Soziale Demokratie in und für Thüringen

Zeitzeugenberichte und Dokumente zur Wiedergründung der Thüringer SPD 1989/90

Soziale Demokratie in und für Thüringen 3

Soziale Demokratie in und für Thüringen Zeitzeugenberichte und Dokumente zur Wiedergründung der Thüringer SPD 1989/90

zusammengestellt und bearbeitet durch Michael Klostermann herausgegeben durch das Landesbüro Thüringen der Friedrich-Ebert-Stiftung 4 Soziale Demokratie in und für Thüringen

Impressum: Herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen Bearbeitung: Michael Klostermann Copyright 2009 by Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen Nonnengasse 11, 99084 Erfurt Satz und Umschlaggestaltung: Dirk Malewski Druck: Druck Repro und Verlag OHG, Erfurt ISBN: 978-3-86872-250-5 Soziale Demokratie in und für Thüringen 5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort (Dietmar Molthagen) 7

Die Wiedergründung des Thüringer Landesverbandes der SPD (Michael Klostermann) 11

Zeitzeugeninterviews über die Wiedergründung der Thüringer Sozialdemokratie 1989/90 mit:

Bernd Brösdorf 25 Hans Eichel 33 Armin Hoffarth 44 Frieder Lippmann 49 Helmut Rieth 56 Ingo Scheibe 66 Thomas Schmidt 75 Thilo Wetzel 80

Dokumente zum Gründungsparteitag der Thüringer SPD Protokoll der 1. Versammlung der SDP Thüringen am 15. Dezember 1989 in der „Harrasmühle“ bei Lausnitz 87 Sitzung des Organisationsausschusses für den Landesparteitag am 27. Januar 1990 in Gotha 91

Geschäftsordnung des Gründungsparteitages der Thüringer SPD 94

Tagesordnung des Gründungsparteitages der Thüringer SPD 95

Gästeliste des Gründungsparteitages der Thüringer SPD (alphabetisch) 96

Reden vom 27. Januar 1990 Grundsatzrede von Frank Meyer (Ortsverband Erfurt) auf dem Gründungsparteitag der Thüringer SPD am 27. Januar 1990 im Gothaer „Tivoli“ 101 „Frieden nach außen und nach innen“ – Grußwort von an den Gründungsparteitag der Thüringer SPD 107 6 Soziale Demokratie in und für Thüringen

Grußwort von Egon Bahr an den Gründungsparteitag der Thüringer SPD 111 „Die Form der deutschen Einheit“ – Ansprache von Willy Brandt vor dem Eisenacher Rathaus am 27. Januar 1990 113 Schlusswort beim Gründungsparteitag des Thüringer Landesvorsitzenden Wilfried Machalett 117

Statistik

Erster Landesvorstand der SPD Thüringen 121

Zweiter Landesvorstand der SPD-Thüringen 121

Partnerschaften zwischen Ost und West 122

Wahlergebnisse der SPD in Thüringen 1990 125

Volkskammerabgeordnete der Thüringer SPD 1990 126 Mitglieder des Thüringer Landtages (Erste Legislaturperiode 1990-1994) 126

Zeittafel 127

Bildverzeichnis 130 Soziale Demokratie in und für Thüringen VORWORT 7

Vorwort Dr. Dietmar Molthagen, Leiter des Landesbüros Thüringen der Friedrich-Ebert-Stiftung

Das Gedenken an die friedliche Revo- 1989, am 40. Jahrestag der DDR-Grün- lution in der DDR 1989 und die daraus dung, wurde im Brandenburgischen folgende deutsche Einheit 1990 nimmt Schwante die SDP gegründet, die Sozial- 20 Jahre später großen Raum ein. Es demokratische Partei in der DDR. Es war gibt eine Flut von Medienberichten in die erste Parteigründung im Zuge der zahlreichen Zeitungen, TV- und Radio- friedlichen Revolution und eine bewuss- sendungen, viele Diskussionen werden te Provokation der Ein-Parteienherrschaft geführt und Gedenkveranstaltungen or- der SED. Man hatte die Machtfrage ge- ganisiert. Hunderttausende Menschen stellt, wie es der Titel einer Ausstellung waren trotz strömenden Regens allein der Friedrich-Ebert-Stiftung über Grün- am 9. November 2009 am Branden- dung und Geschichte der SDP formuliert. burger Tor in Berlin. Die Ereignisse in Die Gründung der SDP bedeute- Deutschland und Mittelosteuropa, die te aber auch inhaltlich-programma- im Herbst 1989 zum Zusammenbruch tisch einen Bruch mit den Traditionen des sozialistischen Ostblocks und zum der SED-DDR: Als Ziel ihrer neuen Par- Ende des Kalten Kriegs führten, bewe- tei nannten die SDP-Gründerinnen und gen auch heute noch und wieder. Gründer „eine ökologisch und sozi- Fraglos ist die friedliche Revolution in al orientierte Demokratie“, eine „soziale der DDR das positivste Ereignis der Deut- Marktwirtschaft“ und eine „parlamen- schen Geschichte im 20. Jahrhundert. Es tarische Demokratie und Parteienplura- wurde dazu, weil die Oppositionsbewe- lismus“. Dieses klare Bekenntnis zur par- gung in der DDR eben nicht auf Berlin lamentarischen Demokratie und einer oder Leipzig beschränkt blieb, sondern sozialen Marktwirtschaft war in der Op- das ganze Land erfasste – auch Thürin- positionsbewegung des Herbstes 1989 gen. An vielen Orten fanden sich mu- keinesfalls selbstverständlich. Dabei war tige Frauen und Männer, die für Freiheit die SDP keine Tochter der West-SPD, son- und demokratische Mitbestimmung auf dern eine eigenständige Partei, und im die Straße gingen und das politische Sys- Bild der Familie bleibend eine Schwester tem der DDR und dessen Protagonisten zur bestehenden Sozialdemokratie. herausforderten – und es schließlich be- Schon in Schwante waren auch Thü- siegten. ringer/innen unter den Gründungsmit- An vielen Orten und bei vielen Gele- gliedern der SDP. Und an vielen anderen genheiten waren Sozialdemokratinnen Orten hatten sich gleichzeitig und teil- und Sozialdemokraten in der Opposi- weise unabhängig voneinander Opposi- tionsbewegung aktiv. Am 7. Oktober tionsgruppen mit sozialdemokratischen 8 VORWORT Soziale Demokratie in und für Thüringen

Zielen formiert. Nach der Gründung setzte ein zügiger Aufbau der ostdeutschen So- zialdemokratie ein, der am 27. Januar 1990 zur ersten Gründung eines Landesverbands führte – in Thüringen. Thüringer Sozialde- mokrat/innen setzten sich somit an die Spit- ze der Bewegung und dies unter großer An- teilnahme der Bevölke- rung: Am Gründungs- tag des Thüringer Bild 1: Die Gründer/innen der SDP vor dem Pfarrhaus in Schwante am 7. Oktober 1989 Landesverbands sprach der ehemalige Bundes- kanzler und Ehrenvorsitzende der west- türlich kein Anspruch auf Repräsentati- deutschen SPD Willy Brandt auf dem vität oder gar Vollständigkeit erhoben Marktplatz von Gotha, am selben Tag werden. Aber wir haben die Hoffnung, noch einmal vor fast ebenso vielen Men- dass durch die Berichte konkreter Per- schen in Eisenach. sonen die Erinnerung an die bewegten Zeiten deutlicher wird als durch eine be- Der vorliegende Band will die Erinne- schreibende Analyse der historischen Ge- rung an die ereignisreichen und am Ende schehnisse. Denn auch die großen Ent- so erfolgreichen Monate der friedlichen wicklungen der Geschichte sind doch am Revolution erinnern und an den Beitrag, Ende immer Ergebnis des Handelns von den Sozialdemokrat/innen dazu geleis- Einzelnen. tet haben. Aus Anlass des 20. Jahrestags der Wiedergründung der Thüringer SPD Das vorliegende Buch verfolgt zwei freut sich das Thüringer Landesbüro der Ziele: Erstens will es informieren, wie im Friedrich-Ebert-Stiftung, einige Protago- Herbst 1989 eine neue Partei aufgebaut nisten der damaligen Ereignisse zu Wort wurde und damit zur Wiederauferste- kommen zu lassen und sich im Abstand hung der Demokratie in Thüringen bei- von 20 Jahren stellvertretend für die vie- getragen hat. Zweitens soll dieses Buch len anderen zu erinnern. Mit den Inter- die Leistung derer würdigen, die damals views von acht Personen, sechs Gründer aktiv und mutig waren – auf den Stra- der Thüringer SPD und zwei hessische ßen, in Oppositionsgruppen und eben Begleiter des Aufbauprozesses, kann na- auch in der neuen Thüringer Sozialde- Soziale Demokratie in und für Thüringen VORWORT 9 mokratie. Daher gilt unser Dank den mu- in die Fertigstellung des vorliegenden tigen und engagierten Frauen und Män- Buches gesteckt hat. nern des Herbstes 1989. Sie haben vor Ich wünsche dem Buch viele Lese- 20 Jahren Freiheit und Demokratie in der rinnen und Leser und hoffe, dass die Er- DDR erstritten – und man darf dabei nie innerung an den Erfolg der friedlichen vergessen, dass lange Zeit keineswegs si- cher war, dass es eine friedliche Revolu- Revolution in der DDR auch 20 Jahre tion bleiben würde. Am Ende aber stand später Menschen dazu motivieren kann, der demokratische Umsturz in der DDR sich für ihr Gemeinwesen zu engagieren, und im Zuge dessen das unerwartete politisch aktiv zu werden und damit De- und unerwartbar positive Ende der deut- mokratie und Freiheit zu fördern und zu schen Nachkriegsgeschichte als Einheit in erhalten. Freiheit. Ihr Tun, ihr Mut und ihr Erfolg haben dazu geführt, dass sich heute jede und jeder gefahrlos politisch engagieren kann, dass es seit 20 Jahren freie Wah- len in einem Mehrparteiensystem in Thü- ringen gibt, dass eine unabhängige und kritische Öffentlichkeit frei über Politik diskutieren kann – beispielsweise in Ver- anstaltungen einer politischen Stiftung. Ganz konkret danken wir den in der friedlichen Revolution aktiven Personen, die sich als Interviewpartner/innen für dieses Buch zur Verfügung gestellt ha- ben: Hans Eichel, Bernd Brösdorf, Frie- der Lippmann, Thomas Schmidt, Helmut Rieth, Armin Hoffarth, Tilo Wetzel und Ingo Scheibe. Im Anschluss an die Inter- views sind einige Dokumente der (Wie- der-)Gründung der Thüringer SPD enthal- ten, darunter Gründungsaufrufe der SDP in den Thüringer Bezirken und Auszüge der erwähnten Rede Willy Brandts auf dem Gothaer Hauptmarkt am 27. Januar 1990. Abschließend gilt unser beson- derer Dank unserem freien Mitarbeiter Michael Klostermann, der die Interviews geführt, den einleitenden Artikel ver- fasst und auch darüber hinaus viel Arbeit 10 Soziale Demokratie in und für Thüringen

Ausgabe des Statuts der SDP vom 14. Oktober 1989 Soziale Demokratie in und für Thüringen EINFÜHRUNG 11

Die Wiedergründung des Thüringer Landesverbandes der SPD Michael Klostermann

Der erste sichtbare Schritt zur Wie- tragte der provisorische Parteivorstand derbelebung der Sozialdemokratie in der SDP beim Staatsapparat ausdrücklich der DDR erfolgte mit einem von Ibrahim keine Legalisierung – die nach den Buch- Böhme, Martin Gutzeit, Markus Meckel staben der Verfassung auch nicht von- und Arndt Noack verfassten Gründungs- nöten war.2 Mit der Wiedergründung der aufruf, der am 26. August 1989 – dem Sozialdemokratie in der DDR wurde die 200. Jahrestag der Erklärung der Men- oft zitierte Machtfrage aufgeworfen. Die schen- und Bürgerrechte durch die Fran- SDP stellte das Herrschaftsmonopol, den zösische Nationalversammlung – in Um- politischen und gesellschaftlichen Allein- lauf gebracht wurde. Daran anschließend vertretungsanspruch der Sozialistischen bildete sich am 12. September 1989 eine Einheitspartei, insbesondere hinsichtlich Initiativgruppe „Sozialdemokratische Par- der „Arbeiterklasse“, ja deren Existenz tei in der DDR“1, die für die Erarbeitung insgesamt infrage.3 Sie revidierte nicht erster Entwürfe eines Parteistatuts ver- nur die unter Druck im April 1946 in antwortlich zeichnete. Thüringen und der SBZ zustande gekom- Die eigentliche Gründung der „So- mene Verschmelzung von KPD und SPD, zialdemokratischen Partei in der DDR“ sondern entzog der SED auch das Deu- (SDP) fand wenige Wochen später als tungsmonopol über die von ihr verein- symbolischer Akt und bewusster Gegen- nahmten sozialdemokratischen und Ar- pol zu den Feierlichkeiten anlässlich des beiterbewegungstraditionen. Wenn auch 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober im Zuge der parteiinternen Säuberungs- 1989 in Schwante (Kreis Oranienburg) wellen im Kampf gegen den „Sozialde- statt. Aus den thüringischen Bezirken mokratismus“ viele dieser Traditionen Erfurt, und Suhl nahmen damals ausgelöscht worden waren oder einen vier Vertreter teil: Reiner Hartmann aus kommunistischen Anstrich bekamen, so Beutnitz bei Jena, Joachim Hoffmann übte doch die Sozialdemokratie – allen aus Jena, Simone Manz aus Rudolstadt voran die westdeutsche SPD – auf viele und Harald Seidel aus . Anders als 2 Die Verfassung der DDR (Fassung vom 7. Oktober die Vertreter des „Neuen Forums“ bean- 1974) schrieb zwar in Art. 1 die politische Führungsrolle der SED fest, aber Art. 29 sicherte das politische Grund- 1 Der Initiativgruppe gehörten folgende Personen recht auf Vereinigungsfreiheit in Parteien und Organisati- an: Helmut Becker, Ibrahim Böhme, Konrad Elmer, Mar- onen zu. tin Gutzeit, Markus Meckel, Hans-Jürgen Misselwitz und 3 Die letzte organisatorische Basis der SPD wurde nach Arndt Noack. dem Mauerbau 1961 in Ostberlin aufgelöst. 12 EINFÜHRUNG Soziale Demokratie in und für Thüringen

daher in Zentralkomitee und Politbüro Unsicherheit, wie die ca. 2,3 Millionen SED-Mitglieder und Funktionsträger in den eigenen Reihen auf die neue Partei reagieren würden. In den Wochen nach der SDP-Grün- dung und verstärkt ab November 1989 gründeten sich in zahlreichen Städten der drei südwestlichen Bezirke der DDR erste Basisgruppen und Ortsverbände, die teilweise gleichzeitig als Kreisverbän- de fungierten. In den Bezirkshauptstäd- ten Erfurt, Gera und Suhl erfolgten die Neugründungen beispielsweise am 9., 16. und 21. November 1989.4 Die jewei- ligen Gründungsversammlungen wähl- ten statutengemäß ihre Sprecher und Kassenwarte. Viele der Neugründungen wurden unmittelbar durch SDP-Vor- standsmitglieder angestoßen oder be-

Bild 2: Mitgliedsausweis der Gothaer SDP gleitet. Für den thüringischen Raum spielten diesbezüglich allen voran Rei- ner Hartmann und Joachim Hoffmann SED-Mitglieder nach wie vor eine anzie- eine maßgebliche Rolle. Sie stellten an hende Wirkung aus. Dies zeigten bei- zahlreichen Orten die SDP während spielhaft der intensive Dialog zwischen Friedensgebeten in Kirchen vor und er- namhaften Vertretern von SPD und SED munterten dazu, neue Basisgruppen ins am Ende der 1980er Jahre als auch die Leben zu rufen. Die anfänglichen Grün- zahlreichen Anträge ehemaliger SED- dungen vollzogen sich an vielen Stel- Mitglieder um Aufnahme in die SDP im len daher auch nicht zufällig im Schutz- Verlauf der friedlichen Revolution. Hieran raum von Gotteshäusern. So erweiterten wird deutlich, dass das Misstrauen der sich durch die Werbeauftritte schnell SED-Führung gegenüber der eigenen Par- die im Umlauf befindlichen Kontaktlis- teibasis bis in die 1980er Jahre hinein ten und es entstand ein loses Netzwerk durchaus berechtigt war, was sich in von Vertrauensleuten. Sofern keine di- zahlreichen Repressionen wie beispiels- 4 Weitere Neugründungen fanden u.a. wie folgt weise dem regelmäßigen Austausch der statt: Altenburg (5. Januar 1990), Eisenach (6. Dezem- Parteidokumente und der Institutionali- ber 1989), Gotha (3. November 1989), Jena (10. Novem- sierung von Parteikontrollkommissionen ber 1989), Meiningen (29. Dezember 1989), Mühlhausen (5. Dezember 1989), (30. November 1989), Wei- äußerte. Die SDP-Gründung verursachte mar (27. November 1989). Soziale Demokratie in und für Thüringen EINFÜHRUNG 13 rekten Kontaktaufnahmen mit der Par- betrieben namentlich die Auflösung teiführung in Berlin zustande kamen, der Kreis- und Bezirksdienststellen der unterhielten die Basisgruppen und Orts- Staatssicherheit, sicherten deren Akten- verbände über die erwähnten Kontakt- material und schalteten Bürgertelefone, personen Verbindungen zum zentralen um Hinweise auf Korruption und Amts- 5 Vorstand und wurden mit Informations- missbrauch zu sammeln, die wiederum materialien – insbesondere Statuten – Grundlage für eine juristische Aufarbei- versorgt. Die erhaltenen Statute verviel- tung und Diskussionsstoff für die „Run- fältigte und verteilte man wiederum den Tische“ sein sollten. Teilweise über- während der turnusmäßigen Demons- wachten sie auch die Übergabe bzw. trationen in der Bevölkerung. Bald inten- Vernichtung von Waffen der aufgelös- sivierte und professionalisierte sich die ten paramilitärischen „Kampfgruppen“ Parteiarbeit durch die Einrichtung von Bürgerbüros und Bürgersprechstunden. in den sozialistischen Betrieben. Auch wenn es regelmäßige Kontakte In ihrer Programmatik ließ sich die nach Berlin gab, so lässt sich doch ins- SDP ganz allgemein gesprochen von gesamt feststellen, dass der Aufbau der einem „demokratischen Sozialismus“ lei- SDP eher dezentral und vor Ort autonom ten, realisiert durch eine soziale Markt- verlief, allenfalls von nachbarschaftlichen wirtschaft auf ökologischer Grundlage. bzw. regionalen Einflüssen begleitet. Das politische und Rechtssystem der Die SDP entsandte in den Kreisen DDR sollte grundlegend reformiert wer- der drei südwestlichen Bezirke der DDR den, so dass am Ende eine funktionie- zahlreiche Vertreter in die dort einge- rende parlamentarische Demokratie und richteten „Runden Tische“.6 Viele betei- ein unabhängiges Rechtssystem gewähr- ligten sich sowohl an Demonstrationen leistet waren, in dem eine neue Verfas- und Friedensgebeten als auch an loka- sung elementare Menschen- und Bürger- len Bürgerkomitees und Bürgerwachen. rechte sowie die klare Gewaltentrennung Die Bürgerkomitees und Bürgerwachen zwischen Exekutive, Legislative und Judi- kative kodifizierte. Dieses klare Bekennt- 5 Dem damaligen provisorischen Vorstand gehörten an: Angelika Barbe (Berlin, 2. Sprecherin), Ibrahim Böhme nis zur parlamentarischen Demokratie (Berlin, Geschäftsführer), Frank Bogisch (Berlin), Dr. Kon- stellte eine Besonderheit in der Opposi- rad Elmer (Berlin), Stefan Finger (Berlin), Martin Gutzeit (Marwitz), Reiner Hartmann (Beutnitz bei Jena) Stephan tionsbewegung der DDR dar, da andere Hilsberg (Berlin, 1. Sprecher), Joachim Hoffmann (Jena), Gruppierungen, wie etwa das Neue Sabine Leger (Berlin), Simone Manz (Rudolstadt), Markus Meckel (Niederndodeleben, 2. Sprecher), Arndt Noack Forum, die parlamentarische Demokratie (Greifswald), Steffen Reiche (Christinendorf), Reiner nicht als Ziel benannten – und sich auch Rühle (Berlin). nicht als Partei gründeten. Entsprechend 6 Als SDP-Vertreter nahmen am „Runden Tisch“ für den Bezirk Erfurt Jürgen Hoff und Eike Schöneich, für den forderte die SDP, die Volkskammer – als Bezirk Gera Tilo Wetzel sowie für den Bezirk Suhl Micha- höchstes parlamentarisches Gremium el Dietz, Rainer Müller, Bernd Röhner und Horst Weltzien mehrmalig teil. und Organ der Volksvertretung – zum 14 EINFÜHRUNG Soziale Demokratie in und für Thüringen schnellstmöglichen Zeitpunkt7 neu zu Besitz gedacht. Die besondere Betonung wählen. Bis dahin unterstützte die Füh- ökologischer Fragen, versinnbildlicht rungsriege der SDP den Weg der soge- durch die Forderung einer umweltver- nannten „Runden Tische“, um der Bür- träglichen Produktion und die Berück- gerrechtsbewegung eine Beteiligung sichtigung ökologischer Kosten bei der an der politischen Willensbildung in der Preisbildung, erklärt sich mit den enor- DDR zu ermöglichen.8 Neben der gefor- men ökologischen Belastungen und de- derten Meinungsfreiheit verlangte das ren gesundheitlichen Folgeerscheinun- Statut auch das Recht zur Gründung un- gen. Die umweltschädliche, oft gesund- abhängiger Parteien. Als weitere Grund- heitsgefährdende und auf Verschleiß rechte wurden zudem Reisefreiheit, das fahrende Produktion in den sozialisti- Recht zur Auswanderung sowie das Asyl- schen Betrieben gehörte in den Vorstel- recht für politische Flüchtlinge betont. lungen der ostdeutschen Sozialdemo- kraten der Vergangenheit an. Daran anknüpfend zielte man auch auf eine Korrektur der Gebiets- und Ver- Eine weitere wichtige Neuerung in waltungsstrukturen. Die Wiedereinfüh- den volkseigenen Betrieben betraf die rung der fünf Länder aus der Zeit vor Beschäftigten. Sie sollten zukünftig per- 1952 bedeutete eine Rückkehr zum tra- sönlich am betrieblichen Eigentum be- ditionellen deutschen Föderalismus und teiligt und die betrieblichen Mitbe- relativierte genauso den zentralistischen stimmungsrechte durch die Gründung Staatsaufbau wie die angestrebte Stär- unabhängiger und demokratisch organi- kung der kommunalen Selbstverwal- sierter Gewerkschaften gestärkt werden. tung. In eine ähnliche Richtung wies die So wie das Statut die Unterbindung der Forderung nach einer Abschaffung der politischen und staatlichen Einflussnah- dirigistischen Planwirtschaft. Als wesent- me auf die Gewerkschaften einforderte, liche Bedingung hierfür war an die Zu- so verlangte es zugleich nach der strik- lassung verschiedener Eigentumsformen, ten Trennung zwischen Staat und Kirche, das heißt die Koexistenz von privatem, Staat und Parteien sowie Staat und ge- öffentlichem und genossenschaftlichem sellschaftlichen Organisationen. Die Entmilitarisierung – nach innen 7 In den ersten Verhandlungen machten sich die Ver- treter der SDP am zentralen „Runden Tisch“, der seit dem und außen – war zentrale außenpoli- 7. Dezember 1989 in Ostberlin tagte, für den symbo- tische Zielstellung der SDP. Davon hing lischen Wahltermin einer neuen Volkskammer am 6. Mai ganz wesentlich die Lösung der soge- 1990 stark. Genau ein Jahr vorher hatten die gefälschten Kommunalwahlen in der DDR stattgefunden, die eine nannten „deutschen Frage“ ab. Nur in Protestwelle auslösten, die schließlich in der friedlichen eine gesamteuropäische Friedensordnung Revolution mündete. eingebettet, durch die Gewährleistung 8 Am 29. Januar 1990 kam es zur Bildung der „Re- gierung der nationalen Verantwortung“ durch Minister- der bestehenden Grenzen und ernsthaf- präsident Hans Modrow, der acht Vertreter der Bürger- te multilaterale Abrüstungsbemühungen rechtsbewegung als Minister ohne Geschäftsbereich ins Kabinett holte. Für die SPD wurde der spätere Finanzmi- schien den SDP-Mitgliedern über den nister Walter Romberg entsandt. Herbst ’89 hinaus das notwendige in- Soziale Demokratie in und für Thüringen EINFÜHRUNG 15

Bild 3: Treffen einer Delegation von Vertretern der SDP im Bezirk Erfurt mit Hans-Jochen Vogel und Hans Eichel im Kasseler Rathaus am 1. Dezember 1989 ternationale Vertrauensklima generier- nahmen. Eine schnelle Angliederung an bar, das wiederum eine entscheidende die Bundesrepublik wurde aus ökono- Grundbedingung für die langfristig an- mischen und sozialen Gründen katego- gestrebte staatliche deutsche Einheit risch abgelehnt. darstellte. Elementare Voraussetzung dafür war der Abschluss eines Friedens- Nachdem bereits im November ’89 vertrages mit den Siegermächten, um die die ersten spontanen Kontaktaufnah- vollständige völkerrechtliche Souveräni- men von hessischen und fränkischen So- tät wiederzuerlangen. Das Statut ebenso zialdemokraten zu Genossen in thürin- wie ein entsprechender Beschluss vom gischen Partnerstädten erfolgten, kam 3. Dezember 1989 belegen, dass sich die es bald darauf zu Gegenbesuchen in Sozialdemokraten ausdrücklich zum Ziel der Bundesrepublik.9 Am 1. Dezember der „Einheit der Deutschen Nation“ be- 1989 empfingen der Kasseler Oberbür- kannten. Allerdings betonten sie dabei germeister und spätere Bundesfinanzmi- immer, dass die Einheit von beiden deut- nister Hans Eichel sowie der SPD-Partei- schen Staaten gleichberechtigt gestal- und Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen tet werden sollte. Als ersten vorberei- Vogel eine Delegation von SDP-Vertre- tenden Schritt in diese Richtung verstand man die Schaffung einer Konföderation. 9 Der erste Gegenbesuch von Geraer SDP-Mitgliedern – auf Einladung der Nürnberger Ratsfraktion – wurde Darin inbegriffen waren Verhandlungen schon am 11. November 1989, also noch vor der offizi- über wirtschaftliche Kooperationsmaß- ellen Gründung des Ortsverbandes abgestattet. 16 EINFÜHRUNG Soziale Demokratie in und für Thüringen tern aus dem damaligen Bezirk Erfurt Frankfurter Oberbürgermeister und Frak- im Kasseler Rathaus. Von einschlägiger tionsvorsitzende im Europaparlament Bedeutung für den weiteren Aufbau Rudi Arndt, der sich am 1. Januar 1990 der Thüringer Parteistrukturen war al- öffentlichkeitswirksam nach Erfurt um- lerdings ein in die hessische Grenzstadt meldete, in die dortige SDP eintrat und Herleshausen einberufenes Koordinie- den weiteren Aufbau des Thüringer Lan- rungstreffen wenige Tage später (21. De- desverbandes und die Einrichtung der zember 1989). Es ermöglichte ein erstes Landesgeschäftsstelle im Gebäude des gegenseitiges Kennenlernen auf brei- heutigen Ratsgymnasiums (damals Haus terer Grundlage – es waren etwa 40 Ver- der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft) treter aus thüringischen Gliederungen maßgeblich begleitete. Dort verständig- anwesend – und in dessen Folge wur- te man sich endgültig auf die Gründung den feste Patenschaften zwischen hes- des Thüringer Landesverbandes in den sischen Unterbezirken (UB) der SPD und historischen Grenzen von 1946. Der Par- allen damals existierenden thüringischen teitag sollte am traditionsreichen Ort des SDP-Ortsgruppen bzw. Kreisverbänden Gothaer Vereinigungsparteitages vom eingerichtet. Der Bezirksverband Hessen Mai 1875, im „Kaltwasserschen Saal“ Nord übernahm die Patenschaft für den des „Tivoli“ stattfinden. Zur organisato- Bezirk Erfurt, der Bezirksverband Hessen rischen Vorbereitung wurde ein paritä- Süd für den Bezirk Suhl und der Bezirk tisch besetzter Ausschuss11 eingerichtet. 10 Franken für den Bezirk Gera. Als Gründungsdatum legten die Be- Ein elementarer Schritt hin zur Grün- teiligten den 27. Januar 1990 fest.12 Die dung des Landesverbandes erfolgte mit erste Sitzung des Vorbereitungsaus- dem konspirativen Treffen in der „Har- schusses trat bereits acht Tage darauf, rasmühle“ – einer abgelegenen Lokali- am 23. Dezember 1989, in Erfurt zusam- tät bei Lausnitz im Kreis Pößneck – am men. Die organisatorische Vorbereitung 15. Dezember 1989. Daran nahmen wie- derum ca. 40 Sozialdemokraten, über- 11 Für den Bezirk Erfurt wurden Frank Meyer (Erfurt) und Helmut Rieth (Gotha) bestimmt, für den Bezirk Gera wiegend aus der näheren Umgebung im Ingo Scheibe (Jena) und Tilo Wetzel (Gera), für den Be- Bezirk Gera teil. Anwesend waren auch zirk Suhl Thomas Schmidt (Meiningen) und Horst Steiner (Sonneberg). der damalige Geschäftsführer des Be- 12 Es erfolgte die erste Wiedergründung eines SPD- zirks Hessen Nord, Armin Hoffarth (siehe Landesverbandes auf dem Territorium der DDR: Zwar Zeitzeugenbericht), und der ehemalige hatte sich in Ostberlin bereits am 5. November 1989 ein Bezirksverband gebildet, aber die Gründung des Berliner Landesverbandes erfolgte nach der Verschmelzung der 10 Die Patenschaften orientierten sich teilweise an den Ost- und Westberliner SPD erst am 15. September 1990. wenige Jahre zuvor begründeten Städtepartnerschaften, Der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern gründete so z. B. zwischen Arnstadt und dem UB Kassel, Eisenach sich am 9. März 1990, die Landesverbände Brandenburg und dem UB Marburg-Biedenkopf, Gera und dem UB und Sachsen jeweils am 26. Mai 1990 und der Landesver- Nürnberg, Jena und dem UB Erlangen, Saalfeld und dem band Sachsen-Anhalt am 25. August 1990. Die Thüringer UB Kulmbach oder Suhl und dem UB Würzburg. Eine Landesverbände der CDU und des „Demokratischen Auf- Liste der einzelnen Patenschaftsverhältnisse befindet sich bruchs“ hielten ihre Gründungsparteitage jeweils eine im statistischen Anhang. Woche zuvor am 20. Januar 1990 ab. Soziale Demokratie in und für Thüringen EINFÜHRUNG 17 wurde vor Ort in erster Linie durch Hel- Die wesentliche Funktion und Be- mut Rieth, Frank Ritter und Armin Hof- deutung des konstituierenden Landes- farth geleistet. Dass die Gründungsver- parteitages in Gotha bestand in der anstaltung in das Gebäude des „Tivoli“ Wiedergründung eines ersten SPD-Lan- einberufen werden konnte, war Michel desverbandes auf dem Territorium der Hebecker zu verdanken, dem dama- DDR – dokumentiert durch die Wahl des ligen Direktor des Museumsverbandes Thüringer Landesvorstandes. Allerdings der Stadt Gotha. Die Gedenkstätte „Go- wurden auch einige Anträge beraten. thaer Parteitag 1875“ (vormals „Tivo- Aufgrund des begrenzten Zeitkontin- li“) war nominell den Museen der Stadt gents – der Parteitag sollte regulär von Gotha zugeordnet, auch wenn die Ab- 10 bis 17 Uhr andauern und anschlie- teilung Agitation und Propaganda der ßend eine Pressekonferenz abgehal- Erfurter SED-Bezirksleitung einen we- ten werden – waren die Diskussion der sentlichen Einfluss auf die inhaltliche Ge- Grundsatzrede des Erfurter Vertreters staltung und die personelle Besetzung Frank Meyer (siehe Dokumentenanhang) nahm. Ohne die enge Zusammenarbeit und der eingebrachten Anträge und Ent- mit dem damaligen Direktor des Muse- schließungen aber nur eingeschränkt umsverbandes, der die vorherige Räu- möglich. Vor allem die zahlreichen Gruß- mung des historischen Gebäudes veran- worte der Ehrengäste strapazierten den lasste und seine schützende Hand über straffen Zeitplan. Als namhafteste Ehren- die Abläufe hielt, wäre der symbolische gäste begrüßten die 60 Delegierten Willy Gründungsakt des Thüringer Landesver- Brandt (siehe Grußwort), den in der bandes an diesem traditionsreichen Ort Nähe von Eisenach geborenen Egon Bahr nicht denkbar gewesen. Begleitend zum (siehe Grußwort), den hessischen SPD- konstituierenden Landesparteitag berei- Landesvorsitzenden Hans Eichel (siehe tete man für den Nachmittag ein Volks- Zeitzeugenbericht), den bayerischen Frak- fest und für den Abend eine Kundge- tions- und fränkischen Bezirksvorsitzen- bung mit Willy Brandt und dem neuen den der SPD Karl-Heinz Hiersemann, den Thüringer Landesvorsitzenden auf dem provisorischen Geschäftsführer der SDP Gothaer Hauptmarkt vor. Die Resonanz Ibrahim Böhme sowie die thüringischen – es kamen schließlich etwa 100.000 Vorstandsmitglieder Marie-Elisabeth Bürgerinnen und Bürger – war ähnlich Lüdde, Simone Manz, Reiner Hartmann überwältigend wie bei der zuvor an- und Joachim Hoffmann. Einen weiteren beraumten Kundgebung auf dem Eise- aufsehenerregenden Akzent setzte der nacher Marktplatz, an der ca. 40.000 Parteiübertritt des renommierten Mit- Menschen teilnahmen. Als organisato- glieds des „Demokratischen Aufbruchs“ rischer Probelauf fand bereits eine Wo- Edelbert Richter. Die verabschiedeten An- che zuvor (20. Januar 1990) – ebenfalls träge, die schließlich beim ersten Partei- im Saal des „Tivoli“ – die Gründung des tag verabschiedet wurden, forderten zur Gothaer Kreisverbandes der SPD statt. Neugliederung der Gebiets- und Verwal- 18 EINFÜHRUNG Soziale Demokratie in und für Thüringen tungsstrukturen, insbesondere zur Neu- gewählt. Er war im Diakonischen Amt Ei- gründung des Landes Thüringen, sowie senach als Referent für Körperbehinder- zur Entmilitarisierung und Abrüstungs- tenarbeit angestellt. Als Gegenkandidat bemühungen in den Nachbarländern nominierten die Vertreter aus dem Be- Hessen, Bayern und Thüringen auf, nah- zirk Suhl den Meininger Lehrer Wieland men die Neuwahl der kommunalen Par- Sorge, der später in die Volkskammer lamente im Mai 1990 in den Blick oder und den Deutschen einzog. thematisierten den Umgang mit ehema- Es wurden insgesamt drei stellvertre- ligen Mitgliedern der SED und der Block- tende Landesvorsitzende bestimmt, je parteien.13 einer aus den Bezirken Erfurt, Gera und Die geringe Delegiertenanzahl, die Suhl. Für den Bezirk Erfurt fiel die Wahl sich paritätisch auf die drei Bezirke Er- auf Bernd Brösdorf (siehe Zeitzeugen- furt, Gera und Suhl verteilte (je 20 De- bericht) aus Mühlhausen, für den Bezirk legierte), hing mit dem räumlichen Fas- Gera auf Frieder Lippmann (siehe Zeit- sungsvermögen und den Auflagen für zeugenbericht) aus Saalfeld und für den das denkmalgeschützte Gebäude zu- Bezirk Suhl auf Horst Steiner aus Sonne- sammen. Der historische Saal im „Tivo- berg. Darüber hinaus wurden neun Bei- li“ konnte nur etwa 100 Personen beher- sitzer in das Führungsgremium entsandt, bergen. Die enorme Resonanz bei Presse, wobei abermals eine in geographischer Rundfunk und Fernsehanstalten führte Hinsicht paritätische Besetzung Beach- letztlich dazu, dass die Räumlichkeiten tung fand. Im Einzelnen gehörten dem bis an die Grenzen der Belastbarkeit be- Landesvorstand je drei Vertreter aus den ansprucht wurden. Eine möglichst aus- Bezirksstädten Gera und Suhl an, zwei gewogene, an der Herkunft aus den Be- Vertreter aus Weimar und ein Vertreter zirken ausgerichtete Zusammensetzung aus der Bezirksstadt Erfurt. Weimar stell- behielt man ebenfalls bei der Wahl des te mit Wilfried Regenhardt zudem den Landesvorstandes im Auge. Zum ersten Pressesprecher des Landesverbandes und Thüringer Landesvorsitzenden wurde der Erfurt mit Hans Capraro den Schatzmeis- Eisenacher Wilfried Machalett mit einer ter der Thüringer SPD. Auffällig ist, dass knappen Mehrheit (29 zu 24 Stimmen) dem Gründungsparteitag keine weib- lichen Delegierten angehörten, so dass 13 Der Landesparteitag fasste mehrheitlich den Be- daraus folgend keine einzige Frau in den schluss, vorbehaltlich einer Neuregelung durch den be- vorstehenden Leipziger Parteitag (22.-26. Februar 1990), ersten Landesvorstand gewählt wurde. einen sofortigen Aufnahmestopp für den betroffenen Auf der konstituierenden Landesvor- Personenkreis zu verhängen. Der Leipziger Parteitag wähl- te erstmals einen regulären Parteivorstand der SPD in der standssitzung am 30. Januar 1990 wähl- DDR. Aus Thüringen gehörten ihm Dagmar Künast (Pöß- ten die Mitglieder schließlich Frank Ritter neck), Marie-Elisabeth Lüdde (Weimar), Wilfried Macha- lett (Eisenach), Christoph Matschie (Jena), Jens Richter aus Petriroda (bei Gotha), der die Organi- (Gera), Dr. Christine Rudolph (Jena) und Thomas Schmidt sation und Vorbereitung des Gründungs- (Meiningen) als Beisitzer an. Christoph Matschie und Thomas Schmidt gelang es zudem, in das Präsidium der parteitages maßgeblich mit übernom- Partei gewählt zu werden. men hatte, zum Landesgeschäftsführer. Soziale Demokratie in und für Thüringen EINFÜHRUNG 19

