Die Entwicklung des Fußballs im deutschsprachigen Raum von 1918 bis 1945

MASTERARBEIT

zur Erlangung des akademischen Grades

Master of Arts (MA)

an der Karl-Franzens-Universität

vorgelegt von

Philipp Anton Hammerle

am Institut für Geschichte

Begutachter: Univ.- Dozent Dr. phil. Martin Moll

Graz, 2016

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbe- hörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

Datum:

Unterschrift:

„Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die zusätzliche Verwendung der weiblichen Form verzichtet. Ich möchte deshalb besonders darauf hinweisen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form explizit als geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.“

Danksagung

Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Personen, die mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben, auf das herzlichste bedanken.

Besonders hervorheben möchte ich meinen Betreuer Univ.-Doz. Dr.phil. Martin Moll, der sich für die Beantwortung meiner Fragen immer Zeit nahm und mir hilfreiche Tipps und konstruktive Kritik geben konnte. Ohne ihn wäre die Arbeit in dieser Weise nicht möglich gewesen.

Zudem bedanke ich bei meinen Eltern Bertram und Barbara, meinem Bruder Georg sowie meiner Tante Elke und ihrem Lebenspartner Franz.

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ...... 6

2. Zum aktuellen Forschungsstand in der Sportgeschichte ...... 6

3. Historische Entwicklung der Sportart Fußball ...... 8

3.1 Volksspiele ...... 11

3.2 Moderne Sportspiele ...... 12

3.3 Zur Verbreitung des Fußballsports ...... 13

3.4 Zur Rolle des Begriffs „Nation“ im Fußball ...... 15

3.5 Der Fußball wird zu einem deutschen Spiel ...... 18

3.6 Charakteristika des „deutschen Spiels“ ...... 21

4. Fußball im Zeitalter der Krisen (1918-1939) ...... 24

4.1 Zur Rolle des Militärfußballs 1939-1945 ...... 28

4.2 Über die Militär- und Fußballkameradschaften...... 30

4.3 Sport und Militär ...... 30

4.4 Zur Rolle der Fußballpublizistik im „Dritten Reich ...... 31

4.5 Zu den Positionen der Fachzeitschriften „Der Kicker“ und „Fußball“ ...... 33

4.6 Zur Erklärung der Fußballersprache ...... 37

4.7 Über die Bedeutung des Stadions als Raum und Ort...... 41

5. Die Rolle des DFB im „Dritten Reich“ ...... 45

5.1 Linnemanns Kampf gegen die Professionalisierung 1933-1939 ...... 46

6. Fußball als Arbeitersport ...... 48

6.1 Der Fußballspieler als Vertreter der Arbeiterklasse ...... 49

6.2 Arbeiterfußball im Ruhrpott ...... 51

6.3 Der Spielfilm „Das große Spiel“ als Dokument zum „Mythos Revierfußball“ ...... 54

6.4 Über die Verwertung des materiellen Erbes der Arbeitervereine ...... 56

7. Profifußball im Amateurverband: Der deutsche Sonderweg ...... 57

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7.1 Zur Frage der Reichs- bzw. Amateurliga ...... 59

7.2 Professionalisierung des Fußballs in der Schweiz ...... 60

7.3 Der Schweizer Fußball im Zeichen der „Geistigen Landesverteidigung“...... 62

8. Fußball in Österreich: Amateurismus mit Profiallüren ...... 64

8.1 Versteckter Professionalismus in der Steiermark ...... 66

8.2 Vergleiche zwischen dem Fußball in Österreich und in Deutschland ...... 67

8.3 Betrachtungen über den Steirischen Fußballverband in der Nachkriegszeit ...... 70

9. Zur Lage der Juden im österreichischen Fußball während der NS-Zeit ...... 72

10. Der FC Bayern München und seine Juden ...... 76

11. Über die „Nationalsozialistischen Vorzeigevereine“ ...... 78

12. Über die Haltung der deutschsprachigen Vereine im Nationalsozialismus ...... 81

12.1 Die „Roten“ und „Blauen“ im Nationalsozialismus ...... 85

12.2 Der FC Bayern zwischen Zuckerbrot und Peitsche ...... 90

12.3 Die Münchner Großklubs im Sog von Verfolgung, Vertreibung und Mord ...... 92

12.4 Die Wiener Fußballschule in der NS-Zeit ...... 94

12.5 Der Wiener Vereinsfußball von 1938-1945 ...... 95

12.6 Über die sogenannte „Wiener Resistenz“ ...... 96

12.7 Zur Aufrechterhaltung des Wiener Fußballs ...... 98

13. Resümee ...... 101

14. Literaturverzeichnis ...... 105

14.1 Sekundärliteratur ...... 105

14.2 Aufsätze ...... 106

14.3 Internetquellen ...... 107

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1. Einleitung

Zuerst möchte ich kurz erklären, warum ich dieses Thema für meine Masterarbeit gewählt habe. Als Hobbyfußballer und leidenschaftlicher Fußballfan (insbesondere SK Sturm Graz) ist es mir ein Anliegen, einen genauen Blick auf die Geschichte des Fußballs zu werfen und dem Leser einen interessanten Einblick in die Welt dieser faszinierenden Sportart zu ermöglichen, die alle Schichten der Gesellschaft erfasst. Es kommt noch hinzu, dass ich schon eine Seminararbeit mit dem Titel „Volksgemeinschaft am Beispiel der Sportart Fußball im Dritten Reich“ und eine Bachelorarbeit mit dem Titel „Identität am Beispiel der Sportart Fußball im ‚Dritten Reich‘ geschrieben habe.

Diese Masterarbeit hat zum Ziel, die Sportart Fußball in ihrer historischen Entwicklung zu erklären. Der Fokus der Betrachtungen wird auf dem Zeitraum von 1918 bis 1945 liegen und darzustellen versuchen, wie sich der Fußball vom Amateur- zum Profisport entwickelte. Dabei werde ich Vereine im deutschsprachigen Raum als Beispiele auswählen und diese miteinander vergleichen. Der Arbeiterfußball wird auch nicht zu kurz kommen, ebenso der Einfluss des jüdischen Fußballs auf Österreich und Deutschland. Und natürlich werde ich auch auf die Haltung der Vereine im Nationalsozialismus und die Unterschiede in Deutschland und Österreich eingehen.

2. Zum aktuellen Forschungsstand in der Sportgeschichte

„Vor mehr als einem Jahrzehnt wurde der erste systematische Überblick über den Forschungsstand zur Geschichte des Sports in der NS-Zeit vorgelegt.“1 Tatsache ist, dass die zwölfjährige Herrschaft Hitlers und die Entwicklung des Sports in dieser Zeit, im Gegensatz zu anderen Epochen der deutschen Geschichte, als gut erforscht gelten. Zu betonen ist, dass durch die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nach dem Fall der Berliner Mauer und der damit verbundenen Öffnung der Archive der DDR neue Möglichkeiten im Bereich der zeithistorischen Forschung entstanden. „Der Schwerpunkt der zeithistorischen Forschung

1 PEIFFER Lorenz, Sport im Nationalsozialismus. Zum aktuellen Stand der sporthistorischen Forschung. Göttingen 2008. S. 13. Seite 6 von 108 schien für die nächsten Jahre vorgezeichnet: Aufarbeitung der Geschichte der DDR!“2 „Die Aufhebung der Sperrfristen für die DDR-Archivalien hat in der Tat eine Flut von Publikationen ausgelöst und zahlreichen Forschungsprojekten die Basis für ihre Arbeit eröffnet.“3 Trotz dieser inhaltlichen Schwerpunktsetzung wurde die Forschungsarbeit über das Dritte Reich keinesfalls vernachlässigt. Ein Beispiel für die Aktualität der braunen Vergangenheit im Bereich der deutschen Gesellschaft ist der Historikertag 1998 in Frankfurt am Main; dort wurden heftige Debatten über die „Walserrede“ (1988 hielt Martin Walser im Rahmen der Reihe „Reden über das eigene Land“ eine Rede, in der er deutlich machte, dass er die deutsche Teilung als schmerzende Lücke empfindet, mit der er sich nicht abfinden will. Diesen Stoff machte er auch zum Thema seiner Erzählung Dorle und Wolf. Auch wenn Walser ausdrücklich betonte, dass sich seine Haltung über die Zeit hinweg nicht verändert habe, sprechen einige Beobachter von einem Sinneswandel des Autors 4 ), das Berliner Holocaustdenkmal und die Entschädigung für Zwangsarbeiter geführt. So stellte sich der Sachverhalt im Jahr 2004 bei der ersten Auflage des Werks von Lorenz Peiffer „Sport im Nationalsozialismus“ dar.

Im Jahr 2009, mit dem Erscheinen der 2. Auflage, stellte sich die Situation folgendermaßen dar: „Nach der friedlichen Revolution 1989/90, der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und der damit verbundenen Öffnung der Archive – ohne die sonst übliche Sperrfrist von 30 Jahren – etablierte sich mit der Aufarbeitung der Geschichte der DDR zwar ein neuer Forschungszweig in der zeithistorischen Forschung, die wissenschaftliche Beschäftigung mit der politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus blieb jedoch weitgehend unberührt.“5 Sport hat in allen gesellschaftlichen und politischen Epochen als ein „allumfassendes Gesellschaftsphänomen“ – wie Hüser den Sport bezeichnet – eine deutlich erkennbare Rolle gespielt, da der Sport „fast unentwirrbar (…) letztlich Kulturelles, Gesellschaftliches, Wirtschaftliches und Politisches miteinander vernetzt. Allumfassendes Gesellschaftsphänomen meint, dass sich Sport nie als vollkommen unabhängig und eigenweltlich denken lässt, vielmehr stets als zwangsläufig verwoben mit maßgeblichen Strukturen und Entwicklungen der Zeit.“6

2 Ebda. 3 Ebda. 4 http://www.wikipedia.org/Walser [Abruf: 8.4.2016]. 5 Ebda. 6 PEIFFER, Sport. S. 15. Seite 7 von 108

Wenn man der Beschreibung des Sports als allumfassendes Gesellschaftsphänomen zustimmt, ist es erstaunlich, dass „die geschichtliche Entwicklung, die Rolle und Funktion des Sports in der Zeit der NS-Herrschaft in der allgemeinen zeithistorischen Forschung nicht beachtet wurde.“ Erst in letzter Zeit ist eine Beschäftigung der allgemeinen zeithistorischen Forschung mit dem Thema Gesellschaftsphänomen Sport wahrnehmbar. Schließlich ist noch zu erwähnen: „In der sportgeschichtlichen Forschung zum Nationalsozialismus sind in den letzten zehn Jahren über 500 neue Publikationen zu verzeichnen“.7

3. Historische Entwicklung der Sportart Fußball

Man könnte davon ausgehen, dass Fußballspiele Spiele sind, in welchen der Ball vorrangig mit dem Fuß gespielt wird. In den volkstümlichen Fußballspielen des europäischen Mittelalters wurde der Ball auch mit dem Fuß gespielt, aber das Fangen, Werfen, das Schlagen mit einem Stock – im gleichen Spiel wohlgemerkt – und das Ringen überwogen bei weitem. Die Frage, ob man mehr oder weniger mit dem Fuß spielte, ist jedoch, isoliert betrachtet, nur von geringer Bedeutung. Erst der Strukturvergleich „Volksfußball und Fußballsport“ von Eric Dunning zeigt, dass bestimmte Spielformen mit spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen übereinstimmen. Somit wird ein Blick in die Vergangenheit erst aktuell und essenziell für eine Analyse des Fußballsports.

Der Fußball ist oft mit dem Vorwurf konfrontiert, potenziell gefährlich zu sein. Auch die Zuschauerausschreitungen scheinen ein Beleg dafür zu sein. In solchen Statements sind auch oft versteckt Aussagen über die Vergangenheit wahrzunehmen. Daher hilft es, sich ein möglichst anschauliches Bild von einem volkstümlichen Wettkampf, zum Beispiel zwischen zwei Dörfern, zu verschaffen. Da es sich beim sogenannten „Hurnussen“ – die Schilderung kommt vom Schweizer Schriftsteller Jeremias Gotthelf – um eine Art „Schlagballspiel“ handelt, ist es hiermit auch nützlich für einen Strukturvergleich.

Tatsache ist, dass aus den volkstümlichen Spielen in einem langanhaltenden gesellschaftlichen Prozess die Sportspiele entstanden. Es ist aber so: Der Sport fußt nicht nur auf einer „Versportung“ der „Körperkultur“ der unteren Klassen, sondern auch auf der des Adels. Auch wenn es keine direkte Verbindung zwischen dem Calcio, einem Fußballspiel des italienischen Adels, und dem Fußballsport gibt, so erscheint es trotzdem hilfreich, sich der

7 Ebda. Seite 8 von 108

Lektüre einer „Abhandlung vom Ballspiel“ (Antonio Scanio) aus dem Jahr 1555 zu widmen, um bestimmte Spielelemente – wie die Kooperation innerhalb einer Mannschaft – nicht schon anfänglich ausschließlich dem Sport zuzuschreiben.8

Calcio war ein Kriegsspiel junger Adliger, das verdeutlicht auch seine Struktur. Das Faktum, dass es nicht zu einer Verbreitung des Spiels kam, ist der Wandlung des europäischen Adels, seiner Transformation von einem Kriegs- zu einem Hofadel geschuldet. Interessant ist, dass ein höfisches Fußballspiel in Europa im Gegensatz zu Ostasien nicht stattgefunden hat. Das Beispiel für ein höfisches Spiel ist das sogenannte japanische „Kemari“, welches aber nur geringe Rückschlüsse auf die europäischen Verhältnisse ermöglicht.

Zunächst ist festzuhalten, dass „Fußball“ ein recht allgemeiner Begriff ist, denn er beinhaltet einige Ballspiele, die auf der ganzen Welt anzutreffen sind. Zu den bekanntesten Spielen gehören „“, „Rugby Football“ und „American Football“. „Fußball“ wird im deutschen Sprachraum mit „Association Football“ gleichgesetzt, außerdem wird von „Rugby“ und kaum von „Rugby Fußball“ gesprochen.

Neben diesen weltweit verbreiteten Spielen kam es in Großbritannien zur Entstehung noch einiger weniger bekannter Spiele: die Eton „Wall“ und „Field“ Spiele, „Ashbourne Football“ und „Hallaton ‚Bottle Kicking‘“. Es gilt, auch diese Spiele zu berücksichtigen, die man nur in bestimmten Gegenden und Schulen kennt, da sie ein Teil der heute gängigen Spielformen sind. Zur weiteren Erläuterung ist zu sagen: Weniger entwickelte Formen des Fußballs, die den erwähnten britischen Beispielen ähnlich sind, wurden oder werden noch in „Agrargesellschaften“ oder „Folkgesellschaften“ auf der ganzen Welt gespielt, z. B. in China, Japan, Russland oder in den meisten Gesellschaften des vorindustriellen Europas. Die Spiele unterscheiden sich voneinander hinsichtlich der Entwicklungsstufen, die sie erreicht haben. Zu nennen ist das florentinische „Calcio“, mit ihm erreichte man bereits ein Niveau, welches den britischen Volksspielen weit vorauseilte. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die Fußballspiele in ihren heutigen hochentwickelten Formen aus den englischen Volksspielen entstanden.9

Es ist möglich, die Entwicklung des Fußballsports – von Rugby und Fußball – in vier Stufen zu unterteilen. Außerdem lässt sich jede dieser Stufen gegenüber der vorhergehenden in bestimmter Weise charakterisieren: beispielsweise durch entwickelteres Spielverhalten, durch

8 DUNNING Eric, Die Entstehung des Fußballsports. In: Wilhelm HOPF (Hrsg.), Fußball. Soziologie und Sozialgeschichte einer populären Sportart. Sport: Kultur, Veränderung (Band 15). Münster 1998. S. 11. 9 Ebda. S. 12f. Seite 9 von 108 komplexere und formalisiertere Regeln und Organisation. Abgesehen vom Übergang von Stufe eins zu Stufe zwei ist bei der Entwicklung darüber hinaus eine Tendenz zu „zivilisierteren“ Verhaltensformen wahrzunehmen. Die einzelnen Phasen sind folgendermaßen zu definieren:

1. Eine erste Entwicklungsphase stellt die Periode ca. vom 14. bis ins 20. Jahrhundert dar. Fußball ist für lange Zeit als ein vergleichsweise einfaches, wildes und unreguliertes Volksspiel zu beschreiben, das nach ungeschriebenen, tradierten Regeln gespielt wurde. Über dieses allgemeine Muster hinaus gab es zahlreiche lokale Besonderheiten, daher kann von einem Fußballspiel kaum die Rede sein.

2. Die zweite Phase ist in etwa auf 1750-1840 zu periodisieren, als das Spiel in seinen rohen, vergleichsweise simplen volkstümlichen Formen von den Public Schools aufgenommen, in bestimmten Elementen entwickelt und an deren spezifische Sozialstruktur, insbesondere an die bestehenden Macht- und Autoritätsstrukturen, angepasst wurde.

3. In der nächsten Phase von 1830-1860 kam es zu einer Entwicklung zu einer festeren und formaleren Organisation: Die Regeln wurden vielfältiger und erstmals schriftlich festgesetzt; daher mussten sich die Fußballteilnehmer auch an einen höheren Grad von Selbstkontrolle gewöhnen. In diesem Stadium der „einsetzenden Modernisierung“ bahnte sich auch die Trennung von Rugby und Fußball an.

4. Im Zeitraum von 1850 bis etwa 1900 verbreitete sich der Fußball, wie er sich an den Public Schools entwickelt hatte, in der Gesellschaft. Institutionen wurden geschaffen zur Förderung, zur Organisation und für die Regulierung auf nationaler Ebene. Das Spiel wurde zu einem Zuschauersport, daneben konnte man nun vom Fußball leben, sprich Profi werden. In dieses Stadium fällt auch die Aufteilung des Rugbys in zwei konkurrierende Spielformen und Organisationen.

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Die hier beschriebenen Phasen sind nicht als Phasen in einem evolutionären Prozess zu verstehen, sondern gemeint ist, dass jede folgende Phase von der vorhergehenden automatisch bestimmt ist. Der Übergang von der einen zur nächsten Stufe wurde im Gegenteil wesentlich durch die Dynamik des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs bestimmt, in dem man dem Fußball nachging. Die erwähnten Phasen stellen aber eine Entwicklungsordnung in zweifacher Hinsicht dar: Die späteren Phasen bestehen nämlich aus bestimmten Elementen, die zeigen, dass sie sich aus den vorhergehenden entwickelt haben. Zweitens ist ins Bewusstsein zu rücken: Die modernen Formen des Fußballs konnten nicht als solche „geboren“ werden, sie entstanden vielmehr als Teil eines langandauernden gesellschaftlichen Prozesses aus früheren und strukturell einfacheren Formen. Es gilt noch zwei Anmerkungen zu der Phaseneinteilung zu machen: Es lassen sich keine klaren Trennlinien zwischen den einzelnen Stufen ziehen, es geht darum, Entwicklungen erkennbar zu machen. Im Folgenden bedeutet das aber auch, dass es in den verschiedenen Phasen durchaus unterschiedliche Spielformen gab, von denen aber eine als dominierend anzusehen ist.10

Um die Transformationen zu verstehen, die sich in diesen Phasen vollzogen, ist es notwendig, sich ein anschauliches Bild von dem „Volksfußball“ bzw. von den mittelalterlichen Volksspielen zu machen. Die Volksspiele waren die Basis, aus der Rugby und Fußball entstanden. Berichte über andere Volksspiele zeigen, dass die strukturellen Eigenarten des „Hurlings“ nicht nur charakteristisch für Cornwall waren, sondern denjenigen der Volksspiele in anderen Teilen des vorindustriellen Großbritanniens entsprachen. Beispielsweise war im walisischen Volksspiel „Knappan“ die Spielerzahl nicht begrenzt und konnte sogar manchmal bis zu 2.000 Mann umfassen. Wie im „Hurling“ gab es auch hier reitende Teilnehmer. Ein Berichterstatter sagt, die Reiter „haben riesige Knüppel, 3 ½ Fuß lang (ca. 1,20 m), die den wilden Schwingen (Schlägen) der Parteien angemessen sind“.11 Der Ball war aus Holz und wurde in Talg erhitzt, um ihn glatt zu machen und das Fangen zu erschweren. Das Spiel ist als eine recht rohe Angelegenheit zu beschreiben. Man kann die strukturellen Eigenschaften dieser Spiele zusammenfassend in einer Typologie festhalten und sie in Bezug zu den entsprechenden Strukturen der modernen Sportspiele setzen.12

3.1 Volksspiele

10 Ebda. S. 13f. 11 Ebda. S. 15. 12 Ebda. S. 15–17. Seite 11 von 108

1. diffuse, informelle Organisation, beruhend auf der lokalen Sozialstruktur 2. einfache, ungeschriebene Gewohnheitsregeln, traditionale Legitimation 3. fluktuierende Spielmuster, Tendenz zu unmerklichem Wandel 4. regionale Variationen der Regeln, der Größe und Form des Balles etc. 5. keine präzise Begrenzung des Territoriums, der Spieldauer, der Teilnehmerzahl 6. starker Einfluss natürlicher und sozialer Unterschiede auf das Spielmuster 7. niedrige Rollendifferenzierung (Arbeitsteilung) unter den Spielern 8. unscharfe Trennung zwischen Spieler- und Zuschauerrolle 9. geringe strukturelle Differenzierung, mehrere Spielelemente verschwimmen ineinander 10. informelle soziale Kontrolle der Spieler während des Spielvorgangs 11. hoher Grad sozial tolerierter physischer Gewaltanwendung, emotionale Spontanität, geringe Zurückhaltung 12. offene und spontane Erzeugung einer Vergnügen bereitenden Kampfstimmung 13. starker kommunaler Druck zur Teilnahme, individuelle Identität der Gruppenidentität untergeordnet, allgemeiner Identitätstest 14. Nachdruck auf Gewalt und Kraft (force) statt Geschicklichkeit (skill)

3.2 Moderne Sportspiele

1. hochspezifische, formale Organisation, institutionell und differenziert auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene 2. formelle, komplizierte, geschriebene Regeln, pragmatisch erarbeitet, legitimiert durch rational-bürokratische Prozesse 3. durch rational-bürokratische Kanäle institutionalisierter Wandel 4. nationale und internationale Standardisierung der Regeln, der Ballgröße und -form etc. 5. präzise Begrenzung von Raum, Zeit und Teilnehmerzahl, Zahlengleichheit zwischen den beiden Parteien 6. Verringerung oder Ausschaltung solcher Unterschiede durch formalisierte Regeln, Normen der Gleichheit und Fairness 7. hohe Rollendifferenzierung 8. strikte Trennung zwischen Spieler- und Zuschauerrolle

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9. hohe strukturelle Differenzierung, Spezialisierung nach Stoßen, Tragen, Werfen, Stockgebrauch etc. 10. formale soziale Kontrolle durch „Offizielle“, die außerhalb des Spielvorgangs stehen, durch zentrale Organisationen eingesetzt sind und weitreichende Befugnisse für Eingriffe haben 11. niedriger Grad sozial tolerierter physischer Gewaltanwendung, hohe Kontrolle über Emotionalität, hohe Zurückhaltung 12. stärker kontrollierte, sublimierte Erzeugung einer Kampfstimmung (Spannung) 13. individuelle Entscheidung für die Spielteilnahme als Erholung, individuelle Identität von größerer Bedeutung als Gruppenidentität, Identitätstest in Bezug auf spezifische Geschicklichkeiten 14. Nachdruck auf Geschicklichkeit statt Gewalt und Kraft13

Abschließend ist zu bemerken, dass die Modernisierung der Spiele besonders bei bestimmten Spielelementen, die in dem Schema unter den Punkten 1, 2, 5, 7, 11, 12 und 14 dargestellt sind, ansetzte. Einer der wesentlichsten Aspekte in dem Veränderungsprozess bestand in dem, was Norbert Elias als die wachsende „Zivilisierung“ des Spiels definieren würde. Zu jenem Aspekt der allgemeinen Transformation geben die Spielelemente, die unter den Nummern 11, 12 und 14 aufgeführt sind, Auskunft. Sie sollen zeigen, dass im Verlauf der einsetzenden Modernisierung der Fußballspiele die Spieler sich zunehmend mit der Erwartung konfrontiert sahen, ein höheres Niveau der Selbstkontrolle einzuüben und dass einige der gewalttätigen Elemente der früheren Spielformen entfernt oder unter strengere Kontrolle gestellt wurden.14

3.3 Zur Verbreitung des Fußballsports

Der Fußballsport hatte seinen Ursprung, wie die meisten anderen Sportarten, im 19. Jahrhundert in England. Daher liegt es auch nahe, die Entstehung der Sportart mit der „Industriellen Revolution“ und dem sich entwickelnden Kapitalismus in Beziehung zu setzen.

13 Ebda. S. 17. 14 Ebda. S. 18. Seite 13 von 108

Zunächst ist aber zu bemerken, dass die „Entstehung des Fußballsports“15 auf einen anderen Bezugspunkt aufmerksam macht, nämlich den Adel. Die Schüler der Public Schools, unter denen jene adliger Herkunft einen dominierenden Einfluss hatten, waren die ersten Träger einer nicht mehr volkstümlichen Entwicklung des Fußballs. Als Teil einer „rohen“ jugendlichen Subkultur an den Schulen, der die Lehrer machtlos gegenüberstanden, blieb auch das Spiel „wild“. Erst als man begann, mit Schulreformen die Schüler zu disziplinieren, wurden die ersten Strukturen der Sportspiele erkennbar. In der Entstehung des Fußballsports zeigt sich die durch die Industrialisierung gewonnene Macht der Bourgeoisie. Man kann sagen: Der Fußballsport war ein Teil der Verbürgerlichung der britischen Gesellschaft.

Es gilt sich ins Bewusstsein zu rufen, dass Fußball am Ende des 20. Jahrhunderts eine der am meisten verbreiteten und wohl auch beliebtesten Sportarten der Welt ist. Der 1904 gegründeten Fédération Internationale de Football Association (FIFA) gehörten 1994 bereits 179 Länder als Mitglieder an, mehr als der UNO, und weitere 44 wurden locker angegliedert. Bemerkenswert ist auch: Die erfassten Fernseh-Zuschauerzahlen bei den Weltmeisterschaften in Italien 1990 und den USA 1994 beliefen sich nach Schätzungen in etwa auf 26 bzw. 36 Milliarden. Dabei ist zu erklären, dass statistisch gesehen dabei jeder der damals 5,7 Milliarden Erdenbürger vier- bis fünfmal die Turnierberichterstattung einschaltete.16

Zu betonen ist aber, dass in manchen Regionen der Welt sich das Spiel größerer Beliebtheit als in anderen erfreut. Während sich in Südamerika die Begeisterung des Publikums oftmals nahezu überschlägt und in Europa sogar „ein Menschenrecht auf Fußball“17 geltend gemacht wurde, hält sich das Interesse für Fußball auf den anderen Kontinenten in Grenzen. Denn neben armen und rückständigen Ländern der sogenannten „Dritten Welt“, steht der Fußball auch in hochmodernen Industriestaaten wie Japan, Australien und in den USA traditionell im Abseits. Wie ist dieses Ungleichgewicht zu erklären? Es funktioniert nicht durch die bekannten Liebeserklärungen an den „runden Ball“ und kluge Gedanken über die „Logik des Spiels“. Vielmehr bedarf es sozial- und kulturgeschichtlicher Untersuchungen, die nicht nur das Spiel selbst, sondern auch die Wechselbeziehungen mit seiner konkreten gesellschaftlichen Umwelt in den Fokus nehmen. Hierbei ist an jene Wechselbeziehungen zu denken, die sich innerhalb der einzelnen „Fußballnationen“ herausbildeten (mit der Ökonomie, der Politik, der Sozialstruktur und dem kulturellen Leben), und an solche, die sich

15 Ebda. S. 41. 16 EISENBERG Christiane, Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt. München 1997. S. 7. 17 Ebda. Seite 14 von 108 zwischen ihnen herauskristallisierten (durch Länderspiele, olympische Turniere, Welt- und Europameisterschaften und dem damit zusammenhängenden Austausch). Dabei ist vor allem auf das Jahr 1863 hinzuweisen, in dem in London einige Gentlemen eine Football Association (FA) gründeten, um die unterschiedlichen Spielweisen an den Eliteinternaten und Universitäten zu vereinheitlichen. Denn erst diese Initiative war die Voraussetzung für die weltweite Verbreitung des Spiels.18

Die Verbreitung des Fußballs Ende des 19. Jahrhunderts ist nur angemessen zu analysieren, wenn man bedenkt, dass der Adel damals noch sehr großen Einfluss hatte, zumindest tonangebend war. Das hat auch Gültigkeit für das Deutsche Reich. Daher ist zu fragen: „Wie konnte Fußball ein deutsches Spiel werden?“19

Tatsache ist, dass der Fußball als Schulspiel in Deutschland eingeführt wurde, um die Übernahme adeliger Verhaltensmuster durch Gymnasien zu bekämpfen. Es gilt sich zu vergegenwärtigen: Auch in Deutschland ging es um die Disziplinierung einer Jugendsubkultur, auch hier kann man nur von einer indirekten Beziehung zwischen Industriekapitalismus und Fußballsport sprechen.

3.4 Zur Rolle des Begriffs „Nation“ im Fußball

In diesem Zusammenhang gilt es der Frage nachzugehen: „Wie kommt die Nation an den Ball?“ Zur Beantwortung ist zu sagen, dass die Nation erst gar nicht in den modernen Fußball hineinkommt, da sie ihm auf seiner fundamentalen sozialen und organisatorischen Ebene ja schon innewohnt, nämlich im Bereich der Statuten und der Fahnen, der Wappen und der Pokale, der Tabellen und der Verbände. Alle jene symbolischen und juridisch wirksamen Dinge werden gehalten, genau gesagt, von exakt jener (absoluten) Instanz, die in der – sich durch sie konstituierenden – Gesellschaft und für sie garantiert, dass alle Namen, Embleme und Regeln, die in ihr geschäftstüchtig fungieren, wahr und verbindlich sind. Das bedeutet,

18 Ebda. S. 7f. 19 DUNNING Eric, Die Entstehung des Fußballsports. In: Wilhelm HOPF (Hrsg.), Fußball. Soziologie und Sozialgeschichte einer populären Sportart. Sport: Kultur, Veränderung (Band 15). Münster 1998. S. 42. Seite 15 von 108 dass sie nicht nach privatem oder korporatistischem Gusto gemacht oder verändert werden können.20

Der Aufstieg des Fußballs, seine Institutionalisierung in England zwischen 1860 und 1870 und seine weltweite Verbreitung verliefen parallel zur Verbreitung der Idee der Nation. Der Fußball, der mit Leichtigkeit die Grenzen überwand, wurde immer in einem nationalen Rahmen ausgeübt und organisiert. Als man beispielsweise damit begann, Weltmeisterschaften auszutragen (noch vor den Europameisterschaften), war es klar, dass Nationen und nicht Vereine oder andere Gemeinschaften gegeneinander spielen sollten. Daher liegt es auch nahe, dass die gleichzeitige Verbreitung der Nationsidee und des Fußballs eine Instrumentalisierung des Fußballsports zur Folge hatte:

„362 Jahre nach der Zerstörung der Armada konnte der spanische Gesandte endlich Vergeltung melden: ‚Exzellenz, wir haben das verräterische Albion besiegt!‘ Mit diesen Worten überbrachte Verbandspräsident Calero dem Generalissimo Franco die Botschaft vom Sieg gegen England bei der WM 1950.“21

Zur weiteren Verdeutlichung dienen die zwei folgenden Zitate. Dabei führt Christian Eichler in seinem „Lexikon der Fußballmythen“ auch ein deutsches Beispiel an:

„Vier Jahre später, beim deutschen WM-Sieg in Bern, sangen viele deutsche Zuschauer beim Abspielen der Nationalhymne die erste Strophe des Deutschlandliedes – der Schweizer Rundfunk schaltete sich darauf aus der Live-Übertragung aus.“22

Hierzu ist zu erklären: „Das Lied der Deutschen“, auch „Deutschlandlied“ genannt, wurde von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben am 26. August 1841 auf der – seinerzeit britischen – Insel Helgoland gedichtet. Das Lied wurde am 5. Oktober 1841 auf dem Jungfernstieg in Hamburg erstmals öffentlich gesungen. Die Melodie stammte ursprünglich

20 STEINLECHNER Joachim, I werdʼ narrisch! Österreichs Fußballk(r)ampf gegen den „großen Bruder“ Deutschland – zwischen Mythos und Skandal. Berlin/Wien 2008. S. 20. 21 Ebda. 22 Ebda. S. 21. Seite 16 von 108 aus dem 1797 entstandenen Kaiserlied von Joseph Haydn, der offiziellen Volkshymne „Gott erhalte Franz, den Kaiser“ für den damaligen römisch-deutschen Kaiser Franz II. aus dem Haus Österreich. Später verwendete Haydn diese Melodie im zweiten Satz des Kaiserquartetts. Hoffmann von Fallersleben stellte durch die Verwendung der bekannten Melodie mit dem Bezug zum Kaiser eine Verbindung zum Alten Reich her. Im Mittelpunkt seines Liedes stand aber nicht mehr ein Monarch, sondern die Nation selbst. Am Weimarer Verfassungstag des Jahres 1922, dem 11. August, wurde das Lied der Deutschen vom ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) zur Nationalhymne bestimmt. Zur Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) wurde nur noch die erste Strophe gesungen, die die deutschen Grenzen „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ nennt. Darauf folgte dann das sogenannte nationalsozialistische „Horst-Wessel-Lied“. Nach 1945 kam es zu Diskussionen über die weitere Verwendung des Liedes, bis 1952 ein offizieller Briefwechsel zwischen Bundespräsident und Bundeskanzler dahingehend entschied, dass Das Lied der Deutschen die Nationalhymne blieb, zu offiziellen Anlässen jedoch nur die dritte Strophe gesungen werden solle. Nach der Wiedervereinigung wurde im Jahr 1991 in einem weiteren Briefwechsel zwischen Bundespräsident und Bundeskanzler die dritte Strophe zur Nationalhymne Deutschlands erklärt.23

Auch der Wiener Bürgermeister Michael Häupl setzte sich mit der Verbindung zwischen österreichischem Fußball und österreichischer Geschichte auseinander und sagte dazu:

„Die empfindliche Niederlage von Königgrätz 1866 wurde im öffentlichen Bewusstsein augenblicklich verdrängt und ersetzt durch den vergleichsweise zwar unbedeutenden, aber glorifizierten Sieg von Admiral Tegetthoff in der Seeschlacht bei Lissa. Wie tief aber der – offenbar über Generationen weitervererbte – Schmerz wohl sitzen musste, merkten wir erst 102 Jahre später – nach dem legendären Sieg Österreichs gegen Deutschland bei der Fußball- WM 1978 in Córdoba: Die Rache für Königgrätz hieß es – ein Sieg auf dem Fußballfeld als Revanche und Wiedergutmachung für die Niederlage der Vorväter auf dem Schlachtfeld.“24

23 http://www.wikipedia.org/Deutschlandlied [Abruf: 30.8.2016]. 24 Ebda. Seite 17 von 108

Zu erwähnen für Deutschland ist Berlin 1936, wo unter den Augen einer vorgeführten Weltöffentlichkeit der Sport und vor allem Olympia als effizientes Medium zur Präsentation der eigenen Nation geboren wurden. 1954 linderte die gewonnene WM – das sogenannte „Wunder von Bern“ – die Schmerzen über den verlorenen Krieg, oder, wie es Fritz Walter, damals Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, treffend formulierte: „Der Erfolg von Bern gab uns allen das Gefühl: Wir sind wieder wer!“25

Für Österreich war der Sport nach 1945 identitätsstiftend für die neu bzw. erstmals entstandene Nation. Aber neben dem Fußball rückte auch immer mehr der Wintersport in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Es sind nicht zuletzt die grauen juristischen und organisatorischen, vom Prinzip politischer Souveränität abhängigen Fundamente des Fußballs, die ihn an die Nation binden. Diese Bindung ist allerdings historisch genauso zufällig, aber auch genauso zwingend wie die politische Form der Nation selbst. Folglich wird der Fußballnationalismus erst dann verschwunden sein – und keinen Moment früher –, wenn sich das politische Prinzip des Nationalstaats verabschiedet hat.

