KULTUR

OÖ. HEIMATBLÄTTER 2006 HEFT 3/4 Beiträge zur Oö. Landeskunde I 60. Jahrgang I www.land-oberoesterreich.gv.at I 2006 HEFT 3/4 OÖ. HEIMATBLÄTTER HEIMATBLÄTTER OÖ.

60. Jahrgang 2006 Heft 3/4 Herausgegeben von der Landeskulturdirektion

THEMEN AUS DER LANDESKUNDE

Erwin Maria Ruprechtsberger / Peter Trebsche: Archäologische Sondierungen in der Klammstraße und beim Theatercasino in 103 Waltraud Faißner: Linzer Turdten zu machen Zur Auffindung der bislang ältesten Rezepte der Linzer Torte 114 Eberhard Krauß: Vertreibung, Flucht, Migration Exulanten aus Peuerbach in Franken, Schwaben und anderswo 123 Michael Kurz: Von der Grundherrschaft zur Tourismusdestination 350 Jahre „Salzkammergut“ 139 Thomas Schwierz: Der „Steinerne Engel“ von 153 Franz Gillesberger: Jungfernfahrt vor 100 Jahren – die Waldbahn Offensee 163

LEBENSBILDER – MENSCHENBILDER

Reinhold J. Dessl: Ein Mühlviertler als Hauslehrer in Czernowitz Das Lebensschicksal des Dr. Josef Dessl in der ausgehenden Donaumonarchie 169 Helga Passon: Deutsche Kinderjahre im Mühlviertel Oder: Die Genesis einer Prägung 177

„objektiv subjektiv“ DAS FORUM DER MEINUNGEN

William Mason: Heimat – in vielen Gegenden Zur Analyse eines Begriffs 200 Rainer Reinisch: Die „organisch gewachsene“ alte Stadt? 209

BUCHBESPRECHUNGEN 213

101 Mitarbeiter:

Univ.-Prof. Dr. Erwin Maria Ruprechtsberger Nordico – Museum der Stadt Linz Dametzstraße 23, 4020 Linz

Dr. Peter Trebsche Liechtensteinstraße 66/11, 1090 Wien

Waltraud Faißner OÖ. Landesmuseen – Bibliothek Medieninhaber: Land Oberösterreich Museumstraße 14, 4010 Linz Herausgeber: Landeskulturdirektion Dipl.-Theol. Pfarrer i. R. Eberhard Krauß Zuschriften (Manuskripte, Besprechungsexem- Aufseßplatz 9, D-90459 Nürnberg plare) und Bestellungen sind zu richten an den Schriftleiter der OÖ. Heimatblätter: Dr. Michael Kurz Camillo Gamnitzer, Landeskulturdirektion, Pro- Studienzentrum Basis menade 37, 4021 Linz, Tel. 0 73 2 / 77 20-1 54 77 4822 Bad Goisern 650 E Jahresabonnement (2 Doppelnummern) 2,– Dr. Thomas Schwierz (inkl. 0 % MwSt.) Lichtenberger Straße 96, 4201 Hersteller: Druckerei Rudolf Trauner GesmbH & Dr. Franz Gillesberger Co KG, Köglstraße 4, 4021 Linz Bahnhofstraße 41, 4802 Grafische Gestaltung: Mag. art. Herwig Berger, Steingasse 23 a, 4020 Linz Dr. P. Reinhold J. Dessl, OCist Marktstraße 1, 4201 Gramastetten Für den Inhalt der einzelnen Beiträge zeichnet der jeweilige Verfasser verantwortlich Helga Passon Hordenbachstraße 45, D-42369 Wuppertal Alle Rechte vorbehalten William Mason Für unverlangt eingesandte Manuskripte über- Ahorn 17, 4183 Traberg nimmt die Schriftleitung keine Haftung Arch. Dipl.-Ing. Rainer Reinisch ISBN 3-85393-003-4 Lerchenfeldgasse 51, 5280 Braunau

Titelbild: Linzer Turdten zu machen (Beitrag Faißner).

102 Archäologische Sondierungen in der Klammstraße und beim Theatercasino in Linz

Von Erwin M. Ruprechtsberger* und Peter Trebsche*

Einleitung

Mit dem derzeitigen Tiefgaragen- schichtsträchtigen Boden im Bereich boom im inneren Stadtbereich von Linz Klammstraße und Theater, also in näch- wird dem gesetzlichen Auftrag des öster- ster Nähe der Promenadentiefgarage, reichischen Denkmalschutzgesetzes ent- angestellt werden konnten. Die Sondie- sprechend auch die archäologische Bo- rungen, auf Ersuchen des Bundesdenk- denforschung aktiv, die bei früheren malamtes, Landeskonservatorat für Vorhaben vergleichbarer Größenord- Oberösterreich, vom Nordico (Museum nung, etwa beim Bau der Tiefgarage un- der Stadt Linz) durchgeführt, standen ter dem Linzer Hauptplatz, sträflich miß- unter der Leitung von P. Trebsche.2 Den achtet worden war. Anläßlich kleinerer beiden Verfassern schien die Vorlage der Baumaßnahmen war es dagegen immer Befunde insofern wichtig, als sich diese wieder möglich, archäologische Sondie- mit den zu erwartenden Ergebnissen an rungen an neuralgischen Stellen in Linz der Promenade vermutlich in einen to- vorzunehmen. Diese haben im Lauf eini- pographischen Zusammenhang einord- ger Jahrzehnte unsere historischen Er- nen lassen dürften, worauf zu einem spä- kenntnisse wesentlich bereichert und die teren Zeitpunkt vielleicht eingehender Siedlungsentwicklung der Stadt in Kon- Bezug genommen werden kann, sobald turen deutlich werden lassen – beson- eine erste Auswertung der Promenaden- ders im Hinblick auf die urgeschichtliche Grabung vorliegt. und römerzeitliche Phase.1 Vorwiegend letztere stand im Blickpunkt öffentlichen Interesses, als die Planung einer Tiefga- rage unter der Promenade unmittelbar * Die Autoren beharren auf Beibehaltung der alten Rechtschreibung. südlich des Linzer Landhauses ihrer Rea- lisierung entgegensah. Die zuvor not- 1 Vgl. die Zusammenfassung von E. M. Rup- wendigen Ausgrabungen durch das rechtsberger, Vor- und Frühgeschichte von Linz Denkmalamt begannen im Frühjahr – eine Übersicht, in: Die profanen Bau- und 2006 – mit geplantem Abschluß bis zum Kunstdenkmäler der Stadt Linz III, bearbeitet v. H. Thaler u. a., ÖKT 55 (Horn 1999) [2001], Spätsommer. E 81–E 107. Über Einzelergebnisse informiert die Von früheren archäologischen Son- vom Nordico herausgegebene Schriftenreihe dierungen in der Nähe jetzt abgesehen, „Linzer Archäologische Forschungen“. seien aktuelle Beobachtungen kurz be- 2 FÖ 40 (2001), 667. Für die restauratorische Be- treuung der Funde und seine Mitarbeit ist schrieben, die anläßlich baulicher Ein- Herrn F. Gillmayr, Restaurierwerkstätte der Stu- griffe in den (wie aufgrund der Arbeiten diensammlung des Nordico, herzlich zu dan- der Vorgänger zu erahnen war) ge- ken.

103 Abb. 1: Linz, Klammstraße 14. Schematisierte Profile der Baugrube (M = 1 : 40).

Beobachtungen in der Klammstraße 14 Südprofil schräg abgeböscht, da von der Straße aus gebaggert wurde. Im 2,3 m Im März 2001 wurde die Ausschach- hohen Nordprofil bestand die oberste tung des Kellers für einen Neubau in der Schicht aus etwa 0,4 m mächtigem, an- Klammstraße 14 überwacht. Der voran- planiertem Schutt mit zahlreichen Stei- gegangene Abbruch eines kellerlosen nen, Ziegelbruchstücken und Mörtel- Gebäudes gab Anlaß zur Hoffnung, im resten sowie neuzeitlicher Keramik und nächsten Umkreis bekannter römischer Ofenkacheln. Auf ihm lag der Fußboden Fundstellen beim Landestheater und in des abgebrochenen Hauses etwa 0,8 m der Spittelwiese auf archäologische Be- unter dem Niveau des heutigen Gehstei- funde zu stoßen.3 Mit dem Einverständ- ges. Darunter schloß ein 1,3 m dickes nis und der Unterstützung der Firma Lehmpaket an, welches sich in zwei „Aktiv Bau“ konnte die 8 mal 8 m große gelbe (0,8 m und 0,2 m) und eine etwas Baugrube während des maschinellen dunklere Schicht dazwischen (0,3 m) Aushubes sorgfältig auf archäologische unterteilen ließ. Es enthielt Knochen, Reste untersucht werden. Die geborge- Ziegelbruch, Schlacken, Holzkohle, nen Funde sind im Museum der Stadt Eisennägel, Schwarzhafnerware, neuzeit- Linz aufbewahrt. liche glasierte Keramik und das Frag- Die Stratigraphie des Fundplatzes ment eines römischen Henkels. Unter soll anhand des Nord- und Westprofils der Baugrube, die etwa in der Mitte der Parzelle liegt, beschrieben werden 3 Siehe P. Karnitsch, Die römischen Kastelle von Lentia (Linz), LAF Sh 4/2 (Linz 1972), Planbei- (Abb. 1). Das Ostprofil war bereits zuvor lage. Zu weiteren Funden vgl. J. Reitinger, Die zur statischen Sicherung des angrenzen- ur- und frühgeschichtlichen Funde in Ober- den Gebäudes betoniert worden, das österreich (Linz 1968), 260 f.

104 Abb. 2: Funde aus der Baugrube Klammstraße 14 (M = 1 : 2). dem Lehmpaket befand sich eine minde- ganzen Länge war zuoberst die 1,2 m stens 0,6 m mächtige dunkelgraubraune hohe Innenseite der abgebrochenen Ge- Schicht mit relativ vielen römischen Fun- bäudemauer zu sehen, die aus unregel- den, großen Holzkohleresten, Knochen mäßig verlegten Bruchsteinen und Zie- und zahlreichen Mörtelspuren. Sie lag geln mit Kalkmörtel bestand. Darunter wiederum, was auf der Sohle der Bau- befand sich in den südlichen zwei Drit- grube festgestellt werden konnte, auf ei- teln des Profils eine homogene, dunkel- ner gelben Lehmschicht auf. Leider ließ graue, 0,2 m mächtige Schicht. Ihre flä- sich nicht klären, ob mit ihr bereits der chige Ausdehnung blieb unklar, es anstehende Boden erreicht war oder ob könnte sich um eine Füllung des Funda- – möglicherweise unter weiteren Lehm- mentgrabens der Mauer handeln. Das schichten – noch prähistorische Reste er- darunterliegende Lehmpaket in der halten sind. Dicke von 1,0 bis 1,2 m bestand wie im Das 3,2 m hohe Westprofil schließt Nordprofil aus zwei gelben Schichten, oben an das Gehsteigniveau an. In seiner welche eine dunklere Schicht einschlos-

105 sen. Die dunkelgraubraune Schicht er- späte 1. und den Beginn des 2. Jahrhun- reichte im Westprofil, das etwas tiefer derts n. Chr. ausgebaggert wurde, eine Mächtigkeit Zusammenfassend läßt sich zur Be- von 0,8 m. siedlungsgeschichte des Grundstückes Klammstraße 14 festhalten: Das römi- In der Fläche wurden nur wenige Be- sche Niveau zeichnet sich erst in einer funde erfaßt. In den obersten Planier- Tiefe von 2,4 m unter dem heutigen schutt war das Fundament einer Quer- Gehsteigniveau in Form einer dunkel- mauer parallel zur Klammstraße einge- graubraunen Schicht, des erodierten Re- tieft, welche das abgerissene Haus etwa stes der Kulturschicht aus dem 1./2. Jahr- in der Mitte unterteilte. In der untersten, hundert n. Chr., ab.6 Als einziger Befund dunkelgraubraunen Schicht fand sich, ist eine 0,8 m große Grube zu nennen. rund einen Meter vom Süd- und vom Die aufliegenden Lehmablagerungen Westprofil entfernt, eine Grube von mit einer maximalen Mächtigkeit von 0,8 m Durchmesser und einer Tiefe von 1,3 m stellen holozäne Schwemmfächer 0,15 m, deren Füllung sich durch die aus den quartären Lößlehmen des Bau- dunkelgraue Farbe und sehr viele Holz- ernberges und des Römerberges dar,7 kohlereste abzeichnete. die aufgrund der eingeschlossenen In der römischen Schicht geben Zie- Funde zumindest teilweise in die frühe gelbruchstücke, darunter auch Dachzie- Neuzeit datierbar sind. Nach erfolgter gel und Wandheizungsziegel, Mörtel- Bodenbildung wurde das Grundstück reste und Hüttenlehmfragmente Hin- mit Bauschutt planiert und ein kellerlo- weise auf die einstige Verbauung. Er- ses Gebäude errichtet, dessen erster Be- wähnt werden sollen außerdem ein sitzerwechsel in den Grundstücksver- Wandstück late`nezeitlicher Graphitton- keramik ohne Verzierung, das Rand- stück eines Auerbergtopfes mit dreiecki- 4 Form 2 c nach C. Flügel, Der Auerberg II. Die 4 römische Keramik, MBV 47 (München 1999), gem Randprofil (Abb. 2/5), die Reste 82. Vgl. E. M. Ruprechtsberger, Ausgrabungen zweier orangetoniger Becher mit Innen- im antiken Lentia: Die Funde aus Linz – Tiefer kehlung5 (Abb. 2/1.3), Randstücke Graben/Flügelhofgasse, LAF 20 (Linz 1992), Taf. zweier Kragenrandschalen (Abb. 2/4) so- 30/4. 5 wie ein Wandfragment einer Terra-Sigil- R. Kastler, Martinskirche Linz – Die antiken Funde (Grabungen 1976–1979), LAF 31 (Linz lata-Schüssel Drag. 37 und das Fragment 2000), S. 28–36, Taf. 7/91, 15/158–160. eines Bechers Drag. 27. Als besonders 6 Analoge Beobachtungen zu Tiefe und Ausse- qualitätvoll ist der Boden einer feinen, hen der römischen Schicht sowie zur fehlenden dünnwandigen Lampe (Abb. 2/6) zu be- Verbauung dieses Bereiches im antiken Linz zeichnen. Aus der Grube konnten das konnten bereits in den am nächsten westlich lie- genden archäologischen Aufschlüssen gemacht Fragment eines zylindrischen Webge- werden: W. Podzeit, Bericht über eine Notgra- wichtes aus Ton, das Randstück einer bung in Linz (Hirschgasse): JbOÖMV 110 Dreifußschale (Abb. 2/2), ein Wandstück (1965), 168–170. Ders., Eine Notgrabung in kammstrichverzierter Auerbergware Linz: PAR 15 (1965), 9 f., E. M. Ruprechtsberger, Zur Westmauer des Steinkastells von Lentia und der Rand eines Kruges (Abb. 2/7) (Linz): PAR 31 (1981), 17 f. geborgen werden. Dieses in Linz gut 7 J. Schadler, Geologische Karte von Linz und bekannte Fundspektrum weist in das Umgebung, Linzer Atlas 6 (Linz 1983).

106 Abb. 3: Linz, Theatercasino: Südostprofil der Baugrube für einen Weinkeller. Aufnahme von Norden.

107 Abb. 4: Linz, Theatercasino: Blick in Richtung Osten auf das Mauerwerk des Casinokellers. zeichnissen für das Jahr 1720 beurkun- mit welchen Strukturen gerechnet wer- det ist.8 den kann.12 Vor allem auch im Hinblick Sondierung beim Linzer Theatercasino Im Mai 2001 wurde eine ca. 4 mal 8 H. Kreczi, Linzer Häuserchronik (Linz 1941), 352, Nr. 711. 7 m große Aushubgrube für einen Kel- 9 Dazu E. M. Ruprechtsberger – P. Trebsche: lerzugang im Bereich des Theatercasinos FÖ 40 (2001), 667 f. Dies., Archäologische Son- an der Promenade (Westseite des Kom- dierung beim Theatercasino in Linz: AÖster- plexes zwischen den Häusern Prome- reich 12 (2001), 21–23. 10 nade Nr. 31 und 39) begutachtet.9 Die A. Wied (Bearb.), Die profanen Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Linz. Die Altstadt, bis ca. 4 m Tiefe ausgebaggerte Grube ÖKT 42/1 (Wien 1977), 382–395. H. Kreczi, schließt unmittelbar südwestlich an die a. O., Planbeilage (Nr. 295); Stich aus 1742 Kellermauer des Casinos aus der Zeit (Reithschul). F. Mayrhofer – W. Katzinger, Ge- um 1700 bei der einstigen Reitschule10 an schichte der Stadt Linz 1 (Linz 1990), 359, 373. 11 (Abb. 3–4). Das Gelände beansprucht P. Karnitsch (Anm. 3), 28 f., Taf. 108, Planbei- lage. vor allem deshalb Interesse, weil der ge- 12 P. Karnitsch, a. O. 28, stieß bereits ab 1,10 m samte Bereich des Landestheaters als Tiefe auf die röm. Kulturschicht. Daß durch die vermeintlicher Standpunkt eines römi- Sondierung – es ist von max. 2 m Tiefe die Rede schen Kastells aus dem 1. Jahrhundert – der gewachsene Boden erreicht worden war, 11 scheint ausgeschlossen. Dort, wo die vermute- n. Chr. postuliert worden war. Unab- ten Kastellgräben sein sollten (s. Planbeilage hängig von der seinerzeitigen Grabungs- a. O.), zeigten sich andere Befunde (s. Bericht interpretation sollte überprüft werden, oben).