Nach aller Euphorie der symbolisch sion über die aufzubringenden finanziel- aufgeladenen Neugründung folgte bald len Mittel trafen offenkundig nicht den darauf die Ernüchterung durch die Wahl- damaligen Puls der Zeit bzw. die über- kämpfe. Spätestens das Abschneiden bei wiegende Stimmungslage der Menschen den Volkskammerwahlen holte die Sozial- in der DDR. Das Bild änderte sich aller- demokraten – mancher mag eine Rück- dings auch nicht wesentlich bei den fol- kehr zu den Verhältnissen in den ehema- genden Wahlen. ligen sozialdemokratischen Hochburgen Bei den Kommunalwahlen im Mai Sachsen und Thüringen erhofft haben 1990 gelangen im Durchschnitt leichte – auf den harten Boden der Realität zu- Zuwächse, die aber keine gravierenden rück. In keinem Wahlkreis gelang es der Veränderungen hinsichtlich der Minder- SPD bei der Volkskammerwahl im März heitenposition gegenüber der CDU be- 1990 in den Bezirken Erfurt, Gera und deuteten. Ein deutliches Muster lässt sich Suhl nur an die 25-Prozent-Marke her- hier nicht erkennen, da sowohl in länd- anzureichen. Es zeichnete sich ein deut- lich und städtisch geprägten Gebieten liches Stadt-Land-Gefälle ab. So erzielte sowohl Zuwächse als auch Verluste zu man mit Ausnahme von Suhl und in ab- verzeichnen waren. Die Veränderungen geschwächter Form in Gera in den grö- im Vergleich zur Volkskammerwahl nah- ßeren Städten die vergleichsweise besten men stellenweise beträchtliche Aus- Ergebnisse (Eisenach, Erfurt, Gotha, Jena, maße an. In Gera gelang beispielsweise Nordhausen, Weimar). Die schwächs- ein Sprung nach oben um fast 10 Pro- ten Resultate fuhr man im katholischen zentpunkte, der die SPD im Stadtparla- Eichsfeld und in den ländlich strukturier- ment nahe an die 30-Prozent-Marke her- ten, ehemaligen reußischen Territorien anführte. Im Gegenzug versank die SPD ein. Das insgesamt mäßige Abschneiden im Kreis Eisenberg in der Bedeutungslo- beim ersten Urnengang dürfte vor allen sigkeit, nachdem sie über die Hälfte ihres Dingen mit der als zögerlich empfunde- Wähleranteils eingebüßt hatte und auf nen Haltung der Sozialdemokraten in magere 8 Prozent absackte. Demzufolge der Frage der deutschen Einheit, ihrem scheinen vordergründig die Kandidaten uneinheitlichen Auftreten und häufigen und Verhältnisse vor Ort die Wahlent- personellen Wechseln14 erklärbar sein. scheidung beeinflusst zu haben. Die objektive Thematisierung negativer Nach dem Beitritt der fünf neu gebil- Begleiterscheinungen einer übereilten deten Länder in der DDR15 zum Geltungs- staatlichen Einheit wie auch die Diskus- bereich des Grundgesetzes nach Art. 23 GG am 3. Oktober 1990 stand wenige 14 Der Thüringer Landesvorsitzende Wilfried Macha- lett trat unmittelbar nach der Volkskammerwahl zurück. Tage später (14. Oktober 1990) die Wahl Bernd Brösdorf übernahm daraufhin kommissarisch des- der Landesparlamente an. Der Thürin- sen Funktion. Anfang April trat der SPD-Vorsitzende Ibra- him Böhme zurück, nachdem ihm vorgeworfen worden war, für die Staatssicherheit gearbeitet zu haben – was 15 Die fünf neuen Länder wurden auf Grundlage des sich einige Monate später als zutreffend herausstellte. Ländereinführungsgesetzes vom 22. Juli 1990 gebildet. 20 EINFÜHRUNG Soziale Demokratie in und für Thüringen

Bild 4: Erstausgabe des „Thüringer Vorwärts“, Zeitung des Thüringer Landesverbandes der SPD, erschienen im Februar 1990 ger Landesverband hatte auf seinem Je- Wahlkreisen geschuldet, währenddessen naer Landesparteitag im August 1990 in den eher ländlichen Gebieten und in den Fraktionsvorsitzenden der nord- der Stadt Suhl die Wahlergebnisse der rhein-westfälischen SPD, Prof. Dr. Fried- SPD etwas besser als zuvor ausfielen. helm Farthmann, zum Spitzenkandidaten nominiert. Abermals gelang es nicht, Der Thüringer SPD gelang es im Jahr stärkste Fraktion zu werden, man er- ihrer Wiedergründung 1989/90 somit rang 22,8 Prozent der Stimmen und 21 nicht, an alte Wahlerfolge – vor allem im Mandate. Die SPD verblieb damit in der ausgehenden Kaiserreich – anzuschlie- Oppositionsrolle. Dr. Gerd Schuchardt ßen. Dies hing sicherlich mit der jahre- wurde zum Fraktionsvorsitzenden und langen Herrschaft der SED zusammen, damit zum Oppositionsführer im Thü- die sich vorhandene sozialdemokratische ringer Landtag bestimmt. In den einzel- Traditionen einverleibt und die hohe Or- nen Kreisen und Regionen wiederholten ganisationsdichte der SPD in Thüringen sich im Wesentlichen die Ergebnisse der beseitigt hatte. Die zweite Gründergene- Volkskammerwahl. Die Bundestagswahl ration aus dem Jahr 1989 konnte so auf am 2. Dezember 1990 brachte wieder die besagten Traditionen und Strukturen leichte Verluste mit sich (21,9 Prozent). des frühen 20. Jahrhunderts nicht mehr Dies war vor allem dem schwächeren Ab- zurückgreifen. Von daher musste – an- schneiden in den städtischen geprägten ders als bei Kommunisten, Christdemo- Soziale Demokratie in und für Thüringen EINFÜHRUNG 21 kraten und Liberalen – ein vollständiger Mitglieder und Verantwortungsträge- organisatorischer und personeller Neu- rinnen zu gewinnen. Erschwerend kam aufbau der Sozialdemokratie erfolgen. hinzu, dass die ostdeutsche SPD von An- Zudem standen nicht annähernd ver- fang mit einer anderen Partei im linken gleichbare finanzielle Ressourcen, per- Wählerspektrum konkurrieren musste, sönliche Netzwerke und ein politisch er- die sich ebenfalls als Garant der „sozi- fahrenes Personal zur Verfügung. alen Gerechtigkeit“ und Vertretung für die Arbeitnehmerinteressen darstellt. Die Das alles erschwerte den Neuauf- betonte Abgrenzung der Sozialdemokra- bau der SPD in Thüringen. Die Heraus- tie zur SED und ihren späteren Nachfol- forderungen einer Wiedergründung als georganisationen erscheint angesichts letztlich komplette Neugründung waren der Erfahrungen im faktischen Ein-Par- somit immens und den dabei insgesamt teien-System der DDR verständlich und erfolgreichen Akteuren gebührt hoher zeigte sich etwa in der anfänglichen Dis- Respekt. Eine breite Mitgliedschaft, wie tanz zu sozialdemokratischen Traditi- sie die traditionelle Sozialdemokratie onen wie der Anrede „Genosse“, der Ju- noch in der Arbeiterschaft und die west- gendweihe oder einem engen Verhältnis deutsche SPD bei Angestellten, Beam- zu den Gewerkschaften. ten und Gewerkschaftern besaß, musste von der SPD nicht nur in Thüringen, son- Nichtsdestotrotz hatte sich die zwei- dern in ganz Ostdeutschland erst lang- te Gründergeneration der Sozialdemo- sam aufgebaut werden.16 Dieser Prozess kraten in Thüringen und Ostdeutschland ist auch 20 Jahre später noch nicht ab- auf den Weg gemacht, einen parlamen- geschlossen. tarischen, einen „demokratischen Sozia- lismus“ zu verwirklichen – in einer sozia- Den wichtigen, weil organisatorisch len und ökologischen Marktwirtschaft. und inhaltlich bestimmenden Mitglie- Das bedeutete damals eine bewusste Ab- derkreis der neuen Sozialdemokratie in grenzung zur SED, deren Parteiführung Ostdeutschland bildeten Personen aus das uneingeschränkte politische und ge- dem Umfeld der evangelischen Kirche, sellschaftliche Machtmonopol bis zuletzt der technischen Intelligenz und Medizi- zu erhalten versuchte. Dass dieses Macht- nern. Das traf auch – mit wenigen Aus- monopol am Ende zerbrach und an die nahmen – auf die Thüringer SPD zu. Eine Stelle der Ein-Parteien-Diktatur die parla- besondere Schwäche bestand dabei in mentarische Demokratie, fundamentale dem Umstand, dass es der SPD zunächst Freiheiten und individuelle Grundrechte nur in geringem Maß gelang, Frauen als seit 20 Jahren auch in Ostdeutschland Realität sind, ist der Erfolg der vielen en- 16 Eine Zusammenstellung über den Aufbauprozess der Thüringer SPD im Vorfeld des Gothaer Gründungs- gagierten Frauen und Männer der fried- parteitages sprach etwas optimistisch von ca. 6.000 Mit- lichen Revolution von 1989/90, darunter gliedern in Thüringen. Zum Vergleich: Die Thüringer SPD zählte kurz vor der Zwangsvereinigung im April 1946 auch der Wieder-Begründer der Sozialde- deutlich über 90.000 Mitglieder. mokratie in Thüringen. 22 Soziale Demokratie in und für Thüringen Soziale Demokratie in und für Thüringen 23

ZEITZEUGEN Beiträge und Interviews 24 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 25

Bernd Brösdorf (Mühlhausen)

Jahrgang 1949, geboren in Leipzig Studium der Metallurgie- und Werkstofftechnik an der Bergakademie Freiberg Oberbauleiter in Mühlhausen vor der Wende Wahl zum stellvertretenden Landesvorsitzenden auf der Gründungsveranstal- tung der Thüringer SPD amtierender Landesvorsitzender nach dem Rücktritt von Wilfried Machalett Wahl zum Landesvorsitzenden auf dem zweiten Landesparteitag der Thüringer SPD in Bad Frankenhausen im Mai 1990 Rücktritt vom Amt des Landesvorsitzenden im August 1990 Heute Ortsvereinsvorsitzender in Mühlhausen Bild 5: Bernd Brösdorf 1990

Wie haben Sie den Weg zur Sozialde- Neues Forum etc. Ich hatte einfach die mokratie gefunden? Wie kam es zur Zeit, mich damit zu beschäftigen. Dann Gründung der SDP in Mühlhausen? gab es in Mühlhausen eine Informati- onsveranstaltung im kirchlichen Bereich, Eine sozialdemokratische Prägung dem ich auch etwas zugeneigt war. Die kam bei mir vor allem durch bundespo- Kirche bot einen Schutzschild in der da- litische Akteure zustande: Carlo Schmid, maligen Zeit für die Opposition. Ich habe Helmut Schmidt, Willy Brandt, Herbert mich dort beteiligt und gesehen, dass es Wehner und andere. Alle haben in ihrer nicht so geht. Nach meiner Auffassung unterschiedlichen Art einen großen Ein- ging es einfach nicht, dass sich dort je- druck auf mich gemacht. Vor allem Hel- mand hinstellt und etwas vorliest, sich mut Schmidts Ausspruch im Zusam- aber nicht damit identifiziert, sondern menhang mit der Rücknahme eines nur wiedergeben will, was andere mei- Rentengesetzes: „Keine Regierung ist nen und das auch sagt. Es mussten Leute unfehlbar, das behaupten nur totalitäre ran, die sich klar positionierten. Es ging Systeme von sich“, das war für mich ein mir nicht nur darum, dass man nur ein entscheidender Satz zum ehrlichen De- Programm vertritt, sondern man muss- mokratieverständnis der SPD und zur te ja auch versuchen, es durchzusetzen. Einschätzung totalitärer Systeme. (…) Mit dieser Vorstellung habe ich mich so- In der „Wendezeit“ haben sehr viele fort eingebracht und habe die aktiven Zufälle eine Rolle gespielt. Ich hatte im Leute eingeladen. Wir haben uns in Sommer mit Rollski einen schweren Un- meinem Haus an einen Tisch gesetzt und fall und während meines Krankenhaus- die Gruppe „Veränderung jetzt“ gegrün- aufenthaltes und danach sehr viele det, die ein Konglomerat von Leuten aus Schriften gelesen, vom Demokratischen allen möglichen politischen und weltan- Aufbruch, den Gründungsaufruf der SDP, schaulichen Richtungen gewesen ist. Das 26 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen war Mitte Oktober bis in den November wegen wollen, wenn Veränderungen an- hinein, noch vor der Grenzöffnung. Wir stehen. (…) waren in den Diskussionen und Aktivi- Gab es Kontakte zum Führungszirkel täten im November dann so weit, dass der SDP oder hat man vor Ort relativ wir sagten, unser politisches System kann autonom gearbeitet? sich im Wesentlichen nicht von dem der Bundesrepublik unterscheiden. Das Spek- Kontakte zu den Parteigründern aus trum der alten Parteien und neuen Grup- Schwante gab es anfangs nicht, nur zum pierungen in der DDR entsprach ja nicht Ortsverband Gotha. Wir haben uns dort dem international üblichen Spektrum in bei Helmut Rieth Unterlagen abgeholt. Frankreich, England, Skandinavien usw. (…) Wir konnten uns in einer Demokratie Erzählen Sie bitte etwas zum Ablauf nicht vorstellen, dass es 40 neue Parteien des Treffens in der „Harrasmühle“ gibt. Die SDP war ja schon gegründet und ich war in Richtung SPD geprägt. Ich Das Treffen in der „Harrasmühle“ habe die Leute dann dazu aufgefordert, kann man konspirativ nennen. Irgendwie auch weil ich Gruppensprecher gewe- und irgendwann wurde bekannt, dass sen bin: Wir müssen uns jetzt positionie- sich alle, die schon Kreis- oder Ortsver- ren. Wir dürfen nicht irgendeine Gruppe bände der SDP gegründet haben, tref- ohne konkrete Zielausrichtung sein. Mir fen sollten. Auch mit der Herkunft der war klar, viele der Mitglieder der Grup- Anwesenden waren wir die Ersten der pe würden in der Bundesrepublik wohl neuen Gruppierungen, die schon wieder SPD-Mitglieder sein. Also haben wir eine ganz Thüringen in den Blick genommen große Informationsveranstaltung mit haben. Man ist ganz einfach hingefahren. einem Landtagsmitglied aus Hessen or- (…) Es wurde aus den Kreisen berich- ganisiert. Über 200 Leute kamen in den tet, wie es läuft; der organisatorische Rathaussaal! Aufbau usw. Wir hatten ja keine Kom- munikationsmöglichkeiten, keine Ver- Auf dieser Veranstaltung haben wir vielfältigungsmöglichkeiten. (…) Einhel- den SDP-Orts-/Kreisverband gegründet. lige Meinung war, dass man die Organi- Das war am 5. Dezember 1989. Am 12. sationsstrukturen nicht an den Bezirken Dezember haben wir eine weitere Veran- ausrichten sollte. Später gab es Treffen staltung organisiert, die gleichzeitig als mit Mitgliedern aus dem ehemaligen Be- Wahlveranstaltung der SDP in Mühlhau- zirk Erfurt, bei Frank Meyer im Kreisbau- sen gedient hat. Es waren ca. 150 Leute, betrieb Erfurt-Land am Erfurter Anger. die sofort bereit waren mitzuarbeiten. Dort haben wir zusammen gesessen und Leider wurden es mit der Zeit immer we- vorhandene Informationen und Informa- niger. Es war eine richtige Aufbruchstim- tionsmaterial ausgetauscht. Auch dort mung in dieser Zeit. Von da an ging das war es von vornherein klar, wir wollen Arbeiten los. Da hat man gesehen, was einen thüringischen Landesverband. Die Leute leisten können, wenn sie etwas be- Frage des Gründungsorts war nach mei- Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 27 ner Erinnerung unumstritten. Vielleicht gung führen sollte. Damals lag das noch kann es sein, dass es im Bezirk Gera, in weiter Ferne, da die beiden Systeme der von der personellen Struktur eine noch zu unterschiedlich waren. Sicher- starke Stellung hatte, einige Vorbehalte lich sprach zu diesem Zeitpunk keiner gab. Letztlich war aber auch die Baracke von Artikel 23 GG. Das spielte damals (Erich-Ollenhauer-Haus Bonn, SPD-Par- noch überhaupt keine Rolle. Wir hat- teizentrale) beteiligt, die sagten, um das ten das Gefühl, wir wollten erst einmal nach außen gegenüber der Bevölkerung etwas bei der Demokratisierung der DDR zu dokumentieren, sollten wir Gotha mit erreichen. Wir wollten gleichberechtigt der Tradition des „Tivoli“ wählen. Die nebeneinander existieren. Aber letztlich Traditionen der Arbeiterbewegung und sollte es in der deutschen Einheit enden. der Sozialdemokratie war vielen unbe- Dass der Prozess dann so schnell vor sich kannt. Aber für diejenigen, die maßgeb- ging, hatte auch etwas mit der von In- lich den organisatorischen Aufbau getra- grid Matthäus-Meier Mitte Januar 1990 gen haben, hat die gesamte historische in Rede gebrachten, bald erforderlichen Entwicklung schon eine Rolle gespielt. In Währungsunion zu tun. Erst da war klar, diesem Zusammenhang ist beispielswei- dass es relativ schnell in Richtung einer se tief greifend darüber diskutiert wor- deutschen Einheit geht. Die CDU hatte den, woher der Begriff Genosse kommt. das ja umgehend aufgegriffen und auf Wir haben uns anfangs mit Parteifreund die „Straße“ getragen. angesprochen. Das ging noch so bis zum Unter dem Druck der Bevölkerung Vereinigungsparteitag der ostdeutschen standen wir in der Form, dass wir gesagt und westdeutschen SPD17. (…) hatten, so etwas kann nicht innerhalb Welche politischen Ziele hat man sich von zwei Minuten passieren, auch weil damals mit der Parteigründung ge- wir Probleme sahen. Man kann nicht ad stellt? Wie positionierten Sie sich zur hoc alles abschneiden. Dann stehen wir Frage der deutschen Einheit? unter völlig neuem Wettbewerbsdruck Es ist ein Verlaufsprozess gewesen. und dann veröden wir ökonomisch hier. Er hat damit begonnen, dass man eine Haben Sie das schlechte Abschnei- reformierte DDR wollte, mit demokra- den bei der Volkskammerwahl 1990 tischen Wahlen, mit freier Meinungs- vorhergesehen oder eher den „Um- äußerung, mit Reisefreiheit. Das war ja fragen“ geglaubt, die im Vorfeld kur- dann teilweise schnell gegeben. Als wir sierten? uns neu gegründet hatten, dann unter der Vorstellung der Schaffung einer Kon- Ich habe den Wahlprognosen noch föderation der beiden deutschen Staa- bis 14 Tage vor der Wahl geglaubt. Dann ten, die irgendwann zu einer Vereini- nicht mehr, weil der einfache Spruch „Wir sind ein Volk“ und Kohl und die

17 Die Vereinigung fand am 27. September 1990 in Frage der Einheit … Man hat das an der Berlin statt. Masse gemerkt. Man hat auch den Mei- 28 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen nungsumschlag gemerkt. Wir haben mit- band jemanden vorschlagen kann, kön- bekommen, wie viel Leute bei Kohl ge- nen wir ja auch jemanden vorschlagen. wesen sind und wie viele bei Brandt oder Nun stellten sich dort alle vor, die vorge- Lafontaine. Da merkte man, dass die Ak- schlagen worden waren. Es kam inner- zeptanz doch erheblich zurückgegangen halb der Gruppe zu einer Wahl, welche war. (…) Letztendlich ist nicht die Zuver- Leute in den Wahlvorschlag für den Par- sicht, dass man trotzdem die Wahl ge- teitag aufgenommen werden. Schließ- winnen könne, weg gewesen, aber wir lich stand mein Name als Stellvertre- glaubten nicht an die Deutlichkeit des tervorschlag. Keiner wollte, auch Frank späteren Ergebnisses. (…) Meyer nicht. Wir hatten uns also hinge- Wie ist der Gründungsparteitag in setzt und uns gegenseitig vorgestellt, Gotha vorbereitet worden? ohne dass groß über Inhalte gesprochen wurde. (…) Dann kam es zum Grün- Wir haben uns zweimal zur Vorberei- dungsparteitag. Wir kannten außer den tung des Parteitages in Erfurt getroffen. Anwesenden des Treffens in der „Harras- Dabei wurde auch über die Personen ge- mühle“ die Delegierten aus den anderen sprochen wurde, die dort zur Wahl ste- Bezirken (Gera, Suhl) überhaupt nicht. hen sollten, und auch über die Delegier- Da haben wir zusammen gesessen. Es tenzusammensetzung wurde beraten. wurden die üblichen Reden gehalten. Es Diese Versammlungen sind sehr akti- herrschte viel Begeisterung, ja Euphorie. onistisch verlaufen. Die Kreisverbände Dann kann der Tagesordnungspunkt – oder die, die sich dazu berufen haben, Wahl des Landesvorstandes, für den wir waren anwesend. Es stand zur Debat- im Vorfeld schon Räume organisiert hat- te, wen wir zum Vorsitzenden wählen. Wilfried Machalett hatte die Unterstüt- ten – Rudi Arndt war da beteiligt. Bei der zung aus Eisenach und aus Bonn. Die Wahl schließlich kamen „basisdemokra- sagten, Du (Machalett) machst das. Ihr tische“ Fragen, die damals innerhalb der seid der größte Bezirk. Das muss jetzt Gliederungen eine sehr große Rolle ge- so und so laufen. Anschließend wur- spielt haben, auf die Tagesordnung. Ba- den Leute gesucht, die für die Stellver- sisdemokratie wurde so verstanden, dass treterposten und die Beisitzer kandidie- es Gegenvorschläge geben musste. Also ren sollten. Es kamen von den Vertretern wurde halt neben Machalett noch aus der Kreisverbände Vorschläge. Dies Pro- jedem Bezirk ein weiterer Kandidat vor- zedere war aber im Vorfeld gar nicht bis geschlagen. (…) Letztlich endete es mit in die Kreisverbände vorgedrungen. Einer der Wahl von Wilfried Machalett. Die Be- aus unserem Kreisverband sagte plötz- zirke hatten Stellvertreter nominiert und lich: Wir schlagen Bernd Brösdorf vor. waren sich einig darüber, der und der Das war gar nicht im Vorhinein abge- wird es. Auch hier wurde von der Ver- sprochen. Auch wir wussten nicht, was sammlung basisdemokratisch durchge- in Erfurt abgestimmt werden sollte. Aber setzt, dass die Bezirke trotzdem je zwei wir sagten uns, wenn jeder Kreisver- Kandidaten vorschlagen mussten. Wir Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 29 haben uns nach dem Beschluss nochmals wollte vor allem die Leistungsträger der zusammengesetzt. Wir waren uns einig, Gesellschaft, die, die sich einbringen aber nur um einen zweiten Mann an- wollten, für eine zukunftsorientierte Ar- zubieten, und aus dem Demokratiever- beit in der SPD gewinnen. Warum auch ständnis heraus wurde noch ein weiterer nicht, wenn sie sich zu unserer Sache be- Kandidat vorgeschlagen. Letztlich sind kannten und sich nichts zuschulden hat- dann genau die gewählt worden, über ten kommen lassen. (…) Schließlich woll- die man vorher auch schon abgestimmt ten wir keine ersten Kreissekretäre und hatte und ich hatte das Gefühl, das sich ähnliche aufnehmen. Wenn es da ent- mit der Vorstandswahl die „Nicht-Erfur- sprechende Nachweise gab, dann kam ter“ etwas untergebuttert fühlten. das für uns nicht in Frage. Wir konnten aber auch nicht sagen: Wir bilden eine Gab es Konflikte zwischen den ein- Partei nur mit denjenigen, die Protestler zelnen Bezirken, so dass man deshalb sind. Dazu gab es von diesen zu wenig. eine paritätische Anzahl der Delegier- Wir brauchten Leute, die das gesamte ten festlegte? Spektrum der Bevölkerung repräsen- Die Parität bei der Beschickung mit tierten. Ansonsten würden wir in einer Delegierten hing damit zusammen, dass Splitterpartei enden. Da wurde heftig man sich an irgendetwas orientieren drüber gestritten auf den Parteitagen. musste. Man konnte ja nicht auf Zuruf Es gab die Befürchtung, dass man un- vertrauen: Wir haben so und so viele terwandert wird und dass wir für die an- Mitglieder … Das war ja nicht nachweis- deren Parteien angreifbar sind. Vielleicht bar. Deswegen hatten die Organisatoren wäre bei einer sofortigen liberaleren Lö- gesagt, wir behandeln alle gleichberech- sung heute das „Problem“ Linkspartei tigt. Aber der Sitz war Erfurt. Das gab gar nicht entstanden. (…) eine zeitlang Diskussionen. (...) Welche zentralen Inhalte bestimmten Wie verhielt man sich gegenüber den Wahlkampf zur Volkskammer im ehemaligen SED-Mitgliedern? März 1990 und welche Konsequenzen wurden aus dem schlechten Ergebnis Selbst nach anders lautenden Be- gezogen? schlüssen wurde die Frage des Umgangs mit ehemaligen SED-Mitgliedern letztlich Der Volkskammerwahlkampf war be- von den Ortsverbänden entschieden. Die stimmt durch die Wege zur Vereinigung Diskussionen waren am Anfang sehr hef- und vergiftet durch die „Rote-Socken“- tig und gingen in die Richtung: Wir neh- Kampagne. Das war eine der Diskus- men überhaupt keine SED-Mitglieder auf. sionen, die durch die CDU wahltaktisch Auf der anderen Seite – das war meine sehr klug ins Rennen geführt worden Meinung, mit der ich mich später auch ist, ohne dass sie einen realen Hinter- durchgesetzt habe – gab es über zwei grund hatte. Wir konnten der Bevölke- Millionen SED-Mitglieder. Irgendwann rung nicht klar machen, dass es nach un- musste eine Aufarbeitung passieren. Ich seren Beschlüssen zu dieser Zeit kaum 30 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen ehemalige SED-Mitglieder gab. Es waren werden würde als bei der Volkskammer- keine fünf Prozent, die damals das Par- wahl. Gleichwohl hatten wir Zuwachsra- teibuch der SED mit unserem getauscht ten. (…) hatten. Kein Grund also, dass man uns Wann kam es zur Berufung des poli- hätte verunglimpfen müssen. Das konn- tisch-beratenden Ausschusses zur Bil- te man der Mehrheit der Bevölkerung dung des Landes Thüringen und wel- nicht klar machen. Insgesamt war dies che Aufgaben hatte das Gremium? ein Gefühl der Ohnmacht. Man hat sich darüber geärgert. Man versuchte es den Der politisch-beratende Ausschuss Leuten zu erklären, aber man war ohn- zur Bildung des Landes Thüringen war mächtig, es den Leuten herüberzubrin- der erste seiner Art in der damaligen gen. Sie haben es nicht begreifen wol- DDR. Er wurde nach der Berufung der len. (…) Die Enttäuschung über den Regierungsbevollmächtigten durch de Wahlausgang saß am Wahltag sehr, sehr Maiziere in Thüringen etabliert. Ich habe tief, brachte aber auch eine Trotzreakti- mich damals mit dem CDU-Landesvor- on hervor: „Jetzt erst recht, jetzt müssen sitzenden Uwe Ehrich an einen Tisch ge- wir weitermachen.“ Es führte aber auch setzt. Wir hatten uns einfach getroffen dazu, dass Wilfried Machalett ab diesem und gesagt: Wir müssen die Bildung des Abend verschwunden war. Er war zeit- Landes Thüringen vorbereiten. Danach weise nicht mehr auffindbar. Was sollte ist der Ausschuss relativ schnell nach man jetzt für einen Kommentar dazu ab- der Volkskammerwahl zustande gekom- geben. Wie sollte man sich weiter dazu men. Dessen Arbeit war aus meiner Sicht verhalten. Er hatte sofort hingeschmis- auch relativ erfolgreich, da er die Orga- sen. Er hat mir gegenüber nie einen nisationsstrukturen des späteren Landes Grund genannt. (…) Letztlich hat er die Thüringen vorbereitet hat und alle poli- Konsequenzen aus dem Wahlergebnis tischen Gruppen daran beteiligt waren. gezogen. (…) An Thüringen haben sich dann auch die Bei der folgenden Kommunalwahl anderen neuen Länder orientiert. waren wir schon damit zufrieden, dass In Vorbereitung der Landtagswahl wir das Ergebnis der Volkskammerwahl hatten wir mit den hessischen Genossen überboten bzw. in einigen Kreisen und in der Kommission Hessen-Thüringen ein Städten überhaupt etwas gewonnen Papier erarbeitet. Es wurde ein inhalts- hatten. Die Stimmung nach der Volks- reicher Abschlussbericht dazu verfasst, kammerwahl war ja eindeutig in Rich- der leider dann nicht so stark in die po- tung deutsche Einheit mit Helmut Kohl. litische Arbeit der Thüringer SPD ein- Da auch bei dieser Wahl die Deutsch- geflossen ist, obwohl er eine wirkliche landpolitik eine erheblich größere Rolle inhaltliche Vorbereitung für den Land- gespielt hatte als die kommunale Poli- tagswahlkampf war. tik, mussten wir natürlich damit rech- nen, dass das Ergebnis nicht viel anders Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 31

Wann und wie wurde der Kandidat So sind wir auf Prof. Dr. Friedhelm für die Landtagswahl im Oktober Farthmann gekommen. Ich habe dann 1990 berufen? zwei Tage lang in seinem Haus im Oden- wald mit ihm über das gesprochen, was Die Gedankenspiele im Landesvor- ihn in Thüringen erwartet und er stellte stand zur Nominierung eines Minister- sich letztlich zur Verfügung. Anschlie- präsidentenkandidaten kamen ziemlich ßend hat er hat sich in Erfurt vorgestellt. spät. Normalerweise war es ja so, dass Ich erinnere mich, dass es die einhellige der Landesvorsitzende das erste Zugriffs- Meinung aller Anwesenden im Landes- recht hatte. Da gab es zum damaligen vorstand war: „Ja das machen wir so.“ Zeitpunkt auch gar keine Gegenstimmen, Zu diesem Zeitpunkt hat es keinen inner- auch weil viele dachten, wir gewinnen parteilichen Gegenwind für Friedhelm die Wahlen sowieso nicht. Wir brauchten Farthmann gegeben. Er kam mit seinem zwar einen Kandidaten, aber gegen die gesamten Stab. (…) Friedhelm hatte den CDU zu diesem Zeitpunkt zu gewinnen, Nachteil, dass er so ähnlich aussah wie sahen fast alle als ziemlich illusorisch an. der ehemalige 1. Sekretär der SED-Be- In der Zeit, als ich noch nicht zurückge- zirksleitung Erfurt Gerhard Müller. Das treten war, haben wir darüber diskutiert, hat schon eine Rolle ge-spielt. wen wir nominieren könnten. Da war Warum sind Sie im August 1990 vom dann eine zeitlang Peter Friedrich aus Amt des Landesvorsitzenden zurück- Altenburg im Gespräch. Der stellte auf getreten? eine gewisse Art eine Vaterfigur dar und konnte gut reden. Er hat aber abgelehnt. Ich hatte über die Problematik, die zu Es fand sich weder ein Mitglied des Lan- meinem Rücktritt geführt hat, im Vorfeld mit der Baracke gesprochen. (…) Man desvorstandes bereit, noch hatten die hatte zum damaligen Zeitpunkt Angst Kreise jemanden angeboten. Während davor, man könnte das nicht durchste- einer Fraktionsvorsitzendenkonferenz in hen. Dabei war damals nicht relevant, München kontaktierte ich dann Hertha wie es sich im Einzelnen verhielt. Nur Däubler-Gmelin und signalisierte ihr, wir die Nähe zur Staatssicherheit genügte brauchen einen Kandidaten, weil sich in für eine Vorverurteilung. Aus welchem Thüringen niemand anbieten würde und Grunde Kontakte zustande gekommen der Parteivorstand in Berlin andere Sor- waren, war vollkommen nebensächlich. gen hätte. Hertha Däubler-Gmelin und Ein Parteiausschlussverfahren wurde Hans-Jochen Vogel haben mich dann vom damaligen Kreisverband Mühlhau- mehrfach angerufen und schließlich ge- sen durchgezogen. Daraufhin hatte ich fragt: Wie wäre es denn, wenn wir je- Einspruch eingelegt. Die Angelegenheit manden nehmen, der neben jahrelanger landete vor der Landesschiedskommis- Parlaments- und Regierungserfahrung sion. Die Landesschiedskommission hob in Nordrhein-Westfalen auch gewerk- den Parteiausschluss auf, verhängte aber schaftliche Bindungen besäße? ein Funktionsverbot. Konkret konnte 32 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen mir allerdings nichts vorgeworfen wer- den. So wurde letztlich vor der Bundes- schiedskommission verhandelt und die Bundesschiedskommission hat alles auf- gehoben und hat dies auch weit rei- chend begründet. Es kam dann nur noch zu einer parteiinternen Rehabilitierung. (…) Vor der Wahl zum Landesvorsitzen- den in Bad Frankenhausen hatte ich so- wohl mit Mitgliedern des Thüringer Lan- desvorstandes, mit Hans Krollmann und anderen verantwortlichen Genossen der hessischen SPD als auch mit dem Partei- vorstand in Person von Markus Meckel über diese Problematik gesprochen. Die sahen es teilweise sogar positiv, dass ich im Grunde jemandem geholfen habe, nicht bespitzelt zu werden.18 Ich hatte ja mit demjenigen persönlich darüber gere- det, bevor die „Bespitzelung“ stattfand. Er hat das ja auch bestätigt. (…) Ich hatte mich dann hinterher der weiteren Zusammenarbeit mit der entzogen. Hans Krollmann hat dies nach Aktenein- sicht auch bestätigt. (...)