Und wie treffend sprach schon Helmut Qualtinger in „Der Sportler“:

„Ich bin von Kind auf ein sportlicher Typ, beim Ländermatch hab ich stets eine Ehrenkarte und dabei geht es mir um ein Prinzip: Wir miassen gwinna, sonst habe ich die ganze Freud verloren … wir miassen gwinna, der Gegner ghert immer owedraht. Denn: Beim Sport bin ich immer national, und jede Niederlage ist katastrophal. Beim Sport bin ich immer national!“26

3.5 Der Fußball wird zu einem deutschen Spiel

Jetzt gilt es der Frage nachzugehen, wie der Fußball zu einem deutschen Spiel werden konnte. In der „Deutschen Turnzeitung“ erschien im Jahr 1894 ein Aufsatz mit dem Titel „Wie kann Fußball ein deutsches Spiel werden?“ Der Autor war Konrad Koch, der als der deutsche Fußballvater gilt. Er gehörte nicht nur zu den Turnern, die als erste in Deutschland einen

25 Ebda. 26 Ebda. S. 22. Seite 18 von 108 regelmäßigen Spielbetrieb organisierten (1874), sondern Koch kämpfte – und das ist wichtiger als die Tatsache, dass er zu den „Ersten“ zählte – auf vielen Ebenen – praktisch, organisatorisch, publizistisch und wissenschaftlich – fast 40 Jahre für die Durchsetzung des Fußballs in Deutschland.

Durch die heutige Popularität des Fußballs ist es kaum mehr vorstellbar, dass die Einführung des Fußballs in Deutschland mit Schwierigkeiten einherging. Wie der erwähnte Aufsatz verdeutlicht, bedurfte es auch 20 Jahre nach der Einführung des Spiels besonderer Anstrengungen, um zu gewährleisten, dass „Fußball ein deutsches Spiel“ 27 wurde. In Braunschweig, wo Koch mit anderen Leuten den Fußball als freiwilliges Schulspiel einführte, trat das Spiel keinen schnellen Siegeszug an. Erst 1895 kam es dazu, dass der erste auch Erwachsenen offenstehende – und noch heutzutage recht bekannte – Fußballverein „“ gegründet wurde. Zunächst fungierten Schüler als Träger des Vereins. Genauer gesagt, blieb Fußball bis in die 1890er Jahre ein Schulspiel, vor allem ein Spiel der Gymnasiasten. Daher kann man die eingangs gestellte Frage von Koch präzisieren: „Wie konnte Fußball ein Schulspiel, ein von Schülern akzeptiertes Spiel werden?“ 28 Die Übernahme des Fußballs in Deutschland lässt sich nur dann angemessen analysieren, wenn man die Veränderung der Verhaltensstandards des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert berücksichtigt. Unter diesem Aspekt scheint es sinnvoll, die Braunschweiger Verhältnisse exemplarisch zu behandeln.

Wenn heutzutage über Braunschweig gesprochen, wenn gesagt wird, dass Fußball zuerst regelmäßig in Braunschweig gespielt wurde, so versteht man darunter die Stadt Braunschweig. Ein Blick in ein zeitgenössisches Lexikon aber zeigt, dass man damals unter Braunschweig etwas anderes verstand: „zum Deutschen Reiche gehöriges Herzogtum im nördlichen Deutschland.“29 Als im Jahr 1874 in der Stadt Braunschweig am Gymnasium Martino-Katharineum der englische Fußball eingeführt wurde, war das Deutsche Reich nach drei Kriegen gerade erst entstanden. Im 19. Jahrhundert ließ sich daher erstmals die Frage: „Was ist Deutschland?“ faktisch beantworten. Weniger klar war man sich bei der Beantwortung der Frage: „Was ist deutsch?“ Denn seiner Nationalität war man sich nicht sicher, sie war keine Selbstverständlichkeit wie bei den Engländern und den Franzosen. Diese Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität ist nicht nur im Kontext mit der späten

27 HOPF Wilhelm (Hrsg.), Fußball. Soziologie und Sozialgeschichte einer populären Sportart. Sport: Kultur, Veränderung (Band 15). Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 1998. S. 54. 28 Ebda. 29 Ebda. Seite 19 von 108

Entstehung eines deutschen Nationalstaates zu sehen, sondern auch mit dem Wandel der nationalen Frage von einer revolutionären zu einer reaktionären. Denn bis in die Zeit der Reichsgründung 1870/71 dienten nationale Parolen als Ausdruck bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen. Beispielsweise wurde dem Turnvater Friedrich Jahn der Prozess gemacht, da er die „höchst gefährliche Lehre von der Einheit Deutschlands“30 verbreitete. Zu betonen ist allerdings, dass nicht das Bürgertum die dynastischen Kleinstaaten beseitigte, sondern die „preußisch-militärische Revolution von oben“ 31 ; hiermit war der „linke Nationalismus“ besiegt. Das Bürgertum machte durch die Übernahme des „rechten Nationalismus“, der sich jetzt entwickelte, seinen Frieden mit dem Adel, mehr noch, man orientierte sich an adligen Verhaltensmustern.

Jedoch die Frage „Was ist deutsch?“ war damit noch nicht beantwortet, denn mit der Entwicklung des Industriekapitalismus und dem Aufstieg zur imperialen Macht war auch die Frage verbunden, wie weit man sich England als der führenden Macht anpassen sollte. Tatsache ist: Auf der einen Seite revolutionierten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in vielerlei Hinsicht – die Industrialisierung wurde in jener Zeit als industrielle Revolution wahrgenommen – , d. h. man war auch offen gegenüber Neuerungen, aber auf der anderen Seite führten diese auch als Bedrohung empfundenen Veränderungen zur Suche nach harmonischen Idealen. Man isolierte sich und idealisierte das „Deutsche“.

Beispielsweise war Koch klar, dass die Einführung eines englischen Spiels – und das war der Fußball – nationale Vorurteile wecken musste. Er versuchte deshalb, den Nachweis zu erbringen, dass Fußball keinesfalls als ein englisches Spiel zu betrachten sei, da er im Mittelalter in vielen Ländern – auch in Deutschland – bekannt gewesen sei. Daher schlug er vor, „deutsche Kunstausdrücke“ für alles, was im Fußball „zu benennen ist“, zu verwenden.

Diese sprachreinigenden Bemühungen wurden mit dem Fokus auf die Turnkollegen unternommen. Die Turner verhielten sich besonders national – national nicht mehr im Jahnschen „linken“ Sinn, sondern im neuen „rechten“. Außerdem standen sie in großer Mehrheit dem Fußball ablehnend gegenüber. Das hatte zur Folge, dass eine Verbreitung des Fußballs behindert wurde, aber die Turner hätten eine sich am Fußball begeisternde Jugend kaum an der Übernahme des Spiels hindern können. Darauf aufbauend ist es von Bedeutung, wie die Schuljugend dem Spiel gegenüberstand. Der Fußball begann sich als Schulspiel zu verbreiten, die Förderer des Spiels waren Turner und Turnlehrer. Seit seiner Jugend war

30 Ebda. S. 55. 31 Ebda. Seite 20 von 108

Konrad Koch Turner und das, was damals als „Körperkultur“ bekannt war, ist größtenteils mit dem Turnen gleichzusetzen. Es scheint sich daher eine einfache Antwort auf die gestellte Frage anzubieten: Eine kleine Gruppe von Reformern wollte neben dem Turnen auch Spiele betreiben und führte deshalb englische Spiele ein. Allerdings ist Vorsicht geboten, diese Antwort ist richtig und falsch zugleich. Man muss sich bewusstmachen, dass das, was man im 19. Jahrhundert unter Turnen verstand, nicht mit Geräteturnen gleichzusetzen ist. Denn Turnen war eine spezifische Form der Körperkultur, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt hatte. Damals zu Turnvater Jahns Zeiten hatten die Turnspiele hohes Ansehen. Mit der Veränderung des Turnens veränderten sich jedoch nicht nur die Turnspiele, sondern sie verloren zeitweise sogar völlig an Bedeutung. Es war nicht zufällig so, dass Koch und seine Gesinnungsgenossen sich bei ihren Versuchen, Spiele einzuführen, auf Jahn beriefen. Ihre Versuche wurden auch als „Jahnrenaissance“32 bezeichnet. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass ein Eingehen auf Jahn bzw. seine Turnspiele sich als Bezugspunkt für die Entwicklung der bürgerlichen Verhaltensstandards anbot, denen der Fußball seine Einführung in Deutschland verdankt.

3.6 Charakteristika des „deutschen Spiels“

Tatsache ist, dass der Fußball seit seiner Einführung in den 1870er Jahren in Deutschland bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs auf institutioneller und organisatorischer Ebene eine beachtliche Entwicklung erlebte. Im Kontext seiner Verbreitung in der Bevölkerung hatte der englische Sportimport ebenfalls große Schritte zu einer etablierten Disziplin beigetragen. Aber ein Volkssport nach heutigem Verständnis war der Fußball deswegen noch lange nicht. Dafür war die soziale Herkunft der Aktiven, die sich vor allem aus den neuen Mittelschichten und dem Bürgertum zusammensetzten und unter denen der Anteil der Arbeiterschaft noch keine große Rolle spielte, noch zu eng gefasst. Dabei zeigt sich auch ein wesentliches Charakteristikum des deutschen Fußballs. Um die Entwicklungslinien des deutschen Fußballs gebührend nachzuzeichnen, sei auf folgende Fragestellungen verwiesen: „Worin bestanden die entscheidenden Faktoren für die Verbreitung“? „Wer waren die sozialen Träger der

32 Ebda. S. 56. Seite 21 von 108

Entwicklung des Fußballs in Deutschland“? „Welche gesellschaftlichen und politischen Umstände verlangsamten bzw. beschleunigten den Prozess“?33

Für den Transfer des Fußballs aus dem Mutterland nach Deutschland waren englische Staatsbürger verantwortlich, die während ihres Aufenthalts Einheimische mit dem Spiel vertraut machten. In den 1870er Jahren leistete der Braunschweiger Pädagoge Konrad Koch Pionierarbeit auf deutscher Seite, auf seine Initiative hin wurde erstmals an einer deutschen Schule Fußball (bzw. Rugby) gespielt. Daraufhin wurden nach dem Braunschweiger Vorbild erste Schulvereine gegründet, die auch Einfluss auf die Welle der Vereinsgründungen in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts hatten. In Deutschland spielten vor allem Schüler, Studenten, Bürgerliche und Angestellte Fußball, Arbeiter spielten eher selten. Das lässt sich damit begründen, dass hohe Kosten für den englischen Sport anfielen und den Arbeitern geringe Freizeitkontingente zur Verfügung standen, was den Zugang für sie schwierig gestaltete. In der sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft des Kaiserreichs waren auch ideologische Gründe von Bedeutung: Dem Spiel wurde schnell ein bürgerliches Etikett angehängt. Daher stellte sich der Fußball für „klassenbewusste“ Arbeiter als ungeeignet dar, gegen das Bürgertum und die „herrschenden“ Schichten aufzubegehren.

Aus politischer und ideologischer Motivation stammte die ablehnende Haltung der Turnerschaft, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die Sportbewegung in Deutschland verkörperte. Sie sah sich von Anfang an als Dienstleister für die deutsche Wehrkraft und seit der deutschen Revolution von 1848/49 war ihr politisches Profil zunehmend von striktem Nationalismus geprägt. Der englische Sportimport fand in ihr den großen Gegner und scheinbar übermächtigen Konkurrenten. Anhänger des Spiels wurden mit dem Vorwurf der „Engländerei“ konfrontiert, außerdem wurde der Fußball als gewaltsames, rohes Spiel klassifiziert. Von offizieller Seite aus betrachtet sah sich der Fußball in der Regel keinen Repressionen ausgesetzt, aber er wurde auch nicht flächendeckend gefördert.

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kam es zu einer großen Veränderung in diesem Zusammenhang, als der Fußball in eine neue Phase der Organisation und der nationalen Aneignung eintrat. Dabei sind an erster Stelle die Aktivitäten des Zentralausschusses für Volks- und Jugendspiele und die Gründung des Deutschen Fußball-Bundes im Jahr 1900 zu nennen. Aus heutiger Perspektive stellen die Erstellung und Herausgabe deutscher Regeln mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit, die Begründung einer deutschen Fußballterminologie und

33 DAMM Folko, Auf dem Weg zum Volkssport. Einführung und Verbreitung des Fußballs in Deutschland. Norderstedt 2007. S. 31. Seite 22 von 108 die Schaffung eines nationalen Dachverbands wichtige Eckpfeiler für die Entwicklung des Fußballs deutscher Prägung dar. In der damaligen Zeit wurde hiermit vor allem die Emanzipation des Spiels vom britischen Mutterland erreicht, was vor dem Hintergrund des von vielen Zeitgenossen monierten „englischen Makels“ 34 mit Sicherheit die wichtigste Integrationsleistung für den deutschen Fußball zur Folge hatte.

Es kann nur spekuliert werden, ob damit eine unabdingbare Voraussetzung für die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wachsende Fußballaffinität des Militärs bestand, mit Sicherheit war es dem Ganzen nicht abträglich. Der Fußball erklomm mit der Etablierung als Disziplin des Militärsports und der damit einhergehenden öffentlich sichtbaren Steigerung der Bedeutung auf offizieller Seite eine wichtige Stufe im Konkurrenzkampf mit dem Turnsport, weil er dadurch dessen bald ein Jahrhundert andauerndes Monopol in der Wehrertüchtigung herausforderte. Klar ist: Die Handlungsweise und die Verlautbarungen des vom Bürgertum dominierten DFB wirkten sich nicht negativ auf die steigende Wertschätzung des Fußballs durch Staat und Militär aus. Dabei ist es schwierig, zwischen einem gewissen Sich-Andienen aus national-konservativer Überzeugung auf der einen Seite und einem einfachen, politisch unmotivierten Werben um größere gesellschaftliche Akzeptanz aus „Liebe zum Spiel“35 auf der anderen Seite zu unterscheiden. Die Politik des DFB in den Anfangsjahren scheint der mehrheitlich national-konservativen Gesinnung seiner Funktionärsebene entsprochen zu haben.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist festzuhalten, dass der Fußball in Deutschland von der Einführung in den 1870er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg zu einem Sport bürgerlicher Prägung wurde, der Arbeitern in der Regel noch keinen großen Raum zur Beteiligung bot. In Deutschland eignete sich das Spiel aufgrund seines modernen Charakters und seiner ausländischen Herkunft in besonderer Weise zur Aneignung durch dem Fortschritt aufgeschlossene Bürger und einen nach sozialer Identifikation strebenden Mittelstand. Diese Gruppen zählten daher zu den wichtigsten Multiplikatoren des Spiels.

Erkennbar ist, dass das größte Hemmnis für den Verbreitungsprozess der Turn-Fußball- Konflikt war, der sich an nationalistischen Vorbehalten entzündete. Um es einfach zu sagen, standen hier zwei Lager einander gegenüber: Zum einen ein liberal-progressives, das den Fußball mit offenen Armen empfing, zum anderen ein traditionell-konservatives, das ihn als undeutsch und moralisch-ethisch verwerflich ablehnte. Von essenzieller Bedeutung für die

34 Ebda. S. 32. 35 Ebda. Seite 23 von 108 deutsche Fußballentwicklung war die um die Jahrhundertwende einsetzende nationale Aneignung, die den Sport in den Blick behördlicher und militärischer Entscheidungsträger brachte. Damit kam es auch zum Wandel von der neumodischen sportlichen Betätigung zumeist fortschrittlicher Akteure zu einem von größtenteils national-konservativen Instanzen gefördertem Spiel. Bis vor dem Ersten Weltkrieg war die gesellschaftliche Verankerung des Fußballs noch bei weitem nicht so fortgeschritten, dass er die Bezeichnung Volkssport hätte führen dürfen; das war schließlich der Weimarer Republik vorbehalten. Zum Beispiel zeigt das der wachsende Publikumsschnitt sehr deutlich: Beim Finale um die Deutsche Meisterschaft 1911 in verfolgten noch 12.000 Menschen den 3:1 Sieg von 89 Berlin gegen den VfB Leipzig. Denn damals wagte noch niemand an die vorläufige Rekordzahl von 64.000 Zuschauern zu denken, die sich zwölf Jahre später beim 3:0 des Hamburger SV gegen die SC Union 06 Oberschöneweide in Berlin einfand. Man konnte sich vor 1914 auch nicht vorstellen, dass vor allem Arbeitermannschaften in verstärkter Zahl zunehmen, seit der Nachkriegszeit auf sportlicher Ebene für Begeisterung sorgen und dass die Sportberichterstattung aufkommen würde, die sich zunehmend etablierte und mehr Öffentlichkeit herstellte. Abschließend ist zu sagen, dass die Strukturen und die Basis für den Durchbruch des Fußballs zum Volkssport Nummer eins, Massenphänomen und „König Fußball“ geschaffen waren.36

4. Fußball im Zeitalter der Krisen (1918-1939)

Der Aufstieg des Fußballs von einem Spiel akademischer Eliten zum Volks- und Massenzuschauersport vollzog sich auf dem europäischen Kontinent mit einigen Jahrzehnten Verspätung gegenüber den britischen Inseln im Wesentlichen in den Jahren 1918-1939. Die englische „Football League“ als Professionalmeisterschaft nahm ihren Betrieb bereits 1888 auf, am Kontinent folgte als erstes Wien mit einer Profiliga, die in der Saison 1924/25 mit ihrem Spielbetrieb startete. In dieser Zeit erfolgten der Bau großer Stadien, eine zunehmende Medialisierung und die Einführung internationaler Wettbewerbe sowie ein immenses Wachstum des Fußballs als Breitensport. All das fand in einer Epoche statt, die keineswegs zu Spiel und Vergnügen einlud. Es gilt die Grundzüge dieses Zeitalters ins Gedächtnis zu rufen,

36 Ebda. S. 33. Seite 24 von 108 ohne deren Kenntnis die Geschichte des europäischen Fußballs bzw. des Fußballs im deutschsprachigen Raum der Jahre 1918 bis 1939 nicht zu verstehen ist.37

Die internationale Lage dieser Zeit mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und des Faschismus in Italien hatte auch Rückwirkungen auf den Fußball. Es kam zur zunehmenden Politisierung von internationalen Partien, sogenannten Länderspielen. Für neu entstandene Staaten waren ein Sitz in der FIFA und die Präsentation einer Nationalmannschaft auf dem internationalen Parkett wichtige Mittel, den Anspruch auf Souveränität einer breiteren Öffentlichkeit bewusst zu machen. Aber auch von seit langem etablierten Staaten wurde zunehmend der propagandistische Wert internationaler Fußballkontakte für ihre außenpolitischen Bestrebungen erkannt. In den 1920er Jahren war für die Verlierermächte des Ersten Weltkriegs die Durchbrechung der über sie verhängten Sportboykotte ein wichtiges Etappenziel auf dem Weg der Reintegration ins internationale System. Darauf folgend, wurden in den 1930er Jahren sportliche Erfolge zu einem Mittel, die eigene nationale Stärke unter Beweis zu stellen.

Nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen internationale Fußballspiele ein Stück weit Funktionen, wie sie davor Besuche von Monarchen innehatten. Sie waren wie diese Ereignisse mit rituellem und zeremoniellem Charakter. Beispielsweise als Rituale, waren sie standardisierte, sich wiederholende, außergewöhnliche Handlungen, die eine symbolische Bedeutung hatten. Folglich bewegten sie Gefühle, beeinflussten Wahrnehmungen und schufen Beziehungsgefüge. Länderspiele beispielsweise besaßen einen spezifischen Rahmen, wozu die Beflaggung des Stadions mit den beiden Nationalfarben, die Einkleidung der Spieler in Trikots, die meist die Nationalfarben widerspiegelten, das Abspielen der Nationalhymnen und der Austausch der Verbandswimpel vor dem Spiel gehörten. Außerdem fand bei Freundschaftsspielen nach dem Match zumeist ein gemeinsames Bankett der Spieler und Funktionäre statt. Darauf folgend wurde die Anwesenheit politischer, diplomatischer und manchmal auch militärischer Prominenz auf der Ehrentribüne ein fixer Bestandteil. Zu erklären ist, dass Länderspiele als Zeremonien symbolische Vorführungen vor einer Öffentlichkeit waren und sie das Aufeinandertreffen zweier Nationen repräsentierten. Interessant ist: Die Öffentlichkeit, die beim rituellen Aspekt aktiv dabei, beim zeremoniellen Aspekt dagegen passive Zuschauerin war, setzte sich nicht nur aus den im Stadion Anwesenden zusammen, sondern wurde durch die Presse und besonders durch die Mitte der

37 KOLLER Christian, Fußball zwischen den Kriegen. Europa 1918-1939. Geschichte des Fußballs (Band 5). Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2010. S. 1. Seite 25 von 108

1920er Jahre beginnenden, oft in Wirtshäusern gemeinsam gehörten Rundfunkübertragungen immens ausgeweitet und dezentralisiert.38

Die politischen Systeme und Ideologien während dieser Zeit (Nationalsozialismus in Deutschland, Faschismus in Italien, Franco-Regime in Spanien) hatten auch Auswirkungen auf den Fußball. Diese politische und gesellschaftliche Zerrissenheit zeigte sich in einigen Ländern auch in der Organisation des Spielbetriebs, indem bürgerliche, sozialdemokratische, kommunistische und konfessionelle Verbände ihre eigenen Meisterschaften austrugen und auch eigene Landesauswahlen nominierten. Da fußballerische Erfolge mehr und mehr auch als Beweis nationaler Stärke und der Überlegenheit des eigenen Systems angesehen wurden, versuchten diese Regime entsprechende Resultate durch Einflussnahme herbeizuführen. Eines der besten Beispiele dafür ist die Weltmeisterschaft 1934 in Italien, die nicht nur zu einer Propagandaveranstaltung des Mussolini-Regimes wurde, sondern durch verschiedene Unregelmäßigkeiten dazu führte, dass das Gastgeberland den WM-Titel holte. Zu erwähnen ist, dass sich die Kontrolle des Sports nicht auf die Spitze beschränkte, denn in vielen Diktaturen war es so, dass das Regime auch massiven Einfluss auf den Breitensport hatte, politisch missliebige Vereine und Verbände ausschaltete und dafür sorgte, dass Fußballer im Dienste des Staates und der herrschenden Ideologie standen. In der Zwischenkriegszeit wurden als Reaktion darauf auch in den verbliebenen demokratischen Staaten die Bande zwischen Staat und Sport immer enger.

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab 1929, des wirtschaftlichen Niedergangs und der Massenarbeitslosigkeit in den kapitalistischen Staaten erschien das sowjetische Modell der Planwirtschaft trotz seiner Mängel und Brutalitäten auch im Westen manchen als zukunftsträchtige Wirtschaftsform. Allerdings ist zu betonen: Die Folgen dieser krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung auf den Fußball waren widersprüchlich. In manchen Ländern wurde der eben erst professionalisierte Spitzenfußball vom wirtschaftlichen Niedergang erfasst und bedrohte deshalb die Existenz vieler Vereine. Außerdem wurden in einigen Staaten im Zeichen der Sparpolitik die staatlichen Subventionen für den Fußball abgebaut, teilweise stärker als bei anderen Sportarten, die zur körperlichen Ertüchtigung breiter Volksschichten als besser geeignet erschienen. Andererseits begrenzte der Rückgang der finanziellen Förderung auch die Möglichkeiten staatlicher Einflussnahme auf den Fußball.

38 Ebda. S. 6–9. Seite 26 von 108

Tatsache ist, dass die wesentliche kulturelle Tendenz der Zwischenkriegszeit der Aufstieg einer neuen Massenkultur war. Dieser Trend war durch verschiedene soziale, politische und technische Faktoren begründet. Darauf aufbauend war es in manchen Staaten nach Kriegsende 1918 zu einer Verkürzung der Arbeitszeiten und hiermit zu einer Vermehrung der Freizeit auch der Unterschichten gekommen. Die Konsequenz daraus war wiederum eine gesteigerte Nachfrage nach erschwinglichen kulturellen Konsumgütern und die schon vor dem Krieg erfolgten technischen Innovationen wie das Kino und der Rundfunk konnten sich nun massenwirksam etablieren.39 Als wichtigstes Element der neuen Massenkultur unterlag auch der Fußball im zunehmenden Maß der propagandistischen Vereinnahmung.

Auf die zunehmende Politisierung der internationalen Spiele im Verlauf der Zwischenkriegszeit wurde schon hingewiesen. Sportliche Großveranstaltungen waren noch wichtiger, da sich politische Regime und Bewegungen mit ihnen der Weltöffentlichkeit als sportliche Vorreiter zu präsentieren versuchten. Paradebeispiele dafür sind die Sowjetunion mit der Spartakiade von 1928, das faschistische Italien mit der Fußball-Weltmeisterschaft von 1934, das nationalsozialistische Deutschland mit den Olympischen Spielen von 1936 und die internationale Sozialdemokratie mit den Arbeiterolympiaden von 1925 und 1931.40

Nun wurde der Fokus auf sogenannte Spielarten der „Bio-Politik“ gelegt. Unter den Begriffen „Bio-Politik“ oder „Bio-Macht“ versteht man in Anlehnung an den französischen Philosophen Michel Foucault das „Auftreten der Bevölkerung“ als politisches und wirtschaftliches Problem, den Einsatz von Technologien zur Regulierung der Bevölkerung durch die Kontrolle von Fortpflanzung, Lebensdauer und Gesundheitsniveau. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden solche Praktiken, in deren Kontext auch die Entstehung des modernen Sports steht, immer wichtiger und erfuhren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine markante Steigerung.41

Am deutlichsten manifestierte sich der Ausschluss von nicht als „Volksgenossen“ anerkannten Menschen aus dem biopolitisch aufgeladenen Sportbetrieb im nationalsozialistischen Deutschland. Als unmittelbar nach der „NS-Machtergreifung“ 1933 die Vereine des sozialdemokratischen Arbeitersports und des kommunistischen Rotsports aufgelöst wurden, kam es rasch zum Ausschluss der jüdischen Fußballspieler aus den gleichgeschalteten DFB-Vereinen. Danach erlebte zuerst der Spielbetrieb im zionistischen,

39 Ebda. S. 10–12. 40 Ebda. S. 16. 41 Ebda. Seite 27 von 108 dem „Muskeljudentum“ verpflichteten Maccabi und im jüdisch-deutschnationalen Sportbund „Schild“ einen fulminanten Aufstieg, der aber aufgrund der einsetzenden Emigration schnell wieder abflachte. Im Zuge der Reichspogromnacht im November 1938 wurden beide jüdischen Vereine zerschlagen. Somit hatte die Eskalation der nationalsozialistischen Bio- Politik im Vorgriff auf die geplante Ausschaltung des Judentums als erstes den jüdischen Sport vernichtet.42

4.1 Zur Rolle des Militärfußballs 1939-1945

Systematisch betriebene Leibesübungen wurden im deutschen Militär als regulärer Dienst bereits vor dem Ersten Weltkrieg eingeführt. Als willkommene Auflockerung des tristen Drills erfuhren der Sport und das Spiel als Körperertüchtigung und Charakterschulung fortwährend an Wertschätzung. Davon zu unterscheiden ist, dass die gezielte Förderung wehrpflichtiger Spitzensportler außerhalb des Dienstsports meist auf punktuelle freiwillige Initiativen einzelner Offiziere zurückging. Denn erst seit 1962/63 konnten in der Bundeswehr wehrpflichtige Sportler die Chancen einer „Besonderen Sportausbildung” ergreifen. 1970 kam es schließlich zur Einführung professioneller Sporteinheiten. Gleichwohl ist zu erwähnen, dass während des Krieges 1939-1945 einige Fußballmannschaften auf deutschem Boden und in den besetzten Gebieten zu militärischen Prestigeprojekten avancierten. Genauer gesagt: Über die körperliche Ertüchtigung aller Soldaten im Rahmen des obligatorischen Dienstsports hinaus wurde dieser publikumswirksam organisierte und von wehrpflichtigen Spitzenkönnern betriebene Fußball in neue Formen der militärischen Massenunterhaltung integriert. Dabei sind zwei Großgruppen zu unterscheiden: Die eine bestand aus Militärmannschaften, die im Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen (NSRL) organisiert waren und an Meisterschafts- und Pokalwettbewerben teilnahmen. Der Luftwaffen-Sportverein (LSV) Hamburg war der erfolgreichste Verein dieser Gruppe. Die andere Großgruppe umfasste Mannschaften wie die seinerzeit berühmten Roten Jäger, die sich aus Soldaten ganz bestimmter Truppenteile zusammensetzten und nur bei wehrmachtsinternen Wettbewerben oder Propagandaspielen mitwirkten. Militärmannschaften schossen in den Kriegsjahren wie Pilze aus dem Boden, sodass die Fachpresse 1943 schrieb:

42 Ebda. S. 20f. Seite 28 von 108

„Wenn der ‚Kicker-Fußball‘ 100 Seiten dick wäre, könnte er nicht alle Fußballspiele registrieren, die sich deutsche Soldatenmannschaften in jeder Woche an allen Fronten liefern. Wo nur eine Gefechtspause eingetreten ist, wo nur ein Stück flacher Wiese hinter der Linie vorhanden ist, wird das braune Leder getreten.“43

Ähnlich wie der deutsche Sport in seiner Entstehungsphase, etablierten sich wichtige Bereiche des Soldatensports im Zweiten Weltkrieg informell, zum Teil waren sie aber auch kommerziell organisiert. Außerhalb des Dienstsports verabredeten sich Soldaten zu jenen Mannschaften, deren Organisation und Stärke in den meisten Fällen jedoch so gering waren, dass kein vereinsmäßig fortlaufender Spielbetrieb entstehen konnte. Obwohl die Mannschaften keinen festen Bestandteil des dienstlichen Sports darstellten, war ihre Existenz abhängig von der Fußballbegeisterung einzelner Militärs. Einen instruktiven Bericht des Nationalspielers über ein spontan angesetztes Soldatenfußballspiel publizierte der „Kicker“ 1939 in der Rubrik „Die Feldgrauen“, deren Kenntnis zur Verdeutlichung der Thematik nützlich ist:

„Sing, geboren in Eislingen im Kreis Göppingen am 7. April 1917, gehörte damals zu den großen Talenten des deutschen Fußballs. Im Februar 1938 nominierte ihn Reichstrainer Herberger für einen Lehrgang in Duisburg. Mit den Stuttgarter Kickers wurde er 1939 Gaumeister. In den Jahren 1940 bis 1942 kam er in neun Länderspielen zum Einsatz. Nach Kriegsende war Sing als Trainer erfolgreich. 1954 war er, damals Trainer der Young Boys Bern (1951-1964), für Quartier und Betreuung der deutschen Nationalmannschaft zuständig.“44

Ins Bewusstsein zu rufen ist, dass Sing während des Zweiten Weltkriegs in der Pariser Soldatenelf und ein einziges Mal für Burgstern Noris spielte. Beide Mannschaften sind als Leerstellen der Fußballgeschichte zu bezeichnen. Dabei ist zu differenzieren: Sie haben ebenso wie die Roten Jäger ihren Platz in der Militärsportgeschichte, aber nicht in den Traditionen des zivilen Vereinssports. Trotzdem sind sie nicht zuletzt deshalb von größtem

43 HERZOG Markwart (Hrsg.), Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus. Alltag – Medien – Künste – Stars. Stuttgart, 2008. S. 67f. 44 Ebda. S. 68. Seite 29 von 108

Interesse für den bürgerlichen Fußball, da viele prominente Spieler ihre Leidenschaft auch während der Kriegsjahre in diesen Mannschaften leben und sich dabei fit halten konnten.

Berühmte und bekannte Soldatenfußballmannschaften zu jener Zeit waren „Burgstern Noris“, die „Pariser Soldatenelf“ und die „Roten Jäger“. Die Allianz zwischen Fußball und Militär findet in diesen Militärfußballmannschaften, die weit in die deutsche Sportgeschichte zurückreichen, ihre intensive symbiotische Verdichtung – und zudem ihr Ende. Zudem lassen sich nach 1945 im Kameradschaftsmodell des bürgerlichen Vereinssports auch einige Versatzstücke jener repräsentativen Männlichkeitsideale und -rituale finden, die militärische Männlichkeit begründen. Heutzutage muten die soldatischen Charakteristika des Fußballs früherer Jahrzehnte teilweise fremd und schwierig zu verstehen an. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sie aus einer Zeit stammen, in welcher das Militär noch von größter gesellschaftlicher Bedeutung war und auch großen Einfluss auf den Sport ausübte.