108 Abb. 5: Linz, Theatercasino: Südostprofil der Baugrube mit Eintragung der Schichten. Schicht 1: graugrüner, kompakter, anstehender Lehm Schicht 2: dünnes Band aus Kieseln (5 cm) und Mörtel, Stärke 0,02 m Schicht 3: grauer, homogener, kompakter Lehm mit grünen Schlieren Schichtkante 4: Grube (Fundamentgrube?), von der Baugrube in ungünstigem Winkel geschnitten, vertikale Wände, ebene Sohle, gerade Kante auf 0,8 m Länge ungefähr in O-W-Richtung dokumentiert, Breite nicht feststellbar, erhaltene Tiefe 0,7–0,9 m Schicht 5: dunkelgrauer, kompakter Lehm mit roten Schlieren, unterste Schicht in Grube 4

109 Schicht 6: dunkelgrauer, lockerer Lehm mit Granitbruchsteinen (bis 20 cm) und Mörtelresten, Füllung der Grube 4 Schicht 7: Band aus weißem Mörtel, Stärke ca. 0,1 m Schicht 8: hellrosa Schotterschicht (Steine bis 3 cm Größe), Stärke 0,05–0,07 m Schicht 9: dunkelgrauer Lehm, Stärke 0,1 m Schicht 10: Mörtelband mit glatten Verputzstücken und Steinchen (bis 2 cm), Stärke 0,1 m Schicht 11: hellbrauner, homogener Lehm Schichtkante 12: Pfostenloch, Durchmesser ca. 0,4 m, erhaltene Tiefe ca. 0,25 m Schicht 13: dunkelbraune Schicht, Füllung des Pfostenloches 12 Schicht 14: dunkelbraune Planierschichten mit Bruchsteinen und Ziegelfragmenten Mauer 15: Westkante der Mauer des angrenzenden Kellers auf die neuralgische Position innerhalb Oberkante der Grube lag in 3,0 bis 3,2 m eines zweifellos fundträchtigen Gelän- Tiefe. Oberhalb durchzogen eine 0,1 m des, das bei einer eventuellen Erweite- starke Strate aus weißem Mörtel, be- rung des Landestheaters archäologisch deckt von einer dünnen Schotterschicht berücksichtigt werden muß. und dunkelgrauem Lehm, und ein eben- Die Nordostwand der Baugrube falls 0,1 m dickes Band aus glatten Ver- wurde durch die erwähnte Kellermauer putzstücken und Steinchen das gesamte gebildet. Das gegenüberliegende Profil Südostprofil (mittlere Tiefe 2,8 bis war schräg abgeböscht und für archäo- 3,2 m). Auf den Mörtelschichten lag hell- logische Beobachtungen ungeeignet. brauner, homogener Lehm mit buckeli- Nur das 3,9 m tiefe Südost- und das ger Oberfläche und einer Mächtigkeit 3,6 m tiefe Nordwestprofil konnten ge- von 0,2 m, in den ein Pfostenloch zeichnet und photographisch dokumen- (Durchmesser 0,4 m) 0,25 m einge- tiert werden (Abb. 5–6). Alle Tiefenanga- tieft war. In den obersten 2,5 m des ben beziehen sich auf das Betonfunda- Profils zeigte sich eine dunkelbraune, ment der Casinoterrasse. Im Südosten neuzeitliche Planierschicht mit zahl- stand zuunterst graugrüner, kompakter reichen Bruchsteinen und Ziegelfrag- Lehm an, der von einem dünnen Band menten. aus Kieseln und Mörtel in 3,4 m Tiefe Die Stratigraphie im Nordwestprofil von einer weiteren grauen Lehmschicht ist weitgehend analog aufgebaut. Dem mit grünen Schlieren getrennt war. Die untersten Kiesel- und Mörtelband im darin sichtbare, maximal 0,9 m tiefe Südosten könnte hier ein schmales, dun- Grube mit senkrechten Wänden und kelbraunes Band in 3,2 m Tiefe entspre- ebener Sohle wurde in ungünstigem chen. Auf dem dunkelgrauen, kom- Winkel von der Baugrube geschnitten, pakten Lehm lagen ein hellgelbes und sodaß ihre Breite nicht feststellbar war. ein weißes Mörtelband, getrennt von ei- Möglicherweise handelt es sich um den ner dunkelbraunen Schicht mit Ziegel- Fundamentgraben einer ungefähr in fragmenten und etwas Mörtel. Es folgt Ost-West-Richtung verlaufenden Mauer. ab 2,4 m Tiefe die neuzeitliche Planier- Auf seiner Sohle befand sich dunkel- schicht, die sich in diesem Profil durch grauer Lehm mit roten Schlieren, dar- ein mittelbraunes Mörtelband gliedern über eine Verfüllschicht aus lockerem läßt, welches in 1,4 m Tiefe den Mörtel- Lehm mit Gneisbruchsteinen und Mör- spuren an der Kellerwand knapp unter- telresten bzw. Verputzfragmenten. Die halb der Fenster entspricht.

110 Abb. 6: Linz, Theatercasino: Nordwestprofil der Baugrube mit Eintragung der Schichten (schemati- sierte Darstellung). Schicht A: dunkelgrauer, kompakter Lehm Schicht B: dunkelbraunes Band, Stärke 0,02–0,03 m Schicht C: dunkelgrauer, kompakter Lehm Schicht D: hellgelbe Mörtelschicht, Stärke 0,05–0,1 m Schicht E: dunkelbraune Schicht mit Ziegel- fragmenten und etwas Mörtel, Stärke 0,4 m Schicht F: weiße Mörtelschicht mit Steinen (2–5 cm), Stärke 0,05–0,2 m Schicht G: braune Schicht mit Steinen und Ziegelfragmenten

Zusammenfassend ließ sich trotz der Beengtheit der Baugrube anhand der Stratigraphie eine mehrphasige römi- sche Bautätigkeit dokumentieren, deren chronologischer Rahmen durch einige Funde ungefähr eingegrenzt wird. So stammen aus der Verfüllung der Funda- mentgrube im Südprofil beispielsweise die Fragmente einer Schale mit Horizon- talrand (Abb. 7/6), Randstücke eines Bechers mit markant ausgeprägter Schulter und eines Bechers mit Schrägrand (Abb. 7/3–4), eines dünn- wandigen Kruges (oder einer Amphore) mit orange-brauner Zonalbemalung13 und – für die Datierung von primärer Bedeutung – die Fragmente eines Be- chers Drag. 27 mit Bodenstempel MMORM = M(E)MOR(IS) M(ANV) südgallischer Provenienz aus dem

13 Vgl. z. B. E. M. Ruprechtsberger (Anm. 4), Taf. 13, 15 f., 42 f. J. Stellnberger, Die römerzeit- lichen Funde von der Druckerei Wimmer, Pro- menade 23, ungedr. Dipl.-Arb. Univ. Salzburg (1996), Taf. 15/3, 5; 21 f.

111 Abb. 7: Linz, Theatercasino: Auswahl an römerzeitlicher Keramik (M = 1 : 2 mit Ausnahme des Stempel- abdrucks Nr. 1 in natürlicher Größe).

112 1. Jahrhundert14 (Abb. 7/1). In den Mör- ten und Funden zu rechnen ist. Dem telstraten über der Ausrißgrube fanden gehobenen Fundmaterial nach zu schlie- sich neben Fragmenten grauer und ßen, datieren die Siedlungsreste frühe- beiger Grobware – darunter eine Kra- stens in das späte 1. bis frühe 2. Jahrhun- genschale – Tubuli- und Imbricesbruch, dert. Die hier vorgenommenen Beob- in der hellbraunen Lehmschicht darüber achtungen sollen dazu beitragen, das die Reste von helltonigen Flaschen15 antike Lentia in das Bewußtsein der (Abb. 7/5). In nicht stratifizierter Lage interessierten Öffentlichkeit zu bringen, kamen Fragmente eines rätischen Be- zumal durch die nun stattfindenden chers16 (Abb. 7/2) und eines spitz zulau- Bauprojekte neue archäologische Er- fenden Eisengegenstandes mit Ausneh- kenntnisse – davon berichteten die Me- mung zum Vorschein. dien bereits im Sommer 2006 – erwartet In vergleichender Sicht mit benach- werden dürfen. Bleibt zu hoffen, daß barten Grabungsstellen fällt wiederum auch die Befundauswertung in absehba- die Tatsache auf, daß die römerzeitlichen rer Zeit vorgelegt werden kann. Niveaus unter mächtigen neuzeitlichen Planierschichten und – wie im Falle der Abbildungsnachweis Klammstraße – sogar noch unter kollu- Pläne und Zeichnungen: P. Trebsche. Photos und vialem Lehm des Bauern- und Römer- Abb. 7/1: E. M. Ruprechtsberger. berges liegen. Der geologische Unter- grund wurde jedenfalls in der relativ ge- ringen Tiefe der Baugruben nicht er- 14 reicht. An den untersuchten Stellen F. Oswald, Index of potters’ stamps on terra si- gillata „Samian Ware“ (Margidunum 1931), 201. mußte, wie auch auf der Spittelwiese, die Faksimile: B. Hofmann, Catalogue des estam- Tatsache zur Kenntnis genommen wer- pilles sur vaisselle sigille´e, Notice technique den, daß Früh- oder Hochmittelalter (o. O., o. J.), Taf. 8/111.3. M. Polak, South Gau- keine Spuren hinterlassen haben.17 lish Terra sigillata with potters’ stamps from Vechten, RCRF Acta Suppl 9 (Nijmegen 2000), Das zutage getretene Fundmaterial 268, Kat.-Nr. M 63*. Der Autor datiert aus gu- bestätigt als frühesten Datierungsansatz ten Gründen die Tätigkeit des Töpfers in die der römerzeitlichen Strukturen zwischen 2. Hälfte des 1. Jh.s n. Chr., das frühe 2. Jh. Promenade und Spittelwiese das letzte braucht nicht außer Betracht zu bleiben. 15 Drittel des 1. Jahrhunderts n. Chr. Frü- E. M. Ruprechtsberger (Anm. 4), Taf. 13. P. Kar- nitsch (Anm. 3), Taf. 67 f. here Siedlungsagglomerationen liegen 16 P. Karnitsch (Anm. 3), Taf. 46/2–5. J. Stellnber- außerhalb des umschriebenen Gebietes ger, a. O., Taf. 1 f. und führen in den Bereich des Römer- 17 C. Ertel, Befundauswertung der Ausgrabungen berges und der Martinskirche.18 und Sondierungen im Bereich der Spittelwiese, in: E. M. Ruprechtsberger, Neue Beiträge zum römischen Kastell von Lentia/Linz, LAF 36 (Linz Resümee 2005), 55 ff., bes. 64. 18 Dazu vgl. nun R. Kastler (Anm. 5), bes. 56 ff. Baubegleitende archäologische Son- Ders., Spätlate`ne- und frühkaiserliche Besied- dierungen in der Klammstraße und beim lung im Bereich der Martinskirche zu Linz, in: KollVFrühGesch 8 (Bonn 2004), 211–222. Theatercasino in Linz haben gezeigt, Neuestens: E. M. Ruprechtsberger – O. H. Ur- daß, wie von Anfang an vermutet, in die- ban, Spätlate`nezeit und Spätantike in Linz, LAF sem Bereich mit römerzeitlichen Schich- Sh 33 (Linz 2005), bes. 7 ff.

113 Linzer Turdten zu machen Zur Auffindung der bislang ältesten Rezepte der Linzer Torte

Von Waltraud Faißner

In einem handgeschriebenen Kochbuch des Archivs von Stift Admont, Stei- ermark, hat die Verfasserin ebendort bei der Herbstsitzung der Kommission für Buch- und Bibliotheksgeschichte der Vereinigung Österreichischer Bibliothekare im Oktober 2005 die bislang ältesten handschriftlichen Rezepte der Linzer Torte ent- deckt. Es handelt sich um den Codex 35/31, Stiftsarchiv Admont, mit dem Titel:

Buech von allerley Eingemachten Sachen, also Zuggerwerckh, Gewürtz, Khütten und sonsten allerhandt Obst wie auch andere guett und nützlich Anno 16 Ding etc. 53 Durch die Frau Anna Margarita Sagra- mosin, geborne Gräffin Paradeiserin, mit grossen Fleisß mühe arbeit wie unkosten, vil Jar nach einander zusamen, geklaubt und beschreiben lassen.

Dieses Admonter Kochbuch (Handschrift auf Papier, 188 fol, davon nicht alle beschrieben, Provenienz unbekannt) ist eine interessante historische Quelle. Das Geschlecht der „Paradeiser“ gehörte zum innerösterreichischen Adel und war ansässig in Krain. Anna Margarita Paradeiser hat in das Adelshaus der Sagramosa in Verona eingeheiratet, und in ihrem Kochbuch finden sich, wie der Titel andeutet, mehrere abgeschriebene Rezeptsammlungen aus namentlich ange- führten herrschaftlichen Haushalten im genannten Gebiet. Die Rezeptsammlungen folgender Damen waren unter anderen die Quellen für das Kochbuch Sagramosa: ab fol 47 „das Zuggerwerkh auß der Hoffcantzlerin Frauen Jöchlingerin Buch“ (Wolfgang Jöch- linger war innerösterreichischer Kammerprokurator und Kanzler, 1578 hat er den Jesuiten in Graz ein Evangeliar gestiftet – Auskunft von Dr. Hans Zotter, Univ.-Bibl. Graz), auf fol 82 „Biscotten von der Cätl Behaimb zu Grätz †“, ab fol 130 „auß der Frau Haggin Puch“. Zu den beiden Letztgenannten fanden sich zumindest in der Universitäts- bibliothek Graz keine Angaben.

114 Originaltext zur ältesten Linzer Torte aus dem Codex 35/31 des Stiftsarchivs Admont aus dem Jahr 1653. Foto:M.Mayer,Graz

Insgesamt enthält das Kochbuch bereits zu diesem frühen Zeitpunkt vier verschiedene Rezepte zur Linzer Torte / zum Linzer Teig, was ein Beweis für die all- gemeine Beliebtheit und die weite Verbreitung dieses Backwerks in der Ära des Barocks ist. Von den jüngeren Rezepten unterscheiden sie sich vor allem dadurch, dass das Gebäck noch ausgeprägten Pastetencharakter hat und der Teig dem heuti- gen Blätterteig in Bezug auf Zutaten und Zubereitung viel ähnlicher ist als dem Mürbteig. Die einzelnen Rezepte werden nachstehend jeweils im Originalwortlaut wiedergegeben.