18 Die Staatssicherheit hatte mit Bernd Brösdorf Kon- takt aufgenommen und um die Bespitzelung eines Be- kannten während des NVA-Dienstes gebeten, der durch einen Republikfluchtversuch auffällig geworden war. Brösdorf suchte daraufhin ein persönliches Gespräch mit dem Bekannten und sie vereinbarten, dass er auf das Spitzelangebot eingehen werde, die entsprechenden Be- richte aber gemeinsam verfasst würden. Einige Zeit spä- ter stellte die Staatssicherheit den Kontakt zu ihm auf- grund mangelnden Erkenntnisgewinns ein und stufte Bernd Brösdorf als „untaugliche Person“ ein. Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 33

Hans Eichel (Kassel)

Jahrgang 1941, geboren in Kassel Studium der Geschichte, Philosophie, Erziehungswissen- schaften, Philosophie und Politik in Berlin und Marburg Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien 1970-1975 Studienrat am Wilhelmsgymnasium in Kassel 1964 Eintritt in die SPD 1975-1991 Kasseler Oberbürgermeister 1991-1999 Hessischer Ministerpräsident 2002-2009 Mitglied des Deutschen Bundestages 1999-2005 Bundesfinanzminister Bild 6: Hans Eichel und Manfred Stolpe 1992 1989-2001 Hessischer Landesvorsitzender der SPD 1984-2005 Mitglied des Bundesvorstands, 1999-2005 Mitglied des Präsidiums der SPD

Haben Sie einen sozialdemokratisch mir den Eintritt in die SPD im Ortsverein geprägten familiären Hintergrund? in Kassel sehr erleichtert, weil die alten Hatten und haben Sie persönliche Ortsvereinsmitglieder meinen Großvater Verbindungen nach Ostdeutschland kannten und schätzten. Mein Vater war und Thüringen? ein ewiger Oppositioneller. Er hat nach meiner Einschätzung immer bürger- Ich war der erste Sozialdemokrat in lich gewählt, am Schluss allerdings Willy der Familie. Mein Großvater väterlicher- Brandt. Er hat schon 1969 die Initiative seits war Mitglied der Deutschen De- „Bürger für Brandt“ mit unterstützt und mokratischen Partei (DDP). Er war und noch stärker 1972. (…) Ich bin 1964 in blieb Linksliberaler und hat den Weg zur die SPD eingetreten. Deutschen Staatspartei19 nicht mit voll- zogen. Er war auch Mitglied im Reichs- Der väterliche Teil meiner Fami- banner Schwarz-Rot-Gold20 (…). Das hat lie stammt aus Thüringen: ursprünglich Bad Liebenstein, später Barchfeld. Mein 19 Deutsche Demokratische Partei (DDP): 1918 aus der Großvater kam 1900 von Barchfeld nach linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei hervorgegan- gen. Vor der Reichstagswahl 1930 kam es zur Fusion mit Kassel. Das spielte für mich schon eine der antisemitischen Volksnationalen Reichsvereinigung gewisse Rolle. (…) zur Deutschen Staatspartei, die einen deutlichen Rechts- schwenk der Partei bewirkte. Viele linksliberale Mitglieder Wann und wie haben Sie von der verließen daraufhin die Partei und gründeten die Radikal- demokratische Partei. SDP-Gründung in Schwante erfah- 20 Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold: 1924 durch repu- bliktreue Mitglieder von SPD, DDP, Zentrum und Gewerk- Kommunisten zu verteidigen. Das Reichsbanner verstand schaften gegründet, um die Weimarer Republik gegen sich als Hüterin der demokratischen Traditionen der Re- die Angriffe von Monarchisten, Nationalsozialisten und volution von 1848. 34 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen ren? Wann ergaben sich die ersten Marxismus gelehrt wird. Ich bekam aber persönlichen Kontakte zu Sozialde- keine Chance. Man hat mich von Ponti- mokraten in der DDR? us zu Pilatus geschickt. Das ging bis zum Staatssekretär Seigewasser21 – keiner Ich weiß es gar nicht mehr genau. war zuständig. Es war ein Ping-Pong- Ich habe das sofort zur Kenntnis ge- Spiel. Nach drei Semestern verließ ich nommen und für mutig, aber irgend- unverrichteter Dinge Berlin wieder. Au- wie auch für selbstverständlich gehalten. ßerdem kam man in die Humboldt-Uni- Wir glaubten ja damals, Ostdeutschland versität nur mit Personalausweis. Mit sei klassisches sozialdemokratisches Ter- dem westdeutschen konnte ich natür- rain. Wir wissen aber, dass es dann nach lich nicht rein. Man sagte mir: „Schat- der Wiedervereinigung, ja schon bei den tenwährung Zigaretten zieht.“ Und so ersten freien Volkskammerwahlen ganz kam ich auch in das Gebäude hinein. Ich schnell anders gekommen ist. traute mich aber nicht, mich in ein Semi- Ich erinnere mich noch, dass ich ir- nar oder eine Vorlesung zu setzen. Das gendwann mit Ibrahim Böhme zusam- waren für mich ganz persönliche Enttäu- mengetroffen bin. Kurz danach kam schungen. Ich lernte auch Karl-Eduard 22 seine Enttarnung als Stasi-Mitarbeiter. von Schnitzler persönlich kennen. Das Wir mussten erkennen, dass die Stasi war eine unerfreuliche Begegnung. sowohl die Bürgerrechtsbewegung als Als ich Juso-Vorsitzender in Kassel war auch die Parteineugründungen unter- – das fiel in die Phase des Gesprächs- wandert hatte, um zu wissen, was da vor austauschs zwischen SPD und SED in der sich ging. Ich hatte einerseits sehr frühe zweiten Hälfte der 60er Jahre (…) – be- Kontakte zur SED. Das hängt mit meinem mühte ich mich auch um einen Aus- tausch mit dem Bezirk Erfurt. Ich wollte eigenen Werdegang zusammen. Ich eine „Woche der Bundesrepublik“ in Er- glaubte ursprünglich, als ich 20, 22 Jahre furt und eine „Woche der DDR“ in Kassel alt war, die DDR könne perspektivisch so ausrichten. Die „DDR-Woche“ in Kassel etwas wie ein besseres Deutschland sein. Ich bin 1962 ganz bewusst nach West- 21 Hans Seigewasser (1905–1979): 1922 Eintritt in Berlin zum Studium gegangen, an die FU die SPD. 1930 Reichsvorsitzender der Jungsozialisten. und an die TU. Ich blieb dort drei Semes- 1931 Mitbegründer der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. 1932 Eintritt in die KPD. KZ-Häftling in ter. Wir Westdeutschen durften tagsüber Sachsenhausen und Mauthausen. 1946 Übertritt in die nach Ost-Berlin. Ich war fast an jedem SED. 1950–1979 Mitglied der Volkskammer. 1960–1979 Wochenende dort, am Brecht-Ensemb- Staatssekretär für Kirchenfragen. 22 Karl-Eduard von Schnitzler (1918–2001): Journalist, le, in der Komischen Oper, in der Staats- Chefkommentator des DDR-Fernsehens und Moderator oper, im Kabarett „Distel“, besuchte die der Fernsehsendung „Der schwarze Kanal“, in der poli- tische Entwicklungen in der Bundesrepublik im Sinne der Museumsinsel. Ich bemühte mich auch SED-Führung kommentiert und mit Fernsehmaterial un- um einen Gasthörerstatus an der Hum- terlegt wurden. Schnitzler verstand sich als Gegenspieler von Richard Löwenthal, der im ZDF das politische Maga- boldt-Universität, weil ich den Vergleich zin „ZDF-Magazin“ moderierte, in dem Menschenrechts- suchte, wie im Westen und wie im Osten verletzungen in der DDR angeprangert wurden. Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 35 hat stattgefunden, die „Bundesrepublik- weiß ich nicht. Es war, wie wir dann spä- Woche“ in Erfurt nie. Das reicht einem ter erfahren haben, nur die Auffassung dann auch als Erfahrung. Danach hat einer kleinen Minderheit. Die ganz große es so gut wie keine Kontakte mehr ge- Mehrheit wollte eine schnelle deutsche geben. Erst im Frühjahr 1989 wieder, als Einheit, das habe ich bereits während ich eine Städtepartnerschaft zwischen einer öffentlichen Veranstaltung im No- Kassel und Arnstadt als Kasseler Ober- vember 1989 in Eisenach gespürt. Da bürgermeister mit begründete. (…) So stand plötzlich jemand auf und meinte: habe ich dann das ganze halbe Jahr vom „Was redet Ihr alle von Demokratie und Frühjahr bis zum Herbst 1989 immer in- von der Demokratisierung der DDR und tensiver verfolgen können, wie sich die freien Wahlen? Wir machen jetzt eine DDR veränderte. Es war hoch spannend, Volksabstimmung über die sofortige das zu beobachten. Wiedervereinigung – das war’s.“ Anfang Dezember 1989 kamen wieder Vertreter Es kam – ich glaube, es war am des „Neuen Forums“ zu mir und sagten: 16. Oktober 1989 – ein Vertreter des Sie müssen unbedingt nach Arnstadt „Neuen Forums“ zu mir ins Rathaus. Er kommen – dort gab es die „Samstags- hatte noch Ängste. Das durften die Ver- demonstrationen“ – und etwas gegen antwortlichen in der DDR nicht wis- die grassierende Wiedervereinigungseu- sen. Er erzählte mir, was eigentlich in phorie tun. Das habe ich auch noch ge- der DDR passiert. Seine politische Bot- macht. Der Erfolg ist bekannt (...) Ich schaft lautete: Die Bundesrepublik müsse sagte den Menschen damals: Versprecht die DDR völkerrechtlich anerkennen und Euch nicht zu viel. Ihr habt zu goldene die DDR-Staatsbürgerschaft akzeptie- Vorstellungen vom Westen. Bei uns gibt ren. Außerdem müsse sie die Erfassungs- es Arbeitslosigkeit. So etwas kennt Ihr stelle in Salzgitter23 schließen. Die Bür- gar nicht. Aber damals war die Stim- gerrechtsbewegung wolle die DDR zu mung eine gänzlich andere. einem demokratischen Staat umbau- en und die Marktwirtschaft einführen. Die SDP-Gründung habe ich selbst- Und wenn das alles geschafft sei, dann verständlich zur Kenntnis genommen. könne man über die Art der Zusam- Wir hatten als Hessen die Patenschaft menarbeit der beiden deutschen Staa- für die Wiedergründung der Thüringer ten reden. Ich fragte meinen Gesprächs- SPD übernommen. Das haben wir dann partner: Ist das Ihre Auffassung oder die auch wahrgenommen. Wobei die Wahr- der Bevölkerung? Da antwortete er: Das heit lautet: Willy Brandt marschierte voran und ich bewegte mich mehr oder 23 Die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter wurde 1961 weniger in seinem Schlepptau. (…) Von eingerichtet. Sie erfasste und dokumentierte versuchte bzw. vollendete Tötungen an der innerdeutschen Gren- der SDP-Gründungsgeschichte blieb ze. Ansonsten hatte sie Unrechtsurteilen aus politischen übrig, dass es mit der SED auf gar keinen Gründen, Misshandlungen im Strafvollzug, Verschlep- pungen oder politischer Verfolgung in der DDR nachzu- Fall eine Zusammenarbeit geben soll- gehen und entsprechende Beweismittel zu sammeln. te. Da gab es eine ganz starke Abwehr- 36 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen reaktion. Vom Westen wurde das ganz gen orientiert, die sich ganz früh als So- anders gesehen, auch zum Beispiel von zialdemokraten verstanden und die Sozi- Willy Brandt und Egon Bahr. So war die aldemokratie gegründet hatten und das Situation. hieß in der Konsequenz: scharfe Abgren- zung zu allen SED-Mitgliedern. Das war Wie haben Sie damals die SED einge- geprägt durch die Erfahrungen derjeni- schätzt? Glaubten Sie an eine Refor- gen, die unter dem SED-Regime gelit- mierung der DDR und der Staatspar- ten hatten. Das muss man verstehen. Ich tei SED? bin da vorsichtig. Wenn man selbst nicht Da gab es das SED-SPD-Papier, das dabei gewesen ist, kann man das alles vonseiten der SPD maßgeblich Erhard sehr schwer beurteilen. (...) Eppler gestaltet hatte. Es ging um den Es gab ein Gespräch zwischen Willy Versuch, innerhalb der SED reformbereite Brandt und Egon Bahr mit Vertretern der Leute zu finden. Dafür standen 1989 evangelischen Kirche, bei dem ich zuge- dann Namen wie Wolfgang Berghofer24 gen war. Dort wurde darüber gespro- und Hans Modrow25. Ich glaubte, dass chen, ob sich die DDR nicht von innen das nicht gänzlich ausgeschlossen wäre. heraus reformieren könne. Die Antwort 1989 lief das in der westdeutschen So- der Kirchenvertreter lautete: Das ist aus- zialdemokratie auf die Vorstellung hin- geschlossen, denn wir haben zu nieman- aus, die Zwangsvereinigung von SPD dem hier Vertrauen. Wenn wir einen und KPD rückgängig zu machen und die Rechtsstaat aufbauen wollen, müssen Arme zu öffnen für alle SED-Mitglieder, die Richter aus dem Westen kommen. die sich als Sozialdemokraten fühlten Das war etwas, was insbesondere Egon oder sich zukünftig in das wiederverei- Bahr nicht verstanden hat und was er nigte Deutschland als Sozialdemokraten vielleicht auch nicht verstehen wollte. einbringen wollten. Da wären dann die Für mich war sichtbar, dass es ein ab- Kommunisten zurückgeblieben und hät- grundtiefes Misstrauen gab. Man konn- ten eine eigene Partei gründen müssen. te noch andere Beobachtungen machen. Das wurde diskutiert. Letztendlich hat Beispielsweise in der ersten Phase nach man sich an Schwante und an denjeni- der Grenzöffnung und auch noch nach der Wiedervereinigung: Alles, was aus 24 Wolfgang Berghofer (geb. 1943): 1964 Eintritt in die SED. Oberbürgermeister von Dresden 1986–1990. 1987 der DDR kam, wurde von den Menschen begründete er mit Klaus von Dohnanyi die Städtepartner- dort abgelehnt. Die Ostdeutschen woll- schaft zwischen Dresden und Hamburg. ten nur Westwaren. Das führte dazu, 25 Hans Modrow (geb. 1928): 1949 Eintritt in die SED. 1958-1990 Mitglied der Volkskammer. 1973–1989 Ers- dass das umgetauschte Geld in kürzester ter Sekretär der Bezirksleitung Dresden. 1967–1989 Mit- Zeit vom Osten in den Westen zurück- glied des Zentralkomitees der SED. November 1989 Wahl zum Ministerpräsidenten der DDR. Im Herbst 1989 Be- transferiert wurde. (…) Insofern ist das, mühungen um Dialog mit den DDR-Bürgerrechtlern. Auf- was sich in der SDP/SPD abgespielt hat, nahme von Mitgliedern des zentralen „Runden Tisches“ in eine „Regierung der nationalen Verantwortung“ ab eigentlich nur ein Element in der gene- Februar 1990. rellen Situation, in der alles abgestoßen Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 37 wurde, was für die alte DDR stand. Es Oertzen26 bis hin zu Klaus von Dohnanyi, gab aber eine Ausnahme: CDU und FDP mittendrin Egon Bahr und Willy Brandt. machten die Arme weit auf und inte- Alle waren sofort davon begeistert, den grierten die Blockparteien. Das wird man deutschen Nationalstaat wiederzuhaben. historisch beurteilen müssen. Allerdings in europäischer Einbindung, das war nie angezweifelt. Die Jüngeren Wie standen Sie zur Frage der deut- hingegen, die im Adenauer-Deutschland schen Einheit? mit seiner Staatsräson der Westintegrati- Zunächst einmal habe ich nicht daran on groß geworden sind, waren viel skep- geglaubt, dass sie in überschaubarer tischer. In der Generation war ich der Zeit kommt. Das haben im Westen üb- Erste, der umgeschwenkt ist. Das hatte rigens alle so gesehen, auch wenn die etwas mit der Städtepartnerschaft zwi- CDU dann propagandistisch anderes ver- schen Kassel und Arnstadt und mit der breitet hat. Es gab nichts in den Schub- grenznahen Lage Kassels zu tun. Als ich läden, keinerlei Vorbereitungen für einen spürte, dass die Menschen das ganz in- solchen Fall, weil keiner ihn vorausgese- tensiv wollen, war mir klar, dass wir als hen hat. Es gab im Gegenteil in der alten Politiker nicht sagen können: Nun mal Bundesrepublik die Tendenz, Bonn zur langsam! Das konnte nicht funktionie- definitiven Hauptstadt zu machen. Es ren. Das war für mich der entscheidende gab im Bundestag ja noch nach der Wie- Grund, mich schnell dem anderen Lager dervereinigung die hoch spannende Ab- anzuschließen. Allerdings gilt für mich stimmung, ob denn nun Bonn auf Dauer bis heute, dass die Staatsräson der alten Hauptstadt bleibt oder ob Berlin wieder Bundesrepublik, Integration Deutsch- Hauptstadt wird. Da war meine Position lands in ein vereintes Europa, bestehen klar. Das war übrigens das Erste, was ich bleiben muss. Und so denke ich auch in der Koalition in Hessen mit Joschka Fi- heute: Deutschland als Motor der euro- scher entschied, dass wir für Berlin stim- päischen Einigung. men. Man kann nicht 40 Jahre, in denen es nicht geht, sagen: Wenn wir wieder- Haben Sie an dem Treffen hessischer vereinigt sind, wird Berlin wieder Haupt- und thüringischer Sozialdemokraten stadt. Und im 41. Jahr, in dem es plötz- in der Grenzstadt Herleshausen im lich geht, sagen: Es war nie so gemeint. Dezember 1989 teilgenommen? So etwas geht nicht. Ich habe eine Erinnerung vom 10. Ich habe also ursprünglich nicht an November 1989 morgens. Ich habe die die Wiedervereinigung geglaubt. Im Öffnung der Grenze erst früh am 10. SPD-Parteivorstand war das sichtbar eine November mitbekommen, als meine Generationenfrage. Als die Chance am Frau mich weckte. Ich habe mich dann Horizont auftauchte, schwenkte die alte 26 Peter von Oertzen (1924–2008): 1970-1974 Nieder- Generation sofort in Richtung Einheit sächsischer Kultusminister. 1973–1993 Mitglied im Par- um, von links bis rechts, von Peter von teivorstand. 1946 Eintritt in die SPD, 2005 Parteiaustritt. 38 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen sofort ins Auto gesetzt und bin nach gab unglaublich emotionale Szenen. Al- Herleshausen gefahren. Die Eindrücke lein die Vorstellung, da stehen 10.000 waren unglaublich. So weit wir schauen Thüringer vor dem Rathaus. Die Straßen- konnten Kolonnen von Trabis und Wart- bahn kam natürlich nicht mehr durch. burgs, alle voll besetzt. Und alle sagten: Wie haben sich dann die Paten- Wir wollen nur mal schauen, ob es wahr schaften zwischen hessischen und thü- ist, dass da vorne offen ist. Das hatte ich ringischen Unterbezirken entwickelt? schon während des Beginns der Städte- Welchen Anteil hatten daran der da- partnerschaft mit Arnstadt ein halbes malige hessische Parteivorsitzende Jahr lang mitbekommen, dass immer und der hessische Landesvorstand? mehr Menschen sagten: Wir wollen gar nicht weg. Wir wollen nur, dass da vorne Da musste man nicht viel vonseiten offen ist. Wir wollen auch mal nach Spa- des SPD-Landesvorstandes tun. Gera- nien reisen, wir wollen auch mal nach de hier in Nordhessen waren die Bezie- Frankreich reisen, dann kommen wir hungen zu Thüringen immer eng, das lief wieder zurück. ganz von selbst. Und viele Verbindungen bestehen ja heute noch, auch zwischen Und dann am 11. November vor dem Arnstadt und Kassel. Das ist von unten Kasseler Rathaus: Ich bekam am frühen gewachsen, es war damals einfach eine Morgen aus dem Rathaus einen Anruf, ganz emotionale Grundwelle. hier stehen schon tausend Thüringer und wollen sich das Begrüßungsgeld ab- Es war ja auch nicht so, dass damals holen. Ich habe dann sofort das Rathaus die Menschen in der DDR alle sofort mit mobilisiert, bin selbst hingefahren, habe vollen Segeln auf die Wiedervereinigung noch bewusst den Vorsitzenden unseres zugesteuert sind. Zumindest waren sie Ausländerbeirats dazugeholt. Ich woll- sich nicht sicher, ob die Westdeutschen te, dass unsere ausländischen Mitbürger das überhaupt wollten. Meine Beobach- sich zugehörig fühlten und sich mit uns tung war, dass in dem Augenblick, als freuten. Da redete ich vor 10.000 Thü- die Grenze geöffnet wurde und sofort ringern. Danach sprach auch der Aus- die ungeheure Emotionalität auf bei- länderbeiratsvorsitzende. Das waren un- den Seiten zu spüren war, dass da erst glaubliche Szenen. Unbegreiflich war, die Thüringer gesagt haben: Wir wol- dass der Kasseler Einzelhandel mittags len ganz schnell die Wiedervereinigung. die Geschäfte schloss, weil ja immer Weil sie, weil wir alle den Eindruck hat- Samstagmittag die Geschäfte geschlos- ten, da gibt es keine Vorbehalte, auch sen wurden. Das gab einen Sturm der keine innere Grenze mehr. Das war in Entrüstung hinterher. Den folgenden Süddeutschland übrigens etwas anders. Samstag waren sie natürlich offen. Aber Ich hörte zuweilen in Bayern schon Töne am ersten Samstag war das eine bittere wie: Bleib mir vom Hals mit Deiner preu- Enttäuschung für die Thüringer, die erst ßischen Wiedervereinigung! (…) Gerade mal schauen und einkaufen wollten. Es am Anfang war die Emotionalität zwi- Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 39 schen Thüringen und Nordhessen un- deraufleben eines deutschen Nationalis- glaublich groß. mus entstanden. Nur Willy Brandt konn- te sich eine solche Äußerung leisten. Nur Welchen Anteil hatte die hessische er wurde nicht missverstanden. Das cha- SPD am Aufbau der Thüringer SPD? rakterisierte natürlich auch das Natio- Waren Sie in die Vorbereitung und nalbewusstsein der älteren Generation, Organisation des konstituierenden die das einige Deutschland noch erlebt Landesparteitages der SPD in Gotha hatte, für die das vollkommen selbstver- eingebunden? ständlich war. Wir haben ganz intensiv bei Sat- Wie positionierten Sie sich zur Frage zungs- und Organisationsfragen ge- der Abschaffung der Bezirke und zur holfen und auch ganz praktische Hilfe- Wiedergründung der historischen stellungen geleistet. Übrigens auch mit Länder in der DDR? dem Dienstwagen des Oberbürgermeis- ters. Wir haben damit Kopiergeräte und Es gab zunächst ja noch die CDU-ge- Schreibmaschinen und was man sonst führte Landesregierung in Hessen und alles für einen funktionsfähigen Parteiap- das Gespann Wallmann-Duchac27 mit parat braucht, nach Thüringen geschafft. dem anfänglichen Vorschlag einer Ver- Wir haben unsere Parteisekretäre zum einigung von Hessen und Thüringen. Aufbau und zur Beratung abgestellt. Das Davon habe ich nicht viel gehalten. Ich war alles sehr intensiv. Aber an die Ein- habe nicht daran geglaubt. Ich sehe das zelheiten kann ich mich nicht mehr erin- heute anders, weil ich dem Föderalismus nern. insgesamt kritischer gegenüberstehe. Ich glaubte damals, dass es richtig sei, Die Kundgebung auf dem Marktplatz dass die Länder in der DDR wieder ent- in Gotha im Anschluss an den Grün- stünden, dass es ein Element der Demo- dungsparteitag werde ich nie vergessen. kratie sei. (…) Ich fand die Vorstellung 100.000 Menschen drängten sich auf einer Vereinigung von Hessen und Thü- dem Platz, so dicht, dass keiner umfallen ringen etwas unnatürlich. Heute würde konnte. Da hat Willy Brandt etwas ge- ich sagen: Es wäre vielleicht ein Schritt in macht, das nur er konnte. Er hat die Al- Richtung einer Reform des Föderalismus liierten aus Deutschland herauskompli- gewesen, wenn die DDR als Ganzes der mentiert. Er sagte: „Wir Deutschen sind Bundesrepublik, als ein großes Bundes- wieder zusammen. Es ist sehr schön, dass wir unsere Freunde im Westen und 27 Walter Wallmann (geb. 1932): Oberbürgermeister im Osten haben. Aber sie können jetzt von Frankfurt am Main 1977–1986, Bundesminister für ruhig wieder nach Hause gehen. Wir Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 1986–1987, Hessischer Ministerpräsident 1987–1991, seit 1961 Mit- schaffen das jetzt alleine.“ Es war un- glied der CDU Hessen. Josef Duchac (geb. 1938): 1990 glaublich. Wenn das damals jemand an- Leiter der Bezirksverwaltungsbehörde Erfurt als Bevoll- mächtigter der Regierung de Maizière, Thüringer Minis- deres gesagt hätte, wäre daraus eine terpräsident 1990–1992, seit 1957 Mitglied der CDU in höchstkritische Diskussion über das Wie- der DDR. 40 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen land in das wiedervereinigte Deutschland sprach. Also haben sie auf das gehört, eingetreten wäre und nicht gegliedert in was Kohl sagte. So schwenkten alle Er- fünf Länder. Ich habe zeitweise auch ge- wartungen zu Kohl hinüber. Viele Men- dacht, dass wir im Westen eine Länder- schen in der damaligen DDR haben rela- neugliederung dringend nötig hätten. tiv naiv-positiv den Westen betrachtet. Ich habe im Wahlkampf versucht zu ver- Kam das mäßige Abschneiden der mitteln, dass im Westen nicht alles Gold SPD bei der Volkskammerwahl im ist, was glänzt. Das war natürlich keine März 1990 für Sie überraschend? attraktive Botschaft, die wir als Sozial- Gegen Ende der Wahlkampagne war demokraten vertraten. In dieser Phase das Wahlergebnis vorhersehbar. Ich er- wurde nur gehört, wer sagte: Jetzt wird innere mich daran, dass ich gemeinsam alles wunderbar. Dass sich dann etwas mit Willy Brandt Ende Januar in Eise- später herausstellte, dass wir mit diesen nach, Gotha und Weimar gewesen war. Analysen Recht behielten und dass dann Das waren tolle Versammlungen. Und eine lange Phase der Enttäuschungen dann wieder Anfang März in Erfurt. Da kam – teilweise bis heute – wollte noch waren noch 60.000 Menschen auf dem keiner sehen. Die Stärke der PDS, jetzt Domplatz, bei Kohl sind es aber kurz der Linkspartei, im Osten, kommt auch vorher über 200.000 gewesen. Da saßen aus solchen Enttäuschungen, die sich in wir abends zusammen und fragten uns: den Köpfen festgesetzt haben. (…) Was ist passiert? In der Phase war ein- Wie haben Sie damals die Gleichset- fach der Bundeskanzler Helmut Kohl der zung von SPD und PDS im Volkskam- größere Hoffnungsträger. Er konnte ent- merwahlkampf wahrgenommen? scheiden und handeln. Willy Brandt war zwar die Lichtgestalt, aber wir waren in Die Gleichsetzung zwischen SPD und der Opposition. Kohl glaubte wohl auch PDS haben wir alle als eine unglaubliche selbst, dass nach der Einheit in kurzer Sauerei empfunden. Das ausgerech- Zeit blühende Landschaften entstünden net die Parteien, die die Arme weit aus- und im Westen erzählte er, dass alles gebreitet und die ganzen Blockparteien aus der Portokasse zu bezahlen sei. (…) aufgenommen hatten, der SPD so etwas Ich sage der Fairness halber: Oskar La- vorwerfen ... Wir haben uns zum Teil fontaine hatte die richtige Analyse, dass einschüchtern lassen und waren dann alles sehr teuer werden würde. Er sagte auch ängstlich im Umgang mit der SED. das allerdings in einer Weise, die es leicht Das habe ich für einen Fehler gehalten. machte, ihm zu unterstellen, dass er die Ich persönlich hatte eine andere Posi- Wiedervereinigung gar nicht wolle. Das tion. (…) Die Befindlichkeiten derer, die wurde im Osten als Zurückweisung emp- die SDP gegründet hatten, waren an- funden. Willy Brandt war mit Lafontaines dere und menschlich sehr verständlich. Zungenschlag gar nicht einverstanden. Das unterliegt auch nicht unserem Urteil. Und die Menschen wollten hören, was Und die Position hat sich ja bekanntlich ihren Emotionen, ihrer Euphorie ent- durchgesetzt. (…) Was die CDU angeht: Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 41

Dokument 3: Informationsblatt der SDP zur Vereinbarung zwischen dem Ministerrat der DDR, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und dem Zentralvorstand der Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und Kommunalwirtschaft vom 8. Dezember 1989 42 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Ich fand es eine unglaubliche Heuche- hätte bedeutet: Das bekommt jeder. Es lei. Aber das kennen wir von dieser Par- hätte eher eine Einkommensgrenze nach tei. Wir erinnern uns noch daran, dass oben gegeben. Das hätte bedeutet, es der Partei von Kurt Schuhmacher durch wäre ein Vermögensbildungsprogramm Adenauer vorgeworfen wurde, sie sei die Ost geworden. Insofern wäre es gut ge- fünfte Kolonne Moskaus. Oder wie die wesen, wir hätten eine Phase der Allpar- CDU mit Willy Brandt umging. Das pass- teienregierung oder eine Große Koaliti- te alles in eine Linie. Wenn es darauf an- on gehabt. Weil man dann auch solche kommt, wird verleumdet. Das war so. Dinge hätte einbringen können. Wir haben zwar gesagt, wir haben ein ande- Hielten Sie es angesichts des Volks- res Konzept. Wir wollten uns aber nicht kammerwahlkampfs und des Ergeb- in den Weg stellen, weil wir sagten: Die nisses für richtig, sich an der DDR-Re- Wiedervereinigung geht vor. (…) gierung zu beteiligen? Diesbezüglich gab es ja unterschiedliche Positionen Eine Verweigerung der Regierungs- im Präsidium der DDR-SPD. beteiligung wäre am Bewusstsein der Menschen vollkommen vorbeigegangen. Wenn es eine Phase gab, in der ei- Die westdeutsche Republik hatte alles in gentlich alle Parteien in die Verantwor- allem einen guten Weg genommen. Das tung mussten, was nicht unbedingt hei- sahen die Deutschen in der DDR auch ßen muss in die Regierung, aber für eine so. Dass sie sich in dieser Phase eher um bestimmte Phase vielleicht doch, dann ihre materiellen Dinge, die DDR war ja war es diese. Die Wiederbegründung der ökonomisch am Ende, und um den Wie- deutschen Einheit war eine Aufgabe für deraufbau kümmern wollten, das war alle. menschlich verständlich. Deshalb war Wir haben uns als Sozialdemokraten das nicht die Zeit, in der man die großen im Westen auch so verhalten, obwohl wir politischen Debatten führen konnte. Das nicht in der Regierung waren. Wir haben mag man bedauern, aber es macht kei- da manches mitgemacht, um keine Spiel- nen Sinn, gegen die fundamentalen Le- verderber zu sein, was wir eigentlich in- bensinteressen der Menschen Politik ma- haltlich für falsch hielten. Wir wollten chen zu wollen. (...) beispielsweise nicht die Sonderabschrei- Haben Sie damals eher den Weg der bungen für den Aufbau Ost, sondern ein Einigung über Artikel 146 (Erarbei- Zulagensystem. Das hätte unglaubliche tung einer neuen, gesamtdeutschen Vorteile gehabt. Die Sonderabschrei- Verfassung) oder über Artikel 23 (Bei- bungen waren ein Vermögensbildungs- tritt zum Geltungsbereich des Grund- programm bzw. Steuersparprogramm gesetzes) des Grundgesetzes favori- West. Sonderabschreibungen kann nur siert? jemand machen, der weitaus mehr ver- dient, als er zum Leben braucht. Das war Das war aus meiner Sicht schade. im Osten nicht der Fall. Zulagensystem Aber das ist zuerst einmal im Osten ent- Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 43 schieden worden. Die Attraktion der alten Bundesrepublik war für die DDR- Bevölkerung offenkundig so stark, dass die Menschen sagten: Wir wollen gar nichts Neues, Drittes. Wir wollen der Bundesrepublik beitreten. Dass das dann in der Bundesrepublik sehr vielen auch gefallen hat, ist auch klar. Vielleicht hät- ten wir in der Phase auch nicht die Zeit und Einsicht gehabt. Aber ein paar Jahre später dann zu sagen: Jetzt schaffen wir eine gemeinsame neue Verfassung, wäre womöglich gut gewesen. Sie hätte viel- leicht gar nicht viel anders ausgesehen als das Grundgesetz. Es wäre dann aber eine gemeinsame und durch eine Volks- abstimmung legitimierte Verfassung ge- worden. So war es ein Beitritt. Das hat mir nie so ganz gefallen, das empfand ich als unangemessen. Der Begriff „Wie- dervereinigung“ beinhaltet, dass Zwei zusammenkommen und nicht, dass der Eine beim Anderen eintritt. Aber das war die Realität der Zeit, das war das, was die große Mehrheit im Osten und im Westen wollte, und das muss man dann akzep- tieren. (…) 44 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Armin Hoffarth (Kassel)

Jahrgang 1928, geboren in Kassel sozialdemokratische Familientradition seit 1876 Eisenbahnerlehre Eisenbahner von 1942 bis 1965 1965 bis 1993 hauptamtlicher Mitarbeiter der SPD im Parteivorstand bzw. im Bezirksverband Hessen Nord

Bild 7: Armin Hoffarth, 1990

Wann und wie haben Sie von der Eindruck gewonnen, dass etwas pas- Gründung einer Sozialdemokra- sierte. Aber keiner konnte genau sagen, tischen Partei in der DDR erfahren? was. Es kann auch keiner im Nachhinein Wann kam es schließlich zur ers- sagen, das hätte man alles vorhergese- ten Kontaktaufnahme zwischen hes- hen und gewusst. (…) sischen und thüringischen Genossen? Dass wir uns als Sozialdemokraten in Ich bin kein Teilnehmer der Grün- Hessen als unmittelbar Benachbarte so- dungsveranstaltung in Schwante gewe- fort in den Prozess eingemischt haben, sen, wusste aber über Freunde in Berlin, war selbstverständlich. (…) Es gab un- dass es Gespräche über die Gründung mittelbar nach dem Mauerfall eine Ein- einer sozialdemokratischen Partei gab. ladung vom Parteivorstand in Bonn an Ich habe Informationen über die Ent- alle Bezirksgeschäftsführer der Partei, wicklung der sozialdemokratischen Partei um zu beraten, was jetzt unsere Aufga- in der DDR aus den öffentlich zugäng- be sei. Was können wir und was müssen lichen Medien und über die Kanäle zu wir tun. Es kam zu der Lösung, dass die besser informierten Berlinern zur Kennt- sogenannten grenznahen Parteibezirke, nis genommen. Bereits Anfang 1989 beispielsweise Hessen Nord und Fran- gab es die ersten Mitteilungen, dass in ken, den Auftrag bekamen, zu ersten der DDR etwas geschehen würde. Keiner Gesprächen bzw. Zusammenkünften ein- von uns hat aber damit gerechnet, dass zuladen. Ohne jede Vorbedingung, weil es dann zu einem solchen Ergebnis kom- niemand wusste, wie es konkret funkti- men würde. Man wusste nur, es bildet onieren würde. Als ich zurückkam, habe sich etwas und es wird diskutiert. Man ich sofort den Landesvorstand und die hatte auch durch die Leipziger Montags- Geschäftsführung informiert und bekam demonstrationen mehr und mehr den den Auftrag, für den Landesverband Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 45

Hessen diese Gespräche zu organisie- Die einkommenden Mittel sollten für ren. (…) Die Signale jenseits der Grenze den organisatorischen Aufbau der SPD kamen. Sie kamen in einem solchen Um- in Thüringen zur Verfügung gestellt wer- fang, dass wir uns über eine erste offi- den. Die Marken wurden in sehr großem zielle Zusammenkunft von thüringischen Umfang abgenommen. Es war aus der und hessischen Genossen in Herleshau- Geschichte vor 1933 bekannt, dass das sen verständigten. (…) Wir wussten da- Land Thüringen eigentlich ein ursozial- mals nicht, was da alles konkret bespro- demokratisches Land ist und historische chen werden sollte. Wir sind dorthin Stätten beheimatet, aus denen die Sozi- gefahren und es waren etwa 50 Per- aldemokratie hervorgegangen ist. Das sonen aus Thüringen anwesend, die sich war eine ganz besondere Verpflichtung als Sozialdemokraten zu erkennen gaben für uns. Der Landesvorstand entschied, und sagten: Wir wollen mit Euch ge- dass die eingegangenen Mittel vom Lan- meinsam die SPD auch in Thüringen wie- desschatzmeister verwaltet und von mir der zum Leben erwecken. (…) Ich habe exklusiv abgerufen und in Thüringen so dann für die hessischen Sozialdemo- eingesetzt werden können, dass sie dem kraten erklärt, dass wir uns außerordent- Wiederaufbau der Partei dienlich sind. lich freuen, dass wir überhaupt miteinan- (…) Ich habe dann immer nur ganz be- der reden können. Dass man versuchen stimmte Personen im Landesverband muss, sich kennen zu lernen. Dass wir Thüringen ausgewählt, denen ich be- bereit sind, alles zu unternehmen, was stimmte Geldmittel zur Verfügung stell- dem organisatorischen Wiederaufbau te. Ich bin dankbar und froh, dass wir der SPD in Thüringen dient. Aber diese die erste Anschubfinanzierung auf diese Entwicklung würde eine gewisse Zeit in Weise gesichert haben. Das hat den Auf- Anspruch nehmen. Das wurde allseits bau der Partei in Thüringen tatsächlich akzeptiert. So ergaben sich auch die ers- wesentlich gefördert, denn aus eige- ten persönlichen Kontakte. (…) Die Kon- nen Mitteln war da nichts zu bewegen. takte kamen – auch telefonisch – besser (…) Die zahlreichen Eintritte haben an- zustande, als wir alle glaubten. (…) Es fangs die Annahme gestützt, dass wir in wurden sämtliche Telefonkontakte no- Thüringen wieder einen sozialdemokra- tiert. Wir hatten eine Art Meldebogen tischen Landesverband mit Gewicht auf entwickelt. So stellte ich fest, dass eine die Beine stellen können. (…) Wir ver- große organisatorische Aufgabe auf uns ständigten uns mit den Genossen in Er- zukam. Wir mussten dem Landesvor- furt darauf, unsere Aufmerksamkeit auf stand eine Empfehlung geben, wie wir den organisatorischen Aufbau in Thürin- dem begegnen wollten. Wir wussten, gen zu konzentrieren. Dann kamen wir das kostet auch Geld. (…) Ich hatte mit zu dem Ergebnis, so, wie wir es in Hes- meinen Geschäftsführern in Hessen ver- sen gewohnt sind mit sogenannten Un- abredet, unseren Mitgliedern eine so- terbezirken, könnte es in Thüringen auch genannte Solidaritätsmarke anzubieten. funktionieren. Es gab Verwaltungsein- 46 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen heiten, die in etwa den Unterbezirken derungsgrund sein kann, Mitglied in der entsprachen. (…) Selbstverständlich soll- SPD zu werden und dort auch ein Man- te das Zentrum der Organisation Erfurt dat zu bekommen oder zu kandidieren. als zukünftige Landeshauptstadt bleiben. Dieser Gedanke stieß aber sofort auf Wi- Da sollte der Landesvorstand angesiedelt derstand. Das war unser Generalfehler. sein, der noch zu wählen war. Darun- (…) ter müsse es dann Einheiten geben, die Wie gestalteten sich dann der weitere wir in Hessen als sogenannte Unterbe- organisatorische Aufbau des Landes- zirke bezeichnen. Das wurde allgemein akzeptiert. Dann wurde als nächstes die verbandes und die Vorbereitung des Frage nach dem Personal gestellt. Es war Gründungsparteitages in Gotha? nicht ganz einfach, Personal zu finden, Unter Zuhilfenahme von Rudi Arndt mit dem ich und andere aus den west- bekamen wir innerhalb von 24 Stunden lichen Bundesländern – gestützt auf die unser Büro im „Haus der Deutsch-Sowje- funktionierende Organisation – heran- tischen Freundschaft“. Dort mussten wir gehen sollten, vergleichbare Verhältnisse ein Büro des Landesverbandes einrich- in Thüringen zu schaffen. (…) Ich habe ten. Landesgeschäftsführer sollte Frank den Genossen in Thüringen gesagt: Wir Ritter werden, der ehrlich gesagt hatte, müssen jetzt einen Funktionärsapparat dass er Kandidat der SED gewesen war. schaffen, der den vielen Erfordernissen Ich habe ihm entsprechend erklärt, wel- entspricht, die jetzt auf euch zukommen che Aufgabe es ist, eine solche Landes- und die noch nicht richtig absehbar sind. geschäftsstelle einzurichten. Wie viel (…) Personal man braucht, wie viel Geld das Welche Position nahmen die hes- kostet, welche Materialien wir benöti- sischen Sozialdemokraten in der gen. Ich merkte, dass er besten Willens, Frage des Umgangs mit ehemaligen aber überfordert war. Es konnte auch Mitgliedern der SED und der Block- gar nicht anders sein. (…) parteien ein? Dann standen wir vor der Frage der Ich habe festgestellt, dass in der Gründung des Thüringer Landesver- Frage ehemaliger Mitgliedschaften in der bandes. Es war ganz wichtig, dass sofort SED eine nahezu unüberwindliche Hürde der Name Gotha fiel. Erfurt hatte nicht bestand. (…) Ich hatte meine Freunde den Gothaer Rang. In Gotha existier- keinen Moment lang darüber in Zweifel te noch die historische Gründungsstätte gelassen, dass ich keiner Entscheidung der Sozialdemokratie. Unberührt und als zustimmen würde, die nicht einigerma- Museum geführt. Darin sollte der Grün- ßen sicher das Personal als unbelastet dungsparteitag stattfinden. (…) Es gab erscheinen lässt. (…) Es sei denn, man im Laufe des Parteitages drei Mal eine fällt eine Entscheidung, die dem Bür- Bombendrohung. Die ignorierten wir ger klar macht, dass eine ehemalige ein- aber, weil wir wussten, dass das Haus fache Mitgliedschaft in der SED kein Hin- gesichert ist. Es konnte nichts passieren. Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 47

