerdings nur kleinsten Gemeinde des Landkreises Einzug der wirren Christen ins achtköpfi- sehr behutsam aufdecken. Der Spitzen- Waldshut bisher traditionell auf 100 Pro- ge Dorfparlament verhindern, und auf Kandidat von Fiat Lux, der sich „hell- zent der Sitze. Schon genug für die Union, Wunder, eingeschlossen die Rettung vor fühlend“, „von Engeln inspiriert“ und im dass dieses Monopol verloren geht – da nahenden Weltgewittern durch fernge- Übrigen im Vollbesitz seiner geistigen Kräf- will Icordo die Partei nicht noch zusätzlich T. KLINK / ZEITENSPIEGEL T. W. M. WEBER W. Sektenpredigerin Uriella, Schwarzwalddorf Ibach: Raumschiffe mit Hakenkreuzen vom Südpol

mit seiner Erkenntnis reizen, „Denen geht’s allein um Zaster“, wettert benachbarten St. Blasien. Hilger hält die dass CDU-Landesvater Erwin Elektromeister Thomas Albiez. Seine größ- Ideologie von Fiat Lux für „gefährlich“. Teufel aus gutem Grund Teufel te Sorge: Die „Luxe“ könnten künftig im Und einem Kollegen sei bei hartnäckiger heißt und deshalb für wahre Gemeinderat auskiebitzen, wer in Ibach Recherche von einem „Lux“ der gröberen Christenmenschen unwählbar sein Haus verkaufen will, und einen Mond- Art sogar mal Prügel angedroht worden. ist. Auch auf eine Aufklärungs- preis dafür bieten – mit Geld, das laut Icor- Auch der Bauer Peter Gottstein ist auf kampagne zur metaphysischen do aus dem Vertrieb von Heilmitteln, aus die durch reine Rohkost „feinstofflich“ ver- Nützlichkeit der Gemeinen Stu- Hypotheken-Darlehen und „privaten Kre- edelten Bessermenschen nicht gut zu spre- benfliege will Icordo in der bäu- diten“ von Mitgliedern stammt. So könn- chen: Als er im vergangenen Jahr an einem erlich geprägten Gegend ver- te die Sekte ihren Einfluss ausweiten. Sonntag auf seinem Pachtland hinter dem zichten, in der man eher zum Ein bedrückender Gedanke für den pen- Sektenanwesen den Heuwender anwarf, Totschlagen der kleinen Brum- sionierten Lehrer Paul Mark, der von Icor- drohte ihm Icordo mit dem Strafgesetz- mer neigt. Er selbst lässt dage- do schon als „intolerabler“ Gemeinderat buch. Der Landwirt störe den Gottesdienst gen gern mal eine Fliege auf sei- ausgemacht wurde. Der Pädagoge vermisst samt Volltrance-Offenbarung vor hunder- ner Nasenwurzel verharren, bei den Fiat-Lux-Mitgliedern demokrati- ten von Anhängern. Das Heu, klagt Gott- weil sie „mit ihrem Rüssel über- sches Bewusstsein. Unter anderem ver- stein, sei ihm tags darauf verregnet. schüssige Energie absaugt“. zichten sie aus Überzeugung auf Fernse- Mit der Gesetzestreue der Sekte nimmt veredelt Icordos Hoffnung, mit dem hen, Radio und Zeitung, manche sind der- es Icordo, der sich aus seiner Zeit als Wechsel in die Politik nicht nur art auf ihre eigene Welt beschränkt, dass Manager bei Haarpflege-Firmen die Liebe den Naturschutz und den Tourismus per Anna-Maria Egenolf, immerhin Listenkan- zur feinen Föhnfrisur bewahrt hat, da- „göttlichen Geist“ zu fördern, sondern didatin Nummer acht, schon mal nicht so gegen nicht immer so genau. Zweimal auch die „Spannungen mit einigen wenigen recht weiß, ob sie gerade im Ortsteil Ober- hat der Orden in Ibach schwarz umgebaut, Ibachern“ abzubauen, entbehrt freilich jeg- oder Unteribach auf dem Friedhof steht. erst das Haupthaus, dann das Neben- licher Grundlage. „Am liebsten wär’s uns, Einer aber liest immerhin doch: „Der gebäude – beide Verstöße räumt Icordo die flögen morgen mit ihren Raumschiffen Icordo holt sich bei uns ab und zu eine mit freudiger Offenheit ein: „Im Zweifel ab“, lästert der Wirt des Hotels Hirschen, Zeitung“, berichtet Claus-Peter Hilger, Lo- bricht göttliches Recht immer weltliches Peter Kaiser. kalchef des „Schwarzwälder Boten“ im Recht.“ Jürgen Dahlkamp Werbeseite

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Werbeseite Deutschland RTC R. THUMSER Amphibienfahrzeug „Berge 1“ in der Elbe, Pilot Ketels: „Schon ein bisschen schonungsbedürftig“

ihm verbieten, ein Amphibienfahrzeug Für das, was Ketels hier bot, wird an- VERKEHR mit Kettenantrieb und der Aufschrift derswo sogar Eintritt genommen: In „Berge 1“ durch Flüsse zu steuern oder da- Deutschland finden sich zuweilen Milita- Strandbesuch mit vor Strandgaststätten zu parken. ria-Freunde zusammen, die mit Schützen- Dann aber machte der Gast einen panzern und zugeschweißten Flak-Rohren folgenschweren Fehler: Flinken Fußes Wochenend-Happenings veranstalten, als im Panzer gelangte er zu einer Sondertheke, wo an treffe sich der GTI-Club Oer-Erkenschwick diesem Abend „Dübelsbrücker Dunkel“ zur Mitgliederversammlung. Schreck in Hamburg: Ein Mann ausgeschenkt wurde, eine untergärige Bier- Thomas Ketels ist anders. Unverhofft spezialität aus dem Norddeutschen. kam in seinem Leben der Tag, an dem er tauchte mit einem Ketels brauchte davon gleich zwei. Nun die seltenen Automobile auf einem Ge- Amphibienfahrzeug aus der Elbe hatte er allerdings schon vor Reiseantritt lände im norddeutschen Rendsburg ent- auf, fuhr zu einer Kneipe im Jachthafen Teufelsbrück, wo „Berge 1“ deckte und bei sich dachte: „Da muss und trank ein paar Bier zu viel. seine Heimat hat, zwei Pilsener einge- man doch irgendwas mit machen.“ Seine nommen, und auf dem Rückweg geschah Nachforschungen ergaben: Man kann ie „Strandperle“, eine beschauliche es dann: „Berge 1“ fuhr auf der verkehrten wirklich alles damit machen. Bojen ber- Gaststätte am Ufer der Elbe, gilt Seite an einem Elbbagger vorbei, oben- gen beispielsweise, Ölsperren legen, „und Ddem Hamburger Bürger als Ort des drein war die Beleuchtung außer Betrieb – in Krisengebiete kann man sie auch Friedens. Hier sinkt er, wenn in seiner Stadt der Geisterfahrer wurde von Wachtmeis- schicken“. Sommer ist, in den Sand, trinkt Pilsener- tern zu Wasser gesichtet und musste pus- Für solche Tätigkeiten gibt es immer Be- Bier und guckt den Schiffen nach. Und Tag ten: 1,02 Promille. darf, deshalb bietet Ketels seinen Fuhrpark um Tag schwappt das Wasser müde an den Nun hat die Stadt, von den üblichen De- jetzt zum Verkauf („Rechnen Sie mal mit Strand. likten auf Kiez, Babystrich und Drogen- 100000 Mark das Stück“) oder zur Miete Am Dienstag vergangener Woche geriet meile eher gelangweilt, einen neuen Auf- an. Bei dem neu eröffneten Geschäftszweig der Fluss jedoch unversehens in Bewegung. reger: Ermittlung wegen Trunkenheit im handelt es sich offenkundig um eine Inves- Eine mächtige Bugwelle brandete abends Schiffsverkehr. Und Teufelsbrück wird zur tition in die Zukunft, denn allein die Haft- gegen acht Uhr Richtung „Strandperle“, Pilgerstätte des hanseatischen Ausflugs- pflichtversicherung für ein Stück kostet pro und dann war es so ähnlich wie damals bei verkehrs. Woche rund 400 Mark. der Landung in der Normandie: Aus dem Den spektakulären Zwischenfall ver- Schweineteuer, findet auch Ketels, aber Elbwasser stieg ein tarngrünes Panzerge- dankt das Publikum dem Niedergang der berechtigt, denn: Die Dinger sind gefähr- fährt auf, Gleitketten gruben sich durch Nationalen Volksarmee. Aus deren Be- lich. „Wenn der auf der Elbe mal ’nen die Uferbefestigung, dann heulte der Mo- ständen sind im Lauf der Jahre für 1,4 Mil- Motoraussetzer hat und treibt irgend- tor auf, und schließlich kam das Monster, liarden Mark 767 Flugzeuge und Hub- wo gegen, dann läuft der Wecker ohne keine drei Meter vom Ausschank entfernt, schrauber, 12 228 gepanzerte Fahrzeuge, Ende.“ Mit anderen Worten: Er lässt nicht zum Stillstand. 11 Meter lang, 3,40 breit, 17 2199 Kanonen, Haubitzen, Mörser und Ra- jeden ans Steuer, denn auch ein ketten- Tonnen schwer. Krieg? ketenwerfer sowie 208 Schiffe und Boote bewehrtes Amphibienfahrzeug braucht die Es dauerte doch ein paar Sekunden, bis vernichtet oder verwertet worden. 345,1 zarte Hand: „Es ist schon ein bisschen klar war, dass der Pilot in friedlicher Mis- Millionen Mark flossen aus Material- schonungsbedürftig.“ sion unterwegs war. Erst öffnete er die verkäufen zurück in die Staatskasse. Jammerschade, würde Ketels durch den Luke, dann trat ein Herr mit grauem Haupt Ein Teil davon stammt aus dem Vermö- kleinen Zwischenfall nun seinen Sport- ins Dämmerlicht, blickte auf die Gemein- gen von Thomas Ketels: Der Geschäfts- bootführerschein verlieren. Seine Panzer de und tat schließlich kund: „Ich brauch ’n führer einer Hamburger Spedition hat sind ihm nämlich schon irgendwie ans Herz Bier!“ nämlich gleich sechs Exemplare jenes Ket- gewachsen – wenngleich das in ganz und Bis zu diesem Moment befand sich Tho- tenfahrzeugs erstanden, das er vor dem gar friedliebendem Geiste schlägt: Ketels mas Ketels, 50, voll und ganz im Einklang elbnahen Ausflugsidyll so vollendet zur hat nie gedient, „ich war nur bei der Frei- mit dem Gesetz. Nichts nämlich könnte Vorführung brachte. willigen Feuerwehr“. Matthias Geyer

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Werbeseite XII. Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR: 1. Die Ära Ulbricht (37/1999); 2. Die Ära Honecker (38/1999) + u.); FOTOS: M. ENGLER / BILDERBERG / DER SPIEGEL (li. o.); JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO (li. u.); R. MEISEL / PLUS 49 / VISUM (re. o. o. (li. u.); R. MEISEL / PLUS 49 VISUM (re. PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA M. ENGLER / BILDERBERG DER SPIEGEL (li. o.); FOTOS: Mauer am Brandenburger Tor (1986); SED-Generalsekretär Honecker (1981); Betriebskampfgruppen (1984); Kinderkrippen-Ausflug (1978)

Das Jahrhundert des geteilten Deutschland – 40 Jahre DDR Die Ära Honecker Mehr Konsum und bessere Sozialleistungen festigten nach 1971 die SED-Herrschaft. Doch auf Pump finanziert, brachten sie die DDR bald an den Rand des Bankrotts. Die Mauer blieb das Sinnbild ihres Scheiterns. Als sie löchrig wurde, liefen die Menschen in Scharen davon – oder begehrten gegen die SED auf.

der spiegel 38/1999 79 Das Jahrhundert des geteilten Deutschland: Die Ära Honecker Spiegel des 20. Jahrhunderts

Mai-Parade mit Porträts der SED-Polit-Prominenz (1987 in Ost-Berlin)*: Durch die Geschichte unangreifbar legitimiert? Der leise Terror der späten Jahre Die gescheiterte Versorgungsdiktatur DDR / Von Hans Michael Kloth er hagere junge Mann trägt nur der Mauer im Kopf.“ Aus dem Fenster ragt feld verwandelt wurden. Die Kreuzabnah- Turnschuhe und einen Lenden- eine Fahne, auf ihr steht in großen Lettern: me übernehmen Männer in Zivil. Der De- Dschurz. Mit ausgebreiteten Armen „25 Jahre sind genug.“ monstrant auf dem Sims wird aus dem hält er sich auf dem Mauersims vor dem Es ist der 13. August 1986. Das Golgatha Fenster in das Dunkel der leer stehenden geöffneten Fenster im dritten Stock des Kalten Krieges liegt im Ost-Berliner Wohnung gezerrt, die Treppe hinunter- des heruntergekommenen Altbaus. Män- Stadtbezirk Prenzlauer Berg, Oderberger gestoßen und in einem unmarkierten Wa- ner der Feuerwache gleich nebenan haben Straße. Auf den Tag genau seit einem Vier- gen weggeschafft. ein Sprungtuch aufgespannt, um den of- teljahrhundert verwandelt eine trostlose Die Mauer ist das Symbol des Versagens fenbar Lebensmüden aufzufangen. Grenze die Straße in der Mitte der Stadt in des Sozialismus. Das perverse Bauwerk Doch Reinhard Lampe will gar nicht eine öde Sackgasse am Ende der erlaubten hatte 1961 die Fluchtströme aus der DDR springen. Müde ist der 31-jährige Vikar nur Welt. Von seinem Fenstersims kann Lam- stoppen und so dem SED-Staat, der nach des Lebens in dem Staat, dessen Feuer- pe die Bauten des Wedding sehen; er hört kaum zwölf Jahren schon am Ende wehrleute ihn vor einem eigenmächtigen auf der anderen Seite der Mauer West-Ber- schien, eine Atempause verschaffen sollen. Exitus bewahren wollen. Mit Ketten hat liner Busse über die Bernauer Straße rum- Funktionäre, aber auch Intellektuelle hat- sich Lampe an den Rahmen geschlagen, peln, deren Vorderhäuser im Namen des ten die gewaltsame Abschottung als „Not- das Fensterkreuz in seinem Rücken gibt Sozialismus geschleift und in freies Schuss- wehr“ gegen „Abwerbungen“ aus dem ihm die Anmutung eines Gekreuzigten. Westen gerechtfertigt. Sobald sich die DDR An der Fassade neben ihm hängt ein wirtschaftlich stabilisiert habe, hatten sie * Hermann Axen, Werner Krolikowski, Horst Sinder- großes Transparent wie eine überdimen- mann, ,Willi Stoph, Hans-Joachim Böh- argumentiert, werde die Mauer überflüssig sionierte Kreuzinschrift: „Jesus stirbt an me, Werner Eberlein. werden, die DDR gar Menschen anziehen.

80 der spiegel 38/1999 chen die Menschen weiterhin, ihr unge- Beatmusik wurde zugelassen, sogar impe- liebtes Land zu verlassen. rialistische „Nietenhosen“ ließ man im- Auf jene, die den direkten Weg über die portieren. Westfernsehen, unter Ulbricht Mauer suchen, lässt die SED „schießen wie noch für Gefängnis gut, enttabuisierte auf Hasen“, so 1976 ARD-Korrespondent „Honi“ mit der beiläufigen Bemerkung, Lothar Loewe, der für diese unbequeme das könne man „bei uns jederzeit nach Be- Wahrheit prompt des Landes verwiesen lieben ein- oder ausschalten“. wird. Dennoch wagen es zehntausende. Bis Unter Honecker schwelgte Ost-Berlin zum Mauerfall sterben, nach heutigem 1973 gar in einer Art realsozialistischem Wissen, mindestens 943 Menschen beim „Sommer der Liebe“. Anlässlich der „X. Versuch, die grausame Grenze zu über- Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ winden – im Schnitt etwa alle zehn Tage überschwemmte junges Volk aus aller Her- ein Toter, 28 Jahre lang. ren Länder und allen Winkeln der DDR Der Wunsch der Menschen nach Freizü- die halbierte Hauptstadt. Alles schien auf gigkeit bleibt der wunde Punkt des SED- einmal möglich. Knutschende Paare im Regimes. 1984 hat das Politbüro in einem Treptower Park blieben unbehelligt, die Befreiungsschlag fast 35000 „Nörgler“ aus Prüderie der Ulbricht-Ära schien passé. dem Land gelassen, um Druck aus dem Langhaarige, die unter Honeckers Vorgän- Dampfkessel DDR zu nehmen. 1983 waren ger noch auf der Polizeiwache zwangsbar- es weniger als 8000 gewesen. Doch statt biert worden wären, klampften bis spät als Ventil hat die Massenausreise im Um- nachts unter dem Fernsehturm auf dem fang einer Kleinstadt als Signal gewirkt: Es Alex, ohne dass „dekadente“ Musikstile ist möglich, rauszukommen! oder freche Liedertexte Anstoß erregten. Die Zahl der Antragsteller steigt nun erst Tagsüber belebten diskutierende Men- recht. 1985 stapeln sich bei den Räten der schentrauben den öden Platz im Stadtzen- Kreise und Bezirke der DDR 53000 „An- trum, angeregt durch Flugblätter, die west- träge auf ständige Ausreise“, 1986 werden es liche Gruppen ungestört verteilen durften. 78600 sein, 1987 erstmals über 100000. Der Ein Hauch von Woodstock und von Prag SED bleibt weiterhin nur eins: abschotten – 68 lag in diesen Tagen über Ost-Berlin, der und hoffen, dass der Kes- sel hält. Im Januar 1989 wird Honecker seinen Untertanen erklären, die Mauer werde „auch in 50 oder auch in 100 Jah- ren noch bestehen blei- ben, wenn die dazu vor- handenen Gründe noch

JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA nicht beseitigt sind“. Dabei hatte die Ära Doch ein Vierteljahrhundert später steht Honecker so viel ver- die Mauer immer noch. Während Vikar sprechend begonnen. Lampe verhaftet wird, nimmt zwei Kilo- Im Mai 1971 war der meter entfernt in der Karl-Marx-Allee zeitweilige Landarbeiter Erich Honecker die Militärparade zur Fei- und Dachdeckerlehr- er des 25. Jahrestags der Errichtung des ling Honecker dank „antifaschistischen Schutzwalls“ ab. Als Rückendeckung der So- ZK-Sekretär für Sicherheit hatte Honecker wjets in einer Palast-

1961 für den Mauerbau or- revolte gegen Walter Ul- DPA ganisiert. Seit 1971 ist er selbst als Erster bricht an die Parteispit- Gescheiterter Fluchtversuch*: Alle zehn Tage ein Toter Sekretär der SED auch der erste Mann im ze gekommen. Staat. Weihevoll winkt der vom Volk Un- Der neue Mann galt in Ost wie West als Mehltau der Stalin-Ära schien endlich ab- gewählte mit dem spießigen Rentnerhüt- unbeschriebenes Blatt – seltsam genug, zufallen. Viele DDR-Jugendliche erlebten chen und der stets heiseren Fistelstimme denn Honecker hatte immer im inneren Honeckers Welt-Spiel „regelrecht als Kul- den Marschkolonnen der Grenztruppen Kreis der Macht gestanden. Der Mauerbau- turbruch“, so der Historiker Stefan Wolle, zu, die wie Marionetten in gewienerten Planer von 1961 und der spätstalinistische selbst ein Kind dieser Generation. Knobelbechern im preußischen Stech- Scharfmacher, der 1965 „schädliche Ten- Doch die plötzliche Weltläufigkeit war schritt an der Tribüne vorbeiziehen. denzen“ im Kulturbetrieb gegeißelt hatte: Fassade, die liberale Atmosphäre bis ins Auch der Bergarbeitersohn aus dem vergessen. In der DDR wie andernorts war Letzte inszeniert, organisiert und kontrol- saarländischen Neunkirchen, der seit sei- man 1971 bereit, dem „jungen Mann“ von liert. Neben 19800 uniformierten Vopos si- nem 18. Lebensjahr hauptamtlicher KP- 58 Jahren eine Chance zu geben. cherten 4260 hauptamtliche -Leute, Funktionär ist, hat es bislang nicht ver- Und Honecker nutzte die wohlwollende 1500 dem MfS unterstellte Polizisten und mocht, den eigenen Bürgern den Sozialis- Grundstimmung mit kleinen, aber wirk- mehrere tausend FDJler im Dienste von mus in seiner real existierenden Variante samen Signalen, die einen bei der SED bis- schmackhaft zu machen. In Massen versu- her ungewohnten Pragmatismus zeigten. * Am 8. April 1989 am Übergang Berlin-Chausseestraße. „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ Erich Honecker im August 1989

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MfS und Innenministerium die sondern in einer Weltsicht Feier mit dem Klassenfeind. In gründete, die jede Perfidie blaue FDJ-Blusen gesteckte Eli- im Namen der zum politi- tesoldaten des MfS-Wachregi- schen Programm erhobe- ments „Feliks Dzierzynski“ be- nen Zwangsbeglückung der setzten in Kompaniestärke Säle, Menschheit rechtfertigte. um Ost-Bürger von unliebsamen Die Staatsdoktrin der West-Rednern fern zu halten. DDR besaß so alle Züge ei- In einem vorbeugenden ner weltlichen Religion, als Großreinemachen waren schon deren irdischer Sachwalter in den sechs Monaten zuvor un- Honecker, wie Ulbricht vor bequeme Menschen in der ihm, zunehmend auch ge- ganzen DDR regelrecht einge- genüber den Sowjets auftrat. sammelt worden. Über 900 an- Als Michail Gorbatschow gebliche „kriminelle Gruppen“ den Kommunismus ab 1985 mit mehr als 5000 Mitgliedern zu reformieren versuchte, wurden „aufgelöst“, gegen 2293 brandmarkte ihn Honecker Personen Haftstrafen „ange- als Häretiker. wandt“, über 2000 in psychi- Weltjugendspiele 1973 in Ost-Berlin: Ein Hauch von Woodstock Da hatte die Altherren- atrische Einrichtungen, Jugend- riege des Politbüros (Durch- werkhöfe oder Heime eingewiesen. Allein im Mai 1945 als Maxime ausgegeben, „aber schnittsalter 1989: 67 Jahre) sich längst in im Monat vor Festivalbeginn leiteten die wir müssen alles in der Hand behalten.“ ihrem Gedankengebäude eingemauert. „Organe“ 2720 Ermittlungsverfahren we- Während Ulbricht Anfang der fünfziger Gleichzeitig gerieten die Hilfskonstruktio- gen „Gefährdung der öffentlichen Ord- Jahre offen mit der „Unterdrückung der nen, mit denen sie ihr Wolkenkuckucksheim nung“ ein – mehr als im gesamten Vorjahr, volksfeindlichen Kräfte“ gedroht hatte, ideell zu stützen suchten, unter immer fast 90 am Tag. Über 5000 Personen wur- setzte Honecker 20 Jahre später lieber von größeren Druck. den mit „staatlichen Kontrollmaßnahmen“ vornherein auf subtile Mechanismen der Der Antifaschismus, lange zugkräftigstes belegt, mit fast 20000 zwecks Einschüch- Kontrolle und Überwachung, Einschüchte- Argument der SED für ihren Staat, verlor terung „Gespräche“ geführt. rung und Unterdrückung. immer mehr an Überzeugungskraft – auch Was den Feiernden vorkam, als werde So blieb die DDR ungeachtet der freund- ohne dass die Bevölkerung wusste, dass im ein Fenster zu mehr Freiheit aufgestoßen, licheren Fassade auch unter dem neuen SED-Zentralkomitee noch Mitte der acht- markierte so in Wahrheit den Durchbruch Mann, was sie von Anbeginn gewesen war: ziger Jahre 13 einstige NSDAP-Mitglieder zum schrankenlosen Überwachungsstaat. eine stalinistisch geprägte Diktatur. saßen (darunter drei Minister und der Be- Spiegel des 20. Jahrhunderts Mit den Weltjugendspielen lieferten Ho- Deren Raison d’être war eine zur Staats- zirkssekretär von Rostock). „Faschos“ und necker und sein Mann fürs Grobe, der im doktrin erhobene Ideologie: die vom Be- Skins tauchten in den achtziger Jahren Windschatten des Saarländers ins Politbüro rufsrevolutionär Lenin radikalisierte Marx- auch in der DDR als Phänomen der Ju- aufgestiegene Erich Mielke, ihr Gesellen- sche Lehre vom gesetzmäßigen Fort- gendkultur auf, und oft waren es desillu- stück für jenen leisen Terror, der die spä- schreiten einer durch Klassenkämpfe ge- sionierte Kinder der Nomenklatura, die ten Jahre der DDR prägen sollte. prägten Geschichte hin zum paradiesischen diesen größten aller Tabubrüche begingen. Honecker perfektionierte in seiner Endzustand, dem Kommunismus. Honecker fiel es zu, die DDR neu zu er- Amtszeit das zynische Politikverständnis Trotz seines zynischen Gebarens war finden, ohne wirklich etwas zu verändern. seines politischen Ziehvaters Ulbricht: „Es das SED-Regime keine Despotie ohne Wer- Dem künstlichen Gebilde, in dem der „So- muss demokratisch aussehen“, hatte der te, sondern eine Weltanschauungsdiktatur. zialismus in einem halben Land“ geprobt Honecker und die anderen Altkommunis- wurde, eine tragfähige Identität zu geben, * Beim Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt in ten waren Gläubige, deren skrupelloser war keine leichte Aufgabe. Nationale Al- Güstrow im Dezember 1981. Machtwille nicht zuerst Selbstzweck war, leingänge waren ausgeschlossen: Ulbricht IMO / XXP DER SPIEGEL DDR-Sicherheitskräfte im Einsatz*: Stalinistisch geprägtes Staatswesen

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hatten die Sowjets fallen gelas- Deren allzu offene Missach- sen, weil sie ihm diese zutrauten. tung musste sie fortan vermeiden. Honecker hielt sich an die von Ausreisewillige, die öffentlich pro- Moskau streng angemahnte Ab- testierten, wurden nun meist grenzung. Die „ganze deutsche schnell abgeschoben, die grausa- Nation“ wurde aus der Verfas- men Selbstschussanlagen, die sung gestrichen, der Text der Honecker seit 1971 an der Gren- DDR-Hymne („Deutschland, ei- ze hatte anbringen lassen, ab 1983 nig Vaterland“) durfte nicht mehr nach und nach abgebaut. gesungen werden. Die Existenz solcher Tötungs- Doch auch der Versuch, die automaten hatte Honecker hart- DDR zur „sozialistischen deut- näckig geleugnet, bis 1976 der schen Nation“ aufzuwerten, freigekaufte Ex-DDR-Häftling schöpfte bald wieder aus dem Michael Gartenschläger in einer Fundus der gesamtdeutschen tollkühnen Aktion ein Gerät ab- Historie. Einst verfemte Großge- baute und der Öffentlichkeit prä-

stalten der deutschen Geschichte FOCUS / AGENTUR HOEPKER / MAGNUM T. sentierte. Der desavouierte Dik- wurden nun für den Sozialismus Ausbürgerungsopfer Biermann (1975) tator rächte sich auf seine Weise: reklamiert: zuerst Friedrich der Politisches Erdbeben verursacht Er ließ Gartenschläger an der Große, dessen 1950 entferntes Grenze beim schleswig-holstei- Denkmal 1980 wieder Unter den Linden, in Führer der Gedanke, in den Augen der nischen Büchen in eine Falle locken und Sichtweite des ZK-Gebäudes, aufgestellt Welt nur ein pseudosouveränes Homeland von einem Spezialkommando des MfS aus wurde; dann, im Lutherjahr 1983, der Wit- zu regieren, eine Art sowjetisches Bophu- dem Hinterhalt erschießen. tenberger Reformator, bis dahin als früh- thatswana. Selbst nachdem Honecker in Aber auch aus der eigenen Be- bürgerlicher Gegenspieler des Bauernfüh- Bonn empfangen worden war und sogar völkerung wurden der rers Thomas Müntzer eher verpönt. die Springer-Presse es aufgegeben hatte, SED-Führung die von Jenen, denen sie galten, nötigten diese die DDR in Anführungszeichen zu setzen, ihr unterzeichneten ideologischen Klimmzüge bestenfalls sar- blieb deren Politbürokratie von chroni- internationalen Ab- kastische Kommentare ab. „Lieber Fried- scher Statusangst geplagt. kommen vorgehal- rich, steig hernieder / Regiere deine Deut- Es war dieser Hunger nach Anerken- ten – voran die Hel- schen wieder“, frotzelten die Ost-Berliner nung, der die DDR in ein für sie letztlich sinki-Schlussakte, angesichts der Rückkehr des Alten Fritz, fatales Dilemma brachte. Denn ihn zu stil- die auch das Recht

Spiegel des 20. Jahrhunderts „Lass in diesen schweren Zeiten / Lieber len bedeutete zugleich, am eigentlichen auf Freizügigkeit pro- den Erich oben reiten.“ Fundament der DDR zu nagen: dem Prin- klamierte. Seit Mitte Doch die Akzeptanz durch die eigene zip der Abgrenzung, welches sich am bru- der siebziger Jahre Bevölkerung war den Kommunisten oh- talsten in Gestalt der schwer befestigten machten oppositionel- Oppositions-Logo nehin unwichtig. Sie fühlten sich durch die „Staatsgrenze West“ manifestierte. le „Helsinki-Gruppen“, Geschichte unangreifbar legitimiert, ein Der deutsch-deutsche Grundlagenver- die für mehr Bürgerrechte eintraten, „Fakt“, den sie lediglich Uneinsichtigen trag von 1972 und die folgenden Reiseer- Honecker das Leben schwer; mit der un- eintrichtern zu müssen meinten. leichterungen, die Aufnahme in die Uno abhängigen Friedensbewegung bildeten sie Viel mehr sorgte sich das Politbüro um 1973 und vor allem die Unterzeichnung schließlich die Keimzelle jener Bewegung, internationale Anerkennung. Nichts brach- der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 die 20 Jahre später die SED stürzte. te den eitlen Staatschef Honecker und sei- brachten der Honecker-DDR zwar außen- Die so entstandene Einschränkung ih- ne Genossen so um den Schlaf wie das politisches Prestige ein. Sie erkannte da- res politischen Spielraums versuchten die Teilstaatstrauma. Angesichts ihrer Abhän- mit aber auch erstmals für sie gefährliche seit Stalin an Allmacht gewöhnten Kom- gigkeit von den Sowjets und der Ächtung völkerrechtliche Normen und zivilgesell- munisten durch weiteren Ausbau ihres durch die Bundesrepublik quälte die SED- schaftliche Standards an. Kontroll- und Unterdrückungsapparats auf- zufangen. Unter Honecker wuchs die Zahl der MfS-Hauptamtlichen von 52700 (1973) auf 91000 (1989). Die Zahl der Inoffiziellen Mitarbeiter explodierte bereits bis 1975 auf mindestens 180 000; noch 1968 waren es „nur“ 100 000 gewesen. Alles wollte die SED wissen, alles steuern; der perverse Höhepunkt ihrer Planbarkeitsideologie war der Versuch der umfassenden Mani- pulation des Menschen. Und dennoch glich die DDR mehr und mehr Jonathan Swifts Gulliver: ein gefes- selter Scheinriese, zunehmend unfähig, sich angesichts seiner Verstrickungen aufzu- rappeln. Statt eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, den der kurze Frühling bei den tschechischen Nachbarn keine drei Jahre vor Beginn der Honecker- Ära verheißen hatte, herrschte seit spätes-

SED-Obere Honecker, Mielke (l.) im Manöver Nationale Alleingänge ausgeschlossen Werbeseite

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wicklungstempos der sozialistischen Pro- duktion“ zur „Hauptaufgabe“ erhob. Dahinter stand Honeckers Hoffnung, materielle Zufriedenheit werde die Ar- beitsproduktivität dermaßen steigern, dass die hohen Kosten des kommunistischen Konsumbooms wieder in die Kasse kämen. Der neunmalkluge Plan sah außerdem vor, teure Technologieimporte in der ersten Hälfte der siebziger Jahre dann in der zweiten Hälfte durch Ausfuhr weltmarkt- fähiger Produkte wieder einzuspielen. Die Rechnung ging nicht auf; zu viel Geld wurde für den Konsum abgezweigt, um das Volk ruhig zu halten. Die Ver- bindlichkeiten der DDR gegenüber der eigenen Staatsbank verzehnfachten sich unter Honecker auf 123 Milliarden; die Auslandsschulden stiegen gar um das 25-

F. BLICKLE / BILDERBERG XXP F. fache: von 2 Milliarden Westmark im Jahr DDR-Luxusgüter (1988 in Eisenhüttenstadt): Organisierte Volksbestechung vor Honeckers Amtsantritt auf fast 50 Mil- liarden bei dessen erzwungenem Abgang tens Anfang der achtziger Jahre auch in Seinen einstigen Biss verlor das kom- 1989. der DDR ein „Stalinismus mit ausgeschla- munistische System gleichwohl weniger Seit der zweiten Hälfte der siebziger genen Zähnen“, wie der polnische Dissi- durch gezielte Schläge seiner Gegner: der Jahre hangelte die DDR sich permanent dent Adam Michnik den siechen Spätso- zu mehr als Nadelstichen kaum fähigen am Abgrund des Staatsbankrotts entlang. zialismus in seinem Land einmal nannte. Opposition oder des Klassenfeindes im Allein Devisenströme aus der Bundesre- Die Zäsur zeichnete sich 1976 ab. In das Westen, der die SED-Diktatur eher gleich- publik bewahrten sie vor dem Offenba- Jahr eins nach Helsinki fiel die tragische gültig betrachtete. Der DDR-Sozialismus rungseid: Transitpauschale und Zwangs- Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brü- stolperte über seine eigenen Füße. umtausch (zusammen eine Milliarde Mark sewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz; Das galt vor allem für die Ökonomie. pro Jahr), großzügige Häftlingsfreikäufe ein Fanal gegen die allgegenwärtige Be- Die plangläubige administrative Komman- (rund 3,4 Milliarden insgesamt, im Mittel

Spiegel des 20. Jahrhunderts vormundung, dessen Schockwellen noch dowirtschaft erwies sich unter Honecker 100000 Mark pro Kopf) oder ein dauernd lange durch Staat und Kirche rollten. Die endgültig als unfähig, die nötigen Mittel eingeräumter zinsloser Überziehungskre- SED hatte versucht, die Tat totzuschwei- für die lange Liste der Zuckerli zu er- dit („Swing“) von zuletzt 850 Millionen. gen; als das nicht gelang, denunzierte sie wirtschaften, die der neue den Pastor post mortem als „abnormal“ Parteichef seinen Landes- und „Selbstentblößer“. kindern zugedacht hatte. Und noch im gleichen Jahr beging die Die „volkseigenen“ Betrie- SED ihren wohl größten taktischen Fehler. be wirtschafteten weiterhin Im November 1976 verweigerte sie dem re- unproduktiv, mit einer tech- formkommunistischen Bänkelsänger Wolf nischen Ausstattung, die Biermann nach einem Konzert in Köln die oft aus der Vorkriegszeit Rückkehr und bürgerte ihn, den Sohn ei- stammte. Die letzten priva- nes jüdischen KZ-Opfers, kurzerhand nach ten Industrie- und Baube- NS-Manier aus. Das Resultat war ein poli- triebe, die vergleichsweise tisches Erdbeben in der DDR, welches den rentabel arbeiteten, ließ endgültigen Bruch zwischen den kritischen Honecker 1972 verstaatli- Intellektuellen und der Partei brachte. Seit chen – aus Prinzip. Biermann kam die DDR nie mehr ganz Dennoch brachten die

zur Ruhe. ersten Jahre unter Ho- / OSTKREUZ H. HAUSWALD Auch der Versuch, die Anfang der acht- necker höhere Löhne, Gebäude in Ost-Berlin: Szenerie der Verwahrlosung ziger Jahre unter der Losung „Schwerter höhere Renten, Einführung zu Pflugscharen“ im Umkreis der Kirche des Babyjahres, eine Arbeitszeitverkür- Selbst das reichte noch lange nicht. Wie entstandene unabhängige Friedensbe- zung und echte Westjeans in den Centrum- ein Fixer nach der Droge war die DDR auf wegung für den Kampf gegen die Nato- Warenhäusern – insgesamt eine spürba- der Dauerjagd nach Devisen; nie war ge- Nachrüstung einzuspannen, misslang. re Verbesserung des bisherigen Lebens- nug da, immer musste ein neuer Schuss Erstmals konnten Oppositionelle eigene standards. her, um das System am Laufen zu halten. Strukturen aufbauen. Noch glaubte die Der Erfindung des Konsumsozialismus Ihren wohl wichtigsten Dealer hatte die SED, eine Opposition im Friedensge- verdankte Honecker seine anfängliche DDR in Franz Josef Strauß, der den Ge- wand durch Verhaftung von Bürgerrecht- Popularität. „Einheit von Wirtschafts- und nossen 1983 und 1984 zwei Milliardenkre- lern wie Rainer Eppelmann, Bärbel Bohley Sozialpolitik“ hieß die Formel, mit der die dite vermittelte, ohne die sich die SED oder Ulrike Poppe verhindern zu können, Partei 1971 die „weitere Erhöhung des ma- kaum mehr bis 1989 gehalten hätte. doch wurde sie dadurch noch unglaub- teriellen und kulturellen Lebensniveaus Und wie ein Junkie sackte die DDR im- würdiger. des Volkes auf Grundlage eines hohen Ent- mer tiefer in einen Sumpf staatlicher Be- „Lasst uns ihn würdig empfangen – empfangt ihn als einen unserer Brüder!“ Altbundeskanzler Helmut Schmidt im September 1987 zum Honecker-Besuch

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kehrswege, die Bausubstanz der histori- schen Altstädte. Als das DDR-Fernsehen 1988 eine Folge der Serie „English for you“ mit dem Titel „In den Elendsquartieren von London“ im England des Manchester-Ka- pitalismus spielen ließ, fand man die per- fekte Szenerie allgemeiner Verwahrlosung samt rußgeschwärzter Häuser kostengüns- tig gleich vor der Haustür in Bitterfeld. Wenige Monate zuvor hatten dort Öko- Oppositionelle den Umweltfrevel heim- lich auf Video dokumentiert und dem Westfernsehen zugespielt. Diesen Versuch der Diversion hatte das Fernsehen der DDR mit einem hastig produzierten Hei- matfilm zu kontern versucht: Unterlegt mit lustiger Wandermusik, bekamen die Zuschauer die ökologische Krisenregion als intaktes Naherholungsgebiet präsen- tiert; um kahle Bäume, qualmende Schlo- te und schäumende Seen hatte man dies- mal sorgfältig herumgefilmt. Die oppositionellen Filmemacher fand die Stasi nie, zum Glück.West-Journalisten traf schlimmstenfalls die Ausweisung – so die SPIEGEL-Korrespondenten Jörg R. Mettke (1975 wegen eines Berichts über Zwangsadoptionen, der nicht von ihm Grenztruppen-Diagramm mit Fluchtversuch-Statistik: „Schießen wie auf Hasen“ stammte) und Ulrich Schwarz (1978 nach dem schaffungskriminalität: Blutspenden gin- Definition gerade einmal Abdruck des „Manifests gen nicht an Befreiungsbewegungen in der 1005 Stück dieses Prädi- der Opposition“). Die Vi-

Spiegel des 20. Jahrhunderts Dritten Welt, wie den gutgläubigen Spen- kat. Mit großem propa- deopiraten wären in Baut- dern vorgegaukelt wurde, sondern in den gandistischem Pomp ließ zen gelandet. kommerziellen Export; systematischer sich der Generalsekre- Dabei ist nicht sicher, Kunstraub in Museen und Bibliotheken lie- tär im September 1988 ob die SED das Westfern- ferte Nachschub für Alexander Schalck- den ersten 1-Megabit- sehen zu Recht als Stachel Golodkowskis Devisen bringende „Kunst Speicher aus DDR-Her- im Fleisch ihrer Macht & Antiquitäten GmbH“; bedenkenlos wur- stellung überreichen – empfand. Sowohl der den gegen Westwährung Waffen auch in doch der kam nie zum einstige DDR-Korrespon- Spannungsgebiete exportiert. Einsatz, es blieb bei einer dent Peter Merseburger Wenn es gar zu knapp wurde, schafften Pilotserie von 20 000 wie auch George Urban, Herren der DDR-Staatsbank Ostmark in Stück. Westfirmen produ- von 1983 bis 1986 Leiter schweren Koffern zu Wechselstuben in zierten solche Chips da von Radio Free Europe, West-Berlin, wo sie ihr Frischgedrucktes, bereits als Standardware, meinten, dass die virtuel- noch mit Staatsbank-Banderole versehen, allein Siemens zwei Mil- le Republikflucht nach zum Marktkurs von 1 zu 15 umrubelten. lionen Stück monatlich. Feierabend eher als Blitz- Das Leben von der Hand in den Mund Statt mit moderner ableiter diente als dazu,

war der späte, hohe Preis für die Anfangs- Technologie den Westen K. GREISER die Sehnsucht nach poli- erfolge Honeckers. Der gab sich gleichwohl zu „überholen, ohne ein- DDR-Opfer Gartenschläger* tischer und geistiger Frei- weiterhin dem Größenwahn hin, die DDR zuholen“, wie Ulbricht heit zu stimulieren. sei unter ihm zum zehntgrößten Industrie- phantasiert hatte, degenerierte die DDR Die Zahlen scheinen ihnen Recht zu ge- staat aufgestiegen – ein Hirngespinst, das unter Honecker fast zu einem Schwellen- ben: Die mit Abstand höchste Zahl der auch im Westen viele für real hielten. land, dessen Pro-Kopf-Sozialprodukt 1989 Ausreiseanträge verzeichnete das „Tal der Mit Hightech hoffte Honecker es noch unter dem Zyperns lag. Ahnungslosen“ um Dresden, in dem West- zu richten. Doch von den 17268 „Indus- Während gutes Geld in teure, aber un- programme nicht zu empfangen waren. Mit trierobotern“, die 1982 laut SED-Statistik rentable Prestigeprojekte gepumpt wurde, in den VEB auf „Weltniveau“ produzier- verrottete alles andere – die Maschinen- * Bei einem Fototermin an der Grenze nach dem Abbau ten, verdienten nach international üblicher parks der Betriebe, die Straßen und Ver- eines SM70-Selbstschussgeräts Anfang 1976.

LITERATUR kannte über die innerdeutsche Grenze und die Män- Walter Süß: „Staatssicherheit am Ende.Warum es den Rainer Eppelmann / Horst Möller / Günther Noo- ner, die sie machten. Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu ver- ke / Dorothee Wilms (Hrsg.): „Lexikon des DDR- Ulrich Mählert: „Kleine Geschichte der DDR“. Ver- hindern“. Christoph Links Verlag, Berlin 1999; 816 Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der lag C. H. Beck, München 1998; 212 Seiten – Knappe, Seiten – Das Neueste über Mielkes Imperium, auf- Deutschen Demokratischen Republik“.Verlag Ferdi- gut lesbare DDR-Geschichte eines jungen Historikers bereitet von einem Forscher der Gauck-Behörde. nand Schöningh, Paderborn 1996; 806 Seiten – Wis- auf neuestem Stand. Stefan Wolle: „Die heile Welt der Diktatur.Alltag und senswertes zum Nachschlagen auf einen Blick. Ehrhart Neubert: „Geschichte der Opposition in der Herrschaft in der DDR 1971 – 1989“. Christoph Links Peter Joachim Lapp: „Gefechtsdienst im Frieden. Das DDR 1949 – 1989“. Christoph Links Verlag, Berlin Verlag, Berlin 1998; 424 Seiten – Eine Entzauberung Grenzregime der DDR 1945 – 1990“. Bernard & Grae- 1997; 958 Seiten – Die Geschichte der anderen DDR, der DDR aus der Alltagsperspektive der SED- fe Verlag, Bonn 1999; 274 Seiten – Alles bis heute Be- mit Einblicken, die anderswo nicht zu finden sind. Untertanen.

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Werbeseite Das Jahrhundert des geteilten Deutschland: Die Ära Honecker AP Verhaftung eines Regimekritikers (1983 in Ost-Berlin): Unbequeme Menschen regelrecht eingesammelt

Spiegel des 20. Jahrhunderts dem Land verfiel auch die oft beschwore- Arm dran waren die meisten Alten. Die ten. Es war die sonst geschmähte Kirche, ne und noch öfter ausgenutzte Aufbaumo- rechnerische Höchstrente in der DDR, nach die mit ihren Einrichtungen – Altenhei- ral der Bürger. Deren soziale Lage – heu- 40 beitragspflichtigen Arbeitsjahren, betrug men, Krankenhäusern, Schulen – wenigs- te gern verklärt – verschlechterte sich in 1989 gerade 480 Ostmark. Auch die ab und tens die gröbsten Mängel im staatlichen den achtziger Jahren ständig. Inflation und an verkündeten Erhöhungen änderten Sozialsystem aufzufangen versuchte. Arbeitslosigkeit breiteten sich, gut ver- nichts daran, dass Altersarmut in der spä- Und von wegen mehr Gemeinsinn: Im steckt, auch in der DDR aus: Statt teurer ten DDR allgegenwärtig war. „Danke, aus- „Kollektiv“ geborgen war nur, wer mit- wurden die Packungen kleiner; billige Pro- gezeichnet“, ließ der Volksmund den Rent- machte, die Rituale respektierte. Wer sich dukte verschwanden und wurden durch ner auf die Frage nach dem werten Befin- dem Anpassungsdruck auf Dauer wider- teure ersetzt. Weil die überalterten Ma- den antworten, „viel besser als morgen.“ setzte, fand sich irgendwann vor der Tür schinen zu Bruch gingen, wurde in den Be- Nicht alle konnten über ihre Lage scher- der „entwickelten sozialistischen Gesell- trieben Däumchen gedreht; was Lohn hieß, zen, bestimmt nicht die Kranken. Für ge- schaft“ wieder und konnte die Hoffnung war oft genug Schweigegeld für eigentlich rade einmal 40 Prozent der schwer Nie- auf Bildung und berufliches Fortkommen Beschäftigungslose. renkranken gab es in der DDR lebens- aufgeben. Abiturienten, die sich nicht für Dass die Sozialversicherung nicht um- wichtige Dialyseplätze. Psychisch Kranke drei Jahre bei der Nationalen Volksarmee sonst war, sondern jedem, bis zur Bemes- und geistig Behinderte wurden in psychi- verdingten, hatten kaum Chancen auf ei- sungsgrenze von 600 Mark, pauschal zehn atrische Krankenhäuser abgeschoben – oft nen Studienplatz, und schon eine punkige Prozent vom Lohn (Mitte der siebziger hausten sie, medikamentös ruhig gestellt, Frisur konnte ausreichen, um die Lehrstel- Jahre im Schnitt 870 Mark) abgezogen wur- gemeinsam in Sälen mit 40 oder gar 60 Bet- le loszuwerden. Ein echter Punk lief Ge- den und der Betrieb, wie im Kapitalis- fahr, als „asozial“ im Knast zu landen. mus, noch einmal dasselbe drauflegte, Ironischerweise produzierte die SED ist heute vergessen – ebenso, dass in gerade durch ihren zwanghaften Drang, der späten DDR 80 Prozent der Berufs- alles und alle aneinander anzugleichen, tätigen eine Freiwillige Rentenzusatz- immer mehr Randständige – Deklas- versicherung abgeschlossen hatten, da sierte des Realsozialismus, die vom Sys- die staatliche Grundsicherung hinten tem nichts mehr zu erwarten hatten. und vorn nicht reichte. Eine Ersatzheimat, geistig wie sozial, Auch Steuern gab es im Sozialismus, suchten viele von der offiziellen DDR und nicht zu knapp.Von jeder Mark, die Verstoßene in dem Freiraum, den die der gemeine Mann im HO-Markt ließ, Kirche als einzig unabhängige Institu- hatte der Staat im Mittel 52 Pfennig auf tion im Realsozialismus versprach. den Nettokaufpreis draufgeschlagen. Doch die war im Ganzen ein weithin Der Höchststeuersatz für private Ein- getreues Abbild der DDR-Gesellschaft; kommen betrug 60 Prozent. Allein für wie dort dominierten Angepasste, wur-

die teure Grenzsicherung und den MfS- SÜDD. VERLAG den die wenigen unabhängigen Köpfe Etat musste jeder „Werktätige“ jährlich DDR-Punks (1982) von einer konfliktscheuen, IM-durch- rund zwei Monatslöhne berappen. Deklassierte des Realsozialismus setzten Kirchenleitung bedrängt.

92 der spiegel 38/1999 Eine weitere Ironie: Die SED subventio- der mittels Zichorie, Spelzen, Roggen, „Iswestija“-Kommentator Alexander Bo- nierte ihre Gegner gleich mit. Ungewollt Gerste und getrockneten Zuckerrüben- win: „Die Zahl derjenigen, die ,hinüber‘ bot sie auch Ausgestiegenen die materielle schnitzeln zum Muckefuck gestreckte Mor- auswandern wollen, soll geringer als die Basis für eine unangepasste Existenz. Ohne gentrunk der Marke „Kaffee-Mix“ (Kilo- der Einreisewilligen sein.“ Denn, so Bo- Schrippen zu fünf Pfennig das Stück und preis: 48 Ostmark) nicht. win: „Wem es gut geht, der wird nicht fort Wohnraum zu Mieten von 1936 hätte so Umgehend überfluteten Eingaben em- wollen. Das ist auch eine Wahrheit, die wir mancher zum Friedhofsgärtner abgestiege- pörter Bürger die Polit-Panscher: „Mit über uns selbst aussprechen müssen.“ ne Dissident hungern müssen. großer Enttäuschung kochten wir uns heu- Honecker aber wollte von solchen Konsummäßig offerierte die DDR oh- te früh den Kaffee“, schrieb ein Kollektiv Wahrheiten nichts wissen und flüchtete nehin wenig Aufregendes. Honeckers Ver- aus Löbau. „Wir sind der Meinung, dass sich in die Visionen der Vergangenheit. such der organisierten Volksbestechung lief der Kaffee nicht als Bohnenkaffee ange- „Den Sozialismus in seinem Lauf“, hielt er zunehmend ins Leere, denn der Maßstab boten werden dürfte, da er weder den be- mit August Bebel noch Mitte August 1989 der Bevölkerung war nicht Polen, sondern liebten Kaffee-Geruch noch Geschmack dagegen, „hält weder Ochs noch Esel auf.“ die „BRD“ – und die zog immer mehr da- besitzt.“ Und Elfriede L. aus Weißenfels Nicht aufzuhalten waren zu diesem Zeit- von. In der DDR dagegen blieb das Ange- brachte die Kritik auf den wunden Punkt: punkt aber allein die DDR-Bürger, die in bot, mit der vielsagenden Ausnahme des „Meiner Meinung nach kann es nicht im Massen über die Grenze von Ungarn nach Alkoholsortiments, auch bei den Waren Interesse der Beschlüsse des IX. Parteitages Österreich strömten. Seit Anfang Mai wur- des täglichen Bedarfs knapp und schlecht. der SED sein, auf eine solche Art das Le- den dort die Sperren abgebaut; am 27. Juni Weil etwa der Import alternativer „Sätti- bensniveau der Bürger zu erhöhen.“ hatten der ungarische Außenminister Gyu- gungsbeilagen“ wie Reis zu la Horn und sein österreichi- viele Devisen verschlang, scher Kollege Alois Mock sym- konsumierte der durch- bolisch den Draht des Eiser- schnittliche DDR-Bürger jähr- nen Vorhangs durchtrennt – lich 150 Kilo Kartoffeln – fast und damit den Lebensfaden dreimal so viel wie seine bun- der DDR. desdeutschen Brüder. Süd- Der Rest war Röcheln. Ab früchte gab es dafür nur halb dem 11. September null Uhr so viel (18 Kilogramm) wie im durften DDRler Ungarn legal Westen – wobei die SED-Sta- verlassen. Am 18. Oktober tistik Säfte und Nüsse mit ein- zwang ein panisches Politbüro rechnete. Honecker zum Rücktritt. Am Weltspitze war die Ho- 9. November vermasselte die necker-DDR nur im Fleisch- neue SED-Führung um Egon konsum, auch wenn Böswilli- Krenz die Bekanntgabe einer ge ätzten, man könne in der neuen Reiseregelung; die Ost- DDR die Fleischereien nicht Berliner verstanden Günter von Fliesenfachgeschäften un- Schabowskis Gestammel vor terscheiden: Mehr als 100 Ki- der Weltpresse auf ihre Weise logramm wurden zwischen und überfluteten die Grenze.

Rügen und Zwickau pro Kopf PIEL / GAMMA STUDIO X P. Auch die letzte Hoffnung und Jahr verzehrt. Dabei war Honecker, Gastgeber Kohl 1987 in Bonn: Von Statusangst geplagt der SED war da längst zer- Wurst östlich der Elbe noch ronnen: Die Ausreiserströme ungesünder als anderswo. Denn auch Also mussten wieder mehr Kaffeeboh- schwächten nicht mehr den Widerspruch, Fleisch, das wegen veralteter Anlagen nicht nen beigemischt werden, vor allem min- sondern stärkten ihn – aus „Wir wollen ausreichend gekühlt werden konnte, kam derwertige Sorten – die bekam man auch raus!“ wurde „Wir bleiben hier!“ Am Tag per Ausnahmegenehmigung in den Verkauf ohne Westgeld, aus Angola im Tausch ge- vor der endgültigen Öffnung der ungari- – im Jahr 1985 volle 29 Prozent des DDR- gen Waffen. „Wir geben allein 400 Millio- schen Grenze war in Ost-Berlin das Neue Schlachtaufkommens. nen Mark in Devisen aus für den Kaffee, Forum gegründet worden, tags darauf die Der kleine Wohlstand, den Honecker unwahrscheinlich“, brüstete sich Honecker Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“, die den Bürgern bieten konnte, half anfangs 1978 gegenüber Bundeskanzler Helmut zu „Einmischung in eigener Sache“ aufrief zweifellos, seine Position zu sichern. Doch Schmidt, sein Dilemma wie üblich in eine und freie Wahlen forderte. hatte diese Herrschaftstechnik einen Nach- Leistung verkehrend. Zehn Jahre und Einer ihrer Initiatoren war ein junger teil: Einmal angefüttert, verlangten die Ost- 200000 weggegangene DDR-Bürger später Pfarrer, der drei Jahre zuvor im Knast ge- Käufer nach mehr; zurückdrehen ließ sich erklärte Honecker Ende 1988 noch immer landet war, weil er an der Mauer für das die Konsumschraube erst recht nicht. allen Ernstes öffentlich, der Lebensstan- Recht auf Reisefreiheit demonstriert hatte: Schon 1977 war es zu einem veritablen dard in der DDR sei „im Grunde genom- Reinhard Lampe. Verbraucheraufstand gekommen, der für men höher als in der Bundesrepublik“. die SED zum Menetekel wurde: die „Kaf- Andere Töne hörte man zu diesem Zeit- Hans Michael Kloth, 35, ist SPIEGEL- feekrise“. Das Politbüro hatte verfügt, ei- punkt aus Moskau: „Es gibt ein eindeuti- Redakteur und Mitherausgeber des Bandes nen devisensparenden Kaffee in die Läden ges Maß, an dem wir unseren Erfolg mes- „Arche Nova. Opposition in der DDR zu bringen. Den Bürgern aber mundete sen können“, schrieb ebenfalls 1988 der 1988 – 90“, BasisDruck Verlag, Berlin 1995.

DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. DAS JAHRHUNDERT DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR

der spiegel 38/1999 93 Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft

TELEKOMMUNIKATION Bosch plant Ausverkauf er Stuttgarter Bosch-Konzern, we- Dgen seiner schwäbisch-konservati- ven Geschäftspolitik in der deutschen Industrie oft als schlafender Riese ver- spottet, will erstmals einen kompletten Geschäftsbereich abstoßen – die Tele- kommunikation. Um die Abhängigkeit von Autokonzernen wie Daimler, BMW oder VW zu verringern, hatte der größ- te europäische Pkw-Zulieferer (50 Milli- arden Mark Umsatz, 189000 Beschäftig- te) seit Ende der siebziger Jahre im großen Stil Firmen in der Nachrichten- und Kommunikationstechnik aufge- kauft, darunter die ehemaligen AEG-

Telefontöchter ANT und Telenorma. AP Doch das Geschäft mit Handys, Telefon- Schrempp, Eaton anlagen oder Breitband-Netzen erwies sich für die Stuttgarter bislang als Flop: DAIMLERCHRYSLER Der Geschäftsbereich (5 Milliarden Mark Umsatz, 18700 Beschäftigte) brachte in den vergangenen Jahren nur Schrempps neuer Vorstand Verluste ein. Derzeit verhandeln die Bosch-Manager mit Kaufinteressenten er Vorstandsumbau bei DaimlerChrysler wird für Konzernchef Jürgen für ihre Kommunikationssparte. Das DSchrempp schwieriger als erwartet. In Einzelgesprächen versucht Schrempp, Geschäft mit Telefonnetzen soll eine Spitzenmanager zum Verzicht auf ihre Posten zu bewegen. Über die notwendige Ver- Tochter des britischen Mischkonzerns kleinerung des 17-köpfigen Vorstands sind sich zwar alle einig. Freiwillig räumen will GEC übernehmen, um die Handy-Pro- seinen Platz aber kaum einer. Co-Chef Bob Eaton, der einen vorzeitigen Rücktritt duktion in einer Fabrik bei Aalborg in in Aussicht stellte, will seinen Job noch eine Weile ausfüllen. Finanzvorstand Man- Dänemark bemüht sich der Siemens- fred Gentz, den Schrempp am liebsten auf den Posten des Personalvorstands ab- Konzern, an der TV-Kabelsparte ist die schieben würde, lehnt dies kategorisch ab. Er kann weiter die Finanzen steuern, weil Deutsche Bank interessiert. Die Frank- Schrempp vor seiner Entlassung noch zurückschreckt. Kurt Lauk (Lkw) muss aber furter kämpfen zur Zeit um den Zu- auf jeden Fall gehen. Er lag in ständigem Clinch mit seinen erfolgreichen Bereichs- schlag für das TV-Kabelnetz der Tele- leitern. Seinen Platz soll Dieter Zetsche (bislang Vertrieb) einnehmen, der von Ge- kom. Mit dem Bosch-Breitband-Ableger neral Motors heftig umworben wird. Sicher sind noch zwei weitere Abgänge: Per- könnte die Deutsche Bank ihr Angebot sonalchef Heiner Tropitzsch und Theodor Cunningham (Vertrieb Lateinamerika). abrunden.

INFORMATIONSTECHNIK TELEKOM Multimedia für jedes Klassenzimmer Kleingeld fürs Netz n Schwung kommt die „Initiative D 21“, die einen Zukunftsplan für „den Aufbau ie Deutsche Telekom will ab Spät- Ider Informationsgesellschaft in Deutschland“ entwerfen will. Das im Juli gegründe- Dherbst ein neues Verfahren einset- te Aktionsbündnis, das von Bundeskanzler Schröder unterstützt wird und dem sich zen, mit dem Kleinbeträge beim Inter- Topmanager wie Bernhard Wal- net-Einkauf abgerechnet werden kön- ter (Dresdner Bank), Ferdinand nen. Sie hat eine Lizenzvereinbarung Piëch (VW) oder Lothar Späth mit der Firma in medias res geschlos- (Jenoptik) angeschlossen haben, sen, die das Micropayment-System will zunächst die Schulen mit Net900 entwickelt hat. Dieses System Hightech ausrüsten. Firmen wird von der Telekom-Tochter Telecash übernehmen die Patenschaft für Kommunikationsservice an Händler eine Schule und statten sämtli- vermarktet, die zum Beispiel über T- che Klassenzimmer mit Internet- Online kostenpflichtige Dienstleistun- PCs aus. „Bis Ende des Jahres“, gen anbieten. Der Nutzer ruft etwa Da- sagt Alfons Rissberger, der tenbanken, Zeitungsarchive oder Spiele Ideengeber der Aktion, „haben ab, bezahlt wird über die Telefonrech- wir mindestens 100 Firmen zu- nung. Das bisherige Inkassoverfahren sammen, die 100 Schulen spon- von T-Online wird bis Ende 1999 einge-

W. M. WEBER W. sern.“ Noch sind deutsche Schu- stellt. Dort wurden bereits jährlich rund Unterricht am Computer len schlecht ausgestattet. 100 Millionen Mark umgesetzt.

der spiegel 38/1999 95 Trends

UNTERNEHMER dass erkennbare Gegenleistungen er- folgt seien. Am vergangenen Dienstag Verdacht gegen Schmitt haben fünf Staatsanwälte und 35 Beam- te des Bundeskriminalamts Privatwoh- ie Staatsanwaltschaft Kiel ermittelt nungen und beteiligte Firmen in der ge- Dwegen Untreue gegen Manfred samten Bundesrepublik durchsucht. Für Schmitt, den ehemaligen Geschäftsfüh- die Übernahme der Kieler Telefonfabrik rer des Kieler Telefonherstellers Ha- hatte Schmitt nach eigenen Angaben genuk. Schmitt war als Gründer des von dem Hagenuk-Verkäufer Preussag Computer-Discounters Escom bundes- AG Geld bekommen (Schmitt: „ein ne- weit bekannt geworden („König Hard- gativer Kaufpreis“). Mit einem Schul-

M. SIMON / SABA ware“) und Mitte der neunziger Jahre denberg in Höhe von 207 Millionen IWF-Zentrale in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Mark musste die Firma Ende 1997 Kon- Im Sommer 1996 ging Schmitts Escom kurs anmelden. Schmitts Anwalt, der WÄHRUNGSFONDS in Konkurs, im nächsten Jahr auch die Frankfurter Strafverteidiger Eckart Hagenuk. Als Hagenuk-Chef soll er Hild, hält die Vorwürfe für unbegründet „Kein Missbrauch“ zwischen Mai 1996 und Oktober 1997 und geht davon aus, dass das Ermitt- Beträge in zweistelliger Millionenhöhe lungsverfahren „in der gebotenen Kür- IWF-Finanzchef Eduard Brau, 57, über aus der Firma gezogen haben, ohne ze“ eingestellt wird. Kredite für Russland

SPIEGEL: Die russischen Zentralbankiers haben Sie über die Höhe ihrer Reserven belogen und Gelder über Scheinfirmen VEBA/VIAG auf Jersey außer Landes geschafft. Brau: Wir sind hinters Licht geführt wor- den, und das hat uns sehr skeptisch ge- Fusion praktisch besiegelt macht. Bei neuen Zahlungen ist der IWF deshalb sehr vorsichtig. Wir über- er geplante Zusammenschluss zwi- trollgremium sitzen. Einen der begehr- weisen das Geld auf ein Konto, da muss Dschen dem Düsseldorfer Veba-Kon- ten Posten soll auch künftig ein Vertre- es bleiben und darf nur zur Rückzah- zern und der Münchner Viag-Gruppe ist ter der bayerischen Regierung bekom- lung von fälligen Forderungen des IWF so gut wie perfekt. Am kommenden men. Ob der amtierende Viag-Auf- an Russland verwen- Sonntag treffen die Kontrollgremien sichtsratschef Burkhard Wollschläger det werden. Es hat beider Unternehmen zu einer außeror- wieder in den Aufsichtsrat einzieht, ist auch andere Konse- dentlichen Aufsichtsratssitzung zusam- allerdings fraglich. Weil der ehemalige quenzen gegeben. men, um die Details der Übernahme zu Krauss-Maffei-Chef intern als Kritiker Die damaligen Ver- besiegeln. Der bayerische Freistaat, der der Telefontochter Viag Interkom gilt, antwortlichen sind 25,1 Prozent an der Viag hält, will sich soll er seinen Posten abgeben.Als Ersatz nicht mehr im Amt. zunächst von bis zu 14 Prozent seiner sind Landesbank-Vorstand Rudolf Ha- SPIEGEL: Sie verlan- Anteile trennen. Die restlichen Anteile nisch und Ex-BMW-Chef Bernd Pi- gen von den Russen will er vorerst halten, so dass Bayern schetsrieder im Gespräch.

IMF schon seit Jahren: dann an dem fusionierten Brau Kein neues Geld Industriegiganten noch ohne Reform des zwischen 4 und 5 Prozent Bankensystems. Erfüllt wurde davon halten wird. Auch die wenig. Der IWF hat dennoch weiterge- Führungsriege für den zahlt. kommenden Viag/Veba- Brau: Wir sind die einzigen, die volks- Konzern steht schon fest. wirtschaftlich relevante Bedingungen an Veba-Chef Ulrich Hart- die Kreditvergabe knüpfen. Viele davon mann und sein Viag-Kol- wurden erfüllt, und Russland kann lege Wilhelm Simson sol- durchaus Erfolge vorweisen. len gleichberechtigt in SPIEGEL: Der IWF hat Russland mittler- die Holding-Spitze ein- weile fast 20 Milliarden Dollar überwie- rücken, auch Veba-Fi- sen. Wissen Sie, was damit passiert ist? nanzchef Hans Michael Brau: Es gibt keinen Hinweis auf Miss- Gaul, Personalchef Man- brauch der IWF-Gelder. Wir überweisen fred Krüper und Viag-Fi- Überbrückungskredite an Zentralban- nanzchef Erhard Schip- ken, um deren Reserven zu erhöhen poreit behalten ihre Jobs. und das Land zahlungsfähiger zu ma- Streit gibt es noch über chen. Wir können unser Geld nur soweit die Zusammensetzung verfolgen, bis es einem Konto der russi- der Anteilseigner im neu- schen Zentralbank bei der Federal Re- en Aufsichtsrat. Von der serve Bank of New York oder der Deut- Viag sollen nur drei, von

schen Bundesbank gutgeschrieben wird. der Veba dagegen sieben D. ROESELER Danach verfügt die russische Zentral- Vertreter in dem Kon- Hartmann bank über diesen Teil ihrer Reserven.

96 der spiegel 38/1999 160 Porsche Geld 150 Aktien deutscher Automobil-Hersteller 17. November 1998* = 100 140 KOSMETIK-AKTIEN BMW 130 Fusionsphantasie fehlt 120 DaimlerChrysler n der Kosmetikindustrie hofft man 110 Iauf Frauen, die wieder ein aggressive- 100 res Make-up auflegen, und auf moderne Männer, die ihre Falten pflegen. Immer- 90 hin stieg im vergangenen Jahr der Ab- 80 VW satz von Kosmetikartikeln in Europa 1998 1999 *Erste Notierung von DaimlerChrysler Quelle: Datastream um 6,4 Prozent, an Make-up wurde so- 70 Nov. Jan. März Mai Juli Sept. gar 11,3 Prozent mehr aufgelegt. Doch bisher konnten nur wenige Unterneh- men an der Börse zulegen. Der Ham- AUTOAKTIEN burger Konzern Beiersdorf profitiert Daimler bremst sich aus Aktien der Kosmetikindustrie 130 Beiersdorf 1. 1. 1999=100 ie Fusion von Daimler-Benz und nach. Grund dafür war mal wieder DChrysler brachte den Aktionären schlechte Kommunikation. Finanzvor- 115 beider Unternehmen bisher nur Ver- stand Manfred Gentz offenbarte weni- druss. Trotz steigender Gewinne des fu- ge Stunden nach Schrempps Erklärung 100 Quelle: Datastream sionierten Konzerns sank der Kurs und gegenüber Analysten, dass Probleme im Jan. Sept. blieb deutlich hinter den Papieren von Personenwagen-Geschäft von Chrysler 125 BMW und Porsche zurück. Konzernchef und bei den Lastwagen einen Teil der Jürgen Schrempp gestand jetzt ein, dass Einsparungen durch die Fusion wieder er mit dieser Entwicklung „nicht zu- aufzehren könnten. Schwierigkeiten 100 frieden“ sei. Er versprach, die Kommu- gebe es beispielsweise beim Lastwagen- Procter&Gamble nikation zu verbessern. Doch auch sein Geschäft in Brasilien und der Türkei. 80 Jan. Sept. Hinweis am vergangenen Mittwoch, Branchen-Experten werteten dies als 115 dass der Gewinn in diesem Jahr „wohl Gewinn-Warnung. Sie fürchten außer- doch stärker wächst als der Umsatz“, dem die Auseinandersetzungen von 100 half der DaimlerChrysler-Aktie nicht in Chrysler mit den US-Gewerkschaften die Gänge. Im Gegenteil: Das Papier gab und Verluste des Smart in Höhe von 400 Wella am Donnerstag weitere fünf Prozent Millionen Euro in diesem Jahr. 80 Jan. Sept. 115 L’Oréal

100 DAEWOO CORPORATION gesetzt die Firma zahlt die Anleihe in voller Höhe zurück. „Hinter der hohen 85 Die 34-Prozent-Chance Rendite steht allerdings ein enormes Ri- Jan. Sept. siko“, sagt Christoph Klein, Analyst für ie vor drei Jahren die Besitzer von Firmenanleihen bei der Deutschen WFokker-Anleihen zittern jetzt die Bank. Auch die Rating-Agentur Stan- von der Sonderkonjunktur seiner Tradi- Gläubiger des koreanischen Konzerns dard & Poor’s glaubt nicht an eine Rück- tionsmarke Nivea, die durch die jungen Daewoo um die Rückzahlung ihres Gel- zahlung. Sie bewertet Daewoo seit Ende Produktlinien Nivea Visage und Nivea des: 57 Milliarden Dollar Schulden hat August mit einem D, das für „default“, Beauté zweistellige Zuwachsraten hat. das Unternehmen – davon rund sechs zahlungsunfähig, steht. Das gelang auch dem französischen Milliarden in Anleihen, die in westlichen Weltmarktführer L‘Oréal, doch der Ak- Währungen, größtenteils in Dollar, no- DM-Anleihe Daewoo tienkurs bewegte sich seitwärts. Die Ak- tiert sind. Die Kurse dieser Papiere in Prozent des Nennwertes tie gilt als hoch bewertet. Auch bei Wel- stürzten seit Bekanntwerden der Zah- la rät Marietta Miemietz, Analystin bei lungsschwierigkeiten im Juli um rund 25 100 HSBC Trinkaus & Burkhardt, zum Ver- Prozent ab. Eine DM-Anleihe muss in kauf. Ihr macht Sorge, dass zwei für die vier Wochen zurückbezahlt werden – 95 Haarkosmetik zuständige Vorstände das doch ob es dazu kommt, vermag derzeit 90 Darmstädter Unternehmen verlassen niemand zu sagen. Eine entscheidende haben. „Außerdem fehlt die Fusions- Sitzung zwischen Vertretern von Dae- 85 phantasie“, sagt Miemietz über Wella, woo und Managern der Dresdner Bank, das im Mehrheitsbesitz einer Familie die das Papier 1996 an den Markt brach- 80 ist. Insbesondere der Düsseldorfer Hen- te, findet erst Anfang Oktober statt. Am kel-Konzern, der vor knapp drei Jahren Freitag notierte die Anleihe in Frankfurt 75 die Haarkosmetik-Firma Schwarzkopf bei 74,5 Prozent des Ausgabewertes. Wer Quelle: Bloomberg erworben hatte, ist auf Einkaufstour. zu diesem Kurs kauft, kann bis zum 18. April MaiJuni Juli Aug. Sept. Auch Beiersdorf hat 1,5 Milliarden Oktober 34 Prozent verdienen – voraus- Mark in der Kriegskasse.

der spiegel 38/1999 97 Wirtschaft G. HALARY / SIPA G. HALARY Pariser Geschäftsviertel La Défense: Drastischer Umbau der Unternehmenslandschaft

WIRTSCHAFTSPOLITIK Die französische Revolution Paris nimmt Abschied von der Staatswirtschaft: Die Konzerne entdecken den Kapitalismus nach amerikanischem Vorbild, die Regierung zieht sich aus der Wirtschaft zurück – und setzt doch auf linke Rezepte. Die merkwürdige Mischung ist erstaunlich erfolgreich.

rst einige Wochen zuvor hatte Mehr aber auch nicht: Direkte Eingriffe Edouard Michelin, 36, von seinem Gute Seiten des Staates lehnt Jospin ab. Man könne die EVater die Führung des familieneige- Wirtschaft nicht regieren, sagt er, und das nen Reifenherstellers übernommen, da sind durchaus neue Töne in einem Land, in BRUTTOINLANDS- zeigte er schon, was er während seiner Aus- PRODUKT dem der Staat wie nirgendwo sonst in Eu- bildung in den USA gelernt hatte. Um 17 Wachstum gegenüber ropa in die Wirtschaft eingegriffen hat. Prozent seien die Gewinne des Unterneh- dem Vorjahr in Prozent Ausgerechnet Jospins linke Regierung mens im letzten Quartal gestiegen, ließ er Prognose 1999 treibt den Rückzug aus der Wirtschaft vor- Anfang September verkünden – und gab an, sie privatisiert die Staatsunternehmen, zugleich bekannt, dass er in den nächsten Frankreich 2,3 und sie hält sich weitgehend zurück, wenn drei Jahren 7500 Jobs streichen wolle. Deutschland 1,7 Quelle: OECD französische Konzerne sich gegenseitig zu „Wie eine Bombe“ („Le Monde“) schlug fressen versuchen. Erst vergangenen Mon- die Nachricht in der Öffentlichkeit ein. Mi- STEUEREINNAHMEN in Milliarden Euro tag verkündeten die Ölkonzerne Elf Aqui- chelins Börsenkurs legte um über zwölf Schätzung 1998; Bundessteuern taine und TotalFina ihre Fusion, nachdem Prozent zu, die Anleger feierten einen neu- die kleinere TotalFina im Juli ein feindli- en Sieg des Shareholder-Value. Frankreich 216,2 ches Übernahmeangebot gemacht hatte. „Schockierend“ fand dagegen Regie- Deutschland 172,3 „Der Kapitalismus in Pantoffeln ist vor- rungschef Lionel Jospin die Entscheidung. bei“, sagte BNP-Chef Michel Pebereau, „Die Beschäftigung ist das oberste Ziel die- nachdem er den Konkurrenz-Banken So- ser Regierung, und wir hätten gern, dass NEUE ARBEITSPLÄTZE 1998 in tausend ciété Générale und Paribas mitgeteilt hat- dies von allen geteilt wird.“ Frankreich 375 te, dass er sie übernehmen will. Die Re- Ein Konzern, der den Regeln des anglo- gierung hatte er vorher nicht gefragt. amerikanischen Kapitalismus folgt, und ein Deutschland 187 Quelle: Eurostat Natürlich wollen auch die französischen Premier, der dies öffentlich kritisiert – so Sozialisten die Wettbewerbsfähigkeit ihrer arbeitsteilig reagieren in Frankreich Re- AKTIENINDIZES Unternehmen verbessern.Auch die Regie- gierung und Unternehmen auf die Globa- Zuwachs seit Jahresbeginn in Prozent rung Jospin hat 1997 ein hartes Sparpro- lisierung: Die Wirtschaft tut, was sie glaubt, gramm aufgelegt, um die Euro-Kriterien tun zu müssen, und die Politik gibt den Frankreich CAC 22,0 zu erfüllen. Auch sie hat sich verpflichtet, Menschen das Gefühl, der Wirtschaft nicht Deutschland DAX 7,0 die öffentlichen Ausgaben zu stabilisieren hilflos ausgesetzt zu sein. und dann zu senken, die drückende Steu-

98 der spiegel 38/1999 FOTOS: REUTERS FOTOS: Börsenhändler in Paris, Regierungschef Jospin: „Man kann die Wirtschaft nicht regieren“

erlast zu vermindern heit oder unseren Job“, so Touraine, „man Zuversicht in die Zukunft blicken. Da die und jungen Unterneh- schneidet uns also die Arme ab oder die Wirtschaft schneller wächst, sprudeln nun mensgründern neue Beine.“ In der Folge sei die bestehende auch die Steuereinnahmen. Vergangenen Chancen zu eröffnen. Angst in Panik umgeschlagen, Streiks leg- Mittwoch verkündete Paris Steuersenkun- Aber sie redet lieber ten 1995 für Wochen das Land lahm. gen von 11,6 Milliarden Mark, auch das darüber, wie die Nach- „Die französische Krankheit bestand in Defizit soll jetzt schneller sinken. frage gesteigert und die der Weigerung“, sagt Touraine, „Marktöff- Wie kein anderes Land profitiert Frank- Arbeitslosigkeit abge- nung und Liberalisierung mit sozialen reich vom Euro: Noch vor wenigen Jahren baut werden kann und Maßnahmen zu verknüpfen.“ befand sich das Land in einer fatalen beschließt teure Be- Hier setzte die Politik der neuen Regie- währungs- und zinspolitischen Zwangslage. schäftigungsprogram- rung an. Um das Defizit für die Maastricht- Der krampfhafte Ehrgeiz der Regierung, me. So schafft sie ein Klima, in dem beides Kriterien zu senken, hob Wirtschafts- und den Kurs des Franc zur Mark konstant zu gedeiht – der private Verbrauch, weil die Finanzminister Dominique Strauss-Kahn halten, hielt in Paris die Zinsen auf hohem Franzosen wieder an die Zukunft glauben, die Unternehmensteuern an. „Wir haben Niveau. „Frankreich litt unter dem mo- und die Investitionskraft der Wirtschaft. alles getan, um den privaten Konsum nicht netären Joch der Wiedervereinigung“, sagt Es ist eine „leise Revolution“ („Financial zu bremsen“, sagt sein Berater Jean Pisani- Jean-Paul Fitoussi, Präsident des Konjunk- Times“), die das Land verändert – der Ver- Ferry, in dessen Büro ein Bild von Kurt turinstituts Observatoire Français des Con- such eines eigenen, eines französischen Schwitters hängt, auf dem in großen Let- jonctures Economiques. Die harte Politik Wegs, der einerseits die Anforderungen ei- tern das Wort „Oskar“ prangt: „Die Firmen der Deutschen Bundesbank sorgte in Paris ner globalen Weltwirtschaft, andererseits wussten, dass ihnen der Euro nützen wird, für noch höhere Zinsen als in Deutschland aber auch die Ängste vor den Folgen der- und mussten deshalb eine zeitweilige und blockierte, so sahen es die meisten selben berücksichtigt: Nirgends wird so Steuererhöhung akzeptieren.“ Franzosen, ihr Land. heftig über den „Terror der Ökonomie“ Anscheinend geht diese Rechnung auf. Dann kam der Euro, die Zinsen fielen diskutiert wie in Pariser Intellektuellen- Der Verbrauch der privaten Haushalte zog schon im Vorfeld der Währungsunion dras- kreisen. an, auch weil die Bürger wieder mit mehr tisch (von über zehn auf drei Prozent). Das Ergebnis ist erstaunlich: Die fran- Konjunkturforscher Fitoussi sieht darin den zösische Wirtschaft wächst weit schneller Hauptgrund für den derzeitigen Auf- als die deutsche, sie schafft mehr Arbeits- Schlechte schwung, auch die eher laxe Budgetdiszi- plätze, und die Steuereinahmen steigen Seiten plin der Regierung hat nach seiner Mei- kontinuierlich – glückliches Frankreich. BRUTTOINLANDS- nung zum Wachstum beigetragen: „Zu ex- Nicht ohne Häme schauen die französi- PRODUKT zessives Sparen hätte den Aufschwung schen Sozialisten deshalb auf die deut- je Einwohner in Dollar gleich wieder zerstört.“ schen Sozialdemokraten, die eine in ihren Wenig hilfreich sind hingegen die lin- USA 31 488 Augen neoliberale Politik betreiben und ken Vorzeigeprojekte der Regierung – zu- bisher keine nennenswerten Erfolge vor- Deutschland 26 200 mindest ökonomisch. Über 100 Milliarden weisen können. Franc (30 Milliarden Mark) jährlich lässt Hatte Oskar Lafontaine also doch Recht, Frankreich 24 990 sich Jospin die Einführung der 35-Stunden- der stets für eine Belebung der Nachfrage Großbritannien 23 500 Stand: 1998 Woche kosten.Weitere 35 Milliarden Franc plädierte? Gibt es – neben dem anglo-ame- Quelle: EIU (10,4 Milliarden Mark) im Jahr verschlingt rikanischen – ein eigenes französisches das seit 1998 laufende Beschäftigungspro- HAUSHALTSDEFIZIT/-ÜBERSCHUSS Wirtschaftsmodell, das dynamisches in Prozent des Brutto- gramm für jugendliche Arbeitslose. Mit Wachstum mit staatlicher Fürsorge vereint? inlandsprodukts USA +1,9 beiden Maßnahmen will die Regierung Als Jospin vor zwei Jahren die Regie- Prognose 1999 –0,2 Großbritannien Frankreichs größtes Problem, die chronisch rung übernahm, steckte Frankreich tief in hohe Arbeitslosigkeit, bekämpfen. der Krise. Sein Vorgänger Alain Juppé hat- –1,9 Deutschland Zwar verhalf das Beschäftigungspro- te die Wirtschaft des Landes mit Brachial- gramm 100000 Jugendlichen befristet zu gewalt zu sanieren und den übermächtigen –2,5 Frankreich Quelle: OECD einem Job im öffentlichen Sektor, zum Bei- Staatseinfluss zurückzudrängen versucht, spiel als Aufsichtsperson in Schulbussen. er hatte auf Haushaltssanierung, Privati- ARBEITSLOSENQUOTE in Prozent Doch die seit 1997 insgesamt entstandenen sierung und Liberalisierung gesetzt – und 750 000 neuen Stellen sind, so Fitoussi, USA 4,3 Stand: Juli 1999 die Probleme damit nur noch vergrößert. Quelle: OECD „ganz überwiegend auf die gute Konjunk- „Frankreich war am Rand der Katastro- Großbritannien 6,1 tur zurückzuführen“. Schon ab einem phe“, erinnert sich Alain Touraine, einer Deutschland 9,1 Wachstum von 1,5 Prozent würden die Un- der berühmtesten Soziologen in Paris. Die ternehmen wieder Arbeitsplätze schaffen. Bürger sahen nur noch eine Option: „Ent- Frankreich 11,2 Dass die jungen Busbegleiter und ihre weder wir verlieren unsere soziale Sicher- Kollegen, die oft aus den völlig verwahrlos-

der spiegel 38/1999 99 Wirtschaft O. JOBARD / SIPA JOBARD O. Unternehmer Vanryb: „In fünf Jahren haben wir Deutschland überholt“ ten und von der wirtschaftlichen Dynamik (1997: 7,5 Prozent); TotalFina und Elf Aqui- abgekoppelten Vorstädten kommen, nach taine waren schon vor der Fusion zu 50 und dem Ende des Fünf-Jahres-Programms ei- knapp 30 Prozent in ausländischem Besitz. nen festen Job finden, bezweifeln aber Die harten Renditeanforderungen der selbst die Gewerkschaften: „Dafür hat Fonds werden von den Konzernchefs kaum eine Kommune Geld“, sagt Jean- weitaus schneller befolgt als der sanfte Claude Mailly von der Gewerkschaft industriepolitische Druck, den die Regie- Force Ouvrière. rung immer noch auf die Unternehmen Auch die 35-Stunden-Woche, die am ausübt. 1. Januar in Kraft tritt, wird keine neuen Nach wie vor stammen zwar viele Ma- Stellen schaffen. „So haben wir uns nager aus denselben Elite-Universitäten das nicht vorgestellt“, klagt Mailly; die wie die meisten Minister. Nach wie vor ha- großen Konzerne würden die Arbeitszeit- ben fast alle als Beamte gedient, bevor sie verkürzung wohl eher für den Abbau von in ihr Unternehmen versetzt wurden.Aber Pausen und Urlaubstagen nutzen, statt der Korpsgeist von einst ist einem harten neue Jobs zu schaffen. „Das bringt nichts“, Konkurrenzkampf gewichen. hat auch Konjunkturforscher Fitoussi er- Junge Unternehmer wie Bruno Vanryb rechnet. wollen mit den alten Eliten ohnehin nichts Doch das ist das Überraschende am neu- mehr zu tun haben. Der ehemalige Ton- en französischen Modell: Obwohl sich ein- ingenieur ist Gründer der Softwarefirma zelne Maßnahmen als ökonomisch unsin- BVRP, die einen der erfolgreichsten Bör- nig erweisen, schaffen sie ein Klima des sengänge am Neuen Markt in Paris hin- Vertrauens. „Endlich haben wir hier eine legte. In seiner Unternehmerinitiative Regierung, die wirklich die Arbeitslosig- „Croissance plus“ (Mehr Wachstum) hat keit bekämpfen will“, analysiert Fitoussi er über 100 junge Hightech-Firmen ver- die Stimmung im Land. sammelt. „Die Franzosen glauben, dass sie mit Unternehmensteuern, 35-Stunden-Wo- der Globalisierung nicht allein gelassen che, Machteliten – das alles regt Vanryb werden“, sagt Soziologe Touraine. Jospin noch heftig auf; „die wahre Revolution des mache mit Erfolg vor, „dass das Gleichge- französischen Kapitalismus“ stehe noch wicht zwischen Liberalisierung und Sozial- bevor. Eines aber ist dem Unternehmer politik weiter links eingependelt werden ebenso klar wie dem Soziologen Touraine muss als im Dritten Weg von Schröder und und dem Konjunkturforscher Fitoussi: Blair.“ „Nach 20 Jahren in der Krise war unser Der Linksdrall der Regierung stößt bei ganzes System komplett in Frage zu stel- Frankreichs Managern auf wenig Ableh- len“, sagt er, der Modernisierungsdruck sei nung. Den Chefs kommt dieses Klima ge- viel größer als am Rhein. legen: Es gestattet ihnen, ohne lähmende Und das ist er noch immer: Die jüngsten Proteste, den drastischsten Umbau der Un- Erfolge haben die gewaltigen Strukturpro- ternehmenslandschaft, den das Land seit bleme allenfalls kaschiert, aber nicht be- den industriepolitischen Eingriffen von seitigt. So sind etwa Arbeitslosigkeit und Staatspräsident Charles de Gaulle in den Staatsverschuldung viel höher als in sechziger Jahren erlebt hat. Deutschland. Steuer- und Rentenreformen Die Welle von Fusionen, Übernahme- sind längst überfällig. Und so glauben man- versuchen und Restrukturierungen hat ei- che Ökonomen, dass die französischen So- nen einfachen Grund: Internationale Pen- zialisten am Ende doch noch zu den har- sionsfonds wie Fidelity oder Calpers sind ten Maßnahmen greifen müssen, die sie in Frankreichs Konzernen sehr viel stär- heute noch kritisieren. ker vertreten als bei ihren deutschen Kon- Jungunternehmer Vanryb ist jedenfalls kurrenten. An den 40 größten börsenno- davon überzeugt, dass das Land auf dem tierten Gesellschaften halten die Fonds be- richtigen Weg ist. „In fünf Jahren“, deutende Anteile von meistens 20 bis 50 sagt der Softwarefachmann, „haben wir Prozent. Michelin war 1998 schon zu Deutschland überholt. Dann ist Frankreich 40 Prozent in ausländischen Händen ein extrem modernes Land.“ frank hornig

100 der spiegel 38/1999 INTERNET „Brust“ raus! Erbittert streiten Wirtschaft und Politik um die Zukunft des Milliardengeschäfts im World Wide Web. Welche Kontrollen braucht es? Wer haftet für die Inhalte der Cyberwelt? Zwischen den Fronten wartet eine kleine Abteilung des Bundeskriminalamts auf Regeln.

odo Meseke, 31, versucht, seine Ar- beit abends im Büro zu lassen. Was Bsollte er auch mit nach Hause neh- men? Es sind nur Bilder, Sprachfetzen und obskure Offerten. Aber aus seiner Erinne- rung bekommt er sie nicht immer heraus: die Fotos von missbrauchten Kindern zum Beispiel, die Tiersex-Absurditäten oder die dutzendfachen Neonazi-Aufrufe. Der Kriminalkommissar ist ein Müll- schlucker mit Pensionsanspruch. Sein Müll ist virtuell, denn Meseke gräbt in den Sickergruben des Cyberspace. Er ist einer von 20 Internet-Fahndern des Bundeskri- minalamts (BKA), die seit Anfang des Jah- res das Internet durchstöbern. Ein Cyber- Cop mit der Lizenz zu surfen. Im Wiesbadener Bürokratendeutsch heißt Mesekes Job „anlassunabhängige Re- cherche in Datennetzen“. In der Realität hocken die Beamten vor ihren Multimedia- Computern und hangeln sich Tag und Nacht durch virtuelle Räume, die „Thule-Netz“ heißen oder „Kinkypreteensex“. Selbst Fo- tos vom Missbrauch 15 Monate alter Säug- linge gingen schon über den Schirm. Rund 90 Prozent der 701 Internet-Delik- AOL-Web-Seite te, die das BKA seit Januar zum „Vorgang“ „Wir können nicht immer warten“ machte, waren Kinderpornos. Doch das liegt vor allem daran, dass sie am einfachsten zu Meseke und seine Kollegen könnten entdecken sind. „Es gibt Foren“, sagt Mese- annähernd alles, dürfen aber fast nichts. ke, „in denen wir innerhalb von fünf Minu- Sie dürfen andere Surfer nicht mit Lock- ten eine Vielzahl von Hinweisen auf Strafta- angeboten „ködern“. Sie müssen sich brav

ten feststellen können.“ ausweisen, wenn sie am Rand des Daten- DPA Highways nach ihrer Identität gefragt Bertelsmann-Chef Middelhoff Weltweite E-Commerce- werden. Jede Auffälligkeit muss an das Umsätze zuständige Landeskriminalamt (LKA) ungeborene Kinder und Organspenden als in Milliarden Dollar weitergeleitet werden, weil der Ab- Verkaufsobjekt. nehmer vielleicht in Bergisch-Glad- Wer nichts wird, wird virtuell kriminell. bach wohnt. Beim LKA sitzen dann Wirtschaftsverbrecher haben den Cyber- mitunter hoffnungslos überforderte space gerade erst entdeckt. Juristisch gese- 1999 2003 +2923% Polizisten, die einen Provider in Wyo- hen ist das Internet eine riesige Grauzone. ming oder Tokio ausfindig machen sollen. Rund ein Prozent der Inhalte seien krimi- Prognose: Forrester Research Noch schwieriger wird es bei Software- nell, schätzen Experten. Bei rund 800 Mil- 11,7 Raubkopien oder Extremismus, bei Waf- lionen Web-Seiten und täglich einer Million Online-Werbeumsätze fen-, Drogen- oder Kinderhandel, Geldwä- neuen bleibt Meseke nicht mehr als „Ab- in Milliarden Mark sche in virtuellen Spielkasinos, Hehlerei, schreckung durch Präsenz und Stichpro- Daten-Piraterie, Kreditkarten-Betrug oder ben“. Surfin’ BKA. Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz. So wallfahrten am vorvergangenen Frei- 6,2 6,8 Neuerdings haben es die Jäger im Netz tag hunderte Kriminalbeamte, Strafverfol- Quelle: häufig mit Viagra zu tun. Die Potenzpille ger und Netz-Experten dankbar zu einer prognos aus dem Hause des Pfizer-Chefs William Konferenz der Bertelsmann-Stiftung in 1,3 Steere kann man im Netz bequem rezept- München, wo über die Selbstregulierung Europäische1,1 0,1 frei ordern wie auch verbotene Anabolika. des jungen, aber nicht mehr jungfräulichen Union U S A In den Cyber-Regalen von Meg Whitmans Mediums debattiert wurde. Dort stellten 1997 2002 2010 1997 2002 2010 Online-Auktionshaus eBay finden sich gar die Bertelsmänner ihre Idee einer freiwil-

der spiegel 38/1999 101 Wirtschaft ligen Selbstkontrolle vor, die freilich im Regierungen Rahmen set- Praxistest bereits zu bizarren Problemen zen.“ Dann wurde wieder geführt hat. In den USA gab es einen Zen- viel über freien Informa- sur-Aufschrei, als der Bertelsmann-Able- tionsfluss, Eigenkontrolle und ger AOL Web-Seiten sperrte, auf denen offene Märkte philosophiert, sich das Wort „Brust“ fand. Man hatte wenig übers Geschäft. nicht nur Nacktfotos rausgeworfen, son- Dabei ist nur dann das dern auch eine Info-Seite über Brustkrebs. große Geld zu erwarten, Über allzu radikale Regeln wurde daher wenn das neue Medium so in München nur kurz diskutiert. Finale freundlich-sauber wie einst Empfehlung der internationalen Experten: das Fernsehen den Alltag un- Die Anbieter klassifizieren ihre Angebote terwandert. Dazu aber müs- künftig selbst. Eltern sollten Filtersysteme sen Datensicherheit und an die Hand bekommen, mit denen sie ihre Schutz vor illegalen Inhalten Kinder vor dem Gröbsten schützen. Nur gewährleistet sein. im letzten aller Fälle könnten Seiten auch Laut einer Allensbach- gesperrt werden. Aber von wem? Umfrage fordern vier Fünftel Entscheidend blieb für Stiftungschef aller Deutschen und Ameri- eBay-Web-Seite Mark Wössner: „Regierungen sollten we- kaner, dass polizeiliche Kon- Organe im Cyber-Regal der Filter einsetzen noch deren Einsatz trollen und Strafverfolgung vorschreiben.“ Bundesinnenminister Otto im Cyber-Raum verschärft Viele Anbieter stehen mit Schily widersprach heftig: „Das Internet werden. Doch während das einem Fuß im Gefängnis. Im darf keinen rechtsfreien Raum bilden.“ Bis Netz immer weiter gespon- vergangenen Jahr verurteilte

Ende des Monats will er ein Aktionspro- nen wird, rangeln Politik und AP ein Münchner Amtsgericht gramm rechtlicher Rahmenbedingungen Industrie um Kompeten- eBay-Chefin Whitman den Ex-Compuserve-Mana- präsentieren. Der EU-Rat laboriert derweil zen. Zurzeit bewegen sich ger Felix Somm zu zwei Jah- an einer „Cyber Crime Convention“. weltweit 164 Millionen Menschen im Netz. ren Haft auf Bewährung. Vorwurf: Somm Überall machen sich die Mächtigen in In drei Jahren sollen es doppelt so viele sei Mittäter bei der „Verbreitung porno- Politik und Wirtschaft derzeit Gedanken sein. In den USA, wo bereits jeder dritte grafischer Inhalte im Internet“ gewesen. Bürger online ist, soll das Selbst die Anklage ging danach in die virtuelle Geschäft bis zum Revision, weil Somm nicht verantwortlich Jahr 2003 auf 108 Milliar- zu machen sei für jede dunkle Ecke, die den Dollar anschwellen. In sich in seiner virtuellen Welt eingrabe. „Da Deutschland wird mit rund schoss die Justiz weit übers Ziel hinaus“, zwei Millionen neuen Cyber- kritisiert der Würzburger Strafrechtler Arbeitsplätzen gerechnet. Ulrich Sieber. Das Verfahren läuft weiter. Global schwelle der elek- Doch das Verhältnis zwischen den rund tronische Handel in wenigen 800 Providern in Deutschland und den Jahren auf über eine Billion Behörden hatte den Gefrierpunkt erreicht. Dollar an, schätzt Middel- „Eine weltweite Regulierung, was er- hoff, der den europäischen laubte und nicht erlaubte Inhalte des Net- Politikern einen Schritt vor- zes sind, halte ich für falsch“, sagt Tim Ber- aus bleiben will. Er weiß, ners-Lee, Erfinder des World Wide Web. was passieren kann, wenn „Das wäre eine sinnlose Gleichmacherei Regierungen Internet-Politik unterschiedlicher Kulturen.“ Während in machen: Deutschland bereits die Suche nach Kin- π Indien, stolz darauf, die derpornografie ein Delikt ist, gehen in Ja- größte Demokratie der pan auch die Vertreiber noch straffrei aus. Pfizer-Homepage Welt zu sein, vergibt Li- Was in den USA durch die Meinungsfrei- Viagra via Mausklick zenzen nur noch an Be- heit geschützt ist, gilt in Deutschland mit- treiber, die ihre Netz-Por- unter als politischer Extremismus. darüber, wie der noch rechts- tale an die Geheimdienste Der Online-Buchhändler barnesandno-

freie Raum Internet kontrol- S. OPTON des Landes koppeln. bel.com bietet Hitlers „Mein Kampf“ an, liert werden kann, ohne dabei Pfizer-Chef Steere π China wurde von der dessen Verkauf in Deutschland verboten als Raum zerstört zu werden. Internet-Lawine kalt er- ist. Wer macht sich da wie strafbar, wenn Am Montag vergangener Woche tagte in wischt. Nun versucht die Regierung, je- es keine Grenzen gibt? Der Verkäufer? Der Paris die Wirtschaftsvereinigung „Global de Dissidenten-Homepage sperren zu Kunde? Der Netzbetreiber? Business Dialogue on Electronic Com- lassen. Die allgegenwärtige Grauzone führt zu merce“, der die Vorstandsspitzen von 29 π Ende Juni verabschiedete das australische komplizierten Debatten. So mäkelt der Großkonzernen wie Time Warner, Daim- Parlament einen Entwurf, der Netz-Be- Bundesdatenschützer Joachim Jacob, lerChrysler oder IBM angehören. Die Spit- treibern vorschreibt, anstößiges Material BKA-Beamte dürften sich in Chaträumen zenmanager forderten klare Steuer- und innerhalb von 24 Stunden vom Serverzu nicht unter – dort üblichen – Spitznamen Verbraucherrechte für den elektronischen nehmen. Sonst droht Lizenzentzug. Das einklinken. Das sei bereits verdeckte Er- Handel und eine zollfreie virtuelle Welt. Gesetz gilt als bedeutendster Vorstoß, In- mittlung und damit unerlaubt. Man stehe auf einem juristischen ternet-Inhalte zu zensieren. „Schlimms- BKA-Ermittler Meseke sieht das natür- „Flickenteppich“, schimpfte Thomas Mid- tenfalls könnte die Regierung die Ein- lich anders, löst das Problem aber bislang delhoff, Bertelsmann-Chef und Sprecher richtung eines Filters für das gesamte aus- auf seine Art. Nicht selten nennt er sich der versammelten Welt-Medienindustrie. tralische Netz erzwingen“, warnt Michael beim Surfen schlicht „BKA“. Das glaube, „Wir können nicht immer warten, bis die Ward vom Provider „Ozemail“. grinst er, ohnehin niemand. Thomas Tuma

102 der spiegel 38/1999 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

Haupteigner der Secur-Finanz sich selbst ist und wollen sich bei den finanzierenden AFFÄREN wegen möglicher Unregelmäßigkeiten an- Banken schadlos halten. Ihre Chancen ste- gezeigt haben. hen nicht schlecht. Die Hypo-Bank muss Frisches Geld in Seitdem sind rund 3000 Anleger, die gerade hunderten Anlegern in einem ähn- mindestens 70 Millionen Mark in 22 Fonds lichen Fall Schadensersatz zahlen, weil sie der Secur-Finanz investiert haben, auf der zusammen mit dubiosen Vertriebsfirmen alten Löchern Suche nach ihrem Geld. Nach Überzeu- einigen tausend Kleinanlegern Wohnungen gung des Konkursverwalters Werner Alt- zu stark überhöhten Preisen finanzierte. Neuer Immobilienskandal in hoff haben sie ihre von einigen Banken Die im Fall der Secur-Fonds tätige Be- großzügig gewährten Kredite einer Art neficial Bank hat bereits eingewilligt. Aus Ostdeutschland: Das Geld Kettenspiel anvertraut. „Da wurden wis- Angst vor einer öffentlichen Blamage kauft mehrerer tausend Anleger ist weg, sentlich alte Löcher mit frischem Geld ge- das Stuttgarter Kreditinstitut zur Zeit vie- nun sollen die Banken zahlen. stopft“, sagt Althoff. len hundert Anlegern die Fondsanteile mit Nachdem Mitte der neunziger Jahre der einem Kurswert von 95 Prozent zurück, ber Staub, Steine und Gestrüpp Bauboom in den neuen Bundesländern an die Kredite werden abgelöst. stolpert Jan Peter Wehner zu einer zu üppig gewährten Steuergeschenken zu Die BHW Bank, die wohl die meisten Ügroßzügigen Tiefgarage mitten auf Grunde ging, kamen die Secur-Finanz-Leu- Kredite für die Secur-Fonds finanziert hat, einem Feld in der Nähe von Leipzig. „Das te mit der Zahlung von Mietgarantien nicht stellt sich dagegen stur. Die Kredite seien ist schon ein übler Anblick“, sagt der Elek- mehr nach, die sie den Käufern der ge- zur freien Verwendung gewesen. „Wir troingenieur resigniert und kickt ein paar schlossenen Immobilienfonds für ein paar haben weder das Fondskonzept, dessen Um- Scherben weg. Jahre gewährt hatten. Also legten sie im- setzung, dessen grundbuchliche Vorausset- Eigentlich sollte hier, zwischen Kitzen- mer neue Fonds für Steuersparer auf und zungen, dessen Eignung nach Finanz- dorf und Wiesewitz, seit 1996 die Wohnan- nutzten scheinbar das frische Geld, um die anlagegesichtspunkten noch dessen voraus- sichtliche Renditen geprüft“, schreibt die Bank der Lörracher Anwaltssozietät Harrer & Krevet, die etwa 400 Anleger vertritt. Das Hamelner Kreditinstitut betont, dass die Secur-Fonds „nicht Bestandteil der Pro- duktpalette“ waren. Tatsächlich taucht in den Unterlagen des Lörracher Unterneh- mens nie der Name des BHW auf. Trotzdem findet der Hamburger Karl- Heinz Rupp solche Ausflüchte unakzepta- bel. Ihm hat der BHW-Bezirksvertreter Günther Feigl 1996 den Fonds Nummer zwölf der Secur-Finanz verkauft. „Ich habe im vollen Vertrauen auf die Prüffähigkeit der BHW unterschrieben“, sagt Rupp. Das sei ein Einzelfall, behauptet die BHW. Die Fondsanteile wurden meist von Fi- nanzvertrieben in einem Paket mit dem Kredit des BHW verkauft. Die Vermittler erhoben die Daten, die von dem Bauspar- konzern zur Prüfung der Kreditwürdigkeit gebraucht wurden. Auch sonst klappte die Zusammenarbeit hervorragend. „In den nächsten Tagen wird die BHW Bank Ha-