4.2 Über die Militär- und Fußballkameradschaften

Schon in der Kaiserzeit wiesen die Alltagskulturen des Militärs und des Fußballs in Ideologie und Selbstverständnis, in Symbolik und Rhetorik, in Ritualen und Vergesellschaftungsformen erhebliche Überschneidungen auf, die kurz erklärt werden sollen. In den Soldatenfußballmannschaften des Zweiten Weltkriegs verschmolzen diese beiden Modelle repräsentativer Männlichkeit beinahe zu einer ungebrochenen Einheit, wie sie in Burgstern Noris, Pariser Soldatenelf und Roten Jägern exemplarisch wurden. Hierbei ist zu bedenken, dass Kameradschaft ein Thema ist, das fußballerische und soldatische Vergemeinschaftungen verbindet, engste Kontexte zwischen Militär- und Sportgeschichte verdeutlicht und tiefe Einblicke in die Ideale von Männlichkeit und das ihnen entsprechende Frauenbild ermöglicht.45

4.3 Sport und Militär

45 Ebda. S. 123. Seite 30 von 108

Die Sozial- und Kulturgeschichte des Fußballs, insbesondere die Pionierarbeiten von Christiane Eisenberg, haben den bedeutenden Anteil des Militärs als Triebkraft der Popularisierung des Sports im Deutschen Reich herausgearbeitet. Interessant ist, dass das Kaiserhaus zu den prominentesten Vertretern der Sportimporte aus England zählte. Denn in ihrer Begeisterung für alles Moderne förderten und instrumentalisierten die Hohenzollernprinzen und Wilhelm II. nicht das „vaterländische“ Turnen, sondern vor allem den „internationalen“ Sport, von dem sie sich Gesundheitsförderung, Wehrertüchtigung und männliches Ethos erwarteten. Der Erste Weltkrieg, im Speziellen der Stellungskrieg 1916/17, ist auch als sportgeschichtliche Zäsur zu verstehen: Von allen Armeen wurden sportliche Wettkämpfe zur Aufrechterhaltung der Truppenmoral durchgeführt, zahlreiche Wehrpflichtige kamen erstmals mit Sport in Kontakt. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs übernahm der Fußball paramilitärische Funktionen und bekam im Gegenzug finanzielle Unterstützung aus Mitteln der öffentlichen Hand. Im Zuge der Machtergreifung der NSDAP wurde der bürgerliche Vereinssport allerdings von militärischen Funktionen entlastet, was aber nichts an der Tatsache änderte, dass „der Militarismus in den Köpfen fortlebte, obwohl sich der Übungs- und Wettkampfbetrieb der Vereine zusehends ziviler gestaltete.“46

Vor und während des Zweiten Weltkriegs bekannte sich die Propaganda der Sportführung immer mehr zu Turnen und Sport als kriegswichtigen Betätigungen. Der vormalige Reichstrainer , dessen militaristischer Trainingsstil bei den Fußballnationalspielern umstritten war, pries im Frühjahr 1941 soldatische Tugenden als „Erziehungsideal des deutschen Mannschaftsspiels“. 47 Vor diesem Hintergrund wird augenscheinlich, dass die Fachterminologie des Fußballs schon im Kaiserreich zahlreiche Ausdrücke nutzte, die der Sprache des Militärs entlehnt wurden wie Schuss/Mordsschuss, Flanke, Deckung, Angriff, Abwehr, Ausputzen, Entschärfen, Verteidigung, Bombe/Bomber, Kanone, Schleifer, Ballern, Sieg und Niederlage. Es ist ebenfalls möglich, dass die Spitznamen, Trikotfarben und Symbole des Fußballs, nicht nur in Deutschland, aus Kriegserlebnissen abzuleiten sind.

4.4 Zur Rolle der Fußballpublizistik im „Dritten Reich“

46 Ebda. S. 124. 47 Ebda. Seite 31 von 108

Die deutsche Fußballpublizistik erfuhr mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten einen großen Aufschwung, da sie die Olympischen Spiele 1936 zu propagieren hatte. Dennoch ist zu betonen, dass dieses Genre nur scheinbar blühte. Denn einigen der wichtigsten Publizisten wie Hugo Meisl und Walther Bensemann wurde ihre Tätigkeit untersagt. Andere wiederum, die ihre Tätigkeit fortsetzten, opferten die höchsten Werte ihres Berufs wie Meinungsfreiheit, Kritik und journalistische Unabhängigkeit. Angesichts von Personen wie Guido von Mengden, Dr. Hans Bollmann, Herbert Obscherningkat oder Ernst Werner ist nicht daran zu zweifeln, dass einflussreiche Sportjournalisten die „braune Revolution“ aktiv mitgestalteten und sich offen zu essenziellen Inhalten der NS-Ideologie bekannten.

Folglich hatte sich die Fußballpublizistik nach 1933 an die Regieanweisungen aus dem Propagandaministerium zu halten. Wenn beispielsweise der Führer-Geburtstag gefeiert oder für das Winterhilfswerk gesammelt wurde, konnte mit der journalistischen Unterstützung der Fußballfachorgane gerechnet werden. Allerdings müssen spezielle Analysen erst zeigen, ob es wirklich, wie es angesichts der Anfeindungen aus der NS-Sportpublizistik scheint, Unterschiede in der Fußballberichterstattung gab und ob den einzelnen Redaktionen tatsächlich bis 1939 journalistische Freiräume eingeräumt wurden. Für diesen Punkt müssten die wichtigsten Personen dieser Szene genauer in Augenschein genommen werden. Es könnte durchaus sein, dass ein „Kicker-Redakteur“ wie Hanns Joachim Müllenbach, auch wenn er ein überzeugter Nationalsozialist war, noch einige Zeit den journalistischen Prämissen seines Ziehvaters Walther Bensemann folgte. Es kann vermutet werden, dass sich auch Friedebert Becker noch für eine Weile an dem Vorbild des „Königs der Sportjournalisten“ Willy Meisl orientierte, dessen Stil er in der Zeit seines Volontariats beim Ullstein-Verlag bewundert hatte.

Wie wichtig es ist, die lange Zeit vernachlässigte Geschichte der deutschen Fußballpublizistik aufzuarbeiten – eine Forderung, die keinesfalls neu ist –, zeigt sich im Feld der „damnatio memoriae“. Der 1988 erschienene Nachdruck des 1939 publizierten „Kicker-Bilderwerkes“ belegt, dass diese perfide NS-Geschichtspolitik nachhaltig gewirkt hat. Nun wurden darin die apologetischen Kapitel über Hitler und den Reichssportführer ausgeklammert, aber eben auch erneut die beiden jüdischen Nationalspieler. Es ist mit Sicherheit zu sagen, dass hier

Seite 32 von 108 unfreiwillig die niederträchtige Geschichts- und Erinnerungspolitik der Nazis fortgeführt wurde – und das mehr als 40 Jahre nach Ende des Regimes.48

Wahrscheinlich das interessanteste Thema in Sachen Aufarbeitung ist das der personellen Kontinuitäten. Denn in der Bundesrepublik Deutschland arbeitete der Großteil der Protagonisten der NS-Sport- und Fußballpublizistik in ihrem angestammten Bereich weiter. Es ist zu beachten, dass zwar wichtige Leute wie Müllenbach, Hellmis oder Slesina im Krieg fielen und der „Sportjournalisten-Führer“ Bollmann Selbstmord beging, als die Sowjetarmee in Berlin einrückte; aber die Überlebenden überstanden die Entnazifizierung vergleichsweise ohne Schaden, da der Sport von den Alliierten meist als Unterhaltung eingestuft wurde. Belege dafür sind, dass die „Stimme des Führers“, Hörfunkstar Rolf Wernicke, ebenso weitermachen konnte wie Bernhard Ernst und Heinz Maegerlein, die im Krieg als Frontberichter gearbeitet hatten, Maegerlein sogar als Zensor einer Propagandakompanie. Im Printbereich gab es keine Behinderung der Tätigkeit für Friedebert Becker und seine Kollegen. Damit kam es nach dem Krieg zu Konstellationen, die man aus heutiger Sicht für unmöglich halten würde. 1960 wurde die Jubiläumsfestschrift zum 60jährigen Bestehen des DFB vorbereitet; hierzu beauftragte Carl Koppehel, der im Dritten Reich noch das Führerprinzip gefeiert hatte, nicht nur den Antisemiten Ernst Werner; mit an Bord war auch der 1934 emigrierte Jude Willy Meisl, jener Publizist, den der Verband Deutscher Sportjournalisten im Jahr 2002 vergaß, obwohl er zu den Besten seines Fachs gehört hatte.49

4.5 Zu den Positionen der Fachzeitschriften „Der Kicker“ und „Fußball“

Im Kontext der Sportpublizistik ist es wichtig, auch die Positionen der Fachzeitschriften „Der Kicker“ und „Fußball“ darzustellen. Der Fußballsystemstreit zwischen Sportbereichsführer und Sportreferent Karl Oberhuber sowie Gauleiter Adolf Wagner (Bayerisches Staatsministerium des Innern) auf der einen Seite und (Fußballnationaltrainer Deutschlands), Guido von Mengden (Pressereferent des Deutschen Reichsbundes für Leibesübungen, DRL), Georg Xandry (Vorgänger Linnemanns als DFB-Präsident), Felix Linnemann (DFB-Präsident), Hans von Tschammer und Osten (Vorsitzender des Deutschen

48 EGGERS Erik, „Deutsch wie der Sport, so auch das Wort!“ Zur Scheinblüte der Fußballpublizistik im Dritten Reich. In: Markwart HERZOG / Rainer JEHL, Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus. Alltag – Medien – Künste – Stars. Stuttgart 2008. S. 178f. 49 Ebda. S. 179. Seite 33 von 108

Reichsbundes für Leibesübungen und des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen, NSRL, Fachamt Fußball) auf der anderen Seite, wurde in der Öffentlichkeit ausgetragen – auch mittels einer Sportpresse, die munter mit Argumenten und Gegenargumenten, mit Polemik und Ironie teilnahm, Partei ergriff und zutiefst gespalten war: Zu nennen sind der damals in Mannheim verlegte „ASZ Sportbericht“, der wie die „Münchner Neuesten Nachrichten“, die in München und Wien erscheinenden Ausgaben des „Völkischen Beobachters“ und das von Eugen Seybold herausgebrachte Fachblatt „Fußball – Illustrierte Sportzeitung“ auf der Seite Oberhubers standen.

Allerdings ist zu betonen, dass die ersten Artikel, die in „Fußball – Illustrierte Sportzeitung“, die von Oktober 1940 an über den neuen Sportbereichsführer erschienen, zunächst keine eindeutige Tendenz erkennen ließen. Denn sie ergingen sich umso mehr in allgemeinen Plattitüden über die erhabenen Ziele des neuen Sportführers oder die „wahre Bedeutung unseres männlichsten Kampfspieles“50, des Fußballs. Doch mit dem Tag, an dem Oberhuber den Artikel über sein Konzept des Blitzkriegsfußballs veröffentlicht hatte, eröffnete die Zeitschrift einen geradezu missionarischen publizistischen Kampf gegen das W-M-System. Das so genannte W-M-System ist ein taktisches Spielschema im Fußball. Es wurde von Herbert Chapman, ehemals Trainer des FC Arsenal, entwickelt. Es entstand durch die 1925 durchgeführte Modifizierung der Abseitsregel und das Zurückziehen des Mittelläufers der zuvor genutzten Schottischen Furche und erhielt seinen Namen durch die Grundposition der Spieler auf dem Spielfeld:

Das W bildet sich dabei aus dem vorgeschobenen Mittelstürmer, den zurückhängenden linken und rechten Halbstürmern, den vorgezogenen linken und rechten Außenstürmern. Das M bildet sich dabei aus dem zurückhängenden Mittelläufer (ähnlich dem Libero, dem letzten Mann vor dem Torwart), den meist defensiv agierenden linken und rechten Verteidigern, den offensiver agierenden linken und rechten Außenläufern. Das W-M-System ist durch eine starre Vergabe der Positionen auf dem Spielfeld geprägt. So beteiligten sich die Verteidiger selten am Angriffsspiel und die Stürmer begaben sich selten in die Verteidigung. Der Spielaufbau wurde wesentlich durch die Halbstürmer und Außenläufer bestimmt, die man heute dem Mittelfeld zuordnen würde. 1954 wurde Deutschland mit diesem Spielsystem

50 HERZOG Markwart / HEUDECKER Sylvia (Hrsg.), Blitzkrieg im Fußballstadion. Der Spielsystemstreit zwischen Karl Oberhuber und Reichstrainer Sepp Herberger. Stuttgart 2012. S. 37. Seite 34 von 108

Fußball-Weltmeister. In der heutigen Zeit spielt man wesentlich flexibler, so sind das 4-4-2– System (mit Mittelfeldraute) und das 4-2-3-1–System weit verbreitet.51

Darauf aufbauend versuchte man, die spielerischen „Schönheiten eines Fünf-Männer- Sturmes“ darzustellen und Oberhuber zu glorifizieren. Folgend verspottete man auch in einem fort „Stopperpropaganda“, „Stopperprediger“, „Stopperirrlehre“, „Stopperanbeter“, „Stopperpsychose“ und „Stopperwahn“ und war der Meinung, dass die Ära der „Ritter vom Stoppen“ bzw. „die Zeiten des Stoppers in Bayern“ vorbei seien. Dazu bezeichnete man die Stopper nun als Mittelläufer, und zwar auch dann, wenn sie wirklich die defensive Position spielten. Das Finale um die Großdeutsche Meisterschaft zwischen dem SK Rapid Wien und dem FC Schalke 04 (4:3) veranlasste etwa die Fachzeitschrift zu folgender triumphaler Aussage:

„In sporttechnischer Hinsicht fällt angenehm auf, dass kein einziger Bericht sich mit dem Thema Stopper beschäftigte. Das blutvolle Geschehen auf dem Spielfeld hat die graue Theorie vom grünen Tisch in der Versenkung verschwinden lassen; denn am 22. Juni [1941] wurde im Olympiastadion nicht Stopper, sondern Fußball gespielt. Ein Steckenpferd, einst in allen Gangarten und mit großer Beharrlichkeit geritten, steht heute beschämt verlassen in der Ecke.“52

Unter anderem ist auch F. Richard anzuführen, der in seiner Kolumne „Tagebuch“ noch einen Schritt weiter ging, indem er einen diesbezüglichen Kommentar unter die Überschrift „Endspiel war Blitzkrieg“ setzte und mit dieser Sicht der Geschehnisse voll auf Oberhubers Linie lag:

„Selbst unsere schnellebende Gegenwart wird das diesjährige Fußballmeisterschafts-Endspiel nicht so leicht vergessen können. Angepaßt der modernen Kriegführung war es ein Blitzkrieg

51 http://www.wikipedia.org/WM-System [Abruf: 30.8.2016]. 52 HERZOG Markwart / HEUDECKER Sylvia (Hrsg.), Blitzkrieg im Fußballstadion. Der Spielsystemstreit zwischen Karl Oberhuber und Reichstrainer Sepp Herberger. Stuttgart 2012. S. 38. Seite 35 von 108 in des Wortes wahrster Bedeutung. Schalke schoß seine ersten beiden Tore im Blitztempo. Rapid seine ersten drei in gleichem Blitztempo.“53

Das Fachblatt „Fußball – Illustrierte Sportzeitung“ empfand ebenfalls deutliche Sympathie für Oberhubers Initiative, die attraktiven Offensivfußball und die Abschaffung der Position des Stoppers mit sich bringen sollte, was sich in folgender Wortmeldung zeigt:

„Nun ist es klar, daß man nicht ganz einfach zu der alten, schönen Spielweise zurückkehren kann, da man einmal keine Entwicklung mehr zurückzuschrauben vermag und weil vor einigen Jahren die Abseitsregel geändert wurde, was ganz logisch zu einer Anpassung der Systeme führen mußte. Es ist deshalb nur möglich, etwas Neues zu bringen. Bayern scheint auf dem besten Wege dazu zu sein. Seine Spielweise ist schön und lässt dem einzelnen Spieler wieder mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Die Entwicklung ist sicherlich noch nicht abgeschlossen, doch auf der richtigen Bahn.“54

Tatsache ist, dass sich die Zeitschriften „Der Kicker“, „Kampf – Illustrierte Sport- Wochenschrift“ und einige Tageszeitungen mit Herberger und der Reichssportführung solidarisierten, wobei das erstgenannte Organ einen bemerkenswerten Richtungswechsel vollziehen musste. Zu Beginn fand Hans Joachim Müllenbach, der Hauptschriftleiter von „Der Kicker“, lobende Worte für die „aufs neue anbrechende Zeit straffster Sammlung im bayerischen Sport“ sowie „die Ausstrahlungen eines festen Willens und sprühender Arbeitsfreude“.55 Jedoch distanzierte er sich Ende Oktober 1940 von dem aus seiner Sicht rein theoretischen Systemstreit, dessentwegen die Redaktion auch von Briefen überschwemmt wurde. Im gleichen Moment hatte Müllenbach auch Anerkennung für die soldatischen Tugenden von Oberhuber übrig, der eben erst „als mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichneter Frontkämpfer des siegreichen Frankreich-Feldzugs“56 zurückgekehrt sei, und strich dessen „vielseitige[n] Kenntnisse des Sportes“57 heraus.

53 Ebda. 54 Ebda. 55 Ebda. 56 Ebda. S. 39. 57 Ebda. Seite 36 von 108

Wenn man von den zitierten Loyalitätsbekundungen des „Kicker“ absieht, so zeigte sich das Fachmagazin in Fachfragen gleichwohl kompromisslos. Denn über einen Monat, bevor Oberhuber seinen aufsehenerregenden Artikel über Blitzkriegfußball publizierte, veröffentlichte „Der Kicker“ in der mit „Fritzel Berg, Karlsruhe“ gezeichneten, regelmäßig erscheinenden Glosse einen überaus kritischen Kommentar. Darin kommt vor, dass das W-M- System alle Vorzüge des offensiven 2-3-5-Systems möglich mache, ja es sogar übertreffe, wenn es von einer aus echten Könnern zusammengesetzten Mannschaft beherrscht werde. Außerdem wurde zu der immer wiederkehrenden Frage, ob das W-M-System defensiv oder „feige“ sei, unmissverständlich Stellung bezogen:

„Es entspräche nicht dem deutschen Charakter, sagen einige Moralisten. Im Grunde derselbe Vorwurf wie: zu defensiv. Hier werden grundlegende Begriffe wirr vermengt: Ist es feig, Flakbatterien zu bauen, ist die Siegfriedslinie Ausdruck der Feigheit? Man verwechselt gröblich Strategie und Taktik. Zum Kriegführen gehört Abwehr und Angriff – gleichwertig! Zum Fußballspielen gehört: Tore vermeiden und Tore schießen. Wenn wir aber schon diesen Faden aufnehmen wollen: liegt es nicht im Sinne moderner Volkserziehung, auch den Spieler zum Kämpfer zu bilden? Und das W-System, das mit der Forderung, sich dem Gegner Mann für Mann anzupassen, verlangt allerdings mehr Kraft, mehr Kampf als das formationsstarre System, wo mehr Räume gedeckt werden.“58

Ich denke, anhand dieser Zitate werden die unterschiedlichen Positionen und Sichtweisen der Fußballfachzeitschriften deutlich.

4.6 Zur Erklärung der Fußballersprache

Für Kultur- und Sprachkritiker sind Sportreportagen ein allsamstäglicher Leckerbissen: Die Fußballberichterstattung produziert zu viele Stilblüten, als dass sie von sprachbewussten Zuschauern ignoriert werden könnte. Dabei sind als Beispiele Neuschöpfungen wie: „Ich habe fertig“, „Alles noch mal Paroli passieren lassen“ oder „Nicht alles hochsterilisieren“

58 Ebda. S. 39f. Seite 37 von 108 anzugeben, die ein ausgezeichnetes Material für die private Sprachforschung anlässlich der Sportschau bieten.

Zu betonen ist, dass auch die Verwandtschaft der Sportreporter-Sprache mit der des Militärs als kritisch angesehen wird. Ausgegangen wird von rund 100 Begriffen, die aus dem Bereich des Militärs in den Sport übernommen wurden, was folgende Beispiele zeigen: Wenn der Kommentator voller Inbrunst von einer Abwehrschlacht spricht, bei der ununterbrochen auf das Tor geballert wird, Angriffswelle auf Angriffswelle folgt und an der Außenlinie kleine Scharmützel stattfinden, während Schlachtenbummler aus aller Herren Länder am Rande des Feldes brüllen, dann wird der Kontext überdeutlich. Bisweilen klingt der Sport dann zu militaristisch-begeistert, zu gewalttätig, sodass sich die Zuschauer und Zuhörer eher auf ein Schlachtfeld als in ein Stadion versetzt fühlen. Folglich scheint auch der spielerische Charakter des Sports durch diesen Sprachgebrauch völlig ausgeblendet zu werden.

Das Militarisieren des Sports kann nicht Absicht des Kommentators sein, auch wenn fern des Kanals, in Großbritannien bzw. genauer gesagt in England, in keiner Spielberichterstattung ein eindeutiger Bezug auf die jüngere Geschichte fehlen darf. Immer wieder bombt der Fritz oder rollt der „German Tank“ übers Feld. Augenscheinlich ist auch, dass nach Meinung der in vielen entscheidenden Spielen unterlegenen Engländer die Deutschen eher ein Spiel kaputt machen, als dass sie es aufbauen. Daher führt die Aussage des englischen Kommentators vor dem WM-Finale 2002 zwischen Deutschland und Brasilien, der hoffte, dass die „Deutschen das Spiel nicht zerstören“59, auch nicht zur Verwunderung.

Allerdings sollte man sich angesichts dieser verbalen Kriegführung ins Bewusstsein rufen, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts die Fußballsprache spürbar entschärft wurde. Zur Veranschaulichung: In der Frühzeit des Fußballs kam es in einer von Militarisierung gekennzeichneten Atmosphäre nicht von ungefähr, dass das Spiel grundlegende Begriffe wie „Angriff“ und „Verteidigung“, „Deckung“, „Flanke“ und „Flügel“ dem militärischen Jargon entlehnte. In diesem Zusammenhang schrieb zum Beispiel der „Anglo-American Football- Club Hamburg“ seine Rugby-Football-Regeln fest:

59 BROSCHKOWSKI Michael / SCHNEIDER Thomas (Hrsg.), „Fußlümmelei“ Als Fußball noch ein Spiel war. Berlin 2005. S. 123. Seite 38 von 108

„Die Spieler werden von den Kapitänen eingeteilt in je drei Abteilungen: I. Goalkeeper: Die Aufgabe derselben ist, das Goal zu decken. Sie stehen unter einem Führer, der vom Kapitän ernannt wird.

II. Leichte Brigade: Die dieser angehörenden Spieler werden in leicht gebogener Linie in mäßiger Entfernung vom eigenen Goal aufgestellt. Sie stehen unter drei Führern, welche den linken Flügel, das Zentrum und den rechten Flügel befehligen. Besonders bei den Spielern der leichten Brigade ist unbedingter Gehorsam gegen ihre Führer erforderlich.

III. Bulldoggen: Diese, ohne bestimmte Aufstellung, haben dem Ball überall hin zu folgen.“60

Man kann sagen, dass die Anweisungen fast der Schlachtaufstellung eines antiken Heeres gleichen, denn die Flügel werden befehligt und Gehorsam ist unbedingt notwendig. In der heutigen Zeit klingt es etwas sportlicher, wenn von Flügelspiel und mannschaftlicher Geschlossenheit geredet wird. Von Interesse ist auch die sprachliche Referenz gegenüber dem Tierreich: Wenn im „Hamburger Football-Club“ losgelassene Bulldoggen dem Ball folgen, sieht man förmlich die Meute mit blutunterlaufenen Augen Ball und Spieler unbarmherzig über das Feld hetzen. Heutzutage spricht man bestenfalls über Terrier oder Kampfschweine, die über den Rasen toben, wobei Ersteres nach einem kleinen, nicht ablassenden Kläffer klingt, Letzteres eher liebenswürdig auf einen „bulligen“ Stürmer verweist, der im Strafraum wühlt. Lediglich das „Kopfballungeheuer“ oder der „Bomber der Nation“ scheinen nicht den nicht zu überbietenden Schreckensvisionen anzugehören.

Jedoch scheint ein anderes, nicht nur in der Fußballersprache zu findendes Phänomen angesichts der schnellen Entwicklung der Medien Sprachschutzvereine auf den Plan gerufen zu haben: die Anglizismen. Sprachvereinigungen, die sich mit Vehemenz gegen die sogenannte Anglizismen- oder Amerikanismen-Flut stemmen, haben zum Ziel, die deutsche Sprache möglichst von Einflüssen der englischen Sprache rein zu halten und somit vor einer befürchteten Sprachverarmung zu schützen. Wörter englischen Ursprungs, die sich wie selbstverständlich in die deutsche Sprache eingeschlichen haben, sind Sprachschutzvereinen eine einzige Pein. Es muss den organisierten Sprachschützern Tränen in die Augen treiben, wenn von der „Champions League“, dem „Golden Goal“, „Finals“ oder einem „Fußballevent“ gesprochen wird, und taktische Aufgaben mit „forechecking“ oder „pressing“ umschrieben

60 Ebda. Seite 39 von 108 werden. Furchtbar müssen daher Neologismen wie „Teamchef“ oder „Confed-Cup“ klingen. Wahrscheinlich würden jene Leute auch den Titel der Fachzeitschrift „Kicker“ in „Fußstoßer“ umbenennen, aber an diesem Punkt ist die Eindeutschungsgrenze mit Sicherheit schon erreicht.

Die Bemühungen des deutschen Fußballprofessors Konrad Koch im 19. Jahrhundert zeigen, dass der heutige englische Einfluss auf die deutsche Sportsprache keinesfalls ein neues Phänomen ist und schon vor über einem Jahrhundert Sprachschützer auf den Plan rief. Er wollte dem „Fußball ohne Aufnehmen“61 über seinen ureigensten Bereich, die Sprache, zum Durchbruch verhelfen. Seine Tätigkeit bestand vor allem darin, für den „Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele in Deutschland“ bei der Eindeutschung der englischen Fußball-Fachbegriffe mitzuwirken – an Stelle der verwendeten Terminologie schlug er „deutsche Kunstausdrücke“ vor. Sogar der „Allgemeine Deutsche Sprachverein“ schickte dann auch einen Appell an die Fußballspieler, „von dem Zentralausschusse (…) anerkannte Verdeutschungen anzuwenden“62 und zur Verbreitung eigens bereitgestellte „aufgezogene, gefirnisste und zum Aufhängen eingerichtete Abdrucke“63 zu gebrauchen.

Daher wurde aus dem bis dahin üblichen „captain“ der „Spielkaiser“, ein „back“ war nun einfach ein „Verteidiger“ und ein „centre-forward“ ebenso einleuchtend ein „Mittelstürmer“, statt „off-side sagte man „Abseits“, ohne jedoch eine nachvollziehbare Entsprechung für „on- side“ zu finden. Anstelle eines „goal“ konnten sich die Spieler eines „Mal“ erfreuen, das seinerseits erst allmählich durch ein „Tor“ ersetzt wurde. Nur jenseits der Berge, in der Schweiz, konnte sich bei den Spielern der englische Ausdruck für das höchste der Gefühle im Fußball halten. Dass mit Kock ein kompetenter Philologe an der Arbeit war, zeigte ein Beispiel aus der Provinz, wohin der Wunsch aus der Hauptstadt offenbar nur langsam vordrang. Denn noch 1908 las sich beim „SV 08 Osnabrück“ der Versuch, die englischen Positionsbezeichnungen einzudeutschen, so: „Beck, Haafbeck, Zenterhaaf, rechte Vorwart, Zenter“.64 Beispiele wie diese veranschaulichen, dass eine Sprachumwandlung nicht ganz frei von Problemen ist. Angesichts dieser durch den örtlichen Dialekt gefärbten Sprachschöpfungen kann Kochs Leistung nur geschätzt werden, bis heute gebräuchliche Ausdrücke geprägt zu haben. Abschließend ist allerdings zu sagen: Selbst wenn mit Nachdruck geführte Sprachdebatten, Eindeutschungsforderungen, Begriffe wie

61 Ebda. S. 125. 62 Ebda. 63 Ebda. 64 Ebda. S. 126. Seite 40 von 108

„Schlachtenbummler“ oder „Bulldoggen“ es manchmal vergessen lassen: Fußball war, ist und bleibt ein lebendiges, offenes und attraktives Spiel.

4.7 Über die Bedeutung des Stadions als Raum und Ort

I.

Dieses Kapitel soll erklären, dass das Fußballstadion zugleich Raum und Ort ist und die Qualitäten beider Erfahrungsmöglichkeiten hat.

Die Unterscheidung von Raum und Ort, die hier aufgegriffen wird, stammt vom amerikanisch-chinesischen Autor Yi-Fu Tuan, der in seiner Studie über „Space and Place“ die beiden Kategorien nach Maßgabe der jeweiligen Erfahrungsqualitäten unterscheidet. Über die Kategorie des Ortes sagt er, dieser sei verbunden mit Vorstellungen von Sicherheit und Geborgenheit, an den Ort ist man aber auch gebunden, während Raum unserer Wahrnehmung nach Freiheit ausdrücke. Raum sei auch das, wonach man sich sehne. Zu betonen ist auch, dass wir einmal das Stadion als Ort verstehen, der besondere Bindungen hervorrufen kann, beispielsweise die Bezeichnung von „St. Hanappi“ für die nun abgerissene alte Heimstätte des SK Rapid. In anderer Weise ist das Stadion auch ein Raum, der trotz seiner architektonisch beengten Struktur weite Erlebnishorizonte bieten kann. Hierbei ist vieles möglich und hier können, wenn man bei den alltäglichen Erfahrungen bleibt, Verhaltensrepertoires ausagiert werden, die sonst kaum geduldet werden.

Das Stadion ist wiederum, trotz fortschreitender Überwachung seiner Insassen, auch ein Frei- Raum. Wenn man sich auf das Stadion der Moderne konzentriert, dann ist es ein Teil und Ausdruck ihrer Rationalität. Folglich ist es Ort der Verregelung, der Kontrolle – aus gutem Grund verweist z. B. John Bale in seinen Studien auf Michel Foucaults Arbeiten, besonders auf dessen Gefängnisbuch –, und eine Institution, die Grenzen zieht. In weiterer Folge ist das Stadion aber auch in gleicher Weise verbunden mit Atavismus, mit dem Karnevalesken, kurz, als Spiel-Raum verkörpert es das, was Stephen Toulmin als die andere, unterdrückte Tradition der Moderne bezeichnet.65 Hier wird vom Fußballstadion gesprochen, wie es sich im Verlauf

65 HORAK Roman, Das Stadion als Raum und Ort. Strukturen, Wahrnehmungsweisen, Lebenswelten. In: Siegfried GÖLLNER / Albert LICHTBLAU / Christian MUCKENHUMER / Andreas PRAHER /Robert SCHWARZBAUER (Hg.). Zwischen Provinz und Metropole. Fußball in Österreich. Beiträge zur 1. Salzburger Fußballtagung. Göttingen 2016. S. 14. Seite 41 von 108 des letzten Jahrhunderts entwickelt und herausgebildet hat. Weder das antike Stadion ist Gegenstand der Betrachtungen noch will ich mich mit Stadien beschäftigen, die mit anderen Sportarten in Beziehung zu setzen wären. Ähnlichkeiten gibt es vermutlich vor allem im Bereich der unmittelbaren Erscheinung. Hier werde ich meinen Blick aber auf jenes besondere architektonische und sozial-kulturelle Gebilde richten, das untrennbar mit jenem Spiel verbunden ist, das als Sportspektakel nicht nur die größte Verbreitung gefunden hat, sondern das, worauf John Bale aufmerksam gemacht hat, regelmäßig und seriell große Mengen von Menschen in bestimmten urbanen Zusammenhängen, gleichsam in einem „container“ versammelt. Es verwundert nicht, dass die jüngste Gestalt des Stadions, die so bezeichnete Multifunktionsarena, gerade dieses Übel beseitigen will. Als Paradebeispiel dafür dient die Veltins-Arena in , Ort der Heimspiele des FC Schalke 04, wie die Homepage stolz verkündet, „die modernste Veranstaltungsstätte Europas“. 66 Hier können Jubiläumsfeiern, Kongresse und Betriebsfeiern abgehalten werden, hier kann man sich sogar in einer eigenen Kapelle auch kirchlich trauen lassen.

II.

Historisch betrachtet entstand der moderne Fußball aus den frühmodernen Volksspielen. Zu beachten ist, dass bei besagtem Volksfußball es weder ein Regelwerk noch die Trennung zwischen Spieler und Zuschauern gab, außerdem wurde auf Straßen und Feldern gespielt, oftmals trat ein Dorf gegen das benachbarte an, regelmäßig waren Verletzte bei diesen rohen Veranstaltungen zu verzeichnen, die manchmal auch einige Tage dauern konnten. Der Volksfußball hatte als quasi-karnevaleske Praxis durchaus subversive Züge, die in der Umkehr der feudalen Ordnung Gestalt annahmen, welche wenigstens für den Moment außer Kraft gesetzt wurde.

1882, mit Einführung der Outlinie, kam es zur endgültigen, auch räumlich verbindlichen Trennung zwischen Spielern und Zuschauern. Diese Trennung ist von großer Bedeutung, sie schafft nämlich die Grundlage für die Entwicklung des modernen Zuschauersports Fußball und ist zugleich Ausdruck jener laut Henri Lefebvre dem Kapitalismus innewohnenden Tendenz zur Kommodifizierung des Raumes. Immerhin wurde jetzt auch immer ein Eintrittsgeld für Spiele verlangt. Folgend wird dieser neue Raum gestaltet, Tribünen entstehen, sie trennen das noblere Publikum von dem der Stehplätze. Im frühen zwanzigsten

66 Ebda. S. 16. Seite 42 von 108

Jahrhundert entstanden in England eigene Fußballstadien, die die Tendenzen der Segregation und Verregelung der Moderne veranschaulichen.

In Großbritannien schuf sich der Fußball seine eigenen Stadien, die meist in Privatbesitz waren; gegensätzlich verlief die Entwicklung in Deutschland. Hier tat sich das englische Spiel schwer, Popularität zu erlangen, es musste daher eingedeutscht werden, um akzeptiert zu werden.67 Daraus folgt, dass die Stadien, die hier in den zwanziger und dreißiger Jahren gebaut wurden, weite Arenen waren, die dem Sport allgemein zur Verfügung stehen sollten und auch im öffentlichen Eigentum standen. Die Wiener Entwicklung kann als Zwischenform verstanden werden. Zu betonen ist, dass die ersten Stadien, die nach dem Ersten Weltkrieg errichtet wurden, als reine Fußballstadien zu bezeichnen sind. Das Paradebeispiel dafür ist die Hohe Warte, die in den früher 1920er Jahren immerhin die größte Fußballarena außerhalb des Vereinigten Königreichs war. 1931 hingegen öffnete das Wiener Stadion als sozialdemokratischer Prestigebau seine Pforten, diente der „Ertüchtigung der Jugend“; aus architektonischer Sicht ist es eigentlich kein Fußballstadion, obwohl es am ehesten mit dem Spiel verbunden wird und auch den Namen Ernst-Happel-Stadion trägt, das seinen ersten Zweck und Gebrauch illustriert.