Der Lintzer Taig zur Torten 1 Nimb ⁄4 lb Schmalz zertreibs in einer Schisl gar wol, wie zum schmalz chnödl, rühr zwei löfl vol wasser darzu, nimb gar 1 khlain gestossne Mandl bey läuffig ⁄4 lb. rührs in das Schmalz, zugers gar woll, rührs alles unter einander, thue schönes mund mel darein so vil das ein zimblich fester taig wirt, hernach nimb ein schönen zäch ausgewaschnen Putter, ein starkhen Prokhen, trükher im ab wie zu einen Puttertaig, lege im auf dem taig,

115 überschlag im 5 mall, zulezt walge im auß, eins halben finger dikh, lege im auf ein silberne schisl, schneid im umb den Raiff ab, das ein halber finger brait von der schisl fürsteht fülle in die schisl eingemachte Khütten, Pfirsich oder was du wilt, Pache es nit gar haiß, so ist es guat. fol 126 r

„Schmalz“ ist die Bezeichnung für Butterschmalz, das im Vergleich mit der „frischen Butter“ das zur längeren Aufbewahrung geeignetere Fett dargestellt hat. Die Verwendung frischer Butter war auch in wohlbestallten Haushalten nicht selbst- verständlich, weil sie auf Grund der langen Handelswege nicht leicht zu bekommen war. Butter wurde bereits auf den Almen zu Butterschmalz erhitzt, in transportable Gefäße gegossen und den Märkten zugeführt. „Frische Butter“ musste offensichtlich vor dem Gebrauch noch mit klarem Wasser von allerhand flüssigen Rückständen oder unerwünschten Geschmäckern befreit werden. Der Arbeitsvorgang mit dem Einschlagen des Butterziegels in einen bereits hergestellten Teig entspricht, wie erwähnt, eher der (ab dem späten 17. Jahrhundert bis heute üblichen) Zubereitung eines Blätterteiges als der eines Mürb- oder Rührteiges. Die weitere Verarbeitung, nämlich den Teig auf eine „silberne Schüssel“ zu legen, zu füllen und nicht zu heiß zu backen, folgt ganz der Tradition der Pastetenbäckerei, aus der sich die Torte ent- wickelt hat. Die Begriffe „Schüssel“ und „[Back]Pfanne“ als Koch- und Serviergerät werden in der Frühzeit der Kochbuchliteratur oft gleichgesetzt. Das edle Metall ent- spricht dem adeligen Haushalt, gebräuchlich waren auch Pastetenpfannen aus Ton, Eisen oder Kupfer (Zitat Benker). Diese Tradition findet z. B. in Haggers berühmtem „Saltzburgischen Koch-Buch“ 1718/1719, in dem uns das Rezept zur Linzer Torte zum ersten Mal gedruckt begegnet, ihre Fortsetzung. Hier wird der „gute und suesse Lintzer-Taig zu den Schuessel-Dorten“ verwendet. Den Hinweis „Pache es nit gar haiß“ findet man im Zusammenhang mit dem Backvorgang für Linzer Torte von Anfang an. Auch in den Rezepten der folgenden Jahrhunderte scheint das Verlangen nach milder Hitze formelhaft auf. Das Backen auf barocken Feuerstellen erforderte große Erfahrung der Köche, um zufriedenstel- lende Ergebnisse zu erzielen. Erreicht wurde das Garen in mäßiger Temperatur durch Einstellen der Backform („der Schüssel“) in ein geschlossenes größeres Geschirr, das durch Glut von unten und durch Auflage von Glut auch von oben gleichmäßig beheizt werden konnte. Es werden auch „Schutzteige“ zur Schonung des wertvollen Tortenteiges vorgeschlagen. Man nutzte die milder gewordene Hitze des Backofens nach dem Brotbacken, wählte die weniger heißen Randzonen der Herdstelle oder zählte die verwendeten Holzscheite, um beim nächsten Backvor- gang dasselbe, gute Ergebnis zu erzielen. Die „Quitte“, der „Pfirsich“, muten heutzutage als Fruchtfülle für Linzer Torte exotisch an. Tatsächlich nehmen Rezepte, die die Quittenverarbeitung betreffen, im Kochbuch der Anna Margarita Sagramosa breiten Raum ein. „Die Vorliebe für diese Früchte besitzt eine speziell österreichische Tradition: Kaiser Maximilian führte in

116 Die Quitte lieferte die bevorzugte Fülle für die ältesten Linzer Torten. Ihr blumiger Geschmack harmoniert vorzüglich mit dem Butterteig. Kolorierter Kupferstich aus „Icones Plantarum medico-oeconomico-technologi- carum“, Ferd. Bern. Vietz. Wien 1800. Foto: E. Grilnberger, OÖ. Landesmuseum

117 seinem 5. Gedenkbuch (1509–1513) u. a. für Lieferungen von Wien an den Hof an: Kütenlatwerg, eingemacht Küten“ (Zitat Neunteufl). Die „Quette, Kütte, Khütte, Kutte . . .“ ist bereits in den ältesten Kochbüchern genannt. In der Krünitz’schen Enzyklopädie findet man 1812 insgesamt 48 Zuberei- tungsarten. Die Bezeichnung „Quitte“ (Cydonia vulgaris) leitet sich von „Cydonia“ ab, einer Stadt auf der Insel Kreta, aus der bereits Griechen und Römer diese Früchte bezogen. Der Pfirsichbaum behauptete noch 1779 „unter den Obstbäumen Europas den ersten Rang“ (Zitat aus „Pomona Franconica“, Teil 2, Jean Mayer, gedruckt zu Nürnberg 1779). Es darf daher nicht verwundern, dass seine edlen Früchte als Fülle für eine vornehme Mandeltorte mehr als entsprochen haben. Trotzdem ist unschwer zu verstehen, dass Quitte und Pfirsich als Fülle der Linzer Torte schon früh abgelöst worden sind; ab 1700 treten sie praktisch nicht mehr in Erscheinung: beide Fruchtsorten konnten geschmacklich mit den in der Folgezeit üppig verwendeten Gewürzen nicht mehr konkurrieren. Rote Ribisel, Weichsel oder die Himbeere mit ihrer frischen Säuerlichkeit eignen sich besser und tragen mit ihrer appetitlichen Röte zum dekorativen Erscheinungsbild der Torte bis heute bei. Das oben angeführte Rezept wurde originalgetreu ausprobiert mit 140 g But- terschmalz, 140 g geriebenen Mandeln (ungeschält oder geschält möglich), 140 g Zucker, 280 g (evtl. nach Bedarf etwas mehr) Mehl, 140 g frischer Butter. Das Ergeb- nis ist geschmacklich überzeugend gut. Die „blumig“ schmeckenden Quitten passen hervorragend zum butterigen Geschmack des Backwerks.

Linzer Turdten zu machen 1 Nimb ein . ⁄4. mandl stoß sie gar chlein, nimb 1 ⁄4 schmalz treibs das schmalz ab, die mandl auch mit dem Schmalz abtreiben das es gar . . . innig würd, nimb .4. ayr .2. ganze .2. duter, nimb 1 ein ⁄4 Zugger nimb mehl .2. Löffl voll Wasser mach ein Taig an das er nit zu lehn oder zu föst würd, nimb ein vierding Putter darzu der woll gewaschen würd, walge den Taig auß und schlag den Putter ein als wie ein anderer Put[ter] taig werd, überschlag ihn auch also. fol 133 r

Diese Masse enthält im Gegensatz zum ersten Rezept Eier, wenn auch die verwendete Anzahl im Vergleich mit den meisten späteren Rezepten gering ist. Durch die Einarbeitung des Butterziegels entsteht eine eigenartige Verbindung aus Rührteig und Blätterteig. Die Fülle und das Backen in der Schüssel dürfen vorausge- setzt werden.

118 Die Mandel war schon immer eine Grundzutat der Linzer Torte. Kolorierter Kupferstich aus „Pomona Fran- conica“, 1776. Foto: E. Grilnberger, OÖ. Landesmuseum

119 Die Mandel, die bereits in den ältesten Kochbüchern als Bestandteil zahlrei- cher Rezepte aufscheint, ist von frühester Zeit an eine Hauptzutat der Linzer Torte. Von 121 ausgewerteten Rezepten enthalten 97 die Mandel als Ingredienz, geschält oder ungeschält und mehr oder weniger zerkleinert („geschnitten“, „zerstoßen“, „gerieben“). Die Verwendung der Mandel galt in den vornehmen Haushalten des 16. und 17. Jahrhunderts zusammen mit Südfrüchten (vor allem Zitronen) und Gewür- zen als ausgesprochenes Statussymbol. In der Landeshauptstadt Linz boten die regelmäßig stattfindenden, europaweit bekannten und beschickten Märkte Gelegen- heit, diese Zutaten zu erwerben. Die Mengenangabe für obige, ebenfalls originalgetreu ausprobierte Torte lautet: 140 g Mandeln, 140 g Butterschmalz, 2 ganze Eier, 2 Dotter, 140 g Zucker, 300 g Mehl (bei Bedarf auch mehr), 140 g frische Butter. Geschmacksmäßig unter- scheidet sich das Ergebnis nicht vom ersten Rezept, die Konsistenz mutet jedoch lockerer an.

Ein Linzerischen Tortten zu machen Nimb Schmalz nach bedenkhen, riers biß ganz weiß und von Putter was. Gerürd, nimb darzu ein Handvol khlain gestossen mandl riers under das schmalz schlag alsdan .2. ayr darein, rier die ayr und das schmalz durchainander ab, wans woll ab. . .gt ist, so schlag noch 2. oder 3 ayr darein, darnach nimb ein Zugger darunter so vill darnach du es süß haben wilt, alsdan khnöts mit ein wenig mehl ab, das würd wie ein linder Taig und zu walgen ist, walg ain wenig von einand wie ein Plath, nimb alßdan ein lb Putter, wasch in schen sauber auß . . . Wasser, laß in ligen in Wasser, biß er erstarrt, leg die Putter auf den Taig khnöts zusamben, dar nach walgs widerumb auß daß nit gar dikh würth, nimb ein silberne schißl, leg das Plath füll darein waß du willst, mach oben über ein gätter, bachs alsdan bis hardt würd so ists recht. fol 154 v, 155 r

Dieses Rezept mit seinen archaischen Mengenangaben wie „nach Gutdün- ken“, „eine Handvoll“, „soviel, wie du es süß haben willst“ setzt Erfahrung und Gefühl voraus. Es unterscheidet sich in seiner Zusammensetzung und Zubereitung nicht wesentlich von den beiden vorhergehenden. Die verarbeitete Menge muss aber ziemlich groß gewesen sein, wenn allein als Butterziegel 560 g (ein Libra) vorge- sehen sind! Neu ist allerdings, dass die Wahl der Fülle frei gestellt wird: „füll darein waß du willst“. Auch dieser Formel begegnet man in den nächsten 200 Jahren in den Linzer-Torte-Rezepten häufig. Weiters tritt hier ein anderes, bedeutendes Element der Linzer Torte in Erscheinung: das Gitter: „mach oben über ein gätter“. In Conrad Haggers Kochbuch

120 sind 65 Jahre später mehrere unglaublich kunstvolle Vorschläge für Tortengitter, dar- unter ausdrücklich eines für „geflochtne Lintzer Dorten“, abgebildet. Diese Gitter entstehen durch Verkreuzen von gerollten Teigschlangen („Stängeln“) oder durch Aufdressieren des Teiges mit der Straubenspritze. Sie sind jedoch keineswegs die einzig gültige Form des oberen Abschlusses einer Linzer Torte! Nur in der Hälfte der Rezepte (in 59 Fällen von 121) wird das Gitter verlangt. Die übrigen Torten werden mit einer Teigplatte über der Fülle abgeschlossen. Nach dem Backen wird diese dann entweder einfach mit Zucker bestreut oder mit einem „Eis“ bestrichen. Es ist dies eine Art Glasur aus feinst gestoßenem Zucker und einer Flüssigkeit (meist Zitronensaft) und Eiklar. Typisch barock ist die Vorliebe für ver- schiedene Färbungen des „Eises“ mit einfachen Materialien (Kermesbeeren färben rot, Veilchen blau, Spinat grün, Safran gelb). Es gibt Backanleitungen, in denen ver- schiedene Farben übereinander aufgetragen wurden (!), zu diesem Zweck mussten die einzelnen Schichten jeweils abgetrocknet sein.

Daß Linser Täg Nimb 1 fihrtl mehl 3 fierting zukher 3 vierting Butter ain halb lb gestossene mandl Reibs unter ein ander ab das der Butter woll zerriben würdt hernach schlag 3 ayr Khlarundt2Dutteristerzufestsoschlage noch eins mach den täg geschwündt zusamb, walge ihn ein halben finger dikh auß lege ihn auf die schißl lege dariber schön gewirztes giter bachs gar khill. fol 162 r

Die Bereitung dieses Teiges sieht den extra eingearbeiteten Butterziegel nicht mehr vor. Hingegen treten als bedeutsame Zutat die Gewürze erstmals in Erschei- nung – in Form des „schön gewirzten giters“. Die namentlich nicht angeführten Gewürze werden in geringer Menge und nur im Gitter verlangt, sie ordnen sich geschmacksmäßig in das Gesamtbackwerk ein und übertrumpfen nicht die feine Fruchtfülle. Erst im Laufe des 17.Jahrhunderts kommen Gewürze mitunter in verschwen- derischer Fülle zum Einsatz, sowohl von der Anzahl der Sorten als auch von der Menge her betrachtet. In Frage kommen hauptsächlich Zimt, Nelken, Muskatnuss und Muskatblüte, seltener Kardamom. Wiederum muss betont werden, dass die Gewürze nicht unabdingbar mit dem Rezept der Linzer Torte verbunden sind, nur in einem Viertel der Backanleitungen sind sie gewünschter Bestandteil. Das Gros fin- det in der pikanten Vermengung von Mandeln, Zitronengeschmack (Saft und Schale) und roter Ribisel das Auslangen. Auch diese Torte wurde originalgetreu nachgebacken, allerdings mit der Hälfte der ursprünglich angegebenen Mengen: 140 g Mehl, 420 g Zucker, 420 g But-

121 ter, 280 g geriebene Mandeln, 3 Eiklar, 2 Eidotter. In den Gitterteig wurden, um den Quittengeschmack nicht zu überdecken, sparsam Zimt- und Nelkenpulver eingear- beitet. In Summe ein durchaus edles Backwerk! Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich aus diesen ältesten Rezep- ten das moderne Bild der Linzer Torte bereits herauslesen lässt: Aus jedem Rezept erschließt sich ein weiteres Element des heutigen Erscheinungsbildes. Auf ihrem Weg durch die Jahrhunderte hat sie viele inhaltliche und äußerliche Abwandlungen erfahren, die durch zahlreiche Nachweise in der Kochbuchliteratur, sowohl der handgeschriebenen als auch der gedruckten, belegt sind. Trotz der Bedeutung des Fundes in Stift Admont darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass die Suche nach dem allerersten Rezept der Linzer Torte nach wie unabgeschlossen ist. Es muss noch (weitere) Verbindungsglieder zwischen der Reihe der zahllosen anonymen, gewürzten Mandeltorten und der Linzer Torte, die aus eben dieser Gebäckgattung stammt, geben. Wenn das Rezept aus der Wiener Stadt- und Landesbibliothek 1696 bisher als das älteste aufgezeichnete gegolten hatte, so darf die erste nachweisbare Nen- nung der „Linzer Torte“ nunmehr jedenfalls um fast ein halbes Jahrhundert auf 1653 zurückdatiert werden – mit dem Standort Stiftsarchiv Admont.

Literatur

Altes Küchengerät und Kochpraxis; Gertrud Benker, T. 2. In: Bayerisches Jb. f. Volkskunde 1976/77, 1978. S. 251–281. Kochkunst im Barock: Aus der Welt der steirischen Küche um 1686; Herta Neunteufl. Graz 1976. Wie mann die Linzer Dortten macht; bearb. von Waltraud Faißner. Linz 2004.

122 Vertreibung, Flucht, Migration: Exulanten aus Peuerbach in Franken, Schwaben und anderswo

Von Eberhard Krauß

Zu Abertausenden waren sie im zu entladen. In Peuerbach lagen eben- Zuge der Gegenreformation aus den falls bayerische Besatzungstruppen; am Habsburgischen Erbländern, Salzburg 20. Mai 1626 wurden sie von den auf- und Schlesien ihres Glaubens wegen ständischen Bauern angegriffen und vertrieben worden oder unter dem überwältigt, der Markt wurde niederge- Druck der Verhältnisse freiwillig ausge- brannt. Am 21. Mai 1626 ging der baye- wandert, um sich fern der Heimat eine rische Statthalter Graf Herberstorff ge- neue Existenz frei von Verfolgung und gen die Aufständischen bei Peuerbach Rechtsbeschneidung aufzubauen. Im vor, verlor aber die Schlacht und musste Heer der Exulanten – so der Sammel- nach Linz fliehen. Dass der Krieg trotz name für jene protestantische Schick- anfänglicher Erfolge mit der voll- salsgemeinschaft – findet sich mit mehr ständigen Niederwerfung der Bauern als 200 Männern und Frauen eine über- endete und unzählige Tote forderte, ist raschend hohe Anzahl auch aus dem an bekannt. der westlichen Grenze des Hausruck- Noch einmal erlebte Peuerbach ei- viertels gelegenen Peuerbach.1 Für die nen kleineren Aufstand der Bauern im Emigrationsbewegung aus dem damali- Jahr 1632. Damals wurde „der Edle und gen Markt (der heutigen Stadt) sowie Vehste Herr Georg Jurgouitsch . . . dahmaliger aus der Pfarrei und aus der Herrschaft, Frhrl. Herberstainischer Hauß Pfleger bey der die weit über die Pfarrei hinausgriff, war Herrschaft Peuerbach . . . durch die Rebellanten auch in diesem Fall das bekannte, enge den 14. August alhie auf dem Platz zu Wait- Zusammenspiel religiöser und politisch- zen-Kirchen Nachdehm sie ihn Vörigen Tages sozialer Faktoren ausschlaggebend ge- gewalthädtiger Weyse mit ihnen von Peuerbach wesen. herrunter geführt Erstlich durch einen Schuß, nachmaln (mit) Mußquetten und Kolben jäm- merlich unnd Barbarischer Weyse zu Todt ge- I. Was den Abzug aus Peuerbach schlagen . . .“2. bestimmte und mit beeinflusste 2. Die Ereignisse während des Bau- ernkrieges brachten die schonungslose 1. Der Hass gegen die bayerische Härte, mit der die Machthaber die Wie- Pfandherrschaft in Oberösterreich und die damit strikt einhergehende obrig- keitliche Restauration des Katholizismus 1 Stadt Peuerbach 1980 ca. 2.300 Einwohner, Pfar- rei Peuerbach 1990 ca. 5.000 Mitglieder. im Lande begann sich bei der bäuerli- 2 Helga Litschel, Erinnerungsstätten an Bauern- chen Bevölkerung des (heutigen) Inn- kriege und Bauernunruhen in Oberösterreich, und Hausruckviertels ab 1625 militant Linz 1976, S. 65.