T. HAERTRICH / TRANSIT HAERTRICH T. meln die von Ihnen beantragte Finanzie- Fondsanleger Wehner: „Selbst nach zehn Jahren gehört mir kein Stein“ rung auf das von Ihnen mitgeteilte Konto überweisen“, schrieb die Secur-Finanz lage Goethestraße stehen. Der Prospekt Lücken bei den alten Fonds zu schließen. ihren Kunden mit der Bitte, das Geld auf des Immobilienfonds Nummer elf der Se- Vom SPIEGEL konfrontiert, wollte Josten das Treuhandkonto weiterzuleiten. cur-Finanz hatte sogar versprochen, „dass zu den Vorwürfen gegen die Secur-Finanz Offensichtlich nutzte die Bausparkasse ein offener und harmonischer Gesamtein- nichts sagen, Vorwürfe gegen ihn persön- die Dienste des Fondsanbieters gern, um druck“ entsteht. lich weist er zurück. das Kreditgeschäft auszubauen. „Wir dan- Nun wäre Wehner froh, wenn überhaupt Erst nach dem Konkurs merkten Anle- ken Ihnen für das angenehme Gespräch irgendetwas Fertiges an dem staubigen ger, dass ihre Eigentumsrechte an den Im- vom 14. 11. 96 und bestätigen Ihnen gern, Feldweg stehen würde. Doch seine 45000 mobilien gar nicht im Grundbuch einge- daß wir für die Secur-Finanz in 1997 ein Mark sind in einem dichten Gestrüpp von tragen waren, sondern bei einer der vielen Anteils-Finanzierungsvolumen von DM 30 Firmen und Finanzkonstruktionen so lan- Gesellschaften der Secur-Finanz lagen – Mio. eingeplant haben“, schrieb die BHW ge hin- und hergeschoben worden, bis sie und nun zur Konkursmasse gehören. „Ich Bank 1996 an Josten. sich scheinbar in Luft aufgelöst haben. darf jeden Monat 500 Mark abdrücken – Die Lörracher Rechtsanwältin Ute Lu- Ende vergangenen Jahres hat die Secur- und selbst nach zehn Jahren gehört mir sche hält es für erwiesen, dass BHW und Finanz AG aus Lörrach zusammen mit ei- nicht mal ein Stein“, sagt Anleger Wehner. Secur-Finanz sich trefflich ergänzt haben. nem halben Dutzend mit ihr verbundener Josten, Aufsichtsratsvorsitzender der Wenn das die Gerichte auch so sehen, ha- Firmen Konkurs angemeldet. Die Mann- Pleitefirma Secur-Finanz, war zwar mal ben die geprellten Anleger noch mal Glück heimer Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Schatzmeister der CDU in Sachsen-An- gehabt. Anleger Wehner hat schon vor- Kapitalanlagebetrugs gegen Michael Josten halt. Doch die Anleger glauben nicht, dass sorglich die Zahlungen eingestellt. und Andreas Klein, nachdem die beiden bei ihm und seinen Kollegen viel zu holen Thomas Heise, Christoph Pauly

104 der spiegel 38/1999 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

SPIEGEL: Sie haben sicher bemerkt, wie schwer das Image der Bahn beschädigt ist. DEUTSCHE BAHN Mehdorn: Es geht nicht vorrangig darum, das Image zu polieren, sondern Erfolg zu haben. Es geht um gute Leistungen, dann „Kanarienvogel der Firma“ kommen auch die Kunden. SPIEGEL: Gleichwohl sind Probleme zu lö- Der künftige Bahn-Chef Hartmut Mehdorn über seine Aufgabe sen, etwa beim Bau einer Transrapid- Strecke. Mehdorn: Wenn ich das mal vergleiche mit Mehdorn: Da gibt es viele Fragen, vor allem den Staus auf den Straßen, dann schneidet auch der Finanzierung. Dazu kann ich heu- die Bahn gar nicht so schlecht ab. Auf der te noch nichts sagen. Autobahn sind Sie doch verratzt, aber die SPIEGEL: Warum geht ein Manager wie Sie Deutschen sind ja Weltmeister im Meckern. ausgerechnet in einen Staatsbetrieb? SPIEGEL: Millionen sehen das etwas anders. Mehdorn: Die Zusammenarbeit mit Politi- Mehdorn: Natürlich erzählt mir jetzt jeder kern hat mir immer viel Spaß gemacht. Im irgendeine Horrorgeschichte über die Übrigen glaube ich nicht, dass die Bahn Bahn. Und mit jedem Wiedererzählen wird ein Staatsbetrieb ist. Es ist eine Aktien- die ein bisschen stärker, wie die Fische bei gesellschaft. den Anglern immer größer wer- den. Natürlich gibt es da ein paar Ludewigs Schlussbilanz Sachen, mit denen die Bahn be- Konzernzahlen sonders zu kämpfen hat. der Deutschen Bahn 1996 1997 1998 SPIEGEL: Was für Sachen? UMSATZ T. BARTH / ZEITENSPIEGEL BARTH T. Mehdorn: Wenn da heute ein Bier- in Milliarden Mark 30,2 30,5 30,0 Industriemanager Mehdorn kasten vom Güterwaggon fällt, Interessantester Job steht das in allen Zeitungen.Wenn GEWINN 721 359 394 aber auf der Autobahn ein ganzer in Millionen Mark SPIEGEL: Herr Mehdorn, fahren Sie eigent- Laster mit Bierkisten umkippt, MITARBEITER 288,8 268,3 252,5 lich gern mit der Bahn? dann rührt das niemanden. in Tausend Mehdorn: Ich fahre schon immer viel und SPIEGEL: Aber es muss doch eine NETTO-INVESTITIONEN gern mit der Bahn, etwa von Heidelberg Menge geändert werden.Was wol- in Milliarden Mark 9,9 12,2 5,9 nach München. Da kann ich die Post len Sie zuerst anpacken? lesen, meinen Laptop anschließen, be- Mehdorn: Dazu kann ich noch gar REISENDE 1665 1652 1599 komme Kaffee oder kann ein Nickerchen nichts sagen. Ich bin ja noch nicht in Millionen machen. bestellt und sollte das Unterneh- TRANSPORTLEISTUNG SPIEGEL: Ärger mit Verspätungen hatten Sie men erst richtig kennen, bevor ich Beförderte Güter 288 295 289 wohl noch nie? mich dazu konkret äußere. in Millionen Tonnen

Ministers. Für den gleichen Preis werde Der Franzrapid nur eine halbierte Strecke gebaut, so Schmidt, das sei doch wohl „eine schlitz- Noch-Verkehrsminister Franz Müntefering überraschte mit einer alten ohrige Mogelpackung“. Idee: Er will die Schwebebahn nun einspurig bauen. Münteferings neuer Vorstoß, der weder mit der Industrie noch mit dem Bahn- um Thema Transrapid wolle er gern diese hoch entwickelte Technik zu reali- Vorstand abgestimmt war, ist in der Tat le- auch noch „ein Wort“ sagen, sprach sieren. Im Jahr 2006 oder 2007 könnten die diglich eine alte Idee.Auch wenn die Deut- Zder nun scheidende Verkehrsminis- Züge zwischen beiden Städten schweben. sche Bahn AG als künftige Betreiberin nun ter Franz Müntefering am vergangenen Vorgesehen sei „zunächst“ nur eine ein- zusagt, die Strecke werde „kurzfristig ge- Donnerstag eher beiläufig vor dem Bun- spurige Trasse für die 292 Kilometer lange prüft“. In Wirklichkeit hat sie das längst destag – es wurde ein Donnerschlag. Strecke mit einigen Ausweichstellen. Somit getan und bereits im März eine einspuri- Die jahrelang heftig umstrittene Ma- werde der in den Koalitionsvereinbarun- ge Trasse strikt abgelehnt. Diese Alterna- gnettrasse zwischen Hamburg und Berlin, gen festgelegte Kostenrahmen von 6,1 Mil- tive sei „nicht für eine Umsetzung geeig- so Müntefering, werde nun doch gebaut. liarden Mark auch nicht überschritten. net“, so die Bahn in einer Risikoanalyse, Die Bundesregierung sei fest entschlossen, Der Überraschungscoup gelang, zu- vor allem, weil mit „deutlich verringerten nächst jedenfalls. Die Opposition staunte Ertragspotenzialen“ zu rechnen sei. stumm, und auch die Abgeordneten der Soll heißen: Auf einer einspurigen Koalition blieben still. Ungestört dozierte Strecke ist kein Gegenverkehr möglich, Müntefering, zugleich auch Bauminister, deshalb müssten die Taktzeiten der Züge weiter über „das soziale Wohnen“ in die- von 20 auf 30 Minuten verlängert werden. sem Land. Weniger Fahrgäste, vor allem in den teu- Erst als am Freitag Hamburgs Bürger- ren Spitzenzeiten, aber führen zu weni- meister Ortwin Runde eine „epochale Ent- ger Einnahmen. Sogar Betriebsdefizite sei- scheidung“ lautstark beklatschte, wurden en möglich. auch die Bundespolitiker munter. Albert Außerdem würde die Einspurigkeit, so

P. LANGROCK / ZENIT P. Schmidt, verkehrspolitischer Sprecher der die Bahn, die „betriebliche Zuverlässig- Transrapid-Teststrecke Grünen, erkannte als Erster den Trick des keit vermindern“. Daraus ergäben sich zu-

106 der spiegel 38/1999 SPIEGEL: Doch es gibt nur einen Aktionär, den Bund. Mehdorn: Ja, aber das macht nichts. Bei der Bahn soll es demnächst durch einen Bör- sengang ja mehr Aktionäre geben. Wir ha- ben die Heidelberger Druckmaschinen an die Börse gebracht. Durch die Mitarbeiter ist ein Ruck gegangen, alle haben Aktien erhalten. Das hilft jedem Unternehmen. SPIEGEL: Sie möchten die Eisenbahner zu Aktionären machen? Mehdorn: Die wären gewiss gern Aktionä- re in einem erfolgreichen Unternehmen, auf das sie stolz sein können. SPIEGEL: Ein Wechsel an der Bahnspitze al- lein kann ja wohl kaum ausreichend sein, um eine Wende im Verkehr zu erreichen. Mehdorn: Nicht einer allein macht das Ge- schäft.Auch wenn man als Vorsitzender so ein bisschen der Kanarienvogel der Firma ist, der ein wenig gelber ist als die anderen. Es kommt auf die Mannschaft an, die den Erfolg ausmacht. SPIEGEL: Die Eisenbahner werden von Frust und Zweifeln geplagt. Mehdorn: Ich glaube daran, dass alle Men- schen leistungsbereit und motivierbar sind. Ein guter Vorstand schafft die Rahmen- bedingungen für die Truppe. SPIEGEL: Sie gelten als zupackender Un- ternehmer. Was reizt Sie an dem Job? Mehdorn: Die Bahn ist sicherlich die inter- essanteste Herausforderung für einen Un- ternehmer, wenn er sich als solcher fühlt, die einem in der deutschen Wirtschaft überhaupt angeboten werden kann. Interview: Wolfgang Bittner, Dietmar Hawranek sätzliche Ertragsrisiken. Eine einspurige Strecke könne deshalb allenfalls als „Zwi- schenstufe“ verstanden werden, ein späte- rer Bau der zweiten Spur werde nach Be- rechnungen der Bahn aber letztlich „zu deutlich höheren Gesamtinvestitionen“ führen. Auch die Hersteller, ein Konsortium aus den Konzernen Thyssen, Adtranz und Sie- mens, konnten sich für die Idee bisher kaum begeistern. Das sei lediglich „eine denkbare Variante“, so ein Sprecher des Konsortiums. In einer internen Kalkulation hatten die Unternehmen bereits mit Mehrkosten von rund 500 Millionen Mark kalkuliert. Der Grund: Bei einer „Nachrüstung auf die Doppelspur“ fielen, bei anfänglichen Ein- sparungen von 1,1 Milliarden Mark, dann Ausgaben von 1,6 Milliarden Mark an. Schließlich müsste das gesamte Plan- feststellungsverfahren neu aufgerollt wer- den, gibt der Grüne Schmidt zu bedenken, was zu einer Verzögerung bis zu zwei Jah- ren führen dürfte. Münteferings Vorschlag sei wohl nur, so Schmidt, „der Abschieds- scherz eines scheidenden Ministers“. Wolfgang Bittner, Petra Bornhöft

der spiegel 38/1999 Werbeseite

Werbeseite Verknüpfung der Herstellung von Strom und Heizwärme mit der so genannten Kraft-Wärme- Kopplung (KWK) nun von billi- gem Atomstrom verdrängt wird. Ursache für das Durcheinan- der ist die schlampige Gesetz- gebung der alten Bundesregie- rung. Die Freigabe des jahrzehn- telang in Gebietsmonopole aufgeteilten Strommarkts ist ein Mega-Projekt, für das sich Staaten wie Schweden oder Großbritannien viel Zeit ließen und umfangreiche Regelwerke aufstellten. Doch Ex-Wirt- schaftsminister Günter Rexrodt begnügte sich im vergangenen Jahr mit einer nur siebenseiti- gen Energierechtsnovelle. Das dürre Gesetzeswerk

D. HOPPE / NETZHAUT räumt theoretisch jedem Kun- Protest der Duisburger Stadtwerker: „Daran werden sich die Genossen noch lange erinnern“ den ein, seinen Stromlieferan- ten frei zu wählen, auch wenn der Saft aus der Steckdose zuvor durch STROM das Verteilernetz eines anderen Unterneh- mens fließen muss.Aber auf die Schaffung einer Aufsichtsbehörde, die ähnlich wie auf Spiel ohne Regeln dem Telekommunikationsmarkt Spiel- regeln überwacht, hat die Kohl-Regierung Verwirrte Verbraucher, wütende Stadtwerker, verunsicherte verzichtet. Gegen die Selbstregulierung waren So- Investoren – auf dem Strommarkt sind die Zustände chaotisch. zialdemokraten und Grüne monatelang Die Regierung hat vergessen, die Spielregeln festzulegen. Sturm gelaufen. Doch kaum an der Macht, verfiel Rot-Grün in Regierungsstarre. Dar- n dem kleinen Kraftwerk der Duisbur- tembergischen Stromkonzerns EnBW, vor, um fehlt bis heute die Voraussetzung für ger Stadtwerke an der Charlottenstraße ihre Kunden mit unklaren Vertragsbedin- die Schaffung eines wirklichen Strom- Ilaufen die Vorbereitungen seit Tagen gungen zu übervorteilen. Stadtwerker ge- markts: ein Regelwerk, das festlegt, wie auf Hochtouren. Rund 700 Plätze in Bus- hen auf die Barrikaden, weil sie im Preis- viel die Benutzung des Leitungsnetzes sen und Bahnen sind reserviert, Plakate kampf um die Existenz ihrer Firmen fürch- fremder Unternehmen kostet. und Handzettel geschrieben, die weißen ten und mit den niedrigeren Gewinnen die Wenn etwa ein Verbraucher in Magde- Kostüme frisch gebügelt. Finanzierung für den Nahverkehr wegbricht. burg von Avanza, der neuen Preisbrecher- „Beim großen Auftritt nächsten Montag Umweltpolitiker sehen rot, weil die tochter des Essener Stromgiganten RWE, in Berlin“, sagt Betriebsrat Walter Jo- seit Jahren propagierte klimaschonende seinen Strom beziehen will, dann nimmt er nischkeit, soll nichts schief gehen. Dort indirekt die Leitungen der da- wollen die Duisburger Stadtwerker zu- zwischen liegenden Versorger sammen mit zigtausenden Kollegen eine Mit Strom sparen PreussenElektra und Veag so- Protestaktion organisieren, an die sich die Stromkosten pro Jahr für einen Vier-Personen-Haushalt wie der Magdeburger Stadt- „Genossen noch lange erinnern werden“. bei einem Verbrauch von 4000 Kilowattstunden* werke in Anspruch. Alle drei ha- Rund 900 weiß gekleidete „Geister“ – je- in Mark ben ein Anrecht, ihre Netzkos- der stellvertretend für ein sterbendes überregionaler Anbieter kommunaler Anbieter ten vergütet zu bekommen. Stadtwerk – sollen, wie schon vergange- Solange deren Höhe nicht fest- Yello Strom (ab Nov.) nen Monat in Duisburg, einen Protestzug 988,00 steht, ist daher gar nicht sicher, anführen, zu dem die ÖTV mehr als 35 000 Elektra Direkt 999,00 ob die Billiganbieter ihre Son- Teilnehmer erwartet. Punkt 13.15 Uhr, derangebote überhaupt halten wenn der Zug im Berliner Regierungsvier- Stadtwerke Hannover (ab Okt.) 1044,00 können. tel ankommt, sollen zudem in der gesam- HEW, Hamburg 1092,00 Obwohl das Chaos absehbar ten Republik Busse und Straßenbahnen war, setzte Wirtschaftsminister des Nahverkehrs stehen bleiben. RWE (ab Nov.) 1098,44 Werner Müller darauf, dass die Anlass für den Protest ist einer der spek- Bayernwerk 1135,40 Verbände der beteiligten Un- takulärsten wirtschaftlichen Umbrüche seit ternehmen eine private Verein- der Wiedervereinigung: die Liberalisierung Stadtwerke München (ab Okt.) 1135,40 barung aushandeln, die sie Ende des Strommarkts. Seit Monaten tobt zwi- Ares Energie 1138,00 des Monats vorlegen sollen. schen den alten Elektrizitätskonzernen und Aber schon jetzt steht fest, dass den 570 im Markt tätigen Stadtwerken ein Stadtwerke Düsseldorf 1199,28 es bis dahin allenfalls ein „Kom- gnadenloser Verdrängungswettbewerb – muniqué“ geben wird, das die Stadtwerke Duisburg (ab Okt.) und ein kaum zu überbietendes Chaos. 1207,40 Prinzipien festlegt. Verbraucherschützer werfen Billiganbie- *inkl. Strom- und Mehrwertsteuer, max. Vertragslaufzeit: 12 Monate; Explosiv entwickelt sich tern wie Yello,Tochterfirma des baden-würt- Quelle: http://www.stromtarife.de dafür der Großhandel mit

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Strom. Binnen Jahresfrist ist der Bezugs- regierung in Schleswig-Hol- preis für Industriekunden und Verteiler- stein sowie die Energiepoliti- unternehmen im Schnitt von 14 auf rund 7 ker der SPD-Fraktion unter Pfennig pro Kilowattstunde gefallen. Vor Führung des Abgeordneten allem die großen Konzerne, deren Kraft- Volker Jung. werke weitgehend abgeschrieben sind, All das hält Wirtschaftsminis- drücken mit Dumpingpreisen in den Markt ter Müller aber für „kontra- und versuchen sich die Kapazitäten der produktiv“ und will am liebs- lästigen kommunalen Konkurrenz vom ten gar keine Rechtsänderung. Hals zu schaffen. Er bestreitet, dass die KWK- Darauf sind viele Stadtwerke nicht vor- Anlagen nicht wettbewerbs- bereitet. Vielerorts werden nun radikale fähig seien. Dies gelte lediglich Rationalisierungsprogramme aufgelegt. für die kohlebetriebenen Wer- Über 40000 Arbeitsplätze würden in den ke und betreffe „nur rund ein nächsten Jahren gestrichen, warnt die Ge- Dutzend Unternehmen“. Mit werkschaft ÖTV. einer Quote sei aber gerade

Ein Großteil des Job-Abbaus ist nicht U. BAATZ diesen nicht zu helfen, weil vermeidbar, denn in den bequemen Mo- Gewerkschafter Jonischkeit: Rebellion der Betriebsräte moderne gasbetriebene Heiz- nopolzeiten haben die meisten Kommu- kraftwerke und die Prozess- nalversorger einen üppigen Personalstamm liert und rechnen sich nun nicht mehr. wärmekraftwerke der Chemieindustrie die aufgebaut. Umso wütender protestieren „Wenn nichts passiert, dann ist für die bisherigen zehn Prozent KWK-Anteil die Betroffenen dagegen, dass Minister Mehrzahl der KWK-Anlagen bei der billiger abdecken können. Müller sich weigert, wenigstens dem Strom nächsten Reparatur Schluss“, prophezeit „Oder wir machen die Quote so groß, aus den ökologisch sinnvollen KWK-Anla- Energieexperte Heiner Müller vom Ver- dass auch die schlechtesten Anlagen noch gen der Stadtwerke eine Vorrangstellung band kommunaler Unternehmen. benötigt werden.“ Das aber, so Müller, sei einzuräumen. Rettung erhoffen sich die Kommunalen „kein Wettbewerb, sondern Einladung zum Anders als die großen Stromfabriken der von der Einführung einer besonderen Quo- Missbrauch“. Auch der teuerste KWK- Konzerne heizt deren Abwärme nicht Flüs- te für Strom aus Kraft-Wärme-Kopplung. Strom müsse dann „zwangsvermarktet“ se und Atmosphäre, sondern Gebäude, die Damit soll jeder Stromverkäufer ver- werden. an ein Fernwärmenetz angeschlossen sind. pflichtet werden, zehn Prozent seines An- Um eine Massenabschaltung zu verhin- So werden die klimaschädlichen Kohlen- gebots mit solchem umweltfreundlich er- dern, will Müller lieber die Umrüstung auf dioxid-Abgase von Millionen privater Hei- zeugten Strom zu decken. Diesen müssten Gas subventionieren. Aus welcher Kasse zungen vermieden. die Firmen nicht wirklich physisch abneh- die notwendigen Milliarden im Sparhaus- Umweltpolitiker aller Parteien haben die men. Vielmehr sollen sie per Kauf bei den halt seines Kollegen Hans Eichel kommen Großstädte seit langem gedrängt, in solche Stadtwerken Zertifikate erwerben, die an sollen, vermag er aber nicht zu sagen. Mehr Heizkraftwerke zu investieren. Immerhin der Börse handelbar wären. In der Folge als zinsgünstige Kredite kann Müller den 64 Stadtwerke sind bislang diesen Weg gäbe es zwei Märkte, einen für konventio- Stadtwerken nicht bieten. gegangen. Gemeinsam erzeugen sie rund nell erzeugten und einen für wärmege- So manövriert der parteilose Minister, zehn Prozent des Stromverbrauchs. koppelten Strom. der als Ex-Manager der Veba Kraftwerke Die meisten dieser Investitionen sind je- Die gleiche Forderung erheben mittler- Ruhr AG unter Lobbyistenverdacht steht, doch auf der Basis der alten Preise kalku- weile auch der Berliner Senat, die Landes- die rot-grüne Regierung zusehends in die Klemme. Wohl wissend, dass kein Bürger- meister seinen Wählern niedrigere Strom- preise vorenthalten kann, schlug er ver- gangene Woche vor, man könne es den Kommunen ja freistellen, ob sie den Wett- bewerb für Privatkunden zulassen oder nicht. Prompt standen seine parlamentari- schen Widersacher in der Ecke der Wett- bewerbsfeinde, obwohl Jung und seine Mit- streiter derlei gar nicht gefordert hatten. Ob der Minister mit „solchen Taschen- spielertricks“ (SPD-Fraktionsvize Michael Müller) durchkommt, ist unwahrscheinlich. Denn mit den ÖTV-Betriebsräten rebelliert eine zentrale Klientel der SPD. Und für die Sozialdemokraten geht es in Nord- rhein-Westfalen bei den kommenden Landtagswahlen um alles oder nichts. Noch vorvergangene Woche versprach der nordrhein-westfälische Ministerprä- sident Wolfgang Clement den Teilneh- mern einer landesweiten Betriebsräte- konferenz in der Essener Gruga-Halle, dass es bei den Stadtwerken des Landes „keine betriebsbedingten Kündigungen“ geben werde. Das Versprechen wird er

P. FRISCHMUTH / ARGUS P. ohne Müllers Mitarbeit nicht halten kön- Werbung für Billigstrom: Verbraucherschützer warnen vor dem Kleingedruckten nen. Frank Dohmen, Harald Schumann

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Werbeseite Wirtschaft

verluste – denn reduziert wird die Ferti- VOLKSWAGEN gung dann vor allem an den unproduktiven Standorten. Zu denen zählen Wolfsburg, Der kleine Emden, Braunschweig, Salzgitter und Kas- sel, die allesamt als operatives Ergebnis ei- nen Verlust ausweisen. Nur Hannover und Assistent Mosel arbeiten profitabel. Konzernchef Ferdinand Piëch hat dem Streit im VW-Aufsichtsrat: bei seinem Amtsantritt angeschlagenen Unternehmen zwar eine attraktive Mo- Sind neue Werke im Ausland eine dellpalette verschafft und die Produktivität Gefahr für deutsche Fabriken? durch seine Plattformstrategie insgesamt erhöht. Doch vor einer harten Sanierung er heikelste Punkt war nur als der deutschen Werke scheute er bislang Nachtrag auf die Tagesordnung der zurück. Das hätte Stellenstreichungen und DAufsichtsratssitzung gerutscht: Die Ärger mit den Betriebsräten bedeutet. Kontrolleure des VW-Konzerns sollten am Stattdessen baute Piëch die rentable Fer- vergangenen Freitag über den Standort für tigung im Ausland aus. Sein Betriebsrats- die Fertigung eines Geländewagens ent- vorsitzender Klaus Volkert folgt dieser scheiden. Das Modell, das gemeinsam mit Strategie nur allzu gern. Er glaubt, durch Porsche entwickelt wurde, soll in Bratisla- „billige Produktion in den Auslandswer- va produziert werden. ken können wir unsere Produkte im Rah- Im VW-Konzern sorgt das Thema seit Wochen für Zoff. Es spaltet die Betriebsräte und gilt als Alarmzei- chen für den größten Anteilseigner des Unternehmens, das Land Nie- dersachsen. Der Geländewagen wird nicht, wie von Arbeitnehmern lange Zeit gefordert, im Werk Hannover ge- baut. Mal wieder wird ein neues VW-Modell im Ausland produziert, wo der Wolfsburger Konzern im- mer größere Kapazitäten aufbaut. Dass es auch anders geht, zeigt ausgerechnet der Partner beim Geländewagen-Bau, Porsche, der zwar die Rohkarosse des Wagens aus Bratislava bezieht, die kom- plette Montage seines Modells aber in Leipzig aufbaut. Für Porsche-Chef Wendelin Wiedeking bietet der Standort Deutschland entscheidende Vorteile: Umfang- reiche Untersuchungen zeigten ihm, dass Kunden eher bereit sind,

für einen Porsche mehr zu zah- FRISCHMUTH / ARGUS P. len, wenn das Fahrzeug „made in VW-Werk Wolfsburg: Die Kritik konzentriert sich auf “ ist. Dabei verzichtet der Subventionskritiker men einer Mischkalkulation insgesamt bil- Wiedeking sogar auf Staatsunterstützung: liger machen“. Porsche will sich vom Leipziger Ober- Das Zauberwort „Mischkalkulation“ bürgermeister schriftlich versichern lassen, wirkt aber nur, solange der VW-Konzern dass die Stuttgarter für die neue Fabrik kräftig wächst. Sobald der Absatz stagniert, keine Subvention erhalten. geraten die Fabriken in einen internen Ver- Der VW-Konzern dagegen setzt auf eine drängungswettkampf. wachsende Produktionsmaschine im Aus- Zumindest die Existenz eines Standorts land: Mittlerweile werden Volkswagen in gilt bereits als gefährdet. 7300 Beschäftig- China, Südafrika, Argentinien, Brasilien, te im Motorenwerk Salzgitter müssen Mexiko, Spanien, Portugal, Belgien, Polen, fürchten, dass künftig immer mehr An- der Slowakei und Tschechien produziert. triebsaggregate aus dem neuen Motoren- Die deutschen VW-Werke geraten dadurch werk im polnischen Polkowice kommen. zunehmend in Bedrängnis. Im Kostenver- Langfristig, so ein VW-Betriebsrat, „ist Pol- gleich mit den neuen Auslandsfabriken kowice der Tod von Salzgitter“. schneiden sie meist schlechter ab. Die Kritik mehrerer Betriebsräte kon- Schwächt sich die Autokonjunktur dem- zentriert sich auf ihren Vorsitzenden nächst ab, drohen für die 153000 deutschen Volkert, der stets auftritt wie der kleine VW-Beschäftigten massive Arbeitsplatz- Assistent des großen Vorstandsvorsitzen-

112 der spiegel 38/1999 den und zum Besuch der Autoshow in Tokio ganz selbstverständlich seine Ehe- frau auf Firmenkosten mitfliegen ließ. Als Mitglied des Aufsichtsratspräsidiums habe Volkert die Verlagerung ins Ausland immer abgenickt, statt auf erhöhten Investitionen in deutsche Fabriken zu bestehen. Konkurrent DaimlerChrysler dagegen hat bewiesen, dass eine Motorenfertigung auch in Deutschland profitabel sein kann. Die Stuttgarter konstruierten die neuen Sechs- und Acht-Zylinder-Motoren so, dass die Produktionskosten um rund 50 Pro- zent gesenkt werden. Lohnkosten spielen da kaum noch eine Rolle. Das neue Moto- renwerk entstand deshalb in Bad Cann- statt. Geringere Lohnkosten waren auch nicht der entscheidende Vorteil von Bratislava. Dieser Standort ist vor allem deshalb bil- liger als andere, weil die Slowakei VW für

den Betriebsratsvorsitzenden

mehrere Jahre Steuerbefreiung garantiert. In einigen Jahren, so ein VW-Aufsichtsrat, wird dieser Vorteil aufgehoben. Doch dann ist eine Verlagerung nach Hannover kaum noch möglich. VW-Chef Piëch spürte, dass ihm im Auf- sichtsrat erstmals seit langem richtig Är- ger droht. Er bot deshalb einen Kompro- miss an. Die Werke Salzgitter, Hannover, Braunschweig und Wolfsburg liefern Teile für den Geländewagen nach Bratislava. Dort geschieht, was gemeinhin als Auto- produktion gilt: Die Bleche werden zu- sammengeschweißt, die Karossen lackiert, Motor, Getriebe, Achsen, Sitze, Armatu- renbrett und alle Einzelteile werden mon- tiert. Das ganze nennt sich dann „Verbund deutscher Standorte mit dem Werk Brati- slava“. Dietmar Hawranek

der spiegel 38/1999 Videospiel „Tekken“, PC-Spiel „Age of Empires“: „Stell dir einen virtuellen Leonardo Di Caprio vor“

wieder an eine neue Chance auf dem von VIDEOSPIELE den Erzrivalen Sony und Nintendo be- herrschten Spielemarkt. Die „Dreamcast“, jubelt Zeitner, werde „die ultimative Spiel- Ultimative Plattform plattform für das nächste Jahrtausend“. Es ist ein schwindelerregend schneller Eine neue Runde im Kampf um die Vorherrschaft bei den Markt, auf dem jährlich hunderte von neu- en Spielen erscheinen und der Erfolg eines Spielkonsolen beginnt. Diesmal will auch Microsoft mitmischen. einzigen Geräts über Sein oder Nicht-Sein einer Firma entscheiden kann. Noch on so einem Rummel konnte der vor zehn Jahren war der japanische Firmenchef lange Zeit nur träumen. Konzern Nintendo, der 1989 mit dem VAls am Donnerstag vorvergangener Taschenspieler „Game Boy“ die Re- Woche in Amerika der Verkauf der neuen naissance der Videospiele einläutete, Videospielkonsole „Dreamcast“ begann, klarer Branchenführer. Nur vier Jah- hatten sich an vielen Läden bereits vor Ge- re später hatte Sega einen Marktanteil schäftsbeginn lange Schlangen gebildet. von fast 50 Prozent erobert. Die Kunden rissen den Händlern das be- Doch als Sony Ende 1994 mit der gehrte Elektronikspielzeug der japanischen „Playstation“ den Markt aufrollte, fiel Firma Sega fast aus den Händen, man- Sega schnell zurück, ehe die Firma cherorts kam es sogar zu Prügeleien. dann mit der „Saturn“-Konsole einen Begeistert verkündete Sega-Präsident verlustreichen Flop landete.Auch der Shoichiro Irimajiri, 59, am Tag nach der einstige Branchenführer Nintendo Offensive: „Das ist ein phantastischer neu- musste Federn lassen, konnte sich er Rekord im Entertainment-Geschäft.“ aber dank der Popularität des „Game Mehr als 97 Millionen Dollar hatte die Boys“ gut über Wasser halten. „Dreamcast“ innerhalb von 24 Stunden in Mit der „Dreamcast“ versucht Sega die Kassen des Handels gespült und damit nun das Comeback. Noch geben sich die Einnahmen beim Start des neuen die Platzhirsche gelassen. Ihre seit län- Kinobestsellers „Star Wars – Episode 1“, gerem angekündigten Neuentwick- der am ersten Tag 28 Millionen Dollar in lungen sind zwar noch nicht marktreif den USA einspielte, weit übertroffen. und erscheinen erst im kommenden Irimajiri hatte den Amerikanern eine Jahr. Doch dann, behaupten die Stra-

Traum-Maschine mit technischen Beson- AFP / DPA tegen von Sony und Nintendo, werden derheiten versprochen. Autorennen und Microsoft-Chef Gates: Kriegserklärung verstanden sie noch viel mehr zu bieten haben Boxkämpfe von beindruckender Realitäts- als der Herausforderer. nähe warten da beispielsweise auf den Spie- Angelockt von einer 100 Millionen Mächtige Allianzen haben sich für die ler. Sie werden begleitet vom Beifall virtu- Dollar teuren Marketingkampagne, griffen neue Runde im Kampf um die Vorherr- eller Zuschauer auf den Rängen und dem rund 300 000 Kunden in Kanada und schaft auf dem Konsolenmarkt gebildet. Kommentar eines imaginären Sportrepor- den USA spontan zu. „Mit diesem Gerät Sony verbündete sich mit dem Chipspe- ters. Fast scheint es, als erlebe der Spieler sind wir der Konkurrenz weit voraus”, zialisten Toshiba und investiert eine Mil- ein reales Sportereignis im Fernsehen. schwärmt Segas Deutschland-Chef Thomas liarde Dollar in den Bau neuer Chipfabri- Je nachdem, welche CD der Spieler ein- Zeitner, der die 499 Mark teure Kiste vom ken, die das Herz der „Playstation“, die legt, verwandelt er sich in einen Formel-1- 14. Oktober an auch in Deutschland zu ei- „Emotion Engine“, produzieren sollen. Piloten, einen Boxer, einen Fußballer, einen nem Verkaufshit machen will. Bis März Gegen diese rein japanische Formation Söldner oder eine andere Phantasiegestalt. will Zeitner 200000 Maschinen und mehr haben Nintendo und Sega überraschende Und über den Internet-Anschluss, der im als eine halbe Million Spiele absetzen. japanisch-amerikanische Bündnisse gebil- Sega-Gerät fest eingebaut ist, können die Segas fulminanter Verkaufsstart in Ame- det. So wird Nintendo vom Computergi- Konsolenfans demnächst sogar erstmals am rika hat Irimajiri und seinen Mitstreitern ganten IBM unterstützt, während Sega mit heimischen Fernseher gegen Wettstreiter gewaltig Auftrieb gegeben. Nun glaubt die dem Softwareprimus Microsoft zusam- aus aller Welt zum Kampf antreten. Sega-Truppe nach langem Schattendasein menarbeitet. In den Allianzen sehen die

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US-Firmen die Chance, endlich auch in Sonys neue „Playstation“ etwa, deren dem boomenden Unterhaltungsgeschäft, Auslieferung am 4. März in Japan und ein das zu den wachstumsstärksten Bereichen halbes Jahr später in Europa und den USA der Elektronikbranche zählt, Fuß zu fassen. beginnt, kann weit mehr als eine normale Videospiele, das haben die Manager der Spielekonsole. Sie macht den Fernseher, US-Konzerne erkannt, sind inzwischen ebenso wie Segas „Dreamcast“, zum In- weit mehr als nur ein Kinderspielzeug. ternet-Terminal und kann zudem als Ab- Denn in einer Welt, in der alle Bilder und spielgerät für Musik-CDs und DVD-Vi- Informationen in digitale Häppchen aus deoscheiben verwendet werden. Bits und Bytes zerlegt werden können, ver- Für Sony-Chef Nobuyuki Idei, 62, ist der schwimmen zusehends die Grenzen zwi- Erfolg im Spielemarkt nicht nur ein Aus- schen Film und interaktiver Unterhaltung. gleich für das seit Jahren träge Geschäft mit Die unscheinbaren Kästen, die virtuelle Fernsehern und Videorecordern. Idei sieht Helden wie Lara Croft oder Super Mario in der neuen „Playstation“ den Anfang ei- auf dem Fernsehbildschirm zum Leben er- ner Strategie, mit der er sich mehr Unab- wecken, sind in einigen Bereichen sogar hängigkeit von der Dominanz der US-Gi- den komplizierten und störanfälligen Per- ganten Intel und Microsoft verschaffen will, sonalcomputern weit überlegen – und ent- die bislang im PC-Geschäft die Gesetze sprechend beliebt: Allein Sony hat in den bestimmen. vergangenen fünf Jahren mehr als 60 Mil- Die verklausulierte Kriegserklärung aus lionen Spielstationen abgesetzt. Japan wurde auf der anderen Seite des Pa- Das ist nach Meinung der Firmenstrate- zifiks verstanden. Zwar beobachten die gen erst der Anfang. In der neuen Genera- Verbündeten die Entwicklung auf dem Un- tion der Videospiele werden die Figuren terhaltungssektor schon seit einiger Zeit eher an das Personal von Hollywood-Fil- mit wachsendem Interesse. Doch größere men wie „Toy Story“ erinnern. Die Helden Anstrengungen hatte das Duo bislang nicht würden fast wie echte Schauspieler ausse- unternommen. Lediglich mit dem seriös daherkommenden „Flight Simulator“ und dem Strategiespiel „Age of Em- Viel Potenzial 12 pires“ belieferte Microsoft-Chef Bill Verkaufsprognose Spiele-Software 11 Gates die Spiele-Fans. USA und Westeuropa, 10 Nun verschärft Gates den Kurs- in Milliarden Dollar wechsel. In den vergangenen Monaten 9 verbündete er sich zunächst mit Sega 8 entwickelt für und dann mit der Softwarefirma Ko- Konsolen 7 nami, die in Japan unter anderem die Quelle: Datamonitor 6 weltweit größte Schule für Videospiel- 5 entwickler betreibt. entwickelt für PCs Das Abkommen mit dem führenden 4 japanischen Spieleentwickler sieht vor, 3 1998 1999 2001 2003 dass Microsoft Konami-Spiele für den Personalcomputer entwickeln kann. Im Gegenzug setzt Konami Microsoft- Marktanteile Sony Titel für alle gängigen Videospielkon- bei Spiele- Playstation solen um. konsolen* 63% Doch damit will sich Gates offen- Quelle: GfK/VUD sichtlich nicht zufrieden geben. Denn 6% der Markt der PC-Spiele hat bei wei- 31% tem nicht die Zuwachsraten wie das Geschäft mit den Videospielen.

* Unter dem Codenamen „X-Box“, so 32- und 64-Bit-Konsolen wollen Insider erfahren haben, arbeitet hen, deren Haar im Wind flattert und de- Microsoft zusammen mit dem Partner ren Spiegelbild im Wasser zu erkennen sei, Intel an der Entwicklung einer eigenen behauptet Ken Kutaragi, der einst bei Sony Spielekonsole. Noch will die Allianz das die „Playstation“ entwickelte und heute Projekt nicht bestätigen, doch Branchen- im Vorstand des Elektronikkonzerns sitzt. kenner gehen davon aus, dass die geplan- „Stell dir einen virtuellen Leonardo Di Ca- te Box schon im nächsten Jahr auf den prio vor“, schwärmt Kutaragi, „der dich Markt kommt und ähnliche Fähigkeiten anlächelt und zurückwinkt und dem Spie- besitzt wie Sonys neue „Playstation“. ler sogar Fragen stellen kann.“ Für Sega könnte es dann eng werden. Mit ihren Allround-Fähigkeiten könnten Noch einen Flop kann sich die angeschla- die einst belächelten Konsolen zur multi- gene und hoch verschuldete Firma kaum medialen Schaltzentrale in den Wohnzim- leisten. Die Entscheidung, so meinen Ana- mern werden und einen Zukunftsmarkt lysten, falle in den nächsten sechs bis eröffnen. „Wir wollen einen neuen Unter- neun Monaten.Wenn sich die „Dreamcast“ haltungsmarkt schaffen“, betont denn auch bis dahin nicht durchgesetzt habe, gebe Sony-Vorstand Kutaragi, „und die Lücke es für Sega nur eine Konsequenz: Game zwischen Videospiel und Film schließen.“ over. Klaus-Peter Kerbusk

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Werbeseite Trends Medien

ZEITSCHRIFTEN TM 3 „Reader’s Digest Straßenfeger Fußball mit Bildern“ is zu 5,5 Millionen Zuschauer sahen vergangene Woche die Champions League m Meistersaal am Potsdamer Platz, in Bauf dem einstigen Frauensender. Die Fußballspiele auf TM 3 rissen die Quote Idem früher Zarah Leander sang, feiert einer erfolgreichen Krimi-Reihe und eines Spitzenfilms nach unten. Während des am Donnerstag dieser Woche der Ham- Spiels Bayer Leverkusen – Lazio Rom (erste Halbzeit: 11,3 Prozent Marktanteil; burger Großverlag Gruner + Jahr den zweite: 15,7) am Dienstag vergangener Woche sackte der Marktanteil des Pro-Sie- Start der deutschen Ausgabe des legen- ben-Dauerbrenners „Die Straßen von Berlin“ im Vergleich zur Vorwoche von 9,6 dären US-Wissenschaftsmagazins „Na- auf 5 Prozent. „Medicopter“ (RTL) und „Liebling Kreuzberg“ (ARD) konnten sich tional Geographic“. Am Montag darauf hingegen behaupten. Bei dem Spiel Bayern München gegen Eindhoven kam TM 3 sollen dann 500000 Exemplare zum in der zweiten Halbzeit auf 20,5 Prozent – der Weltraumthriller „Apollo 13“ auf Schnäppchenpreis von fünf Mark an RTL schaffte nur 14,4 Prozent, „Der Spesenritter“ bei der ARD 13,4 Prozent. Beim den deutschen Kiosken liegen. Start der Champions League vor einem Jahr bei RTL hatte der größte deutsche Pri- Mittelfristig will Gruner + Jahr, der sich vatsender höhere Einschaltquoten. Für die einzige Panne bei dem Champions- mit dem spanischen Verlag RBA zu ei- League-Auftakt vergangene Wo- nem Joint Venture zusammengeschlos- che war die Telekom verantwort- Champions League bei TM 3 und RTL sen hat, 150000 Hefte absetzen. Die 260 lich – Fußballfans aus dem Bonner Marktanteile, 2. Halbzeit Seiten dicke Premierennummer besteht Raum konnten das Spiel Bayer 04 zu rund 80 Prozent aus Übersetzungen gegen Rom nicht sehen. In einigen amerikanischer Artikel. Die neunköpfi- Regionen Deutschlands teilt sich ge Redaktion in Hamburg liefert kleine- TM 3 mit anderen Sendern wie re Textbeiträge. Das BBC oder dem Verkaufssender 1999 1998 ebenfalls zu Gruner QVC einen Kanal; bei Übertra- 14. September 16. September + Jahr gehörende gungen der Champions League Bayer Leverkusen — 1. FC Kaiserslautern — Monatsmagazin sollte der Kanal TM 3 gehören. Der Lazio Rom Benfica Lissabon „Geo“ hatte ur- verabredete Sendeplatz-Tausch 15,7% 28,0% sprünglich befürch- mit QVC scheiterte an einer de- tet, mit „National fekten Schaltuhr der Telekom. So 15. September 30. September Geographic“ Kon- FC Bayern München — FC Bayern München — sah die Kundschaft im Bonner Ka- PSV Eindhoven Manchester United kurrenz im eigenen belnetz die QVC-Offerten für Bro- Haus zu bekommen, schen und Ohrringe statt der Tore 20,5% 34,2% zumal der Preis zum 1:1-Endstand. Gruppenspiel deutlich unter „Geo“-Niveau (elf Mark) liegen soll. Doch inzwischen se- hen die „Geo“-Ma-

TAGESSCHAU Team der ‚Tagesschau‘ nicht reine Spre- cher das neue Ob- GEOGRAPHIC NATIONAL cher, sondern Sprecher mit Modera- jekt gelassen. „Die Liedtke Kleine Revolution tionsfähigkeit auszuwählen“, heißt es in Originaltexte von einem Protokoll der Fernsehprogramm- ‚National Geogra- ei der „Tagesschau“, die sich bis- konferenz. Die Frage, ob man die 20- phic‘ haben oft et- Blang allem Modernisierungseifer Uhr-Nachrichten als kleine „Tages- was von Volkshoch- widersetzte, kündigt sich eine kleine themen“ präsentieren soll, wird in den schule“, sagt „Geo“- Revolution an. Laut einem internen Sendeanstalten schon länger diskutiert. Chefredakteur Peter- ARD-Papier haben die Programmdirek- ARD-aktuell-Chef Bernhard Wabnitz Matthias Gaede. toren den Abschied vom traditionellen hatte den Plan, zusätzliche Moderations- „Ich denke, unser Vorlese-Modell eingeleitet. „Es wurde elemente einzuführen, noch im Mai Publikum verlangt beschlossen, bei Neubesetzungen im dieses Jahres abgelehnt. Allerdings wur- nach mehr Facetten de während des Kosovo-Krieges in der Reportage, besonders deutlich, dass die „Ta- nach aktuellerem gesschau“ eine modernere Präsen- Stoff. Nicht nach ei- tation braucht. Während in ande- nem Reader’s Digest ren Nachrichtensendungen Live- mit Bildern.“ Zu- Schaltungen in die Krisenregion dem mache sein Deutsche Ausgabe oder zu Politikern möglich waren, Blatt ja „kaum noch spulten die Reporter der „Tages- Geschichten über Penisköcherträger“. schau“ nach wie vor ihre Texte ab. Klaus Liedtke, Chefredakteur der deut- ARD-Insider rechnen nun damit, schen Ausgabe von „National Geogra- dass die bisherige Sprecherin der phic“ – dessen erste Titelgeschichte den Fünf-Uhr-„Tagesschau“, Ina Berg- afrikanischen Massai gewidmet ist –, mann, die Nachfolge der zum Jah- kontert Kritik in seinem ersten Editorial

TEUTOPRESS resende scheidenden Chefspreche- mit einem Schiller-Wort: „Einfachheit Bergmann rin Dagmar Berghoff antritt. ist das Resultat von Reife.“

der spiegel 38/1999 117 Medien Erlkönig unsichtbar

ehe, wenn das deutsche TV- WMovie in die Schule geht. Dann setzt es Klischees, dass sich die Pulte biegen. Ewig geile Schüle- rinnen sinnen darüber nach, wie sie den Junglehrer verführen können. Hinterhältige Lausbuben verteilen Drogenpäckchen. Die wenigen jun- gen Lehrkräfte sehen sich von sinis- tren Alt-Paukerkollegen umstellt. Im Lehrerzimmer werden Intrigen ge- sponnen, in den Klassenräumen fle- geln sich die Schüler gelangweilt, auf

dem Pausenhof fliegen die Fäuste – M. WEBER W. Schule wird vom Fernsehen als Fernseh-Veteranen Höfer (1996), Lembke (um 1982) höhere Irrenanstalt präsentiert. Unlängst bediente das ZDF mit der TV-BÜCHER Movie-Reihe „Einfach Klasse!“ alle Klischee-Erwartungen, die das Rückblick aufs Schweinderl Medium beim Thema Schule selbst erzeugt hat – Spiele wie „Unser eutsche Verlage versprechen sich offenbar ein Geschäft Lehrer Doktor Specht“ oder das Dmit der Fernsehnostalgie. Gleich zwei in diesem ARD-Internatsspektakel „Die Schu- Herbst erscheinende Bücher lassen die flimmernden Ge- le am See“ zementieren ebenfalls stalten von einst – „Was bin ich?“-Rätselonkel Robert unverdrossen die Stereotypen. Lembke mit seinen berühmten Schweinderln, Frühschöpp- Bildung, so hört man allerorten, sei ner Werner Höfer, „Mr. Tagesschau“ Karl-Heinz Köpcke – eine wichtige Ressource in der Ar- auferstehen. Das im Battenberg-Verlag herauskommende beitswelt der globalen Ge- Opus „50 Jahre Deutsches Fernsehen“ des Münchner Foto- sellschaft. Das fiktionale journalisten Wolfgang Maria Weber, 40, sammelt die Fern- Fernsehen hat davon Buchcover seherinnerungen seiner Generation. „Flimmerkiste“ heißt nichts gehört und meidet die Rückschau des Gerstenberg-Verlags (Herausgeberin: jede Beschäftigung mit der Nina Schindler) – eine humorig gemeinte Sammlung von Journalistenbeiträgen. Wer Hauptsache der Schule: tiefgreifende historische Analysen sucht, wird enttäuscht. Der Dortmunder TV-Publi- dem Unterricht. zist Fritz Wolf weiß, warum: „Fernsehen hat keine Geschichte, nur Geschichten.“ Das Einzige, was in den Schul- schmonzetten gezeigt wird, ist eine Lehrerin, die Lessings Reclam-Bändchen mit „Emilia QUOTEN/NOSTALGIE Freunde der lieben „Schööler“ gibt’s Galotti“ den maulenden Schülern noch genug. Längst hat die „Feuerzan- auf den Tisch wirft. Gegen solche Mehr als ein genbowle“ auch bei Jugendlichen Kult- schnöde Behandlung ist ein Film status. Wenn der verkleidete Primaner wie der „Club der toten Dichter“ wenziger Schlock Pfeiffer seinen Namen erläutert („mit eine Feierstunde der klassischen drei f, eins vor dem ei und zwei hinter Bildung. b neuer Wein in alten Schläuchen dem ei“), jubelt in WGs und auf studen- Vielleicht sollten Drehbuch-Auto- Ooder alter Wein aus alten Flaschen tischen Feten das junge Volk wie beim ren, die sich mit Schule beschäfti- – die ARD macht mit Oldies Quote. Das Satz des alten Paukers: „Sä send albern, gen, mal wieder bei der Wirklich- recycelte „Stahlnetz“ erzielte vorver- Ehnen fählt die settliche Reife.“ keit vorbeischauen. In der neuesten gangenen Sonntag die Traumquo- Ausgabe der GEW-Zeitschrift „Er- te von 8,24 Millionen Zuschau- „Die Feuerzangenbowle“ ziehung und Wissenschaft“ berichtet ern, was einem Marktanteil von ARD-Zuschauer ein Lehrer über den Riesenerfolg, 27,8 Prozent entspricht. Und in Millionen bei der Aus- den er bei Problemkindern einer wenn an diesem Freitag Heinz strahlung des Ufa-Films Frankfurter Schule mit Goethes Rühmann in der „Feuerzangen- mit Heinz Rühmann „Zauberlehrling“ erzielt hat. Den bowle“ den Chemielehrer („Aber „Erlkönig“ rappte einer dieser nor einen wenzigen Schlock“) 1. Aug. 1984 12,1 Schüler vor Begeisterung. Zum veralbert, kann das Erste sicher Schluss produzierten die Außensei- sein, dass trotz der vierten Wie- 6. März 1987 13,4 terkids sogar eine CD über das Dra- derholung allein in der ARD die ma bei Nacht und Wind. Quotenfreunde keinen trockenen 4. April 1997 7,8 Wer nur auf den Klischees her- Mund bekommen. Allerdings umreitet, sieht solche Erlkö- boomt die Altschmonzette nicht 18. Sept. nige nie. mehr so wie in den Zeiten vor 1998 5,9

Einführung des Privat-TV, aber KINDERMANN

118 der spiegel 38/1999 Fernsehen Vorschau Einschalten

Menschen hautnah: „… eine gewisse Art von Tod“ Montag, 22.35 Uhr, West III Die Vergewaltigung einer Frau ist keine entschuldbare gewaltsame Explosion männlicher Begierde, sie ist die Zer- störung eines weiblichen Menschen. Mit den sparsamen Mitteln des Doku- mentarfilms gelingt es dem Autor und Adolf-Grimme-Preisträger Wolfram „Die Diebin“-Darstellerin Speichert Seeger, die seelischen Folgen solch ei- ner Tat zu zeigen. Die Diebin Darbietungen der Konkurrenz oft so Eine Berlinerin er- Freitag, 20.15 Uhr, Pro Sieben zäh macht: der Wille zu teutonischer zählt von einem fünf Das ist der richtige Stoff, bei dem Pro Schwere. „Die Diebin“ – eine ange- Jahre zurückliegen- Sieben zeigen kann, dass die Idee vom nehm leichte Fitness-Stunde, im Fern- den Vergewaltigungs- flotten Kinogeist in einer Fernsehpro- sehsessel zu genießen. verbrechen, das ihr duktion kein Hirngespinst zu sein Leben fast ausge- braucht. Mal gelenkig wie eine Spinne, Berlin – Ecke Bundesplatz löscht hätte. So mal übermütig wie ein wild geworde- Freitag, 0.45 Uhr, ARD sachlich und ruhig ner Sektkorken schlängelt, hangelt und Detlef Gumms und Hans-Georg Ull- die Frau wirkt, in turnt Sandra Speichert als Diamanten- richs Langzeitbeobachtung des Lebens jeder ihrer Schilde- diebin über den Dächern von Düssel- in einem Berliner Viertel gehört zu den rungen ist das Trau- dorf. Die Handlung dieser Action- sehenswerten Doku-Produktionen des ma präsent und wird Komödie – ein Versicherungsbetrug mit Fernsehens – eine ebenso behutsame die Anstrengung er- falschen und echten Klunkern – legt wie eindringliche Schilderung. Das kennbar, das psychi- dem hübschen Irrwisch Speichert keine Erste drückt so etwas in die Nacht, wo sche Gleichgewicht Fesseln an. Sie darf in Autos herumra- alle Quoten grau sind. zu halten. sen, die glatten Fassaden von Hotels hochgehen und allen möglichen High- Boxen Die Mauer tech-Zauber vor verschlossenen Treso- Samstag, 22.50 Uhr, RTL Mittwoch, 21.45 Uhr, ARD ren veranstalten, als wolle sie Rififi und Der großen Worte sind genug gewech- Beginn einer sechs- James Bond überbieten. Buch und Re- selt, heute sprechen die Fäuste: Axel teiligen Reihe über gie (Michael Karen) tun recht daran, Schulz und Wladimir Klitschko kämp- die Berliner Mauer den Film nicht allzu ernst zu nehmen. fen in Köln um die Europameister- Mauerbau (siehe Seite 125). So fehlt hier völlig, was die Action- schaft im Schwergewicht.

Ausschalten

Für immer und immer danken in den USA geblieben und wol- Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD le getreulich die Klischees vieler TV- Soziale Elternschaft gegen leibliche – B-Movies übersetzen. Die Chance, eine seit der Bibel und Bert Brecht („Der echte Tragödie zu zeigen, vertut der kaukasische Kreidekreis“) beschäftigt Film gleich zu Beginn. Die Designer- das Thema die Gemüter. Der Hambur- Gattin am vornehmen Hamburger Elb- ger Filmemacher Hark Bohm stieß auf hang (Jeannette Arndt) wird als psy- das Problem, als er in den USA mit chopathische Hexe gezeigt, die heim- seinen kleinen Kindern Ferien machte: tückisch, lüstern und unbemerkt ihren „Newsweek“ und „Time Magazine“ ewig schreienden Säugling erstickt. berichteten von Urteilen amerikani- Wenn sie im weiteren Verlauf der scher Gerichte, die leiblichen Vätern Handlung ihre einst in Pflegschaft ge- Ter Steege, Hoenig in „Für immer …“ und Müttern das Recht gaben, ihre gebene Tochter Maria aus der redli- Kinder aus den Familien der Adoptiv- chen und braven Familie des Hafen- Horrors ab. Wirklich schade, denn die eltern herauszuholen. Zurückgekehrt schlepper-Schippers (Heinz Hoenig) kleine Maria-Darstellerin und Adoptiv- recherchierte der gelernte Jurist hier und seiner holländischen Frau (Johan- tochter des Regisseurs, Lili Bohm, zu Lande, und es kam der heute zum na ter Steege) herauslösen will, ist der spielt mit herzerfrischender Direktheit, ersten Mal im Fernsehen gezeigte Film Zuschauer moralisch ausgerichtet: Bö- aber sie kann nicht aufbrechen, was das heraus. Doch das Melodram wirkt, als se kämpft gegen Gut. Zum Finale kippt Buch an Schwarzweißkonstellationen sei Bohm mit dem Herzen und den Ge- der Film vollends in die Klischees des zusammengeleimt hat.

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SPRINGER-VERLAG Tausend Tonnen Watte Beim Springer-Verlag steht schon wieder ein Führungswechsel an. Die Großaktionäre haben sich geeinigt: Der frühere „Bild“-Chef Claus Larass soll als Nachfolger von August Fischer an die Spitze des Konzerns rücken – spätestens im Januar 2001, vielleicht schon deutlich früher.

der Springer-Zentrale. Dringen durch die weiße Schleiflacktür von Zimmer D 1134 in der Vor- standsetage, wandern an Frau Kurz vorbei durch das kleine Vorzimmer und landen schließ- lich bei ihm. Bei Claus Larass. Er wird sich in sein weißes Leinensofa setzen, eine dicke Havanna anstecken, in der „B. Z.“ blättern, sich über die Schlagzeilen seines Freundes Franz-Josef Wagner („Titten- Kanzler im TV“) amüsieren und darauf warten, dass die Gerüchte irgendwann auch nach Berlin und München drin- gen – eher früher als später. Dort wird man sie auf- merksam registrieren. In Ber- lin, wo Friede Springer lebt, die als Witwe des Verlags- gründers 50 Prozent plus eine Aktie an dem Konzern hält, und in München, dem Fir- mensitz des Filmhändlers Leo Kirch, dem 40 Prozent der An- teile gehören. Sie wissen, dass er unver- zichtbar ist, und das weiß auch er. „An Larass gab es nie einen Zweifel“, heißt es im Umfeld der Witwe. „Es gab nie einen

J. DIETRICH / NETZHAUT DIETRICH J. Zweifel an Larass“, sagen Konzernchef Fischer, designierter Nachfolger Larass: Wie ein Ehepaar kurz vor der Scheidung Vertraute des Filmhändlers. Selten ist man sich in einer in Gerücht, nichts als ein Gerücht. pas größtem Zeitungshaus steht. Wenn Personalangelegenheit so einig gewesen. Es wandert durch das Hamburger „Gus“ Fischer seinen Vertrag als Vor- Jahrelang haben sich Kirch und die Sprin- ESpringer-Hochhaus, und niemand standsvorsitzender verlängert, dann geht er. ger-Erben erbitterte Gefechte um die kann es stoppen.Vom vierten Stock in den Hat man Larass nicht neulich erst zu- Macht in Deutschlands zweitgrößtem Ver- achten, vom achten in den zehnten, und sammen mit Gerd Schulte-Hillen gesehen, lagshaus geliefert. Doch seit einigen Mo- vom zehnten runter ins Erdgeschoss, da dem Boss des Hamburger Großverlags naten herrscht Ruhe an der Front. Keiner wo die Kantine ist. Langsam fährt es mit Gruner + Jahr? Der soll ihm viel Geld und weiß genau, warum. Aber: „Die Zeit der dem Paternoster wieder hoch, und spätes- einen Vorstandsjob angeboten haben. Cle- guten Monate muss man nutzen“, heißt es tens jetzt ist das ganze Haus infiziert. Jeder verer Schachzug. Holt sich den besten in der Umgebung von Kirch, „denn jeder hat es gehört, und jeder glaubt es. Mann der Konkurrenz, um sein schwieriges weiß, dass sie vorübergehen werden.“ Claus Larass geht. Das hat er gesagt. Soll Zeitungsgeschäft („Berliner Zeitung“, Man hat sie genutzt. In aller Stille haben er gesagt haben. Sollen Leute gesagt haben, „Hamburger Morgenpost“) auf Vorder- sich die beiden Großaktionäre jetzt geei- denen er das gesagt hat. Gesagt haben soll. mann zu bringen, und schädigt gleichzeitig nigt: Spätestens am 1. Januar 2001 wird Larass geht, weil er keine Lust mehr hat. Er den Erzfeind Springer („Bild“, „Welt“, Claus Larass an der Spitze des Springer- will nicht der ewige Stellvertreter sein, der „Hör zu“). Macht Sinn, sagt man sich. So Verlags stehen. Er wird den Schweizer Au- alternde Thronfolger, der mit seinen 54 im- könnte es gewesen sein. So soll es gewesen gust „Gus“ Fischer, 60, ablösen, dessen Ver- mer darauf wartet, dass sein Chef den Ses- sein. So war es. Angeblich. trag Ende nächsten Jahres ausläuft. sel räumt und er, der bisherige Zeitungs- Irgendwann – eher früher als später – er- „Die Nachfolge ist zur Zeit kein The- vorstand, endlich an der Spitze von Euro- reichen die Gerüchte auch den elften Stock ma“, heißt es offiziell bei Springer. Und:

120 der spiegel 38/1999 „Es wird im Aufsichtsrat weder darüber Knightsbridge, fliegt jeden Mon- diskutiert, noch steht der Punkt auf der Ta- tag nach Hamburg, residiert im gesordnung.“ Doch der Aufsichtsrat muss teuren Hotel Vier Jahreszeiten und jetzt ohnehin noch keinen entsprechenden fliegt meistens Donnerstag abends Beschluss fassen. Entscheidend ist, dass sich wieder zurück nach London. die Eigentümer mittlerweile einig sind. Dem Manager, der Anfang der „Sie werden sich noch wundern“, hat Neunziger als rechte Hand des Fischer einem seiner Chefredakteure vor amerikanisch-australischen Me- kurzem gesagt. Das klang so und sollte dientycoons Rupert Murdoch Kar- wohl auch so klingen, als wolle er noch riere machte, gelingt es, auch nach mal verlängern. Doch dazu wird es – an- einem Zwölf-Stunden-Tag noch so ders als bisher kolportiert – nicht kommen. auszusehen, als habe er gerade das Bis Ende Oktober muss Fischer dem Auf- Ankleidezimmer verlassen: das sichtsrat mitteilen, ob er weitermachen weiße Hemd knitterfrei, die Man- will, aber längst ist ihm signalisiert worden, schetten frisch gestärkt, die Bügel- dass er keine Chance hat. Im Gegenteil – alles spricht dafür, dass er vorzeitig seinen Stuhl räumen wird. Wahrscheinlich zur Hauptversammlung im Sommer nächsten Jahres, vielleicht sogar noch früher. „Das ist allein die Entscheidung von

Herrn Fischer“, heißt es im Eigentümer- DPA kreis. „Wenn er bis Ende 2000 bleiben will, „Bild“-Chef Röbel dann kann er bleiben. Wir haben ihn ge- Leicht sinkende Auflage holt, und wir werden keinen Druck auf ihn ausüben.“ Das heißt im Klartext: Wir wer- zu Boden geht.“ Seine Stärke sei den nichts tun, um ihn zu halten. es, die Schwäche seiner Konkur- Mit Larass rückt bald schon ein Mann an renten auszunutzen. Freundlich, die Spitze des Konzerns, dem bis heute nett und so geschickt, dass an sei- viele im Unternehmen den neuen Job nicht nen „Händen nie Blut klebt“, wie zutrauen: Der „Larry“ gilt als freundli- ein früherer Kollege beobachtet cher, aber farbloser Kumpel-Typ, ist ein hat. Und einer seiner Chefredak- miserabler Redner und sieht so aus, als hät- teure sagt über ihn: „Tausend Ton- te man ihn versehentlich von der Pfört- nen Watte sind auch tausend Tonnen falte der grauen Hose – ähnlich wie der nerloge in die Vorstandsetage katapultiert. schwer.“ Scheitel – millimetergenau ausgerichtet, im Doch genau das ist seine Stärke. Er ist Fischer und Larass, die beiden Männer maßgeschneiderten Zweireiher stets ein immer unterschätzt worden. Offene Kon- könnten unterschiedlicher nicht sein. Fi- farblich abgestimmtes Seidentuch. flikte vermeidet er. „Er ist wie ein guter scher hat eine steile, internationale Karrie- Larass hingegen erweckt morgens be- Boxer“, sagt ein Bekannter über ihn, „er re hinter sich, spricht Deutsch, Englisch und reits den Eindruck, als habe er schon einen weicht allen Schlägen aus und wartet so Französisch fließend, spielt Golf, lebt mit Zwölf-Stunden-Tag hinter sich: die Kra- lange, bis der Gegner ermattet von allein seiner Frau im feinen Londoner Stadtteil watte gelockert, das Hemd zerknittert, das

ZEITUNGEN Verkaufte Auflage in tausend, Bilanz ohne Glanz 2765 jeweils 2. Quartal 4745 4527

4452

Umsatz einschließlich Nebenerlöse Umsätze nach 3343 Milliarden Mark Geschäftsbereichen 4,6 Milliarden Mark 4,8 1998 in Millionen Mark 2460 2172 2154 ZEITSCHRIFTEN 1552 1267 1997 1998 1230 12,8% 13,1% davon Auslandsanteil 203 234 Jahresüberschuss 231 Quelle: IVW 276 Millionen Mark 211 Millionen Mark TECHNIK 19911993 1995 1997 1999 ELEKTRONISCHE Druckereien TV-Marktanteil in Prozent MEDIEN 291 1. Halbjahr ohne Sat 1 BÜCHER Zuschauer 1999 ab 3 Jahre 84 92 14,7 11,2 10,3 1997 1998 Quelle: AGF/GfK Springer-Anteil 41%

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Jackett nie richtig elegant. Er hat nicht in Schon der erste große Deal platzte spek- gie zu halten war: „TV gehört nicht zu un- London, New York und Chicago gearbeitet, takulär: In zäher Kleinarbeit fädelte Fi- serem Kerngeschäft“, zitieren ihn Mitar- sondern in Nürnberg, Ingolstadt und Köln. scher an seinem Wohnort London den Kauf beiter. Und: Man müsse aufpassen, im Fern- Kurz vor dem Abi schmiss er die Schule, der britischen „Mirror“-Gruppe ein. Vier sehbereich nicht zu viel Geld zu versen- reiste durch Indien und heuerte nach Milliarden Mark wollte er für den ange- ken. Auch das England-Engagement seines seiner Bundeswehrzeit bei verschiedenen schlagenen Zeitungskonzern zahlen. Doch Chefs stieß dem Vize sauer auf, der lieber Lokalzeitungen an. Schnell machte Larass in einer gemeinsamen Sitzung des Vor- auf dem europäischen Kontinent expan- Karriere: Innenpolitikchef bei der „Welt“, stands mit dem Aufsichtsrat verzichtete dieren will. Der Markt in England sei maß- Politikchef der „Welt am Sonntag“, Vize- Springer im Sommer vergangenen Jahres los überteuert, monierte Larass gegenüber Chef der „Bild am Sonntag“, Vize der auf ein Kaufangebot – „nach gründlicher Vertrauten und forderte, sich weitgehend „Bunten“, Chef der Berliner „B. Z.“ Abwägung aller Chancen und Risiken“, so auf Print- und Online-Aktivitäten zu be- und 1992 als Nachfolger von Hans-Her- die offizielle Erklärung. schränken, was TV-Unternehmer Kirch mann Tiedje Chefredakteur der „Bild“- Den beiden Großaktionären war das Ge- höchst freudig vernahm. Fischer und La- Zeitung. schäft zu heiß geworden. Larass soll in- rass begegnen sich stets mit ausgesuchter Freunde wollen bemerkt ha- Höflichkeit. „Wie in der End- ben, daß Larass die Schwäche phase einer Ehe“, hat ein Be- seiner Gegner früher als ande- kannter der beiden beobach- re erkennt. Ein Weggefährte: tet, „beide wissen, dass sie „Er hat ein extrem gutes Ge- fremdgehen. Der Scheidungs- spür für Absteiger.“ termin steht noch nicht fest, Den fand er 1997 im dama- aber noch will man zusammen ligen Springer-Chef Jürgen einen Aktiendeal durchziehen Richter, den er in einem bei- und muss sich über das Sorge- spiellosen Machtkampf aus recht für die Kinder einigen.“ dem Amt hebelte. Richter hat- Doch die Scheidung rückt te – an Larass vorbei – den näher. Larass wird ein schwe- „Bild“-Politikchef und engen res Erbe übernehmen. Zwar Larass-Vertrauten Kai Diek- wuchs der Konzernüberschuss mann versetzen wollen. Der im vergangenen Jahr um fast empörte „Bild“-Chef Larass ein Drittel auf 276 Millionen wehrte sich, nachdem ihm die Mark, aber damit hat Vor- Eigentümer versichert hatten, standschef Fischer vor allem dass Richters Zukunft bei von den Kostensenkungen Springer bereits Vergangen- und Produktionsverbesserun- heit war. Wenig später ging gen profitiert, die noch von Richter, und Larass wurde mit seinem Vorgänger Richter ein- Fischer in den Vorstand beru- geführt worden waren. fen. Fischer als Chef, Larass Im Zeitschriftenbereich leg- als sein Stellvertreter und zu- te der Verlag außer der ständig für den Zeitungsbe- Frauenillustrierten „Allegra“ reich des Konzerns.Auch sein schon seit Jahren keine Inno- alter Freund Diekmann profi- vation mehr vor. Sein Know- tierte von dem Aufstieg: Er how-Vorsprung bei den Pro- wurde Chefredakteur der grammzeitschriften („Hör „Welt am Sonntag“. zu“, „Funkuhr“) hat er schon Schnell stellte sich heraus, lange an die Konkurrenz ab-

dass Fischer und Larass sich M. TINNEFELD / PEOPLE IMAGE gegeben. nicht nur in Stilfragen unter- Larass-Freund Diekmann*: Keine offenen Konflikte Mit massiven Investitionen scheiden. „Meine Damen und und neuen Chefredakteuren Herren, es ist Zeit zum Aufbruch“, ver- tern, gegenüber den Eigentümern, seine ist es Larass immerhin in seinem Verant- kündete der neue Konzernchef im Juli ver- Bedenken geäußert haben. wortungsbereich gelungen, die Auflage der gangenen Jahres vor über 300 Führungs- Fischer ließ sich nicht bremsen. England „Welt“ und der „Welt am Sonntag“ zu stei- kräften im feinen Hamburger Hotel Atlan- ist für ihn das wichtigste Ziel für Akquisi- gern (SPIEGEL 31/1999), doch dafür sank tic. Springer sei zu deutsch, zu provinziell, tionen, um von dort aus auf den US-Markt die Auflage der „Bild“-Zeitung unter ihrem zu wenig dynamisch – die Mitarbeiter zeig- vorzustoßen. In London gründete er zwei Chef Udo Röbel innerhalb eines Jahres um ten zu wenig Initiative und warteten auf neue Tochtergesellschaften für den Print- 175000 Exemplare auf 4,45 Millionen. Befehle. Demonstrativ ließ Fischer eine und den TV-Bereich. Gleichzeitig versuch- Ambitionen auf die Führung des Sprin- Harvard-Professorin über Globalisierung te er mit großem Aufwand, den Konzern ger-Konzerns hat Larass stets verneint, wann reden – auf Englisch, so dass etliche der zum Fernseh-Produzenten auszubauen. immer er danach gefragt wurde. Keine Anwesenden (zu deutsch, zu provinziell) Doch das von Springer produzierte und kecken Formulierungen, keine Andeutun- Mühe hatten, den Ausführungen zu folgen. groß angekündigte Sat-1-Magazin „News- gen, nicht diese dampfende Ungeduld. La- Der Großvisionär aus der Schweiz kün- maker“ wurde in der Branche verhöhnt – rass gestattet sich – ungewöhnlich für seine digte an, den Konzernumsatz innerhalb und floppte. Berufsgruppe – keinen öffentlichen Egotrip. von zehn Jahren von knapp fünf auf zwölf Larass trug die Vorhaben seines Chefs Fragen nach seinem Lebenstraum kon- Milliarden Mark steigern zu wollen. Ein nach außen stets mit, doch intern ließ er tert er mit professioneller Bescheidenheit. ehrgeiziges Ziel, das vor allem über Zukäu- keinen Zweifel daran, was von der Strate- „Wenn ich mit meiner Arbeit zu einer sta- fe im In- und Ausland erreicht werden bilen Entwicklung unserer Titel beitrage“, so sollte. Doch den großen Worten sind bisher * Mit dem ehemaligen „Bild“-Chef Peter Boenisch und seine Standardantwort, „bin ich schon ganz nur kleine Taten gefolgt. dessen Ehefrau. fröhlich.“ Konstantin von Hammerstein

122 der spiegel 38/1999 Werbeseite

Werbeseite Differenzen mit dem RTL-Eigner Bertels- mann. Irgendwann sei eben „der Zeitpunkt gekommen, wo man entscheiden muss, ob man einen Flughafen leiten oder den Jet fliegen will“, gab Conrad unlängst einer Luxemburger Publikation zu Protokoll. Obwohl ihm streng genommen der Flug- hafen nie angeboten worden war. Statt Conrad kürten die Manager von Bertelsmann lieber den Österreicher Ger- hard Zeiler zum neuen Boss. Dem düpier- ten Programmchef boten sie zwar eine Ver- längerung des Arbeitsverhältnisses an – al- lerdings zu wesentlich schlechteren Kon- ditionen. Denn so einen Vertrag – wie den von Conrad – hatten die Bertelsmänner noch nicht gesehen. Doch Conrad lehnte ab und strich dank einer so genannten Key-man-Klausel, die seinen Abschied an den von Thoma kop- pelte, eine millionenschwere Abfindung ein. Und während Thoma noch vernehm- lich über die neuen Herren zeterte, mach- te sich Conrad gewohnt fleißig daran, seinen eigenen Laden aufzubauen. Kein Jahr nach seinem Abschied drängt er nun mit Macht zurück ins RTL-

RTL Programm. Am Freitag startete bereits „Mein Morgen“-Moderatorinnen Gesthuysen, Paidar: Mode und Gartengemüse die Comedy-Show „Freitag Nacht News“, von dieser Woche an liefert „typhoon“ jeden Tag das PRODUZENTEN anderthalbstündige Maga- zin „Mein Morgen“, das Napoleon die erwachenden oder bereits vom Kindergarten heimkehrenden Hausfrauen im Jet von neun Uhr an mit guten Ratschlägen empfan- Vor knapp einem Jahr verließ gen soll. Dafür laden sich die beiden Moderatorinnen er RTL, nun drängt der Tanja Paidar und Anne Ex-Programmchef Conrad als Gesthuysen täglich eine freier TV-Produzent bunte Mischung aus Promi- zurück auf den Bildschirm. nenz und geballtem Exper- tentum auf die Couch und

n der Tafel im Büro ist Marc Con- TEUTOPRESS plaudern munter drauflos. rads Fernsehfirma schon ein richtig Fernsehprofi Conrad: „Wir betreten Neuland“ Über Brustkrebs, Garten- Agroßer Unterhaltungskonzern. Im gemüse, die aktuelle Fri- obersten der mit schwarzem Filzstift um- redakteur zum zweitwichtigsten Mann hin- surenmode oder eben die neuesten RTL- randeten Kästchen steht „typhoon ag“, ter Senderchef Helmut Thoma auf und TV-Movies. darunter verästeln sich einzelne Profit- machte aus dem Tutti-Frutti-Programm ein Auch wenn es nahe liegt – Frühstücks- Center – für Kinofilme, TV-Serien, Come- straff organisiertes Formatfernsehen. Prall fernsehen darf man diese Sendung nicht dy-Formate und Magazine. gefüllt mit täglichen Talkshows, selbst ge- nennen. Allein das Wort reicht aus, um Sogar eine eigene Plattenfirma ist dar- machten TV-Movies und Arztserien, in de- Conrads Miene bedrohlich zu verdüstern. unter („typhoon-records“) und vielleicht nen das Herzblut spritzte. „Wir betreten Neuland“, sagt er, weil Früh- demnächst ein Taschenbuchverlag. Wäre Dass er für den Quotenerfolg ange- stücksfernsehen zu sehr nach tapfer vor doch schade, wenn sich all die unbrauch- staubte Sendungen gnadenlos aus dem sich hin dilettierenden Moderatoren klingt, baren Drehbücher, die sich zurzeit auf Programm kegelte, brachte ihm den Beina- die die Pointen mit der Präzision eines de- Conrads Nachttisch stapeln, nicht irgend- men Stalin ein oder auch – körperlich ist er fekten Eierkochers abliefern und den Zu- wie verwerten ließen. „Ich werde mit an- kein Großer – Napoleon. Er wolle keinen schauern ständig mit dem Kaffeepott zu- deren Maßstäben als andere Produzenten „Opa mit Schlafstörungen“ vor der Glot- prosten. Und deren müde Augen doch nur gemessen“, sagt der 38jährige Luxembur- ze, hatte Conrad bereits zu seinem Amts- von permanentem Schlafentzug künden. ger. „Die Erwartungshaltung ist höher.“ antritt getönt; als er ging, waren der Ein undankbarer Job: Zurzeit schauen Kein Wunder, denn mit Conrad tummelt „Stanglwirt“ und das „Schloss am Wör- lediglich rund 2,5 Millionen Zuschauer zwi- sich seit Anfang des Jahres nicht irgendwer thersee“ Geschichte. schen neun und halb elf fern, zu wenig für auf dem Markt der freien Fernsehprodu- Viele sahen ihn schon als Nachfolger von ausreichend Werbegelder.Weswegen Con- zenten, sondern der langjährige Pro- RTL-Chef Helmut Thoma, doch als der vor rad eine Million zusätzlich vor den Fern- grammdirektor von RTL. In Rekordzeit knapp einem Jahr abgelöst wurde, verließ seher locken will. Ein Marktanteil von 20 stieg er dort vom einfachen Nachrichten- auch Conrad den Sender – ebenfalls nach bis 25 Prozent ist sein Ziel, „wenn wir bei

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15 Prozent hängen bleiben, war es nichts“. Dann will er auch mal hart gegen sich selbst sein. Damit es nicht soweit kommt, geht alles über seinen Schreibtisch – vom Logo der Sendung bis zur Ausgestaltung der Horo- skop-Ecke im Internet. Und wenn er sich nicht gerade telefonisch nach den Werbe- buchungen erkundigt, düst er mal eben mit seinem türkisfarbenen Porsche („passt gut zur Einrichtung im Büro“) die 200 Meter zum Studio – dem Bühnenbildner Guten

Tag sagen und nachschauen, ob der Tep- PRESS R. SUCCO / ACTION pich richtig verklebt ist. Denn bei RTL hat Maueröffnung in Berlin (1989): TV-Kameras machten Druck Conrad gelernt, dass man sich erstens um alles selbst kümmert und zweitens zusehen des Westens auch, noch zu den Überrum- muss, dass das auch jeder mitbekommt. TV-GESCHICHTE pelten. Ratlos und empört blicken die Ob- Weswegen er gern noch mal darauf hin- jektive auf die Vopos und Betriebskampf- weist, dass er soeben nachgeschaut hat, ob Jetzt wird gruppen, die den Ostteil Berlins abriegeln. der Teppich gut liegt. Da gibt es Bilder von Flüchtlingen, die Es scheint, als sei auf dem Studiogelän- die noch nicht so perfekten Sperranlagen de in Hürth bei Köln, wo Conrad nun per- geflutet überwinden, die berühmt gewordenen Auf- manent neuen Büroraum anmietet, aus nahmen vom Volksarmisten, der in einem dem einstigen Stalin ein guter Geist ge- „Die Mauer“ – eine famose günstigen Moment über den Stacheldraht worden. Während sich das Klima bei RTL springt. Matthias Walden, Berliner Journa- unter einem renditeorientierten Manage- historische Dokumentation im list und später Springers Gehilfe im Kalten ment abgekühlt hat, findet bei „typhoon“ Ersten zeigt den ganzen Wahnsinn Krieg, erregt sich über die „Verbissenheit“ die schrecklich nette RTL-Familie ein neu- des Walls quer durch Berlin. eines NVA-Offiziers und lobt die Zweifel es Zuhause: Im Aufsichtsrat sitzt Helmut im Gesicht eines einfachen Soldaten – Thoma, über die Flure huschen Hugo Egon ügen haben kurze Beine und oft Ohnmacht und Wut bestimmen das Fern- Balder („RTL Samstag Nacht“), die noto- schreckliche Gesichter. Nicht die fre- sehen, das Medium ist ausgesperrt. rische Sexpertin Erika Berger oder auch Lche Täuschung regt den Betrachter Als die Mauer fällt, ist alles anders, die der ehemalige Leiter von „Schreinema- von heute auf, mit der Walter Ulbricht, ro- Kamera macht Politik. Der fünfte Teil „Die kers-TV“, Karl-Heinz Angsten. In kürzes- ter DDR-Alleinherrscher, am 15. Juni 1961 Mächtigen und das Volk“, der Höhepunkt ter Zeit hat Conrad eine Art Parallel-RTL – zwei Monate bevor seine Trupps mit Sta- der Reihe, handelt davon.Als Günter Scha- erschaffen. cheldraht die Grenze verbarrikadieren – bowski auf einer Pressekonferenz die wich- Für die Zukunft plant er noch ein For- die Presse hinters Licht führt: „Niemand tigsten Worte der deutschen Nachkriegsge- mat mit Hella von Sinnen, bereits im Ok- hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ schichte über die neue Ausreiseregelung tober bekommt das Moderatoren-Urge- Wirklich schlimm wirkt in dieser Szene der DDR nuschelt, ist er live auf den Bild- stein Björn Hergen Schimpf eine neue die Aufgeräumtheit des lügenden Ulbricht, schirmen zu sehen. Als die Menschen we- Chance – in der donnerstäglichen Sport- die Lust an der List, diese ebenso trium- nig später zum Übergang Bornholmer Blödelshow „Dritte Halbzeit“. Insgesamt phierende wie kindisch-brutale Verachtung Straße drängen, sind die SPIEGEL-TV- bestückt TV-Produzent Conrad dann neun des Politruks gegenüber der bürgerlichen Kameras zur Stelle und erhöhen durch ihre Stunden RTL-Programm pro Woche. Zu- Presse. Es ist, als offenbare der Kommu- schiere Präsenz den Druck auf die Grenzer. sammen mit zwei geplanten TV-Movies nismus in Ulbricht sein wahres, un- Was sich anschließt, der Sturm des Volks dürfte sich ein Produktionsvolumen von menschliches Gesicht: Die Arroganz des über die Mauer – ein DDR-Offizier: „Jetzt rund 40 Millionen Mark ergeben – ein Pos- Ideologen versteinert die Mundwinkel und wird geflutet“ –, gerät zu einer Apotheose ten, für den andere Produzenten lange tötet jedes Leben in den Augen. des Fernsehens, die Bilder vom tanzenden Klinken putzen müssen. Die Beschäftigung mit Historie ist längst Volk auf dem Wall jagen durchs elektroni- Für Conrad nur ein Anfang: Der dicke kein Monopol der Schreiber mehr. Der Ge- sche Weltdorf. Bei Hegel ritt der Weltgeist Ordner voller Programmideen auf seinem schichte kann man zusehen. Das beweist in Gestalt Napoleons noch zu Pferde, 1989 Schreibtisch zeugt davon, dass er den Fir- die sechsteilige Reihe „Die Mauer“, die an hatte er elektronische Flügel. mennamen „typhoon“ durchaus wörtlich diesem Mittwoch um 21.45 Uhr im Ersten Auch die anderen Folgen der „Mauer“ nimmt. Mit allem, was sich medial verwer- beginnt, eine Produktion des NDR in Zu- – sie beschäftigen sich mit der Stasi und ten lässt, wollen er und seine 60 festen Mit- sammenarbeit mit SPIEGEL TV.Auch die den Dissidenten, den Geheimdiensten und arbeiter über das Land kommen. Ein Me- Kamera entlarvt, sieht hinter das, was sie dem politischen Besiegeln der deutschen dienmagazin für den Nachrichtenkanal zeigt, deckt Zusammenhänge auf. Und vor Einheit – zeigen das Fernsehen als Sou- n-tv würde Conrad gern machen oder eine allem: Die Bilder vom Bau, Bestehen und verän: Die Statements auch noch so wich- Sendung über Absonderliches aus den Ak- Fallen der Mauer sind so erregend und tiger Zeitzeugen, von Gorbatschow bis ten des Dritten Reiches. Der Mann schaut rührend wie am ersten Tag. George Bush, von Kohl bis Egon Bahr, ha- nicht nur fern, er liest auch viel. Es kann gut sein, dass das Fernsehen bis ben sich in den Bilderstrom zu fügen. Und das ist wahrscheinlich der größte dahin noch nie so historisch präsent und Denn die Bilder haben genug zu erzählen, Unterschied zu früher. Dass Conrad nicht am Ende mitentscheidend war wie beim nicht nur Jubel, sondern Ergreifendes wie mehr ausschließlich der seichten Unter- Untergang der DDR. „Die Mauer“ legt den Besuch Wolf Biermanns am Sterbebett haltung verpflichtet ist, sondern auch über dies zumindest sehr nahe. des Regimekritikers Robert Havemann anspruchsvollere Formate für andere Sen- Als das steinerne Ungetüm gebaut wur- oder Grausiges wie die Hinrichtungsstät- der nachdenken kann. Jetzt muss der Jet de – die Folge eins „Beton und Stachel- ten für abtrünnige Stasi-Mitarbeiter, die nur noch den geistigen Luftraum von RTL draht“ zeigt es –, gehörten die Bericht- als Agenten des Westens enttarnt worden verlassen. Oliver Gehrs erstatter mit der Kamera, wie die Politiker waren. Nikolaus von Festenberg

der spiegel 38/1999 125 Werbeseite

Werbeseite FITNESS & WELLNESS LEBENSZEIT GEWINNEN CHANCEN DER VORSORGE SEELE IM GLEICHGEWICHT

Joggerin am Strand

Sonderteil Gesundheit Länger gut drauf

Lohnt es sich, den Lockungen der modernen Medizin zu folgen, die Gesundheit und Wohlbefinden bis ins hohe Alter verspricht? Was taugen die Angebote der Fitness-Industrie? Was leisten Diät und Bewegungstraining? Wie viel bringt Hirnjogging? Nützt Rotwein?

der spiegel 38/1999 127 TITEL

Kleinkind, Greis: eine Lebensspanne von mehr als sieben Jahrzehnten

Körper, was willst du? Die moderne Medizin vollbringt Heilwunder, doch sie löst auch Ratlosigkeit aus: Laien finden sich kaum mehr zurecht im Labyrinth der Medizinangebote. Vieles nützt der Gesundheit, aber vieles ist auch fauler Zauber. Wer sortiert, ist gut beraten.

oggen, biken, stretchen, hanteln oder es der Zeitgeist, fitnesspolitisch korrekte völligen körperlichen, seelischen und so- schwimmen? Golfen, klettern, Inline- Wünsche äußern: Fünf Kilo müssen runter, zialen Wohlbefindens“. Das ist ein bisschen Jskaten oder gar nichts tun? mehr Bauchmuskeln wären gut als Stütze viel verlangt. Jeder, sagt der Kölner Sportmediziner für den Rücken und als Offerte an alle po- Der Wirklichkeit näher erscheint eine Dieter Lagerstrøm, müsse für sich selbst tenziellen Partner, eine Prise Yoga hilft Begriffsreihe, die der Philosoph und Psy- herausfinden, was für ihn gut ist. „Wir soll- vielleicht, den Stress abzubauen. chiater Karl Jaspers (1883 bis 1969) zusam- ten uns jeden Morgen nackt vor einen Spie- Dass Gesundheit die Basis des Lebens- mengestellt hat: „Leben, langes Leben, gel stellen und unseren Körper fragen: ‚Was glücks sei (nicht mehr das Seelenheil oder Fortpflanzungsfähigkeit, körperliche Leis- willst du von mir?‘“ gar der Heldentod), ist Konsens geworden. tungsfähigkeit, Kraft, geringe Ermüdbar- Vielerlei Antworten sind denkbar. „Wei- Für den Arzt und Schriftsteller Arthur keit, keine Schmerzen“ – ein Zustand, in terschlafen“, fleht vielleicht der eine, einen Schnitzler (1862 bis 1931) gehörte sie neben dem man körperliche Grenzen, „abgese- anderen verlangt es nach dem kurzen, dem Leben und der Liebe zu den „absolu- hen vom lustvollen Daseinsgefühl“, kaum scharfen Bronchien-Biss der Morgenziga- ten Gütern“ des Daseins. wahrnimmt. rette, nüchtern. Aber die Mehrheit der vor Gesundheit, sagt die Weltgesundheits- Das zu Ende gehende Jahrhundert hat – dem Spiegel Bloßgestellten wird, so will organisation (WHO), sei der „Zustand des und das zum ersten Mal in der Geschichte

128 der spiegel 38/1999 INHALT FITNESS & WELLNESS Wege durch das Labyrinth der Heilkunst...... 128 Wellness-Paläste verdrängen Muskelkraftmaschinen...... 134 Gesund durch richtige Ernährung?...... 140 Rotwein nützt gegen Herzinfarkt...... 144 Faltenlos glücklich – die Verheißungen der Schönheitschirurgie ...... 148 Sex lebenslänglich? Gespräch mit dem Leiter des Kinsey-Instituts ...... 156

LEBENSZEIT GEWINNEN Zellforschung: Wie alt wird der Mensch? ...... 162 Dolce vita in der Kurklinik – Hans Halter über das Bäderwesen...... 168 Happy mit der Hüfte – länger jung trotz Handicap ...... 174 Hormon-Cocktails halten frisch: „Life Extension“ in Palm Springs ...... 178 Wie überlebt man als Patient im Krankenhaus? ...... 182

CHANCEN DER VORSORGE Krebsfrüherkennung – und keiner geht hin ...... 184 Experten streiten um die Behandlung der Wechseljahre ...... 188 E. HONOWITZ / TONY STONE E. HONOWITZ / TONY Die Hitzewallungen des Mannes...... 190 Haarausfall durch Handy? Umweltleiden häufen sich ...... 194 schen rationale und irrationale, modische Im 20. Jahrhundert ist der medizinische und ausgefallene Wege, um ihr Wohlbefin- Fortschritt vorangestürmt. Das Rettungs- SEELE IM GLEICHGEWICHT den zu bessern.“ wesen und die Chirurgie, keimtötende Kein Zweifel aber auch, dass das Leben Arzneimittel und Impfungen haben in den Stress: Strategien gegen das die meisten Menschen Realismus lehrt: letzten hundert Jahren mehr Erfolge er- Erbe der Steinzeit...... 196 Man weiß, dass jugendliche Frische ver- möglicht als in der ganzen Menschheits- Psychopillen: Doping für den Alltag..... 202 geht, lernt die körperlichen Leiden ken- geschichte seit dem Neandertaler. Kopftraining: Jogging nen und muss hinnehmen, dass alles Leben Der Status quo der Medizin ist charak- fürs Gehirn ...... 207 endlich ist. So weit, so deprimierend – und terisiert durch viele kleine und etliche unabänderlich. Doch innerhalb dieses Rah- spektakuläre Siege. Die Herz- und Trans- Belle Époque des Lebens – Fritz Rumler über die Freuden des Alters ...... 213 mens ist dem einzelnen Menschen ein wei- plantationschirurgie steht obenan. Aber tes Feld gegeben: Seine Gesundheit ist der sind nicht auch Anti-Asthmatika und ge- Gewinn aus vielen Umständen. schiente Knochen, erfolgreiche Tuberku- des Arzttums – das viel versprechende Dazu zählen die ererbten Anlagen, Ein- losetherapie und sogar die Beruhigungs- Wort „Heilkunst“ eingelöst, hat die Medi- flüsse der belebten und unbelebten Um- droge Valium großartige Mittel gegen zin expandieren lassen, das Land mit ei- welt, dazu gehört auch die Art, wie der Krankheit und Tod? nem Netz von Kliniken, Rettungshub- Einzelne sein Leben führt und gestaltet. Weil Fortschritt und Forschung der Auf- schraubern und Intensivstationen überzo- Man kann eine Menge falsch machen. Un- klärung, der Vernunft und den Naturwis- gen und die Ungleichheit vor Krankheit versehrtheit, Leistungsfähigkeit und Wohl- senschaften verpflichtet sind, ergeben sich und Tod gemildert. befinden sind mehr als nur ein Geschenk zahlreiche Konfliktfelder: Bei einem Vergleich der Gesundheits- der Natur. π Wie soll der Einzelne, die Ärzte nennen lehren in verschiedenen Jahrhunderten Es gibt keinen Königsweg zur immer ihn den „Laien“, sich auch nur einiger- kommt der Kölner Medizinhistoriker Klaus währenden Gesundheit, allerdings auch maßen zurechtfinden im Riesenreich Bergdolt zu dem Schluss, dass zumindest keinen Grund zum Fatalismus. Nie waren der Heilkunst, wo tausend Offerten auf die subjektive Vorstellung von Gesundheit die Menschen, jedenfalls in den Wohl- ihn warten, seriöse und noch mehr un- „in ihrem Kern“ über die Zeitläufte „er- standsländern, so gesund wie heute; nie seriöse? staunlich homogen“ geblieben ist. Und: zuvor durften sie im Krankheitsfall auf so π Welchem Weg soll er folgen, um die Zie- „Wohl zu allen Zeiten nutzten die Men- viel kompetente Hilfe hoffen. le Gesundheit und langes Leben zu er-

der spiegel 38/1999 129 TITEL BPK Badekur im 16. Jahrhundert*: Der ersehnte „Jungbrunnen“, der Ort, wo das Altern besiegt wird, blieb bis heute ein Trugbild

reichen, wo doch an jeder Gabelung des dem Einfachen und Einleuchtenden, ohne Die Misere, mit einem Körper leben zu Lebensweges diverse Hinweisschilder in viel Wenn und Aber. müssen, der unvollkommen ist und altert, alle vier Himmelsrichtungen zeigen? Es lässt sich auch nicht bestreiten, dass lässt den Menschen nach Auswegen su- π Was hilft gegen den immer währenden die naturwissenschaftlich orientierte Heil- chen. Eine Lösung, die in allen Alters- und Hang der Weißbekittelten, aus einem kunde viele Hoffnungen, die sie selbst in Bevölkerungsschichten Anhänger hat, ba- Kranken einen chronisch Kranken zu ma- die Welt gesetzt hat, bisher nicht erfüllen siert auf der Vorstellung, eigentlich sei der chen und seine Seele zu psychiatrisieren? konnte: Noch immer ist der Krebs nicht Körper eine Maschine. Wenn man sie or- π Wie schützt man sich vor überflüssigen besiegt, sind die Seuchen nicht ausgerot- dentlich warte, regelmäßig zum ärztlichen Abhängigkeiten, vor der süchtigen Hin- tet, ist die Überbevölkerung nicht unter TÜV bringe und verschlissene Teile vom gabe an Ärzte, Yoga-Therapeuten, Diät- Kontrolle. Vom ersehnten „Jungbrunnen“, Fachmann austauschen lasse, laufe sie Gurus oder Medikamente? dem Ort, wo das Altern besiegt wird, störungsfrei bis ins hohe Alter. Heilkunst, es lässt sich nicht leugnen, ist im- ist die Menschheit am Ende des Jahr- Die Idee, man könne mit dem Körper ei- mer auch ein Geschäft. Mal mit der Krank- tausends so weit entfernt wie an seinem nen Wartungsvertrag schließen, ist sehr heit, mal mit den Ängsten und Hoffnungen Beginn: Es gibt ihn nur als Fata Morgana, verlockend. Sie lässt jedoch die Unwäg- der Ratsuchenden. Das macht die Sache nicht als Trugbild. barkeiten des Lebens außer Acht – man einfacher. Dass die Pharmaindustrie der größ- Trotz aller Triumphe der modernen Me- wird, Drängler unter Dränglern, bei einem te Meister der unhaltbaren Versprechungen dizin – und das sind ja nicht eben wenige Fan-Event angehustet und, schwups!, hat ist, weiß jeder.Wer traut schon ihren man Tuberkulose. Man schlägt Verheißungen auf buntem Hoch- sich den Wanst voll mit Pikante- glanzpapier? Doch je älter der Die Idee, man könne mit rien aus fernen Ländern und hat Mensch wird, je mehr Schmerzen danach die entzündete Leber zu seine alternden Gelenke und Organe dem Körper einen Wartungs- trösten; man lässt, bewaffnet mit ihm bereiten, desto größer wird die vertrag schließen, ist einer Kawasaki, das Gas zwei Se- Sehnsucht nach irgendeinem helfen- kunden zu lange stehen, und den „Pipapolon“, wenn möglich ge- sehr verlockend. schon ist man Organspender. segnet vom Dalai Lama oder wenigs- Das Lebensglück, von einem tens von TV-Professor Brinkmann. klugen Mann definiert als die Vor allem die chronisch Kranken – – bleibt der Mensch ein biologisches Män- Kombination von stabiler Gesundheit und gleichgültig, ob sie an Rheumatismus, Me- gelwesen. Er ist ständig bedroht von Krank- schlechtem Gedächtnis, ist eben launisch – lancholie oder Schuppenflechte leiden – heiten und Organversagen. Dass der Homo man kann auch viel Pech haben: In jungen suchen außerhalb der „Schulmedizin“, wie sapiens die „Krone der Schöpfung“ sei, Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs er- sie an den Universitäten gelehrt wird, Rat hält einer vorurteilsfreien Prüfung nicht kranken, aus heiterem Himmel und nie- und Hilfe. Das geschieht meist ohne Wissen stand: Der seltsame Zweifüßler Mensch mand kann sagen, warum; aus unbekann- des behandelnden Arztes, heimlich also kann weder fliegen wie ein Vogel noch ter Ursache zu einer lebenslangen Rheu- und als Rückversicherung. schwimmen wie der Fisch. Er kann verlo- ma-Odyssee verurteilt werden; von Natur Für diesen Trend gibt es einsehbare rene Gliedmaßen nicht ersetzen wie der aus schwache Augen, einen irritablen Darm Gründe. Oft sind die medizinischen Außen- Molch, geschweige, dass er sich aus Teil- oder die verfluchte Migräne mit sich her- seiter die besseren Psychologen – sie be- stücken regenerieren könnte wie der Re- umtragen. friedigen die Sehnsucht des Kranken nach genwurm. Nicht einmal den Kopf kann er Für jeden Kranken ist es schwierig, auf nach hinten drehen, Zellulose nicht ver- dem Meer der Heilkunst einen vernünfti- * „Das Bad zu Leuk“ von Hans Bock dem Älteren dauen und keinen Winterschlaf halten wie gen Kurs zu halten. Vertraut man sich Na- (1597). Hamster und Igel. poleon an – „Ich glaube an den Arzt, nicht

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Werbeseite TITEL P. FRILET / MF STUDIO X P. Ayurveda-Behandlung: Bläht der Zeitgeist die Segel, verliert sich das Schiffchen der Kranken leicht auf dem Meer der Heilkunst an die Medizin“ –, kann es gut gehen. Askese ist kein Königsweg zur Gesund- „Nur den Göttern ist des Alters Bürde Kann, muss nicht. heit. Der langlebige Mark Twain, Pessimist fremd“, hat der griechische Philosoph So- Bläht der Zeitgeist die Segel, sollte auf und Humorist, hat am Ende seiner Tage phokles geklagt. Er selber wurde 90 Jahre dem Kompass des Schiffchens eingraviert notiert, dass man die Erkenntnisse der Me- alt und hat sich arg geplagt. Zu seiner Zeit werden: „Auch der Verstand hat seine Mo- dizin auf eine knappe Formel bringen kön- galt schon ein 50-Jähriger als Greis. Heut- den.“ Wer gestern durch Akupunktur ku- ne: „Wasser, mäßig genossen, ist unschäd- zutage werden selbst die 70-Jährigen an- riert wurde, ruft heute nach Ayurveda und lich.“ gefeuert, von den „späten Freiheiten“ Ge- morgen nach Rohkost, vielleicht in Form Was nun? Ist der Mensch gut beraten, brauch zu machen. Museumsleute aus Bie- von rohem Schinken. wenn er arztfern lebt und sich erst, wenn lefeld und Zürich, gesponsert von Siemens, Kommerziell gesteuerte Informationen er bewusstlos ist, in eine Klinik fahren wollen unter diesem Titel im nächsten Mo- führen hingegen immer in einen siche- lässt? Oder soll man die vielseitigen nat in einer Ausstellung die Älterwerden- ren Hafen: Mal ist es die Apotheke, mal Angebote des medizinisch-industriellen den versöhnen und verwöhnen. Der Slogan ein Sanatorium. Solange Geld voran- Komplexes vertrauensvoll akzeptieren? – heißt: „Graue Haare – junge Pläne“; das geht, sind alle Türen offen. Ob dem Lei- oder versuchen, den richtigen Mittelweg böse Wort „alt“ soll möglichst gar nicht den dort Flügel gemacht werden und wie zu finden? mehr vorkommen. weit sie tragen, das weiß allein Hippo- Information tut Not. Sie sichert zumin- Eine Hoppla-was-kostet-die-Welt-Stim- krates. dest die unstrittigen Basisdaten. Die sind mung wird die zentrale Frage aller Kranken Seit den Zeiten des griechischen Ärzte- erfreulich. Innerhalb dieses Jahrhunderts und Alten jedoch nicht beantworten. Sie vaters, dessen Eid die Mediziner einander hat die moderne Medizin die Lebensspan- lautet: Wie bringt man eine vernünftige, noch heute schwören (ohne Rechtskraft), ne des Menschen enorm verlängert. In den maßvolle und vorausschauende Lebens- macht das Geld den Ärzten Mut.Ärzte las- entwickelten Industrieländern stieg die planung mit den Offerten des Gesund- sen ihr Honorar niemals aus dem Blick, durchschnittliche Lebenserwartung um 16 heitsmarktes sinnvoll so zusammen, dass gleichviel, ob sie über einen computerge- bis 20 Jahre (dabei ist die verminderte am Ende Glück daraus resultiert? Und stützten Maschinenpark gebieten wenn schon nicht Glück, dann oder nur auf Gottes Hilfe ver- doch wenigstens Zufriedenheit? trauen. Viel ist gewonnen, wenn der Selbst Johann Wolfgang Goethe, Nur den Göttern Einzelne im riesigen Gesund- 1770 Studiosus in Straßburg, hörte ist des Alters heitsmarkt seine Selbstbestim- dort en passant medizinische Vor- mung und Eigenverantwortung lesungen, darunter „Lektionen der Bürde fremd. nicht verliert. Das ist nicht leicht, Entbindungskunst“. Ihn stimulier- Sophokles denn die wissenschaftliche Wahr- te „die frohe Aussicht“ auf ärztli- heit von heute ist häufig der Irr- ches „Wohlhaben“. tum von morgen. Wer den Ärzten Adieu sagt, aus die- Säuglingssterblichkeit nicht einmal mitge- Für die Gesundheit werden in Deutsch- sen oder anderen Gründen, und sich für- rechnet). land in diesem Jahr gut 550 Milliarden derhin selbst kuriert, wird von zwei Ge- Die Spanne zwischen Geburt und Tod Mark ausgegeben – eine Summe, weit fahren bedroht – dem Übermaß und umgreift für Frauen nun fast acht Jahr- höher als der Bundeshaushalt. Das viele dem zwanghaften Verhalten. Die (in der zehnte, für Männer nur sechs Jahre weni- Geld wird in Nützliches und Wichtiges, Regel schwachsinnige) Parole „Viel hilft ger. Seit 1900 stieg die Zahl der Hundert- aber auch in mancherlei Hokuspokus in- viel“ kann den Körper rasch ruinieren: jährigen in Deutschland von 40 auf 7000. In vestiert. Für jeden ist etwas dabei. James Fixx, der US-amerikanische Erfin- 50 Jahren, so prognostizieren die Bevölke- Wer die freie Wahl hat, sollte sich für der des Jogging, starb während der Exer- rungswissenschaftler, werden gut 200000 ein Geschenk entscheiden, das der fran- zitien an Herzinfarkt, nur 52 Jahre alt. Deutsche 100 oder mehr Jahre alt sein. zösische Chirurg René Leriche (1879 bis Die wahnhafte Vorstellung, man könne In Krankheit und Siechtum, hinfällig und 1955) mit einem trefflichen Begriff um- sich „gesund essen“, unterhält eine ganze hilfsbedürftig will niemand die gewonne- schrieben hat: Er nannte es das unauf- Industrie und die Zunft der Gastroente- nen Jahre hinbringen – und niemals zuvor dringliche, wohltuende „Schweigen der rologen. ließ sich so viel dagegen tun. Organe“. Hans Halter