(…) Am Abend sollte Willy Brandt wäh- Franken orientiert. rend einer Kundgebung auf dem Haupt- Können Sie sich noch an den Volks- markt zu den Menschen sprechen. Es kammerwahlkampf erinnern? Wie kam ein Mann von der Stadtwirtschaft hat man angesichts der vorherigen zu mir und teilte mit, dass er den Platz positiven Umfragen das ernüch- nicht beleuchten könne. (…) Da habe ich ternde Abschneiden der SPD betrach- mich ins Auto gesetzt und bin nach Her- tet? Welche Folgen hatte das schlech- leshausen gefahren und habe mit dem te Ergebnis? dortigen Bürgermeister gesprochen. Wir haben uns zwei „Giraffen“ der ört- Sowohl Helmut Kohl als auch Willy lichen Feuerwehr ausgeliehen und uns Brandt hielten Großveranstaltungen in am Grenzübergang verabredet. Ich habe Erfurt ab. An dem Tag, als Kohl auf den mich daraufhin telefonisch mit der Volks- Domstufen verkündete, dass es über- polizei verständigt. Die Zusammenarbeit haupt keine Probleme damit gäbe, dass mir der Volkspolizei war exzellent. (…) sich die neuen Länder in der DDR der Es kam also die Feuerwehr mit zwei „Gi- Bundesrepublik anschließen und dass raffen“ angefahren und mit Begleitung die D-Mark bald nach Thüringen käme. der Polizei fuhren sie nach Gotha weiter. Von dem Tag an war mir klar, dass die Und so wurde die Beleuchtung gewähr- Sozialdemokratie diese Wahl nicht ge- leistet. Keiner hatte mitbekommen, dass winnen kann. Egal wo ich hinkam, sagte es da Probleme gab. (…) man mir: Das Geld bringt die CDU und ihr passt auf die Rentner auf. Ich habe Es wurde ein Landesvorstand ge- das auch an die entsprechenden Stellen wählt, der den Erfordernissen der Sat- in Bonn und Wiesbaden gemeldet und zung der SPD entsprach, der auch den dort gesagt: Das sozialdemokratische Erfordernissen des Wahlgesetzes ent- Sachsen und Thüringen können wir ver- sprach. Bis auf eine Geschichte, die dann gessen. Das wird nichts, weil der dama- später noch häufiger passierte. Die Leute lige Kanzlerkandidat Lafontaine das alles waren nicht ehrlich und gaben nicht zu, in Eisenach, in Gotha, in Erfurt bezwei- was sie für Vergangenheiten hatten. (…) felte. Ich dachte mir insgeheim: Mein In der Zwischenzeit hatten die hessischen Gott, Oskar, kannst Du nicht an der Stel- Sozialdemokraten Patenschaften über- le den Mund halten. Nein, er ist auf den nommen zu den jeweilig neu gebildeten Kosten herumgeritten und hat damit die Unterbezirken. Es hatte sich glücklicher- Wahl kaputt gemacht. (…) Der Wahlsieg weise sofort stabilisiert. Man traf sich re- der CDU bei der Volkskammerwahl war gelmäßig und kannte sich durch mehre- für mich kein so schreckliches Erlebnis, re Zusammenkünfte. So hatte jeder neu weil ich Antennen entwickelt hatte und gebildete Unterbezirk im Land Thüringen wusste, wie die Stimmungen sind. Für einen sozialdemokratischen Partner-Un- unsere Freunde in Thüringen war das ein terbezirk im Land Hessen. Der Bereich verheerendes Signal. Die zweifelten an Gera in Ostthüringen hatte sich nach sich. Die zweifelten an uns. Im Nu hat- 48 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen ten wir die Hälfte der Leute, die sich bis dato als Mitglieder der SPD bezeichne- ten, schon wieder verloren. Die richteten sich nach der D-Mark und waren weg. (…) Dann stand die Frage im Raum, wie die deutsche Einheit realisiert werden sollte. Da brachte Lafontaine den Ge- danken ein, dass eine Konföderation der bessere Weg sei. (…) Darüber brauchten wir uns aber nicht mehr all zu viele Ge- danken machen, nachdem Kohl das Ver- sprechen der blühenden Landschaften gab und dass die Westdeutschen das aus der Portokasse bezahlen. (…) Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 49

Frieder Lippmann (Saalfeld)

Jahrgang 1936, geboren in Dorfchemnitz Hauer im sächsischen Steinkohlen- und Erzbergbau 1960 Absolvent der Bergingenieurschule Zwickau Fernstudium an der Bergakademie Freiberg Steiger in der Eisenerzgrube Schmiedefeld seit 1965 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der „Maxhütte“ in Unterwellen- born bei Saalfeld Mitglied der Volkskammer von März bis Oktober 1990 Mitglied des Thüringer Landtags 1990 bis 2004 Fraktionsvorsitzender der SPD im Thüringer Landtag 1994 bis 1999 Bild 8: Frieder Lippmann, Mitglied des Landesvorstands der Thüringer SPD 1994 bis 1999 1990

Ich wurde im Jahr 1936 als Kind einer verstand – auslösende Momente. (…) Im Arbeiterfamilie geboren. Mein Großvater Juli habe ich mir auf der Rückreise aus war Sozialdemokrat, aber das ist nicht Ungarn gesagt, jetzt tue ich was. Dieses überkommen, da er starb, als ich zehn Hinhalten geht nicht mehr so weiter. Ich Jahre alt war. (…) Ich bin über die Medi- habe mich im August 1989 hingesetzt en, über Fernsehdebatten zur Sozialde- und ein kleines Programm geschrieben. mokratie gekommen und habe mich mit Die wesentlichen vier Punkte waren: Wir den damals führenden Sozialdemokraten wollen eine parlamentarische Demokra- identifiziert, ich habe sie gemocht. Das tie, was freie Wahlen und Parteien ein- war allerdings nur ein oberflächliches In- schloss; wir wollen einen föderalen Staat teresse. (...) in den alten Ländergrenzen bilden; wir wollen ein ökologisches System einer so- Wie haben Sie den Weg zur Sozialde- zialen Marktwirtschaft: Der vierte Punkt mokratie gefunden und wie gestalte- war eine Form der Konföderation, denn te sich die Gründung des SDP-Orts- ich bin davon ausgegangen, dass eine verbandes Saalfeld im Herbst 89? Vereinigung der beiden deutschen Staa- Wir hatten in den letzten zehn Jah- ten auf Jahre hinaus nicht möglich ist. ren der DDR eine Entwicklung, die die Das schloss eine sofortige Einheit aus. Basis für die friedliche Revolution vor- Wir wagten gar nicht daran zu denken. bereitet hat. Für mich waren Solidar- Auf dieser Basis habe ich insgesamt zehn nosc, die Charta ´77 und die Ereignisse Mitstreiter gesammelt. Die stammten auf dem „Platz des himmlischen Frie- alle aus dem Bereich der sogenannten dens“ in Peking bzw. die Positionen der technischen Intelligenz, bei denen sich Blockparteien und der SED – die das be- später herausgestellt hat, dass uns kei- jubelt haben, was kein ehrlicher Mensch ner verraten hat. Zwei sind später ausge- 50 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen treten. Die Gruppe gründete sich in der kunft der Vertreter von Ortsverbänden Nacht im September ´89 bei mir in der und Basisgruppen. Die Versammelten Gartenhütte.28 Wir diskutierten die Pro- hatten zwei Dinge im Blick: zu spüren, grammpunkte und hatten keine Ambiti- dass man nicht alleine ist. Das ist gelun- onen, eine sozialdemokratische Partei zu gen. Es kamen Vertreter aus Gotha, Ei- gründen. Wir wollten ganz einfach die senach, von überall her. Wir wollten eine sich unter dem Dach der Kirchen etab- SPD gründen und in Thüringen sollte lierenden Gruppen, die sich früher mit der erste Landesverband entstehen. Das Umwelt und politischen Freiheitsrechten wurde dort beraten und ist mit großem befassten, nachahmen. Wir wollten so Jubel beschlossen worden. eine Gruppe bilden, aber keine einfache Dann kam im Januar ´90 der Verei- Vereinigung sein, sondern eine Partei bil- nigungsparteitag in Gotha, wo wir uns den. Möglicherweise schwebte einigen alle wiederfanden. Im Anschluss fand von uns vor, eine sozialdemokratische auf dem Hauptmarkt eine Großkundge- Partei zu gründen. Im Oktober erreichte bung statt. Ich stand auch mit eingekeilt uns die Nachricht von der Gründung der in der Menge und habe Willy Brandt zu- SDP in Schwante. (…) Es kam dann zu gejubelt. ersten losen Zusammenkünften. Es gab den Auftrag, über Kontaktpersonen Ver- Wir genossen von Anbeginn logis- bindungen zu anderen Basisgruppen der tische Unterstützung von Freunden der SDP aufzunehmen. Ich habe diese Ver- SPD in Bayern, insbesondere aus Fran- bindungen über Simone Manz, einer ken. Die Partnerstadt von Saalfeld war Kulmbach. Die Partnerschaft gab es Zahnärztin, die zur damaligen Zeit in Ru- schon vor der Wende. Wir machten uns dolstadt ansässig war, aufgenommen. zu dritt dorthin auf … Und dann haben Wir haben vereinbart, untereinander sie uns mit Kopierern versorgt und mit Kontakte aufzunehmen. Dazu gehörten dem ganzen Kram, der heute selbst- Greiz, Gera, Pößneck und Saalfeld. Wir verständlich ist und über den niemand taten das mehr sporadisch als strukturell mehr redet. Sie berieten uns, wie man organisiert. Wir trafen uns gelegentlich. eine Parteistruktur aufbaut, was alles zu Welche Vorbereitungen wurden für erledigen ist. Kein Mensch von uns hatte die Gründung des Landesverbandes irgendwelche Organisationserfahrung, getroffen und wann gab es die ers- zumal beim Aufbau politischer Parteien. ten Kontakte zu Sozialdemokraten in (…) der Bundesrepublik? Wie gestaltete sich der Volkskammer- In der „Harrasmühle“ kam es zu wahlkampf? Inwiefern hat die Posi- einer ersten denkwürdigen Zusammen- tionierung zur Frage der deutschen Einheit eine Rolle für das Abschnei- 28 Zum ersten Auftritt der SDP in Saalfeld kam es am den bei der Wahl gespielt? 10. November 1989. Die offizielle Gründungsveranstal- tung fand wenige Tage später am 30. November statt. Irgendwann gab es die Delegierten- Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 51

Handzettel der Erfurter SDP zur Frage der deutschen Einheit und zu ihren zentralen politischen Zielen (Dezember 1989) konferenz in Berlin29, auf der die SDP Beruf mit sich. Aber an 21 Prozent hatte in SPD umbenannt wurde. Später kam ich auch nicht gedacht. Es gab im Febru- dann die Volkskammerwahl, für die Kan- ar ´90 den Parteitag in Leipzig, auf dem didaten gesucht wurden. Die Kandi- sprach. (…) Ich habe daten wurden bezirksweise aufgestellt. die Rede von Lafontaine im Vorfeld ge- Ich wurde im Bezirk Gera auf Listen- lesen, da wusste ich, dass wir die Volks- platz 3 nominiert und kam in die Volks- kammerwahl grandios verlieren. Die Vor- kammer. Im Wahlkampf waren wir ver- behalte gegen eine sofortige deutsche wöhnt und euphorisch gestimmt durch Einheit, die Lafontaine in seiner Rede be- die sogenannten Umfragen. An die ab- nannte, und die damit zusammenhän- solute Mehrheit hatte ich nicht geglaubt, genden finanziellen Belastungen, die dieses gesunde Misstrauen brachte mein die Bundesrepublik gar nicht schultern könne … also es strotzte nur so von Ab- lehnung gegenüber einer schnellen und 29 Am 13. Januar 1990 erfolgte die offizielle Umbenen- nung der SDP in SPD. unmittelbaren Vereinigung nach Artikel 52 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

23 GG. Das war für mich das Schlüssel- Sie hatte Gesprächskreise zugelassen erlebnis. Ich habe dann auch mit mei- und unterstützt. Das war für mich beein- nen Parteikollegen darüber gesprochen. druckend. (…) Ich sagte zu ihnen: Wenn diese Rede be- Das „Neue Forum“, der „Demokra- kannt wird, werden die Wahlen ein De- tische Aufbruch“ und „Demokratie Jetzt“ saster. Und so ist es dann auch gekom- waren für mich Gruppen, die einen Feh- men. Wie der Wahlkampf im Einzelnen ler hatten, sie institutionalisierten sich gelaufen ist, kann ich nicht mehr genau im Gegensatz zu uns nicht. Das war das sagen. Ich weiß nur noch, dass er mit Verdienst von Markus Meckel. (…) unsäglich wenig Mitteln geführt wurde. Kein Mensch hatte Geld – zumindest in Wie haben sich die Saalfelder Sozi- diesen neu gegründeten Formationen. Es aldemokraten in der Frage des Um- wurde meistens im Rahmen von Kund- gangs mit ehemaligen SED-Mitglie- gebungen Wahlkampf gemacht. Ich bin dern verhalten? hier mehrfach in Dörfern und Städtchen Wir haben in Bezug auf ehemalige auch mit fränkischen Genossen zusam- Mitglieder der SED den Fehler gemacht, men aufgetreten. und das ist ein Vorwurf, den ich mir auch Im Übrigen hat sich schon während selbst gefallen lassen muss, dass wir der friedlichen Revolution die Einstellung allzu rigide eine Aufnahme von denen der Menschen ein wenig geändert. Der verhindert haben. Es gab 2,2 Millionen Gemeinsinn, der zu den Massendemons- SED-Mitglieder in der DDR. Von denen trationen geführt und der die Menschen waren garantiert 1,8 Millionen ganz sim- verbunden hatte, individualisierte sich. Es ple, einfache, ehrliche Leute, die aus ir- wurde erkennbar, dass das mit der deut- gendwelchen Überredungsgründen, um schen Einheit wohl doch nicht ganz so ihre Familie oder Kinder zu schützen, in einfach sei. Viele fürchteten plötzlich um die SED gekommen sind. Das war ein ihre berufliche Existenz. Aus „Wir sind Fehler. Wir fühlten uns damals so stark, das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Die dass wir dachten, wir kommen auch späteren Losungen „Weg mit der SED“ ohne die aus. Gleichwohl sind meine oder „Keine Schonfrist für Wendehäl- Vorbehalte gegenüber dieser Partei stark se“, die gab es anfangs noch nicht. Das und ungebrochen. Ich hatte befürchtet, wurde politisch eindeutiger, das änderte wenn wir die alle nehmen, dann bekom- sich. Aber das Engagement mitzuhelfen, men wir einen Haufen Opportunisten nahm deutlich ab. Das schmälert nicht und Wendehälse, die bei jeder Wende, das Verdienst derjenigen, die es angesto- wohin auch immer, mit dabei sind. Das ßen haben. Neben den außenpolitischen wollten wir nicht. Aber nicht alle waren waren es eben auch die innenpolitischen Opportunisten, nicht alle suchten vom Voraussetzungen. Vor allem die Initiati- ersten Tag an ihren persönlichen Vorteil. ve der Evangelischen Kirche, vor der ich Die anderen Parteien in der Bundesrepu- heute noch sehr großen Respekt habe. blik hat das nicht interessiert. Sie haben Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 53 die Blockparteien ganz einfach verein- zu restabilisieren. Dazu gehörten der nahmt. Die brachten ihre Strukturen, Personalwechsel und der Politikwech- das Geld und die Personen ein. Wir hat- sel. Die Reisefreiheit war dann gege- ten weder ausgeprägte Strukturen noch ben und es gründeten sich auch wieder Geld oder die entsprechenden Köpfe, Parteien. Und es gehörte noch das Sys- um in der ersten Liga mitspielen zu kön- tem der „Runden Tische“ hinzu, die ich nen. Da hatte Kohl das Gespür zu ahnen, nie gemocht habe. Für mich waren die wie man eine Wahl gewinnen kann. Das „Runden Tische“ eine Methode, um das hatte die westdeutsche SPD erst viel zu alte System wieder zu reorganisieren. spät erkannt. Sie haben ja letztlich auch nicht funkti- oniert. Der „Runde Tisch“ in Berlin ist ja In Bezug auf die deutsche Einheit schlussendlich mit Pauken und Trompe- haben wir in der SDP/SPD gesagt: Wir ten gescheitert und die anderen „Run- brauchen einen Vertrag und eine ge- den Tische“ auch. Ich habe persönlich meinsame Verfassung, wie in Artikel 146 am Saalfelder „Runden Tisch“ zwei Mal GG beschrieben. (…) teilgenommen. Was ich dort erlebt habe, Gab es massive Übertritte von ehe- hat mich in dieser Meinung nur noch ge- maligen SED-Mitgliedern oder ent- stärkt. Da waren plötzlich alle wieder da, sprechende Befürchtungen? die Vorsitzenden des Rates des Kreises, verschiedene Funktionäre, Vertreter des Ich weiß von einer massiven Über- FDGB – alle waren plötzlich wieder da. trittswelle von SED-Mitgliedern in die Die bekamen dadurch plötzlich wieder SDP nichts. Dass sich bestimmte Mit- eine Bedeutung. Da dachte ich mir, dass glieder der SED Gedanken gemacht und ist der falsche Weg. So funktioniert das gesagt haben: lasst uns doch zu denen nicht. Es hat zum Glück nicht funktio- gehen, die momentan eine linke Partei niert. Aber mit dieser Meinung stand ich darstellen, das mag wohl sein. Aber es damals allein. Viele sahen darin Basisde- ist mir zumindest nicht bekannt, dass es mokratie. Aber das war es nicht. Es war massive Übernahmeangebote von dieser ein Versuch, das alte System mit neuen Seite gab. Ich wüsste auch nicht, dass Mitteln zu reanimieren. das anderswo der Fall gewesen wäre. Inwiefern haben Sie versucht, an die Wie haben Sie die Entwicklung in der stolzen Traditionen der Sozialdemokra- Parteiführung der SED damals bewer- tie in Thüringen anzuschließen? Wel- tet? Glaubten Sie an eine Reformfä- che Rolle spielte für Sie das Ziel des higkeit der Staatspartei und des poli- „demokratischen Sozialismus“ im Ber- tischen Systems in der DDR? liner Programm vom Dezember ´89? Ich glaube schon, dass die SED zum Ich selbst habe die Formulierung „de- damaligen Zeitpunkt (Oktober/Novem- mokratischer Sozialismus“ nie in den ber ´89) die Absicht hatte, das poli- Mund genommen. Die war diskredi- tische System mit liberaleren Mitteln tiert. Ich hatte das im Gefühl und hätte 54 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen es deshalb auch nicht benutzt. Ich habe mehr gegeben hätte. Aber sie gab es. Sie auch jahrelang in allen Parteitagsreden wurde nicht verboten. Und so mussten niemals das Wort „Genosse“ benutzt. wir als linke Volkspartei damit leben, mit Ich sagte immer: „Liebe Parteifreun- der alten SED und deren Nachfolgeorga- dinnen und Parteifreunde“. Beim ersten nisation identifiziert bzw. damit konfron- Mal entschuldigte ich mich noch, später tiert zu werden, mit ihnen kooperieren nicht mehr. Dann wurde es zum Marken- zu wollen. Die Rote-Socken-Kampagne zeichen. (…) Ich hatte kein Problem mit war ein ganz schlimmer Vorwurf, gegen dem Umgang der westdeutschen Sozi- den nicht anzukommen war. (…) aldemokraten, sondern mit dem mas- Wie hat sich die Mitgliederzahl in siv diskreditierten Sprachgebrauch in der Saalfeld in den ersten Monaten ent- DDR. Mit den Traditionen der Sozialde- wickelt? Kam es zu einem Einbruch mokratie bzw. der Arbeiterbewegung nach dem schlechten Abschneiden hatte ich überhaupt nichts im Sinn. Wir bei der Volkskammerwahl 1990? hatten damals keine Zeit dafür. Uns ge- nügten die Prinzipien der Sozialdemo- Wir hatten bis zum Jahresbeginn kratie. Unter dieser Fahne taten wir alles, 1990 einen großen Mitgliederzulauf. was in dieser Zeit nötig war. Ich befass- Aber darüber gibt es keine konkreten te mich zum damaligen Zeitpunkt weder Zahlen. Es kamen viele Leute, die sich in mit den Traditionen der Saalfelder So- unserem Büro einschreiben wollten. Sie zialdemokratie noch mit denen in der taten das aber zumeist locker und un- alten Bundesrepublik, sofern ich sie nicht verbindlich. Wenn es darum ging mitzu- schon kannte. Es mag ein Makel gewe- arbeiten, beispielsweise im Wahlkampf, sen sein. Aber er ist aus den Umständen dann war die Bereitschaft bei vielen we- erklärbar. Für mich war die wichtigste niger ausgeprägt. Es sind dann viele nicht Zäsur der SPD das Godesberger Pro- mehr wiedergekommen oder haben gramm mit seinem Bekenntnis zur sozi- ihren Austritt erklärt. Das waren aber die alen Marktwirtschaft. (…) wenigsten. Wir hatten zu unseren bes- ten Zeiten ca. 160 Mitglieder in Saalfeld. Welche Rolle spielte für Sie im Wahl- (…) Aber als die Volkskammer dafür ver- kampf die Gleichsetzung von SPD antwortlich gemacht wurde, dass sie die und PDS? wegbrechenden Arbeitsplätze nicht ret- Wir waren fassungslos gegenüber ten könne, da verloren auch die neuen dieser infamen Behauptung. Uns hatten Parteien zahlreiche ihrer Mitglieder. Das diejenigen Vorwürfe gemacht, die ei- betraf ja nicht nur die SPD, sondern auch gentlich selbst „Blockflöten“ waren und die anderen Parteien und die Gewerk- das über Jahrzehnte praktiziert haben. schaften. Die Leute versprachen sich Aber es war ein Totschlagargument, etwas, soziale Sicherheit, sichere Ein- gegen das man nicht ankommen konnte. kommen, eine gewisse Solidität. Das Es wäre nur möglich gewesen, wenn es war nicht zu machen, zumindest nicht in die Nachfolgeorganisation der SED nicht dem halben Jahr, das der Volkskammer Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 55 zur Verfügung stand. Und mit dem Treu- handgesetz war es dann ganz aus. Gab es Vorabsprachen bei der Wahl des ersten Landesvorstandes in Gotha? Kam es beispielsweise bei der Besetzung des unmittelbaren Füh- rungszirkels zu Konflikten zwischen den einzelnen Bezirken? Wenn ich mich recht entsinne, gab es keine Vorabsprachen zwischen den Bezirken. Zumindest nicht bei uns im Be- zirk Gera. Unser Unterbezirk nominierte mich und schlug mich dann auch vor. Andere Unterbezirke haben das genau- so gehandhabt. Es kam am Ende darauf an, wie man sich präsentierte und wie viel Unterstützer man auf dem Parteitag hatte. Direkte Absprache hinsichtlich der Wahl des Vorstandes gab es nicht. Das waren absolut freie und emotional ge- prägte Wahlen. Wurde der Antrag zum restriktiven Umgang mit ehemaligen SED-Mit- gliedern im allgemeinen Konsens verabschiedet? Haben die häufigen Wechsel in der Führung des Landes- vorstandes dessen Arbeitsfähigkeit eingeschränkt? Die Arbeitsfähigkeit des Landesvor- standes war zu jeder Zeit, auch nach dem überraschenden Rücktritt des Lan- desvorsitzenden nach der Volkskammer- wahl gesichert. Sie haben bei zwei Dut- zend Leuten immer ein paar dabei, die von Konflikten leben. Aber es waren ge- nügend Leute da, die pragmatisch ge- dacht haben, zu denen ich mich rechne- te. Die waren immer in der Überhand. 56 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Helmut Rieth (Gotha)

Jahrgang 1954, geboren in Blankenhain Diplomlehrer für Geschichte und Deutsch, Fachschuldozent und Berufsschullehrer Gründungsmitglied der Gothaer SDP vom 3. November 1989; 1. Sprecher der SDP-Basisgruppe Gotha; Vertreter der SDP/SPD am „Runden Tisch“ der Stadt- und des Landkreises Gotha Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik Thüringen, stellvertretender SGK-Landesvorsitzender (1990-2004) Mitglied des Kreistages Gotha (1990-2009), Mitglied des Stadtrates Gotha (1999-2009) Bild 9: Helmut Rieth (links) mit Holger Bör- Abgeordneter des Thüringer Landtages (1990-1999); ner (Hessischer Ministerpräsident 1976- Mitglied im Bildungsausschuss (1990-1994) und Innenaus- 1987 und Vorsitzender der Friedrich-Ebert- schuss (1990-1999); Leiter des Arbeitskreises Innen, Stiftung 1987-2003) am 16. November Kommunales, Justiz und Europa (1990-1999); Kommunalpoli- 1990 in Gotha tischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion (1990-1999) Vorsitzender des SPD Stadtverbandes Gotha (1994-2004); Mitglied im SPD Kreisvorstand Gotha (1990-1999) Mitglied im SPD-Landesvorstand Thüringen (1999-2003) Parteiaustritt am 8. Juli 2004