123 derherstellung nicht zuletzt der religiö- Waitzenkirchen, der die Herrschaft Peu- sen Ordnung verfolgten, offen zutage. erbach 1617 im Zuge der Erbteilung Mit Mandat vom 4. Oktober 1624 hatte übernommen hatte, entstammte einem Kaiser Ferdinand II. die Ausweisung alten evangelischen Adelsgeschlecht bzw. Vertreibung der evangelischen Pfar- und stand zu seinem Glauben. Herbers- rer für ganz Oberösterreich und damit torff verdächtigte ihn, zu den Anstiftern auch für Peuerbach befohlen. Die drei der Bauernunruhen gehört zu haben, die damaligen evangelischen Pfarrer zu Peu- im Januar 1625 die Einsetzung eines ka- erbach, Gregor Berchtoldt/Bertold, Cle- tholischen italienischen Pfarrers im be- mens/Clement Popp, der mit Frau und nachbarten Natternbach verhindern soll- fünf Kindern im Jahr 1634 in Regensburg ten. Der Statthalter ließ den Adeligen an der Pest verstarb, und Hanns/Johann und „5 der vornehmsten Rädelsführer in custo- Hadergasser/Hadergaßer, hatten Ober- dia“ nehmen, gab sie aber nach Anhö- österreich innerhalb von acht Tagen zu rung wieder frei.5 verlassen.3 1625 musste Christoph von Hohen- Das war das Ende des offiziellen feld die Herrschaft Peuerbach aufgeben evangelischen Kirchenwesens in Peuer- und ging mit seiner Familie ins Exil, weil bach, wenngleich angenommen werden er, wie Grabherr ausführt,6 hohe Schul- kann, dass für kürzere oder längere Zeit den hatte. Dass die repressive Vorgangs- evangelische Hausgottesdienste in priva- weise von Kaiser Ferdinand II. und Her- tem Rahmen weiter stattgefunden ha- berstorff diese Emigration jedoch mitbe- ben. Auch ist das „Auslaufen“ zum Emp- stimmte, dürfte feststehen. Bereits beim fang des Abendmahles in die evangeli- Einmarsch der bayerischen Truppen in sche Enklave Ortenburg in Niederbay- Oberösterreich 1620 war das der Familie ern bezeugt. Diese Tatsache ist in der Hohenfeld gehörende Wasserschloss Biographie des Georg Kastner – anläss- Aistersheim erstürmt und geplündert, lich dessen Beerdigung 1708 in Lehr- die Besatzung gehängt, der Komman- berg/Dekanat Ansbach – belegt. dant geköpft worden. Erhärtend kommt So blieb der Protestantismus in Peu- hinzu, dass Ludwig Hohenfelder (1576– erbach und Umgebung (der westliche 1644), ein Bruder des Christoph, Herr Nachbarort St. Willibald zählt bereits zum Innviertel, das erst 1779 zu Öster- 3 reich kam – ein Gedenkstein an der Eberhard Krauß, Exulierte evangelische Pfarrer und ihre Familien aus Oberösterreich, beson- Straße Nr. 129 erinnert bis heute an die ders während des Jahres 1624, in: Blätter für einstige Grenze) im Verborgenen noch fränkische Familienkunde, Band 28, S. 132 ff. länger am Leben. Hans Krawarik 4 In: JbGPÖ 121, Wien 2005, S. 35 ff., Zitat S. 49, schreibt in seinem Aufsatz „Aus der Hei- Anm. 39. 5 Georg Sturmberger, Adam Graf Herberstorff, mat gedrängt – Exulanten und Transmi- Wien 1976, S. 231. Zur Familie Hohenfelder 4 granten aus Oberösterreich“: „1707 no- siehe: Heinrich Wurm, Die Hohenfelder in tierte man evangelische Indizien um Peuerbach.“ Österreich und Württemberg, in: Jahrbuch für die Geschichte der Oberdeutschen Reichsstädte 3. Der Inhaber der Herrschaft Peuer- 11, Eßlingen 1965, S. 192 ff. bach, Christoph von Hohenfeld zu Ais- 6 Norbert Grabherr, Burgen und Schlösser in tersheim, Almegg, Weidenholz und Oberösterreich, Linz 1970, 2. Auflage, S. 109 ff.

124 auf Schloss Weidenholz bei Waizenkir- derte, zudem war sie natürlich auch zu chen, „den Bauernkrieg und die Verfolgung der verpflegen. evangelischen Religion“ definitiv als Anlass Der 1627 neu eingesetzte katholische für seine – spätere – Auswanderung Pfarrer Augustin Khalt machte, Quellen nach Württemberg bezeichnete. zufolge, seinem Stand alles andere denn Ehre und „benahm sich so, dass es die Christoph von Hohenfeld exulierte Peuerbacher nicht wagten, einzeln den mit seiner großen Familie nach Sulz- Pfarrhof zu betreten“: er „schlug die bach/Oberpfalz und von dort nach Wun- Leute mit Peitschen, ritt sie auf dem Feld siedel in Oberfranken, wo er 1631 starb. zusammen und trieb die Stolgebühren Pfarrer Johannes Braun berichtet in sei- in die Höhe“.9 Ohne Zweifel war das nem Tagebuch aus dem Jahr 1630:7 „Ge- nicht der Mann, dem es gelingen konnte, gen Ende Mai kam zu mir Hohenfelder, die Leute zum Katholizismus zu bekeh- vordem ein sehr reicher Verwaltungsbe- ren. amter in Österreich, jetzt aber durch den In diesen unruhigen Zeiten voller schweren Bauernaufstand und die Ver- Bedrängnis, Verarmung und Repression folgung des Kaisers verarmt, Vater von entschieden sich Männer und Frauen, acht Söhnen, ein seltenes Beispiel von nicht selten nolens, volens, den Markt, ehrenhafter Besinnung und Bildung. die Pfarrei sowie die Herrschaft zu ver- Das Jahr darauf (= 1631) entriß ihn das lassen und einen ungewissen Weg nach Schicksal den Seinen vor der Zeit in Süddeutschland, manchmal auch nach dem Städtchen Wunsiedel, wohin er sich dem fernen Ungarn (Ödenburg, Preß- mit seiner Familie in der Verfolgungszeit burg), anzutreten. Dass das Festhalten begeben hatte, nachdem Sulzbach vom am evangelischen Glauben dabei insge- Feinde besetzt war.“ Auch in einem Aus- samt eine ausschlaggebende Rolle ge- schreiben der beiden Amtshauptmann- spielt hat, ist vielfach bezeugt und erwie- schaften Hof und Wunsiedel vom 12. Fe- sen. In der folgenden Aufstellung steht ber 1630 wird Christoph von Hohenfeld etwa bei Hans Kaisermeier als Auswan- erwähnt.8 Seine Witwe Sidonia geb. derungsgrund vermerkt: „1639 der Reli- von Zinzendorf übernahm noch am gion halber vom Vaterland gewichen.“ 17. Januar 1636 eine Patenstelle in Wunsiedel. Dann übersiedelte sie nach Regensburg, wo sie am 10. April 1640 II. Die Liste der Exulanten aus beerdigt wurde. Peuerbach 4. Ein „normales“ und angenehmes Wer hat damals Peuerbach verlas- Leben war der Bevölkerung Peuerbachs sen? Und wohin hat er sich gewendet? in den weiteren Jahrzehnten gewiss un- 7 In: Archiv für Geschichte und Altertumskunde möglich. Der Wiederaufbau ging nur von Oberfranken 1934, S. 31. Tagebuch im Ori- langsam voran, bis mindestens 1650 gab ginal lateinisch, übersetzt für die Veröffentli- es noch Brandstätten im Ort. Geld war chung im Archiv von Oberfranken vom Her- nicht vorhanden. Immer wieder, etwa in ausgeberPfarrerZindel. 8 In: Archiv für Oberfranken 1956, S. 91. den Jahren 1633, 1634, 1644 und 1647, 9 Strnadt, Peuerbach, S. 527 f.; Loesche, Protes- kam es zu Truppeneinquartierungen. Die tantismus, S. 198; Rusam, Exulanten, 2. Auflage, zügellose Soldateska raubte und plün- 1989, S. 79.

125 Der Markt Peuerbach wird als Hei- 1629, gest. 31. 3. 1679 Unterappenberg, oo 26. 2. matort nicht eigens aufgeführt. Wo als 1656 Ursheim mit Maria Bickel (V.: Georg B., Wagner). – Tochter Maria, geb. 1629, gest. 21. 3. Herkunft die Pfarrei Peuerbach angege- 1691 Ursheim. – Weitere Kinder in Ursheim ben ist, wurde das vermerkt, denn die getauft (KB Ursheim-Trendel). Pfarrei greift wie erwähnt weit über das Angermeyer Bernhard (V.: † Hannß A., Obern- Gebiet des Marktes hinaus („Pf. Peuer- grub, Pf. Peuerbach), oo 5. 5. 1657,procl. Schützin- bach“). Einzelne Orte aus der Pfarrei gen, Oberamt Maulbronn, cop. Zaisersweiher/ wurden ebenfalls, soweit bekannt, ange- Württ. mit Maria Eygner (V.: Georg E., Gerichts- geben. verwandter, Zaisersweiher) (KB Schützingen). Angermeyer Wolf (Vater wie vor), gest. 10. 8. 1673 Schützingen, oo 18. 5. 1658 Schützingen mit Mag- Quellenangaben dalena Eyglinsrüder (V.: † Abraham E., Aden- Zu Regensburg: Kirchenbücher Re- bruck, Pf. Peuerbach LoE) (KB Schützingen). gensburg, Archivalien Stadtarchiv Re- Arletsperger Daniel, Zimmergesell in Peuerbacher Pfarr LoE (V.: † Georg A., Bauer, oo Ursula), 21. 5. gensburg, Archiv der Gesellschaft für Fa- 1660 Regensburg mit Magdalena Pöckh (V.: milienforschung in Franken (= GFF), † Simon P., Bauer, Micheldorf LoE, oo Magda- Exulantenkartei der GFF. lena). Armauer/Arneier Matthias, Zimmermann (V.: Zu den einzelnen Personen: in der Stephan A., des Zimmerhandwerks Fuchshub Regel aus den Kirchenbüchern (= KB) LoE, Pf. Peuerbach), oo 27. 3. 1654 Wachstein/ genommen, sind eigens genannt. Auch Thannhausen mit Margaretha Schuster (V.: Fundstellen aus den Blättern für fränki- † Hannß S., Bauer, Wachstein). – Sohn Johannes, sche Familienkunde (= BFFK) sind ei- gest. 13. 12. 1645 Thannhausen (KB Thannhausen, KB Wachstein). gens aufgeführt. Arnezhuber Tobias, Küffer, ledig (V.: † Hans A., Pfarrarchive (in Auswahl): Ansbach- Bauer und Küffer), beerd. 10. 10. 1676 Regens- Eyb, Bürglein, Eltersdorf-Tennenlohe, burg, 60 Jahre. Flachslanden, Mitteldachstetten, Neuen- Arnezhuber/Arnezhueber Clement, Schuhmacher (V.: † Hannß A., Küffer, oo Maria), 8. 12. 1653 Bür- dettelsau, Nürnberg-St. Lorenz, Nürn- gerrecht Regensburg, oo 14. 11. 1653 Regensburg berg-St. Sebald, Nürnberg-Wöhrd, mit Elisabetha Wagner (V.: Wolff W., Bürger und Obersulzbach, Ortenburg, Osternohe, Schuhmacher, Regensburg, oo Margaretha). Preßburg, Schützingen, Sommersdorf- Arnoldshuber Martin, Kutscher, 1626 Beisitz Thann, Thalmässing-St. Michael, Wun- Regensburg (Fischer, Exulanten, S. 22 f.). siedel. Arnoldshuber Thomas, Schneider, 1626 Beisitz Regensburg (Fischer, Exulanten, S. 22 f.). Aintzberger Paulus, Taglöhner, ledig (V.: † Georg Aschauer Margaretha (V.: † Sebastian A., Leinwe- A., Taglöhner), beerd. 5. 9. 1640 Regensburg, 32 ber, oo Magdalena), oo 10. 7.1666 Regensburg mit Jahre. Daniel Guetterman, Cordawonmacher, Lederbe- Albeneder Martin, Schlosser, Güns, geb. in Peuer- reiter, Witwer, Regensburg. bach (V.: † Bernhard A., oo † Apollonia), oo 12. Aschinger Maria, oo 10. 2. 1630 Ortenburg mit 11. 1658 Ödenburg mit Maria Bürckelbaur, Hans Pruckner, Leinweber (KB Ortenburg). Witwe († Matthias B., Büchsenmacher) (Weber, Auckendobler/Auckhen Dobler Joseph (V.: Glaubensverfolgte in Deutsch-Westungarn, in: Hannß A., Leinweber, oo Appolonia), Bürgerrecht BFFK 22, 1999, S. 39). Regensburg 26. 10. 1647, 1. oo 19. 7. 1647 Regens- Angerer Hans, ab 1641 in Pf. Ursheim, geb. 1600, burg mit Catharina Kolweiß (V.: † Hanß K., Lede- gest. 17. 11. 1675 Unterappenberg, oo Ursula, geb. rer, Regensburg, oo Catharina), 2. oo 12. 8. 1672 1602, gest. 15. 11. 1675 Unterappenberg, kaufen Regensburg mit Margaretha Khraut (V.: Christian 31. 12. 1641 Hof in Ursheim. – Sohn Hans, geb. K., Hufschmied, Regensburg, oo Euphrosina).

126 Auer Isaac, Bäcker, Purbach, OÖ = ? Peuerbach, des Georg S., 1657 in Schützingen/Württ (KB oo 10. 11. 1642 Preßburg mit Sabina Zinnagel (V.: Schützingen). Michael Z., Preßburg) (KB Preßburg). Pernreiter Hannß aus der Pfarrei Peuerbach (V.: Bachinger Matthiaß und Frau von Buierbach = † Hannß P., Bauer, oo Sabina), oo 11. 2. 1656 Peuerbach, 15. 9. 1647 Kauf eines Anwesens in Regensburg mit Barbara Baulehner (V.: Georg B., (Weißenburg-)Holzingen (Pflegamtsprotokolle Beisitzer Regensburg, oo Anna). Stadtarchiv Weißenburg, B 90/4, pag. 123). Popp Clemens/Clement, Mag., Pfarrer, vertrieben Barth Christoph, Beisitzer Regensburg, oo Maria. 1624, Vohenstrauß 1624, beerd. 2. 2. 1634 Regens- – Sohn Hans Christoph, getauft 12. 7. 1626 burg, oo Regina, beerd. 21. 8. 1634 Regensburg. – Regensburg. Sohn Abraham, beerd. 31. 7. 1634 Regensburg. – Barth Marx, Handelsmann und des Rats, 7.8. 1632 Sohn Johannes, beerd. 14. 8. 1634 Regensburg. – Beisitz Regensburg. – Sohn Wolfgang, oo 14. 7. Sohn Sigmund, gest. 25. 1. 1627 Regensburg, 1679 Nürnberg-St. Sebald mit Margaretha Bar- beerd. 17. 8. 1634 Regensburg. – Tochter Maria, bara Wolffcarl (V.: Johann W.). – Sohn Marx, Bür- beerd. 29. 8. 1634 Regensburg. – Sohn Wolfgang, gerrecht Regensburg, Hansgerichtsassessor und beerd. 12. 9. 1634 Regensburg (1634 Pestjahr in Mautamtsgegenschreiber Regensburg, gest. 1655, Regensburg!) (Krauß, Exulierte Pfarrer, in: BFFK 2. oo 14. 2. 1654 Regensburg mit Ursula Regina 28, 2005, Nr. 7). Hamman (V.: † Johann Thomas H., des Innern Popp Christof (Strnadt, Peuerbach, S. 526). Rats, Mitdirector des Allmosenamtes Regens- Brantauer Paulus in Thann bei Bechhofen (V.: burg, oo Margaretha) (Schnabel, Exulanten in † Sebastian B., Beck Peuerbach), oo 1661 Thann oberdeutschen Reichsstädten, München 1992, S. bei Bechhofen mit Catharina Heckel aus Arbes- 223 f., KB Nürnberg-St. Sebald). bach, NÖ (KB Sommersdorf-Thann). Brandauer/Prantauer Maria (V.: † Sebastian B., Brendlein Michael von Eckartsroith, OG Bruck- Beck Peuerbach, oo mit † Ursula), oo 13. 11. 1677 Waasen, oo 18. 2. 1651 Muhr am See (Altenmuhr) Regensburg mit Conrad Teiß/Theiß, Bruckzollner, mit Magdalena Gerhauser (V.: Bauer zu Wehlen- Witwer, Regensburg. berg, Pf. Muhr am See) (KB Altenmuhr, Trauun- Parth Hanß, des Rats, beerd. 30. 4. 1627 Regens- gen 1651, Nr. 2). burg. Preu Elisabeth, Witwe († Abraham P., Pfarrer Peu- Parth Elias (Strnadt, Peuerbach, S. 526). erbach), beerd. 3. 5. 1631 Regensburg, 80 Jahre Pauchinger Wolfgang (V.: †Wolf P., Pfarrer Peuer- (Strnadt, Peuerbach, S. 526). bach, 1599 verstorben), wohl 1627 ausgewandert Bruckmayer/Pruckmair Matthes, 19. 4. 1631 Bei- (Strnadt, Peuerbach, S. 451). sitz Regensburg, beerd. 3. 4. 1634 Regensburg, 82 Baumesberger Maria, ledig (V.: † Georg B., Lein- Jahre, oo NN, diese als Witwe 17. 11. 1634 Beisitz weber), beerd. 1. 6. 1664 Regensburg, 60 Jahre. Regensburg. Paur Matthias von Freylingen, Peuerbacher Pf., Bruckmeyer/Bruckmayer Maria (V.: † Matthäus beerd. 27. 7. 1658 Gunzenhausen, 52 Jahre 22 B., Marktrichter), beerd. 16. 5. 1667 Regensburg, Wochen minus 1 Tag (KB Laubenzedel, Beerdi- 73 Jahre. gungen 1658, Nr. 5). Toppelmaier Wolf, Tagwerker (V.: Georg T., Pf. Bayer Adam, Peuerbach, oo Sara, diese als Witwe Peuerbach, oo Susanna), oo 16. 6. 1652 Ortenburg gest. 23. 3. 1665 Bechhofen, Dek. Ansbach, 83 mit Susanna Weiß (V.: Georg T., Soldat, oo Maria) Jahre (KB Königshofen). (KB Ortenburg). Berchtoldt/Berthold Gregorius, Pfarrer, vertrieben Ebers Gottfried, gest. 8. 8. 1633 Stuttgart (KB 1624, Vohenstrauß 1624 (Krauß, Exulierte Pfarrer, Stuttgart). in: BFFK 28, 2005, Nr. 4). Eder Maria (V.: Leonhard E., Enzing, Pf. Peuer- Perger Simon von Obererleinsbach, Pf. Peuerbach bach), oo 8. 3. 1652 Westheim bei Heidenheim/H. (V.: † Hans P., Bauer, oo Martha), Trauzeuge mit Thomas Hager (V.: Jörg H., Hanging, Pf. Wai- Regensburg 4. 11. 1639, 27. 11. 1643 und 16. 12. zenkirchen, OÖ) (KB Westheim bei Heidenheim). 1644 Beisitz Regensburg, gest. vor 1674 Regens- Eder Maria (V.: Hans E., Fleischhacker, oo Marga- burg, oo 20. 6. 1642 Regensburg mit Magdalena retha), oo 29. 10. 1652 Ortenburg mit Michael Stieger von Usting, OG Bruck-Waasen, Witwe Sohnleutner (KB Ortenburg).