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Werbeseite FITNESS & WELLNESS

„Meridian“ in Hamburg: Paradiese aus Terrakotta und Marmor für ein neues Lebensgefühl in der urbanen Spaßgesellschaft

KÖRPERKULT „Das kann auch geil sein“ Fitness-Studios entfernen sich immer mehr vom Klischee der muffeligen Muckibude im Hinterhof. Die Clubs verwandeln sich in „Basisstationen“ für neue Gefühle, Geschäfte und Trends. Wohlfühl-Wellness ist angesagt. Sport wird dabei zur Nebensache.

ietmar Muschinski, 30, ist ein oder Geldeintreiber kleiner Inkasso-Büros bewunderten Bizeps-Protze. Drumherum Fleisch gewordenes Klischee: groß in Bahnhofsnähe. Der Rest ginge in RTL- wuchert im Münchner Norden, in alten Dund kräftig, vollgepackt mit Mus- Serien als Zuhälter oder Berufskiller durch. Schulungsgebäuden der Telekom, Deutsch- keln, doch eher leer hinter den Augen, Nach Einbruch der Dunkelheit möchte lands derzeit größtes Fitness-Center. wenn er zwischen Regalen voller Hanteln man keinem der Jungs begegnen, die hin- Auf 75 000 Quadratmetern bietet der und Gewichte stoisch seine Oberarme trai- ter der Tür trainieren, auf der ein Schild „Leopark“ Inlineskaten, BMX-Parcours niert. Eineinhalb Stunden lang. Drei- bis warnt: „Free Weights“. und „Spinning“-Kurse. Oder wie wär’s mit viermal pro Woche. Ihre Freiheit ist die, sich die Größe der einer Stunde „Body Drill“ mit „knallhar- Sechs Jahre Arbeit stecken in dem Kör- Hanteln selber aussuchen zu dürfen und tem Stations-Kraftworkout“ und „Fettver- per. Der gelernte Maurer ist stolz auf jeden dabei nicht von hippeligen Trainern oder brennen durch ‚Nachbrennen‘“? „Free- Millimeter Muskelmasse. Er mache es „we- mahnenden Sportmedizinern genervt zu climbing“ ist im Angebot – „outdoor“ an gen den Frauen“. Ganz klar. „Die stehen da werden. Höchstens ein paar Polizisten, ge- einer Tiefgarageneinfahrt – , dazu Beach- schon noch drauf.“ Er sei ja kein richtiger tarnt in Jogginghosen und Muskelshirts, volleyball, Bio-Sauna, Solarium und Bodybuilder, eher „besseres Mittelfeld“. schauen manchmal rein und fragen nach „Schwangerschafts-Workshop“. Es gibt ei- Alles Natur. Ungespritzt. Er lacht kurz. Hormoncocktails, um eventuell einen Zwi- nen Kindergarten und Schülernachhilfe, Sonst lacht keiner. Hier wird nicht gelacht. schenhändler festzunehmen. die natürlich „Kopfball“ heißt. Die netteren seiner Kollegen in der klei- Dietmars Trainingsraum ist ein ver- Dutzende von Kursen locken mit Titeln nen Sporthalle sehen aus wie Türsteher stecktes Reservat, eine letzte Insel der einst wie „Fat Burner I“, „Step Basic“ und

134 der spiegel 38/1999 dios, die zusammen einen Umsatz von 30 hopse „Aerobic“ und sagte, das sei gesund, Millionen Mark jährlich bringen. schaffe einen „gut entwickelten Glutaeus Goldschagg will weiterwachsen. Wenn maximus“ (salopp übersetzt mit „Knack- er 50 Millionen erreicht hat, soll „Fit-Plus“ arsch“) sowie verdammt gute Laune. die Börse atemlos machen. Leistung muss Mit Fonda bekam Fitness etwas sehr sich lohnen, denn … ach so, ja, die Body- Schickes, und nicht nur die Hersteller von builder. Da werden Goldschaggs Augen Neon-Leggins und Kaschmir-Wadenwär- beinahe wehmütig. Und er murmelt etwas mern hängten sich in den Trend. Der sport- von „denen ein Zuhause bieten, auch liche Gedanke sickerte durch bis in feinste wenn’s in der hintersten Ecke ist“. Sprachbläschen: in Wirtschaft („Lean Ma- Dort sollen sie auch bleiben, die Fort- nagement“), Politik (wo Ex-Kanzler Kohl Builder, denn sonst könnten sie das Image ein „Fitness-Programm für Deutschland“ und damit das Geschäft versauen. Lange basteln wollte) und Mediengesellschaft. genug hat es gedauert, bis die Branche dem „Bauch weg“, ruft das erfolgreiche Ge- Klischee der verschwitzten Hinterhof- sinnungsorgan „Fit for Fun“ seinen Lesern Muckibude mit den Goldkettchen- und zu. „Schneller schlank“, verspricht das Rudi-Völler-Anhängern entfliehen konnte. Herren-Magazin „Men’s Health“, das sei- Der moderne Fitness-Club soll eine ne Leser lieber mit der Aussicht auf Wasch- „Basisstation“ des modernen Metro- brettbäuche als mit Oberweiten-Träumen polen-Menschen werden, sagt Goldschagg: lockt. Jede Frauenzeitschrift kümmert sich mit allem und für je- den. Am besten rund um die Uhr geöffnet, Je voller, je doller: Auf 180 Quadratmetern mit Lebensmittelab- 100 Menschen, die nebeneinander teilung, Waschsalon und übereinander liegen. Alle und Sportshop, für verschwitzt, und keiner beschwert sich. Singles und Alleiner- ziehende, Kinder, Fa- milien und Senioren, Kreislaufgeschädigte, um Problemzonen wie Bauch, Beine und Bandscheibenpatienten und Firmensport- Po.Allein die Anhänger des Rollschuhlaufs gruppen. (neudeutsch: „Rollerblading“ oder „Inline- „Mit den Bodybuildern verdienen wir skating“) haben im gut sortierten Bahn- keine Mark“, sagt Goldschagg und lächelt hofskiosk die Auswahl zwischen drei Fach- gutmütig. „Aber immerhin hat die ganze blättern. Fitness-Bewegung bei denen ihre Wurzeln.“ Was tut der moderne Mensch bei so viel

J. WISCHMANN / AGENTUR FOCUS WISCHMANN / AGENTUR J. Das war in den siebziger Jahren, als Ar- Sturm in den Blättern? Er drängt – ins nold Schwarzenegger noch sehr billige Fil- nächste Studio, trotz monatlicher Beiträge „Body Weights“. Von Thai Chi über Chi me drehte und Anabolika als russischer von meist über 100 Mark und zum Teil hor- Gong bis Yoga wird alles geboten, weil Kör- Frauenname galt. Damals waren die Deut- render Aufnahmegebühren. perertüchtigung längst nicht mehr bei rund schen allenfalls in einem Sportverein, und 4,3 Millionen Deutsche sind bereits Mit- 400 Muskeln des menschlichen Bewe- auch das oft nur wegen der Grillfeste. Die glieder. Und weil es in den USA oder gungsapparates aufhört. Wichtig ist die Wirtschaftswunderdeutschen schleppten Großbritannien prozentual schon doppelt Wellness, also das Wohlfühl-Gefühl. sich nach Russischen Eiern und Crevetten- so viele sind, versuchen internationale Darüber redet Christian Goldschagg Cocktails auf die Trimm-dich-Pfade des Investoren neuerdings, den Markt aufzu- gern. Er ist Geschäftsführer der Firma „Fit- Deutschen Sportbundes (DSB), die den rollen, etablierte Center zu kaufen oder Plus“, die sich in wenigen Jahren von einer Charme einer AOK-Filiale versprühten, neue zu gründen. Allein die südafrikani- kleinen Kraftnahrungshandlung zur zweit- und blieben dann doch vor der Glotze hän- sche Healthland-Gruppe will bis Ende größten Fitness-Kette in Deutschland hoch- gen, als Jane Fonda auftauchte. nächsten Jahres bundesweit 30 neue Stu- gekämpft hat. Neben dem „Leopark“ be- Die US-Schauspielerin sah viel besser aus dios eröffnen. treibt „Fit-Plus“ noch acht weitere Stu- als die DSB-Funktionäre. Sie nannte ihr Ge- Zwar springen 40 Prozent der Fitness- Novizen bereits im ersten Jahr wieder ent- nervt vom Laufband, doch das ist für den Boom der Branche kein Beinbruch – nicht mal ein Muskelfaserriss. Neue Trends locken immer neue Klientel an. Die Atem- losigkeit wird zum Normalzustand. Rund vier Milliarden Mark, mehr als doppelt so viel wie 1990, lassen die über 6000 deutschen Clubs jedes Jahr erschwit- zen, wie die International Health, Racquet & Sportsclub Association schätzt. Zentren wie die „Oase“ in Bochum setzen mit 11 000 Mitgliedern jährlich 7,5 Millionen Mark um. „Fitness ist eine Dienstleistung“, sagt „Oase“-Chef Winfried Horstenkamp, ge-

F. ROGNER / NETZHAUT F. lernter Bankkaufmann und seit Mitte der Arbeit am Gerät (in der Bochumer „Oase“): Nischen für jede Zielgruppe siebziger Jahre Sport-Großunternehmer,

der spiegel 38/1999 135 FITNESS & WELLNESS der von Tennis über Aerobic, Squash und Badminton keinen Trend ausließ. Fahrrad fahren heißt bei ihm jetzt „Indoor Cycling“ (der noch hipper klingende Name „Spin- ning“ ist geschützt und hätte Li- zenzgebühren gekostet). Auch sonst ist alles im Programm: vom aktuellen Riverdance-Choreogra- fie-Kurs bis zum Seminar „Selbst- verteidigung für Frauen“. Hor- stenkamp sieht sich als „Freizeit- Unternehmer“, der Moden liebt, weil er sie bedienen kann. Ende August musste er zwar die Tennisplätze dichtmachen (die ren- tierten sich einfach nicht mehr), und das Squashen lässt auch arg nach. Dafür hat er längst eine neue Zielgruppe entdeckt: die bislang weitgehend gymnastikfreie Zone

der Unternehmen. M. WEBER W. „Wir müssen die Nuss von in- „Drilling“-Kurs im Münchner „Leopark“: „An die Gewichte, ihr Säcke“ nen knacken“, sagt Horstenkamp und meint damit, dass es ihm nicht reicht, „Ich will eine Mannschaft“, sagt Hobby- nur für Männer oder auch nur für Manager den Firmen einen simplen Mitarbeiter-Ra- Squasher Förster, „die sich wohl fühlt, weil wie das Münchner „Lenbach Center“, in batt einzuräumen. Lieber bietet er gleich sie sich für uns auch den Arsch aufreißen dem sich ab morgens um 6 Uhr nicht nur Vorträge über Ergonomie am Arbeitsplatz, muss.“ Seine Leute säßen den ganzen Tag die Makler der benachbarten Börse austo- Rückenschulen und – na ja! – natürlich vor dem Computer („Ich würd das gar ben – auf computergesteuerten Hightech- auch Rabatte an. nicht ertragen“). Also kam Förster auf die Foltern mit Blick auf den Monitor (CNN) Der Weg ist steinig und führt über Be- Fitness-Idee, obwohl Krankenkassen wie und den knackigen Hintern der jung-dy- triebsärzte und Arbeitsschutztechniker, Steuerberater abwinkten: keine Zuschüsse. namischen Kaufhaus-Abteilungsleiterin in Personalleiter und Betriebsräte bis zu den Andrea Volkwein, Firmen-Fitness-Bera- der vorderen Reihe. Vorständen. Doch er führt oft zum Erfolg. terin bei „Fit-Plus“ in München, lud kürz- Fitness-Center sind zu Kontakthöfen der Mittlerweile tummeln sich tausende Ange- lich den Vorstand der Allianz zum drei- urbanen Spaß- und Leistungsgesellschaft stellte von Nokia, Deutscher Post und Ko- stündigen „interaktiven Erlebnisseminar“ geworden. Laut einer Studie der Univer- dak in der „Oase“ und sorgen bereits für an den Wolfgangsee ein. Die Herren durf- sität Hamburg strömen 83 Prozent der Be- 15 Prozent des Umsatzes. ten „auch mal ihre Sakkos ausziehen“, fragten mit dem verklärten Ziel in die Stu- Gerade war Uwe Förster da, ein fröhli- lächelt sie, „die Hosen mussten sie nicht dios, „Spaß zu haben“. Und das fördern cher Alt-68er und Gesellschafter einer klei- runterlassen“.Vom Kopf des Vorstands soll die Betreiber bedingungslos, denn Spaß nen Bochumer Marktforschungsfirma, der das Fitness-Vertrauen künftig bis in die hält die Kundschaft nicht nur an der Stan- 34 seiner 50 Mitarbeiter vorbeibrachte. Je- Problemzonen der letzten Sachbearbeite- ge des „Stepmasters“. der zahlt künftig 30 Mark monatlich aus ei- rin des Versicherungskonzerns sacken. Neuerdings ertönt im „Leopark“ jede gener Tasche. Den Rest übernimmt der Jede Zielgruppe hat heute ihre Studio- Stunde ein Gong und ruft die gläubige Ge- Chef. Nische: Es gibt Anlagen nur für Frauen, meinde zum gemeinsamen Bauchtraining. „Je voller, je doller“, schwärmt Fitness-Ko- EMPFEHLUNG I ordinatorin Sonja Söder. Man müsse sich das mal vorstellen: „Auf 180 Quadratme- Bewegung muss sein: Ob Herzinfarkt, Schlagan- muss sich der Körper auf eine längerfristige Bela- tern 100 Menschen, die nebeneinander und fall, Rückenschmerzen, Alterszucker oder Knochen- stung einstellen – zum Beispiel beim Gehen oder übereinander liegen. Alle verschwitzt und schwund – die meisten Zivilisationskrankheiten las- langsamen Joggen. Sobald das Training nur ein biss- keiner beschwert sich. Das kann auch geil sen sich vor allem auf mangelnde Bewegung zurück- chen zu schnell ist, schaltet der Körper auf den ef- sein.“ Sex sells, Sex soll’s richten. führen, mehr noch als auf Fehlernährung oder Stress. fektiveren Kohlenhydratstoffwechsel um – und die Die Bochumer „Oase“ veranstaltet fünf Doch nicht jede Art von Bewegung hält tatsächlich positive Wirkung geht verloren. Mal pro Jahr große Partys, zu der bis zu gesund. „Bei den meisten Sportarten“, kritisiert Die- „Langsam, lange und regelmäßig“ lautet des- 1000 Leute wallen, auch wenn Chef Hor- ter Lagerstrøm, Dozent am Institut für Kreislauffor- halb Lagerstrøms wichtigster Ratschlag. „Tu etwas – stenkamp sagt: „Bei mir im Haus wird schung und Sportmedizin der Deutschen Sporthoch- aber habe immer das Gefühl, zu wenig getan zu ha- nicht gejagt. Und geküsst wird jenseits der schule in Köln, „bewegen wir uns viel zu schnell.“ ben.“ Ideal seien lange Spaziergänge, Wandern, Bordsteinkante.“ Andere Center über- Der Übereifer, haben Forschungen gezeigt, bremst Radfahren, geruhsames Schwimmen oder Golf, min- rumpeln ihre Hüpf- und Lauf-Kundschaft einen der positivsten Effekte von Bewegung: eine Ab- destens eine Stunde pro Tag. Das schont die Ge- bereits mit plötzlichen Angeboten zur ge- nahme des LDL- und Zunahme des HDL-Cholesterins lenke, aktiviert das Immunsystem und beugt auch genseitigen Partner-Massage, auch wenn – nachweislich ein Schutz gegen Arterienverkalkung der Osteoporose, dem gefürchteten Knochen- man bis dahin gar keinen Partner hatte. und damit Herzinfarkt und Schlaganfall. schwund, vor. Nur ab und zu, so Lagerstrøm, solle „Unsere Aufgabe ist es, soziale Schran- Die gesundheitsfördernde Verschiebung zu Gunsten man dabei ins Schnaufen geraten – „das trainiert ken zu lockern“, glaubt der Münchner Trai- des HDL im Blut findet nur statt, wenn während des den Kreislauf und den Zuckerstoffwechsel und hilft, ner Roland Luterbacher und lädt seine Trainings der Fettstoffwechsel aktiviert wird. Dazu einen Altersdiabetes zu verhindern“. Schäfchen nach einer gemeinsamen Tour- de-France-Etappe auf dem Heimtrainer di-

136 der spiegel 38/1999 Werbeseite

Werbeseite FITNESS & WELLNESS F. ROGNER / NETZHAUT F. Bodybuilder in der Bochumer„Oase“: „Denen muß man ein Zuhause bieten“ rekt zum Brunch ein mit Lachs und Bircher „wie da zwei Mädels aus den USA her- (Schwerin), „Linie 1“ (Chemnitz) oder Müsli. Mitunter erlaubt er sich aber auch, umturnten.“ Zwei Jahre tingelte er danach „Villa Wiegand“ (Berlin). Trendig muss es eine seiner Kundinnen zu bitten, das nächs- für eine US-Firma durch die Lande, um klingen, Gefühl muss es bringen wie zum te Mal nicht mehr im String-Anzug zum den alten Sport unter neuem Namen be- Beispiel das Hamburger „Meridian“, das Training zu erscheinen, weil die Konzen- kannter zu machen. seine solvente Kundschaft in kleine Para- tration dann auf eines beschränkt sein Moser rollerte über die Kieler Woche, diese aus Terrakotta und Marmor und in könnte: das Wesentliche. schnürte die sturzbesoffenen Fans bei Sauna-Landschaften samt orientalischem Trainer, Instruktoren, Koordinatoren „Rock am Ring“ in Leihschuhe und lock- Ruheraum entführt, mit allerlei Yin-und- oder wie immer das Begleitpersonal sonst te sogar den Blindensportverband auf die Yang-Gedöns und Liegestühlen rund um genannt wird, müssen längst mehr Hinter- kleinen Rollen. Nun ist Skaten eine Art den japanischen Steingarten im Hinterhof. grund mitbringen als ein Sportlehrer-Di- Breitensport geworden und Ronny ein klei- „Wir wollen ein Lebensgefühl vermit- plom. Sie sind Beichtväter geworden und ner Star, der selber Trainer ausbildet, al- teln“, sagt Geschäftsführer Holger Ru- Animateure, Einpeitscher und Verkäufer, lerlei Lizenzen besitzt und von der Indus- binck. Hier wartet die Pediküre, dort laden Psychologen und Idole. trie zugeschüttet wird mit Produkten, die Friseur und „Beauty Shop“ ein. Eine Gutes Aussehen spielt dabei nicht unbe- er dann für die Fachorgane testet. Gemäldeausstellung bietet Bilder namens dingt die Hauptrolle: Die Clubs haben er- Gelegentlich wundert selbst er sich, wie „Body Venus“ für 1500 Mark an. Man kann kannt, dass eine 20-jährige pralle Vorzeige- aufgebrezelt die Leute zu seinen Kursen im „Meridian“ angeblich auch noch Sport Vorturnerin manchmal weniger anspor- erscheinen: mit 600 Mark teuren Roll- treiben, aber das ist sicher nur ein Gerücht. nend wirken kann als eine 40-jährige Aero- schuhen sowie dem Neuesten, was die Die Grenzen verschwimmen zusehends bic-Fregatte, die nach mehreren eigenen Sportmodenindustrie an Frivolitäten zu zwischen den alten Etiketten „Health“ und Schwangerschaften weiß, was schlaffes Ge- bieten hat. Schick muss es sein, dann „Fitness“ und der neuen „Wellness“ – im- webe bedeutet. kommt der Kick von allein. Mit Fitness hat mer schneller wechselt das Angebot. Viele der meist freiberuflichen Trainer das nur am Rande zu tun. Gestern schwor man noch auf „Calla- (Stundenlöhne bis zu 90 Mark) haben sich Prompt heißen die Studios jetzt „Body netics“, das der aus den Fugen geratenen dabei eine Fangemeinde zugelegt wie der & Soul“ (Stuttgart) oder „Fun-tastik Club“ Hausfrau Beine machen sollte. Nun müssen Hamburger Sven Hoeltje, der neulich beim Einkaufen von drei kichernden Teenies er- EMPFEHLUNG II kannt wurde. „Die Leute wollen Enter- tainment“, ächzt Hoeltje. „Die saugen ei- Die eigenen Bedürfnisse zu erspüren ist nach gen: Verletzungen, Spätschäden an Gelenken und nen aus.“ Rund 25 Stunden pro Woche Meinung des Kölner Sportarztes Lagerstrøm das Bändern – und vor allem sehr viel Frust. mimt er in verschiedenen Studios den Wichtigste beim Fitness-Training. Jeder müsse sein Weil die fest installierten Geräte in den Fitness- ewig-fröhlichen Ausnahme-Athleten. eigenes Gleichgewicht zwischen Bewegung, Er- Zentren häufig zu unnatürlichen Bewegungsabläufen Auf seiner Visitenkarte steht denn auch nährung und Entspannung finden. zwingen, weil das wichtige Dehnen der Muskeln ver- nichts von Sport, sondern „Konzeption, Die alte Trainingsregel „Puls gleich 180 minus Le- gessen wird und zudem die Betreuung in vielen Zen- Choreografie, Präsentation für Mode und bensalter“, so der Sportwissenschaftler, sei absurd. tren miserabel ist („Jeder Metzger kann ein Studio Werbung“. Die Lebensläufe der Trainer „Das ist so, als ob im Kaufhof ab heute nur noch eröffnen“), kommt es häufig zu Muskelverkürzungen sind so bizarr wie mannigfaltig: Da ist der Schuhgröße 45 verkauft würde.“ Jeder Mensch sei und – schlimmer noch – zu Muskelungleichgewich- Physiotherapeut, den die Gesundheitsre- anders, oberstes Gebot und Ziel aller körperlichen ten, die die Beschwerden erst recht verschlimmern. form aus der Bahn geworfen hat. Da gibt es Aktivität solle einfach sein, sich wohl zu fühlen. Lagerstrøm empfiehlt deshalb ein Muskeltraining den Medizinstudenten oder den Ex-Robin- Doch ob in der Schulsporthalle oder im Fitness-Cen- unter professioneller Anleitung ohne fest installier- son-Club-Clown, aber auch den freischaf- ter – meist gehe es um das genaue Gegenteil. te Geräte, allenfalls mit kleinen Hanteln oder dehn- fenden Musical-Tänzer oder gar einen ge- Lückenlos werde das Leistungsdenken aus dem Be- baren Gummibändern. lernten Konditor wie Ronny Moser. ruf in die Freizeit übertragen. Systematisch werde ge- Als Prophylaxe gegen die Volksseuche Rücken- Der 28-Jährige kam als Aushilfe auf ei- lernt, etwas als ideal anzusehen, was der mensch- schmerz könne es zudem sinnvoll sein, gezielt die ner Sportartikelmesse zum Inlineskaten. lichen Natur eigentlich zuwiderläuft. Mit fatalen Fol- Rücken- und Bauchmuskulatur zu stärken. „Das sah einfach gut aus“, erinnert er sich,

138 der spiegel 38/1999 es „Thairobic“ und „Aqua-Aerobic“ sein, das vor allem die älteren Semester und Reha-Überlebenden gesundheitlich über Wasser halten soll und damit auch die Stu- dios. Die Betreiber mögen unter vielem leiden – von 630-Mark-Gesetz über hohe Personal-, Geräte- und Mietkosten bis zum wachsenden Verdrängungswettbewerb. Un- ter Einfallslosigkeit leidet kaum einer. Selbst das hanseatisch-noble „Meridi- an“ eröffnete einen „Kult“-Bereich, der intern unter der Rubrik „schrill, schräg und ungesund“ firmiert. Unter den silbrig-ver- packten Klimaschächten des Club-Daches im Stadtteil Eppendorf werden seit März Kurse angeboten, die „Fun-tastic Step“ heißen, „Hip-Hop R’n’B“ oder „Hot Sum- mer Dance“ und mit Gesundheitsvorsorge nicht mehr gemein haben als ein Techno- Marathon in der Disco. Wenn ein Film wie „Wild Wild West“ ins Kino kommt, ist „Kult“ rechtzeitig mit dem Tanz-Kurs zur Choreografie des Musikvi- deos zur Stelle. Solche Angebote halten sich zwar nur wenige Wochen frisch, sind aber umso beliebter. Nächsten Monat wird eine neue Schau durchs Dorf getrieben. Nur von einer aktuellen Torheit haben sich sogar die „Kult“-Kapitäne schon wie- der verabschiedet: dem „Drilling“, bei dem Trainer-Typen wie Vietnam-Veteranen ihre Kundschaft zusammenschreien und mit der Trillerpfeife durch die Halle jagen: „An die Gewichte, ihr Säcke.“ Anfang des Jahres noch mit enormem Medien-Bohei einge- führt, ist der Qual-Kampf bereits wieder aus der Mode. „Wenn man das ,Zirkeltraining‘ genannt hätte, wäre kein Mensch gekommen“, glaubt die Münchner Sportmedizinerin An- gelika Hartmann, „obwohl es dasselbe ist.“ Alles eine Frage des Etiketts.Vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis nach „Spin- ning“ oder „Drilling“ die ersten Kurse in „Freistil-Fucking“ oder „Self-Killing“ an- geboten werden. Die Gäste hecheln auf je- den Fall hinterher. „Jede dritte bis fünfte Frau im Fitness- Center hat eine Essstörung“, glaubt Hart- mann, die in ihrer Praxis magersüchtige Sport-Junkies und Patienten mit Zerrungen oder Bänderrissen wieder aufpäppeln muss. Sie erzählt von der manischen Suche der Club-Kundschaft nach Perfektion, vom wachsenden Druck der Umwelt und von der in der Werbung inszenierten Illusion, dass man zumindest aussehen sollte wie die Blondine, die für „Lätta“ wirbt. Früher seien 80 Prozent aller Erkran- kungen vom Schicksal bestimmt worden, sprich: durch Alter, Infektionen oder Un- fälle. Heute gehe fast der gleiche Prozent- satz auf das Konto des wachsenden Life- style-Wahnsinns. „Man kann natürlich jeden Unsinn mit- machen“, grinst Sportärztin Hartmann. „Man muss nur fit genug sein.“ Thomas Tuma

der spiegel 38/1999 FITNESS & WELLNESS K. WILLENBROCK Verschiedene Nahrungsmittel im Gegenwert einer Kalorie*: Die immerwährende Diätanstrengung mit dem Ziel, so dünn zu werden wie ein

ERNÄHRUNG „Pfropf nicht den Darm“ Dutzende von Diätvorschlägen sollen Krankheiten verhindern helfen. Gibt es Gesundheit durch richtige Ernährung? Der gute Rat von heute ist der Irrtum von morgen. u Risiken und Nebenwirkungen der und zwar als „Fettsucht, Diabetes und nicht nur den eigenen Leib, sondern auch Ernährung fragen Sie nicht Ihren Bluthochdruck“. Hinzu kommen „bakte- den Volkskörper. Wer das falsche Gewicht ZArzt oder Apotheker. Sprechen Sie rielle Verunreinigungen, natürliche Gifte hat, der zählt unweigerlich zu jener Grup- mit dem Oberkellner. und Fremdstoffe“. pe der Verfemten, die falsche Gedanken Das ist die erste Möglichkeit. Man kann Wer sich als Hungriger von den Akade- haben (Geisteskranke) oder die falsche sich auch auf Großmutters Lebensweishei- mikern der Ratgeberfraktion informieren Droge nehmen (Süchtige). Selbst die warm- ten stützen. Dann geht die Liebe durch den lässt, dem kann jeder Bissen im Halse herzigen, mütterlichen Frauen der Unter- Magen, rund ist gesund. stecken bleiben. Hundert Milliarden Mark schicht, die so gut kochen können, wollen Wer sich aber der Lipidliga oder dem pro Jahr, so warnen die Experten, kosten in deshalb neuerdings lieber „schlank“ sein. Margarine-Institut für gesunde Ernährung Deutschland die ernährungsbedingten Drei von vier deutschen Frauen fühlen anvertraut, auf die Centrale Marketing-Ge- Krankheiten – gut 30 Milliarden die Herz- sich zu dick, obgleich nur jede vierte Über- sellschaft der deutschen Agrarwirtschaft Kreislauf-Leiden, 20 Milliarden Karies, gewicht hat. Doch vom Ziel, dünn zu sein baut, sich vom Deutschen Institut für 3,5 Milliarden König Alkohol. wie ein Strick und rein wie ein Engel, wer- Ernährungsforschung oder gar der Deut- Die Dicken gelten weiterhin als asozial, den die Frauen durch ihre Biologie, das schen Gesellschaft für Ernährung (DGE) in doppelter Weise. Sie ruinieren, heißt es, wirkliche Leben und die Rollenerwartungen beraten lässt, der muss gute Nerven haben. getrennt: Eine erwachsene Frau soll zugleich Ernährung, sagt Professor Günther Wolf- attraktive Geliebte, also schlank, den Kin- * Die umgangssprachliche Bezeichnung Kalorie ent- ram, Vizepräsident der DGE, sei nämlich spricht der Maßeinheit Kilokalorie (kcal), die 1978 durch dern eine gute Mutter, mithin mollig, und im etwas, das die Gesundheit auch bedroht, die Einheit Joule ersetzt wurde (1 kcal = 4187 Joule). Beruf aktiv und zupackend – das heißt: kräf-

140 der spiegel 38/1999 worden. Was der Laie vom Essen hält, gilt wenig. Die studierten Experten ha- ben das Sagen. Beim näheren Hinhö- ren erweist sich: Es ist selten das letzte Wort. Drei Jahrzehnte lang galt das Gebot des „Idealgewichts“. Es basierte auf einem statistischen Fehler, der mangelhaften Auf- bereitung der Daten einer US-Versiche- rungsgesellschaft. Das angebliche Idealge- wicht war für die meisten Menschen uner- reichbar niedrig. Ein Mann von 1,70 Meter Körpergröße durfte nur 63 Kilogramm wie- gen; eine Frau von 1,60 Metern galt als zu schwer, wenn sie mehr als 51 Kilogramm auf die Waage brachte. An die Lehre vom Idealgewicht wollen die Experten nicht mehr erinnert werden. In den Ernährungsberichten der DGE kommt die Horrordrohung nicht mehr vor, so, als habe es sie nie gegeben. Neuerdings gilt nämlich der „Body-Mass-Index“ als Leitlinie (siehe Grafik Seite 143). Dem Wohlbehagen und der Gesundheit gewährt der Körpermassen-Index einen erträgli- chen Rahmen – doch womöglich ist auch

Der Mensch verzehrt im Laufe seines Lebens 1400-mal sein Eigengewicht, darunter drei Ochsen und mehrere hundert Hühner.

diese Rechnerei nur der wissenschaftliche Irrtum von morgen. Wer die Warnungen der Ernährungs- Strick, macht das Zurückweisen von Nahrung zur täglichen Pflicht Gurus Revue passieren lässt, muss erken- nen, dass sie in den letzten 50 Jahren stets tig – sein. Eine unlösbare Aufgabe. Sie sti- Deutschland sind zwar nur noch 2,5 Pro- voller Fehler und Widersprüche waren. muliert zu immerwährenden Diätanstren- zent der erwerbstätigen Bevölkerung in Beispiele: gungen und macht in den entwickelten Län- der Landwirtschaft tätig, doch sie pro- π Vor kalorienreicher Nahrung mit einem dern der westlichen Welt das Zurückwei- duzieren pro Jahr Nahrungsmittel im Wert hohen Anteil an Fett und Zucker und sen von Nahrung zur täglichen Pflicht. von 64,3 Milliarden Mark; ein Bauernhof wenig Fasern wurde eindringlich ge- Seit es in einigen Teilen der Welt für alle ernährt 159 Menschen. warnt – demnach auch vor Muttermilch. Einwohner Lebensmittel im Überfluss gibt, Vom Überangebot bedrängt, erschreckt π Ballaststoffreiche Nahrungsmittel – Obst, lebt eine riesige Industrie von der Mani- durch Butterberge, verfolgt vom Gespenst Gemüse,Vollkornbrot und Getreidemüsli pulation der Nahrungsbedürfnisse. In des Übergewichts, starrt der deutsche Es- – sollten das Darmkrebsrisiko deutlich Deutschland sind derzeit gut 230000 Bar- ser wie gebannt auf die Kalorie. Sie ist sein senken; das Gegenteil lässt sich aus einer codes für Produkte des Nahrungsmittel- Maßstab, vielen wird sie zur überwertigen neueren Studie herauslesen. marktes vergeben. Wer täglich zehn neue Idee: Eine einzige Kalorie, das sind eine π Wer „dem Herzen zuliebe“ (Unilever- ausprobiert, der braucht 63 Jahre, um von Himbeere oder zwei Zwiebelringe oder Werbung) von Butter zur Margarine allem einmal gekostet zu haben – voraus- sechs Blätter Feldsalat oder 15 Körner Reis. wechselte, hat, einer neuen Studie zu- gesetzt, die Produzenten stellten ab sofort Oder ein Gürkchen, ein ganz kleines. folge, die Wahrscheinlichkeit eines Herz- die Herstellung von Novitäten ein. Weil das Leben aber lange währt, ad- infarkts erhöht; das Kunstfett scheint Doch allein die Schweizer Nestlé AG dieren sich die Kalorien zu unvorstellbaren außerdem Krebserkrankungen und De- beschäftigt in der Forschung 3500 wissen- Mengen: Der Mensch verzehrt 1400-mal pressionen zu begünstigen. schaftliche Fachkräfte. Die 231000 Mitar- sein Eigengewicht, darunter drei Ochsen π Der Rat, möglichst wenig Fett zu kon- beiter des Konzerns erwirtschaften einen und mehrere hundert Hühner, wie die sumieren, hat in den USA, wo er befolgt Jahresumsatz von 88 Milliarden Mark, „Ernährungsumschau“ stolz meldet. wurde, zu einer Epidemie des Überge- mehr als alle Einwohner von Sambia, der Alles Essbare hat seine Lobby. Die Pro- wichts geführt, weil die Hungergefühle Demokratischen Republik Kongo, Sim- duzenten reden und raten zu, der Han- durch reichlich Kohlenhydrate (zum Bei- babwe und Sudan zusammengenommen. del wirbt und vertreibt, und mittendrin spiel im Kuchen) kompensiert wurden. Die Ernährung war für hunderttausende sind immer mehr Wissenschaftler, denn π Das angeblich so gesunde Sonnen- von Jahren das zentrale Problem des Men- Ernährungslehre ist seit 30 Jahren eine aka- blumenöl mit seinen „mehrfach unge- schen. Manchmal verhungerten sogar die demische Disziplin. sättigten“ Fettsäuren begünstigt Verän- Mächtigen. Jetzt ist „Food“ ein Riesenge- Die Köchinnen sind nicht vom Herd, derungen im Erbgut, die zu Krebs führen schäft, globalisiert und ertragreich. In aber vom Herrschaftswissen abgedrängt können.

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π Salzverzicht, jahrzehnte- gar Hirnschwund, sind mög- lang als sittliche Pflicht lich. Bei Veganerinnen, der eines jeden Menschen strengsten Richtung vegetabi- deklariert, senkt nicht, ler Lebensweise, sind Gedeih- sondern erhöht die Wahr- störungen der Neugeborenen scheinlichkeit, an einem obligat. Herz-Kreislauf-Leiden zu Auch das strenge Fasten hat sterben. viele Tücken, obgleich es neu- π Vitamin C, propagiert als erdings meist als „Heilfasten“ Mittel gegen Infektio- auftritt. Es gilt als Allheilmittel nen, Arteriosklerose und für die Gebrechen von Leib Krebs, wird bei Überdo- und Seele und soll auch noch sierung (mehr als 100 Mil- die psychedelische Eingangs- ligramm pro Tag) nicht pforte zur Euphorie öffnen. folgenlos ausgeschieden, Die religiöse Verheißung, sondern schädigt die Erb- Fasten reinige das Gemüt, substanz, erhöht mithin schmücke die Seele und zäh- das Krebsrisiko. me die Wollust, wird bezahlt

Der Chefpropagandist AKG mit Stoffwechselschäden: Die der Vitamin-C-Höchstdo- Esslust*: Manchmal verhungerten sogar die Mächtigen Muskeln, aufgebaut aus Ei- sen, der amerikanische No- weiß, nehmen Schaden und belpreisträger Linus Pauling, starb am Wer „makrobiotisch“ isst und dabei, we- verlieren an Substanz; der Elektrolythaus- Prostatakarzinom. Den deutschen Marga- gen Yin und Yang, auf Milch und Fleisch halt gerät aus dem Gleichgewicht; ein er- rine-Papst Gotthard Schettler, Internist in verzichtet, erlebt nicht, wie versprochen, heblicher Kaliumverlust irritiert den Herz- Heidelberg, raffte ein Herzleiden dahin. „Glück und Freiheit durch Ernährung“. muskel. Auch gewöhnliche Sterbliche, die sich kom- Über kurz oder lang manövrieren alle ex- Um die modischen Diäten und die ex- promisslos einer Heilslehre vom „gesun- tremen Kostformen – in Stufe sieben der travaganten Kostformen schadlos zu über- den“ Essen anvertrauen, sind nicht auf der Makrobiotik gibt es nur noch Vollkorner- stehen, muss man eine robuste Gesundheit sicheren Seite. zeugnisse – den Stoffwechsel in ein Defizit. haben. Für gewagte Sonderwege in Sachen Vegetarierinnen bringen Babys zur Welt, Ernährung entscheiden sich deshalb vor al- * Illustration „Todsünde der Völlerei“ (1838) zu dem denen es an Vitamin D, Vitamin B 12 und lem die Jüngeren. Ihre körperliche Gesund- Roman „Gargantua et Pantagruel“ von François Rabelais. Kalzium fehlt; neurologische Schäden, so- heit ist ohne Tadel, die labile seelische Be- Fettsäuren sollen das Herzinfarktrisiko ABLESEN DES BMI AUF DER SKALA Zu dick? Zu dünn? senken. In Japan sind schon Extra-Reis- Verbindet man die Körpergröße in gerader Linie sorten für Allergiker auf dem Markt, phos- Der Body-Mass-Index (BMI) setzt Körper- mit dem Körpergewicht, ergibt sich der BMI-Wert gewicht und Körpergröße in Beziehung im Schnittpunkt mit der BMI-Skala: phorarme Milch und ein Kaugummi, der den Krebs besiegen soll. DIE FORMEL Größe Gewicht „Functional Food“, sagt die Ökotropho- m kg Körpergewicht in Kilogramm BMI login Antje Mann von der Verbraucher- BMI= 140 2 1,30 zentrale München, sei weiter nichts als (Körpergröße in Meter) 70 130 120 „eine Marketingstrategie, die den Ver- 60 110 brauchertrend zu Fitness-bewusstem Ver- 1,40 BEISPIEL 50 100 halten ausnutzt“. Grundsätzlich gelte, dass Eine Frau von 1,70 Metern wiegt 65 Kilogramm Übergewicht 40 90 solche Novitäten „Ernährungsfehler nicht 65 65 1,50 80 ausgleichen“ können. BMI= = = 22,5 30 (1,7 x 1,7) 2,89 leichtes Übergewicht* 70 Für kranke Menschen, die früher mit 1,60 diesen Diäten eher gequält als geheilt wur- normal 60 20 den, haben die Ärzte sich neuerdings zu li- 1,70 findlichkeit drängt jedoch zu Nonkon- 50 beralen Regeln durchgerungen. Als ideale formismus, Halluzinationen, irgendeinem Untergewicht Krankenkost gilt nun die „appetitliche 1,80 Heilsversprechen oder der wärmenden Ge- 40 Mischkost“ in kleinen Portionen. Die neue meinschaft in einer Gruppe Gleichgesinnter. 1,90 10 Linie heißt: „Erlaubt ist, was bekommt.“ Das Angebot ist groß. Mit diesem doppelten Ratschlag sind Auch die multinationalen Konzerne 2,00 *gilt nicht für Senioren 30 wohl auch die Gesunden gut bedient. Der bemühen sich, die Bindung des Käufers in angesehene niederländische Medicus Her- einem Markt des Überflusses durch Tricks mann Boerhaave, Europas berühmtester und Tipps zu festigen. Joghurt, und angeblich stärkt der „Wellness- Kliniker des 18. Jahrhunderts, hat in seinem Obwohl es nach deutschem Lebensmit- Drink“ die „Abwehrkräfte“. universalen Gesundheitstipp zusätzlich telrecht verboten ist, mit „krankheitsbezo- So genannte Nutraceuticals – das sind noch die Mäßigung gelobt: genen Aussagen zu werben“, suchen viele Lebensmittel, denen angeblich gesund- „Den Kopf halt kühl, Produzenten dem Konsumenten zu sugge- heitlich wirkende Substanzen zugesetzt die Füße warm, rieren, ausgerechnet ihre Ware sei ein Un- werden – sind der letzte Schrei auf dem Und pfropf nicht allzusehr terpfand der Gesundheit. Er „beeinflusst Food-Markt. Der Zusatz von Vitamin E soll den Darm.“ die Darmflora positiv“, heißt es bei einem vor Ozonbelastung schützen, Omega-3- Hans Halter FITNESS & WELLNESS

farktrate weit niedriger ist als in vergleichbaren Industrieländern. Mit dem beständigen Weingenuss der Franzosen ließ sich das Phä- nomen erklären. Inzwischen haben mehr als 60 groß angelegte internationale Studien den Zusammenhang zwi- schen Sprit und Herzkasper be- stätigt: „Mäßiger Alkoholkon- sum“, hieß es zusammenfassend nach einer zweitägigen „Konsen- suskonferenz“ deutscher Exper- ten in Freiburg-Munzingen, „be- sitzt erwiesenermaßen einen po- sitiven Effekt auf die Gesamt- sterblichkeit, speziell über die Verminderung der Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankun- gen.“ Manche US-Wissenschaft- ler gehen auf Grund der vorhan- denen Daten schon so weit, Nichttrinken als Risikofaktor zu bewerten, vergleichbar starkem Übergewicht. Eine der größten einschlägigen Studien wurde vor zwei Jahren von der American Cancer So-

I. SHAW / TONY STONE / TONY I. SHAW ciety veröffentlicht: 490 000 Män- Rotwein-Fassprobe (im Bordelais): Die Milch des Alters löst das französische Paradoxon ner und Frauen im Alter zwi- schen 30 und 104 Jahren standen über einen Zeitraum von neun Jahren un- HERZINFARKT ter Beobachtung. Dabei zeigte der Teufel Alkohol, wie er- wartet, auch sein garstiges Gesicht: Unter „Schmackhafte Arznei“ Trinkern führten Leberzirrhose sowie Kar- zinome im Mund- und Speiseröhrenbe- Nützt Rotwein? Die Medizinstatistiker sagen: ja. Kardiologen reich drei- bis siebenmal häufiger zum Tod als bei Nichttrinkern; die Brustkrebsrate in Köln suchten herauszufinden, warum. und (bei Männern) das Ableben durch „im alkoholisierten Zustand erlittene Verlet- „Es gibt viele alte Säufer, aber nur wenige fessor Michael Böhm und seine Mitarbei- zungen“ und durch Selbstmord lagen um alte Ärzte.“ ter Markus Flesch und Michael Südkamp je 30 Prozent höher als bei Abstinenzlern. Französisches Sprichwort die Frage klären, wie groß die gefäßerwei- Doch gleichzeitig war die Sterblichkeit rt des Experiments war das Labor ternde – und mithin dem Herzinfarkt vor- durch kardiovaskuläre Erkrankungen bei der Abteilung Kardiologie in der beugende – Wirkung verschiedener Kres- Männern wie Frauen gegenüber Nichttrin- OKölner Uniklinik. Aus dem abge- zenzen einzuschätzen sei. Die Ergebnisse kern deutlich vermindert: um 30 bis 40 (in legten Herzen eines Transplantations- wurden im „American Journal of Physio- manchen anderen Studien sogar um 50) patienten präparierten die Forscher mit logy“ und jüngst in der „Kölner Univer- Prozent. Am niedrigsten war sie bei den- Skalpell und Pinzette eine noch intakte sitätszeitung“ publiziert. Fazit: Rotwein, jenigen Versuchsteilnehmern, die täglich Herzkranzarterie frei, schnitten eine milli- insbesondere der in jungen Eichenfässern nur einen Drink zu sich genommen (und meterdicke Scheibe davon ab und verban- („en barrique“) ausgebaute, schnitt bei nicht geraucht) hatten. den das winzige Aderstück mit einem dem Arterientest am besten ab. Diese epidemiologisch gesicherten Da- „Kraftaufnehmer“; er konnte messen, ob Dass mäßiger Alkoholkonsum („mäßig“ ten verhelfen dem griechischen Dichter sich das Gefäßscheibchen weitete oder laut WHO: ein bis drei Gläser pro Tag, pro Plutarch (um 45 bis 120 n. Chr.) zu spätem verengte. Glas etwa 10 Gramm Alkohol) das Risiko Recht, der den Wein „unter den Getränken Dann tunkten sie das Ganze in Alkohol von Herz- und Kreislauferkrankungen das nützlichste, unter den Arzneien die – und der war nicht vom schlechtesten. senkt, ist mittlerweile unter Medizinern schmackhafteste“ genannt hatte. Der Mal diente ein 92er Châteauneuf du unumstritten. Derzeit läuft die Debatte um Mainzer Sportmediziner Klaus Jung, der Pape als Stimulanz, dann wieder ein 93er die Frage: Gibt es, außer dem Alkohol, spe- in Zusammenarbeit mit der Interessenver- Mosel-Riesling; ein andermal wurde das zielle Inhaltsstoffe, zum Beispiel in Wein tretung der deutschen Winzer den Wohl- Blutgefäß mit einem Chardonnay aus dem oder Bier, die den schützenden Effekt taten des Rebensafts nachspürt, erinnerte Napa Valley getränkt, auch ein Spätbur- maßvollen Alkoholgenusses verstärken? ganz in dieser Tradition daran, dass „noch gunder von der Ahr (92er Ahrweiler Angefangen hatte alles mit dem „fran- um die Jahrhundertwende“ Wein auf ärzt- Klosterberg) kam in dem Organbad zum zösischen Paradoxon“, dem von Wissen- liches Rezept verabreicht wurde. Einsatz. schaftlern 1988 entdeckten Umstand, dass Experte Jung („Wein wirkt lebensver- Mit ihrem weinseligen Forschungspro- in einigen Regionen Frankreichs trotz einer längernd, er ist die Milch des Alters“) hält, jekt wollten der Kölner Kardiologie-Pro- überwiegend fettreichen Kost die Herzin- wie die meisten seiner Kollegen, pro Tag

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gefäße, die Kapillaren, frei und elastisch gehalten.Auch eine verstärkte Fibrinolyse, die Auflösung von Fasersubstanzen im Blut, ist nach Meinung einiger Forscher dem schieren Alkoholanteil zu danken. Doch inzwischen haben die Wissen- schaftler auch eine Reihe von exotischeren Inhaltsstoffen dingfest gemacht, die vor- wiegend oder ausschließlich dem Wein ei- gen sind und in den Adern Gutes wirken: π Phenole, die im Rotwein in zahlreichen Varianten vorkommen – sie behindern die Oxidation des „bösen“ Cholesterins (LDL) und hemmen damit den Prozess der Arterienverkalkung; π Flavonoide („Vitamin P“), ein Pflan- zenfarbstoff, der die Kapillaren offen hält und dessen Mangel mit erhöhtem

U. BAATZ / LAIF BAATZ U. Infarktrisiko einhergeht – sie finden sich Arterien-Experiment in Köln: In Eichenfässern ausgebauter Rotwein schnitt am besten ab gleichfalls vorwiegend in Rotwein; π Resveratrol, eine hormonähnliche, ent- „maximal zwei bis drei Gläser für gesund- stisch nachgewiesen – dabei spielt allein zündungshemmende Substanz, die ähn- heitlich wertvoll“. Für Schluckspechte der Alkohol offenbar schon eine wichtige lich wirkt wie Östrogen und offenbar tröstlicher ist dagegen eine prospektive Rolle: Wird er regelmäßig in kleinen Dosen das Krebswachstum hemmt; die Verbin- Studie mit 34000 Männern aus dem fran- konsumiert, bleibt nicht nur der Blutdruck dung ist zehnmal so häufig in rotem wie zösischen Nancy, die letztes Jahr abge- auf zuträglichen Werten (siehe Grafik); es in weißem Wein enthalten, besonders in schlossen wurde: Danach blieb die ver- erhöht sich auch der Anteil des herz- und rotem Burgunder – weshalb in Dijon minderte Infarktrate noch „bis zu sieben gefäßschützenden „guten“ Cholesterins derzeit 100 weiße Ratten regelmäßig das Glas Wein täglich“ nachweisbar, erst wer (HDL) im Blut – die Infarktrate sinkt. Produkt der Region schlürfen, um die mehr trank, erhöhte sein Risiko. Außerdem hemmt Alkohol das Zusam- Wirkungen des Stoffes auszutesten; Nicht nur für Wein, auch für Bier und menkleben der Blutplättchen; dadurch π Tannine, die gehäuft in „en barrique“ Spirituosen ist dieser schöne Effekt stati- werden die feinen Verästelungen der Blut- ausgebauten Rotweinen auftreten – sie zeigten im Tierversuch eine direkt ge- Fälle von Bluthoch- ximale Erweiterung des Herzkranzge- fäßerweiternde Wirkung. druck in Prozent fäß-Präparats; der Effekt war nicht auf Als einigermaßen biegsam erwies sich Wohl bekomm’s! den Alkoholgehalt, sondern auf andere die Statistik, je nachdem, welchem Lager – 16 Bestandteile des Weines zurückzu- Bier- oder Weinproduzenten – sich die Wis- Bluthochdruck führen. senschaftler verpflichtet fühlten. 15 und Alkohol- π Ein Mosel-Riesling in gleicher Konzen- konsum So meldeten die Dänen (die sich auch 14 tration zeigte keine gefäßerweiternde schon eine alkoholfreie Rotweinpille ha- Wirkung. ben einfallen lassen) nach einer Studie an 13 π Nur die „en barrique“ ausgebauten, 15000 Männern und 13000 Frauen, mäßiger 12 nicht aber die im Stahltank vergorenen Weinkonsum habe keine gesundheitsför- Männer Rotweine wirkten gefäßerweiternd – mit dernde Wirkung, wohl aber der Genuss von 11 Ausnahme eines Beaujolais primeur (der 7 bis 21 Bieren (pro Woche). mit Stiel und Stängel auf der Maische Umgekehrt behaupteten Neurologen 10 Frauen vergoren wird). aus Bordeaux sogar, drei bis vier Gläser Bedeutsam ist demnach offenbar der 9 Gramm Alkohol Rotwein täglich seien gut gegen die Alz- 0 1 bis 20 20 bis 40 40 bis 80 über 80 hohe Gehalt an Phenolen und Tanninen, heimerkrankheit. Sportmediziner Jung entspricht: den vor allem die in frischen Eichenfässern wiederum kam – für die Deutsche Wein- bis zu 1 Glas 1 bis 2 2 bis 4 über 4 gereiften Weine aufweisen; bei pharmako- akademie – zu dem Schluss: Auch Wein (0,2l) Gläsern Gläsern Gläsern logischen Versuchen wirkten diese beiden Weißwein hilft. Der Diplom-Brauingenieur Mäßiger Alkoholkonsum vermindert die Gefahr Leitsubstanzen, vermutlich über den Stick- Anton Piendl aus Freising-Weihenstephan von Bluthochdruck. Erst jenseits von 2 bis 4 stoffmonoxid-Stoffwechsel, auch direkt auf dagegen stellte bei der Konsensus-Konfe- Gläsern Wein pro Tag steigt das Risiko. die Gefäße von Ratte und Mensch. renz heraus, dass sich im Bier „über 2000 Allerdings, auch darauf verweist Kar- Inhaltsstoffe“ fänden (darunter mehr als Nach rund 800 Laborstunden und zwei diologe Böhm: Nur zu einem Bruchteil sind 50 Phenole), für viele von ihnen werde dutzend Flaschen Wein aus Frankreich, die vielen hundert im Rebsaft enthaltenen „eine gesundheitsförderliche Wirkung dis- Spanien, Italien, Kalifornien und Deutsch- Spuren- und Aromastoffe bisher bekannt. kutiert“. land sahen die Herzforscher in der Dom- So äußert sich der Kölner Herzforscher, Die Kölner Kardiologen gingen indes stadt, jedenfalls was ihren Sortenmix an- was die Ergebnisse seiner Untersuchung über die Suche nach heilsamen Inhalts- langte, schon klarer: anlangt, eher bescheiden. Böhm: „Unsere stoffen noch hinaus und fragten, durch wel- π Der Châteauneuf du Pape ’92 (von Jé- Botschaft lautet: Es ist der Rotwein, der che Mechanismen in der Zelle der beob- rôme Quiot) bewirkte im Organbad – gut tut, und dazu noch irgendetwas aus achtete Effekt wohl zu Stande komme. in der Verdünnung 1 zu 1000 – eine ma- dem Eichenfass.“ Jürgen Petermann FITNESS & WELLNESS

Kosmetikangebot (in Köln): Wenn der Kosmetikkoffer nichts mehr hergibt, verlässt sich die Frau von heute aufs Operationsbesteck

SCHÖNHEIT Spiegel des Wohlbefindens Exklusive Cremes und Lotions, Salben mit hoch dosiertem Vitamin A, Lifting mit und ohne Messer – immer raffinierter werden die Strategien im Kampf gegen Runzeln und Falten. Wie soll man sich zurechtfinden im Gemenge aus Wissenschaft und hohlen Versprechungen?

igürlich kann es die hoch gewachse- Wegen dieser Augen ist die Frau ins Trauer in die dünne Haut rund um das ne Schwäbin mit Fotomodellen wie Krankenhaus gekommen. „Das Blau“, sagt Auge gebannt. FNadja Auermann aufnehmen. Un- sie und hält die Tränen zurück, „das sehe Seit Jahren vermeidet die Patientin, sich übersehbar ragt sie aus jeder Gruppe ich gar nicht mehr.“ Wenn sie ihrem Spie- unverwandt ins Gesicht zu schauen. Im von Durchschnittsmenschen hervor. Was gelbild morgens beim Schminken fast zum Kaufhaus weicht sie jedem Spiegel aus, fi- einen jedoch anzieht, quer durch den Küssen nahe kommt, sieht sie wie durch xiert bei der Kleideranprobe die Zone Raum, bevor sie auch nur einen Satz ge- eine Lupe schmerzhaft vergrößert nur ei- halsabwärts, turnt beim Aerobic in der hin- sprochen hat, ist das Blau-Blau-Blau ihres nes: Faltenkränze und Tränensäcke. 44 Jah- tersten Reihe. Es hilft nichts, dass ihrem Blicks. re Lachen und Weinen haben Freude und Mann die paar Krähenfüße völlig egal sind.

148 der spiegel 38/1999 Ihr erscheinen die eigenen Lebensspuren Unterkiefer nahm der sportliche Senior wülstig, kratertief und abgrundhässlich. vor zehn Jahren zum Anlass, sein Gesicht „Ein vergleichsweise kleiner Eingriff“, renovieren zu lassen. wie Marita Eisenmann-Klein ihn nennt, Für den Operateur Wolfgang Mühlbau- soll nun die Unglückliche von ihrer Pein er, Chef der Plastischen Chirurgie am Städ- befreien. Die Plastische Chirurgin am Re- tischen Krankenhaus in München-Bogen- gensburger Caritas-Krankenhaus St. Josef hausen, war das kein ungewöhnlicher Pa- wird Oberlid und Unterlid auftrennen, tient: Über 90-Jährige zählen längst zur Fettpölsterchen und schlaffe Haut entfer- Stammkundschaft der Beauty-Industrie. nen, in der Lidfalte und am unteren Wim- Die Sehnsucht nach einem dauerhaft ge- pernrand fädchenfeine Nähte schließen. sunden, jugendstraffen Aussehen hat eine Rund 5000 Mark kostet eine Lidstraffung in lange Tradition. Sie veranlasste Schmink- der oberpfälzischen Provinz – viel Geld für eine arbeitsun- Wonach sehnen wir uns beim Anblick der fähige Kranken- Schönheit? Danach, schön zu sein: Wir schwester, die mo- natlich 1500 Mark wähnen, es müsse viel Glück damit Rente bekommt. verbunden sein. Aber das ist ein Irrtum. „Aber ich wüsste Friedrich Nietzsche nicht, was ich lieber täte“, sagt die 44-Jährige, „mein Problem pionierin Kleopatra, eine Paste aus ver- krieg ich mit keiner Feuchtigkeitscreme brannten Hausmäusen und verkokelten mehr weg.“ Pferdezähnen mit Bärenfett und anderen Schön konsequent. Wenn der Kos- feinen Zutaten gegen Haarausfall aufzu- metikkoffer nichts mehr hergibt, verlässt tragen; Neros zweite Gattin Popaea be- die bodybewusste Frau von heute sich liebte täglich in Eselsmilch zu baden. Als aufs Operationsbesteck. Die Vorturner(in- der despotische Herrscher sie dennoch ver- nen) der Schönheits- und Fitness-Gemein- bannte, fand er seine Ex mit 50 Eselinnen de bewegen sich unerschrocken und prag- ab; so billig käme der römische Kaiser heu- matisch zwischen Cremetöpfchen,Antifal- te nicht mehr davon. ten-Laser und – wenn es sein muss – dem Immer exotischere Zaubertricks und

F. ZANETTINI / LAIF F. Blutbad in Vollnarkose. Wunderwaffen schüren inzwischen die Be- Unaufhaltsam erfasst gehrlichkeit einer Gesellschaft, die nicht das Verlangen nach ei- nur alt, sondern schön alt werden will. Die nem attraktiven Äußeren Kosmetikbranche lockt mit hyperaktiven alle Generationen und Salben, die unter die Haut gehen; konzen- beide Geschlechter quer trierte Substanzen sollen fähig sein, Falten durch die sozialen zu glätten – pharmakologische Techniken Schichten. an der Grenze zwischen Instandhaltung Berufstätige jeden Al- und Reparatur, welche die Schwelle zum ters stylen sich fit für den blutigen Eingriff senken. Für eine flotte Wettbewerb am Arbeits- Fassade sind viele ohne Umschweife bereit, markt. Frauen und Män- eine Menge Geld und notfalls die eigene ner in den sogenannten Haut zu riskieren. besten Jahren lassen ihre Die Konservierung der Schönheit, dar- Außenhaut für den Markt gereicht in Tuben und Tiegeln, war den der Eitelkeiten runder- Deutschen im vergangenen Jahr 17 Milli- neuern. Und in je greif- arden Mark wert. Besonders gefragt waren barere Nähe der Traum exklusive Cremes und Lotionen, die ein vom ewigen Leben rückt, jugendfrisches Aussehen erhalten oder je aktiver die Langzeit- zurückgewinnen sollen. Alten ihre gewonnenen Unbeeindruckt davon, dass Dermatolo- Jahre gestalten, umso gen und wissenschaftliche Studien vor über- hartnäckiger fordern auch triebenen Versprechungen warnen, wird ge- sie von sich und ihres- salbt und geschmiert, was die Pharmaindu- gleichen, dass die äußere strie hergibt. Sauerstoff in Cremes, heißt es, Hülle die innere Gesund- könne alternde Zellen aufmöbeln,Vitamine heit und das Wohlbefin- in mikroskopisch winzigen Kapseln gehen den widerspiegele. den Falten angeblich an die Wurzel, soge- „Mit einer Zahnlücke nannte AHA-Fruchtsäuren versprechen der würde ich doch auch Epidermis ein eben solches Erlebnis. nicht herumlaufen“, sagt „Falsch ist das alles nicht“, sagt Gisela der Münchner Psycho- Albrecht, Chefärztin der Dermatologi- therapeut Reinhart Stal- schen Abteilung des Spandauer Kranken- mann, 82. Eine von einer hauses in Berlin. Tatsächlich kann etwa

R. FROMMANN / LAIF Kriegsverletzung übrig eine medizinische Salbe mit hoch dosierter Laser-Operation: „Lifting ohne Messer“ gebliebene Narbe am Vitamin-A-Säure, wie sie in der Akne-The-

der spiegel 38/1999 149 rapie eingesetzt wird, Hautschichten ab- ziemlich alt aussieht, wenn er die Sonne ge- schälen und die Zellerneuerung ankurbeln. mieden hätte, lasse sich durch einen Ver- „Kleine Falten verschwinden“, bestätigt gleich mit lichtarm gehaltenen Körperpar- die Hautexpertin.Allerdings wirkt das Me- tien feststellen: „Ein Blick auf den Aller- dikament nur, solange es aufgetragen wird: wertesten genügt.“ „Und es gibt keine Studien darüber“, sagt Den natürlichen Alterungsprozess kann Albrecht, „was bei ständiger Anwendung bisher kein Wässerchen stoppen. Wo sich passiert.“ das Leben eingegraben hat, greifen Der- Wer das Gesicht vor frühzeitiger Ver- matologen und Kosmetikerinnen zu che- greisung schützen wolle, müsse auf die mischen Peelings oder feinsten Laserka- Sonne weitgehend verzichten oder hoch- nonen, die bis ins Bindegewebe gehen. So gradige UV-Filter auftragen. Wie viel ju- werden Runzeln, Flecken und Falten weg- gendlicher einer wirken könnte, der schon geätzt oder verschmurgelt.

Markt der Eitelkeiten Preise verschiedener Schönheitsoperationen

Facelifting je nach Aufwand und Umfang, z. B. mit oder ohne Halsstraffung zwischen 8000 und 15 000 Mark

Stirnlifting Lidstraffung Haartransplantation ab 4500 Mark oben und unten jeweils ab 4000 Mark ab 3000 Mark

Wangen- Nasenkorrektur Unterspritzung ab 10 000 Mark Ohren anlegen Mark 2000 ab 4000 Mark Unterspritzung im Mundbereich Laser-Peeling ab 1500 Mark Wangenimplantate 4000 Mark ab 3000 Mark

Doppelkinn absaugen Kinn auspolstern ab 2500 Mark ab 3000 Mark

Brust Fettabsaugen Straffung oder am Bauch ab 5000 Mark Verkleinerung am Oberarm zwischen 5000 und 8000 Mark ab 10 000 Mark Vergrößerung am Po ab 8000 Mark ab 10 000 Mark „Reithosen“ ab 5000 Mark zuzüglich 2000 am Oberschenkel ab 5000 Mark bis 4000 Mark an der Wade ab 3000 Mark für Implantate FOTO: MAURITIUS FOTO:

150 der spiegel 38/1999 FITNESS & WELLNESS

Was in der Werbung als „Lifting Edelfressbäuche abgesaugt und jene ohne Messer“ angepriesen wird, kann Stülplippen herbeigepolstert werden, allerdings zu schwersten Verbren- wie sie die aus Hessen stammende nungen führen. Eine 75-jährige La- Begum, geborene Gabriele Thyssen, ser-Patientin – inzwischen beraten von Deidesheim bis Dubai seit neue- von dem Kölner Patientenanwalt Bo- stem gesellschaftsfähig gemacht hat. ris Meinecke – kann ihr komplett ver- Wer verlässt sich schon auf die in- narbtes Gesicht nur noch unter dick- neren Werte? Nur mit massiven Dro- sten Make-up-Schichten verstecken; hungen kriegt Papagena in Mozarts eine andere Klientin des Anwalts ist „Zauberflöte“ ihren geliebten Papa- erblindet, weil ihr Arzt die Augen geno herum, solange sie in eine runz- nicht ordnungsgemäß abgedeckt hat- lige Alte verwandelt ist: „Deine te; eine 45-Jährige verblutete inner- Hand, oder du bist auf immer hier lich bei einer Fettabsaugung. eingekerkert.“ Die Sorglosigkeit al- Weil sich in Deutschland noch im- lerdings, mit der auf der Suche nach mer jeder approbierte Arzt Schön- dem jugendwahnhaften Schönheits- heitschirurg nennen darf, entlarvt ideal heutzutage die körperliche Un- sich mancher selbst ernannte Skal- versehrtheit riskiert wird, konnte nur pellmeister erst im Nachhinein als in der Infotainment-Welt entstehen. skrupelloser Aufschneider. Der ver- „Parts of me are fifty“ – Teile von zweifelte Wunsch, zu den Alterslo- ihr seien 50 –, schildert US-Schau- sen zu gehören, sagt Jurist Meinecke, spielerin Goldie Hawn unbekümmert erzeuge in jüngster Zeit bei den Be- ihre mit mehreren Ersatzteilen aus- handlungswilligen „einen unglaubli- gebesserte Karosserie. Ein multime- chen Leichtsinn“. Seit 30 Jahren be- diales PR-Orchester liefert im Weg- treut die Kölner Kanzlei die Opfer werf-Rhythmus frische Vorbilder aus ärztlicher Kunst. Der Anteil ver- der Kino- oder Laufstegszene und pfuschter Schönheitspatienten hat trommelt für jene Industrie, die von sich seit den achtziger Jahren ver- Ebenmaß und Vollkommenheit lebt. zehnfacht. Selbst die Entscheidung, wo der Chir-

Dazu zählen Fälle wie der einer G. GUILLAUME / STUDIO X urg das Messer ansetzt, wird von der beurlaubten Lehrerin aus Bremen. Frau beim Schminken Mode diktiert: Seit Tanga und String Stolz schaut die 48-Jährige von oben Das Glück, in der Gesellschaft zu bestehen verlaufen bei Poabsaugung und Ober- in ihr prall gefülltes T-Shirt: Den neu- schenkelstraffung die Schnitte nicht en Silikonbusen, rechts und links je 370 tische und Wiederherstellungschirurgie, die mehr in Leiste und Gesäßfalte, sondern im Gramm, hat Chirurgin Eisenmann-Klein sich dem unterwerfen, was der nie- Schamhaar und im oberen Drittel des Hin- auf einem Schlachtfeld errichtet. Zwei ato- dersächsische Unfallchirurg „zumeist terteils. misierte Soja-Ölkissen, die ein Münchner schwachsinnige Eingriffe“ nennt. Kaum ein Laie kann in dem Gemenge Gynäkologe der Frau vor drei Jahren ein- 50 bis 100 Millionen Mark gehen laut aus Wissenschaft und Spektakel noch un- gesetzt hatte, waren verwachsen mit zwei Rudolph in Deutschland jährlich über die terscheiden, was Aufklärung und was hoh- Hydrogel-Beuteln, die ein Düsseldorfer Operationstische, auf denen Hakennasen le Werbung ist. Schönheitschirurg zu Reparaturzwecken begradigt, Baywatch-Brüste aufgetürmt, Als „neues Anti-Age-Programm“ preist einfach obendrauf gepflanzt hatte – am- die Zeitschrift „Brigitte“ so originelle bulant, unter Lokalanästhesie. Rezepte wie Yoga, Treppen steigen und Schmerz- und fiebergeplagt bat die Pa- Tönungscremes gegen graue Haare. Markt- tientin die niederbayerische Ärztin um Hil- schreierisch wirbt der Münchner Privat- fe, die ihr „in der TV-Sprechstunde von dozent Marc Heckmann – unter dem Brief- Frau Dr. Antje-Katrin Kühnemann so ver- kopf der Ludwig-Maximilians-Universität trauenswürdig“ erschienen war. und dem Stichwort „Forschung aktuell“ – Den Rat, mit neuen Silikonimplantaten für eine von ihm praktizierte „neue Ent- erst mal zu warten, zog die Operateurin faltungsmöglichkeit: Bakteriengift glättet zurück, als sie erfuhr, dass ihre Patientin die Haut im Gesicht“ (das Nervengift Bu- die Wartezeit bis zur Brust-Korrektur mit tolin, unter die Haut gespritzt, führt dazu, einem – ebenfalls missglückten – Facelif- dass sich die Stirn nicht mehr in Zornes- ting überbrückte. Jetzt ist die Frau pleite falten runzeln lässt). Als vergleichsweise und sieht aus wie ein Zombie. „Solche OP- seriös bekannte Quellen wie das Magazin Junkies“, sagt Eisenmann-Klein, „rennen „Geo“ spekulieren derweil über Versuche, zum nächstbesten Kurpfuscher und wer- „mit Enzymen abstehende Ohren anzu- den gnadenlos abgezockt.“ legen“. Weil keine Statistik die Dunkelziffer de- Schulmediziner und Wissenschaftler ver- rer erfasst, die sich, allein um schöner aus- schreiben sich der Altersbekämpfung. zusehen, ans Messer liefern, schwanken „Zurück in die Jugend“ heißt die dem- die Angaben über Umsatz- und Patienten- nächst erscheinende deutsche Übersetzung zahlen wie in keinem anderen Zweig der eines US-Bestsellers, der gegen die Zip- Gesundheitsindustrie. „Es können hundert- perlein der späten Jahre lebenslanges Do-

oder zweihunderttausend Freiwillige jähr- FOCUS d. FONSECA / AGENTUR P. ping mit Hormonen empfiehlt. Der Frank- lich sein“, sagt Hans Rudolph, Generalse- Fettabsaugung furter Orthopäde Peter Ivanits hat nach kretär der Deutschen Gesellschaft für Plas- Schön alt, schön konsequent dem Vorbild des kalifornischen „Life Ex-

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Die Moderne hat den raschen Wechsel und die Bereitschaft, sich zu verändern, zum Glaubensbekenntnis er- hoben. Schönheitschirurgen sind die Agenten dieser Philosophie. Denn bis auf weiteres gilt: Wer jung erscheinen will, muss schneiden. „Wenn ich mir gefalle, fühle ich mich wohl“, sagt die Psychotherapeutin Eva Lermer in Regensburg, „und wenn ich mich wohl fühle, habe ich Erfolg.“ Von protestantischen Prinzipien, sich gefäl- ligst mit sich abzufin-

W. M. WEBER W. den, hält die Seelen- Schönheitschirurgin Eisenmann-Klein, Patientin Lermer: „Wenn ich mir gefalle, fühle ich mich wohl“ kundlerin nicht viel. In ihrer Praxis, aber auch tension“-Instituts (siehe Seite 178) in der men (Boris Becker) bis Los Angeles (Tho- am eigenen Leib hat sie erfahren, wie we- Messestadt eine Einrichtung gleichen Na- mas Gottschalk) für seine alternativen nig Psychotherapie auszurichten vermag, mens eröffnet. Für 1000 bis 1500 Mark im Heilmethoden bekannt. Gleichzeitig lehnt wenn einem die eigene Nase, der Busen Monat lassen sich dort gestresste Manager der Fußball-Doc, solange es zur Hor- oder der Faltenhals unerträglich gewor- und erschöpfte Lebedamen mit einem in- montherapie keine gültigen Studien gibt, den sind. dividuell errechneten Anabolika-Cocktail „auch ein bisschen Doping ab“, wenn es Christian Morgensterns Einsicht, schön auf einen jugendlichen Hormonspiegel darum gehe, „Leistung, Lebensqualität und sei eigentlich alles, was man mit Liebe be- zurückbefördern. Aussehen zu verbessern“. trachte, enthält auch eine bittere Seite.Als Dass in Deutschland nicht zugelassene Wer einmal gealtert sei, könne nicht Ehemann Lermer seine Frau und seine Substanzen wie DHEA, das Wachstums- wirklich wieder jung werden, erklärt dage- Tochter vor zehn Jahren verlassen wollte, hormon HGH und Melatonin die Haut gen der amerikanische Wissenschaftler San- als dann noch Eva Lermers Vater starb und straffen, Muskeln bilden und die Liebeslust der L. Gilman in seiner kürzlich erschiene- sie ihre Mutter zu sich nahm, ließ sich die steigern, kann Günter Stalla, Endokrino- nen Kulturgeschichte der ästhetischen Chir- damals 45-Jährige den ganzen Kummer aus loge am Max-Planck-Institut für Psychia- urgie. Erreichen könne man allenfalls, ir- dem Gesicht operieren. trie, aus wissenschaftlicher Sicht nur be- gendwie „als jung durchzugehen“. „Ich hab’s für mich getan“, sagt die leb- stätigen. Niemand wisse bisher jedoch, wie Es geht um Glück; das Glück, solange hafte Ungarin, „ich wollte nicht besonders Herz, Kreislauf und die körpereigene Hor- das Leben dauert, in der Gesellschaft als jung, sondern wieder wie ich selber aus- monproduktion auf den Langzeitbeschuss Aktivposten zu bestehen. Wer äußerlich sehen.“ von außen reagieren. benachteiligt ist – und die Altersspuren der Demnächst will Eva Lermer sich erneut „Wir können die biologische Altersuhr Vergänglichkeit gelten in der westlichen renovieren lassen, und das, obwohl sie verlangsamen oder gar zurückdrehen“, Leistungskultur als Makel –, kann sich spä- auch die Grenzen der Messertherapie tönt einerseits Sportmediziner Hans-Wil- testens seit der Renaissance in diesen Brei- inzwischen kennt: Ihr Mann hat sie trotz helm Müller-Wohlfahrt. Der Mannschafts- ten aufgerufen fühlen, etwas Besseres, allem verlassen – für eine acht Jahre arzt des FC Bayern München ist von Lei- Schöneres, Jüngeres aus sich zu machen. Ältere. Bettina Musall S. ELLERINGMAN / BILDERBERG Patientin nach Nasenkorrektur: Wer jung erscheinen will, muss schneiden

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Ein lustiges Geschäft“ John Bancroft, Direktor des Kinsey-Instituts für Sexualforschung, über Viagra, die weibliche Erektion, die neue Treue und die Lust der Alten

SPIEGEL: Doktor Bancroft, seit über 50 Jah- bei denen es nur im Bett nicht so gut ist, SPIEGEL: Ist sie nicht auch ein verzweifelter ren erforscht das Kinsey-Institut das Se- wie es sein sollte. Als ein weiterer Vorteil Rettungsversuch des Prinzips Monogamie? xualverhalten der Amerikaner. Wir sehen könnte es sich herausstellen, wenn den Es könnte doch völlig normal sein, die Lust da ein methodisches Problem, zum Bei- Leuten klar wird, dass es ihre Beziehungs- auf den andern nach 40 Ehejahren zu ver- spiel: Welcher Mann sagt schon die Wahr- probleme sind, um die sie sich kümmern lieren – wer will schon lebenslang das glei- heit über seine Potenz? müssen. Ich bin da sehr zuversichtlich: Die che Gericht essen? Bancroft: In der Tat neigen Männer dazu, Viagra-Pille wird uns helfen, mehr über Bancroft: Viele Leute haben ein Lieblings- sich da zu irren … Sexualität zu lernen. gericht. Am Anfang, wenn man diesen ku- SPIEGEL: … oder zu flunkern. Ohne Viagra linarischen Genuss entdeckt, will man ihn hätte die Welt nie erfahren, wie viele Mil- VITA dauernd haben, in rascher Folge. Später lionen Männer an Erektionsproblemen lei- möchte man das Gericht dann vielleicht den. War den Kinsey-Forschern das Pro- nicht mehr jeden Tag vorgesetzt bekom- blem in diesem Ausmaße bekannt? men, aber man isst es immer noch gern. Bancroft: Wie wichtig Männern ihre Erekti- SPIEGEL: Kann Viagra auch Beziehungen on ist, weiß man wohl schon seit der Stein- belasten? zeit. Aber die heftige Reaktion auf diese Bancroft: Bei vielen Paaren ist es so, dass Pille hat mich schon stutzig gemacht. die Frau das Erektionsproblem des Mannes SPIEGEL: Der „Playboy“-Kolumnist James verstärkt hat, indem sie sich ihm entzieht. Petersen hat formuliert: „Nehmen Sie ein Vielleicht wegen der Art, wie er mit ihr genervtes Paar und geben Sie ihm Viagra, umgegangen ist, vielleicht wegen seiner dann haben Sie ein genervtes Paar mit ei- Erwartungen an sie. Wenn er dann seine ner Erektion.“ Erektion mit Hilfe von Viagra wiederher- Bancroft: Das Paar ist wahrscheinlich stellt, kann das zur Krise führen. Die Frau sogar noch genervter als vorher. Die hatte sich über die Jahre an den Frieden ge- Frage ist doch: Wie können Beziehungs- wöhnt, und da kommt dieser Mann plötz- probleme mit einer Pille gelöst werden? lich an mit seinem steifen Penis, will mit ihr Ich würde eine Menge Geld darauf set- ins Bett, und sie denkt nur: O mein Gott, zen, dass das sehr selten der Fall ist. nicht das wieder! Natürlich, wenn es im Bett nicht mehr SPIEGEL: Und umgekehrt? Frauen, die klappt, kann alles andere schlimmer wer- ihrem Mann oder Freund die Pille auf- den. Aber inwieweit sich das mit simpler zwingen? Biochemie in den Griff kriegen lässt, das Bancroft: Ja, das beobachten wir auch. muss sich noch herausstellen. Wir haben „Charlie, wie wär’s mit ’ner Viagra? Sollten

hier am Institut eine Studie dazu begon- BUCHANAN T. wir nicht mal …“ – und er hebt nur die Au- nen. Das hat bis jetzt noch niemand un- John Bancroft, 63, hat sich den sexuellen Pro- gen gen Himmel. Denken Sie nur an all tersucht. blemen der Menschheit schon als Psychologie- die Cartoons zu diesem Thema. Sex ist SPIEGEL: Verheiratete Paare sprechen täg- Diplomand in London verschrieben: Bereits die schon ein lustiges Geschäft. lich im Durchschnitt sieben Minuten mit- zweite Publikation seiner akademischen Laufbahn SPIEGEL: Gibt es eine nicht medikamentöse einander, hieß es jüngst in einer Studie. beschäftigte sich mit einem „einfachen Gerät zur Alternative zu Viagra? Lässt sich der Lust- Sollten die Partner nicht eher daran arbei- Messung der penilen Erektion“ (1966). Der briti- Verlust aufhalten? ten als an der Steifheit des Penis? sche Psychiater richtete im Laufe seiner Karriere Bancroft: Es scheint so zu sein, dass einer, Bancroft: Männer neigen dazu, sich auf Sex-Kliniken in Oxford und Edinburgh ein, zog von der in jungen Jahren stark an Sex interes- ihre Erektion zu fixieren, so ist das nun Irland nach Portugal und Italien und sogar bis nach siert war, dies auch viel später noch bleibt, mal. Sie machen davon, mehr als sie soll- Indien und Australien, um seine Kollegen weltweit während die Libido eines Mannes, dem ten, ihr Selbstbewusstsein und ihre Männ- in die Kunst der Sex-Therapie einzuführen. Sex von Anfang an nicht so wichtig war, lichkeit abhängig.Viagra wird sie in gewis- Mehr als 230 Veröffentlichungen zeigen Ban- viel schneller nachlässt. Dieses Prinzip von sem Maße in dieser phallozentrischen Sicht crofts umfassendes Interesse am Wechselspiel „use it or lose it“ könnte auch für die ihrer Sexualität bestärken – das ist einer von Seele und Genitalien beim Menschen: Von Erektionsfähigkeit selbst gelten. Bei Frau- der Nachteile dieses Medikaments. „elektrischer Aversionstherapie sexueller Abwei- en haben wir gute Hinweise darauf, dass SPIEGEL: Wenn das Liebesspiel mehr ist als chungen“ (1968) bis zu Studien über die Bedeu- die Vagina durch sexuelle Aktivität funk- nur das Zusammenschieben zweier Kör- tung kindlicher Doktorspiele für spätere Orgas- tionsfähig bleibt. perteile – wer außer vielleicht Bordell- musfähigkeit und Eheglück (1999). Seit vier Jahren SPIEGEL: Von welchem Alter an müssen besuchern könnte dann überhaupt auf lan- leitet Bancroft das Kinsey Institute for Research Männer anfangen, sich um ihre Potenz Sor- ge Sicht von der Pille profitieren? in Sex, Gender, and Reproduction in Bloomington gen zu machen? Bancroft: Zweifellos diejenigen Paare, die (US-Staat Indiana). Bancroft: Vom 18. Lebensjahr an (lacht). keine echten Beziehungsprobleme haben, Nein, im Ernst: Darüber haben wir weni-

156 der spiegel 38/1999 SPIEGEL: Niemand wundert sich über einen 70-Jährigen, der nicht mehr jeden Tag Sur- fen geht, obwohl er einst geschworen hat, das sei ihm die wichtigste Beschäftigung auf Erden – vielleicht freuen sich viele Omas und Opas aus ähnlichen Gründen über das Ende des ewigen Paarungsspiels. Bancroft: Ich weiß nicht, wie groß der An- teil solcher Leute ist, aber es gibt sie auf je- den Fall. Sie rutschen langsam und leise in die Sexlosigkeit, mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung: ein Problem weniger. SPIEGEL: Müssen die dann regelmäßig jog- gen, um nicht krank zu werden? Es heißt doch immer, dass länger lebt, wer regel- mäßig kopuliert. Bancroft: Das lässt sich schwer nachwei- sen. Das Dilemma ist, dass man zwar eine Korrelation zwischen Gesundheit und se- xueller Aktivität findet, aber nie wissen kann, ob die Leute aktiver sind im Bett, weil es ihnen besser geht, oder ob es ihnen besser geht, weil sie Sex haben. SPIEGEL: Könnte man nicht bei Nonnen oder Mönchen nachgucken? Wenn Sex le- bensverlängernd wirkte, müssten die doch früher sterben. Bancroft: Nein, da spielen zu viele Fakto- ren eine Rolle. So ist zum Beispiel das Ri- siko für Nonnen, an Brustkrebs zu ster- ben, höher, weil sie in aller Regel nicht die Antibabypille nehmen. SPIEGEL: Was passiert eigentlich mit der Li- bido, wenn Zipperlein den Körper befallen? Bancroft: Oder wenn man sich permanent müde fühlt? Sie sprechen mit einem älte- ren Mann, der zwei kleine Kinder hat. Ich kann nur sagen: Gut zu schlafen, sich ge- sund und kräftig zu fühlen, ist sehr wich- tig für die Lust auf und am Sex. SPIEGEL: Sind Männer da empfindlicher? Haben sie vielleicht eher die berüchtigte Migräne? Bancroft: Für Frauen ist es grundsätzlich leichter, trotz Unwohlseins, mitzumachen beim Sex. Ein Mann muss ja seine Erekti-

ANTONIUS on bekommen und sie die ganze Zeit hal- Paar beim Sex: „Use it or lose it“ VIAGRA ge Erkenntnisse, zumal die Libido bei je- auch vom sozialen Status ab. Frauen in dem Menschen im Laufe seines Lebens höheren Gesellschaftsschichten sind eher Trotz anfänglicher Alarmmeldungen über durch viele Phasen gehen kann. wirtschaftlich unabhängig. Sie haben daher mögliche Nebenwirkungen hat der US-Konzern SPIEGEL: Ab wann lässt sie bei Frauen mehr Kontrolle über ihr Sexualleben, über Pfizer in Deutschland bereits 3,8 Millionen Viagra- nach? die Fortpflanzung und ihre Gesundheit. Pillen abgesetzt; rund 400 000 Patienten wurden Bancroft: Man hat versucht, das nachlas- SPIEGEL: Hängt demnach das Nachlassen damit versorgt. Laut Angaben von Pfizer haben rund sende Interesse mit der Menopause, den der erotischen Aktivitäten zumindest in 70 Prozent aller deutschen Hausärzte und Urologen Wechseljahren, in Verbindung zu bringen, diesen Gesellschaftsschichten vor allem an bereits Viagra verschrieben. Damit gehört die Sex- allerdings ziemlich erfolglos. Es scheint den älteren Herren? Frauen haben schließ- pille zu den erfolgreichsten Neueinführungen auf eher mit der gesellschaftlichen Stellung zu- lich kein Erektionsproblem. dem Arzneimittelmarkt. Der Markt scheint jedoch sammenzuhängen. Frauen in niedrigeren Bancroft: Seien Sie sich da mal nicht so noch lange nicht gesättigt: Nach einer Studie der sozioökonomischen Gruppen verlieren die sicher. Frauen erleben das nur anders. Es Universität Köln leiden rund zwei Millionen Männer Freude an sexuellen Beziehungen schnel- gibt verschiedene körperliche Verän- in Deutschland unter Erek- ler und nachhaltiger als solche mit höhe- derungen beim Älterwerden, die zwar tionsstörungen. „Viele von rem Status. nicht so offensichtlich sind und ihnen da- ihnen“, so ein Pfizer-Spre- SPIEGEL: Lust im Alter ist eine Frage der her nicht so bewusst werden. Wir haben cher, „verzichten aus Scham Höhe der Rente? gerade eine Studie begonnen, in der wir darauf, ihren Arzt um ein Re-

Bancroft: Es ist eine Frage der Beziehungen die Erektionsfähigkeit der Klitoris er- SYGMA zept zu bitten.“ zwischen Mann und Frau. Und die hängen forschen.

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ver als öfter tun. Wie kommt SPIEGEL: … und lauter ältere Damen mit das? knackigen jungen Liebhabern? Bancroft: Von Frauen wird nicht Bancroft: Natürlich, vor allem, wenn diese erwartet, dass sie dauernd lustge- Damen Geld haben. steuert sind. Eine hohe Bei- SPIEGEL: Andererseits ist die alte Verklem- schlaf- und Orgasmus-Frequenz mung offenbar keineswegs verschwunden. ist nicht Teil des weiblichen In amerikanischen Schlafzimmern gilt es Selbstbewusstseins, während sie schon als „Sexualpraktik“, dem Partner von einem normalen, potenten beim Ausziehen zuzugucken. In der Be- Mann erwartet wird. Aber auch liebtheitsskala rangiert das gleich nach dem das hat sich bereits bis zu einem traditionellen Geschlechtsverkehr und weit gewissen Grad geändert, seit vor dem Oralsex. Auch in Deutschland be- Frauen mehr Kontrolle über die wegt sich zumindest die Jugend wieder Fortpflanzung haben. zurück zu einer alten Tradition: Treue ist SPIEGEL: Sind Frauen rationaler für die Jüngeren wieder wichtig. als Männer, wenn es um Sex geht? Bancroft: Ja, aber das ist keine Rückkehr Bancroft: Wahrscheinlich schon. zu der restriktiven, sexistischen Idee von Ich glaube, sie wägen eher ab. Ein Treue zu Beginn dieses Jahrhunderts. Ich Evolutionsbiologe würde sagen, hoffe, dass wir uns in Richtung einer mo- das kommt, weil sie die Folgen derneren Vorstellung von sexuellen Bezie- von Sex tragen, indem sie Kinder hungen bewegen, in denen Verantwortung bekommen.Aber es ist auch sehr eine zentrale Rolle spielt. Beziehungen, „Haben Sie nicht vielleicht ein altes PLAYBOY stark kulturell bestimmt. In Ge- die auf Dauer angelegt sind und in denen chinesisches Kraut, das die Lust senkt?“ sellschaften, in denen sie selber es wichtig ist, dass man einander immer über ihre Fruchtbarkeit bestim- näher kommt. ten. Eine Frau kann einfach ein Gleitmittel men, gehen Frauen viel entspannter mit SPIEGEL: Wird das nicht schrecklich lang- nehmen und mitspielen. „Lie back and ihrer Sexualität um. weilig? think of England“, würde man in meiner SPIEGEL: Werden sie dann irgendwann so ir- Bancroft: Werden Sie erst mal so alt wie ich, Heimat sagen. rational wie Männer? dann werden Sie eine solche Art von Be- SPIEGEL: Für Gott und Vaterland – haben Bancroft: Sie nähern sich an, ja. ziehung nicht mehr langweilig finden. Frauen grundsätzlich weniger Lust auf die SPIEGEL: Viele Evolutionsbiologen sagen, SPIEGEL: Doktor Bancroft, wir danken Ih- Lust? dass die Natur die Menschenweibchen eher nen für dieses Gespräch. Bancroft: Man kann das schwer verallge- passiv gemacht hat und die meinern. Männer scheinen sich in ihrem Männchen aggressiver. sexuellen Interesse mehr zu ähneln, Bancroft: Natürlich ist es biolo- während man unter Frauen eine größere gisch sinnvoll, dass Männer Variationsbreite findet. triebhaft sind. Aber mir fällt SPIEGEL: Von Sexmaschine bis keusche kein biologischer Grund ein, Jungfer? warum Frauen sich darin von Bancroft: Es gibt Frauen, die unglaublich ihnen unterscheiden sollten. leicht erregbar sind. Sie können einen Or- SPIEGEL: Werden wir also ir- gasmus bekommen oder sogar mehrere in gendwann Bordelle für Frauen rascher Folge, allein durch ihre Vorstel- sehen, ebenso viele Callboys lungskraft. Das findet man bei Männern in wie Callgirls … diesem Ausmaß nicht so oft. Und dann gibt Bancroft: … das alles gibt es es eine Menge Frauen, die nur sehr doch jetzt schon … schwach an Sex interessiert sind.

SPIEGEL: Im Gegensatz zu Männern möch- * Mit Redakteurin Rafaela von Bredow BUCHANAN T. ten Frauen es lieber schöner oder intensi- und SPIEGEL-Mitarbeiter Karsten Lemm. Bancroft beim SPIEGEL-Gespräch*: „Werden Sie mal alt“

SEX-FORSCHUNG

Das Kinsey-Institut in Bloomington (Indiana) Über die Sex-Frequenz im Alter in den USA ver- wurde durch den gleichnamigen Report berühmt, anstaltete jüngst die Firma National Family Opinion der in den Jahren nach 1948 die Welt schockierte: Research eine Umfrage. Etwa die Hälfte der befrag- Erstmals bot er der zur Prüderie erzogenen Nach- ten Männer und Frauen aus der Altersgruppe 45 bis kriegsgeneration einen intimen Blick hinter die 59 Jahre gaben an, einmal oder mehrmals pro Wo- Schlafzimmergardinen. Institutsgründer Alfred Kin- che Geschlechtsverkehr zu haben. In der Gruppe sey, ursprünglich Wespen-Forscher, enthüllte darin, der 60- bis 74-Jährigen sank diese Zahl auf 31 Pro- dass mehr als 90 Prozent der 5300 befragten Män- zent bei den Männern und 24 Prozent bei den Frau- ner schon einmal masturbiert und mehr als ein Drit- en; bei den über 75-Jährigen waren es nur noch 19 tel „homosexuelle Erfahrungen“ gesammelt hatten – Prozent (Männer) beziehungsweise 7 Prozent (Frau- nach damaligem Kenntnisstand eine Sensation. Das en). Als Hauptgrund für den Sex-Niedergang erwies folgende Werk über das sexuelle Verhalten der Frau sich Partnermangel. In der Gruppe der Senioren (75 (1953) räumte mit Vorurteilen über weibliche Frigi- Jahre und älter), die mit einem Partner leben, gab dität auf: Nur zehn Prozent der Frauen gaben an, noch mehr als jeder Vierte an, einmal die Woche Sex noch nie einen Orgasmus erlebt zu haben. zu haben. T. BUCHANAN T.

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Werbeseite LEBENSZEIT GEWINNEN FOTOS: SPL / AGENTUR FOCUS SPL / AGENTUR FOTOS: Gesunde, alternde, abgestorbene Zellen (in 1200facher Vergrößerung)*: „Ein äußerst kompliziertes biologisches Puzzle“

FORSCHUNG Wie alt wird der Mensch? Warum Lebewesen altern und sterben, ist immer noch weithin rätselhaft. Doch die Biologen sind dabei, das Geheimnis aufzuklären: Sie entdeckten eine Reihe von Mechanismen in der Zelle, die das Leben begrenzen.

ls Hitler geboren wurde, war die sen ihren Gin and Tonic und verschmähe π Lebensverkürzende Leiden, vom Al- Frau schon ein Teenager. Als auch Champagner nicht. tersdiabetes bis zur Leberzirrhose, wer- Ader deutsche Diktator Selbstmord Ein Leben, so lang wie das 20. Jahrhun- den zusehends besser behandel- oder beging, lag ihr 70. Geburtstag bereits hin- dert. Mit 22 Gemahlin des späteren Kö- gar heilbar. ter ihr. Als die Berliner Mauer fiel, nigs. Mit 51 Witwe. Bis heute leidenschaft- π Das Wissen um eine gesundheitsför- schmeckten ihr noch die Zigaretten. Als liche Züchterin von Rennpferden. Wer dernde Ernährung und Lebensweise er- sie schließlich am 4. August 1997 eines würde nicht gern so altern wie Madame reicht mehr und mehr Menschen – sie es- natürlichen Todes starb, hatte Jeanne Cal- Calment oder Queen Mum – geistig fit und sen weniger, dafür aber gesünder, bewe- ment aus dem südfranzösischen Arles das körperlich rüstig, ohne Geldsorgen, gesell- gen sich mehr und gehen vorsichtiger höchste bisher zweifelsfrei dokumentierte schaftlich geachtet? mit Genussmitteln um. Menschenalter erreicht: 122 Jahre und 164 Millionen, die in die Jahre kommen, hof- π Substanzen mit potenziell altersbrem- Tage. fen auf einen langen Lebensabend von sender Wirkung wie etwa Wachstums- Zwölf Dekaden Menschenleben: ein ähnlich hoher Qualität. Schließlich leben und Sexualhormone, das schlafregulie- Jahrzehnt Kindheit, ein Jahrzehnt Jugend, sie in einer Ära wirtschaftlichen Wohler- rende Melatonin aus der Zirbeldrüse vier Jahrzehnte mittleres Erwachsenen- gehens, in der Menschen immer älter wer- oder das an den Enden der Chromoso- alter, sechs Jahrzehnte Senioren- und Grei- den und der medizinische Fortschritt kei- men aktive Enzym Telomerase, machen senleben. ne Grenzen zu kennen scheint. Die Folge: Blitzkarrieren – gestern noch Labor- Als „Queen Mum“ am 4. August dieses Vielen gilt ein hohes Alter bei guter Ge- kuriosität, heute schon im Internet als Jahres ihren 99. Geburtstag feierte, speku- sundheit heute nicht mehr als Privileg, son- Jungbrunnen angepriesen. lierten Zeitungen darüber, wie die rüstige dern als eine Art Geburtsrecht. π Grundlegende Einsichten in die geneti- Mutter der britischen Königin den Festtag Fakten, die solche Hoffnungen schüren, schen und zellulären Ursachen von Al- wohl diesmal begehen würde. Bei ihrem finden sich zuhauf, nicht zuletzt bei den terungsprozessen eröffnen völlig neue 98., berichtete der Londoner „Daily Tele- Demografen, die eine immer weiter wach- Möglichkeiten, diese günstig zu beein- graph“, habe sie nachts bis halb zwei ge- sende Lebenserwartung in den Industrie- flussen oder gar aufzuhalten. feiert. Gern trinke sie bei solchen Anläs- ländern prognostizieren. Die Zuversicht „Es gibt keinen Grund für die Annah- wird auch geschürt durch die enorm ge- me“, sagt der amerikanische Alternsforscher * Drei Phasen einer Zellkultur, die durch genetische wachsenen Fähigkeiten der Mediziner und Caleb Finch, „dass eine grundlegende Gren- Manipulation zum schnellen Altern gebracht wurde. Biologen: ze für die Länge unseres Lebens existiert.“

162 der spiegel 38/1999 Noch Ende der siebziger Jahre hatten men sinkt? „Altern“, bekennen Finch und che nach einer einheitlichen Theorie des viele Gerontologen genau das Gegenteil sein Kollege, der Ökologie-Professor Alterns. geglaubt: Unsere Körper seien von der Robert Ricklefs, „ist eines der wirklich „Keine Alternstheorie ist in der Lage“, Evolution mit einem Selbstmord-Mecha- großen Rätsel der Biologie.“ resümieren Ricklefs und Finch, „sämtliche nismus ausgestattet, der Alter und Tod her- Die beiden amerikanischen Forscher un- Veränderungen, die man je in den ver- beiführt. terscheiden sorgfältig zwischen den Be- schiedenartigen Organismen beobachtet Mit seiner Grenzaufhebung meint griffen „Altern“ und „Seneszenz“: hat, zu erklären.“ So gebe es immer noch Finch allerdings keineswegs, dass nun ein π Unter Altern verstehen sie „die fort- keine befriedigende Erklärung dafür, war- biblisches Alter – Methusalem soll 969 schreitenden Veränderungen, die im Er- um sich die Lebensspannen der verschie- Jahre alt geworden sein – oder gar Un- wachsenenalter auftreten und meis- denen Säuger um das bis zu 30fache un- sterblichkeit erreichbar wären. Der Pro- tens, aber nicht immer, die Lebens- terscheiden (siehe Grafik). fessor für die Neurobiologie des Alterns fähigkeit des Individuums verschlech- Probleme bereitet den Wissenschaftlern an der University of Southern California tern“ (graue Haare beispielsweise ma- und Ärzten vor allem, dass es in der Natur in Los Angeles ist keiner jener großmäu- chen ihren Träger nicht anfälliger für des Alterns liegt, Veränderungen auf allen ligen Propheten, die aus kurzlebigen Krankheiten). Ebenen der biologischen Organisation her- Trends weit reichende Progno- vorzubringen: Der Alternspro- sen destillieren. zess wirkt auf molekulare Vor- Weder zieht er aus der gestie- gänge im Stoffwechsel ebenso genen durchschnittlichen Le- ein wie auf die Funktion der ver- benserwartung den – falschen – schiedenartigen Zelltypen, der Schluss, damit würde automa- einzelnen Organe und auch des tisch auch das maximal erreich- ganzen Organismus. bare Alter für Menschen bald Kein Wunder, dass Forscher schon auf 150 oder mehr Jahre im Lauf des Jahrhunderts allein steigen. Noch empfiehlt er – wie ein halbes dutzend ernst zu neh- manche seiner Kollegen – zur mende Theorien aufgestellt ha- allgemeinen Lebensverlänge- ben, um das Wie des Alterns zu rung eine Hungerkur mit einer erklären: Wird der Verschleiß um 30 oder gar 60 Prozent re- durch die Wirkung von Mutatio- duzierten Kalorienaufnahme nen verursacht oder durch „freie (nur weil Labormäuse unter sol- Radikale“? Oder durch die zah- chen experimentellen Bedin- lenmäßige Begrenzung der Zell- gungen bis zu 50 Prozent länger teilungen, durch Abnutzung und

leben als normal). / SIPA A. BOULAT Verschleiß, geschwächte Ab- Seriöse Alternsforscher wie Greisin Calment*: Höchstes dokumentiertes Menschenalter wehrkräfte des Körpers oder Finch kennen zu viele Details, schwindende Hormonausschüt- auf welchen vertrackten Wegen Umwelt π Mit dem Begriff Seneszenz bezeichnen tung, wie etwa während der Wechseljahre und Gene einen Organismus mehr oder sie „spezifische Funktionsverluste bei der Frau? weniger schnell altern lassen. Sie älteren Individuen“ – etwa den allmäh- Für die „somatische Mutationstheorie“ kennen zu viele Ausnahmen von den lichen Verlust an Elastizität alternder sind Veränderungen der Erbsubstanz DNS Regeln jener Theorien, die zu erklären Blutgefäße. („Mutationen“) in den Körperzellen (dem versuchen, wie Pflanzen, Tiere und Men- Altern und Seneszenz, Gene und Um- „Soma“) die entscheidenden Ereignisse des schen altern. Und sie kennen das Dilem- welt, Gesundheit und Krankheit, Glück Alternsprozesses. ma der Evolutionsbiologen, die sich mit und Pech steuern ungezählte Teilchen zu Auslöser der Mutationen können Rönt- dem Problem abmühen, warum wir al- „einem äußerst komplizierten biologi- genstrahlen und Radioaktivität sein, aber tern und weshalb dieser Prozess in man- schen Puzzle“ bei, wie Ricklefs und Finch auch bestimmte Stoffe – wie sie etwa im chen Kreaturen schneller abläuft als in an- betonen. An dieser Komplexität scheiter- deren. ten die Biologen bislang bei ihrer Su- Schildkröte „Wie kommt es“, fragt Finch, „dass ein Phänomen wie das Altern im Laufe der * 1995 bei ihrem 120. Geburtstag. Mensch Evolution entstehen kann, obwohl dadurch die Überlebens- und Fortpflanzungsfähig- keit beeinträchtigt werden“ – also die evo- lutionäre Fitness der betroffenen Organis- Adler Karpfen

Uhu Elefant Senioren im Tierreich Strauß Höchstalter verschiedener Schimpanse Delfin Katze Hummer Lebewesen; in Jahren Pinguin Weinberg- Feldhase schnecke Maus

4 8 18 26 30 35 45 50 62 68 70 80 100 120 150

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Werbeseite Telomere nicht die treibende Kraft für den allgemeinen Prozess des Alterns bei Säu- getieren sein kann. Zudem befürchten For- scher, ein Einsatz des Enzyms beim Men- schen könnte Krebswucherungen auslösen. Jede der verschiedenen Theorien dar- über, wie Organismen altern, hat ihre Schwächen. Hinzu kommt die Rolle der Umwelteinflüsse – Gifte, Nahrungsbe- standteile, Stress – und deren Wechselwir- kung mit der jeweiligen genetischen Kon- stitution des Individuums: ein gordischer Knoten der Wissenschaft, den bislang noch niemand durchschlagen konnte. Auch wenn es gelänge, Verschleißer- scheinungen immer wieder zu beheben und schädliche Umwelteinflüsse weitgehend auszuschalten, würde jeder Mensch eines Tages sterben. Unaufhaltsam wächst im Laufe des Lebens die Zahl der DNS-Muta- tionen, der Fehler im Erbgut, die fortan bei jeder Zellteilung weitergereicht werden. Er- reicht ihre Summe eine kritische Grenze, kommt es unweigerlich zum Exitus. Zwar verfügen alle Lebewesen über ei- nen körpereigenen Wartungsdienst, der

P. MENZELL / AGENTUR FOCUS MENZELL / AGENTUR P. DNS-Schäden reparieren kann. Doch die- Labormäuse vor, nach Hungerkur*: Um bis zu 50 Prozent verlängertes Leben ser Service ist nicht perfekt; er arbeitet, wie es scheint, sogar vorsätzlich fehlerhaft Tabakrauch enthalten sind – und sogar Aber auch andere Gewebe wie Haut und – weil die Natur es so will. spontane Vorgänge im Erbgut ohne Knochenmark, die ihre verbrauchten Zel- äußeren Anlass. len bis ins hohe Alter ständig durch neue Aufnahme von Körpereigene Sauerstoff zur Für die Anhänger der „Theorie der frei- ersetzen und Verletzungen reparieren, Energiegewinnung en Radikale“ sind chemisch aggressive scheinen nicht prinzipiell unsterblich zu Abwehrstoffe Bruchstücke von Molekülen oder Atome sein.Wie der US-Biologe Leonard Hayflick mit wenigstens einem partnerlosen Elek- 1961 entdeckte, können sich menschliche tron die wichtigste Ursache von Alterns- Bindegewebszellen („Fibroblasten“) auch prozessen. unter idealen Laborbedingungen maximal Solche Partikel, „freie Radikale“ ge- 40- bis 60-mal teilen. Ein „Hayflick-Limit“ nannt, verbinden sich in Lebewesen vor- gilt auch für Fibroblasten anderer Tierar- Entstehung wiegend mit Sauerstoff. Dadurch können ten: Mäuse-Zellkulturen erreichen ihr Li- von freien lebenswichtige Moleküle Schaden nehmen mit nach 28, Schildkröten-Zellkulturen Radikalen – die Erbsubstanz DNS, die aus Eiweiß- nach mehr als 100 Verdopplungen. stoffen (Proteinen) bestehenden Zell- Rückenwind bekommt diese Theorie, seit strukturen sowie die fettähnlichen Bau- ein genetischer Mechanismus an den Enden steine der Zellmembran (Lipide). Gegen der Chromosomen, in denen die Erbsub- den Angriff der freien Radikale kann sich stanz DNS aufgeknäult ist, entdeckt wurde: Radikale in ein gesunder Organismus mit mehreren Dort sitzen, Schutzkappen gleich, speziel- der Überzahl Enzymen sowie mit sogenannten Antioxi- le DNS-Stücke. Diese Telomere werden bei dantien, darunter die Vitamine E und C, jeder Zellteilung etwas kürzer und könnten zur Wehr setzen. somit, einer Sanduhr ähnlich, das Leben Für die „Theorie der sterblichen Zelle“ der Zellen begrenzen (siehe Grafik). liegt das Geheimnis des Alterns und In Keimdrüsen – Eierstöcken und Hoden Sterbens dagegen in der allmählich – sowie in Krebszellen regeneriert jedoch schwindenden Fähigkeit des Körpers, ab- das Enzym Telomerase die Schutzkappen. genutzte oder beschädigte Zellen zu er- Dies trägt offensichtlich zur nahezu un- setzen. endlichen Lebensdauer von Keimdrüsen- Verschleiß durch Freie Radikale Anhänger dieses Erklärungsmodells ver- zellen sowie von Tumorgewebe bei. So weisen auf die Tatsache, dass besonders löste Anfang 1998 die Meldung vom erfolg- In den Mitochondrien, den „Kraftwerken der jene Organe im Alter häufig versagen, die reichen Einbau von Telomerase-DNS bei Zelle”, wird durch Oxidation von Nährstoffen ihre Zellen nicht oder nur selten regene- Laborexperimenten mit Zellkulturen in Energie gewonnen. Dabei entstehen so genannte rieren können. Dies betrifft vor allem Herz Texas teils euphorische Berichte über das Radikale, die von körpereigenen Abwehrstoffen und Hirn: Nervenzellen und Herzmuskel- „Unsterblichkeits-Enzym“ aus. (Antioxidantien) in Schach gehalten werden. zellen werden in der Regel nicht erneuert; Inzwischen hat sich die Aufregung ge- Mit der Zeit nehmen die Radikale überhand sie sind gewöhnlich so alt wie der jeweili- legt: Mäusearten mit besonders langen und schädigen die Mitochondrien. Es wird immer ge Mensch. Telomeren leben auch nicht länger als sol- weniger Energie gebildet – der Mensch wird che mit kurzen. Heute gehen Wissen- schwächer. * An der UCLA Medical School in Los Angeles. schaftler davon aus, dass die Länge der

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Warum hält sie so hartnäckig fest an weltbedingungen biologisch nicht mehr an- Individuen womöglich dramatisch ver- ihrem Todesprogramm? Vermutlich weil es passen. Nur mit Hilfe von Veränderungen längern; die fernere Zukunft der Spe- für den Gang der Evolution unentbehrlich des Erbguts ist es der Natur gelungen, ei- zies Mensch sähe dann allerdings eher ist. „Unsere Unfähigkeit, jeden einzelnen nige Lebensformen heil durch die Fährnis- trübe aus. Fehler in der DNS zu reparieren“, schreibt se der katastrophenreichen Erdgeschichte So betrachtet, stirbt einstweilen jeder- die Wissenschaftsautorin Carol Orlock, „ist zu manövrieren. mann einen Heldentod: Er opfert sein Le- die Risikoversicherung der Natur.“ Wären Wissenschaftler künftig im ben für die Erhaltung der genetischen Viel- Ohne die Vielzahl der Mutationen könn- Stande, Mutationen stark zu verringern, falt, ohne die der Homo sapiens nie hätte te sich der Mensch stark veränderten Um- würden sie das Leben der menschlichen entstehen können. Barbara Ritzert Tod auf Raten Zellmechanismen, die zum Altern des menschlichen Organismus beitragen

Helicase

Telomere Defekte Gene Das Enzym Helicase öffnet den spiralförmig gedrehten DNS-Strang. So können die Erb- informationen abgelesen und vervielfältigt und dabei entstehende Fehler korrigiert werden. Ist die Helicase defekt, unterbleibt die Fehler- korrektur – die Zelle altert.