Während sich bereits in der Zwischenkriegszeit die Segregation des Publikums im Stadion nach sozialen Schichten herausbildete, begann während der 1960er Jahre in England – in Österreich etwas später – die Unterscheidung nach Vereinsanhängern und, wohl von geringerer Bedeutung, nach Alter aufzukommen. Darauf aufbauend sind die Fankurven Produkte der späten 1960er Jahre und zum auffälligsten Moment der Stadionpopulation geworden. Auch als Antwort auf das in jenen Bereichen sichtbar gewordene Phänomen der – potenziell und faktisch – gewalttätigen Fans ist seit den 1990er Jahren die Überwachung der Stadien drastisch gestiegen. Aber dies ist mit Sicherheit nicht der einzige Grund für die Umgestaltung der Stadien in „Hochsicherheitstrakte“. Der neue, noch mehr kommerzialisierte Fußball verlangte ein neues Publikum. Dies führte auch zur Veränderung der Stadien; sie sind Orte der Kontrolle und Räume der umfangreichen Unterhaltung zugleich geworden.68

III.

67 Ebda. S. 16f. 68 Ebda. S. 18. Seite 43 von 108

Chris Gaffney und John Bale unternehmen in ihrem Aufsatz „Sensing the Stadium“ den interessanten Versuch, die sinnlichen Wahrnehmungsqualitäten, die das Stadion bietet, in groben Zügen darzustellen. Obwohl es ihre Absicht ist, generelle Züge von Stadien verschiedener Sportarten dingfest zu machen, stützen sie sich in ihrer Analyse doch wesentlich und in beispielhafter Weise auf die spezielle Welt des Fußballstadions. Schrittweise kommt es zur Abhandlung der diversen sinnlichen Wahrnehmungsmodalitäten. Neben dem Gesichtssinn (hier unterscheiden sie zwischen „sight“ und „gaze“, also zwischen Sehen in der weiteren und der engeren Bedeutung), werden die sinnlichen Erfahrungen beschrieben, die im Stadium über Geruch, Berührung, Geschmack und natürlich über Klang gewonnen werden können. Mit Recht wird von den Autoren betont, dass neben dem essenziellen Moment des Sehens das Hören eine wichtige Rolle in der Wahrnehmungswelt des Stadions spielt. Wenn man sich nun in das Stadion begibt, sieht man, was es mit dem Klang der Masse aus einer Innenperspektive auf sich hat. Wird das Stadion als Klangkörper wahrgenommen, so kann man zwischen einer zeitlichen und einer räumlichen Struktur der Klangproduktion unterscheiden, die wiederum ihrerseits jeweils auf komplexe Weise miteinander verbunden sind. Das heißt, Zeit und Raum sind für den Klang des Stadions wesentliche Faktoren; die Frage ist daher, wer wann und wo zu seiner Herstellung beiträgt.

Spätestens seit den Arbeiten von Christian Bromberger et al. ist bekannt, dass das Publikum in Fußballstadien, das gerne als Masse gedeutet wird, nach Geschlecht, Alter, kulturellem und sozialem Hintergrund sehr unterschiedlich ist. Diese Struktur findet auch in der Klangproduktion ihren Ausdruck. Vorrangig ist einmal der Sektor der Heimfans zu nennen, hinter dem Tor; meist ihnen gegenüber befindet sich der Bereich der Auswärtsfans. Beide Gruppen reagieren lautstark und hochgradig ritualisiert auf das Geschehen auf dem Platz, aber auch aufeinander. Von Zeit zu Zeit werden andere Teile des Stadions hörbar, die Fans sind zwar leiser, und mit steigendem Grad der dort Sitzenden etwas gedämpfter, immer aber gleichermaßen auf das Spielgeschehen wie auf Sprechchöre und Gesänge der beiden Fansektoren fokussiert. Zu dieser aus dem Publikum kommenden Klangproduktion kommt die Beschallung aus dem Lautsprecher hinzu, die die Zuschauer mit Musik und Werbeeinschaltungen traktiert und zudem mit den Interventionen des Platzsprechers konfrontiert, die ihrerseits wieder auf das Spielgeschehen und die beiden Fansektoren Bezug nehmen. Konkrete Gestalt nimmt dieses abstrakte Muster in der erzählenden Form des Spiels an, in der zeitlichen Struktur, die vor dem Anpfiff beginnt und nach dem Schlusspfiff ihr Ende nimmt. Auch der Klang in der Zeit ist der Klang des Stadions, das Auf und Ab des

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Klangpegels begleitet das Spiel, es hat Teil an ihm und kommentiert den Spielverlauf, wie es ihn mitgestaltet.69

5. Die Rolle des DFB im „Dritten Reich“

Wie kaum ein zweiter Aspekt der deutschen Fußballgeschichte bietet der Kampf, den der DFB während der Zwischenkriegszeit gegen die Professionalisierung der „wichtigsten Nebensache der Welt“ führte, ein weites Feld der Deutung und Interpretation. Dabei stellen sich folgende Fragen: Welche Motivation war für den Verband bei der Agitation gegen den „Bezahlfußball“ handlungsleitend? Wie wirkte sich die NS-Machtergreifung auf die Debatte aus? Gab es in den Reihen des gleichgeschalteten bürgerlichen Fußballs einen genuin rassistisch geführten Antiprofessionalismusdiskurs? Wenn ja, seit wann war die Profidebatte antisemitisch konnotiert? Das sind nur vier Fragen zum Thema „Profispieler“, auf welche die Sporthistoriographie bis dato noch kaum befriedigende Antworten liefern konnte.

Dabei ist zu erwähnen, dass eine Menge gravierender Fehlurteile und vorschneller Schlüsse vermieden werden hätte können, wäre genauere Quellenarbeit geleistet und wären die Analysen nicht nur bis 1933 geführt worden. Folglich hätten zum Beispiel Erik Eggers und Nils Havemann nicht nur die zweite Hälfte der 1920er Jahre genau unter die Lupe nehmen sollen, denn die Thesen von Eggers und Havemann, dass der Antiprofessionalismus des DFB vor allem wirtschaftlich begründet war, wäre nur schwierig zu begründen gewesen. Um ein weiteres Beispiel anzuführen: Hätte Christiane Eisenberg auch nur einen Jahrgang des „Kicker“ nach 1933 analysiert, hätte dies die ansonsten profilierte Kennerin der deutschen Sportgeschichte wohl kaum zu der Annahme veranlasst, dass mit der NS-Machtübernahme die Amateurdebatte in Deutschland praktisch beendet war. Würde die Populärwissenschaft über bessere Quellenkenntnisse verfügen, ihre Vertreter müssten es wohl endlich für bare Münze nehmen, dass es nicht der Nationalsozialismus war, der 1933, zudem aus einer antisemitischen Motivlage heraus, die Professionalisierungstendenzen im deutschen Fußball untersagte.

Dagegen ergibt nämlich eine detaillierte Durchsicht der überlieferten Zeugnisse ein völlig anderes Bild des Kampfes gegen den Profifußball. Vorweg ist zu sagen: Innerhalb des DFB waren immer weltanschauliche Fragen bei der Untermauerung des Amateurgedankens von

69 Ebda. S. 19. Seite 45 von 108 höchster Priorität. Außerdem entwickelte der bürgerliche Fußball im an den virulenten Kulturpessimismus nach 1918 eine eigene Amateurideologie, die zwar anschlussfähig an das Ideenkonglomerat des Nationalsozialismus war, aber trotzdem, besonders in der Phase der NS-Machtübernahme gegen die Politik verteidigt werden musste. Zweitens ist anzuführen: Auch nach 1933 – das Jahr stellt keinen End-, sondern vielmehr einen Wendepunkt in der Debatte dar – wurde weiter mit aller Kraft gegen den Professionalismus vorgegangen, und zwar hauptsächlich von Seiten der (selbst)gleichgeschalteten DFB-Führung. Und der dritte Aspekt: Erst ab 1938, als sich die Möglichkeit ergab, im Verlauf der Machtausdehnung des Dritten Reichs das Ideal des Amateurismus über ganz Europa zu verbreiten, wurde dieses auch von Exponenten des ehemals bürgerlichen Fußballs durchgängig mit Hilfe antisemitischer Konnotationen vermittelt.70

5.1 Linnemanns Kampf gegen die Professionalisierung 1933-1939

Mit der damaligen Festschreibung der von der Realität längst überholten Amateurbestimmungen gab sich der damalige Präsident des DFB, Felix Linnemann, noch längst nicht zufrieden. Ausgestattet mit dem „Führerprinzip“, dem Fachschafts- bzw. Fachamtsleiter, war es nun möglich, einen überführten „Berufsspieler“ per Anordnung und ohne Hinzuziehung eines Sportgerichts aus dem Fußballbetrieb auszuschließen. So unternahm er einen erneuten Versuch, die Symptome des Profifußballs auszumerzen: Die Breslauer Spitzenklubs Hertha und SpVgg 1902 wurden im Oktober 1933 komplett vom Spielbetrieb suspendiert, zu Beginn des Jahres 1934 wurde der VFR Heilbronn wegen einer „Profiaffäre“ aufgelöst, und schließlich meldete im Herbst des Jahres die Sportpresse, dass die gesamte Fußballabteilung Werder Bremens sowie der Spieler Nachtigall von Fortuna Düsseldorf disqualifiziert wurden. Linnemann hatte gegen die Hanseaten selbst das Verfahren eingeleitet, die Anklage lautete auf versuchte „Ziehung“ des saarländischen Nationalspielers ; Nachtigall wurde gesperrt, weil er bei „Bundesführer Linnemann“ keine Erlaubnis zur Arbeitsbeschaffung eingeholt hatte.

Die erwähnten Fälle waren aber nur jene, denen die größte Aufmerksamkeit zuteilwurde, denn welche Ausmaße der Kampf gegen den „Scheinamateurismus“ 1933/34 wirklich annahm, darüber gibt Albert Bauer in seiner Denkschrift von 1947 Auskunft. Neben den

70 OSWALD Rudolf, In: Lorenz PEIFFER / Dietrich SCHULZE-MARMELING (Hrsg.), Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus. Göttingen 2008, S. 107f. Seite 46 von 108 schon geschilderten Fällen listet Bauer darin allein bis zum Herbst 1934 16 weitere Strafmaßnahmen gegen Spitzen-Vereine und deren Spieler auf. Davon betroffen waren renommierte Klubs wie Bayern München, 1860 München, und FSV Frankfurt. Doch das war nur der Beginn, nachdem sich im Zuge der Gleichschaltung der DFB auch das Monopol auf den organisierten Fußball sichern konnte und damit innerhalb Deutschlands von lästiger Konkurrenz befreit war. Nun schien Linnemann sogar dazu bereit, zugunsten der „Reinhaltung“ des Amateurismus das ureigenste Prinzip des Sports über Bord zu werfen. Denn im Oktober 1934 verlautbarte der „Fußball-Führer“ in einer Sendung des Deutschlandfunks, dass „der deutsche Fußball (…) bei seinem Bekenntnis zum strengsten Amateurismus bleiben“71 werde, „selbst auf die Gefahr hin, daß es im Leistungsvermögen einmal Rückschläge geben sollte“.72 Daraus resultierte eine dementsprechend radikale zweite Verfolgungswelle bis zum Zweiten Weltkrieg.

Schon die Radikalität, mit der die Fußballführung seit 1933 wieder ertappte „Profisünder“ verfolgte, lässt es sehr fraglich erscheinen, ob der Beiname „Papa Gnädig“, der Linnemann in der Festschrift zum hundertjährigen Jubiläum des DFB verliehen wurde, angebracht war. Tatsache ist, dass dem „Fußball-Führer“ nicht eine einzige Maßnahme nachweisbar ist, die auch nur im Ansatz Nachgiebigkeit zeigt. Wurden beispielsweise Initiativen ergriffen, die der Jagd auf vermutliche „Profifußballer“ etwas von ihrer Rigorosität nehmen sollten, so gingen diese nicht von der Fußball-, sondern von der Reichssportführung aus, wie etwa der Erlass zeigt, mit dem Reichssportführer von Tschammer und Osten nach den Olympischen Spielen 1936 Sportler begnadigte, die nur kurzfristig aus dem DRL (Deutscher Reichsbund für Leibesübungen) ausgeschlossen worden waren.

Linnemann und mit ihm der Fachjournalismus blieben sich treu – und das nicht nur hinsichtlich der Ahndung von Profivergehen, sondern ebenso mit Fokus auf das primäre Argument, mit dem das Amateurprinzip verteidigt wurde. Im März 1935 begründete Linnemann nämlich in einem Artikel für das „Reichssportblatt“ die Ablehnung des Profifußballs, obwohl dessen Einführung zu jener Zeit bereits fern von jeder Realität lag, mit einem wohl bekannten Topos:

71 Ebda. S. 116. 72 Ebda. Seite 47 von 108

„Der Berufssport“, so der Leiter des Fachamtes Fußball, „hat den selbstverständlichen Zweck, wenige zur Höchstleistung auf einem Gebiet der Leibesübungen zu bringen und zu den Kämpfen dieser wenigen möglichst große Massen von Zuschauern anzuziehen, um den Kämpfern ihren Verdienst, den Unternehmern einen Gewinn zu sichern. Der Berufssport entfremdet somit die Masse von der Selbstbetätigung.“73

Sehr ähnlich äußerte sich 1934, ebenfalls in einem Aufsatz für das „Reichssportblatt“, der ehemalige Funktionär des WSV (= Westdeutscher Spielverband) Guido von Mengden. Mengden amtierte zu diesem Zeitpunkt als DFB-Pressewart, ihm kamen die Maßnahmen gegen den „Bezahlfußball“ einem „Kampf um die Grundanschauung des Sportes“ gleich, dessen „letzte Frage lautet: Sport als Geschäft (…), als Vergnügen und Sache des einzelnen, (…) oder Sport als Gemeinschaftserlebnis aller, der Gesamtheit der Nation dienenden Menschen.“74

Ein zweites bis 1933 gebräuchliches Argument wurde aber ersetzt. Das im Zusammenhang mit der Gemeinnützigkeit der Vereine oft beschworene „Steuergespenst“ hatte vorerst ausgedient. Mit Sicht auf die finanzielle Situation vieler Profis im Wiener, Prager und Budapester Rasensport zeigte sich die Fußballführung jetzt vielmehr ob der sozialen Unsicherheit besorgt, die der „Profisport“ für die Spieler mit sich bringen könnte. Nun kam es dazu, dass unter dem Schlagwort des „sozialen Amateurismus“ in besonderem Maß Spitzenspieler großzügig von ihren beruflichen Verpflichtungen freigestellt wurden.

6. Fußball als Arbeitersport

Tatsache ist, dass die Grundlage für die heutige Popularität des Fußballs gelegt wurde, als Arbeiter begannen, das Spiel, welches zuerst den „besseren Kreisen“75 vorbehalten war, zu übernehmen. Es war nämlich so, dass sich die Arbeiter, wie auf anderen Gebieten auch, sich den Zugang zum Fußball erst erkämpfen mussten. Im Zuge dieser Auseinandersetzung

73 Ebda. S. 116f. 74 Ebda. S. 117. 75 DUNNING Eric / SHEARD Kenneth, Fußball als Arbeitersport. In: Wilhelm HOPF (Hrsg.), Fußball. Soziologie und Sozialgeschichte einer populären Sportart. Sport – Kultur – Veränderung (Band 15). Münster 1998, S. 81. Seite 48 von 108 entwickelte sich in Großbritannien eine noch heute wirksame Ideologie; es kam zur Erfindung des „Amateurs“. Die „Entstehung des Amateurideals“ war ein Ausdruck der Klassenspannung im Sport. Doch abgesehen vom Rugbysport führten diese Auseinandersetzungen nicht zur Spaltung der Sportverbände.

Im Gegensatz zu Großbritannien bildeten sich in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts auf breiter Front Arbeitersportverbände. Zu erwähnen ist, dass der organisierte Arbeitersport eng mit der Arbeiterbewegung verbunden war, als deren „dritte Säule“ – neben Parteien und Gewerkschaften – er auch empfunden wurde. Daher war die Arbeitersportbewegung vergleichsweise direkt den Spannungen innerhalb der Arbeiterbewegung, im Speziellen jenen zwischen SPD und KPD, ausgeliefert. Die Russenspiele von 1927, eine Reihe von Spielen zwischen einer sowjetischen Mannschaft und verschiedenen deutschen Arbeitervereinen, bieten sich für eine exemplarische Analyse an. Darauf folgend stellt die Dokumentation „Die Russenspiele“, herausgegeben von der „Sparte Fußball“ im „Arbeiter-Turn und Sportverband“, die Spiele und die Situation des Arbeitersports ebenso problemorientiert wie auch humorvoll dar.

Anhand der Russenspiele wird exemplarisch der enge Zusammenhang von Sport und Politik gezeigt. Mit Blick auf die Spaltung der Arbeiterbewegung gilt es zu fragen, ob die Russenspiele die Einheit des Arbeitersports förderten oder nicht: „Die Russenspiele“ – Einheit(sfront) der Arbeitersportler für Demokratie und internationale Solidarität? 76 Allerdings darf die Stärke der Arbeitersportbewegung nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Arbeiter, die Sport bzw. Fußball betrieben, außerhalb dieser Organisation standen. Denn dazu gehörten nicht nur Mitglieder bürgerlicher Vereine, sondern auch die Fans ausgesprochener Arbeitervereine, wie das Beispiel „Schalke 04“ verdeutlicht. Interessant ist: Die unpolitische, ja entpolitisierende Funktion des Fußballs findet sich auch in dörflichen Verhältnissen. Abschließend ist zu erklären, dass der Fußball dabei in keinem Fall seinen Charakter als Arbeitersport verlor, sondern der „Fußballspieler als Repräsentant der Arbeiterklasse“77 trat eher klarer hervor.

6.1 Der Fußballspieler als Vertreter der Arbeiterklasse

76 Ebda. 77 Ebda. Seite 49 von 108

„Der Hännes war ne Zeit lang der bekannteste Mann in ganz Sodingen. Wissen Sie was der Herr Pastor gesagt hat? Der hat sich sonntags auf die Kanzel gestellt und hat gesagt: „Ich verstehʼ das gar nicht, was das hier fürʼn heidnisches Volk ist. Kein Mensch redet hier in Sodingen von Gott, alle reden hier nur von Adamik!“78

Dieses Zitat als Einstieg verdeutlicht eindrucksvoll die Bedeutung eines Fußballers als Vertreter der Arbeiterklasse im Ruhrgebiet, genau gesagt von Johann „Hännes“ Adamik (* 16. Juli 1925 in Sodingen; † 24. März 2005 ebenda). Er war ein deutscher Fußballspieler, der sein ganzes Leben lang nur für den Arbeiterverein Sodingen spielte und in der örtlichen Zeche Mont Cenis als Anschläger direkt im Kohleabbau unter Tage arbeitete.79

Im Unterschied zu Deutschland gibt es in England eine Fülle von Fußballliteratur, die sich nicht mit der Auflistung von Tabellen und Statistiken, Pseudo-Autobiographien von Starspielern und Schnelldrucken nach Weltmeisterschaften aufhält, sondern versucht, in die Beschreibung auch die Sozialgeschichte des Fußballs sowie die Fußballer selbst zu integrieren. Daher wurde auch in England die These vom Fußballspieler als Repräsentant seiner Klasse und seines Wohnviertels entwickelt.

In England hatte die Bezeichnung, öffentlicher Repräsentant zu sein, ohne seine Klasse zu verlassen, bis in die 50er Jahre Gültigkeit, obwohl es schon seit 1885 den Berufsfußball gab. Tatsache ist aber, dass die Gehälter der Spieler allgemein so niedrig waren, dass sie finanziell gesehen nur ausnahmsweise ihrer Klasse den Rücken kehrten. Denn im Durchschnitt verdienten sie gleich viel wie Arbeiter, oft sogar weniger als besonders gefragte Facharbeiter. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen und ihren Zuschauern bestand darin, dass sie, obwohl sie doch von ihrer Klassenherkunft her dafür „bestimmt“ schienen, nicht im „Pütt“ oder in der Fabrik arbeiten mussten. Diese Unterscheidung machte es für Arbeiterjugendliche reizvoll, Fußballer zu werden. Außerdem waren die Spieler sich ihres Glücks, den Lebensunterhalt auf so leichte, spielerische Art zu verdienen, deshalb so bewusst, weil sie die Alternative zu gut kannten. Nat Lofthouse, Starspieler der frühen 50er Jahre, Sohn eines Kohlenträgers und zeitweise Bergmann, hatte dazu Folgendes zu sagen:

78 BREUER Heinrich / LINDNER Rolf, Der Fußballspieler als Repräsentant der Arbeiterklasse. In: Wilhelm HOPF (Hrsg.), Fußball. Soziologie und Sozialgeschichte einer populären Sportart. Sport – Kultur – Veränderung (Band 15). Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 1998, S. 139. 79 http://www.wikipedia.org/adamik [Abruf: 30.8.2016]. Seite 50 von 108

„You could say Iʼd only been getting fourteen quid [Pfund Sterling, W. H.] a week, but it wasnʼt really work. They were working damned hard for eight quid. I got easy money, I know; Iʼve worked down the pit and Iʼve played football.“80

Im selben Kontext schildert Lofthouse ein Erlebnis, das ihm seine Privilegiertheit deutlich machte. Eines Morgens wartete er vor einem Fußballturnier im Ausland vor seinem Haus im Arbeiterviertel von Bolton auf ein Taxi. Zu diesem Zeitpunkt machten sich all die Arbeiter, seine Nachbarn und früheren Freunde auf den Weg in die nahegelegene Fabrik und erstmals begriff Nat, wie gut es ihm ging: ins Ausland zu fahren, Fußball zu spielen und dafür auch noch bezahlt zu werden. Interessant ist, dass dieses Privileg, sein Geld auf spielerische Weise zu verdienen, auch in der Weigerung ehemaliger Oberligaspieler zum Ausdruck kommt, Fußball als Arbeit zu verstehen.

Hannes Adamik: „Heute, wie der Beckenbauer, der hat sich ja mal aufgeregt, von wegen vier- , fünfmal Training in der Woche. Die arbeiten ja auch gar nicht! Wenn sie uns das damals geboten hätten, wir hätten uns ein Zelt auf den Platz gestellt und nur Fußball gespielt, so begeistert waren wir“.

Leo Konopczinski: „Passen Sie mal auf, was der Hännes eben sagte, das wollte ich noch eben erwähnen. Können Sie sich einen Spieler, egal wie er heißt, vorstellen, der muß jetzt unter Tage anfangen, dann soll der acht Stunden bleiben, da ist es warm, da geht es rund, da soll der meinetwegen nur rumlaufen. Und dann kommt der nach Hause, dann kann der sein Mittag essen, und dann heißt es: ‚So, um 5 Uhr bist du auf dem Platz‘. Und dann soll der das Training machen, was der heute macht. Das kann der nicht verkraften, das ist nicht drin“.81

6.2 Arbeiterfußball im Ruhrpott

Zuerst folgt ein kurzer Blick auf Österreich, danach auf Deutschland. Es ist wichtig, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass 22 Arbeitersportler unter den Toten waren, die nach der

80 Ebda. 81 Ebda. S. 140. Seite 51 von 108

Demonstration beim Justizpalast 1927 auf dem Wiener Pflaster lagen. In Österreich trug die angespannte wirtschaftliche Situation nicht zur Beruhigung der politischen Lage bei. Im kleinen Land marschierten mit ihren Waffen sogar drei Armeen: Die Heimwehren der Rechten, der Schutzbund der Sozialdemokraten und das staatliche Bundesheer. Nachdem im Jänner 1927 im burgenländischen Schattendorf Männer der Heimwehr aus einem Wirtshaus auf vorbeiziehende Schutzbündler das Feuer eröffnet und einen Kriegsinvaliden sowie ein Kind getötet hatten, wurde den Tätern in Wien der Prozess gemacht. Nachdem dieser mit einem Freispruch geendet hatte, demonstrierten am 15. Juli Tausende, ohne dass die sozialdemokratische Führung eingebunden wurde. Daraufhin ging der Justizpalast in Flammen auf und beim Zusammenstoß mit der Polizei waren rund 100 Tote zu beklagen.82

In „Die Fackel im Ohr“ beschreibt Elias Canetti die Empörung über die Schlagzeile der „Reichspost“: Der Freispruch der Mörder „wurde im Organ der Regierungspartei als gerechtes Urteil bezeichnet, nein ausposaunt. Es war dieser Hohn auf jedes Gefühl von Gerechtigkeit noch mehr als der Freispruch selbst, was eine ungeheure Erregung in der Wiener Arbeiterschaft auslöste“.83 Die Geschehnisse lieferten Canetti einen Ansatz für das Buch „Masse und Macht“, einen anderen bekam er vom Rapid-Platz. Zu sagen ist, dass die 22 Toten der tragische Hinweis darauf sind, wie intensiv der Arbeitersport in der Zwischenkriegszeit mit der politischen Entwicklung verbunden war.

Im deutschen Arbeiter-Turn und -Sportbund waren 1930 etwa 140.000 Fußballer organisiert, doch seine Anziehungskraft reichte bei weitem nicht an jene des DFB heran. Denn dieser hatte schon 1920 über 750.000 Mitglieder und gab sich als unpolitischer Fachverband. Daher entsprach er auch den meisten Kickern, die in ihrem Sport nichts Anderes als ein Freizeitvergnügen sehen wollten. Im Gegensatz dazu ließen die Organe des Arbeiterfußballs verlauten: „Wir spielen nicht zum Vergnügen“.84 Sogar in den Vierteln der Bergarbeiter und in den Werksiedlungen des Ruhrgebiets, wo nicht nur die Kinder auf freiem Gelände und auf den Straßen kickten, gingen die meisten Jugendlichen zu DFB-Klubs, da Wettkampf und Leistung nach wie vor geschätzt wurden. Der eindeutige Beweis dafür war die Begeisterung für den FC Schalke 04.

Seine Konkurrenz entstand aus der katholischen Arbeiterbewegung heraus. In Dortmund wurde 1909 der „Ballspielverein Borussia“ gegründet, weil der örtliche Kaplan seiner

82 ZEYRINGER Klaus, Fußball. Eine Kulturgeschichte. Frankfurt am Main 2016, S. 165f. 83 Ebda. S. 166. 84 Ebda. S. 171. Seite 52 von 108

Jugendorganisation das Kicken verboten hatte (dagegen trug dann der katholische Verband DJK von 1921 bis 1932 in unregelmäßigen Abständen viermal eine eigene deutsche Meisterschaft aus). Bis Mitte der 1920er Jahre kamen aus dem Stadtgebiet um das Eisen- und Stahlwerk Hoesch Mitglieder und Publikum des Vereins. 1926 schaffte er mit Unterstützung des Direktors der Unionsbrauerei den Aufstieg in die oberste Spielklasse. Die lokale Bevölkerung identifizierte sich zu Beginn des NS-Regimes mit dem BVB, da er sowohl dem katholischen als auch dem linken Milieu seine verbotene Vereinskultur zu ersetzen im Stande war: Im November 1932 im Zuge der Reichstagswahl hatte hier die KPD mehr als 31% der Stimmen erreicht und war damit 10% vor der SPD und Zentrumspartei gelegen – das ergab 70% für die drei Parteien, denen die Anhängerschaft des BVB nahestand.

Entsprechend emotional und politisch verliefen die Derbys mit Schalke 04, dem erfolgreichen Klub und Vorzeigeverein der Nazis. Der Verein hatte seinen Ursprung im Gelsenkirchener Viertel mit vielen Zuwanderern aus Masuren und bekam deshalb das Image eines „Polacken- und Proletenclubs“ 85 verpasst. Im Mai 1904 wurde seine Gründung vor allem von Jungbergleuten betrieben, der erste „Vorsitzende“ war 14 Jahre alt. Zuweilen hieß der Klub „Schalke 1877“ und „Westfalia“, ab 1924 schließlich Schalke 04. In diesem Jahr wurde er Mitglied des DFB und erfuhr, weit über die Region hinaus, auch Unterstützung vom Bildungsbürgertum. Seine Stars hießen und Fritz Szepan, die als Sinnbild für den „Schalker Kreisel“ standen, ein Spiel mit Kurzpasskombinationen, um den Ball einem Kreisel gleich über das Spielfeld tanzen zu lassen. 1934 schließlich wurde Schalke zum ersten Mal deutscher Meister.

Das letzte Endspiel der Arbeiterfußballmeisterschaft im Jahr 1932 hatte in Nürnberg nur 7.500 Zuschauer angelockt; im gleichen Jahr waren es ebenfalls in Nürnberg beim DFB- Finale Bayern München gegen Eintracht Frankfurt 55.000. Abschließend ist zu betonen: Der ständige Vergleich mit dem Vorbild der renommierten DFB-Vereine führte dazu, dass sich der Fußballbetrieb der Arbeiter von jenem des „bürgerlichen Verbandes (dessen Mitglieder ohnehin zum großen Teil Arbeiter waren) kaum noch unterschied – außer durch das sportliche Niveau.“86

85 Ebda. S. 172. 86 Ebda. S. 172f. Seite 53 von 108

6.3 Der Spielfilm „Das große Spiel“ als Dokument zum „Mythos Revierfußball“

Indem der Spielfilm „Das große Spiel“ die Arbeitswelt mit der Freizeit der Fußballer verband, wurde er zu einem frühen Dokument für den „Mythos Revierfußball“.

„Das große Spiel zählt zu den wenigen im Nichtprofibereich angesiedelten Fußballfilmen, die sich bewusst auf die Arbeitswelt der Kicker einlassen; er ist in der ästhetisch heroisierenden Zeichnung dieser Welt des harten Kampfs, in der die Kumpel der Erde das schwarze Gold abringen, natürlich ein von der Ideologie des Nationalsozialismus geprägtes Werk – anders wäre er 1941 kaum möglich gewesen.“87

Zum „Mythos Revierfußball“, der bis heute noch nicht hinterfragt wurde, ist zu sagen, dass Arbeiter, vor allem Bergleute, nach harter Arbeit gemeinsam und erfolgreich Fußball spielten und dabei selbstverständlich nicht an ökonomische Vorteile dachten. Zum Entstehen des Mythos trug der Erfolg von Vereinen aus der Arbeiterschaft gegen „bürgerliche“ Klubs seit Mitte der 1920er Jahre bei. Die Vorherrschaft von Schalke 04 während des Nationalsozialismus hatte etwa eine erste ideologische Überhöhung zur Folge: Ein immens erfolgreiches Team wurde als Stellvertreter für eine ganze Region verstanden. Der Film hat Parallelen zu Schalke 04, denn bei von Berg heißt es: „Die Bergarbeitermannschaft Gloria 03 kommt aus dem fiktiven Ort Wupperbrück, aber in Wahrheit erzählt der Film vom FC Schalke 04, den königsblauen Knappen aus Gelsenkirchen.“ 88 Goch und Silberbach sind vorsichtiger und schreiben von einem Film, „in dem man auch Elemente der Geschichte des FC Gelsenkirchen-Schalke 04 wieder erkennen konnte“89, während die Schalke-Festschrift zum 100jährigen Bestehen nur kurz feststellt: „Auch Gloria 03 ist echt Schalke“.90

Man könnte einwenden, dass Wupperbrück eher an die erst 1929 entstandene Stadt Wuppertal im Bergischen Land erinnert und der Beiname „Gloria“ völlig untypisch für Reviermannschaften ist. Allerdings ist die Nähe zum Revierfußball nicht nur als

87 WICK Uwe, Der Spielfilm „Das große Spiel“. Ein Beispiel für NS-Propaganda im Film? In: Markwart HERZOG / Rainer JEHL, Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus. Alltag – Medien – Künste – Stars. Stuttgart 2008, S. 293. 88 Ebda. 89 Ebda. 90 Ebda. Seite 54 von 108

Industriekulisse dokumentiert, sondern auch durch Vater Gablers Erinnerungen im Film an seine eigene aktive Zeit als Gloria-Spieler: Denn zweimal konnte Gloria Endspiele um die Bezirksmeisterschaft gewinnen, dagegen resultierte eine vernichtende 1:9 Niederlage gegen Recklinghausen aus Unstimmigkeiten in der Mannschaft. Auch das Waggonschild am Zug, mit dem das Team zum Endspiel nach Berlin reist, zeigt, dass der Zug in Düsseldorf startete und über Duisburg, Essen und Dortmund nach Berlin weiterfuhr. Klar ist, dass die Vereinskneipe im Film, „Mutter Kleebusch“, auf „Mutter Thiemeyer“, das Vereinslokal von Schalke 04, verweist, obwohl kein deutscher Fußballverein ohne enge Beziehung zu seiner Vereinskneipe auskam. Es war von Beginn an für Mitglieder, Funktionäre und Spieler von Schalke 04 klar, dass ihr Klub Vorbild für den Film war. Das verdeutlicht, warum bei der Uraufführung im Gelsenkirchener Apollo-Theater Schalke-Spieler und -Funktionäre anwesend waren und nach der Filmvorführung auf Einladung des Gelsenkirchener Oberbürgermeisters eine kleine Feier für die Schalker stattfand.

Es gilt aber, die Frage zu stellen: An welche Zeit der Schalker Geschichte erinnert der Film? Sicherlich nicht an die Meisterteams der 1930er und 1940er Jahre, deren Spieler sich nicht mehr untertage vorbereiteten, sondern versuchten, aus den sportlichen Erfolgen eine wirtschaftliche Absicherung der sportlichen Existenz zu schaffen. Am wahrscheinlichsten ist, dass der Film an die Phase des Aufstiegs der Schalke-Mannschaft zur nationalen Fußballelite erinnert (circa 1924-1932), in der auch der Beiname „Knappenelf“ 91 geprägt wurde. Vermutlich haben die Filmemacher an den ersten literarischen Fassungen der Legende über den FC Schalke 04 Orientierung gefunden. Hierzu zählt speziell das 1936 publizierte Werk „Das Buch vom deutschen Fußballmeister – Szepan und Kuzorra. Die Geschichte zweier Mannen und einer Mannschaft“ sowie das 1941 veröffentlichte Kicker-Buch „Endspiel- Fieber“. Zu erklären ist, dass der Spielfilm, ausgehend von Schalke 04, ein Dokument der Mythenbildung im Revierfußball darstellt, das nicht nur die Arbeitswelt im Bergbau, sondern auch das Zusammenspiel der „Kumpel“ auf dem Platz klischeehaft zeigt.