Begonnen hat bei uns in Gotha alles trafen sich von nun an Menschen in der mit den Friedensgebeten in den Kirchen Augustinerkirche, um sich über die aktu- der Stadt und den „Montagsdemons- elle Situation zu informieren und für Ver- trationen“, die in Gotha immer freitags änderungen ohne Gewalt zu beten. Ende stattgefunden haben. September waren es schon Hunderte, ja Tausende und zu wenig Platz im Kirchen- Zum 50. Jahrestag des Beginns des raum, so dass die Versammlungen mit Zweiten Weltkrieges fand Anfang Sep- Lautsprechern in den Kreuzgang über- tember 1989 in der Gothaer Schlosskir- tragen werden mussten. che ein Ökumenischer Gottesdienst statt. Neben der Erinnerung an die Kriege des Während des Friedensgebets am 20. Jahrhunderts war dieser Gottes- 27. Oktober wurde in der Augustiner- dienst besonders geprägt von Sorge und kirche der „Aufruf zur Gewaltlosigkeit“ Angst wegen der explosiven innenpoli- von Pfarrer Martin Rambow und Matthi- tischen Situation in der DDR. Trotz eines as Wienecke verlesen und verteilt. Da- ausdrücklichen Demonstrationsverbots nach ging es mit Kerzen in der Hand zogen die Teilnehmer anschließend zum heraus aus dem Augustinerkloster auf Augustinerkloster, in dem seit 1980 die den Kirchenvorplatz. Dort bildete sich Friedensdekade stattfand. Jeden Freitag spontan ein Demonstrationszug, der Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 57 mit dem Ruf: „Wir sind das Volk“ und auch anfangs der „Runde Tisch“ tagte, „Schließt euch an“ durch die Innenstadt war allein schon von ihrem Namen her und durch die dichtbesiedelten Neubau- Programm und ein trefflicher Ort, die gebiete im Stadtzentrum zog und sich SDP-Basisgruppe Gotha illegal unter dem vor dem Hauptgebäude des Rates des schützenden Dach der Evangelischen Kir- Kreises erneut, nun mit noch mehr De- che zu gründen. monstranten, 4.000, 6.000 und mehr, Im Anschluss an diese Vorstellung versammelte. Dort setzten die Verhand- hat Martin Möslein das Heft in die Hand lungsführer in langen Auseinanderset- genommen und dazu aufgerufen, eine zungen mit Ratsmitgliedern für den Basisgruppe der SDP in Gotha zu grün- nachfolgenden Sonntag auf dem Go- den. So wurde die Basisgruppe der SDP thaer Hauptmarkt eine Großkundge- gegründet. Wir waren anfangs wenige, bung durch. Am Sonntag, dem 29. Ok- vielleicht zwölf Leute, die dann wirklich tober 1989, um 14 Uhr waren weit über in die SDP eingetreten sind. Ich wurde 20.000 Bürger auf dem Hauptmarkt ver- gleich am Gründungstag zum 1. Spre- sammelt. Mit dieser ersten großen De- cher der Basisgruppe Gotha gewählt, da monstration auf dem Gothaer Haupt- schon vier Tage später ein wichtiger Ter- markt am 29. Oktober 1989 hatte die min am 7. November anstand, an dem „Friedliche Revolution vom Herbst 1989“ einer von uns für die SDP-Basisgrup- nun auch in Gotha wirklich und in aller pe Gotha sprechen sollte. Zwei Tage vor Öffentlichkeit begonnen. dem Mauerfall sollten sich im dama- Auf einer der nachfolgenden De- ligen „Klubhaus der Einheit“, in der heu- monstrationen wurde bekannt gege- tigen Gothaer Stadthalle – wo am 6./7. ben, dass Mitglieder des Gründungs- April 1946 die Zwangsvereinigung von kreises der Sozialdemokratischen Partei KPD und SPD zur SED in Thüringen statt- in der DDR (SDP) nach Gotha kämen, um gefunden hatte – alle neuen demokra- die am 7. Oktober 1989 in Schwante bei tischen Gruppen erstmals der Öffent- Potsdam neugegründete SDP, ihr Pro- lichkeit vorstellen. Dieses „Klubhaus der gramm und ihre Ziele vorzustellen. Joa- Einheit“ war für uns Sozialdemokraten chim Hoffmann und Reiner Hartmann, also wirklich ein belastetes Gebäude mit beide aus Jena, kamen am darauffol- einer unrühmlichen Geschichte. Dar- genden Freitag, am Abend des 3. No- auf Bezug nehmend erklärte ich für uns vember 1989 nach Gotha. Martin Mös- damals wenigen Gothaer Sozialdemo- lein, der damalige Pfarrer der Stadt- und kraten der SDP-Basisgruppe: „Wir zie- Margarethenkirche, sorgte dafür, dass hen heute und hier im ´Klubhaus der dieses Treffen in der Versöhnungskir- Einheit‘ die Hand aus der Zwangsvereini- che in Gotha-West, also am Rande der gung von KPD und SPD zurück, die hier Stadt, in den Gemeinderäumen bei Pfar- in diesem Hause im April 1946 für Thü- rer Martin Rambow stattfinden konnte. ringen stattgefunden hat, und werden Diese Versöhnungskirche, in der später dorthin zurückkehren, wo 1875 die erste 58 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Erstausgabe der „Gothaer Straßenzeitung“ der SDP vom Dezember 1989 Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 59 demokratische Volkspartei, die Sozialis- ren von der SED 1952 bei der Zerschla- tische Arbeiterpartei Deutschlands, die gung der Länder geschaffen, werden ir- SAP mit August Bebel und Wilhelm Lieb- gendwann aufgelöst und abgeschafft. knecht gegründet wurde, ins Gothaer Es wird die Wiedereinführung der Länder ,Tivoli‘, um die Thüringer SPD wieder- geben. Das war eine Frage der Identität zugründen!“ Das war zwar damals noch von Thüringern, Sachsen, Brandenbur- eine mutige Vision, ein Traum, aber auch gern! Diese hatte Jahrhunderte über- der „Weg zum Ziel“, um es mit Eduard lebt und wird die DDR-Identität, wenn es Bernsteins Worten zu formulieren, soll- denn eine solche überhaupt gab, auch te schneller als gedacht, nur knapp drei überleben. Die Menschen brauchen aber Monate später, am 27. Januar 1990 im historische Wurzeln und Identitäten, Beisein von Willy Brandt und Egon Bahr damit sie wissen, woher sie kommen und tatsächlich Wirklichkeit werden. wohin sie gehen! Die neugegründeten parteipoli- Ich traf mich wenige Tage später mit tischen Gruppierungen der Bürgerbe- Herrn Hebecker. Er fragte mich, wann die wegung von „Neues Forum“, „Demokra- Wiedergründung der SPD denn ungefähr tischer Aufbruch“ und SDP durften sich stattfinden sollte. Wir planten Ende Ja- also dort erstmals den Gothaer Bürge- nuar. Ursprünglich war der 30. Januar im rinnen und Bürgern vorstellen. Die Halle Gespräch. Aber das Datum ist historisch war brechend voll. Ich schätze, ca. 2.000 belastet. Das konnten wir nicht nehmen. Leute waren da. Daran nahm unter an- Also verständigten wir uns auf Samstag, deren Michel Hebecker teil, der damalige den 27. Januar. Er sagte uns damals zu, Direktor der Museen der Stadt Gotha, dass er uns unterstützen wolle. Er woll- dem das „Tivoli“ (Gedenkstätte „Go- te im Vorfeld das „Tivoli“ schließen, da thaer Parteitag 1875“) unterstand. Der es sowieso renoviert werden musste. Die kam im Anschluss zu mir und sagte mir, gesamte Ausstellung, die von der SED- dass er mich treffen möchte. Ich sagte Parteigeschichte her dominiert war, woll- ihm nochmals, was wir Gothaer Sozial- te er herausnehmen und eine kleinere demokraten vorhatten: Die Wiedergrün- Ausstellung zur Rolle der Sozialdemokra- dung der SPD Thüringen, eines Thüringer tie hineinbringen. Das wäre für ihn die Landesverbandes der SPD, der ältesten Gelegenheit, dass wir dort die Wieder- und traditionsreichsten demokratischen gründung vollziehen könnten, nachdem Volkspartei an der historischen Stätte die neue Ausstellung eröffnet ist. Ich der Vereinigung von Lassalleanern und sage heute: Wenn Michel Hebecker nicht Eisenachern im „Tivoli“ in Gotha. gewesen wäre, wären wir dort nicht hin- Wir Gothaer Sozialdemokraten dach- eingekommen, da dort die SED-Bezirks- ten damals, die DDR wird es sicherlich leitung den Daumen drauf hatte. Er, die noch eine gewisse Zeit weiter geben, evangelischen Pfarrer Martin Möslein aber die drei Bezirke Erfurt, Gera und und Martin Rambow und Eckhardt Hoff- Suhl, als künstliche Verwaltungsstruktu- mann, der evangelische Superintendent, 60 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Moderator des „Runden Tisches“ und Mitte November, stand er plötzlich vor heutige Ehrenbürger der Stadt Gotha, meiner Tür. Auch ihm ist zu danken, dass waren diejenigen, die bei uns im Hinter- die Wiedergründung der SPD Thüringen grund standen, unsere Aktivitäten wohl- mit Willy Brandt und Egon Bahr möglich wollend begleiteten und unterstütz- wurde. Er hatte ausgezeichnete Kontakte ten. Superintendent Eckhardt Hoffmann zu beiden und auch zu Hans Eichel, dem hatte auch großen Wert darauf gelegt, damaligen Kasseler OB und Landesvor- dass Willy Brandt und Egon Bahr bereits sitzenden der SPD Hessen, der ebenfalls am 26. Januar kamen, um am nächsten mit Heidi Wieczorek-Zeul, MdB aus Hes- Morgen, als Willy Brandt und Egon Bahr sen-Süd am Gothaer Wiedergründungs- zum „Tivoli“ gingen, in die Augustinerkir- parteitag teilnahm. Ohne die hilfreiche che zu einem Treffen zu kommen. Dort Unterstützung der SPD Hessen hätten hatte der Superintendent Hoffmann sei- wir wenigen Gothaer Sozialdemokraten nen Sitz. Vor dem Wiedergründungspar- (ca. 40 Mitglieder im Dezember 1989) teitag hat dort dann auch ein Gespräch diese Herkules-Aufgabe nicht bewältigen zwischen der evangelischen Landeskir- können. che Thüringen, Willy Brandt und Egon Denn die Mitgliederzahl der SDP-Ba- Bahr stattgefunden. Ibrahim Böhme war sisgruppe Gotha entwickelte sich da- damals nicht dabei. Er kam erst später. mals sehr langsam und verhalten. Wir trafen uns aber regelmäßig. Über meine Die hessische SPD-Landtagsfraktion Frau (Bärbel Rieth) kamen wir zu einem hatte ursprünglich ein Treffen in Eise- Versammlungsort in Gotha, für den wir nach mit dem damaligen Rat des Kreises keine Raummiete zahlen brauchten. Sie Eisenach und dem Rat der Stadt Eise- arbeitete damals noch beim VEB Her- nach anberaumt, also mit SED-Leuten. mann Haack. Im dortigen Speisesaal Letztlich konnte das noch in die rich- haben wir immer unsere öffentlichen tigen Bahnen gelenkt werden, so dass Veranstaltungen als Basisgruppe der sich die Fraktion mit den SDP-Leuten in SDP Gotha bzw. später als Ortsverband Eisenach, mit Matthias Doht und ande- Gotha durchgeführt, bevor sich dann die ren getroffen hat. Maßgeblichen An- Ortsvereine in den vier Gothaer Ortstei- teil daran hatte Robert-Andreas Kredig, len Gotha-Ost, Mitte, Süd und West bil- der aus der „Baracke“ („Erich-Ollenhau- deten und darüber der SPD-Stadtver- er-Haus“, Bundesgeschäftsstelle) in Bonn band Gotha gegründet wurde. aufgebrochen war, um als ehemaliger Mitarbeiter von Willy Brandt vor Ort die Wir hatten zum Test für den SPD- Entwicklungen zu beobachten. Er hatte Landesparteitag, da wir noch wenig Er- Kontakte in Eisenach mit Matthias und fahrung in solchen parteiorganisato- Sabine Doht, Wilfried Machallet und rischen Dingen hatten, den 20. Januar als anderen Eisenacher Sozialdemokraten Gründungsparteitag der SPD des Kreises aufgenommen. Die gaben ihm meine Gotha ausgewählt – auch im „Tivoli“. Adresse in Gotha. Eines Nachts, etwa Also eine Woche vor dem Gründungs- Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 61 parteitag der Thüringer SPD. Meine da- von 1990 bis 2002, Andreas Komenda malige Rede ist heute noch nachles- als erster Vorsitzender der SPD-Stadtrats- bar. Erster SPD-Kreisvorsitzender wurde fraktion und Dr. Gerhard Maultzsch, der Eberhardt Wolter, ein Bauingenieur aus erste SPD-Stadtverbandsvorsitzende von Gotha, der mit mir beim Wiedergrün- Gotha, dessen Nachfolger ich 1994 bis dungsparteitag der SPD Thüringen eine 2004 wurde. Jörg Gehlmann und Hein- Woche später als Delegierter den Go- rich Bilda, Gabi und Bodo Weise und thaer SPD-Kreisverband im „Tivoli“ ver- Peter Laskowski aus Hanau, späterer Fi- trat. Nach den Kommunalwahlen vom nanzdezernent der Stadt Gotha von 6. Mai 1990 wurde er Baudezernent der 1990 bis 1994 und Interims-Landesvor- Stadt Gotha und Vorsitzender der SPD- sitzender der SPD Thüringen nach dem Kreistagsfraktion. Auch er hat eine uner- Rücktritt von Bernd Brösdorf sowie dem müdliche Aufbauarbeit geleistet, bis er damaligen Betriebsratsvorsitzenden von 1994, als die SPD mit Volker Dönitz erst- Ratio-Projekt und späteren Oberbürger- mals in Gotha den Oberbürgermeister meister der Stadt Gotha Volker Dönitz stellte, aus der SPD austrat. (1994-2006) sind als Gründungsaktivis- ten der SPD Gotha ausdrücklich an die- Gleiches gilt für Andreas Komenda, ser Stelle zu würdigen. der gleich, einen Tag nach dem Mauer- fall am 9. November, zur SPD in Salzgit- Wir sind als SDP/SPD im heißen ter (Partnerstadt von Gotha) und zum Herbst ´89 angetreten, um der SED als Oberbürgermeister Hermann Struck und System- und Staatspartei einer kommu- Gert Metell, dem SPD Vorsitzenden von nistischen Diktatur den Kampf zu erklä- Salzgitter, aufbrach und erste SPD-Kon- ren. Das begann mit Schwante und das takte hergestellt hatte. Da ging es ganz haben wir so übernommen. Wir waren konkret darum, wie uns die SPD Salz- uns einig, dass das Machtmonopol der gitter beim organisatorischen Aufbau SED in der DDR gebrochen werden muss. helfen kann. Wir hatten damals nur die Das galt auch für die in der Nationalen Struktur als Basisgruppe. Einen Kreisver- Front vereinten Blockparteien. band oder Landesverband gab es noch Am 4. Dezember 1989 nahm ich an nicht. Da der Kreis Gotha der zweitgröß- einem konspirativen Treffen von 64 Thü- te der DDR war, schien es uns aber wich- ringer Sozialdemokraten aus den Bezir- tig, einen Kreisverband zu gründen. Wir ken Erfurt, Gera und Suhl in der „Harras- wollten hier ein politisches Zeichen set- mühle“ im Pößnecker Wald teil. Da ging zen. Auch bei der Gründung des Landes- es um die Wiedergründung der SPD Thü- verbandes, um zu zeigen, irgendwann ringen. Wir Gothaer wollten das an der wird das Land Thüringen wiedererste- historischen Stätte von 1875 im „Kalt- hen. Das sollte ein symbolischer Akt sein. wasserschen Saal“ des Gothaer „Tivo- Eine wichtige Rolle spielten auch Gerhard li“ tun. Es gab auch nicht unwesentliche Neumann, der spätere Volkskammerab- Stimmen, die die Gründung von Be- geordnete und Bundestagsabgeordnete zirksverbänden forderten und favorisier- 62 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen ten. Ich vertrat die Gothaer Position und Rede: „Wir brauchen die Einigkeit der nannte auch gleich den Termin, den 27. Deutschen in einem geeinten Europa. Januar 1990, und den historischen Ort. Ohne die Einigkeit der Deutschen wird Das war uns sehr wichtig – auf den An- es kein geeintes Europa geben!“ Da gab fang kommt es bekanntlich an! Doch es Beifallsstürme, Willy-Rufe und die mit- das war nicht von Anfang an von allen gebrachten Deutschlandfahnen wurden so gewollt. Wir bekamen damit auch ein euphorisch geschwenkt. paar Probleme in der Diskussion. Erst als Wir sind damals als SDP Gotha auch ich sagte, dass wir uns in Gotha mit ca. schon für ein geeintes Europa ange- 40 Sozialdemokraten in der Vorberei- treten: „SDP Gotha – europa- und zu- tung und Organisation gemeinsam mit kunftsorientiert“ stand auf unseren Auf- unserer Partner-SPD aus der Partnerstadt klebern und Buttons. Das schrieb sich Salzgitter und dem Partner-SPD-Kreisver- die SDP schon sehr früh bei ihrer Grün- band Hessen-Süd dafür engagieren wol- dung in Schwante am 7. Oktober 1989 len und die Verantwortung dafür bereit auf ihre Fahne. Ein geeintes Deutschland sind zu übernehmen, war plötzlich das über eine Konföderation als Ziel. Dass es Eis gebrochen! Es gab dann eine Abstim- dann so schnell ging, haben wir nicht er- mung und die Mehrheit entschied sich wartet und auch nicht ahnen können. für den 1. Landesparteitag zur Wieder- Später hörte ich Willy Brandt dann in der gründung der SPD Thüringen an histo- Baracke bei einer SPD-Vorstandssitzung, rischer Stätte, dem „Tivoli“ in Gotha. an der ich als Gast teilnehmen durfte, zu Für mich gab es von da an eine Auf- Oskar Lafontaine sagen: „Oskar, die Ein- bruchstimmung, getragen von sehr viel heit wird kommen und sie hat keinen Euphorie. Wir wollten aus kleinen Din- Preis, aber wir müssen sie uns etwas kos- gen Großes machen und die Grün- ten lassen!“ dung mit einem symbolischen Akt ver- Die Rechnung, die Lafontaine zu den binden. Hier kam mir mein Wissen aus Kosten der deutschen Einheit aufge- meinem Diplom-Studium zugute, denn macht hat, schadete uns ungeheuer im das Motto zur Vereinigung von „Eise- Wahlkampf 1990. Das hat die Menschen nachern“ und „Lassalleanern“ hieß 1875 im Osten erschreckt und von der SPD in Gotha „Einigkeit in der Einheit“. Für weggetrieben. Fiskalisch betrachtet hatte uns als Gothaer Sozialdemokraten hat Oskar sicher nicht unrecht, aber emoti- der Vereinigungskongress von 1875 eine onal und auf der Höhe der Zeit bei den symbolische Bedeutung gehabt. Das Menschen in solch historischer Stunde Motto von 1875 griff Willy Brandt am 27. zu sein, das ist der Appell Willy Brandts Januar abends auf dem Gothaer Haupt- schon in Gotha am 27. Januar 1990 ge- markt vor 100.000 Menschen wieder auf wesen! und erweiterte es zu der Vision von der „Einigkeit der Deutschen in einem geein- So folgte auch der Schwenk von „Wir ten Europa“. Er sagte zum Schluss seiner sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“ Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 63 ganz schnell. Das hing mit den Friedens- gen durchzusetzen. Wir brauchten also demos in Leipzig zusammen. Das kipp- jemanden, der parteipolitisch unbelastet te dann in eine Deutschtümelei über. war. Da schauten wir uns um und kamen Ich hatte Bauchschmerzen dabei, weil erst einmal auf Matthias Doht. Der zö- ich mir nicht vorstellen konnte, wie das gerte aber zu lange und so kam Wilfried funktionieren soll, die DDR einfach so Machalett ins Gespräch, weil er von der anzugliedern. Wir wollten erhobenen evangelischen Landeskirche her kam. Das Hauptes in die deutsche Einheit. Ich sollte ein symbolisches Zeichen sein. Es denke, das kippte etwa Mitte Januar, so kam erst viel später heraus, dass er Kon- dass wir schon auf dem ersten Gothaer takte zur Stasi hatte. Später trat wegen Kreisparteitag am 20. Januar in Richtung derselben Vorwürfe auch sein Nachfol- einer deutschen Einheit argumentierten, ger Bernd Brösdorf als Landesvorsitzen- weil wir bei den Leuten auf der Straße der zurück. waren und wussten, wie das Volk dach- Das war ein ganz, ganz schwerer An- te. „Kommt die D-Mark nicht zu uns, fang mit unseren Vorsitzenden, dazu gehen wir zur D-Mark!“ Unvorstellbar, zähle ich leider auch den „Genossen aber wahr – und gegen das Volk kann Judas“ – Ibrahim Böhme. Aber die Stasi- man keine Politik gestalten! Krake, die hat in alle demokratischen Die Zielstellung war nun klar: Keine Neugründungen hineingewirkt, nicht nur Konföderation beider deutschen Staa- bei der SDP/SPD. ten mehr, sondern die schnelle Wieder- Wir hatten also Anfang Januar 1990 herstellung der deutschen Einheit. Die die Hoffnung, dass wir einen Unbelas- Ereignisse überschlugen sich. Das ging teten aus der Evangelischen Thüringer alles unwahrscheinlich schnell. Auf dem Landeskirche als Thüringer SPD-Lan- Landesparteitag war schon klar, dass wir desvorsitzenden vorschlagen, der dann auf ein geeintes Deutschland hinarbei- auch die Mehrheit finden wird. Wir Go- ten – und so argumentierte auch Willy thaer haben Winfried Machalett unter- Brandt. stützt. Wieland Sorge war uns auch sehr Ich hatte das Gefühl, dass die dama- sympathisch. Er hatte eine ruhige, aus- ligen Bezirke Erfurt, Gera, Suhl bei der gleichende Art. Rückwirkend betrach- Entscheidungsfindung auf dem Parteitag tet wäre die SPD damals gut beraten ge- in den Köpfen der Parteitagsdelegier- wesen, hätte sie auf Wieland Sorge, den ten noch kleinteilig, separatistisch mit- späteren SPD-Bundestagsabgeordneten gedacht wurden und mitgeschwungen aus Suhl gesetzt. Eberhardt Wolter als haben, dass man versuchte, seine Leute SPD-Kreisvorsitzender und ich als Stadt- entsprechend im Vorstand zu platzieren. verbandsvorsitzender waren die einzigen Für die Westthüringer Delegierten hat- Gothaer Delegierten. Frank Ritter aus Pe- ten wir natürlich die Absicht, jemanden triroda im Landkreis Gotha hat zusam- aus Gotha, Eisenach oder Erfurt als ers- men mit Armin Hoffarth, dem Bezirksge- ten Landesvorsitzenden der SPD Thürin- schäftsführer der SPD Hessen-Nord, eine 64 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen riesige Aufbauarbeit im Hintergrund ge- meinem Geburtstag, aus dem Schul- leistet. Beide hatten sich maßgeblich mit dienst des Ministeriums für Volksbildung Frank Meyer und Rudi Arndt, ehema- der Margot Honecker entlassen zu wer- liger SPD-Europaabgeordneter aus Hes- den. Die damalige Kreisschulrätin Regina sen und Frankfurter OB, beide Mitglieder Fügmann hatte verfügt: Dieser Helmut der Erfurter SPD, um die Strukturen und Rieth kommt mir im Kreis Gotha als Leh- die Vorbereitung des Parteitages geküm- rer in keine Schule mehr rein! Das war de mert, während ich vor Ort mit Gerhard facto ein Berufsverbot, was es ja angeb- Neumann im Landkreis Gotha neue SPD- lich in der DDR nie gab! Ortsvereine gründete. Wir waren fast Heute bin ich als Politisch Verfolgter jeden Abend unterwegs, um neue Mit- der DDR anerkannt (Thüringer Landes- glieder zu werben und aufzunehmen! amt für Rehabilitierung und Wiedergut- Das war schwierig und sehr mühsam, machung, Entscheidung vom 20. Juli aber notwendig! 2000). Aber das hat damals in den Zeiten Zum Problem der Aufnahme ehema- der „Wende“ niemanden interessiert. Da liger SED-Mitglieder gab es verschiedene genügte allein schon die Nähe zur SED, Meinungen. Zum Teil sehr widersprüch- um als suspekt und verdächtig einge- liche, was den Umgang mit der SED be- stuft zu werden. Wir hatten auch unsere traf. Aber was Funktionsträger der SED Befindlichkeiten gegenüber Funktionären anbelangte, da gab es einen knallhar- der gesellschaftlichen Massenorganisati- ten Kurs, beispielsweise gegenüber ehe- onen. Es gab dann auf dem Wiedergrün- maligen Mitgliedern der SED-Kreislei- dungsparteitag in Gotha einen Beschluss tungen. Da schauten wir genau hin, und dann später auch auf dem Parteitag dass die keine SPD-Mitglieder wurden. der Ost-SPD in Leipzig, einen einjährigen Selbst bei mir gab es anfänglich Befind- Aufnahmestopp von ehemaligen SED- lichkeiten, obwohl ich seit 1984 nur ein- Mitgliedern zu verfügen. Danach wurden faches SED-Mitglied war, eingetreten, einfache SED-Mitglieder aufgenommen, um Gorbatschows „Neues Denken“ auch wenn der Ortsverein das so entschieden in der SED transparent zu machen. Im hatte, doch damit hatten wir viele sozi- Mai ´89 wurde ich wegen eindeutig so- aldemokratisch gesonnene ehemalige zialdemokratischen Gedankengutes und SED-Mitglieder verprellt und in die Arme damit parteischädigenden Verhaltens aus der wieder erstarkenden SED-PDS getrie- der SED ausgeschlossen (64 Mitglieder ben. Es gab im Vergleich zu den Block- der SED-Grundorganisation dieser Fach- parteien eine starke Fixierung auf die schule stimmten offen bei einer Enthal- SED, da wir zu Recht befürchten muss- tung dafür!), um 14 Tage später fristlos ten, den demokratischen Neuanfang als Fachschullehrer an der Fachschule für mit Massen von ehemaligen SED-Leuten Kindergärten, wo ich Deutsche Sprache in der SPD nicht bewältigen zu können. und Kinderliteratur seit 1986 unterrichtet Das war einfach der stürmischen Zeit in hatte, am 12. Juni 1989, zwei Tage nach der friedlichen Revolution und ihren Er- Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 65 fordernissen geschuldet! Später sagte möglich war. Heute könnte man meinen, man zu recht: „Die Revolution frisst ihre wir haben dadurch die LINKE erst er- Kinder!“ möglicht. Aber das werden einst Histori- ker besser bewerten, als ich es je könnte. Wir haben in Gotha nach den Volks- kammerwahlen am 18. März 1990, bei Ich habe vor 20 Jahren nur versucht, der unser Kandidat Gerhard Neumann in das Meinige und mir Mögliche mit viel die erste und letzte demokratisch frei ge- Herzblut für die neue SPD Thüringen wählte Volkskammer gewählt wurde, als und deren Wiedergründung im „Tivoli“ Josef Duchac durch Lothar de Maiziere, in Gotha im Beisein von Willy Brandt ein- beide Ost-CDU, als Regierungsbeauf- zubringen. Drei Tage durfte ich mit ihm, tragter zur Wiedereinführung des Landes damals noch im zarten JUSO-Alter, zu- Thüringen eingesetzt wurde, über des- sammensein, ihn durch Thüringen be- sen Rolle in der DDR, im Rat des Kreises gleiten – unvergesslich und prägend für Gotha, aufgeklärt, insbesondere durch ein ganzes Leben! Damals waren wir alle Heinrich Bilda. Er hat eine sehr engagier- wirklich stolz, sagen zu können: „Die Zu- te Aufklärungsarbeit betrieben, welche kunft hat wieder einen Namen – SPD!“ Rolle Duchac beim Rat des Kreises Gotha gespielt hat, dass er beispielsweise mit einem Arbeitertheater sogar im Stasi- Helmut Rieth Ferienheim in Friedrichroda als „Clown Gotha/Alexandria, November 2009 Ferdinand“ wie ein Spaßmacher für die Stasi-Leute aufgetreten ist. Wir hatten also insofern nicht nur die SED im Fokus der Aufklärung über systembelastete Funktionäre. Die Gleichsetzung mit der SED/PDS im Volkskammerwahlkampf hat uns alle sehr geschmerzt. Wir hatten mit un- serem damaligen Volkskammerkandi- daten Gerhard Neumann Gott sei Dank jemanden, der frei war von allen Belas- tungen und Verstrickungen im alten Sys- tem. Das war eine Frage der selbstbetrie- benen und bewussten Ausgrenzung, um diese Argumente der politischen Gegner im Wahlkampf nicht noch zu nähren. Wir hatten auch die Sorge, dass wir mit SED- Mitgliedern überschwemmt werden. Es war ein sehr heiß umkämpftes Thema, bei dem keine eindeutige Positionierung 66 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Ingo Scheibe (Jena)

Jahrgang 1958 Hausgerätemonteur Studium der Ökonomie und Materialwirtschaft in Apolda

Wie gestaltete sich Ihr persönlicher ber 1989 in Alt-Lobeda gegründet.30 Im Weg zur SPD, welche Motivationen Oktober hatte Christoph Matschie be- und politischen Ziele verfolgten Sie reits ein Büro als Anlaufstelle der SDP damals? Wann und wie kam es zur eröffnet.31 Dort bin ich auch hingegan- Gründung der SDP in Jena? Waren Sie gen und habe einen Aufnahmeantrag 32 an der Vorbereitung zur Gründung bei Joachim Hoffmann unterschrieben. eines Thüringer Landesverbandes be- Das war also der erste Treffpunkt. Die ei- teiligt? gentliche Gründung mit der Wahl eines Vorstandes erfolgte aber erst am 10. No- Mein Großvater war Kommunist, vember in der Kirche in Alt-Lobeda. (…) mein Vater parteilos, mein Bruder ist Den Gründungsparteitag bereitete SED-Mitglied gewesen. Ich habe ein re- ich mit vor. Innerhalb des gewählten Vor- lativ unpolitisches Leben geführt. Ich ge- standes habe ich mich um Kontakte zu hörte nicht zu den politisch Verfolgten, anderen SDP-Basisgruppen bzw. Ortsver- die sich in Opposition befanden. Zur SPD bänden in Thüringen bemüht. Es bot sich bin ich durch die Politik von Willy Brandt für mich an, da ich im Maschinenhandel und Helmut Schmidt in den 70er Jah- arbeitete und mein Betrieb alle drei Thü- ren gekommen. Ich verfolgte im Fern- ringer Bezirke belieferte. Man holte die sehen die Diskussionen im Bundestag. Maschinen bei uns ab. Ich hatte kleine Willy Brandt war für mich ein Vorbild. Es Karten gestaltet und den Fahrern mit- gab keinen anderen Weg als in die SPD. gegeben und sie darum gebeten, diese In der Wendezeit kam es dann zur groß- Karten in Kirchen abzugeben, sofern sie en Ausreisewelle. Im August/Septem- dort jemanden kennen, der SDP-Mitglied ber 1989 überlegten wir auch zu gehen ist. So versuchte ich Kontakte aufzubau- oder hier etwas mitzugestalten. Ich habe en. Auf diesem Weg hatte ich eine erste mich für Letzteres entschieden. Ich habe an den Treffen in den Kirchen teilge- 30 Die Gründung des Jenaer Ortsverbandes der SDP fand im „Martin-Niemöller-Haus“ in Alt-Lobeda statt. nommen und mir die Reden angehört. 31 Ein erstes Kontaktbüro der Jenaer SDP wurde in der Ich habe an den Demonstrationen teil- Dornburger Straße 8 bereits am Tag nach der Gründung genommen, Christoph Matschie erlebt in Schwante eröffnet. und bin über ihn in die SDP eingetreten. 32 Gründungsmitglied der SDP in Schwante am 7. Ok- tober 1989 und Mitglied des provisorischen Vorstandes Die SDP wurde offiziell am 10. Novem- der SDP in der DDR. Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 67 kleine Adressdatei Thüringer Mitglieder dungsort in dieser Runde völlig unum- der SDP zusammengestellt. Damals lern- stritten. Wir waren uns alle einig. Es kam te ich auf diesem Weg Tilo Wetzel aus auch das erste Mal die Idee auf, Willy Gera und Frieder Lippmann aus Saalfeld Brandt einzuladen. Ich unterhielt damals kennen. Es kam sehr schnell der Gedanke schon Kontakte zu Karl-Heinz Hierse- auf, einen Thüringer Landesverband der mann33 in Bayern. Ich habe parallel dazu SDP zu gründen. Parallel sollten dann die schon Fortbildungsseminare organisiert. Strukturen der Unterbezirke geschaffen Ich habe die Leute über die Adressda- werden. Wir konnten damit noch nicht tei eingeladen. Es kamen dann immer so viel anfangen, aber das waren eben neue Leute dazu. Jeder brachte auch zu- die Erfahrungen aus der alten Bundes- sätzliche Kontaktadressen mit. So wurde republik. Den Thüringer Landesverband dann die Adressdatei regelmäßig erwei- wollten wir aber auf jeden Fall gründen tert. Es gab dann noch zwei, drei Treffen – nicht nur ich, sondern andere auch. in Erfurt. Dort wurde dann auch geklärt, Das war ein zentrales Ziel. Andere mach- dass Willy Brandt kommt. (…) ten eher inhaltliche Arbeit. Ich kümmerte Die SPD war für mich seit den mich mehr um die organisatorischen 70er Jahren eine geistige Heimat. Ich Dinge. Ich habe mit Hilfe der Adressdatei habe mich dann sehr gefreut, dass in Leute kontaktiert und über Telefon ihre Schwante die SDP gegründet wurde. Ich Meinungen eingeholt, wie sie zur Grün- glaube, davon habe ich in der Kirche er- dung eines Landesverbandes stehen. So fahren. Das war für mich dann der rich- haben wir in Vorbereitung das Treffen in tige Weg. Die ganzen Splittergruppen der „Harrasmühle“ organisiert. Wir hat- haben mich gar nicht so interessiert. Das ten vielleicht zehn Leute dorthin eingela- war eher eine emotionale Entscheidung. den, am Ende kamen aber mehr als 30. Ich war eher unpolitisch, wenn ich das Es war alles noch geheim und konspira- mit Joachim Hoffmann oder Christoph tiv. Ich glaube, dort tauchten auch das Matschie vergleiche. erste Mal Armin Hoffarth und Rudi Arndt auf. Auch der spätere erste Landesge- Wie war die anfängliche Stimmungs- schäftsführer Frank Ritter war anwesend. lage in der Bevölkerung? Welche Po- Der brachte die beiden wohl im Schlepp- sition haben Sie damals beispielswei- tau mit. Wie die miteinander in Kontakt se in der Frage einer reformierten DDR bzw. einer eventuellen deut- kamen, weiß ich nicht. Jedenfalls lernte schen Einheit bezogen? ich dort alle erstmals kennen. Aus Gotha nahmen auch Leute teil. Da haben wir Es ging anfänglich um Verände- uns gegenseitig vorgestellt und uns dar- rungen in der DDR. Es gab damals re- über verständigt, dass wir einen Thü- ringer Landesverband gründen wollen. 33 Karl-Heinz Hiersemann (1944–1998): 1974–1998 Mitglied des Bayerischen Landtags. 1986–1990 Frakti- Das Gründungsdatum wurde dort auch onsvorsitzender im Bayerischen Landtag. 1992–1996 Vi- schon besprochen. Gotha war als Grün- zepräsident des Bayerischen Landtags. 68 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Einladung zum offiziellen Gründungsparteitag der Jenaer SDP am 10. November 1989 im Martin-Niemöller-Haus in Alt-Lobeda, unterzeichnet durch Reiner Hartmann (Gründungsmitglied der SDP von Schwante) Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 69 lativ zügig zwei Lager. Es kam ja dann naiv. Mit dem Ergebnis der Volkskam- schnell zu Rufen „Deutschland einig Va- merwahl hätte ich niemals gerechnet. terland“, als in Leipzig für Demonstran- Ich dachte anfangs, es ist eine Wahlfäl- ten Deutschlandfahnen aus westdeut- schung. Ich lag abends in Berlin im Bett schen Autos verteilt wurden. Das gefiel und war völlig am Boden zerstört. Ich mir überhaupt nicht. Ich habe mich an dachte, das ist eine Wahlfälschung. Das Ibrahim Böhme, Christoph Matschie und Ergebnis kann nicht stimmen. Joachim Hoffmann orientiert. Für mich Da ich selbst recht weit links stehe, war klar, dass die DDR erstmal erhal- hat mich die Gleichsetzung von SPD ten und eine Konföderation der beiden und PDS nicht besonders gestört. Mich deutschen Staaten eingegangen werden haben eher die persönlichen Angriffe musste. Man musste sich währungstech- nisch an die Bundesrepublik anbinden gegen unsere Leute gestört. Das ande- und erstmal die Wirtschaft in der DDR re habe ich als Wahlkampf abgetan. Ich eigenständig wieder aufbauen. Dass es kannte auch einige Radikale vom „De- eine deutsche Einheit geben würde, war mokratischen Aufbruch“. Mit denen kam sicherlich möglich. Das war aber anfangs ich nicht klar. (…) nicht das bestimmende Thema. Das kam Wie sich manche Ostdeutsche in der dann irgendwann von der rechten Seite. Bundesrepublik verhielten, dafür habe (…) Ich hatte in Jena eine Veranstaltung ich mich geschämt. Wir waren viel in Er- mit Oskar Lafontaine im Volkskammer- langen und Nürnberg unterwegs. Es hat wahlkampf organisiert. Lafontaine war mir gefallen, mich mit den Leuten zu un- ein Verfechter der langsamen Schritte terhalten, die Leute kennenzulernen. zur deutschen Einheit. (…) Es gab damals Da habe ich mich drauf gefreut. Da war Plakate und Aufkleber gegen Lafontaine. ich auch euphorisch. (…) Wir haben die Die habe ich überall abgerissen. Das war Vertreter der ehemaligen Blockparteien für mich eine gesteuerte Sache, die mir dafür kritisiert und ihnen vorgehalten, überhaupt nicht passte. dass sie erst einmal vor ihrer Tür keh- Welche Erinnerungen haben Sie an ren sollten. Ich dachte, dass die Bevöl- den Volkskammerwahlkampf 1990 kerung das auch so sieht. Ich sagte: Lass und wie stark hat Sie damals das sie einfach reden. Wir unterhielten gute schlechte Abschneiden der SPD über- Kontakte zum „Neuen Forum“. Wir hat- rascht? Inwiefern hat man sich von ten im ehemaligen Stasi-Gebäude unser der Gleichsetzung zwischen SPD und erstes Büro. Da waren auch „Neues PDS beeindrucken lassen? Wie war Forum“ und „Demokratischer Aufbruch“ das Verhältnis zu den politischen mit drin. Mit dem Pfarrer Martin Kraut- Kontrahenten? wurst34 vom „Neuen Forum“ hatten wir enge Kontakte. Das war ein sehr sympa- Ich habe den Volkskammerwahl- kampf organisiert, die Auftritte in den 34 Mitglied des „Neuen Forums“ und des „Runden Ti- Kirchen und anderswo. (…) Ich war sehr sches“ in Jena. 70 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen thischer Mensch. Wir hatten zwar un- Wir waren in Jena im Umgang mit terschiedliche Meinungen, aber es war ehemaligen SED-Mitgliedern stark be- trotzdem ein gutes Verhältnis. Wir un- einflusst durch Gerd Schuchardt, der für terstützten uns gegenseitig in den Büros. ein klares Aufnahmeverbot plädierte. Ich Da wir mehr Hilfe durch die westdeut- habe das akzeptiert. Ich habe es zwar sche SPD erhielten, haben wir Dinge an nicht in der Schärfe für notwendig er- das „Neue Forum“ abgegeben. Das war achtet, aber ich habe es verstanden. Ich schon eine familiäre Atmosphäre. Wir hatte durch meinen Bruder Kontakte zur wurden weniger finanziell als mit Pa- SED. Ich fand es nicht so dramatisch, pier, Telefon und anderer Technik unter- aber es war richtig. Es war richtig, die- stützt. Zur Volkskammerwahl bekamen sen Schnitt so zu tun und die Struktu- wir sogar ein Auto. Das haben wir auch ren erst einmal aufzubauen und zu fes- mal verborgt. Wir haben insgesamt gut tigen. Und dann konnte man über ein zusammengearbeitet. weiteres Vorgehen nachdenken. (…) Es war richtig im Sinne der Leute, die wie Gab es Befürchtungen hinsichtlich ich vollkommen neu in die Politik gegan- einer Unterwanderung durch die gen sind und einen Lernprozess durch- Staatssicherheit? machen mussten. Davon gab es ja ganz Ich weiß, dass es in unserer Basis- viele. Diejenigen, die schon Kenntnisse gruppe Befürchtungen hinsichtlich einer besaßen, die auch schon vorher po- Unterwanderung durch die Staatssicher- litisch tätig gewesen sind, vor denen heit gab. Einige hatten auch entspre- hatte ich großen Respekt. Es war rich- chende Erfahrungen machen müssen. tig, diesen Weg genau so zu gehen. (…) Wir dachten bis zuletzt, dass auch in- Es gab Leute, die komplexer dachten als formelle Mitarbeiter der Stasi unter uns ich. Ich habe auf deren Argumente ver- sind. Ich selbst war da sehr unbeleckt, traut, die für mich einleuchtend waren. da ich nie Erfahrungen mit der Stasi ge- sammelt habe. Ich bin da sehr naiv her- Welche vorbereitenden Maßnahmen angegangen. Für mich war das in der wurden für den Gründungsparteitag DDR gelaufen. Mir war klar, dass auch ir- getroffen? Welchen Einfluss gab es gendwann die Grenzen aufgemacht wer- vonseiten der westdeutschen SPD? den mussten. Ich dachte, dass man nicht Wir hatten im Vorfeld des Gothaer alles überstürzt angehen sollte, sondern Gründungsparteitages jede Menge An- ganz in Ruhe. Das Land ist am Ende (…). träge schon gefiltert, da es dort wenig Das war mir völlig klar. Als Krenz ge- Gelegenheit zur Diskussion gab. Es sollte wählt wurde, war mir genauso klar, dass ja ohnehin ein weiterer Parteitag statt- der kein Jahr überstehen wird. finden. Die hauptsächlichen Dinge waren Auf welchen Umgang mit ehema- ja die Gründung des Landesverbandes ligen SED-Mitgliedern verständigte und der Auftritt Willy Brandts auf dem man sich in Jena? Gothaer Hauptmarkt. Es gab eine ganze Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 71

Menge an Sachen, die wir aufgrund Welche Entwicklung nahm der Lan- des Zeitplans herausgenommen haben. desverband nach der verlorenen Wir wollten zeitnah einen zweiten Par- Volkskammerwahl? Welche Rolle teitag einberufen, um die offen geblie- spielte der Rücktritt des ersten Lan- benen Fragen zu bearbeiten. Die Gruß- desvorsitzenden Wilfried Machalett? worte nahmen viel Zeit in Anspruch, da Ich persönlich fand den Rücktritt sich viele positionieren wollten. Es bot ja des ersten Landesvorsitzenden Wilfried auch für westdeutsche Politiker eine Ge- Machalett nach der verlorenen Volks- legenheit, um sich vor Publikum zu prä- kammerwahl gar nicht so dramatisch. Ich sentieren. (…) Diese Aufmerksamkeit hielt sowieso mehr von dem damaligen mit Tausenden von Zuschauern, die sie Nachfolger Bernd Brösdorf. Mir war auch hier geboten bekamen, kannten sie ja klar, dass diese Personalwechsel noch ei- aus der Bundesrepublik gar nicht mehr. nige Zeit so weitergehen werden, dass (…) Ich hatte auch etwas das Gefühl, einige Leute kommen und wieder gehen. das vonseiten der westdeutschen SPD Es dauert, bis sich Strukturen finden und Dinge aufgestülpt werden sollten. Gera- stabilisieren. Ich war dann etwas un- de im Organisatorischen hat man schon glücklich wegen des Rücktritts von Bernd versucht, Einfluss zu nehmen. Insbeson- Brösdorf aufgrund seiner vermeintlichen dere von den handelnden Personen, die Stasi-Tätigkeit. Das fand ich etwas über- vor Ort waren. Die sind extra hierher ge- trieben. Er war ein intelligenter Mensch, kommen. Da war es klar, dass sie sich auf den wir nicht hätten verzichten sol- auch einbringen wollten. Teilweise gab len. Es gab damals schon Strömungen es ja auch persönliche Ambitionen. (…) innerhalb der Thüringer SPD, die das teil- Das betraf auch unseren ersten Minister- weise befördert haben. Das wurde gar präsidentenkandidaten Friedhelm Farth- nicht so sehr von außen hereingetragen. mann. Der befand sich ja auch schon Das haben wir ganz schnell übernom- auf dem absteigenden Ast der Karrie- men, dass es zu Blockbildungen kam, die releiter. Ich fand es persönlich nicht so begannen gegeneinander zu arbeiten. gut, dass wir damals einen auswärtigen Man verstand sich teilweise mit Leuten Kandidaten nominiert haben. Ich dach- aus anderen Parteien besser als mit den te, dass wir auch genügend eigene gute eigenen. Leute haben, die wir nominieren kön- nen. Da es aber bei allen Parteien und Gab es auf dem Gothaer Gründungs- Gruppierungen so war (…) Letztlich war parteitag eine Konkurrenz zwischen es eine Entscheidung des Landesvorstan- den Delegierten der drei Bezirke Er- des. Man ist im Vorfeld dann in die Orts- furt, Gera und Suhl? Waren die Kan- vereine gegangen und hat versucht, die didaten für den Landvorstand bereits Mitgliedschaft auf den Kandidaten ein- im Vorfeld miteinander abgestimmt? zuschwören. Der Delegiertenschlüssel des Gothaer Gründungsparteitages ist im Vorfeld 72 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen schon abgestimmt gewesen. Die Wahl ein sehr emotionaler Mensch. Ich habe des Landesvorstandes aber war nicht immer gehofft. Wir haben auch immer vorentschieden. Jeder Bezirk und Unter- versucht, die Situation schön zu reden bezirk durfte Kandidaten nominieren. und uns an der Tradition der SPD in Thü- Von unserer Seite in Jena gab es eine ringen aufzurichten. enge Zusammenarbeit mit Gera, Saalfeld Welche Gesamteinschätzung der und Meiningen. Da hatte niemand Be- friedlichen Revolution würden Sie an- denken, dass der Bezirk Erfurt im Landes- lässlich des 20. Jahrestages vorneh- vorstand etwas überrepräsentiert war. men? Die Frage, wer Landesvorsitzender wer- den sollte, wurde schon im Vorhinein ab- Wir haben immer nach bestem gesprochen. Ich glaube, dass wurde ein Wissen und Gewissen agiert. (…) Die bisschen von der Erfurter Seite gesteu- „Wende“ ist 20 Jahre her. Ehemalige ert. Da hat man schon versucht, das in Stasi-Mitarbeiter werden heute immer diese Richtung zu lenken. Da spielten si- noch geächtet. Nach bundesdeutschem cherlich auch die Helfer aus Hessen eine Recht entsprechen 20 Jahre einer lebens- gewisse Rolle, die im Hintergrund agier- länglichen Strafe, die bekomme ich für ten. (…) Für mich stellte es sich immer einen Mord. Da sollte man schon einmal so dar, dass Erfurt und Gotha einen ge- überlegen zu sagen: Komm, es ist vor- meinsamen Block innerhalb der SPD bil- bei. Das ist die eine Seite. Ich habe nie deten. Es gab viele Dinge, die nicht so unter der Stasi gelitten. Ich wurde auch richtig abgesprochen waren, beispiels- nie angeworben. Ich weiß, dass an eini- weise das Drucken von Plakaten oder das gen Händen auch Blut klebt. Wenn man Treffen in der „Harrasmühle“. Da tauch- sich manchen Bericht im Fernsehen an- ten plötzlich Leute auf, von denen man schaut, dann kann man nur mit dem gar nichts wusste. Da sprach auch nie- Kopf schütteln, was wir hier alles zuge- mand mit uns darüber. Es war immer ein lassen haben. Deswegen bin ich der Mei- starker und bestimmender Auftritt dieses nung, dass diese Stasi-Angelegenheiten Blocks. nur diejenigen beurteilen können, die darunter gelitten haben. Ich würde mich Hegte man nach dem Erlebnis der da vollkommen enthalten. Aus meiner Volkskammerwahl überhaupt noch Sicht würde ich sagen, lasst es gut sein. Hoffnungen innerhalb der Thürin- Aber es gibt noch heute Menschen, die ger Sozialdemokratie in Bezug auf psychische und körperliche Probleme die noch folgenden Kommunal- und haben. Wenn ich dann sage: Lasst es gut Landtagswahlen? sein, werden diejenigen das nicht ver- Wir haben geahnt, dass auch die stehen. Dazu habe ich auch kein Recht. nachfolgenden Wahlen schlechte Ergeb- Ähnlich ist es mit den ehemaligen SED- nisse bringen würden, aber wir haben Mitgliedern. Zu sagen: Wir nehmen nur es natürlich nicht gewusst. Es regierte die „guten“ SED-Mitglieder auf, so einen trotz allem immer die Hoffnung. Ich bin Filter konnten wir gar nicht setzen, weil Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 73 wir es im Einzelfall gar nicht einschät- Wie entwickelten sich die Mitglieder- zen konnten. Keiner konnte dem ande- zahlen der SDP/SPD und woher und ren in den Kopf schauen. Es wurde da- weshalb kamen die Menschen? mals auch viel denunziert. Es schäumte Wir hatten in der ersten Zeit Basis- vieles hoch. Ich glaube, dass diejenigen, treffen, da wussten wir nicht, wo wir die in der DDR-Zeit schon ihren Kopf hin- die Stühle hernehmen sollten. Es waren gehalten hatten, genau wussten, was ständig neue Leute da. Wir kannten uns sie tun, wenn sie die Aufnahme ehema- ja alle gegenseitig nicht. Wir sahen uns liger SED-Mitglieder verhinderten bzw. auf dem Gründungsparteitag in Alt- einen solchen Beschluss herbeiführten. Lobeda teilweise zum ersten Mal. An- 1989/1990 war niemand von uns in der fangs waren wir 30 oder 40 Leute, bei Lage zu sagen, der Genosse ist gut und der nächsten Versammlung waren dann jener nicht, den nehmen wir und den schon über 100 da. Jeder redete mit. anderen nicht. Sie hätten bei jeder Auf- Ich glaube, darunter waren sehr viele nahme eines ehemaligen SED-Mitglieds wie ich, die unzufrieden waren, aber an eine endlose Diskussion gehabt. Es gab ihrer Heimat hingen. Ich wollte hier ein- ja dann auch die Überlegung, offene Ar- fach nicht weggehen, weil ich hier auf- beitskreise einzurichten. Das schlief dann gewachsen bin. Es gab viele, die sagten: wieder ein. Das wäre vielleicht der rich- Wir bleiben hier und machen etwas. Wir tige Weg gewesen. wussten nur nicht so richtig, was. Da Wie war die Stimmungslage in der vertrauten wir dann auf diejenigen, die Bevölkerung die deutsche Einheit schon größere politische Erfahrung ein- und deren mögliche negative Begleit- bringen konnten. Ich würde das Verhält- erscheinungen betreffend? nis zwischen denjenigen, die einfach mal schauten, und denjenigen, die Ahnung Ich kann mich noch an Diskussi- hatten, mit 80:20 bzw. 90:10 beziffern. onen in Bobeck oder Stadtroda erin- Bei mir war es ein Vorteil, dass ich gleich nern. Ich habe immer versucht, auch auf eine Aufgabe gefunden hatte. (…) Das die Schattenseiten hinzuweisen, die eine war vielleicht auch ein Grund, den Partei- deutsche Einheit mit sich bringen würde. tag in Gotha mit vorzubereiten, Kontakte Die Leute waren einfach durch ihre Eu- zu knüpfen und diese Adressdatei aufzu- phorie geblendet. Es wollte keiner wis- stellen, weshalb ich schrittweise immer sen. Es gab auch eine verbreitete Jetzt- stärker in die Parteiarbeit hineinge- erst-Recht-Stimmung. Alles, was links ist, rutscht bin. Ob es ohne das auch so ge- ist schlecht. Es wurde über vieles nicht wesen wäre, kann ich nicht sagen. Leute, nachgedacht. Man wollte mit dem Kopf die keine Ahnung hatten, die einfach so durch die Wand. Ich glaube, dass das die reingerutscht sind und etwas verändern damalige Bundesregierung vollkommen wollten, die nicht so richtig wussten, wie ausgenutzt, wenn nicht sogar gesteuert man so etwas anfasst, das waren ca. 80 hat. Das war einfach nicht zu verhindern. Prozent. Bis zur Volkskammerwahl nahm 74 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen die Zahl der Parteimitglieder kontinuier- lich zu. Danach fiel die Mitgliederzahl wieder rapide ab. Viele meldeten sich gar nicht mehr ab. Es war auch gar nicht mehr so richtig nachvollziehbar, wie viele Mitglieder wir eigentlich hatten. Es gab kaum richtige Statistiken. In man- chen Städten gab es anfangs die Situa- tion, dass sich mehrere Basisgruppen der SDP gründeten, weil die sich untereinan- der gar nicht kannten. (…) Im ländlichen Bereich war es für uns deutlich schwie- riger, Fuß zu fassen als in den Städten. Die Veranstaltungen in Schönkleina oder Bobeck gestalteten sich unwahrschein- lich schwierig. Dort waren die Blockpar- teien stärker vertreten. Da hatten wir kaum eine Chance. (…) Wir hatten auf dem Land einen ganz schweren Stand. CDU und LDPD waren da unwahrschein- lich stark. Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 75