Zelle

Mito- Zellkern chondrium Verkürzte Enden An den Enden der Chromosomen sitzen wie Schutzkappen die Telomere. Sie verkürzen sich bei jeder Zellteilung und wirken so wie eine innere Uhr. Wird eine kritische Länge der Telomere unterschritten, kann sich die Zelle im Zellkern: nicht mehr 23 Chromo- teilen – sie somenpaare altert und stirbt.

Ein Chromosom besteht aus einem Der DNS- Strang von Desoxyribo- Strang nukleinsäuren (DNS), ist zwei den Trägern des Erbguts. Meter lang. LEBENSZEIT GEWINNEN M. WITT Frühgymnastik im Schroth-Heilbad Oberstaufen: „In fröhlicher Runde schmelzen bei uns die Pfunde“

KUREN „Wer lieben will und saufen“ Wein, Weib und Wasserspiele – das deutsche Kur- und Bäderwesen. Von Hans Halter er zur Schroth-Kur nach Ober- tions-Lexikon“ 1889 warnt, „sehr tief ein- Deshalb trinkt der Schrothler am Don- staufen im Allgäu reist, der soll- greift“, was „viele nicht aushalten“. nerstag ab 15 Uhr einen Liter Heilwein, Wte an einem Mittwoch eintreffen. Kann schon sein. Damals wurde das Na- heute noch und immer wieder. In unserem Das gibt der Kur die Taille. Man bekommt turheilverfahren aber auch vornehmlich Fall kam der „Löwensteiner Sonnenberg“, sieben getrocknete Pflaumen zu essen, bei alten Syphilitikern angewandt, heute ist Riesling trocken, Jahrgang 1997, ausge- einen Esslöffel geraspelte Möhren und alles ganz anders, besonders donnerstags. zeichnet mit dem Deutschen Weinsiegel, muss den Saft einer Zitrone trinken. Mehr Denn das ist unser „großer Trinktag“. Da 11,5 Prozent Alkohol, Gesamtbrennwert gibt’s nicht. Jeder Mittwoch ist, aus der macht die Schroth-Kur richtig Freude, 3034 Kilojoule, zum Einsatz. Oh Mann, Sicht des „Schrothlers“ (so werden sie ge- schon morgens früh um sieben. Der Ge- welch ein tolles Medikament! Hilft dem nannt), ein vergnügungsfreier, echt herber sundheit zuliebe trinken wir erst mal ein Vater auf das Fahrrad, wenn auch nicht „Trockentag“. ordentliches Glas Glühwein. Sehr zum gleich am Donnerstag. Aber der Donnerstag! Der beginnt mor- Wohl! Bei einer Kur, und das gilt für alle Vari- gens früh um vier. Zu dieser Stunde er- Alkohol ist Medizin. Johann Schroth, anten, tritt der ganz große Erfolg erst ein, scheint die „Packerin“ und wickelt den der „Naturheilarzt“, hat das 1817 so fest- wenn man wieder zu Hause ist. Das war Kurgast erst mal in bitterkalte, nasse gelegt. Eigentlich war Schroth kein Arzt, schon zu Goethes Zeiten so – der war 23- Tücher, darüber kommen Wolldecken und sondern Fuhrmann im schlesischen Öster- mal zur Kur –, ist von der wissenschaftli- ein Federbett. Mit drei Wärmflaschen wird reich, auf der westlichen Seite des Riesen- chen Bäderheilkunde bestätigt und tröstet nachgeheizt. Damit der Gast nicht weg- gebirges. Den 19-Jährigen hatte ein Pferd den Kurgast über die dunklen Stunden, die laufen kann, wird er fest verschnürt. getreten, sein Knie wurde dick und dicker. nicht ausbleiben. Ganz früher sind dabei manchmal Men- Für Schroth war das die Stunde des Selbst- Beim Schrothen darf sich niemand wun- schen gestorben oder haben sich den versuchs: Die kalten Umschläge, die stren- dern, wenn diese „Kurkrise“ freitags ein- „Skorbut“ geholt, weil die „höchst lästige ge Diät und der „Heilwein“ zauberten sei- tritt. Freitags ist „Trockentag“, morgens schrothsche Kur“, wie „Meyers Konversa- ne Kniebeschwerden weg. ein Glas Kurtee, mittags sieben einge-

168 der spiegel 38/1999 weichte Aprikosen, abends ein Esslöffel ge- schau nach dem zufriedenen Selbstzahler. sche Kurort etwas holprig zur Sammlung raspelte Petersilie und wieder nur Zitro- Der will nicht vom Kurpersonal bevor- für einen guten Zweck: nensaft pur. Nicht verzagen! Am Wochen- mundet werden, sondern lieber selbst mal In fröhlicher Runde schmelzen bei uns die ende lacht das Glück in Oberstaufen, dem eine kesse Lippe riskieren. Pfunde, drum gehts geschwind für Aktion einzigen „Schroth-Heilbad der Welt“. Gut „Der Kurort muss zu einem großen Club Sorgenkind. 100 Fachbetriebe, erkennbar am Gütesiegel à la Robinson werden“, fordert der Präsi- „Anerkannter Schrothkurbetrieb“, schen- dent des Deutschen Reisebüro-Verbandes. Zusammengekommen sind 15000 Mark, ken dann wieder den Heilwein aus, nur ei- „Alte Menschen am Stock, die ihre Runden pro verlorenem Pfund der Spender eine nen halben Liter pro Mann, am Samstag, im Kurpark drehen, hier ein Schlückchen Mark. dem traditionellen „kleinen Trinktag“, am Wasser trinken, dort ein Stückchen Kuchen Eigentlich hatte Naturarzt Schroth das Sonntag – „großer Trinktag“! – einen essen – nicht sehr attraktiv.“ Abnehmen gar nicht im Programm. Er heil- ganzen Liter. Stattdessen sind „Wellness“ und „Fit- te mit seinen nassen Tüchern am liebsten Das ist gut für den Gast und gut für die ness“ angesagt, der Trend geht zum aktiven Knochenbrüche und die „Ausschwitzungen Gastronomie. Denn: Freizeitspaß. In viel Grün, sauberer Luft des Bauchfells“, ein rein virtuelles Leiden. und gesundem Klima soll, so wurde auf Die Trias Trinken – Schwitzen – Dürsten Wer lieben will und saufen, der fährt nach dem letzten Deutschen Bädertag verkün- reinigte nach seiner Vorstellung „das Blut Oberstaufen. Die Dicken und die Doofen, det, fürderhin gelten: „Beauty ist das Ball- und die Säfte“, denn der medizinische Laie die sind in Wörishofen. kleid der Gesundheit.“ glaubte fest: Alle chronischen Krankheiten So reimen Taxifahrer sich die Welt zu- Oberstaufen, postkartenschön am Al- haben ihre Ursache in „schlechten Verdau- sammen. In Bad Wörishofen, 90 Kilometer penrand gelegen, von Gott mit einem ungswerkzeugen und in den verdorbenen entfernt, hat sich vor 150 Jahren Flüssigkeiten des Körpers“. der katholische Pfarrer Seba- Dieser Gedanke – der Tod stian Kneipp dem kalten Was- sitzt im Darm – begleitet die ser verschworen, hat damit sein Menschheit, seit es Heilkun- Lungenleiden kuriert und dige gibt. anschließend behauptet: „Was Allerdings sind alle Lei- Wasser nicht heilt, das ist nicht den und Gebrechen modi- heilbar.“ schen Einflüssen ausgesetzt. Das galt auch für Kneipps Die Franzosen sorgen sich Blasenkrebs, welchen er so lan- um die Leber, die Engländer ge mit kalten Güssen traktier- um das Herz, die Amerika- te, bis Gott ihn zu sich rief. ner fürchten die Viren, der Wein war in Kneipps Apotheke Deutsche das Übergewicht. nicht zu haben. Stark im Kommen ist jetzt Dabei enthält doch der Heil- der Rückenschmerz, auch wein, wie die 15 Kurärzte der der Stress hält sich noch im- 7000-Seelen-Gemeinde Ober- mer gut im Vorderfeld. Dass staufen beschwören, „alle man durch eine Kur, mög- wichtigen Bio-Elemente“ und lichst bezahlt von den Sozi- „sehr viele Vitamine“, darunter alkassen, das Blatt wenden sogar das „Vitamin H“, ein rei- könne, ist eine speziell deut- nes Phantasieprodukt, das sche Vorstellung. In keinem außerhalb von Oberstaufen anderen Land der Welt gibt niemand kennt. es ein vergleichbares Kur- Macht nichts. Die „Schla- und Bäderwesen. cken“, welche nach der festen Diese weiße Industrie hat Überzeugung von Kurarzt und die wechselvollen Zeiten

Kurgast mittels der Schroth- / MAURITIUS BACH und alle Nachstellungen, zu- Therapie aus dem Leib entfernt Patientin im Moorbad: „Beauty ist das Ballkleid der Gesundheit“ letzt durch den CSU-Ge- werden, gibt es in Wahrheit so sundheitsminister Seehofer, wenig wie das Vitamin H. „Der menschli- guten Klima und vitalen Ureinwohnern mit leichten Blessuren überstanden und che Körper“ ist doch „kein Ofen, in dem gesegnet, erfüllt alle Basisvoraussetzun- befindet sich wieder im Aufwind. Dazu Kohlen verbrannt werden“, mokiert sich gen, um den Gast so glücklich zu machen, bedarf es der Geschmeidigkeit. Wenn der Münchner Medizinprofessor Hans-Die- dass er wiederkommt. Rückenschmerz plötzlich Konjunktur hat – ter Hentschel – ausgerechnet im „Schroth Dem fröhlichen Kurgast hüpft das Geld und nicht mehr „Magenerweiterung“ wie Kurier“, den die Gäste von der Kurver- leichter aus dem Beutel. Er soll dafür auch zu Schroths Zeiten –, dann versteht es sich waltung gratis gereicht bekommen. alles kaufen dürfen, was auf dem Markt- von selbst, dass die Schroth-Kur neuer- Solche Meinungsvielfalt ist ein schönes platz der Gesundheit angeboten wird, Se- dings auch gegen „Verschleißerscheinun- Zeichen von Toleranz und flexiblem Mar- riöses, weniger Seriöses und den reinen gen der Wirbelsäule“ hilft, gegen Rheu- keting. Ein Kurort, der prosperieren will, Blödsinn. matismus, Arthrose und Gicht sowieso. darf heutzutage nicht kleinlich, gar bes- In Oberstaufen kann man nach Schroth Mindestens ein dutzend „Heilanzeigen“, serwisserisch wirken. Das deutsche Kur- abnehmen, wenn man möchte, aber auch von denen Schroth beim besten Willen und Badewesen ist eine gigantische „weiße mittels der Kartoffeldiät, der Trennkost, nichts wissen konnte, weil die dazu passen- Industrie“. Im letzten Jahr erwirtschaftete der Managerkur, dem Qigong-Teilfasten, den Krankheiten noch gar nicht ge- oder sie mit 280000 Mitarbeitern einen Umsatz der Reduktionsdiät, durch eine Molke- erfunden waren, präsentiert der Schroth- von gut 30 Milliarden Mark. Seit die Kran- Trinkkur oder nach Dr. Buker, Dr. Lützner verein Oberstaufen e.V.dem geneigten Pu- ken- und Rentenkassen nicht mehr klaglos und so fort, selbstverständlich auch à la blikum. Aus wissenschaftlicher Sicht ist die für alles bezahlen, hält die Branche Aus- carte. In seiner Ortsmitte mahnt der bayeri- alte Naturheilweise eine sehr einseitige Ra-

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In den guten alten Zeiten, als der Ge- heimrat G. abends um die Häuser zog, wa- ren die Chancen jedoch objektiv günsti- ger. Damals brachten die Eltern ihre Töch- ter mit zur Kur. Davon kann heute keine Rede mehr sein, die Töchter sind jetzt alle auf der Love Parade. In „Bubis Bar“ in Oberstaufen, der Eins-A-Adresse für die einsamen Herzen, sind die Männer über 50 unter sich und mit den guten alten Män- nerthemen befasst. Die Bar ist mit Prominentenfotos tape- ziert, viele Fußballer sehen uns an, sogar Sepp Herberger. Bubi sagt, er kenne ihn noch von früher. „Ich könnte Dinger er- zählen“, legt ein beleibter rheinischer Kur- gast los und fasst das Bierglas fester, „Bau- grundstück … Ausverkauf … Parkplatz … so macht man das … und das Grundstück bleibt dir.“ Die Blondine an seiner Seite, sie ist die einzige Dame in Bubis Bar, macht große Augen. Wer sich, auf der Suche nach Liebe und Zuwendung, an die „Katholische Kur- seelsorge“ hält, hat womöglich mehr vom

FOTOS: M. WITT Leben. Dort wird über die „Steinheilkun- Schroth-Kur-Diät in Oberstaufen: Am großen Trinktag lacht das Glück de nach Hildegard von Bingen“ vorgetra- gen, eine Heilige vom alten Schrot und dikalkur, die durch Entwässerung und Teil- Da kommt gute Laune auf. Schon der Korn, die sich mit Herzeleid und jedem fasten zu einer – meist nur vorübergehen- Kurgast Goethe schrieb 1814 an einen Männerweh gut auskannte. Einsame Da- den – Gewichtsabnahme führt. Freund, dass eine Kuranstalt „mehr zur men können sich dem Oberstaufener Pa- Je gesünder man ist, desto besser ver- Zerstreuung und Hoffnung als zu eigentli- storalreferenten anschließen, der einen trägt der Körper die rabiate Therapie, ganz cher Heilung“ dienen mag – „doch das ist „meditativen Waldspaziergang“ offeriert. unabhängig davon, gegen welches Leiden ja auch schon was“. Noch 1823, Goethe Doch der Königsweg zum Glück führt in zu Felde gezogen wird. Liebenswerterwei- war schon 73 Jahre alt, tattrig und zahnlos, das warme Wasser. Jedes bessere Haus am se werden im Oberstaufener Kurprospekt verdrehte er der 19-jährigen Ulrike von Le- Platz hat ein wohltemperiertes Schwimm- die diversen Heilanzeigen an einer nacker- vetzow den Kopf. Attraktive Kurschatten bad und mindestens einen Whirlpool. ten Hochglanz-Blondine im schönsten Alter stimulieren den Heilerfolg, damals wie Im „Parkhotel“ – einem empfehlens- vorgezeigt. heute. werten Domizil für die gehobenen An-

KNEIPP-KUR

Über den Nutzen der beliebten Kneipp-Kur ur- teilte Professor Dr. med. Irmgard Oepen, ehemals am Institut für Rechtsmedizin der Universität Mar- burg, im „Deutschen Ärzteblatt“: „Die Kneipp-Therapie gehört zu den Naturheil- verfahren, die diese Bezeichnung mit Recht führen und die daher als Bestandteil der so genannten Schulmedizin anerkannt sind. Die Kneipp-Therapie gestattet mit ihrem Reichtum an Anwendungen und der Vermittlung einer gesundheitsbewussten Lebensweise individuelle, dem jeweiligen Zustand des Patienten angemessene Verordnungen. „Durch Abhärtung, Entspannung und Lei- stungssteigerung beeinflusst sie Soma und Psyche günstig, so dass sie im wahrsten Sinne des Wortes als ganzheitlich bezeichnet werden kann. Dieses Attribut trifft für Pseudo-Naturheilverfahren, deren Anhänger die Begriffe ,naturgemäß‘ und ,biologisch‘ mit ,wissenschaftlich nicht anerkannt‘ und ,ungeprüft‘ gleichsetzen, nicht zu. Sie sind zum Teil sogar, zum Beispiel Zell- und Ozonthera- pie, mit einem unberechenbaren Risiko behaftet. Bei anderen Methoden, wie Akupunktur und Homöopathie, sind trotz anderer Aussprüche nicht mehr als Placebo-Effekte nachweisbar.“ Kurmittel Wasser (in Bad Gögging): Das Ziel ist der gelockerte Leib

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Werbeseite LEBENSZEIT GEWINNEN M. WITT Kurgäste, Schroth-Büste in Oberstaufen: Dem Fröhlichen hüpft das Geld leichter aus dem Beutel sprüche – ist der Kurgast noch keine Schwefel und kurierten die Verstopfung. tiert. Da die Nachfrage sich derzeit auf chi- fünf Minuten im Haus, da wird ihm Die war damals sehr en vogue. nesische und altindische Therapien kapri- schon ein weißer Bademantel (XXL) Heute führen austrainierte Bademeister ziert, kann man im bayerischen Oberstau- aufs Zimmer gebracht. Die Direktion in den Thermen das Kommando, und ihr fen selbstverständlich Qigong-Übungen vermutet offenbar, nichts sei so dringlich Ziel ist der gelockerte Leib. Der Gast hat nach Hua Tuo absolvieren – was immer wie der Gang ins Wasser. Das ist gute Kur- die Wahl zwischen Wasserballett, Water- der böhmische Bauernbursche Johann tradition, denn Wasser heilt den Gast. Moving und Aqua-Fit. Das alles macht der Schroth davon gehalten hätte. Früher musste er es trinken, heute darf er Arthrose Flügel, jedenfalls solange man im Wie bei jedem Neuerer der Heilkunst darin plantschen. warmen Wasser bleibt. verdichtete sich auch in Schroths Kopf am Im 19. Jahrhundert achteten die „Brun- Wer will, der hat an Land noch ganz an- Lebensende die eigene Erfindung zur über- nenärzte“ streng darauf, dass die geregel- dere Möglichkeiten, um Fit for Fun zu wer- wertigen Idee.Was kalte Tücher und kühler te Trinkkur das Herzstück der Badreise den – hunderte von Optionen stehen dem Wein nicht kurieren konnten, das hielt blieb. Meist stanken die Heilwässer nach Kurgast offen. Er kann, zum Beispiel, jog- Schroth für unheilbar. Er selber wurde nur gen, woggen oder Walkaerobic treiben. 58 Jahre alt. Das Herz, sagen seine Schüler, KUR-ANGEBOTE Ortsfesten Gästen, die sich nicht zu weit sei schwach geworden. Vielleicht war es ja vom Heilwein entfernen wollen, ist Stret- auch die Leber. Ob Bad und Brunnen der Gesundheit mehr hel- ching zu empfehlen oder die Problemzo- Bei seinen Patienten hat Schroth, dessen fen als ein Urlaub, ist unter Medizinern umstritten. nenmassage, vielleicht auch Bodystyling. Büste jetzt die Ortsmitte von Oberstau- Die Bäderwissenschaft („Balneologie“) unter- Auch die Offerte „Heavy Hands“ klingt fen ziert, den Leib vor dem Anlegen der scheidet zwischen den Mineral- und den Moorheil- einladend. Man soll sich aber keine Illu- Packung mit der rechten Hand eingerie- bädern, den heilklimatischen Kurorten, den See- sionen machen und nicht glauben, die Phy- ben. Dabei murmelte er unverständliche heilbädern sowie den Kneipp-Heilbädern und siotherapeutinnen (alles diplomierte Kräf- Worte, die das kalte Wasser „kräftigten“. Kneipp-Kurorten. Das variable Therapieangebot te) seien Klaps- und Kitzelschätzchen. Kann sein, dass er, wie viele seiner Zeit- sucht durch eine Ordnung der körperlichen Funk- Hitzigen Aufwallungen erotischen Be- genossen, an „menschlichen Magnetis- tionen mittels Frühsport, Ernährungsdisziplin, Bä- gehrens steht das Personal skeptisch ge- mus“ glaubte. Dieser Hokuspokus wird dern, Wasseranwendungen und Massagen eine genüber. Von dem Türschild „Bitte nicht derzeit nicht mehr praktiziert, obgleich „Umstimmung“ zu erzielen und die Selbsthei- stören“ lassen sich die resoluten Packerin- Schroth auch damit Gutes bewirkt haben lungskräfte des Organismus zu aktivieren. nen nicht beeindrucken. Sie wollen – Lie- mag. Örtliche Spezialitäten, etwa Fango- oder Lehm- be hin, Liebe her – morgens um vier Uhr Seine Begründung jedenfalls leuchtet packungen, werden den Kurgästen zusätzlich offe- ihre kalten Laken zum Einsatz bringen. ein: Die „Lebensklugheit“, so sagte er, riert. Neuerdings versucht man auch, die Gäste Davor ist nur geschützt, wer ein weißes habe ihn „gelehrt, dass die Leute sich bes- durch Informationsangebote, gruppendynamische Handtuch an die Türklinke hängt. Cham- ser halten und die Kur besser brauchen, Sitzungen und Verhaltenstraining langfristig zu ge- pagner auf dem Zimmer wird in Ausnah- wenn etwas Ungewöhnliches, ihnen Unbe- sundem Verhalten zu motivieren. Für einen großen mefällen geduldet, weil es sich – bei greifliches dabei vorkommt“. Teil dieser Kurformen liegen bisher jedoch keine un- großzügiger Auslegung der Schrothschen Der moderne Schrothler hat nichts ge- strittigen wissenschaftlichen Beweise der Wirk- Kurregeln – um eine Variante des Heil- gen Magie. Solange der Erfolg – „in fröh- samkeit vor. Von vielen Ärzten als hilfreich be- weins handeln könnte. licher Runde schmelzen bei uns die Pfun- trachtet werden jedoch einige Kurmethoden des Es versteht sich, dass im Zeitalter der de“ – sich einstellt, würde selbst Gaukelei „Wasserpfarrers“ Sebastian Kneipp. Globalisierung die deutsche Kurindustrie ihn nicht verprellen. jedes fremdländische Heilwissen impor- Lieber doof als dick. Man sieht’s nicht so.

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Senioren-Achter (in Hamburg): Rüstige Grauköpfe, die sich in ihrer runzligen Haut erstaunlich wohl fühlen

SENIOREN Happy mit der Hüfte Gesundheit und langes Leben: Der klassische Geburtstagsglückwunsch geht immer häufiger in Erfüllung: Die Gruppe der über 80-Jährigen wächst schneller als jede andere. Und die Alten fühlen sich fit – die meisten leben trotz chronischer Gebrechen beschwerdefrei.

ls Preußens König Friedrich II. aus ten durch sein Schloss. Üppige Mahlzei- Altersgebrechen in Demut und stiller Wür- dem Siebenjährigen Krieg zurück- ten, die er gierig verschlang, waren sein de zu ertragen, hatten damals auch die Akehrte, war er 51 und für seine Un- Altersvergnügen, doch sie bekamen ihm Ärzte ihrer ergrauten Klientel nicht zu tertanen fortan der Alte Fritz. Alt, grau schlecht. Friedrich verschied, mit 74 Jahren, bieten. und zerknittert sah er schon damals aus, nach einem letalen Elf-Gänge-Menü. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als ein fast zahnloser Feldherr, ein kränkeln- „Wer früh stirbt, der stirbt wol“, hatte die Lebenserwartung und damit die Zahl der Griesgram, dem Darmkoliken und einst der Arzt und Barockdichter Paul Fle- der Alten rapide zunahm, erbarmte sich Gichtanfälle von Jahr zu Jahr schlimmer ming notiert; der pessimistische Poet starb die Medizin der Altersschwachen. Der Al- zusetzten. mit 30. Das entsprach der durchschnittli- tersverfall, bis dahin als Schicksal alles Le- Noch 23 Jahre lebte und regierte der chen Lebenserwartung im 17. und 18. Jahr- bendigen beklagt, wurde erstmals als verrunzelte Dauerpatient, der seinen hundert. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts Krankheitsprozess eingestuft, den es wis- Krückstock nie aus der Hand legte.Als die erreichten nur 7 von 100 Menschen das 60. senschaftlich zu erforschen und, wo immer Wassersucht seine Beine aufschwemmte, Lebensjahr. Die es schafften, hatten meist möglich, nach den Regeln der ärztlichen schlurfte er in aufgeschlitzten Stiefelschäf- nicht viel Spaß daran. Mehr als den Rat, die Kunst zu bekämpfen galt.

174 der spiegel 38/1999 Ein Mediziner namens in die „so genannte herrliche Jugend kräfte verlieren etwa 50 Prozent ihrer Ignatz Nascher prägte 1914 zurück“. Kampfstärke. Das Risiko, an einer Infekti- den Terminus Geriatrie und Die Rechnung „alt gleich krank und ein- on zu sterben, liegt bei einem 70-Jährigen machte ihn zum Titel eines sam“ gehe längst nicht mehr auf, resümie- 35-mal höher als bei einem Schulkind. Handbuchs, in dem die Al- ren die MacArthur-Forscher: Aufrecht, ak- Die gute Nachricht: Gegen fast alle Al- tersleiden und ihre Behand- tiv, bei klarem Verstand und ohne viel tersschikanen, mit denen die Natur den lung systematisch zusam- fremde Hilfe bewältigt die große Mehrheit Menschen peinigt, hat die Medizin in den mengefasst wurden. Seither der Alten ihren Alltag. Nur gut fünf Pro- letzten Jahrzehnten zumindest aufschie- sind Geriatrie und Geronto- zent aller Alten sind auf ständige Pflege in bende Strategien entwickelt. Die Alten logie – Altersheilkunde und Heimen und Hospitälern angewiesen. Die profitierten am nachhaltigsten vom Me- die Wissenschaft vom Altern meisten wohnen in den eigenen vier Wän- dizinfortschritt – einer Fülle von Innova- – zu einem blühenden Medi- den, bis sie im Rollstuhl oder im Sarg hin- tionen auf unterschiedlichen Fachgebieten: zinzweig geworden, der in ausgeschafft werden. π Künstliche Zähne, die in die Kieferkno- Theorie und Praxis ungeahn- Zu so viel Standfestigkeit hat ihnen nicht chen geschraubt werden, ersetzen das te Erfolge verbuchen kann. zuletzt die medizinische Wissenschaft ver- herausnehmbare Klappergebiss, mit dem In den Industrieländern holfen. Was sie über den natürlichen Al- gequälte Großeltern einst ihre Enkel er- kann nach den neuesten Sta- tersabbau in Erfahrung brachte, klingt schreckten; mit dem neuen, kräftigeren tistiken jeder, der jetzt gebo- zunächst nicht sonderlich ermutigend: Biss des Schraubzahnträgers bessert sich ren wird, damit rechnen, min- Schon mit 20 beginnt der Mensch zu altern. nicht selten auch sein Ernährungszustand. destens 80 Jahre alt zu wer- Haut und Haare werden dünner, Nase und π Zur Routine geworden ist die Implanta- den. Die Zahl der über 100- Ohrmuscheln breiter. Muskeln werden zu- tion von Hüft- oder Kniegelenken aus Ti- Jährigen wird sich in nehmend durch Fettzellen ersetzt; noch tan; ohne Kunstgelenk, mit dem sie hap- den nächsten 50 Jahren in vor Erreichen der Altersgrenze hat sich der py herumlaufen, säßen viele der Emp- Deutschland mehr als ver- Fettgewebeanteil des Körpers nahezu ver- fänger schmerzgeplagt mit Arthritis im zwanzigfachen. Mehr noch, doppelt, bei Frauen steigt er im Durch- Rollstuhl, andere, operiert nach einem die Menschen in den Wohl- schnitt von 25 auf 45 Prozent. Oberschenkelhalsbruch, wären an den standsregionen werden nicht Zugleich sinkt der Kalkgehalt der Kno- Folgen der Fraktur gestorben. nur immer älter, sie bleiben chen, sie werden dicker, aber nicht stabiler. π Dank Endoskopie und Mikrochirurgie zugleich immer länger von Auch die Lungenkapazität schwindet; Mitt- können inzwischen auch Uralte, die ei- quälenden Verfallserschei- fünfziger verfügen nur noch über die Hälf- nen konventionellen Eingriff kaum über- nungen verschont. te der Puste, die sie mit 30 hatten. Zwi- leben würden, etwa an der Gallenblase Zwar graust es jüngere Se- schen 20 und 50 baut schließlich auch das operiert werden; sind ihre Herzkranz- mester unverändert vor dem Immunsystem mächtig ab; die Abwehr- gefäße blockiert, helfen Ballonkatheter Abstieg in die Seniorenklasse und Stents (winzige Metallreusen), die – nach ihrer Vorstellung eine verstopften Arterien auf schonende Wei- Art Vorhölle, in der Schreck- se wieder zu öffnen. gespenster wie Krebs und Alz- π Linsentrübungen (grauer Star) lassen heimer, Hirnschlag und Impo- sich mit Hilfe ausgefeilter Ultraschall- tenz auf sie warten. Doch in und Lasertechniken auch noch bei hoch-

F. BLICKLE / BILDERBERG F. diesem vermeintlichen Tal der betagten Patienten beseitigen; der grüne Tränen wimmelt es längst von Star (Glaukom), ein häufiges Altersübel, rüstigen Grauköpfen, die sich das früher oft zur Erblindung führte, trotz mancherlei Gebrechen in ihrer runz- kann inzwischen mit Medikamenten ligen Haut erstaunlich wohl fühlen. wirksam behandelt werden. So brachte eine Untersuchung der ame- Auch bei anderen chronischen Leiden, rikanischen MacArthur Foundation ans etwa der altersbedingten Zuckerkrankheit Licht, dass die Alten von heute keineswegs (Diabetes II), gelingt es den Medizinern wie ein vom Leben geschlagenes Heer in immer besser, das möglicherweise böse die Nacht humpeln. Fast 90 Prozent der Ende weit hinauszuzögern. Bei etwa je- von den US-Forschern befragten 65- bis dem dritten 70-Jährigen ist der Insulin- 74-Jährigen fühlten sich fit wie in ihren stoffwechsel gestört; doch schwere Diabe- vierzigern und gaben an, von gravieren- tes-Spätfolgen – darunter Nieren- und Ner- den Gesundheitsschäden frei zu sein. venschäden, Herzinfarkte oder Gefäßver- Selbst Greise, älter als 85, waren noch ver- schlüsse in den Beinen, die Amputationen blüffend oft auf dem Posten; rund 40 Pro- nach sich ziehen können – treten bei wei- zent von ihnen hielten sich körperlich und tem nicht mehr so häufig auf wie früher. geistig für „voll funktionstüchtig“. Nicht einmal die Schreckensdiagnose Zwar entdeckten die Wissenschaftler Krebs gleicht mittlerweile einem Todesur- vor allem bei den über 75-Jährigen eine teil, jedenfalls nicht einem, das unweigerlich Fülle von Krankheitssymptomen. Jeder und schon in nächster Zukunft vollstreckt zweite hatte Arthritis, jeder dritte erhöhten wird. Bei nahezu allen Tumorerkrankun- Blutdruck, Herz- oder Hörschäden; elf gen sind die Überlebensraten innerhalb der Prozent der Probanden in dieser Alters- letzten Jahrzehnte deutlich gestiegen – zu gruppe litten an Diabetes. Doch nur in diesem Ergebnis kommt eine umfangreiche Ausnahmefällen trübten die festgestellten Studie, die das Berliner Robert-Koch-Insti-

Gesundheitsmängel die Lebensqualität BILD / AUTO HEIMBACH tut vor wenigen Wochen veröffentlichte. der Alten; kaum einer der Befragten, Moto-Crosser Nach der Studie überleben rund 70 Pro- konstatieren die Forscher, sehne sich Fit wie mit vierzig zent aller Patienten mit Nieren-, Blasen-

der spiegel 38/1999 175 LEBENSZEIT GEWINNEN

Tumor in Schach halten Amerikas regierender Bruder Leichtfuß können. Bill Clinton, 53, der alle Tage ums Weiße Trotz chronischer Haus joggt, zeigt der Nation, wie man kon- Krankheit aktiv und dy- ditionsstark auf die 60 zuläuft. Clintons Ge- namisch bleiben bis ins neration der „Babyboomer“, der besonders hohe Alter – nach dieser kopfstarken Nachkriegsjahrgänge, meint die Maxime leben inzwi- US-Autorin Carol Orlock, werde die Vor- schen viele Alte. Die stellungen vom Alter bald weit gründlicher Frauen und Männer mit revolutionieren als jede frühere. den Kunstgelenken und Den Traum von immerwährender Ju- Herzschrittmachern sind gend, vielleicht sogar vom ewigen Leben, unermüdlich auf Reisen. lässt sich die selbstverliebte Clinton- Stetig wächst die Zahl Generation gern einiges kosten. Vor acht

Bis zum Tage seines Abgangs von der Macht hielten Frankreichs Mediziner den Krebs des Staatspräsidenten Mitterrand in Schach.

der Ruheständler, die jen- Jahren wurde das Budget des amerikani- seits der Pensionsgrenze schen National Institute of Aging um mehr ein Studium beginnen als ein Drittel aufgestockt. Seither bezieht und mit 70 einen Doktor- die Forschungseinrichtung, die der Unter- titel erwerben. Von Al- suchung des Alterns dient, mehr Staats- terswehmut sind die mittel als jedes andere der insgesamt 24 „jungen Alten“, wie sie US-Gesundheitsinstitute. Die Wissen- häufig genannt werden, schaftler wollen ergründen, wie und war- weitgehend frei; seelische um der Organismus altert. Störungen, etwa Depres- Maximal 120 Jahre kann ein Mensch sionen, finden sich bei ih- nach gegenwärtigem Forschungsstand auf nen, Untersuchungen zu- Erden wandeln. Dem verstorbenen Schrift- folge, nicht häufiger als steller Elias Canetti, der den Tod für eine

B. BEHNKE bei 30- oder 40-Jährigen. unerträgliche Zumutung hielt, wäre das Free Climber: Die „Babyboomer“ bleiben jung Und nie zuvor waren nicht genug gewesen; ein Menschenleben, Alte so fit: Immer häu- fand er, sollte mindestens 400 Jahre oder Dickdarmkrebs die ersten fünf figer tauchen 80-Jährige bei Marathonläu- währen.Wie eine solche Verweildauer see- Jahre nach der Diagnose; bei den Dick- fen auf; andere pumpen Eisen im Fitness- lisch zu verkraften wäre, ließ Canetti un- darmtumoren waren es vor rund 25 Studio oder brettern auf Mountainbikes erörtert. Jahren bestenfalls 45 Prozent. In den Fäl- durch die Berge. Auch bei Greisen, so Sein Schriftstellerkollege Ernst Jünger, len von Hodenkrebs, beim Brustkrebs der zeigen Tests, zahlen sich Sport und gestorben 1998 im Alter von 102 Jahren, Frauen oder beim malignen Melanom – Bodybuilding aus; selbst über 70-Jährige hätte gern noch die Jahrtausendwende ge- dem besonders bösartigen schwarzen können mit Hanteln und Liegestützen ihre feiert – als Zeitzeuge dann von drei Jahr- Hautkrebs – leben nach fünf Jahren noch Muskelmasse mehr als verdoppeln – und hunderten. Daraus wurde nichts, kurz vor 90 Prozent der Erkrankten; vielen von ih- dabei die Gesundheit stählen. In den USA, dem Ziel verließen ihn die Kräfte. nen gelingt es, den Tod noch weitere fünf, wo regelmäßiges Körpertraining weit ver- Eines Tages stellte der bis dahin uner- zehn Jahre oder sogar länger hinauszu- breitet ist, sank seit den siebziger Jahren müdlich produzierende Autor seine Arbeit schieben. die Zahl der Todesfälle durch Herzkrank- ein. „Er mochte nicht mehr“, berichtet sei- Früherkennung dank verbesserter Dia- heiten und Schlaganfälle um rund 30 ne Ehefrau. Als seine Schreibkräfte er- gnosetechniken, zeitigere Behandlung und Prozent. lahmten, war Jünger 100. Klaus Franke raffiniertere Therapiemethoden haben zu den Fortschritten beigetragen und erreicht, 75 dass die Patienten nicht nur länger überle- Gewonnene Jahre 70 ben, sondern die gewonnene Lebensspan- 65 ne oft auch mit besserer Lebensqualität Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung 60 verbringen können. des Menschen in Jahren 55 Durch zwei Amtsperioden, insgesamt inkl. Säuglingssterblichkeit 50 14 Jahre, versah etwa der krebskranke 45 40 ANTIKE NEUZEIT 1997 40 französische Staatspräsident François 35 MÄNNER 35 Mitterrand seinen Dienst im Pariser 30 Grie- Rom Deutschland 72,9 30 Elysée-Palast; kurz vor seiner Wahl hatten chen- 25 land FRAUEN 25 die Ärzte bei dem damals 64-Jährigen 20 79,6 20 ein Prostatakarzinom entdeckt. Erst ganz 15 15 am Ende seiner Amtszeit war dem Staats- 10 10 mann die Krankheit gelegentlich anzu- 5 5 merken – bis zum Termin seines Abgangs von der Macht hatten die Mediziner den 500 v. Chr. 0 16001700 1800 1900 2000

176 der spiegel 38/1999 Werbeseite

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HORMON-KUR „Eine Art von Doping“ Im kalifornischen Palm Springs verspricht ein Arzt jedem, der es sich leisten kann, ein längeres und besseres Leben. Edmund Cheins Hormon-Cocktails sollen den Körper verjüngen und den Sex verbessern.

eder Tag im Leben von Bob Jones be- 130 Jahre alt werden können.“ Chein ist Er- ginnt mit einer Kletterpartie gegen die finder der „Total Hormone Replacement JSterblichkeit. Kaum lugt die Sonne Therapy“, einer umfassenden Hormon- hinter den Little San Bernardino Moun- Kur, die von seinen Patienten ehrfürchtig tains hervor, ist er auf den Beinen. Den „das Programm“ genannt wird. Mit einer muskulösen Oberkörper entblößt, klettert Mixtur von bis zu neun Hormonen inklu- Jones dann stetig bergan, arbeitet sich mit sive des gesundheitlich nicht unbedenkli- kräftigen Armen und zwei Alu-Wander- chen Wachstumshormons HGH versucht stöcken den Berg hinauf. Chein, die natürlichen Alterungsprozesse Schließlich kommt der Mann auf einem des Körpers zu verlangsamen. Felsvorsprung zur Ruhe. Schweiß glänzt Rund 2700 Lebenshungrige hat der gold- auf seinem durchtrainierten Körper. Der randbebrillte Doktor schon behandelt, der haarige Brustkorb hebt und senkt sich im jüngste von ihnen ist gerade mal 29 Jahre Rhythmus kräftiger Atemzüge. alt. Inzwischen kommen die Patienten, vie- „Mein tägliches Fitnessprogramm“, sagt le von ihnen kerngesund, aus aller Welt. Jones und wischt sich die implantierten Auch in Deutschland wird die Therapie an- Haare aus der Stirn. Bob Jones ist 70. Doch geboten. Über 1000 US-Dollar monatlich sein Körper ist der eines 50-Jährigen. Und berechnet Chein all denen, die nicht ta- jede freie Minute seines Lebens nutzt der tenlos zusehen wollen, wie ihr Körper den ehemalige Computerfachverkäufer zum Gesetzen der Sterblichkeit unterliegt. Wettlauf mit dem Tod. „Alt aussehen nervt total“, sagt etwa Jones ist Vorzeigepatient des kalifor- Ron Fortner. Nach 38 Jahren im Medien- nischen „Palm Springs Life Extension geschäft, frühem Herzinfarkt und einer By- Institute“. Palm Springs, wegen seiner pass-Operation fühlte sich der 58-Jährige betagten Einwohnerschaft auch „Warte- ausgebrannt und „von der herkömmlichen Hormon-Patient Jones: Mit siebzig ein tägliches zimmer Gottes“ genannt, ist einer der Medizin im Stich gelassen“. Sein Sohn, Pensionärs-Spielplätze der USA. Zwischen heute zehn Jahre alt, habe ihn „fast täg- Fortner, sei fast unmittelbar eingetreten. pausenlos gewässerten Palmen und kurz lich“ an seine „eigene Sterblichkeit erin- Heute, fünf Jahre später, fühle er sich „to- rasierten Golfplätzen versammeln sich hier nert“. „Ich hatte große Angst davor, mein tal verjüngt“. Die Haut sei geschmeidiger die Reichen und nicht mehr ganz so Schö- Kind früh ohne Vater zurückzulassen“, so geworden; das Haar voller; innerhalb eines nen zum letzten Stell- Fortner. „Ich hätte jede Monats habe sich ohne Training die Brust- dichein. Möglichkeit genutzt, die muskulatur gefestigt. Seit einigen Jahren Zeit zurückzudrehen.“ Sogar die Herzmedikamente hat Fort- wächst Lebenshoffnung Fortner ließ sich von ner abgesetzt. „Der Zustand meiner Herz- im Wüstental. Etwa Chein untersuchen und gefäße hat sich deutlich verbessert“, so der 180 Kilometer östlich begann mit der Hor- Mann. „Wenn etwas dem Jungbrunnen von Los Angeles gele- mon-Kur. Zweimal täg- nahe kommt, dann diese Therapie.“ gen, ist Palm Springs lich spritzt er sich seit- Solche zur Schau gestellten Erfolgsge- auf dem besten Weg, her Wachstumshormon schichten sind es, die dem Lebenselixier zum Wallfahrtsort derer in den Schenkel. Fünf aus dem Hause Chein zu wachsender Po- zu werden, die die ewi- weitere Hormone wie pularität unter Amerikas Alten verhilft. ge Jugend suchen. In Chein vor seiner Klinik etwa das als Anti-Al- Die meisten Patienten – 60 Prozent von klimagekühlter Eleganz ters-Hormon gehandel- ihnen sind Männer – halten sich für Ex- residiert am Tahquitz te Melatonin schluckt perten auf dem Gebiet der Lebensverlän- Canyon Way der Arzt der Patient pro Tag. Das gerung, meist schon lange bevor sie den Edmund Chein, 50, und männliche Sexualhor- Weg zu Chein finden. Es sind Menschen, bittet zum lebensver- mon Testosteron trägt die ihre Cholesterinwerte wie Visitenkar- längernden Hormon- er als Gel auf die Haut ten untereinander austauschen und den Cocktail. auf. Um den Körper zu- Körper als eine Art Maschine betrachten, „Alter ist eine Krank- sätzlich zu stählen, kon- der man nur die nötigen Schmierstoffe ein- heit“, sagt Chein, seit sumiert er Mineral-, flößen muss, damit sie wieder richtig läuft. 1994 mit seinem Institut Broccoli- und Weintrau- So ähnlich sieht das auch Chein. „Ich in der Rentneroase an- Fortner mit Sohn benkern-Tabletten. behandle meine Patienten so, wie ein Me- sässig. „Ich glaube, dass Hormon-Arzt Chein, Patient Die Wirkung der The- chaniker ein Auto wartet“, beschreibt der Menschen in Zukunft „Alter ist eine Krankheit“ rapie, so erinnert sich Hormon-Fan seine Methodik. „Öl, Kühl-

178 der spiegel 38/1999 wasser oder Bremsflüssigkeit müssen re- Endokrinologe Markus Seibel und warnt wohnt, täglich Gewichte. Erst kürzlich hat gelmäßig geprüft und nachgefüllt werden.“ vor erhöhter Krebsgefahr. Wer menschli- sie das erste Fünf-Kilometer-Rennen ihres Der geschäftstüchtige Mediziner be- ches Wachstumshormon nehme, laufe bei- Lebens beendet. stimmt die Konzentration der Hormone im spielsweise Gefahr, bislang unentdeckte Auch die Symptome der Wechseljahre Blut seiner Patienten. Dann verschreibt er Krebsherde zum Wachsen anzuregen. seien durch die Hormone wieder ver- so viele der körpereigenen Stoffe, bis die in Östrogen erhöht (wenn auch in geringem schwunden, sagt Mrs. Hodges. „Für den die Jahre gekommene Kundschaft auf das Maße) das Risiko bei Frauen, an Brust- Spaß, den wir seither gehabt haben, würde Hormon-Niveau von 20-Jährigen eingestellt krebs zu erkranken. Bei Männern kann mein Mann bis in alle Ewigkeit zahlen.“ ist. „In diesem Alter ist man am leistungs- Testosteron die Bildung von Prostatakrebs Wird ein Menschheitstraum wahr? Kann fähigsten“, begründet Chein die Radikal- begünstigen. das Altern wirklich so einfach zu besiegen kur. Danach falle mit den Hormon-Spiegeln „Der Selbstschutzmechanismus der Zel- sein? Wissenschaftlich aussagekräftige Stu- auch die Lebensenergie immer weiter ab. len funktioniert nicht mehr so gut im Al- dien zur Wirkung des Lebenselixiers hat ter“, sagt Seibel. Gerade äl- Chein bislang nicht vorgelegt. tere Zellen reagierten auf Zudem geht der Arzt lässig Hormone empfindlich. Die darüber hinweg, dass es neben Botenstoffe nach dem Gieß- den Hormonen, die er bei kannenprinzip zuzuführen seinen Patienten einstellt, noch sei sinnlos und gefährlich. mehrere Dutzend anderer Edmund Chein tut derlei Botenstoffe im Körper gibt. Kritik als „Ignoranz“ ab. Ihr hochkompliziertes Zusam- Neu an seiner Therapie sei menspiel ist bis heute bei die Idee, die Körperwirk- weitem nicht vollständig ver- stoffe zu kombinieren. standen. „Wenn die Hormone im Patient Bob Jones, der mitt- Gleichgewicht stehen, gibt es lerweile rund 60 000 Dollar für keine Nebenwirkungen“, die hormonelle Gewaltkur auf- sagt der Arzt. Sogar eine Hodges mit Hormonen gebracht hat, will trotzdem Geld-zurück-Garantie hat weitermachen. In knapp zwei Chein für diejenigen parat, deren Blut- Jahren wird das Patent für das gentech- druck nicht bald nach Beginn der Therapie nisch hergestellte Wachstumshormon aus- absinkt. laufen, dann sollen auch die Preise für Gayle Hodges war am Anfang ihrer Cheins Hormon-Cocktails sinken. Wechseljahre, als sie erstmals an Cheins „Ohne einen funktionierenden Körper marmorne Praxistheke trat. Hitzewallun- kann niemand in Würde altern“, sagt gen durchliefen den Körper der ehemaligen Jones, der Vorzeigepatient. „Jedes Jahr Stewardess. An Sex mit ihrem Mann meines jetzigen Lebens ist fünf Jahre mei-

FOTOS: A. KÖSTER / CORBIS-SYGMA A. KÖSTER FOTOS: Charles, den sie erst kurz zuvor geheiratet nes alten wert.“ Erst neulich hat der Mann Fitnessprogramm auf steilem Bergpfad hatte, war kaum zu denken. „Es war in Las Vegas an seinem ersten Bodybuil- schrecklich, ihn zu begehren, und gleich- ding-Schaukampf teilgenommen. Sich selbst sieht der Arzt als bestes Bei- zeitig einen Körper zu haben, der nicht Eigens für ihn wurde die Klasse der spiel für die Wirkung der Therapie. Hohen mehr funktioniert“, erinnert sie sich. „Septuagenarians“, der ab 70-Jährigen, Blutdruck, Brustschmerz und Übergewicht Vor zwei Jahren begann die 56-Jährige eingerichtet. „Ich wollte eigentlich gar attestierte sich Chein, als er vor acht Jah- auf Cheins Rat mit dem „Programm“. Heu- nicht“, gibt sich Jones bescheiden. „Aber ren die Idee zur mittlerweile patentierten te stemmt die zierliche Frau, die mit ihrem dann war es schon toll, als ich nur in Shorts Totalkur hatte. Heute wiege er neun Kilo- Mann ein großzügiges Haus im mexikani- auf die Bühne kam und alle angefangen gramm weniger, der Blutdruck sei auf nor- schen Stil mit Pool und Fitnessraum be- haben zu klatschen.“ Philip Bethge males Niveau abgesunken. „Ich werde fast nie mehr krank“, sagt Chein, der sich in Sparflamme im Alter Testosteron seiner Klinik mit einer Heerschar attrakti- das männliche Sexual- ver Assistentinnen umgibt. „Und ich habe Verteilung einiger wichtiger Hormone über die Lebenszeit hormon – steuert z. B. wieder Lust, über Frauen zu reden.“ Durchschnittswerte; Hormon-Höchsstand = 100 Penisentwicklung und Dass zusätzliche Hormone positiv auf Wachstumshormon Bartwuchs, regelt den Körper, Libido und Laune wirken können, fördert Fettabbau 100 Sexualtrieb und steigert und Muskelwachs- ist unter Medizinern nicht umstritten. 90 das Leistungsvermögen tum, glättet die Haut, Kurve nur für Männer Menschliches Wachstumshormon etwa, das stärkt Knochen und 80 ÖstrogeÖstrogene auch zur Therapie von Wachstumsstörun- senkt den Blutdruck gen bei Kindern eingesetzt wird, besitzt 70 weibliche Sexualhor- Melatonin die Fähigkeit, die Haut zu straffen und das 60 mone – steuern den hilft gegen Schlaf- Verhältnis von Muskelmasse zu Fett zu ver- Menstruationszyklus störungen, schützt 50 der Frau; bei Männern bessern. Das Hormon DHEA (Dehydro- vor freien Radikalen 40 wichtig für Fruchtbarkeit epiandrosteron), in Amerika rezeptfrei er- und stärkt das und Knochenaufbau hältlich, wird in Hollywood geradezu als Immunsystem 30 Kurve nur für Frauen; Wunderdroge gegen Übergewicht, Stress ohne Zyklusschwankungen DHEA 20 und Energielosigkeit betrachtet. wirkt gegen Stress 10 Doch der Hormon-Beschuss à la Chein und Übergewicht, stößt bei vielen Experten auf massive erhöht die Wider- Alter Skepsis. „Im Prinzip ist das eine Art von standskraft 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 in Jahren Doping“, sagt etwa der Heidelberger

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KLINIK Gewicht des Kittels Wie überlebt man als Patient im Krankenhaus? Man tut gut daran, die geheimen Regeln der Institution nicht zu missachten.

1. Wenn Sie die Wahl haben, ent- 5. Tragen Sie unbedingt alle Befun- 8. Suchen Sie sich den qualifizierten scheiden Sie sich für den Oberarzt, nicht de und Bilder ins Hospital, deren Sie nach Arzt nach den mitgeführten Accessoires für den Chefarzt. Der Chef mag zwar in früheren Untersuchungen habhaft werden aus. Sein Kenntnisstand verhält sich um- Spezialfragen ein Ass sein, aber er ist häu- konnten. Manchmal lässt der Arzt, wenn gekehrt proportional zum Gewicht des Kit- fig ungenügend vorbereitet auf Feld-,Wald- ihm der Patient ein Pflaster in der Arm- tels. Läuft der Therapeut schwer beladen und Wiesenerkrankungen. Außerdem ist beuge (als Zeichen einer gerade vorange- mit Handbüchern, Reflexhammer und Au- der Oberarzt in der Regel der Ehrgeizige- gangenen Blutentnahme) und frische Rönt- genspiegel auf der Station ein, handelt es re – er will erst noch Chefarzt werden. genaufnahmen vorweist, von überflüssigen sich vermutlich um einen Anfänger, der Doppeluntersuchungen ab. Das senkt die sich für alle Eventualitäten gerüstet hat. Strahlenbelastung und schont die Venen. 2. Wählen Sie die richtige Kranken- kasse. „Privat“ – das klingt nach Privileg, 9. Meiden Sie Ärzte, die selber - aber die Zuwendung des Chefarztes bringt de krank sind. Krankenhausmediziner han- nicht zwingend eine bessere Behandlung deln nach dem Motto „Nur ein toter Arzt mit sich. Der Chef entscheidet bei Privat- ist ein guter Arzt“ und schleppen sich häu- patienten, was notwendig und richtig ist, Der Arzt fig mit hochroter Nase und Fieber in die hat aber aus finanziellen Gründen oft eine Klinik. Dort verteilen sie ihre Virenfracht Vorliebe für besonders aufwendige Maß- unter immunschwachen Krebspatienten nahmen. Im ungünstigsten Fall war die Ma- hat und frisch Transplantierten. genspiegelung, die er angeordnet hat, nur pekuniär indiziert. zwei Feinde: die 10. Verweilen Sie nicht länger als Toten und nötig auf der Intensivstation. Dieser Ort 3. Fragen Sie nach dem Zweck der gilt gemeinhin als Brutstätte von Keimen, Untersuchung, wann immer Ihnen Blut ab- die gegen mehrere Antibiotika resistent genommen wird. Selbst ärztliche Kollegen die sind. haben schon gestaunt, wenn bei einem Hörsturz sämtliche Blut-, Leber- und Gesunden. Bauchspeicheldrüsenwerte erhoben wur- Deutscher Volksmund, den. Wenn er eine gut sicht- und stechba- notiert von Peter Sloterdijk 11. Üben Sie bei der Aufnahme- re Vene findet und sie auch trifft, freut sich untersuchung äußerste Zurückhaltung mit der Arzt über seine schöne Leistung. Aber eigenen Mutmaßungen über die Ursachen vor allem bei chronisch Kranken steht zu Ihres Leidens oder mit Demonstrationen befürchten, dass durch zu viele Blutent- Ihres angelesenen Fachvokabulars.Was für nahmen die wertvollen Gefäße vernarben. die Diagnose zählt, sind nur die Fakten und Symptome. Alles andere könnte den behandelnden Arzt verwirren, ihn auf eine 6. Entrichten Sie, wenn Ihr Zustand falsche Fährte führen oder vom selbstän- 4. Verwechseln Sie niemals techni- es erlaubt, schon beim Eintritt in die digen Nachdenken ablenken. schen Aufwand mit Güte der Behandlung. Station (und nicht erst bei der Entlas- Ein Computertomograf mag zwar ein im- sung) Ihren Obolus an die Kaffeekasse der posantes technisches Gerät und im Spezial- Schwestern. Diese beschwichtigende Geste fall eine diagnostische Hilfe sein. Aber er (um 20 bis 30 Mark) kann Ihre Lage deut- 12. Vertrauen Sie auf die Selbst- verlockt zu verschwenderischem Einsatz, lich verbessern. heilungskräfte des menschlichen Körpers. und er ersetzt nicht zurückhaltende und Ein ausgewachsener Mensch hält viel planvolle Untersuchungen. „Das wichtigste Therapie aus. „Und irgendwann“, so pfleg- Diagnostikum sitzt immer noch auf den te der Hamburger Anatomieprofessor Schultern des Untersuchers“, heißt es bei 7. Hüten Sie sich davor, jede weibliche Werner Lierse seinen Studenten zu er- den pragmatischen und, verglichen mit Mitarbeiterin der Station als „Schwester“ klären, „werden Sie begreifen, dass das Deutschland, sparsameren Briten. anzusprechen. Das vergrätzt Ärztinnen Krankenhaus weiter funktioniert, auch und kann dadurch nachhaltig den Thera- wenn gar keine Patienten mehr darin Der Autor hat zwei Jahre als Arzt in einer Klinik gearbeitet. pieerfolg gefährden. sind.“ Harro Albrecht

182 der spiegel 38/1999 Werbeseite

Werbeseite CHANCEN DER VORSORGE SPL / AGENTUR FOCUSSPL / AGENTUR Computertomograf: Lungenkarzinome werden fast durchweg erst geortet, wenn es für eine Behandlung zu spät ist

KREBSVORSORGE Ein Volk von Hasenfüßen Kaum ein Land in der Welt gibt mehr aus für die kostenlose Krebsvorsorge als Deutschland. Doch der Nutzen bleibt umstritten: Männer und Frauen scheuen die Früherkennung. Auch Mediziner üben Kritik an dem weitgehend wirkungslosen Vorsorgeprogramm.

en deutschen Krankenkassen ist die ger, der Krebsgefahr ins Auge zu blicken. lässt. Zweifel sind erlaubt; die Ergebnisse Krebsvorsorge einen gewaltigen Mediziner ziehen eine „deprimierende Bi- der etablierten Vorsorgeprogramme wir- DBatzen wert. Eine halbe Milliarde lanz“ beim Kampf gegen das Zivilisations- ken nicht sonderlich ermutigend. Mark geben sie jährlich für die Früherken- leiden. Noch immer diagnostizieren sie in Seit Einführung der kostenlosen Vorsor- nung aus. Seit 1971 ist für die Deutschen das Deutschland jährlich rund 300000 Neuer- ge vor knapp drei Jahrzehnten ist die Recht auf Vorsorge gesetzlich verankert. krankungen. Gut 200000 Menschen verlie- Brustkrebssterblichkeit in Deutschland um Männer können sich vom 45. Lebens- ren im selben Zeitraum durch bösartige rund 20 Prozent gestiegen. Nach wie vor ist jahr an einmal jährlich kostenlos untersu- Neubildungen ihr Leben. das Prostatakarzinom der zweithäufigste chen lassen. Für Frauen ist das Früherken- Deutschland, ein Volk von vorsorgeun- Krebskiller bei den Männern. „Den bishe- nungsprogramm schon vom 20. Lebensjahr willigen Hasenfüßen – dabei wäre Früher- rigen Maßnahmen“, resümiert die „Frank- an gratis vorgesehen. Das deutsche Modell kennung ein wirksames Mittel, um die furter Allgemeine“, „fehlt der Wirkungs- gilt als vorbildlich, kaum ein anderes Ge- Krebssterblichkeit zu verringern. nachweis“ – höchste Zeit, so das Blatt, den sundheitssystem investiert so viel in die Je kleiner der Tumor, desto leichter und medizinischen Nutzen der deutschen Vor- frühzeitige Entdeckung der Killerzellen – schonender kann er vom Chirurgen ent- sorgepraxis gründlich zu überprüfen. doch kaum einer geht hin. fernt werden: „Bei allem, was deutlich un- Dass Programme zur Krebsfrüherken- Nur jede dritte Frau lässt sich regelmäßig ter einem Zentimeter ist, sind die Hei- nung, nicht nur in Deutschland, bislang al- Brüste und Lymphgefäße in der Achsel- lungschancen am besten“, erklärt Fritz lenfalls Stückwerk bleiben, hat viele Grün- höhle auf verdächtige Knoten abtasten. Die Jänicke, Gynäkologe am Hamburger Uni- de – einer davon: Der Horror Krebs tritt in meisten Männer scheuen den Finger des klinikum Eppendorf. vielerlei Gestalt auf. Rund 100 verschiede- Urologen im Enddarm. Nur 15 Prozent Unbestritten ist, dass durch konsequent ne Krebsarten sind bis heute beim Men- nehmen das kostenlose Angebot zur und in großem Stil betriebene Maßnah- schen bekannt. Jede von ihnen weist ein Früherkennung von Prostata- und End- men zur Krebsfrüherkennung abertausen- charakteristisches Verhalten auf. Manche darmkrebs wahr. de von Menschenleben gerettet werden töten schnell, andere langsam; einige bil- Gebetsmühlenhaft beklagt die Deutsche könnten. Fraglich aber bleibt, ob sich die den früh Tochtergeschwülste (Metastasen), Krebshilfe den Unwillen der Bundesbür- frohe Botschaft auch in die Tat umsetzen andere nie. Etliche kommen häufig vor, ei-

184 der spiegel 38/1999 nige so selten, dass sie von den Ärzten oft lange nicht als Krebs erkannt werden. Kein Land, „selbst ein so reiches wie die Vereinigten Staaten nicht“, meint US-Epi- demiologe John Cairns, könne es sich lei- sten, „einmal jährlich die Mehrheit seiner Bevölkerung auf die ersten Anzeichen al- ler wichtigen Krebsarten hin zu untersu- chen“. Schon aus Kostengründen müsse sich die organisierte Vorsorge auf einige wenige Tumorarten beschränken – tun- lichst auf solche, bei denen sich teures Mas- senscreening lohnt. Auszahlen dürften sich, laut Cairns, nur Vorsorge-Feldzüge gegen Tumorarten, π die weit verbreitet sind und alljährlich viele Opfer fordern; π die mit Hilfe einfacher und zuverlässiger Testmethoden aufgespürt werden kön- nen, bevor sie Metastasen gebildet ha- ben; π die, rechtzeitig erkannt, mit einiger Aus- sicht auf Heilung zu behandeln sind. Allein die Aufzählung dieser Kriterien offenbart die Crux der etablierten Vorsor- geprogramme: Viele besonders gefährliche Killer entziehen sich routinemäßiger Früherkennung. Lungenkarzinome, die

meist symptomlos heranwachsen und FOCUSSPL / AGENTUR schon früh mit der Aussaat von Metastasen Mammografie: Sinnvoll wäre gezielte Vorsorge für Risikogruppen beginnen, werden mit den verfügbaren Diagnosetechniken, zum Beispiel dem Männer regelmäßig zu den von den Kassen lückenloser Vorsorge nur ein Prozent nied- Computertomografen, fast durchweg erst bezahlten Vorsorgeuntersuchungen gingen. riger als bei der übrigen weiblichen Bevöl- geortet, wenn es für eine rettende Be- Auch beim Hautkrebs oder bei den Tumo- kerung – ein medizinischer Flop zum Preis handlung längst zu spät ist. ren des Rachens und der Mundhöhle lasse von rund 250 Millionen Mark. Das gleiche gilt für Leber-, Magen- oder sich die Sterberate durch Früherkennung Dass ein Massenscreening wie in Schwe- Bauchspeicheldrüsenkrebs, alles Tumorar- dramatisch verringern. den auf Geldverschwendung hinaus läuft, ten, die im Frühstadium schwer zu ent- Ob der Optimismus gerechtfertigt ist, davon sind ohnehin nicht wenige Medizi- decken und später kaum zu kurieren sind. bleibt unter den Experten umstritten. Eine ner überzeugt. Sinnvoller, glauben sie, Als Kandidaten für Maßnahmen der kürzlich in Schweden abgeschlossene Stu- wäre eine gezielte Krebsvorsorge für Risi- Früherkennung kommen sie nicht in Be- die kam zu einem eher entmutigenden Er- kogruppen. tracht. gebnis. Profitieren könnten davon etwa Frauen Umso nachdrücklicher werben die Vor- Sieben Jahre lang waren 600000 Frauen, mit erblicher Disposition zum Brustkrebs, sorgemediziner für jene Krebskontrollen, alle zwischen 50 und 69, regelmäßig zur Männer, deren Vorväter am Prostatakarzi- die bessere Aussichten auf Erfolg zu bieten Mammografie erschienen. Doch die Zahl nom gestorben sind, oder auch Berufstäti- scheinen. Um rund 30 Prozent, behaupten der Brustkrebs-Todesfälle war im letzten ge, die bei der Arbeit mit womöglich sie, würde die Zahl der Brust- oder Darm- Jahr der Studie nicht, wie vorausberechnet, krebserregenden Substanzen in Berührung krebstoten sinken, wenn alle Frauen und um 28 Prozent gesunken; sie lag trotz kommen. Kritik üben Experten auch an den in Deutschland gängigen Untersuchungs- praktiken zur Früherkennung. Beim routi- nemäßigen Abtasten der Brüste wie der Prostata, aber auch bei der Mammografie und dem sogenannten PSA-Test auf Prostatakrebs-Antigene, kommt es häufig zu falsch-positiven Befunden. Die Folgen sind überflüssige Biopsien mit oft schmerz- haften Begleiterscheinungen und stets ein seelischer Schock für die Patienten. Speziell beim Prostatakrebs, meinen manche Mediziner, sei gesteigerter Vor- sorgeeifer nicht nötig. Dieses Karzinom – Entstehungsursache unbekannt – wächst nur langsam und tötet fast ausschließlich alte Männer; und auch die nicht immer. Bei Obduktionen zeigte sich, dass 25 AP Anti-Raucher-Werbung*: Kampagnen gegen einen besonders gefährlichen Killer * „Bob, ich habe ein Lungenemphysem.“

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Prozent aller Männer über 70 einen Prosta- Der Gesundheitsminister warnt... Ursachen der acht häufigsten Krebsarten tatumor im Leib getragen hatten. Doch nicht einmal jeder zehnte davon war an LEBERKREBS LUNGENKREBS seinem Krebs gestorben. Beim großen Rest Neuerkrankungen Neuerkrankungen hatte ein anderes Leiden zum Exitus ge- 4900 jährlich 37900 jährlich führt. Auch sonst ist der Krebs, jedenfalls in Sterbeziffer Sterbeziffer den meisten seiner Erscheinungsformen, 4895 37147 vor allem eine Alterskrankheit. Zwar stirbt Risiken Risiken in den Industrieländern mittlerweile jeder ■ Viren ■ Rauchen vierte Bewohner an einem Tumorleiden; ■ Alkohol ■ Tätigkeiten in der Aluminium- doch nur zwei Prozent aller Krebspatien- ■ Schimmelpilzprodukte in der Nahrung herstellung, Kohlegas- und ten sind jünger als 30 Jahre. Koksherstellung ■ Rauchen Erst weit jenseits der Lebensmitte ■ Dauerkontakt mit Arsen, Chrom, ■ Dauerkontakt mit Vinylchlorid, chlorierten wächst das Krebsrisiko dramatisch; zu- Nickel oder polyzyklischen gleich aber scheint mit steigendem Alter Kohlenwasserstoffen und Asphaltdämpfen Kohlenwasserstoffen ■ die Krebsfurcht dahinzuschwinden. Von ionisierende Strahlung den Frauen sind es ■ Luftschadstoffe überwiegend die 35- LIPPEN-, MUNDHÖHLEN- ■ niedriger Konsum an bis 50-Jährigen, die UND RACHENKREBS frischen Früchten zur Brustkrebsvorsor- und Gemüse Neuerkrankungen ge kommen; mit 60 10100 jährlich lassen sie den Din- gen ihren Lauf. „Der Sterbeziffer BRUSTKREBS alternde Mensch“, 4684 Neuerkrankungen konstatierte der (in- Risiken 42600 jährlich zwischen verstorbe- ■ Rauchen ne) Berliner Onkologe ■ Sterbeziffer Alkohol CINETEXT FOTOS: Heinz Oeser, „wird 19019 ■ niedriger Konsum an Humphrey Bogart gegenüber der zuneh- frischen Früchten und Gemüse Risiken menden Krebsgefähr- ■ Dauerkontakt mit Farben und Lacken ■ frühe Menarche, späte Menopause dung seines Lebens sowie Pech, Asbest und Zement, ■ genetische Faktoren immer gleichgültiger.“ Steinkohle und Teerprodukten ■ langjährige Anwendung Auch ganz ohne ■ Holzstäube von oralen Kontrazeptiva Vorsorge zieht sich ■ Sonnenlicht ■ postmenopausale der Krebs mitunter ■ schlechte Mundhygiene Hormonsubstitution zurück. Seit längerem ■ Epstein-Barr-, Papilloma- und Herpesviren ■ Alkohol sinkt – keiner weiß, ■ ionisierende warum – die Zahl der Strahlung Magenkrebsfälle. An- dererseits wird Brust- DARMKREBS krebs häufiger, und John Wayne Neuerkrankungen PROSTATAKREBS zwar gerade bei Frau- 50500 jährlich Lungenkrebs-Opfer en aus gebildeten und Neuerkrankungen wohlhabenden Bevöl- Sterbeziffer 22000 jährlich kerungsschichten, die besonders gewissen- 30460 Sterbeziffer haft auf Krebsvorsorge achten. Risiken 11916 Dass der Krebs im 20. Jahrhundert zur ■ niedriger Konsum an Horror-Krankheit schlechthin avancieren frischen Früchten und Gemüse Risiken ■ hoher Fettkonsum, Übergewicht konnte, ist nach Ansicht des niederlän- ■ genetische Faktoren ■ genetische Faktoren dischen Mediziners Arend Dunning eine ■ Dickdarmentzündung (ulzerierende Colitis) ■ Cadmium-Exposition Folge großer Fortschritte. Massenwohl- ■ hoher Fettkonsum stand und ärztliche Wissenschaft haben geholfen, alle großen Killerkrankheiten zu bändigen oder auszumerzen – bis auf GEBÄRMUTTERHALSKREBS den Krebs. Das, meint Dunning, ver- HAUTKREBS Neuerkrankungen schaffe den Tumorleiden ihren grausigen (Melanom) 7000 jährlich Nimbus. Neuerkrankungen Sterbeziffer Doch die Vernichtungskraft der Krebs- 6400 jährlich 2207 krankheiten, die jährlich 6,2 Millionen Sterbeziffer Menschenleben fordern, wird laut Dun- Risiken ning letztlich überschätzt: Sollte es den 2029 ■ Papillomaviren Medizinern eines Tages gelingen, den Risiken ■ sexuelle Aktivität, Prostitution Krebs vollständig zu besiegen, würde die ■ exzessives Sonnenbaden ■ Rauchen durchschnittliche Lebenserwartung in den ■ Hellhäutigkeit ■ niedriger Konsum an Industrieländern bestenfalls um drei, vier ■ genetische Faktoren frischen Früchten und Gemüse Jahre steigen. Klaus Franke, Günther Stockinger

186 der spiegel 38/1999 Werbeseite

Werbeseite CHANCEN DER VORSORGE SPL / AGENTUR FOCUSSPL / AGENTUR Durch Osteoporose geschädigter Röhrenknochen (300-fache Vergrößerung): Östrogene können die Gefahr von Frakturen mindern

Alterserscheinungen, gegen die Ärzte und HORMONE Pharmafirmen Wirkung versprechen, ist im letzten Jahrzehnt stetig angestiegen – und damit die Zahl der Frauen, die jenseits der fruchtbaren Jahre Gesundheit und Attrak- Wohltat oder Risiko? tivität mit Hilfe von Hormonen erhalten möchten. Rund 30 Millionen Frauen in der Jungbrunnen oder fragwürdiges Experiment? Wissenschaftler Lebensmitte lassen sich in den Industrie- streiten über die Hormontherapie in den Wechseljahren. ländern mit Hormonen behandeln: Mit ei- ner durchschnittlichen Lebenserwartung von fast 82 Jahren, so Gynäkologin Höß, ir wollen etwas Besseres als Mut- findens“, so meint Hermann Schneider von haben sie schließlich nach der Menopause ter Natur“, sagt John Studd, Lon- der Uni-Frauenklinik in Münster, „be- noch mehr als ein Drittel des Lebens vor Wdoner Gynäkologe, wenn die gründet die Logik einer Langzeittherapie“. sich. Eine gesunde Fünfzigerin kann heute Rede von der Hormonbehandlung in den Fast 40 Prozent der Frauen seien, um die 50 sogar damit rechnen, 90 Jahre alt zu werden. Wechseljahren ist: „Natürlich ist die Hor- herum, „beruflich voll aktiv oder gar auf Um den altersbedingten Hormon- monersatztherapie unnatürlich.“ dem Höhepunkt ihrer Karriere“, betont schwund wieder auszugleichen, lässt sich in Wie Studd, Begründer der ersten spezi- Cornelia Höß, gynäkologische Chefärztin deutschen Praxen schon fast jede dritte 50- ellen „Menopause-Klinik“ in Großbritan- an der Kreisklinik Ebersberg: „Die Frauen bis 59-Jährige Pillen, Spritzen oder Pflaster nien, propagieren auch deutsche Frau- können in ihrem Seidenkostüm nicht verschreiben. In den USA ist die hormo- enärztinnen und -ärzte die Einnahme von klatschnass dastehen: Es gibt nur ganz we- nelle Dauermedikation noch weiter ver- Östrogenen und Gestagenen gegen lästige nige Patientinnen, denen ich die Substitu- breitet, Östrogenpräparate sind dort die Erscheinungen der vorgerückten Jahre: Die tion nicht anbiete.“ meistverordneten Medikamente. „Substitution“ mit Sexualhormonen, als Als eine Art chemischer Jungbrunnen soll Die „Langzeitverabreichung von Östro- Pille, Spritze oder Pflaster auf der Haut, die „Hormonersatztherapie“ (HET) Kno- genen und Gestagenen“, so propagiert der soll vor allem gegen Hitzewallungen und chenschwund (Osteoporose), Herzinfarkt, deutsche Berufsverband der Frauenärzte, Schweißausbrüche helfen, die viele Frauen Blasenstörungen und die Alzheimersche sei „einer der größten Fortschritte der vor- in den Wechseljahren heimsuchen. Krankheit verhüten. Sogar eine Schutzwir- beugenden Medizin der letzten Jahrzehn- Aber auch „die Erhaltung des allgemei- kung gegen Darmkrebs wurde der Therapie te“. Immer noch gebe es jedoch Skeptike- nen körperlichen und seelischen Wohlbe- schon nachgesagt: Die Zahl der Übel und rinnen, bedauern die Frauenärzte, die aus

188 der spiegel 38/1999 Angst vor Nebenwirkungen „diese nütz- Langzeitwirkungen des Sexualhormons liche Behandlung nicht in Anspruch Die zwei Seiten von Östrogen nehmen“. ERWÜNSCHTE WIRKUNGEN UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN Anlass für Verunsicherung sind Unter- suchungen, in denen ein Zusammenhang zwischen der Hormonsubstitution und 1 GEHIRN 5 BRUST Krebserkrankungen nicht auszuschließen beeinflusst über das vegetative 1 fördert war. Zunehmend wehren sich aber auch Nervensystem die Regulation der Körper- Brustkrebs Frauen grundsätzlich dagegen, die Wech- temperatur und die Gefäßdurchblutung 6 GEBÄR- seljahre als „Mangelkrankheit mit beängs- MUTTER tigenden Folgen“ anzusehen, wie die Bre- 2 BRUST fördert Krebs mer Psychologin Ulrike Hauffe sagt. stellt die Brustdrüsen auf der Uterus- Von den rund fünf Millionen Frauen in Milchproduktion ein schleimhaut Deutschland, die gerade ihren „Wechsel“ erleben, verspüre etwa die Hälfte, so Adolf 3 KNOCHEN Schindler, Direktor der Unifrauenklinik erhält die Knochendichte Essen, keine Beschwerden. Viele Frauen jedoch leiden mehr oder minder unter den 4 GEBÄRMUTTER charakteristischen Erscheinungen. steuert den Eitransport Was das Pillenschlucken, Spritzen und zum Uterus und 3 Pflasterkleben wirklich nützen kann, soll- programmiert ihn 2 auf die Ernährung te nun eine internationale Konferenz 5 klären, zu der sich im letzten Juni Medizi- des Fetus ner und Epidemiologen aus zwölf Ländern in Mailand versammelt hatten. Die „Ängste, Sorgen und Hoffnungen“ der Frauen, die in die Praxen kommen, seien ernst genommen worden, sagte 4 Umberto Veronesi, Chef des in Mailand 6 ansässigen Europäischen Instituts für Onkologie, das die Tagung gemeinsam mit der Harvard School of Public Health in Boston und der britischen Ärztezeit- schrift „Lancet“ organisiert hatte. Nach- dem sie hunderte von klinischen und epi- demiologischen Studien über die Wirkun- gen und Nebenwirkungen der Hormon- präparate gesichtet hatten, diskutierten die Experten den jüngsten Stand der For- schung. noch in anderer Hinsicht von Altersgenos- Wahrheit sind. Durch häufigere Mammo- Die Daten der zahlreichen Beobach- sinnen, die sich nicht behandeln lassen: grafie-Untersuchungen wird andererseits tungs- und Vergleichsstudien müssten „mit Die Hormonanwenderinnen sind, im stati- bei ihnen Brustkrebs öfter und schneller Vorsicht“ ausgelegt werden, heißt es in stischen Durchschnitt, gesünder, gebilde- entdeckt. dem Kongressbericht, der im Juli in der ter, körperlich aktiver und schlanker. Schon Als unbestritten „hochwirksam“ wurde Zeitschrift „Lancet“ veröffentlicht wurde. dadurch können im Vergleich zu unbehan- von den Kongressteilnehmern die Hormon- Denn Frauen, die eine Hormonersatzthe- delten Frauen die Ergebnisse verzerrt wer- therapie bei Hitzewallungen eingestuft. rapie machen, unterscheiden sich oftmals den und günstiger ausfallen, als sie es in Effektiv seien die Hormone auch im Ein- satz gegen den altersbedingten Knochen- DESIGNER-HORMONE abbau, hieß es: Die Präparate verdichten die Knochensubstanz und vermindern so, Die seit Jahrzehnten gängigsten Präparate zur Substitutionstherapie sind Designer-Östrogene, be- bei gefährdeten Frauen, das Risiko von Behandlung der Wechseljahrsbeschwerden sind tie- kannt unter dem Kürzel SERM („Selective Estrogen Frakturen. Diese Wirkung schwindet aller- rischer Herkunft: Aus dem Urin schwangerer Stuten Receptor Modulator“). dings schnell, wenn die Frauen – im Durch- wird der Grundstoff für das in Europa und den USA Die neue Klasse von Steuersubstanzen soll nur schnitt nach zwei, drei Jahren – das Medi- meistverschriebene Medikament Presomen (in USA: dort wirken, wo es für den Organismus sinnvoll ist, kament wieder absetzen. Risikopatientin- Premarin) gewonnen, zum Missfallen von Tierschüt- und lässt, wie es in der Fachzeitschrift „Gyne to- nen sollten deshalb vom 60. Lebensjahr an zern, die dem US-Hersteller Wyeth quälerische Hal- pics“ heißt, „Brust und Gebärmutter links liegen“. Zu mit einer Langzeiteinnahme vorbeugen, tung in engen Biofabriken vorwerfen. Auch Pharma- den SERMs zählt das 1998 in Deutschland zugelas- lautete die Empfehlung. kologen meldeten mittlerweile Zweifel an: „Die tie- sene Raloxifen, mit dem es offenbar gelingt, bei ge- Skeptisch beurteilten die in Mailand ver- rischen Harnextrakte enthalten in hohen Mengen für fährdeten Frauen nach der Menopause gezielt den sammelten Experten hingegen die Wohl- den Menschen körperfremde Östrogene in wech- Knochenabbau zu bremsen. Auch Raloxifen ist al- taten, die den meist kombinierten Östro- selnder Zusammensetzung“, kritisiert der Tübinger lerdings nicht gänzlich frei von Nebenwirkungen: Die gen-Gestagen-Präparaten bei der Vorbeu- Pharmakologe Alfred Mueck. Substanz erhöht, wie Östrogen, das Risiko einer gung gegen Herz-Kreislauf-Krankheiten zu- Synthetisch hergestellte Östrogene erobern Thrombose. Wucherungen an der Gebärmutter- geschrieben werden: Östrogen vermag je- deshalb mehr und mehr den Markt, auch pflanzliche schleimhaut hingegen wurden bisher nicht beob- denfalls im Tierversuch den Pegel des als Hormone werden erfolgreich eingesetzt. Eine ande- achtet, das Brustkrebsrisiko scheint durch eine Ral- „HDL“ bekannten „guten“ Cholesterins re, zukunftsträchtige Alternative zur herkömmlichen oxifen-Behandlung sogar abzunehmen. im Blut zu erhöhen und den Anteil an LDL, dem schädlichen Blutfett, zu mindern.

der spiegel 38/1999 189 CHANCEN DER VORSORGE

Doch die 1998 als HERS-Studie mentierte auf der Konferenz die (Heart and Estrogen Replace- australische Wissenschaftlerin ment Study) bekannt gewordene Debra Anderson von der einzige große und wissenschaft- Queensland University of Tech- lich untadelige Untersuchung zu nology: Brustkrebs sei schließ- dieser Frage dämpfte die Erwar- lich das wahre Schreckgespenst tungen erheblich. Bei besonders für Frauen in diesem Alter. infarktgefährdeten Frauen stell- „Einige Jahre lang ange- ten die HERS-Forscher statt wandt“, werde die Hormonthe- eines schützenden Effektes so- rapie „Wechseljahrsbeschwer- gar ein geringfügig erhöhtes den mildern“, aber „nicht zu ei- Risiko durch die Hormonein- ner wesentlichen Zu- oder Ab- nahme fest. nahme von Krebs, Herz-Kreis- Hingegen erwies sich in un- lauf-Erkrankungen oder Osteo- terschiedlichen Untersuchun- porose führen“, lautet das gen, dass das Thrombose-Risiko Resümee der dreitägigen Dis- bei einer Hormonbehandlung in kussionen: „Für manche Frauen

den Wechseljahren auf das M. WEBER W. werden bei einer Langzeitthe- Zwei- bis Dreifache ansteigt. Für Gynäkologin Höß, Patientin: „Maßgeschneidert für den Einzelfall“ rapie die Risiken überwiegen, Frauen ohne Vorbelastung, so für andere die Wohltaten.“ Wei- hieß es, wirke sich dieser Anstieg aber nur eine langfristige Einnahme der Wechsel- tere kontrollierte Studien seien dringend geringfügig aus. jahrshormone erhöhe die Brustkrebsge- erforderlich, um mehr Klarheit zu schaffen. Dass die Hormonsubstitution vor Al- fahr. Statistisch gesehen, so Beral, mache Mehr Aufklärung und bessere Kenntnis- tersgebresten wie dem Alzheimerschen der „leichte Anstieg sechs zusätzliche Fäl- se, so macht das abschließende Statement Gedächtnisabbau und anderen Formen von le unter 1000 Frauen aus, die vom 50. Le- deutlich, wünschten sich die Fachleute bei Demenz schützen könne, hatten Experi- bensjahr an durchgehend zehn Jahre lang den praktizierenden Gynäkologen. Die mentatoren aus Laborversuchen mit Tieren mit Hormonen substituiert worden sind“: Entscheidung für eine Hormonersatzthe- und Zellmaterial geschlossen. Doch diese Statt 45 pro 1000 Frauen erkranken laut rapie müsse, nach „fundierter Informati- Arbeiten seien noch völlig unzureichend, Beral 51 an Brustkrebs. on“, gemeinsam mit der Patientin getroffen resümierte Psychiater Ingmar Skoog von Fünf Jahre nach Beendigung der Hor- werden. der Universität Göteborg nach der Prü- monbehandlung, so ermittelte die Oxford- In jedem einzelnen Fall müsse die fung sämtlicher Publikationen. Die Hoff- Professorin, schwand jedoch das Brust- Behandlung „maßgeschneidert“ sein – nung auf hormonelle Hilfe gegen geistigen krebsrisiko wieder erheblich. Überdies sei- ein Aufwand, den längst nicht alle Abbau sei vage und rechtfertige allein kei- en die hormonell bedingten Brustkrebs- Ärzte treiben. „Dafür muss man viel neswegs die Behandlung, lautete das und Endometrium-Tumoren „weniger ag- und ganz konkret fragen“, weiß Gynä- Mailänder Fazit. gressiv“ als diejenigen bei Frauen, die nie- kologin Höß und fasst ihre Ärzte-Kolle- Erstmals mit eindeutigen Belegen un- mals Östrogene und Gestagene gegen gen am Portepee: „Wir sollten Hormone termauerte die britische Epidemiologin Va- Wechseljahrsbeschwerden genommen hat- nicht nach dem Gießkannenprinzip aus- lerie Beral die vieldiskutierte Annahme, ten. Das sei „ein schwacher Trost“, kom- teilen.“ Renate Nimtz-Köster

WECHSELJAHRE DES MANNES

Bei Männern dreht sich dann alles nur um die Po- zierte Zusammenspiel von Enzymen und Hormonen tenzstörung“, berichtet Siegfried Meryn, Internist an aus dem Gleichgewicht, können Männer seelisch der Universität Wien. Doch die Symptome sind viel- und körperlich aus den Fugen geraten. Wie bei den fältig: Zwischen dem 45. und 60. Lebensjahr setzt Frauen nimmt auch bei ihnen, vor allem am Ober- das „Klimakterium virile“ ein, das sich mit starkem schenkelhals, die Knochendichte ab, jeder zehnte Schwitzen, Gelenk- und Rückenschmerzen, Übellau- Osteoporose-Patient ist ein Mann. nigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten bemerk- Mit mehr Bewegung und gesünderer Ernährung, bar machen kann. vor allem aber mit einer „abgestimmten Kombina- Die männliche Fruchtbarkeit bleibt zwar – wenn tion von Medikamenten“ möchten Spezialisten wie auch mit Einschränkungen – bis ins hohe Alter ge- Meryn diese Prozesse aufhalten – eine Strategie, die wahrt, auch sind die Anzeichen des Umbruchs nicht in den USA längst praktiziert wird. Das leistungs- so deutlich wie bei der Frau. Doch hormonelle Ver- steigernde Androstendion, ein Abbauprodukt des schiebungen, die in der Nebenniere ablaufen, ver- Testosterons, ist in Drugstores rezeptfrei als „Nah- ursachen auch beim Mann mancherlei Störungen rungsmittelzusatz“ zu bekommen. und Veränderungen. So schwinden mit den Jahren Dass die übermäßige Substitution von Testo- bestimmte Enzyme, die in der Nebenniere für die Pro- steron gefährlich sei, weil sie das Wachstum von duktion mehrerer wichtiger Hormone sorgen, dar- Wucherungen oder gar Krebs in der Prostata för- unter das entzündungshemmende, auch für den dern könne, betont Walter Krause, Spezialist für Muskelaufbau erforderliche Cortison, ferner das Männerheilkunde (Andrologie) an der Uniklinik weibliche Sexualhormon Östrogen, das auch Männer Marburg. Auch sei, bei einer Hormonbehandlung brauchen. Ein geringer Anteil des männlichen Se- männlicher Wechseljahrsbeschwerden, „die Orien- xualhormons Testosteron, das hauptsächlich in den tierung an den Normalwerten junger Männer ungün- Hoden entsteht, wird gleichfalls in der Nebenniere stig, weil dadurch viele Befunde als krankhaft in- gebildet, überdies noch Progesteron und das blut- terpretiert werden, die lediglich Altersveränderungen

druckregulierende Aldosteron. Gerät das kompli- M. MARCKS darstellen“.