Zusammenfassend gesagt: „Das große Spiel“ gehört zu den wenigen deutschen Spielfilmen, in denen der Fußball eine zentrale Rolle einnimmt. Zu betonen ist, dass er für den nationalsozialistischen Spielfilm das einzige Beispiel im Gegensatz zu anderen Sportarten wie dem Boxen darstellt, die weit häufiger thematisiert wurden. Keinesfalls aber ist er mit der propagandistischen Inszenierung des Sports in Leni Riefenstahls Film über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin vergleichbar, sondern ein reiner Unterhaltungsfilm, der den Menschen

91 Ebda. S. 294. Seite 55 von 108

Ablenkung vom Zweiten Weltkrieg bieten sollte. Allerdings zeichnet er ein idealisiertes Bild der Arbeitswelt von Bergleuten nach und entwickelt sich somit zu einem frühen Dokument der Mythenbildung im Revierfußball. Abschließend ist zu erwähnen, dass ihn die Qualität der Fußballszenen zu einem Filmdokument für Cineasten macht.

6.4 Über die Verwertung des materiellen Erbes der Arbeitervereine

Den meisten Vereinen gelang es nicht, sich mit den neuen Machtverhältnissen im NS-Regime zu arrangieren oder sie bemühten sich wegen fehlender Plätze, zu geringer Mitgliederzahlen, vor Ort existierender Alterativen oder auch aus Prinzipientreue erst gar nicht darum. Der Pankower SC in Berlin zog es beispielsweise vor, sich mit mehreren hundert Spielern und eigenem Platz dem BSC Favorit 96 anzuschließen. Zu erwähnen ist auch, dass die meisten Arbeitersportler in anderen Vereinen weitermachten, einzeln oder in Gruppen. Dabei stellten die geforderten Bürgschaften kein großes Hindernis dar, weil die Fußballklubs immer an geübten Spielern interessiert waren und es unter den Bürgern auch viele „Märzgefallene“ und sonstige Opportunisten gegeben haben dürfte, die erst spät auf das vermeintlich richtige Pferd gesetzt hatten. (Unter dem Begriff „Märzgefallene“ versteht man in diesem Zusammenhang jene meist opportunistisch Motivierten, die kurz nach der NS-Machtergreifung, im März 1933, der NSDAP beitraten.)92

Als nach der Reichstagswahl im März 1933 hunderttausende Menschen, vorwiegend Beamte und Angestellte, die NSDAP-Mitgliedschaft beantragten, wurde Märzgefallene bald ein gängiger Begriff für sie. Viele Antragsteller erhofften sich von der NSDAP-Mitgliedschaft wohl berufliche Vorteile oder befürchteten berufliche Nachteile (z.B. Entlassung), wenn sie nicht NSDAP-Mitglied waren.

Schließlich forderte Reichsinnenminister Wilhelm Frick (NSDAP) am 27. Juni 1933 mit seinem Erlass zur Neuordnung des Sports die Landesregierungen zur endgültigen Liquidierung des Arbeitersports auf. Die Reichsregierung weitete am 14. Juli 1933 das Gesetz über die Einziehung kommunistischen Vermögens auf sozialdemokratische Organisationen aus. Jetzt war es nach der Einziehung des Eigentums der Kampfgemeinschaft und ihrer Vereine auch den obersten Landesbehörden möglich, den früheren Besitz der

92 http://www.wikipedia.org/Märzgefallene [Abruf: 30.8.2016]. Seite 56 von 108

Zentralkommission und ihrer angeschlossenen Organisationen legal zugunsten der Länder einzuziehen. Daraufhin erhielten alle ZK-Unterverbände Reichstreuhänder, „möglichst im Sportleben erfahrene Rechtsanwälte, Beamte oder Wirtschaftsprüfer“. 93 Die Vergütung erfolgte aus der Masse und was nach Abdeckung von Verbindlichkeiten übrig blieb, sollte „an einwandfreie Sport- und Jugendorganisationen“ 94 verteilt werden, gegebenenfalls auch an Arbeitervereine, „die infolge nachweisbarer innerer Umstellung ausnahmsweise erhalten bleiben können“ 95 , ansonsten an Wehrverbände, Schulen und Jugendorganisationen. Die Treuhänder hatten ferner die Aufgabe, Außenstände der verbotenen Organisationen einzutreiben, sogar ausständige Mitgliedsbeiträge bis zum Zeitpunkt der Beschlagnahmungen. Damit die „Unterbindung der marxistischen Sportbetätigung“ nicht zulasten der mittelständischen Wirtschaft erfolgte, ging man daran, etwaige Verbindlichkeiten der aufgelösten Verbände und Vereine grundsätzlich zu erfüllen, sofern die Gläubiger nicht nachweisbar und wissentlich „marxistische Bestrebungen“ gefördert hatten. Im Fall von überschuldeten Vereinen wurde das Vermögen vom Land eingezogen, es übernahm dabei nicht die Schulden, musste jedoch die Gläubiger bedienen.

Nach einer 1930 durchgeführten Erhebung betrug der Gesamtwert der selbstgeschaffenen Sport- und Vereinsanlagen allein im Arbeiter-Turn und Sportbund (ATSB, 230 Turnhallen, 1.300 Sportplätze, 20 Freibäder, 55 Bootshäuser, 5 Kreissportheime, die Bundesschule in Leipzig mit Sitz der Geschäftsstelle des Arbeiter-Turnverlages und mehrere Wohnhäuser zwischen Leipziger Fichte- und Kantstraße) 25 Millionen Reichsmark. Der Leipziger Rechtsanwalt Gerd Wiebols wurde zum Reichstreuhänder für den ATSB bestellt, für die Abwicklung der Spielvereinigung des 1. Kreises wurden der Schöneberger Rechtsanwalt Wolz und für die Turnvereine des 1. ATSB-Kreises Erno Lenius eingesetzt. Abschließend ist zu sagen, dass sich die materielle Verwertung der ATSB-Vermögen bis 1939 hinzog.

7. Profifußball im Amateurverband: Der deutsche Sonderweg

Am 9. November 1918, mit Ende des Ersten Weltkriegs, wurde der Beginn des Massensports heutiger Prägung eingeläutet. Aufgrund einer neuen Sozialgesetzgebung, die mehr Freizeitmöglichkeiten schuf, sowie durch den Ausbau der (Sport-)Infrastruktur (Verkehr, Stadien, Hallen) erreichten Sportarten wie Fußball, Boxen, Leichtathletik und Radsport in den

93 WOLTER Christian, Arbeiterfußball in Berlin und Brandenburg 1910-1933. Hildesheim 2015. S. 185. 94 Ebda. 95 Ebda. Seite 57 von 108

1920er Jahren nun auch Arbeiterschichten – und damit Millionen Menschen. Vor allem die Mitgliederzahlen des Deutschen Fußballbundes explodierten jetzt geradezu. Trotz der großen Opfer auf den Schlachtfeldern wuchs die Zahl der im DFB organisierten Fußballer von 190.000 (1914) bis 1920 auf knapp 470.000. Daraufhin verzeichnete man 1921 bereits 750.000 und inmitten der Weltwirtschaftskrise 1931 kam der DFB erstmalig über eine Million organisierte Mitglieder, obwohl er, da es noch keinen Frauenfußball gab, keine weiblichen Mitglieder hatte. Zu betonen ist, dass es verschiedene Gründe für diese Fußball-Konjunktur gab.96

Zur Dauerdebatte über die Amateurfrage lässt sich sagen: Die Massenveranstaltungen der Weimarer Republik legen für Tauber den „Schluss nahe, dass der Sport nach 1918 über kurz oder lang zu einem reinen Freizeitvergnügen mit stark hedonistischen Zügen wurde“97, und dass er sich nun vom ideologisch unterlegten Sport der Sportfunktionäre des Kaiserreichs entfernte. Die 1920er Jahre werden auch von einigen anderen Autoren als „Amerikanisierung“ der deutschen Körperkultur beschrieben oder als Popularisierung des Fußballs im Zeichen des Modernisierungsschubes gedeutet, den der Krieg für die deutsche Gesellschaft ausgelöst habe. Klar ist: In dieser Sichtweise kam dem Fußball eine führende Rolle zu. Da aber im Kaiserreich die meisten DFB-Funktionäre sozialisiert wurden und oft dieser Entwicklung nicht standhielten, gingen die Vorstellungsweisen zwischen Verbandsfunktionären auf der einen Seite und den Spielern, Vereinen, Unternehmen, zahlenden Zuschauern und Publizisten auf der anderen Seite immer weiter auseinander. Besonders deutlichen Ausdruck fand dies in der Debatte um die Amateurfrage, die sich zu einem Dauerbrenner im deutschen Fußball entwickelte.

Kurz nach seiner Gründung hatte der DFB in seiner Satzung den sogenannten Amateurparagraphen verankert, der in Anlehnung an die Statuten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) jeden Fußballer als Berufsspieler deklarierte, der „um einen Geldpreis oder eine Entschädigung in Geld, Geldeswert oder Gegenständen spielt oder aber zum Zwecke des Lebensunterhalts Unterricht in dem von ihm betriebenen Sportzweige erteilt oder der als Spieler für Reisen eine Entschädigung in Geld, Geldeswert oder Gegenständen erhalten hat, die seine Reise- und Unterhaltskosten (…) erheblich überstiegen, oder der für die verlorene Zeit entschädigt worden ist“. 98 Der zum 2. DFB-Vorsitzenden gewählte Felix

96 EGGERS Erik. In: Christian KOLLER, Fußball zwischen den Kriegen. Europa 1918-1939. Geschichte des Fußballs (Band 5). Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2010, S. 232. 97 Ebda. 98 Ebda. S. 232f. Seite 58 von 108

Linnemann warnte eindringlich, als nach dem Krieg die ersten Anzeichen einer Kommerzialisierung sichtbar wurden, vor der Schreckensvision eines „kapitalisierten“ Sports und vor der Gefahr, dass die Spieler zu reinen „Spekulationsobjekten“ verkommen würden. Nach außen hin propagierten Vereinsfunktionäre wie er weiterhin die Idee des Fußballs als geeignetes Mittel zur Wiederherstellung der Volksgesundheit und neuer wirtschaftlicher Kraft.

Es war kein Wunder, dass im Angesicht der fulminanten ökonomischen Entwicklung die Spieler nicht mehr bereit waren, ohne Entgelt zu spielen. Die Hauptdarsteller brachten kein Verständnis mehr dafür auf, über mehrere Monate hinweg zu trainieren und zu spielen, ohne dafür bezahlt zu werden. Von nun an erhielten die Stars, überall dort, wo Spitzenfußball gespielt wurde, neben den vom DFB erlaubten, sehr niedrigen Spesensätzen verdeckte Zuwendungen. Festzuhalten ist der wohl berühmteste Vorstoß gegen den Amateurparagraphen aus dem Jahre 1930, der sogenannte Fall Schalke 0499, der eine Sperre der gesamten ersten Mannschaft zur Folge hatte, sogar zum Selbstmord eines Kassiers führte und auch sehr zur Verdichtung des Schalker Mythos beitrug. Die von 70.000 Zuschauern sehnlichst erwartete Rückkehr dieser Mannschaft ist ein Beleg dafür, dass die Ideologie der Fußballfunktionäre, so sie nicht ohnehin nur vorgeschoben war, mit den Interessen der Fans nicht mehr konform ging. Der spektakulärste Fall neben dem Schalke-Skandal war die 1932 ausgesprochene Sperre des Frankfurter Nationaltormanns Willibald Kreß.100

7.1 Zur Frage der Reichs- bzw. Amateurliga

Aufgrund des Führerprinzips ab 1933 kostete es Felix Linnemann, den damaligen Chef des Fachamtes Fußball, nur wenig Mühe, die bereits beschlossene Reichsliga wieder ad acta zu legen. Der Historiker Rudolf Oswald hat nun der lange Zeit vorherrschenden Meinung, dieser Vorgang sei den Grundsätzen nationalsozialistischer Sportpolitik geschuldet gewesen, mit Vehemenz widersprochen. Er argumentiert, dass vielmehr eine Rückkehr zum lupenreinen Amateurismus, die nun ohne Zweifel vonstattenging, ohne die Person Linnemanns „kaum möglich“101 gewesen wäre. Diverse Kommunen (etwa München) fanden sich bereits mit der Einführung des Profitums ab und waren darauf eingestellt, obwohl es als Ausdruck von

99 Ebda. S. 233. 100 Ebda. S. 234. 101 Ebda. S. 242. Seite 59 von 108

„Korruptionserscheinungen“ im Sport bewertet wurde. Am 1. September 1933 war ein Professor Glöckner als Präsident eines deutschen Berufsspielerverbandes vorgesehen, der eine Profiliga starten wollte. Laut Oswald war es erst Linnemann, der durch geschicktes Taktieren mit den neuen Machthabern schließlich diese Reichsliga verhinderte und stattdessen das rigorose Amateurstatut des Jahres 1920 erneuerte.

Die historische Debatte über dieses Thema hat erst begonnen. Klar ist aber auch, dass die Maßnahmen Linnemanns nur den Schein wahrten, jedoch in keinem Fall die bestehenden Verhältnisse zu ändern vermochten. Als Beispiel sei angeführt, dass die größten Stars des FC Schalke 04, der als Serienmeister jener Jahre im Mittelpunkt des Interesses stand, nicht nur für Luft und Liebe Fußball spielten, sondern Ernst Kuzorra und Fritz Szepan sich auf diese Art die ökonomische Grundlage für die Zukunft sicherten. Auch nach 1933 behielten die steuerlichen Argumente, die Linnemann und seine Kollegen jahrelang ins Treffen geführt hatten, große Bedeutung.

Die Diskussion über die Reichsliga flammte in noch radikalerer Form erneut auf, als nach dem „Anschluss“ 1938 die Profis aus Wien in das Gefüge des NS-Fußballs integriert werden mussten. Hier handelt es sich nach Oswald um eine „antisemitische Wende in der Professionalismusdebatte“.102 Festzustellen ist, dass die Artikel mit antisemitischen Inhalten, die später auch Otto Nerzʼ (* 21. Oktober 1892 in Hechingen, Hohenzollernsche Lande; † 19. April 1949 im Speziallager Nr. 7 Sachsenhausen, deutscher Fußballspieler und erster Reichstrainer des Deutschen Fußball-Bundes) Ruf nachhaltig beschädigten, eher im Kontext der allgemeinen Radikalisierung der Judendiskriminierung ab 1938 zu betrachten sind. Der in den 1920er Jahren eingeschlagene Sonderweg, den der deutsche Fußball mit der Beibehaltung des Amateurparagraphen vollzog, wurde auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit großer Konsequenz weitergegangen; auch hierbei spielten steuerliche Argumente eine sehr große Rolle. Fast ein Jahrhundert nach Einführung des Profitums in Großbritannien, 1972, durften auch deutsche Fußballer mit ihrem Sport offiziell uneingeschränkt viel Geld verdienen.

7.2 Professionalisierung des Fußballs in der Schweiz

102 Ebda. Seite 60 von 108

1929 übernahm der Präsident des Fußballklubs Young Boys Bern, Otto Eicher, ein gegenüber dem Fußball aufgeschlossener Funktionär, das Zentralpräsidium des Fußball- und Athletikverbandes. Eicher leitete sofort weitreichende Reformen ein. Zwei Jahre später, 1931, beschloss die Delegiertenversammlung des Verbandes die Einführung einer professionellen Nationalliga, die schließlich ab der Saison 1933/34 in einer Gruppe spielte. Es wurde bestimmt, dass pro Verein drei Ausländer eingesetzt werden durften. Schon im ersten Jahr des Bestehens der Profiliga sorgte ein Transfer für großes Aufsehen: Der Mittelstürmer Roomberg wechselte für die damals beachtliche Summe von 3.000 Franken vom FC Zürich zum Stadtrivalen Young Fellows. Ebenfalls 1933 bot der Zürcher Grasshopper-Club sogar 10.000 Franken für den Bieler Flügelstürmer Känel. Zu erwähnen ist auch der siebzehnjährige Lausanner Mittelläufer Eggimann, der monatlich 800 Franken verdiente, fast das Doppelte eines Gipsers in Zürich. Allerdings war es trotzdem so, dass eine Reihe von Spitzenspielern ins Ausland wechselte, vor allem nach Frankreich.

Im Zeitalter der Weltwirtschaftskrise erwies sich der Berufsfußball schon nach kurzer Zeit als defizitäres Geschäft: Meister Servette Genf war 1935 mit einer Viertelmillion Franken verschuldet. Außerdem kamen die Zuschauer nicht wie erhofft in Massen in die neu gebauten Stadien, mit einem Zuschauerschnitt von nur 4.400 Personen pro Spiel lagen die Young Boys Bern 1934 an der Spitze der Nationalliga. Auch durch die Einführung des Sporttotos 1937/38 konnte die defizitäre Entwicklung nicht gestoppt werden. So stellte sich die Situation so dar, dass der Berufsfußball von mehreren Seiten immer mehr in die Kritik geriet. Einerseits wurde er von konservativ-nationalen Kreisen, z. B. aus den Reihen der Turner, kritisiert, die ihn als Ausdruck einer unpatriotischen Vermaterialisierung sahen und zusammen mit anderen Symbolen der kulturellen Moderne so schnell wie möglich aus der Eidgenossenschaft verbannen wollten, und auf der anderen Seite attackierte die Linke das Profitum als Ausbund kapitalistischen Profitstrebens und den Massenzuschauersport als eine Verschleierungsstrategie der Bourgeoisie zur Einlullung der ausgebeuteten Lohnabhängigen.103

In der ersten Hälfte der 30er Jahre durchlief der Arbeiterfußball ebenfalls eine kritische Phase. Denn 1929/30 schloss der SATUS (= Schweizerischer Arbeiter-Turn- und Sportverband) 29 Fußballvereine – das war mehr als die Hälfte des Gesamtbestandes – aufgrund kommunistischer Unterwanderung aus. Das trug zur Entstehung einer weiteren Organisation,

103 KOLLER Christian, Fußball zwischen den Kriegen. Europa 1918-1939. Geschichte des Fußballs (Band 5). Berlin/Münster/Wien/Zürich/London 2010, S. 210. Seite 61 von 108 des „Schweizerischen Arbeiterfußball-Verbands“, bei, der sich der Roten Sportinternationale anschloss und ab 1930 eine eigene Meisterschaft durchführte. Bereits in seinem Gründungsjahr schickte der neue Verband eine Landesauswahl zu einer Tournee durch die Sowjetunion. Den Höhepunkt der Verbandsgeschichte stellte im Sommer 1934 ein Match gegen die sowjetische Nationalmannschaft dar. Wegen der Verweigerung der Einreisevisa für die sowjetischen Spieler seitens des Bundesrats musste die Partie kurzfristig von in die französische Grenzstadt St. Louis verlegt werden; nichtsdestotrotz kamen 6.000 Zuschauer zum Spiel.104

Nachdem in Deutschland schon kurz nach der Machtübernahme Hitlers die Arbeiterbewegung und somit der Arbeitersport vernichtet worden waren, schien es, dass auch in der Eidgenossenschaft die Zeit gekommen war, der „unpatriotischen“ linken Sportbewegung einen Schuss vor den Bug zu setzen. Im November 1936, als der SATUS zur „unbedingten Landesverteidigung“105 aufgerufen hatte, durfte er wieder an der staatlichen Förderung der Sportverbände partizipieren. Dieser Wandel stand allerdings im Zeichen eines zunehmenden nationalen Schulterschlusses angesichts der Bedrohung durch die totalitären Diktaturen Europas, der auch dem schweizerischen Fußball eine neue Richtung geben sollte.

7.3 Der Schweizer Fußball im Zeichen der „Geistigen Landesverteidigung“

Wie in vielen anderen europäischen Ländern bekam in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre auch der Schweizer Fußball eine zunehmende politische Bedeutung. Die sogenannten Urerlebnisse waren die beiden Achtelfinalspiele gegen Großdeutschland während der Weltmeisterschaft von 1938. Dabei ist zu sagen, dass der Gegner, wenige Wochen nach dem in der Schweiz Befürchtungen eines ähnlichen Schicksals hervorrufenden „Anschluss“ Österreichs, mit einer zusammengesetzten Mannschaft von Spielern aus Wien und dem „Altreich“ spielte. Das erste Match in Paris endete mit einem 1:1 nach Verlängerung. Drei Tage darauf fand ein Wiederholungsspiel statt, die Deutschen führten bereits nach 20 Minuten mit 2:0. Aber den in der ersten Halbzeit schlecht spielenden Schweizern gelang zur Pause durch den (mit einer Sondergenehmigung der FIFA spielenden) staatenlosen Eugène

104 Ebda. S. 212. 105 Ebda. S. 213. Seite 62 von 108

Walaschek der Anschlusstreffer und in der zweiten Halbzeit schließlich kippte die Partie komplett.

Man kann sagen, dass der 4:2 Triumph über Großdeutschland die gesamte Schweiz in einen Freudentaumel stürzte. Beispielsweise wurde die Rundfunkübertragung über Lautsprecher im Freien von ganzen Trauben von Eidgenossen gemeinsam angehört. Ebenso wurde nach dem Spielende der Nationalfeiertag einige Wochen verfrüht gefeiert: „mit Fahnen, Lampions, Umzügen und Gesang wurde der Freude Ausdruck verliehen.“ 106 Vor dem Redaktionsgebäude des Fachblatts „Sport“ in Zürich versammelte sich eine Menschenmenge, welche die Nationalhymne in den drei Landessprachen sang.107

Zu betonen ist, dass der Fußball zu einem Element jener Kulturpolitik wurde, die unter der Bezeichnung „Geistige Landesverteidigung“ 108 während der 1930 Jahre immer mehr an Bedeutung gewann. Mit der Machtübernahme der Nazis im nördlichen Nachbarland hatten Politiker, Intellektuelle und Medienschaffende immer vehementer Maßnahmen zur Stärkung der kulturellen Grundwerte der Schweiz gefordert. 1938 erhielten diese Forderungen eine offizielle Formulierung in der bundesrätlichen „Botschaft über die Organisation“ und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung109, die als Antwort auf die totalitäre Kulturpropaganda der faschistischen Staaten und der Sowjetunion gelten und die Grundwerte der Schweiz, die Zugehörigkeit zu drei europäischen Kulturräumen, die kulturelle Vielfalt, den föderalen Charakter der Demokratie und die Ehrfurcht vor der Würde und der Freiheit des Menschen betonen sollten. Dafür warb man im In- sowie im Ausland. Allerdings ist zu sagen: Von der „Geistigen Landesverteidigung“ wurden teilweise nationalistische Kulturelemente verwendet, die jenen der faschistischen Nachbarstaaten sehr ähnlich waren.

Den Höhepunkt der „Geistigen Landesverteidigung“ stellte die Landesausstellung von 1939 in Zürich dar, an der auch der Fußballverband mit einigen Veranstaltungen teilnahm. Von 27. bis 29. Mai fand ein internationales Juniorenturnier statt, das mit Slavia Prag von einer Mannschaft aus dem Reichsprotektorat gewonnen wurde und an dem neben drei Schweizer Teams auch je ein französisches und ein italienisches Team teilnahmen. Interessant ist: Das Turnier war dem Gedächtnis Walther Bensemanns (1873-1934) gewidmet, des liberalen deutschen Fußballpioniers und Gründers der Fußballfachzeitschrift „Kicker“, der den Fußball immer als Mittel der Völkerverständigung gesehen hatte. Aufgrund seiner jüdischen

106 Ebda. S. 214. 107 Ebda. S. 213f. 108 Ebda. S. 216. 109 Ebda. Seite 63 von 108

Abstammung wurde er 1933 aus der Frankfurter Eintracht, bei der er selbst Gründungsmitglied war, ausgeschlossen, im gleichen Jahr emigrierte er in die Schweiz, wo er ein Jahr später schließlich verarmt starb.110

Ein spezielles Symbol der im Dienste der „Geistigen Landesverteidigung“ agierenden Nationalmannschaft wurde der sogenannte Schweizer Riegel. 111 Bei diesem Spielsystem wurden die Prinzipien der Mann- und Raumdeckung so kombiniert, dass beim Durchbruch eines gegnerischen Stürmers immer noch ein zurückgestaffelter Verteidiger eingreifen konnte, die Abwehr bestand sozusagen aus mehreren Verteidigungslinien. Allerdings lag der Ursprung dieses Systems nicht in der Schweiz, sondern in Ostmitteleuropa. Der österreichische Trainer führte es 1932/33 bei Servette Genf ein und fünf Jahre später auch bei der Nationalmannschaft.

Abschließend ist zu resümieren, dass die „Geistige Landesverteidigung“ der späten 1930er Jahre nahtlos in diejenige der Kriegsjahre überging. Dabei spielte der Fußball weiter eine wichtige Rolle. Die Schweizer Nationalmannschaft trug zwischen 1939 und 1945 zahlreiche Spiele aus, unter anderem viermal gegen Deutschland. Dabei gestalteten sich die Heimspiele zu geschickt inszenierten nationalen Ereignissen, an welchen viel militärische und politische Prominenz, darunter auch der populäre General Henri Guisan, teilzunehmen pflegte. In der durch eine eigentümliche Dialektik zwischen fortschreitender „Geistiger Landesverteidigung“ und kultureller „Amerikanisierung“ geprägten Nachkriegszeit sollte sich aber das Beharren auf einem nationalen „Amateurismus“ mit der Zeit rächen. Das Schweizer Nationalteam schnitt bei den Weltmeisterschaften 1950 in Brasilien und 1954 im eigenen Land noch recht gut ab, jedoch konnte es sich 1958 zum ersten Mal nicht für die WM qualifizieren. Man kann sagen: Erst Ende der 1950er Jahre setzte daraufhin ein vorsichtiger Übergang, wenigstens zum Halbprofitum, ein.

8. Fußball in Österreich: Amateurismus mit Profiallüren

Zu betonen ist, dass die wirtschaftliche Situation des Wiener Fußballs vor dem März 1938 von einer Stabilisierung des 1924 eingeführten Professionalbetriebes gekennzeichnet war. Allerdings kann man diese Stabilisierung auch als Gesundschrumpfung bezeichnen. Denn es kann von circa sechs bis acht Vereinen gesprochen werden, die vom Profibetrieb relativ gut

110 Ebda. S. 218. 111 Ebda. S. 219. Seite 64 von 108 leben konnten, wenn auch die Ausschöpfung vieler Ressourcen vonnöten war, insbesondere für die ausgedehnten Auslandsreisen und Tourneen in ganz Europa, Nordafrika, aber auch nach Amerika und in den Nahen Osten. Zu erwähnen ist nämlich, dass der Rest der etwa 30 im Profifußball vertretenen Vereine mehr schlecht als recht über die Runden kam.

Jedoch hatte auch der Amateurfußball seine Tücken. Denn mit der Entscheidung von 1940, den Fußball auf Amateurbasis zu führen, war man zumindest in Wien nicht einverstanden. Gauleiter Joseph Bürckel und Vizebürgermeister Kozich, die beide Sympathie für den Wiener Fußball aufbrachten, propagierten dagegen sehr wohl, dass die Abschaffung des Professionalismus auch hier zu einem Sinken der Leistung beigetragen habe. Sie versuchten daher, Reichssportführer von Tschammer und Osten umzustimmen. Nichtdestotrotz rechtfertigte dieser in einem Brief vom 13. Februar 1940 die Entscheidung gegen die Einsprüche:112

„Sie meinen nun, dass die sportlichen Angelegenheiten im Anfang in Bezug auf Wien nicht ganz gerecht geregelt worden sind. Dazu möchte ich bemerken, dass eine gerechte Lösung im Sinne der damaligen Wiener Mentalität überhaupt nicht möglich war, denn Wien war auf einen reinen Professional-Fußballbetrieb eingestellt mit seinen Vorzügen aber auch mit seinen außerordentlich großen Schwächen. Da wir den Professionalismus überall, wo es nur irgend geht, aus Gründen nationalsozialistischer Menschenerziehung ablehnen müssen, musste in diesem Punkt die Wiener Mentalität der großdeutschen weichen. Dass das nicht ohne gelegentliche Härten und Missverständnisse abgegangen ist, liegt auf der Hand“.113

Tatsache ist aber auch, dass sich mit Kriegsbeginn die Situation vieler Fußballspieler verschlechterte. Es kam, wie es das „Neue Deutsche Arbeitsrecht“ vorsah, zu einschneidenden Veränderungen, „um einen möglichst reibungslosen Ablauf der Kriegswirtschaft zu gewährleisten“.114 Für „männliche Beschäftigte über 18 Jahre traten die Bestimmungen der Arbeitszeitordnung über die Dauer der Arbeitszeit außer Kraft, was heißt, dass es keine Begrenzung mehr gab“.115 Mit dieser Maßnahme war für manche Fußballer die

112 MARSCHIK Matthias, Vom Nutzen der Unterhaltung. Der Wiener Fußball in der NS-Zeit: Zwischen Vereinnahmung und Resistenz. Wien 1998. S. 311. 113 Ebda. 114 Ebda. S. 312. 115 Ebda. Seite 65 von 108 freie Zeit für Training und Spiel gravierend reduziert worden, während es für die bekannten Spieler meistens weiterhin Ausnahmen gab.

Man muss sich darüber klar werden, dass es nicht nur die Arbeitszeitregelung war, die sich negativ bemerkbar machte, im Speziellen war es auch das Sinken der Realeinkommen, die große Verteuerung der Lebenshaltungskosten. Zur Veranschaulichung: Ein geheimer Bericht des Wiener Instituts für Wirtschaftsforschung errechnete: Aufgrund von „Preissteigerungen, Qualitätsverschlechterungen und Rationierungen“116 waren die Lebenshaltungskosten um 31- 38% gestiegen. Hinzu kam noch, dass die Ostmark im Vergleich zum Altreich eine wesentlich ungünstigere materielle Situation vorzuweisen hatte. Man konnte bis zum Jänner 1941 die Arbeitslosigkeit zum Verschwinden bringen, aber im Gegenzug war auch der Lebensstandard spürbar gesunken.

Die Ankündigung des „totalen Arbeitseinsatzes“ im Herbst 1942 war eine weitere markante Verschlechterung für die Fußballer. Diese Regelung führte dazu, dass die Sonderstellung der Fußballer, was ihre Arbeitsstellung betraf, ein Ende hatte und andere Problemfelder in den Vordergrund traten, wie die Frage der bevorzugten Behandlung beim Militär, die Frage des Urlaubes für bestimmte wichtige Spiele oder die Frage der Gastspieler. Abschließend gesagt, war der Professionalismus nicht einmal mehr ein Diskussionsthema, da sich auch der Amateurismus in seiner ursprünglichen Form überlebt hatte.

8.1 Versteckter Professionalismus in der Steiermark

Nun soll ein kurzer Vergleich zwischen der Bundeshauptstadt Wien und den Vereinen in der Steiermark angestellt werden. Interessant ist, dass der steirische Fußball neben dem Ausbau der Infrastruktur allmählich eine weitere Besonderheit aus der Bundeshauptstadt übernahm – zumindest in Ansätzen, weil in den 1930er Jahren hielt bei den steirischen Vereinen ein verstecktes Halbprofitum Einzug. Hier ist in erster Linie vor allem der Grazer Sportklub zu nennen, der, begünstigt durch die Weltwirtschaftskrise, immer wieder Wiener Spieler mit sicheren Anstellungen bei der Straßenbahn nach Graz zu locken versuchte. In ähnlicher Weise agierte der Verein Südbahn, indem er Spieler aus der obersten (der Wiener) Liga holte und ihnen Jobs bei der Bahn verschaffte. Als Beispiel ist der Ex-Admira-Spieler Karl Klima zu

116 Ebda. S. 313. Seite 66 von 108 erwähnen, der seit 1929 für Sturm auf Torjagd ging, aber 1937 zur Südbahn wechselte. Im Gegensatz dazu nützte der SC Kapfenberg seine Nähe zum Böhler-Konzern. Im Jänner 1938 war in der Wochenzeitung „Fußball-Sonntag“ zu lesen:

„[Josef] Studeny, der seinerzeit in Wien für Wacker und Rapid gespielt hat, erhielt im Kapfenberger Böhlerwerk eine Anstellung und wird im Frühjahr für den Kapfenberger Sportklub die notwendigen Punkte sammeln.“117

Inzwischen unterhielten der SK Sturm Graz und der GAK offenbar sehr gute Beziehungen zur Grazer Stadtverwaltung und brachten hier so manchen Spieler unter. Eine Veranschaulichung, wie Sturm seine Spieler „versorgte“, brachte ein humoriger Zeitungskommentar über den Spieler Hans Gmeindl zum Ausdruck:

„Von Beruf ist er Bandagist, hat aber dabei das Pech, dass Chef, Buchhalter und ein anderer Arbeiter Mitglieder von Sturm sind, die ihn nach jedem Versager mit einer Lohnreduktion bedrohen.“118

8.2 Vergleiche zwischen dem Fußball in Österreich und in Deutschland

Im Wesentlichen ist zu sagen, dass die Darstellung des steirischen Fußballs und seiner Traditionsklubs im Nationalsozialismus ein ähnliches Bild vermittelt wie vorangegangene Forschungen aus Deutschland oder zum Wiener Fußball: Die üblichen ideologisch- parteipolitischen Schemata greifen hier nicht.