127 Edlmüller Sebastian, wohl aus Peuerbach, 12. 5. Golbaur Thomas, Zimmermann von Oberndorf, 1645 und 3. 11. 1645 Beisitz Regensburg. Pf. Peuerbach, oo 27. 1. 1657 Laubenzedel mit Ursula Weßer (V.: Abraham W., Laubenzedel) (KB Emmer Stephan von Oberdorf, Pf. Peuerbach (V.: Laubenzedel, Trauungen 1657, o. Nr., S. 151). † Abraham E., Bauer, oo Maria), oo 21. 8. 1643 Regensburg mit Barbara Krauttgartner (V.: † Pau- Gossel/Gessel Magdalena (V.: †Thomas G., Wei- luß K., Bauer Riernstorff Colommer Pf. = Rüh- reth, Pf. Peuerbach LoE), oo 6. 11. 1655 Schützin- ringsdorf, Pf. Kallham, OÖ, oo Magdalena). gen mit Gregorius Lehner (V.: †Wolff L., Ober- meyer, Watzenbach, Pf. Prambachkirchen LoE) Erlbeck Andreas, Goldschmied (V.: Marx E., des (KB Schützingen). Innern Rats, oo Rosina), oo 20. 7. 1655 Ödenburg Grab Sebastian, wohl aus Peuerbach, 3. 11. 1645 mit Maria Rüttinger, Witwe († Josef R., Gold- Beisitz Regensburg. schmied von Jägerndorf/Schlesien) (Weber, Glau- bensverfolgte in Deutsch-Westungarn, in: BFFK Gröl/Gröll/Grüll/Grell Heinrich, Kramer (V.: 22, 1999, S. 32). † Christoph G., Ehrbar, Marktschreiber, Richter, Weinhändler, oo Salome), 28. 9. 1660 Bürgerrecht Eyglinsrüder Martha (V.: † Abraham E., Aden- Regensburg, oo 20. 7. 1647 Regensburg mit Eva bruck, Pf. Peuerbach LoE), oo 21. 11. 1654 Schüt- Seibolt (V.: † Sebastian S., Ehrbar, Richter, Blin- zingen mit Jacob Haberkern (V.: † Jacob H., Schüt- denmarkt, NÖ, oo Elisabetha). zingen) (KB Schützingen). Gröll/Grell Salome, Witwe († Christoff G., Markt- Eyglinsrüder Magdalena (Vater wie vor), oo 18. 5. schreiber), oo 16. 8. 1628 Ortenburg mit Constan- 1658 Schützingen mit Wolf Angermeyer (V.: tinus Hueber (KB Ortenburg). † Hannß A., Oberngrub, Pf. Peuerbach LoE) (KB Schützingen). Gröl/Gröll/Grüll/Grell Regina (Eltern wie vor), oo 26. 11. 1649 Regensburg mit Christoph Vogel, Eyssenberger Anna Maria (V.: † Christoph E., Schneider von Frankenmarkt, OÖ (V.: † Abraham Weber Birrbach = Peuerbach?), oo 27. 10. 1657 V., Schneider, oo Ursula). Großhabersdorf mit Leonhard Lohbe, Bauknecht (V.: † Conrad L., Bauer Aichazandt nach Sulz- Gröl/Gröll Elisabeth (Eltern wie vor, Stiefvater: bach/Opf. gehörig) (KB Großhabersdorf). Konstantin Huber, Wunsiedel/Ofr), oo 1. 2. 1648 Wunsiedel mit Hans Keller von Großhabersdorf, Vogelhuber Christoph, aus LoE in Pf. Peuerbach Markgrafschaft Ansbach (KB Wunsiedel). bürtig, Leinweber, jetzt Hirte Höfstetten, Pf. Bürg- lein, oo 12. 11. 1655 Bürglein mit Kunigunda Grell Sabina (V.: Hans G., oo Barbara), oo 5. 8. Schirmer (V.: † Hanß S., Bauer Höfstetten) (KB 1628 Ortenburg mit Adam Haller (KB Orten- Bürglein). burg). Freyberger Sara, Witwe aus Boyerbach, 6. 9. 1637 Grueber Daniel, Bortenwirker, 13. 2. 1657 Bürger- Beisitz Regensburg: „NB. Haben dabey die Her- recht Regensburg. ren Referentarij vermeldet, man hette studio ihr Grueber Hans, Hueter, 1626 Beisitz Regensburg. nichts auferlegt, seye ein alt Weib, deren Vermö- Identisch mit folgendem Hans Gruber? (Fischer, gen man nicht wissen könnte.“ (Beisitzbuch Exulanten, S. 22 f.). Regensburg; Fischer, Exulanten, S. 22 f.; Strnadt, Grueber Hans, Tagwerker, 1630 Beisitz Regens- Peuerbach, S. 526) burg. Identisch mit vorstehendem Hans Gruber? Fridwagner Susanna, beerd. 27. 8. 1632 Regens- (Fischer, Exulanten, S. 22 f.). burg, 51 Jahre. Hadergasser/Hadergaßer Johann/Hans, Pfarrer, Funck Reichard/Raimund mit Frau von Hohenfel- vertrieben 1624, 1624 Vohenstrauß (Krauß, Exu- discher, Pfleger, 2. 12. 1620 bis 5. 1. 1624 Beisitz lierte Pfarrer, in: BFFK 28, 2005, Nr. 36). Regensburg (für das 1. Halbjahr 3 Goldfl. Gebühr, Hädinger Susanna, Witwe († Hans H., Bäcker), oo dann jährlich 18 fl.). 29. 5. 1629 Ortenburg mit Joachim Pachmayr (KB Gleißlhamer Christoph, Soldat in der Stadtquartj Ortenburg). Regensburg (V.: † Galus G., Gastgeber Peuerbach Hahn Apolonia (V.: †Wolff H., Löffelmacher, oo LoE, oo Susanna), oo 13. 1. 1656 Regensburg Eva), oo 6. 7. 1669 Regensburg mit Hannß Pür- mit Dorothea Wolff (V.: †Wolfgang W., Bauer, ckenmair, Pfannenschmied, Regensburg (V.: Piberbach = Biberbach in der Churpfalz, oo † Georg P., Pfannenschmied, Regensburg, oo Susanna). † Sophia).

128 Hannß Eva (V.: †Wolff H., oo Eva), oo 25. 4. 1664 „Nr. 80. Fraw Sidonia Höhenfelderin, des Wol Regensburg mit Johann Bisch von Stralsund, Edelgebornen Herrn Christoff Höhenfeldern, zu Gefreiter in der Stadtquardy Regensburg (V.: Eyssersheim und Talmeck, Weidenholtz und Wat- † Johann B., Bierbrauer, oo Margaretha Elisabe- zenkirchen, ect. sel. hinterlassene Fraw Wittib, tha). eine geborne Herrin von Zintzendorff, mit acht Haslauer Hans, Leinweber (V.: Michael H., Lein- Herren Söhnen, und einer Fräwlein Tochter.“ weber, oo Agatha), oo 12. 1. 1636 Regensburg mit (Clauß) Folgende Namen der Kinder sind Susanna Edl (V.: † Paulus E., Vöcklabruck LoE). bekannt: Sigmund, Georg, Ludwig, Heinrich, Ott, Hasslauer Wolf, oo 11. 11. 1628 Eger mit Dorothea Augustus, Adam (Archiv für Oberfranken 1634, Kempf (V.: † Mathes K., Leinweber, Eger) (KB S. 31; Clauß, Exulantenverzeichnisse, in: Beiträge Eger). zur bayer. Kirchengeschichte 13, 1907, S. 241, und 18, 1912, S. 117: KB Wunsiedel). Hayden Christoph, Schneider, 7. 3. 1639 Bürger- recht Regensburg. Holzleitner Anna, Witwe (†Wolf H., Pf. Peuer- Hedel/Hedelin Eva, geb. 1626 auf einer Mühle bei bach), Patin 12. 6. 1640 Regensburg. Peuerbach, über Regensburg und Nürnberg nach Huber Regina (V.: Hans H., Adenbruck, Pf. Peuer- Lorch/Württ. (Seelenregister Lorch). bach), oo 6. 7.1658 Mühlhausen an der Enz/Württ. Heitzinger Regina (V.: Andreas H., oo Maria), oo mit Caspar Schermayer (KB Mühlhausen/Enz). 25. 8. 1650 Ortenburg mit Mathäus Schöber (V.: Hueber Anna (V.: † Hanns H., Wagner Breitau, Georg S., oo Barbara, Pf. Oftering) (KB Orten- Herrschaft Peuerbach, oo Catharina), oo 10. 9. burg). 1661 Regensburg mit Caspar Hardt, Bürger, Hermann Franz, Leinweber (V.: Hans H., oo Schuhmacher, Witwer, Regensburg. Susanna), oo 12. 5. 1629 Ortenburg mit Apollonia Hueber Hanß (V.: † Hans H., Wagner, oo Catha- Schötl (KB Ortenburg). rina), 7. 7. 1639 Beisitz Regensburg, oo 13. 6. 1642 Hofinger Hannß, Bauer, Witwer, Obererleinsbach, Regensburg mit Martha Weidinger (V.: † Hans W., gest. 20. 11. 1688 Schützingen, oo 29. 5. 1649 Bauer, Bötting LoE, oo Maria). Regensburg mit Maria Stieger (V.: Georg S., Hueber Maria (V.: † Hannß H., Wagner, Breitau, Bauer Usting = Pf. Kallham, OG Bruck-Waasen Pf. Peuerbach, oo Catharina), oo 12. 10. 1647 LoE, Sohn aus seiner 1. Ehe mit Catharina, seine 2. Regensburg mit Hannß Hoffinger (V.: †Wolf H., Ehe mit Magdalena, die als Witwe Simon Perger Bauer, Edlsbach LoE = ? Ober-/Untererleinsbach, heiratet), später in Schützingen/Württ (KB Schüt- Pf. Peuerbach, oo Dorothea). zingen). Hofinger Martha (V.: † Martin H., Bauer, Blinden- Hueber Catharina, Witwe († Hannß H., Wagner), au LoE in Pf. Peuerbach gehörig), oo 6. 7. 1656 Breitau, Pf. Peuerbach, 30. 7. 1639 und 3. 11. 1645 Büttelbronn bei Pappenheim mit Balthasar Auern- Beisitz Regensburg, beerd. 3. 12. 1648 Regens- heimer, Weber und Witwer Büttelbronn (Schoe- burg, 65 Jahre. ner, Österreichische Einwanderer in der Diözese Huebmann Georg, Mühlknecht, Oberachtel (V.: Pappenheim, in: BFFK 2, 1927, Nr. 107). † Balthas H., Weber), oo 30. 12. 1670 Osternohe mit Künigunda Häckel (V.: † Simon H., Köbler, Höll Andreas (V.: † Marx H., Adenbruck, Pf. Peu- Eichenstruth, Pf. Plech) (KB Osternohe). erbach LoE, jetzo aber Bernhard Bertsch, Hof- meister zu Maulbronn, gewesener Schultheiß zu Huebmer Barbara (V.: † Hannß H., Bauer, oo Zaisersweiher, adoptierter Sohn), oo 7. 2. 1665 Catharina) oo 12. 3. 1648 Regensburg mit Philipp Schützingen mit Maria Pulßhamer (V.: † Sebas- Stöttinger aus Pf. Wels LoE (V.: † Bernhard S., tian P., Beisitzer Schützingen, vorher Meyer zu Bauer, oo Margaretha). Pulsham, Pf. Taufkirchen LoE) (KB Schützingen). Huebner Hans, 1. oo 1. 6. 1669 Ostheim bei Hei- Hohenfeld von/Hohenfelder Christoph, Herr- denheim Barbara Lichtenwalder, Witwe (†Tho- schaftsinhaber Peuerbach, Exulant Sulzbach/Opf., mas L.) aus Kirchbach, NÖ, diese beerd. 8. 5. 1674 1630 Wunsiedel, 1631 gest. in Wunsiedel, oo Sido- Ostheim, 2. oo 28. 7. 1674 Ostheim Maria Marga- nia von Zinzendorf, diese 17. 1. 1636 Patin Wun- retha Seybold (V.: Simon S., Zimmermann, Dam- siedel, Beisitz Regensburg 21. 7. 1637 („. . . ist der bach) (KB Ostheim bei Heidenheim). Beysitz auf 1 Jahr lang gegen 3 Goldfl. Verwilligt.“) Inzinger Magdalena, ledig (V.: † Christoph I., und 14. 6. 1638, beerd. 10. 4. 1640 Regensburg, 56 Taglöhner, Pf. Peuerbach), beerd. 25. 6. 1667 Jahre. Regensburg, 70 Jahre.