Thomas Schmidt (Meiningen)

Jahrgang 1960, geboren in Meiningen 1976-1978 Lehre als Elektromonteur Tätigkeit als Elektromonteur/Schlosser in Suhl und Meiningen 1986-1987 Dienst ohne Waffe bis 1989 Beschäftigung im Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) Meiningen 1989 Gründungsmitglied der SDP Meiningen 1989 Mitglied des Vorbereitungsausschusses für den Gründungsparteitag der Thüringer SPD 1990 Mitglied des Vorstands und des Präsidiums der SPD in der DDR (zuständig für Gewerkschaften und Arbeitnehmerfragen) Bild 10: Thomas Schmidt, 1990 – Gründungsvorsitzender der AfA in der DDR 1990 1990-1992 stellvertretender Bundesvorsitzender der AfA in der DDR 1990/91 Mitglied im SPD Bundesvorstand

Meine Eltern waren beide Mitglieder gang und meine „Klamotten“, die nicht der SED. Mein Vater war Dipl.-Ing. für einer Erziehung in einem sozialistischen Bauwesen, beschäftigt als Zivilangestell- Elternhaus entsprochen hätten. ter der Nationalen Volksarmee. Meine Mutter war in der Finanzabteilung im Im Sommer 1989 habe ich die Ent- Südthüringer Fleischkombinat in Meinin- wicklungen mit dem „Neuen Forum“ gen beschäftigt. Ich selbst bin bei meiner sehr aufmerksam verfolgt, was bekann- Oma groß geworden, einer sehr aufge- termaßen nur über die Westmedien schlossenen und liebevollen Frau. Es war möglich war. Die damalige Entwicklung für mich ein ziemlicher Schock, als meine wurde sehr intensiv mit Freunden und Oma 1972 zu früh starb. Bekannten diskutiert. Einige von ihnen hatten enge Kontakte zu evangelischen Meine folgenden Jugendjahre im El- Gesprächskreisen um Uli Töpfer in Mei- ternhaus waren oft von Kontroversen ningen. Den Weg in die damals gerade und Streitigkeiten geprägt. Die Ausein- andersetzungen, vor allem mit meinem in Schwante gegründete SDP der DDR Vater, entzündeten sich oft an so banalen fand ich durch meine Beschäftigung im Dingen wie meinen angeblich zu lan- RAW Meiningen. Ausschlaggebend hier- gen Haaren. Später erfuhr ich, dass mein für waren meine engen persönlichen Vater als sogenannter Leitungskader sich Kontakte zu Roland Abt und Klaus Schül- betreffs meiner Person vor seinen über- ler. Wir drei waren die ersten Sozialde- geordneten Dienstebenen rechtfertigen mokraten in Meiningen und im Oktober musste. Ein Punkt dabei war wohl immer 1989 die „Keimzelle“ der Sozialdemokra- wieder mein angeblich schlechter Um- tie in Südthüringen. 76 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Ich denke heute nicht, dass die in- Auch in unseren parteiinternen Dis- haltlichen Aussagen der einzelnen Par- kussionen und in der Öffentlichkeit teien oder neuen Gruppierungen für den spielte die staatliche Einheit zum dama- eigenen politischen Weg die ausschlag- ligen Zeitpunkt überhaupt keine Rolle. gebende Rolle gespielt haben. Oft waren Es ging um die Reformierung der DDR. der eigene persönliche Freundeskreis Auch die ersten Demonstrationszüge und Politiker, die man aus dem West- nach den Friedensgebeten waren von fernsehen kannte, die Entscheidungs- den Forderungen nach Reisefreiheit, geber. Für mich waren das zum Beispiel Pressefreiheit und der Auflösung der Willy Brandt und Helmut Schmidt. Letzt- Stasi geprägt. endlich war für mich die Sozialdemokra- Keiner, den ich damals kannte, tie mit ihrer sozialen Prägung, mit ihrem glaubte, dass es eine schnelle Einigung Kampf für Arbeitnehmerinnen und Ar- der beiden deutschen Staaten geben beitnehmer, ihrer Ostpolitik und nicht könnte. Keiner von uns wollte in diesem zuletzt ihrer Geschichte der gangbare „real existierenden Sozialismus“ weiter Weg. leben, aber auch die Frage, welche Ge- Das sahen Roland Abt und Klaus sellschaftsordnung könnte es denn sein, Schüller genauso und so entschlossen stand unbeantwortet im Raum. Ich kann wir uns zur Gründung der SDP in un- mich hierzu an viele kontroverse Diskus- serer Region. Bestärkt in unseren Überle- sionen mit unterschiedlichen Personen gungen wurden wir hierbei nicht zuletzt erinnern. durch die Vorstellung der politischen An- Ich kann mich noch gut an unsere sätze der neu gegründeten SDP durch SDP-Delegiertenkonferenz vom 12. bis Joachim Hoffmann aus Jena in der Mei- 14. Januar 1990 in Berlin erinnern: Wir ninger Stadtkirche. Kurze Zeit später kam hatten damals in unseren Entwurf des dann bei uns die Frage auf, was können Grundsatzprogramms den Begriff des wir konkret für Veränderungen in un- „demokratischen Sozialismus“ aus dem serem eigenen Umfeld tun. Roland Abt West-SPD-Programm übernommen. Ich und ich haben dann im November 1989 habe damals als Mitglied des Vorstan- den ersten Streik im RAW Meiningen or- des für den damaligen Bezirk Suhl den ganisiert. Dabei ging es nicht um Eini- Antrag gestellt, den Begriff „demokra- gung der beiden deutschen Staaten oder tischer Sozialismus“ durch „soziale De- die Einführung der DM, es ging um bes- mokratie“ zu ersetzen. Sofort wurde ich sere Arbeitsbedingungen für unsere Kol- darauf hingewiesen, dass dieser Begriff leginnen und Kollegen und die Abschaf- auch im Statut und Berliner Programm fung der betrieblichen Parteileitung und der Schwesterpartei SPD steht. Der An- die Auflösung der Kampfgruppen und trag fand keine Mehrheit. Im Wahlkampf der BGL35. für die ersten freien Wahlen zur Volks- kammer am 18. März 1990 haben wir 35 BGL – Betriebsgewerkschaftsleitung. als Südthüringer Sozialdemokraten den Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 77

Begriff „Sozialismus“ tunlichst vermie- große organisatorische Unterstützung den. Dies nicht zuletzt aufgrund unserer gegeben. Bei dieser Vorbereitungsver- eigenen Erfahrungen als „gelernte DDR- anstaltung in der Meininger Handwerks- Bürger“. Sozialismus stand damals beim kammer, zu der wir die uns bekannten überwiegenden Teil der Bevölkerung für Ortsverbände aus dem ganzen ehema- SED-Alleinherrschaft, Mauer, Staatssi- ligen Bezirk Suhl eingeladen hatten, cherheit und Mangelwirtschaft. wählten wir unsere Delegierten für die Konferenz und das kooptierte Mitglied Nach der Gründung des SDP-Ortsver- für den DDR-Landesvorstand. Die Wahl bandes im Dezember 1989 in der Mei- fiel auf mich. ninger Handwerkskammer mit anfangs sieben Mitgliedern haben wir versucht, Ein wichtiger Schritt zur Gründung in unserer Region weitere Gliederungen des SPD-Landesverbandes Thüringen zu schaffen.36 Dies ist uns zum Beispiel in war unser erstes Thüringer Treffen in der Walldorf und Henneberg auf Anhieb ge- „Harrasmühle“. Dort wurde beschlossen, lungen. Auch der Meininger Ortsverband ein Gründungskomitee zur Vorberei- hatte aufgrund seiner zahlreichen öffent- tung des Parteitages am 27. Januar 1990 lichen Veranstaltungen einen erheblichen in Gotha zu bilden. Für den Bezirk Suhl Mitgliederzulauf, der aber auch mit einer wurden Horst Steiner aus Sonneberg hohen Fluktuation einherging. Mancher und ich vorgeschlagen und gewählt. Das schrieb sich in die Anmeldelisten ein und Vorbereitungskomitee, das aus sechs wurde nie wieder gesehen. Leuten (je zwei aus den damaligen drei Bezirken) bestand, traf sich in der Folge Kurz vor dem Jahreswechsel 1989/90 jeden Samstag mit den „Westberatern“ hatten wir das erste Mal Kontakt mit in Arnstadt zur Vorbereitung des Grün- SPD-Mitgliedern aus Schortens/Friesland. dungsparteitages. Diese waren zu diesem Zeitpunkt zu einem Kurzurlaub in Wildflecken/Bayern. Mir wurde später die Frage gestellt, Zu diesen Genossinnen und Genossen warum wir gleich einen Landesverband unterhalten Klaus Schüller und ich heute Thüringen gründen wollten und keine noch enge Kontakte. In Vorbereitung Unterbezirke als Parteistruktur. Für uns unserer ersten DDR-weiten Delegierten- stand damals die Frage, welche Struktu- konferenz in Berlin kam es zu einer Kon- ren wir schaffen, eher im Hintergrund. taktaufnahme mit Armin Hoffarth, Be- Die Ereignisse dieser Tage und Wochen zirksgeschäftsführer der SPD Hessen- waren so vielfältig, dass Strukturfra- Nord, Bernd Schmidt, Geschäftsführer gen – jedenfalls für uns in Südthüringen der SPD-Fulda, und Rudi Arndt, ehema- – nachrangig blieben. Wir waren damit liger OB von Frankfurt/Main. Diese Ge- beschäftigt, Anlaufpunkte für Interes- nossen haben uns zu diesem Zeitpunkt sierte zu schaffen. Und die Bildung von Orts- und Kreisverbänden gestaltete sich

36 Die SDP-Gründung in Meiningen datiert auf den 27. aufgrund des eher dörflichen Charakters Dezember 1989. unserer Region äußerst schwierig. Auf- 78 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen grund fehlender Kommunikationsmög- daten aufstellen wird. Daraufhin wurde lichkeiten – wer von uns hatte schon ich von einem westdeutschen Berater zur ein Telefon? – hatten wir Anfangs nicht Seite genommen und mir wurde gesagt, einmal Kontakt zu den Suhlern, den Il- das wäre so abgesprochen und Wieland menauern oder den Parteifreunden aus Sorge würde sowieso nicht gewinnen. Schmalkalden. Auf meine Rückfrage, mit wem das denn abgesprochen wurde und welches Gre- Diese Kontakte funktionierten erst mium den Kandidaten Machalett vor- nach der Delegiertenkonferenz im Janu- geschlagen habe, bekam ich keine Ant- ar in Berlin. Wir bekamen nach mehrma- ligem Antrag an den Rat der Stadt Mei- wort. Die Wahl am nächsten Tag gewann ningen endlich Räume in der Meininger Machalett mit 29 zu 24 Stimmen. Anton-Ulrich-Straße zur Einrichtung eines Diese „Westeinflussnahme“ setzte sich Büros zugewiesen. Der beantragte Tele- bis zum Leipziger Parteitag im Februar fonanschluss ließ nochmals drei Wochen 1990 fort. Diesmal ohne den gewünsch- auf sich warten und war auch nach der ten Erfolg. Machalett fiel bei den Präsi- Installation oft unbrauchbar. Meiningen diumswahlen durch, nachdem er es mit wurde aber dennoch zum Anlaufpunkt dem zweitschlechtesten Ergebnis gera- für die Verteilung von Materialien, Infor- de noch in den Vorstand geschafft hatte. mationsaustausch etc. in Vorbereitung Christoph Matschie und ich vertraten im der Volkskammerwahlen. Ohne die ma- Präsidium der SPD/DDR bis zum Vereini- terielle und organisatorische Unterstüt- gungsparteitag37 die SPD Thüringen. zung, vor allem aus Hessen, wäre unsere politische Arbeit damals allerdings nicht Der Wahlkampf zur Volkskammer- leistbar gewesen. wahl am 18. März 1990 fokussierte sich immer stärker auf die Frage der deut- Eine andere Art der Einflussnahme schen Einheit und wann die D-Mark durch „westdeutsche Helfer“ wurde mir kommt. Friedrich Schorlemmer hat spä- am Vorabend des Gothaer Parteitages ter einmal gesagt: „Die DDR-Bürger woll- deutlich. Uns war bekannt geworden, ten keine Autonomie, sie wollten ein dass ein gewisser Wilfried Machalett Auto.“ Inhalte spielten in diesem Wahl- aus Eisenach als Vorsitzender kandidie- kampf so gut wie keine Rolle. Ich weiß ren soll. Weder im Gründungsauschuss noch, mit welch großem Engagement noch in anderen Gesprächen wurde vor- wir unseren Straßenwahlkampf geführt her darüber mit uns Südthüringern dis- haben. Immer fest davon ausgehend, kutiert. Für uns war zum damaligen dass die SPD eine deutliche Mehrheit Zeitpunkt unvorstellbar, dass auf ein- bei diesen ersten freien Wahlen erringt. mal wieder einfach verordnet wird, wer Noch in der letzten Ausgabe des „Vor- Vorsitzender wird. Das war für uns nicht wärts“ stand in dicken Lettern, SPD be- fassbar. Ich habe daraufhin in der Vor- abendsitzung mitgeteilt, dass der Be- 37 Die Vereinigung der ostdeutschen und westdeut- zirk Suhl Wieland Sorge als Gegenkandi- schen SPD fand am 27. September 1990 in Berlin statt. Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 79 kommt 44 Prozent. Dann der Wahlabend Ich denke, der weitere Weg der Thü- in Berlin: Ringsum betroffene Gesichter, ringer Sozialdemokratie ist hinlänglich nachdem die Wahlergebnisse bekannt bekannt und ich hoffe, dass unsere Thü- wurden. ringer SPD aus den vergangenen 20 Jah- Der nächste „Hammer“ für die ost- ren gelernt hat und dazu findet, was wir deutsche Sozialdemokratie erfolgte mit vor 20 Jahren im Auge hatten – zu einer der Spiegel-Ausgabe und der Enttar- linken Volkspartei. nung unseres Vorsitzenden und Spitzen- kandidaten Ibrahim Böhme als Stasi-Spit- zel. Für mich persönlich war dies nicht fassbar. Ich habe im Nachgang wirklich eine geraume Zeit gebraucht, um die tatsächlichen Fakten und damit die Re- alität über die Person Böhme zu akzep- tieren. Ich denke, dieser Vorfall hat dazu beigetragen, dass die SPD später die Ko- alition mit der sogenannten „Allianz für Deutschland“ beschlossen hat, einer Al- lianz, die überwiegend aus ehemaligen Blockparteien und der DSU bestand. Dabei hatte uns die DSU im Wahlkampf stets mit der ehemaligen SED/PDS gleich- gesetzt. Trotz heftiger Diskussionen im SPD-Parteivorstand Ost und in dessen Präsidium haben sich die Befürworter damals durchgesetzt. Ich bin heute noch der Meinung, dass dies falsch war. Im Vorfeld der Thüringer Landtags- wahl gab es auch in der Thüringer Füh- rungsspitze genug Zirkus und Rangeleien und immer wiederkehrend Stasi-Vorwür- fe. Viele von uns haben das ja hautnah miterlebt. Ich denke, dass dies maßgeb- lich zur Kandidatur von Friedhelm Farth- mann, einem Import aus NRW, geführt hat. Diese ersten Landtagswahlen in Thüringen gingen bekanntlich haushoch verloren und Farthmann kehrte Thürin- gen so schnell den Rücken, wie er ge- kommen war. 80 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Tilo Wetzel (Gera)

Jahrgang 1958, geboren in Zeitz 1974-1989 SDAG Wismut Sohn einer Arbeiterfamilie Gründungsmitglied der Geraer SDP vom 16. November 1989 Mitglied am „Runden Tisch“ des Bezirks Gera Kandidat für die Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 Mitglied des Thüringer Landesvorstands 1990-1991

Bild 11: Tilo Wetzel, 1990

Wann und wie haben Sie vom Grün- demokratischen Partei. Der Aufruf ist mir dungsaufruf und der eigentlichen über das Puppentheater Gera zur Kennt- Gründung der SDP erfahren und nis gekommen. Ursprünglich hatte ich wann kam es zu ersten Kontakten auch die Absicht, mich bei einer der an- mit SDP-Mitgliedern? Wann wurde gegebenen Kontaktadressen zu melden, in Gera eine Basisgruppe der SDP ge- habe das dann aber verschlafen. Ich bin gründet? aber auch gleichzeitig im „Neuen Forum“ Ich habe nach der Kommunalwahl bei Friedensgebeten aktiv gewesen, die der DDR am 6. Mai 1989 die klare Über- in Gera schon fast ein Jahr stattgefun- zeugung gehabt, dass sich innerhalb der den haben. Ich hatte davon erfahren und DDR etwas ändert. Das war die Stim- daran teilgenommen. Wir hatten die Be- mung in der Bevölkerung. Es hatte sich fürchtung, dass es nach dem 7. Oktober das erste Mal gezeigt, dass kirchliche noch einmal eskalieren könnte. Ich habe Gruppen in der Lage sind, der Staats- dann in der Woche nach dem 7. Okto- macht entgegenzutreten. Dass sie das ber, das muss etwa am 10. oder 12. Ok- erste Mal in der Lage sind, durch Beru- tober gewesen sein, Ibrahim Böhme in fung auf DDR-Gesetze und die Verfas- der Jenaer Stadtkirche gesprochen. Dort sung entsprechende Aktivitäten in Gang ging ich auf ihn zu und traf dann auch zu setzen. Das war neu. Und es zeigte auf die Jenaer Gruppe der SDP. Das Tref- sich in der Folge des 6. Mai, dass der fen fand in Jena in der Wohnung von Staat nicht mehr in der Lage oder nicht Joachim Hoffmann statt. Ich bin nach mehr bereit war, dieselbe Härte wie zum den entsprechenden Besuchen in Jena Beispiel 1953 einzusetzen. Es war klar, SDP-Mitglied geworden und war damit dass die Staatsmacht angeschlagen ist. auch das erste SDP-Mitglied in Gera. Es Mit dieser Entwicklung kam es im Som- gab die Vorbereitungsgruppe für die Ge- mer zum Gründungsaufruf einer sozial- raer Friedensgebete, der ich angehörte. Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 81

Nach entsprechender Vorbereitung in ein Herr Kobus. (…) Er hat sich bei uns einer der Vorbereitungsrunden wurde und den anderen Gruppierungen vorge- mir die Möglichkeit eingeräumt, die SDP stellt. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt bei einem Friedensgebet in der Geraer die Räume der Nationalen Front über- Johanniskirche vorzustellen. Dort bin ich nommen. Und zwar hatten wir die ge- das erste Mal als SDP-Mann in der vollen meinsam mit SDP, Neues Forum, Demo- Kirche aufgetreten. Von dem Augenblick kratischer Aufbruch, also die gesamten an war bekannt, dass in Gera eine sozial- Gruppierungen, die in Gera tätig waren, demokratische Basisgruppe existiert. An übernommen. Wir sind dort komplett dem Tag kamen Rolf Buchner und Jens in die Räumlichkeiten eingezogen, ein- Richter hinzu. (…) Die eigentliche Grün- schließlich der Übernahme des gesam- dung des SDP-Ortsverbandes erfolgte in ten Mobiliars. Es gab dann dort auch die Gera am 16. November. Leider sind die entsprechenden Möglichkeiten gemein- Wahlunterlagen nicht mehr auffindbar. sam zu arbeiten – und für die damalige Wir haben von Anfang an einen Vor- Zeit auch wichtig – ein Telefon. Es wurde stand gewählt. Nach allgemeiner Über- sichergestellt, dass jeder von den Grup- zeugung wurde ich aber, zumindest bis pierungen immer da war, so dass es zu zur nächsten Wahl, zum Vorsitzenden jeder Zeit eine Ansprechmöglichkeit ge- gewählt. geben hat. (…) Wir sind zu diesem Zeitpunkt auch Welche politischen Ziele haben Sie auf Kreis- und Bezirksebene akzeptiert verfolgt? Wie haben Sie sich zur und angenommen worden. Wir haben Frage einer reformierten DDR bzw. als Sozialdemokraten von Anfang an einer eventuellen deutschen Einheit sämtliche Demonstrationen mit orga- positioniert? nisiert. Wir waren von Anfang an offi- Man muss sicherlich zwischen den ziell mit vertreten. Wir haben von Gera persönlichen Zielen und dem, was sich aus auch Gründungen vorgenommen. innerhalb der SDP an programmatischen Wir haben beispielsweise die Zeitzer SDP Zielen herausgebildet hat, unterschei- gegründet, wir haben Zwickau gegrün- den. Für Mitte/Ende Oktober ´89 kenne det. Wir hatten von hier aus also auch ich aus dem aktiven Kreis, der die Grün- eine entsprechende Außenwirkung. Wir dung der SDP vorbereitet und durch- waren von Anfang an im Bürgerkomitee geführt hat, kaum jemanden, der der zur Auflösung der Staatssicherheit ver- Meinung war, dass es ganz schnell und treten. Wir hatten dadurch auch von An- unmittelbar zu einer Wiedervereinigung fang unmittelbare Verbindungen in die kommen müsste. Die Leute waren sehr öffentliche Verwaltung im Bezirk Gera. skeptisch gegenüber den sozialen Fol- Ab Anfang Dezember ´89 gab es die gen einer übereilten Wiedervereinigung. Regierungsbevollmächtigten, die durch Es hätte vielleicht einen „dritten Weg“ Hans Modrow eingesetzt wurden. Der gegeben. Über diesen „dritten Weg“ ist Regierungsbevollmächtigte für Gera war damals nicht diskutiert worden, obwohl 82 ZEITZEUGEN Soziale Demokratie in und für Thüringen zu dem Zeitpunkt in der DDR die Mög- rausgestellt hat. Aber wir sind zu dem lichkeit eventuell bestanden hätte. Ziel Zeitpunkt ausgelacht worden. Man hat war aber, das Volkseigentum von An- uns nicht geglaubt. Insofern verhiel- fang an in eine geordnete Marktwirt- ten wir uns skeptisch gegenüber einer schaft zu überführen, entsprechende schnellen Wiedervereinigung. Zu dem Preisbildungen und Entwicklungen in Zeitpunkt hatte Lafontaine nur vorsichtig der Wirtschaft zu ermöglichen. Die plan- angedeutet, was passieren könnte. mäßige, proportionale Entwicklung der Welches Verhältnis hatten Sie zur SED Volkswirtschaft war gescheitert. (…) Wir und zu den Blockparteien ein? waren in der Sozialdemokratie skeptisch gegenüber einer sofortigen Wiederverei- Wir sind auch dafür auf die Stra- nigung. Ich kann mich erinnern, dass wir ße gegangen, dass in Zukunft jeder in während des Volkskammerwahlkampfes die Partei eintreten kann, in die er will. gesagt haben, dass wir bei einer über- Dass die Parteien sich selber ihre Ziele eilten Wiedervereinigung ca. drei Millio- geben. Insofern waren wir auch für den nen Arbeitsplätze zusätzlich brauchen. Fortbestand der SED. Uns ist also nie die Was sich ja im Nachhinein als richtig he- Idee gekommen, die etwa zwei Millio-

Einladung zur Gründungsversammlung der Weimarer SDP am 27. November 1989 Soziale Demokratie in und für Thüringen ZEITZEUGEN 83 nen SED-Mitglieder zu kriminalisieren. Es Aber sicherlich hatte auch die West-SPD hatte ja die Diskussion gegeben, die SED Angst vor der Anzahl der Mitglieder, da zur kriminellen Vereinigung zu erklä- das Mitgliedsverhältnis dann ja genau ren. Man konnte sich nicht so ohne Wei- umgekehrt gewesen wäre, wie es sich teres ein neues Volk suchen. Wir wurden dann nach der deutschen Wiederverei- frühzeitig vom Bezirk angesprochen. Wir nigung darstellte. Es gab ja in den 80er waren recht zeitig in alle Entscheidungen Jahren ein gemeinsames Papier von SPD des Rates des Bezirks mit eingebunden. und SED („Streit der Ideologien“). Inso- Ich hatte persönlich damals relativ gute fern gilt es auch für die SPD, die eigene Verbindungen zum Vorsitzenden des Geschichte aufzuarbeiten. (…) Rates des Bezirks Gera (Dr. Helmut Luck) War die Bildung der Länderstruktu- (…). Von dort kam die Information, dass ren und eines Thüringer Landesver- sich in Saalfeld der gesamte Kreisverband bandes vollkommen unumstritten der SED unter dem Namen SPD umstruk- oder dachte man als Zwischenschritt turieren möchte. Das hat sich dann noch eventuell an den organisatorischen über andere Seiten bestätigt. Wir hat- Aufbau in den geltenden Bezirks- ten dorthin Verbindungen auch zu SDP- strukturen? Wie verlief das Treffen in Mitgliedern. Ich habe dann mit Angelika der „Harrasmühle? Barbe vom Parteivorstand telefoniert, ich Es hat sehr schnell die Überzeugung war für sie der Ansprechpartner in Ber- gegeben, dass die Bezirksstrukturen lin, und habe ihr die Situation erläutert. aufzubrechen sind. Ganz einfach, um Das war sicherlich einer der Gründe, die auch den Machtapparat zu beseitigen zu dem entsprechenden Unvereinbar- bzw. in bestimmter Form zu überarbei- keitsbeschluss geführt haben. Wir waren ten. Diese Länderbildung war nach Ar- zu dem Zeitpunkt der Meinung, dass tikel 23 GG sowieso vorgesehen. Es war diejenigen, die die DDR zu verantworten also klar, dass Länder zu bilden sind. Wir haben, nicht diejenigen sein können, die wussten um die Symbolik, dass mit Thü- die neue gesellschaftliche Entwicklung ringen Heimat verbunden wird. (...) Wir forcieren und aufbauen. Das war ein- sind also für die Gründung eines Thürin- fach der damalige Zeitgeist. Wir haben ger Landesverbandes eingetreten. Wir in Gera selber den Unvereinbarkeitsbe- haben zur Vorbereitung, dass muss noch schluss nie 100-prozentig umgesetzt. im Dezember ´89 gewesen sein, im Kel- Wir waren immer der Meinung, dass es ler am Anger (47/48) erste Beratungen nicht um Formalien geht. Wir haben von durchgeführt. Das erste offizielle Vorbe- Anfang an auch SED-Mitglieder bei uns reitungstreffen war in der „Harrasmüh- aufgenommen. Dazu stehe ich auch. le“. Ich war zu dem Zeitpunkt in Berlin. Wenn man mich im Nachhinein fragt, In Berlin hat parallel dazu der geschäfts- dann sage ich, es war verkehrt, die SED führende Vorstand getagt. Ich war aber nicht in die SPD aufzunehmen, wie es an der Vorbereitung für das Treffen in bei anderen Blockparteien passiert ist. der „Harrasmühle“ beteiligt. Die war in 84 Soziale Demokratie in und für Thüringen

Jena. Wir haben in Jena zusammenge- te eine ganze Menge an Besuchern kom- sessen und haben die grundlegenden men wird. Es hat um den Ort des „Tivoli“ Dinge der Veranstaltung vorbereitet. (…) also keine Diskussionen gegeben. (…) Die wesentliche organisatorische Vorbe- Die Vereinigung von 1946 in Gotha reitung leistete Armin Hoffarth vom Be- spielte für die Wahl des Ortes keine zirksverband Hessen Nord. Der hat auch Rolle. Wobei man natürlich sagen muss, von der fachlichen Seite bei den Regu- dass die sozialdemokratische Geschichte larien geholfen. Wir sind da aus meiner zu DDR-Zeiten massiv verunglimpft wor- Sicht eher mitgelaufen. Da so viele Leute den ist. Es gab Zeiten, da galt „sozialde- am Wiedergründungsparteitag der Thü- mokratisch“ als Schimpfwort. Da reichte ringer SPD an historischer Stätte im „Ti- das für langjährige Haftstrafen aus. (...) voli“ teilnehmen wollten, war die lo- gische Entscheidung, dass wir die Anzahl Welchen Einfluss hatten die verun- der Delegierten begrenzen, so dass wir glimpfenden Kampagnen gegen die jeweils 20 Leute aus den Bezirken waren. SPD im Volkskammerwahlkampf und (…) Frank Ritter hat den gesamten Go- wie groß war die Enttäuschung über thaer Part der Vorbereitung geleistet. das mäßige Abschneiden? Der war von Anfang an mit dabei. Kalt gelassen hat das sicherlich nicht, Inwiefern spielten die Traditionen aber es hat auch nicht so tief beein- der Thüringer Sozialdemokratie eine druckt. Das war billige Wahlkampfpole- Rolle? Hatte man Gotha möglicher- mik. Das haben wir gewusst. Wir haben weise auch bewusst wegen seiner gewusst, dass es nicht der tiefsten Über- „doppelten“ Tradition gewählt, um zeugung derjenigen entspricht, die das auch ein symbolisches Zeichen gegen verursacht haben. Wir haben aber auch die „Zwangsvereinigung“ von 1946 gewusst, dass es auf viele Einfluss neh- zu setzen, die im April in der Gothaer men wird. Aber das ist halt so. (…) Wir Stadthalle stattgefunden hatte? haben im Straßenwahlkampf in den letz- Dass das „Tivoli“ in Gotha eine große ten zwei, drei Wochen bemerkt, dass Rolle für die Sozialdemokratie gespielt die Stimmung kippte. Es wurde deutlich, hat, war logischerweise bekannt. Des- dass die Umfrageergebnisse, die erhoben halb wurde entschieden, dass an einem worden sind, keinerlei Einfluss hatten. solchen historischen Ort die Wieder- (…) Wir waren uns am Wahltag sicher, gründung des Landesverbandes gehört. dass wir, wenn wir 20 Prozent erreichen, Deshalb wurde es einfach dort gemacht. gut abschneiden. (…) Das hat natürlich auch für ein entspre- chendes Aufsehen gesorgt. Die dort wie- der aufgenommenen Traditionen haben schon eine Außenwirkung erzielt. Uns war wohl bewusst, dass bei der Grün- dung an einer solchen historischen Stät- Soziale Demokratie in und für Thüringen DOKUMENTE 85

DOKUMENTE 86 DOKUMENTE Soziale Demokratie in und für Thüringen Soziale Demokratie in und für Thüringen DOKUMENTE 87

Protokoll der 1. Versammlung der SDP Thüringen am 15. Dezember 1989 in der „Harrasmühle“ bei Lausnitz

Protokollbeauftragter: Jochen Vogel Es kamen 4 Vorschläge: (Geschäftsführer der SDP Weimar) 1. Nach den Bezirksgrenzen Erfurt, Teilnehmer: Vertreter von SDP- Gera, Suhl Orts- und Kreisverbänden aus den 2. Nach der Verwaltungsgrenze des Bezirken Erfurt, Gera, Suhl38 Landes Thüringen im Jahr 1946 Themen: 3. Nach den Kirchengrenzen I. Vorbereitung zur Gründung des Thü- ringer Landesverbandes der SDP 4. Nach dem Zugehörigkeitsgefühl II. Festlegung der Delegierten zu den In mehreren Abstimmungen wurde letzt- Parteitagen lich mehrheitlich für die Variante 2 ent- III. Sonstiges schieden. Damit gilt der Vorschlag für die Grenzen des Raumes Thüringen sind I. Gründung eines Thüringischen die Verwaltungsgrenzen von 1946. Landesverbandes der SDP Dieser Vorschlag ist zur Bestätigung dem Alle Teilnehmer stimmen darin überein, 1. Parteitag vorzutragen. einen Thüringer Landesverband aus den 3 Bezirken Erfurt, Gera, Suhl zu grün- Der Termin für diesen 1. Parteitag wurde den, um damit von vornherein eine Ein- festgelegt auf den 27. Januar 1990. Der schränkung auf die Bezirksgrenzen nicht Ort – Arbeitergedenkstätte zum Gothaer zuzulassen. Parteitag – 1 Saal mit 100 Plätzen, meh- reren Beratungsräumen und Büros steht Diskutiert wurde die Eingrenzung des kostenlos zur Verfügung. Raumes Thüringen. Verantwortlich für Organisation und 38 Teilnehmer: Dr. Eckert (Apolda); Dr. Peter Linden- Vorbereitung ist die SDP-Gruppe Gotha mann (Arnstadt); Puhr (Aschersleben); Reinhard Gräfen- unter Helmut Rieth bzw. über SDP-Ge- stein (Bad Langensalza); Wilfried Machalett (Eisenach); Schuwe (Eisenberg); Frank Meyer (Erfurt); Jens Richter schäftsstelle, Am Brühl 9 in Gotha. (Gera); Helmut Rieth und Detlef Döpping (Gotha); Bernd Meyer (Greiz); Lothar Hellmann (Hermsdorf); Lieber- II. Festlegung der Delegierten zu den knecht (Heygendorf); Ingo Scheibe, Thomas Thierfelder Parteitagen und Joachim Hoffmann (Jena); Werner Hoyme (Kahla); Thomas Schmidt (Meiningen); Bernd Brösdorf (Mühl- Die Festlegung der Delegierten zu den hausen); Heinz-Werner Göbel (Neustadt/Orla); Winfried Theuerkauf (Nordhausen); Bernd Künast (Pößneck); Rai- Parteitagen wurde diskutiert. Das we- ner Lindner (Rudolstadt); Frieder Lippmann und Werner sentliche Problem war, daß zum einen Oswald (Saalfeld); Wieland Brendel (Schleiz); Ehrenfried Thiema (Schmölln); Horst Steiner (Sonneberg); Jochen auf unserer Versammlung nicht alle Vogel und Siegbert Weh (Weimar). Kreise präsent waren sowie die ständig 88 DOKUMENTE Soziale Demokratie in und für Thüringen wachsenden Mitgliederzahlen eine klare III. Sonstiges Aussage über die Zahl der Mitglieder (…) nicht zuläßt. 3. Die Ortsgruppe Erfurt beantragt Nach Diskussion und Abstimmung wurde die Finanzierung der Sanierung des Ge- mehrheitlich entschieden, daß zum Thü- bäudes „Erfurter Parteitag“. Im Okto- ringer Parteitag am 27.1.90 in Gotha aus ber 1891 wurde dieses Gebäude in der jedem Kreis- und Ortsverband ein Ver- Futterstraße 14 durch die Erstehung des treter delegiert wird. Erfurter Programms bekannt. Das Ge- Bis zum 10.1.90 muß die Zahl der Mit- bäude einschl. die Gaststätte „Gondel“ glieder des Ortsverbandes vom 31.12.89 sind stark sanierungsbedürftig und ohne an die Geschäftsstelle in Gotha gemel- kurzfristige Hilfe dem Verfall preisgege- det werden. ben. Dieses Gebäude soll später in den Dienst unserer Partei gestellt werden. Die Entscheidung über zusätzliche Dele- Die Gruppe Erfurt bleibt verantwort- gierte aus jedem Ortsverband wird nach lich für die Einleitung aller notwendigen der Proportionalität gebildet und vom Schritte. Ortsverband Gotha den Orts- und Kreis- Der Vorschlag zur Unterstützung wird verbänden mitgeteilt. einstimmig angenommen. Die Delegierten zur Delegiertenkonfe- 4. Vom 12.-14.1.90 können 30 Vertre- renz vom 12.-14.1.90 in Berlin werden ter unserer Partei an einer Schulung in nach Bekanntgabe der Teilnehmerzahlen Schnett39 (BRD) zum Thema Wahlen und aus unserem Landesverband ebenfalls Wahlvorbereitung teilnehmen. nach der Proportionalität in die Kreisver- 5. Vom 2.-4.2.90 findet in Erlangen ein bände aufgeteilt. (…) Seminar zur Kommunalpolitik statt. Teil- Mehrheitlich wurde die Namensände- nahmemeldungen über Ingo Scheibe rung der SDP vorgeschlagen. Jena. Der Antrag für die Umbenennung in 6. Auf Einladung der Vertreter der SPD SPD wird zur Delegiertenkonferenz am der BRD können aus jedem Kreisverband 12.1.90 in Berlin vorgetragen. 1 bis 2 Mitglieder am 21.12.89 um 10.30 Uhr in der Mehrzweckhalle Herleshausen Eine Pressemitteilung zur vorgesehenen teilnehmen. Namensänderung ist zu machen. Diese Aufgabe übernimmt die Gruppe Weimar, 7. Am 19.12.89 um 19.00 Uhr findet im gleichzeitig erfolgt eine Presseinformati- Ausstellungszentrum am Fernsehturm on über die vorgesehene Gründung des Berlin ein Treffen von SDP und SPD-Mit- Landesverbandes. gliedern statt.