Der steirische Fußball hatte zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ 1938 längst eine Dynamik entwickelt, die ihn, so paradox es klingen mag, auf der einen Seite zwar empfänglich für politische Vereinnahmungsversuche machte, aber ebenso resistent dagegen. Oder anders formuliert: Die Vereine zeigten sich in keiner Weise immun gegen den Nationalsozialismus,

117 IBER Walter, Erst der Verein, dann die Partei. Der steirische Fußball und seine Traditionsklubs im Nationalsozialismus. Graz 2016. S. 39. 118 Ebda. S. 40. Seite 67 von 108 allerdings ermöglichte der Vereinsalltag Möglichkeiten für den Rückzug vor den langen Armen der Nazis. Zu betonen ist, dass die Interessen von Politik und Fußballsport einander überschnitten, aber auch zu essenziellen Teilen voneinander abwichen – sozusagen ein vielschichtiges und komplexes Verhältnis, das sich mit Hilfe von vier wesentlichen Eckpunkten zusammenfassen lässt:119

1.) 1938 übten sich die steirischen Traditionsklubs nicht nur in Opportunismus, sondern auch in vorauseilendem Gehorsam. Im Angesicht der allerorts ausgelösten Euphorie wollte hier bei manchen Funktionären (im Speziellen bei deutschnational orientierten Vereinen wie dem GAK oder Donawitz) etwas mehr, bei anderen wiederum weniger politische Überzeugung mitschwingen. Im Wesentlichen handelte es sich aber um von der NS-Propaganda gezielt gesteuerte Akte. Hinzu kommt, dass opportunistisches Verhalten der Vereine keinesfalls ein spezifisches Element der NS-Zeit war, sondern sich ebenso im Zusammenhang anderer politischer Systeme vollzog; wie im autoritären „Ständestaat“, so auch im demokratischen Rahmen der Zweiten Republik.

2.) Ebenfalls 1938 hatte der steirische Fußball seine Massentauglichkeit längst unter Beweis gestellt. Er war viel zu bedeutsam geworden, um in den Überlegungen der Nationalsozialisten keine Rolle zu spielen. Allerdings gelang dem Nationalsozialismus seine Gleichschaltung nur oberflächlich. Denn in vielen Orten hatten die eingesetzten, linientreuen Vereinsführer nur Feigenblatt-Charakter. Die operativen Fäden wurden meist von jenen Funktionären gezogen, die, parteipolitisch unbelastet, sämtliche politischen Brüche in den Jahren 1933/34, 1938 und 1945 überstanden hatten. Das Vorgehen dieser Funktionäre war vor allem geprägt von Vereinsegoismus und einer Fußballbegeisterung, die mitunter fanatische Züge annahm. Folglich waren sie mit dem typischen Tunnelblick des Vereinsfunktionärs und einem bestimmten Maß an Ignoranz ausgestattet; sie richteten ihren Fokus ausschließlich auf den Spielbetrieb. War es erforderlich, zugunsten einer positiven Entwicklung des Vereins mit dem politischen System zu paktieren, ließ man sich durchaus bereitwillig darauf ein. Standen im Gegensatz dazu gewisse Vorgaben des Regimes dem Wohl des Klubs im Weg, agierte man resistent und war sogar bereit, die Regeln zu brechen. Insgesamt ist

119 Ebda. S. 194. Seite 68 von 108

zu sagen, dass diese Funktionäre eine sehr komplexe, nicht immer lineare Sportpolitik verfolgten, die sich zusammenfassend auf das Motto bringen lässt: Erst der Verein, dann die Partei.120

3.) Zu beachten ist, dass der Fußball bis zu einem gewissen Grad, aber vor allem das Vereinsleben, einen Rückzugsort bot, auf den die Politik keinen Zugriff hatte. Im Unterschied zu ganzen Belegschaften vieler Stellen, Betriebe und Unternehmen wurden 1938 bei den Mitgliedern der steirischen Traditionsvereine (mit Ausnahme der Vereinsführer oder ihrer Stellvertreter) keine NSDAP-Mitgliedschaften vorausgesetzt. Wenn Funktionäre oder Sportler trotzdem der Partei beitraten, spielten dafür verschiedene Beweggründe eine Rolle. Allerdings zählte ihre Tätigkeit im Verein nicht dazu; eine Ausnahme ist Viktor Friedrich, der sich aufgrund seiner Funktion als Vereinsführer dafür entschied. Umgekehrt waren auch die Gründe für Repression und Verfolgung von einigen Funktionären und Spielern außerhalb des Fußballs anzusiedeln. In besonderer Weise scheinen unter den Aktiven politische Einstellung oder Parteizugehörigkeit keine Rolle gespielt zu haben, und auch auf Funktionärsseite wurde darauf kaum Wert gelegt. Im Vereinsalltag selbst lag das Gemeinsame und Verbindende im Sport, anderes blieb außen vor. Auf diese Weise kam es dazu, dass im steirischen Fußball und in dessen Traditionsklubs Personen an einem Strang zogen, die aus parteipolitischer Sicht eigentlich Gegner waren. Daher ist es kein Zufall, dass es diesen Schulterschluss über Vereinsgrenzen hinweg gab, auch nach Ende des Kriegs, als sich vom NS-System Unterdrückte und Unbelastete für Vereinskollegen einsetzten, die als „Ehemalige“ unter die Bestimmungen der sogenannten Entnazifizierung fielen.121

4.) Unter diesem Punkt ist zu erwähnen: Handelte es sich beim NS-Regime keinesfalls um ein homogenes Gebilde, so galt dies in umgekehrter Sicht auch für die einzelnen Traditionsklubs. Fakt ist, dass es im Vereinsleben Dynamiken und Fliehkräfte gab, die zum einen Teil vom Regime nicht in den Griff zu bekommen, aber zum anderen Teil auch für die Vereinsverantwortlichen nicht immer vorherzusehen waren. Beste Beispiele boten Tumulte und Ausschreitungen, die von bestimmten Anhängergruppen

120 Ebda. S. 195f. 121 Ebda. S. 196. Seite 69 von 108

verursacht wurden. Das zeigt in besonderer Weise der Fall des SK Sturm, der extrem unter den Vorfällen zu leiden hatte: Sie verursachten nicht nur eine zeitweilige Platzsperre, sondern führten auch dazu, dass dem Verein der NSKK-Mann Karl Geisler und damit ein ideologischer Hardliner als Vereinsführer vorgesetzt wurde. In seiner neuen Rolle versuchte Geisler die Eigendynamiken des (steirischen) Fußballs zu beseitigen, aber letztendlich konnte auch er sich nicht gänzlich dem Bann des runden Leders entziehen. Denn wer sich im August 1942 vom Vereinsführer nach dem 1:5 Debakel gegen den Wiener AC – nicht die einzige Bankrotterklärung der Schwarz- Weißen in dieser Saison – nationalsozialistische Parolen erwartete, der wurde enttäuscht. Geisler wollte nur über sportliche Belange sprechen:

„Die Niederlage wurde erwartet, wenngleich das fast vollkommen offene Spiel die Tordifferenz als zu hoch erscheinen lässt. Wesentlich für die Vereinsführung ist, dass die Mannschaft wieder Vertrauen zu sich gefunden hat und begeistert kämpfte. Als Vorbereitung auf die kommenden Spiele wird ein geregeltes Training einsetzen […]. Außerdem steht eine Verstärkung der Mannschaft durch neue Spieler zu erwarten.“122

8.3 Betrachtungen über den Steirischen Fußballverband in der Nachkriegszeit

Bemerkenswert ist, dass schon kurz nach Kriegsende in der steirischen Landeshauptstadt wieder Fußball gespielt wurde. Der Steirische Fußballverband schaffte es, sich rasch und buchstäblich aus den Trümmern zu erheben, da seine Räumlichkeiten samt Ausstattung „den Maiwirren des Jahres 1945“ zum Opfer gefallen waren. Der Sohn von Franz Ircher, Dr. Heribert Ircher, wurde 1945 erster provisorischer Präsident. Weil die Besatzungsmacht ihr Augenmerk nicht nur auf Nationalsozialisten legte, sondern auch „Austrofaschisten“ beobachtete, musste sich Franz Ircher 1945 kurzfristig einer „politischen Überprüfung“ unterziehen, danach stand er seinem Sohn beim Wiederaufbau des steirischen Fußballs aber bereits beratend zur Seite.123

122 Ebda. S. 197. 123 IBER Walter, Der steirische Fußball im „Ständestaat“ und im „Dritten Reich“. Brüche und Kontinuitäten 1933/34 – 1938 – 1945. In: Marktwart HERZOG / Sylvia HEUDECKER (Hrsg.), Die „Gleichschaltung“ des Fußballsports im nationalsozialistischen Deutschland. Irseer Dialoge. Kultur und Wissenschaft interdisziplinär (Band 20). Stuttgart 2016. S. 379. Seite 70 von 108

Heribert Ircher, der von nun an als Verbandskapitän fungierte, wurde im Herbst 1945 von Franz Reistenhofer abgelöst. Reistenhofer, ein Grazer Wein- und Spirituosenhändler, hatte 1934 als Präsident von SK Sturm Graz mit kräftiger Unterstützung durch den jüdischen Geschäftsmann Franz Öhler die neue Zusatztribüne auf dem Sturmplatz eröffnet. Während der Herrschaft der Nazis war Reistenhofer jedoch in den Hintergrund gedrängt worden und als Sturm-Chronist zu Bekanntheit gekommen. Im Oktober 1945 allerdings übernahm er das Amt des steirischen Verbandspräsidenten und setzte sich schon bald für seinen Funktionärskollegen Viktor Friedrich ein, der wegen des Verbotsgesetzes keine Funktion beim Grazer Sportklub mehr ausüben konnte. Hilfe fand er dabei bei Franz Ircher, der ihm 1949 als Verbandspräsident nachfolgen sollte. Wie aus den Stellungnahmen der beiden hervorgeht, stand für sie Friedrich als Idealist des Fußballsports im Vordergrund und nicht als Anhänger der NSDAP. Generell ist zu sagen: Die Amtszeiten der beiden Präsidenten waren von einer sehr pragmatischen Haltung gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten geprägt. In besonderem Ausmaß zeigte sich das bei den Ehrungen verdienstvoller Funktionäre.

War es etwa so, dass in den Jahren 1946 bis 1948 die Auszeichnung einer Person mit dem (silbernen oder goldenen) Verbandsabzeichen politisch nicht opportun war, dann wurde diese später, meist so schnell wie möglich, nachgeholt. Zum Beispiel bei Viktor Friedrich, der aus gesundheitlichen Gründen schließlich auch nach der Amnestie für „minderbelastete“ Nationalsozialisten im Jahr 1948 kein Funktionärsamt mehr annahm; er wurde noch 1946 von der Liste der Ehrungsvorschläge gestrichen, aber 1950 mit dem goldenen Verbandsabzeichen ausgezeichnet – so wie Franz Lösch oder andere ehemalige Nazis wie Robert Fabian (Donawitz, nach 1945 SV Leoben), später auch Otto Wicher (GAK, silbernes Ehrenzeichen), Ludwig Fischer (SV Gratkorn, 1938-1942 steirischer Fußball-Fachwart, goldenes Ehrenzeichen) oder Otto Gollnhuber (Kapfenberg, Goldener Ehrenring).

Resümierend ist zu betonen, dass der unkonventionelle Umgang des steirischen Fußballs mit seiner Vergangenheit wohl schon kurze Zeit nach Ende des Krieges den Anschein erwecken konnte, als habe es die NS-Zeit mitsamt politischer Vereinnahmung und Opportunismus, Resistenz und Repression nie gegeben. Gesetzt wurde stattdessen auf traute Nachkriegsharmonie. Einerseits war dies natürlich ein Spiegel der österreichischen Gesellschaft, aber auf der anderen Seite hatte sich der Fußball unter der NS-Diktatur – und besonders auch davor im „Ständestaat“ – in der Tat zahlreiche Freiräume erhalten können. Das Gesamtbild war aber vor allem von Ambivalenz gekennzeichnet. Auf der einen Seite war ein starker Hang zur Anpassung, zu vorauseilendem Gehorsam, aber auch zu

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Vereinsegoismen wahrzunehmen, die der „Gleichschaltungspolitik“ beider Regime von 1933 bis 1945 entgegenstanden. Auf der anderen Seite waren, wenn es darauf ankam, Solidarisierungseffekte über Partei- und Vereinsgrenzen hinweg zu erkennen.124

9. Zur Lage der Juden im österreichischen Fußball während der NS-Zeit

Die erste Gründung eines jüdischen Fußballvereins in Wien fällt in das Jahr 1894. Baron Rothschild fungierte als Unterstützer des „First Football Club“, kurz Vienna genannt. Tatsache ist, dass in der Habsburgermonarchie die Bedingungen für Juden im Fußballsport günstiger als im deutschen Kaiserreich waren – lebten doch im mitteleuropäischen Vielvölkerstaat weit mehr Juden als im Nachbarland. Deshalb war der Pool sowohl an Spielern, Zuschauern als auch an Funktionären weit größer. Jedoch bestand in beiden Staaten eine wichtige Grundvoraussetzung – die neue Sportdisziplin Fußball war nicht von der alteingesessenen deutschnationalen Turnbewegung dominiert. Der Fußball galt damals als etwas Besonderes, da bürgerlich-kleinbürgerlich geprägt; er war kein Massensport und bildete zu einem gewissen Grad einen gesellschaftlichen Freiraum, gleich wie andere, damals neue Sportarten (Schwimmen, Hockey, Eishockey, Wasserball). Ignaz Abels, ein aus Prag stammender, in Wien lebender Jude, war Präsident des altösterreichischen Fußballverbandes. Nach den Quellen gab es gegen ihn in seiner Funktion keinen Widerstand oder Einwände. In Österreich wurden während seiner Präsidentschaft Meisterschaften nach englischem Vorbild eingerichtet.

1909 kam es in Wien zur Gründung des Sportvereins Hakoah (= hebräisch für Kraft). Ziel des Vereins war das Training der physischen Kräfte der Juden und damit verbunden die Stärkung des Selbstwerts. Zu betonen ist, dass die Gründung der Hakoah auf der einen Seite eine Reaktion auf den damals schon rassistisch argumentierenden Antisemitismus war, der Juden auch im Sport massiv diskriminierte. Auf der anderen Seite war sie auch charakteristisch für den Einstieg jüdischer Sportler und Funktionäre in vergleichsweise innovative Sportarten. Die Hakoah trat innerhalb des Judentums für eine zionistische bzw. jüdisch-nationale Linie ein, bezog sich auf das „Muskeljudentum“ und richtete sich im Sinne des Zionisten und Arztes Max Nordau (1849-1923) gegen „Degeneration und Entartung“. Es ist daher wohl kein Zufall,

124 Ebda. S. 380. Seite 72 von 108 dass der Mitbegründer und Hakoah-Präsident Dr. Josef Körner ebenfalls Arzt war. Das frühe Engagement von Juden in verschiedenen „harten“, „männlichen“ Kampfsportarten rührt vermutlich daher, dass man glaubte, damit dem sowohl in der Mehrheitsgesellschaft als auch im Judentum selbst verbreiteten Klischee der „Effeminisierung“ des jüdischen Körpers nachhaltig entgegenzuwirken.125

Am 12. März 1938 kam es dazu, dass deutsche Truppen die österreichische Grenze überschritten, einhergehend mit der Proklamation des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich. Sofort wurde mit der Entfernung „nichtarischer und undeutscher Elemente“ aus dem Sport ganz allgemein und aus dem Fußballsport im Besonderen begonnen. Ein Spezifikum war, dass es zu pogromartigen Ausschreitungen kam, die auch auf „Körper“ und „Körperlichkeit“ basierten. Vor allem Wiener Nationalsozialisten, die zeitgleich von illegalen Parteigängern zu Machthabern wurden, zwangen ältere Juden und Frauen zu Reibarbeiten auf dem Straßenpflaster; später zwang man diese Juden auch zu öffentlichen Turnübungen. Die Gewaltakte wurden als Spektakel inszeniert und waren häufig von großer Anteilnahme der lokalen Bevölkerung begleitet. Tatsache ist, dass diese spezifische Form von Judenfeindlichkeit auf Wien beschränkt blieb, im Deutschen Reich bemerkte man diese Besonderheit überrascht. In den ersten Wochen der nationalsozialistischen Herrschaft wurden tausende jüdische Männer von Wien aus ins KZ Dachau deportiert.

Im April 1938 ging man daran, den Vorstand Wiens seines Amtes zu entheben; Präsident Schwarz wurde als Jude festgenommen. Außerdem musste Robert Lang bei der Gestapo erscheinen und der Verein wurde unter kommissarische Verwaltung gestellt. In der Folge wurde auch der Vereinsname auf SC Ostmark geändert. Allerdings erreichte man im Juli 1938 die Rückbenennung auf den Traditionsnamen Austria. Weitere Folgen der NS- Herrschaft waren, dass die Resultate der Hakoah in der laufenden Meisterschaft annulliert und sämtliche jüdischen Spieler von der Meisterschaft ausgeschlossen wurden. Denn im Dritten Reich gab es für eine gemeinsame sportliche Aktivität von Juden und Nichtjuden keinen Platz – selbst der Besuch von öffentlichen Bädern wurde den Juden verboten. Außerdem mussten sämtliche den Nazis als „Juden“ bekannten Funktionäre ihre Tätigkeit beenden. Der Präsident des Wiener Fußballverbandes, Josef Gerö, wurde abgesetzt und ins Konzentrationslager

125 SCHULZE-MARMELING Dietrich (Hrsg.), Davidstern und Lederball. Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball. Göttingen 2003. S. 231f. Seite 73 von 108

Dachau gebracht (1939 wurde er, so das Gerücht, nur wegen der nachhaltigen Intervention eines hohen italienischen Fußballverbandsfunktionärs freigelassen).126

Kurz nach dem Anschluss 1938 wurden Sportplatz und Vereinsstätten beschlagnahmt und die Hakoah unter kommissarische Verwaltung gestellt. 1940 wurde der Vereinsname gelöscht und das Vermögen wurde der Zwangsvereinigung „Maccabi Wien, Jüdischer Turn- und Sportverein“ übertragen. Diese Organisation betrieb bis zum Winter 1941 noch Gymnastik- Kurse in einem Lokal in der Praterstraße. Schließlich kam es aber dazu, dass das Vermögen der Maccabi vom Reichsfiskus beschlagnahmt wurde. Interessant ist, dass einem verhältnismäßig großen Teil der Hakoah-Mitglieder noch vor dem Beginn der systematischen Deportationen die Flucht ins Ausland gelang. Es gibt eine Reihe von Gründen für die Fluchtbereitschaft und die erfolgreiche Durchführung der Flucht vieler jüdischer Sportler: „In einem bestimmten Sinne kann man auch sagen, dass der Sport vielen von uns das Leben gerettet hat“127, meint Karl Haber, langjähriger Vizepräsident der Hakoah: „Wir waren aktiv, wir hatten kämpfen gelernt, wir wussten 1938, dass wir etwas unternehmen mussten. So sind die meisten Hakoahner rechtzeitig emigriert.“128

Zu betonen ist, dass mitunter jüdische Sportler von nichtjüdischen, sogar von nationalsozialistischen Sportlern gewarnt wurden: „Ich hatte einen Freund, wir haben in unserer Jugend miteinander sehr oft Fußball gespielt“129, erzählt der ehemalige Hakoahner und Berufsfußballspieler Ignaz Fischer, geboren 1913. „Er war illegaler Nazi – das wusste ich aber zum Zeitpunkt der Freundschaft nicht –, und später ging er zur SS. Und ich war 1938 in Iglau (Tschechoslowakei), wo ich ein Engagement hatte, und wollte nach Wien zu meiner Familie fahren. Dieser Mann hat mir eine Korrespondenzkarte geschrieben, wobei er mich gewarnt hatte. Als Jude würde man mich festnehmen usw. Er war ein Nazi, der später in einem KZ bei der Wachmannschaft war, also eigentlich ein Schwein!“130 Allerdings wurde Fischer später doch noch festgenommen und in ein KZ deportiert, aber 1938 hatte ihn eben dieser Wiener rechtzeitig gewarnt.

Selbst während des Zweiten Weltkriegs und in den Konzentrationslagern gab es vergleichbare Vorkommnisse. Fred Schwarz beschreibt beispielsweise einen gewalttätigen SS- Unterscharführer in einem Konzentrationslager:

126 Ebda. S. 248f. 127 Ebda. S. 249. 128 Ebda. 129 Ebda. 130 Ebda. S. 250. Seite 74 von 108

„Er sieht Feldmann, schnauzt ihn an! Vortreten, Namen! Ignaz Feldmann Beruf! Fußballer. Plötzlich ist der Sadist ein anderer Mensch. Hat er doch damals in Wien zusammen mit Feldmann in der Meisterschaft und in der Auswahl gespielt. Er war bei der Austria, Feldmann bei Hakoah… Feldmann soll sich melden, wenn wir bei der Baracke sind.“131 Man kann daher sagen, dass Ignaz Feldmann in der Folge von dem ehemaligen Fußballerkollegen geschützt wurde.

Bei diesen jüdischen Sportlern handelte es sich um gute Sportler, um Leistungsträger und um Personen, die das bürgerliche Männlichkeitsideal anstrebten. Nach derzeitiger Quellenlage ist es so, dass in den Jahren 1938 und 1939 fast ausschließlich Männer betroffen waren. Scheinbar hatte sich abseits von Rassenwahn und den politischen Auseinandersetzungen, getragen von den sportlichen Leistungen, eine Form der Akzeptanz und des Respekts entwickelt, die diese spezielle Beziehungsebene zumindest in Resten möglich machte. Ungeachtet der Betonung entgegengesetzter Weltbilder in der männerbündischen NS-Welt hatten Reste überlieferter Werte wie „Männlichkeit“ und „Ehrenhaftigkeit“, aber auch ein bestimmter Respekt vor „Stärke“, den besonderen Umgang mit jüdischen Leistungsträgern zur Folge.

Allerdings sollte diese Besonderheit nicht den Blick darauf verstellen, dass während der NS- Zeit viele österreichische Hakoahner und andere jüdische Sportler ermordet oder in den Konzentrationslagern umgebracht wurden, wie die Beispiele des ehemaligen Nationalspielers Max Scheuer, der Schwimmerin Lisl Goldner oder des bekannten Funktionärs Fritz Löhner zeigen. Der Fußballspieler Pollak zum Beispiel wurde in Auschwitz so gefoltert, dass er seinen Verletzungen erlag; ebenfalls in Auschwitz wurde der Hakoahner Norbert Lopper gefoltert, der als Überlebender zu einem wichtigen Zeugen der Shoah wurde. Abschließend ist sich vor Augen zu führen, dass insgesamt mehr als 65.000 österreichische Juden dem Holocaust zum Opfer fielen, mehr als 120.000 Menschen jüdischer Herkunft wurden vertrieben. „In Wien, wo einmal an die 200.000 Juden gewohnt hatten“132, formulierte der Hakoahner Arthur Baar im Jahre 1959 treffend, „gab es jetzt weniger Juden als Hakoah im

131 Ebda. 132 Ebda. S. 250f. Seite 75 von 108

Jahre 1938 Mitglieder gezählt hatte.“133 Ins Gedächtnis zu rufen ist auch: Seit den 1950er Jahren hat sich die Zahl der Juden in Österreich nicht wesentlich verändert. Heute leben hier ca. 8.000 Juden, vor allem im Großraum Wien.

10. Der FC Bayern München und seine Juden

Beim FC Bayern München kann man vom falschen Umgang mit der richtigen Geschichte sprechen. Obwohl die Geschichte des Vereins Parallelen mit der von Eintracht Frankfurt aufweist, wurde dieser Aspekt nach 1945 nur selten aufgegriffen. Denn im Gegensatz zu MTK Budapest oder Austria Wien wird der FC Bayern heute kaum als „Judenklub“ bezeichnet. Ein „Judenklub“ ist für rechtsextreme Bayern-Fans beispielsweise Ajax Amsterdam, aber nicht der eigene Verein.

Fakt ist, dass die NS-Zeit beim FC Bayern einen erheblich schärferen Einschnitt als bei anderen, von ihrer Geschichte her ähnlich gelagerten Vereinen bewirkte. Ein weiterer Grund dafür dürfte die im Vergleich zu einigen anderen deutschen Großstädten geringere Prägekraft jüdischer Lebenswelten in München gewesen sein, die auch eine kleinere Hinterlassenschaft zur Folge hatte. Wien, Budapest und Amsterdam sind Beispiele dafür, dass hier nicht nur die Vereine, sondern auch die Städte selbst als „jüdisch“ firmierten.134

Allerdings ist nicht zu verschweigen, dass der FC Bayern auch selbst dazu beitrug, dass die Erinnerung an seine jüdischen Pioniere und jüdischen Mitglieder in Vergessenheit geriet. Den Bruch mit der Geschichte, zu dem der FC Bayern von den Nazis gezwungen wurde, hat der Klub nach dem 8. Mai 1945 nur für kurze Zeit revidiert. Denn die letzte offizielle Bayern- Publikation, die sich mit der Lage des Klubs in der Zeit von 1933 bis 1945 etwas ausführlicher beschäftigt, ist das Jubiläumsbuch zum 50-jährigen Bestehen von Siegfried Hermann. Drei Dinge spielten mit Sicherheit eine wichtige Rolle: Der Jude Kurt Landauer war im Jubiläumsjahr wieder Bayern-Präsident. Außerdem war der für das Buch mitverantwortliche Autor ein langjähriger Weggefährte des jüdischen Präsidenten und zudem waren die braunen Jahre im Moment der Publikation noch in guter Erinnerung.

133 Ebda. 134 Ebda. S. 77f. Seite 76 von 108

Die Veröffentlichung „100 Jahre FC Bayern München“ gibt nun immerhin einen Hinweis darauf, dass Kurt Landauer nicht der einzige Jude im Verein war. Trotzdem fällt das Ergebnis sehr mager aus. Außerdem kommen Bayerns jüdische Mitglieder nur im Zusammenhang mit den NS-Jahren vor:

„Am 30. Januar 1933 übernimmt Diktator Adolf Hitler die Macht. In den folgenden Monaten wird nicht nur sportlich alles auf den Kopf gestellt. Präsident Landauer, der jüdischer Abstammung ist, tritt am 22. März 1933 zurück. (…) Die Vereinsführung versucht noch eine ganze Weile, sich den neuen Begebenheiten entgegen zu stellen, da der FC Bayern sehr viele jüdische Mitglieder hat. Dies bringt dem Verein in der Folgezeit noch viel Ärger ein.“135

Als zum Beispiel die Autoren des jüngsten Jubiläumsbandes an ihre Arbeit gingen, lagen schon drei Publikationen vor, die ausführlichere Recherchen zur Historie der „Bayern-Juden“ enthielten. Es stellt sich daher die Frage, ob sich der Klub dieses Aspektes seiner Geschichte schämt? Nicht von der Hand zu weisen ist, dass man diesen offenkundig nicht als populär empfindet. Der FC Bayern bewegt sich in einem Umfeld, in dem die Beschäftigung mit der braunen Vergangenheit nicht jedermanns Sache ist und der jüdische Präsident, dem der Verein seinen Aufstieg zu einem nationalen Top-Verband, aber auch viel internationale Wertschätzung zu verdanken hat, schwierig zu vermitteln scheint. Heiner Gillmeisters Beschreibung der Genese des FC Bayern als Produkt zweier jüdischer Fußballverrückter mag hier dem einen oder anderen geradezu als Zumutung erscheinen. Die Wirklichkeit ist, dass Antisemitismus auch heute noch in Bayern und München verbreitet ist. Es ist kaum zu glauben, aber tatsächlich wahr: Edmund Stoiber, Mitglied des Verwaltungsrats des FC Bayern, war der erste Ministerpräsident des Freistaats, der mit der unseligen Tradition seiner Vorgänger brach, um die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau einen weiten Bogen zu machen.

Bisher hat der FC Bayern nur einmal ein offensives Bekenntnis zur Geschichte der Juden in seinen Reihen abgelegt. Denn zu Beginn des Jahres 2001 erreichte die Diskussion über die Entschädigungszahlungen an ehemalige NS-Zwangsarbeiter auch den Profifußball. Der FC St. Pauli war der erste Verein, der eine Beteiligung an der Stiftungsinitiative zusagte. Das Thema

135 Ebda. S. 78. Seite 77 von 108 stand auch beim FC Bayern auf der Tagesordnung. An der Säbener Straße trat man für eine einheitliche Regelung und Absprache mit der ein. Ein einseitiges Vorgehen à la St. Pauli lehnte man ab. Der Geschäftsführer Karl Hopfner meinte schließlich, dass der Klub „selbst von dem Nazi-Regime betroffen gewesen“ sei.136 Jedoch wurde seitens des Klubs eine Einladung zu einer Tagung der Universität München mit dem Titel „Juden und Sport. Zwischen Integration und Exklusion“ im Jahr 2002, organsiert vom Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Kultur, nicht angenommen.

11. Über die „Nationalsozialistischen Vorzeigevereine“

Zu den Vereinen, die sich nach 1933 sehr schnell auf die neue Zeit einstellten, gehörte der SV Werder Bremen. Zu betonen ist, dass der Klub von der Weser über eine bildungsbürgerliche Tradition verfügte. Unter anderem wurde sie mit der Satzung von 1912 begründet, die von jedem Mitglied „höhere Schulbildung“137 verlangte. 1928 wurde der entsprechende Paragraph zwar geändert, dennoch blieb ein gewisser wählerischer Anspruch, da nach den neuen Richtlinien eine „unbescholtene Person“ nur dann zum Werderaner werden durfte, wenn ein Mitglied ihre Aufnahme empfahl.

Wenn man den Vereinsnachrichten vom April 1933 Glauben schenkt, verband sich dieser bildungsbürgerlich-elitäre Geist des Klubs seit seiner Gründung im Jahre 1899 mit dem nationalen Gedanken, sodass Werder Bremen „nicht erst jetzt nach der Umwälzung sein nationales Herz“ zu entdecken brauchte. Tatsächlich öffnete er sich kurz nach der „Machtergreifung“ für den Wehrsportgedanken und stellte in dem Streben, ein mustergültiges Vereinsgefüge zu haben, schon am 14. Mai 1933 seine Satzungen auf das Führerprinzip um. Darauf folgend kündigte der neue Vereinsführer Willy Stöver am 9. Oktober 1933 auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung an, dass er seine Rechte „gegebenenfalls rücksichtlos gebrauchen“ 138 werde, um „alle Querulanten und Stänker“ 139 mit „eiserner Energie […] für immer verschwinden zu lassen“140; außerdem sollten sich alle in Anlehnung an das Vorbild der politischen Propaganda in den Dienst der „Volksgemeinschaft“ und des „Volksbewusstseins“ stellen.

136 Ebda. S. 79. 137 HAVEMANN Nils, Fußball unterm Hakenkreuz: der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz. Frankfurt am Main 2005. S. 213. 138 Ebda. 139 Ebda. 140 Ebda. Seite 78 von 108

Auf der einen Seite standen Vereine wie Werder Bremen, die trotz ihrer engagierten Anpassungsbestrebungen im Verlauf des Jahres 1937 einer strengeren Kontrolle unterzogen wurden, auf der anderen Seite gab es Vereine, die wegen ihres frühen Bekenntnisses zur nationalsozialistischen Bewegung und ihrer guten Beziehungen zu den örtlichen Parteigrößen nach der Zäsur von 1936 vom NS-Regime große Begünstigungen erfuhren. Ein gutes Beispiel dafür stellt der TSV 1860 München dar, dessen Führer Emil Ketterer im Februar 1941 in einem Brief an den Münchner Oberbürgermeister Karl Fiehler schrieb, dass „ein prozentual großer Anteil der Mitgliedschaft sehr früh bei der Fahne Adolf Hitlers“141 zu finden gewesen sei. Ketterer war seit 1908 Mitglied der „Löwen“ und kannte daher den Großteil der Geschichte aus eigener Anschauung. Im selben Brief schilderte er, dass der TSV 1860 als „der älteste Turnverein Münchens“142 stets „politisch sehr aktiv für die großdeutschen Ziele Jahns und der deutschen Turnerschaft eingetreten“143 war. Folgend sei „dieser Geist noch über die Zeiten der Demokratisierung“ 144 hinaus lebendig geblieben. Er rief mit diesen Äußerungen die Erinnerung daran wach, dass sich 1860 München schon vor 1933 bei einigen Gelegenheiten betont völkisch-national präsentiert hatte.

Emil Ketterer teilte den rassenideologisch motivierten Hass der Nationalsozialisten gegen die Juden, dabei fühlte er sich in dieser Hinsicht beim TSV 1860 München besonders wohl. Im Februar 1941 verwies er voller Stolz auf die Tradition seines Klubs, in dem die Juden „im Gegensatz zu anderen Vereinen“ 145, damit meinte er vor allem den Lokalrivalen Bayern München, „nie hoch“146 gekommen seien. Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte er sich seine Haltung damit zu entschuldigen, dass „ein großer Teil der Judenschaft selbst am Anwachsen des Antisemitismus schuld“ 147 gewesen sei. Da er seinen Rassenhass kaum verbergen konnte, geriet Ketterer während seiner Entnazifizierung nach Kriegsende in den Verdacht, an zahlreichen Exekutionen von Juden, Antifaschisten und Halbjuden mitgewirkt zu haben – eine Beschuldigung, die sich im Verfahren nicht nachweisen ließ.

Auf ähnliche Art und Weise wie der TSV 1860 München wurde der VfB Stuttgart aufgrund seines frühen Bekenntnisses zu Adolf Hitler nach den Olympischen Spielen 1936 zum Profiteur nationalsozialistischer Vetternwirtschaft. Hans Kiener, der dem Verein seit 1931

141 Ebda. 142 Ebda. 143 Ebda. 144 Ebda. 145 Ebda. S. 216. 146 Ebda. 147 Ebda. Seite 79 von 108 vorstand, war stets stolz darauf gewesen, im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft zu haben, obwohl er seinen Einsatz mit großen gesundheitlichen Schäden bezahlen hatte müssen. Kiener betonte, dass er „zur Erhaltung meiner Gesundheit und zur körperlichen Wiederentwicklung“148 beim VfB Sport zu treiben begann. 1932 trat er der NSDAP bei, danach modelte er als Vorsitzender des VfB den Klub schon vor der „Machtergreifung“ zu einer Vereinigung um, welche die Nazi-Führung zu fördern versuchte, indem sie der NSDAP die Sportanlagen des Vereins auf dem Cannstatter Wasen für Parteiveranstaltungen zur Verfügung stellte. Hans Kiener sagte daraufhin, dass sich sein Verein im Jänner 1933 längst zu einem „Hort nationaler Gesinnung“ und zu einer „Trutzburg gegen alles Undeutsche“ entwickelt habe. Kiener erwartete im „Dritten Reich“ für dieses frühe Bekenntnis zur „nationalen Erhebung“ von den kommunalen Behörden konkrete Gegenleistungen bei der Behebung von vereinsinternen Problemen.