129 Kaisermeier/Kasenmeier/Casenmeyer Hans in Windprechting bei Peuerbach), oo 26. 2. 1655 Ber- Döckingen am Hahnenkamm, „geboren in Pf. gen mit Stephan Feldschmidt (V.: † Leonhard F., Peuerbach, 1639 der Religion halber vom Vater- Köbler, Ortenburg, Nbay) (KB Bergen-Kalten- land gewichen“, zweimal verheiratet, 2. Ehe mit buch). Barbara, beerd. 2. 4. 1676 Döckingen (KB Döckin- Kruechhauff Maria, Witwe († Hannß K.), beerd. 8. gen). 12. 1664 Regensburg, 70 Jahre 20 Wochen. Kaisermeier/Kasenmeier/Casenmeyer Tobias, Küttner Johann, Pfarrer in der Herrschaft Peuer- Gerichtsmann in Polsingen bei Heidenheim, geb. bach, 1621 tot, oo Ursula, deren 2. oo 6. 7. 1621 1620, beerd. 8. 3. 1684 Polsingen (V.: Wolf K., Ortenburg mit Balthasar Lösel, Ortenburg. – Bauer, Langenpeuerbach, Pf. Peuerbach), oo 24. 6. Tochter Regina, oo 15. 7.1636 Ortenburg mit Mar- 1650 Polsingen mit Walburga Lacker (V.: Jörg L.) tin Putz, Handelsmann. – Tochter Ursula, oo 27. 9. (KB Polsingen). 1641 Ortenburg mit Sebastian Pühel. – Sohn Callgruber Barbara (V.: † Georg C., Weber) beerd. Johann, Apothekergesell, beerd. 14. 7. 1645 28. 7. 1676 Regensburg, 78 Jahre 4 Monate 3 Tage. Regensburg, 25 Jahre (Krauß, Exulierte Pfarrer, in: Kapsreiter Margaretha (V.: Elias K. oo Margare- BFFK 28, 2005, Nr. 81). tha) oo 22. 6. 1659 Ortenburg mit David Kalten- Lanawer Susanna (V.: Hannß L., Leinenweber, böck (V.: Michael K., oo Apollonia, Hardobler- Krummbach, Pf. Peuerbach), oo 23. 1. 1666 Schüt- Gut LoE) (KB Ortenburg). zingen mit Matthias Urtelbauer (V.: † Paul U., des Gemeinen Rats Schützingen) (KB Schützingen). Kastner/Castner Hanß, Bauer, Liegling, Pf. Peuer- bach, seit 1651 Gräfenbuch (bis 1812 Pf. Obersulz- Leidenfrost Maria, Witwe, 1685 Beisitz Regens- bach). – Tochter Eva, oo 1662 Laubenzedel mit burg (Fischer, Exulanten, S. 22 f.). Hans Angerer (V.: Abraham Angerer, Müller, Lettengruber/Ladegruber Magdalena, beerd. als Obersulzbach, aus LoE). – Sohn Thomas, oo 11. 2. Witwe († Abraham L., Schuhmacher) 13. 10. 1669 1667 Gräfenbuch mit Eva Heheberger aus Grama- Regensburg, 83 Jahre. – Sohn Abraham, Schuh- stetten LoE (Witwe des Adam Posch aus Gras- macher, beerd. 17. 6. 1639 Regensburg, 20 Jahre. bach, OÖ). – Tochter Catharina, geb. 1623, oo 27. Lichtenberger/Liechtenberger Thomas, Bauern- 6. 1652 Flachslanden mit Abraham Ellinger aus knecht (V.: Stephan L., Bauer), 1652 Beisitz LoE (V.: Adam E., Bauer, OÖ). – Sohn Georg, geb. Regensburg (Fischer, Exulanten, S. 22 f.), oo 25. 7. 23. 4. 1621, „oft mit Gefahr zum Abendmahl nach 1652 Wengen mit Anna Ambler (V.: † Leonhard Ortenburg“, 1650 ausgewandert, beerd. 13. 12. A., Going/Bayern) (KB Wengen). 1708 Lehrberg, 87 Jahre, oo 2. 3. 1657 Lehrberg Liechtensteger Maria (V.: † Georg L., Glaser, oo mit Anna Huber (V.: Matthes H., Glaser, Bubach/ Maria), oo 31. 3. 1643 Regensburg mit Daniel Bullach in Bayern) (Rusam, Österreichische Exu- Guettermann, Cordawonmacher, Regensburg (V.: lanten, S. 115; KB Obersulzbach, Laubenzedel, Georg G., Cordawonmacher und Lederbereiter, Flachslanden, Lehrberg). oo Barbara). Keferl Wolfgang, Küfergesell († Hans K.), 1. oo 3. Lichtenberger/Lichtensteger Georg, Glaser, 1626 9. 1633 Regensburg mit Margaretha, diese beerd. Beisitz Regensburg (Fischer, Exulanten, S. 22 f.). 15. 9. 1633 Regensburg (nach zwölftägiger Ehe), 2. oo Regensburg mit Margareta Pügler (V.: Stephan Liechtensteger Susanna (Eltern wie vor), oo 4. 7. P., Klingenschmied, Steyr). 1642 Nürnberg-St. Sebald mit Gallas Walth, Gla- ser (V.: Gallas W., Glashändler) (KB Nürnberg- Klesang/Clesam Hans, wohl aus Peuerbach, 7. 1. St. Sebald). 1645 und 3. 11. 1645 Beisitz Regensburg. Lichtensteger Hans, Witwer, Soldat in Nürnberg- Knoll Georg, Bäcker, Purbach (= Peuerbach?, Pur- Wöhrd, von Peuerbach aus LoE in Österreich, bach am Neusiedler See?), oo 9. 2. 1649 Preßburg beerd. als Glaser 10. 10. 1664 Nürnberg-Wöhrd, mit Eva Roisam (V.: Johann R., Preßburg) (KB 61 Jahre, oo 17. 1. 1642 Wöhrd mit Maria Magda- Preßburg). lena Ulrich (V.: † Georg U., Vogt, Neckenhof und Knoll Wandula (V.: † Hannß K., Bauer am Hoff in Heroldsberg), beerd. als „Glasers vidua“ 3. 4. 1689 der Peuerbacher Pfarr LoE, oo Maria), oo 11. 3. Nürnberg-Wöhrd, 73 Jahre (KB Nürnberg- 1661 Regensburg mit Stephan Schwab, Bürger, Wöhrd). Schneider, Witwer, Regensburg. Lindmayr Maria, Witwe († Hans L., Schuhma- Knollmajer Maria (V.: † Bernhard K., Köbler, cher), beerd. 4. 1. 1680 Regensburg, 74 Jahre.

130 Löschengruber Jörg, Zimmermann, Ursheim (V.: Münchthaler Apolonia (V.: Christof M., Gastge- Sebastian L., Binder, Adenbruck, Pf. Peuerbach), ber, oo Barbara), oo 9. 2.1627 Ortenburg mit Hans oo 13. 8. 1645 Ursheim mit Magdalena Megeshei- Geiding/Gaidinger, Braumeister, Ortenburg (KB mer, gest. 27. 12. 1610 Ursheim (V.: Michael M., Ortenburg). Jäger) (KB Ursheim-Trendel). Neuwirth Hans, Bauer (V.: Hans N., Leinenweber), Löschengruber Rosina (V.: † Stephan L., Bauer, oo 25. 2. 1679 Eltersdorf mit Maria Reichel. – Löschengrub LoE, oo Barbara), oo 21. 7. 1640 Sohn Paulus, getauft 22. 8. 1682 Eltersdorf, beerd. Regensburg mit Michael Benner, Schmied (V.: 26. 5. 1726 Eltersdorf (KB Eltersdorf-Tennen- † Paulus B., Schmied, Geyget in der Churpfalz = lohe). Geigant Opf). Obel Sebastian, Bauer, Ursheim, von Adenbruck, Maier Abraham (V.: † Bernhard M., Maierhof in Pf. Peuerbach, beerd. 2. 1. 1660 Trendel, oo Ried, Pf. Peuerbach), oo 7. 8. 1643 Alfershausen Rosina, diese beerd. 30. 6. 1656 Trendel. – mit Ursula Bernreuther (V.: Georg B., Tiefenbach, Genannt werden die Kinder Hans, Apolonia und Pf. Alfershausen, aus LoE) (KB Alfershausen). Margaretha (KB Ursheim-Trendel). Maingader Elias, Beisitzer, Regensburg, beerd. 23. Obeneder Wolf von Burgstall in Pf. Peuerbach (V.: 4. 1633 Regensburg. Jörg O.), 1645 in Ursheim, ab 1653 in Polsingen, Mairhofer Maria (V.: Max M., Schuster, Waasen, beerd. 9. 1. 1676 Polsingen, 1. oo 1645 Alerheim Pf. Peuerbach, oo Barbara), oo 7. 10. 1655 Orten- mit Susanna Schöberlin (V.: Jörg S., Süßenbach, burg mit Wolf Stainer, Schuster (V.: Christian S., Pf. Waizenkirchen LoE), 2. oo 2. 5. 1669 Polsingen Schuster, Eckartsroith, Pf. Peuerbach, oo Anna) mit Maria Reiter (keine Elternangabe) (KB Aler- (KB Ortenburg). heim, KB Polsingen). Marberger Marx von Baurbach LoE, oo 31. 5. Obeneder Susanna (Herkunft und Vater wie 1639 Augsburg-Barfüßer mit Catharina Wälchinst oben), oo 12. 3. 1650 Westheim bei Heidenheim von Giengen, Witwe des Joseph Klingenbaum mit Wolf Schwarzländer (V.: † Hans S., Schwarz- (Forschung Pfr. Riemer). land, Pf. Ungenach/Atzbach, OÖ) (KB Westheim bei Heidenheim). Mayberger Rosina (V.: Valentin M., Bäcker, oo Magdalena), oo 24. 11. 1625 Ortenburg mit Georg Obinger Georg, 27. 11. 1643 Beisitz Regensburg. Löser (KB Ortenburg). Ottentaler/Ottenthaler Thomas, Taglöhner, Mayr Georg (V.: Josef M., oo Magdalena), oo 21. Auernheim (V.: Thomas O., Taglöhner, Haargas- 2. 1645 Ortenburg mit Rosina Rührberger (KB sen, Pf. Peuerbach), oo 24. 8. 1669 Auernheim mit Ortenburg). Magdalena Schnürlein (V.: Veit S.) (KB Auern- Medelbauer/Meelbauer Simon, von Bruck an der heim). Aschach, Pf. Peuerbach, gest. 22. 8. 1666 Unterwe- Räntsch Maria, Witwe († Hanß R., Bauer und chingen, ab 1656 Ochsenhirt, Wechingen, oo Küfer), beerd. 17. 9. 1658 Regensburg, 68 Jahre. Catharina, diese gest. 17. 6. 1685 Unterwechingen Räntsch Elisabetha (V.: † Hanß R., Küfer), oo 1. 11. (KB Wechingen). 1652 Regensburg mit Gabriel Mayrhofer, Bürger, Meller Abraham, Schwarzfärber (V.: Christof M.), Witwer, Branntweinbrenner („Prantweinprenner“), oo 12. 12. 1598 Weißenburg mit Witwe Pheronica Regensburg. NN (Kartei † Dr. Blendinger). Reitter Anna (V.: † Sebastian R., Schneider, oo Meyer Apollonia (V.: Hans M., im Beckenhof, Pf. Susanna), oo 11. 11. 1645 Regensburg mit Caspar Peuerbach), oo 15. 9. 1661 Mühlhausen an der Enz Miller, Schneider von Schönfeld in Böhmen (V.: mit Andreas Fliegenmayer, Wagner, Witwer, aus † Andreas M., Mulzer, oo Catharina). LoE (KB Mühlhausen/Enz). Reitter/Reither Heinrich, Schneider (Eltern wie Mittermeier Katharina (V.: Abraham M., Bruck vor), 1647 Beisitz Regensburg, oo 2. 8. 1647 LoE = ? Pf. Peuerbach), oo 16. 11. 1695 Ortenburg Regensburg mit Catharina Schneckh (V.: † Georg mit Matthias Rahmer, Bindergeselle aus dem S., Metzger, Hinderberg in der fürstl. Pfalz = Württemberger Land (KB Ortenburg). Oberpfalz). Mossmayr Susanna (V.: †Wolf M., Bauer, oo Reutter Johann, geb. 1633 Peuerbach, gest. 1678 Martha), oo 28. 9. 1641 Regensburg mit Martin Rehlingen, 1668 Pfarrer in Rehlingen (Edmund Gottamair, Witwer, Triendorf, OÖ = Pf. Oftering. Schoener, Pappenheim. Pfarrerbuch, Nr. 145).

131 Rittberger Franziscus, Schuhmacher (V.:†Thomas dachstetten, oo 23. 4. 1661 Mitteldachstetten mit R., Müller, LoE auf einer in der Pf. Peuerbach gele- Barbara Löder (V.: Georg L., Bauer, Mitteldach- genen Mühle), oo 4. 2. 1673 Thalmässing-St. stetten) (KB Mitteldachstetten). Michael mit Maria Bernwolfinger (V.: Matthias B., Stainer Wolf, Schuster (V.: Christian S., Schuster, Schuhmacher, Thalmässing, vulgo der Ländlein- Eckartsroith, Pf. Peuerbach, oo Anna), oo 7. 10. schuster) (Thalmässing-St. Michael). 1655 Ortenburg mit Maria Mairhofer (V.: Max Röger Sebastian, Witwer, Unterwirsingen, Herr- M., Schuster, Waasen, Pf. Peuerbach, oo Barbara) schaft Peuerbach, oo 4. 11. 1639 Regensburg mit (KB Ortenburg). Barbara Pronberger, Witwe (†Wolff P.). Staudinger Simon, Bauer in Ursheim, von Gries- Röniger Ursula (V.: † Hans R., Gastgeber, oo bach LoE = Griesbach, Pf. Peuerbach, gest. 5. 5. Ursula) oo 6. 3. 1637 Regensburg mit Peter Schör- 1684 Ursheim, oo mit NN, beerd. 1. 7. 1652 mer, Soldat (V.: † Johann S., Zimmermann aus Ursheim. – Tochter Maria, geb. ca. 1645 (KB Niterlandt von Achen). Ursheim-Trendel). Schabbasberger/Schabetzberger Martin, gest. 11. Stauthauser Merten, Tagwerker, Peuerbach, 3. 6. 3. 1671 Neuendettelsau, oo Martha, gest. 23. 1. 1667 Bürgerrecht Regensburg. 1689 Neuendettelsau, erwerben Anwesen Neuen- Steger Maria (V.: † Sebastian S., Unterwirsingen, dettelsau 19. 6. 1658 (StAN Bestand von Eyb, Pro- Herrschaft Peuerbach), oo 6. 8. 1667 Muhr am See tokolle, Band 33 f., 29). – Sohn Johann, Bauer, mit Johann Bahr, Dorfbürgermeister, Altenmuhr Ansbach-Eyb, geb. 1641 Pf. Peuerbach, gest. 28. 2. (KB Altenmuhr, Trauungen 1667, Nr. 2). 1708 Eyb, 67 Jahre, oo 21. 11. 1671 Eyb mit Anna Elisabetha Herbst. – Tochter Apollonia Patin 11. 7. Steidelmayr/Steidelmayr/Städelmeyer/Seidel- 1669 Neuendettelsau (KB Neuendettelsau, KB mayer Christoph Mag., 1599 Wittenberg imm., Ansbach-Eyb). Pfarrer Litschau, NÖ, Pfarrer Frankenburg, OÖ, Schauer Martha (V.: † Matthias S., Schneider, oo 1624 vertrieben, Pfarrer Neuhaus, NÖ, wohl 1627 † Urßula), oo 14. 9. 1668 Regensburg mit Matthias vertrieben, Regensburg ohne Amt, 1632 / 33 Knörr, Beisitzer und Pflasterer, Regensburg (V.: Agendorf bei Ödenburg/Ungarn, dann Pfarrer † Hanns K von Stuttgart, Gefreiter unter dem Hol- Ödenburg, oo Maria Magdalena NN. – Kinder: steinischen Regiment, oo mit † Susanna Barbara). Anastasia, gest. 22. 8. 1629 Regensburg. – Poly- xena, oo 3. 7. 1647 Ödenburg mit Hans Beck (V.: Schindler Thomas, Soldat bei hiesiger (= Regens- † Hans Beck, Gastgeber bei Jena). – Georg burg) Stadt-Guardy, ledig (V.: Hanns S.), beerd. Andreas, Schnürmacher, oo 20. 8. 1647 Ödenburg 14. 4. 1669 Regensburg, 67 Jahre. mit Maria Gayer (V.: † Hans G., Pfleger in Bergau Schlager Tobias, Gastgeber, Neukirchen am Wald bei Hollabrunn, NÖ). – Sidonia, oo 14. 10. 1659 (Herrschaft Peuerbach), 30. 10. 1626 Beisitz Ödenburg mit Thomas Khälbel, Schneider (V.: Regensburg, oo mit Magdalena. – Tochter Bar- † Urban K., Schneider, Zettwing in Böhmen). – bara, gest. 11. 8. 1627 Regensburg (Strnadt, Peuer- Tochter NN, oo Hans Kirchweger, Schneider, bach, S. 526). Ödenburg, dort öfters genannt, z. B. 17. 2. 1670, Schoner Catharina, ledig (V.: † Johann S., Brau- 14. 10. 1659. – ? Rebecca, oo 26. 11. 1642 Preßburg verwalter), beerd. 26. 6. 1692 Regensburg, 78 Matthias Kibelch, Witwer (Krauß, Exulierte Pfar- Jahre. rer, in: BFFK 28, 2005, Nr. 124; Weber, Glaubens- verfolgte in Deutsch-Westungarn, in: BFFK 22, Schröckhinger Anna (V.: †Wolf S., oo Anna), oo 1999, S. 7 ff.; KB Preßburg). 27. 6. 1648 Regensburg mit Tobias Wiellen (V.: HannßW.,Bauer,Haag,GergerPfarr=Pf.St. Steinbrecher Michael (V.: † Hans S., Bruck LoE = Georgen, oo Catharina). ? Pf. Peuerbach), oo 2. 1647 Ehningen, Kreis Böb- lingen/Württ. mit Barbara Heter, Witwe († Hans Schorndorff (?) Simon, oo Margaretha. – Sohn H.) (KB Ehningen). Johannes, gest. 12. 1649 Ebersbach/Fils (KB Ebers- bach/Fils). Steinbrucker Thomas von Steinbach/Steinbruck „aus der Burber Pfarr im LoE“ = ? Peuerbach, Zim- Sailer Wolf, Metzger, 1626 Beisitz Regensburg mermann Wechingen, gest. 31. 12. 1677 Unterwe- (Fischer, Exulanten, S. 22 f.). chingen, oo mit Veronica, gest. 16. 1. 1688 Unter- Seiler/Saler Hanns, geb. vor 1641 Peuerbach, wechingen. – Tochter Maria, geb. ca. 1641, beerd. 1661–1708 Bauer Mitteldachstetten bei Ober- 2. 5. 1681 Unterwechingen. – Sohn Andreas, Zim-