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Werbeseite CHANCEN DER VORSORGE G. BASSIGNAC / GAMMA STUDIO X G. BASSIGNAC Asbestsanierung: „Allergisch gegen das 20. Jahrhundert“ Chemie-Unfall bei Hoechst (1993): „Angst wurde

UMWELT Haarausfall durch Handy? Jedes Fin de Siècle hat seine Hypochonder: Am Ende dieses Jahrhunderts sind es die Umweltkranken, die den Untergang ihrer persönlichen Welt durch Chemie und Strahlen fürchten. Zumeist entsteht das Leiden nur in ihrem Kopf.

hre Krankheit wird Sie nicht töten. tig gut geht es ihr auch hier nicht. Immer bei einer Allergie typischerweise aus- Das ist die gute Nachricht“, erklärt wieder befällt ein bleiernes Gefühl ihre schüttet, finden sich im Blut der Umwelt- Ider Arzt, der Eva K. behandelt, mit Glieder und verleidet ihr die Freude am kranken. freundlichem Lächeln. „Und die schlech- Leben. Manchmal monatelang jeden ein- Überhaupt fällt der wissenschaftliche te ist: Ihre Krankheit wird Sie nicht zelnen Tag. Seit ein paar Jahren geht das Krankheitsnachweis schwer. Denn bei allen töten.“ schon so. Syndromen klagen die Patienten über die Die Patientin ist völlig aus dem Häus- Wenn dieses bleierne Gefühl wieder da schädliche Wirkung von Chemikalien oder chen. Nicht etwa, weil ihr die Prognose ist, fühlt sich die ehemalige Verwaltungs- anderen Noxen, die in den gefundenen eines vermutlich lang anhaltenden Leidens angestellte morgens so schlapp, dass sie Konzentrationen normalerweise gar keine Sorgen bereitet. Die junge Frau ist glück- einfach nicht aus dem Bett kommt. Sie Effekte hervorrufen. lich: 21 Ärzte hat sie schon um Rat gefragt. schafft es kaum, sich etwas zu essen zu „Bisher sind nur sehr vage Zusammen- Nummer 22 bestätigt ihr endlich, was sie machen. Und alles tut ihr weh. Dabei war hänge zwischen den Beschwerden der Pa- selbst seit langem vermutet: Sie leidet an sie früher eine aktive Sportlerin – bis zu je- tienten und äußeren Einflüssen erkenn- einer Krankheit, an einer wirklichen nem Tag, an dem sie morgens aufwachte bar“, konstatiert der Gießener Umwelt- Krankheit! Und die hat sogar einen Na- und sich einfach grässlich fühlte. mediziner Thomas Eikmann. men: Chronisches Erschöpfungssyndrom Eva K. ist mit ihrem Leiden auf der Das liegt unter anderem auch an der (CFS). Höhe der Zeit. „Umweltkrankheiten“ wie Vielfältigkeit der Krankheitssymptome, die Zu ihrer Odyssee durch die Arztpraxen ihr CFS, das die Österreicher treffend Atem- und Herzbeschwerden genauso um- ist Eva K., die allein lebt, jedes Mal von ei- „Müdkrankheit“ nennen, das Multiple fassen wie Erschöpfungszustände, Augen- ner Wohnung aufgebrochen, die bizarr an- Chemikaliensyndrom (MCS), das Sick- brennen, Schmerzen aller Art, Konzentra- mutet: Überall glitzert es; selbst in den Building-Syndrom (SBS), aber auch Nah- tions- und Denkstörungen oder Depres- dunkelsten Ecken kann man sich spiegeln rungsmittel-, Medikamenten- und Holz- sionen. „Ob Sie Kopfschmerzen haben – wenn auch ziemlich zerknittert. schutzmittelunverträglichkeiten sowie oder sich morgens schlecht fühlen“, resü- Glanz und Glitter in ihrer spartanischen Schäden durch Amalgam und Elektrosmog miert Eikmann, „Sie können alles auf eine Bleibe rühren von der Alufolie, mit der sind Erscheinungen des 20. Jahrhunderts. dieser Umweltkrankheiten zurückführen, sich Eva K. vor Chemikalien zu schützen Die meisten dieser Krankheiten sind kaum da praktisch jedes Symptom durch jede versucht. Denn die, glaubt die magere älter als zwei Dekaden. beliebige Ursache ausgelöst wird.“ Blondine, lauern überall auf sie, dringen „Allergisch gegen das 20. Jahrhundert“, „Früher nannte die Medizin Patienten, aus Teppich, Möbeln und Tapeten – und so- titelte daher die US-Zeitschrift „Health“ mit denen sie nicht zurechtkam, Simulan- gar aus der Hartplastik-Klobrille. sarkastisch. Doch um Allergien handelt es ten“, stichelt der Neuherberger Toxikologe Nur in ihrer silbrig-sterilen Welt kann sich gar nicht. Weder Histamin noch Im- Helmuth Müller-Mohnssen, „heute sagt es Eva K. überhaupt aushalten. Aber rich- munglobuline vom Typ E, die der Körper man, sie hätten MCS.“

194 der spiegel 38/1999 weltschäden und ihren Gesundheitsgefah- Chemophobien – verstärkt durch den gel- ren, die „in zunehmendem Maße selbst ben Regen, den der Hoechst-Konzern 1993 zur Ursache von Gesundheitsstörungen über den Frankfurter Stadtteil Schwan- wird“. heim entließ. Die Umweltkrankheiten haben Deutsch- „Keine Generation in der Menschheits- land erst vor etwa fünf Jahren erobert, geschichte hat so viel wissenschaftlich- obgleich die größten Umweltkatastrophen technischen Wandel verkraften müssen wie – Seveso, Bhopal, Tschernobyl, Sandoz – wir“, notierte 1996 der damalige Hambur- bereits 10, 20 und mehr Jahre zurück- ger Umweltsenator Fritz Vahrenholt im liegen. Seitdem ist nichts Vergleichbares SPIEGEL. Doch nicht die Störfälle seien mehr geschehen. Luft und Flüsse sind so die eigentlichen Katastrophen gewesen, sauber wie noch nie seit Beginn der sondern die Informationspolitik der Ver- industriellen Revolution, die chemische antwortlichen: So behauptete die Hoechst Industrie jammert über eine Vielzahl AG 1993 hartnäckig, ihr gelber Fallout sei gesetzlicher Auflagen, auch der Atomaus- ungefährlich, obwohl es sich um eine stieg zeichnet sich ab. krebserregende Substanz handelte. „Angst Trotzdem ergeben Amalgam, Elektro- und Unsicherheit wurden geschürt“, so smog, Schwermetalle und Asbestablage- Vahrenholt, und „Vertrauen zerstört“. rungen für immer mehr Menschen ein Be- Die Umweltmedizin, die das Zeitgeist- drohungsszenario ersten Ranges. „Zwar ist phänomen der Öko-Leiden aufklären soll,

LOWACK / ACTION PRESS / ACTION LOWACK die Zahl der Umweltschadstoffe insgesamt krankt selber an einem entscheidenden geschürt, Vertrauen zerstört“ zurückgegangen, dafür sind sie aber auch Problem: Kausale Zusammenhänge nach- weniger sichtbar“, erklärt Thomas Eik- zuweisen ist in diesem Bereich generell So vage die Diagnose, so weit gestreut mann das hartnäckige Phänomen. „Heut- schwierig. sind auch die Schätzungen zur Häufigkeit zutage bedrücken uns Dinge, die wir nicht So wurde bis heute wissenschaftlich von MCS, CFS und SBS. Zwischen 1,5 und sehen und fassen können. Und gerade das nicht einwandfrei geklärt, ob die erhöhte 15 Prozent der Bevölkerung sind demnach macht Angst.“ Zahl an Leukämiefällen in der Elbmarsch mittlerweile an einem dieser unklaren Syn- Es fällt auf, dass Umwelt-Ängste und tatsächlich mit der Nähe zum Kernkraft- drome erkrankt. Vier von zehn Deutschen Öko-Hysterien in den letzten 20 Jahren werk Krümmel zusammenhängt oder geben irgendwelchen Umweltgiften die stets parallel gingen mit der öffentlichen nicht. Woher ein Krebs kommt, ist nicht Schuld an ihren gesundheitlichen Proble- Debatte über wachsende Umweltproble- mehr festzustellen, wenn er erst einmal men, und mehr als die Hälfte glaubt, in me. So waren die Jahre 1986 bis 1989, entstanden ist. der heutigen Welt sei ein gesundes Leben die sich an die Reaktorkatastrophe von Umweltkranke sehen das allerdings ohnehin nicht mehr möglich. Tschernobyl anschlossen, die Jahre der meist anders. Sie laufen häufig mit bereits Ökochondrie? Gar eine Massenpsy- Kernkraftängste. Der Beginn der neunzi- gefestigten Vorstellungen von ihrem Leiden chose? Zumindest liege diesen modernen ger Jahre war hingegen die Hoch-Zeit der und dessen Ursache in die Arztpraxen und Leiden „eine unbewusste, machen, ähnlich wie Eva K., so lange tiefe Zukunftsangst“ zu „Doctor-Shopping“, bis jemand ihre un- Grunde, meint der Frei- verrückbare Überzeugung bestätigt. burger Mediziner Herbert Paradoxerweise vergrößert auf diesem Remmer. langen Weg jeder eigentlich beruhigende Von einem „Kausalitäts- Befund die Sorgen der Umweltkran- zwang“ spricht auch Gün- ken, an einer besonders schlimmen – aber ter Niklewski: Die Patien- eben noch unbekannten – Erkrankung zu ten ignorierten die psy- leiden. chischen Ursachen ihrer Ihre Ängste werden dabei so groß, dass Krankheit und schöben die sie sich der Signale ihres eigenen Körpers Schuld lieber auf äußere nicht mehr sicher sind. Sie haben, so die Faktoren, um sich nicht mit Psychologin Lydia Hartl, die Fähigkeit ver- ihren eigenen Problemen loren, zwischen bedeutsamen und unbe- auseinander setzen zu deutenden Wahrnehmungen zu unter- müssen. Eine Untersu- scheiden. chung der Universität Er- „Es kommen Menschen, die leiden an langen-Nürnberg aus dem Haarausfall und beschuldigen den Nach- Jahre 1995 gibt dem Berli- barn, der sich gerade ein Handy gekauft ner Psychiater Recht. Ihr hat“, klagt Thomas Zunder von der Um- zufolge sind mehr als zwei weltambulanz der Universitätsklinik Frei- Drittel der Patienten, die burg. eine umweltmedizinische Solche Patienten sind besonders schwe- Sprechstunde aufsuchen, re Fälle. Denn häufig haben sie sich noch psychiatrisch auffällig. in einer der zehntausenden von Selbsthil- Sehr viel konkreter stellt fegruppen, die es hier zu Lande bereits der Arzt und Sozialwis- gibt, Bestätigung geholt und lassen sich senschaftler Felix Tretter kaum mehr von ihrer Meinung abbringen. Umwelt-Angst und Um- „Das sind keine einfachen Patienten“, welt-Leid in einen Zusam- fasst Thomas Eikmann zusammen. „Sie

menhang: Es sei gerade FOCUS MENZEL / AGENTUR P. nerven die Ärzte furchtbar.“ die Furcht vor den Um- Badende, Atomkraftwerk: Szenario der Bedrohung Christina Berndt

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STRESS Alarm in Haupt „Ein langsam und Gliedern Stress-Reaktionen und ihre Auswirkungen wirkendes Gift“ auf den Organismus Eine Notreaktion, für den Menschen einst lebensrettend, hat SOFORTIGE sich gegen ihn gewendet: Stress ist in modernen REAKTION Gesellschaften allgegenwärtig und macht krank. Gibt es Hilfe? Als Reaktion auf eine gegenwärtige Bedrohung mobilisiert der Körper err D., ein viel beschäftigter Mana- Dem Begründer der Stress-Forschung, seine Kraft- und Schnelligkeitsressourcen. ger, macht Urlaub in einem südli- dem Austro-Kanadier Hans Selye, galt in Hchen Land. Während seine Familie den dreißiger Jahren der Stress noch als Gehirn badet, liest er eine deutsche Tageszeitung „eine universelle Antwort des Körpers“ Das Schmerzempfinden wird und ärgert sich über die schwachen Bör- auf Herausforderungen und Gefahren, ein abgeschwächt. Denk- und Erinnerungs- senkurse. bei Mensch und Tier gleiches, genetisch vermögen sind geschärft. Aus der Ferne beobachtet er, dass die verankertes Grundprogramm zur Lebens- Parkplätze am Strand nicht optimal ge- erhaltung durch reflexhafte Angriffs- und Augen nutzt werden. Am dritten Tag hält es ihn Fluchtmechanismen. Die Pupillen weiten sich, um nicht länger, er springt auf und dirigiert Erst in jüngster Zeit ist es gelungen, mögliche Bedrohungen zu erkennen. schwitzend und mit hochrotem Kopf die Stress-Reaktionen – zum Beispiel durch Lungen Autofahrer. „Höchste Zeit“, denkt er, das Messen von Hormonspuren im Spei- Die Bronchien dehnen sich. „dass hier einer was tut.“ chel – quantifizierbar zu machen und Die Atmung wird schneller. Die Lungen Der Manager D., von dessen Fall das einige der neurophysiologischen Pfade nehmen mehr Sauerstoff auf. Münchner Max-Planck-Institut für Psychia- aufzudecken, die vom Dauerstau auf trie berichtete, ist ungeduldig mit sich selbst der Ferienautobahn in die kardiologi- Herz und anderen, er neigt zu Perfektionismus sche Intensivstation führen können. Da- Puls und Blutdruck steigen. und ist nur dann zufrieden, wenn er Leis- bei zeigte sich: Stress wird, anders als Se- Das Herz pumpt zusätzliche Mengen lye meinte, individuell Sauerstoff und Glukose in den Körper. unterschiedlich verar- Leber Das Gehirn ist eine großartige Sache. beitet. Männer und In Form von Glykogen gespeicherter Zucker Es funktioniert vom Augenblick Frauen reagieren ver- wird in Glukose umgewandelt – der Geburt bis zu dem Zeitpunkt, schieden, Kinder wer- zusätzlicher Treibstoff für die Muskelzellen. wo du aufstehst, um eine Rede zu halten. den unter Umständen lebenslang von frühen Nebennieren Mark Twain Stress-Ereignissen ver- Diese Drüsen produzieren folgt. die „Angriff-oder-Flucht“-Hormone, tung bringt. Die Mediziner reihen ihn ein Zudem haben verschiedene Stressoren – die Katecholamine. in die Kategorie der gesundheitsgefährde- dazu zählen Kälte und Hitze ebenso wie Milz ten Typ-A-Menschen: Nicht nur, dass ihn Arzneimittel oder Arbeitsdruck, Hochzeit Damit mehr Sauerstoff zu den Muskeln häufig Kopfschmerzen plagen (die er aber oder Geburt, Enttäuschung und Versa- transportiert werden kann, stößt die Milz nicht mit seinem Lebensstil in Verbindung gensangst ebenso wie ständige Unterfor- vermehrt rote Blutkörperchen aus, die sie bringt). Er ist auch anfällig für Infektionen. derung am Arbeitsplatz – jeweils eigene wie ein Schwamm gespeichert hatte. Sein Infarktrisiko ist, statistisch gesehen, chemische „Signaturen“, besonders bei verdoppelt. Herr D. lebt im Dauerstress, der Ausschüttung von Hormonen. Mit- Darm und Harnblase den er sich größtenteils selbst schafft. entscheidend für die Verarbeitung ist die Die Verdauung setzt aus, Legionen von Studienräten,Abteilungs- Bewertung durch den Gestressten: Habe die so eingesparte Energie leitern und Firmenchefs haben sich ange- ich noch die Kontrolle über die Situation, wird den Muskeln zugeführt. wöhnt, Stress nicht nur als uraltes Erbe der oder bin ich dem Stressor als ohnmächti- Muskeln Menschheit, sondern als willkommenes Sti- ges Opfer ausgeliefert? Zur besseren Energieversorgung weiten mulans, als Ansporn zu geistigen und kör- Entwicklungsgeschichtlich ist es nur ein sich die Blutgefäße in den großen Muskeln. perlichen Höchstleistungen schönzureden. Katzensprung zurück zu jenem Urzeit-Jä- Das ist nicht falsch. Doch gleichzeitig ger, für den der biologische Stress-Mecha- Blut hat breite Forschung in den letzten Jahren nismus einst überlebenswichtig war. Der Die Blutungsneigung nimmt ab. bestätigt: Stress im Übermaß und vor allem Mann sitzt am Waldrand, um sich auszu- Das Blut gerinnt schneller schleichender Langzeit-Stress führen oft ruhen. Plötzlich knackt es hinter ihm im (für den Fall von Verletzungen). zu gesundheitlichen Malaisen. Der fortge- Gebüsch. Er dreht sich blitzschnell um und setzte Alarmzustand im Körper schadet sieht einen Säbelzahntiger auf sich zu- Haare dem Herzen, schürt Magengeschwüre, kommen. Weil es Tiere größer und damit gefährlicher aussehen lässt, richten sich schwächt die Immunabwehr, kann dick ma- Was nun folgt, ist eine im Organismus die Körperhaare auf (Gänsehaut). chen und torpediert das Gedächtnis. automatisch ablaufende Kaskade von Re-

196 der spiegel 38/1999 aktionen; sie dient der Bereitstellung im- menser Kräfte zur Beantwortung der Ge- fahr – sei es mit dem auf dem Boden lie- genden Knüppel (Attacke) oder mit einem gewaltigen Satz auf den nächsten Baum (Reißaus). Die Nebennieren schießen Adrenalin ins Blut, der Sympathikus-Nerv steigert seine Tätigkeit, Puls, Blutdruck und Atemfre- VERZÖGERTE quenz steigen, in Muskeln und im Gehirn REAKTION werden Energien freigesetzt (siehe Grafik). Wenige Minuten nach dem „Angriff- Es folgt eine blitzartige Mobilmachung al- oder-Flucht“-Impuls nimmt der Organismus ler Reserven im Körper: Die Leber stellt weitere Veränderungen vor, um sich zu Glukose als zusätzliche Muskelnahrung be- stabilisieren und zu regenerieren. reit, die Blutgefäße in den Muskeln weiten sich, rote Blutkörperchen werden aktiviert. Gehirn Gleichzeitig wird Unwichtiges gedrosselt: Der Hippocampus, Sitz von Erinnerungs- Verdauung, Fortpflanzung,Abwehr von In- und Lernvermögen, wird aktiviert, um den fektionen – jetzt alles Nebensache. Haupt- Stress zu verarbeiten. sache: überleben. Immunsystem Diese Stress-Maschinerie, darauf ausge- Die Infektionsabwehr wird aus bisher richtet, den in Bedrängnis geratenen Homo nicht geklärter Ursache reduziert. sapiens über die nächsten zehn Minuten hinwegzuretten, ist fest im Hirn verdrahtet Leber – in jenen Tiefenregionen des Zentralor- Gespeicherte Energie in Form gans, die auch solche Urfunktionen wie von Fett wird in verfügbaren Hunger, Aggression und Immunabwehr Treibstoff umgewandelt. kontrollieren. Nebennieren Doch inzwischen wendet sich das ehe- dem rettende Erbe des Menschen nicht sel- Die Nebennieren stoßen Kortisol aus, ten gegen ihn selbst: Haargenau die gleiche welches die Verdauung und die Immunabwehr herunterreguliert. Stress-Kaskade, mit welcher er einst le- bensbedrohliche Situationen meisterte, tritt Geschlechtsorgane nun in Aktion bei so ziemlich allem, was Bei längerem Stress-Zustand wird die ihm die zivilisierte Welt an Pein und Miss- Produktion der Geschlechtshormone helligkeiten zumutet: Wenn die Steuer- gedrosselt. prüfung naht oder wenn die Schriftsätze des gegnerischen Scheidungsanwalts kom- men, bei der Hatz nach dem letzten Flie- ger oder beim Run auf Schnäppchen im Schlussverkauf, vor allem aber als Antwort auf den mehr oder minder kleinen stetigen Ärger im Büro. Der Adrenalinstoß bei einer akuten CHRONISCHE Stress-Reaktion, zum Beispiel wenn der AUSWIRKUNGEN Dow-Jones-Index um 300 Punkte fällt, Wird die Stress-Reaktion zu häufig macht sich noch immer auf klassische hervorgerufen, kann das langfristig Weise bemerkbar: rasendes Herzklopfen, zu Schäden führen. trockener Mund, blümerantes Gefühl im Magen. Aber beim Börsenzocker läuft die Gehirn vom Urmenschen überkommene körperli- Kortisol schädigt mit der Zeit die che Reaktion ins Leere: Einfach abhauen Gehirnzellen und kann unter Umständen bringt nichts. die Wahrnehmung beeinträchtigen. Häufig richten sich dann die freigesetz- Es drohen Erschöpfung, Gereiztheit ten Energien gegen den eigenen Körper. und Depressionen. Erst recht bei wiederholtem und unter- Darm schwelligem Quäl-Reiz, und wenn bis zum Das Drosseln der Blutversorgung Auftreten des nächsten Stressors keine Er- macht die Magen- und Darmschleimhaut holung bleibt, wird der Organismus in eine anfällig für Geschwüre. Art Daueralarm versetzt, eine ständig er- höhte Widerstandsbereitschaft, die schließ- Immunsystem lich gar keine Entspannung mehr zulässt. Das wiederholte Bremsen der Abwehrzellen „Chronischer Stress ist wie ein langsam führt zur Schwächung des Immunsystems. wirkendes Gift“, bemerkt Psychologe Jean Blutgefäße King von der University of Massachusetts Medical School. Durch einen erst in den Erhöhter Blutdruck und Herzschlag letzten Jahren entdeckten Mechanismus, Quelle: Newsweek verringern die Elastizität der Blutbahnen. den die Forscher „Sensitivierung“ nennen,

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Werbeseite SEELE IM GLEICHGEWICHT K. ANDREWS / ARGUS T. GREMME / DAS FOTOARCHIV GREMME / DAS T. Stress-Faktor Hochzeit: „Habe ich noch die Kontrolle?“ Reaktorwarte (in Stade): Dauerstress durch Unterforderung Börse schaukelt sich das Signalsystem im Körper Kortisol bringen den Körper durcheinan- ßend mit einem Erkältungsvirus in Kon- unbemerkt weiter auf. der, der schließlich auf den täglichen Klein- takt gebracht. Ergebnis: 90 Prozent der Während sich der Gestresste selber noch kram mit der Wucht eines Programms ant- akut Hochgestressten (gegenüber 74 Pro- darüber hinwegtäuscht („Ich hab keinen wortet, das eigentlich für lebensbedrohli- zent der Nichtgestressten) fingen sich den Stress; ich kämpfe nur gegen objektive che Notfälle ausgelegt ist. Schnupfen ein. Schwierigkeiten“), reagiert der Organis- Das klassische Experiment, das die schä- Das Experiment wurde letztes Jahr wie- mus immer heftiger, die Reizschwelle sinkt digende Wirkung des Stress-Hormons Kor- derholt und verfeinert. Dabei zeigte sich: – etwa so wie bei einem Allergiker, der tisol auf die Immunabwehr bewies, unter- Bei Versuchspersonen, die unter chroni- schließlich schon auf das kleinste umher- nahm 1991 Sheldon Cohen, Psychologe an schem Stress litten – zum Beispiel fort- fliegende Pollenkorn anspricht. der Carnegie Mellon University in Pitts- gesetzten Konflikten mit Arbeitskollegen Einer Lawine gleich nehmen dann hor- burgh. 400 Freiwillige, deren unterschied- oder Familienmitgliedern –, wuchs die monelle Veränderungen zu. Vor allem die liche Stress-Belastung Cohen mit einem Wahrscheinlichkeit, dass die Immunabwehr beiden Stress-Hormone Adrenalin und Fragebogen ermittelte, wurden anschlie- versagte, um das Drei- bis Fünffache,

Überlastet? Ausgebrannt? Wie oft fühlten Sie, dass sich die Dinge Forscher nutzen diesen Test, um die in Ihre Richtung entwickeln? GESAMT Höhe des Stress-Spiegels zu messen. 4=nie, 3=fast nie, 2=manchmal, Die Fragen beziehen sich auf die 1=ziemlich oft, 0=sehr oft zurückliegenden vier Wochen. Schreiben Sie die Antwortzahl in Wie oft waren Sie in der Lage, das jeweilige Kästchen und Ärger in Ihrem Lebensumfeld addieren Sie. Die Auswertung zu kontrollieren? Ihres Ergebnisses finden Sie Bewertung der Punktzahl am Ende. 4=nie, 3=fast nie, 2=manchmal, Je höher die Punktzahl, desto höher 1=ziemlich oft, 0=sehr oft die Stressbelastung. Vergleichen Sie Ihre Gesamtpunktzahl mit den Wie oft haben Sie sich wegen Wie oft fühlten Sie sich, als ob Sie nicht folgenden Durchschnittswerten: etwas Unerwartetem aufgeregt? Schritt halten könnten mit all den Dingen, Geschlecht 0=nie, 1=fast nie, 2=manchmal, die Sie zu tun hatten? 3=ziemlich oft, 4=sehr oft 0=nie, 1=fast nie, 2=manchmal, Männer 12,1 Frauen 13,7 3=ziemlich oft, 4=sehr oft Wie oft fühlten Sie sich, als hätten Sie Familienstand die wichtigen Dinge Ihres Lebens nicht Wie oft fühlten Sie, dass Sie verheiratet oder im Griff? über den Dingen stehen? in Partnerschaft 0=nie, 1=fast nie, 2=manchmal, 4=nie, 3=fast nie, 2=manchmal, lebend 12,4 3=ziemlich oft, 4=sehr oft 1=ziemlich oft, 0=sehr oft verwitwet 12,6 geschieden 14,7 Wie oft waren Sie über Dinge Single 14,1 Wie oft fühlten Sie sich nervös verärgert, die außerhalb und überbeansprucht? Ihrer Kontrolle lagen? getrennt 16,6 0=nie, 1=fast nie, 2=manchmal, 0=nie, 1=fast nie, 2=manchmal, Alter 3=ziemlich oft, 4=sehr oft 3=ziemlich oft, 4=sehr oft 18 bis 29 14,2 Wie oft hatten Sie genug Selbstver- Wie oft fühlten Sie, dass Ihnen Schwierig- 30 bis 44 13,0 trauen, die persönlichen Probleme in keiten über den Kopf wachsen und Sie sie 45 bis 54 12,6 den Griff zu bekommen? nicht überwinden können? 55 bis 64 11,9 4=nie, 3=fast nie, 2=manchmal, 0=nie, 1=fast nie, 2=manchmal, 65 und älter 12,0 1=ziemlich oft, 0=sehr oft 3=ziemlich oft, 4=sehr oft Quelle: Sheldon Cohen

200 der spiegel 38/1999 bis hin zu Wochenendkursen, die Mana- ger stressfest machen sollen. Auch Wissenschaftler wie die Stress- Therapeutin Angelika Wagner-Link vom Münchner Max-Planck-Institut für Psy- chiatrie haben umfangreiche Strategien zur kurzfristigen und langfristigen Stress- Bewältigung ersonnen. „Drei Ansatzpunkte“ sieht Wagner-Link, wie dem Übel zu begegnen sei. Stress-Ge- plagte dürften auf Linderung hoffen, wenn es ihnen gelingt: π die „Stress-Dosis“ zu verringern, indem sie einige der Stressoren ausschalten, re- duzieren oder vermeiden; π selber „stressstabiler“ zu werden, indem

DPA sie, zum Beispiel durch aktive Entspan- in der Baisse: Abhauen bringt nichts nung, ihre Belastbarkeit erhöhen oder die Stress-Situation anders zu bewerten während ein einzelnes Stress-Ereignis im lernen; vorausgegangenen Jahr der Virenabwehr π in Momenten des Stresses „die Erregung keinen Abbruch tat. zu drosseln“ – mit dem Ziel, „Erre- Andere Untersuchungen belegten bei- gungsspitzen zu kappen“ und „Auf- spielsweise den Zusammenhang zwi- schaukelungen zu verhindern“. schen dem Stress-Hormon Prolactin und Solche Übungen starten mit „Dampf ab- Gelenkrheumatismus, zwischen Adre- lassen“ („mit der Faust auf den Tisch schla- nalin und Schlaganfall-Häufigkeit sowie gen“, „mit dem Fuß aufstampfen“) und zwischen einem Stress-Hormon namens „positiven Selbstgesprächen“ („Wenn ich ACTH und Schüben von aggressivem Ver- Fehler mache, ist das nicht so schlimm“). halten. Sie mühen sich um verbessertes „Zeitma- Die Verbindung von Langzeit-Stress und nagement“ („morgens richtig anfangen“, Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurde auch „nicht ablenken lassen“), empfehlen Ent- im Tierversuch bestätigt: In einer Horde spannungsübungen („Lassen Sie die Finger von Makaken, die mit ähnlichen Status- locker werden“) und setzen auf „nach in- problemen zu tun haben wie Menschen, nen geschaute Bilder“ („Schließen Sie die sucht Arteriosklerose normalerweise be- Augen und stellen Sie sich vor: Sie sind an vorzugt die Rangniederen heim. Als For- einem ruhigen, einsamen Strand“). scher der Wake Forest University in North Auch im Auto laut zu schimpfen oder Carolina die soziale Hierarchie (durch Ein- sich bei Freunden auszuweinen, kann, so schleusen neuer Tiere) durcheinander Wagner-Link, „kurzfristig Erleichterung“ brachten, waren es plötzlich die rangho- verschaffen. hen Männchen, die unter dem stressigen All solche Hilfsangebote wirken immer Zwang, ihren Platz in der Rangordnung auch ein wenig hilflos angesichts der noch zurückzuerobern, häufiger herzkrank unscharfen Konturen des modernen Stress- wurden. Phänomens, vor allem angesichts der bis- Die anstrengenden Rangkämpfe in der lang ungelösten Rätselfrage: Warum bre- Affenhorde sind womöglich ein Vergnü- chen manche Individuen unter dem Stress, gen im Vergleich zu den überbordenden den sie erdulden, schier zusammen, und Stress-Erfahrungen, denen sich Menschen warum gehen andere so locker damit um? in modernen Industriegesellschaften aus- Auf der Suche nach speziellen Fakto- gesetzt sehen. Sie beginnen im Kinder- ren, die manche Personen vor gesund- zimmer (bei einer Umfrage unter Sieben- heitsschädigenden Stress-Auswirkungen bis Elfjährigen erklärten 72 Prozent der schützen könnten, haben Wissenschaftler Probanden, sie litten unter Stress) und en- mit Eigenschaften wie „Hardiness“ (einer den zwischen den chromblitzenden Appa- Mischung aus Engagement, Selbstvertrau- raturen moderner Krankenhäuser, wo es en und der Lust an der Herausforderung) aus der Angst schürenden Stahlröhre des oder auch „Kohärenzerleben“ (einem va- Computertomografen kein Entrinnen gibt. gen Gefühl, die Umwelt sei verstehbar, die Mit Laptops und Handys hat der Zivilisa- Dinge seien machbar und das Ganze habe tionsmensch sein selbst gewähltes Stress- einen Sinn) herumjongliert. Die entspre- Arsenal in den letzten Jahren noch einmal chenden Forschungsansätze stehen alle- erweitert. samt auf schwankendem Grund. Mit der Zunahme der immer neu in die Unumstritten dagegen ist eine Ein- Welt gesetzten Stress-Faktoren wuchs al- sicht, die der Psychologe Jean King von lerdings auch die Zahl der Helfer, die ge- der University of Massachusetts so formu- gen den wachsenden Druck ihre Dienste lierte: „Einem Gestressten zu sagen ,just anbieten. Die Angebote reichen von ent- take it easy‘ nützt ihm leider überhaupt spannender Massage über Yoga-Übungen nichts.“ Jürgen Petermann

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MEDIKAMENTE Stille Nacht mit Valium Machen Pillen glücklich? Psychopharmaka zählen zu den meistverordneten Medikamenten. Viele von ihnen werden missbraucht – als legales Doping für den Alltag, mit dem hunderttausende ihre Trübsal zu vertreiben suchen. N. FEANNY / SABA Depressive bei der Einnahme von Prozac: Der Gemütsaufheller gehört zum Leben wie der Morgenkaffee und der Alkohol am Abend

illionen Deutsche sind chronisch Mehr als 300 Psychopräparate sind in kalten Duschen und Gummizellen. Diese unglücklich. Sie schlafen schlecht deutschen Apotheken vorrätig. Und sie inhumane Gangart ist dank der Psycho- Mund fühlen sich überfordert, sie werden immer zahlreicher, denn die pharmaka weitgehend verschwunden. Für leiden am Gestern und am Heute, sie fürch- Pharmaindustrie schätzt die Produkte sehr: wirklich Kranke – schwer Depressive, Schi- ten sich vor dem Morgen, dem Übermor- Psychopharmaka zählen zu den meistver- zophrene und Maniker – sind die bunten gen, dem Ehepartner oder der ganzen ordneten Arzneien. Pillen, richtig angewandt, ein Segen. Welt. Jeder Deutsche, so die Statistik, kauft Für viele andere aber, die ihren Frust Was tun? Psychotherapie? Kegeln ge- sich im Durchschnitt jedes Jahr genau eine mit Hilfe solcher Präparate totzuschlagen hen? Glückspillen schlucken? Packung Psychodrogen für seine wun- versuchen, sind sie ein Fluch. Auf gefahr- Die Pharmaindustrie hält für die Klien- de Seele. Alle Deutschen zusammen volle Weise, so das pharmakritische Stan- tel der Unglücklichen und seelisch Kranken schlucken im Jahr über eine Milliarde Ta- dardwerk „Bittere Pillen“, habe die Wer- ein weit gefächertes Arsenal parat. Es sind gesdosen Antidepressiva, Tranquilizer und bung den Eindruck erweckt, als seien Psy- Medikamente, die, so ein Werbespruch, Neuroleptika – aber macht sie der Pillen- chopharmaka „der Schlüssel zur Harmonie eine „rosarote Brille für die Psyche“ ver- berg wirklich glücklicher? des Menschen“. leihen; chemische Krücken mit wundersa- Der Erfolg der Psychopharmaka hat zu- In Deutschland, mahnt etwa Gerd mer Kraft: Sie tilgen Depressionen aus dem mindest den Insassen der Psychiatrie viel Glaeske, Pharmaexperte der Barmer Er- Hirn, blasen Neurosen, Angst- und Span- Elend erspart.Vor Entdeckung der Seelen- satzkasse in Wuppertal, werden „viel mehr nungszustände weg, lassen Wahnvorstel- drogen in den fünfziger Jahren wurden Psychopharmaka eingesetzt, als medizi- lungen und Panikattacken schmelzen wie Geisteskranke mit Elektroschocks traktiert, nisch begründbar ist“. Seit Jahren beklagt Butter in der Pfanne. mit Schlägen, Fesseln, Zwangsjacken, eis- auch der Suchtstoffkontrollrat der Verein-

202 der spiegel 38/1999 ten Nationen den Psychopharmaka-Kon- nicht. Tranquilizer dämpfen Gefühl und in steigendem Maße auch Neuroleptika sum der Europäer – er ist weltweit un- Bewusstsein wie ein Wattebausch, doch die und Antidepressiva. übertroffen. Erlösung, die sie zu geben scheinen, ist trü- Der hohe Verbrauch an Psychopillen Allzu leichtfertig verschreiben Medi- gerisch. zeugt von Einsamkeit, Angst, Depression ziner die Gemütsdrogen als legales Doping Tranquilizer sind – wie die übrigen Psy- und Unruhe der Heimbewohner, aber häu- für den Alltag, und für diese Freigebig- chopharmaka auch – in Wahrheit eine Mo- fig auch vom Kalkül der Heimbetreiber: keit müssen Patienten teuer zahlen: Viele gelei: Das Leben fühlt sich mit ihnen Wo abends Valium ausgegeben wird, da leben im dauernden Bewusstseinsnebel, weniger schrecklich an, tatsächlich hat steht eine stille Nacht bevor. „Billige Psy- andere leiden unter dramatischen Ne- es sich keinen Deut gebessert. Die Ursa- chopharmaka ersetzen teures Personal“, benwirkungen. Vor allem aber sind hun- chen des seelischen Missvergnügens blei- sagt Pharmaexperte Glaeske. Die Über- derttausende abhängig geworden. Und ben unter der pharmakologischen Ab- versorgung mit Psychodrogen in vielen Wegbereiter für ihre Pillensucht war wehrkruste weiter bestehen, ebenso Ängs- Heimen gleiche „chemischer Gewalt“. ausgerechnet der Arzt ihres Ver- Benzos wirken vor allem bei älte- trauens. ren Menschen auch am nächsten Tag Die Zahl der Pharmajunkies liegt nach, weil Nieren und Leber im Alter Schätzungen der Krankenkassen zu- weitaus länger brauchen, um die Psy- folge bei bis zu 1,2 Millionen – damit chosubstanzen abzubauen. Die Alten übersteigt sie die der Abhängigen von sind daher immerzu benebelt und ge- illegalen harten Drogen um das hen unsicher. Das Risiko von Stürzen Sechsfache. mit schwer heilenden Oberschenkel- Suchtrisiken birgt vor allem die halsbrüchen, so Weyerer, „steigt unter Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine, Einfluss von Psychopharmaka um auch bekannt als Tranquilizer. Zu ih- mindestens 50 Prozent“. nen zählen die bekannten Mittel Va- Die Dauerberieselung mit den lium, Mogadan oder Rohypnol. Schon schwer abbaubaren Benzos führt zu- nach drei Wochen regelmäßiger An- dem dazu, dass sich die wirksame Do- wendung fällt es den Patienten sis im Körper immer weiter hoch- schwer, von den angstlösenden Pillen schaukelt. Zahlreiche Alte, die dement wieder loszukommen; häufig gelingt und schrullig wirken, sind tatsächlich das Absetzen nur in stationärer Be- nur Benzodiazepin-Vergiftete. Wenn handlung. Die Entzugssymptome glei- Ärzte die Dosis langsam reduzieren chen denen, zu deren Bekämpfung („ausschleichen“) und das Suchtmittel die „Benzos“ einst verordnet wur- schließlich ganz absetzen, kehren in den: Schlaflosigkeit, Schweißaus- vielen Fällen verschüttet geglaubte brüche, Unruhe, Angst. Geisteskräfte wieder zurück. Jede dritte Pille, so schätzt Phar- Von den Benzos wurden allein 1997 maexperte Glaeske, wird nur noch ge- über 383 Millionen Tagesdosen ver- schluckt, um die Sucht zu bedienen. schrieben – genug, so Pharmaexperte Hauptbetroffene sind Frauen über 40 Glaeske im „Jahrbuch Sucht“, um 1,1 Jahren – Männer, so scheint es, betäu- Millionen Menschen Tag für Tag auf ben sich lieber mit Alkohol.Vor allem Pegel zu halten. Allerdings ist der Rohypnol spielt zudem „in der Dro- Benzodiazepin-Konsum, auf nach wie genszene eine wachsende Rolle“, wie vor hohem Niveau, seit Jahren rück- der Mediziner Wolfram Keup beklagt, läufig, da seine Risiken weithin be- Leiter des Sucht-Frühwarnsystems kannt geworden sind. Stattdessen

FWS in Pöcking bei Starnberg. Aufge- D. HOPPE / NETZHAUT „steigen viele Anwender auf Neuro- löst und in die Vene gespritzt, verstärkt Pillenausgabe im Altersheim: Furcht zerrinnt leptika und Antidepressiva um“, hat Rohypnol die Wirkung von Heroin. Pharmakritiker Glaeske festgestellt. Mediziner haben das Problem der Ben- te und Depressionen. Statt sich aktiv mit Beide Substanzklassen verzeichnen stei- zo-Sucht lange übersehen. Vor allem All- dem Ursprung seiner Probleme auseinan- genden Absatz. gemeinärzte und Internisten verschrieben der zu setzen, lullt sich der Patient che- Als „Happy Pills“ kommen sie noch we- die als „Happy Pills“ bekannten und be- misch ein. niger in Frage. Zwar machen sie nicht süch- worbenen Medikamente oft und gern – In Extremsituationen kann diese Form tig, aber um in den Genuss der erwünsch- auch deshalb, weil Benzodiazepine gleich der Betäubung nützlich sein: Wenn ein ten Hauptwirkung zu kommen, müssen viele Probleme lösen: Die Pillen machen nahe stehender Mensch stirbt, mögen ihre Anwender, je nach angewandter Do- selbst schwierige Patienten handzahm. Das Tranquilizer dem Trauernden als Mittel sis, schwere bis sehr schwere Nebenwir- Rezept auszustellen ist allemal leichter als zur Überbrückung dienen – das Furcht- kungen in Kauf nehmen. die Gründe zu finden oder gar zu behan- bare hat dann Zeit, langsam ins Bewusst- Neuroleptika bekämpfen zwar Schizo- deln, die zu Angst oder Depression geführt sein zu tröpfeln. Benzos helfen aber phrenie, Wahn und Halluzinationen und haben. Und weil die Pillen so wirksam sind, nicht, den Verlust psychisch zu verar- stellen hochgradig erregte Menschen ru- kommen die Patienten gern und zufrieden beiten. hig. Dafür mindern sie aber Antrieb und wieder in die Praxis – nur um noch mehr Vor allem in den Altenheimen hat die Bewegungsdrang, das Denken klappt nicht davon zu verlangen. Benzodiazepin-Sucht wie eine Epidemie mehr wie zuvor, Gefühle werden zum Bedrohliches wandelt sich unter Einfluss eingeschlagen. Jeder zweite Heimbewoh- Rinnsal schwacher Reize. der Benzos in eine leicht verkraftbare Un- ner, so konstatiert Siegfried Weyerer vom Das sind noch nicht einmal die gravie- wichtigkeit, Unruhe transformiert sich in Mannheimer Zentralinstitut für Seelische rendsten Nebenwirkungen. Häufig stellen Gelassenheit, Furcht zerrinnt. Psychische Gesundheit, schluckt regelmäßig Psycho- sich Krämpfe in der Schlund-, Zungen- und Tiefen gibt es nicht mehr, aber Höhen auch pharmaka – allen voran Tranquilizer, aber Kiefermuskulatur ein, es kommt zu Seh-

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Werbeseite störungen, Schwindel und Erbrechen. Vie- le Anwender entwickeln zudem ein soge- nanntes Parkinsonoid: Ihre Muskeln wer- den steif, ihre Gliedmaßen zittern, als litten sie an der Parkinsonkrankheit. Man- che Symptome verschwinden nach Abset- zen des Medikaments, andere bleiben bis zum Tod. Auch bei den Neuroleptika sind die Al- ten die Hauptkonsumenten: Die Hälfte der 207 Millionen Tagesdosen, die die Ärzte 1997 verschrieben haben, wurden von Menschen über 65 Jahren geschluckt. Den meisten Antidepressiva steht eben- falls keine Karriere als Lifestyle-Droge be- vor. Viele von ihnen können – nach wo- chenlanger Einnahme – zwar die Schwer- mut vertreiben, allerdings zum Preis von Mundtrockenheit, Benommenheit, Erek- tionsstörungen und schlechteren Gedächt- nisleistungen. Ihre Anwender fühlen sich oft wie gefangen unter einer Käseglocke. Erst Gemütsaufheller der neuesten Ge- neration wie Prozac (deutscher Handels- name: Fluctin) weisen deutlich weniger Ne- benwirkungen auf. In den USA ist Prozac zum Kultmedikament geworden, dem Zeit- schriften ganze Titelgeschichten widme- ten. Zum Objekt der Begierde wurde die Pille vollends, als sich herumsprach, dass sie sogar die Fettsucht günstig zu beein- flussen vermag. Für hunderttausende Amerikaner gehört Prozac bereits zum Leben wie der Kaffee am Morgen oder der Alkohol am Abend. Die vergleichsweise pharma- scheuen Deutschen hingegen vertrauen sich lieber anderen Mitteln an, um des de- pressiven Grundtons ihres Alltags Herr zu werden. Was Prozac den Amerikanern, das ist den Deutschen ihr altbewährtes Johannis- kraut. Schon Paracelsus lobte die Heil- pflanze im 16. Jahrhundert als Wunder- mittel gegen allerlei Gebrechen und so auch „gegen die dollen Phantaseien“. Ex- trakte dieser fast schon mythisch umrank- ten Pflanze sind frei verkäuflich in Re- formhäusern und Apotheken, ihre Ver- kaufszahlen steigen seit Jahren. Johanniskraut ist zahlreichen Studien zufolge tatsächlich wirksam gegen leichte und mittelschwere Depressionen; uner- wünschte Nebenwirkungen scheint es nicht zu geben. Das gilt nicht für alle Fläschchen aus der Hausapotheke. Spannungs- und Er- regungszustände lassen sich, so verspricht die Werbung, auch mit „Klosterfrau Me- lissengeist“ vertreiben (Slogan: „Nie war er so wertvoll wie heute“). Als Neben- wirkung dieses Trunks ist bei häufiger Einnahme Alkoholismus zu befürchten. Tatsächlich ist das Hausmittel mit den netten Ordensschwestern auf dem Etikett kaum mehr als Schnaps im Tarngewand der Arznei: „Klosterfrau Melissengeist“ ent- hält 79 Prozent Alkohol. Marco Evers

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che kognitive Fähigkeiten, wie zum Bei- spiel die Wahrnehmungsgeschwindigkeit, GEDÄCHTNIS trainiert – oder erwirbt man damit bloß anwendungsorientierte Fertigkeiten nach Art von Eselsbrücken oder Lösungsstrate- Knoten im Taschentuch gien? Fest steht: Durch Gehirnjogging lassen Verhilft Gehirnjogging zur geistigen Beweglichkeit im Alltag? sich bei den ausgiebig geübten und bei da- mit nah verwandten Aufgaben deutliche Viele Gedächtniswunder beruhen auf schlichten Tricks. Lerneffekte erzielen. Weitaus geringere Verbesserungen zeigen sich bei Aufgabentypen, die andersartig sind als die trainierten. Skeptiker wie Baltes gehen davon aus, dass beim Hirnmara- thon vor allem bestimmte wis- sensbasierte Fertigkeiten trai- niert werden. Darunter falle auch die Gewöhnung an die all- gemeine Testsituation, wodurch sich die geringe Verbesserung bei andersartigen Aufgaben er- klären lasse. Andere Forscher haben herausgefunden, dass auch Entspannungsübungen wie autogenes Training einen ähnli- chen Effekt haben. Doch die Begründer des Ge- hirnjoggings sehen das ganz an- ders. Sie sind sich sicher, dass durch ihre Methode, die seit ei- nigen Jahren offiziell „Mentales Aktivierungstraining“ (MAT) heißt, grundsätzliche, ja sogar

F. BOXLER F. die grundsätzlichste aller Fähig- Intelligenzforscher Lehrl: In vier Wochen fit für das „Superhirn“ keiten verbessert werde. „Ge- hirnjogging“, sagt Siegfried ase, Blase, blasen, Besen, Maul, zu erinnern oder um Gottes willen nicht Lehrl, Psychologe und Intelligenzforscher Baum, Bau, blau, malen, See, Beu- den nächsten Theatertermin zu versäumen, an der Universität Erlangen, „trainiert ge- Nle, Malve“ – das ging doch schon ist alles beim Alten. zielt den Kurzspeicher, die Zentralstelle ganz gut. Die alte Dame, Pensionsempfän- „Die Erfahrung zeigt“, sagt der Ent- des menschlichen Denkens.“ gerin in Bonn, lehnt sich entspannt zurück. wicklungspsychologe und Alternsforscher Der Kurzspeicher, dessen genaue Loka- „Bilden Sie wenigstens zwölf Wörter aus Paul Baltes vom Max-Planck-Institut für lisierung im Gehirn noch unbekannt ist, BLUMENVASE“, lautete die Aufgabe im Bildungsforschung in Berlin, „dass sich die gehört in den Bereich der sogenannten Übungsbuch für Gehirnjogging. Das regel- beim Gehirnjogging erworbenen Fertig- flüssigen Intelligenz, der Fähigkeit, Pro- mäßige Training in den letzten Wochen keiten nicht auf andere Bereiche übertra- bleme ohne Rückgriff auf Erfahrungen aus schien sich auszuzahlen. gen lassen.“ der Situation heraus zu lösen (siehe Grafik „Es macht Spaß“, sagt die 81-Jährige, Das war zunächst auch gar nicht so ge- Seite 210). „wenn du merkst: Das kann ich noch. dacht. Als Gehirnjogging Anfang der acht- Flüssige Intelligenz sei jedoch, so der Aber“, fügt sie nachdenklich hinzu und ziger Jahre erfunden wurde, eine bunte Entwicklungspsychologe Baltes, außer im denkt an all das, was im Vorwort ihres Mischung von Aufgaben aus Intelligenz- frühen Kindesalter, wenn sie auch noch Übungsbuches versprochen wird, „ob ich tests und Gedächtnisübungen, diente es wesentlich durch Lernen und Erfahrungen deswegen besser denken kann? Ich glaube, vor allem dazu, gelangweilte und unter- beeinflusst werden kann, fast ausschließlich das ist eher Spielerei.“ forderte Langzeitpatienten in Rehaklini- von biologischen Faktoren abhängig. Wel- Wie ihr ergeht es vielen alten Menschen. ken geistig wieder ein bisschen auf Trab zu che diese Faktoren genau sind, ist noch Gehirnjogging, oft als der perfekte Denk- bringen. (Schon nach drei Wochen Kran- umstritten. Die meisten Forscher sind sich und Gedächtnistrainer für Rentner ange- kenhaus sinkt der IQ durchschnittlich um einig, dass Gene eine Rolle spielen; ande- priesen, macht zwar Spaß und stärkt das 20 Punkte.) Die Methode hatte Erfolg. Die re meinen, die Ernährung sei bedeutsam Selbstbewusstsein, für den Alltag bringt es Patienten wurden wacher, motivierter, das (günstig: viele kleine kohlenhydratreiche jedoch nur sehr wenig. Selbstvertrauen wuchs. Einige machten so- Mahlzeiten), das Trinkverhalten (minde- So schnell die eifrigen Mentalsportler gar zu Hause mit dem Training weiter. stens zwei Liter pro Tag), ferner das Aus- schließlich „A“, „E“ oder „X“ in Zei- Als die Methode sich dann zu verbreiten maß des Medikamenten- und Alkoholge- tungsartikeln anstreichen können, Sätze begann, als Kurse in Volkshochschulen und brauchs – und vor allem das Alter. auf unbekannten Tastaturen schreiben, mit Altenheimen angeboten wurden und der Vom 20. Lebensjahr an, so Psychologe Zahlen jonglieren oder neue Wörter bil- Büchermarkt boomte, kam auch die syste- Baltes, nehme die flüssige Intelligenz ste- den können – wenn es darum geht, die Ein- matische wissenschaftliche Untersuchung tig ab. Daran könne auch das übliche Ge- kaufsliste für den nächsten Tag zusam- in Gang – und damit ein erbitterter Streit: hirnjogging kaum etwas ändern. „Wenn menzustellen, sich an Nachbars Geburtstag Werden durch Gehirnjogging grundsätzli- sich überhaupt jemals etwas hieran wird

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te es Defizite für eine Weile Klug & weise kompensieren. Zwei Hauptfaktoren Mit Gewinn könnte Ge- der Intelligenz „Kristallisierte Intelligenz“: hirnjogging im Krankenhaus „Flüssige Intelligenz“: LANGZEITSPEICHER eingesetzt werden. Wenn re- Sinnes- durch Filter- KURZSPEICHER eindrücke Die „kristallisierte In- gelmäßiges Üben in den Sta- ung, Fokus- Der Begriff „flüssige Intelligenz“ be- telligenz“ beruht auf Erfah- tionsalltag integriert würde, z. B. Noten sierung und zeichnet die Fähigkeit, neue Probleme rungen, die im Laufe des ließe sich der – auch für den lesen Umwandlung ohne Rückgriff auf Erfahrungen geistig Lebens gewonnen werden. wird die Fülle Umgang zwischen Patienten, zu lösen. Der „Kurzspeicher“, vergleich- Sie spiegelt sich z. B. im Schwestern und Ärzten fata- der Sinnesein- bar dem Arbeitsspeicher in einem Com- Wortschatz, im Wissen drücke auf die le – Intelligenzverlust durch puter, gilt als Leistungszentrale des und in Fertigkeiten wider. Langeweile verhindern. verarbeitbare menschlichen Denkens. Die Leistungen Menschen mit höherer Die eindeutige Stärke älte- Menge reduziert. der flüssigen Intelligenz fallen umso flüssiger Intelligenz ver- höher aus, je größer das Fas- fügen meist auch über rer Menschen, so Baltes, liege sungsvermögen des Kurz- ein umfangreicheres und jedoch im Bereich der kri- Aktion, Handlung speichers ist. tiefer gehendes Wissen. stallisierten Intelligenz, „dem z. B. Instrument spielen Wissenskörper des Lebens“. Es sei wichtig, so der Alterns- forscher, sie dort zu suchen. ändern lassen“, meint Baltes, „dann mit sieren. Routineabläufe, Gedächtnistricks, Die kristallisierte Intelligenz spielt auch Hilfe von Medikamenten oder Genmani- Knoten im Taschentuch – und vermutlich in einem anderen Bereich, der häufig mit pulation.“ auch der Trainingseffekt beim Gehirnjog- dem Gehirnjogging assoziiert oder sogar Die flüssige Intelligenz und damit der ging – laufen über diesen Mechanismus ab. verwechselt wird, eine entscheidende Rol- Kurzspeicher ist aber auch Voraussetzung Auch bei Menschen, bei denen ein Al- le: beim Gedächtnistraining. Allein durch zum Erwerb von Wissen und Erfahrung, der tersabbau („dementielles Syndrom“) ins- erlernte Tricks, durch Fertigkeiten, die hel- sogenannten kristallisierten Intelligenz. So- besondere bei der flüssigen Intelligenz fen, die Stärken des Gedächtnisses opti- lange sich die flüssige Intelligenz trotz des schon begonnen hat, lassen sich durch mal auszunutzen, lassen sich hier erstaun- Nachlassens im Alter oberhalb eines ge- Kompensation im Bereich der kristalli- liche Erfolge erzielen. wissen Schwellenwertes befinde, so Baltes, sierten Intelligenz durchaus noch posi- Der Erlanger Psychologe Lehrl bei- könne die Fähigkeit zum Erwerb von kris- tive Effekte erzielen. Dass Gehirnjogging spielsweise stand vor einer scheinbar un- tallisiertem Wissen ebenfalls erhalten blei- die Alzheimerkrankheit verhindern helfe, überwindlichen Aufgabe: Vier Kandidaten, ben. Und damit lässt sich vieles kompen- ist allerdings ein Märchen. Allenfalls könn- die vorher bei der Turtel-Show „Herz- Schnell im Kopf? TEST 1: TEST 2: Gegenwartsdauer Informationsverarbeitungs- Lesen Sie sich die Buchstaben einer So testen Sie das Fassungs- geschwindigkeit vermögen Ihres Kurzspeichers Zeile im Abstand von etwa einer Sekun- Um sich eine lange Reihe Lesen Sie sich die folgende de halblaut vor. Decken Sie die Buch- Die Kapazität des Kurzspeichers, von Gegenständen zu mer- Buchstabenreihe so schnell staben sofort danach ab, und schreiben ken, legt man diese in Ge- maßgeblich für die „flüssige wie möglich halblaut vor, und Sie sie rechts daneben auf. danken an verschiedenen Intelligenz“, ist einfacher und stoppen Sie dabei Ihre Lese- KMS präziser messbar als der her- (3) Haltepunkten eines bekann- zeit in Sekunden. TLGN kömmliche Intelligenzquotient (4) ten Weges ab, zum Beispiel (IQ). Sie setzt sich zusammen GZPLFVCNJWUSRTBKIBMZ CSHGW (5) von der eigenen Haustür bis aus der Geschwindigkeit, mit der ZBVELJ (6) ins Dachgeschoss. KLRJGFC (7) das Gehirn Informationen verar- 100 Informations- Um die Gegenstände zu beitet, und dem Zeitraum, wäh- = PTZRHGNO (8) Lesezeit verarbeitungs- rekapitulieren, sammelt man rend dessen empfangene Infor- geschwindigkeit TWPMENVHR (9) sie einfach vor dem inneren mationen – etwa Zahlen und Die längste Buchstabenfolge, die Sie Auge wieder ein. Bis zu 36 Wörter – im Bewusstsein unmit- Durchschnitt beim richtig wiedergeben konnten, entspricht der ihnen in der Sendung telbar verfügbar bleiben Erwachsenen: 15 bit der Gegenwartsdauer in Sekun- vorgesagten Begriffe konn- („Gegenwartsdauer“). Beides pro Sekunde den, im Durchschnitt: 5 bis 6 ten sich die ehemaligen lässt sich im Test bestimmen: Quelle: Siegfried Lehrl „Herzblatt“-Kandidaten auf diese Weise schließlich mer- Die Kurzspeicherkapazität lässt Informationsverarbei- X=Gegenwarts- Kurzspeicher- sich jetzt nach der folgenden tungsgeschwindigkeit dauer kapazität ken. Auch ältere Menschen Formel berechnen: bit /sec. sec. bit können diese Fertigkeiten Das Ergebnis ist die bewusst speicherbare Information in bit. Bei den meisten Erwachsenen beträgt sie 65 bis 95 bit. noch sehr gut erwerben. Die verwitwete Pensions- empfängerin in Bonn, die blatt“ aufgetreten waren, sollte er inner- Gedächtnismeisterschaften dabei. Jeder so schön mit der BLUMENVASE jonglie- halb von nur vier Wochen so fit machen, Zehnte, schätzt Lehrl, könne durch ge- ren kann, hat jedoch nicht vor, ihr Ge- dass sie in der Sat-1-Show „Superhirn“ als zieltes Training bis in diesen Bereich dächtnis auf diese spezielle Art zu ver- Gedächtniskünstler bestehen konnten: Wer kommen. bessern. sich aus einer Kette von Begriffen (Korb, Viele der Gedächtnistricks beruhen auf „Wenn man mit 81 ab und zu mal was Blatt, Haustür, Lebertran und so fort) mög- der Tatsache, dass sich das menschliche Ge- vergisst“, sagt sie, „ist das für mich nor- lichst viele merken kann, ist Sieger. hirn Bilder besser merken kann als Tatsa- mal.“ Wenn sie mit ihrem Gehirnjogging- Unmöglich, so was zu trainieren? Es chen. Einige Gedächtnishilfen waren sogar Übungsbuch fertig ist, möchte sie wieder klappte – und einige der Kandidaten sind schon im Altertum bekannt, zum Beispiel auf Kreuzworträtsel umsteigen. noch immer erfolgreich bei den deutschen „die Methode der Orte“ (Loci-Methode): Veronika Hackenbroch Werbeseite

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ALTER Nichts für Feiglinge

m hohen Alter hatte er noch was an der gegen hob an zu einem Lob des Alters. Angel, einen kapitalen Schwertfisch, Es könne „größte Freude“ bedeuten, Ilänger als sein Boot. Santiago, ein ku- nämlich dann, wenn der „wissenschaft- banischer Fischer, kämpft zwei Tage und liche und künstlerische Eifer“ so lange zwei Nächte mit der Beute, dann hat er sie währe wie das Leben selbst. Und Arbeit an der Bordwand vertäut. Als er den Hei- im Garten oder Weinberg runde das Ver- matstrand erreicht, hängt an seinem Boot gnügen. nur ein Gerippe. Haifische. So lange das Leben währt: Mit 71 Jahren „Der alte Mann und das Meer“, Ernest übernahm Michelangelo die Bauleitung Hemingways Meister-Erzählung, wird von des Petersdoms, mit 73 schrieb Kant die INTERFOTO dem alten Mann selbst auf eine heroische TELEBUNK „Metaphysik der Sitten“, mit 77 Theodor Formel gebracht: „Man kann vernichtet Ernest Hemingway Mae West Fontane den „Stechlin“, mit 80 vollendete werden, aber man darf nicht aufgeben.“ Verdi seine Oper „Falstaff“, mit 81 Jahren Hemingway, seinem Helden nicht gewach- Goethe seinen „Faust II“, mit 95 schloss sen, gab auf und vernichtete sich selbst. der Dirigent Stokowski einen Fünfjahres- Der alte Mann und das Gewehr. Vertrag mit einer Plattenfirma; und mit 99 „Alt werden ist nichts für Feiglinge“, zeugte Abraham, wenn die Bibel doch sprach Mae West, die Verwegene aus recht hat, seinen Sohn Isaak. Hollywood. Und ziemlich jeder Schreiber Lust oder Last, Befreiung oder Bürde: oder Künstler hat sich, einmal in die Jahre 2000 Jahre nach Cicero nimmt nun der gekommen, mit dem Alten Ego herumge- Konstanzer Literaturprofessor Helmut schlagen. Zwei Satiriker, Swift aus Dublin Bachmaier, 52, die römische Botschaft auf.

und Nestroy aus Wien, juxten fast wort- NYT In seiner Akademie Schloss Seeheim am gleich die ewige Crux: Jeder möchte lange Pablo Picasso Bodensee, einer Denkfabrik für Senioren, leben, aber keiner will alt werden. konzipiert er eine neue Wissenschaft: „Kul- Alt werden jedoch ist, immer noch, das turgerontologie“. Kulturelle Zeugnisse aus einzige Mittel, um zu hohen Jahren zu Philosophie, Literatur und Kunst sollen die kommen – und zu frappierenden Ansich- „Lust aufs Alter“ wecken, die „Chancen ten. Man müsse schon sehr lange leben, des Alters“ demonstrieren. sprach Picasso, „um jung zu werden“; er Und der Retter vom Bodensee kann starb, jung bis zum Schluss, mit 91 Jahren. starke Bataillone ins Feld führen: alte Und Sir John Gielgud, Englands königli- Weise, wie Lessings „Nathan“, alte Ver- cher Schauspieler und 95, gestand: Alt habe zauberer, wie Prospero in Shakespeares GASTAUD / SIPA GASTAUD er sich vor 50 Jahren gefühlt. CINETEXT „Sturm“; auch Frauen, die eine ganze Stadt Alter als Belle Époque? Jean Améry dia- Simone de Beauvoir John Gielgud korrumpieren (Dürrenmatts „Besuch der gnostizierte es als „unheilbare Krankheit“, alten Dame“) oder im hohen Alter mit ei- mündend in die „unausweichliche Nieder- nem sozialdemokratischen Schuster flirten lage“, den Tod; den gab er sich selbst. Si- (Brechts „Unwürdige Greisin“). „Professor mone de Beauvoir, Mutter aller Feminis- Unrat“, Heinrich Manns Studie eines Al- tinnen, sah das Alter als „Gegensatz zum ten, der aus Liebe zum Trottel wird, gehört Leben“, als seine „Parodie“. Trost reicht nicht dazu. ihr unser Mann vom Bodensee. „Das ist „Alt werden heißt“, sprach Goethe, „ein der Vorteil, wenn man hässlich ist“, neues Geschäft zu beginnen.“ Oder einen schreibt Martin Walser: „Das Alter zerstört alten Traum. Mit 74 spitzte Lukas Cranach

die Hässlichkeit.“ BILDERDIENST ULLSTEIN der Ältere den Pinsel und malte ein Selbst dem Lustmenschen Casanova Theodor Fontane Immanuel Kant Wunschbild: einen „Jungbrunnen“, in dem blieb im Alter nur die schwarze Kapuze Runzelweiblein zu knackfrischen Beauties „Melancholie“. Gramvoll musste er bereits mutieren. Und der US-Schriftsteller Scott mit 46 Jahren registrieren, „dass sich das Fitzgerald löste das Altersproblem radikal: schöne Geschlecht nicht mehr einfach bei Sein Held, Benjamin Button, kommt als meinem Anblick für mich interessiert“. Be- Greis zur Welt und wird jeden Tag jünger. rufsprobleme traten hinzu: Seine „Man- Auch die Krimi-Queen Agatha Christie neskraft“ hatte „schon seit acht Jahren all- fand für ihren Fall eine frappante Lösung. mählich abgenommen“. „Je älter ich werde“, verkündete sie, „de- Belle Époque oder Bitterkeit: Der Riss sto interessanter werde ich für meinen

ging schon durch die Antike. Euripides: AKGMann.“ BPK Ihr Mann war Archäologe. „Fluch dem Alter! Es bringt nur Leid, Cicero Agatha Christie „Was die Zeit dem Menschen an Haar Schmerz und Tod!“ Terenz: „Das Alter Berühmte Alte entzieht“, verkündete Shakespeare, „das selbst ist eine Krankheit.“ Cicero hin- Lust oder Last, Befreiung oder Bürde? ersetzt sie ihm an Witz.“ Fritz Rumler

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AFRIKA Diplomatische Öl-Offensive? euer Zoff um einen deutschen Spit- Nzendiplomaten: Der Botschafter im Tschad, Hubert Kolb, 53, bezieht in ei- nem für ein multinationales Konsortium angefertigten Werbevideo offen Position für ein heftig umstrittenes 3,5-Milliar- den-Dollar-Projekt der Ölindustrie. Die Multis Exxon, Shell und Elf Aquitaine wollen vom Jahr 2001 an in einem der fruchtbarsten Gebiete des Wüstenstaa- tes, dem Doba-Becken nahe der Gren- zen zu Kamerun und zur Zentralafrika- nischen Republik, 225000 Barrel Öl täglich fördern. Das Projekt, über des- sen Förderung die Weltbank im Okto- ber zu entscheiden hat, ist bei der Bundesregierung umstritten. Eine im vergangenen Jahr S. MORGAN / GREENPEACE vorgelegte Um- Protest gegen Plutonium-Transport in Großbritannien weltverträglich- keitsstudie wurde JAPAN als unzureichend zurückgewiesen; eine neue Unter- Tricks mit Mox suchung wird zur Zeit noch ge- eldungen über gefälschte Daten von Atomlieferungen haben neuen heftigen prüft. Dennoch MStreit um die Sicherheit der Kernkraft und Zweifel am Sinn des ehrgeizigen gibt sich Bot- japanischen Plutonium-Programms ausgelöst. Das Stromversorgungsunternehmen schafter Kolb in Kansai Electric musste vergangene Woche öffentlich zugeben, dass Kontrolldaten dem PR-Video für eine im November erwartete Lieferung von Mox-Brennelementen aus der bri- „absolut über- tischen Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield gefälscht wurden. Um Zeit zu sparen, zeugt davon, dass seien von den britischen Inspekteuren alte Prüfergebnisse über Form und Größe von

das Projekt für BUNDESBILDSTELLE Mox-Brennstäben benutzt worden. Eine Verwendung der Brennstäbe hätte schwe- den Tschad not- Botschafter Kolb re Unfälle oder Leckagen in Atommeilern provozieren können. Die Nachrichten wendig“ ist. Alle über die Mauscheleien beherrschten die Schlagzeilen nur wenige Tage vor zwei an- Probleme seien gelöst. Dabei sind mas- deren für diese Woche angekündigten Mox-Lieferungen per Schiff aus Frankreich und sive Eingriffe in Land und Natur unab- ebenfalls aus Sellafield. Atomkraftgegner und auch die Umweltschutzorganisation dingbar. Weil die Franzosen darauf be- Greenpeace protestierten gegen die Transporte und äußerten Bedenken gegen die stehen, den Rohstoff ausschließlich Sicherheit auch dieser Sendungen. Nun will die Regierung in Tokio prüfen, ob auch durch frankophones Gebiet zu beför- bei deren Herstellung getrickst wurde und entsandte Experten nach Europa. dern, kann eine Ölleitung durch den Nach Schätzung von Greenpeace hortet Ja- englischsprachigen Teil Kameruns nicht pan rund 30 Tonnen Plutonium – genug, um benutzt werden. Stattdessen müsste über 4000 Atomwaffen zu produzieren. Zwar eine etwa 1000 Kilometer lange neue hat Tokio den Atomwaffensperrvertrag un- Pipeline quer durch den kamerunischen terzeichnet, aber nach Befürchtungen in US- Regenwald sowie durch Siedlungsgebie- Sicherheitskreisen ist das zweitgrößte Indu- te der Pygmäen gebaut werden. Kritiker strieland jederzeit in der Lage, atomare bezweifeln auch, dass der in Aussicht Interkontinentalraketen zu bauen. Eine Serie gestellte Profit durch das Öl tatsächlich schwerer Unfälle und Vertuschungsskandale der Bevölkerung zugute kommt. Schon bringt Japans Atomindustrie allerdings seit jetzt verschwinden Öleinnahmen des Jahren in Verruf. Der Schnelle Brüter „Mon- Tschad großenteils in den Taschen der ju“ etwa ist auf Grund eines Natrium-Lecks Machthaber. Joschka Fischers Außen- bereits seit Dezember 1995 stillgelegt, nach- amt geht denn auch auf Distanz zu sei- dem die Betreiber wichtige Beweismittel ma- nem Mann im Tschad. Die PR-Aktion nipuliert hatten. Beim bisher schwersten des Botschafters gebe nur dessen „per- Atomunfall brannte es 1997 in der Wieder- sönliche Meinung“ wieder, so ein aufarbeitungsanlage Tokai, es kam zu einer AA-Sprecher zum SPIEGEL: Sie könne Explosion. 37 Mitarbeiter wurden verstrahlt,

bedauerlicherweise „zu Missverständ- weil ein Bericht gefälscht und rechtzeitiger AP nissen über die Haltung der Bundesre- Alarm verhindert wurde. Atomfabrik in Tokai gierung“ führen.

der spiegel 38/1999 217 Panorama

EUROPA Preis für EU-Kritiker ENTWICKLUNGSHILFE er geschasste EU-Beamte Paul van Tausend Schnitte DBuitenen, der Ende letzten Jahres mit einem Dossier Betrug und Vettern- ereits kurz nach seinem Amtsantritt wirtschaft bei der EU-Kommission an- Bsteht der neue Chef des Uno-Entwick- prangerte, soll späte Genugtuung erfah- lungshilfeprogramms (UNDP), Mark Mal- ren: Er wird am 12. Oktober in Brüssel loch Brown, vor einer heiklen Mission. Die- mit dem Europäischen Steuerzahler- se Woche will er in Bonn die Ministerin für preis 1999 ausgezeichnet. Der Europäi- wirtschaftliche Zusammenarbeit, Heide- sche Steuerzahlerbund will mit dieser marie Wieczorek-Zeul, und kurz darauf Ehrung die Verdienste des niederländi- schen EU-Bediensteten um mehr Trans- parenz in der EU-Kommission würdi- gen. Gegen van Buitenen, dessen Ent- hüllungen mit zum Sturz der alten Uno-Hilfslieferung im Sudan EU-Kommission unter Jacques Santer beigetragen haben, läuft weiterhin ein auch die dänische Regierung davon über- Disziplinarverfahren wegen Verstoßes zeugen, die angekündigten Kürzungen ih- gegen das Beamtenstatut. Es kann ihn rer Zuschüsse für die Entwicklungsarbeit seine Stelle und sogar den Pensionsan- wieder rückgängig zu machen. Die Bun- spruch kosten. Die Ehrung sollen der desregierung will im Zuge ihrer Haushalts- deutsche Vizepräsident des Europäi- sanierungen und auf Grund von EU-Ver- schen Parlaments, Ingo Friedrich, sowie pflichtungen die deutschen Mittel für das

der amtierende Präsident des Europäi- AP Uno-Programm im Etat für das Jahr 2000 schen Rechnungshofs in Luxemburg, UNDP-Chef Malloch Brown um 50 Prozent streichen – 42,5 Millionen Bernhard Friedmann, vornehmen.

WEIN ders gern“. Erst vergangene Woche sei- TSCHECHIEN en ihre letzten acht Flaschen des „Füh- Rechte Tropfen rerweins“ zu elf Mark das Stück über Kampagne gegen Klaus die Ladentheke gegangen. Die Händle- inen bitteren Nachgeschmack hinter- rin mag daran nichts Anstößiges erken- it einer ebenso ungewöhnlichen Elassen mehrere Weine, die eine nen. Viele Kunden fänden das Angebot Mwie fragwürdigen Propaganda-Ak- Händlerin im norditalienischen Tarvisio „witzig“, auch andere Läden hätten des- tion macht der Herausgeber eines Pra- (Friaul) anbietet. Die Etiketten der ed- halb „Hitler-Weine“ im Angebot. Der ger Anzeigenblatts, Josef Kudlá‡ek, 48, len Cabernet-Sauvignon- oder Merlot- Südtiroler Großhändler versucht offen- Stimmung gegen den Parlamentspräsi- Tropfen zieren Hitler-Porträts in Feld- bar unterschiedlichsten Geschmäckern denten und Ex-Regierungschef Václav herrenpose und Nazi-Parolen wie „Sieg gerecht zu werden. Auch Ché Guevara, Klaus, 58. Zunächst veröffentlichte der Heil“ oder „Ein Volk, ein Reich, ein Mussolini oder Sissi sind vereinzelt zu Chef der „Annonce“ (Auflage: 100000) Führer“. Vor allem Kunden aus Öster- haben. „Nur Toten“ würde jedoch diese auf der Titelseite ein Foto des Opposi- reich, so Ladenbesitzerin Margi Maizin- Ehre zuteil, sagt die Weinhändlerin: tionspolitikers Klaus. Unter der Über- ger, kaufen die rechten Weine „beson- „Der Papst kommt da nicht drauf.“ schrift „schädliches Wild“ offerierte der Blattmacher „fünf Millionen Kronen dem, der es beseitigt“. Jetzt legte der Mitbegründer der Partei Demokratische Union noch nach. In einem offenen Brief, ebenfalls auf Seite eins, bietet der gelernte Drucker der Klaus-Gattin Livia, 56, umgerechnet 270000 Mark, wenn sie ihren Mann bis zum 30. Sep- tember zum Rückzug aus der Politik bewege: Auf dem Weg in die zivilisierte Welt gebe es „nur ein Hindernis – Václav Klaus“. In seiner Kampagne ge- gen den Politiker, der auf Grund flotter Sprüche gegen die EU oder Meldungen über eine auffällige Nähe zur Partei- spenden-Affäre 1997 stark umstritten ist, lässt sich Kudlá‡ek auch nicht durch die Ermittlungsbehörden aufhalten. Die

W. FRITZ / CONTRAST W. prüfen zur Zeit den Vorwurf der Anstif- Hitler-Weine in Tarvisio, Angestellte tung zu einer Straftat.

218 der spiegel 38/1999 Ausland

ist ein Skandal,“ sagt der ehemalige Vize- präsident der Weltbank, „dass eine Orga- nisation, die 90 Prozent ihrer Mittel für die Ärmsten der Welt ausgibt, für das Kosovo oder die Einhaltung von EU-Währungszie- len zur Kasse gebeten wird.“ In nur kurzer Zeit seien die Mittel des UNDP auf Grund von Kürzungen durch die Geberländer ra- pide zurückgegangen – von 1,2 Milliarden US-Dollar 1992 auf nur noch 718 Millionen 1999. „Ihr tötet das Uno-Entwicklungshil-

feprogramm mit tausend Schnitten“, ap- AP pellierte Malloch Brown letzte Woche im Kandidatin Rehn geschäftsführenden Vorstand an die Mit- gliedsregierungen. Ungebrochen ist die Un- FINNLAND

AFP / DPA terstützung durch Künstler. Um zumindest einen kleinen Teil ihres Defizits wieder aus- Duell der Frauen zugleichen und ein groß angelegtes Inter- Mark. Dänemark plant Einsparungen von net-Projekt (NetAid) gegen Hunger und ei den Präsidentschaftswahlen im 23 Prozent, um Verpflichtungen zum Wie- Armut in der Welt zu promoten, plant die BJanuar kommt es zu einem unge- deraufbau im Kosovo nachkommen zu kön- Uno-Organisation am 9. Oktober drei Be- wöhnlichen Damen-Duell. Aussichts- nen. Beide Länder gehören traditionell zu nefiz-Konzerte in New York, London und reichste Kandidatin für die Nachfolge den stärksten Zahlern an die UNDP. Mal- Genf, zu dem sich Weltstars der Pop- und des Kosovo-Friedensvermittlers Martti loch Brown ist empört über den Schritt bei- Rockmusik angesagt haben. Mit dabei: Ahtisaari ist die ehemalige Uno-Son- der Regierungen, der andere zur Nachah- George Michael, Pete Townshend, Robbie derbeauftragte in Bosnien-Herzegowi- mung animiert und so die Uno-Arbeit zur Williams, Bryan Adams, David Bowie, na, Elisabeth Rehn, 64. Obwohl die Armutsbekämpfung massiv gefährde. „Es Bono von U2 und die Eurythmics. frühere Verteidigungsministerin, die für den kleinsten Regierungspartner in der Regenbogen-Koalition, die Schwedische Volkspartei, antritt, knapp zwei Jahre lang (bis August) nicht im Lande war, USA liegt sie in der Wählergunst weit vorn. Nach einer Umfrage von vergangener Regierung rüstet Schulen auf Woche wollten mindestens 38 Prozent der Wähler bereits im ersten Wahlgang usätzliches Wachperso- für Elisabeth Rehn votieren. Für die Znal, moderne Beobach- entscheidende Stichwahl kann sie, je tungskameras und elektroni- nach Gegner, auf 53 bis 67 Prozent sche Überwachungsanlagen rechnen. Erst Anfang des Monats hatte sollen die Sicherheit an Ame- sich die ehemalige Diplomatin zur er- rikas Schulen verstärken: neuten Kandidatur entschieden. Nach Fünf Monate nach dem Blut- einer Krebserkrankung wartete sie das bad an der Columbine High Okay der Ärzte ab. Als Rehns schärfste School in Littleton (Colora- Konkurrentin gilt derzeit die amtieren- do), bei dem zwölf Schüler de sozialdemokratische Außenministe- und ein Lehrer von Amok rin Tarja Halonen, 55. Für die „Rote“, laufenden Schulkameraden wie sie gern genannt wird, würden im erschossen wurden, verkün- ersten Wahlgang etwa 21 Prozent votie- dete US-Präsident Bill Clin- ren. Für die ebenfalls mitregierenden ton einen 106-Millionen- Grünen tritt die Europa-Abgeordnete Dollar-Plan, der solch mörde- Heidi Hautala, 43, an. Sie gehörte zwar rischen Tragödien künftig zu den großen Gewinnern bei der Brüs- wirkungsvoller vorbeugen sel-Wahl, ist jetzt mit drei Prozent aber soll. Das Programm, das nur Zählkandidatin. Härtester Gegner zunächst in 54 ausgewählten der beiden Spitzen-Frauen ist ausge- Schulbezirken erprobt wird, rechnet ein Bewerber, der seine Kandi- sieht nicht nur eine technolo- datur noch überhaupt nicht angemeldet gische Aufrüstung der Lehr- hat: Finanzminister Sauli Niinistö, Par- anstalten vor, sondern auch teichef der Konservativen, dürfte im

die Anstellung von zusätzli- D. SCHROEDER / SYGMA ersten Wahlgang auf 25 Prozent, in der chen Pädagogen und Sicher- Trauermal an der Columbine High School Stichwahl derzeit auf 47 Prozent hof- heitspersonal. Angesichts fen. Doch Niinistö, der sich offensicht- der Zahl der Opfer – mehr als 40 Jugendliche werden jährlich an US-Schulen ermor- lich im Kabinett wohler fühlt, ziert sich det – stellt auch das Justizministerium 17 Millionen Dollar bereit. Mit diesem Geld bislang ausdauernd und sucht nach ei- sollen in besonders gefährdeten Gemeinden Polizisten für den Spezialeinsatz in ner personellen Alternative. Die Ent- Schulen angeworben werden. scheidung soll diese Woche fallen.

der spiegel 38/1999 219 Ausland REUTERS Krisensitzung im Kreml am vorigen Montag mit Oberbürgermeister Luschkow (l.), zerstörter Wohnblock, festgenommene Verdächtige in

RUSSLAND „Das Chaos wird weitergehen“ Bombenterror in russischen Städten, Gefahr eines ausgeweiteten Krieges im Kaukasus, Korruption in den höchsten Rängen – kurz vor der fälligen Duma-Wahl steht das Land vor dem Zerfall oder einer Diktatur. Wer rettet Russland?

ie Bilder kannte Moskau seit dem Der Regierungschef kündigte eine „Li- gierung nicht einmal mehr in seiner eige- Herbst 1941 nicht mehr, als die quidierung der Basen der Terroristen“ und nen Wohnung zur Schlafenszeit geschützt. Ddeutsche Luftwaffe Russlands eine „politisch-militärische Regulierung“ Polizisten kontrollierten fast alle 30000 Hauptstadt angriff: Bombenopfer werden in der Kaukasus-Republik an. Mit solch Mietshäuser in Moskau und forderten den aus Haustrümmern geborgen, Kinderlei- preiswertem Populismus, der Russland teu- Bewohnern die Aufenthaltsgenehmigung chen vorgeführt, politische Führer und Ge- er zu stehen kommen kann, erntete der ab. Sie durchsuchen Keller und Ruinen, be- neräle rufen zum Kampf gegen den Feind. Geheimdienst-Oberst a. D. in der Duma wachen mit Schäferhunden Fabriken und Das Machtzentrum, eben noch weltweit im einhelligen Applaus – als gäbe es keine Par- Brücken. Hundertschaften unternehmen Blick wegen der Finanzskandale und Kor- teien mehr, sondern nur noch Russen. Razzien auf Märkten. Das ist schon der ruptionsvorwürfe gegen den Jelzin-Clan, Schon flog die Luftwaffe vergangene Wo- reale Notstand. präsentiert sich wie eine Frontstadt im che erste Angriffe gegen Tschetschenien. Die „Wirbelwind“-Macher konnten ei- Krieg. Dabei ist die „tschetschenische Spur“ zu nen weiteren Bombenanschlag auf ein 210 Menschen starben, als in Moskau in- den Attentätern, von der Putin vor den Ab- Wohngebäude im südrussischen Wolgo- nerhalb weniger Tage zwei große Wohn- geordneten sprach, bisher sehr dünn. donsk (17 Tote, mehr als 300 Verletzte) häuser in die Luft gesprengt wurden, „Wir haben die Täter identifiziert“, be- nicht verhindern. Und in der Nacht zum nachts, als die Bewohner schliefen. „Uns, hauptete Moskaus Vize-Polizeipräsident Freitag flog ein Haus in St. Petersburg in dem Volk Russlands, hat der Terrorismus Weldjajew. Bis vorigen Freitag wurden die Luft (zwei Tote) – auch die häufigen den Krieg erklärt“, konstatierte Präsident zwei verdächtige Tschetschenen in Moskau Gasexplosionen stürzen nun ganz Russland Boris Jelzin, 68. Im Kampf gegen den „in- verhaftet, vier Tonnen Sprengstoff samt 70 in Schrecken. neren Feind“ gelte es, „die Macht zu kon- Meter Zündschnur gefunden. Ein wichtiger In Wladiwostok erging ein Versamm- solidieren“. Zeuge konnte wieder verschwinden: Er lungsverbot sowie der Ratschlag, nach 22 Schon viele hätten „versucht, Russland hatte angezeigt, zwei Trupps mit je 30 Leu- Uhr zu Hause zu bleiben. Unter den Be- in die Knie zu zwingen“, ergänzte Premier ten slawischen Aussehens, aber unter tsche- suchern der Hauptstadt – täglich drei Mil- Wladimir Putin, 46. Das werde den Terro- tschenischem Kommando, empfingen für lionen – überprüft die Polizei in U-Bah- risten, diesen „tollwütigen Tieren“, nicht jeden Anschlag 50000 Dollar. nen und Autos speziell Fahrgäste mit gelingen.Als Feind benannte er die Rebel- Bei der staatlich inszenierten Terroris- südländisch-kaukasischen Gesichtszügen lenrepublik Tschetschenien im Kaukasus, tenjagd ging Effekthascherei vor Effek- (russischer Volksmund: „Schwarzärsche“). die Moskau in einem blutigen Feldzug tivität. Eine „Aktion Wirbelwind“ der Si- „Die antikaukasische Stimmung“, so ein nicht hatte niederzwingen können – jetzt cherheitsdienste und der Polizei fegt über russischer Ingenieur vom Flughafen Wnu- gleiche sie, so Putin, einem „großen terro- das Land. Sie soll dem Alpdruck entge- kowo, „ist so stark, dass jeder, der Zweifel ristischen Lager“. genwirken, das Volk werde von seiner Re- am offiziellen Feindbild hegt, als tsche-

220 der spiegel 38/1999 FOTOS: AFP / DPA (li. u. re.) AFP / DPA FOTOS: Moskau: Schützt die Regierung das Volk nicht einmal mehr in der eigenen Wohnung?

tschenischer Agent abgestempelt wird.“ liquidieren.“ Jetzt beteuerte Chattab, der des Beresowski-Clans“ und hat bereits ein Hysterie befällt die Hauptstädter. Die Ta- bärtige Islamisten-Guerrillero im Ché-Gue- Bündnis mit der nationalpatriotischen „Be- geszeitung „Wetschernaja Moskwa“ gab vara-Outfit, er habe „nie daran gedacht, wegung zur Unterstützung der Armee“ ge- Parolen aus wie zu Stalins Zeiten: „In der mit Bomben und Granaten schlafende Bür- schlossen. Deren Chef Wiktor Iljuchin ist heutigen Situation kann überflüssiger Ver- ger umzubringen“. ein Vordenker der Kommunisten im Parla- dacht nicht schaden.“ Bassajew zumindest hat in zwei Fällen ment und Vorsitzender des Duma-Aus- In einem Stadtrandbezirk stürmten denn bewiesen, dass er keine Rücksicht auf rus- schusses für Sicherheit. auch drei Nachbarn mit Knüppeln eine sische Zivilisten nimmt. 1991 entführte er Entsteht da eine Fundamentalisten-Front Wohnung in ihrem Hochhaus, sie vermu- eine Aeroflot-Passagiermaschine aus Mi- der nationalrussischen, kommunistischen teten dort einen Tschetschenen. Mütter neralnyje Wody in die Türkei. 1995 nahm und islamistischen Kräfte – gegen die Plä- karren morgens um fünf ihre Kinder durch er mit 50 Kumpanen im Krankenhaus ne Jelzins und Beresowskis? die Gegend, weil sie zu ebendieser Zeit er- von Budjonnowsk 1100 Menschen als Gei- Ein neuer Krieg im Kaukasus wäre kurz- neute Anschläge befürchten. seln, darunter schwangere Frauen und fristig geeignet, von den Korruptionsvor- Doch selbst mögliche Spuren zu tsche- Kinder (150 Tote). würfen gegen Jelzin und seine Umgebung tschenischen Verdächtigen beantworten Tschetschenen-Präsident Maschadow abzulenken. Jelzin könnte den Ausnahme- noch nicht die Frage nach den Auftragge- aber wiegelt ab: Bassajew, zeitweilig Vize- zustand verhängen. Das gäbe ihm die Mög- bern und Nutznießern der Terrorwelle. Armeechef und Premierminister seiner lichkeit, die Duma-Parlamentswahl im Denn das mafiose Moskauer Milieu mit Heimat, sei nur ein „gewöhnlicher Bürger Dezember und womöglich auch die Präsi- ungezählten Vorbestraften, Erpressbaren Tschetscheniens“, dem nun mal „niemand dentenwahl im kommenden Jahr auszu- und Besitzern falscher Pässe, dazu eine verbieten“ könne, an „irgendeinem Kon- setzen. spezifische Neigung zu gewalttätigem An- flikt teilzunehmen“. „Den Notstand durchzusetzen ist jetzt archismus sind ein fruchtbares Feld für Doch längst geht es im Kaukasus nicht aber äußerst schwierig“, urteilt ein Oberst, Geheimdienste verschiedener Provenienz. mehr nur um ein paar bewaffnete Aben- der jahrelang in der Anti-Terror-Abteilung Das Know-how, Häuser zu sprengen, teurer, die in den dagestanischen Bergen des KGB diente. Für die Kontrolle des stammt von Stalins Geheimpolizei (siehe jüngst scheiterten wie „Ché“ Guevara 1967 ganzes Landes, die Einhaltung der Sperr- Kasten Seite 222). in Bolivien. Politische Strategen der kau- stunde, die Zensur der Medien und Unter- Fahnder nahmen in Moskau Mitte Juli kasischen Islamisten suchen bereits nach drückung jeglicher Opposition braucht den tschetschenischen Staatssicherheits- Verbündeten in Russland gegen den Kreml, man „einen gigantischen Aufwand“, und minister Turpal-Ali Atgerijew, 30, für ei- und zwar gerade bei russischen Nationalis- viele Staatsschützer hätten kein Interesse, nen Tag fest. Der tschetschenische Stasi-Mi- ten und Nationalkommunisten. „Leibgarde für Oligarchen oder korrupte nister, ein enger Vertrauter von Staatschef Die selbst ernannte „Islamische Re- Politiker zu spielen“. Aslan Maschadow, verabschiedete sich in gierung Dagestans“ ruft die „Patrioten Einer wüsste vielleicht noch Rettung für Moskau mit dem Orakel: „Das Chaos wird Russlands“ auf, sich nicht auf ein Kriegs- die Kreml-Kamarilla und für sich selbst: weitergehen.“ abenteuer gegen Muslime im Kaukasus Beresowski. Der Oligarch mit einer Vor- Der Tschetschene Schamil Bassajew, 34, einzulassen, sondern gemeinsam gegen liebe für doppelte Staatsbürgerschaft (ne- der im August mit Getreuen mehrere „Oligarchen, ,Demokraten‘ und ähnliche ben der russischen noch die israelische) Grenzdörfer im russischen Dagestan be- Günstlinge des Westens“ Front zu machen. und doppeltes Spiel pflegt gute Beziehun- setzt hatte, tönte bereits Anfang Septem- Der gemeinsame Feind, so die Islamisten, gen auch zu tschetschenischen Geschäfts- ber gegenüber der „Berliner Zeitung“, es sei „das zionistische Kapital“ – womit vor leuten und Politikern. Kritiker trauen ihm werde „in Kürze Explosionen und Bomben allem der Finanzmogul Boris Beresowski zu, dass er je nach Bedarf dazu beitragen geben“. gemeint ist – „und sein treuer Diener Bo- kann, die russisch-tschetschenischen Be- Noch deutlicher wurde der Bassajew- ris Jelzin“. ziehungen zu verschärfen oder zu ent- Gefährte Chattab: „Wenn die Russen un- Ein mit den Kaukasus-Rebellen liiertes spannen. sere Frauen und Kinder umbringen, wer- „Islamisches Komitee Russlands“ in Mos- Derzeit stagnieren die Ermittlungen der den wir russische Frauen und Kinder kau ruft zum „Kampf gegen die Diktatur russischen Justiz gegen Beresowski, dem

der spiegel 38/1999 221 Ausland

Ermittler vorwerfen, er habe mitgeholfen, 250 Millionen Dollar aus Flugscheinerlösen der Aeroflot auf Schweizer Konten zu transferieren. Von Recherchen vor Ort Bomben unter Stalins Datscha kehrte der Staatsanwalt Nikolai Wolkow mit leeren Händen nach Moskau zurück. Wie sprengt man ganze Häuser zielgenau in die Luft? Anwälten der beiden Schweizer Firmen Das Know-how lieferte 1941 die sowjetische Geheimpolizei. gelang es, unter Hinweis auf das Ge- schäftsgeheimnis die Weitergabe von Un- cht junge Leute schlichen durch Die Mineure legten Sprengstoff auch terlagen an die russischen Ermittler zu eine unauffällige Tür in den in Leningrad. In Kiew wurde die La- verhindern. Nun muss das Schweizer Agroßen Saal des Moskauer Ho- dung unter der Prachtstraße Kre- Bundesgericht über die Übergabe der tels National. Sie hoben vier Quadrat- schtschatik nach dem deutschen Ein- Ermittlungsergebnisse entscheiden – bis meter Parkett ab und gruben mit ihren marsch im September 1941 gezündet, dahin können Monate vergehen. Spaten ein großes Loch. 25000 Kiewer verloren ihre Wohnung, Währenddessen kann sich Beresowski Sie schleppten die Erde in Zeltpla- hunderte deutsche Soldaten ihr Leben. relativ sicher wähnen. Immer wieder ver- nen auf einen in der Toreinfahrt war- Dem Sonderkommando 4a taugte das sorgen Moskauer Geheimdienstler die va- tenden Lkw. In die drei Meter tiefe als Vorwand, 33771 Kiewer Juden zu terländische Presse mit abgehörten angeb- Grube setzten sie Holzkisten, einen erschießen, im Massaker von Babi Jar. lichen Beresowski-Gesprächen, etwa mit halben Zentner schwer, mit insgesamt Bei Kriegsende mussten die Tschetschenen. Doch als seien ihm die vier Tonnen TNT-Sprengstoff.Am Ende OMSBON-Agenten den Regierungssitz Bombenanschläge geradezu willkommen kamen Experten, die eine Zündladung in Minsk, ein Theater, eine Hochschu- und als gelte es, die Reste der russischen anlegten und die Drähte kaschierten. le und ein Gefängnis in Charkow wie- Staatlichkeit der Oligarchen-Macht zu un- Alexander Bogomolow, 17, hatte der entminen, auch den Liwadija- terwerfen, beschuldigte Beresowski am fünfmal schriftlich Geheimhaltung ver- Palast auf der Krim, weil dort die Jalta- Donnerstag die russischen Geheimdienste sprechen müssen, deren Bruch mit der Konferenz mit Roosevelt und Churchill des „Verrates an den Interessen Russ- Todesstrafe geahndet würde. Seine Teil- stattfinden sollte, und auch – laut lands“. nahme an der Verminung im Oktober 1941, als die deutsche Wehrmacht kurz vor Moskau stand, enthüllte Bogomo- low erst im Januar dieses Jahres in der Zeitschrift „Rossiiskije westi“: „Von der Explosion wäre das ganze Gebäu- de in die Luft geflogen und ein riesiger Trichter hätte sich aufgetan.“ Bogomolow, später Presse-Attaché der Sowjetbotschaft in Bonn, hatte der Selbständigen motorisierten Schützen- brigade zur besonderen Verwendung (OMSBON) angehört, die für den Fall einer deutschen Eroberung Moskaus wichtige Bauwerke zur Sprengung – mit den Besatzern – präparierte. „Die Sprengmeister hätten genau in Bombenleger Bogomolow, Tatort Hotel National: „Ein riesiger Trichter hätte sich aufgetan“ dem Moment auf den Knopf gedrückt, wenn sich die Deutschen im Hotel zu Bogomolow – die Datscha Stalins eben- Der Milliardär weiß um die Sehnsucht einer Versammlung oder einem Fest- dort. der Russen nach einer ordnenden Hand akt anlässlich der Einnahme Moskaus In Moskau waren die Datschen von und einem starken Mann. Den würde er eingefunden hätten“, berichtet Bogo- Spitzenfunktionären gleichfalls zur gern als Pate protegieren und kontrol- molow. Er unterminierte auch das Ho- Sprengung vorbereitet worden, „aller- lieren. So unterstützt er nun den jetzigen tel Metropol, den Orchestergraben des dings nicht die Stalins“, behauptete der Krasnojarsker Gouverneur Alexander Bolschoi-Theaters, die damalige Re- oberste Aufseher der OMSBON-Leu- Lebed, 49, der sich selbst als potenziel- sidenz des Außenministeriums in te, Pawel Sudoplatow. len Retter des Vaterlandes sieht (siehe In- der Spiridinowka-Straße, das Gewerk- Dieser Supermann der Geheimpoli- terview Seite 223). schaftshaus – ehemals: Adelshaus – und zei hatte die Ermordung Trotzkis orga- Der gesundheitlich und politisch ange- die Bogojawlenija-Kathedrale. nisiert und die sowjetischen Atomspio- schlagene Jelzin könnte Lebed zum Pre- Als sein Trupp dort buddelte, ging ne in den USA mit angeleitet. Gleich mier ernennen, sich vorfristig aufs Altenteil er ins Kirchenschiff, um zu prüfen, ob nach Stalins Tod wurde er beschuldigt, zurückziehen, womit der General amtie- die Stimmen aus dem Untergrund zu die Bomben unter den Landhäusern render Präsident wäre. Der hätte die Mög- hören seien. Deutlich vernahm er ihre der Prominenz nicht entschärft zu ha- lichkeit, den noblen Schritt des Zaren mit Flüche, da empörte sich schon eine ben. Tückisch habe er geplant, per einer Amnestie in Sachen Korruption zu Kirchgängerin: „Antichrist, nimm die Fernzündung Stalins Nachfolger in die entlohnen und dem Jelzin-Clan einen eh- Mütze ab, du bist in einem Gottes- Luft zu jagen. renvollen Abzug zu sichern, camoufliert haus!“ Vom roten Samtvorhang im Ge- Sudoplatow wurde zu 15 Jahren Haft als Akt nationaler Versöhnung. werkschaftshaus und einem Billardtisch verurteilt, die er voll absaß. Er starb, Frieden mit den Tschetschenen könnte im Metropol schnitten die Gottlosen mit 89, vor drei Jahren in Moskau. das neue Regime dem Volk als Morgenga- sich Fetzen für Fußlappen ab. Fritjof Meyer be dazu bieten. Maschadow bekundet schon, zu Gesprächen mit Lebed sei er „je- derzeit bereit“. Uwe Klussmann

222 der spiegel 38/1999 „Furchtbar für die ganze Welt“ Alexander Lebed, Gouverneur der russischen Region Krasnojarsk, über Russland in Gefahr

SPIEGEL: Alexander Iwano- neuen großen Kaukasus- ten. Aber wer ist wirklich an der Seite des witsch, „meine Zeit wird Krieg und hofft erneut auf Präsidenten, wer? Keiner. Eine kommunis- kommen, Beschlüsse wer- Ihre Vermittlung. Werden tische Gefahr existiert ebenfalls nicht den je nach Lage gefasst“, Sie antworten? mehr. Es handeln andere. haben Sie vor kurzem auf Lebed: Nein. Das ist über SPIEGEL: Für den Westen war er die Sym- die Frage geantwortet, ob die Agenturen verbreitet bolfigur der jungen Demokratie. Sie noch ins Präsidenten- worden, aber es gab bisher Lebed: Der Westen hat viel Geld in Russ- amt streben. Werden Sie keinen direkten Kontakt. land hineingesteckt, das ist einfach geklaut jetzt eingreifen? SPIEGEL: Sie wären bereit? worden. Die Gelder waren dazu bestimmt, Lebed: Es wird noch schlim- Lebed: Wie sollte ich? Ich eine neue demokratische Gesellschaft bei mer kommen. Aber ich bin habe allein die Vollmachten uns aufzubauen – nun ist das Geld weg, jetzt Gouverneur der Regi- des Gouverneurs von Kras- aufgebaut wurde nichts. on von Krasnojarsk und nojarsk. Mag sich Russlands SPIEGEL: Der Rechtsaußen Schirinowski habe hier äußerst dringen- Führung damit befassen, fordert, Sie und den Geschäftsmann Be- de Aufgaben für das ge- das ist ihre Aufgabe. resowski zu verhaften, um weitere Provo-

samte Land zu lösen. Ich KASSIN P. SPIEGEL: In Moskau wollen kationen zu verhindern. Dahinter steckt beweise den Banditen, dass Lebed einige die Kaukasus-Repu- der Vorwurf, Sie selbst versuchten die Lage nicht etwa sie das Land re- blik bereits wieder „mit zuzuspitzen, um in den Kreml einziehen gieren, sondern Leute wie ich. Etwas Wich- Raketen auslöschen“, andere – wie Ober- zu können. tigeres gibt es derzeit gar nicht. Was mei- bürgermeister Luschkow – eine Mauer Lebed: Schirinowski hat gerade vor Jour- ne Pläne betrifft – über die sage ich nicht rund um Tschetschenien bauen. Ist die nalisten gesagt, er habe wie alle Russen einmal meiner Frau etwas. neue Krise hausgemacht? schon von Kindheit an geklaut. Bereits sei- SPIEGEL: Haben Sie keine optimistischere Lebed: Natürlich ist der Kreml schuld. Wie ne Mutter hätte aus der Kantine Essen mit- Diagnose für Ihr Land? können diese Apparatschiki, die niemals gebracht, sonst wären sie verhungert. Spä- Lebed: Wie denn? Bald wird der gesamte menschliche Innereien an den Zaun Nordkaukasus vom Krieg erfasst sein. Der haben fliegen sehen, solche Proble- Terrorismus hat das Land im Griff, aber me lösen – sie begreifen gar nicht, man tut einfach nichts. Drei Jahre haben worum es geht.Aber Tschetschenien die von Wahhabiten besetzten Dörfer in wollen sie auf der Landkarte ausra- Dagestan ein beeindruckendes Verteidi- dieren. Im Krieg 1994 habe ich vor- gungssystem aufbauen können, Moskau geschlagen, sie sollten ein Regiment aber sah einfach nur zu. Dass die Lage nun aufstellen, das nur aus ihren Kin- außer Kontrolle gerät, erklärt die zentrale dern und Enkeln besteht. Dann Macht schlicht und einfach mit der Frie- wären sie wirklich patriotisch, das densvereinbarung von Chassawjurt … ganze Land würde den Hut ziehen. SPIEGEL: … jenem Abkommen, mit dem Sie Aber das sind ja Leute, die organi- 1996 den Tschetschenien-Krieg beenden sieren nur für andere den Krieg. halfen. SPIEGEL: Der Westen ist entsetzt Lebed: Ja, man schreit danach, diesen Ver- über die Korruptionsvorwürfe ge- trag aufzukündigen. Da kann ich nur la- genüber Boris Jelzin und seiner Fa- chen. Russlands großer Präsident selbst hat milie. Glauben Sie, dass die Vor- ihn längst gekippt – als er am 12. Mai 1997 würfe diesmal aufgeklärt werden? formal mit Tschetschenien-Führer Aslan Lebed: Ich bin überzeugt: Es wird Maschadow Frieden schloss. Jelzin strich in keine ernsthaften Untersuchungen diesem Dokument jeden Hinweis auf Chas- geben und also auch kein Gericht. sawjurt. Somit blieb der Status Tsche- Jetzt macht sich eine „Kommission“ tscheniens ungeklärt, es gab kein Geld fürs nach New York auf, in der keine Wiederaufbauprogramm. wirklichen Fachleute sind. Das wird SPIEGEL: In Moskau heißt es, Sie wären die ein ergebnisloses Geschwätz. letzte Rettung, der Erlass über Ihre Ernen- SPIEGEL: Ist das zeitliche Zusam- nung zum amtierenden Premierminister menfallen der Korruptionsvorwürfe Russlands sei bereits unterschrieben. mit dem neuen Kaukasus-Krieg ein Lebed: Damit habe ich absolut nichts zu Zufall? tun. Unter dieser Führung kann mich nie- Lebed: Hier gibt es einen gewissen mand mehr auf irgendeinen staatlichen logischen Zusammenhang. Sehen Posten berufen. Sie: Das Land hat einen Präsiden- SPIEGEL: Einer aber hat Sie bereits drin- ten, rundherum dessen Familie,

gend um Hilfe gebeten – Tschetscheniens dann die linke und die rechte Op- REUTERS Präsident Maschadow. Er fürchtet einen position, linke und rechte Zentris- Krieg in Dagestan: „Der Kreml ist schuld“

der spiegel 38/1999 223 Ausland ter habe er in seinem Verlag Büromaterial mitgehen lassen, noch heute stecke er bei Empfängen Gabel, Messer oder Servietten OSTTIMOR ein – das sei nun mal die Wahrheit des Lebens. SPIEGEL: Nun ja. „Wir essen die Herzen“ Lebed: Unter den 18 Kandidaten auf seiner Bundesliste für die Dumawahlen steht an Jakartas Milizen drohen mit Spaltung der Inselhälfte und mit zweiter Stelle der Vorsitzende des Direk- torenrats des Aluminiumwerks von Kras- einem Guerrillakrieg. Für Indonesien könnte die nojarsk, gegen den zwei Untersuchungs- Mission der Friedenstruppe das Ende der Demokratie bedeuten. verfahren laufen – eines wegen Mordver- dachts. Noch zwei Übeltäter finden sich in erzweifelt starrt Maria Soares auf der Liste – Schirinowski hat Banditen den Flüchtlingstross, der nahe der höchster Klasse um sich geschart. VStadt Atambua über die Grenze SPIEGEL: Er bekämpft Sie … nach Westtimor strömt. „Wenn mein Baby Lebed: … weil ich verhindern will, dass sol- nicht gewesen wäre“, sagt die Bäuerin, an che Leute in die Duma gewählt werden. deren Brust ein Mädchen nuckelt, „dann Aber das ist inzwischen eine prinzipielle hätte ich einfach gewartet, bis die Milizen Frage: Wird unser Land – und damit ein mir den Kopf abschlagen.“ Neuntel der Erde – die Heimat von Bandi- Der Alptraum der Frau aus dem Dorf ten? Oder werden wir ein Land, das gesund Los Palos begann am 5. September. Kaum zu werden versucht und mit dem man gern hatte die Uno-Mission in Osttimor (Una- Umgang pflegt? met) verkündet, dass sich 78,5 Prozent der SPIEGEL: Sie haben versprochen, wenigstens Osttimoresen für die Abspaltung von In- in Ihrem Sprengel mit Kriminalität und donesien ausgesprochen hatten, hörte sie Mafia aufzuräumen. Bisher haben Sie sich wüstes Gebrüll vor ihrer Hütte: „Tod allen vor allem viele Feinde gemacht. Gibt es Anhängern der Unabhängigkeit!“ auch Erfolge? Wenige Minuten später stürmten bis an Lebed: Den wichtigsten habe ich bereits er- die Zähne bewaffnete Uniformierte die Tür reicht. Immer mehr Leute befreien sich und hieben mit Macheten auf ihren Mann von der Knute der Mafia, lösen sich von de- und die zwei Söhne ein. „Rette das Mäd- ren Geldsucht und wollen ehrlich arbei- chen“, waren die letzten Worte, die ihr

ten. Die Banditen stehen auf aussichtslo- sterbender Gatte hervorstoßen konnte. FOTOS: REUTERS sem Posten. Ich habe ein großes Problem: Dann trieben sie Maria mit dem Baby auf Präsident Habibie, Armeechef Wiranto Meine Vorgänger haben mir acht Milliar- einen Lastwagen und schafften sie in einer Herber Gesichtsverlust den Rubel Schulden hinterlassen. Ansons- 20-stündigen Fahrt nach Westtimor. ten habe ich die Situation im Griff, die Der Weg führte entlang der einzig pas- Streitmacht ab, die dieser Tage im Krisen- Wirtschaft kommt wieder leicht voran, sierbaren Küstenstraße durch abgebrann- gebiet eintrifft. Weil die indonesische wir treiben inzwischen sogar viel mehr te Dörfer. An den Stränden lagen ver- Armee das Gemetzel nicht beenden woll- Steuern ein … stümmelte Leichen. „Mein einziger te, hatte Präsident Bacharuddin Jusuf SPIEGEL: In Moskau dagegen herrscht Pa- Wunsch ist“, sagt die Frau, „dass sich das Habibie, 63, schließlich dem internationa- nik. Kirgisiens Präsident Akajew sieht be- Sterben meiner Landsleute gelohnt hat len Druck nachgegeben und die Friedens- reits die Gefahr, dass Russland wie wei- und meine Tochter irgendwann in ein frei- truppe ins Land gelassen. land 1991 die Sowjetunion auseinander- es Osttimor zurückkehren kann.“ Das Rund 8000 Soldaten aus einem dutzend bricht. Das übliche Untergangsszenario? hängt vom Erfolg der multinationalen Staaten, unter anderem aus Neuseeland, Lebed: Das ist leider eine reale Gefahr. Wenn das Land in einzelne Stücke zerfällt, die mit Atomwaffen ausgestattet sind, wird es furchtbar für die ganze Welt. Keiner hat seinerzeit bedauert, dass die Sowjetunion zerfiel – es gab keine Massenbewegung ge- gen die Auflösung der UdSSR, nicht mal die Kommunisten haben den Partisanen- kampf erklärt. Heute ist das anders: Nach acht Jahren scheinbar demokratischer Um- gestaltung herrschen chronisches Miss- trauen, Angst und Verbitterung. SPIEGEL: Warum sind Sie vorigen Freitag nicht zur Sondersitzung des Föderations- rats nach Moskau geflogen? Lebed: Warum denn? Der kann doch oh- nehin nicht ein Gesetz zur Einführung des Ausnahmezustands beschließen. Es gibt nichts einzuführen und nichts zu debattie- ren. Handeln muss man. Einfach nur zu- sammenzukommen und zu schwatzen – das ist nichts für mich. Interview: Christian Neef Australische Soldaten beim Training: Der Einsatz gleicht einem Himmelfahrtskommando

224 der spiegel 38/1999 Thailand, Malaysia, den Philippinen, Ita- in die Unabhängigkeit starten – sofern das ten, inzwischen 20000 Menschen ermor- lien, Kanada und Großbritannien, sollen Ergebnis des Referendums überhaupt in det. Friedensnobelpreisträger Carlos Belo unter Führung australischer Einheiten den absehbarer Zeit umgesetzt werden kann. konnte sich nur verkleidet und unter Völkermord stoppen und dem Votum für Die politische Lage wäre ähnlich brisant falschem Namen von der Insel retten; die Unabhängigkeit Nachdruck verleihen. wie in Bosnien. Zudem hätten es die Mör- Priester und Nonnen wurden erbar- Ob dies gelingt, ist offen. „Wir machen der leichter, sich einem möglichen Kriegs- mungslos umgebracht. Zu den Opfern uns keine Illusionen“, sagte Australiens Pre- verbrecherprozess zu entziehen, den die gehören auch Gusmãos Vater und der mier John Howard vergangene Woche, Uno-Hochkommissarin für Menschen- deutschstämmige Jesuitenpater Karl Alb- „natürlich kann es Verluste geben.“ Für sei- rechte, Mary Robinson, fordert. recht, der bis zuletzt Verfolgte in Sicherheit ne Mannen gleicht der Einsatz einem Him- Schon hegt Widerstandsführer José gebracht und Flüchtlinge mit Nahrungs- melfahrtskommando. Sie haben den Auf- Alexandre Gusmão, der präsumtive Präsi- mitteln versorgt hatte. trag, zunächst die Flugplätze der Städte Dili und Baucau zu sichern und anschließend in die Berge vorzustoßen. Dort ver- stecken sich rund 300000 Men- schen; sie sind zum Teil dem Hungertod nahe. Die Terrorbanden haben an- gekündigt, das Feld nicht wi- derstandslos zu räumen. „Die gottverdammten Ausländer werden schneller abziehen als die Amerikaner aus Somalia“, schimpft ein finster drein- blickender Mann im schwar- zen T-Shirt der Aitarak-Miliz. „Wir werden die Herzen der Australier aus der Brust reißen und essen.“ Er fährt in einem gestohle- nen Unamet-Geländewagen durch die Straßen von Atam- bua. Auf dem Vordersitz liegt schussbereit ein M-16-Sturm- gewehr. Einen „langen Guer- rillakrieg“ verspricht der Krie- ger, „damit Osttimor bei Indo- nesien bleibt“, und er weiß sich im Einklang mit einflussreichen Kräften in Jakarta – um trotz des Einmarsches das Gesicht zu wahren, kündigte Indone- sien am Donnerstag einen seit 1995 bestehenden Sicherheits- pakt mit Australien auf.