39 Durch die Friedrich-Ebert-Stiftung wurden im Schloss Schney bei Lichtenfels (Bayern) politische Semi- nare für Mitglieder der Thüringer SPD angeboten. Soziale Demokratie in und für Thüringen DOKUMENTE 89

8. Am 14.1.90 wird von der SDP zu Schlußbemerkung: Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Die 1. Versammlung der SDP zur Grün- Liebknecht eine Demonstration durchge- dung des Landesverbandes Thüringen führt. war ein Erfolg, es gilt nun, die begon- 9. Am 6. und 7.1.90 findet eine SPD- nene Arbeit zielstrebig, beharrlich und Veranstaltung (aus Hof) in Oberhof statt. gut organisiert fortzusetzen. Dazu wün- (...) sche ich uns allen viel Erfolg. 10. Am 3.1.90 um 17.00 Uhr in Weimar, Klub „Joh. R. Becher“ Warschauer Str. Jochen Vogel 26, (Neubaugebiet Weimar-West) fin- det das 1. Treffen zur Wahlvorbereitung Geschäftsführer der SDP Weimar statt. Von jedem Kreisvorstand bitte Weimar, 18. Dezember 1989 dafür 1 bis 2 Vertreter abstellen. (...) 12. Die Vorbereitung des Thüringer Par- teitages am 27.1.90 erfolgt durch Bil- dung einer Vorbereitungsgruppe, sie be- steht aus 6 Personen. Bezirk Gera: Jens Richter, Ingo Scheibe Bezirk Erfurt: Helmut Rieth, Frank Meyer Bezirk Suhl: Horst Steiner, Thomas Schmidt An Ingo Scheibe sind Anträge auf Zahl und Person über vorzuschlagende Vor- standsmitglieder des Landesverbandes bis zum 10.1.90 abzugeben. Die nomi- nierten Personen müssen demokratisch in Orts- und Kreisverbänden gewählt sein. (…) 90 DOKUMENTE Soziale Demokratie in und für Thüringen Gründungsakte des SDP-Ortsverbandes Trusetal vom 9. Oktober 1989 Soziale Demokratie in und für Thüringen DOKUMENTE 91

Sitzung des Organisationsausschusses Gotha für den Landesparteitag am 27. Januar 1990 in Gotha

An der Sitzung am 3. Januar [1990] im mer vorgesehen. Tische sind nur für 6 Tivoli/Gotha nahmen der Direktor des Präsidiumsmitglieder und 2 Organisati- Museums Michel Hedecker40, vom Vor- onshelfer (an der Fensterwand) vorgese- bereitungsausschuß Frank Ritter und Jo- hen. Rechts und links muß genügend hannes Schmiefar, der Sprecher der Go- Freiraum bleiben für tragbare Fernsehka- thaer Partei Helmut Rieth, Rudi Arndt, meras und Journalisten, die sich jeweils Armin Hoffarth, Günter Pohlmann teil. in Gruppen von ca. 6 für 10 Minuten im Folgende Punkte wurden besprochen: Versammlungssaal aufhalten dürfen. An der Rückseite des Saales, neben dem Ein- 1. Ablauf des Landesparteitages gang für die Teilnehmer ist Platz für 3 2. Organisation Standkameras. An der Stirnseite soll von den Teilnehmern aus gesehen rechts das 3. Vorbereitung der Pressearbeit große Originalbild vom Parteitag 4. Vorbereitung des Volksfestes (Hedecker)[sic!] aufgehängt werden. Links soll eine Drapierung alter Fahnen 5. Vorbereitung der Kundgebung (Parteifahne von 1863, Fahne des Wart- 6. Sonstiges burgfestes der Burschenschaften, Thürin- ger Fahne aus der Zeit 1920 bis 1948 u. ä.) erfolgen (Arndt). Nur das etwas er- 1. Ablauf des Landesparteitages höhte Rednerpult sollte mit dem Emblem „Sozialdemokraten für Thüringen“ und/ Der Landesparteitag soll die Tradition oder „SPD“ ausgestattet sein (Hoffarth, der SPD deutlich machen und deshalb Pohlmann). Es ist zu prüfen, ob die vor- soll – soweit dies möglich ist – der histo- handene Mikrofonanlage ausreicht (He- rische Rahmen des Einigungsparteitages decker, Hoffarth). von 1875 bestehen bleiben. Alle die von der SED dort aufgestellten Hinweise wer- den deshalb entfernt, und im ganzen Ti- 2. Organisation voli bleibt nur das, was in unmittelbarem Bezug zum Einigungsparteitag steht. Die zwei kleineren Säle im Erdgeschoß sollen für die Presse und den Imbiß vor- Im Tivoli im großen Saal wird eine Be- gesehen werden. (...) stuhlung für 100 (maximal 110) Teilneh- Der Pressesaal wird für etwa 40 Teilneh- 40 Michel Hebecker, damaliger Direktor der Museen mer ausgestaltet. Für Schreibmaschi- der Stadt Gotha. Dem Museumsverband war die Gedenk- stätte „Gothaer Parteitag 1875“ (vormals „Tivoli“) zuge- nen und Videoübertragung sorgt Hof- ordnet. farth. Mit der Post (Herr Gabel) wurde 92 DOKUMENTE Soziale Demokratie in und für Thüringen bezüglich der Überlassung weiterer Te- ter/Arndt informiert werden. Der Erlös lefonanschlüsse gesprochen. Evtl. muß aus den an den Ständen verkauften Sa- mit höheren Poststellen noch verhan- chen geht zu 50% an die jeweilige Kreis- delt werden (Rieth). Mit der Polizei ist organisation und zu 50% an den Lan- zu klären, ob die Nebenstraße „Am Ti- desverband Thüringen. (…) voli“ am 26./27. Januar für Fernsehüber- tragungs- und Materialwagen gesperrt wird (Rieth). 5. Vorbereitung der Kundgebung Hoffarth sorgt für Dekoration. Über dem Auch hierbei ist es erforderlich, die Eingang zum Garten Transparent „Sozial- Stadt (Bürgermeister) einzuschalten. Er demokraten für Thüringen“. Rechts und will prüfen, ob die Lautsprecheranlage links vorm Eingang zum Tivoli SPD- und zur Verfügung steht. Bei dem Gespräch Thüringen-Fahne (Arndt, Pohlmann). Im machte er so nebenbei auf die Kosten Eingang rechts stehen drei Schaukästen von 8.000 M aufmerksam. für Ausstellung zur Verfügung (Hoffarth, Ritter). Außerdem soll die Wand rechts Insgesamt fühlte er sich übergangen, da und links vom Eingang zum Pressesaal er bis zum 3.1. [1990] nur von anderen mit Plakaten dekoriert werden. informiert wurde und sich selbst für zu- ständig hält. Von dieser Seite aus könnte Nächste Sitzung möglichst unter Einbe- es unter Umständen noch zu Schwierig- ziehung der Polizei und der Stadtverwal- keiten kommen. tung am 11. Januar um 10 Uhr in Gotha (Rieth, Ritter, Hoffarth). 6. Sonstiges

3. Vorbereitung der Pressearbeit (…) Wurde nur angerissen. (...)

4. Vorbereitung des Volksfestes Das Volksfest soll auf dem Neuen Markt um 14 Uhr beginnen. Die Stände sollen jeweils in der Verantwortung der einzel- nen Kreisparteiorganisationen stehen. Den Kreisen ist bekannt, welche Un- terbezirke in Hessen mit ihnen Partner- schaften haben, mit denen sie sich be- züglich der Ausgestaltung der Stände direkt absprechen können. Soweit in die- ser Frage Probleme auftreten, sollen Rit- Soziale Demokratie in und für Thüringen DOKUMENTE 93

Einladung zum Gründungsparteitag der Thüringer SPD in Gotha 94 DOKUMENTE Soziale Demokratie in und für Thüringen

Geschäftsordnung des Gründungsparteitages der Thüringer SPD

• Stimmberechtigte Mitglieder des Landesparteitages sind jeweils 20 von der Par- teiorganisation in den jetzigen Bezirken Erfurt, Gera und Suhl entsandte Dele- gierte. Das Auswahlverfahren in den jetzigen Bezirken wird im Einvernehmen mit dem Vorbereitungsausschuß festgelegt. • Zur Überprüfung des Stimmrechtes wird eine Mandatsprüfungskommission be- stehend aus je einem Mitglied aus den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl auf Vor- schlag des Präsidiums gewählt. Über die endgültige Anerkennung des Stimm- rechtes entscheidet der Landesparteitag. • Das Präsidium besteht aus je zwei Mitgliedern aus den Bezirken Erfurt, Gera, und Suhl. Es eröffnet den Parteitag und führt die Verhandlung zunächst bis zur end- gültigen Konstituierung. Die vorläufige Zusammensetzung wird vom Vorberei- tungsausschuß bestimmt. • Das Präsidium kann Gästen das Rederecht erteilen. • Der Parteitag ist beschlußfähig, wenn mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten anwesend sind. Die Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. • Die Redezeit für Diskussionsredner und Antragsteller zur Geschäftsordnung be- trägt 5 Minuten. Die Redner erhalten in der Reihenfolge ihrer Wortmeldungen das Wort. Wortmeldungen sind schriftlich einzureichen. Berichterstatter können außerhalb der Reihenfolge der Wortmeldungen das Wort erhalten. • Der Berichterstatter der Antragskommission hat die Stellungnahme der Antrags- kommission zu begründen. Über den Vorschlag der Antragskommission ist zu- erst abzustimmen. Will der Parteitag eine andere Formulierung, so ist zunächst der Vorschlag der Antragskommission abzulehnen. • Anträge an den Parteitag müssen von mindestens 6 Delegierten unterstützt wer- den. Anträge, die mehr als ein Wort oder Satzteil ändern wollen, müssen schrift- lich rechtzeitig vor der Abstimmung eingebracht werden. • Anträge zur Geschäftsordnung können mündlich gestellt und begründet wer- den. Der Antragsteller erhält außerhalb der Reihenfolge der Diskussionsredner das Wort. Die Abstimmung erfolgt, wenn ein Redner gegen den Antrag gespro- chen hat. Spricht niemand gegen den Antrag, dann gilt er als angenommen. • Persönliche Bemerkungen sind nur am Schluß der Debatte möglich. Soziale Demokratie in und für Thüringen DOKUMENTE 95

Tagesordnung des Gründungsparteitages der Thüringer SPD

Bild 12: Präsidium des Gründungsparteitages der Thüringer SPD im historischen Saal des Gothaer „Tivoli“: (v.l.n.r.) Peter Laskowski (Geschäftsführer SPD Main-Kinzig), Wilfried Machalett (Eisenach), Thomas Schmidt (stehend) (Meiningen), Tilo Wetzel (Gera), Ingo Scheibe (Jena), Frank Ritter (Petriroda), Frank Meyer (Erfurt)

1. Begrüßung und Eröffnung 2. Konstituierung des Parteitages 2.1 Wahl des Präsidiums (je 2 Mitglieder aus den Bezirken Erfurt, Gera, Suhl) 2.2 Wahl einer Mandatsprüfungskommission (je 1 Mitglied aus den Bezirken Erfurt, Gera, Suhl) 2.3 Wahl einer Wahlkommission (je 2 Mitglieder aus den Bezirken Erfurt, Gera, Suhl) 2.4 Wahl einer Antragskommission (je 1 Mitglied aus den Bezirken Erfurt, Gera, Suhl) 3. Programmatische Rede – Diskussion 4. Grußansprachen 5. Vorstellung der Kandidaten für den Landesvorstand 6. Aussprache und Antragsberatung 7. Wahlen • des Landesvorsitzenden • der stellvertretende Landesvorsitzenden (3) • des Schatzmeisters • der Beisitzer (9) • der Revisoren (3) 8. Schlusswort des Landesvorsitzenden 96 DOKUMENTE Soziale Demokratie in und für Thüringen

Gästeliste des Gründungsparteitages der Thüringer SPD (alphabetisch)

Rudi Arndt Josef Felder Staatsminister der Hessischen Landes- Reichstagsabgeordneter der SPD 1932- regierung 1964-1972, Oberbürgermeis- 1933, Mitglied des Deutschen Bundes- ter der Stadt Frankfurt am Main 1972- tages 1957-1969 1977, 1979-1989 Mitglied des Europäi- schen Parlaments, Fraktionsvorsitzender, Dr. Herbert Günther seit 1. Januar 1990 Mitglied der SPD Vizepräsident des Hessischen Landtages, Erfurt, ehrenamtlicher Landesgeschäfts- Stellvertretender Landesvorsitzender der führer der Thüringer SDP SPD Hessen

Egon Bahr Reiner Hartmann Bundesminister a.D., Mitglied des Deut- Vorstandsmitglied der SPD in der DDR, schen Bundestages, Mitglied des Partei- Gründungsmitglied der SDP in Schwante vorstandes der SPD Karl-Heinz Hiersemann Otto Bauer Vorsitzender der SPD Bezirk Franken, Bezirksgeschäftsführer der SPD Franken Fraktionsvorsitzender im Bayerischen Ibrahim Böhme Landtag Geschäftsführer der SPD in der DDR, Armin Hoffarth Gründungsmitglied der SDP in Schwante Leitender Bezirksgeschäftsführer der Willy Brandt SPD Hessen Nord Bundeskanzler a.D., Vorsitzender der Joachim Hoffmann Sozialistischen Internationale, Ehrenvor- sitzender der SPD, Mitglied des Deut- Vorstandsmitglied der SPD in der DDR, schen Bundestages Gründungsmitglied der SDP in Schwante

Armin Clauss Jörg Jordan Vizepräsident des Hessischen Landtages, Staatssekretär der Hessischen Landes- Staatsminister der Hessischen Landesre- regierung 1980-1987, Mitglied des gierung 1976-1987 Landesvorstandes der SPD Hessen

Hans Eichel Lothar Klemm Landesvorsitzender der SPD Hessen, Mitglied des Hessischen Landtages, Oberbürgermeister der Stadt Kassel Landesgeschäftsführer der SPD Hessen Soziale Demokratie in und für Thüringen DOKUMENTE 97

Karl-Heinz Kniese Mitglied des Bundesvorstandes der AfA in der SPD

Hans Krollmann Mitglied des Hessischen Landtages, Staatsminister der Hessischen Landes- regierung 1973-1987

Peter Laskowski Unterbezirksgeschäftsführer der SPD Main-Kinzig

Dr. Marie-Elisabeth Lüdde Mitglied des Vorstandes der SPD in der DDR

Simone Manz Vorstandsmitglied der SPD in der DDR, Gründungsmitglied der SDP in Schwante

Dieter Mayer Bezirksgeschäftsführer der SPD Hessen Nord

Dr. Detlev Karsten Rohwedder Vorsitzender der Hoesch AG Dortmund

Ernst Welteke Mitglied des Hessischen Landtages, Fraktionsvorsitzender

Heidemarie Wieczorek-Zeul Mitglied des Deutschen Bundestages, Stellvertretende Landesvorsitzende der SPD Hessen 98 DOKUMENTE Soziale Demokratie in und für Thüringen

Brief von Rudi Arndt an die Thüringer Sozialdemokrat/innen Soziale Demokratie in und für Thüringen REDEN 99

REDEN VOM 27. JANUAR 1990 100 REDEN Soziale Demokratie in und für Thüringen Soziale Demokratie in und für Thüringen REDEN 101

Grundsatzrede von Frank Meyer (Erfurt) auf dem Gründungsparteitag der Thüringer SPD

Liebe Parteifreundinnen, sie aus jeder Unterdrückung stärker her- liebe Parteifreunde, verehrte Gäste! vorgehen und weil sie auch die Grundla- ge für die demokratische Neugestaltung Wenn wir uns heute an diesem für unseres Landes sein werden. die SPD so bedeutungsvollen Ort zum Parteitag zusammengefunden haben, so Sicher sind die meisten von uns einer wollen wir gleich zu Beginn unserer Be- Generation zugehörig, die das Wirken ratungen daran erinnern, daß die Sozi- der Sozialdemokraten nur aus den Bü- aldemokratie seit ihrem Bestehen nicht chern oder den Berichten der alten Par- immer die Möglichkeit gehabt hat, ihre teimitglieder aus beiden Teilen Deutsch- Ziele frei und ohne Unterdrückung zu lands kennen. Aber trotzdem stehen wir vertreten. Doch weder das Sozialisten- heute nicht allein vor diesem neuen und gesetz des vorigen Jahrhunderts noch schweren Anfang. Mit an unserer Seite die faschistische Barbarei von 1933 bis stehen Freunde und alte sozialdemokra- 1945 und auch nicht das Verbot der SPD tische Genossen im wahren Sinn dieses nach der Zwangsvereinigung mit der sta- Wortes mit ihren Erfahrungen und ihrem linistischen KPD vermochte die Idee und ungebrochenen Mut. Und wir freuen uns die Tradition der Sozialdemokratie in ganz besonders, daß unter uns auch Mit- Deutschland oder in einem Teil Deutsch- glieder der SPD weilen, die der Zwangs- lands zu zerstören. In den 115 Jahren vereinigung 1946 widerstanden haben. nach dem Gothaer Parteitag war die SPD Ihnen gilt unser besonderer Gruß und in diesem Teil Deutschlands mehr als 85 unser Versprechen, daß ihre Standhaftig- Jahre verboten. In den 12 Jahren der Na- keit nicht umsonst gewesen ist. (…) zidiktatur wurden Sozialdemokraten er- mordet und nach Zerschlagung der Bar- Liebe Freunde, barei gelang es einer stalinistischen vor 115 Jahren trafen sich in diesem Gruppe unter Mißbrauch des Begriffes Haus Delegierte der 1869 von August Antifaschismus erneut, die ersten Ansät- Bebel und Wilhelm Liebknecht gegrün- ze einer Demokratie zerschlagen. (…) deten Sozialdemokratischen Arbeiterpar- Trotz aller stalinistischen Unterdrü- tei und des 1863 von Ferdinand Lassal- ckung ist die SPD heute schon wieder le geschaffenen Allgemeinen Deutschen so stark wie je zuvor. An unseren Idea- Arbeitervereins zur Gründung der Sozi- len von Freiheit, Gerechtigkeit und De- alistischen Arbeiterpartei Deutschlands. mokratie haben sich unsere Gegner Wir sind uns heute unserer historischen immer wieder die Zähne ausgebissen, Verpflichtung bewußt, wenn wir als neu- weil diese Ideen eben stärker sind, weil formierte SPD auf dem Gebiet der DDR 102 REDEN Soziale Demokratie in und für Thüringen einen Parteitag zur Gründung eines Lan- desverbandes an die- ser historischen Stätte abhalten. Es ist gewiß kein nationalistischer Stolz, der unsere Her- zen erfüllt. Wir fühlen uns als Deutsche, wie auch unsere Nachbarn in Sachsen, in Bayern und in Hessen. Es ist vielmehr das neue Be- wußtsein von Freiheit, von Neugestaltung und Bild 13: Frank Meyer (links) und Hans Capraro (rechts): Gründungsmit- von der Zugehörigkeit glieder der Erfurter SDP (Foto: Sascha Fromm, Rechteinhaber: Thüringer zur internationalen Fa- Allgemeine) milie der Sozialdemo- kraten, daß sich unser bemächtigt hat. friedliches Deutschland nur denkbar in Und es ist die Freude vieler fleißiger und einem Gesamteuropa, das endlich den tapferer Mitstreiter über dieses gemein- Jahrtausende währenden Kriegen und sam erträumte und erarbeitete Ziele un- nationalistischen Verirrungen in Europa serer sozialdemokratischen Partei, im ein Ende setzt. In einem Gesamteuropa, hoffentlich bald wieder auch rechtlich das West-, Mittel- und Osteuropa, das existierenden Land Thüringen. Ein Land die demokratischen Staaten unseres Kon- Thüringen, das nicht am Rande eines tinents zusammenführt, sind die Fragen deutschen Teilstaates liegt, sondern im von Grenzen und Staatsbürgerschaften Herzen eines geeinten und friedlichen zweit- und drittrangige Fragen. (…) Deutschlands. Liebe Freunde, verehrte Gäste, Dabei wollen wir auch nicht den ge- als vor 20 Jahren unser Freund und ringsten Zweifel daran lassen, daß wir Sozialdemokraten nicht zurück wollen zu Genosse Willy Brandt erste politische der Idee des Nationalstaates vergangener Gespräche mit der Regierung der DDR wilhelminischer und großdeutscher Ter- führte, war das für uns alle ein Silber- minologie. Wir Sozialdemokraten haben streif am Horizont. Heute sehen wir be- Deutschland immer dann am besten ge- reits ein Stück Sonne, die für uns keine dient, wenn wir uns dem Nationalismus Dollar- und auch keine DM-Sonne wer- des Bürgertums und der Deutschnati- den soll. Wir wollen die Unterstützung onalen und auch der Faschisten wider- der wirtschaftlich starken BRD, aber setzt haben. Für uns ist ein geeintes und unter Einbringung unserer eigenen Kraft Soziale Demokratie in und für Thüringen REDEN 103 und unseres Willens diesen Aufbruch in keiner Durchführungsbestimmungen. eine neue Zukunft Deutschlands gestal- Wenn unsere Werktätigen nicht schnells- ten. (…) tens merken, daß sich Veränderungen real, ich betone, real vollziehen, dann Lassen wir uns nicht beirren, und das geht auch als Forderung an den Runden halten wir das Abwanderungsstreben Tisch nach Berlin, und halten wir fest, nicht auf. Das führt am Ende nicht zu die erwiesene Untauglichkeit der Politik mehr vertretbaren Belastungen bei uns, einer Partei verleiht uns die Erkenntnis, aber auch in der Bundesrepublik, die uns daß alles, was dieses Volk erreicht hat, allen, der SPD in der DDR und unseren gegen die SED erreicht wurde. Genossen in der BRD sehr schwer auf die Füße fallen können. Und wenn wir erfolgreich in die Zu- kunft schreiten wollen, dann darf es Wir wollen kein „Wenn“ und kein „Aber“ geben. • selbständig entscheidende Unter- Dann darf es kein Lavieren geben zwi- nehmen der verschiedensten Eigentums- schen einem Stück Marktwirtschaft und formen, die im Wettbewerb miteinander einem Stück alter Planwirtschaft. Sozial- ihre Waren und Dienstleistungen anbie- demokratische Wirtschaftspolitik ist un- ten; vereinbar mit dem Modergeruch eines verfilzten Systems, das seine reale Exis- • die Bildung und die Existenzberech- tenzberechtigung verloren hat. tigung von Betrieben ist ausschließlich am Bedarf auf den Binnen- und interna- Wie sehen sie nun aus die Grundzü- tionalen Märkten und an der Wirtschaft- ge sozialdemokratischer Wirtschaftspo- lichkeit zu messen. litik? Die Grundpositionen unserer Partei gehen aus von einer ökologisch orien- Unter diesen Gesichtspunkten ist die tierten sozialen Marktwirtschaft mit de- Notwendigkeit des Fortbestandes der mokratischer Kontrolle ökonomischer Kombinate in ihrer derzeitigen Struk- Macht. Die Frage nach den Eigentums- tur zu überprüfen. Der Staat hat über formen basiert auf der grundsätzlichen eine aktive Steuer- und Ausgabenpolitik Erkenntnis, daß nur die Existenz von Pri- sowie über neue Gesetze zur Regelung vateigentum an Produktionsmitteln die der Unternehmensstruktur die Rahmen- Garantie für einen wahrhaft freien Wett- bedingungen für eine freie Entfaltung bewerb der Unternehmen bietet. Dabei der Wirtschaft zu setzen. Subventionen geht es um ein gleichberechtigtes Ne- sind nicht zur Durchsetzung parteipoli- beneinander privater Betriebe, Genos- tischer Interessen, sondern, soweit er- senschaften und gemeinschaftlicher Un- forderlich, zur Förderung der Wirtschaft ternehmen. (…) einzusetzen. Wir wollen Preise, die sich In diesem Lande vollzieht sich eine re- am Markt bilden, die die Unternehmen volutionäre Wandlung, die alle Bereiche zwingen, nach immer effektiveren Lö- durchdringen muß. Und dazu bedarf es sungen zu suchen. (…) 104 REDEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Wir wollen die unbedingte Tarifau- serung der Arbeits- und Lebensbedin- tonomie der Unternehmen. Löhne und gungen. Dazu gehören das Grundrecht Gehälter sind zwischen Unternehmer auf menschenwürdigen Wohnraum wie und Gewerkschaften zu vereinbaren. auch das Recht auf Arbeit und Bildung, Wir wollen die freie Wahl von Betriebs- dazu gehören wirksame Maßnahmen räten als Interessenvertreter der Werktä- zur Humanisierung der Arbeitswelt und tigen mit einem Mitspracherecht zu per- zur langfristigen Verkürzung der Wo- sonellen, sozialen und wirtschaftlichen chenarbeitszeit. Die Verantwortung der Fragen. Wir betrachten die Bildung von Betriebe bei der Sicherung sozialer Be- Aufsichtsräten zur Kontrolle der Unter- lange ist zu erhöhen. Der Staat hat dafür nehmen in paritätischer Besetzung durch zu sorgen, daß entsprechende gesetz- Vertreter der Unternehmensleitung, der liche Rahmenbedingungen geschaffen Betriebsräte und der öffentlichen Hand werden. als Grundvoraussetzung für eine demo- kratisch organisierte Wirtschaft sowie Wir wollen das gute Prinzip der un- zur Garantie eines wahrhaften Mitspra- entgeltlichen gesundheitlichen Betreu- cherechts. Dazu sind dringend eine ung beibehalten. Ausgehend von den Überarbeitung des Arbeitsrechts, des Ta- Erkenntnissen der letzten Monate über rifrechts und eine Betriebsverfassungsge- die zum Teil unerträglichen Zustände in setzgebung erforderlich. (…) unseren Gesundheitseinrichtungen, hal- ten wir die Verbesserung der materiellen Sozialpartnerschaft muß in den Be- Voraussetzungen für dringend erforder- trieben beginnen und ist vom Staat lich. (…) wirksam zu ergänzen bis hin zu einem Sozialhilfesystem, bis hin zur Arbeitslo- Wir meinen, daß die Entwicklung senversicherung. Wir gehen davon aus, umweltfreundlicher Technologien, die daß die Arbeitslosigkeit in einer leis- Forderung und Förderung des Umwelt- tungsorientierten Marktwirtschaft ge- schutzes durch den Staat, die Einbezie- nerell nicht zu vermeiden ist. Wir leh- hung der Kosten für den Umweltschutz nen es jedoch ab, daß das Gespenst der in die Aufwandskalkulation zu einem un- Arbeitslosigkeit als Gegenargument für abdingbaren Bestandteil wirtschaftlichen eine Neuordnung der Wirtschaft be- Denkens und Handelns werden muß. schworen wird. Wir wollen einen Arbeit- (…) nehmer, der durch Mitbestimmung über Wir brauchen ein umfassendes Sys- die Höhe seines Anteils am gesellschaft- tem der staatlichen Kontrolle bis hin zu lichen Gesamtprodukt, gemessen an sei- einem Umweltstrafrecht, wir brauchen ner realen Leistung, das Gefühl erhält, die Einbindung des Umweltschutzes in nicht nur Produzent und Lohnempfän- die Finanzbeziehungen zwischen Bürger, ger, sondern Mitgestalter zu sein. (…) Betrieb und Staat, die Stimulierung um- Ein unabdingbarer Bestandteil der weltfreundlicher Verfahren in der Pro- Sozialpolitik ist eine wirkliche Verbes- duktion und in den privaten Haushal- Soziale Demokratie in und für Thüringen REDEN 105 ten über die Steuergesetzgebung sowie zu einer europäischen Friedensordnung die Schaffung eines Aufklärungssystems zu erreichen. Die Politik der Stärke muß zur Förderung des Umweltbewußtseins durch die Stärke der Politik ersetzt wer- unter der Bevölkerung. (…) den. Auf dem Boden beider deutscher Staaten konzentriert sich ein gewaltiges Dabei sind wir uns der besonde- Militärpotential. Daraus ergibt sich eine ren Verantwortung bewußt, die wir un- besondere Situation und Verantwortung. serem Volke, aber auch unseren Nach- (…) barn gegenüber tragen. Das Wort, ein Deutscher, soll nie mehr Assoziationen Das deutsche Volk hat, wie jedes wecken zu Krieg, zu Unterdrückung, zu andere auf dieser Welt, das Recht auf Mord und Menschenverachtung. Dieses Selbstbestimmung. Die Gewährung Wort soll stehen für Namen wie Goe- dieses Grundrechts soll und muß zen- the, Heine und später vielleicht auch traler Gegenstand der Verhandlungen für Namen der Gegenwart, für Män- mit unseren Verbündeten im Osten und ner und Frauen, die sich Verdienste bei den Westalliierten sein. der Überwindung der jahrhundertelang Der Dorn von Versailles sitzt sehr währenden deutschen Zersplitterung er- tief noch in unserem Fleisch. Tiefer noch worben haben. Wir bekennen uns zur seine Folgen. Einheit der deutschen Nation, wir be- kennen uns zu einem geeinten Europa, Entziehen wir dem Revanchismus in dem Deutschland ein starker Friedens- seinen Boden mit der Politik für ein ge- faktor sein wird. (…) eintes Europa, die jeglichen Gebietsan- spruch überflüssig macht! (…) Wir dürfen nichts tun, was die Lage in der Sowjetunion zuungunsten der von Wir erklären, daß eine wirksame Re- Gorbatschow eingeleiteten Politik de- form unserer Wirtschaft einhergehen stabilisiert. Und ich glaube, daß unse- muß mit der Verwaltungsreform, einher- re Freunde in der Bundesrepublik ihre gehen muß mit der Rückkehr zur Landes- Schritte ebenso in Übereinstimmung mit struktur. (…) ihren Verbündeten bringen müssen. Von diesem Parteitag geht der Ruf Nach wie vor existieren zwei poli- aus an alle Menschen unseres Landes, tische und militärische Paktsysteme, an verwirklicht mit uns das Recht auf Frei- deren Nahtstelle wir uns befinden. Wir heit und Selbstbestimmung. Die Ge- schichte der Sozialdemokratie gibt uns erachten es daher als erforderlich, daß das Mandat, dieses Land zu Frieden, die politische Aufgabenstellung die- Freiheit und Demokratie zu führen. Wir ser Bündnisse über die militärische ge- Sozialdemokraten der Bezirke Erfurt, stellt wird mit der Aufgabe, den Prozeß Gera und Suhl bekennen uns zu Europa, des paritätischen Abbaus der Militärpo- zu Deutschland und zu Thüringen! tentiale zu organisieren, gegenseitig zu kontrollieren und somit den Übergang 106 REDEN Soziale Demokratie in und für Thüringen Soziale Demokratie in und für Thüringen REDEN 107

Frieden nach außen und nach innen. Grußwort von Willy Brandt an den Gründungsparteitag der Thüringer SPD (Auszug)

Bild 14: Willy Brandt am 27.1.1990 bei seiner Rede im Gothaer Tivoli

(…) Daß ich keinen Sinn für Parteien Sie hat sich mit dem Ganzen gleichge- hätte, zumal für die eigene, kann mir kei- setzt, hat den Staat vereinnahmt und hat ner nachsagen. Trotzdem ist mir heute damit auch die Menschen entmündigt angesichts der Probleme, die ihr in die- und mißhandelt. Sie hat sich einen Staat sem Teil Deutschlands vor Euch habt und gehalten, der Andersdenkende ausschal- die wir miteinander zu bewältigen haben tete oder gar verfolgte und den Bürgern werden, nach überzogener Parteilich- Unmündigkeit und Gängelung zumutete. keit nicht zumute. Doch rechtsstaatliche, Genau das darf nicht wiedervorkommen. parlamentarische, freiheitliche Demokra- tie kommt ohne politische Parteien nicht Deshalb sagt bitte den Menschen aus. Dabei gilt es von Anfang an zu be- hier: Wer jetzt weggeht, nimmt jeweils denken: Partei ist schon dem Wortsinn eine Stimme mit! Aber hier bedarf es nach Teil des Ganzen. Und zu dem vie- jeder Stimme! Der Sinn der Revoluti- len anderen, was wir der SED nachzu- on, die bei weitem nicht abgeschlossen rufen haben, gehört ja, daß sie genau ist, dieser Sinn bliebe unerfüllt, münde- dies nicht verstanden und gewollt hat. te sie nicht in eine stabile demokratische 108 REDEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Ordnung, in der soziale Verantwortung ich füge hinzu: Die deutsche Einheit wird großgeschrieben wird, und die Sozial- europäisch eingebettet, oder sie wird demokraten sind nunmal dazu da, ihrem nicht sein. (…) Volk auf einem solchen Weg gute Helfer Ich denke, Ihr versteht, warum wir in und möglichst zuverlässige Wegweiser der Bundesrepublik sagen, wir wollen die zu sein. (…) EG nicht stoppen. Bei dieser Sache sind Ihr könnt stolz sein auf die Geschich- wir einig mit denen, die heute regieren. te, an die Ihr ja nicht anknüpfen könnt, Die Europäische Gemeinschaft soll sich aber die Ihr wieder aufleben lassen entwickeln und soll sich dann auch er- könnt, wozu ich ermutige, stolz sein ge- weitern können. Wir gehen nicht raus rade auf die sozialdemokratische Traditi- aus der NATO, so, wie die Dinge jetzt on in diesem Teil Deutschlands. (…) liegen in der Welt, sondern erst dann, wenn ein neues europäisches Friedens- Ich möchte gern noch ein paar Be- system entwickelt ist. Nun kenne ich merkungen zur Einheit machen, zu dem, die Bedenken mancher, dieses Deutsch- was jetzt ansteht in den nächsten Mo- land, wie immer das staatliche Dach aus- naten, was jetzt unbedingt geschehen sieht, könnte doch zu stark werden. Ich muß, und zur Sozialdemokratie. Laßt es meine zum Beispiel einen französischen mich so kurz wie irgend möglich ma- Minister, dessen Intelligenz ich sonst chen: Einheit ist, was die Menschen an- hoch einschätze, der sagt, Deutschland geht, ja nie ganz verlorengegangen, und dürfe ökonomisch nicht zu stark wer- sie nimmt jeden Tag neue Gestalt an. den. Da halte ich es als Replik mit jenem Wenn man rüberkommt und wenn man renommierten Harvard-Professor, der so viel Freundlichkeit begegnet, dann sagt, ein ökonomisch starkes Deutsch- spürt man: Die vielen Menschen sind wie- land sei ihm lieber als ein ökonomisch der nahe beieinander. Aber nun kommt schwaches. Und jemand aus meiner Ge- es darauf an, welche staatliche Form das neration weiß: Das deutsche Unglück ist annimmt. Also mit dem „Wieder“ ist das nicht gekommen, weil es uns wirtschaft- nicht getan. Denn „Wieder“ heißt ja, zu lich gut ging, sondern weil es uns wirt- etwas zurückkehren zu wollen. Die „Wie- schaftlich miserabel ging. Die deutsche der“ sagen, übersehen ja, daß das nicht Demokratie ist dann besser dran, wenn mal im Grundgesetz der Bundesrepu- wir uns auf eine gute Wirtschaft stützen blik Deutschland von 1949 steht. Da können. (…) steht „Selbstbestimmung“, da steht „Ein- Die Einheit hat keinen Preis. Das kann heit“ und „Europa“. Das sind die drei Mo- doch wohl nur heißen: Wir lassen sie tive, die drei Orientierungspunkte, und uns nicht abkaufen. Aber sonst wird das sie sind gleichermaßen wichtig. (…) was kosten, eine Menge wird es kosten! Die deutsche Einheit, die wächst, Aber wo ich die Gelegenheit dazu habe, wird föderalistisch, d.h. auf die Länder sage ich meinen Landsleuten im Wes- gestützt, oder sie wird nicht sein. Und ten: Wir müssen es uns was kosten las- Soziale Demokratie in und für Thüringen REDEN 109 sen! Erstens, weil es der gemeinsamen Leute, die sich schwer vergangen haben Zukunft dienen wird und denen, die oder schwerer Korruption überführt nach uns kommen. Und zweitens, weil werden, hinter Schloß und Riegel. Aber es nicht mehr als recht und billig ist, daß ich habe ein ganz ungutes Gefühl, wenn wir einen Teil der Lasten ausgleichen, die viele derer, die immer dabeigesessen dieser Teil Deutschlands für uns mitge- haben, jetzt glauben, durch die Jagd auf tragen hat. Und deshalb müssen wir für- Sündenböcke nicht nur von sich abzu- einander einstehen. lenken, sondern auch die Lehre reinhal- Ich warne dringend vor falschen Al- ten zu können, indem sie Fehler allein an ternativen. Als ob das Nationale oder Personen festmachen. Unter denen, die das Soziale getrennt anzugehen und zu in der Einheitspartei waren, sind ja auch lösen wäre. Oder das Nationale und das arme Teufel, für die das in ihrem Ver- Europäische und das Globale. Ich will ständnis mit ihrem Job zusammenhing nur noch hinzufügen: Es ist dringend ge- oder damit, ob der Junge oder die Toch- boten, daß der Umbruch gewaltfrei zu ter auf die Oberschule kam. Und was es Ende geführt wird, und es ist dringend sonst da alles gegeben hat. Das muß Bit- geboten, alles zu vermeiden, was Reibe- terkeit hinterlassen. Aber ich wünsche reien mit den fremden Truppen auf dem mir, daß diese so schön friedliche Revo- Boden der DDR zur Folge hätte. Die wer- lution – fröhlich ist sie ja vielerorts gewe- den ja im übrigen nicht immer da blei- sen –, auch in die Geschichte eingeht als ben. Nicht so lange, wie wir noch vor eine generöse. (…) kurzem vielleicht angenommen haben. Deren Zahl wird jetzt runtergehen, und Also, ich empfehle hierüber nachzu- dann werden sie eines Tages – ähn- denken, und laßt uns nach notwendiger lich wie aus Ungarn und der Tschecho- Abrechnung miteinander vornehmen, slowakei – zurückfahren. Und die Leute daß wir Frieden haben wollen. Nach werden ihnen alles Gute wünschen. außen und nach innen. Es klang ja schon an: Zu den verschie- denen Faktoren, die die europäische Re- Abgedruckt in: Willy Brandt: „.… was zusammengehört“. volution im Revolutionsjahr 1989 mög- Reden zu Deutschland. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn lich machten, gehört ganz gewiß Michail 1990, S. 81–87. Gorbatschow mit seiner Perestroika, die hart bedroht ist. Deshalb müssen wir wirklich alles Mögliche tun, damit die- sem wichtigen, schwierigen Prozeß öst- lich von uns mit Aufgeschlossenheit und mit Kooperationswillen begegnet wird. (…) Aber ich sage Euch auch dies, wenn ich es denn darf: Natürlich gehören 110 REDEN Soziale Demokratie in und für Thüringen Soziale Demokratie in und für Thüringen REDEN 111