132 mermann, Wechingen, gest. 13. 8. 1685 Unterwe- Wetzlmayr/Wezelmayer Georg, Ratsbürger, Gast- chingen. – Tochter Anna, oo 10. 1. 1671 Unterwe- geber, Beisitzer Regensburg, beerd. 1. 5. 1634 chingen mit Melchior Mäuslein (V.: Peter M., Regensburg, oo mit Barbara, diese beerd. 20. 9. Schäfer) (KB Wechingen). 1626 Regensburg. Steiner Eva (V.: † Christoph S.), oo 23. 11. 1675 Weydinger Barbara, Witwe († Georg W., Peuer- Zaisersweiher/Württ. mit Sebastian Söldner aus bach LoE), oo 24. 2. 1650 Löchgau/Württ. mit Pichl LoE (KB Zaisersweiher). Hanß Hagelstorf (V.:† Andreas H., Waizenkirchen Stieger Magdalena, Witwe († Georg S., Usting, Pf. LoE) KB Löschgau/Württ.). Peuerbach, heute Pf. Kallham), Beisitz Regensburg Wißmair Simon, Bauer, 1626 Beisitz Regensburg 6. 12. 1641, gest. 10. 1. 1674 Schützingen, 2. oo 20. (Fischer, Exulanten, S. 22 f.). 6. 1642 Regensburg mit Simon Perger (V.: † Hans Wolff Eva, Witwe († Hans, Soldat), beerd. 13. 3. P., Obererleinsbach, Pf. Peuerbach) (KB Schützin- 1676 Regensburg, 72 Jahre. gen). Zapf Barbara (V.: Georg Z.), oo 13. 11. 1656 Preß- Stieger Maria (Eltern vorstehend), oo 29. 5. 1649 burg (damals Ungarn) mit Johann Müller, Witwer Regensburg mit Hanß Hofinger, Witwer, Bauer (KB Preßburg). von Obererleinsbach, Pf. Peuerbach, beide in Zinzendorf von Sidonia, Beisitzerin Regensburg Schützingen. 14. 6. 1638, beerd. 10. 4. 1640 Regensburg, 56 Stieger Eva (Eltern vorstehend), oo 26. 11. 1650 Jahre, oo Christoph von Hohenfeld. Schützingen mit Matthias Aschinger (V.: † Bern- hard A., Aschach, Pf. Waizenkirchen LoE) (KB Schützingen). III. Der Zeitpunkt der Auswanderung Stieger Susanna (Eltern vorstehend), oo 24. 4. 1654 Regensburg mit Christoph Gerwolff, Bürger, Wann zogen die Exulanten in die Schuhmacher, Witwer, Regensburg. Fremde? Stieger Apolonia (Eltern vorstehend), oo 4. 7. 1654 Es ist nicht möglich, einen genauen Regensburg mit Zacharias Lenck, Schneider (V.: Zeitpunkt zu ermitteln, da aus Peuer- † Georg L., Beck Falckenstein im Voitland, oo bach keine Termine für den Abzug be- Catharina). kannt sind. Die fränkischen und würt- Stieger Paulus (Eltern vorstehend), oo 28. 4. 1656 tembergischen Kirchenbücher zeigen Schützingen mit Apollonia Pulßhammer (V.: Sebastian P., Meyer, Pulsham, Pf. Taufkirchen nur an, dass Exulanten aus Peuerbach LoE, jetzt Schützingen) (KB Schützingen). hier wohnten und lebten. Doch dürfen Strasser Jacob, Schuhmacher (V.: Simon S., Peuer- wir davon ausgehen, dass Trauungen bach, dann Maurer, Ortenburg), 17. 2. 1658 Bür- und Aufnahmen als Beisitzer nicht allzu gerrecht Regensburg, oo 12. 1. 1658 Regensburg lange nach der Zuwanderung zu datie- mit Margaretha Mosser (V.: † Hanß M., Schuh- ren sind. macher, Regensburg). Immerhin sei hier eine Aufstellung Strasser Stephan, Brauknecht, 5. 11. 1658 Bürger- gebracht, die in Intervallen von zehn Jah- recht Regensburg. ren die Erwähnung der Peuerbacher Exu- Weiß Susanna (V.: Sebastian W., Müller, Böcken- lanten in den Kirchenbüchern und städ- hof, Pf. Peuerbach, oo Magdalena), oo 29. 12. 1642 tischen Unterlagen ihrer neuen Heimat- Regensburg mit Jacob Bernstainer, Taglöhner (V.: orte aufzeigt. Hanß B., Bauer, Heiligenblut im Salzburger Land, oo Agnes). Vor 1620 ist nur eine einzige Nen- nung bekannt: Im Jahr 1599 siedelt sich Wennhart Wolfgang, Weber (V.: † Christoph W., der Schwarzfärber Abraham Meller in Schneider, Obererleinsbach, Pf. Peuerbach), oo 21. 7. 1661 Mühlhausen an der Enz mit Catharina der Reichsstadt Weißenburg an. Schmid, Witwe († Matthes S., Zimmermann, Dann folgen die Jahre 1620–1629 mit Mühlhausen) (KB Mühlhausen/Enz). 46 Nennungen, 1630–1639 mit 25 Nen-

133 Neue Heimat im süddeutschen Raum: evangelische Kirchen in Lehrberg und Flachslanden. (Beide Zeichnun- gen aus: Eberhard Krauß – Friedrich Krauß: Exulanten im Evang.-Lutherischen Dekanat Ansbach, 2004)

134 nungen, 1640–1649 mit 40 Nennungen, Doch auch fränkische und württem- 1650–1659 mit 56 Nennungen, 1660– bergische Gemeinden werden als neue 1669 mit 27 Nennungen, 1670–1679 mit Heimat der Peuerbacher Exulanten aus- 8 Nennungen, 1680–1689 mit 2 Nennun- gewiesen. Der fränkische Raum um Wei- gen, 1690–1699 mit 2 Nennungen. ßenburg, Gunzenhausen, Heidenheim Die Aufstellung verdeutlicht, dass es a. H. und Ansbach findet häufige Nen- die politisch und religiös wirre Zeit zwi- nung. Auch weiter entfernt gelegene schen 1620–1660 gewesen war, in der die Orte haben Peuerbacher angezogen: In größte Zahl der Peuerbacher Exulanten Eltersdorf, auf dem Land also (heute zur ihre Heimat verließ und ins Ausland Stadt Erlangen gehörig), heiratet 1679 ging, gleich, ob man das nun als Flucht der Bauer Neuwirth, in der Stadt Nürn- oder als Vertreibung bezeichnen will. berg arbeitet der Handwerker Hans Lichtensteger, ein Glaser, und auch Su- sanna Lichtensteger, wohl seine Schwe- IV. Die Zuzugs- bzw. Aufenthaltsorte ster, findet dort ihr Glück. Im Nürnber- der aus Peuerbach stammenden ger Umland, in Osternohe, tritt der Exulanten Mühlknecht Georg Huebmann, der auf der Mühle im benachbarten Oberachtel Wo zogen sie hin? In welchen Orten, dient, in den Stand der Ehe. in welchen Kirchenbüchern hinterließen Orte in Württemberg werden von sieihreSpuren? den Exulanten aus Peuerbach desglei- chen zur Ansiedlung gewählt. Acht Per- Übersicht sonen/Familien finden sich allein in Am häufigsten erscheinen die Schützingen bei Maulbronn. Mühlhau- Reichsstadt Regensburg und der mitten sen an der Enz nimmt drei Zuwanderer im bayerischen Gebiet liegende evange- auf. Lag es daran, dass dort seit 1648 Jo- lische Markt Ortenburg als Ziel- oder hann Hohenfelder, ein Sohn von Ludwig Durchgangsorte. Das zeigt die Bedeu- Hohenfelder und Neffe von Christoph tung und die Wichtigkeit beider Orte für Hohenfelder, Schlossbesitzer war? Wei- dieevangelischenChristeninÖster- tere württembergische Orte sind im fol- reich, und zwar vor wie nach der Aus- genden Ortsregister aufgeführt. Aller- wanderung bzw. Vertreibung. Vor der dings ist darauf hinzuweisen, dass für Auswanderung war z. B. Ortenburg ein Württemberg, im Gegensatz zu Franken, Ziel, wenn man das Abendmahl unter noch keine systematischen Untersu- beiderlei Gestalt empfangen wollte. Im chungsergebnisse über die Zuwande- Kirchenbuch Lehrberg steht anlässlich rung der Exulanten vorliegen. der Beerdigung des Georg Kastner aus Einige wenige Peuerbacher Exulan- Liegling im Jahre 1708 der Eintrag, dass ten wählten den weiteren Weg nach der Verstorbene von Peuerbach aus „oft Osten, vielleicht auch nur dazu, um sich mit Gefahr zum Abendmahl nach Ortenburg“ in Ungarn evangelisch verehelichen zu reiste. In Regensburg konnte man als können. In diesem Zusammenhang fal- Beisitzer oder Bürger Aufenthalt neh- len die Namen Ödenburg und auch men, für kürzere oder längere Zeit oder Preßburg, das damals ebenfalls zu Un- auch für immer. garn zählte. Die evangelischen Trauun-

135 gen in den Städten Ödenburg (für die auf, wo ihm jedoch kein Dienst übertra- Jahre 1645–1717) und Preßburg (1650– gen wurde. 1631/32 war er Pfarrer in 1660), die Österreicher vornehmen lie- Agendorf bei Ödenburg und zuletzt ßen, wurden durch die Gesellschaft für Pfarrer in der Stadt Ödenburg. Familienforschung in Franken veröffent- Verzeichnis der Orte, in denen emig- licht. rierte Peuerbacher zu finden sind: Zum Schluss sei noch einmal ins Ge- Agendorf bei Ödenburg/Ungarn: Steidl- dächtnis gerufen, welch weite Wege, mayr weite Lebenswege, manche Familien zu- Alfershausen (Kreis Weißenburg-Gun- rücklegen mussten. Herrschaftsinhaber zenhausen): Maier Christoph von Hohenfeld mit seiner Altenmuhr = Muhr am See großen Familie wurde schon unter Ab- Ansbach-Eyb: Schabbasberger schnitt I genannt. Die Hohenfelder zo- Auernheim (Kreis Weißenburg-Gunzen- gen zunächst nach Sulzbach in der hausen): Ottentaler/Ottenthaler Oberpfalz. Als die Ereignisse des Drei- Augsburg: Marberger ßigjährigen Krieges und der Gegenrefor- Bechhofen (bei Königshofen): Bayer mation die dortigen Einwohner bedroh- Bergen (Kreis Weißenburg-Gunzenhau- ten, brachten sie sich nach Wunsiedel in sen): Knollmajer Oberfranken in Sicherheit, wo Chris- Bürglein (Kreis Ansbach): Vogelhuber toph von Hohenfeld dann 1631 starb. (in Höfstetten) Seine Witwe Sidonia geb. von Zinzen- Büttelbronn (Kreis Weißenburg-Gun- dorf lebte noch einige Jahre in Wunsie- zenhausen): Hofinger del, übersiedelte nach Regensburg und Döckingen (Kreis Weißenburg-Gunzen- lebte dort, wie ebenfalls unter Abschnitt hausen): Kaisermeier/Casermeyer I angeführt, bis zu ihrem Tode im Jahr Ebersbach/Fils (Württ.): Schorndorff 1640. Ehningen (Württ.): Steinbrecher Ein bewegtes Leben hatte unter vie- Eger (Böhmen): Hasslauer len anderen auch der Pfarrer Christoph Eltersdorf (Stadt Erlangen): Neuwirth Steidlmayr. Er war gebürtiger Peuerba- Flachslanden (Kreis Ansbach): Kastner/ cher und studierte (1599) in Wittenberg. Castner Zunächst war er Pfarrer in Litschau, NÖ, Gräfenbuch (Kreis Ansbach): Kastner/ dann in Frankenburg, OÖ, bis er 1624 Castner mit seiner großen Familie – wir kennen Großhabersdorf (Kreis Fürth): Eyssen- seine Frau und sechs Kinder – vertrieben berger wurde. Bei der Einführung seines katho- Güns: Albeneder lischen Nachfolgers kam es zum Auf- Gunzenhausen: Paur stand und in der Folge zum berüchtigten Holzingen (Stadt Weißenburg): Bachin- Würfelspiel auf dem Haushamer Feld. ger Steidlmayr konnte 1624 die kleine nie- Laubenzedel (Kreis Weißenburg-Gun- derösterreichische Pfarrei Neuhaus an zenhausen): Paur, Golbaur, Kastner/ der steirischen Grenze übernehmen. In Castner den Jahren nach der Ausweisung der Lehrberg (Kreis Ansbach): Kastner/Cast- evangelischen Pfarrer aus Niederöster- ner reich 1627 hielt er sich in Regensburg Löchgau (Württ.): Weydinger

136 Lorch (Württ.): Hedel Kruechhauff, Küttner, Leidenfrost, Let- Maulbronn (Württ.): Höll tengruber/Ladegruber, Lichtenberger, Mitteldachstetten (Kreis Ansbach): Sei- Liechtensteger, Lindmayr, Löschengru- ler/Saler ber, Maingader, Mossmayr, Obinger, Mühlhausen an der Enz (Württ.): Huber, Räntsch, Reitter, Röger, Röniger, Sailer, Meyer, Wennhart Schauer, Schindler, Schlager, Schoner, Muhr am See (Kreis Weißenburg-Gun- Schröckhinger, Stauthauser, Steidlmayr, zenhausen): Brendlein, Steger Stieger, Strasser, Weiß, Wetzelmayr, Neuendettelsau (Kreis Ansbach): Schab- Wißmair, Wolff basberger/Schabetzberger Rehlingen (Kreis Weißenburg-Gunzen- Nürnberg: Barth, Hedel, Lichtensteger/ hausen): Reutter Liechtensteger Schützingen (Württ.): Angermeyer, Per- Oberachtel (Pf. St. Helena zu Großeng- ger, Eylinsrüder, Gossel/Gessel, Hofin- see Kreis Forchheim): Huebmann ger, Höll, Lanawer, Stieger Oberdachstetten (Kreis Ansbach): Sei- Stuttgart: Ebers ler/Saler Sulzbach/Opf.: von Hohenfeld Ödenburg (Ungarn): Albeneder, Erl- Thalmässing (Kreis Weißenburg-Gun- beck, Steidlmayr zenhausen): Rittberger Ortenburg (Niederbayern): Aschinger, Thann (Kreis Ansbach): Brantauer Toppelmaier, Eder, Gröll/Grell, Hädin- Thannhausen (Kreis Weißenburg-Gun- ger, Heitzinger, Hermann, Kapsreiter, zenhausen): Armauer/Arneier Kastner/Castner, Küttner, Mairhofer, Trendel (Kreis Weißenburg-Gunzenhau- Mayberger, Mayr, Mittermeier, Münch- sen): Obel thaler, Stainer Unterappenberg = Ursheim Osternohe (Kreis Nürnberger Land): Unterwechingen (= Wechingen): Medel- Huebmann bauer/Meelbauer, Steinbrucker Ostheim (Kreis Weißenburg-Gunzen- Ursheim (Kreis Weißenburg-Gunzen- hausen): Huebner hausen): Angerer, Löschengruber, Obel, Polsingen (Kreis Weißenburg-Gunzen- Obeneder, Staudinger hausen): Kaisermeier/Casermeyer, Vohenstrauß/Opf.: Berchtoldt/Bertold, Obeneder Popp, Hadergasser Preßburg (damals Ungarn): Auer, Knoll, Wachstein (Kreis Weißenburg-Gunzen- Steidelmayr, Zapf hausen): Armauer/Arneier Regensburg: Aintzberger, Arletsperger, Wechingen (Kreis Donau-Ries) = Unter- Arnezhuber/Arnezhueber, Arnoldshu- wechingen ber, Aschauer, Auckendobler, Barth, Weißenburg: Bachinger, Meller/Moller Parth, Baumesberger, Perger, Pernreiter, Wengen (Kreis Weißenburg-Gunzenhau- Popp, Preu, Bruckmair/Pruckmair, Edl- sen): Lichtenberger/Liechtenberger müller, Emmer, Freyberger, Fridwagner, Westheim (Kreis Weißenburg-Gunzen- Funck, Gleißlhamer, Grab, Gröl/Grell, hausen): Eder, Obeneder Grueber, Hahn, Hannß, Haslauer, Hay- Wunsiedel/Ofr.: Gröll/Grell, von Hohen- den, Hedel, Hofinger, von Hohenfeld, feld Holzleitner, Hueber, Huebmer, Inzinger, Zaisersweiher (Württ.): Angermeyer, Callgruber, Keferl, Klesang/Clesam, Steiner

137 Literatur

Alle Exulantenverzeichnisse der Gesellschaft für für fränkische Familienkunde Band 10, 1971, Familienforschung in Franken (bereits erschienen S. 41 ff. oder noch in Bearbeitung). Georg Loesche, Geschichte des Protestantismus Exulantenkartei der GFF. im vormaligen und im neuen Österreich, Wien Blätter für fränkische Familienkunde (BFFK). 1930. Ferner (in Auswahl): Georg Rusam, Österreichische Exulanten in Fran- ken und Schwaben, Neustadt an der Aisch 1989 Gerhard Fischer, Oberösterreichische Exulanten (2. Auflage). des 17. Jahrhunderts. Ein heimatkundlicher Ver- such, Thening 1933. Julius Strnadt, Peuerbach, ein rechtshistorischer Georg Kuhr, Österreicher, Franken, Schwaben Versuch, Linz 1868. u. a. in den Trauungsbüchern der evang. Neu- Der oberösterreichische Bauernkrieg 1626. Aus- pfarrkirche in Regensburg 1640–1651, in: Blätter stellungskatalog, Linz 1976.