Nachdem die radikalen Na- AP tionalisten Osttimor bereits ge- Osttimoresische Vertriebene: „Ganz klar ein Genozid, von langer Hand geplant“ säubert haben, wollen sie nun von Westtimor aus, wo mittlerweile mehr dent eines unabhängigen Osttimor, den Yeni Rosa Damayanti, eine indonesische als 150000 Menschen in Flüchtlingslagern düsteren Verdacht, die Indonesier könnten Menschenrechtlerin, die bis vor kurzem im hausen, die Umsetzung des Wahlergebnis- die Frauen und Kinder in den „Konzen- Untergrund ausharrte, wurde Zeugin, wie ses weiter torpedieren. Sie verweigerten trationslagern“ von Westtimor als Geiseln Soldaten des TNI-Bataillons 745 im Bi- bis Ende vergangener Woche Hilfsorgani- nehmen, um dann das Thema „neu zu ver- schofssitz Baucau vermeintliche Sympa- sationen den Zugang zu den Camps. Im handeln“. thisanten eines freien Osttimors ausson- Osten erfolgte die erste Notversorgung der Der charismatische Gusmão, ein timo- derten und exekutierten – ein weiterer Be- Flüchtlinge aus der Luft; Indonesien er- resischer Nelson Mandela, verschanzt sich weis, dass Teile der Armee die Drahtzieher teilte widerwillig die Genehmigung, über seit seiner Freilassung aus dem Hausarrest des blutigen Treibens sind. den Bergen 40 Tonnen Reis, Kraftkekse in der britischen Botschaft in Jakarta, weil „Es handelt sich ganz klar um einen Ge- und Decken abzuwerfen. er ein Attentat fürchtet. In der Botschafts- nozid und um ethnische Vertreibungen, die „Ziel der Milizen und ihrer Hintermän- bar „Goose and Durian“ wirbt er ein- von langer Hand geplant waren“, sagt der ner in der Armee ist es“, sagt ein hoch- dringlich für „Versöhnung und Dialog“ und aus Deutschland gebürtige Jesuitenpater rangiger Geheimdienstoffizier in Jakarta, fleht die Armee an, „doch endlich ihr Be- und Philosophieprofessor Franz Magnis- „möglichst viele Distrikte des völlig ent- nehmen zu überdenken“.Auf dem Hof ha- Suseno in Jakarta. völkerten Osttimors mit den eigenen Leu- ben die Briten blau-weiße Plastikplanen Schon im Juni waren geheime Pläne ten zu füllen.“ aufgehängt; so ist Heckenschützen die des Ministeriums für Verteidigung und Si- Gelingt es ihnen, sich in den Gebieten Sicht genommen. cherheit aufgetaucht, die vorsahen, die ge- nahe der Grenze zu Westtimor festzuset- Die Soldateska und ihre Helfershelfer samte Infrastruktur zu zerschlagen, falls zen, würde Osttimor als gespaltene Nation haben, nach Schätzungen von Kirchenleu- sich Osttimor von Indonesien lossagen soll-

der spiegel 38/1999 225 Ausland te. Armeechef und Verteidigungsminister schaft ablegen muss, warum er die Frie- bürger davon aus, dass Osttimor sich Wiranto, 52, hatte bereits im Frühjahr den denstruppe ins Land holte – ein höchst un- 1976 der größten muslimischen Nation ehemaligen Chef des militärischen Ge- gewöhnlicher Vorgang und Ausdruck der der Erde freiwillig angeschlossen hat. Die heimdienstes Zacky Anwar Makarim, 51, geschwächten Position des Präsidenten. meisten Politiker und Generäle wieder- zur Koordination der Milizen auf die kri- Auch die Opposition, die noch im Früh- um argwöhnen, eine Abspaltung führe zu sengeschüttelte Insel abkommandiert. Der jahr während eines farbenfrohen und fröh- einer raschen Balkanisierung des Archi- Gefolgsmann von Habibies Vorgänger Su- lichen Wahlkampfes für eine Erneuerung pels, mithin zum Zusammenbruch des harto war in Dili als harter Hund bekannt des Landes sowie gegen Korruption und Landes. – und ausgerechnet er ist seit vergange- Vetternwirtschaft trommelte, hat versagt. Habibie unterschätzte bei seinem über- ner Woche für die „Evakuierung der Der Genozid am Rande des Archipels war raschenden Angebot vom Januar, die ehe- Flüchtlinge“ aus der umkämpften 27. Pro- den Reformparteien kein Anlass, ihre An- malige portugiesische Kolonie möglicher- vinz zuständig. hänger zu mobilisieren. weise in die Unabhängigkeit zu entlassen, 16 Monate nach dem erzwungenen Wahlsiegerin Megawati Sukarnoputri den Widerstand in der Armee. Er hatte sich Rücktritt von Suharto und fast vier Mona- ließ vorige Woche ihre Getreuen im Stadt- von der Meinung muslimischer Intellek- te nach den ersten freien Wahlen in Indo- tueller leiten lassen, das katholische Ost- nesien seit 1955 zeigt sich, dass die mit 209 Wer sich gegen die timor passe ohnehin nicht so recht ins Millionen Einwohnern viertgrößte Nation mächtigen Militärs stellt, hat Staatsgefüge. Doch die Herren über die der Welt den nächsten Demokratietest Streitkräfte, die in den letzten 24 Jahren nicht bestanden hat. Zwar beteuern die sein Leben verwirkt über 20000 Mann auf der Insel verloren, Generäle und Obristen immer wieder, sie empfinden die Trennung als herben Ge- wollten „demokrasi“ und „reformasi“ ver- parlament von Jakarta einen General- sichtsverlust. wirklichen. Doch bei der Bewährungspro- major, Repräsentant des starken Militärs, Nach dem Debakel von Dili werden dem be fielen sie ins gewohnte Herrschaftsmu- zum Sprecher wählen. Die Opposition will weltoffenen Habibie, der in Deutschland ster zurück: Wer sich gegen ihren Willen es sich weder mit der Armee noch mit all als Ingenieur ausgebildet wurde und es stellt, hat sein Leben verwirkt. jenen Landsleuten verderben, die tief ge- zum Vizepräsidenten beim Flugzeugbauer Skrupellos setzten sich die Militärs über kränkt sind, dass die Osttimoresen ihnen MBB brachte (Spitzname: „Rudi“), bei den die Vorgaben der Regierung hinweg. Schon den Rücken kehren wollen. Präsidentschaftswahlen im November warnt Habibies außenpolitische Beraterin Vorige Woche protestierten Studenten kaum noch Chancen eingeräumt. Selbst in und Sprecherin Dewi Fortuna Anwar, in den Straßen der Hauptstadt gegen die seiner Regierungspartei Golkar wird im- „rechte nationale Kräfte“ würden „den „nationale Schande“ einer fremden Frie- mer häufiger ein anderer als nächstes Übergang Indonesiens zur Demokratie ge- denstruppe im eigenen Land. Durch die Staatsoberhaupt genannt: der mächtige fährden“. Habibie selbst wird am Montag jahrzehntelange Propaganda Suhartos in- Schattenmann Wiranto. Jürgen Kremb, vor das Parlament zitiert, wo er Rechen- doktriniert, gehen sie wie viele ihrer Mit- andreas Lorenz SPIEGEL-GESPRÄCH „Wie eine chronische Krankheit“ Der israelische Premier Ehud Barak über sein Verhältnis zu den Deutschen, die Friedenschancen im Nahen Osten und die Beziehungen zu den arabischen Nachbarn

SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, Sie sind Barak: Ja, Deutschland ist Deutschen allein oder die der erste ausländische Premier, der diese und bleibt ein besonderes Belohnung eines Geläuter- Woche zum Staatsbesuch an den neuen Land, mit dem uns eine ten. Sie spiegelt nur die deutschen Regierungssitz in Berlin kommt. einzigartige Beziehung ver- Normalisierung der Ver- Kostet Sie das als Jude einige Überwin- knüpft. Die Vergangenheit hältnisse in Europa wider. dung, fühlen Sie gar Beklemmung? lässt sich nicht auslöschen. Die Deutschen hatten da- Barak: Psychologisch und politisch hat Aber es ist eindeutig auch bei mehr Glück als andere sich die Situation mit dem Umzug der ein völlig anderes Deutsch- Völker. deutschen Regierung von Bonn nach land entstanden – eine sta- SPIEGEL: Trotzdem wird Berlin natürlich geändert. Deutschland bile, sensible und dynami- dieser historische Glücks- spielt eine neue Rolle in der Welt. Aber sche Demokratie, an der fall von vielen Deutschen Vorbehalte habe ich nicht. Wir respektie- niemand Zweifel hegen als Ermächtigung verstan- ren die Entscheidung des deutschen kann. den, nun wieder unbefan- Volkes, dass Berlin wieder seine Haupt- SPIEGEL: Vielen galt die Tei- gen ihre nationalen Inter- stadt sein soll, trotz des Bösen, das von lung Deutschlands lange als essen in Europa und der

dort ausging. verdiente Strafe für die A. BRUTMANN Welt geltend zu machen. SPIEGEL: Ist Deutschland wegen seiner Verbrechen der Nazi-Herr- Ministerpräsident Barak Barak: Wir haben allmäh- schrecklichen jüngeren Vergangenheit im- schaft. Ist in Ihren Augen lich ein selbstbewusstes de- mer noch ein besonderer Staat für Sie? mit der Wiedervereinigung die Sühnezeit mokratisches Deutschland im Herzen Eu- abgeschlossen? ropas entstehen sehen, das eine Brücke zu Barak: Die deutsche Einheit war das natür- Osteuropa und anderen Staaten schlagen * Am 4. September in Scharm al-Scheich mit Jorda- niens König Abdullah (2. v. l.), Ägyptens Präsident liche Ergebnis des Endes des Kalten Krie- will. Das ist ein gutes Omen für die Zu- Mubarak und US-Außenministerin Albright. ges, sie ist deshalb nicht das Verdienst der kunft. Ich glaube, es gibt heute nieman- DPA Partner Barak, Arafat bei Unterzeichnung des Wye-Zusatzabkommens*: „Es ist ein Frieden zwischen Feinden“

der spiegel 38/1999 227 den, der sich ernsthaft vor deutschen ma- nipulativen Machtspielen fürchtet. SPIEGEL: Beunruhigen Sie die rechtsextre- mistischen Übergriffe auf Ausländer in Deutschland? Barak: Wir Israelis und die Juden überall auf der Welt reagieren sehr empfindlich auf den kleinsten Zwischenfall, den Neo- nazis in Deutschland verursachen – sehr viel heftiger als auf ähnliche Auswüchse, die sporadisch auch immer in anderen Län- dern auftreten können. Trotzdem bleibt das neue Deutschland für mich eine Inspi- ration: ein Symbol für den Sieg der Freiheit in Europa. SPIEGEL: Der israelische Präsident Eser Weizman sagte während seines letzten Deutschlandbesuchs, er verstehe nicht, wie Juden heute in Deutschland leben können. Teilen Sie diese Meinung? Barak: Ich gebe nie vor, mich in die Seele anderer hineinzuversetzen. Ich kann nie- manden dafür verurteilen, warum und wie er eine bestimmte Entscheidung getroffen hat. Wenn sich Juden entschließen, in Deutschland zu leben, respektiere ich das. SPIEGEL: Vor zehn Jahren hätte niemand den radikalen politischen Wandel in Euro- pa für möglich gehalten. Könnte ein solcher Durchbruch auch hier, im mannigfach zer- rissenen Nahen Osten, gelingen?

Barak: Der Unterschied ist gewaltig, man REUTERS kann die Lage überhaupt nicht vergleichen. Palästinenser-Protest gegen jüdische Siedlungen: „Einzige Garantie ist ein starkes Israel“ Ausland

Als ich noch in der Armee war, nahm man die sich nicht verteidigen können. Die ein- Barak: Wir müssen eine Reihe von großen mich einmal mit dem Hubschrauber auf zige Garantie für unsere weitere Existenz Siedlungsblocks für die Mehrheit der dort einem Flug entlang der innerdeutschen im Nahen Osten ist ein starkes Israel – auch lebenden Juden schaffen. Der Rest des Grenze mit. Man konnte sehr plastisch dann, wenn wir hoffentlich bald Friedens- Westjordanlandes soll palästinensisch sein, sehen, wie unterschiedliche politische Sys- verträge mit allen unseren Nachbarn un- ohne dass ich jetzt genaue Rechnungen teme Menschen, die die gleiche Sprache, terzeichnet haben. darüber aufstellen will, wie groß er am Geschichte und Kultur haben, auseinander SPIEGEL: Israel muss Ihrer Ansicht nach für Ende sein wird – ob 40, 45 oder 55 Prozent gerissen hatten. Trotzdem blieben sie Brü- immer militärisch übermächtig bleiben? des Territoriums. der, wahre Brüder. Barak: Es wird vielleicht noch eine Ge- SPIEGEL: Sie bedienen sich ganz schön SPIEGEL: … was man von Israelis und Paläs- neration dauern, bis sich die Grund- großzügig … tinensern nicht behaupten kann … einstellung der Araber gegenüber Israel Barak: Das Wesentliche ist, dass es keinen Barak: Der schwierige, hundert Jahre dau- verändert hat. Wir Politiker können die Rückzug auf die Grenzen von 1967 vor ernde Konflikt zwischen uns und unseren politischen Strukturen für Abkommen er- dem Sechstagekrieg geben wird. Wir Nachbarn, den Palästinensern, ist wie eine arbeiten, die weniger Feindseligkeit mög- werden keine fremden Streitkräfte westlich chronische Krankheit. Uns trennen unter- lich machen. Wissen Sie, der Unterschied des Jordan dulden. Wir werden auch kei- schiedliche Religionen und Kulturen. Viel zu Deutschland ist doch folgender: Sie nem palästinensischen Flüchtling die Rück- Blut ist geflossen, böse Erinnerungen hal- suchten nach Wegen zur Vereinigung, bei kehr nach Israel erlauben. Und Jerusalem ten den Hass wach. Der Streit ums Land uns geht es darum,Wege zu finden, wie wir ist und bleibt die vereinte, ungeteilte überlagert alles. Die Situation hier ist viel- uns voneinander trennen können. Hohe Hauptstadt Israels. leicht noch explosiver als in Belfast oder Zäune machen gute Nachbarn. SPIEGEL: Mit diesen vier Neins werden sich auf dem Balkan. SPIEGEL: Sie wollen doch nicht etwa eine die Palästinenser niemals abfinden. SPIEGEL: Dennoch sind Sie mit dem An- Art Berliner Mauer um die Palästinenser Barak: Ich glaube, dass wir mit all diesen spruch angetreten, nun endlich Frieden zu errichten? Grundsätzen und Bedingungen sehr wohl schaffen – spätestens bis September 2000, Barak: Das ist nicht der Punkt.Aber um ko- einen Weg finden können, wenn wir es nach Ihrem selbst gesetzten Zeitplan. operieren zu können, müssen wir wissen: ernst meinen. Barak: Doch es ist ein Frieden zwischen Bis hier ist Israel, von da ab ist palästinen- SPIEGEL: Aber wie? Feinden … sisches Gebiet, wie immer dieses künftig Barak: Ich werde doch die Verhandlungen SPIEGEL: … aus dem keine Freundschaft er- definiert sein mag. Trennung ist der Schlüs- jetzt nicht über den SPIEGEL führen. Wir wachsen kann? sel zum Frieden. müssen mit den Palästinensern reden. Barak: Wir leben in einer ungemein schwie- SPIEGEL: Wie können Sie sich sauber von- SPIEGEL: Haben Sie denn volles Vertrauen rigen Gegend.Wir sind nicht in den Nieder- einander trennen, wenn so viele jüdische in Ihren Partner Jassir Arafat? landen. Hier gibt es kein Mitleid für die Siedlungen inmitten der Palästinenser- Barak: Ich respektiere ihn. Arafat ist der Schwachen, keine zweite Chance für die, gebiete verbleiben? Anführer seines Volkes, er vertritt die In- Ausland

Barak: Inoffizielle Kontakte und Vor- SPIEGEL: Aber Sie haben ihn nie persönlich gespräche hat es ja schon früher gegeben. getroffen? Es braucht ein bisschen Zeit, bis wir die- Barak: Nein, ich habe nie von Angesicht zu sen Prozess wieder in Gang bringen. Ich Angesicht mit ihm sprechen können. sehe keinen Grund, warum Assad Ver- SPIEGEL: Ägyptens Präsident Anwar al-Sa- bindung mit meinen Vorgängern Schamir, dat leitete 1977 die Wende mit seinem Rabin, Peres und sogar Netanjahu auf- spektakulären Besuch in Jerusalem ein. Er- nahm, aber mit mir nicht sprechen hoffen Sie von Assad eine ähnliche Geste? sollte. Barak: Ich wäre sehr glücklich, wenn Assad SPIEGEL: Haben Sie denn schon persönliche nach Jerusalem käme, aber ich kann Ihnen Signale von ihm empfangen? nicht sagen, ob das für ihn eine realistische Barak: Wir haben Kontakt über verschie- Option ist. Ich für meinen Teil würde schon dene Kanäle. Ich bin zuversichtlich, dass morgen nach Damaskus reisen, ohne Vor- Assad über kurz oder lang einen neuen bedingungen, einfach um einen Anstoß zu

AFP / DPA Anlauf für Verhandlungen mit Israel un- geben. Aber ich glaube nicht, dass ich eine Armeechef Barak (1994)* ternehmen wird. Einladung bekomme, bevor es Frieden gibt. „Israel ist ein sehr steiler Berg“ teressen der Palästinenser. Das ist keine Frage von Freundschaft. Er ist derjenige, mit dem wir uns an den Verhandlungstisch setzen müssen. Ich kann mir keinen ande- ren aussuchen. SPIEGEL: Arafat ist offenkundig nicht mehr im Vollbesitz seiner physischen Kräfte. Sei- ne Nachfolge ist ungeklärt. Liegt darin ein zusätzliches Risiko für die Verhandlungen? Barak: Ich habe ihn geistig hellwach, schnell und konzentriert erlebt. Er hat das Heft in der Hand. SPIEGEL: Der Abschluss, den Sie mit ihm an- streben, klingt allerdings eher nach einem Friedensdiktat als nach einem partner- schaftlichen Vertrag. Sie selbst stellen nicht- verhandelbare Bedingungen, und von den Palästinensern erwarten Sie Flexibilität. Barak: Ich glaube, dass genug Spielraum bleibt. Wir müssen unsere eigenen lebens- wichtigen Interessen verteidigen, aber ebenso daran denken, dass es auch paläs- tinensisches Leid, palästinensische Inter- essen und Bedürfnisse in diesem Konflikt gibt. Im Moment können wir noch keine Lösung, auch nicht in groben Umrissen, zu Papier bringen. Aber wir haben keine Al- ternative – die wäre entweder eine Situa- tion à la Kosovo oder der Marsch in eine Sackgasse, mit einseitigen Schritten auf je- der Seite. Damit würde der Countdown zu einer neuen Runde der Gewalt eingeleitet. SPIEGEL: Bis hin zum Krieg? Barak: Was wird ohne Friedensabkommen geschehen? Wir werden unsere Toten be- graben, sie werden ihre Toten begraben, und dann müssen wir doch wieder ver- handeln – über die gleichen Themen und Probleme wie jetzt. Also lasst uns die Sa- che nun zu Ende bringen, so schwierig es auch sein mag. Israel steht vor der Frage: Wir sind stärker als unsere Nachbarn, aber wir müssen uns entscheiden, ob wir für im- mer im Kriegszustand leben oder ob wir aus innerem Selbstvertrauen heraus Frie- den schließen wollen. SPIEGEL: Gilt das auch für Syrien? Präsident Hafis al-Assad hat sich offiziellen Frie- densgesprächen bisher verweigert.

* Mit Premier Rabin und Außenminister Peres.

230 der spiegel 38/1999 SPIEGEL: Sie scheinen bereit, die Golan- Barak: Ich bleibe dabei: höhen zu räumen, was erwarten Sie im Ge- Bis zum 7. Juli nächs- genzug von den Syrern? ten Jahres rücken wir Barak: Ich kann hier natürlich noch nicht ab. den Inhalt eines Kompromisses skizzieren, SPIEGEL: Alle Ihre Vor- aber wir haben viele Probleme zu lösen: gänger sind an der Wasser, Terrorismus, die Lage im Libanon, nahöstlichen Quadratur

Frühwarnsysteme auf dem Golan, Sicher- A. BRUTMANN des Kreises gescheitert. heitsarrangements, die Öffnung von Bot- Barak, SPIEGEL-Redakteure*: „Hohe Zäune, gute Nachbarn“ Was stimmt Sie so zu- schaften, die Grenze und die Öffnung versichtlich? von Übergangsstellen. Erst wenn wir die SPIEGEL: Obwohl eine Übereinkunft noch Barak: Ich bin entschlossen, alles zu tun, grundsätzliche Haltung Assads zu all die- in weiter Ferne zu liegen scheint, haben was in meiner Macht steht. Ich kann nichts sem kennen, können wir uns darüber klar Sie schon den Abzug Ihrer Soldaten aus versprechen, denn es braucht zwei zum werden, wie weit wir gehen wollen. der besetzten Sicherheitszone im Süd- Tango. Ich habe mein ganzes Leben in Uni- libanon versprochen. Stehen Sie weiter form verbracht und glaube an das, was * Annette Großbongardt, Stefan Aust, Romain Leick. dazu? wohl Otto von Bismarck einmal gesagt hat: „Man kann viel mit Bajonetten anfangen, man kann nur nicht darauf sitzen.“ Wir sind eine bis zu den Zähnen bewaffnete Nation, aber ein Friedensprozess wird uns nur noch stärker machen. SPIEGEL: Weil Sie dadurch den Ruch einer Unterdrückernation loswürden? Barak: Warum sollen wir zweieinhalb Mil- lionen Palästinenser kontrollieren? Das würde auf Dauer zu einem Apartheid- system führen oder zu einem binationalen Staat. Ich ziehe ein kleineres, aber homo- genes Israel vor, das seiner Identität und seinen Werten treu bleibt. SPIEGEL: Warum gewähren Sie den Palästi- nensern nicht endlich ihren eigenen Staat? Barak: Nur die Verhandlungen können so et- was ergeben. Selbst führende Minister in der Regierung meines Vorgängers Benjamin Netanjahu räumten ein, dass faktisch ein palästinensisches Gebilde im Entstehen ist. SPIEGEL: In einem Jahr soll das endgültige Abkommen stehen. Ist das realistisch? Barak: Wir haben uns vorgenommen, uns binnen fünf Monaten in einem Dokument von vielleicht zehn Seiten über die grundsätzliche Richtung zu einigen. Wenn wir bis dahin dieses Rahmenabkommen nicht hinkriegen, werden wir den endgül- tigen Friedensvertrag, der ungefähr Bibel- format haben wird, auch in fünf Jahren nicht abschließen können. SPIEGEL: Mehrmals schien seit Oslo und dem legendären Händedruck zwischen Ra- bin und Arafat in Washington schon ein Durchbruch zum Greifen nahe. Stattdessen schleppt sich der Friedensprozess wie ein Endlos-Drama dahin. Können auch Sie dar- in zum tragischen Helden werden? Barak: Ich bin Soldat, setze mir ein klares Ziel und versuche, es auf geradem Weg zu erreichen.Vielleicht müssen wir einige be- sonders vertrackte Fragen zurückstellen, vielleicht müssen wir uns mit einem er- neuten Interimsabkommen zufrieden ge- ben. Richtig gefährlich wird es, wenn wir uns gar nicht einigen. Wie David Ben- Gurion bei der Staatsgründung sagte: Isra- el ist ein sehr steiler Berg. Es gibt nur zwei Möglichkeiten – wir erreichen den Gipfel, oder wir stürzen ganz tief ab. SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir dan- ken Ihnen für dieses Gespräch.

der spiegel 38/1999 231 Ausland

ÖSTERREICH Tante Joleschs Irrtum Bundeskanzler Viktor Klima kämpft um seine Wiederwahl. Zwar dürfte den Sozialdemokraten eine Mehrheit sicher sein, doch womöglich reicht sie nicht zum Weiterregieren. Gefahr droht von den Freiheitlichen unter Jörg Haider.

in Mann betritt morgens um 6 Uhr 40 beschleunigten Schritts den VIP- ERaum des Flughafens Wien-Schwe- chat. Er ist groß, braun gebrannt und gut gekleidet. Er kommt näher, zaubert ein zahnstarkes Lächeln hervor, reicht seine rechte Hand her und sagt: „Griaß di.“ Es ist der Bundeskanzler der Republik Österreich. Viktor Klima trägt Dreiteiler in staats- männischem Blau und Regierungsverant- wortung für gut acht Millionen Bürger. Sein Programm allerdings heißt Volksnähe und seine Waffe gute Laune. Gleich geht’s ab nach Innsbruck, zum Wahlkampf-Auftakt der Sozialdemokrati- schen Partei (SPÖ) in Tirol. Eine Marlboro Medium ist noch drin, befindet der Kanz- ler, und ein schneller Scherz zu Lasten des Koalitionspartners: „Stark, schwarz und weiblich nennen die sich jetzt“, sagt Klima und lacht meckernd: „Sehr gut, nur – wo bleibt da der Schüssel?“ Wolfgang Schüssel, der professoral wir- kende Chef der konservativen Volkspartei (ÖVP), ist Außenminister und Vizekanzler. Er hat sich jetzt mehr Frauen ins Team ge- holt. Seit 13 Jahren gibt seine Partei den Ju- niorpartner der SPÖ ab in einer Großen Koalition. Am 3. Oktober wird wieder ge- wählt, danach wird Schüssel wieder für Rot-Schwarz gebraucht. Bis dahin darf ge- spöttelt werden. Wahlkämpfer Klima bei der Eröffnung des Daniela- Der eigentliche Gegner der SPÖ heißt sowieso anders und wird nicht erwähnt – sprüche auf den Einzug ins Kanzleramt an. Jörg Haider, der nationale Rechtsaußen Die ÖVP soll den Steigbügel halten. und mit 42 Prozent der Stimmen gewählte Haider, ehedem Festredner bei einem Landeshauptmann von Kärnten. Dessen Waffen-SS-Treffen – Österreichs Regie- Freiheitliche Partei (FPÖ) liegt in Umfra- rungschef? Nicht auszudenken. Der Kanz- gen erstmals bundesweit vor der ÖVP auf ler faltet die Zeitungen zusammen, die sich Rang zwei und meldet unverhohlen An- in täglich neuen Spekulationen über einen Machtwechsel ergehen. Seit fast 30 Jahren stellt die SPÖ den Mann an der Spitze der Regierung. An ihm, Klima, liegt es nun, dass das so bleibt. Er prüft den Sitz seiner Krawatte. Im Auto, auf dem Beifahrersitz, schaut er auch schon mal in den Kos- metikspiegel, ob die Frisur noch passt. Hieße man ihn allerdings nach Art seiner böhmischen Vorväter ei- nen „Feschak“, Klima wäre ge- kränkt. Er halte es, sagt er, mit der Meinung von Friedrich Torbergs „Tante Jolesch“: „Was ein Mann Rechtsaußen Haider: Ansprüche aufs Kanzleramt schöner is wie ein Aff, is ein Luxus.“

232 der spiegel 38/1999 Da allerdings irrte Tante Jolesch. Sie worden, die Produktivitätszuwächse über- kannte das Medienzeitalter nicht. Bei Kli- treffen jene in Deutschland. Zwar ist bei- ma zu besichtigen ist der eines Popstars nahe jeder achte Erwerbstätige Beamter, würdige Dauerflirt mit den Kameras. Kaum und EU-weit gibt es nirgendwo weniger angekommen in Tirol und zur Eröffnung Selbständige als in Österreich, aber auch des Daniela-Stollens bei Vomp geleitet, nur zwei Länder, die, pro Kopf gerechnet, steht der Kanzler im Licht. Also hebt er ein noch reicher sind. Stollenschnapserl mit einem Bergarbeiter „Eine wirtschaftliche Idylle bei ideeller zur Linken und einem zur Rechten. Da- Katastrophe“, schreibt Armin Thurnher in nach, im Innsbrucker Alpenzoo, verfüttert seinem furiosen Österreich-Buch „Das er im Anzug Rinderkeule an den Luchs. Trauma, ein Leben“. Das Problem des Beim Betriebsjubiläum in Reutte steht er prosperierenden Alpen-Staats sei: „Über dem Tor zur Zweiten Re- publik steht in riesigen Buchstaben das Wort ,Konsens‘.“ Die Traumata von 1918 und 1945, der Zerfall des Kaiserreichs und die neuerliche Erfah- rung von Niederlage und Fremdbestimmung am Ende der Nazi-Zeit, seien ursächlich für die bis heu- te andauernde Harmonie- sucht und den Mangel an öffentlichem Diskurs. Ist Klimas Österreich eine verspätete Demokra- tie? Das „Entweder-und- Oder“, so beklagt schon 1992 der Schriftsteller Robert Menasse, sei zum klassisch österreichischen Überlebensprinzip gewor- den, beispielhaft ver- körpert durch den seine Verstrickungen in den Nazi-Krieg verschleiern- den Alt-Bundespräsiden- ten Kurt Waldheim. „Wir wollen mitreiten, im Zwei- felsfalle aber wollen wir nicht dabei gewesen sein“, schreibt Menasse.

FOTOS: M. APPELT / AGENTUR ANZENBERGER / AGENTUR M. APPELT FOTOS: Jetzt, Wochen vor der Stollens*: „Was ein Mann schöner is wie ein Aff, is ein Luxus“ Wahl am 3. Oktober, legt er nach und zielt nicht zu- instinktsicher neben dem Kapellmeister letzt auf den Kanzler und Parteivorsitzen- der angetretenen Blasmusik Modell vor den Klima, der ihm im Mai den Staatspreis dem Panorama der Ammergauer Alpen. für Kulturpublizistik überreicht hat: „Nach Viktor Klima erfasst sekundenschnell 30 Jahren ,sozialdemokratischer Bildungs- Bilder, die ihm nützen – Tiere, Kinder, Ber- offensive‘“, bilanziert Menasse bitter, ge, Arbeiter. Manchmal geht er schon in „wählt jeder dritte österreichische Ma- Stellung, ehe die Kameramänner bereit turant eine Rechtsaußen-Partei, hat Öster- sind. Zwischen zwei Bildern spricht er reich die höchste Rate an sekundärem An- auch. In seinem charismatisch angelegten alphabetismus und die niedrigste Rate an Tonfall kehren als rituelle Kadenzen „die Hochschulabsolventen in Europa.“ Menschen in diesem wunderbaren Land“, Ist also der linke Traum von der Auf- „an diesem wunderbaren Tag“ und „Öster- klärung zerronnen und Klimas Beliebtheit reich ist eine Erfolgsgeschichte“ wieder. die logische Konsequenz? 80 Prozent der Es klingt nach Berieselung für Schwer- Österreicher finden ihren Kanzler „sym- kranke. Österreich aber ist gesund. Ein pathisch“. 46 Prozent sagen gleichzeitig wirkliches Wahlkampfthema gibt es nicht. aus, dass er „nicht zu seinem Wort steht“. Die Arbeitslosenquote liegt bei 4,3 Pro- Zumindest ein Drittel derer, die Klima zent, die Inflation nahe null. Die Steuern sympathisch finden, urteilen so, obwohl – sind unter Klimas Regentschaft gesenkt, oder weil – er nicht tut, was er verspricht. die Staatsverschuldung ist eingedämmt Vor heimischem Publikum beschwört der Kanzler die Verteidigung von Öster- * Am 3. September. reichs Neutralität, obwohl sie de facto,

der spiegel 38/1999 233 Ausland durch seine Unterschrift unter den Ams- Ausrichtung. Noch 1993 trat Klima als Red- terdamer Vertrag, nicht mehr viel wert ist. ner am Rand des Lichtermeers auf, mit Mehr als jeder dritte Österreicher geht – ir- dem gegen Jörg Haiders Anti-Ausländer- rigerweise – davon aus, im Krisenfall wür- Volksbegehren Front gemacht wurde. den seiner Heimat schon die ehemaligen Die Zeiten hätten sich dramatisch geän- Staatsvertragsmächte beispringen. dert, sagt Max Koch von der Organisation Bei europäischen Gipfeltreffen segnet SOS Mitmensch: „Haider treibt die Regie- Klima die Schritte zur EU-Osterweiterung rung in der Ausländerpolitik vor sich her. ab. Zu Hause spricht er davon, dass das Es ist eine Schande für Klima und die Überschwappen „billiger Arbeitskräfte“ ganze Sozialdemokratie.“ aus den potenziellen Beitrittsstaaten öster- Nicht-EU-Ausländer haben in Österreich reichische Interessen bedrohe. weder Anrecht auf Wohnraum im sozial Und, außerdem, ehe nicht die slowaki- geförderten Gemeindebau noch auf So- schen und slowenischen Atomkraftwerke zialhilfe. Bei Invalidität oder anhaltender abgeschaltet oder saniert seien, verbiete Arbeitslosigkeit können sie abgeschoben sich weitergehende Kooperation ohnehin. werden. Trotzdem reklamiert Andreas Auf dem Gipfel des Arnoldstein an der slo- Rudas, Klimas maßgeblicher PR-Stratege, wenischen Grenze posiert der Kanzler wie Kompetenzvorsprung bei Ausländerfragen: ein gewöhnlicher Umweltaktivist vor ei- „Andere wissen doch gar nicht, wie das nem von Gattin Sonja mitbesprühten riecht – bosnischer Hammelbraten.Wir ge- Transparent „für ein AKW-freies Europa“. hen da sogar hin, feiern mit und finden das „Heiß umfehdet, wild umstritten, liegst hetzig“ – a Gaudi. dem Erdteil du inmitten einem starken Klima sitzt einer verunsicherten Partei Herzen gleich“, heißt es in Österreichs Na- vor. Die SPÖ steckt im strukturellen

tionalhymne. Im Bewusstsein ihrer geo- VIENNA REPORT FOTOS: Spagat zwischen Gestern und Morgen, zwi- strategischen Kernlage aufgeplustert „wie Volkspartei-Chef Schüssel schen klassenloser Gesellschaft und gren- Popeye nach einer extragroßen Spinatpor- „Schwarz, stark und weiblich“ zenlosem Kapitalfluss, internationaler So- tion“ („Weltwoche“), hat die Alpen-Repu- lidarität und nationalem Selbsterhaltungs- blik aber bisher wenig getan, um die Angst cher Kalina, sein Fraktionschef Kostelka trieb. Von rechts drängelt Jörg Haider ins ihrer Bürger vor einer größeren EU zu min- oder sein Bundesgeschäftsführer Rudas Wählersegment, links murrt die Basis über dern. Eine Aufklärungskampagne soll am Mühe, überhaupt an einen österreichischen den „Supermarktkurs“ der Partei. Tag nach der Wahl beginnen. Hauptnutz- Pass zu kommen, wären nicht schon ihre Klima selbst ist undogmatisch und also nießer der Märkte im Osten ist Klimas Re- Vorfahren eingewandert. Die Ausländer- beweglich. Ihm fehlt der strenge SPÖ-Stall- gierung schon lange – die Exporte dorthin gesetze sind drastisch verschärft. geruch. Obwohl der Großvater Austro- nehmen Jahr für Jahr zu. „I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric, war- marxist war und der Vater Viktor ihn in „Sehr emotional erregt“ habe er 1989 um sagen ’s zu dir Tschusch?“ – mit diesem Kindertagen nachts mitnahm – „mit dem die Öffnung der ungarischen Grenze nach plakatierten Zwiegespräch zwischen einem Leimkübel“, Plakate kleben –, wurde Klein Westen erlebt, sagt der Kanzler beim Eingebürgerten und einem frisch Einge- Viktor später Manager in der verstaatlich- Festakt zum zehnten Jahrestag in Buda- wanderten gleichen Namens war in den ten Mineralöl-Industrie. Er machte als Sa- pest: „Der Name meiner Mutter ist Varga.“ Siebzigern eine Offensive zur Integration nierer Karriere. Der Vater war Immigrant aus dem Tsche- von Ausländern aus Südosteuropa – 1992, nach der Berufung zum Minister chischen. „Tschuschn“ – und zur Besinnung auf durch den damaligen Kanzler Franz Vra- Inzwischen, nach 30 Jahren SPÖ-Kanz- Wiens Wurzeln untermauert worden. Die nitzky, hat Klima sich ein Schneidermaß- lerschaft, hätten Klima, sein Pressespre- SPÖ sah sich als Partei mit internationaler band eingesteckt, auf dem 5 mal 52 Wo- chen abzureißen waren – das zeitli- streuen, ein Nachfolger, der bereit wäre, che Höchstmaß an Politik, das er sich Jörg Haider auf den Kanzlerstuhl zu hel- zugestehen wollte.Als die Zeit fast ab- fen? Womöglich noch mit Hilfe des skur- gelaufen war, trat Vranitzky zurück. rilen Baumeisters, Opernball-Mäzens und Nicht ohne Klima als Nachfolger im Gründers der Partei „Die Unabhängigen“, Kanzleramt zu empfehlen. Und da Richard „Mörtel“ Lugner? sitzt er heut noch. Familienminister Martin Bartenstein, als Der mangelnde ideologische Wur- neuer ÖVP-Hoffnungsträger im Gespräch, zelboden macht sich bemerkbar. „Re- sagt diplomatisch: „Die Wiederbelebung gierung kommt von regieren, nicht des Schreckgespensts Jörg Haider funktio- von reagieren“, hat der SPÖ-Rekord- niert nicht mehr, seit er Landeshauptmann kanzler Bruno Kreisky dekretiert. Nur in Kärnten ist.“ ihm ist es in diesem Jahrhundert ge- Grund genug für die Sozialdemokraten, lungen, und das drei Mal, in Öster- die Reihen geschlossen zu halten. Zumin- reich eine rechnerische Mehrheit links dest die Angst vor dem Machtverlust eint. von der Mitte zu etablieren. 700 000 Mitglieder hatte die Partei noch Klima hingegen reagiert – umgeben 1998 und 70000 Funktionäre – das heißt, vorwiegend von Beratern, die ihr fast jeder zehnte Österreicher war in der Handwerk so verstehen, dass sie ein- SPÖ und jeder hundertste ihr Funktionär. laufende Meldungen und Ergebnisse Noch immer gibt es viel zu verteilen und von Meinungsumfragen in Kanzler- zu verlieren – Posten in Kammern, Auf- Statements umgießen. Die unter- sichtsräten, Behördenspitzen. scheiden sich dann von konkurrieren- Unvorstellbar, wenn Haider da mitzu- den Gegner-Beschimpfungen Marke reden hätte. Früh um halb zehn beim letz- „mieselsüchtige Koffer“ (schlecht ge- ten SPÖ-Parteirat in Schwechat steht die launte Einfaltspinsel) oder „Fetzen- Parteigründer Lugner*: Politik statt Oper Hälfte der Delegierten schon am Würsch- schädel des Tages“ durch Fallhöhe. telstand und sorgt sich um die Zukunft. Klima werde beraten, sei aber alles an- „Ein Blechtrottel versagt“ klar, dass nicht Drinnen ist gerade die Wahlplattform vor- dere als eine Marionette, sagt der Kanzler- der Kanzler, ein erfahrener Navigator, son- gestellt worden, eine Aussprache ist nicht Sprecher Josef Kalina und deutet auf das dern ein defekter Bordcomputer Schuld geplant, die Zustimmung unstrittig. Büro seines Chefs: „Die Befürchtung, dass trug. Da meldet sich ein junger Mann im grau- da drin so eine Art Ronald Reagan sitzt, der Etwa 36 Prozent der Stimmen sagen die en Anzug und bittet um Rederecht. Dem den ganzen Tag nur mit seinem Hund Umfragen der SPÖ voraus, das wäre we- plaudernden Kanzler in Reihe eins geht spielt, ist natürlich Unsinn.“ niger als 1995, aber mehr als genug, wenn fast der Tschick aus – „Das Wort hat Der Kanzler, koalitionsintern als „ex- Wolfgang Schüssels ÖVP als Koalitionär der Genosse Brockmeyer.“ Brockmeyer? trem empfindlich“ gegen Kritik bekannt, wieder mitspielte. Schüssel aber droht zur Kennt den wer? als „Mann mit Glaskinn“, strahlt von den Empörung der Linken mit einem Akt de- Gegen den gleich bleibend hohen Lärm- Titelseiten der maßgeblichen Blätter alles mokratischer Hygiene – dem Marsch in die pegel ankämpfend, fordert der Redner „ein nieder. Fotos vom Marlboro-Mann gibt es Opposition, sollte seine Partei hinter Hai- pointierteres sozialdemokratisches Pro- nicht mehr – zündet sich Klima einen ders FPÖ zurückfallen. gramm“ und „eine aktivere Neutralitäts- „Tschick“ an, drehen die Objektive bei. Stürzt dann Schüssel als ÖVP-Chef und politik, wie unter Kreisky“. Der Beifall am Havariert er bei der sommerlichen Segel- kommt, wie Klimas Leute das unermüdlich Ende ist dünn. Der Akzent hat den Ketzer tour im Mittelmeer, stellt die auflagenstar- verraten – Genosse Brockmeyer ist Ham- ke Zeitschrift „News“ unter dem Rubrum * Mit Ehefrau Christina. burger mit Studienort Wien. Walter Mayr Ausland

Blair ihretwegen nun Unannehmlichkeiten ten starker Wälzer, der diese Woche gleich- GROSSBRITANNIEN habe: „Good old Tony“, das wisse man halt, zeitig in Britannien und Deutschland (Titel: „regt sich doch so leicht auf.“ „Das Schwarzbuch des KGB“) erscheint. Grandma Hola Am Anfang all der Aufregung stand der Eine Rolle im Opus spielt auch Grandma einstige KGB-Archivar Wassilij Mitrochin, Hola. Eine Urgroßmutter wurde als 74, der 1992 Britanniens Abwehr sechs Kof- Die fidele Greisin war 1932 als junge fer voller Geheimmaterial übergab. Der Kommunistin in die Dienste der „Briti- Spionin für Stalin entlarvt. Nun Flüchtling durfte sich in England ansiedeln schen Vereinigung zur Erforschung von streiten Politiker und und erhielt eine neue Identität. Nichteisen-Metallen“ getreten, 1937 re- Experten über das Ausmaß des Die Briten teilten ihr Wissen großzügig krutierte sie das NKWD. Später erhielten Verrats der Kommunistin. mit ihren deutschen und französischen Kol- die Auftraggeber in Moskau Informationen über das „Tube Alloys“-Projekt, die uf einem Kirchenbasar bieten zwei Vorbereitung der britischen Atom- entzückende alte Ladys Hausge- bombe. 1958 erhielt die glühende Amachtes für wohltätige Zwecke feil Stalinistin für ihren Einsatz an der – „Kuchen“ die eine, „Atomgeheimnisse“ unsichtbaren Front den Rotbanner- offeriert mit gütigem Oma-Lächeln die an- orden. dere. Der grimmige Scherz des Karikatu- Letzte Woche befasste sich das risten im Londoner „Daily Telegraph“ ist aufgebrachte Unterhaus mit dem indes eine milde Untertreibung im Ver- Fall der Spionin i. R. „Poor old Jack gleich zu der Spionage-Groteske um eine Straw“ – so die Ex-Hola – wurde Urgroßmuter aus Bexleyheath südöstlich gebeutelt, weil die Regierung das von London: Melita Norwood, 87, soll in Parlament nicht über die seit sieben jüngeren Jahren eine Super-Spionin für Jahren vorliegenden Erkenntnisse Moskau gewesen sein. unterrichtet und die Geheim- Mit der Zulieferung von Atomgeheim- dienstler die Lady nicht der Justiz nissen an die Stalin-Diktatur über die Re- überstellt hatten. Straw will von der kordzeit von 40 Jahren trug die überzeug- Spionin nichts gewusst haben. Die te Kommunistin und von den Nachbarn Geheimdienstler wollten „Ermitt- geschätzte Marmeladen-Köchin wohl dazu lungen in verbündeten Ländern bei, dass Moskau seinen ersten Atompilz nicht stören“. zwei bis fünf Jahre früher aufsteigen lassen Die Bewertungen der Dossiers konnte, als es dies ohne geklautes Know- und der Grand-Mata-Hari klaffen how vermocht hätte. weit auseinander. Straw brüstete Die Enttarnung der von den Sowjets als sich mit dem „glänzenden Coup“ „Agent Hola“ geführten „Super-Spionage- seines Dienstes. Der pensionierte Oma“ („The Sun“) KGB-Offizier Jurij Modin, der die brachte letzte Woche die Agentin aus ihren Einsätzen kennt, Medien zum Schäumen erklärte dagegen, sie habe „uns und bescherte Labour- nichts von Bedeutung geliefert“. Innenminister Jack Straw Modin ist ein Experte – er lenk- eine unangenehme Stun- te aus Moskau die legendären de im Unterhaus. Sogar Briten-Spione („The Cambridge der Stuhl des Gegenspio- Five“) der Nachkriegsjahre wie nage-Chefs geriet ins Kim Philby, Guy Burgess und John Wanken. Wie war es Cairncross. Auch der renommierte

möglich, so fragten Poli- AP Autor Tom Bower („Der perfekte tiker und Sicherheits- Atomtest*, KGB-Agentin Norwood englische Spion“) platziert die experten teils erbittert, Geschätzte Marmeladen-Köchin Ex-Hola nur in die zweite Divi- teils höchst amüsiert, dass sion: Atomwissenschaftler wie der die Affäre Norwood so legen, die ein gemeinsa- deutschstämmige Klaus Fuchs oder der

lange unter dem Teppich DPA mes Problem erkannten: Brite Alan Nunn May, der am Projekt gehalten werden konnte? Die rund 25000 Blatt wa- „Tube Alloys“ mitwirkte, hätten Moskau Die little old Lady mit den stählernen ren nicht Originaldokumente oder wenigs- längst den nötigen Vorsprung vor den Bri- Nerven – sie könnte glatt als Schwester der tens Fotokopien von brisantem Material, ten verschafft. Tatsächlich zündete Stalin Queen Mum durchgehen – streitet nichts sondern lediglich handschriftliche Notizen. seine erste A-Bombe 1949, drei Jahre vor ab. Und sie bereut nichts. Zwischen roten Uraltes mischte sich mit Neuem. Grund den Briten. Bäckchen vergnügt kichernd, nippt sie mit für Deutsche und Franzosen, die Mitro- Die Grand-Mata-Hari, deren schmuckes gespitzten Lippen wie ein Vögelchen aus chin-Papiere mit äußerster Vorsicht zu ge- Häuschen in der Garden Avenue 34 zum einem dicken Tee-Pott mit dem Konterfei nießen. Ausflugsziel für Neugierige aufgestiegen der lateinamerikanischen Revolutions- Als Knüller der Notizen entpuppte sich ist – „man müsste sie hängen“, schlagen legende Ché Guevara und erläutert, warum die Traumstory von Melita Norwood. Die zwei betagte Damen vor –, überlegt be- sie Atomverrat am Königreich betrieben kam ans Licht, weil 1996 das MI5 dem reits, was sie im Gefängnis tun wird, sollte hat: Man habe verhindern müssen, dass Jo- Spionage-Experten Christopher Andrew, sie doch noch verknackt werden. Die un- sef Stalins Arbeiterparadies zusammen- Professor an der Universität Cambridge, verdrossene Abonnentin der KP-nahen breche, wo es doch „der ganzen Welt Er- die Auswertung der Beute aus Moskau ge- Postille „Morning Star“ würde im Knast ziehung, Nahrung und Gesundheitsdienst stattete. Das Resultat war ein fast 900 Sei- „Menschen ausbilden“, ließ sie wissen. geschenkt“ habe. Leid tut der ungebroche- Ob zu Spionen oder zu Kommunisten, nen Stalinistin nur, dass Premierminister * Erste sowjetische Zündung am 29. August 1949. verrät sie nicht. Lutz Krusche

236 der spiegel 38/1999 Ausland

ANGOLA Im Zangengriff der Rebellen Zehntausende drohen zu verhungern, weil Regierung und Guerrilla keinen Frieden finden. Die eingekesselte Bevölkerung ist von jeder Versorgung abgeschnitten.

m Morgengrauen, wenn die Granat- werfer verstummt sind und die Ma- Ischinengewehre schweigen, trabt ein Trupp junger Männer singend durch die ausgebombte Stadt.Von Trillerpfeifen an- gefeuert, ziehen sie im Dauerlauf durch die Straßen, vorbei an ausgebrannten Panzern und Tanklastzügen, die wie acht- los verstreute Bauklötze am Wegrand liegen. Die Männer tragen Gummilatschen oder Turnschuhe, T-Shirts oder bunte Hemden; flankiert wird die Gruppe von Soldaten in Militärstiefeln und Tarnuniform. Sie rücken in Reih und Glied vor, ein jeder auf kor- rekten Abstand zum Nächsten bedacht; einige schwingen hölzerne Sturmgewehr- attrappen. Dabei schmettern sie ihre Lieder so inbrünstig wie junge Rekruten, die so

lange furchtlos in den Krieg ziehen, wie sie / ROPI LOHUIZEN K. v. den Schlachtenlärm nicht hören müssen. Kinshasa AFRIKA Vor sechs Jahren DEM. REP. noch wäre João Manu- Cabinda KONGO el Siago vorneweg mit- Quimbele marschiert. Damals, im Luanda Operationsgebiet Januar 1993, war Kuito der Unita das erste Mal zwischen die Fronten eines Krie- Bailundo Andulo Flüchtlingsmiliz eines Camps bei Kuito: Für Maiskolben in den Kampf ges um Macht, Öl und Kuito Diamanten geraten. Benguela Huambo neut eingekesselt. Und rikanischen Waffensystemen, versuchte

Neun Monate lang ATLANTIK wieder bahnt sich eine Guerrillaführer Savimbi, die neue, von der ANGOLA SAMBIA hatten Unita-Rebellen Katastrophe an.Wehr- pro-sowjetischen Bewegung für die Be- die Hauptstadt der fähige Zivilisten jeden freiung Angolas (MPLA) gebildete Regie- Provinz Bié von je- NAMIBIA Alters werden deshalb rung zu stürzen. Unterstützt wurde er da- der Versorgung abge- 500 km in einer Art Volks- bei von Südafrikas Apartheidregime. Das schnitten. Zeitweise BOTSWANA sturm mobil gemacht. entsandte Spezialeinheiten, um linke Be- lieferten sich die Doch diesmal, weiß freiungsbewegungen im südlichen Afrika Dschungelkämpfer des Jonas Savimbi quer João, würden selbst „batidas“ niemandem in Schach zu halten. Kubanische Truppen über die Hauptstraße hinweg Feuerge- das Leben retten. Auf den Feldern der stärkten derweil die MPLA. Erst mit dem fechte mit den Regierungstruppen von Prä- einstigen Kornkammer Angolas ist nichts Ende des Kalten Krieges zogen die frem- sident José Eduardo dos Santos. Am Ende mehr zu erbeuten. Im Umland von Kui- den Armeen ab. Und aus dem Kampf um war die noch von den Portugiesen erbau- to, einem einst blühenden Handelszen- politische Überzeugungen wurde eine te, einst schmucke Stadt verwüstet. trum, sind sämtliche Äcker verlassen oder Schlacht um Rohstoffreserven und per- Mit dem Mut der Verzweiflung führte vermint. sönliche Macht. João in jenen Monaten der Belagerung Seit mehr als drei Jahrzehnten herrscht João ist 36 Jahre alt; an friedliche Zeiten selbstmörderische Beutezüge an. Mehr- nun schon Krieg im Land, einem der res- kann er sich kaum erinnern. Der Krieg mals gelang es dem Mestizen und seinen zi- sourcenreichsten Afrikas. Mal tobt er, und ist sein Leben, und dass er überhaupt so vilen Stoßtrupps, die feindlichen Linien zu mal schwelt er nur. Derzeit tobt er wieder alt geworden ist, verdankt João seiner durchbrechen. Die Maiskolben, die sie bei – so mörderisch wie schon seit Jahren nicht Laufstärke und seiner Geschicklichkeit im ihren „batidas“ plünderten, retteten vielen mehr, doch vom Rest der Welt so gut wie Dribbeln. Familien das Leben. Dennoch kamen täg- vergessen. Mit 13 war er einem Erschießungskom- lich mehr als 100 Menschen um. Die meis- Nahtlos war der Befreiungskampf, der mando der Unita entkommen. Die Rebel- ten starben einen qualvoll langsamen Tod: Angola 1975 die Unabhängigkeit von Por- len hatten alle Mischlinge in einem Gefan- Sie verhungerten. tugal brachte, in einen von fremden Mäch- genenlager zusammengetrieben, Aufstel- Sechs Jahre später haben die Rebellen ten geschürten Bürgerkrieg übergegangen. lung nehmen lassen und zu exekutieren die Stadt im angolanischen Hochland er- Aufgerüstet mit CIA-Geldern und ame- begonnen.Als João einen Körper nach dem

der spiegel 38/1999 237 anderen in sich zusammensacken sah, be- Flughafen an. Aus einer Höhe gann er zu rennen – und entkam. von 8000 Metern schrauben die Mit 19 zog er für die Regierung in seine Piloten ihre Flieger in engen erste Schlacht. Damals bekämpften Ango- Spiralen dem Boden entgegen. laner einander noch stellvertretend für So versuchen sie, feindlichen jene, die um den Sieg oder Niedergang des Raketen möglichst wenig An- Kommunismus rangen. Hätte man nicht griffsfläche zu bieten. sein besonderes Talent im Fußballspielen Bäuchlings wie ein gestran- erkannt, weshalb er frühzeitig von der deter Wal liegt eine der Trans- Front abberufen wurde, er wäre vermutlich portmaschinen mit zerfetztem wie so viele andere mit einer Kugel im Fahrwerk am Rollfeldrand – Bauch oder von einer Mine zerfetzt einsam Relikt eines Krieges, der so lan- im Busch verendet. ge nicht enden wird, wie für Nur zweimal in seinem Leben durfte Öl-Dollar und geschmuggelte João auf Frieden hoffen: Zwischen 1991 Diamanten in den geldknap- und 1992, als sich die verfeindeten Partei- pen Staaten des ehemaligen en auf einen Waffenstillstand und freie Ostblocks problemlos Waffen Wahlen einigten, und 1994, als die Rebel- zu erstehen sind. len ein Friedensabkommen im sambischen João überwacht die Entla- Lusaka unterschrieben. Damit hatten sie dung von Mais und Bohnen für sich zur Entwaffnung verpflichtet, sollten die vom WFP organisierte Nah- aber im Gegenzug an der Macht beteiligt rungsmittelhilfe. Über die Be- werden. Beide Male wurden seine Hoff- obachtungen, die er dabei nungen zunichte gemacht. macht, redet er nicht. Jede Heute gehört João zu den immer rarer politische Äußerung könnte ihn werdenden Männern in Angola, die noch und die Versorgung tausender im Besitz beider Beine sind. Doch ahnt er, hungriger Menschen gefähr- dass er sein letztes Gefecht noch nicht den. Doch allein der Fluglärm Zerstörtes Wohnhaus: Den Granaten folgt der Mob durchgestanden hat. Und so ist ihm nicht am Himmel über Kuito lässt danach, früh morgens in Propagandalieder auf einen regen Luftverkehr schließen.Von in den Dörfern ringsum leben ihr aus einzustimmen, die den Reichtum seines Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang set- Furcht oder Bewunderung treu ergebene Landes preisen. Gerade der Reichtum, so zen Antonow-Transportmaschinen zur Anhänger. weiß er, hat seiner Heimat den Krieg ge- Landung an – die Frachträume voller Als João vor sieben Jahren das erste und bracht. Und den Menschen von Kuito Hun- Kriegsgerät für Truppenkontingente, die einzige Mal in seinem Leben wählen durf- ger und Zerstörung. selbst vom Nachschub abgeschnitten sind. te, gaben die Bauern im Umland von Kui- Seit um die Jahreswende zwei Uno-Flug- Neben dem Diamantengürtel im Nord- to Savimbi ihre Stimme. Der im maoisti- zeuge über dem Hochland abgeschossen osten ist die zentrale Hochebene von je- schen China ausgebildete Rebellenführer wurden, fliegen neben vereinzelten Ma- her die meistumkämpfte Region. In den hatte der vernachlässigten Landbevölke- schinen des Welternährungsprogramms Provinzen Bié und Huambo hat die Uni- rung Häuser statt Strohhütten versprochen, (WFP) nur noch Militärtransporte den ta ihre wichtigsten Stützpunkte, und Fleisch statt Maisbrei und ein Ende aller Landsknechtschaft. Landesweit aber konn- te der Unita-Chef mit diesem Programm nicht begeistern. Und so versucht er seit- her, mit Hinterlist und Gewalt die Macht an sich zu bringen. In Kuito, das den Zorn Savimbis über die Wahlniederlage damals bitter zu spüren bekam, herrscht angespannte Ruhe, seit wieder offen Krieg geführt wird.Wenn kei- ne singenden Stoßtrupps durch die Straßen marschieren oder Flugzeuge zur Landung ansetzen, wirkt die Stadt so reglos wie das Zentrum eines Orkans. Nicht einmal Ver- kehrslärm durchbricht die Stille.Wo könn- te man auch hinfahren – über verminte Straßen, die nach wenigen Kilometern in Rebellengebiet münden? Die Stadt stirbt wie eine Insel, die lang- sam, aber sicher von einer tosenden See überspült wird: Erst flohen die Bewohner aus den Randbezirken ins Zentrum, dann versuchten sie, auf dem Luftweg zu ent- kommen. Wer Geld, Ansehen und Bezie- hungen hatte, lebt nicht mehr am Ort. Die einst 300 000 Einwohner zählende Stadt wäre ausgestorben, wenn der Zangen- griff der Rebellen ihr nicht täglich neue

FOTOS: STEELE-PERKINS / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR STEELE-PERKINS / MAGNUM FOTOS: Menschen aus dem Umland zutreiben Jugendliche Bürgerkriegsopfer in Kuito: Kanonenfutter für die nächste Schlacht würde.

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Mehr als 70000 Vertriebene haben sich werden von Rebellen eingekesselt; Sa- zu schießen begannen, die sich ihren Beu- hinter die von Kugeln durchsiebten Stuck- vimbis Truppen können jederzeit hun- tezügen anzuschließen versuchten, stürzte fassaden der einst stattlichen Kolonialbau- derttausende von jeder Versorgung ab- sich der Mob auf die Unterkünfte der Care- ten geflüchtet. Sie hausen in ausgebrannten schneiden. Mitarbeiter. Missionsschulen, deren Dächer schon bei Über 60000 Menschen suchten binnen Alles wurde fortgerissen: die Türen und der letzten Belagerung einstürzten. Oder in fünf Tagen Zuflucht in Kuito, als Anfang Fensterrahmen, die Kabel und Toiletten- von Bomben halb zerstörten Wohnblocks, Dezember die ersten Dörfer brannten. schüsseln. 25 Pkw und 7 Geländewagen die jeden Moment in sich zusammenzu- Während die staatlich kontrollierten Me- samt Funkausrüstung verschwanden, Er- sacken drohen. Nacht für Nacht entstehen dien noch triumphale Siege meldeten, satzteile, Schreinerwerkzeug, Saatgut, Me- neue Notquartiere. Die Hilfsorganisatio- befanden sich die Regierungstruppen dikamente wurden geplündert. Von den nen errichten Flüchtlingslager. Doch so längst auf der Flucht. So hastig verlief ihr drei in Kuito stationierten Minenräum- schnell können sie gar nicht bauen, wie Rückzug, dass sie Panzer und schweres fahrzeugen wurde eines an Ort und Stelle das Heer der Bedürftigen wächst. Gerät zurücklassen mussten. Wäre den entkernt, ein anderes endete in einem Gra- Mehr als eine Million Menschen ben auf halbem Weg zur Front, wurden seit dem Wiederaufflam- und mit dem dritten machten die men des Bürgerkriegs Ende ver- Militärs Jagd auf Kuitos Jugendli- gangenen Jahres landesweit aus che, als Kanonenfutter für die den ländlichen Gebieten vertrie- nächste Schlacht. ben. Zurück lassen sie brennende João ahnte Schlimmes: 1200 Dörfer und voll bestellte Äcker. Tonnen Mais und Bohnen lager- Minen, gesprengte Brücken und ten im Warenhaus der Welt- nachrückende Rebellen machen ernährungshilfe, und er alleine eine Umkehr unmöglich. Und so stand zwischen ihnen und 120000 verdorrt die Ernte, wo sie nicht hungrigen Menschen. geplündert wird, und das Waren- Irgendwie gelang es ihm, die angebot auf den Märkten wird im- Kommandeure vom strategischen mer knapper und teurer. Um 43 Nutzen einer Sonderbewachung Prozent sank die Maisproduktion seiner Vorräte zu überzeugen.Am im Umland von Kuito in diesem Ende begriffen diese, dass ihnen Jahr; ein Huhn kostet inzwischen Hungeraufstände im Innern eben- einen Monatslohn. so gefährlich werden könnten wie Wer, wie João, in Kuito blieb der Feind vor den Toren der Stadt. und zur Geisel eines militärisch Sie stellten Posten zum Schutz des kaum zu gewinnenden Stellungs- Lagers ab. „Die müssen strengste kriegs wurde, der wartet mit wach- Auflagen von oberster Stelle ge- sender Unruhe auf die angekün- habt haben“, sagt João. Nicht ein digte Entscheidungsschlacht. Sack wurde angerührt. Es wäre die dritte Offensive Drei Wochen lang sorgte João der Regierung gegen die Rebel- für die Rationierung und Vertei- len, seit beide Seiten das 1994 ge- lung der Lebensmittel. Ihm ver- schlossene Friedensabkommen danken die Bewohner der Stadt, für null und nichtig erklärten. Die dass diesmal „nur“ 150 Menschen Trockenzeit ist so gut wie zu starben. Doch sollten die Lager- Ende, und alle im Land wissen, vorräte in Kuito versiegen, dann, dass der Feldzug im Schlamm so fürchtet João, wird niemand das versinken wird, wenn der Regen Massensterben aufhalten können. erst einsetzt. Schon jetzt kann das Welt- Mit der Parole „Krieg ist der Minensuche bei Kuito: „Krieg ist der einzige Weg zum Frieden“ ernährungsprogramm nur noch einzige Weg zum Frieden“ hatte die Hälfte aller Bedürftigen Präsident dos Santos den Angriff befoh- Rebellen nicht auf halbem Weg das Benzin durchfüttern. Eine dreiköpfige Familie len. Kurzen Prozess wollte der Staatschef ausgegangen, sie hätten auch Kuito über- muss den ganzen Tag mit einer Cola-Dose mit Savimbi machen, der, hätte er sich an rollt. Mais durchstehen. Pro Kopf und Tag er- die Vereinbarungen von Lusaka gehalten, 23 Tage lang lag die Stadt unter Dauer- halten die Hungernden weniger Kalorien, heute sein Koalitionspartner wäre. Drei beschuss; der Flughafen wurde geschlos- als ein Europäer auf Diät zu sich nimmt. Monate, und es werde Frieden herrschen sen, auf den Straßen war kein Durchkom- Sollten keine zusätzlichen Mittel für die im Land, versprachen die Militärs und men mehr, und das Hungern begann. João Versorgung der notleidenden Menschen bombardierten Andulo und Bailundo, die musste an die unheilvolle Belagerung vor eingehen, dann droht weiten Teilen der Be- Hauptquartiere der Rebellen. sechs Jahren denken. Wieder einmal völkerung der Hungertod. Doch dieser Krieg ist ein Krieg der Hin- ernährten sich ganze Familien von Pa- Doch die Geberländer sind der angola- terhalte, des Katz-und-Maus-Spiels zwi- payablättern und unreifen Früchten; und nischen Dauerfehde überdrüssig und oh- schen Rebellen und Regierung. Längst hat- als der Mais zur Neige ging, stampften sie nehin anderweitig engagiert. Und die Re- te die Unita, die unter Uno-Aufsicht abrüs- getrocknete Bananen, um aus dem Pulver gierung, die soeben knapp eine Milliarde ten sollte, mit dem Erlös aus illegalen Dia- einen Brei zu kochen. Dem Krankenhaus Dollar für die Vergabe von Ölförderlizen- mantenverkäufen neue Waffen beschafft. gingen die Blutreserven aus, und die ge- zen kassierte, muss die Panzer ersetzen, Und so hat sie fast alle Gebiete zurücker- demütigten Regierungstruppen zogen ma- die die Armee bei ihrer überstürzten Flucht obert, die sie seit dem Friedensschluss vor rodierend durch die Stadt. vor den Rebellen verlor. viereinhalb Jahren räumen musste. Im Vom Warenlager der Hilfsorganisation Dennoch hat João sich und seine Stadt Landesinnern kontrolliert die Regierung Care blieben nur noch ein paar Zeltstangen noch nicht aufgegeben. „Die Hoffnung nur noch die Provinzhauptstädte. Die aber übrig. Und als die Soldaten auf Zivilisten stirbt als letztes“, sagt er. Birgit Schwarz

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KOSOVO Lauter Gorillas Die liberale Tageszeitung „Koha Ditore“ ist der Hort der Demokratie im Kosovo – und ihr Gegner ist die UÇK.

as Ereignis, welches zwei Tage spä- ter drei Seiten in Baton Haxhius DZeitung füllen wird, verläuft wie eine ansteigende Meereswelle. Sie hebt sich langsam, türmt sich auf und kippt. Ein paar Kinder zeigen auf einem Stadt- platz von Pri∆tina mit dem Finger auf einen etwa 25-jährigen Spaziergänger. Der Mann in Jeans und Baumwollhemd spürt die Blicke im Kreuz und dreht sich um. Schon übertönt das böse Gemurmel der Verfol- ger das Krächzen der schwarzen Krä-

hen, die wie Claqueure in den Laubbäu- K. MÜLLER / MAGMA FOTOS: men hocken. Hetzjagd auf Muslim in Pri∆tina: „Was ist mit der albanischen Moral passiert?“ Die Menschentraube klebt am Rücken des tenden albanisch-völki- te Bundesaußenminister Fischer Baton Flüchtigen und schwillt schen Irrsinn im Kosovo Haxhiu bei einem Treffen in Bonn zu, an. Immer mehr junge beginnen. Immer wieder brauche er bloß anzurufen. Solche Hilfs- Burschen sind dabei, kräf- sackt der Strom aus dem bereitschaft hat auch damit zu tun, dass tige Kerle mit wutverzerr- dieselgetriebenen Aggre- es kaum noch politische Köpfe im Ko- ten Gesichtern. Der erste gat weg und mit ihm der sovo gibt. Faustschlag saust auf den Text auf dem Bildschirm. Denn Hashim Thaçi, der Chef der UÇK, Kopf des Mannes, dann Haxhiu glaubt an den wird den westlichen Diplomaten mit seiner noch einer. Zwei, drei, Westen, Joschka Fischer militanten Truppe immer unheimlicher. zehn Fäuste schlagen nach ist sein Held. „Der bringt Und dessen Konkurrent Ibrahim Rugova ist ihm. Das Freiwild rennt, Politik und Moral zusam- politisch lädiert, seit er sich mit Jugosla- stolpert, Verzweiflung im men“, sagt er begeistert. wiens Präsident Slobodan Milo∆eviƒ in Blick. Das Verbrechen des Chefredakteur Haxhiu Von den Politikern im Ko- Belgrad traf, während die Truppen des Mannes, der hier gelyncht sovo hält er nicht viel. Despoten das Volk des Albaners massa- werden soll, besteht darin, ein Goranje zu Die UÇK, einst von ihm hochgeschrie- krierten. sein. Er gehört zu einer kleinen muslimi- ben, nennt der bärtige Chefredakteur in- Der neueste Tipp der Westler hat sein schen Volksgruppe, die Serbisch spricht, zwischen „Mafia“. Präsident Ibrahim Ru- Büro ebenfalls in der Redaktion von die Sprache der Feinde. gova ist für ihn der „Peter Sellers der al- „Koha Ditore“: Veton Surroi, Gründer und Um ihn herum werden auf albanisch banischen Politik“, und er höhnt: „Jetzt Herausgeber des Blattes, werden seit län- Witze gemacht. Niemand hilft. Eine Kfor- haben wir lauter Gorillas an der Spitze.“ gerem politische Ambitionen zugetraut. Patrouille rettet den blutüberströmten Seine Respektlosigkeit hätte ihn beinahe „Auf den Mann muss man achten“, sagt Mann, kurz bevor er totgetrampelt wer- schon das Leben gekostet. Joschka Fischer über den 39-jährigen den kann. Derweil versuchen UÇK-Akti- Als er die Nato kurz vor dem Einsetzen Liberalen. visten westlichen Fotografen die Filme ab- der Bombardements per Schlagzeile auf- Doch zunächst bleiben Intellektuelle wie zupressen: „Gib her, es ist besser für dich.“ forderte: „Just do it“, saß er unter den Ser- Surroi und Haxhiu erst mal beim journalis- Baton Haxhiu kennt die Einschüchte- ben mehrere Tage hinter Gittern. Elf Tage tischen Metier. „Wir haben zwar eine rungsversuche dieser Guerrilleros. Jeden galt er als tot. Sein Rechtsanwalt und Zeitung, aber kein politisches Netz“, ana- Tag muss er mit ihnen rechnen, so wie er ein Verlagsangestellter wurden während lysiert Haxhiu knapp die Lage, „Wahlen früher jeden Tag damit rechnen musste, des Kriegs von serbischen Paramilitärs er- könnten wir so nicht gewinnen“ – von serbischen Polizisten abgeführt zu wer- mordet. noch nicht. den. Haxhiu, vor 33 Jahren in Pri∆tina ge- Mit seiner Zeitung will Haxhiu einen Abends sitzt der Chef in seiner braunen boren, hat immer gegen rassistische Un- Pfad durch den Dschungel aus Hass und Wildlederjacke im Café. Das Blatt ist ge- terdrückung und für „sozialen Frieden“ Gewalt im Kosovo schlagen, einen Weg zur macht.Am nächsten Tag wird er viele Hän- geschrieben. Jetzt sind die Serben weg. Demokratie finden. Die Menschen hier sol- de auf der Straße schütteln und oft den Sein Thema ist geblieben. len denken lernen, sich nicht mehr weg- Satz hören: „Gut, dass du die Geschichte „Was ist mit der albanischen Moral pas- ducken oder wegsehen. über die Hetzjagd gedruckt hast. Ich bin siert?“, lautet die Schlagzeile, mit der „Koha Ditore“, 1997 gegründet, ist nicht so.“ Haxhius Tageszeitung „Koha Ditore“ (Auf- für viele westliche Politiker der Hort Doch auch ein Bodyguard von UÇK- lage: 40000) ihre Leser über die Hetzjagd der Demokratie im Kosovo. Das Blatt wird Chef Thaçi wird anklopfen und fordern, informiert. Dass das Blatt täglich erscheint, von ihnen tatkräftig unterstützt: Die „dass wir über diese Veröffentlichung ist ein Wunder. Computer sind ein Geschenk der briti- mal diskutieren müssen“. Und Baton Dreimal muss Haxhius Redakteur seine schen Regierung, und wenn er mal ein Haxhiu wird ihn in Grund und Boden 60-zeilige Attacke gegen den sich ausbrei- deutsches Einreisevisum benötige, sicher- reden. Claus Christian Malzahn

242 der spiegel 38/1999 Werbeseite

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Werbeseite Ausland GAMMA / STUDIO X Katholiken beim Papstbesuch in Manila (1995): „Deine Verhütungsmethode sei die Selbstkontrolle“

WELTBEVÖLKERUNG „Sex ist schwanger werden“ Die Menschheit wächst auf sechs Milliarden, besonders schnell vermehrt sie sich in Ländern wie den katholischen Philippinen. In Provinzdörfern und den Slums von Manila kämpfen Uno- Projekte für Geburtenkontrolle und gegen die Macht der kirchlichen Tradition. Von Barbara Supp

heilas Baby wird überleben, doch, Sie schauen auf Sheila Buzon, die auf ei- Dann wird die Erdbevölkerung aus sechs doch, ganz bestimmt. Rot ver- nem roten Plastikstuhl am Eingang der Milliarden Menschen bestehen. Sschrumpelt liegt es in ihrem Arm und „Apelo Health Station“ sitzt, die summend atmet schwer, es ist unterernährt, weil gu- dem Baby die Moskitos vom Gesicht ch bin gegen Geburtenkontrolle“, ver- tes Milchpulver teuer ist und Sheilas Brust wischt und sagt, dass sie glücklich sei. Er Ikündete im Mai dieses Jahres Joseph Es- keine Milch gibt, das Mädchen ist ja erst 15, muss durchkommen, der Kleine, sie hat ihn trada, ein ehemaliger Schauspieler, der da kann das passieren. Aber da sitzt sie sich so gewünscht. 1998 zum philippinischen Präsidenten ge- mit diesem Bündel Mensch auf dem Schoß Warum dieses Baby, Sheila? Warum wählt wurde. „Ich bin ja das achte von und lächelt leise, willkommen, Kleiner. noch ein Kind für eure Hütte, warum noch zehn Kindern.“ Willkommen in Sheilas Welt. einen Menschen mehr für Apelo, diesen „Wir wollen nicht, dass sie hier für Ver- Manchmal kommen Fremde in diese elenden philippinischen Slum? hütungsmittel wirbt“, beschwerte sich Welt, sehr selten nur. Fremde: Das sind die Weil Sheila 14 war, als sie diesem Jungen Bischof Pedro Quitorio, als im Juni die Leute mit dem entsetzten Blick.Vorsichtig begegnet ist. Weil er 15 war und hübsche Popsängerin Geri Halliwell im Auftrag der staksen sie durch die engen Gänge zwi- Augen hatte. Natürlich war es Liebe, war- Uno nach Manila kam. „Wir sind gegen schen Verschlägen aus Pappe, Plastikfet- um soll es nicht Liebe sein im Slum? Und ihre Botschaft.“ zen und Abfallholz, in denen man in Shei- wenn man liebt, kriegt man Babys, ist er „Ich bin gegen Vorschriften“, sagt Ju- las Viertel lebt. Verkrampft stolpern sie nicht süß, der Kleine? „Zwei Wochen alt.“ nice Melgar,Ärztin der Gesundheitsstation über den glitschig schwarzen Boden und Vielleicht wird es hier in Apelo zur Welt von Apelo. „Und ich habe es noch nie er- halten sich von Wänden fern, und wenn es kommen, zwischen Abfallhaufen und krän- lebt, dass ein Kirchenmensch hier etwas irgendwo tropft, blinzeln sie erschreckt kelnden Mangobäumen, das Kind Num- Gutes bewirkt.“ nach oben, als ob sie fürchten, dass es nicht mer 6 000 000 000. Am 12. Oktober, so hat Die „Apelo Health Station“ ist eine nur Wasser ist. die Uno errechnet, soll es so weit sein: Bretterbude, doppelstöckig und so groß

246 der spiegel 38/1999 ben. Sheila lächelt. Sie schaukelt ihren Wachstum der Weltbevölkerung Sohn. Ist es nicht zum Verzweifeln, Doktor? Was sagt man jemandem wie Sheila, die- Milliarden Jahr sem Kind mit einem Kind? Nicht so einfach, das alles. Jedenfalls 9 2054 nicht so einfach, wie sich Junice Melgar BEVÖLKERUNG 8 2028 das damals dachte, in den siebziger Jahren Mitte 1999 2010 in Manila an der Universität. Das war die in Millionen 7 2013 Zeit, als die Elenden in Massen in die Me- Afrika 771 979 6 1999 tropole strömten und ihre Pappkarton- Nordamerika 303 333 städte bauten, so wie in Apelo, wo vorher Lateinamerika/ 512 600 5 1987 nur eine Müllhalde war. Es war die Zeit des Karibische Inseln Diktators Marcos, der 1972 das Kriegsrecht 4 1974 Asien 3637 4206 verhängt hatte, jede Opposition blutig nie- Europa 728 731 3 1960 derschlug und sich vor allem damit be- Ozeanien 30 34 schäftigte, das Land auszuplündern. Es war 2 1927 die Zeit Imeldas, die im Glitzerkleid die 1 1804 „Mutter des philippinischen Volkes“ gab Quelle: Uno, DSW und mit dafür sorgte, dass die Beute des Marcos-Clans und seiner Kumpane auf et- 0 500 n. Chr. 1000 1200 1400 1600 1800 2000 2200 liche Milliarden Dollar wuchs; ihre Beute verteidigt sie eisern bis heute. Sechs Milliarden Menschen Aber es war auch die Zeit von Leuten werden laut Uno vom 12. Oktober an die Erde bevölkern; nach einer US-Statistik wie Junice, von Studenten, die Rebellion wurde die Zahl schon im Juli erreicht. Überall, bis auf einige Industrieländer wie im Kopf hatten und Träume von einer bes- Deutschland, wächst die Bevölkerung. In jeder Minute werden 150 Babys geboren, seren, sozialeren Republik. der jährliche Zuwachs beträgt weltweit 80 Millionen. Vermutlich um 2050 wird die Junice Melgar ist eine stille Gestalt von neunte Milliarde erreicht. Immerhin: Die Dynamik des Wachstums nimmt ab, und 42 Jahren, die tuberkulöse Kinderkörper die Kinderzahlen könnten weiter sinken – etwa ein Drittel der Schwangerschaften abhorcht und Frauen berät, die befürch- sind ungeplant. Mehr als 120 Millionen Frauen würden gern Verhütungsmittel ver- ten, dass nach dem sechsten Kind noch ein wenden, haben aber keinen Zugang dazu oder wagen nicht, sie zu benutzen. siebtes kommt. Rund 300 Patienten suchen jeden Monat Hilfe in der Station, die auch „Likhaan“-Klinik heißt; das ist Tagalog, wie ein Zeitungskiosk. Sie hat keinen Staaten wie den Philippinen entscheidet, die Muttersprache der meisten Filipinos, Kühlschrank und kein frisches Wasser, ob und wie die Menschheit überlebt. und heißt „Phantasie“. Und die ist bitter dafür bunte Aufklärungsbilder an den Im Oktober dieses Jahres werden sechs, nötig. Denn dass vom Präsidentenpalast so Wänden und eine Liege hinter rotweiß ge- um das Jahr 2050 voraussichtlich schon etwas wie Fortschritt ausgehen könnte, blümtem Vorhang, das ist der Behand- neun Milliarden Menschen die Erde be- glaubt kaum jemand im Slum. lungsraum.Vom Balkon aus fällt der Blick völkern. Mehr als die Hälfte des Wachs- Von einem Bretterverschlag in Apelo aus auf eine Kloake, die früher einmal ein tums findet in Asien statt, und ganz be- betrachtet, hat sich nicht viel verändert seit Fluss gewesen ist, auf Wohnhütten für 6000 sonders fruchtbar sind die Philippinen: Je- 1986, als die „People’s Power“ den Dikta- Menschen und auf ein steinernes Gottes- des Jahr drängen sich 2,3 Prozent Einwoh- tor Marcos ins Exil verjagte. Cory Aquino haus der Gemeinde „Iglesia ni cristo“. Das ner mehr auf diesen 7107 Inseln im Pazifik. kam an die Macht, die Witwe des ermor- ist Apelo. 1980 lebten dort knapp 50 Millionen Men- deten Oppositionspolitikers Benigno Aqui- An diesem Tag klebt die Hitze am Kör- schen, heute sind es schätzungsweise 74,7, no, die viel versprach und wenig hielt. Ge- per wie zäher Schleim, natürlich stinkt es im Jahr 2030 werden es 150 Millionen sein neral Ramos folgte, ein Ex-Kompagnon des gärend, und die Fliegen schwirren, das ist – wenn sich nichts ändert. Marcos-Clans, und versuchte ein paar Re- normal. Es ist das Revier der Müllmen- Und es ist schwierig, in einem Land et- formen, doch auf halbem Weg war Schluss. schen, jener mageren Männer, die auf dem was zu ändern, in dem die Kirche so viel Bisher hat keine Regierung gewagt, was so Rücken eine kindskopfgroße Tätowierung Macht hat wie hier. 85 Prozent der Men- viele versprachen: eine echte Landreform. tragen: „Jesus is Lord“. Sie handeln mit schen glauben römisch-katholisch. Die Kir- Und keine hat sich getraut, der Kirche zu Pappkartons, das bringt pro Kilo andert- che beeinflusst den Alltag und das Staats- trotzen mit einer landesweiten Kampagne halb Pesos, etwas mehr als sieben Pfennig. wesen, und das heißt: Die Abtreibung ist für Pille und Kondom. Es ist die Welt der Wasserverkäuferinnen, verboten. So ziemlich jede Verhütungsme- Auf solche Wunder wartet Doktor Mel- der Waschfrauen mit ihren ewig gefüllten thode außer Knaus-Ogino gilt als Sünde. gar nicht mehr. Sie sieht andere Wunder, Zubern und die der Kinder, überall spie- Die Scheidung wird nicht nur von der Kir- kleine „wahnwitzige Erfolge“: Dass Frau- len Kinder in zerfetzten, aber sauberen che untersagt, sondern auch vom Staat. en in Apelo fünf Pesos Beitrag zusammen- T-Shirts,sie balgen sich um Wasserflaschen, In Sheilas Welt kommt der Staat nicht kratzen, um Mitglied zu werden in der Ge- manche strecken nackte Hungerbäuche in vor, weder als jemand, der Ehen schließt, sundheitskooperative „Likhaan“. Für al- die Luft. noch als jemand, der Verhütungsmittel les wird bezahlt, Behandlung, Medika- Die Fremden schwitzen und lächeln höf- empfiehlt. Aber Regeln und Gesetze gibt mente, und das, sagt Junice Melgar, sei bes- lich, sie blicken auf das Elend und reden es schon. Natürlich ist sie kein Flittchen. ser so: „Wenn die Leute nichts dafür geben von dieser Zahl: sechs Milliarden. Sie Sie leben ja jetzt wie Mann und Frau, der müssten, würden sie glauben, was sie be- gehören zum UNFPA, dem Bevölkerungs- Junge mit den hübschen Augen und sie, zu- kommen, sei nichts wert.“ fonds der Uno, und fördern nichtstaatliche sammen mit Sheilas Familie. Sie blickt Es dauert, bis eine verlegen lachende Projekte wie die „Apelo Health Station“. mit Befremden auf das Befremden der Frau, die zum ersten Mal den Schritt in die Mit Junice Melgar teilen sie die Überzeu- Besucher. Sie werden Geld verdienen, der Klinik wagt, zu einem selbstbewussten We- gung, dass sich in Slums wie Apelo und in Junge und sie. Sie werden ein Haus ha- sen wird, das nach der Pille fragt. Vieles

der spiegel 38/1999 247 Ausland steht dem entgegen: Die philippi- litik, sagt sie, sei etwas Sonderbares nische Macho-Gesellschaft, die von in ihrem Land.Also damals zum Bei- Männern verlangt, möglichst viele spiel, es muss 1970 gewesen, sie war Kinder zu zeugen, Söhne zumal. noch Ordensschwester und organi- Die Tradition, die den Filipinas vor- sierte gerade im Kloster eine De- schreibt, das in Ordnung zu finden. monstration, da klingelte das Tele- Der Aberglaube, der schreckliche fon, Imelda war dran, und … Dinge prophezeit: Wenn Frauen die Imelda? Pille nehmen, so wird erzählt, dann Nun ja, man kannte sich, die Villa- verlieren sie die Lust. reals sind auch so eine wichtige Fa- Und die Kirche, natürlich. Die milie.Wie gesagt, Imelda Marcos rief sowieso. an, sie wusste nichts von der Demo, sie weinte, sie hatte Sorgen, ihr Mann lso“, sagt Felicidad Villareal, ging fremd mit dieser Schauspielerin

Aehemals Nonne, ehemals Un- A. GARCIA / SABA FOTOS: Dovie Beams, die CIA habe das Mä- tergrundkämpferin, jetzt Staatsse- Teenagerin Sheila, Sohn (M.): Keine Milch für das Baby del auf ihn angesetzt, sagte er seiner kretärin im Sozialministerium, „es Frau, und Imelda wiederum … gibt viel zu viele Leute, die Angst haben zer-Clans, die das Land noch immer im Das also ist diese ehemalige Kirchen- vor der Kirche. Und Angst vor ihrem eige- Griff haben und jede Veränderung ver- frau, die jetzt für Estradas Regierung ar- nen Schatten haben sie auch“. hindern, die ihren Status ernsthaft be- beitet und eigentlich dasselbe will wie die Natürlich ist es nicht nur die Kirche. Es droht. Leute von der UNFPA: „gender power“. ist auch dieses verdammte, korrupte, sta- Das alles wissend, aber nicht sagend, be- Das heißt: Macht für die Frauen. tische Land, in dem sich nichts ändern will, tont die Staatssekretärin, dass sie „auf Eine seltsamer Mensch, diese Staatsse- in dem jedes dritte Kind unter fünf Jahren Fortschritte hofft“, dass es „schon schlim- kretärin, die damals Nonne wurde, weil zu wenig zu essen hat, in dem die Wirt- mer gewesen ist“, und sie weiß ja tatsäch- das gute Leben so langweilig war. Die es bis schaft ein bisschen, das Pro-Kopf-Ein- lich, wovon sie spricht. zur Äbtissin brachte in einem kleinen Or- kommen aber überhaupt nicht wächst, in Man sitzt in einem dieser feinen Cafés, den, bis sie in den blutigen siebziger Jah- dem Arme arm bleiben und Reiche reich. in einem dieser feinen Hotels im Distrikt ren die Entdeckung machte, dass die Welt Dieses Land, das von den Spaniern, den Makati, wo Manila Manhattan spielt oder ungerecht war. So kämpfte sie mit Stu- Amerikanern, den Japanern beherrscht Hongkong. Es empfängt Felicidad Villareal, denten und Bauern, tauchte ab, suchte den wurde und dann von der eigenen Elite, die eine füllige Erscheinung um die 60, die gern Weg zurück in die Gesellschaft und wurde in den Kolonisatorenzeiten herangezüch- redet und lacht, und sie berichtet von einem aufgenommen in Gnaden, sie war ja nicht tet worden ist – jene 20 Großgrundbesit- sehr eigenwilligen Umgang mit Macht. Po- irgendwer, mit dieser Familie. Und weil sie nicht irgendwer war, ent- wären, mir ein Kind zu ge- terstehen. Zwei weitere Gouverneure und schied sie sich für das, was bären“. der Bürgermeister der City of Manila ha- viele in der Familie betrie- Immerhin: Der Präsident ben dasselbe getan. ben: Politik. macht Fortschritte. Jetzt Es gibt den charismatischen Kardinal Manchen erschien es als hat die Asian Development Sin, der immer für Menschenrechte und Verrat, dass sie für Marcos Bank erklärt, dass die immer gegen Verhütungsmittel gekämpft arbeitete, in der „Commis- schlechte Geburtenpolitik hat, der wie kein anderer Kleriker be- sion on Population“, weil eine „ernsthafte Behin- stimmt, was eine Regierung sich leisten die, so sagt sie noch heute, derung für die wirtschaftli- kann und was nicht. Und noch immer gibt „etwas Sinnvolles tat“. Kli- che und soziale Entwick- es Priester wie Pater Cornelio Moral, der niken einrichten. Die Pille lung“ der Philippinen sei. seinen Gläubigen in den Slums von Mani- ausgeben. Imelda persön- Seitdem sagt auch Estrada, la Keuschheit verschreibt: „Wenn eine lich war Schutzherrin des dass das Bevölkerungs- Mutter von fünf Kindern mir sagt, sie will Programms, weil auch der wachstum „zu einem Pro- Verhütungsmittel benutzen, dann sage ich Marcos-Clan begriffen hat- blem wird“, und gab be- ihr: Deine Methode sei die Selbstkontrol- te, dass seine „Neue Gesell- Politikerin Villareal kannt: „Knaus-Ogino funk- le, und dein Blick sei gerichtet auf das Le- schaft“ an sich selbst er- tioniert nicht. Es ist so ben Christi als Inspiration.“ sticken würde, wenn sie weiter so wuchs. schwierig, den Trieb zu kontrollieren.“ Eine Die Philippinen, schreibt der Schrift- Und weil die Uno einsprang, 1969 schon – Lösung werde gefunden, „mit der Hilfe un- steller Francisco Sionil José, haben „über seit damals ist UNFPA auf den Philippi- serer Kirche“. 300 Jahre im spanischen Konventsmief ver- nen aktiv, zusammen mit anderen Geldge- Aber meint er das ernst, der Schauspie- bracht und 50 Jahre unter dem Joch Hol- bern wurden bisher rund 500 Millionen ler-Präsident? Die Kirche hat Übung darin, lywoods gelebt“. Spanien hinterließ die Dollar für das Bevölkerungsprogramm auf- Fortschritte zu blockieren. Und sie ist auf Katholikenmoral, Amerika seine Sprache, gebracht. Es trug dazu bei, dass die Frucht- allen Ebenen der Politik präsent. Fabriken und Kino-Träume, und wer damit barkeitsrate nicht mehr 6 Kinder pro Frau Im Senat sitzt Francisco Tatad, der dem aufwächst, kennt viele Arten von Moral, beträgt wie 1973, sondern 3,62. reaktionären Katholikenclub Opus Dei an- aber bestimmt nicht diejenige, die sich die Und jetzt? Jetzt hat Villareal einen Prä- gehört, und er hat es immer wieder fertig Popsängerin Geri Halliwell für die Schwe- sidenten als Chef, der unkluge Dinge zum gebracht, staatliche Ausgaben für Famili- stern auf den Philippinen wünscht: die Thema Kinderreichtum sagt und der selbst enplanung zu sabotieren. Der Gouverneur „Selbstbestimmung über den Körper“. Für dafür bekannt ist, dass er sich gern ver- der Provinz Laguna, der sich zur Anti-Ab- Mädchen wie Ava wirkt sie fremd, diese mehrt. Er hat mindestens zehn Kinder mit treibungsfront „Pro-Life“ bekennt, hat mo- Idee. Kann man an so was glauben? mindestens vier Frauen und prahlt auch derne Verhütungsmittel verboten in den Ava Daireen ist 19, schmal und schüch- noch damit, „dass viele Frauen stolz Hospitälern, die der Provinzregierung un- tern und eines der Mädchen, die im „Teen- Ausland age Health“ Center der Stadt Cavite ler- Dort sitzen Frauen plötzlich wichtig in Dollar bringen die 4,2 Millionen „Over- nen sollen, wie man möglichst lange ohne Entscheidungsgruppen herum und kriegen seas Workers“ ihrem Land jährlich ein, die Schwangerschaft durchs Leben geht. Kredite, erst von UNFPA,dann von echten meisten sind Frauen: Kindermädchen, Mädchen in weißen Blusen, schamhaft ki- Banken, die begriffen haben, was auch die Krankenschwestern, Huren. In Singapur chernd allesamt; die Präsidentin der „Stif- Weltbank weiß: Dass Frauen zuverlässiger verdient ein Kindermädchen viermal so tung Jugendentwicklung“ ist da und fragt zurückzahlen als Männer, mit einer Wahr- viel wie eine diplomierte Biologin in Ma- ihre Lektionen ab: scheinlichkeit von 98 Prozent. nila. Das genügt, um die Angst vor „Was macht ihr nicht mit einem Jungen?“ Sie züchten Schweine, trocknen Fische, Misshandlung zu verdrängen, die seit „Mehr als küssen.“ richten Läden ein oder kaufen Motorrad- dem Drama um Sarah Balabagan und Flor „Wo geht ihr nicht allein mit ihm hin?“ taxis, im Slum von Apelo beispielsweise. Contemplacion öffentlich geworden ist: „An den Strand. Ins Kino. Zu ihm.Allein Jetzt fahren die Männer in ihrem Auftrag Sarah, die 1994 in Notwehr ihren arabi- ins Zimmer, bei uns.“ darin Kunden durch die Stadt. „Das hilft“, schen Dienstherrn erstach und nur durch „Was ist Sex?“ sagt Doktor Junice Melgar. „Jetzt müssen eine weltweite Kampagne vor der Hin- „Sex ist schwanger werden. Unmora- die Männer netter zu ihnen sein.“ richtung bewahrt wurde. Flor Contem- lisch sein.“ Es hilft offenbar wirklich. Es ist langsam placion, der dasselbe in Singapur passier- „Richtig. Ihr könnt Händchen halten. und mühsam und der einzige Weg, das Le- te und der niemand half. Sie wurde Das ist Sex genug für euch.“ ben dauerhaft zu verändern. „Wer Geld gehängt. Wenn ein Mädchen allein mit einem Jun- hat“, sagt Dolores Porto, neuerdings Fuß- Wo viele Kinder sind, sind viele Kinder gen spazieren geht, wenn der Junge zu- mattennäherin im Dorf Malvar, „hat zu viel, und so bleibt nur die Auswande- dringlich wird und das Mädchen schwan- Macht.“ „Wer einen Job hat“, sagt Marides rung für diejenigen, die kleine Geschwister ger, dann heißt es: Sie hat es so ge- zu ernähren haben, oder für die, die wollt. zu Hause niemand will. „Was wünschst du dir, Ava?“ Viele stranden schon in Manila. „Karate.“ Man findet sie abends, auf dem spär- Die Sache ist so: Ein Mädchen wie lich erleuchteten Platz bei der Mala- Ava darf nicht allein mit einem Jun- te Church. Und während die Famili- gen in einem Zimmer sein. Aber je- en in der Provinz noch glauben oder den Tag arbeiten gehen in der Elek- glauben wollen, die Tochter sei Be- tronikfabrik, 185 Pesos verdienen dienung bei McDonald’s, verkauft und der Familie abliefern und sehr das Mädchen seinen Körper an japa- oft nachts, in der Dunkelheit um elf, nische oder deutsche Touristen oder nach Hause gehen – das darf sie an Männer aus dem eigenen Land. schon. Nachts hat sie oft Angst. Des- „Sie gehen erst zur Kirche“, sagt halb Karate. Dana, die dort als Zuhälterin ver- dient. „Dann kommen sie zu uns.“ ir müssen das Leben verän- Nachts patrouilliert sie durch das Wdern“, sagt die Staatssekretärin Viertel, vermittelt Freier an Mädchen Villareal. „Nicht nur Kleinkram. und scheucht die Kleinen vom Platz, Sonst wird das nichts. Niemals.“ die Zehnjährigen, ab, weg auf den Es genügt eben nicht, Pillen und Kinderstrich, die sind hier nicht er- Spiralen und Präservative zu vertei- wünscht. Sonst kommt womöglich len. Sicher, es ist schon ein Erfolg, nicht nur die Stadtpolizei, die sich wenn jetzt rund drei Millionen Frau- notfalls mit 150 Peso Bestechung zu- en in Umfragen erklären, sie würden frieden gibt, sondern die etwas ernst- gern weniger Kinder bekommen. Die hafter ermittelnde nationale Polizei. muss man schleunigst mit Material Dana ist auch so ein Exportarti- versorgen, das ist klar.Aber Mädchen kel, ein überzähliges Kind. Fünf Jah-

wie Ava oder Sheila Buzon sind in AFP / DPA re lang sang und hurte sie in einer ja- vielen Versorgungsprogrammen nicht Ex-Präsidentin Aquino, Kardinal Sin*: Macht der Kirche panischen Karaoke-Bar, kam zurück vorgesehen, aus Angst vor der Kir- zum Straßenstrich und hatte das che. Fast 200000 Teenagerschwangerschaf- Labarientos in San Fabian, 28, ein Kind, Anschaffen satt. Jetzt ist sie Mitte 30 und ten werden pro Jahr bekannt, und es sind „kann es sich nicht leisten, dauernd Geschäftsfrau geworden. Zuhälterin, ja si- sicherlich viel mehr. In großen Familien ist schwanger zu sein.“ Wer etwas sparen cher, aber noch viel mehr: „Ich bin ein so etwas leicht zu verbergen. Da fällt es kann für die Zukunft, muss nicht mehr Kaufhaus.“ nicht auf, ob das neue Baby von der Mut- glauben, dass möglichst viele Kinder die „Macht 200 Pesos“, sagt sie und zieht ein ter oder von einer der Töchter stammt. Rettung seien. Sie sind es ja nicht. Und was Schulheft aus ihrem Rucksack. „Plas- Es wird dauern, bis das Ideal der „selbst- mit den Überzähligen geschieht, das sind tikschuhe. Plüschhund. Unterhosen“, steht bestimmten Fruchtbarkeit“ erreicht ist. Geschichten, die keiner gern erzählt. da auf eng beschrifteten Seiten. Dana ist „Solange sich in der Verteilung von Besitz ein Einpersonen-Income-Project, selbst ge- und Macht nichts ändert“, sagt die Staats- ie haben eine Tochter in Hong- gründet, selbst finanziert. Sie beschafft Wa- sekretärin, „wird alles Stückwerk bleiben.“ Dkong.“ Oder in Riad oder Mailand ren aller Art für die Huren, die keine Zeit „Geld“ heißt das magische Wort. „In- oder in Berlin. Oft hört man das, in armen dazu haben; sie will aussteigen aus dem come generating project“ heißt es auch; Regionen wie Mindanao, Cebu oder nörd- Zuhälterjob und was Richtiges werden, ein soziologischer Ansatz, den Villareal aus lich von Manila, und es heißt: Sie haben ein „Unternehmerin“, sagt sie. „Weil das ein Erfahrung kennt, seit sie in den frühen bisschen Geld. Scheißleben ist. Weil ich“, sie kramt im achtziger Jahren Entwicklungshelferin in Die wichtigste Exportware der Philip- Rucksack, „weil ich die da hab“, man sieht China und Indonesien war. In manchen pinen ist der Mensch. Rund acht Milliarden ein Foto mit vier Kindern, „und ich will Dörfern und Vierteln von Manila hat er die nicht, dass die nach Japan gehen. Die wer- Welt auf den Kopf gestellt. * 1994 bei der Verbrennung pornografischer Schriften. den mal Doktor. Oder reich.“ ™

250 der spiegel 38/1999 Werbeseite

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AUTOREN Schalck im Nacken umoren im Hause Rowohlt: Vier angesehene RAutoren protestieren in Briefen an den Verleger dagegen, dass Rowohlt die Autobiografie des zwielichtigen ehemaligen DDR-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski, 67, publizieren will. Die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta D. ANDREE ACTION PRESS ACTION Müller, 46, und der 1977 von Ost- nach West- M. FENGEL deutschland übergesiedelte Hans Joachim Schäd- Schalck-Golodkowski Spengler Müller lich, 63, sowie ihre Kollegen F. C. Delius, 56, und Tilman Spengler, 52, empören sich darüber, dass sie im kom- zu verlassen, „müsste ich in Kauf nehmen, dass ich sie verlie- menden Frühjahr Verlagskollegen eines Politikers werden sol- re“; mit „einer anderen Entscheidung würde ich mich erpress- len, „dessen Biografie“, wie Spengler wettert, „ersichtlich vie- bar machen“. Seinen Verlags-Zugang Schalck-Golodkowski len Menschen zum Nachteil gereicht hat“. Ihr Widerstand sei sieht Hansen außerdem als „hochinteressante Figur der Zeit- daher „eine Frage von Anstand und Geschmack“. Rowohlt- geschichte, die ein kapitalistisches System innerhalb des So- Chef Nikolaus Hansen, 47, kann zwar „gut verstehen, dass zialismus aufgebaut hat und heute als Inkarnation des Bösen Ost-Autoren Schwierigkeiten haben, dieses Buch zu akzeptie- herhalten muss“. Noch klingt der Autoren-Protest außerdem ren“; auch sei die geplante Veröffentlichung „ein heikles The- eher zahm: „Ich werde nie pompös sagen: Schalck oder ich“, ma“.Würden ihm die Autoren allerdings androhen, den Verlag erklärt Spengler, „aber wir behalten uns Schritte vor.“

eingespielt hat, sondern MUSIK noch ein weiterer subti- ler Leinwandspuk: In Schluchzen und fetzen „The Sixth Sense“ (Deutschlandstart am 30. uch auf dem Balkan wandeln Dezember) spielt Bruce Asich die Musikgeschmäcker: Willis einen von Schuld- Statt schmissiger Roma-Blaskapellen gefühlen gequälten Kin- verlangen Brautpaare heute bulgari- derpsychologen, der ei- sche Partymusik bei ihren Hoch- nem verstörten Jungen zeitsfeiern. Auf die Nachfrage rea- helfen will: Der Kleine gieren clevere Kapellmeister, indem hat die ausgesprochen sie blitzschnell ihre Bands umbeset- lästige Gabe, Geister zu zen – mit E-Gitarren. Ehe die klassi- sehen. Fünf Wochen in schen Weisen der Gegend auf diese Folge nahm der morbide Weise verloren gehen, hat eine Thriller jeweils mehr als Truppe von Weltmusik-Spezialisten 20 Millionen Dollar ein, jetzt die Doppel- ein Coup, der zuvor nur CD „Souffles de „Titanic“ und „Star l’âme: Balkan Wars“ gelungen war. Ins- Blues“ (39,95 gesamt hat das Gespens- Mark, nur bei teropus bislang 181 Mil- Zweitausendeins

CINETEXT lionen eingespielt. Sein erhältlich) mit 34 Willis (l.) in „The Sixth Sense“ Trick: ein höchst überra- fabelhaft virtuosen

schender Schluss, der Titeln aus sieben C. SCHOLZE FILMINDUSTRIE Zuschauer zum Zweit- oder Drittbesuch Balkanstaaten zu- Redzepova (M.) veranlasst. Nicht zu jeder Geisterstunde sammengestellt: Gruseln bringt Geld finden sich die Gruselfans zuhauf ein; Liebe, Drama und Schicksal werden „The Haunting“ (Deutschlandstart als mal in schluchzend wehleidigen Bal- assensturz in Hollywood: Der Som- „Das Geisterschloss“ am 14. Oktober), laden, mal in ausgelassen hingefetz- Kmer ist gelaufen, und siehe da, ganz von Erfolgsregisseur Jan De Bont als teu- ten Tanzstücken beschworen. Die oben in den amerikanischen Erfolgscharts rer Blockbuster angelegt, kam auf ver- Sammlung stellt die größten Stars stehen zwei Filme, die am Saisonstart gleichsweise enttäuschende 90 Millionen der Gegend vor, etwa die Roma- kein Mensch auf dem Zettel hatte. Wie Dollar. Aber der Hunger der Zuschauer Diva Esma Redzepova, ohne sich durch Hexerei reüssierte nicht nur der nach Jenseitigem scheint in den USA um politische Querelen und ethni- kunstvoll verwackelte Pseudo-Dokumen- ungestillt: Gerade startete der wirr mys- sche Grenzziehungen zu scheren – tarfilm „The Blair Witch Project“ (SPIE- tische Vatikan-Thriller „Stigmata“ mit die Musik mit ihrem Mix aus ver- GEL 33/1999), der bloß 35000 Dollar kos- einer Wochenendkasse von 18 Millionen. schiedensten Einflüssen tut es tete, aber bisher bereits 138 Millionen Die würde auch den Papst freuen. schließlich auch nicht.

der spiegel 38/1999 253 Szene

LITERATUR Helvetische Kraftpillen eden Herbst das Gleiche: Urlaub vor- Jbei, Filme entwickelt, und schon wer- den landauf, landab die Nachbarn vor der Dia-Leinwand zusammengetrieben. Nur einer widersetzt sich seit Jahrzehn- ten dem Ritual: Peter K. Wehrli aus Zürich. Ausgerechnet er, der als altge- dienter Fernsehjournalist täglich Bilder sprechen lässt, entschloss sich im revo- lutionären Jahr 1968 zu einer privaten Widerstandsaktion: Seine Erinnerungs- Schnappschüsse bestehen aus Sprache, und die deckt eben oft auf, was Kame- ras entgeht. Zum Beispiel erscheint „der idyllische Dorfbahnhof, der in nichts erkennen lässt, dass er der Bahn- Baldessari-Werk „Arrive“ (1996) hof der Großstadt Tripoli ist, außer FOTOGRAFIE durch die auf Ta- feln verkündete Tatsache, dass er Heimatbilder aus dem Auto der Bahnhof von Tripoli ist“. Oder ur radikalen Abrechnung kam es aus B-Movies zu witzig-kulturkritischen aber „das Ra- Z1970: Der kalifornische Künstler Collagen. 1996 entstand etwa die Foto- scheln der Viper John Baldessari, damals 39 Jahre alt, arbeit „Arrive“, auf der zwischen allzu im dürren Laub verabschiedete sich mit einem Fegefeu- bekannten Figuren wie Werbe-Cowboy hinter San Grato er von der Malerei. Seine frühen Bilder und Film-Blondine ein schleimiges Ge- und die darauf warf er in die Glut, neuere Werke ließ tier stört. Baldessari, als Mitbegründer folgende Stille, er einmauern. Bald konvertierte Baldes- der Konzeptkunst gefeiert, wurde auf die so intensiv sari, heute 68 Jahre alt, endgültig zur Renommierschauen wie Biennale oder ist, dass ich mir Fotografie. Auch sie betrieb er unkon- Documenta geladen. Dennoch blieb er sage, wenn man ventionell: Er lichtete seine Heimatstadt in Europa der große Unbekannte. Dem Stille riechen National City, ihre Telefonmasten und Popularitätsmangel wollte die Stiftung könnte, würde Autosalons, aus dem fahrenden Auto Niedersachsen abhelfen; sie verlieh dem mich der Geruch ab, zog die Bilder auf Leinwände und Amerikaner den diesjährigen „Spec- von Lärm überhaupt nicht interessie- ließ von einem Schildermaler Kurztexte trum-Preis für Fotografie“. Von Sonntag ren“. Jahrelang bekamen allerdings nur auftragen. Und er kombinierte Trivial- an zeigt das Sprengel Museum in Han- Freunde und ein paar Leser exklusiver Aufnahmen aus Illustrierten mit Szenen nover 32 seiner Arbeiten (bis 2. Januar). Literaturzeitschriften diese helvetisch- hintersinnigen Kraftpillen zu kosten. Nun aber hat Wehrli, 60, der seine Kino in Kürze Sammlung mit dem Understatement des Surrealisten einen „Katalog von Al- „Die Legende vom Ozeanpianis- lem“ nennt, sich doch bereden lassen ten“ schildert das seltsame Leben und 1111 der Augen öffnenden Mikro- eines Mannes mit dem klangvol- Werke (samt etlichen Zugaben) zum len Namen Neunzehnhundert Buch gebündelt: von ersten Beobach- (Tim Roth), den man als Neu- tungsexperimenten während einer lan- geborenen am ersten Tag des gen Zugfahrt nach Beirut bis zum fulmi- Jahrhunderts auf dem Klavier ei- nanten Schluss, wo auf knappstem nes Überseedampfers findet. Er Raum „das Gute“, „die Poesie“, „die wird zum betörenden Pianisten, Konstante“, „der Wesenszug“, „das und nie verlässt er seine schwim- Nichts“ und schließlich „das Ganze“ mende Welt. Vom Regisseur Giu- sprachlich dingfest werden. Mag der seppe Tornatore („Cinema Pa- eine beim Lesen an Beat-Prosa, an den radiso“) und vom Komponisten

von Wehrli verehrten Richard Brautigan Ennio Morricone mit rauschen- CONCORDE denken, ein anderer Verwandtschaften den Bildern und Tönen aufgeta- Szene aus „Die Legende vom Ozeanpianisten“ zum Gedankenblitz-Labor des alten kelt, erinnert diese Verfilmung Georg Christoph Lichtenberg spüren: eines Romans von Alessandro Baricco „Eve und der letzte Gentleman“. Er heißt Diese Wort-Vignetten drehen den Blick an den großen Illusionisten Fellini und selbstredend Adam, dieser letzte Vertreter – aufs wirklich Wichtige. dessen „Schiff der Träume“. Dem dampft einer aussterbenden Gattung, und er hat sie aber weniger genial als sentimental die ersten 35 Jahre seines Lebens in einem Peter K.Wehrli: „Katalog von Allem“.Albrecht Knaus hinterher. unterirdischen Atombunker zugebracht. Verlag, München; 416 Seiten; 44,90 Mark.