Während der VFB Stuttgart oder der TSV 1860 München nach 1936 wegen ihrer frühen Bekenntnisse zu Hitler massiv bevorteilt wurden, entwickelten sich andere Vereine aufgrund ihrer großen sportlichen Erfolge zu nationalsozialistischen Vorzeigeklubs. Ein häufig angeführtes Beispiel ist der schon erwähnte FC Schalke 04, der im Zeitraum von 1934 bis 1942 sechsmal die Deutsche Meisterschaft und zwischen 1933 bis 1944 sämtliche elf Gaumeisterschaften gewinnen konnte. Die Infiltration der Vereine durch die Nationalsozialisten – das belegen die angeführten Beispiele von Werder Bremen, TSV 1860 München, VfB Stuttgart und Schalke 04 auf eindrucksvolle Art – vollzog sich in vielfältigen Formen: Erstens aus dem Innern heraus durch die Arbeit nationalsozialistisch gesinnter Vereinsführer wie Kiener oder Ketterer, zweitens von außen durch Mittel der Macht, wie dies nach 1936 bei Bremen verstärkt zu sehen war, und drittens aus der Verführung, der – wie am Beispiel des FC Schalke 04 aufgezeigt werden konnte – viele nicht zu widerstehen vermochten. Tatsache ist, dass die nach der „Machtergreifung“ aus politischem Kalkül nur halbherzig begonnene und nach dem Erlöschen des Olympischen Feuers geförderte Ausrichtung der Vereine auf den NS-Staat trotz der erkennbaren Zäsuren von 1933 und 1936 ein schleichender Vorgang war, dem sich auf lange Sicht kein Klub zu entziehen im Stande war. Auch Traditionen und gewachsene Strukturen – z. B. eine betont nationale Grundhaltung, ein bildungsbürgerliches Bewusstsein oder ein Arbeiterumfeld – hatten bestenfalls Einfluss auf die Geschwindigkeit, mit der das eindringende Gift der Nazis in den Vereinen zu wirken begann. Sogar in einem Klub wie dem FC Bayern München, der wegen

148 Ebda. S. 218. Seite 80 von 108 seines jüdischen Hintergrundes bis in den Krieg hinein größtenteils der NS-Bewegung ablehnend gegenüberstand, begann sich 1943 eine nationalsozialistische Fraktion durchzusetzen, die den ehemaligen „Judenclub“ auf Spur brachte. Es hat den Anschein, dass es ernsthaften Widerstand gegen die Sportpolitik der NS-Regierung in den Fußballvereinen nicht gegeben hat.149

12. Über die Haltung der deutschsprachigen Vereine im Nationalsozialismus

FC Schalke 04

Wie oben erwähnt, wurde der FC Schalke oft als der „nationalsozialistische Vorzeigeverein“ bezeichnet. Dabei ist aber zu beachten, dass sich insgesamt gesehen eine weitgehend unpolitische Haltung des FC Schalke 04 und seiner Repräsentanten feststellen lässt, die nur dort zu wenig Widerspruch gegen das etablierte Regime führte, wo vermeintlich auf manipulierende Weise in den Ablauf des Sports eingegriffen wurde. Man passte sich an, ließ sich feiern und war oft den politischen Machthabern zu Diensten. Deshalb waren die Schalker Akteure, für die ihre sportliche Betätigung einen zentralen Stellenwert hatte, für das „Dritte Reich“ und die Nationalsozialisten instrumentalisiert zu werden. Ihr gesellschaftliches Bewusstsein ordnete sich dabei in den Mainstream kleinbürgerlichen Denkens der Zeit ein, dieses war allerdings durchaus national und wenig demokratisch orientiert. Zu betonen ist, dass die gesellschafts- und politikbezogenen Vorstellungen und Verhaltensweisen der Schalker Spieler mit der Herkunft und der sozialen Stellung in einem verhältnismäßig stabilen Arbeitermilieu ohne Verbindung zu den sozialen und politischen Arbeiterbewegungen übereinstimmten. Für zahlreiche Sportler stellte eine erfolgreiche sportliche Betätigung einen Weg zur Sicherung der materiellen Existenz in einer krisenhaften Zeit dar und bot auch eine Chance zum ökonomischen und sozialen Aufstieg sowie zur Anerkennung im „bürgerlichen Leben“.

Andererseits führte die unpolitische Haltung vieler Funktionäre und Spieler des FC Schalke 04 dazu, dass man auch über wenig gedankliches Rüstzeug verfügte, den Nationalsozialismus als das zu begreifen, was er war, eine menschenverachtende Ideologie und ein verbrecherisches politisches Regime. In der retrospektiven Betrachtung ist es wichtig, die

149 Ebda. S. 224f. Seite 81 von 108

Zeitumstände ins Bewusstsein zu rücken. Denn auf der Zeitebene wird manche Einschätzung vorsichtiger ausfallen als mit dem Wissen um das Ende der Geschichte, genauer gesagt um die Verbrechen der Nationalsozialisten.

Der Verein und seine Mitglieder waren so gut bzw. so schlecht wie die deutsche und eben auch die lokale Gelsenkirchener Bevölkerung im Nationalsozialismus insgesamt gesehen. Tatsache ist, dass im Schalker Verein keine überzeugten oder gar fanatischen und aktiven Anhänger des Nationalsozialismus zu verzeichnen waren, andererseits gab es auch keinen Widerstand und auch fast keine nachweisbare Resistenz. Außerdem ist interessant, dass selbst die Möglichkeit politischen Missbrauchs der Schalker Erfolge oder der Instrumentalisierung für die außersportlichen Ziele kaum bzw. selten beobachtet wurden, jedenfalls wehrte man sich dagegen auch nicht. Abschließend ist zu resümieren: Die relativ unpolitische Mobilisierung der Bevölkerung in der NS-Bewegung führte zur teilweisen Verschleierung des verbrecherischen Charakters des NS-Systems, den man bei genauerem Hinsehen durchaus hätte erkennen können. Es wurde deutlich, dass es Illusion bleiben musste, den vermeintlich unpolitischen Sport von Einflüssen des politischen Systems fernzuhalten.150

FC Bayern München und TSV 1860 München

Als der FC Bayern München am 12. Juni 1932 mit einem 2:0 über Eintracht Frankfurt seinen ersten deutschen Meistertitel erringen konnte, stand der Verein unter der Führung von Präsident Kurt Landauer. Landauer, der 1884 in Planegg als Sohn der jüdischen Kaufmannsleute Otto und Hulda Landauer auf die Welt gekommen war, gehörte dem Klub bereits seit 1901 an. Der ideenreiche und energische Fußballenthusiast hatte dem FC Bayern in den Jahren der Weimarer Republik hohes Ansehen im In- und Ausland verschafft. Dazu trugen aber auch die vielen internationalen Spiele bei, die der Verein – zum Teil mit der Hilfe des Fußballpioniers Walther Bensemann – bestritt und in welchen sich der weltoffene, moderne und ambitionierte Charakter des Klubs offenbarte. Die Gastspiele ausländischer Teams dienten der Völkerverständigung sowie der qualitativen Verbesserung des Bayern- Fußballs.

150 GOCH Stefan, In: Lorenz PFEIFFER / Dietrich SCHULZE-MARMELING (Hrsg.), Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus. Göttingen 2008. S. 413f. Seite 82 von 108

Zum Spielstil der Bayern in den Weimarer Jahren ist zu sagen, dass er Übereinstimmungen mit dem sogenannten „Donaufußball“ aufwies, was in Anbetracht der Übungsleiter, die aus Budapest und Wien kamen, nicht verwundert. Von der Fachpresse wurde der Fußball der Bayern als „flüssig“ und „geschmeidig“ beschrieben. Nationalspieler Sigi Haringer beispielsweise charakterisierte ihn als Gegenentwurf zum „gearbeiteten“ Fußball des Reichstrainers Otto Nerz: „Uns Bayern behagte damals das neue Nerz’sche System nicht. Wir wollten spielen, stürmen, nicht Fußball rackern oder arbeiten.“151 Zur Verdeutlichung: Die Meisterelf von 1932 wurde als die „am schönsten spielende deutsche Mannschaft“ gelobt und gefeiert.

Der Trainer der damaligen Elf war Richard „Little“ Dombi, ein Wiener jüdischer Abstammung und „einer der außergewöhnlichsten Fuballvisionäre seiner Zeit“. 152 Dombi hatte unter seinem Geburtsnamen Richard Kohn von 1908-1912 sechsmal in der österreichischen Nationalmannschaft gespielt; vor dem Ersten Weltkrieg hatte er einige Jahre für MTK Budapest die Fußballschuhe geschnürt. Auch Otto Beer, der Jugendleiter der Münchner, war Jude. Zu betonen ist: Dass der FC Bayern im Jahr vor der nationalsozialistischen Machtergreifung an die Spitze des deutschen Fußballs kam, hatte der Verein auch seiner exzellenten Nachwuchsarbeit zu verdanken.

Der Stadtteil Schwabing war die Wiege des im Jahr 1900 gegründeten FC Bayern. Der Klub hatte seine Gründung zwei jüdischen Fußballaktivisten zu verdanken: Gustav „Gus“ Manning und Josef Pollack, die beide Söhne jüdischer Kaufleute waren. 1897 hatte Manning zu den Gründern des FC Freiburg gezählt und war zu dessen erstem Präsidenten aufgestiegen. 1898 gehörten Manning und Pollack zur FCF-Mannschaft, welche süddeutscher Meister wurde. Der FC Freiburg war ein ziemlich polyglotter Zusammenschluss, zu dessen Gründungsvätern auch ein US-Bürger gehörte. Außerdem war der Verein – wie später der FC Bayern – eine Adresse für sporttreibende Juden. Der jüdische Bürger Harry Liefmann wurde 1899 zum FCF-Präsidenten gewählt, ein Bruder des berühmten Nationalökonomen Prof. Dr. Robert Liefmann, welcher 1940 ins südfranzösische Lager Gurs am Fuße der Pyrenäen deportiert wurde und 1941 in Morlaas zu Tode kam.

Der FC Bayern bildete quasi ein Auftragsprodukt mit Absender Freiburg. Zur Jahrhundertwende war der Klub noch ein weißer Fleck auf der Karte des Verbandes

151 SCHULZE-MARMELING Dietrich (Hrsg.), Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus. Göttingen 2008. S. 374. 152 Ebda. Seite 83 von 108

Süddeutscher Fußballvereine, was dessen Schriftführer, Gus Manning, zu ändern versuchte. Dabei fungierten die Fußballer des Männerturnvereins München von 1879 (MTV 1879) als Instrument. Elf Mitglieder der Fußballabteilung des MTV 1879 gründeten am 27. Februar 1900 den FC Bayern München, der dem Süddeutschen Verband beitrat. Zum 1. Sekretär wurde Josef Pollack bestimmt, er sollte in den nächsten Jahren nicht der letzte Ex-Freiburger in Diensten der Münchner sein. Außerdem wurden eine Reihe Freiburger Kicker zu den Bayern abkommandiert. Hauptsächlich Studenten, Künstler, Kaufleute und andere Selbstständige und in der Regel keine Münchner, sondern „Zugereiste“ waren die ersten Mitglieder des FC Bayern, zum Beispiel auch der aus Pankow bei Berlin kommende erste Präsident des Vereins, Franz John, 1902 folgte ihm der Niederländer Dr. Willem Hesselink nach. Der Lokalrivale TSV 1860 München war im proletarisch-kleinbürgerlichen Giesing beheimatet und daher anders geprägt. Die „Blauen“ (1860 München) wirkten zwar bodenständiger als die „Roten“ (FC Bayern), doch ein „Arbeiterverein“ wie der FC Schalke 04 waren sie keineswegs. Denn in München entwickelte sich keine Schwerindustrie wie im Ruhrgebiet, sondern das mittelständische Milieu blieb vorherrschend.

Während die Führungsriege des FC Bayern zur Zeit der Weimarer Republik „eher unpolitisch-liberal“ eingestellt war, erweckte der TSV 1860 im Hinblick darauf den Eindruck eines Tummelplatzes für konservativ-nationalistisch gestimmte Akademiker und Mittelständler, die der Republik mit Ablehnung gegenüberstanden. Die unterschiedliche soziale und berufliche Komponente bei „Roten“ und „Blauen“ ist vermutlich auch ein Ergebnis ihrer unterschiedlichen Tradition. Während der FC Bayern als moderner Klub und Teil der Sportbewegung gegründet wurde, waren die „D’Sechzger“ im Gegensatz dazu ein Verein, in dem turnerische Traditionen und Denkweisen auch nach der Gründung der Fußballabteilung am 25. April 1899 Einfluss behielten.

Als die Deutsche Turnerschaft (DT) ihren Vereinen die gleichzeitige Mitgliedschaft in einem Sportverband verbot, fand der Gesamtvorsitzende, Justizminister a. D. Dr. Ernst Müller- Meiningen, eine salomonische Lösung: Die Sportabteilung wurde am 11. März 1924 als SV 1860 aus dem TSV 1860 ausgegliedert. Dieser bezeichnete sich fortan wieder als TV 1860 und blieb in der DT. Allerdings gab es zwischen den beiden formal selbstständigen Klubs durch vielfältige personelle und administrative Verflechtungen weiterhin eine enge

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Verbindung, sodass ein ideologischer Einfluss der Turner im Sportverein garantiert blieb und „die Mitglieder der Löwen von der formalen Trennung kaum etwas mitbekamen“.153

Dr. Emil Ketterer, NS- und TSV-1860-Funktionär, bestätigte später den Kontext zwischen der turnerischen Tradition und der politischen Ausrichtung der Vereinsführung, als er im Februar 1941 in einem Brief an den Münchener Oberbürgermeister Karl Fiehler darauf aufmerksam machte, dass „der älteste Turnvereins Münchens“ immer „politisch sehr aktiv für die großdeutschen Ziele Jahns und der deutschen Turnerschaft“154 eingetreten sei. Und „dieser Geist“155 sei „noch über die Zeiten der Demokratisierung“156 hinaus lebendig geblieben.

Der deutsche Historiker und Herausgeber des Buches Die „Löwen“ unterm Hakenkreuz. Der TSV München von 1860 im Nationalsozialismus (2006), Anton Löffelmeier, gab folgendes Urteil über den TSV 1860 der Weimarer Jahre ab: „Schon in den zwanziger Jahren fanden völkisch-nationale Parolen ihre Anhängerschaft im Verein. So stellte der Verein im Jahre 1919 der Reichswehr und dem Freikorps Oberland Übungsplätze für das Training zur Verfügung, entgegen den Bestimmungen des Versailler Vertrags, der eine strikte Trennung von zivilem und militärischem Sport festschrieb. Später konnte auch die SA das Gelände für ihre Übungen benutzen und wurde ausgebildet vom Vereinsmitglied Ludwig Haymann.“157 Jener hatte 1926 den deutschen Meistertitel im Schwergewichtsboxen der Profis gewinnen können. 1931 wurde Haymann erster hauptamtlicher Sportredakteur des „Völkischen Beobachters“.

1923, als der FC Bayern schon auf internationaler Ebene spielte, wurde TSV-Boss Dr. Ernst Müller-Meiningen mit folgenden Worten zitiert: „Sportliche Wettkämpfe dürften zurzeit nicht nur mit Frankreich und Belgien, sondern auch mit Italien, Polen, Tschechoslovakei etc. nicht ausgetragen werden. Wer nicht so viel nationalen Stolz habe, schade der deutschen Turn- und Sportbewegung und gäbe denen Recht, die in dieser Bewegung zersetzende Einflüsse feststellen möchten. Jetzt heißt es: nationale Interessen über alles.“158

12.1 Die „Roten“ und „Blauen“ im Nationalsozialismus

153 Ebda. S. 376. 154 Ebda. 155 Ebda. 156 Ebda. 157 Ebda. 158 Ebda. Seite 85 von 108

Schon 1932, vor der Kanzlerschaft Hitlers, hatten die „Blauen“ ihre Korrespondenz mit „Heil Hitler“ unterzeichnet. Dementsprechend ohne Vorkommnisse war ihr Weg in die Gleichschaltung. 1933 übernahm mit dem Turnlehrer Wilhelm Hacker „ein überzeugter Anhänger der stramm nationalen Deutschen Turnerschaft“159 im TV den Vorsitz und am 13. März 1934 kam es zur Wiedervereinigung des TV (Turnverein) und SV (Sportverein) 1860 zum TSV (Turn- und Sportverein) 1860. Nun stellte sich die Situation so dar, dass dessen Vorsitzende Personen waren, die sich bereits Jahre vor 1933 der Hitler-Bewegung angeschlossen hatten, als jene noch eher als Randerscheinung des politischen Spektrums bezeichnet werden konnte. Fritz Ebenböck (1934-1935) wurde beispielsweise 1922 Mitglied der NSDAP und der SA. Seit 1921 gehörte er zum Freikorps Oberland und beteiligte sich am 8./9. November 1923 am Hitler-Ludendorff-Putsch. Auch der SA-Sturmbannführer Dr. Ludwig Holzer (1935-36) nahm am Marsch auf die Feldherrnhalle teil sowie Dr. Emil Ketterer, der dem Klub danach bis zum Kriegsende vorstand. Seit 1923 war Ketterer Mitglied des Kampfbundes „Reichskriegsflagge“ und der NSDAP, Mitbegründer des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes München-Oberbayern, seit 1931 SA-Mitglied und Träger des Goldenen Ehrenzeichens der Partei. Außerdem gehörte er seit dem 26. April 1933 auch dem „gleichgeschalteten“ Münchener Stadtrat an. Ketterer, Eberböck und Holzer waren Blutordensträger und spielten gemeinsam in der Altherrenmannschaft des TSV. Sebastian Gleixner, der 1941 zum Leiter der Fußballabteilung aufstieg, war der NSDAP 1928 beigetreten und profilierte sich bei der Zerschlagung der Gewerkschaften. Außerdem war er, wie Ketterer, ein Mitglied des Stadtrats. Emil Ketterer hatte durchaus damit recht, als er am 2. Februar 1941 Oberbürgermeister Fiehler schrieb, dass „das Führerprinzip (im Verein) immer stark ausgeprägt war und dass ein prozentual großer Anteil der Mitgliedschaft sehr früh bei der Fahne Adolf Hitlers zu finden war. Siehe große Zahl der Blutordensträger.“160 Und „im Gegensatz zu anderen Vereinen“ 161 – hier meinte er bestimmt den Lokalrivalen Bayern München – seien bei den „Löwen“ (TSV 1860) Juden „nie hoch“162 gekommen.

Während der TSV 1860 für die neuen politischen Verhältnisse personell bestens gerüstet war, bedeutete im Gengensatz dazu die Nazi-Herrschaft für den FC Bayern einen großen Aderlass an bewährten Kräften. Einige Monate nach dem erwähnten ersten Meistertitel des FC Bayern weilten dessen Macher nicht mehr im Lande oder hatten keine offiziellen Funktionen mehr inne. Zum Beispiel verließen Erfolgstrainer Richard Dombi und Jugendleiter Otto Beer

159 Ebda. S. 376. 160 Ebda. S. 377. 161 Ebda. 162 Ebda. Seite 86 von 108

München im Angesicht der politischen Entwicklung. Dombi ging in die Schweiz (Basel) und später nach , wo er mit Feyernoord 1936 und 1938 zweimal niederländischer Meister wurde. Nach dem Ende der Saison 1932/33 zog es Nationalspieler und Mittelstürmer Oskar „Ossi“ Rohr ebenfalls in die Schweiz, er hatte im Finale von Nürnberg das 1:0 erzielt. Das Ziel des Bayern-Torjägers war es, Profi zu werden, aber der DFB hatte die neuen politischen Gegebenheiten dazu genutzt, um gegen die Entwicklung zum Professionalismus vorzugehen. Rohr ging schließlich zu den Grasshoppers Zürich; mit seinem neuen Klub gewann er den Landespokal. Am 19. März 1933 bestritt die deutsche Nationalmannschaft in Berlin gegen Frankreich ihr erstes Länderspiel nach den Reichstagswahlen vom 5. März. Für Oskar Rohr, der beim 3:3 zweimal traf, war es der letzte Auftritt im Dress der Nationalmannschaft. In Deutschland war der „Legionär“ mit scharfen Angriffen auf seine Person konfrontiert und die Fachzeitschrift „Der Fußball“ warf dem Spieler vor, er habe sich „im Ausland als Gladiator verkauft“.163

Nach nur einem Jahr verließ Rohr die Schweiz wieder, um in Frankreich bei Racing Straßburg Fuß zu fassen. Hier erlebte er seine sportlich erfolgreichste Zeit. 1934/35 wurde er mit Straßburg Vizemeister, 1936/37 mit 30 Toren Torschützenkönig in Frankreich und erreichte mit Racing das Pokalfinale. Als es 1940 zum Einmarsch der Nazis ins Elsass kam, setzte er sich nach Sete im unbesetzten Süden Frankreichs ab. Daraufhin wurde er vom Vichy-Regime aufgrund angeblicher kommunistischer Umtriebe zu drei Monaten Haft verurteilt. Nach dieser Zeit wurde er im November 1942 von deutschen Besatzungstruppen gefangengenommen und in das KZ Karlsruhe-Kieslau gebracht, aber auf Intervention von fußballbegeisterten Gestapo- Leuten kam Rohr wieder frei und wurde an die Ostfront geschickt. Als Stürmer einer „Heeresflak-Auswahl“ konnte er in einem Match gegen die „Luftnachrichten“ fünf Tore erzielen. Oskar Rohr überlebte den Zweiten Weltkrieg und spielte anschließend noch für den VfR Mannheim, Schwaben Augsburg, FK Pirmasens und Waldhof Mannheim Fußball.

Schließlich kam es am 1. April 1933 im ganzen Reich zu Boykottaktionen gegen Juden, denen der Erlass des Gesetzes „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ unmittelbar folgte. Auf Seiten der Turn- und Sportverbände wurde umgehend mit der Übernahme des sogenannten „Arierparagraphen“ in ihren Wirkungsbereich und dem Ausschluss ihrer jüdischen Mitglieder reagiert. Diesem Beispiel folgte auch der Süddeutsche Fußball- und Leichtathletikverband: „Die unterzeichneten, am 9. April 1933 in Stuttgart anwesenden, an den Endspielen um die süddeutsche Fußballmeisterschaft beteiligten Vereine des

163 Ebda. S. 378. Seite 87 von 108

Süddeutschen Fußball- und Leichtathletikverbandes stellen sich freudig und entschieden den von der nationalen Regierung auf dem Gebiet der körperlichen Ertüchtigung verfolgten Besprechungen zur Verfügung und sind bereit, mit allen Kräften daran mitzuarbeiten. Sie sind gewillt, in Fülle dieser Mitarbeit alle Folgerungen, insbesondere in der Frage der Entfernung der Juden aus den Sportvereinen zu ziehen.“164 Auch der FC Bayern München war unter den Unterzeichnern. Auch wenn die genauen Umstände, wie diese Erklärung zustandekam, nicht geklärt sind: Wahrscheinlich wollte es sich auch der FC Bayern mit den neuen Machthabern nicht ganz verscherzen. Trotzdem blieb die Gleichschaltung des FC Bayern eine eher zähe Angelegenheit. Es gab zwar auch bei den Bayern schon vor 1933 überzeugte Nazis, die allerdings zuerst nur eine kleine Gruppe waren. Insbesondere war diese in der Skiabteilung stark vertreten, einem Sammelbecken der „Jungen und Unzufriedenen“ im Verein. Auch den nun obligatorischen „Dietwart“ stellten die Wintersportler, der für die nationalsozialistische Erziehung der Vereinsmitglieder verantwortlich war. Außerdem wurde von ihnen die Vereinszeitung übernommen.

Eine außerordentliche Mitgliederversammlung wählte am 12. April 1933 als kommissarischen Nachfolger von Kurt Landauer dessen langjährigen Assistenten und Vertrauten Siegfried Herrmann, von Beruf Kriminaloberinspektor. Landauer nahm über Herrmann noch eine Zeit lang Einfluss auf die Geschicke des Klubs. Unterlagen aus dem Münchner Stadtarchiv weisen aus, dass Herrmann den Nazis gegenüber eine ablehnende Haltung einnahm. 1920 übernahm er bei der Gestapo die Leitung der „Abteilung VI d – Politische Abteilung“. Die Sachgebiete lauteten: „Überwachung der politischen Parteien, Gesellschaften, Vereins- und Versammlungsgesetz, Plakatzensur und Flugblätter, Streik und Aussperrungen, Demonstrationen, politische Aufzüge usw.“165 Herrmann war in dieser Funktion in München anscheinend wiederholt mit den Nazis, die die Straße zu erobern suchten, zusammengestoßen. Darauf nahm eine Auskunft des Personalamts vom 31. August 1946 Bezug: „Herrmann ist als Gegner des Nationalsozialismus bekannt. Als Leiter des Vereins- und Versammlungswesens vor 1933 stand er immer im Gegensatz zur NSDAP. Er musste 1933 diesen Platz verlassen und wurde von jeder Beförderung ausgeschlossen.“ 166 Im Mai 1933 wurde er zur Kriminalpolizei zurückversetzt, weil nach eigener Auskunft „politisch als nicht zuverlässig erachtet“. Im Mai 1941 wurde Herrmann „strafweise nach Wien versetzt“, nachdem Reichsleiter Max Amman „in einer mehrseitigen Eingabe an die Kanzlei des Führers meine

164 Ebda. S. 378. 165 Ebda. S. 379. 166 Ebda. S. 379f. Seite 88 von 108

Entfernung aus dem Staatsdienst beantragt“ hatte. Tatsache ist, dass Amman Herrmann „von meiner Tätigkeit her als Beamter der Politischen Abteilung“ kannte und ihn scheinbar nicht in bester Erinnerung hatte: „Wegen meiner ausgezeichneten bisherigen dienstlichen Qualifikation entging ich damals der Entlassung; jede weitere Beförderung war aber damit ausgeschlossen.“ 167 Schließlich wurde am 18. August 1945 von der amerikanischen Militärregierung die Wiedereinstellung des unbelasteten Herrmann als Kriminalkommissar bestätigt.

Im September 1934, als Herrmann vom Vereinsvorsitz zurücktrat, wurde sein Nachfolger mit dem Rechtsanwalt Dr. Karlheinz Oettinger ein Kandidat der Schiabteilung, der jedoch schon 1935 vom Mediziner Dr. Richard Amesmeier abgelöst wurde. Im Mai 1919 war Amesmeier nach eigenen Angaben in einer „Zeitfreiwilligenformation“ an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik beteiligt gewesen. Im April 1933 wurde er Mitglied der NSDAP und im Oktober 1933 vom Stahlhelm und SA übernommen. Aber ganz den Wünschen der neuen Machthaber entsprach Amesmeier auch nicht. Er meldete sich im April 1939 von der SA ab und begründete das mit familiären Problemen, dem Nachlassgeschäft und „schmerzhaften Neuralgien, die mich oft über mehrere Stunden vollkommen arbeitsunfähig machen“. Davor fiel einem SA-Standartenführer auf, dass Amesmeier „trotz wiederholter Aufforderung weder an einem sonstigen Einsatzdienst der SA noch an einem Kameradschaftsabend der Standarte teilgenommen“ hatte. Weil Amesmeiers Austritt aus der SA einige Monate nach der Inhaftierung Landauers über die Bühne ging, konstatierte Nils Havemann, dass „das Erleben der nationalsozialistischen Verbrechen an dem beliebten Landauer bei einem exponierten Bayern-Mitglied trotz anfänglicher Sympathie für die Nationalsozialisten zu einer erkennbaren Distanzierung vom Hitler-Regime“168 geführt habe. Im November 1937 wurde der langjährige Mitarbeiter Amesmeiers, Oberlehrer Franz Nußhardt, als der neue „Vereinsführer“ präsentiert; Nußhardt hatte kein Parteiabzeichen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Klubs drückten sich die „Roten“ noch immer davor oder waren nicht dazu imstande, eine ausgewiesene Parteigröße an ihre Spitze zu stellen. Als es dazu kam, dass der parteilose Nußhardt nicht mehr zu halten war, wurde Oberregierungsrat Dr. Kellner zu dessen Nachfolger gemacht, „um den Anfeindungen seitens der Partei ein Ende zu setzen und um den Anschluss an die von prominenten Nationalsozialisten geführten

167 Ebda. S. 380. 168 Ebda. Seite 89 von 108

Ligakonkurrenten TSV 1860 und FC Wacker zu finden“.169 Allerdings blieb Nußhardt dem Verein in anderer Position erhalten. Offiziell wurde er nur noch als „zweiter Mann“ bezeichnet, aber in Wahrheit war er es, der den Großteil der Vorstandsarbeit leistete. Schließlich wurde am 9. April 1943 der Bankier Sauter vom Gausportwart Breithaupt zum „Kommissarischen Gemeinschaftsführer“ ernannt und verblieb in dieser Position bis zum Ende des NS-Regime. Er war im Verein der Wunschkandidat der aktiven und überzeugten Nazis. Nach der Amtsübernahme Sauters änderte sich das Verhältnis des FC Bayern zur Partei und Stadtverwaltung abrupt. Belege dafür waren, dass nun bei Veranstaltungen der Bayern SA-Kapellen auf der Aschenbahn aufmarschierten und die gleichgeschaltete Presse daranging, die Erfolge des FC Bayern zu preisen.

12.2 Der FC Bayern zwischen Zuckerbrot und Peitsche

Die Fußballer des FC Bayern hatten 1933 miterleben müssen, wie die Architekten ihres Aufstiegs zu einer nationalen Topadresse verdrängt wurden, deshalb hegten sie zunächst Zweifel gegenüber den neuen Machthabern. Beispielhaft dafür sind zwei Vorfälle aus den Jahren 1934 und 1937. Im Rahmen der Feierlichkeiten zur Stadterhebung Dachaus wurde am 22. August 1934 ein Freundschaftsmatch zwischen dem örtlichen TSV 1865 und dem FC Bayern ausgetragen. Erwartungsgemäß gewann der FC Bayern klar mit 5:0, doch beim darauffolgenden Volksfest gab es Probleme. Vor dem Bierzelt kam es zu einer heftigen Schlägerei zwischen einigen Bayern-Akteuren und einer Horde von SA-Leuten. Der genaue Grund dafür konnte allerdings nicht in Erfahrung gebracht werden. In den frühen Stunden des 9. November 1937 wurde Bayerns Nationalspieler Sigi Haringer auf die Wache von Münchens 1. Polizeirevier gebracht. Ihm wurde vorgeworfen, nach dem Besuch des Café Keckeisen in der Maximilianstraße in herablassender Art und Weise über einen Umzug der Nazis gesprochen zu haben. Dank seinem hohen Ansehen als Nationalspieler, vor allem aber wegen der Fürsprache des Fußballkameraden und Wackeraners Dr. Adolf Brandweiner, im Gegensatz zu Haringer NSDAP-Mitglied, wurde das anschließende Strafverfahren gegen Haringer fallengelassen.

Dass die „Bayern“ in der NS-Zeit zunächst sportlich und finanziell abfielen, hatte damit zu tun, dass sie noch eine Zeit lang von Mitgliedern geführt wurden, die für die braunen

169 Ebda. Seite 90 von 108

Machthaber nicht ausreichend loyal genug waren und nicht über die jetzt angesagten politischen Verbindungen verfügten. Der TSV 1860 hingegen konnte sich des uneingeschränkten Schutzes durch die Nazis sicher sein. Wenn die „Löwen“ zum Beispiel finanzielle Probleme hatten, durften sie auf die Hilfe der nationalsozialistischen Stadtverwaltung setzen. Im Jahr 1937 rettete eine Allianz, bestehend aus Oberbürgermeister Fiehler, dem Leiter des Stadtamts für Leibesübungen, Ludwig Behr, Wilhelm Brückner, 1860-Mitglied und Chefadjutant Hitlers, sowie Ketterer den Klub durch den Verkauf des klubeigenen Stadions vor dem Konkurs.170

Nie wurde dem FC Bayern verziehen, dass er einst ein „Judenclub“ war und seine Nazifizierung zuerst mehr oder weniger sabotiert wurde. Deutlich kam dies zum Ausdruck, als der Verein im März 1944 die südbayrische Meisterschaft gewann. Als Ludwig Behr Oberbürgermeister Fiehler eine Ehrung der Meistermannschaft vorschlug (ähnlich wie beim TSV 1860 im Jahr davor), lehnte das Stadtoberhaupt dies mit der Begründung ab, „dass bei 1860 andere Beziehungen zur Stadt bestehen durch die Ratsherrn Gleixner und Dr. Ketterer, [und] dass der FC Bayern bis zur Machtübernahme von einem Juden geführt worden ist“. Löffelmeier hatte dazu Folgendes zu sagen: „Die Tatsache, dass der FC Bayern viele jüdische Mitglieder hatte, die teilweise in leitenden Funktionen mitarbeiteten, und dass noch dazu ein Jude jahrelang den Verein geleitet hatte und man sich im März 1933 nicht sofort von ihm getrennt hatte, sollte den Bayern das ganze ,Dritte Reich‘ hindurch als Makel anhängen.“171

Ein weiterer Punkt, der dem FC Bayern zu schaffen machte, war die Reamateurisierung des vor der NS-Herrschaft auf dem Weg zum Professionalismus befindlichen deutschen Spitzenfußballs. In der „Fußball-Woche“ war zu lesen:

„Nicht überall ist die Umstellung vom Spesen-Amateur auf den ,bargeldlosen‘ Amateur von heute auf morgen ohne Verluste möglich gewesen. Besonders schwer scheint es in dieser Hinsicht Bayern München gehabt zu haben. Wie anders sollte man es deuten, wenn Hans Tusch, ein alter Bayern Freund, im Münchner ,Sport-Telegraf‘ in einem größeren Artikel von einem Umlagerungsprozess der Spielstärke spricht, der bei Bayern am krassesten zum Ausdruck komme und wenn in diesem Aufsatz mit deutlicher Bezugnahme auf die Rothosen von Verfallserscheinungen geschrieben wird. (…) Wenn man das liest, dann darf man wohl

170 Ebda. S. 381f. 171 Ebda. Seite 91 von 108 die Folgerung ziehen, dass es bei den Bayern im Gegensatz zum Lokalrivalen 1860 beträchtliche Schwierigkeiten bei der Umstellung auf das neue Amateurgesetz geben wird.“172

12.3 Die Münchner Großklubs im Sog von Verfolgung, Vertreibung und Mord

Im Jahr 1938 kam es zu einer Eskalation der Gewaltmaßnahmen gegen Juden, die ihren traurigen Höhepunkt in der Reichspogromnacht vom 9./10. November fanden. Überall im Deutschen Reich wurden von SA-Männern und Parteiformationen jüdische Gotteshäuser angezündet, jüdische Geschäfte und Wohnungen demoliert. Über 26.000 Juden wurden gefangengenommen und in Konzentrationslager deportiert. In München spricht man in etwa von 1.000 männlichen Juden, die verhaftet, verschleppt, verprügelt und gedemütigt wurden, 24 von ihnen wurden in Dachau ermordet. Schon vor der Machtübernahme waren die jüdischen und ausländischen Besitzer der Münchener Kaufhäuser in den Fokus der NS- Propaganda geraten. Darunter befand sich z. B. auch das „jüdische“ Kaufhaus Hermann Tietz am Hauptbahnhof (heute Hertie), dessen Firmenmannschaft einst unter dem Dach des FC Bayern Fußball gespielt hatte.