Grußwort von Egon Bahr an den Gründungsparteitag der Thüringer SPD (Auszug)

Bild 15: Egon Bahr (l.), Ibrahim Böhme (Mitte) und Willy Brandt (r.) auf dem Gründungsparteitag der Thüringer SPD im historischen Saal des Gothaer „Tivoli“

(...) Deutschland – das war über Jahr- Bürger der DDR. Der kleinere Teil, der zehnte eine Utopie. Jetzt ist es zum Pro- bedrängte Teil der Deutschen, hat das blem befördert worden. Wie ist das unschätzbare Verdienst, diesen Prozess Wunder, das vor dreieinhalb Monaten in Gang gesetzt zu haben, für den Willy begann, eigentlich passiert? Nicht die Brandt sein inzwischen geflügeltes Wort NATO hat es bewirkt oder irgendwel- vom Zusammenwachsen geprägt hat. che Raketen, nicht Gorbatschow hat die deutsche Karte gespielt, wie viele be- Die Menschen in der DDR haben fürchtet haben, nicht Kohl oder Genscher Grund, stolz zu sein. Sie sind keine Bett- haben zu irgend etwas aufgerufen, und ler, sondern haben unserem Volk eine auch die SPD hat nicht zur Gründung Chance geschenkt, die die Menschen einer sozialdemokratischen Partei in der in der Bundesrepublik nicht geschaffen DDR aufgefordert. Die friedliche Revolu- haben. Wer aufrichtig ist, muß zugeben, tion war eine Sache der Bürgerinnen und daß die Deutschen in der Bundesrepublik 112 REDEN Soziale Demokratie in und für Thüringen weder ungeduldig gedrängt noch unter auch ein vereintes Deutschland sitzen in der Teilung besonders gelitten haben; in einem Boot mit allen anderen europä- Freiheit und Wohlstand lebt sich‘s ange- ischen Staaten, die keine Atomwaffen nehm. Und wenn das Schicksal es umge- haben und nur Opfer wären. Die Idee kehrt getroffen hätte, dann wäre auch der Selbstbestimmung schließt Atom- das Verhalten umgekehrt gewesen. Ich waffen-Freiheit ein. Mit den Ergebnissen kann schwierige Gefühle verstehen, hier von Wien II werden die Voraussetzungen wie dort, aber laßt uns darauf achten, geschaffen sein, um beide Bündnisse daß sie nicht zu Vorwürfen werden. (…) aufzulösen und durch ein gesamteuro- päisches Sicherheitssystem zu ersetzen, Solange es die beiden Bündnisse gibt, das gleichbedeutend wäre mit dem gesi- kann ich mir keine staatliche Einheit vor- cherten Frieden für Europa. stellen, jedenfalls gibt es kein Beispiel in der Geschichte, daß ein Staat zwei Bünd- Wir sind auf dem richtigen Weg, des- nissen angehört. Als Bürger ihrer Staaten sen Ende definierbar ist. Die Konfödera- gehören die Deutschen noch den Bünd- tion ist auch vorher erreichbar wie die nissen an. Als Menschen bereits nicht Vertragsgemeinschaft. Noch vorher muß mehr. Ich bin fest davon überzeugt, die Währungs- und Wirtschaftsunion daß die Deutschen nicht mehr schießen kommen. Wir sollten in keinem Augen- werden. Beide Armeen sind nicht mehr blick vergessen, daß das Ganze ohne kriegsverwendungsfähig gegeneinander. Gorbatschow auch nicht denkbar wäre. Vielleicht wissen das die Oberkomman- Jede Ungeduld ist verständlich, aber ich dos noch nicht, aber sie sollten es sich kann nur hoffen und bitten, dass die Ge- klarmachen. Alle Nachbarn können be- duld für die großen Schritte reicht, die ruhigt sein: Von der Mitte Europas geht nun möglich sind, obwohl niemand dies Frieden aus, wirklich radikalen Frieden. noch vor einem halben Jahr für möglich Auch das verdankt Europa den Men- gehalten hat. Die Gestaltung eines fried- schen in der DDR. So stark waren die lichen Europa, das vom Frieden zwischen Bundesbürger nie. den Deutschen ausgeht, das ist die Jahr- hundertchance. Jetzt brauchen wir die beiden Bünd- nisse zur Abwicklung, zu Verhandlungen Das ist die historische Antwort auf in Wien, zur Abrüstung, zu neuen Si- ein Jahrhundert von Blut, Tränen und cherheitsstrukturen, die Krieg nicht nur Ruinen, an denen die Deutschen wahr- nach Gefühl, sondern kontrolliert, garan- lich nicht unschuldig waren. Keine iso- tiert strukturell unmöglich machen. Das lierte deutsche Lösung, keine Neutrali- sozialdemokratische Konzept der Ge- tät, schon gar nicht die Erweiterung der meinsamen Sicherheit ist von einer Idee NATO, sondern die Europäisierung des zu einer Aufgabe geworden. (…) Ziel Friedens in Deutschland ist die Aufgabe muß es sein: keine Atomwaffen auf dem bis zum Ende dieses Jahrzehnts. Es wäre Boden von Staaten, die sie nicht besit- das sichere Fundament für das Euro- zen. Die beiden deutschen Staaten oder päische Haus. (...) Soziale Demokratie in und für Thüringen REDEN 113

Die Form der deutschen Einheit Ansprache von Willy Brandt an die Bevölkerung vor dem Eisenacher Rathaus am 27. Januar 1990

(…) Ich sage hier ganz offen: Wir Deutschen haben – was noch nicht über- all in der Welt verstanden wird – An- spruch auf Zusammenhalt, auf Einheit, und die jüngere Generation hat es alle- mal. Wir haben dieses Recht, aber wir müssen auch wissen, daß wir nicht allein auf der Welt leben. (…) Also ich finde, was seit November besprochen wird, sei es in Ost-Berlin, sei es jetzt in Bonn, das dauert schon ein bißchen lange. Das geht schon ein Vierteljahr. Da ist von einer Vertrags- gemeinschaft die Rede, da ist von fö- derativen Strukturen die Rede – es wird langsam Zeit, daß die Worthülsen mit Inhalten gefüllt werden. Was soll prak- tisch passieren mit der Wirtschaft? Mit der Währung? Es müssen, das sage ich nicht nur denen, die übernächste Woche von Ost-Berlin nach Bonn reisen – wahr- Bild 16: Ansprache von Willy Brandt vor dem Eise- scheinlich schon mit ein bißchen an- nacher Rathaus. Neben ihm Matthias Doht (Grün- dungsmitglied der Eisenacher SPD, seit Juni 2006 ders zusammengesetzter Übergangs- Oberbürgermeister von Eisenach, 4.v.r.), Ibrahim regierung41 –, das sage ich auch der Bun- Böhme (3.v.r.) und Hans Eichel (ganz rechts). desregierung in Bonn: Es müssen jetzt bald Nägel mit Köpfen gemacht werden! hen von der deutschen Wirtschaft, doch Welche Art von Impulsen soll ausge- wohl gefördert durch die Bundesrepu- blik Deutschland, damit es wirtschaftlich 41 Bildung einer „Regierung der nationalen Verantwor- möglichst rasch vorangeht? tung“ in der DDR am 29. Januar 1990: Ministerpräsident Hans Modrow beruft acht Vertreter des zentralen „Run- Dann gibt es kluge Leute, die sagen, den Tisches“ in die Regierung: Tatjana Böhm (Unabhän- giger Frauenverband), Rainer Eppelmann (CDU), Sebas- viele, die in der DDR Einheit fordern, tian Pflugbeil (Neues Forum), Matthias Platzeck (Grüne meinen in Wirklichkeit Wohlstand. Als Liga), Gerd Poppe (Initiative Frieden und Menschen- rechte), Walter Romberg (SPD), Klaus Schlüter (Grüne ob das so schlimm wäre! Warum haben Liga), Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt). 114 REDEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

ten sozialen Fragen gibt? Es muß klar werden, was noch in diesem Jahr ge- schehen kann und was im nächsten Jahr. Möglichst rasch müs- sen wir zu einer Wäh- rungsgemeinschaft kom- men. Auch da muß klar werden, was jetzt schon auf kurze Sicht geht und was noch ein paar Jahre dauert. Bei der dann not- wendigen Währungsan- gleichung muß aufgepaßt werden, daß die vielen ar- beitsamen Sparer dabei nicht unter die Räder kom- men. Der Gesichtspunkt der sozialen Gerechtig- keit muß auch bei diesem Stück Einheit respektiert werden. (…) Ich sage auch, ein ge- meinsames parlamen- tarisches Gremium, wie es übrigens in der etwas windigen Formel der Ver- Bild 17: Ansprache von Willy Brandt vor dem Eisenacher Rathaus: (2. v.l.) Ernst Welteke (SPD-Fraktionsvorsitzender im Hessischen tragsgemeinschaft ange- Landtag), (3. v.l.) Hans Eichel, (3. v.r.) Thomas Levknecht (Gründungs- legt ist, wird kommen mitglied der SPD Eisenach) müssen, und zwar pari- tätisch besetzt. Das par- die Menschen in der DDR nicht den An- lamentarische Gremium zwischen den spruch darauf, in nicht zu ferner Zu- beiden Teilen Deutschlands muß hervor- kunft den Lebensstandard zu erreichen, gehen zur Hälfte aus der Volkskammer, den wir in der Bundesrepublik erreicht die Sie wählen werden, und aus dem haben, wohl wissend, daß es auch bei Deutschen Bundestag. (…) uns im deutschen Westen noch manche Unebenheiten, noch manche ungelös- Unabhängig von der Wahl braucht Soziale Demokratie in und für Thüringen REDEN 115

Ihr neue realistische Hoffnungen. Es Es ist wohl nicht zu bestreiten, daß es kann nicht in ganz kurzer Zeit alles mehrere Faktoren gegeben hat, die diese so voranbewegt werden, wie man es friedliche Revolution in der DDR, aber möchte. Das wären Luftschlösser, von auch in Polen, der Tschechoslowakei, in denen ist nicht viel zu halten. Es ist bitter Ungarn möglich gemacht haben. Die notwendig, neue realistische Hoffnung Menschen hatten es satt. Sie hatten die zu begründen, denn wir wollen nicht, Nase voll, wollten Freiheit. Das ist das daß auf chaotische Weise Wiederverei- erste. Das alte Wirtschaftssystem hatte nigung darauf hinausläuft, daß wir uns sich als bankrott erwiesen. Das ist der alle in Westdeutschland wiederfinden. zweite Faktor. Und das dritte war, daß in Vereinigung muß doch bedeuten, daß der Sowjetunion ein moderner Mann an die deutschen Landschaften, die heute die Spitze gekommen war mit seiner Pe- zu Deutschland gehören, die Menschen, restroika. Er hat es nicht leicht, das kann die dort leben, aus ihrer jeweiligen Hei- man den Zeitungen und den Nachrichten mat heraus das Gemeinsame mittragen wohl entnehmen, und wir müssen wis- und mitgestalten. sen: Was wir in Deutschland tun, das darf Reformprozesse weiter östlich von uns – Ich sage zusätzlich noch etwas, was wenn es irgend geht – nicht behindern, ich eigentlich mehr in Westdeutschland sondern sollte sie im Gegenteil beflügeln sagen müßte als hier, aber ich sage es helfen. Einheit, deutsche Einheit, wird dort auch: Jeder von uns, der Verant- unter einem europäischen Dach zustan- wortung trägt und über deutsche Ein- de kommen müssen, ohne daß wir uns heit nicht nur Reden hält, muß wis- von anderen vorschreiben lassen, wann sen, daß das nicht umsonst zu haben wir welche Schritte von uns aus machen. ist. Der deutsche Westen muß materiell Aber es muß sich einfügen in ein Sicher- einen großen Beitrag dazu leisten. Das heitssystem für ganz Europa. Das kön- nenne ich übrigens nicht Hilfe. Ich nenne nen wir nicht alleine schaffen. Das müs- das füreinander einstehen, wie es sich sen wir mit den Nachbarn schaffen, mit in schwierigen Zeiten gehört, und ich der Europäischen Gemeinschaft und der nenne das auch einen Teil der Last ab- NATO, aber wir müssen es auch schaf- nehmen, die die Landsleute in der DDR fen mit den Nachbarn im Osten. Und wir für uns in Westdeutschland mitgetragen müssen hinhören, wenn die immer noch haben. Die Menschen in der DDR haben Mächtigen, also die großen Atommächte, den Krieg nicht mehr verloren als die in sich in diesen Prozeß mit einschalten. (…) der Bundesrepublik. Sie haben das kürze- re Los gezogen. Ihnen ist unendlich viel Es ist möglich, daß zwei deutsche mehr an Lasten aufgebürdet worden. Staaten – solange es sie noch gibt – Mit- Dieses muß mit zugrundegelegt werden, glied einer Wirtschaftsgemeinschaft, wenn wir über den Neuanfang, die neue nämlich der EG, sein könnten und daß, Zusammenarbeit uns im klaren werden. wenn sie es wären, dadurch auch die (…) Teile einander noch näher kommen. 116 REDEN Soziale Demokratie in und für Thüringen

Es ist nicht möglich, daß ein deutscher Staat zwei militärischen Sicherheitssys- temen angehört. Das ist nicht gut denk- bar. – Also da haben wir den neuen Zu- sammenhang zwischen deutscher Einheit und der Überwindung der Spaltung Eu- ropas. Das ist eine Menge, auch viel Schwie- riges, was wir vor uns haben. Ich bin davon überzeugt, wir schaffen das. In diesem Volk steckt genug drin, an Kraft und an gutem Willen. Gerade auch an Willen zur Verständigung.

Abgedruckt in: Willy Brandt: „.… was zusammengehört“. Reden zu Deutschland. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1990, S. 89-97. Soziale Demokratie in und für Thüringen REDEN 117

Schlusswort des Thüringer Landesvorsitzenden Wilfried Machalett auf dem Gründungsparteitag der Thüringer SPD

Wir gründen heute unseren Landes- verband der Sozialdemokratischen Partei, und er ist damit der dritte thüringische Landesverband. Die CDU hat Thüringen als Thema für sich entdeckt und laut und eilig gehandelt. Publizistisch mehr im Stillen hat der Demokratische Aufbruch seinen Landesverband aus der Taufe ge- hoben. Die Notgründung der LDPD fällt mir schwer anzuerkennen. Deshalb habe ich sie nicht mitgezählt. Heute vollziehen wir, was wir vor Wo- chen beschlossen haben. Ich meine: Das muss mehr sein und das ist mehr als das

Zusammenwerfen von Partei-Unterbe- Bild 18: Wilfried Machalett, 1990 zirken. Einigkeit, das war das Motto des Gothaer Parteitages damals. Einigkeit – auch ein Impuls für heute. wendigen Schritte einleitet. Wir sind zu einer angemessenen Beteiligung be- Lasst uns hier und jetzt folgende Ini- reit. Ich bin sicher, dieses Verhalten fin- tiative ergreifen: Es muss schnell wieder det die Zustimmung der Menschen in ein Land Thüringen geben. Die Verwal- diesem Land. Und: Lasst uns über Thü- tungsreform ist notwendig und braucht ringens Grenzen reden. Die Bezirke Er- Zeit. Mit der Neuschaffung des Landes furt, Gera und Suhl sind nicht alles. Die Thüringen sollten wir uns keine Zeit Kreise Altenburg und Schmölln, die Dör- mehr lassen. fer Fraureuth, Fröbersgrün und Berns- Deshalb die Aufforderung an an- grün bei Greiz, Bad Frankenhausen mit dere Parteien: Gründet ebenfalls Lan- Umland und Allstedt mit Umland, all das desverbände. Setzt Euch dann mit uns war auch Thüringen vor seiner Zerschla- baldmöglichst an einen Tisch. Lasst und gung und wird es wieder sein. Denn ich gemeinsam dafür sorgen, dass Thürin- meine, es gibt keinen Grund für die Ver- gen wiederersteht. Lasst uns einen Vor- änderung historisch gewachsener Gren- bereitungsausschuss bilden, der die not- zen. Lasst uns Thüringen zu einem Land 118 REDEN Soziale Demokratie in und für Thüringen machen, das im positiven Sinne wieder in aller Munde ist. Thüringen, das grüne Herz Deutsch- lands – gesund und leistungsfähig. Lasst uns unseren Verstand und un- sere Gefühle in seine Erneuerung einbrin- gen. Auf Sentimentalitäten sollten wir verzichten. Mit der Auflösung der Struk- turen der Bezirke setzen wir ein Zeichen der Überwindung der Reste des Stalinis- mus. In der Zeitung „Thüringer Allgemei- ne“ stand vor zwei Wochen die Zuschrift einer Mecklenburgerin. Ich zitiere sinn- gemäß: „Was soll das Gerede von Thü- ringen? Nur Berge und Wald, nur Löffel- schnitzer und Schluchtenjodler. Alles in allem nichts los.“ Lasst uns den Gegen- beweis antreten. Wo sonst ist etwas los, wenn nicht bei uns. Soziale Demokratie in und für Thüringen STATISTIK 119

STATISTIK 120 STATISTIK Soziale Demokratie in und für Thüringen Soziale Demokratie in und für Thüringen STATISTIK 121

Erster Landesvorstand der SPD Thüringen (gewählt am 27. Januar 1990 in Gotha)

Vorsitzender: Wilfried Machalett (Eisenach) Stellvertreter: Bernd Brösdorf (Mühlhausen), Horst Steiner (Sonneberg), Frieder Lippmann (Gera) Schatzmeister: Hans Capraro (Erfurt) Beisitzer: Werner Beck (Suhl), Roland Deschler (Suhl), Lothar Franke (Gera), Hans-Werner Martin (Weimar), Frank Meyer (Erfurt), Jörg Müller (Gera), Reiner Müller (Suhl), Jochen Vogel (Weimar), Tilo Wetzel (Gera)

Revisoren: Matthias Doht (Eisenach), Christoph Rösner (Gera), Frieder Wenzel (Suhl) Geschäftsführer: Frank Ritter (Petriroda) Pressesprecher: Wilfried Regenhardt (Weimar)

Zweiter Landesvorstand der SPD Thüringen (gewählt am 26. Mai 1990 in Bad Frankenhausen)

Vorsitzender: Bernd Brösdorf (Mühlhausen) Stellvertreter: Peter Laskowski (Gotha), Rainer Müller (Steinach), Dr. Christine Rudolph (Jena) Schatzmeister: Hans Capraro (Erfurt) Beisitzer: Uta Böttner (Apolda), Andreas Enkelmann (Ilmenau), Tamara Göbel (Erfurt), Werner Griese (Erfurt), Lutz Klaus (Eisenberg), Ines Kühn (Gera), Dagmar Kühnast (Pößneck), Frieder Lippmann (Saalfeld), Jörg Müller (Jena), Prof. Dr. Gerhard Schmidt (Weimar), Gisela Schröter (Sondershausen), Dr. Gerd Schuchardt (Jena), Wieland Sorge (Meiningen), Horst Steiner (Sonneberg), Tilo Wetzel (Gera)

Revisoren: Günther Dettmann (Heiligenstadt), Dr. Hartmut Storz (Jena), Rolf Tanz (Erfurt) Schiedskommission: Helmut Pfeiffer (Nordhausen, Vorsitzender), Uwe Brick (Jena, Stellvertreter), Hans Joachim Scharf (Arnstadt, Stellvertreter), Hans-Peter Conrad (Zella- Mehlis, Beisitzer), Ullrich Häfner (Sonneberg, Beisitzer), Detlef Klauer (Erfurt), Werner Oswald (Saalfeld, Beisitzer) Geschäftsführer: Frank Ritter (Petriroda) 122 STATISTIK Soziale Demokratie in und für Thüringen

SPD-Partnerschaften zwischen Ost und West

Bezirk Erfurt SPD-Bezirksbüro Erfurt SPD-Bezirk Hessen Nord Predigerstraße 4 5020 Erfurt

KV Apolda UB Groß-Gerau KV Arnstadt UB Kassel-Stadt KV Eisenach UB Marburg-Biedenkopf KV Erfurt-Stadt UB Kassel-Land KV Erfurt-Land UB Waldeck-Frankenberg KV Gotha UB Main-Kinzig KV Heiligenstadt UB Schwalm-Eder KV Langensalza UB Main-Taunus KV Mühlhausen UB Werra-Meißner KV Nordhausen UB Limburg-Weilburg KV Sömmerda UB Kreis Offenbach KV Sondershausen UB Wetterau KV Weimar-Stadt UB Darmstadt-Stadt KV Weimar-Land UB Darmstadt-Dieburg KV Worbis UB Kreis Bergstraße Arnstadt Kassel Eisenach Marburg Erfurt Mainz Gotha Salzgitter Heiligenstadt Husum Mühlhausen Eschwege Sömmerda Böblingen Weimar Trier Soziale Demokratie in und für Thüringen STATISTIK 123

SPD-Partnerschaften zwischen Ost und West

Bezirk Gera Bezirksbüro Gera Bezirk Franken Anger 46/48 5020 Erfurt

KV Eisenberg UB Haßfurt KV Gera- Stadt UB Nürnberg KV Gera-Land UB Nürnberg KV Greiz UB Fürth KV Jena-Land Geschäftsstelle Biberach/Ulm KV Jena-Stadt UB Gießen/Erlangen KV Lobenstein UB Coburg KV Pößneck UB Bamberg KV Rudolstadt UB Bayreuth KV Saalfeld UB Kulmbach KV Schleiz UB Ansbach KV Stadtroda UB Aschaffenburg KV Zeulenroda UB Roth Gera Nürnberg Jena Erlangen Rudolstadt Bayreuth Saalfeld Kulmbach 124 STATISTIK Soziale Demokratie in und für Thüringen

SPD-Partnerschaften zwischen Ost und West

Bezirk Suhl Bezirksbüro Suhl Bezirk Hessen-Süd Anton-Ullrich-Straße 10 6100 Meiningen

KV Bad Salzungen UB Hersfeld-Rotenburg KV Hildburghausen UB Lahn-Dill KV Ilmenau UB Hochtaunus KV Meiningen UB Fulda KV Schmalkalden UB Vogelsberg KV Sonneberg UB Offenbach-Stadt/Coburg KV Suhl-Stadt UB Frankfurt am Main/Würzburg Ilmenau Homburg/Saar Meiningen Neu-Ulm Schmalkalden Recklinghausen Suhl Würzburg Soziale Demokratie in und für Thüringen STATISTIK 125

Wahlergebnisse der SPD in Thüringen 1990

Kreis Volkskammerwahl Kommunalwahl Landtagswahl am Bundestagswahl am 18. März 1990 am 6. Mai 1990 14.10.1990 am 2.12.1990

Altenburg 18,55 21,04 23,15 21,95 Apolda 14,88 16,77 21,65 21,32 Arnstadt 16,76 23,63 23,44 22,39 Artern 15,92 16,19 23,98 23,43 Bad Salzungen 16,86 18,40 21,15 21,05 Eisenach 21,49 28,54 28,23 25,72 Eisenberg 16,86 7,98 23,77 24,50 Erfurt (Stadt) 21,49 22,37 23,07 23,62 Erfurt (Land) 13,92 11,87 20,20 19,24 Gera (Stadt) 18,36 27,84 24,01 23,60 Gera (Land) 14,16 15,42 20,78 20,08 Gotha 20,61 26,67 27,25 24,79 Greiz 16,21 23,32 21,86 21,61 Heiligenstadt 11,69 ? 12,18 12,29 Hildburghausen 16,04 20,21 22,21 21,70 Ilmenau 15,91 16,71 22,51 21,05 Jena (Stadt) 23,05 21,60 25,31 23,41 Jena (Land) 15,15 13,63 21,76 20,89 Bad Langensalza 17,81 21,63 23,89 24,27 Lobenstein 14,69 12,68 21,49 24,27 Meiningen 15,57 18,37 21,84 21,78 Mühlhausen 17,62 20,56 23,78 21,99 Neuhaus 16,45 19,00 23,68 22,41 Nordhausen 20,84 23,89 27,34 26,30 Pößneck 13,37 13,99 20,10 20,63 Rudolstadt 14,17 19,18 22,41 22,03 Saalfeld 16,11 21,43 22,99 23,36 Schleiz 12,81 12,18 19,27 20,21 Schmalkalden 15,15 16,14 21,07 20,20 Schmölln 19,81 24,00 24,65 23,15 Sömmerda 16,96 16,85 23,56 21,98 Sondershausen 19,64 19,37 28,89 25,31 Sonneberg 16,41 21,60 22,82 20,48 Stadtroda 15,37 11,37 21,60 21,78 Suhl (Stadt) 16,32 15,69 17,90 19,99 Suhl (Land) 16,03 15,92 19,55 18,93 Weimar (Stadt) 20,71 19,36 20,93 21,08 Weimar (Land) 13,95 10,35 20,69 19,18 Worbis 12,19 10,70 14,93 12,80 Zeulenroda 12,22 11,88 17,47 18,72 126 STATISTIK Soziale Demokratie in und für Thüringen

Volkskammerabgeordnete der Thüringer SPD 1990

Gerhard Botz (Lichtenhain): Ausschuss Dr. Christine Rudolph (Jena): Ausschuss Ernährung, Land- und Forstwirtschaft Ernährung, Land- und Forstwirtschaft; Bernd Brösdorf (Mühlhausen): Finanz- Ausschuss Umwelt, Naturschutz, Energie ausschuss, Haushaltsausschuss und Reaktorschutz Irene Ellenberger (Weimar): Ausschuss Wieland Sorge (Meiningen): Ausschuss Forschung und Technologie; Ausschuss Post und Fernmeldewesen; Ausschuss Familie und Frauen Jugend und Sport Frank Jauch (Jena): Ausschuss Umwelt, Frank Wietschel (Erfurt): Ausschuss Naturschutz, Energie und Reaktorschutz Gesundheitswesen Frieder Lippmann (Saalfeld): Wirt- schaftsausschuss Über die Landesliste des Bezirks Leipzig Gerhard Neumann (Gotha): Ausschuss zog auch Volker Schemmel (Altenburg) Jugend und Sport; Ausschuss Post und in die Volkskammer ein. Er war stellvertre- Fernmeldewesen tender Fraktionsvorsitzender und Mit- glied des Ausschusses Verfassung und Edelbert Richter (Weimar): Ausschuss Verwaltungsreform. Presse und Medien

Mitglieder des Thüringer Landtages 1990 - 1994

Ekkehardt Dietze (Rudolstadt, Frieder Lippmann (Saalfeld) 1994 ausgeschieden) Dr. Dieter Mäde (Kölleda) Hans-Jürgen Döring (Leinefelde-Worbis) Klaus Mehle (Oldisleben) Irene Ellenberger (Weimar) Günther Pohl (Bad Salzungen) Andreas Enkelmann (Ilmenau) Andreas Preller (Gera) Peter Friedrich (Altenburg) Ingrid Raber (Nordhausen) Heiko Gentzel (Eisenach) Helmut Rieth (Gotha) Werner Griese (Erfurt) Dr. Christine Rudolph (Jena) Dr. Peter Gundermann (Arnstadt) Dr. Gerd Schuchardt (Jena, Fraktionsvorsitzender) Edda Heymel (Breitungen) Harald Seidel (Greiz) Berthold Klein (Trier, Parlamentarischer Geschäftsführer) Kurt Weyh (Apolda) Soziale Demokratie in und für Thüringen STATISTIK 127

Gothaer „Tivoli“ und die Einsetzung Zeittafel eines Vorbereitungsausschusses

1989 21. Dezember Treffen von Vertretern aller Thüringer 26. August Ortsverbände der SDP/SPD mit hes- Aufruf zur Gründung einer Sozialdemo- sischen Sozialdemokraten in der Grenz- kratischen Partei in der DDR durch Ibra- stadt Herleshausen him Böhme, Martin Gutzeit, Markus Me- ckel und Arndt Noack am 200. Jahrestag 1990 der Erklärung der Menschen- und Bür- gerrechte durch die Französische Natio- 6. Januar nalversammlung Interview des SED-Bezirksorgans „Das Volk“ mit Hans Capraro und Frank Meyer 12. September über Ziele und Programmatik der SDP im Aufruf der Initiativgruppe „Sozialdemo- Bezirk Erfurt kratische Partei in der DDR“, unterzeich- net durch Helmut Becker, Ibrahim 13. Januar Böhme, Konrad Elmer, Martin Gutzeit, Beschluss der SDP-Delegiertenkonferenz Markus Meckel. Hans-Jürgen Misselwitz in Berlin zur Umbenennung in SPD und Arndt Noack 27. Januar 7. Oktober Gründungsparteitag der Thüringer SPD Gründung der Sozialdemokratischen Par- im historischen Saal des Gothaer „Tivoli“; tei in der DDR (SDP) in Schwante bei Ber- Wahl von Wilfried Machalett zum ersten lin Landesvorsitzenden 9. November Kundgebung auf dem Eisenacher Markt- Fall der Berliner Mauer platz mit ca. 40.000 Teilnehmern 1. Dezember Volksfest und Kundgebung auf dem Go- Treffen einer Delegation von Vertretern thaer Hauptmarkt mit ca. 100.000 Teil- der SDP im Bezirk Erfurt mit Hans-Jochen nehmern Vogel, Hans Eichel und weiteren hes- 29. Januar sischen Sozialdemokraten im Kasseler Bildung einer „Regierung der nationalen Rathaus Verantwortung“ unter Ministerpräsident Hans Modrow: Aufnahme von acht Ver- 15. Dezember tretern der Bürgerrechtsbewegung als Treffen von Vertretern der SDP in den Minister ohne Geschäftsbereich Bezirken Erfurt, Gera und Suhl in der „Harrasmühle“ bei Pößneck; Beschluss 30. Januar über die Gründung des Thüringer Lan- Konstituierende Sitzung des neu gewähl- desverbandes am 27. Januar 1990 im ten Thüringer Landesvorstandes 128 STATISTIK Soziale Demokratie in und für Thüringen

Bild 19: Ankunft von Willy Brandt auf dem Erfurter Bahnhofsvorplatz am 3. März 1990

3. März 6. Mai Kundgebung mit Willy Brandt auf dem Kommunalwahlen in Thüringen Erfurter Domplatz im Rahmen des Volks- 18. Mai kammerwahlkampfes mit ca. 80.000 Teil- Unterzeichnung des Staatsvertrages zur nehmern und Empfang im „Erfurter Hof“ Wirtschafts-, Währungs- und Sozialuni- 18. März on zwischen DDR und BRD Volkskammerwahl (Wahlsieg der „Alli- 26. Mai anz für Deutschland“); Rücktritt von Zweiter Landesparteitag der Thüringer Wilfried Machalett als Thüringer Landes- SPD in Bad Frankenhausen; Wahl eines vorsitzender; Bernd Brösdorf übernimmt neuen Landesvorstandes und Bernd den provisorischen Landesvorsitz Brösdorfs zum Thüringer Landesvorsit- 2. April zenden Rücktritt des SPD-Vorsitzenden Ibrahim 1. Juli Böhme wegen des Verdachts der Stasi- Wirtschafts-, Währungs- und Sozialuni- Mitarbeit on tritt in Kraft 11. April 22. Juli Koalitionsvereinbarung zwischen Allianz Ländereinführungsgesetz zur Wieder- für Deutschland, SPD und Liberalen zur gründung der Länder Brandenburg, Me- Bildung einer gemeinsamen Regierung in cklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sach- der DDR sen-Anhalt und Thüringen Soziale Demokratie in und für Thüringen STATISTIK 129

16. August Rücktritt von Bernd Brösdorf als Thürin- ger Landesvorsitzender wegen seiner Stasi-Kontakte 19. August Austritt der SPD aus der DDR-Regierung 25. August Dritter Landesparteitag der Thüringer SPD in Jena; Wahl Prof. Dr. Friedhelm Farthmanns zum Ministerpräsiden- tenkandidaten für die Thüringer Land- tagswahl 31. August Unterzeichnung des Einigungsvertrages durch die Regierungen der DDR und BRD 20. September Verabschiedung des Einigungsvertrages in Volkskammer und Deutschem Bundes- tag 27. September Vereinigung von ostdeutscher und west- deutscher SPD in Berlin 3. Oktober Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 GG 14. Oktober Thüringer Landtagswahl (Wahlsieg der CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Josef Duchac) 2. Dezember Wahl zum ersten gesamtdeutschen Bun- destag (Wahlsieg der CDU mit Kanzler Helmut Kohl) 130 Soziale Demokratie in und für Thüringen

Bildverzeichnis

Bild 1: Die SDP-Gründer/innen am 7. Oktober 1989 vor dem Pfarrhaus in Schwante (Archiv der sozialen Demokratie) Bild 2: SDP-Ausweis Gotha (Reproduktion: FES) Bild 3: Eine Delegation der Thüringer Sozialdemokratie in Kassel mit Hans-Jochen Vogel (SPD) Bild 4: vorwärts-Titel (Archiv der sozialen Demokratie) Bild 5: Bernd Brösdorf 1990 (Bundesarchiv, 183-1990-0328-300) Bild 6: Hans Eichel 1990 (Bundespresseamt, B 145 Bild-00080067) Bild 7: Armin Hoffarth 1990 (Armin Hoffarth) Bild 8: Frieder Lippmann 1990 (Bundesarchiv, 183-1990-0328-307) Bild 9: Helmut Rieth (links) mit Holger Börner am 16. November 1990 in Gotha (Agentur Helmut Rieth) Bild 10: Thomas Schmidt 1990 (Bundesarchiv, 183-1990-0226-300) Bild 11: Tilo Wetzel 1990 (Bundesarchiv, 183-1990-0216-319) Bild 12: Präsidium des Gründungsparteitages der Thüringer SPD im historischen Saal des Gothaer „Tivoli“ (Rechteinhaber unbekannt) Bild 13: Frank Meyer (links) und Hans Capraro (rechts): Gründungsmitglieder der Erfurter SDP (Sascha Fromm, Thüringer Allgemeine) Bild 14: Willy Brandt im am 27.1.1990 im Tivoli in Gotha (Roland Obst, Thüringer Allgemeine). Bild 15: Egon Bahr (l.), Ibrahim Böhme (Mitte) und Willy Brandt (r.) auf dem Grün- dungsparteitag der Thüringer SPD im historischen Saal des Gothaer „Tivoli“ (Bundesarchiv, 183-1990-0127-011) Bild 16: Willy Brandt vor dem Eisenacher Rathaus (Fritz Thoma) Bild 17: Willy Brandt und Menschenmenge in Eisenach (Hans-Jürgen Fischer) Bild 18: Wilfried Machalett 1990 (Bundesarchiv, 183-1990-0219-311) Bild 19: Ankunft von Willy Brandt auf dem Erfurter Bahnhofsvorplatz am 3. März 1990 (Fritz Thoma) Titel: Willy Brandt bei seiner Rede auf dem Hauptsmarkt in Gotha am 27.1.1990 (Hans-Jürgen Fischer)

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