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ZEITGESCHICHTE „Verrückte Bärbel Bohley“ Am Rande ubiläen werfen keine Schatten voraus, sondern Bücher. Diesmal ist es der zehnte Fun im Ohr JJahrestag von Mauerfall und Vereinigung, der sich in den Bücherregalen ankün- digt. Den Auftakt übernimmt eine klug sortierte Auswahl aus 1000 Briefen, die DDR- uss die Welt ganz ohne Trost Bürger – und einige Westdeutsche – zwischen September 1989 und März 1990 an das Msein, damit man große Ge- „Neue Forum“ schrieben („Sie haben so lange das Sagen, wie wir es dulden“. Briefe danken in dieselbe setzen kann? an das Neue Forum September 1989–März 1990. Schriftenreihe des Robert-Have- Kulturmenschen singen seit je mann-Archivs. 412 Seiten; 19,80 Mark). Das „Neue Forum“ war die wichtigste oppo- das Lob der Stille und der sitionelle Gruppierung des Wende-Herbstes. Die Briefe – adressiert an Initiatoren langen Weile: Nur in aller- wie Bärbel Bohley oder Jens Reich – schildern Ängste und Hoffnungen in bewegter einsamster Einkehr, be- Zeit. Da solidarisieren sich anonyme Schreiber mit Dissidenten; andere wollen die haupten sie, ließe sich über DDR-Volkswirtschaft umbauen. Auch Bissiges kommt an – von verbitterten Bonzen knifflige Rätsel nachsinnen. („Es ist bedauerlich, dass wir als Staat solches Geschmeiß noch Jahre dulden!“) oder Darüber etwa, dass Naddel von angeblich 4710 Mitgliedern der DDR-Einheitsgewerkschaft FDGB an die „ver- offenbar schreiben kann (zu- rückte Bärbel Bohley“, die sich zur Maueröffnung am 9. November kritisch geäußert mindest einen Entschuldi- hatte. „Manchmal“, sagt Herausgeberin Tina Krone, einst Mitglied des „Neuen Fo- rum“, „war mir beim Lesen der Briefe, als würde ich alles noch einmal erleben.“ gungsbrief an Kanzlergattin Doris); darüber, ob Peter Sloterdijk tatsäch- lich so herrendenkermäßig druff ist, dass ausgerechnet Wiglaf „Die Ge- PLAGIATE zu eins kopiert burt der Schmiererkomödie“ Dros- werden. Einige te ihm nun das zause Nietzsche- „Zu faul zum Denken“ Werbeagenturen Bärtchen zwirbeln darf; oder dar- machen sich nur über, ob man das Talk-Elend von Der Fotokünstler Horst Wackerbarth, noch die Mühe, die Ex-Sportreportern mehr beweinen 49, Geschäftsführer der Hamburger Vorlage nachzu- muss als die Emigration von Lothar Stiftung Akademie Bildsprache, will mit stellen und sie Matthäus. Denken, das belegt die- Verbänden aus Kunst, Werbung und dann seitenver- se kleine Rätsel-Parade, macht in Medien eine Schiedsstelle einrichten, kehrt abzubilden. unserer Zeit nicht klüger, sondern die gegen Ideenklau vorgeht. Oft wurden zuvor trübsinnig. sogar frech Arbei- Und deshalb wollen wir den 20. Ge- SPIEGEL: Herr Wackerbarth, sich gegen- H. JANSEN ten vom eigentli- seitig zu inspirieren war unter Künst- Wackerbarth chen Urheber an- burtstag einer genialen Erfindung lern immer üblich. Wo ziehen Sie da gefordert. bejubeln. TPS-L2 hieß das Modell, die Grenze zwischen Zitat und Plagiat? SPIEGEL: Gehen den Kreativen die eige- das die japanische Firma Sony im Wackerbarth: Die fällt einem wie nen Einfälle aus? Sommer 1979 auf den Markt brach- Schuppen von den Augen. Es ist lei- Wackerbarth: Gute Ideen waren immer te – unter dem Produktnamen der längst alltäglich, dass Motive eins selten, nur ist heute die Nachfrage nach „Walkman“: das erste tragbare Drehbüchern oder Werbespots größer. Kassettengerät samt Ohrstöpseln Viele Leute sind zu faul zum Denken, respektive Kopfhörer. Für die zu faul, das Bestehende weiterzuent- Rhapsoden des kulturellen Nieder- wickeln. Und das Unrechtsbewusstsein gangs stand schnell fest, dass der Dorthin waren seine Eltern, ein brillant-ver- ist gleich null. Die Entwicklung ist auch Walkman Teufelszeug sei: ein Be- schrobener Wissenschaftler samt beschürz- Furcht erregend, weil Bild- und Textma- schallungsapparat, der die Gries- ter Gattin, in den sechziger Jahren geflüch- terial inzwischen leicht aus dem Inter- tet, weil sie glaubten, einem Nuklearschlag net auf den PC geladen werden kann. gramsruhe aus den U-Bahnen und entgehen zu müssen. Ihrem Sohn (Brendan SPIEGEL: Mit welchen Strafen will die womöglich jungen Menschen die Fraser) brachten sie alles bei, was ein Nach- Schiedsstelle diese Verstöße gegen das Seele aus den Ohren sauge; ein kriegs-Gentleman wissen muss. Seine Er- Urheber- und Wettbewerbsrecht ahnden? Denkverhinderungskasten, welcher ziehung aber hilft Adam nicht weiter, als er Wackerbarth: Eine Jury wird Vorwürfe der Stille und der langen Weile den endlich ans Tageslicht darf, um neue Vorräte prüfen, Abmahnungen schicken und die Garaus mache. In Wahrheit aber ist zu beschaffen: Im Los Angeles der Gegen- dreistesten Fälle in einem Buch veröf- der Walkman, dessen Geburtstag wart zählen andere Werte als der Handkuss. fentlichen. Diese Blamage dürfte Tritt- Sony mit viel Bohai feiern will, das Immerhin ist der verwirrte Zeitreisende brettfahrer schnell abschrecken. Zauberwerk, das der Spaßgenera- schlau genug, sich ein sarkastisches Girlie SPIEGEL: Wurden auch Ihre Fotos schon tion der Achtziger erst die rechte (Alicia Silverstone) zu angeln, das ihm die kopiert? Weltsicht lehrte – und bis heute je- Welt erklärt. „Blast from the Past“, so der Wackerbarth: Ständig. Ich fotografiere dem Musikfan den Soundtrack lie- Originaltitel, nimmt mit betont unschuldi- seit vielen Jahren Menschen auf einem fert noch zum finstersten Lebens- gem Blick (Regie: Hugh Wilson) die Bizar- roten Sofa. Ein Tabakkonzern hat dieses film. Ob’s stürmt oder schneit, ob rerien des Gestern wie des Heute auf Motiv für eine Zigarettenwerbung in die Schippe – ein verspieltes Bubblegum- Großbritannien ziemlich genau abge- beim Grübeln über Naddel oder Märchen, das im Unterhaltungsangebot kei- kupfert. Mit einem Teil des Geldes aus Sloterdijk: Hab Fun im Ohr – und nes Strahlenschutzkellers fehlen sollte. dem Vergleichsverfahren unterstütze ich lass dir die Laune nicht vermiesen. nun den Aufbau der Schiedsstelle.

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gend-rhetorischen Fragen nach einer „explizite Anleitung zum Falschlesen“ künftigen „Zähmung und Züchtung“ des beigefügt worden. Fatwa aus Starnberg Menschen, nach vorgeburtlicher „Selek- Darüber hinaus beklagte der me- tion“ humaner „Merkmale“ durch eine dienerfahrene Modephilosoph die Trans- cce Großdebatte, habemus Philoso- wissenschaftliche Elite – und riefen teils formation von Kritik in publicity-träch- phenstreit. Es geht um den Tod der scharfe Kritik hervor (SPIEGEL 36/1999). tige „Erregungsproduktionen“ und jenen EKritischen Theorie – exaktes Ster- Kommt jetzt, so war zu fragen, zur modernen Medien-„Jakobinismus“, des- bedatum: 2. September 1999 –, um eine Jahrtausendwende der große Paradig- sen „Aufputschungen in Realzeit“ sogar Verschwörung der Habermas-Assheuer- menwechsel – Nietzsche 2000 statt Ador- noch den Nationalsozialismus in den Bande, um linken Antifa-„Alarmismus“ no anno ’68? Humanismus ade. Aufklä- Schatten stellten: „Selbst das NS-Regime in SPIEGEL und „Zeit“, latentes Jakobi- rung am Ende – Peter ante portas? war technisch langsamer und wesent- nertum und den Untergang des Abend- In gleich zwei Antworten, die er als offe- lich weniger durchsynchronisiert als landes. Schon lange nicht mehr hat ein ne Briefe an die „Zeit“ schickte, ging Slo- die totale Öffentlichkeit von heute.“ deutscher Großdenker es geschafft, die terdijk aber gar nicht erst auf die Substanz Für all das werde er Beweise vorlegen. journalistische Kritik an einem höchst der Kritik ein, sondern wandte sich, außer Die „Herren“ würden sich noch um- problematischen Vortrag in ein Komplott an „Zeit“-Redakteur Thomas Assheuer, schauen. gegen seine Person umzudeuten, aus dem hochgemut an seinen neuen Lieblingsgeg- Wenige Tage später rieben sie sich er als Thronfolger im Reich des deutschen ner – Jürgen Habermas, 70, angeblicher tatsächlich die Augen: „Ich habe unwi- Geisteslebens hervorzugehen hofft: ein Drahtzieher der Affäre. Der hatte aber bis derlegbare Beweise dafür, dass in Starn- Metaskandal zum eigenen Ruhm. dahin noch kein Wort über die Sache ver- berg (wo Habermas wohnt –Red.) eine Mitte Juli hatte der Philosoph Peter loren: „Sie haben“, schrieb Sloterdijk, „bei Art Fatwa über mich verhängt worden Sloterdijk, 52, im oberbayerischen Schloss einem Mitarbeiter der ,Zeit‘ sowie bei ei- ist“, sagte er dem Magazin „Profil“. Die Elmau vor internationalem Fachpublikum nem Autor des SPIEGEL Alarmartikel in „medialen Mudschahidin der Kritischen einen Vortrag – Titel: „Regeln für den Auftrag gegeben, bei denen Ihr Name nicht Theorie“ attackierten ihn – und dies in Menschenpark“ – gehalten, der erst mit fallen sollte.“ Der weltberühmte Philo- einer „merkwürdigen Synthese aus Li- einiger Verzögerung für größere Aufre- soph als hinterhältiger Strippenzieher? beralismus und Totalitarismus“. Doch sie- gung sorgte. Seine Ausführungen über das Doch nicht genug damit: Den zentra- he da: Die „Beweise“ blieb er bisher Ende des Humanismus gipfelten in drän- len Schreib-Aufträgen sei auch noch eine schuldig.

DEBATTE Der Denker fällt vom Hochseil Peter Sloterdijks Plädoyer für einen gentechnisch aufgerüsteten „Menschenpark“ erregt die philosophisch interessierte Nation. Greift hier ein ehemaliger Linker auf NS-Phantasien von rassischer Veredelung zurück? Von Ludger Lütkehaus

Lütkehaus, 55, ist Scho- die bekannten wie die nun bloßgestellten penhauer-Herausgeber und unbekannten Freunde gleich scharenweise Professor in Freiburg. Er zu Wort gemeldet. Endlich, nach Jahren veröffentlichte soeben im lähmender Langeweile, in denen die in- Haffmans Verlag den ständig beneidete Literatur allemal ihre „endzeitlichen“ Großessay angeschwollenen Bocksgesänge, ihre „Nichts“. Strauß-,Walser- und Handke-Debatten hat- te, aber die Philosophie den Schlaf der Ver- ieles kann man dem nunft weiterschlief, den selbst gelegentliche Philosophen Peter Hörsaalschlachten um den australischen THEMA VSloterdijk vorwer- / ZEITENSPIEGEL BARTH T. Euthanatologen Peter Singer nur kurz un- fen, nicht aber, dass er die Philosophen Lütkehaus, Sloterdijk: Unbekannte Freunde terbrechen konnten – endlich gibt es wie- Gabe der Prophetie in ei- der einen veritablen Denker-Skandal. gener Sache verloren hätte. Sein unidylli- durch die Generationen“ – „Freunde zu ma- Sloterdijk, der einst allseits gehätschel- scher Vortrag in der Idylle von Schloss El- chen“. Zwar schwant ihm nicht nur Gutes; te Kritiker der zynischen Vernunft, steht mau („Regeln für den Menschenpark“), denn nie weiß man, was für Freunde sich ei- unverhofft als postfaschistischer Über- und der jetzt, verspätet, die philosophische „Er- nes Tages melden werden. Nichtsdestowe- Untermenschenzüchter am Pranger. Der regungsgemeinschaft“ bewegt, stellt diese niger lassen die Autoren, bewegt von einer Neo-Zarathustra aus dem Hause Suhr- Gabe ins hellste Licht. Man muss nur ihr Art telekommunikativer „Fernstenliebe“, kamp seinerseits, bei dem die kynische unfreiwillig ironisches Potenzial würdigen. sich ein auf das Abenteuer, „den unbe- Heiterkeit seiner Anfänge der gänzlich hu- Sloterdijk erfreut sich da gleich am An- kannten Freund als solchen bloßzustellen“. morlosen Empfindlichkeit eines philoso- fang seines Vortrags der Fähigkeit der Philo- Formulierungen von weitsichtigster Am- phischen Divus gewichen ist, konstruiert sophie, sich durch ihre Texte – „Kettenbriefe bivalenz: In den letzten Wochen haben sich eine ferngesteuerte Kampagne und revan-

256 der spiegel 38/1999 chiert sich mit einer Kritik der denunzia- Zarathustras“, je nachdem, wagt er sich auf torischen Vernunft. das riskanteste Hochseil, das derzeit zwi- Auch zu dem von ihm geforderten „Co- Der Unterhaltungswert der Debatte ist schen „Tier und Übermensch“ geknüpft dex der Anthropotechniken“ wollte er beträchtlich. Und, wer weiß, vielleicht ver- ist. Und wie in der Vorrede zu „Also sprach sich nicht mehr äußern: „Ich hatte nie die spricht sie am Ende auch noch einen ge- Zarathustra“ stürzt der Seiltänzer ab. Absicht, in die Debatte um die Gentech- wissen Erkenntniswert. Das freilich setzt Die „Anthropotechnik“ (Sloterdijk), die nologie einzugreifen.“ Und dann nannte voraus, dass man sich auf den harten Kern Gentechnologie, droht oder ermöglicht, er genau das eine „schauerliche Vision“, der Sache konzentriert, nun, da der Text dieses Hochseil zu knüpfen. Eine philoso- was sich bei gründlicher Lektüre seines des Vortrags (in der letzten Ausgabe der phisch kundig gemachte „Biopolitik“ soll 43-seitigen Vortrags aufgedrängt hatte – „Zeit“) nachzulesen und nicht mehr nur sich ihren – im Übrigen leider immer noch „dass sich eine gentechnische Elite aus das Gerücht darüber zu rezensieren ist. beschränkten – Kopf darüber zerbrechen, der alten Menschheit herauszüchtet“. Ein philosophischer Schriftsteller, der nach welchen Kriterien und zu welchen Wie nun, alles nur ein Missverständnis, noch nie von zu großen Themen und Vor- Zielen das geschehen kann. In Deutsch- böswillige Lektüre, intriganter Skandal- bildern einzuschüchtern war, versucht sich land steht derlei aus evidenten historischen journalismus der linken Volksmudscha- in der Heidegger-, Nietzsche- und Platon- Gründen allemal unter NS-Verdacht. hidin zwischen Starnberger See, Alster Nachfolge (in dieser regressiven Sequenz). Der ausformulierte Vortragstext belegt und Spree? Peter Sloterdijk – ein Sal- Sein „Antwortschreiben“ zu Heideggers diesen Verdacht nicht in dem Maße, wie man Rushdie der deutschen Philoso- Brief „Über den Humanismus“ entpuppt man es nach den Frontalattacken der ers- phie? Oder doch nur ein Sturm im Was- sich als eine Art von Post- oder Trans- ten Kritiker erwartet haben mochte. Viel- serglas? Reinhard Mohr humanismus-Brief. Als Sohn oder „Affe leicht hat doch, wie Sloterdijk in seinem polemischen offenen Brief an Thomas Ass- heuer in der „Zeit“ vom 9. September un- terstellt, etwas zu heftig die Glocke des – biopolitisch korrekten – „Alarmismus“ ge- schrillt. Es ist Sloterdijk abzunehmen, dass seine Distanzierung von der NS-Eugenik und ihrer „gestiefelten“ Nietzsche-Lektü- re keine leere Geste war. Und seine Hei- degger-, Nietzsche- und Platon-Interpreta- tion ist natürlich nicht umstandslos mit sei- ner eigenen Meinung kurzzuschließen. Einzuwenden ist höchstens, dass Sloter- dijk Zarathustra-Nietzsches Selektions- ideen seinerseits zu selektiv liest; dass von Nietzsches untereinander heftig konkurrie- renden Konzepten nur der „Übermensch“ und der untergründig anklingende „Wille zur Macht“ übrig bleiben. Die – neben sol- cher Kraftprotzerei melancholische – Idee der „ewigen Wiederkehr“ und des „Amor fati“, der das Leben bejaht, so wie es mehr schlecht als recht ist, bleibt auf der Strecke. Auf der anderen Seite tut Sloterdijk Hei- deggers seinsfrömmelnden „ontologischen Hirtenspielen“ vom Menschen als dem vorindustriellen Hüter und „Hirten des Seins“ noch zu viel der Ehre an, ganz zu schweigen von Heideggers Seinsermächti- gungsgesetz, demgemäß das Sein einst nach dem Führerprinzip gerufen hat. Das sozusagen „ontopastorale“ Echo dieser Hirtenspiele ertönt heute aus dem Munde von Dolly und ihren Nachfahren, die auf ihre schafsmäßige Weise dem „Seyn“ (Hei- degger) ohne die Worte des Glöckners von Meßkirch Stimme geben. Den allzu großzügig gewährten NS-Ma- lus wird man zwar nach der Lektüre des Vortrags relativieren müssen. Trotzdem ist die Fähigkeit des Textes und seines Autors gering, sich damit „Freunde zu machen“. Mittelbar liegt das an dem Bärendienst, den Sloterdijk sich mit seinem offenen Brief an Jürgen Ha- bermas in der „Zeit“ erwiesen hat – einer einzigen Peinlichkeit: Just der Statthalter der Kritischen Theorie in Deutschland, der STILLS / STUDIO X STILLS Menschenzüchtung im Film*: Ruf nach dem Führerprinzip * Boris Karloff in „Frankenstein“ (1931).

der spiegel 38/1999 257 Kultur weiß Gott publizieren kann, was und wo er manismus, davor Nietzsches seiltänzeri- will, wird der denunziatorischen Bauch- sche Sendung des Menschen als des „noch rednerei und des spätjakobinischen Tu- nicht festgestellten Tieres“ auf dem Weg gendterrors verdächtigt, auf dass Sloter- zum „Übermenschen“: Beide verkünden, dijk in der Rolle des verlorenen Sohnes dass das paradoxe „Wesen“ des Menschen gleich die ganze Kritische Theorie der seine Wesenlosigkeit, seine „Bestimmung“ Frankfurter Schule seit dem 2. September seine Unbestimmtheit sei. Das war jene für tot erklären kann. „negative Anthropologie“, die mit ihrer Wieso der 2. September? Nun, da be- gann der ferngesteuerte Generalangriff der Habermaserei auf Sloterdijks „Zarathus- Bestseller tra-Projekt“. Selten kam so viel Verfol- gungs- mit so viel Größenwahn zusammen. Belletristik Dass die Philosophen die Könige spielen 1 (1) Donna Leon Nobiltà wollen und demgemäß Erbfolgekriege in- szenieren, weiß man nicht erst, seit es im Diogenes; 39,90 Mark Hause Suhrkamp um die „Machtergrei- fung“ geht – ist der Habermas-Verlag etwa 2 (2) Isabel Allende Fortunas Tochter jetzt das Haus der Nachkritischen Theorie? Suhrkamp; 49,80 Mark Aber auch der Vortrag selber gibt nur begrenzt Anlass zur Entwarnung. Zu flüs- 3 (3) John Irving Witwe für ein Jahr sig gehen Sloterdijk seine genetisch inge- Diogenes; 49,90 Mark niösen Wortspiele von der Zunge, die die 4 (5) Henning Mankell Die falsche „Sloterdijk will die brutalisierte Fährte Zsolnay; 45 Mark Humannatur durch elitäre Anthropotechnik zähmen“ 5 (–) Elizabeth George Undank ist der philosophische Wagnerei mit der Heideg- Väter Lohn gerei kreuzen, damit sich die „Selektion“ auf die „Lektion“ und das „Auslesen“ auf Blanvalet; 49,90 Mark das „Lesen“ reimen kann. Ermittlungen im Nur zu vertraut ist das Syndrom Moor: Zwei Polizisten untersuchen (bio-)technologischer Avanciertheit mit einen Doppelmord den tiefschwarzen Glaubensartikeln einer konservativen Anthropologie, die vom Menschen zuverlässig das Allerschlimmste 6 (4) Günter Grass Mein Jahrhundert erwartet – das ist schon richtig; dies aber nur, um desto besser auf die instrumentel- Steidl; 48 Mark le Vernunft der „Merkmalsplaner“ und „Anthropotechnologen“ setzen zu kön- 7 (6) Henning Mankell Die fünfte Frau nen. Das ist das uralte Dilemma aller pes- Zsolnay; 39,80 Mark simistischen Anthropologen: Misanthropen 1 in Bezug auf den Menschen, wie er nun 8 (8) Walter Moers Die 13 /2 Leben des einmal meistens ist, sind sie Philanthropen Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark in Bezug auf die Eliten, die Herrscher, die Könige, und zugleich Anthropotechniker, 9 (7) Johannes Mario Simmel Liebe ist Zähmer der Bestien und Züchter der Bes- ten, die den pädadogischen Idealen der die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark Dichter und Denker den Rang ablaufen. 10 (10) John Grisham Der Verrat Gleich ob vis-à-vis der „Spiele“ in den Amphitheatern der Römer oder der Ent- Hoffmann und Campe; 44,90 Mark hemmungen der brutalen Medienwelt – Sloterdijk plädiert für die „Zähmung“ der 11 (–) Nicholas Sparks Zeit im Wind brutalisierten Humannatur durch „An- Heyne; 32 Mark thropotechnik“; und vergisst im vorausei- lenden Fortschrittsgehorsam, dass die me- 12 (12) Martha Grimes Die Frau im dialen wie einst die circensischen Entfes- Pelzmantel Goldmann; 44 Mark selungen nur das ergänzende Unterhal- tungsprogramm zur Zähmung sind. 13 (9) Birgit Vanderbeke Ich sehe was, Zu drückend ist schließlich die Erblast der sogenannten Humanismus-Briefe, die was du nicht siehst Fest; 29,80 Mark nach dem fatalen Vorbild von Heideggers 14 (14) Maeve Binchy Ein Haus in Brief gegen den Humanismus ironischer- weise allesamt die Neigung verraten, zu Irland Droemer; 39,90 Mark Anti-Humanismusbriefen zu geraten. Schon Sartres – Heidegger vorausge- 15 (11) Paulo Coelho Der Alchimist hende – existenzialistische Version des Hu- Diogenes; 32 Mark

258 der spiegel 38/1999 Vorgängerin, der „negativen Theologie“, gehe“, vom Menschen, der nichts anderes darin übereinstimmte, dass über den neu- sei als das, wozu er sich mache, wie Hei- en wie über den alten Gott keine definiti- deggers Verwahrung gegen jede „festste- ve Aussage möglich sei. hende Auslegung“ des Menschenwesens Sie war vom Pathos der Freiheit, von haben eine Leerstelle freigeräumt, deren einem zur Selbsterschaffung radikalisier- Platzhalter zwischen Sein und Nichts ein ten Selbstentwurf geprägt. Sartres Formeln namenloser Mensch ohne Eigenschaften von der „Existenz, die der Essenz voran- war. Jetzt, in dem epochalen Moment, in dem der Selbstentwurf möglich wird, Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich füllt ausgerechnet die „Anthropotechnik“, ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ die „Menschenproduktion“ die Lücke. Das ist die farcenhafte Probe auf den Sachbücher Fortschritt der Geschichte im Bewusstsein 1 (1) Sigrid Damm Christiane und der Freiheit. In ihrer Sloterdijkschen Variante weiß Goethe Insel; 49,80 Mark die Anthropotechnik zwar, dass das Men- 2 (2) Waris Dirie Wüstenblume schenwesen doch nicht ganz so unbe- stimmt, vielmehr aggressiv, ja bestialisch Schneekluth; 39,80 Mark sei. Um so dringlicher wird ihr die Selbst- umschöpfung in der „expliziten Merk- 3 (3) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben malsplanung“ der „genetischen Reform“. DVA; 49,80 Mark Insofern ist Sloterdijks Posthumanismus- Brief – im Blick auf das tierische Un-Tier 4 (4) Corinne Hofmann Mensch – im Grunde menschenflüchtig. Die weiße Massai A1; 39,80 Mark Aber das verschlägt nichts. Denn auch der avancierteste Anthropotechniker steht 5 (5) Dale Carnegie Sorge dich wie der „negative Anthropologe“ in einer nicht, lebe! Scherz; 46 Mark frommen Ahnenreihe: Gott als der erste Merkmalsplaner war der erste Biotechno- 6 (6) Ruth Picardie loge, als er den Menschen mit dem nötigen Es wird mir fehlen, kleinen Unterschied „nach seinem Bilde“ das Leben schuf. Nicht nur in ihrem Namen schließt Wunderlich; 29,80 Mark die Genetik an die biblische Genesis an. Allerdings lobt sie ihren Schöpfungstag Ein Leben mit dem schon vor dem Abend. Auch redet sie heu- Krebs: Eine junge te etwas anders: Statt von „Schöpfung“ Journalistin beschreibt oder „natürlicher Geburt“ spricht Sloter- ihre Krankheit dijk von „Geburtenfatalismus“. Und die in der Tat prekäre „Geworfenheit“ des „ge- 7 (7) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist bürtigen“ Daseins, die Heideggers „Seins- ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark hirt“ einst auf seinen Feldwegen noch vor Augen hatte, überbietet er mit dem poten- 8 (8) Klaus Bednarz Ballade vom zierten Diktat „pränataler Selektion“ und Baikalsee Europa; 39,80 Mark einer „optionalen Geburt“. Die Frage bleibt nur, wessen Option sie ist. 9 (9) Daniel Goeudevert Mit Träumen In seinem apologetisch offenen Brief an beginnt die Realität Thomas Assheuer hat Sloterdijk herablas- senderweise zum besseren Verständnis sei- Rowohlt Berlin; 39,80 Mark nes Gegners „zwischen legitimen genme- 10 (10) Bodo Schäfer Der Weg zur dizinischen Optimierungen für die Einzel- nen und illegitimen Biopolitiken für Grup- finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark pen“ unterschieden. So weit, so gut. Aber 11 (11) Jon Krakauer In eisige Höhen als ob derlei das Thema seines Posthuma- nismus-Briefes gewesen wäre. Das Pathos Malik; 39,80 Mark dieses Briefes gilt dem von Nietzsche „pos- 12 (13) Guido Knopp Kanzler – Die tulierten … Kampf zwischen den Klein- züchtern und den Großzüchtern des Men- Mächtigen der Republik schen – man könnte auch sagen zwischen C. Bertelsmann; 46,90 Mark Humanisten und Superhumanisten, Men- schenfreunden und Übermenschenfreun- 13 (15) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ den“. Mit einem Wort: Freunde allerorten. Integral; 22 Mark Der Titel des Vortrags redet klareren zy- nischen Text: Es geht um „Regeln für den 14 (14) Gary Kinder Das Goldschiff Menschenpark“, das heißt nach Sloterdijks Malik; 39,80 Mark Platon-Auslese: um den „Betrieb von Men- schenparks“, organisiert von „züchteri- 15 (–) Günter Ogger schem Königswissen“. Tatsächlich eine Macher im Machtrausch rundum „zoo-politische Aufgabe“: Schon Droemer; 39,90 Mark das Vokabular ist gruselig inhuman. ™

der spiegel 38/1999 259 Kultur

ARCHITEKTUR Die Magie der Farbe Bauten können, außen wie innen, kräftig koloriert werden, ohne deshalb bonbonbunt zu wirken. Zwei Architekten zeigen in Berlin, wie es geht – und machen damit Furore.

Traum in Weiß Geschichte gemacht. Noch die schrille Buntheit der sechziger Jahre wurde als psychedelischer Plastik-Exzess einer vergnügungssüchtigen Generation ab- getan. In den achtziger Jahren durften Ge- bäude zu bizarren Skulpturen explodieren, aber der Farbrausch galt weiter als un- ziemliche Maskerade – und wurde darum, einmal abgesehen vom Paradiesvogel Hun-

S. LEIGH dertwasser, in der Regel gemieden. Architekten Sauerbruch, Hutton Ausgerechnet in die manierlichen Stein- „Ein einziger Anstrich genügt“ Schneisen Berlins hat nun das Berlin- Londoner Architektenduo Matthias Sau- as Wohnzimmer war strahlend rot, erbruch, 44, und Louisa Hutton, 42, wage-

die Küche eigelb gestrichen – und mutig zwei bunte Gebäudewunder gesetzt, / OSTKREUZ RÖTZSCH J. FOTOS: Ddie Mieter zeigten sich entsetzt. Zu an denen die ganze Palette der Spektral- Sauerbruch-Hutton-Bau in Berlin* proletarisch, benotete die Arbeiterklasse farben pulsiert. Und siehe da: Die Kritiker Lieblingsstück der Kritiker die Berliner Siedlungswohnungen „Onkel jubeln. Tom“ und begann nach dem Einzug flugs Ein halbes Dutzend Preise räumte das Eine erstaunliche Einigkeit, wurde mit dem Umtapezieren. Gar mit „Zucht- Büro ab: Für das Photonikzentrum in Ber- doch erst im Frühsommer das neue Vanil- häusern“ oder „Pferdeställen“ verglichen lin-Adlershof erhielten sie die Sonder-Aus- legelb des Einsteinturms von Erich Men- die Kritiker die Behausungen des Archi- zeichnung des Deutschen Architekturprei- delsohn zum Streitfall unter Kritikern: Bei tekten Bruno Taut. „Was den heutigen ses – zusammen mit Stargrößen wie Do- den Sanierungsarbeiten wurde unter ei- Kunstspießer vornehmlich kennzeichnet, minique Perrault, Coop Himmelb(l)au und nem Blech die Originalfarbe des in der ist ja seine Furcht vor der Farbe“, kom- Norman Foster. Und ihr jüngst fertig ge- DDR weiß gepinselten expressionistischen mentierte der Architekturkritiker Adolf stelltes Verwaltungshaus der Wohnungs- Meisterbaus entdeckt. Geradezu obszön Behne in den zwanziger Jahren die Bau- baugesellschaft GSW wurde rundum ge- erschien einigen auf einmal das liebliche meister-Beschimpfungen. priesen: als „intelligent und elegant wie Gelb, andere schwärmten. „Ein einziger Diskrete Farblosigkeit galt lange als kein anderes“ („Zeit“), als ein „leuchten- Anstrich genügt“, erklärt Matthias Sauer- Erkennungszeichen von Bildung. Eine Bau- der Beispielbau“ („Tagesspiegel“) und ein bruch die Macht der Farben, „um den Ikone der Klassischen Moderne, die Stutt- „moralischer Triumph des guten Neuen garter Weißenhofsiedlung, hat als kubischer über das böse Alte“ („Berliner Zeitung“). * GSW-Wohnungsbaugesellschaft in der Kochstraße. und Lasertechnologie beherbergen, be- kennt sich die Fassade ausnahmsweise zum ganzen Spektrum des Lichts: 36 Farben von reinem Rot, Blau und Gelb bis zu den Mischfarben Orange, Pistazie oder Sand. Doch auch ohne die Farbe wäre der Bau ein Juwel: Die Form erinnert an eine Mi- schung aus Amöbe und Erdnuss. „Das Fließende ist unsere Interpretation des Neuen und der Zukunft“, so Sauerbruch, der seit 1996 als Professor an der Techni- schen Universität Berlin Architektennach- wuchs im Fach Entwerfen ausbildet. Um ihre Bauten im monotonen Einer- lei hervorzuheben, rüsten auch andere Architekten auf: Das neue Hörsaalzentrum der TU Chemnitz von Gerkan, Marg und Partner leuchtet innen in Rot und Blau, außen in Ocker. Norman Foster hat farbige Türen und Wandpaneele in den Reichstag geschmuggelt. Behnisch und Partner hat- ten 1997 im Stuttgarter „Haus der Dienst- Photonikzentrum in Berlin-Adlershof: Schillernde Amöbe zurück aus der Zukunft leitung“ der Landesgirokasse sogar 130 Farben verwendet und jeden Raum anders Charakter eines Hauses komplett zu ver- Kochstraße leuchtet in neun Rot-Tönen anpinseln lassen, weil „auch nicht je- ändern.“ von rosa bis orange. Eine gelungene Mi- der Mensch in demselben, belanglosen Die Magie der Farbe nutzt das Archi- schung aus Farbigkeit und Zurückhaltung Hemd herumläuft“, so Behnisch-Mitarbei- tektenpaar konsequent, um die Atmosphä- – bloß Schrilles ist den Architekten ver- ter Christian Kandzia. re von Räumen zu inszenieren, auch um hasst. „Bei Kirschfarben sehen wir Rot“, Werden jetzt mehr immer mehr bunte sie plastischer erscheinen zu lassen, als sie sagt Louisa Hutton.Warm sollten die Töne Bauten in die Städte gepflanzt? Heftige sind. Das Konzept entwickelten die beiden auch deshalb wirken, weil das GSW-Hoch- Nachahmung möge ausbleiben, hofft in London, wo sie sich während des Archi- haus ein Energiesparhaus mit Ökofassade Kandzia, der seinen Kollegen wenig Ge- tekturstudiums in den achtziger Jahren ken- ist; die gläserne Doppelhaut wirkt wie eine schick quittiert: „Vor allem die fürs Gemüt nen lernten und gemeinsam ihre ersten drei Klimaanlage. gut gemeint angepinselten Plattenbauten in Aufträge ergatterten: Umbauarbeiten in Mit Farbe sei es wie mit Musik, erklären Ostdeutschland treiben einem die Tränen fünf Meter schmalen Londoner Reihen- Sauerbruch und Hutton ihr Konzept, es in die Augen.“ hauswohnungen – die nach Farbzutaten der gebe keine rationalen Kriterien, nach de- Sauerbruch und Hutton wollen weiter Architekten überraschend groß wirkten. nen sie komponiert werden könne. Die Far- farbig bauen – aber nicht überall und im- Weil Gebäude letztlich Innenräume der bensymphonik des Architektenpaars zeigt mer. Im Februar gewannen sie in Berlin Stadt sind, begannen Sauerbruch und Hut- sich dennoch ausbalanciert und wohl über- den Wettbewerb um die Polizei- und Feu- ton, auch Fassaden auffällig zu kolorieren legt, weit entfernt von wild fuchtelnder erwache im neuen Regierungsviertel. Feu- – und gewannen prompt zwei große Wett- Kostümierung. Weil die zwei Gebäude des erwehr-Rot und Polizei-Grün sollen dort bewerbe. Das neue Hochhaus der Woh- Photonikzentrums in Berlin-Adlershof bleiben, wo sie herkommen: an den Ein- nungsbaugesellschaft GSW in der Berliner Unternehmen der optischen Elektronik satzfahrzeugen. Simone Kaempf Werbeseite

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Werbeseite Kultur

ZEITGESCHICHTE „Seele verkauft“ Der Chefarchitekt und Rüstungsminister Adolf Hitlers, Albert Speer, bekannte sich nach 1945 zu seiner Mitschuld an der NS-Herrschaft. Von dem Jahrhundert-Verbrechen an den Juden wollte er aber nichts gewusst haben. Hitler-Biograf Joachim Fest geht in einem neuen Buch dem Rätsel Speer auf den Grund.

twas spröde, bescheiden, fast de- angeklagte und heute der Lieblingsspät- Das ließ den Historiker Fest nicht ruhen. mütig“. Der Publizist Joachim Fest heimkehrer der westdeutschen Gesell- Seine Hitler-Biografie (1973), auch sie ein Eerinnert sich noch genau, wie Albert schaft“. Bestseller, hatte für Furore gesorgt. Danach Speer auf ihn wirkte, als er ihm Ende 1966 Speer blieb eine merkwürdig schillern- hatte sich der Buchautor anderen Themen zum ersten Mal persönlich begegnete. „Ich de Gestalt der Zeitgeschichte, höchst um- zugewandt: den Brüdern Thomas und Hein- konnte es kaum glauben, dass dieser stritten, von allen NS-Größen die rätsel- rich Mann, Italien und dem Widerstand ge- freundliche Herr mit dem NS-Minister, der hafteste, gerade weil er etwas aus der Reihe gen Hitler („Staatsstreich“, 1994). einer der mächtigsten Männer im Dritten fiel.Viele meinten, des „Teufels Architekt“ Mit Speer aber stand noch eine Rech- Reich war, identisch sein sollte.“ habe sich beim Nürnberger Prozess und nung offen. Fest wusste inzwischen: Sein Wenige Monate zuvor, nach 20 Jahren später dann in seinen Memoiren seine ei- Gesprächspartner von damals hatte ihm Haft, aus dem Spandauer Gefängnis entlas- gene Legende mit Bedacht und eiskaltem nicht alles gesagt, und nicht alles, was er ge- sen, suchte der 61-jährige Speer damals ei- Kalkül fabriziert. Der Psychoanalytiker sagt hatte, diente der Wahrheitsfindung. nen Experten, der bereit war, ihm bei seinen Alexander Mitscherlich legte dagegen bei Auch musste den Publizisten, 20 Jahre lang Memoiren zur Hand zu gehen. Das traf sich dem „feinsinnigen Schuldig-Unschuldigen“ Mitherausgeber der „Frankfurter Allge- gut, denn Fest, Jahrgang 1926, war gerade mit massive Verdrängungsmechanismen bloß: meinen“, der immer wieder erhobene Vor- den Vorarbeiten für eine umfangreiche Hit- „ein schönes Beispiel unbewusster Selbst- wurf kränken, er habe bei der Selbststili- ler-Biografie beschäftigt. Ein Zeitzeuge wie blendung“. sierung Speers Formulierungshilfe geleis- Speer, der dem sagenumwobenen Diktator so nahe gestanden hatte wie vielleicht kein Zweiter, kam dem Historiker wie gerufen. In den folgenden zwei Jahren half Fest – zusammen mit dem Verleger Wolf Jobst Siedler – als eine Art Lektor und historischer Berater, die „Erinnerungen“ Speers in eine lesbare Fassung zu gießen. Der Haftentlassene hatte im Gefängnis schon vieles notiert und in nahezu 2000 Kassibern herausschmuggeln lassen. Sein Gedächtnis arbeitete hervorra- gend, wenngleich offensichtlich selektiv. Lücken ließen sich auch durch insistierende Vorhaltungen nicht immer schließen. Fest: „Bei bestimmten Fragen wich er, statt konkret zu werden, ins Ungefäh- re aus.“ Speers „Erinnerungen“ wur-

den, als sie im Herbst 1969 er- SÜDD. VERLAG schienen, trotzdem – oder gerade Architekt Speer, Bauherr Hitler 1936, geplante Berliner Kuppelhalle (Modell), Häftling Speer im deswegen – ein beispielloser Erfolg. Der geläuterte Nazi, der stellver- „Von den Ermordungen der Juden hat- tet. Zudem gab es noch ein Konvolut von tretend Reue zeigte, fand Gefallen bei den te ich keine Kenntnis“ – bei dieser Aus- Notizen, die er damals gemacht hatte, ohne vielen, die schlechten Gewissens waren. sage vor dem Internationalen Militär- sie bislang auszuwerten. Die Medien rissen sich um den gebildeten gericht blieb Speer im Kern sein Leben So erscheint nun nächste Woche am 28. Herrn mit den guten Manieren. Sarkastisch lang. September seine Speer-Biografie, ein bril- brachte der Historiker Eberhard Jäckel den Erst nach seinem Tod (1981) wurde lant geschriebenes Werk, aus dem der Lebenslauf des letzten Überlebenden aus Speers ganz persönliche Beteiligung an der SPIEGEL einen Auszug vorabdruckt (siehe dem innersten Kreis der Nazi-Macht auf „Ent-mietung“ und Vertreibung der Berli- Seite 266)*. den Begriff: „Everybody’s darling – Hit- ner Juden und der Ausbeutung der lers Lieblingsarchitekt, seit 1942 sein Lieb- Zwangsarbeiter für die Rüstungsindustrie * Joachim Fest: „Speer. Eine Biographie“. Alexander lingsminister, in Nürnberg der Lieblings- systematisch erforscht und aufgedeckt. Fest Verlag, Berlin; 540 Seiten; 58 Mark.

264 der spiegel 38/1999 An Fakten bringt Fests Buch kaum et- sind Hitlers unglückliche gebenen, die nicht spurten, was, was nicht auch schon woanders stand. Liebe.“ drohte er mit dem Konzen- Gleichwohl bietet seine abwägende Dar- Beide fühlten sich als trationslager.Als er 1943 auf stellung dem Leser neue Einsichten. Meis- Künstler. In endlosen Nacht- dem Höhepunkt seiner terhaft versteht es der Autor, die Facetten gesprächen entwarfen sie Macht die gesamte Kriegs- dieser Biografie herauszuarbeiten und so Bauwerke, deren Dimensio- wirtschaft dirigierte, brach- zu arrangieren, dass sich die innere Dra- nen alle menschlichen Maße te er sich selbst als Kron- matik offenbart. Er holt die Gestalt Speers sprengten. prinzen ins Gespräch. quasi aus dem Wachsfigurenkabinett der Für Berlin-Mitte plante Ein Traum, der nicht lan- Geschichte und reanimiert sie zu einer his- Speer riesige Achsenstraßen ge währte.Wenig später tor- torischen Person mitsamt ihren Lebens- von über 100 Meter Breite, pedierten die Bomberan- lügen und eklatanten Widersprüchen. an deren einem Ende sich griffe der alliierten Luftflot- Ein Charmeur, ein Fachmann der Im- ein Triumphbogen erhob, ten auch die Position des provisation, ein roboterhafter Workaholic, um vieles mächtiger als Rüstungsministers. Die Pro- unbestechlich und karrieresüchtig, hinga- der in Paris. Neben dem duktionsziffern sanken, und bebereit und machthungrig. Der Architekt Brandenburger Tor entstand mit ihnen sein Stern. Um

Speer war all dies und noch mehr.Aber auf auf dem Reißbrett eine B. BOSTELMANN / ARGUM ihn herum Intrigen und in- ein entscheidendes Defizit macht Fest auf- gigantische Versammlungs- Autor Fest terne Machtkämpfe. Speer merksam: „In einem Charakter wie dem halle, 290 Meter hoch und litt, weil er sich von Hitler seinen war kein Raum für Grundsätze.“ mit einer Kuppel von 250 Meter Durch- zurückgesetzt fühlte. Die Welt zu seinen Der alte Speer selbst sagte über seine Be- messer. 1950 sollte alles fertig sein und Ber- Füßen? Nein, ein Trümmerhaufen. rufsanfangsjahre: „Für einen großen Bau lin als Metropole eines neuen germani- Als endlich auch er, Anfang 1945, den hätte ich wie Faust meine Seele verkauft.“ schen Weltreichs in „Germania“ umgetauft Krieg verloren gab, unterlief er die in sei- In einer Schlussbetrachtung nennt ihn werden. nen Augen „verbrecherischen“ Vernich- Fest „einen Mann mit vielen Fähigkeiten, Als „Generalbauinspektor“ beglückte tungsanordnungen („Nero-Befehl“) seines aber ohne Eigenschaften“, ein „Genie der Speer seinen Gönner mit einer neuen Chefs und sabotierte sie, wo er konnte. Für Anpassung“, letzten Endes abhängig von Reichskanzlei, 391-Quadratmeter- Arbeits- Fest stellt dies einen überraschenden seinem Meister, den er sich in Hitler ge- zimmer für den Hausherrn inklusive. Bei Bruch in Speers Biografie dar, der nicht sucht hatte. den Massenaufmärschen der Partei in leicht zu erklären ist. Für diesen empfand er eine „grenzenlo- Nürnberg sorgte er als „Chefdekorateur“ Wirklich unbegreiflich ist ihm jedoch, se Bewunderung“. Schon als er Ende 1930 mit Flakscheinwerfern für die spekta- dass Speer am 23. April noch einmal in

Spandauer Gefängnis: „Everybody’s darling – Lieblingsarchitekt, Lieblingsminister, Lieblingsangeklagter, Lieblingsspätheimkehrer“

den nationalsozialistischen Parteiführer kulären Lichtdome, Wahrzeichen natio- das Berliner Bunker-Inferno zurückkehrte, zum ersten Mal als Redner erlebte, sei er nalsozialistischer Ästhetik. um von seinem geliebten Führer persön- ihm verfallen. Als Nachfolger des verunglückten Rüs- lich Abschied zu nehmen und ihm seine „Ich war 30, als er mir eine Welt zu tungsministers Fritz Todt demontierte der unverminderte Loyalität auszudrücken. Da Füßen legte“, erklärte Speer nach 1945 sei- Aufsteiger seinen Rivalen Göring und ent- kapituliert der für sein verständnisvolles ne Faszination. Der Architekt und sein machtete Minister und Generäle, die ihm Einfühlungsvermögen berühmte Autor: hoch gestellter Bauherr verstanden sich im Weg standen. Mit Goebbels hingegen „An dieser Stelle muss der historische großartig, offenbar beide bewegt von einer paktierte er, um den „totalen Krieg“ vor- Betrachter einen Augenblick lang aus erotisch gefärbten Zuneigung. Sein Büro- anzutreiben. seiner Rolle als distanzierter Chronist chef Karl Maria Hettlage soll es Speer hin- Unter Speers Ägide verdreifachte sich heraustreten und seine Ratlosigkeit be- terbracht haben: „Sie müssen wissen, Sie die deutsche Rüstungsproduktion. Unter- kennen.“ Rolf Rietzler

der spiegel 38/1999 265 Kultur Ein Mann, zu allem fähig Von Joachim Fest as Muster ist nicht unbekannt.Auf den ersten Blick nimmt ralen auszutragen hatte. Bei näherer Betrachtung ist nicht zu sich die Biografie Albert Speers wie eine Parabel von Auf- übersehen, wie viel gekränktes Gefühl bei jedem Streit im Spiel Dstieg und kurzem Glanz,Verstrickung und Fall aus, für die war, wie viel Eifersucht, Trotz oder Enttäuschung. Auch wie viel es in der Geschichte ungezählte Beispiele gibt. Doch bei genaue- intime Unbefangenheit. Wer hätte es wagen können, den Rede- rem Zusehen zerreißt die einfache Daseinskurve, bricht stellen- fluss Hitlers zu unterbrechen, indem er ein paar Bogen Papier aus weise ab, verwirrt sich und setzt aufs neue an. seiner Aktentasche holte und irgendeine Nebenbeschäftigung Jede biografische Darstellung Speers hat bei dem Gravita- begann? tionspunkt Hitler anzusetzen, ohne den dieses Leben nicht wäre, Der Austrag der Auseinandersetzungen zeigt Speer fast durch- was es wurde. Das sonderbare Verfallen-Sein an den Diktator, für weg als den Überlegenen. In seinen „Erinnerungen“ hat er be- das er so hilflose Vokabeln wie „Bann“ oder „Magie“ verwendet schrieben, wie Hitler ihn an einem der Nachmittage im Teehaus hat, ist von allen Beobachtern erkannt und im ersten Schritt auf mit einem Blick fixierte, der nicht zu enden schien, und wie er die die Bewunderung für den „großen Mann“ zurückgeführt worden, Herausforderung annahm und unter Aufbietung aller Kräfte der eine Erwartungsfigur der Epoche war. durchstand, bis Hitler nachgab und die Augen niederschlug. Die Nicht weniger wirkten die schwindelerregenden Möglichkeiten, unscheinbare Episode lieferte das Schema, dem ihre Streitigkei- die Hitler seinem Ehrgeiz eröffnete, als er ihm „eine Welt zu ten immer wieder folgten. Füßen“ legte, die Umgänglichkeit, die er gleichwohl zeigte, die Er- Aufgebracht über irgendeine Eigenmächtigkeit Speers, traf Hit- folge im Innern wie nach außen, der Jubel, der ihm überall ent- ler eine „unumstößliche“ Entscheidung. Speer widersprach mit ei- gegenbrandete, und die persönliche Freundschaft, die er ihm er- ner Denkschrift oder zeigte seine Ungehaltenheit, indem er dem wies. Das alles ist unschwer zu durchschauen. Hauptquartier fernblieb, sich überhaupt entzog und einmal auch Weit seltener ist die Beziehung von der Seite Hitlers her gese- mit seinem Rücktritt drohte. Sobald er dann, durch eine meist nur hen worden, obwohl er den erstaunlicheren Part in dieser eigen- formelhafte Nachgiebigkeit, ein Zeichen seines Einlenkens gab, artigen Freundschaft griff Hitler die Geste un- spielte. Was immer von geduldig auf, wen immer seinen persönlichen Ver- er dadurch bloßstellte, bindungen bekannt ge- und schonte auch sich worden ist, zeigt einen selber dabei nicht. Stets egomanisch verkürzten schien es zwischen ih- Menschen, der keine un- nen ausgemacht, dass eigennützigen Empfin- Hitler ihm lediglich die dungen kannte und eine oder andere Kom- selbst die privatesten petenz, Speer ihm dage- Regungen seinen macht- gen seine Zuneigung technischen Zwecken nehmen konnte. unterwarf. Auf der anderen Seite Doch seit er eines Ta- stand ihm Speer nicht ges, bald nach Beginn bloß mit dem kalten seiner Kanzlerschaft, auf Gleichmut des Karrie- der Baustelle der alten risten gegenüber. Zwei- Reichskanzlei dem noch fellos verband ihn mehr nicht 30-Jährigen begeg- mit Hitler als die Be- net war, schien eine wunderung für seinen jedermann sichtbare „antiken Helden“ und Veränderung mit ihm die pharaonischen Hoch- vorgegangen. Wie kei- gefühle, die sie vor ih-

nen anderen hat er ARCHIVES WASHINGTON NATIONAL ren Architektentischen Speer herangezogen, Architekt Speer, Dienstherr Hitler 1939 überkamen. Man könne ausgezeichnet und groß ihre Verbindung nicht gemacht. In den statua- auf lediglich sachliche rischen Verehrungsformen, die er sich einzig erlaubte, hat er erst Beweggründe zurückführen, hat Speer mit der ihm eigenen Scheu den Architekten, dann den Organisator und schließlich auch den in Gefühlsdingen versichert. Rüstungsminister verschiedentlich „genial“ genannt, und in sol- chen und anderen bewundernden Äußerungen, die eine Zeit lang ie emotionale Grundierung der Beziehung machte Speer ständig wiederkehren, ist, neben allem Stolz über den jungen er- Dzum Ausnahmefall. Repräsentativ kann man seine Biografie wählten Adepten, ein erotisches Motiv unüberhörbar. daher nur in Einzelzügen nennen. Dazu gehören die vermeintlich Umgekehrt handelte es sich bei den gelegentlichen Spannun- unpolitischen Anfänge, die ihn, wie so viele, fast zwangsläufig ins gen, die seit der Ernennung Speers zum Minister unvermeidli- Lager Hitlers trieben. Hinzu trat die Überzeugung, alle früh zu cherweise auftraten, niemals nur um sachliche Meinungsver- Tage tretenden Übergriffe des Regimes, die Verfolgungen und schiedenheiten, wie Hitler sie mit Göring, Milch oder den Gene- Vertragsbrüche, seien, sofern man sich überhaupt daran störte, nichts als ein schicksalsverhängtes Übel und allenfalls, einer da- © Alexander Fest Verlag, Berlin 1999 mals viel gebrauchten Redensart zufolge, die Späne, die vom Ho-

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chen Mühen und Rückfällen auch immer. Er war niemals sub- altern gewesen. Zu den nach wie vor schwer enträtselbaren Vorgängen aus der Schlussphase des Krieges zählen die Folgsamkeit und oft genug der Furor, mit dem viele das Selbstvernichtungsgebot der Macht- haber befolgten. Der Gauleiter Florian, der in Bildern des bren- nenden Düsseldorf schwelgte und den Feind emphatisch in eine menschenleere, vom selbst entfachten Feuersturm verwüstete Stadt einrücken sah, war keineswegs ein Einzelfall. Feldmarschall Kesselring weigerte sich Speer gegenüber, die Zerstörungsbefehle Hitlers auch nur zu diskutieren, die Feld- marschälle von Manstein und Busch reagierten „sprachlos“, als Speer ihnen am 24. April 1945, nach der Rückkehr aus dem Ber- liner Bunker, erklärte, dass er „entgegen dem Befehl des Führers“ entschlossen sei, die Sprengung der Hamburger Elbbrücken zu verhindern. „Entgegen dem Befehl des Führers?“, wiederholten sie entgeistert. Anders als die Führerkomparsen ringsum, folgte Speer einem intakten, von der Zugehörigkeit zum Hof jedenfalls unkorrum- pierten Überlebenswillen und wohl auch einem höheren Verant- wortungsbewusstsein; vielleicht sogar einer lange verschütteten Reminiszenz an seine Herkunft, die, wie alle bürgerliche Da- seinsvorstellung überhaupt, aufs Bewahren ging. Jedenfalls sah er sich in der Lage, Hitlers letzten großen Vorsatz anfangs abzu- schwächen, dann zu verzögern oder sogar zu unterlaufen, und nichts in diesem Verhalten fügt sich in das Bild, das Speer in nahezu allen voraufgegangenen Lebensphasen abgegeben hat. Denn sowohl seine Architekturprojekte, die nicht selten Hitlers

SÜDD. VERLAG wilde Bauphantasien noch überboten, als auch die Leitung des Rüs- Lichtdom auf dem NSDAP-Reichsparteitag in Nürnberg 1937 tungsministeriums zeigen, dass zu Speers „genialen“ Zügen nicht zuletzt das Genie der Anpassung gehört, und bezeichnenderwei- se wirkt sein Leben, trotz aller vielfältigen Gaben, über lange bel fielen. Anders seien Ordnung und Wiederaufstieg des Landes Strecken hin wie aus zweiter Hand gelebt. Die kritischen Urteile nicht zu bewerkstelligen, meinte eine wachsende Zahl, und nach zur Person haben denn auch vielfach seine geschmeidige Glätte Möglichkeit hielt man sich aus alledem heraus. hervorgehoben und ihm eine geradezu hellseherische Fähigkeit Als verallgemeinerungsfähig mag man auch das ideologische nachgesagt, bevorstehende Stimmungsumschwünge zu erraten. Desinteresse ansehen, das Speer mit der wohl überwältigenden Mehrheit teilte. Außer einem ebenso konturlosen wie überreiz- iele Überlegungen laufen in der Frage zusammen, ob der ten Patriotismus, der Deutschland groß, einig und weithin ge- VNürnberger Prozess für Speer jenes Enthüllungsdrama ge- fürchtet wissen wollte, sowie einigen sozialen Verbrüderungspos- wesen ist, das ihn erschüttert und nicht mehr losgelassen hat. Je tulaten hat ihm die Programmatik des Regimes nichts bedeutet. nachdrücklicher er darauf bestand, desto gereizter wurde das Bezeichnenderweise hat er eingeräumt, er hätte sich auch ei- Echo. Unablässig sprach er von den Untaten, die das Regime be- nem ideologisch gänzlich anders orientierten Machthaber zur gangen, sowie von der Verantwortung und bald auch von der Verfügung gestellt, sofern er ihm ähnliche Möglichkeiten geboten Schuld, die er auf sich geladen habe. Aber die kritischen Urteile hätte. In diesen Zusammenhang gehört seine nahezu lebenslan- stimmen, bei allen Unterschieden im Einzelnen, darin überein, ge Beschränkung auf eine blinde „Ergebnisethik“, die ihm alle dass seine Worte wie von fern kamen und als sei er als Person Fragen nach den weiterreichenden Zielen seines Tuns ersparte. kaum davon bewegt. Die einen schrieben diese „Ungerührtheit“ Und repräsentativ war schließlich auch das Karriereglück, das ihn, der Selbstkontrolle zu, über die er gebot, die anderen seiner „Käl- wie das Land im Ganzen, seit dem Machtantritt Hitlers erfüllte, te“. Ein Interviewer, der mehrere Tage in seinem Haus verbrach- nur dass es in seinem Fall meteorhaft wirkte und wie zusam- te, fand den gleich bleibenden Tonfall beunruhigend, mit dem er mengefasst ins Beispiel eines Einzelnen. in einem Augenblick von den Schrecklichkeiten der Vergangen- Dahinter trat alles zurück. Die finsteren, zeitweilig sogar er- heit sprach und gleich darauf ein Stück Apfeltorte anbot. kennbar räudigen Züge, die das Regime kennzeichneten, die Mi- Zutreffend ist, dass sich Speers Eingeständnisse schon bald schung aus Machtwillkür, Korruption und Niedertracht unter der merkwürdig pflichtschuldig ausnahmen. Aus den Antworten, die Decke pathetischer Verschworenheit vermochten ihn nicht irre- er den zahllosen Befragern gab, schien alle Empfindung ge- zumachen, es war nur „Politik“. Wie so viele nutzte er den Be- schwunden und jedes Wort angelernt. Speer selber hat dazu ge- griff, sich selbst hinters Licht zu führen oder seine Gleichgültig- sagt, „kein Mensch könne über so viele Jahre hin immer nur die keit zu rechtfertigen. Ganz im Gegenteil haben ihn gerade sein eigene Schuld beteuern und dabei aufrichtig“ wirken. Am Ende „Idealismus und die Hingebung“, die ihn, wie er glaubte, von den waren ihm die Wiederholungen des Immergleichen nur noch eine „widerlichen Bürgerrevolutionären“ im Umkreis Hitlers unter- Last, mit der er sich geduldig abfand. schieden, immer wieder zu den extremen Positionen gedrängt: Er Der Überdruss hatte den vermutlich tiefsten Grund darin, dass war radikal. Als einer der Wortführer der „Kriegspartei“ im Jah- er seinem Wesen nach unfähig war, Schuld zu begreifen. Es war re 1939, bei der Massenrekrutierung der Zwangsarbeiter, den Be- wie eine blinde Stelle. Er mühte sich um die demütigen Gesten, strebungen zum „totalen Krieg“ sowie zuletzt noch als Verbrei- die zu seiner Sünderrolle gehörten, und sprach mit großem Ernst ter falscher, wider bessere Einsicht verkündeter Siegesparolen. die Formeln nach, die der Ablass ihm auferlegte. Doch mitunter Aber dann, unversehens, riss die Kette, und Speer ließ hinter schien er wie von Drähten bewegt und in der Tat nicht frei vom sich, was ihn repräsentativ und sogar zu einer Art Vorbildfigur im Stolz über die historische Bedeutung, die schon aus den erhobe- Typenkatalog der Herrschenden gemacht hatte. Mit Hitlers Zer- nen Stimmen seiner Beschuldiger sprach. Die fundamentalen störungsbefehlen löste er sich aus seiner „Hörigkeit“, unter wel- Normen indessen, gegen die er verstoßen hatte, warum er schul-

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Werbeseite Kultur dig geworden war und wie er anders und vorwurfsfrei aus jenen einsätze quer durch die gewachsenen Quartiere Berlins vorange- Jahren hätte herauskommen können, blieben ihm nur in einem trieben hat, deutet darauf, dass er ein höheres, von keiner ge- äußerlichen Sinn verständlich. setzlichen oder zivilen Regel erreichbares Recht für sich in An- Der Mangel hatte am Ende damit zu tun, dass ihm die ge- spruch nahm. samte spirituelle Seite des Daseins fremd war. Er war gewiss Die Ernennung zum Rüstungsminister änderte an diesem Vor- nicht moralisch taub, und seine Lebensgeschichte weist ver- rechtsbewusstsein nichts, sondern verschob es nur auf eine andere schiedentlich Beispiele auf, wie er Bedrängten beigestanden Ebene. Denn auch die Technik war, dem Verständnis der Zeit zu- hat. Auch der nicht unbegründete Ruf der Integrität, der ihm folge, an keine moralische Norm gebunden und der „technische vorausging, kam daher, dass er glaubwürdig, unbestechlich und Genius“ gleichsam der pragmatische Halbbruder des Künstlers, verlässlich war. Aber er war dies alles eher aus Gründen der der lediglich das Atelier mit Werkstatt oder Laboratorium ver- Selbstachtung und hätte nicht zu sagen gewusst, warum er, tauscht hatte. über solche persönlichen Motive hinaus, moralischen Geboten Das alles gehört zu der Wahrnehmungssperre, die sämtliche folgen und darin ein universelles Gesetz sehen sollte. Inso- moralischen Bedrängnisse von Speer fern gehalten hat. Auf sie fern war er tatsächlich „ein unvollständiger Mensch“, dem bei geht die Erinnerungslosigkeit zurück, in die das leer gebrannte Sy- allen herausragenden Gaben jenes eine Element fehlte, das nagogen-Gebäude in der Berliner Fasanenstraße gefallen war, einen Menschen erst zum Menschen macht. das unmutig betretene Schweigen während der antisemitischen Auch Speers Aufzeichnungen Ausfälle Hitlers sowie zuletzt auch lassen, wo er sich gleichsam unbe- die Verdrängung seiner Verbre- obachtet glaubte, durchblicken, chenskenntnis. Nichts davon je- wie ergebnislos all die jahrelangen denfalls durchstieß das System der Schuldgrübeleien geblieben wa- Verriegelungen, das er sich errich- ren. In den „Tagebüchern“ er- tet hatte. Dann brach es zusam- wähnt er im Blick auf Hitler einen men, und von der Wucht des Satz, den Leonardo da Vinci nach Schocks zeugt nicht zuletzt die der Flucht seines machtvollen Mä- verzweifelte Bemühung, mit der zens, Lodovico von Mailand, no- er sein Künstlertum sowie die tech- tiert hatte: „Der Herzog verlor nokratische Sachbezogenheit wie- den Staat und sein Gut und die der und wieder vor die Abgründe Freiheit, und keines seiner Werke gestellt hat, die sich um ihn herum wurde von ihm vollendet.“ Die auftaten. Jetzt erst erkannte er, Unbefangenheit, mit der er seinen dass ein Regime wie dieses keine Bauherrn mit dem Mailänder Her- wertfreie Mitwirkung zuließ und zog in eins setzte, offenbart, wie Hitler ein „umgekehrter König Mi- wenig er das Neuartige, geschicht- das“ war, der alles, was er je lich Unerhörte begriffen hatte, das berührte, „nicht in Gold, sondern mit Hitler in die europäische Welt in Kadaver verwandelte“. eingebrochen war. In ähnlicher Zu einer abwägenden Beurtei- Weise hat er auf die Frage, ob er lung gehört aber auch, dass Speer sich nach allem, was er inzwischen in der gespenstischen Galerie der über das Wesen Hitlers und des totalitären Machthaber bis heute von ihm errichteten Systems er- die einzige hochrangige Figur ge- fahren habe, anders verhalten hät- blieben ist, die ihre Verantwortung te, nach einer verblüfften Pause und ihre Schuld bekannt hat. Trotz

geantwortet: „Ich denke nein.“ AP der wachsenden Zweifel an der Angeklagter Speer beim Nürnberger Prozess 1946 Gerechtigkeit des gegen ihn er- n seiner moralischen Indifferenz gangenen Urteils zeigte er weder Isah sich Speer zu allem hin noch Verbitterung noch Selbstmitleid. durch das herrschende Künstlerbild bestärkt. Seit der Romantik Mit allen verdeckten Rechtfertigungsbemühungen, die er unter- hatte sich die Vorstellung vom Künstler als einem außergesell- nahm, den Erinnerungslücken und Selbstvorspiegelungen, hat er schaftlichen Typus durchgesetzt, der keiner Norm unterworfen das Regime im Ganzen niemals freizusprechen versucht. und vom Moralgesetz dispensiert war. Hitler selber hatte sich die Elemente dieses Bildes schon als junger, bewundernder Kunsteleve uf der Verlustseite hat Speer stets die nie zu Stande gekom- aus alledem zusammengefügt, was ihm über das exzesshafte Den- Amenen, in den Zeichnungsschränken seines Hauses vergil- ken und Treiben der Wiener oder Münchner Boheme zugetragen benden Architekturprojekte vermerkt. Hitler hatte ihn einst worden war, und Richard Wagner hatte dem Ganzen eine poli- wissen lassen, er werde „Bauten errichten, wie sie seit vier Jahr- tische Richtung sowie Ernst und präzeptorale Weihe hinzugetan. tausenden nicht mehr entstanden sind“. Jetzt waren ein un- Seine Programmatik entwickelte Hitler nach dem Eintritt in die scheinbares Haus in Heidelberg, das er noch als Student für sei- Politik zwar aus den aktuellen Gegebenheiten. Doch die morali- ne Schwiegereltern entworfen hatte, die Trümmerrudimente der schen Ermächtigungen, mit denen er über alle menschlichen Nürnberger Anlagen und ein paar Dutzend Straßenlaternen an Ansprüche auf Recht, Freiheit oder Glück hinwegging und die der Berliner Ost-West-Achse seine ganze baumeisterliche Hin- „Neuordnung der Welt“ betrieb, entnahm er dieser Künstler- terlassenschaft. ideologie. Indem er Speer als „Genie“ bezeichnete, erhob er ihn Womöglich bestand sein Lebensproblem in der Vielzahl der Be- sozusagen zu den Altären der Kunst und entband ihn von den gabungen, die er besaß. Sie lagen gleichsam abrufbereit für den, „bürgerlichen“ Maßstäben, denen er auf Grund seiner Herkunft der darauf Anspruch erhob, und versetzten Speer in die Lage, den womöglich anhängen mochte. unterschiedlichsten Indienstnahmen gerecht zu werden, künstle- In der Tat fühlte sich Speer seither, sobald die Kunst ins Spiel rischen, organisatorischen, technischen und administrativen. Das kam, von jeder Art moralischer Fessel befreit. Alles was er über mag auch seine ungewöhnliche Fähigkeit erklären, in Paradoxen den „Rausch“ und die „Hochstimmungen“ jener Jahre des Pla- zu leben. Ohne sie aufzulösen, wechselte er statt dessen von der nens geschrieben, und die Rücksichtslosigkeit, mit der er die Bau- einen Schiene auf die jeweils andere. Vermutlich hätte er auch als

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Diplomat, Konzernherr oder strategischer Kopf in ei- nem Generalstab seinen Weg gemacht, desgleichen als Reichskommissar oder Statthalter in einem der be- setzten Gebiete.

peer verkörperte, wie Sebastian Haffner noch zu SKriegszeiten in einem Porträt des Rüstungsminis- ters im Londoner „Observer“ hervorhob, einen Zu- kunftstypus, pragmatisch, ehrgeizig, überzeugungs- los, und die Fremdheit, die er inmitten der Führungs- galerie des Regimes immer empfunden hat, war vor allem hierin begründet. Wenn die These vom Doppelgesicht des Dritten Reiches zutreffend ist, re- präsentierte er dessen moderne Seite, und bezeich- nenderweise hat er in den altertümlichen, verschro- benen Zügen der herrschenden Ideologie, wo von „Völkerfraß“, „germanischen Blutwällen“ und „Welt- heilung“ die Rede war, nichts anderes als „Hum- bug“ erkennen können. Doch alle Verachtung, die

er dafür empfand, hat seinem Aufstiegshunger und SIMON SVEN Mitwirkungswillen keinen Abbruch getan. Im Ge- Memoirenschreiber Speer 1975 genteil hat er den närrischen Untergrund dieser Herrschaft wirkungsvoll verdeckt und ihr einen Zu- kunftswillen bescheinigt, dem es den größeren Teil ihrer Anzie- der Stadt, zwei, drei ordentlichen Bauten im Jahr und in den hungskraft verdankte. Ferien mit der Familie nach Hahnenklee oder Norderney – dies In den Augen des britischen Historikers Hugh R. Trevor-Roper, also oder aber alles noch einmal, der Ruhm und die Schuld, die der 1947 eine Studie über „Hitlers letzte Tage“ veröffentlichte, war Welthauptstadt und Spandau sowie das Gefühl des fehlgeschla- Speer nichts weniger als die repräsentative Erscheinung des un- genen Lebens: Wofür würde ich mich entscheiden? Wäre ich be- politischen Deutschland. Keiner verkörperte so authentisch wie reit, den Preis noch einmal zu zahlen? Mir schwindelt bei dieser er den Typus des unverdrossen loyalen, gedankenlosen, seinen pri- Frage. Ich wage kaum, sie zu stellen. Beantworten kann ich sie vaten Ambitionen hingegebenen Untertanen. Gerade indem sich nicht“. Und in Erinnerung an diese Stelle fügte er mitunter nicht er und seinesgleichen von aller Politik fern hielten und darauf be- ohne Doppelsinn hinzu: „Wie beruhigend, dass unterdessen je- harrten, nur getan zu haben, was sie als ihre „Pflicht“ erkannten, dermann, mit wem ich es auch zu tun bekomme, sich seiner Ant- hätten sie die Errichtung des Regimes sowie die Schrecken mög- wort sicher ist.“ lich gemacht, die es verbreitete. Seine Ironie zielte gegen jene trügerische Sicherheit, der er sel- ber erlegen war, als er sich damals einredete, anders als die Stu- denten ringsum, niemals zu den Hitler-Leuten überzulaufen. Die- se Selbsttäuschung ist nicht zuletzt ein Grund dafür, warum sein Lebensweg, weit über die individuellen Umstände hinaus, Inte- resse verdient. Gerade weil er so voller Selbstgewissheit, kultiviert und Vernunftgründen zugänglich war, bleibt die Frage beunruhi- gend, wie er Hitler, seinen eigenen Worten zufolge, schon bald dar- auf „bedingungslos und besinnungslos“ verfallen konnte. Man hat verschiedentlich gesagt, dass die europäische Welt durch die totalitäre Erfahrung vor der Jahrhundertmitte einen Kul- turschock erlitten habe. Aber Hitler und die übrigen Diktatoren der Epoche gaben nur den Anstoß dazu. Die tieferen Wirkungen dieses Schocks gehen auf die Einsicht zurück, wie leicht sich die Menschen, entsprechende Umstände vorausgesetzt, für irgend- welche Gewaltbotschaften mobilisieren lassen und die humanen Traditionen preisgeben, die sie in Jahrhunderten zum Schutz vor sich selber geschaffen haben. Denn Hitler kam gleichsam aus dem Nirgendwo. Seinesgleichen

H. HUBMANN wird immer wieder auftauchen. Speer dagegen war nach Herkunft Speer (Kreis) in einer Fabrik mit KZ-Häftlingen und Erziehung das Produkt eines langen zivilisatorischen Pro- zesses. Er entstammte einem angesehenen, orientierungsstrengen Elternhaus und hatte seine Ausbildung überdies von einem Leh- Vielleicht verhielt es sich so, räumte Speer im Fortgang der Jah- rer erhalten, der seinen Schülern, über alle fachlichen Kenntnis- re zusehends häufiger ein. Aber die Welt war, wohin er kam, voll se hinaus, Maßstäbe vermitteln wollte, die jeder Versuchung der von „Technokraten“ oder auch von Menschen, die ihre privaten Zeit standhielten. Weniger an Hitler als an Speer wird deutlich, Belange allem Öffentlichen voranstellten. Woher nahmen sie wie schwach diese Vorkehrungen waren und wie dauernd ge- dann, fragte er sich, die Sicherheit, mit der sie über ihn und sein fährdet der Grund ist, auf dem alle stehen. Verhalten richteten? Hätten die oftmals jungen Ankläger, die Das hat den Bruch erzeugt, der die eigentliche Hinterlassen- überall aufstanden und mit dem Finger auf ihn wiesen, in ver- schaft jener Jahre ist. Das von der Aufklärung verkündete Grund- gleichbarer Lage ein genaueres Unterscheidungsvermögen, mehr vertrauen in eine Welt, die trotz aller Aufhaltungen und Rück- moralische Kraft und mehr Standfestigkeit bewiesen? schläge zunehmend humaneren Zuständen entgegengeht, ist seit- Die Fragen nahmen kein Ende. Vor die Wahl gestellt, hatte er her ans Ende gelangt. Der zerstörerische Wille ging zwar von notiert, „entweder als Stadtbaurat in Augsburg oder Göttingen ein Hitler aus. Doch hätte er keines seiner Ziele ohne die Helfer er- ruhiges und angesehenes Leben zu führen, mit einem Haus vor reicht, für die Speer nur ein Beispiel ist. ™

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ENTERTAINER „Oft träume ich, ich bin gelähmt“ Der spanische Schlagersänger Julio Iglesias über Blondinen, Depressionen, seine nun beginnende Deutschlandtournee und den Erfolg des neuen Latin-Pop

Der Spanier Julio Iglesias, 55, ist der er- folgreichste Schnulzensänger der Welt: 260 Millionen Alben verkaufte er bisher weltweit und sang sogar auf Chinesisch. Seine Europa-Tournee, die in Molda- wien begann, führt ihn am kommenden Montag nach Deutschland, ins Hambur- ger „Congress Centrum“. Danach tritt er in München, Berlin, Bielefeld und Ober- hausen auf.

SPIEGEL: Herr Iglesias, in wie vielen Spra- chen können Sie „Amor“ sagen? Iglesias: In einer: auf Spanisch. Aber ich verstehe schon, was Sie meinen. Liebe ist ein Wort, das sich leicht singen und nur schwer leben lässt. Nicht immer fühle ich das, wovon meine Lieder handeln. Man hat mich abwechselnd als wundervollen oder scheußlichen Sänger bezeichnet.Vor allem war ich der Herzensbrecher, der junge Frauen liebt, und so ein Mist. Ich sehe mich als Langzeit-Überlebenden des Show- geschäfts. Das zu schaffen war nicht leicht. SPIEGEL: „Amor“ hieß einer Ihrer großen Hits aus dem Jahr 1982. Ist das Lied bei Ih- rer Deutschland-Tournee im Programm? Iglesias: O Gott, so was singe ich nicht mehr. Auch ich habe mich weiterent- wickelt. Natürlich gibt es einige Lieder im Programm, die ich nur singe, weil mein Pu- blikum das erwartet. Aber das gehört zu meinem Job, die Menschen zahlen ja nicht, um meine Lieblingslieder zu hören. SPIEGEL: Und wenn das deutsche Publikum „Amor“ hören will? Iglesias: Wenn Sie wollen, singe ich es Ih- nen auf der Stelle. SPIEGEL: Können Sie alle Lieder Ihrer 75 Al- ben auswendig? Iglesias: Natürlich nicht. Aber an „Amor“ erinnere ich mich nur gut, weil ich es ab und zu im Radio höre. SPIEGEL: Haben Sie für Ihre Tour ein neu- es Repertoire entwickelt? Iglesias: Nein, ich habe vor 15 Jahren aufgehört, selber Lieder zu schreiben. Ich

bin ausgetrocknet, die Batterie ist leer. / INTER-TOPICS SLOCOMB Die meisten guten Songschreiber ha- Schlagerstar Iglesias, Freundin Miranda: „Ich habe ein Rock’n’Roll-Leben geführt“ ben spätestens ab 40 nur noch Mist pro- duziert. Man muss rechtzeitig die Bremse Iglesias: Weil ich spätestens nach sechs Wo- SPIEGEL: Wieso nicht? ziehen. chen Pause anfange, mich grässlich zu lang- Iglesias: Ich muss mich auf der Bühne ex- SPIEGEL: Sie sind seit über 30 Jahren im weilen. Ich leide dann unter Bluthochdruck, ponieren, weil ich mich nur in dieser Si- Showgeschäft.Warum touren Sie noch wo- der Cholesterinspiegel steigt, ich nehme zu tuation selbst spüre. Zum Leben um mich chenlang durch Ost- und Westeuropa, an- und habe Depressionen. Wenn ich nicht herum habe ich eine innere Distanz. Dort statt gemütlich am Pool Ihrer Villa in Flo- mehr singen würde, wüsste ich nicht, was sieht kaum jemand den Julio Iglesias, der rida zu sitzen? ich mit meinem Leben anfangen sollte. ich wirklich bin. Meine ganze Karriere lang

276 der spiegel 38/1999 habe ich mit dem Image des Latin Lovers nicht mehr das Haus verlassen. Ich habe gelebt, das ich längst nicht mehr ausfülle. kein öffentliches Nachtleben, besuche we- Loswerden kann ich es trotzdem nicht. der Premieren noch Partys. SPIEGEL: Ist es so schlimm, als der Mann SPIEGEL: Ist das langweilig oder entspan- zu gelten, der mit 3000 Blondinen ge- nend? schlafen hat? Iglesias: Natürlich ist es eintönig. Aber es Iglesias: 3000 waren es schon vor zehn Jah- ist notwendig, um zu überleben. ren. Heute müssten es mindestens 5000 SPIEGEL: Warum? sein. Ich bin auch immer erstaunt, mit wem Iglesias: Alle zwei bis drei Monate muss ich und mit wie vielen Frauen ich etwas gehabt raus aus der Monotonie und rauf auf eine haben soll.Aber, sehen Sie, ich musste nur Bühne. Dort gebe ich alles, was ich kann. aus einem Auto steigen, ein hübsches Mäd- Das ist nur möglich, wenn ich ein diszipli- chen drängt sich an mir vorbei, jemand niertes, gesundes Leben führe, auch wäh- macht schnell ein Foto, und schwupp hieß rend der Tourneen. Die Bühne ist das Wich- es, wir wären zusammen im Bett gewesen. tigste und Wunderbarste in meinem Leben. Wenn ich am Morgen darauf die Zeitung Was immer sonst weh tun mag, auf der Büh- aufschlug, dachte ich: Schön wär’s gewesen. ne ist alles gut. Nach dem Auftritt aber spü- Aber auch das ist lange vorbei. re ich den Schmerz in meinen Beinen. SPIEGEL: Also alles Schwindel? Was für eine SPIEGEL: Sind das Spätfolgen Ihres Auto- Enttäuschung. unfalls von 1963? Iglesias: Nein, ich will auch nicht alles ab- Iglesias: Ja. Der siebte Wirbel meines Rück- streiten. Ich bin ein, nennen wir es Balla- grats war gebrochen, und meine Beine wa- densänger, habe aber ein Rock’n’Roll-Le- ren zweieinhalb Jahre lang gelähmt. Da- ben geführt. Wenn so viele schöne Frauen mals fing ich an, Gitarre zu spielen. dir „I love you“ entgegenhauchen, muss SPIEGEL: Warum? man doch „I love you, too“ antworten. Ich Iglesias: Mein Vater war Gynäkologe in konnte nicht anders. Ein Nein war in mei- Madrid, und sein Assistent war dafür zu- nem Vokabular nicht vorhanden. ständig, die Schläuche bei mir zu wech- SPIEGEL: Und wenn heute eine Frau „Ich seln. Der Assistent dachte, es wäre gut, liebe dich“ sagt? wenn ich meine Motorik trainierte. Iglesias: Verstehen Sie mich nicht falsch. SPIEGEL: Hatten Sie sich zuvor schon als Ich liebe schöne Frauen nach wie vor.Aber Sänger versucht? ich habe keinen Sex mit ihnen. Ich habe Iglesias: Überhaupt nicht. Was mich inter- Frau und Kinder, die ich liebe, und einen essiert hatte, war Fußball. Ich war in der Ju- Beruf, den ich genauso liebe. gendmannschaft von Real Madrid. SPIEGEL: Wollen Sie sa- gen, dass Sie ein braver Familienvater geworden sind? Iglesias: Das ist die natür- liche Entwicklung, die man Altern nennt. Was ich getan habe, passte damals. Ich lebte auf ei- ner Wolke: Geld, Frauen, Erfolg. Nur, irgendwann wurde das langweilig. Dann folgten Ernüchte- rung und Unsicherheit. REUTERS Auch das habe ich über- AP wunden. Mein Leben ist Iglesias-Söhne Enrique, Julio: „Erfrischender Latin-Pop“ ziemlich in Ordnung. Ich bin diszipliniert und habe meine Laster SPIEGEL: Haben Sie im Krankenhaus die im Griff. Hitparade nachgespielt? SPIEGEL: Welche Laster? Iglesias: Nein. Ich begann erst, mich mit Iglesias: Alles, was Körper und Geist scha- Popmusik zu beschäftigen, als ich 1967 det. Alles vorbei, heute bin ich frei. Mein nach Cambridge umzog, um dort Jura zu Tag verläuft jetzt ganz einfach: Ich benöti- studieren. Damals wollte ich meinen Mas- ge sechs Stunden Schlaf. Ich stehe um sechs ter machen und Diplomat werden. Ich Uhr auf, trinke einen Grapefruitsaft und konnte mich mit Krücken durch die Ge- zerkaue drei Knoblauchzehen. gend bewegen, und überall lief Musik. Es SPIEGEL: Wie erträgt Ihre Frau das? war Beatles-Zeit, und England war Pop- Iglesias: Ich rede und küsse nicht. An- land. Meine Kommilitonen sprachen über schließend schwimme ich zwei Stunden im Bands und Songs, und so habe ich mich Pool, gehe in mein Büro, ins Studio und für die „Top of the Pops“ interessiert. spätestens um elf Uhr ins Bett. „What a Wonderful World“ war ständig im SPIEGEL: Was ist mit Partys? Glamour? Radio, und ich liebte dieses Lied. Iglesias: In den vergangenen 15 Jahren SPIEGEL: Sind Sie abends in die Beat-Clubs habe ich nach Einbruch der Dunkelheit gezogen?

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Iglesias: Nein, ich konnte noch nicht gut SPIEGEL: Offenbar fand das Publikum Sie Cha und andere Stile. Latino-Musik war gehen. Ab und zu war ich mal in einer dennoch liebenswert. Ein Erfolg Ihres immer in den Köpfen der Menschen, in Kneipe, in der Studenten Musik machten. Charmes, den Sie vorher gründlich trai- Deutschland sowieso. Seit Jahrzehnten SPIEGEL: Wie kam es 1968 zu Ihrem ersten niert hatten? wird hier „Guantanamera“ gesungen. Auftritt? Iglesias: Man ist charmant, oder man ist es SPIEGEL: Sie sprechen von Stilen und Lie- Iglesias: In Benidorm gab es ein Schlager- nicht, zu lernen gibt es da nichts.Am Ende dern, aber Sie gaben dem Ganzen ein Ge- festival. Ich habe bei einer kleinen spani- ist für mich Charme gar nicht wichtig. sicht. Da sind wir wieder beim Charme. schen Plattenfirma angefragt, ob sie nicht SPIEGEL: Wie das? Iglesias: In der Latino-Welt gab es immer meinen Song „La vida sigue igual“ dort Iglesias: Mit Charme gewinnt man Freun- Stars. Die kennt man in Europa und Nord- singen lassen wollten. Tatsächlich fand sich de und vielleicht auch Grammys, aber das amerika nur nicht. Dass jetzt ein paar von ein Künstler, aber zehn Tage vor dem Kon- heißt nicht, dass man deshalb ein guter den Jungs berühmt werden, ist wohl nur zert erkrankte der an Hepatitis. Da musste Künstler ist. Da muss man schon etwas Be- eine Mode – so wie Punkrock vor 20 Jah- ich einspringen. Also bin ich mit meinen sonderes haben. ren. Aber dafür ist diese neue Generation Krücken auf die Bühne gehumpelt, besser aufs internationale Geschäft jemand hat mir die Gitarre hinter- vorbereitet als ich damals. hergetragen, und ich habe gewon- SPIEGEL: Inwiefern? nen. Hätte ich verloren, wäre ich Iglesias: In den achtziger und neun- heute Diplomat oder Rechtsanwalt. ziger Jahren wurde weltweit so viel SPIEGEL: Das hätte Ihren Eltern da- elektronische House- und Techno- mals wahrscheinlich besser gefallen Musik produziert, dass Latin inzwi- als der Einstieg ins Schlagerfach. schen richtig erfrischend wirkt. Das Iglesias: Mein Vater sagte mir: Tritt spielt dem Nachwuchs ganz ande- meinetwegen bei diesem Festival re Karriere-Chancen zu. Außerdem auf, danach studierst du weiter. Er können die Kids heute direkt im Stu- war sehr überrascht, als ich Erster dio experimentieren, ohne einen wurde. Ich bettelte darum, ein Jahr Plattenvertrag zu haben, weil Studio- lang das Studium unterbrechen zu zeit sehr viel billiger geworden ist. dürfen, um eine Platte aufzuneh- SPIEGEL: Würden Sie Ihre Musik au- men. Mir fehlte zum Abschluss nur thentisch nennen? noch ein Schein im Internationalen Iglesias: Das ist nicht mein Krite- Privatrecht. Mein Vater war einver- rium. Ich bin ein Balladensänger standen – aber ich bin nie zur Uni- mediterraner Abstammung. versität zurückgekehrt. SPIEGEL: Nun zieht es Sie zurück aus SPIEGEL: Immerhin können Sie nun Florida ins mediterrane Spanien. Ihre eigenen rechtlichen Angele- Warum? genheiten regeln. Iglesias: Meine holländische Freun- Iglesias: Schön wär’s. Studium und din will, dass unsere Kinder in Eu- Praxis haben fast nichts miteinander ropa aufwachsen.Aber kommen Sie zu tun. Für mich war das Jurastu- mir nicht mit irgendwelchen anti- dium im Grunde keine Berufung, amerikanischen Schlussfolgerungen. sondern eine Flucht ins Leben. Mein Ohne Amerika und meinen Erfolg Vater hatte mich nach dem Unfall dort würden Sie heute nicht mit mir gefragt, was ich mit meiner Zukunft sprechen. anfangen wollte. Ich war gelähmt, SPIEGEL: Trotz Ihrer Erfolge leiden hatte Schmerzen und quälte mich Sie, wie man hört, an Depressionen. mit der Frage: Warum ich? Ich be- Iglesias: Ich würde es eher psycho-

kam mit, wie meine Eltern ins Nach- L. M. FERNANDEZ somatische Anfälle nennen. Seit barzimmer gingen und dort wein- Weltstar Iglesias: „Ich war ein miserabler Sänger“ meinem Unfall wache ich oft nachts ten. Mein Gehirn anzustrengen war auf, weil ich träume, meine Beine für mich die einzige Möglichkeit, ins Leben SPIEGEL: Sie haben sich aber selbst als sind gelähmt, und dann denke ich, das sei zurückzukehren. schlechten Sänger bezeichnet. wirklich so. SPIEGEL: Ihren ersten Erfolg außerhalb Spa- Iglesias: Stimmt, doch ich habe hart ge- SPIEGEL: Zeitungen berichteten, dass Ihre niens feierten Sie in Deutschland. arbeitet und bin besser geworden. Trotz- Tochter Sie morgens mit dem Pistolenlauf Iglesias: Wie mir das gelungen ist, verste- dem gelte ich weiterhin als mäßiger im Mund vorfand. Stimmt das? he ich selbst nicht.Als ich Anfang der sieb- Künstler, der mangelndes Talent mit Iglesias: Was für ein Blödsinn. Komplett ziger Jahre meine Karriere in Deutschland Charme und Glamour wettmacht. Ein ausgedacht, aber die Geschichte kenne ich begann, war ich ein hundsmiserabler Sän- simpler, aber netter Latin Lover. Aber noch nicht einmal. ger, aber die Leute mochten mich trotz- wenn das so wäre – warum hat dann ein SPIEGEL: Und was ist an dem Gerücht, dem und kauften die Platten. Ausnahmetalent wie Frank Sinatra mit mir dass Sie die Potenzpille Viagra auspro- SPIEGEL: Sie haben die Deutschen einmal gesungen? Der hat seinen Job sehr ernst biert haben und keinen Gefallen daran als das romantischste Volk Europas be- genommen, der hatte Respekt vor mir als fanden? zeichnet … Sänger. Das tat gut. Iglesias: Viagra habe ich nie genommen. Iglesias: … oh, da war ich wohl ein wenig SPIEGEL: Heute gelten Sie sogar als Pionier Aber ich habe in einer Talkshow erzählt, verwirrt. Ich war so dankbar. Ich verstand des Latin-Pops, als Idol der neuen Latin- dass ich zwölf Stück auf einmal geschluckt kein Deutsch, hatte aber eine Platte auf Stars wie Ricky Martin, Luis Miguel und hätte, aber ohne Erfolg. Nach über 30 Deutsch gemacht, sehr naiv gesungen. Ihrer beiden Söhne Enrique und Julio. Jahren im Geschäft habe ich gelernt, die Wenn man Deutsch nicht zur Mutterspra- Iglesias: Vielleicht habe ich eine Tür geöff- besten Geschichten über mich selbst zu er- che hat, ist es insbesondere wegen des „ch“ net, aber für mich sind auch viele Türen finden. Interview: Christoph Dallach, unglaublich schwer zu singen. geöffnet worden durch Mambo, Cha-Cha- Marianne Wellershoff

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Werbeseite Waynes Geheimdienst-Anmeldung (Ausriss) „Subjekt darf diese Akte niemals sehen“

Selbst Ronald Reagan, ohne Kontakt- linsen so blind wie ein Maulwurf, meldete sich zur Armee und machte sich bei der Fernmeldetruppe nützlich. Zur gleichen Zeit ritt John Wayne mit blankem Säbel auf den ersten Platz an der Kinokasse, erin- nerte sich Reagan später. Während die an- deren dienten, stellte Wayne einen Antrag auf Unabkömmlichkeit nach dem anderen und verfolgte seine Karriere, die gerade zu

JAUCH UND SCHEIKOWSKI JAUCH funkeln begann. Westernheld Wayne*: „Gehe soeben durch eine Phase ehelicher Missverständnisse“ Jahrelang hatte er sich als Cowboy in sogenannten Pferdeopern abgeschuftet, bil- ligen B-Movies, die in drei- bis sechstägiger STARS Knochenarbeit heruntergekurbelt wurden. Endlich war er in John Fords „Stagecoach“ und der Verfilmung von Eugene O’Neills Cowboy als Geheimagent? „The Long Voyage Home“ seinem Ziel näher gekommen, ein Star zu werden. Da Erst drückte sich der US-Schauspieler John Wayne vor kam ihm die Aussicht auf Kriegsdienst ganz ungelegen. dem Kriegsdienst, dann bewarb er sich beim Geheimdienst. Doch Natürlich plagte ihn das patriotische das Kino-Idol scheiterte an einer Sicherheitsüberprüfung. Gewissen und die Angst, als Drückeber- ger zu gelten; immer wieder versprach r reitet noch immer an die letzte weißen Uniform eines US-Marineoffiziers er seinem Freund John Ford, der eine Grenze, längst in eine mythische machte er sich nicht schlecht, dagegen Filmeinheit für den OSS leitete, sich bald EDimension entrückt. Wenn er vom wäre er für die Finesse eines „Bond, zum Militär zu melden. Doch immer wie- Pferd steigt, kommt er mit einer sagenhaften James Bond“ eine völlige Fehlbesetzung. der gab es neue Hindernisse – und neue Gangart aus jener versunkenen Welt, in der Ein „007“ aber wollte Wayne werden, Filmverträge. Einmal genügte der ange- Männer noch Männer sind – dieses gewisse nicht im Film, sondern in Wirklichkeit. Er botene Dienstgrad nicht, denn ein Offi- Schwanken inspirierte Ge- bewarb sich beim ameri- ziersrang musste es schon sein. Dann nerationen von Halbwüch- kanischen Geheimdienst konnte sich Wayne einfach nicht ent- sigen zur Nachahmung, bis „Office of Strategic Ser- scheiden, in welcher Waffengattung er die- ein geschlechtsloses Schlur- vices“ (OSS), dem Vorläu- nen wollte. fen in Mode kam. fer der CIA. In einer stau- Schließlich fiel seine Wahl auf den OSS. Zwanzig Jahre ist der bigen Kiste des amerika- Den Dokumenten zufolge bewarb er sich Schauspieler John Wayne nischen Nationalarchivs am 2. August 1943 unter seinem Geburts- nun schon tot – auch wenn tauchte nun die Personal- namen Marion Robert Morrison, dem er er nicht mehr kopiert wird, akte Nr. 22087 auf, die aus zur leichteren Identifikation den Künstler- hielt er sich durch un- der Biografie des Hol- namen John Wayne hinzufügte. Der Ord- endliche Wiederholungs- lywood-Stars eine bisher ner mit seinen Bewerbungsunterlagen trägt schleifen des klassischen nicht bekannte Facette be- den Stempel: „Subjekt darf diese Akte nie-

Western als amerikanische NANA PRODUCTIONS / SIPA leuchtet. Sie betrifft die mals sehen“. Beabsichtigt war offenbar ein Ikone. Ein kerniger Kerl, Filmkollegen Wayne, Dietrich* Zeit des Zweiten Welt- Einsatz des Schauspielers bei Sonderope- mutig und loyal bis in die kriegs. rationen in Fernost. Knochen, wortkarg, aber entschlossen bis Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Der berufliche Teil seines Lebenslaufs ließ in den letzten Muskel seiner Körperspra- Harbor drängten auch Hollywood-Größen die erfreuliche Wende seiner Karriere in den che. Als eindimensionaler Held passte er zu den Fahnen. Allen voran der Regisseur Kriegsjahren erkennen. Hatte er sich in den ideal ins Monument Valley, auch in der und Korvettenkapitän John Ford, Waynes dreißiger Jahren noch für 500 Dollar, später Freund und Mentor. Ihm folgten etwa die für 1500 Dollar pro Film verdingt, erhielt * Oben: in „Die Cowboys“ (1971); unten: in „Die Frei- Schauspieler Henry Fonda, Robert Mont- er 1943 bereits die stattliche Summe von beuterin“ (1942). gomery, James Stewart und Gene Autry. 25000 Dollar. Damit verdiente er in acht

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Wochen mehr als ein durchschnittlicher Diesem „ehelichen Missverständnis“ amerikanischer Angestellter in zehn Jahren. folgte bald ein weiteres, die Mexikanerin An Fremdsprachenkenntnissen hatte Esperanza Baur. Im Frühjahr 1943 hatte Wayne, trotz seiner hispanischen Ehefrau Wayne die junge Frau mit schlechtem Ruf und einer Reihe von Reisen nach Mexiko, nach Hollywood geholt und sich mit ihr nur „Latein“ anzubieten. Dagegen pries einen Zweithaushalt eingerichtet. Die er seine Fähigkeiten im Schwimmen skandalträchtige Affäre dürfte den Ermitt- („überdurchschnittlich“), Segeln, Football- lern des OSS nicht entgangen sein. Jeden- spielen, Fischen („sieben Marlins in zwei falls hielten sie Waynes Lebenswandel für Jahren“) und Jagen („guter Schütze im bedenklich und sprachen dem Schauspie- Gelände“). Natürlich verstand er etwas von ler die Eignung ab, dem Geheimdienst die- Pferden und hatte durch seine Filme nen zu können. Übung „im Fallen“ und im Reiten von Ver- Als Waynes Ehefrau im Oktober 1943 folgungsjagden. „Nicht so einfach, wie es schließlich die Scheidungsklage einreichte, sich anhört“, fügte er lakonisch hinzu. verdrückte sich der Star wegen der nega- Besonderen Wert legte er auf seine „na- tiven Publicity rasch als Truppenunterhal- türliche Neigung und sowohl körperliche ter in den Südpazifik. Dort herrschte Ge- wie geistige Eignung zu Aktivitäten im Freien“. Auch seine Veranlagung, mit „Leuten jeden Stan- des“ auszukommen, er- schien ihm bemerkens- wert. Die Frage nach dem Genuss von Rauschmitteln beantwortete der begna- dete Säufer, nicht sehr wahrhaftig, mit „mäßig“. Trotzdem blieb seine Be- werbung als Geheimagent erfolglos.Wie ein unschein- barer handschriftlicher Ver- merk zeigt, scheiterte er an der Sicherheitsüberprü- fung. Weshalb er sie nicht bestand, geht aus der Per- sonalakte nicht klar hervor. Die kubanische Staatsan- gehörigkeit seiner Schwie-

gereltern könnte dazu bei- / KEYSTONE RÖHNERT U. getragen haben. Wahr- Soldaten-Darsteller Wayne*: „Guter Schütze im Gelände“ scheinlicher jedoch ist, dass sich Waynes Vorstellungen von Moral nicht neral Douglas MacArthur, der in seinem mit dem Ehrenkodex des als dünkelhaft Befehlsbereich keine OSS-Operationen verrufenen OSS in Einklang bringen ließen. duldete. John Ford riet Wayne, seine Augen Ganz hinten im Bewerbungsbogen stand offen zu halten und OSS-Chef William nämlich die unangenehme Frage, ob es im „Wild Bill“ Donovan über seine Beobach- Leben des Aspiranten vielleicht ungünsti- tungen zu informieren. Doch Wayne fand ge Vorkommnisse gäbe, die bei der Über- offenbar nichts Interessantes zu berichten, prüfung ans Tageslicht kommen könnten: ein schriftlicher Report befindet sich je- „Wenn ja, beschreiben.“ Wayne setzte ein: denfalls nicht in den Akten. „Gehe soeben durch eine Phase ehelicher Nach dem Krieg versuchte der Macho- Missverständnisse.“ Star, seinen mangelnden Einsatz fürs Va- Eins dieser „Missverständnisse“ hieß terland durch einen penetranten Patriotis- Marlene Dietrich.Wayne und Dietrich hat- mus auszugleichen. Er unterstützte den Se- ten sich 1940 als Hauptdarsteller des Films nator Joseph McCarthy bei der Hatz auf „Seven Sinners“ kennen gelernt. Es dau- Kommunisten. Er glorifizierte den Viet- erte nicht lange, bis die „Weimarer Deka- nam-Krieg und beschimpfte Kriegsdienst- denz“ über die „amerikanische Unschuld“ verweigerer als „Weichlinge“. gesiegt hatte und Wayne in Marlenes Lieb- Animiert von seinem Idol John Wayne, habersammlung einsortiert war. Vor dem meldete sich der junge Ron Kovic zu den Typus warnte sie später ihre Tochter: Ledernacken nach Vietnam. Schwer ver- „Diese langen Lulatsche wie Cooper und wundet, von der Brust abwärts quer- Wayne sind doch alle gleich. Können bloß schnittsgelähmt, kehrte er nach Hause mit den Sporen klirren, ,Howdy Ma’am‘ zurück und zog in seinem später mit Tom nuscheln und ihre Pferde vögeln!“ Wayne Cruise in der Hauptrolle verfilmten Buch hasste allerdings Pferde. „Geboren am 4. Juli“ verbittert Bilanz: „Tja, ich hab meinen Schwanz für John * In „Der längste Tag“ (1962). Wayne geopfert.“ Axel Frohn

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KINO Die Zeit ist reif Im Gerichtsthriller „Nichts als die Wahrheit“ erklärt sich der Nazi-Arzt Josef Mengele zum barmherzigen Samariter.

rade mal 12 Jahre hat das Tausend- jährige Reich gedauert, seit über G50 Jahren wird es nun erforscht, aufgearbeitet und bewältigt. Und seit die Unterhaltungsindustrie auch auf den Ge- schmack gekommen ist, wird es im NS- Fundus manchmal eng. Akademiker müs- sen sich die Arbeitsplätze mit Amateuren teilen, Fakten mit Fiktionen koexistieren. „Sie sind der morbiden Faszination des Stoffes erlegen!“, ruft der Historiker Wolf- gang Wippermann bei einer Podiumsde- batte in Berlin dem Filmproduzenten Wer- ner Koenig zu. Der versteht überhaupt nicht, worüber sich der Uni-Mensch auf- regt. „Ich habe den Stoff nicht gesucht“,

bekennt Koenig, Jahrgang 1963, „der Stoff HELKON hat mich gefunden.“ Doch war nicht nur George in „Nichts als die Wahrheit“: „Ich habe das alles getan, ich gebe das alles zu“ die Vorsehung im Spiel, die dem Produ- zenten keine Wahl gelassen hat, es waren transportieren“, sagt Koenig, ein „hoffent- Allerdings: Mengele wird nicht als der auch „wahnsinnig viele jüdische Freunde lich guter Thriller“, „spannend erzählt“ Sadist vorgeführt, der er war, sondern als in den USA“,die ihn „ermuntert haben“. und gerade deswegen „für Kids attraktiv, ein Arzt, der helfen wollte, indem er die Schon wieder einer, könnte man mei- die sich in der Schule bei vergleichbaren Leiden der Menschen abkürzte: „Wissen nen, der das Rad erfunden hat und damit Themen einfach wegdrehen“, ein „wichti- Sie, wie das Leben in Auschwitz war? Eine zum Patentamt rollt. Mit solchen Freun- ger Film, der eine längst überfällige Aus- Hölle, aus der ich den einzigen Ausweg an- den und einem Co-Produzenten namens einandersetzung in Gang setzt“. zubieten hatte.“ Er sei, erklärt Mengele Pressman, der sich dem Thema „als Jude Ach so. Wir haben es also mit einem dem Gericht, kein Nazi gewesen, er habe besonders verbunden“ fühlt, sollte eigent- Thriller zu tun, dem es zwar nicht auf die sich nur „mit dem Regime arrangiert, wie lich nichts schief gehen. Wahrheit ankommt, der aber zugleich ge- Millionen andere auch“. Denn Werner Koenig, dessen „größter langweilte Kids aufklären möchte. Koenig Erstaunlicherweise haben weder Gericht Erfolg“ bisher der Thriller „14 Tage le- hat sich ein bisschen viel auf einmal vor- noch Staatsanwalt im Film solchen Aussa- benslänglich“ war, hat sich weit auf schwie- genommen. Sein Film ist eine prätentiöse gen etwas Substanzielles entgegenzuset- riges Gelände vorgewagt. Er hat einen Film Kolportage, die mit Tatsachen, Geschichte zen. So wird aus Mengele ein barmherzi- über den „Todesengel von Auschwitz“, den und Logik umgeht, als seien es Lego- ger Samariter, dem man allenfalls Eutha- Arzt Dr. Josef Mengele produziert, mit Steine, die man beliebig benutzen kann. nasie vorwerfen könnte, doch Euthanasie Götz George in der Hauptrolle; der spiel- Ein junger Anwalt und Mengele-Exper- war „in der Medizin der zwanziger und te schon 1977 als Kommandant von Ausch- te (Kai Wiesinger) wird eines Tages in ein dreißiger Jahre gängige Praxis“. Demnach witz („Aus einem deutschen Leben“) und düsteres Gebäude gelockt, betäubt und als ist auch der Massenmörder nur ein Räd- 1995 als Massenmörder Haarmann („Der „komatöser Notfallpatient“ nach Argenti- chen im Getriebe. Totmacher“) große Psychopathen. nien entführt. Er wacht mitten in der Pam- Werner Koenig behauptet, „Nichts als Mengele, der grausame medizinische Ex- pa im Haus von Mengele auf, der ihn mit die Wahrheit“ konnte nur produziert wer- perimente an Gefangenen durchgeführt den Worten begrüßt: „Jetzt können Sie die den, weil alle an dem Projekt Beteiligten und einige hunderttausend Menschen in Fragen stellen. Gehen Sie oder fragen Sie.“ ihre Gagen „zurückgestellt“, also ohne Be- den Tod geschickt hat, gehört in dieselbe Der Anwalt schüttelt sich vor Entsetzen, zahlung gearbeitet haben. George habe gar Kategorie von menschlichen Bestien, die greift nach dem Ticket, das auf dem Tisch „eine Million zusätzlich reingepumpt“. für Schauspieler eine unwiderstehliche liegt, und will wie E. T. nur eines: heim. Während die Amerikaner Filme produ- Herausforderung bedeuten. Und weil in Mengele lässt ihn gehen, aber er geht mit, zieren, um Geld zu machen, brauchen „wir Deutschland nach Götz George gleich Hei- „um meine Geschichte zu erzählen“, weil Deutsche“ Filme als Therapie, um Schuld- ner Lauterbach und Til Schweiger kom- „die Zeit reif ist, meine Motive zu verste- gefühle loszuwerden, die wir zwar angeb- men, konnte nur George die Rolle über- hen“. Bei seiner Ankunft wird er verhaftet lich nicht haben, die uns aber verfolgen nehmen. Sein Mengele ist ein faltiger, tod- und auf eine Hightech-Krankenstation ge- wie Phantomschmerzen einen Amputier- kranker, aber durchaus sympathischer bracht, während der junge Anwalt mit sich ten. Wer so symbolisch leidet, der macht Greis, der mit einem richtigen Füllhalter kämpft, ob er Mengeles Wunsch folgen und auch entsprechende Filme. Das ist nicht Tagebuch schreibt und die „Zeit“ liest. dessen Verteidigung übernehmen soll. mehr die Gnade der späten Geburt, das ist Allerdings: „Nichts als die Wahrheit“ Er tut es, und sein anfänglicher Ekel löst der Fluch der eingebildeten Krankheit. (Regie: Roland Suso Richter) ist auch ein sich in anwaltlicher Routine auf, zumal Der deutsche Idealismus hat wieder Film, „der nicht den Anspruch erhebt, his- Mengele voll geständig ist: „Ich habe das gnadenlos zugeschlagen. Rette sich, wer torisch oder medizinisch die Wahrheit zu alles getan, ich gebe das alles zu.“ kann. Henryk M. Broder

der spiegel 38/1999 289 Werbeseite

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Werbeseite Prisma Wissenschaft MAURITIUS Schädlingsbekämpfung mit Flugzeug

UMWELT tinpanzer entschlüpfen, sobald sich eine größere, anfangs noch weiche Panzerhülle gebildet hat. Ziel der Wissenschaftler ist es, den Häutungsprozess durch einen Angriff auf die Hormon- Tod im Panzer rezeptoren zu blockieren – das Insekt stirbt in der Enge sei- ner Chitinhülle. Da die jeweiligen Schädlinge über unter- ustralische Molekularbiologen arbeiten an einem neuar- schiedliche Rezeptoren verfügen, die das Wachstum regulieren, Atigen Insektenschutzmittel, das erstmals gezielt gegen ein- wollen die Forscher jeweils spezifische Wirkstoffe für be- zelne Schädlingsarten in der Landwirtschaft eingesetzt werden stimmte Insektenarten entwickeln. Hauptvorteil: Die Um- kann. Das neue Pestizid schaltet das Hormon Ecdyson aus, das weltbelastung wird verringert, und nützliche Insekten, die bei bei Insekten den Häutungsprozess maßgeblich steuert. Im Lau- den konventionellen Sprühaktionen nicht ausgespart werden fe ihres Wachstums müssen Insekten regelmäßig ihrem Chi- konnten, bleiben am Leben.