Unter den Verhafteten vom 10. November 1938 war auch der ehemalige Präsident der „Bayern“, Kurt Landauer, der von den Nazis aus der Wäschefirma Rosa Klauber verschleppt wurde. Im Zugangsnummernbuch des KZ sieht man bezüglich Landauer folgende Angaben: „Häftlingsnummer: 20009“ und die Spalte „Zugangsdatum“ ist bei ihm leer. Es ergibt sich allerdings, dass es der 10. November 1938 gewesen sein muss. Unter Haftgrund ist „Schutzhäftling/Jude“ vermerkt und als Beruf „kaufmännischer Angestellter“. Der Wohnsitz lautet „Klemensstraße 41“, eine Adresse in Schwabing und sehr nahe zum ersten offiziellen Bayern-Platz gelegen. Nach 33 Tagen bekam Kurt Landauer die Erlaubnis, in seine Wohnung zurückzukehren, „weil ich als früherer Frontkämpfer zur schnelleren Entlassung kam“.173 Landauer war es aber nicht möglich, seinen Beruf wieder aufzunehmen. Während er sich in Haft befand, wurde auch die Firma Rosa Klauber „arisiert“ und Landauer durch die Nachfolgefirma Lüdecke & Straub mit sofortiger Wirkung seiner Dienste enthoben, somit war er von nun an erwerbslos. Vom 1. Jänner 1938 bis zum Auswanderungsverbot am 1. Oktober 1939 gelang es im ganzen Reich noch ca. 170.000 Menschen zu flüchten. Unter jenen war

172 Ebda. 173 Ebda. 383. Seite 92 von 108 auch Kurt Landauer, der am 15. Mai 1939 in die Schweiz nach Genf emigrieren konnte. Denn in Genf waren bereits Angehörige der Familie Klauber, die Landauer bei der Einwanderung halfen. Landauer stand in Genf in Kontakt mit dem FC Servette, gegen diesen Verein hatten die Bayern vor 1933 einige Freundschaftsspiele abgehalten.

Der FC Bayern gastierte am 7. November 1943 in Zürich, um gegen das Nationalteam der Schweiz ein Freundschaftsspiel auszutragen. Davor bestellte man die Akteure ins Sicherheitsamt, wo ihnen zahlreiche Auflagen mitgeteilt wurden. Die Frau von Conny Heidkamp, des Kapitäns der Meistermannschaft, Magdalena Heidkamp, sagte: „Erstens tadelloses Auftreten, zweitens würden Gestapobeamte mitfahren, damit den jungen wehrmachtswilligen Spielern nicht einfallen würde, im Ausland zu bleiben, drittens sei es möglich, dass deutsche Emigranten versuchten, mit den Spielern Kontakt aufzunehmen. Jede Annäherung werde strengstens bestraft.“174 Was die letzte Aufforderung betraf, so meinte man damit wohl Kurt Landauer, der wirklich ins Stadion kam und dem Match von der Tribüne aus beiwohnte. Die Bayern-Kicker winkten ihrem langjährigen Präsidenten zu, aber eine direkte Kontaktaufnahme wurde verboten. Um Magdalena Heidkamp zu zitieren: „Kaum in Zürich angekommen, trat schon ein Page auf meinen Mann zu und übergab ihm eine Nachricht von Herrn Landauer, der im Vestibül auf ihn wartete. Beim Öffnen des Briefes tippte jemand meinem Mann auf die Schulter: Gestapo: ,Geben Sie mir den Zettel. Lassen Sie sich nicht einfallen, sich dem Mann zu nähern. Sie stehen unter Beobachtung.‘ Es wurde Conny unmöglich gemacht, mit Landauer Kontakt aufzunehmen, die Gestapo ließ ihn nicht aus den Augen.“175

Kurt Landauer schaffte es, den Zweiten Weltkrieg und die Shoa im Schweizer Exil zu überleben, allerdings wurden vier seiner fünf Geschwister ermordet. Auch der ehemalige Bayern-Jugendleiter Otto Beer gehörte zu den Opfern des NS-Terrors, der mit Frau und Kindern im November 1941 nach Kaunas deportiert und dort ermordet wurde. Schließlich konnte Landauer am 26. Juni 1947 nach München zurückkehren. Im „Sport-Magazin“ war zu lesen: „Kurt Landauer, süddeutscher Fußballpionier, ist zurück aus der Emigration.“176 Bei der Jahreshauptversammlung des FC Bayern wurde er 1947 nochmals zum Präsidenten gewählt, der er nun bis 1951 blieb, bis er im Alter von 65 Jahren endgültig zurücktrat. Nach Gründung der Oberligen und der Einführung des Vertragsspielers hatte Landauer noch die Stellung eines Vorsitzenden der Interessengemeinschaft der süddeutschen

174 Ebda. 175 Ebda. S. 384. 176 Ebda. Seite 93 von 108

Vertragsspielervereine inne. Das Ende der Nazi-Herrschaft blieb nicht ohne Folgen für das Kräfteverhältnis zwischen „Roten“ und „Blauen“. Während der FC Bayern jetzt gegenüber der neuen Stadtverwaltung und den Besatzungsbehörden erklären konnte, dass „wir bisher als ,Juden-Club‘, der es ablehnte, sich eine nationalsozialistische Vereinsführung aufzwingen zu lassen, mit allen Mitteln gedrückt wurden“177, sah sich der TSV im Gegensatz dazu mit einer gewissen Skepsis konfrontiert.

12.4 Die Wiener Fußballschule in der NS-Zeit

Es ist wichtig, die Analyse des „Alltags unter dem Hakenkreuz“ – und zwar nicht als Fakten- oder Strukturgeschichte betrachtet, sondern als Geschichte der Bedeutungen und Bedeutungskonstruktionen – als ein notwendiges Korrektiv zur gängigen Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu sehen. Wesentlich dafür sind die Normalität, die natürlich nur im Rahmen der Zugehörigkeit zur nach außen definierten „Volksgemeinschaft“ aufrechtzuerhalten war, die kulturellen Kontinuitäten zur Zeit vor 1933 bzw. 1938 und die populären Vergnügungen, die man sich gönnte und die im populärkulturellen Sinn ausdifferenziert werden konnten.

Darüber hinaus lässt sich das System und sein Laufen nicht nur nachvollziehen, sondern auch verstehen. Dabei geht es in erster Linie nicht um die Strukturen der totalitären Herrschaft, sondern um die Formen des konkreten Umgangs mit ihr, um Lebensstrategien – wobei unter Lebensstrategien nicht die Überlebensstrategien zu verstehen sind, die für jene Priorität hatten, denen die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft versagt wurde. Es geht vielmehr darum, die These der „Alleinstellung“ des NS-Regimes und seine Ausklammerung aus dem Verlauf der Moderne ebenso zu durchbrechen wie die Gleichsetzung von „nationalsozialistisch“ mit „politisch“.

Wenn man allerdings alltagskulturelle Phänomene in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, beinhaltet das nach dem aktuellen hegemonialen Blick auf den Nationalsozialismus jedoch auch die Gefahr der Verharmlosung: „Anscheinend wird die Gefahr gesehen, dass eine Annäherung und ein zunehmendes Verstehen der NS-Welt die moralischen Kriterien auflösen könnten. Wer das Mitmachen nachzuvollziehen versucht, wer sich den MitläuferInnen und

177 Ebda. Seite 94 von 108

TäterInnen annähert, gefährdet moralische Grenzziehungen“178, sagte Gudrun Brockhaus in ihrer Untersuchung zum „Faschismus als Erlebnisangebot“.

Es ist mit Sicherheit richtig, dass in einer Alltagsgeschichte des Wiener Fußballs während der NS-Zeit etwa der Holocaust nur in dem Sinn seinen Platz findet, als die Entfernung der Juden aus dem öffentlichen Leben im Sport besonders rasch durchgeführt wurde, viele Sportler, Funktionäre und Sportjournalisten im KZ ermordet wurden und auch in den Konzentrationslagern Fußball gespielt wurde. Auch der militärischen Entwicklung kommt nur in dem Maß Bedeutung zu, als die Einberufungen die Struktur der Mannschaften wie der Besucher veränderten. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass nur die Untersuchung des Alltags unter dem Hakenkreuz den Weg dazu ebnen kann, jene Dichotomien aufzulösen, die den Umgang mit den NS-Jahren bis heute kennzeichnen. Entweder spricht man von begeisterter Massenzustimmung oder vom Schweigen und der Hilflosigkeit der Bevölkerung. Allerdings legen weite Bereiche des Alltags einen anderen Schluss nahe: Teilweise Ablehnung des Nationalsozialismus gab es in großen Teilen der Bevölkerung wie auch teilweise Zustimmung zu verzeichnen war. Das hatte besonders in jener „staatsfreien“ Sphäre Gültigkeit, die das NS-Regime für lange Zeit ausdrücklich zur Verfügung stellte; der Fußball in Wien war ein wesentlicher Bestandteil davon.179

12.5 Der Wiener Vereinsfußball von 1938-1945

Kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs war der Fußball in Wien zu einem Massenphänomen geworden. Seine Kennzeichen waren enorm steigende Zuschauerzahlen, der Bau neuer und größerer Stadien und enorm wachsende Medienpräsenz. 1924 kam es dazu, dass probeweise ein Professionalbetrieb eingeführt wurde, der dem Fußball zuerst einen immensen Wirtschaftsschub verlieh, der aber schon kurze Zeit später zum Entstehen einer „Zweiklassengesellschaft“ im Spitzenfußball führte, in dem wiederum nur wenige Vereine die finanzielle Kraft aufweisen konnten, um das Profitum durchzustehen. 1927 wurde genau für diese Spitzenklubs auf Anregung von Hugo Meisl der Mitropacup geschaffen, in dem sich die großen Wiener Klubs mit den besten Klubs aus Ungarn, der Tschechoslowakei und ab 1929 auch Italien messen konnten und damit eine riesige Publikumsresonanz auslösten.

178 MARSCHIK Matthias, In: David FORSTER / Jakob ROSENBERG / Georg SPITALER (Hrsg.). Fußball unterm Hakenkreuz in der „Ostmark“. Göttingen 2014. S. 45. 179 Ebda. S. 45f. Seite 95 von 108

Die Ära des sogenannten „Wunderteams“ in den Jahren 1931/32 hob die Begeisterung für den Fußball noch einmal und führte dem Spitzenfußball weitere Anhänger zu. Ausgedehnte Tourneen von Vereinsmannschaften und die Auswanderung zahlreicher Spieler und Trainer sogar über die Grenzen Europas hinaus ließen den Fußball zu einem wichtigen Exportartikel Wiens werden. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass nur wenige Klubs wie Rapid (Mitropacup-Sieger 1930, Finalist 1927 und 1928), Austria (Sieger 1933 und 1936), Vienna (Sieger 1931), WAC (Finalist 1931) und Admira (Finalist 1934) die finanziellen Möglichkeiten besaßen, um Spitzenfußball zu betreiben und circa 60 Spieler blendend und weitere 100 einigermaßen vom Fußball leben konnten. Trotzdem war die Fußballeuphorie in Wien gewaltig, auch wenn immer lautere Kritik am Profifußball geübt wurde.180

12.6 Über die sogenannte „Wiener Resistenz“

Wenn man den Blick auf ein paar Jahre danach lenkt, zeigt sich, dass das zunehmende Fehlen bekannter Spieler für den massiven Zuschauerrückgang verantwortlich gemacht wurde; der Schnitt sank im Herbst 1939 auf 3.200 Besucher pro Spiel. Zum gleichen Zeitpunkt war eine Zunahme von Ausschreitungen zu verzeichnen: Betroffen davon waren Ligaspiele (bei einem Spiel Wacker gegen Admira wurde der Schiedsrichter durch mit Stöcken und Steinen bewaffnete Zuschauer schwer verletzt) sowie die seltenen Spiele gegen „Altreich“- Mannschaften, beispielsweise bei dem Vorrunden-Match von Rapid um die Deutsche Meisterschaft, in welchem der Bereichsmeister im Halbfinale gegen den Dresdner SC verlor.

Zum Beispiel wurde für die Saison 1940/41 die Achterliga um den Aufsteiger FC Wien und neuerlich um zwei Provinzklubs, den Grazer SC und den Linzer ASK, aufgestockt. Im Verlauf der gesamten Meisterschaft erreichten die Linzer keinen einzigen Punkt und kassierten mit einem 0:21 bei der Austria im Jänner 1941 die bis heute höchste Niederlage in einer obersten Spielklasse in Österreich. Rapid wurde erneut Meister, dieses Mal vor Vienna und dem SC Wacker Wien. Die Saison war von einer resignativen Grundstimmung in der lokalen Meisterschaft geprägt: Regime und Vereine versuchten, gute Fußballer im Raum Wien zu stationieren und Urlauber wurden aufgefordert, ihren Klubs zumindest für kurze Zeit zur Verfügung zu stehen, jedoch kam es zu großen Lücken in vielen Mannschaften und diese

180 MARSCHIK Matthias, In: Lorenz PFEIFFER / Dietrich SCHULZE-MARMELING (Hrsg.), Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus. Göttingen 2008. S. 448. Seite 96 von 108 manifestierten sich in wechselnden Aufstellungen, schwankenden Leistungen und zahlreichen Kantersiegen und zum Teil sogar zweistelligen Ergebnissen. Schließlich wurde durch Beschlagnahmungen seitens Parteiformationen und „Kraft durch Freude“ die Zahl der Plätze immer kleiner. Im April 1941 sah man sich dazu gezwungen, ein Spiel aufgrund von Fliegeralarm abzubrechen.181

Auf der anderen Seite ist zu erwähnen, dass die Aggressivität speziell in den wenigen Spielen gegen „Altreich“-Mannschaften zum Ausdruck kam: Krieg, schlechte Versorgungslage und die vermeintliche oder tatsächliche Benachteiligung Wiens machten gerade den Fußball zu einem Ventil. Zum Beispiel kam es schon im September zu Schlägereien und zu anti- preußischen Manifestationen bei einem Spiel der Austria gegen Schalke 04 (1:4), kurz darauf führten Ausschreitungen beim Tschammer-Pokal-Match Rapid gegen SV Fürth (6:1) sogar zu einer vorübergehenden Stadionsperre, und im Bericht des Sicherheitsdienstes der SS war zu lesen, dass kein Spiel zwischen Wiener und „altreichsdeutschen“ Mannschaften ohne Zwischenfälle ablaufe. Deswegen sollte zur Beruhigung der Lage ein „Retourspiel“ zwischen Admira und Schalke beitragen, doch genau das Gegenteil trat ein: Im November 1940 machten über 50.000 Zuschauer ihrem Ärger über die „Deutschen“ Luft, und nach zwei aberkannten Admira-Toren kam es zu Schlägereien mit der Polizei, zerstörten Sitzen, eingeschlagenen Fensterscheiben beim Mannschaftsbus von Schalke und zerstochenen Autoreifen beim Fahrzeug des Wiener Gauleiters Baldur von Schirach.

Zu betonen ist, dass nur aus dieser Stimmung heraus die ungeheure Bedeutung zu verstehen ist, die ganz Wien dem Finale der Meisterschaft zwischen Schalke und Rapid zuschrieb. Nur ein Sieg konnte die Wiener Fußballseele besänftigen. Das hatte zur Folge, dass Hunderttausende Wiener das Spiel an ihren Volksempfängern verfolgten, deshalb existierten trotz des 4:3-Sieges zahlreiche Gerüchte über die Bevorzugung der Schalker Spieler, deren Sieg schon ausgemacht gewesen sei. Folgend wurde die Mannschaft auf dem Ostbahnhof dermaßen euphorisch empfangen, wobei die anwesenden Parteiführer bei ihren Reden ausgepfiffen wurden. Der einhellige Tenor war, dass sich mit dem Sieg Rapids Wien Genugtuung verschafft hatte.

Auch wenn es einige entgegenstehende Indizien gibt, wurde die Einberufung zahlreicher Rapid-Spieler zum Militär als logische Sanktion des „Altreichs“ eingeschätzt. In der folgenden Saison 1941/42 waren Rapid, Austria und Admira nicht an der Tabellenspitze zu

181 Ebda. S. 452. Seite 97 von 108 finden, sondern die Vienna, die vor dem FC Wien erfolgreich war, einem Verein, der immer für die Arbeit mit jungen Talenten bekannt war. Im Gegensatz dazu hatte die Vienna ihre Titelgewinne in den folgenden drei Meisterschaften zwei Faktoren zu verdanken: Einerseits hatte der Verein gute Kontakte zur lokalen Partei und konnte sich daher die Mitwirkung von gleich sechs Gastspielern aus dem „Altreich“ sichern, andererseits war der Kommandeur der Wiener Lazarette, Curt Reinisch, fanatischer Vienna-Anhänger. Zum Teil konnte Reinisch durch Abkommandierungen zum Sanitätsdienst, zum Teil durch fingierte Verletzungen, Spieler vor dem Fronteinsatz retten. Klar ist aber auch, dass er die besten Fußballer unter ihnen zur Vienna brachte, die sogar ins Finale um die Deutsche Meisterschaft vordrang, dort aber gegen Schalke 04 mit 0:2 verlor.182

12.7 Zur Aufrechterhaltung des Wiener Fußballs

Auffallend war, dass der Erfolgslauf der Vienna in Wien viel weniger Emotionen zur Folge hatte als jener von Rapid im Jahr davor. Der Grund dafür war nicht nur das geringe Zuschauerpotenzial der bürgerlichen Vienna im Gegensatz zum „Arbeiterklub“ Rapid, sondern der allgemeine Rückgang der Wertigkeit des Fußballs. Das zunehmende Fehlen großer Namen und der Rückgang des Leistungsniveaus waren augenscheinliche Gründe, gegenüber dem „Altreich“ konnte man in Wien von einer Pattstellung sprechen. Außerdem war jetzt der Alltag auch an der „Heimatfront“ in derartiger Weise von unmittelbaren Kriegsein- sowie auswirkungen betroffen, dass der Fußball immer weniger ein Ort der Auseinandersetzung war und sich immer mehr zu einem Ort der Aufrechterhaltung eines „kleinen Vergnügens“ entwickelte, an dem man zumindest für zwei Stunden in der Woche abschalten konnte. Interessant ist: Auch in dieser Funktion des Fußballs trafen sich die Absichten des Regimes mit denen der Aktiven und der Zuschauer.

Das bedeutete für Wien aber keinesfalls einen Schwund des Zuschauerinteresses, das Gegenteil war der Fall. Aufgrund der Tatsache, dass viele kleinere Vereine den Spielbetrieb einstellen mussten oder sich zu Kriegsspielgemeinschaften zusammenschlossen (die Anzahl der Wiener Klubs war Ende 1942 von über 200 auf etwa 65 gesunken), nahmen die Besucherzahlen bei den Matches der Bereichsklasse sogar wieder stark zu. Da die Vienna

182 Ebda. S. 453. Seite 98 von 108 auch 1942/43 den Wettbewerb überlegen für sich entscheiden konnte, pilgerten oft 20.000 und sogar oft noch mehr Fans zu den bedeutungslosen Spielen.

Doch die Ankündigung des „totalen Krieges“ sollte auch den Sport auf den lokalen Bereich beschränken, jedoch schuf die Definition des Sports als „kriegswichtiger Faktor“ Möglichkeiten, diese Vorgabe „nach Maßgabe der Möglichkeiten“ zu durchstoßen. Beispielsweise wurde im August 1943 ein großes Aufstiegsturnier in die Bereichsliga durchgeführt. Zu erwähnen ist aber die Auflösung des Sportbereiches Donau-Alpenland, dessen Resultate keine Bedeutung mehr hatten, da nur mehr eine Wiener ausgespielt werden sollte, in welche jedoch der LSV Markersdorf (ein Fliegerhorst in der Nähe von St. Pölten, in dessen Mannschaft viele prominente Wiener Spieler aktiv waren) Aufnahme fand.

Ab dem Sommer 1943 war der Fußballbetrieb von vielen Zufälligkeiten beeinflusst, von den Zuschauern wurde das relativ gleichgültig hingenommen, wenn nur überhaupt gespielt wurde. Zum letzten Mal flackerten im Herbst Momente des Wiener Lokalpatriotismus auf: Zuerst kamen im August 1943 ca. 60.000 Zuschauer zu einem Städtespiel in Berlin, das die Wiener Auswahl angeblich wegen ihrer technischen Vorteile mit 2:1 gewann; außerdem war die Begeisterung groß, als im Oktober die Vienna in Frankfurt im Halbfinale des Tschammer- Pokals den FC Schalke 04 mit 6:2 aus dem Stadion schoss und im November auch den Pokal durch ein 3:2 nach Verlängerung gegen den LSV Hamburg nach Hause holen konnte.

Allerdings waren die letzten beide Kriegsjahre auch in Wien vor allem von Zufällen bestimmt. Darunter sind zum Beispiel die Ergebnisse zu verstehen, die besonders von der Tagesverfassung und -zusammenstellung der Teams abhingen, sowie auch die organisatorischen Bedingungen, von den Meisterschaftsregulativen bis hin zur Frage, ob überhaupt noch Spiele stattfanden, was aufgrund der ständigen Fliegeralarme gleich unsicher war wie wegen der Tatsache, dass die Klubs oft nicht einmal mehr sieben Fußballer aufs Feld schicken konnten. Auf der Tagesordnung standen Absagen und Verschiebungen einzelner Spiele oder gar ganzer Spielrunden sowie Erneuerungen der Rahmenbedingungen. Trotz der Auflösung der Sportbereiche und der Verringerung der Meisterschaften auf der Gauebene machte man am Beginn eine Ausnahme für den LSV Markersdorf. Schließlich ging man daran, im Jänner 1944 eine neue Oberliga einzuführen und ein komplexes Aufstiegsturnier für eine neue Bereichsliga zu entwickeln, welches aber nicht mehr zur Durchführung kam, weil

Seite 99 von 108 ab 1944/45 dann doch eine nur aus Wiener Vereinen bestehenden Gauklasse durchgeführt wurde.183

Auch die Meisterschaft von 1943/44 wurde von der Vienna beherrscht, da sie noch immer auf die größte Zahl an guten Fußballern zurückgreifen konnte und legal wie auch illegal die größte Unterstützung erfuhr. Derartige illegale Aktivitäten waren bei allen Vereinen gang und gäbe, um den Betrieb überhaupt am Laufen zu halten. Aufgrund der Erleichterungen bei den Übertrittsbestimmungen kam es dazu, dass viele aktive Fußballer mehrere Spielerpässe auf verschiedene Namen besaßen und deshalb bei mehreren Klubs spielen durften, während im Gegenzug offiziell schwer verletzte oder verwundete Männer am Sonntag, um Fußball spielen zu können, die Lazarette verließen, zwar ohne Erlaubnis, aber mit dem Wissen der Verantwortlichen, die dafür eine Flasche Wein oder 20 Eintrittskarten bekamen.

Selbst als die Theater und Gasthäuser längst geschlossen waren, wurde in Wien noch dem Fußball gefrönt, auch wenn dafür von den Akteuren und Anhängern stundenlange Märsche zum Sportplatz in Kauf genommen werden mussten, weil der öffentliche Verkehr zum Erliegen gekommen war. Schließlich wurde die Herbstmeisterschaft 1944 erst im März 1945 abgeschlossen, und die Frühjahrsrunde konnte am 27. März mit einer Doppelveranstaltung vor 8.000 Fans in Hütteldorf eingeläutet werden: Die Austria gewann gegen Oberlaa mit 5:0 und Rapid verlor gegen den FAC mit 1:2. Der Zeitzeuge Robert Blauensteiner schrieb: „Das Spielfeld war in gutem Zustand, nur am Rande gab es einige Bombentrichter. Viele Verwundete und Soldaten, jung und alt waren dankbar für diese Abwechslung“.184

Am 3. April 1945 fand das letzte Spiel unter dem NS-Regime statt: Der WAC schlug die Austria mit 6:0, als man vom Süden Wiens her schon die sowjetische Artillerie feuern hören konnte. Zehn Tage darauf war der Kampf um Wien geschlagen und die Sowjets gestalteten in der zerstörten Stadt eine bescheidene Feier anlässlich des 1. Mai. Nach den vormittäglichen Aufmärschen pilgerten tausende Wiener nach Ottakring, um bei einem Fußballspiel einer Mannschaft der Roten Armee gegen eine Wiener Auswahl dabei sein zu können, die schon vom alten und neuen Wiener Fußball-Verband organisiert wurde.

183 Ebda. S. 454. 184 Ebda. S. 455. Seite 100 von 108

13. Resümee

Ich hoffe, dass es mir mit meiner Masterarbeit gelungen ist, einen guten und fundierten Überblick über die historische Entwicklung des Fußballs im deutschsprachigen Raum von 1918 bis 1945 zu geben. Ein zentrales Anliegen war es für mich, die unterschiedliche Entwicklung des Fußballs vom Amateur- zum Profisport darzustellen und dabei auf die Unterschiede in der Schweiz, Österreich und Deutschland hinzuweisen. Weitere Aspekte, mit denen ich mich beschäftigt habe, waren die Haltung der Vereine im Nationalsozialismus im Vergleich zwischen Deutschland und Österreich, die Rolle des Arbeiterfußballs und des jüdischen Fußballs im deutschen Sprachraum.

Der Fußballsport hat seine Wurzeln in Großbritannien und kam von dort in den deutschen Sprachraum. Für Deutschland und Österreich ist dabei nicht zu vergessen, dass der Fußball auch aus der Turnsportbewegung heraus entstand. Um die Wandlung des Amateur- zum Profifußball zu verstehen, ist zu beachten, dass der Deutsche Fußball Bund (DFB) für das Amateurideal eintrat. Gründe dafür waren vielfach ökonomische Interessen, der DFB ging vehement gegen den „Bezahlfußball“ vor. Wichtig zu erwähnen ist auch, dass der DFB kurz nach seiner Gründung in seiner Satzung den sogenannten Amateurparagraphen verankerte, der in Anlehnung an die Statuten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) jeden Fußballer als Berufsspieler deklarierte, der für seine Leistung Geld oder Zuwendungen in Naturalienform bekam. Innerhalb des DFB waren immer weltanschauliche Fragen bei der Untermauerung des Amateurgedankens von oberster Priorität. Zu betonen ist, dass DFB- Präsident Felix Linnemann unter dem Deckmantel der „fortschreitenden Kommerzialisierung“ sagte, dass der DFB deshalb gegen den Professionalismus vorgehe. Tatsache ist, dass Fußballprofis zur damaligen Zeit weit weniger als heutzutage verdienten, aber damals war es auch üblich, dass Spieler verdeckte finanzielle Zuwendungen erhielten.

Bezogen auf die Amateur-Professionalismus-Debatte im damaligen Fußball: Die ökonomische Situation des Wiener Fußballs vor dem März 1938 war von einer Stabilisierung des 1924 eingeführten Professionalbetriebes geprägt. Allerdings kann man diese Stabilisierung auch als Gesundschrumpfung bezeichnen. Denn für die österreichischen Klubs war es schwer, vom Fußball zu leben, es kann nur von circa sechs bis acht Vereinen gesprochen werden, die vom Profibetrieb relativ gut leben konnten, wenn auch die Ausschöpfung vieler Ressourcen vonnöten war, insbesondere für die ausgedehnten Auslandsreisen und Tourneen in ganz Europa, Nordafrika, aber auch nach Amerika und in Seite 101 von 108 den Nahen Osten. Zu erwähnen ist nämlich, dass der Rest der etwa 30 im Profifußball vertretenen Vereine mehr schlecht als recht über die Runden kam. Jedoch hatte auch der Amateurfußball seine Tücken. Denn mit der Entscheidung von 1940, den Fußball auf Amateurbasis zu führen, war man zumindest in Wien absolut nicht einverstanden.

Im Schweizer Fußball übernahm 1929 der Präsident des Fußballklubs Young Boys Bern, Otto Eicher, ein gegenüber dem Fußball aufgeschlossener Funktionär, das Zentralpräsidium des Fußball- und Athletikverbandes. Zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise erwies sich der Berufsfußball schon nach kurzer Zeit als defizitäres Geschäft: Meister Servette Genf war 1935 mit einer Viertelmillion Franken verschuldet. Außerdem kamen die Zuschauer nicht wie erhofft in Massen in die neu gebauten Stadien; mit einem Zuschauerschnitt von nur 4.400 Personen pro Spiel lagen die Young Boys Bern 1934 an der Spitze der Nationalliga. Auch durch die Einführung des Sporttotos 1937/38 konnte die defizitäre Entwicklung nicht gestoppt werden. Somit stellte sich die Situation so dar, dass der Berufsfußball von mehreren Seiten immer mehr in die Kritik geriet. Man sieht an den genannten Beispielen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, dass die Entwicklung des Fußballs vom Amateur- zum Profifußball zu heftigen Diskussionen führte und es für die Vereine eine schwierige Entscheidung war, welches Ideal für sie erstrebenswert war.

Zum Arbeiterfußball ist zu sagen: Die Arbeiter mussten sich, wie auf anderen Gebieten auch, den Zugang zum Fußball erst erkämpfen. Im Zuge dieser Auseinandersetzung entwickelte sich in Großbritannien eine noch heute wirksame Ideologie; es kam zur Erfindung des „Amateurs“. Die „Entstehung des Amateurideals“ war ein Ausdruck der Klassenspannung im Sport. Folglich kann man davon sprechen, dass der Fußballspieler als „Vertreter der Arbeiterklasse“ angesehen wurde. Als gutes Beispiel dafür eignen sich der Ruhrpott in Deutschland und der Arbeiterverein Schalke 04. Man sieht, dass der Fußball seine Ursprünge auch im Arbeiterfußball bzw. in der Arbeiterbewegung hatte. Als Beispiel sind Fabrikarbeiter zu nennen, die zu „Fußballprofis“ wurden, sie durften aber nur mit der Unterstützung ihrer Fans aus dem Viertel rechnen, wenn sie nicht arrogant wurden, den Kontakt mit den Anhängern suchten und sich ihrer Wurzeln immer bewusst blieben.

Wenn man das Thema der Haltung der Vereine im deutschsprachigen Raum im Nationalsozialismus betrachtet, ist zunächst zu sagen, dass es schwierig ist, von einem reinen „Nazi-Verein“ zu sprechen, da es vielfältige Aspekte zu berücksichtigen gilt, die unter dem Motto „Zuerst der Verein, dann die Partei“ zusammenzufassen sind, das für Deutschland und Österreich Gültigkeit hat. Nichtsdestotrotz kann man den FC Schalke 04 und den TSV 1860 Seite 102 von 108 zu den „Nazi-Vorzeigevereinen“ rechnen, die sich schon früh vom NS-System instrumentalisieren ließen. Ein anderes Bild zeichnet sich beim FC Bayern München ab, der damals oft als „Judenklub“ bezeichnet wurde und für seine Internationalität bekannt war, aber daher auch massiv unter dem NS-Regime zu leiden hatte.

Zum jüdischen Fußball in Österreich und Deutschland ist zu sagen, dass es den Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts recht gut erging, die Situation änderte sich aber abrupt mit Beginn des Nationalsozialismus im Jahr 1933. Ins Bewusstsein zu rufen ist, dass insgesamt mehr als 65.000 österreichische Juden dem Holocaust zum Opfer fielen, mehr als 120.000 Menschen jüdischer Herkunft wurden vertrieben. Auch im Fußball hatten Juden unter dem Antisemitismus der Nationalsozialisten zu leiden, denn im April 1938 ging man daran, den Vorstand Austria Wiens seines Amtes zu entheben; Präsident Schwarz wurde als Jude festgenommen. In der Folge wurde auch der Vereinsname auf SC Ostmark geändert. Allerdings erreichte man im Juli 1938 die Rückbenennung auf den Traditionsnamen Austria. Weitere Folgen der NS-Herrschaft waren, dass die Resultate des jüdischen Fußballvereins Hakoah in der laufenden Meisterschaft annulliert und sämtliche jüdischen Spieler von der Meisterschaft ausgeschlossen wurden. Wenn ein Jude Fußballspieler war, hatte er viel bessere Chancen, den Zweiten Weltkrieg zu überleben. Beispiele belegen, dass mitunter jüdische Sportler von nichtjüdischen, sogar von nationalsozialistischen Sportlern gewarnt und somit gerettet wurden.

Wenn man den Blick auf Deutschland und den FC Bayern München lenkt, kann man vom falschen Umgang mit der richtigen Geschichte sprechen. Denn im Gegensatz zu MTK Budapest oder Austria Wien wird der FC Bayern heute kaum als „Judenklub“ bezeichnet. Ein „Judenklub“ ist für rechtsextreme Bayern-Fans etwa Ajax Amsterdam, aber nicht der eigene Verein. Tatsache ist, dass die NS-Zeit beim FC Bayern einen erheblich schärferen Einschnitt als bei anderen Vereinen bewirkte, die von ihrer Geschichte her ähnlich gelagert waren. Ein weiterer Grund dafür dürfte die im Vergleich zu einigen anderen deutschen Großstädten geringere Prägekraft jüdischer Lebenswelten in München gewesen sein, die auch eine kleinere Hinterlassenschaft zur Folge hatte.

Ich gehe nun auch auf den Vergleich zwischen den Vereinen in Österreich und in Deutschland ein. Dabei ist der „Wiener Fußball“ zu erwähnen, der eine eigene Fußballkultur und eine eigene Fußballschule bildete, zwar unter dem Deckmantel der NS-Herrschaft. Auch die Wiener Vereine wurden von den Nazis instrumentalisiert, aber der Wiener Fußball blieb auch während der NS-Herrschaft bestehen. Charakteristisch für die österreichische Identität war die Seite 103 von 108

Hauptstadt Wien, denn dort konnten vor allem im Fußball „anti-preußische Tendenzen“ ausgelebt werden, die sich in den Spielen von Vereinen aus dem Altreich gegen Vereine aus der „Ostmark“ zeigten. Auf der Ebene des Fußballs war es den österreichischen Fußballanhängern möglich, im Stadion ihre Abneigung gegen das nationalsozialistische System zu zeigen und damit Widerstand auszuüben.

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14. Literaturverzeichnis

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