FORSCHUNG PROTHESEN Erfolg durch Künstliches Gastarbeiter Blinzeln änder, die ausländische Wissen- in interdisziplinäres Arbeitsteam am Lschaftler an ihre Forschungsinsti- EVirchow-Klinikum für Mund-, Kiefer- und tute holen, erhöhen ihre Chancen Gesichtschirurgie in Berlin hat den weltweit auf Nobelpreise. „Überdurchschnitt- ersten Prototyp einer beweglichen Gesichts- lich häufig“, so wiesen zwei Wirt- prothese für Patienten nach einem Unfall oder schaftswissenschaftler jetzt im Wis- einer Tumoroperation entwickelt. Ziel der senschaftsmagazin „Science“ nach, Forscher um den Chirurgen Martin Klein war seien Einwanderer in die Vereinig- es, die starre Mimik bisheriger künstlicher Ge- ten Staaten an „Spitzenleistungen sichtsteile, die besonders durch die Unbeweg- auf wissenschaftlichem Gebiet be- lichkeit der Augenlider zu Stande kam, zu teiligt“. Bei den Biowissenschaften beheben und die Augenprothese beweglich zu kam die Mehrheit der erfolgreichen gestalten. Bei der neuartigen Gesichtsprothese

Gastarbeiter aus Großbritannien; AKG wird die gesunde Lidmuskulatur mit winzigen bei den physikalischen Disziplinen Einstein (1931) Nadelelektroden und Mini-Magneten gemes- lagen die Einwanderer aus Deutsch- sen, deren Muskelsignale werden dann auf land an der Spitze. Einen Großteil sei. Schon in den dreißiger und vier- das künstliche Augenlid übertragen. Eine ihrer Ausbildung hatten sie oft noch ziger Jahren hatten ausländische integrierte Antriebselektronik und ein Kleinst- in ihrem jeweiligen Heimatland ge- Forscher maßgeblich zum Auf- motor lassen das Kunststofflid synchron mit nossen. Widerlegt scheint damit die schwung der naturwissenschaftli- dem echten Auge blinzeln und verhelfen dem Behauptung amerikanischer Politi- chen Forschung in den USA beige- Patienten auf diese Weise zu einem natürli- ker, dass eine wissenschaftliche tragen – damals verließen Spitzen- chen Aussehen. Nach Angaben der Ärzte wur- Überlegenheit der USA vor allem physiker wie Albert Einstein oder de bereits einem Erkrankten eine bewegliche auf das hohe Ausbildungsniveau der Niels Bohr wegen der Bedrohung Gesichtsprothese bei guter Kosmetik und Ver- Elite-Universitäten zurückzuführen durch die Nazis Europa. träglichkeit eingesetzt.

der spiegel 38/1999 293 Prisma Computer

AUTO Wenn es schließlich gelingt, die Radar- technik so zu verfeinern, dass sie zwi- schen verschiedenen Hindernissen un- Kostbare Millisekunden terscheidet, kann das Sicherheitssystem auch den Unfallpartnern helfen: Droht irbag und Sicherheitsgurt wirken straffer kann schon eine halbe Sekunde die Kollision mit einem Fußgänger, so Anicht bei jedem Unfall optimal, denn vor dem Knall den Insassen bis zu 50 überlegen die Konstrukteure, ließe sich auf der Straße knallt es nicht so lehr- Zentimeter zurückzerren und in die die Motorhaube einige Zentimeter anhe- buchmäßig wie auf dem Crash-Prüf- optimale Körperhaltung bringen. Sen- ben, was die Gefahr einer Verletzung am stand. Siemens-Ingenieure entwickeln soren im Sitz messen Körpergewicht darunter liegenden, harten Motorblock derzeit Systeme, die mit Computer- und Sitzposition – mit diesen Daten vermindern würde. unterstützung die kostbaren Millisekun- wird ein mehrstufig zünd- den vor einem Zusammenstoß nutzen, barer Prallsack indi- um die Insassen besser zu schützen. So viduell aufgeblasen. könnte Radar einen Umkreis von 20 Metern um das Fahrzeug überwachen. Erkennt der Bordcomputer einen dro- henden Zusammenprall, berechnet er Crash-Geschwindigkeit und Aufprall- richtung und versetzt dann Front- und, falls nötig, Seiten-Airbags in Alarmbe- reitschaft, so dass diese ein bis zwei hun- dertstel Sekunden mehr Zeit haben, sich zu entfalten. Ein elektrischer Gurt-

KRYPTOGRAFIE chen gesetzeskonformen US-Program- ORGANIZER me zu kaufen. Auch das Standardargu- Widerwillige Reform ment, Krypto-Export diene „Terroris- Eine Hand voll Buntes ten“, die mit Hilfe der Technik heimlich ie USA wollen das strikte Export- Attentatspläne aushecken könnten, or rund einem Jahr verließen die Dverbot für wirkungsvolle Verschlüs- überzeugt nicht mehr; schließlich gibt es VErfinder des populären „Palm“-Or- selungs-Software aufheben, doch wie li- die brisante Software auf zahllosen In- ganizers ihre Firma und gründeten das beral die neuen Regeln sind, ist nicht ternet-Rechnern zum Herunterladen. Unternehmen „Handspring“. Letzte recht klar. Nach dem bisherigen Gesetz Die neue Regelung, der „Cyberspace Woche hatte ihre neue Schöpfung Pre- gilt jedes Verschlüsselungsverfahren mit Electronic Security Act“ (Cesa), teilt miere. Der „Visor“ (Preise zwischen 149 mehr als 56 Bit Schlüssellänge – ein Software bis zu 64 Schlüssel-Bits in ver- und 249 Dollar) sieht, außer den Ge- Maß für den Aufwand, der zum schiedene Kategorien ein. Der Export häusefarben in poppigen Bonbontönen, Knacken des Codes nötig ist – als Waffe von Massenprodukten in die Unter- dem „Palm III“ sehr ähnlich, er verwen- und darf nicht außerhalb der Vereinig- zeichnerstaaten des Wassenaar-Abkom- det auch dasselbe Betriebssystem und ten Staaten gehandelt werden. Seit Jah- mens ist danach relativ problemlos soll voll kompatibel sein. Neu ist ein Er- ren drängt die US-Industrie auf eine möglich. Programme mit höherem Freigabe, gibt es doch schon lange aus- Schutzgrad und Spezialentwicklungen ländische Firmen, bei denen sich poten- für Firmenkunden müssen allerdings zielle Kunden bedienen, statt die schwa- zur „technischen Prüfung“ dem Wirt- schaftsministerium vorgelegt und ihr Verbleib nach der Ausfuhr dokumentiert wer- den. Softwarefirmen äußer- ten sich sehr erfreut über die Reform, doch Justizministerin Janet Reno, bisher Hardline- rin im Krypto-Streit, betonte schmallippig, Cesa sei „keine Lockerung“, und warnte Handspring-„Visor“ noch einmal vor kriminellen Machenschaften im Schutze weiterungssteckplatz, in den sich künf- der Kryptografie. Ihr Trost: tig Module wie Mobiltelefon, GPS-Na- Das FBI bekommt zusätzlich vigationssystem, Digitalkamera oder 80 Millionen Dollar zum Auf- MP3-Musikplayer anstöpseln lassen, die bau eines geheimen „techni- das elektronische Notizbuch in ein Uni- schen Unterstützungszen- versalwerkzeug verwandeln.

SÜDD. VERLAG trums“, das die Codes von Codiermaschine „Enigma“ im Zweiten Weltkrieg Bösewichten brechen soll. www.handspring.com

294 der spiegel 38/1999 Werbeseite

Werbeseite Das berechenbareMETEOROLOGIE Monster Sechs Meteorologen in Florida versuchen den Weg von Wirbelstürmen vorherzusagen. Ihre Prognosen sollen helfen, Menschenleben zu retten. Beim Hurrikan „Floyd“ zeigte sich erneut die Macht und Ohnmacht der Wetterpropheten.

Von Hurrikan „Floyd“ ausgelöste Sturmflut in Florida*: Jeder Kilometer geräumter Küste kostet eine halbe Million Dollar

ohn weiß, was er tut, und genau des- aus Meteorologie, Politik und Respekt vor Nie zuvor war die Genauigkeit ihrer wegen flattern seine Hände fahrig über dem Sturm. Präziser geht es nicht – nie- Prognosen derart auf die Probe gestellt Jdie Landkarte. Sie ziehen den Stift mand vermag dem Hurrikan sein Geheim- worden wie von diesem Hurrikan – einem übers Papier, zögern, radieren hastig, ner- nis besser zu entlocken als Guiney und der mächtigsten Stürme dieses Jahrhun- vös, wischen weg und zeichnen wieder. seine fünf Kollegen. Spätestens mit Floyd derts, einer Vernichtungsmaschine mit ei- Ungefähr zehn Minuten später, um vier haben sie ihr Können bewiesen: Fast jede ner größeren Ausdehnung als Frankreich. Uhr früh am Dienstag letzter Woche, mar- ihrer Voraussagen, die sie vergangene Wo- Tagelang schipperte er dicht an der Süd- kiert eine dünne Bleistiftlinie auf der Kar- che trafen, war korrekt. ostküste der Vereinigten Staaten entlang, te eine Schneise entlang der Küste als wollte er die Forscher nur fop- Floridas: den Pfad, den der Hurri- Kurs Nordost New York pen und nicht wirklich zuschlagen. kan „Floyd“ in den nächsten 48 REUTERS Guineys Vorhersage des Hurri- Stunden einschlagen wird. Viel- Der Zug des 16. Sept. kan-Verlaufs, über die Morgennach- leicht. Hurrikan „Floyd“ abends richten verbreitet, erlöste die Be- „Hoffentlich“, sagt ein Kollege, nach Eastern Standard Time Virginia wohner Südfloridas von der Angst, der sich jetzt ebenfalls über den die sie die ganzen letzten Tage be- Kartentisch beugt. Dann, ganz ru- North Carolina gleitet hatte: Kurz vor Erreichen der hig und fest, wie in einem Hol- Halbinsel, so die Prognose, werde South lywood-Katastrophenfilm: „Wir lie- Carolina 16. Sept. der Wirbelsturm nach Nordwesten gen richtig, John.“ morgens abbiegen. Das bedeutete Verderben Die beiden Meteorologen vom Georgia für die Bewohner von South Caro- National Hurricane Center in Mia- 15. Sept. lina, denn Floyd würde sich nun ge- mi wissen, dass der Bleistiftstrich, mittags gen sie wenden. In der Nähe des mit dem John Guiney, 37, den Kurs Südstaatenstädtchens Charleston des Hurrikans in die Zukunft fort- sollte der Sturm zum ersten Mal aufs schreibt, schon wenige Stunden Florida 14. Sept. Festland treffen und seine Gewalt später das Schicksal von tausenden mittags entladen – so sagte es das Kreuz- Menschen bestimmen wird. chen, mit dem Guiney seine 48- Die Vorhersage der Männer im Stunden-Vorhersage markiert hatte. Frühwarnzentrum ist eine Mischung Bahamas US-Präsident Bill Clinton erklär- te daraufhin die betroffenen Re- Kuba * Daytona Beach. gionen zu Katastrophengebieten,

296 der spiegel 38/1999 teorologen empfiehlt: „Bepositive.“ Center („Regeln für Ansager“) denMe- blonden Wetterfeen vom Weather Channel fröhlich undcoolauszusehenwieeineder dabei so Meistens gelingt esihnennicht, und legen Zeugnisab von ihrer Arbeit. stellen siesichvor die Kameras phezeien, dasFalsche zupro- gedrückt von derFurcht, den Reporternundimmerwiedernieder- genervt von denständigumsiewimmeln- Hurrikan-Opfern. und vielleichtvon tausendenobdachlosen von PolitikernBeurteilt werden siesofort, senschaftlichen Fachjournalen zerpflückt. Monate später von Kollegen inwis- scher, wiedie anderer For- beit wird nichtnur, Ihre Ar- ihre Prophezeiung indieIrre geht. wenn sienichtfrüh genug warnen oder sie allesrichtigmachen–und Angeklagte, wenn che SiesindHelden, Wissenschaftler. Hurricane Centersindmehralsgewöhnli- DieSturmspezialistenvom stiftstrich. ter Küste kostet einehalbeMillionDollar. Jeder Kilometergeräum- zeichnet wurde. der Geschichte Vereinigten Staaten be- „größte Evakuierung inFriedenszeiten“ in derspäter als EinExodus begann, lassen. ihre Häuser zuver- Küstenbewohner auf, die Behörden forderten rund2,6Millionen – auchwenn einMerkblatt desHurricane Nach einerzwölfstündigen Nachtschicht, All daseineFolge von Guineys Blei-

AP * Oben:inMiami;unten: aufdenBahamas. rßSrneudSrßn Min- fraß Strände undStraßen. warf einen Frachter andieKüste, Er lung undflutete allesLand. der Wirbelsturm eineganze Sied- zerschmetterte Floyd überquerte, viermal größer als Andrew. Floyd aber war noch verursachte. belsturm angerichteten Schaden größten jemalsvon einem Wir- mit 25Milliarden Dollarden 000obdachlosmachte und 200 der Region41Menschentötete, in der gewordener Alptraum, einwind- Hurrikan „Andrew“, mächtig dahergerollt wie1992 der Mithin kamFloyd ebenso über- zu 250Stundenkilometerschnell. zu 5;dieLuftmassenrasten bis strotzt: Stärke 4anderGrenze vor Monströsität undKraft ge- rida hatte der Wirbelwind noch Stärke 2. hatte ernurnochdie reicht, dievon 1bis5 Simpson-Skala, rissen ankam: Auf derSaffir- er geschwächt undamRandzer- wo nerstag inNorthCarolina, aufs LandinderNachtzumDon- als seintatsächlicher Übergriff hätte diesdramatischer geendet UndaufjedenFall dichter besiedeltist. daderUS-Bundesstaat viel den Bahamas, mit nochfürchterlicheren Folgen alsauf vielleicht über Floridahereingebrochen, wäre dasUnheil venkurs eingeschlagen, dem Zeitpunktaber hingallesab. wann.“ Vonhen würde –nurnichtgenau, dasserabdre- wirwusstenschon, „Na ja, Sturmprophet undverbesserte sichgleich: sagteder „Manweiß janie“, sein Haus. Beven verrammelte am Montag gewälzt. scheinbar unbeirrtexakt aufSüdflorida zu- hatte sichderMonsterwirbeltagelang und Schließlich eigenen Vorhersagenzweifelte. insgeheim anden einerderForscher, ven, die Hurrikan-Berichterstattung kümmert. dersichseitJahren um ein Lokalreporter, lobteauch Sturm anMiamivorbeizieht“, dassder diesmal sounglaublich sicher, warensich „Sie Yorkbewundernd. Times“ titeltedie„New seiner Choreografen“, Öffentlichkeit. Seit Floyd weiß dasauchdie wie nochnie. nen Jahren sogenau prognostiziert haben Pfad derStürmeindenbeidenvergange- den Verbesserungen inder Vorhersage, nachJahrzehnten kaummerklicher sie, dass Centers gefeiert: EineStudiezeigte, de dieSturmspezialistendesHurricane November –hat die Wissenschaftsgemein- Saison am Atlantik –siegeht von Juni bis u e aaanen die Auf denBahamainseln, Anfang letzter Woche vor Flo- Hätte Floyd nurwenig später denKur- dassJack Be- Der Reporterweiß nicht, „Monstersturm tanztnachdenSchritten Kurz vor derdiesjährigen Hurrikan- der spiegel der spiegel 38/1999

AP M. ELIAS Hurrikan-Schäden*: Hurrikan-Frühwarnzentrum*: Wissenschaft lem neuenComputermodellenundschlaue- hersage-Genauigkeit verdanken sievor al- Die Vor- und seinerKollegen begründet. litenfilmen liegtdiePräzision John Guineys Speichern derComputerundindenSatel- statt wieeineechteBedrohung. tellitenaufnahmen wieLehrfilme wirken würden dieRadar- undSa- banging-Tanz, zuckten sieineinemirrsinnigen Head- als Böen diePalmenhäupter schüttelten, WennGefährlichkeit. nichtdraußen schon chen nurzudenMeteorologen von seiner spre- dig aufdenComputernerscheinen, diestän- stärken undLuftdruckmessungen, eine ästhetische Vernichtungsmaschine. dend weiß leuchtetdas Wolkenkarussell – Blen- Schirm dieFestlandküste markieren. dieaufdem kisfarbenen Linienheran, schiebt sichimmernäherandiezartentür- das ausgedehnte Sturmwindrad und Stillrotiert aufdenSatellitenbildern lich. geradezu gespenstisch unwirk- hier irreal, DerSturmwirkt und Atmosphärenchemie. ihn gleichsamabgekühlt zubloßer Physik tatsächlichen Abflauen virtuellgezähmt, belsturm Floyd schonlange vor seinem ter hingegen haben dieForscher den Wir- tisierten Kontrollraums imHurricaneCen- Monstrum zufürchten. umsolchein Hurrikan selbererlebt haben, Manmusskeinen in denUSAkamenum. destens 13MenschenaufdenBahamasund ohi l e alnudDtn inden Doch inalldenZahlenundDaten, die Wind- Seine aktuellenKoordinaten, Zwischen denBetonwänden desklima- Windgewordener Alptraum „Wir liegen richtig“ 297 Wissenschaft ren Datensammeltechniken. Entdeckt wer- zurück. Auf Grund der Computermodelle den die Embryos späterer Wirbelstürme war den Sturmspezialisten rasch klar, dass noch ganz herkömmlich: per Satellit. Floyd irgendwann abdrehen würde: Die So begann Floyd seine Karriere schon Superrechner hatten die riesige Kaltfront Anfang September, als „Tropisches Tief- bei ihren Kalkulationen berücksichtigt, die drucksystem Nummer Acht“ weit draußen sich vom US-Festland aus Richtung Küste im Atlantik. Ein solches System entwickelt schob – ein unverhofft auftauchender Ge- sich aus Gewitterzellen. Gefährlich wird es genspieler des Hurrikans. immer dann, wenn die Wassertemperatur Letztlich war es diese Kaltfront, die Flo- mindestens 26,5 Grad Celsius erreicht. rida und Georgia vor einem Inferno be- Feuchtwarme Luft steigt auf und konden- wahrte, indem sie den Sturm nach Norden siert in der Höhe; Wärme wird freigesetzt, zwang. Auch South und North Carolina die dann die Luftsäule weiter emporsteigen kamen noch glimpflich davon, indem durch lässt. Über der Wasseroberfläche fällt der die Kaltfront beeinflusste Scherwinde das Luftdruck, immer mehr feuchte Luft strömt perfekt organisierte Karussell des Wirbel- in das Gewittersystem – ein Teufelskreis, sturms durcheinander brachten. der das Unwetter immer weiter anheizt. Allerdings sind die Simulationen noch Bereits Tage vor seinem Eintreffen hat- immer ungenauer, als man es von Compu- ten Guiney und Beven den Hurrikan im tern erwarten würde. Jedes Programm Geiste in Scheibchen geschnitten und rechnet mit unterschiedlichen Parametern, durchleuchtet, so wie ein Pathologe wu- und deswegen fächern sich die jeweils pro- cherndes Gewebe analysiert. Sie wussten gnostizierten Sturmbahnen auf, sie liegen genau, was im Innern des Luftwirbels ge- bis zu 120 Meilen weit auseinander.Welche schah – etwa, wenn er sich ausdehnte, als Prognose stimmt? Die Kunst des Dienst müsste er Luft holen, um sich dann wieder habenden Meteorologen besteht genau zusammenzuballen. darin, das zu entscheiden. Ihre Daten bekommen die Sturmforscher von den „Hurricane Huntern“ gelie- fert, Piloten der Air Force, die ihre Flugzeuge direkt durch den Sturm hindurch steuern. Dabei werfen sie spezielle Sonden ab, kleine Wetterstationen mit Fall- schirmen, deren meteorolo- gische Messungen auf dem Weg nach unten ins Hurri- cane Center gefunkt werden, bevor sie im Meer versinken. Allein durch Einsatz der Mess-Sonden sind die 24- und die 36-Stunden-Vorhersage

der Wirbelsturmschneise um AP mehr als 30 Prozent genauer Hurrikan-Schäden in den USA: „Man weiß ja nie“ geworden. Von den Messun- gen wussten die Wirbelwind-Spezialisten Und diesem Propheten wird immer die auch, wie windschwach es war in Floyds Sicherheit der Menschen wichtiger sein als Mitte, dem „Auge“, und dass dieses einen hunderte von Millionen Dollar Evaku- Durchmesser von 56 Kilometern hatte. Sie ierungskosten. Deswegen wird jeder der wussten, dass – wie bei jedem seiner tropi- Männer vom National Hurricane Center schen Sturmgeschwister – in der Wand die- so handeln wie John Guiney: Obwohl fast ses Wolkenlochs die heftigsten Stürme wü- alle Simulationen zu dem Ergebnis kamen, ten. Die Luft, die von außen ins System dass Floyd Florida eher am Rande strömt, zirkuliert dort am schnellsten, so berühren werde, setzte er seinen Vorher- wie eine Eiskunstläuferin sich plötzlich sage-Bleistiftstrich nach all dem Radieren schneller dreht, wenn sie ihre ausgestreck- und Wischen noch ein Stückchen dichter ten Arme an den Körper zieht. an die Küste. „Nur wenn ich das so ma- John Guiney gibt die wahrscheinlichste che“, sagt er, „können die Leute aus Nord- Position des Wirbelsturms in den Compu- florida und Georgia rechtzeitig abhauen.“ ter ein und schickt das Datenpaket zum Er wollte sichergehen, für den Fall, dass Zentralrechner nach Washington. Dort Floyd doch noch einen Ausfall machen soll- wird es eingespeist in rund zehn Compu- te. Zu viel zu warnen sei jedenfalls besser als tersimulationen. zu wenig.Anders als alle Computersimula- Die Wettermodelle, die auch die aktuel- tionen wissen Beven und Guiney schließlich len Messungen der Atmosphäre in der Um- aus Erfahrung, dass der perfekte, der in al- gebung des Sturms verrechnen, schicken len Details vorhersagbare Sturm nicht exis- ihre jeweilige Variante der zukünftigen tiert. Sie wissen, wie kapriziös die Unge- Sturmschneise ans Hurricane Center heuer sein können. Rafaela von Bredow

298 der spiegel 38/1999 Werbeseite

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Werbeseite mit „12 Toren“. Die Ein- ARCHÄOLOGIE wohner würden „über eine gewaltige Streitmacht“ ver- Glanz fügen, die „allen Völkern des Nordens“ überlegen sei. Der letzte Hinweis fin- und Gurken det sich 1158 im Stadtbuch von Lübeck. Dort wird ein Forscher fahnden nach dem Ratsherr Cord Strale „van Wineta gekamen“ erwähnt. versunkenen Vineta. Bei Helmold von Bosau, War die Sagen-Metropole einst der 1170 eine Slawen- die größte Stadt Europas? chronik verfasste, ist der mysteriöse Ort bereits eine och im Norden von MeckPom, wo Ruine. Sie sei „von einer noch die Trabis knattern und der sehr großen Flotte“ zerstört HBürger abends „Moin“ sagt, wo der worden. Wind an alten Ossi-Deichen nagt und der Seit 100 Jahren schon Dorschfang darbt, darbt auch das kleine mühen sich die Forscher, Städtchen Barth (10349 Einwohner). die Hinweise aus den An- „Zu DDR-Zeiten stand hier ein großes nalen zu deuten. An allen Gurken-Kombinat, wir hatten fleischver- drei Oder-Mündungen, in arbeitende Betriebe und Werftindustrie“, Swinemünde, Peenemünde lamentiert Bürgermeister Mathias Löttge und bei Wollin, wurde im (CDU).Alles dicht. Nur zwei Fischer über- Schlick gestochert. Nach lebten die Wende. Löttge: „Die Arbeitslo- dem Krieg brach die Suche sigkeit liegt bei über 20 Prozent.“ ab. Pommerns Küste war im Und dennoch: Wer das Ostsee-Kaff be- Kalten Krieg eine Tabu- sucht, wird stolze Bürger treffen – Men- zone, usurpiert von der Na- schen, die sich wie Römer und Trojaner tionalen Volksarmee. fühlen, umflort vom Lorbeer der Ge- Seit Juni 1998 steht ein schichte. Barth nämlich, so will es eine neuer Standort zur Dis- neue archäologische Theorie, ist identisch kussion. Klaus Goldmann,

mit der Supermetropole Vineta. AKG Oberkustos am Museum für Ein weit verzweigter Mythos rankt sich Mythenstadt Vineta*: Spurensuche mit Sonargeräten Vor- und Frühgeschichte in um dieses „Atlantis des Nordens“. Der Berlin, vermutet die Wun- Sage nach schwelgte die City bereits vor zugleich erster deutscher Geograf von derstadt an einem vierten – heute verlan- über 1000 Jahren im Überfluss. Kleider aus Rang, nannte die Siedlung – im Jahr 1076 deten – Oder-Arm. „Alle Fahnder haben Edelpelz trugen die Vineter, ihren Kindern – „die größte Stadt, die Europa birgt“. Ihre geirrt“, meint der Gelehrte, „Vineta ist im wischten sie die Hintern mit Semmeln ab. Lage verortete er an einer der Oder-Mün- Barther Bodden versunken“ (siehe Grafik). In den Ställen standen Schweinetröge aus dungen. Goldmanns Recherche, die nun auch in Gold. Heinrich Heine und Ferdinand Frei- Auch die Beschreibung von Ibrahim Ibn Buchform vorliegt, hat in der Spatenzunft ligrath schrieben Gedichte auf die Fabel- Jakub gilt als zuverlässig. Um 970 nach große Resonanz gefunden**. Schon seit stadt. Johannes Brahms vertonte ihren Un- Christus reiste der Gesandte aus dem Ka- Jahren gilt die Umgebung von Barth als tergang. lifat Córdoba bis nach Pommern. Dort, so Fund-Dorado. Unzählige Lanzenspitzen, Ganz aus der Luft gegriffen ist die der Bericht, liege eine große Hafenstadt Keramik, Spinnwirtel und Armbrustbol- Legende vom plattdeutschen Manhat- zen, dazu versilberte Pferdetrensen und tan nicht. In mehreren hochrangigen Knochen von Schlachttieren wurden in der * Holzstich aus dem Jahre 1881. historischen Quellen wird Vineta er- ** Klaus Goldmann, Günter Wermusch: „Vineta“. Gustav Gegend gefunden. Niemand wusste, wer wähnt. Der Mönch Adam von Bremen, Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach; 288 Seiten; 39,80 Mark. den Siedlungsschrott hinterließ. Wissenschaft

der Stadt Sachsen und Slawen, „Griechen Ostsee und Barbaren“ friedlich zusammenlebten – ein Multikultigebilde mit orthodoxen Kir- Barther Boomtown am Bodden chen und einem Glauben, der an der Ost- Bodden Vermutete Lage von Vineta kirche orientiert war. Goldmann schätzt Rügen im Mittelalter (nach Goldmann) die Zahl der Einwohner auf 20 000 bis Barth 30000: „Keine europäische Stadt war da- mals größer.“ Vineta Solch eine Boomtown, direkt an der Grenze des Heiligen Römischen Reichs Peenemünde gelegen, muss den deutschen Fürsten Rostock ein Dorn im Auge gewesen sein. Täglich Swine- gingen ihnen Steuern durch die Lappen. münde Wollin Durch das Große Schisma von 1054 ver- schärfte sich die Lage – die Christenheit Demmin Usedom zerbrach in feindliche Lager. Rom gab bestehende Oder-Abflüsse danach eine harte Linie vor: Die ortho- doxen Ostler seien Heiden, die man tot- schlagen müsse. DEUTSCHLAND weiterer Oder-Arm POLEN Die Spannung entlud sich offensichtlich im 12. Jahrhundert in einem fürchterlichen Gemetzel. Gold- mann geht davon aus, dass Vineta im 11. und 12. Jahrhundert mehrfach von Maro-

ESA1999/M 66121 SAARBRÜCKEN SAT deuren und Kreuzrittern attackiert wurde. Helmold von Bosau berichtet, dänische Auf einmal bietet sich eine faszinieren- und Großsiedlungen. Das Klischee vom Angreifer hätten Deiche und Wehre im de Erklärung an. „Die Streufunde könnten kulturlosen Slawenland lässt sich nicht län- Ostseegebiet zerstört und Vineta auf diese aus den Vororten von Vineta stammen“, ger halten. Weise geflutet. meint Friedrich Lüth vom Landesamt für Bereits im 8. Jahrhundert gegründete Ob das Szenario stimmt, müssen nun die Bodendenkmalpflege bei Schwerin, „Gold- Handelszentren wie Ralswiek (Rügen) und Archäologen ermitteln. Für Oktober ist mann hat uns auf eine wichtige Fährte ge- Reric (Wismarbucht) trieben vermittels eine neue Suchaktion angesagt. Die Firma bracht.“ bauchiger Segelboote einen florierenden Nautik Nord will den Barther Bodden mit Doch wo lag das Rathaus der City? Wo Handel. In den Ostsee-Siedlungen tum- zwei Sonargeräten abtasten. „Wenn da un- ragten seine Handelshäuser und Stadttore melten sich Händler aus Nowgorod und ten Stadttore und hölzerne Paläste liegen“, in den Himmel? Kiew. Kaufleute aus Konstantinopel ver- sagt der Geschäftsführer Roland Atzler, Vorletzten Monat schien sich eine Spur schifften (über den Dnjepr) Brokatstoffe „werden wir sie finden.“ aufzutun. Anwohner hatten im Barther und orientalische Spezereien in den ho- Barths Bürger sehen solche Projekte mit Bodden eine Holzkonstruktion gesichtet. hen Norden. Zu der Zeit waren Hamburg Wohlgefallen. Die Gurkenstadt umweht Flugs schickte Lüth einen Froschmann ins und Berlin noch nicht gegründet. plötzlich ein Nimbus wie Atlantis. Seit verschlammte Gewässer.Als der Neopren- Arabischen Quellen zufolge beherrsch- kurzem bietet die Not leidende Kommune Mann wieder auftauchte, machte sich Ka- ten die Slawen auch die Kunst der so ge- „Vineta-Hochzeiten“ an, ein Trauzeremo- terstimmung breit. Er hielt eine gammeli- nannten Melioration: Sie legten Sümpfe niell in mittelalterlichen Kostümen. Den ge Fischreuse in der Hand. trocken und verwandelten sie in saftiges Namen Vineta hat Bürgermeister Löttge Von solchen Rückschlägen lässt sich die Ackerland. Dämme und Wehre bändigten beim Patentamt schützen lassen. vorpommersche Heimatkunde nicht ent- die reißende Oder, dahinter wogten üppi- Versonnen blickt Löttge auf die umlie- mutigen. Der Raum jenseits der Elbe steckt ge Kornfelder. Auf angestauten Flüssen genden Industriebrachen.Vor seinem geis- voller archäologischer Überraschungen.An transportierten die Einwohner ihren Wei- tigen Augen sieht er bereits die Touristen der Ostseeküste wurden Münzen aus Per- zen bis nach Konstantinopel. heranströmen. „Wirklich toll“, sagt er, „die sien, Armenien und Bagdad entdeckt. Die War Vineta das Herz dieser turbulenten Formel ‚Barth gleich Vineta‘ ist ein Ge- Ausgräber stießen auf Reste von Deichen Krämerwelt? Quellen berichten, dass in schenk des Himmels.“ Matthias Schulz Werbeseite

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lange versucht hat, den RAUMFAHRT kommerziellen Einsatz der neuen Techniken zu be- Offener Himmel grenzen. So behielt sie sich vor – unter dem Vorwand, Der erste kommerzielle die „nationale Sicherheit“ schützen oder „interna- Spionagesatellit startet diese tionalen Verpflichtungen“ Woche ins All – seine scharfen nachkommen zu müssen –, Fotos sollen frei erhältlich sein. unerwünschte Aufklärungs- satelliten auszuschalten, m Freitag dieser Woche könnte ein mittels Laserstrahlen „zu neues Zeitalter anbrechen: Der blenden“ oder geeignete Abritische Zukunftsvisionär und Techniken zu entwickeln, Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke mit denen unliebsame Sa- verkündet eine „Ära der Transparenz“. telliten „sich zu einem Verläuft alles nach Plan, wird eine ame- Klumpen Metall zusam- rikanische „Athena“-Rakete den ersten menschmelzen“ ließen. kommerziellen Spähsatelliten ins All hie- Inzwischen hat die ven, dessen gestochen scharfe Digital- US-Regierung ihren Wi-

Schnappschüsse für jedermann zugänglich IMAGING SPACE FOTOS: derstand gegen private sein sollen – sofern er dafür zu zahlen be- Satellit „Ikonos“ (Zeichnung): Hilfe für Putschisten? Spähsatelliten weitgehend reit ist. Zweimal täglich soll „Ikonos 2“ die aufgegeben – die Blockade- Erde umkreisen. Jeder beliebige Ort am oder Waldbränden abschätzen. Die Bilder politik war nicht mehr durchzuhalten. So Boden könnte dabei im Schnitt alle drei könnten auch genutzt werden zur Stadt- haben Indien und Frankreich, Russland und Tage überflogen und fotografiert werden. und Straßenplanung, beim Umweltschutz Kanada längst eigene kommerzielle Auf- Bisherige Himmelsspäher vermögen bes- und Katastropheneinsatz sowie – durch den klärungssatelliten im Erdorbit platziert. tenfalls Gegenstände zu erkennen und ab- Einsatz von Spezialkameras – zur Über- Die Schnappschüsse dieser Himmelsspäher zulichten, die größer sind als fünf Meter. wachung von Schädlingsbefall und Reife- sind allerdings wegen des beschränkten Dieses so genannte Auflösungsvermögen grad landwirtschaftlicher Nutzpflanzen. Auflösungsvermögens (zwischen 5 und 30 wird die „Ikonos“-Optik, wenn in etwa Derlei Einsatzbreite wird allenthalben Metern) weitaus verschwommener als jene, drei Monaten die Systeme des Satelliten gelobt und vom „Ikonos“-Betreiber auch die „Ikonos“ liefern soll. überprüft und ausgerichtet sind, bei wei- geschickt vermarktet. Weniger offen wirbt Zudem verspricht Space Imaging extrem tem übertreffen. das Unternehmen hingegen mit einer wei- kurze Lieferzeiten: Bereits eine halbe Auf den „Ikonos“-Fotos, die der Satelli- teren Möglichkeit, die der „Ikonos“-Satel- Stunde nach dem Schnappschuss im Orbit ten-Betreiber, die in Thornton (Colorado) lit eröffnet: die Aufklärung der Machen- will die Firma unter Verwendung einer be- ansässige Firma „Space Imaging“, seinen schaften von Feinden und Konkurrenten. grenzten Datenmenge ihrem Kunden Kunden liefern will, sind noch ein Meter „In ganz kurzer Zeit“ werde die „Iko- gleichsam einen Kontaktabzug liefern; ein große Objekte auf der Erde zu erken- nos“-Firma ihre Produkte auch „auf dem Qualitätsbild aus sämtlichen Pixel-Daten nen – also einzelne Menschen beispiels- Militär- und Spionagesektor anbieten“, der „Ikonos“-Optik folgt wenig später. weise. Nur die militärischen Spiona- prophezeit der amerikanische Fernauf- Über den Preis der All-Aufnahmen ist gesatelliten erzielen derzeit noch mit 15 klärungs-Experte Vipin Gupta von den noch nicht entschieden. Für Archivfotos will Space Imaging jedoch pro abgelichte- ter Quadratmeile (was in etwa der Größe Helgolands entspricht) zwischen 30 und 300 Dollar berechnen. Langfristig, so hofft die US-Politwissen- schaftlerin Ann Florini von der Carnegie- Friedensstiftung, könnte der freie Handel mit detailgenauen Fotos aus dem All sogar mögliche Konflikte entschärfen und Kriege vermeiden helfen – vorausgesetzt, es kommt zu einer „symmetrischen Transparenz“: Verfüge etwa Pakistan über Fotos indischer Truppenkonzentrationen, müsse umgekehrt Indien der bildliche Beweis geliefert werden, dass Pakistan entsprechend reagiere. Simulierte Satellitenfotos*: Schnappschüsse aus dem All Dass dieses Prinzip des „offenen Him- mels“ tatsächlich konfliktentschärfend wir- bis 30 Zentimetern ein höheres Auflö- Sandia National Laboratories im kaliforni- ken kann, belegt die Geschichte des Kalten sungsvermögen. schen Livermore. Mit Hilfe der käuflichen Krieges. Voller Misstrauen hatten sich Dass für die Himmelsspäher ein ausrei- Luftaufnahmen von Nachbarn oder po- Amerikaner und Sowjets Anfang der sech- chender Bedarf besteht, scheint unstrittig. tenziellen Feinden können sich Manager ziger Jahre gegenübergestanden, weil sie Mit „Ikonos“-Fotos ließe sich etwa schnell und Generäle, Putschisten und Präsidenten nicht wussten, was die jeweils andere Sei- das Ausmaß der Schäden bei Erdbeben nun einen machtvollen Wissensvorsprung te im Schilde führte. Erst als eine Armada verschaffen, der bislang Großmächten vor- von Spionagesatelliten um die Erde kreiste, behalten war. so erinnert sich der amerikanische Auf- * Steigerung der Detailschärfe am Beispiel einer Luft- aufnahme des Flughafens von San Francisco; links: Auf- Vor solchem Hintergrund scheint ein- klärungsexperte Brian Gordon, „schrumpf- lösung fünf Meter, rechts: Auflösung ein Meter. sichtig, dass die amerikanische Regierung te die Paranoia“. Rainer Paul

306 der spiegel 38/1999 Werbeseite

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TENNIS „Das Haus wackelt gewaltig“ Beim Daviscup Ende der Woche gegen Rumänien entscheidet sich die Zukunft des deutschen Tennismarktes. Auch der Job von Teamchef Boris Becker steht auf dem Spiel: Um den Machtkampf mit dem Verband zu gewinnen, will er seinen Intimfeind Michael Stich ins Präsidium lotsen.

er Hausherr legt Wert auf Design. Bundes (DTB) entschieden wissen – und Licht auf die mangelnde Autorität des Kunstwerke flankieren den langen, zwar endgültig. DTB-Chefs Karl Weber. Bereits Ende Juli Dhalogengefluteten Flur. Im Konfe- Seit Jahren sieht sich der dreimalige hatte das Präsidium mit 5:1 Stimmen Hor- renzraum umstellen 14 blaue Sessel einen Wimbledonsieger von den Präsidenten der dorff die Verantwortung für den Profi- ovalen Tisch aus Edelholz. Neben zwei So- Landesverbände angegriffen. Immer wie- bereich entzogen. Doch der degradierte fas im Streifenmuster – blau und rostbraun der mäkelten die beispielsweise über den Sportwart scharte seine Anhänger um sich. – steht eine Lichtanlage parat, wie sie Kooperationsvertrag, der dem Tennisbot- Die mächtigen Landesfürsten revoltierten. gewöhnlich in Fotostudios zur Anwen- schafter Becker jährlich 2,6 Millionen Mark Zwar fällt die personelle Entscheidung dung gelangt, um ein Bild perfekt auszu- aus der DTB-Kasse beschert. An die Spit- erst im November. Doch mit oder ohne leuchten. ze der kritischen Provinzfürsten setzte sich Becker: Das Intrigenspiel hat den Deut- Die Ehefrau hat ihren Geschmack in den verglasten Bürotempel bei Mün- chen eingebracht. Nichts deutet auf die Geschäfte hin, die hier im vierten Stock getätigt werden. Kein Pokal, kein Poster, kein Sentiment aus vergange- nen Zeiten, als der Gatte Schweißbän- der an den Handgelenken trug. Hinter dem Empfangstresen künden nur drei nachtblaue Großbuchstaben von der Identität: BBM, Boris Becker Marke- ting. Darunter als programmatische Er- gänzung: „International“. Von hier aus will der frühere Ten- nisprofi, der nie Mühe hatte, kühne Visionen zu entwickeln, die weite Welt des Sportbusiness erobern – auf Augenhöhe mit Leo Kirch, Jürgen Schrempp, Bernie Ecclestone. Doch am kommenden Wochenen- de muss Boris Becker, 31, erst mal die kleine Welt des Daviscup-Teams in Ordnung bringen. Gegen Rumänien geht es um den Verbleib in der Bel-

etage der Tennisnationen.Verliert die 4 / CAMERA IMAGO von Becker geführte Mannschaft, Daviscup-Kapitän Carl-Uwe Steeb, Spieler Haas: Argwohn provoziert spielt Deutschland nächstes Jahr nicht gegen die USA, Frankreich oder Spanien, der Bad Homburger Immobilienkaufmann schen Tennis Bund schon jetzt in enormen sondern gegen Finnland, Mazedonien oder Dirk Hordorff, der öffentlich lästerte: „Was Misskredit gebracht. „Mit Hochgeschwin- den Senegal. macht eigentlich der Teamchef?“ digkeit“, urteilt der Essener Stephan Holt- Es geht um die Zukunft des deutschen Jetzt sucht Becker den Showdown. Im hoff-Pförtner, Sprecher der Tennis-Bun- Tennis. „Im Falle des Abstiegs verlieren November, wenn sich das sechsköpfige Prä- desligisten, „manövriert sich der DTB in wir Renommee, Respekt und Millionen an sidium und die 18 Landesvorsitzenden tref- die Bedeutungslosigkeit.“ Fernsehgeldern“, weiß Becker, einerseits. fen, will er seine Gegner zur Räson brin- Etliche Sponsoren haben auch von den Andererseits: Das Gegenteil würde ihm gen – und den DTB von Grund auf sanie- chaotischen Verhältnissen in der Ver- ebenfalls Unbehagen bereiten. Der Chef ren: „Wir müssen Tacheles reden, das Haus bandszentrale am Hamburger Rothen- fürchtet, ein Erfolg gegen Rumänien kön- wackelt gewaltig.“ baum genug. Aus Sorge um den eigenen ne sich wie ein Narkotikum über die tief Becker hält es für anmaßend, dass Hor- Ruf prangern sie die „fehlende Professio- zerstrittenen Verbandsfunktionäre senken. dorff die Zuständigkeit fürs Daviscup- nalität“ an: „Es ist alles so einfallslos“, „Offensichtlich muss etwas Dramatisches Team beansprucht. Der Tennis-Heros ver- klagt ein langjähriger DTB-Partner, „da passieren, dass die Verantwortlichen er- achtet „diesen Quereinsteiger“. Seinen kann ich meine 60000 Mark gleich zum kennen: So geht es nicht weiter.“ Mitstreitern an der DTB-Spitze hat er klar- Fenster rausschmeißen.“ Denn Becker will nicht nur auf dem gemacht: Hordorff oder ich. Mitte Oktober treffen sich die rund 40 Court gewinnen, er will auch den Macht- Dass Becker die Vertrauensfrage über- zum Sponsorenpool gehörenden Unter- kampf an der Spitze des Deutschen Tennis haupt stellen muss, wirft ein bezeichnendes nehmen in Bad Wörishofen zum Krisen-

308 der spiegel 38/1999 M. BRANDT / BONGARTS Daviscup-Teamchef Becker: Künftig Herr Becker im Anzug oder lieber Boris in Ballonseide? gipfel. „Da wird ziemlich wild vom Leder res Pathos. Er glaubt, dass ihn das deutsche Und weil er „den Job als Teamchef“ end- gezogen“, erwartet Detlef Grosse, Ge- Tennis jetzt dringender braucht als je zu- lich so erledigen kann, wie er sich das in den schäftsführer von Dunlop Sport. Die Hal- vor. Es gibt eine Menge Leute in seiner en- vergangenen zwei Jahren immer gewünscht tung im DTB, urteilt der Pullacher Unter- geren Umgebung, die ihm raten, „noch hätte. Seit Becker in Wimbledon als Spieler nehmensberater Dieter Herbermann, rüh- heute das Schiff zu verlassen“. abgetreten ist, fühlt er sich wie von schwe- re noch aus jener Zeit her, in der die Er- Warum sollte er seine Zeit opfern für rer Last befreit. Nun steht er nicht mehr folge von Becker und Steffi Graf goldene eine offenbar unmögliche Mission, wo er vor der vertrackten Situation, dass seine Taler auf die Verbandszentrale regnen doch gerade dabei ist, seine Firma auf- Daviscup-Schützlinge gleichzeitig auch sei- ließen. Seither habe sich die Einstellung zurüsten, Unternehmensbeteiligungen ein- ne Konkurrenten auf dem Platz sind. festgesetzt: „Seid froh, wenn ihr bei uns zugehen, Dependancen im steuergünsti- Was für andere Teamchefs selbstver- euer Geld lassen könnt.“ gen Österreich zu eröffnen – alles um, wie ständlich ist, hat sich der Gewandelte letz- Damit ist es lange vorbei. Schon jetzt er lächelnd sagt, „Geld zu verdienen“? te Woche zum ersten Mal leisten können: scheint absehbar, dass die Pool-Erträge – in Becker rückt demonstrativ auf die Kan- Becker jettete zum ATP-Turnier nach Mal- diesem Jahr etwa 1,5 Millionen Mark – ein- te seines Lederfauteuils vor: „Weil Tennis lorca, um die Form seiner Kandidaten Da- brechen werden. Zahlreiche Förderer wol- meine Leidenschaft ist.“ vid Prinosil, Rainer Schüttler und Jens len nur noch den Mindestbeitrag von 10000 Knippschild zu begutachten. Mark überweisen. Auch für die Tage in Buka- Schlimmer noch trifft den Verband die rest hat sich Becker einiges Baisse auf dem Fernsehmarkt. Der Fünf- vorgenommen: Künftig will jahresvertrag, der 125 Millionen Mark in er ganz fürs Team da sein, die DTB-Kasse gespült hatte, läuft Ende selbst „nach 23 Uhr mit des Jahres aus. Die Daviscup-Rechte sind Journalisten an der Hotel- längst zum Ladenhüter verkommen. bar“ plauschen und Zugang Gern hätte der TV-Vermarkter Ufa zu den Eltern der Spieler su- schon einen Vertragsabschluss vermeldet. chen. Sogar über eine neue Doch die Sender warten das nächste Wo- Kleiderordnung hat er sich chenende ab. Zwar haben ARD und ZDF Gedanken gemacht: Soll er ihr Interesse kundgetan, aber wenn man den Matches künftig im An- Tennis heutzutage übertrage, sagt deren zug oder in Ballonseide bei- Unterhändler Michael Amsinck, „dann wohnen? Herr Becker oder muss die Ware erstklassig sein“. doch lieber Boris?

Denkt Boris Becker dieser Tage über die E. ROIG / BONGARTS Dass sich mit dem Rück- Krise im DTB nach, übermannt ihn schwe- Tennisprofi Kiefer: „Die Wunde ist noch zu frisch“ tritt alle Interessenkollisio-

der spiegel 38/1999 309 Sport nen ausschließen, die den Daviscup-Ver- antwortlichen, den Mercedes-Repräsen- tanten und den BBM-Geschäftsmann zu- STARS weilen ins Schleudern brachten, bleibt frei- lich nur ein frommer Vorsatz. Und auch, dass Becker seinen neuen Job ähnlich ge- „Die beste Lady aller Zeiten“ konnt ausführen wird wie einst die Arbeit am Ball, ist fürs Erste nicht zu erwarten. Die Beziehungskiste zwischen Steffi Graf und Andre Agassi Zu umfänglich ist die Akte jener Vor- gänge, die dieser einst unangreifbare Ten- ist die Medienromanze dieses Jahres. Die angeblich so nisspieler in den Sand setzte. Vieles von Verschiedenen eint in Wahrheit eine Seelenverwandtschaft. dem, was er für das Leben nach dem Sport auf den Weg zu bringen versuchte, ging unge Frauen sind fies. Wissen nicht kulieren; „die werden gesunde, schlanke, ihm daneben. Noch immer wird Becker mehr, was Treue ist und was wahre bewegungshungrige Kinderchen haben, mit vorgehalten, dass JLiebe. Kennen keine Manieren mehr, vollem Haar und klarem Blick“, weiß Hera π sein „Mercedes-Benz Junior Team“, eine machen sich auf und davon, wenn sie einen Lind schon heute.War’s am Ende doch nur mit großem Bohei angekündigte Nach- anderen attraktiver finden; „geiler“ nen- ein Flirt, gibt es wieder eine Schlagzeile: wuchs-Offensive, nie in Tritt kam. Das nen sie das, ein ekelhaftes Wort. „Steffi und Andre: Alles aus“. Unternehmen machte nur Anfang des Der Verlassene steht dann – so ist es oft Denn Andre und Steffi sind das perfek- Jahres richtig von sich reden, als zwei – in der Eigentumswohnung mit seinen Plä- te Paar des Sports. Die aktuell (Agassi) Spieler ein Teammitglied beklauten – sie nen für Ehe, Kinder und die gemeinsame oder ehedem (Graf) Besten ihrer Branche wurden entlassen; Altersvorsorge. Und neben ihm winselt – stehen für die Kombination von Vegas und π er sich auf einen Sponsoren-Deal ein- so ist es manchmal – das Einzige, was ihm Brühl, Nike und Adidas, Brustrasur und ließ, der für den Werbepartner Viag In- geblieben ist: der gleichfalls tiefsttraurige Pferdeschwanz. terkom im Frust endete: Bestehende Ver- Schäferhund. Mit dem muss der Rennfah- Prinz Andre und Lady Stefanie, ehema- träge mit dem Sportausrüster Nike rer Michael Bartels jetzt „Agassi gehen“ liges Aschenputtel – so wird diese Ge- schlossen andere Engagements aus; (Harald Schmidt). „Wir schichte erzählt, so inter- π das Konzept, mit dem er die ATP-Tour können das alles gar nicht pretieren es die Expertin- neu gestalten wollte, von den Veranstal- verstehen“, sagt Michaels nen fürs Liebesleben der tern kühl abgeblockt wurde. Papa, Willi Bartels, ehedem deutschen Frau, die es nun Der Multi-Becker provoziert deshalb im- Europameister im Bergauf- zur öffentlichen Rede mer noch Argwohn. Christian Pirzer etwa, wärtsfahren. drängt. „Schüchtern, unsi- Statthalter des amerikanischen Vermark- Denn auch Steffi Graf ist cher“ sei unsere Steffi, tungsriesen IMG in Deutschland, hält dem eine junge Frau geworden glaubt die Schriftstellerin Teamchef vor, seinen Klienten Thomas mit ihren inzwischen 30 Jah- Brigitte Blobel.Agassi hin- Haas zu BBM lotsen zu wollen. „Soll ich ren. Sie hat sich getrennt, zu- gegen habe „Sex-Appeal & mich dafür entschuldigen, dass wir Freun- erst von ihrem Beruf, der sie Power & Erfolg“, meint de sind und nicht nur über Schläge mit der am Ende langweilte, und Andrea Zangemeister von Vorhand reden?“, kontert Becker spitz. anschließend von ihrem Le- „Bild der Frau“. Klar: „Ge- Andererseits weiß er sehr wohl, dass Ni- bensgefährten Bartels, dito. gensätze ziehen sich ja be- colas Kiefer, Deutschlands zweitbester Ten- Manchmal glaubt sie, sie kanntlich an“, folgert Bea- nisspieler, in Bukarest auch deshalb nicht könne fliegen, schreibt sie te Wedekind, Journalistin. antritt, weil dessen Narben aus dem Duell nun in der „Zeit“. Hinein ins Im konkreten Fall liegen in Wimbledon noch nicht verheilt sind: Nest des Andre Agassi, 29, die Dinge leider anders. Hier hatte der 22-Jährige eine Lektion in in jene 24-Zimmer-Villa am Weder ist Graf ein Mauer- psychologischer Kriegsführung auf dem Andre Drive von Las Vegas? blümchen, noch ist Agassi Court erhalten. „Die Wunde ist noch zu Es ist die Medienromanze wild. Die Turtelnden sind

frisch“, glaubt Becker. dieses Jahres. Zunächst SPORT / ACTION ALLSPORT durchaus seelenverwandt. Auch wenn Kiefers Vorhalt von den „at- wusste niemand Genaueres; Champions Agassi, Graf* Beide waren Kinder- mosphärischen Störungen“ einstweilen ei- es gab kein Foto, keine Be- Stars, geschlagen von bö- ner Rückkehr noch im Wege steht, gibt stätigung, nichts Hartes, wie die Jungs vom sen Vätern. Peter Graf ließ Steffi über eine Becker den Souverän: „Ich habe mit Kie- Boulevard Beweise nennen. Es gab bloß Couch spielen und spendierte Vanilleeis fer kein Problem.“ Willi Bartels und das, was dpa als „siche- mit Himbeeren für 50 Schläge ohne Un- Zwar sei es immer etwas schwieriger, re Quelle“ bezeichnete, und es gab Kellner terbrechung; „Flambage“ hieß der Preis, bei zwei gleichwertigen Spielern den rech- und andere New Yorker, die Steffi und ein Zauberwort aus einer verlorenen ten Teamgeist herzustellen, doch im nächs- Andre beim Essenholen gesehen haben – Kindheit. ten Jahr, da ist der Meister sicher, „werden küssend, mindestens. Mike Agassi, aus Teheran nach Amerika Haas und Kiefer gemeinsam für Deutsch- Aber die Nachrichtenlage reichte für ei- eingewandert, hängte Andre ein Mobile land spielen“. nen Aufmacher in der „FAZ“, und für mit einem Tennisball über die Wiege. Als Beckers Versöhnungsbereitschaft mutet „Bild“ reichte sie sowieso. Andre und Ste- Andre bei den Meisterschaften für Ju- wie ein taktisches Manöver an. Um seine fanie Maria sind für Presseschaffende gendliche unter 13 Jahren Dritter geworden Kritiker im Verband zum Schweigen zu schließlich wenigstens so ein Götterge- war, stopfte Papi den Pokal in den Müll. bringen, ist er sogar zu einem Bündnis mit schenk wie Bohlen und Naddel, Jagger und Beide wurden gedrillt, nach ganz klassi- seinem ehemaligen Rivalen Michael Stich das Sex-, Schumachers Ralf und das Boxen- schen Rollenmodellen: Das Mädel blieb in bereit: „Er muss eingebunden werden.“ Luder. Und sie taugen nicht nur für drei Vatis Obhut, der Bub wurde fortgeschickt Dieser Tage will Becker ihn anrufen. Tage. Trefflich ließe sich beispielsweise in die Tennis-Kaserne Nick Bollettieris. Sein Vorschlag: „Ein Platz im Präsidium.“ über Wimbledonsieger des Jahres 2020 spe- Steffi funktionierte, Andre rebellierte. Er Am liebsten den von Dirk Hordorff. rauchte und trank mit 12, lackierte sich die Alfred Weinzierl, Michael Wulzinger * Am 5. Juli 1992 beim Champions’ Dinner in Wimbledon. Fingernägel mit 17, trug Jeans auf dem

310 der spiegel 38/1999 und sich zum Ende der Karriere so frei fühlte, dass sie mit dem Publi- kum „La Ola“ machte; Agassi, weil er diesmal „nichts beweisen muss- te, sondern genießen“ wollte. Beide gewannen das Turnier, was Agassi quasimetaphysisch deutete: „Als ich 1992 mein erstes Grand- Slam-Turnier gewann, siegte sie auch. Es war fast Schicksal, dass wir beide hier gewonnen haben.“ Das verbindet, da kann sich nie- mand wehren. Die Steffi, schwärmt Andre, sei „die beste Lady aller Zeiten“ und er selbst im Vergleich nur „ein Küken“. In den Monaten danach telefo- nierten die beiden, schrieben sich E-Mails, sahen sich in Amerika. Und als Agassi jetzt die U. S. Open gewann, saß die Gräfin auf der Tribüne; vor der Pressekonferenz schloss er sich erst einmal für eine Viertelstunde mit ihr ein. Die Spurensuche der vergange- nen Woche setzten dann die mäßig seriösen Blätter „New York Post“ H. RAUCHENSTEINER AP und „New York Daily News“ in U.-S.-Open-Sieger Agassi, Ex-Profi Graf: Brustrasur und Pferdeschwanz Gang. Zwei Leser hatten das Pär- chen im Restaurant Il Mulino er- wischt: 20 Minuten lang hätten die Liebenden dort „Händchen gehal- ten, geküsst und geschmust“, ehe ihr Nachtmahl bereitet war und sie damit in der wartenden Limousine verschwanden. Auch im Rosa Mexicana wurden sie ertappt. „Die Art, wie sie ran- gingen, ließ mich glauben, dass sie sehr daran gewöhnt waren, sich in den Armen zu liegen“, sagt ein Kellner. „Sie küssten sich offen, und der ganze Raum konnte nicht glauben, was da zu sehen war.Alle versuchten diskret zu sein und wegzublicken, aber diese Leiden- schaft ließ die Leute immer wieder

BILD ZEITUNG hingucken.“ Nächstes Mal werde New Yorker Restaurant Rosa Mexicana: „Diese Leidenschaft ließ die Leute hingucken“ der Manager den Schamlosen ein Séparée zur Verfügung stellen. Platz, als er 19 war. „Mein Leben mit dem Agassi hat es mit prominenten Frauen; Ihren medialen Segen bekam die junge Tennis hatte nie mit meiner eigenen Ent- er brauche, so urteilt der ehemalige Kolle- Liebe schließlich am Freitag von der „Wa- scheidung zu tun“, sagt Agassi, „ich habe ge Boris Becker, „eine dominante, moder- shington Post“. In Beverly Hills, so das für die Anerkennung anderer gespielt.“ ne, unabhängige Partnerin“. Das war bei- Blatt der Watergate-Enthüller, hätten Graf Das Gefühl kennt die Gefährtin. spielsweise Barbra Streisand, die ihn zärt- und Agassi eingekauft – küssend und Beide hatten bisweilen bizarre Erlebnis- lich „Dre“ nannte und ihr „Let’s go, Dre“ Händchen haltend, wie immer also. se mit der Liebe. Steffi Graf durfte 1992 ins Stadion trällerte wie vor Jahrzehnten Wie sollen ältere Menschen wie Willi nicht im olympischen Dorf wohnen, weil das Lied von der „Woman in love“. Viel- Bartels derlei Darbietungen finden? ihr Vater das „sexuelle Lotterleben“ fürch- leicht begann mit der Streisand ja auch Schlimm, sehr, sehr schlimm finden sie so tete. Sie war mit Alexander Mronz zusam- eine besondere Vorliebe, Agassis Zunei- etwas. Michaels Vater ist ja nicht deshalb men, laut Vater Graf ein „Schwächling“. Es gung zu seltenen Nasen. ehrlich betrübt, weil der Sohnemann nun folgte der liebe Bartels. Peter Graf: „Den Dominant jedenfalls war dann auch wieder Autorennen gewinnen muss. Nein, bezahle ich doch, damit es nicht auch noch Brooke Shields, Agassis Ehefrau für fast er sorgt sich um das vom Weg abgekom- heißt, Steffi sei lesbisch.“ zwei Jahre. Nun soll es Graf sein. „Andre“, mene Mädchen. „Wenn Steffi sich noch Tatsächlich nahmen Reporter die Bezie- so Becker, „steht schon lange auf Steffi.“ mal bei uns meldet, dann sage ich ihr, dass hung zwischen Graf und Bartels ungefähr Die Romanze, so viel ist sicher, begann der Agassi nun wirklich nicht zu ihr passt“, so ernst wie jene zwischen Claudia Schif- im Juni in Paris. Dort spielten beide das meint der verhinderte Schwiegervater. fer und David Copperfield – oder auch die schönste Turnier ihres Lebens: Graf, weil Jedoch: Steffi ruft einfach nicht an. zwischen Agassi und Brooke Shields. sie ihr letztes Comeback geschafft hatte Klaus Brinkbäumer

der spiegel 38/1999 311 Mannschaft, sondern nur auf den als sakrosankt geltenden Trainer gezielt – „schließlich sind wir nicht im Vatikan“. Wie sich die Kräfteverhältnisse binnen weniger Tage verschoben haben, wird am Trainingsgelände im Schatten des Fritz-Walter-Sta- dions ebenso anschaulich wie in der Tagespresse. Die „Bild“-Zei- tung verkündete Rehhagels Fall Anfang letzter Woche mit Donner- hall: „Rumms! Sforza zwingt Otto in die Knie.“ Der verlorene Machtkampf spie- gelt die wachsenden Autoritätspro- bleme der Übungsleiter im Unter- haltungsbetrieb Profifußball wider. Rehhagels erzwungene Volten in Sachen Sforza sind das bislang lau- teste Beispiel für die Ohnmacht der Vereine im Verhältnis zu den besser verdienenden Kickstars – die be- stimmen den Werbewert der um Marktanteile ringenden Fußball-

GES firmen inzwischen fast ganz allein Libero Sforza (beim 3 : 0 gegen den FC Kilmarnock): „Er weiß immer, was als Nächstes passiert“ und bilden gleichzeitig einen Groß- teil des Vereinskapitals. Der Verlust eines Helden ohne ange- FUSSBALL messenen Gegenwert schmälert das Be- triebsergebnis, bremst das Fanartikelge- schäft und gefährdet den Abschluss von Nachhilfe im Stadtcafé Sponsoren- oder Fernsehverträgen. Das macht die Stars gleichsam unkündbar und Die Niederlage des Kaiserslauterer Trainers Otto Rehhagel schützt sie vor spürbaren Sanktionen. So kann bei Bayern München der ewige im Machtkampf mit Ciriaco Sforza signalisiert Quälgeist Mario Basler nahezu ungezügelt überdeutlich: Die Clubs sind ihren Spielern ausgeliefert. seine Vertragsverhandlungen in der Öf- fentlichkeit führen, Lothar Matthäus den em Mann, den sie vor ein paar Mo- chelnden Bundesligaclub hören angeregt Zeitpunkt seiner Ausreise in die USA selbst naten noch wahlweise „Kaiser von zu – die Runde ist ersichtlich anderer Mei- bestimmen und mitten in die laufende DLautern“ oder „König der Pfalz“ nung als ihr Vorgesetzter Rehhagel, der Spielzeit legen. Und in Dortmund darf der nannten, ist augenscheinlich langweilig, noch vor zweieinhalb Wochen „die Ge- auf Auswärtstour oft als „Heulsuse“ be- weil es nichts zu regieren und niemanden meinschaft dermaßen verletzt“ sah, dass er spöttelte Andreas Möller stets auf die Für- zu befehligen gibt. Die einstige Gefolg- glaubte, den Unruhestifter ausschließen zu sprache des besorgten Clubchefs vertrau- schaft hat sich auf dem Kaiserslauterer Bet- müssen. Dabei hatte Sforza nicht auf die en, wenn ihn sein Trainer Michael Skibbe zenberg um einen neuen Ge- mal wieder nicht aufgestellt hat. bieter versammelt – einen, den Als der Schweizer Nationalspieler Sforza, sie in der Pfalz neulich noch 29, vor drei Wochen mit seinem Interview in als Plagegeist enttarnt hatten der „Welt am Sonntag“ die Pfälzer Aufge- und zur unerwünschten Per- regtheiten auslöste, wusste er schon, dass er son erklärt wissen wollten. das Kaiserslauterer Herrschaftssystem aus Trainer Otto Rehhagel, der den Angeln heben würde. „Die Zeit von entmachtete König, ist nun Befehlen und Gehorsam ist vorbei“, streu- vorwiegend damit beschäftigt, te er da in seinen Trainerverriss ahnungsvoll während der Trainingsstunde ein. „Der Ciri“, sagt sein Berater Martin des 1. FC Kaiserslautern mit Wiesner, „ist ein Stratege. Er weiß immer, den Stollen seines Fußball- was als Nächstes passiert.“ schuhs unablässig Löcher in Es passierte jedenfalls nicht, was Rehha- den Rasen zu treten. Dann gel zunächst vorschwebte: die „fristlose bückt er sich, um die entstan- Kündigung“ des Spielers. Das ging schon denen Flurschäden mit der deshalb nicht, weil für vertragslose Profis Hand zu reparieren. seit dem so genannten Bosman-Urteil des Das wirkt etwas fahrig, Europäischen Gerichtshofs beim Vereins- während ein paar Schritte wei- wechsel keine Ablöse verlangt werden kann. ter der resozialisierte Stören- Den 61-jährigen Trainer-Nestor, der so fried Ciriaco Sforza die gern behauptet, ihm könne „keiner mehr

Kommandos gibt. Die Mann- KUNZ was vormachen“, haben ökonomische schaftskameraden vom schwä- Trainer Rehhagel, Profi Sforza: Löcher im Rasen Gründe vom Sockel gestoßen. Dass sich

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Werbeseite Sport der Provinzclub mit den hohen An- vorzeitig zu verlängern, drohte der Coach sprüchen kein totes Kapital erlauben kann, mit einem Anruf bei Teamchef Erich Rib- musste sich Rehhagel in zähen Gesprächen beck – mit dem Ziel, das geplante Länder- von der Clubführung beibiegen lassen. spieldebüt Ballacks zu verhindern: „Der Welchen Zwängen ein Fußballclub der nimmt dich raus, du Blinder.“ Ballack spiel- neuen Zeit unterliegt, erfuhr der trotzige te trotzdem im Nationalteam und wechsel- Trainer am Montag vergangener Woche, ei- te schließlich zu Bayer Leverkusen. nen Tag nach der 0:5-Niederlage bei Werder Was der junge Mann vergebens probier- Bremen, im Kaiserslauterer „Café am te, versucht jetzt anscheinend Kollege Ma- Markt“. Clubpräsident Jürgen Friedrich und rio Basler bei Bayern München: Er hält es Aufsichtsratschef Robert Wieschemann – als für angemessen, wenn ihm sein Verein für Konkursverwalter beim ortsansässigen Näh- die Unterschrift unter einen neuen Ar- maschinenproduzenten Pfaff ein Mann mit beitskontrakt ein Handgeld zahlt. Derlei kühlem Blick auf die Marktwirtschaft – überspannte Forderungen sind für die Ver- drängten Rehhagel hier zur Umkehr. eine aber oft noch eher annehmbar als der „Ich hab das etwas unterschätzt“, räum- ablösefreie Wegzug eines Angestellten. te Deutschlands oberster Übungsleiter ein. Das erklärt wohl auch die Eile in Dort- Das selbst ernannte „Kind der Bundesliga“ mund, wo sich Borussias Clubführung um- denkt mitunter noch in den Kategorien der gehend zum Gespräch mit dem Spielerbe- Spielklassen-Gründerzeit. rater Klaus Gerster und dessen Klienten Dass Sforza durch seinen Berater schon Möller bereit fand, nachdem der sich über im März beim FC Bayern angeboten wur- sein Dasein als Teilzeitkraft beschwert hat- de, lenkte anfangs selbst den ausgebufften te. Seither fühlt sich Möller wieder „mit Clubchef Friedrich auf die falsche Fährte: Leib und Seele“ als Dortmunder und Sein Verdacht, der auch schon in München scheint geneigt, seinen am Saisonende aus- laufenden Vertrag zu verlängern. Das ver- setzt den Club in die Lage, ihn bei Bedarf gegen ein Entgelt abzugeben. Wer sich als Trainer gegen solche Lö- sungen sperrt, riskiert den Job. Beim VfB Stuttgart etwa wollte Winfried Schäfer sei- nem Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfel- der eröffnen, er plane künftig ohne wider- spenstige Stars wie Krassimir Balakov, der schon mal grußlos die Mannschaftssitzun- gen verließ. Am Ende des Gesprächs hatte der Präsident Schäfer erklärt, er plane künftig ohne ihn als Trainer.

L. BAADER Einen Rauswurf musste Meistermacher Ehepaar Rehhagel Rehhagel („Ich habe der Pfalz das große Weinkrampf im Rathaus Glück gebracht“) jedoch nicht gleich be- fürchten. „Der Trainer bleibt“, hatte des- und Mailand vorzeitig abtrünnig geworde- sen Mentorin schon im Mai klargestellt. ne Schweizer Freigeist habe nur seine so- Und die muss es wissen. Trainergattin fortige Vertragsauflösung herbeireden wol- Beate, einst vom geflüchteten Manager len, erhärtete sich nicht. Ein Funktionär Hans-Peter Briegel als Nachfolgerin vor- von Bayern München etwa hält Sforza ge- geschlagen („die mischt sowieso überall genwärtig in der Bundesliga „aus Image- mit“), hatte mit ihrer Dauerpräsenz be- gründen“ für nicht vermittelbar. reits in München den Argwohn der Club- So reichten ein standhafter Fernseh- führung geweckt. „Wir haben ja ein Trainer- aufritt des Spielers („Ich stehe zu dem Ehepaar verpflichtet“, wunderte sich Bay- Zeug“) und die Bremer Niederlage in Sfor- ern-Chef Franz Beckenbauer. zas Abwesenheit aus, um den Rebellen Die Teilnahme der blonden Dame an schon beim 3:0 im Uefa-Cup gegen den FC Vorstands- und Spielersitzungen hatte auch Kilmarnock am vergangenen Donnerstag Sforza intern moniert. Doch Frau Rehha- wieder aufs Spielfeld zu heben. gel zur Kapitulation zu zwingen fällt – an- Solche Niederschläge war Rehhagel nicht ders als beim seltsam wankelmütigen Gat- gewohnt. In seiner großen Zeit bei Werder ten – schwer. Das können Bremer Augen- Bremen schon gar nicht: Als da beispiels- zeugen bestätigen, die wissen, wie die weise der Ersatztorwart Dieter Burdenski damalige First Lady von der Weser ihren 1988 bei der Meisterfeier schimpfte, nicht Willen durchzusetzen pflegte. zum Einsatz gekommen zu sein, ordnete Als sie bei der Werder-Meisterfeier we- Rehhagel den Ausschluss des Nörglers von gen des beengten Platzangebots nicht mit der Abschlussfahrt nach Teneriffa an. auf den Rathausbalkon durfte, um die Hul- Eine Ahnung von den neuen Machtver- digungen der Fans entgegenzunehmen, er- hältnissen erhielt Rehhagel, als er sich in eilte die Spitzenreiterin unter den Trainer- Kaiserslautern am Fall Michael Ballack ver- frauen auf der Stelle ein Weinkrampf. schätzte. Dem Mittelfeldspieler, der sich ge- Prompt wurde ihr, aus Mitleid, der Zutritt weigert hatte, in der Pfalz seinen Vertrag gewährt. Jörg Kramer, Gerhard Pfeil

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Redaktion: Karen Andresen, Dietmar Hipp, BASEL Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, Deutschland, Österreich, Schweiz: Bernd Kühnl, Joachim Mohr, Hans-Ulrich Stoldt, Klaus Fax 2830475 Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 Wiegrefe. Autoren, Reporter: Dr. Thomas Darnstädt, Matthias BELGRAD Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. E-Mail: [email protected] Matussek, Hans-Joachim Noack, Hartmut Palmer, Dr. Dieter Wild; (0038111) 669987, Fax 3670356 Berliner Büro Leitung: Jürgen Leinemann, Hajo Schumacher BRÜSSEL Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, übriges Ausland: (stellv.). Redaktion: Petra Bornhöft, Martina Hildebrandt, Jürgen Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. 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Broder, Gisela Friedrichsen, Gerhard SA-Johannesburg 2121, Tel. (002711) 8806429, Fax 8806484 E-Mail: [email protected] Mauz, Norbert F. Pötzl, Bruno Schrep, Michael Sontheimer; KAIRO Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Berliner Büro Leitung: Heiner Schimmöller, Georg Mascolo (stellv.). Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 Abonnenten-Service Redaktion: Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Carolin Emcke, LONDON Hans Hoyng, 6 Henrietta Street, London WC2E 8PS, SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Susanne Koelbl, Irina Repke, Peter Wensierski Tel. (0044207) 3798550, Fax 3798599 Reise/Umzug/Ersatzheft WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Gabor Steingart. Redak- MOSKAU Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij Telefon: (040) 411488 tion: Dr. Hermann Bott, Konstantin von Hammerstein, Dietmar Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, Auskunft zum Abonnement Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexander Jung, Fax 9400506 Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter Bölke; Berliner NEW DELHI Padma Rao, 91, Golf Links (I & II Floor), New Delhi Telefon: (040) 3007-2700 110003, Tel. (009111) 4652118, Fax 4652739 Fax: (040) 3007-2898 Büro Leitung: Jan Fleischhauer (stellv.). Redaktion: Markus Dettmer, Oliver Gehrs, Elisabeth Niejahr, Christian Reiermann, NEW YORK Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, E-Mail: [email protected] Ulrich Schäfer 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. (001212) Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, AUSLAND Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Dr. Romain Leick, Fritjof 2217583, Fax 3026258 Postfach, 6002 Luzern, Meyer, Erich Wiedemann (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, PARIS Lutz Krusche, Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 Adel S. Elias, Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Hans Paris, Tel. 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Abonnementspreise (003906) 6797522, Fax 6797768 Inland: Zwölf Monate DM 260,– Philip Bethge, Marco Evers, Dr. Renate Nimtz-Köster, Rainer Paul, Alexandra Rigos, Matthias Schulz, Dr. Jürgen Scriba, Christian SAN FRANCISCO Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, Studenten Inland: Zwölf Monate DM 182,– Wüst. Autoren, Reporter: Henry Glass, Dr. Hans Halter,Werner Ha- San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 Schweiz: Zwölf Monate sfr 260,– renberg SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. Europa: Zwölf Monate DM 369,20 KULTUR UND GESELLSCHAFT Leitung: Wolfgang Höbel, (0065) 4677120, Fax 4675012 Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,– Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer, Anke Dürr, TOKIO Dr.Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Lothar Gorris, Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 werden anteilig berechnet. Dr.Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim WARSCHAU Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Tel. (004822) 8251045, Fax 8258474 Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche Kronsbein, Reinhard Mohr, Anuschka Roshani, Dr. Johannes Saltzwedel, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Umbach, Claudia WASHINGTON Dr. Stefan Simons, Michaela Schießl, 1202 National ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an Voigt, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff, Martin Wolf. Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax den SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach Autoren, Reporter: Ariane Barth, Uwe Buse, Urs Jenny, Dr. Jürgen 3473194 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden. Neffe, Cordt Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Matthias Geyer, Jörg 5331732, Fax 5331732-10 Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg- ✂ SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Christian Habbe, Heinz Höfl, Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, Abonnementsbestellung Hans Michael Kloth, Dr.Walter Knips, Reinhard Krumm, Gudrun bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Patricia Pott Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, SONDERTHEMEN GESTALTUNG Manfred Schniedenharn Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Hoff- Oder per Fax: (040) 3007-2898. CHEF VOM DIENST Horst Beckmann, Thomas Schäfer, Karl-Heinz mann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Körner (stellv.), Holger Wolters (stellv.) Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro SCHLUSSREDAKTION Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig- Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero Richter- Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, monatliche Programm-Magazin. Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp, Hefte bekomme ich zurück. gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Hoff- Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. mann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Dilia Regnier, Monika Rick, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja E-Mail: [email protected] Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Name, Vorname des neuen Abonnenten GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Michael Walter, Stefan Wolff Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Karl-Henning Windelbandt Straße, Hausnummer Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödi- ger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank PLZ, Ort Schumann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel TITELBILD Thomas Bonnie; Stefan Kiefer, Ursula Morschhäuser, Ich möchte wie folgt bezahlen: Oliver Peschke, Monika Zucht KOORDINATION Katrin Klocke LESER-SERVICE Catherine Stockinger REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND ^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and infor- BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, mation GmbH & Co.) Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, ^ Ermächtigung zum Bankeinzug Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms von 1/4jährlich DM 65,– Kultur und Gesellschaft Tel. (030)203874-00, Fax 203874-12 BONN Fritz-Erler-Str. 11, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax NACHRICHTENDIENSTE AP,dpa, Los Angeles Times / Washington 26703-20 Post, New York Times, Reuters, sid, Time DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Bankleitzahl Konto-Nr. Dresden, Tel. 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M., Tel.(069) 9712680, Fax 97126820 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 HANNOVER Hans-Jörg Vehlewald, Georgstraße 50, 30159 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Widerrufsrecht Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 Diesen Auftrag kann ich innerhalb einer Woche KARLSRUHE Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck MÜNCHEN Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, MÄRKTE UND ERLÖSE Werner E. Klatten ab Bestellung schriftlich beim SPIEGEL-Verlag, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 4180040, Fax 41800425 GESCHÄFTSFÜHRUNG Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Hamburg, widerrufen. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. 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318 der spiegel 38/1999 Chronik 11. bis 17. September SPIEGEL TV

SAMSTAG, 11. 9. DIENSTAG, 14. 9. MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 SPIONAGE In London wird die 87-jährige AUSRANGIERT Auf Drängen von Verkehrs- Melita Norwood als dienstälteste Agentin minister Franz Müntefering (SPD) wird SPIEGEL TV REPORTAGE des sowjetischen Geheimdienstes ent- der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bunkerwelten – die Trutzbauten tarnt, für den sie seit Ende der dreißiger Bahn, Johannes Ludewig, aufs Abstell- des Dritten Reiches heute Jahre unter dem Decknamen „Hola“ gleis geschoben; Nachfolger wird Hart- Rüstungsprojekte ausspioniert hatte. mut Mehdorn, Chef der Heidelberger Druckmaschinen AG. SONNTAG, 12. 9. PREMIERE Der einstige Frauensender TM3 WAHLSCHLAPPE Die SPD stürzt bei den gibt mit dem Champions-League-Spiel Landtagswahlen in Thüringen ebenso ab Bayer Leverkusen gegen Lazio Rom (1:1) wie bei den Kommunalwahlen in ihrem seinen Einstand als Fußballkanal. Stammland Nordrhein-Westfalen. Während die Sozialdemokraten in NRW MITTWOCH, 15. 9. rote Hochburgen wie Dortmund, Essen ERSCHOSSEN In Wien wird der Terrorist und Köln verlieren, gewinnt die CDU in SPIEGEL TV Erfurt unter Ministerpräsident Bernhard der ehemaligen „Rote Armee Fraktion“ Flakbunker in Wien Vogel mit 51 Prozent der Stimmen die (RAF), Horst Ludwig Meyer, von der Po- absolute Mehrheit im Landtag; ihr bishe- lizei gestellt und bei einem Schusswech- Auf Befehl Hitlers sollten alle deutschen riger Koalitionspartner SPD fällt mit 18,5 sel getötet; begleitet wurde Meyer von Städte mit Luftschutzanlagen ausgestattet Prozent noch hinter die PDS (21,4 Pro- der mutmaßlichen RAF-Aktivistin An- werden. Nach dem Krieg ließ man die zent) auf Platz drei zurück. drea Martina Klump. meisten Anlagen einfach stehen, ein Ab- riss war meistens zu teuer. Viele Bunker UNRUHEN Die indonesische Regierung SPARPROGRAMM In Berlin beginnt mit der ersten Lesung des Haushalts 2000 der dienen jetzt als Möbelhaus, Restaurant, beugt sich dem internationalen Druck Büro oder Aquarium. und akzeptiert die Stationierung einer Streit zwischen Regierung und Opposi- Uno-Friedenstruppe in Osttimor. tion um den Etat in Höhe von 478 Milli- arden Mark. DONNERSTAG PREISVERLEIHUNG Bei den Filmfestspielen 22.05 – 23.00 UHR VOX in Cannes erhält der chinesische Regis- DONNERSTAG, 16. 9. SPIEGEL TV EXTRA seur Zhang Yimou für sein Werk „Nicht einer weniger“, das die Probleme einer BEGNADIGUNG Mit einer Zustimmung von „Die Weltmeisterschaft der Hundefriseure“ Dorfschule in der Volksrepublik behan- über 98 Prozent wird in Algerien das Re- Waschen, schneiden, färben: Einmal im delt, den Goldenen Löwen. ferendum über eine Teilamnestie für mili- Jahr wird das amerikanische Hershey tante Islamisten zu einem Triumph für zum Mekka der Hundefriseure. MONTAG, 13. 9. Präsident Abdelaziz Bouteflika. FREITAG RÜCKTRITT Der bayerische Justizminister PS-SHOW In Frankfurt beginnt mit der Alfred Sauter (CSU) gibt sein Amt auf 58. Internationalen Automobilausstellung 20.15 – 22.00 UHR VOX und kommt so einer Abstimmung im (IAA) die größte Autoschau der Welt. SPIEGEL TV THEMENABEND Landtag über seine von Ministerpräsi- Vietnam – die Geschichte dent Edmund Stoiber verfügte Entlas- FREITAG, 17. 9. sung zuvor. eines nicht zu gewinnenden Krieges EINGESCHWOREN Vor dem Europäischen Kamerateams der US-Armee dokumen- TERROR Neuer Bombenanschlag in Mos- Gerichtshof in Luxemburg wird die neue tierten an der Front und im Hinterland kau: Bei der Explosion eines Wohnblocks EU-Kommission unter Präsident Romano Einsätze der Soldaten, die Aktivitäten des werden 118 Menschen getötet. Prodi vereidigt. Feindes und das Leiden der zivilen Be- völkerung.

SAMSTAG 22.15 – 0.20 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL „Das Jahrhundert der Kriege“ Dokumentation über die Entwicklung der Luftkriegsführung; außerdem John Fords Hommage an US-Truppen im Koreakrieg.

SONNTAG 22.10 – 23.00 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Alles nur billige Anmache? Der Strom- krieg in Deutschlands Kommunen; Sehn- sucht nach Kasachstan – junge Russland- Hugh Kawharu, Vertreter der Maori, begrüßt Deutsche in Berlin; Stars für alle Fälle – am Samstag auf dem Wirtschaftsgipfel in Neu- wie Talkshow-Gäste die TV-Sender hin- seeland US-Präsident Bill Clinton mit dem tradi- ters Licht führen. tionellen Berühren der Nasen, dem Hongi. AFP / DPA

der spiegel 38/1999 319 Register

Gestorben seiner Zeit anstehenden Konflikten um die Frankfurter Startbahn West, die Nachrüs- Ruth Roman, 74. Ihre große Zeit als Schau- tung, das Anti-Rassismus-Programm des spielerin hatte die Tochter litauischer Ein- Ökumenischen Rates der Kirchen und um wanderer, die im Kindesalter in Varietés als den Beitritt von Vikaren der EKHN zur DKP nicht heraus, sondern versuchte im- mer wieder mit seiner sachlich, nüchter- nen Art, eindeutig Stellung zu beziehen, zu vermitteln und zu versöhnen. Gleich- zeitig zeigte er die Grenzen kirchlichen En- gagements auf. Helmut Hild starb am 11. September in Darmstadt.

Charles Crichton, 89. Wegen eines Fi- sches kehrte der Hobby-Angler noch ein- mal in seinen eigentlichen Beruf zurück: 1988, im Alter von 78 Jahren, inszenierte der englische Regisseur die Gaunerkomö- die „Ein Fisch namens Wanda“. Der ma- kabre Geniestreich – eine alte Dame, drei Yorkshire-Terrier und unzählige Fische müssen ihr Leben

JAUCH UND SCHEIKOWSKI JAUCH lassen – wurde der größte Erfolg seiner Messerwerferin auftrat und demzufolge am Karriere. Seit den Anfang ihrer Karriere bevorzugt in Western vierziger Jahren hat- eingesetzt wurde, Ende der vierziger Jahre. te der Oxford-Stu- Wegen ihrer warmen, natürlichen und ero- dent vor allem für tischen Ausstrahlung ausgewählt, spielte die die Ealing Studios dunkelhaarige Schönheit 1949 an der Seite gearbeitet, die nicht von Kirk Douglas in dem Stanley-Kramer- zuletzt seinetwegen Film „Champion“, dem neun Hauptrollen berühmt wurden für

(mit Randolph Scott in „Colt.45,“, mit / SYGMA DAVID J. britischen Humor. James Stewart in „The Far Country“ und Crichton drehte et- mit Gary Cooper in „Dallas“) in weniger als wa „Das Glück kam über Nacht“ mit Alec zwei Jahren folgten. Mit weiteren Filmen an Guinness, später einige Folgen der TV-Se- der Seite so berühmter Männer wie Curd rie „Mit Schirm, Charme und Melone“. Jürgens und Richard Burton („Bitter war Und während der Dreharbeiten zu „Ein der Sieg“) konnte sie sich als Hollywood- Fisch namens Wanda“ trug Crichton ein Star etablieren. Ruth Roman, die 1956 den T-Shirt mit der Aufschrift „Alter und Skru- Untergang des Luxusliners „Andrea Do- pellosigkeit werden immer über Jugend ria“ überlebte, starb am 9. September im und Talent siegen“. Charles Crichton starb kalifornischen Laguna Beach. vergangenen Dienstag in London.

Helmut Hild, 78. Eigentlich wollte er Sport- Wolfgang Neuschild, 53. Der Vorsitzende journalist werden, studierte dann aber, Richter der Pressekammer des Hamburger nach seinen Erfah- Landgerichts gehörte zu den bundesweit rungen als Soldat im bekanntesten und qualifiziertesten Presse- Zweiten Weltkrieg, rechtsspezialisten. Er war ein Mann deutli- an der Universität cher Worte, wenn er durch eine Ausnutzung Marburg Theologie. des Presserechts kommerzielle Interessen Eine glückliche Fü- gefördert sah. So war gung für die Kirche, es für ihn nicht ein- denn der engagierte sichtig, wenn Promi- Pfarrer, der von 1969 nente wie der Talk- bis 1985 als evangeli- master Hans Meiser

scher Kirchenpräsi- D. EISERMANN / ARGUS bei unliebsamen Fo- dent in Hessen und tos die Gerichte an- Nassau (EKHN) amtierte und von 1973 bis riefen, nur um an- 1985 stellvertretender Vorsitzender des Ra- schließend ihre Sto- tes der Evangelischen Kirche in Deutsch- ry in den Medien zu land war, zählte bald zu jenen Kirchen- vermarkten. Wegen männern, nach deren Meinung die Kirche dieser Ansichten hielt auch eine gesellschaftliche Verantwortung der Hamburger Pro- zu übernehmen hatte; er wurde zu einer minentenanwalt Matthias Prinz ihn für be- unüberhörbaren Stimme des politischen fangen. Wolfgang Neuschild starb vergan- Protestantismus. Hild hielt sich aus den zu genen Dienstag in Hamburg an Krebs.

320 der spiegel 38/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Sergio García, 19, golfender Wunderkna- Kreißsaal gefahren“. Vater Victor García Jürgen Rüttgers, 48, CDU-Landesvorsit- be aus Spanien, der am Wochenende beim arbeitete damals wie heute als Golflehrer zender in Nordrhein-Westfalen, kostete Ryder Cup die Ehre des europäischen im Club de Campo del Mediterráneo bei den Triumph seiner Partei in der NRW- Teams gegen die USA verteidigen soll, hat Valencia, Mutter Consuelo führt den Pro Kommunalwahl voll aus. Kaum hatte sich für sein „natürliches Talent“ eine verblüf- Shop der Anlage. „Es ist nicht so, dass Ser- der Christdemokrat im Düsseldorfer Stu- fende Erklärung. Bei seiner Mutter setz- gio Golf mit der Muttermilch eingesogen dio des Westdeutschen Rundfunks den ten die Geburtswehen auf dem Golfplatz hat“, sagt Victor García, „er hat schon vor Kopfhörer für ein Interview mit dem se- ein, „wir wurden von dort direkt in den der Geburt jeden Tag Golf mitbekommen.“ riösen WDR 5 übergestülpt, ertönte der Liveton des noch aufgeschalteten WDR 4 mit der Melodie „Tanze Samba mit mir, tanze Samba die ganze Nacht“. Rüttgers lachte in Richtung Regie, riss die Arme hoch und rief ins Mikrofon: „He Jungs, das ist unser Song.“ Die Redakteurin des WDR 5 in Köln, die das Interview starten wollte, war irritiert: „Was ist los, Herr Rüttgers, was machen Sie da in Düsseldorf?“ Der DPA García

Den ersten Schläger nahm Sergio mit drei Jahren in die Hand, als Amateurgolfer ge- wann er 81 Prozent seiner Turniere; die Qualifikation für die europäische Ryder- Cup-Mannschaft gelang „El Niño“ (das

Kind) nach nur sechs Monaten als Profes- OSSENBRINK F. sional. García steht für einen Generations- Rüttgers wechsel, der die Jugend für den ehemals elitären Sport interessieren soll. Die Golf- CDU-Mann war in Hochstimmung: „Was szene jubelt bereits über die zukünftigen glauben Sie, was hier los ist. Ganz Düssel- Duelle des dunkelhäutigen 23-jährigen dorf tanzt den Samba.“ Amerikaners Tiger Woods mit dem blassen Europäer García. In spätestens zehn Jah- Douglas Sosnik, 43, aus dem Beraterstab ren, prophezeit die „New York Times“, sei- des Weißen Hauses, gab auf dem Asiatisch- en die Jungstars „die beiden populärsten Pazifischen Wirtschaftsforum in Neusee-

ALEX / BIG PICTURES Sportler des Planeten“. land der Reisegesellschaft Clintons das Startzeichen zu blödsinni- gem Tun. Sosnik sprang aus Madonna, 41, ame- 43 Meter Höhe von jener rikanische Sängerin, Brücke über den Fluss Ka- lotete wieder ein- warau, von der das kom- mal die Grenzen des merzielle Bungee-Springen guten Geschmacks seinen Anfang nahm. Das aus. Zur Frühling/ Gummiseil hielt. Sosnik Sommer-2000-Moden- konnte unverletzt, wenige schau von Donatella Handbreit über dem Wasser Versace am vorver- pendelnd, von Helfern ge- gangenen Sonntag in borgen werden. Nur Minu-

New York erschien AP ten später fand sich der die sehnig wirkende Madonna mit Tochter Lourdes oberste Wirtschaftsberater Künstlerin, begleitet Clintons, Gene Sperling, von Tochter Lourdes, 2, in einem schwarzen, durchsich- 40, auf dem Brückengelän- tigen Top samt blickfreundlichem BH und auf der Hüfte der, mit fahlem Gesicht, aufsitzenden Hosen, auf dem Kopf einen Cowboyhut mit schicksalsergeben, wie Au- Leopardenfell-Muster. Die Modefotografen hatten Mühe, genzeugen berichteten. Um- sich zu entscheiden, wen sie fotografieren sollten, die so ausgelassener war er Models auf dem Laufsteg oder Madonna. Gleichwohl nach dem Sprung. Es sei un- sprach in der vergangenen Woche eine Jury angesehener klar, juxte Sperling, ob die Modefachleute in dem Gesellschaftsmagazin „People“ Börsenkurse deshalb fielen, über den Geschmack der Popkünstlerin ein vernichten- weil er, der Topökonom, in des Urteil. Madonna erkletterte den ersten Rang unter die Tiefe stürzte oder weil den „10 schlechtest gekleideten“ Prominenten der USA. das Gummiseil ihn wieder Ihr „Stil wirkt konfus“, urteilte die Jury, „die Dinge, die in die Höhe beförderte. Madonna sie zusammenstellt, passen nicht zueinander.“ Nach Sperlings Beispiel gab es kein Halten mehr. „Dut-

322 der spiegel 38/1999 nen ihm nicht ganz korrekt. Als der Händ- ler den Politiker bat, das Wägelchen für eine Probefahrt zu starten, gab Eichel kenntnisreich zu bedenken: „Das klappt bei den Dingern meist nicht auf Anhieb.“ Tatsächlich sprang der Fiat nicht an. Der Händler war bestürzt, das habe er noch nie gehabt. „Ach Quatsch“, korrigierte Ei- chel den Mann, „so ging das in meiner ganzen Studienzeit.“ Wenn das Fahrzeug nur zwei Stunden stand, sei es ohne frem- de Hilfe nicht mehr gestartet. Deshalb habe er sich immer morgens um sieben Uhr von seinem Vermieter anschleppen lassen. Ei- chel: „So konnte ich noch einmal eine Stunde ins Bett gehen, musste dann aber losfahren.“ Selbstverständlich half der Fi- nanzminister beim Anschieben des nicht ganz originalen Cinquecento.

Gregor Gysi, 51, Chef der PDS-Bundes- tagsfraktion und nicht gerade uneitel,

REUTERS konnte im Unterschied zu anderen Polit- Sperling Größen einer Versuchung widerstehen: Er lehnte es ab, für das Magazin „Life & zende junger Helfer“ aus der Clinton-En- Style“ zu posieren. Das Magazin wollte tourage, so die „International Herald Tri- den Frontmann der PDS der Leserschaft bune“, eiferten den älteren Herren nach. auf mehreren Seiten präsentieren – und Als Letzter sprang der TV-Reporter Bill bat ihn zu einem mehrstündigen Fototer- Plante. Der sprach schnell noch im nach- min. Dabei versuchte „Life & Style“, Gysi richtenüblichen Tonfall in die Videoka- nicht ungeschickt zu ködern, und zeigte mera, mit der jeder Sprung dokumentiert sich an der Weltsicht des Politikers inter- worden war, die der Situation angemesse- essiert. Die Anregung für die Idee, ließ man nen Sätze: „This is Bill Plante of CBS den Vorzeige-Linken wissen, sei entstan- News, er beweist Ihnen, dass Sie nie zu alt den, nachdem man Gysis Thesen gelesen sind, um etwas wirklich Blödes zu tun.“ habe, die er als Entgegnung zum Schröder- Auch Plante hat überlebt. Blair-Papier verfasst hatte.

Hans Eichel, 57, Sparminister und Old- Prinz Philipp, 78, Ehemann der britischen timer-Fan, fühlte sich am vergangenen Königin, soll seines Postens als Kanzler der Montag an seine Studentenzeit erinnert. Universität Cambridge verlustig gehen. Für einen TV-Magazinbeitrag „Prominen- Dem Präsidenten der Cambridge Students te und ihr erstes Auto“ war Eichel im Eh- Union sind die Sprüche des Prinzgemahls renhof des Bundesfinanzministeriums ein längst zu politisch unkorrekt, um ihn län- Modell seines ersten eigenen Wagens vor- ger auf dem Posten zu halten, den er auf geführt worden, ein Fiat 500 (Cinquecen- Grund königlicher Huld 1977 erhielt. Be- to). Der penible und akribische Minister sonders missfielen den Studenten die entdeckte gleich mehrere Ausstattungsfeh- blaublütigen Redensarten über „schlitz- ler an dem Fahrzeug, das der Inhaber eines äugige“ Chinesen und inkompetente „in- Autohauses präsentierte. Das Original habe dische Elektriker“. weder eine Dachantenne besessen noch Schonbezüge, monierte Eichel. Auch die Brigitte Zypries, 45, Staatssekretärin im Felgengröße und die Außenspiegel schie- Bundesinnenministerium, hat den Behör- denleitern ihres Hauses eine prakti- sche Gedankenstütze verpasst.Anläss- lich einer Tagung zum Jahr-2000- Problem überreichte die SPD-Politi- kerin ihren 23 Amtsvorstehern je eine Armbanduhr, die wie ein Countdown bis Silvester rückwärts läuft, um die Chefs an die Gefahren eines drohen- den Computercrashs zu erinnern. Ein- ziges Problem: Es ist fraglich, ob die Billiguhren, die die Staatssekretärin aus dem Sortiment eines Buletten-

F. OSSENBRINK F. Braters erwarb, bis zum Jahreswech- Eichel (M.), Helfer sel halten.

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Aus dem SPIEGEL: „Die Hausarbeit ist Zitate trotz Feminismus überwiegend Sache der Frau geblieben – mindestens dort, wo das Die „Süddeutsche Zeitung“ über die Geld für eine Haushälterin nicht reicht.“ SPD-Fraktionssitzung am vergangenen Montag und die Lektüregewohnheiten des Bundeskanzlers:

Wie es hieß, meldeten sich rund 45 Abge- ordnete im Verlauf der Fraktionssitzung zu Wort, so viel wie sonst nie … Nach Ein- Aus der „Bild“-Zeitung schätzung von Sitzungsteilnehmern drück- te sich in den verschiedenen Äußerungen die große Sorge um die Zukunft der SPD Aus „stereoplay“ über die CD-Aufnahme aus. Sie seien nicht darauf gerichtet gewe- des Klavierquintetts von Antonín Dvo≤ák sen, den Kanzler zu demontieren. Lediglich mit dem Takács Quartett und Andreas der Abgeordnete Klaus Lennartz habe sehr Haefliger: „Was dabei herauskommt – mit heftig argumentiert. Schröder reagierte auf leicht ausgeflocktem, halligem, dem Strei- die Wortmeldungen nicht. Er hatte in ei- cherklang angeähneltem Klavierklang –, nem Eingangsstatement seinen Kurs ver- schafft nicht nur Atmosphäre im gepflegten teidigt. Geichwohl vermerkten Beobach- Heim, es erinnert immer wieder auch an ter, dass der SPD-Chef – anders als sonst – große Musik und wirft die Frage auf, war- sehr nachdenklich zugehört und nicht, wie um es selbst keine ist.“ sonst üblich, „den SPIEGEL gelesen“ habe.

Die „Frankfurter Rundschau“ zu der Äußerung des DaimlerChrysler-Chefs Jürgen Schrempp, „Mit Herrn Piëch würde ich noch nicht einmal Aus den „Stuttgarter Nachrichten“ pinkeln gehen“, im SPIEGEL-Bericht „Konzerne – Jeder gegen jeden“ (Nr. 37/1999) und zu Schrempps Kritik Aus der „Welt“ unter der Überschrift am VW-Chef auf der IAA: „Schäuble und Merkel – Die Sieger hinter den Siegern“: „Die beiden zusammen ver- Irgendwie scheinen die Koordinaten ver- körpern den Generationswechsel in der schoben zu sein. Derjenige, der mit dem Union ebenso wie die deutsche Einheit, anderen ,,noch nicht einmal pinkeln ge- sprechen männliche und weibliche Wähler hen“ würde, wie der SPIEGEL eine un- an und sind auch ein Signal, dass behin- streitig gefallene Aussage zitiert, beklagt derte Menschen im Leben stehen können.“ sich darüber, dass dieser andere so mar- tialische Reden schwingt und „von Krieg“ in der Automobilindustrie redet. Das gehe doch wohl nicht an; zumal der Ordnungs- rufer sich grundsätzlich zur ,,größten Be- wunderung“ der Konkurrenz gegenüber bekennt. Nicht Krieg, sondern Wettbewerb sei der zutreffende Begriff für das, was sich in der Branche abspiele. Und diesen Wett- bewerb solle man gefälligst „fair und mit Stil führen“. Aus der „Rheinischen Post“ Der Publizist Manfred Rexin in seiner Dankesrede für die ihm verliehene Aus einem Kommentar in der „WAZ“ über Ehrendokorwürde durch die FU Berlin: den Streit um die Schröder-Darstellung in der TV-Sendung „Peep“: „Wer sich öf- Die SPIEGEL-Affäre von 1962 blieb im Be- fentlich im Brioni-Design präsentiert, soll- wusstsein, ein Minister stürzte, aber wer er- te in Fragen erotischer Hygiene nicht innert sich heute noch der so genannten überempfindlich sein.“ Schmeisser-Affäre in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, als das Hamburger Nach- richtenmagazin den Kanzler unkeuscher Aus der „Tageszeitung“: „Gleichzeitig hat Beziehungen zum französischen Geheim- sich gestern der SPD-Linke Gernot Erler dienst bezichtigte, als Scharen von Polizis- gegenüber der ,taz‘ dafür ausgesprochen, ten ausschwärmten, um noch vorhandene ,Meinungsaustausch in der Partei nicht SPIEGEL-Exemplare in fünfstelliger Zahl mehr öffentlich‘ stattfinden zu lassen. Er zu beschlagnahmen, und als Konrad Ade- plädiert weiterhin für die Einführung einer nauer freudig bilanzierte, wenigstens habe Vermögensabgabe für besonders Wohlha- die Aktion den SPIEGEL-Verlag viel Geld bende.“ gekostet.

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