138 Von der Grundherrschaft zur Tourismusdestination 350 Jahre „Salzkammergut“

Von Michael Kurz

„Das österreichische Salzkammergut... bildet den Bezirk der k. k. Herrschaft Wildenstein. Die Eintheilung in ein ,inneres‘ und ,äußeres‘ Salzkammergut ist unrichtig und eingebildet, es gibt nur ein Salzkammergut.“ Matthias Koch, 18541

Wenn uns die Definition des Salz- ses Gebiets zur größten Tourismusdesti- kammerguts als Region heute nur auch nation Oberösterreichs zu verfolgen. so leicht fiele wie einst dem Historiker und Publizisten Matthias Koch (1798– 1877)!1 Das Kammergut als rechtlicher Begriff

Nur auf den ersten Blick erscheint Zur Erhellung des Terminus „Kam- völlig klar, was das Salzkammergut ist. mergut“ bedarf es vorerst eines Blicks Die Wahrheit dürfte, wie bei vielem an- auf das im Mittelalter europaweit domi- deren, auch hier im Auge des Betrach- nante Lehenswesen. An der Spitze der ters liegen. Ist es nun das alte Kammer- „Lehenspyramide“ stand der Kaiser, der gut, das durch gemeinsame Geschichte Gebiete an seine Reichgroßen, die Vasal- und Verwaltung eine spezielle Region len, vergab. Meist waren es größere Ge- formte, oder das moderne Tourismusge- biete, heutigen Bundesländern ver- biet, eine Mischung aus Seen und Ber- gleichbar. Die Reichgroßen wiederum gen, das Gäste aus aller Welt anlockt? reichten kleinere Abschnitte (vergleich- Das Erscheinungsbild ist ambivalent, bar Bezirken oder Gemeinden) an Ritter eine gültige Antwort fällt schwer. oder Kleinadelige weiter, die als Grund- Das erste Mal aufgetaucht ist der Be- herren kleinere Parzellen ihrerseits den griff „Salzkammergut“ jedenfalls 1656, Bauern zur Bewirtschaftung überließen. und zwar im dritten Reformationslibell, Hier liegt das Fundament der Grund- einer Art Gebrauchshandbuch für die herrschaft, die bis 1850 Bestand hatte. Saline. Der Zeitpunkt der ersten urkund- Nicht alle Gebiete jedoch vergab der lichen Erwähnung wird meist als Entste- Lehensträger an seine Untergebenen. hungsjahr angesehen, weshalb wir heuer Mit der steigenden Bedeutung der Roh- zu Recht „350 Jahre Salzkammergut“ fei- ern (können). Grund genug, sich auf die Suche nach den Spuren des Begriffs 1 Koch, M., 1854: Reise in OÖ und SBG auf der bzw. seiner jeweils zeitgenössischen Ver- Route von Linz nach Salzburg, Fuschl, Gastein ortung zu machen und den Aufstieg die- und Ischl. – Wien, S. 394.

139 stoffe wurden Bergbaugebiete hievon ben und Erträgnisse aus Domänen) in erster Li- mehr und mehr ausgenommen. Das nie zur Bestreitung der Ausgaben für fürstliche Bergregal (von „regalis“ = dem König Hofhaltungen, aber auch für besondere Staats- gehörend) entstand. Im ausgehenden bedürfnisse dienen.“2 Mittelalter errangen auch die Landes- Kammergüter gab es mehrere. Im fürsten das Recht auf Regale, es gelang Prinzip fiel unter die Bezeichnung alles, aber erst nach und nach, dieses durchzu- was dem Landesherrn direkt gehörte, setzen, denn gerade bei der Salzproduk- dabei musste es sich keineswegs um tion waren die geistlichen Grundherren zusammenhängende Gebiete handeln. noch längere Zeit hindurch die Motoren Ein eigenes Kammergut war u. a. das der Entwicklung. In Aussee sorgten die „Camerguet des Salzes“, wie es im ersten Zisterzienser von Rein für die Ausbeu- Reformationslibell von 1524 genannt tung, rund um (Lage der Saline wird. unklar) die Traunkirchner Nonnen. An- fang des 13. Jahrhunderts erreichte der Mit der Gründung der Hofkammer steirische Landesherr das Monopol über 1527 wurde eine Art „Holding“ für die die Saline, hundert Jahre später gewan- österreichischen Kammergüter geschaf- nen es die Habsburger in Hallstatt. fen. Diese sorgten für regelmäßigen und Dieses Gebiet hieß damals noch „Ischl- ausreichenden Zustrom in das fürstliche land“. Budget, zeitweise steuerte das Salz bis Sowohl das Ausseer Land als auch zu ein Viertel der Einnahmen bei! Das das Ischlland waren demnach bereits zu Lohnniveau im Salzkammergut wurde Anfang des 14. Jahrhunderts „verstaat- künstlich niedrig gehalten, der Salzpreis lichte“ Bergbauregionen, die als landes- den Budgeterfordernissen angepasst; er fürstliches Eigengut dem Herrscher di- lag weit über den marktwirtschaftlichen rekt unterstanden und von landesfürstli- Tarifen, was Salzschmuggel und chen Beamten verwaltet wurden. Von Schleichhandel förderte. der Struktur her waren es insofern schon Vor diesem Hintergrund bürgerte „Kammergüter“, der Begriff existierte sich der Begriff „Salzkammergut“ für aber noch nicht. Nach für den Betrieb den oberösterreichischen Teil der heuti- ungünstigen Verpachtungen zog der gen Region mehr und mehr ein. Theore- Landesfürst die Administration zu Be- tisch gab es noch das tirolerische (Hall), ginn des 16. Jahrhunderts wieder an sich. das bayrische (Reichenhall) und das Erst für dieses frühkapitalistische Sys- salzburgische (Hallein),3 als Gebietsbe- tem, in dem weisungsgebundene Be- zeichnung wurde der ursprüngliche amte des Landesfürsten und nicht mehr Rechtsbegriff zunächst aber nur auf das unabhängige Bürger oder Kleinadelige oberösterreichische Stammgebiet ange- den Betrieb führten, wurde der Begriff „Kammergut“ geprägt. Kammergut des- halb, weil die Erträgnisse der Produktion 2 direkt in die Kassa (Kammer) des Mon- http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/˜cd2/drw/ a/K24.htm. archen flossen. Eine Definition lautete: 3 Z. B. für Salzburg: Moll, C., 1797: Beschreibung „...bewegliches und unbewegliches Gut eines des hochfürstlichen salzburgischen Salzkam- Landesherrn, das bzw. dessen Erträge (Abga- mergutes zu Hallein. – o. O.

140 wendet. 1656 ist dann (s. o.) zum ersten Auch die „Privilegien“ für die Be- Mal urkundlich vom Salzkammergut wohnerschaft des Salzkammergutes die Rede.4 wurden genau fixiert. Da das Land die für den Abbau und die Verarbeitung des Salzes nötige gewaltige Personalmenge Das kaiserliche Salzkammergut – die von sich aus nicht ernähren konnte, Grundherrschaft Wildenstein mussten zahlreiche Maßnahmen getrof- fen werden, um die Spezialisten zu hal- Grob gesprochen umspannte das ten und ihnen eine Lebensgrundlage zu Salzkammergut in Oberösterreich die geben. Dabei wurde das Salzkammergut Grundherrschaft Wildenstein,5 im Aus- sukzessive zu einer „Sonderwirtschafts- seer Land6 die Grundherrschaft Pflinds- zone“ ausgebaut, die sich drastisch vom berg. Im Laufe der Zeit kamen andere Umland abkoppelte. Die extrem knap- Grundherrschaften dazu, z. B. Orth und pen Löhne hätten anderswo auf keinen , sodass bald ein arrondier- Fall zum Leben gereicht. Dafür waren sie tes Gebiet entstand, das wirtschaftlich (meist) regelmäßig und sicher, dramati- und rechtlich der Saline in sche Krisen wurden abgefedert. So ver- untergeordnet war. Im Salzoberamt in hinderte dieses als „gesicherte Armut“ Gmunden flossen alle Fäden zusammen, bezeichnete System eine totale Verelen- weshalb man den jeweiligen Amtsträger dung. Gestützte Preise sorgten für güns- gerne als „Monarchen des Salzkammer- tige Lebensmittel, jeder Familie stand ein gutes“ bezeichnete. Das Salzoberamt erkleckliches Quantum an Salzdeputat wiederum war direkt der Wiener Hof- zu, das man im besten Falle auch noch kammer unterstellt, die zwar in sehr vie- verkaufen konnte. Die Bewohner des len Belangen die letzte Entscheidung Salzkammergutes erfreuten sich weitest- traf, im praktischen Geschäftsablauf je- gehender Steuerfreiheit, landesfürstliche doch dem „Salzamtmann“ die eigentli- Steuern übernahm meist die Grundherr- che Macht überließ. Wir haben es hier schaft, d. h., das Geld wanderte von mit der seltenen Situation zu tun, dass einer Tasche in die andere. Die Männer ein Wirtschaftsbetrieb Recht sprach und waren von der Militärdienstleistung be- über ansonsten freien politischen Einhei- freit. Im Krankheitsfall war die medizini- ten stand. Die Marktgerichte Ischl, Lauf- fen und Hallstatt sowie das Pfleggericht Wildenstein unterstanden Gmunden for- mell. Das heißt: Ein Unternehmen hatte 4 Vgl. Reformationslibell 1656, S. 456 („SalzCa- unmittelbaren Einfluss auf die Wahl und merGuetsArbeithern“) oder S. 526 („unser Salz die Bestellung der Mandatare – etwa der Cammer Guet“). 5 Ursprünglicher Sitz in Ischl (Ruine in Kalten- Marktrichter. Von heutigen Verhältnis- bach), später in Goisern, umfasste grob Hall- sen ausgehend, könnte man sagen, dass statt/, Goisern, Lauffen, Ischl und der Generaldirektor (der Salinen) die di- Ebensee. rekt gewählten Bürgermeister der einzel- 6 In der Steiermark ist 1513 von einem „camer- guet“ die Rede, erst im ausgehenden 18. Jahr- nen Gemeinden bestätigen bzw. ableh- hundert wird von einem Salzkammergut ge- nen konnte und als zweite Instanz der sprochen, das in der Wahrnehmung des 19. Bezirksgerichte fungierte. Jahrhunderts mit dem oö. Teil verschmolz.

141 sche Betreuung kostenlos, der Verdienst- entgang wurde abgegolten. Nach 40-jäh- riger Dienstzeit winkte eine schmale Pension, außerdem besoldete das Salz- oberamt Lehrer und Priester. Akribisch geregelt wurde alles das ebenfalls in den Reformationslibellen, die damit auch zur Entstehung von Ge- meinschaftsgefühl in einem eigenen Rechtsraum sowie zur Herausbildung ei- ner Identität des Salzkammergutes bei- trugen.

Das Reformationslibell von 1656

Libelle waren kleine Büchlein (latei- nisch liber = das Buch), die Sammlun- gen von Urkunden und Texten enthiel- ten. Genau das waren auch die Reforma- tionslibelle. Kodifikationen der jeweils üblichen Wirtschaftsweise, kompakt zu- Abbildung 1: Titelseite des dritten Reformations- libells. Quelle: Salinenbibliothek sammengefasst, Analysen mit zukunft- weisenden Anordnungen, Nachschlage- werke, Handbücher für die Region. werk, das immer wieder herangezogen Mit Fug und Recht konnte man die wurde. Reformationslibelle von 1524, 1563 und Das Libell von 1563 reagierte auf den 1656 auch als Grundgesetz, als „Verfas- drastischen Wandel in der Salzproduk- sung des Salzkammergutes“, bezeich- tion, der durch die Boomphase des 16. nen. Aber nicht nur die entsprechenden Jahrhunderts eingeleitet worden war Grundlagen wurden darin rechtsver- und sich in der Folge ungebremst fort- bindlich festgelegt. Diese Bücher waren setzte; Ischl eröffnete 1571, Ebensee zugleich eine Rechtskodifikation im wei- 1607, die Rahmenbedingungen (im 17. testen Sinn, die zivil- und strafrechtliche Jahrhundert herrschte oftmals Rezes- Belange, ökonomische, arbeitsrechtliche, sion) änderten sich laufend und vor al- buchhalterische, betriebstechnische An- lem einschneidend. Besonders während gelegenheiten usw. regelte. Somit haben der Amtszeit von Salzamtmann Georg wir es hier auch mit einer fortlaufenden Prugglacher rutschen die Verhältnisse Gesetzessammlung, einer Betriebs-, Ge- zunehmend ins Arge. Dem von 1625 bis schäfts- oder Hausordnung, einem 1653 tätigen Manager war das Heft wei- Lohn- und Preisabkommen etc. zu tun. testgehend entglitten, Schlendrian und Diese „Betriebsanleitung für die Firma Misswirtschaft blühten, seine persönlich Salzkammergut“ war die Basis allen maßlose, egoistische und herrische Art Zusammenlebens, eine Art Regel- stiftete Unfrieden und Zwietracht. Eine

142 weitreichende Korruptions- und Verun- Das Reformationslibell von 1656 treuungsaffäre brach ihm schließlich be- trägt den Titel: Reformierte Ordnung des ruflich das Genick und führte zu seiner Salzwesens zu Gmundten, Hallstatt, Yschl und Absetzung. Es war also um die Mitte des Ebensee Angefangen Anno 1655 und Geendet 17. Jahrhunderts höchste Zeit geworden, im Jahr 1656. In der Einleitung werden das Salinenwesen von Grund auf zu sa- nochmals die Gründe für die Reform an- nieren. 1654 und 1655 prüfte eine Gene- geführt: ralvisitation leitender Staatsbeamter die Region auf Herz und Nieren. Erst dabei „Als sich seither der hievor im verschinen kam das volle Ausmaß der verlotterten Fünfzehenhundert Drey und Sechzigsten Jahr Finanzen zutage. Mit dem Reformations- reformierten und aufgerichteten Ambts-Ord- libell von 1656 sollte das Salzwesen re- nung bey unserm Gmundnerischen und Hall- formiert, die Wirtschaft wieder in Form stätterischen Salzwesen durch die hernach beste- gebracht, die Produktion neu struktu- hende Erweiter- und Mehrung dieser löblichen riert werden. (Das Wort „Reformation“ Gaab Gottes des Salzsiedens allerley Verände- verwendete man damals primär für die rungen, Bedenken und Mißverständ zugetra- Erhebung wirtschaftlicher Istzustände gen, also dass unser hohe Notdurft erfordert, und die sich daraus ergebenden nicht allein bemelte Ambts-Ordnung in allen Schlüsse, es war nicht, wie vielleicht zu nothwendigen Puncten und Articuln zu Berg, vermuten, mit einer religiösen Kompo- Pfannhaus, Wäldern, Holzwerken und was nente oder gar mit einer Anspielung auf sonsten dem ganzen Wesen anhängig ist, zu die konfessionelle antilutherische Refor- bessern, zu erweitern und zu verändern, son- mation verbunden.) Noch Kaiser Ferdi- dern auch nothdürftige Erkundigung und Be- nand III. hatte die Herausgabe des neuen rathschlagung zu halten, wie bisher angerichtete Reformationslibells angeordnet, ge- Veränderung der Pfannen und Erweiterung der druckt erschien es erst 1659 unter sei- Salz-Sied und sonderlich auf die gemachte Ord- nem Nachfolger Leopold I. nung und Austheilung der Wäldt und Gehülz zu immerwährender Versehung berührtes Salz- Das klar strukturierte Kompendium wesens inhalt der jüngstbeschehenen und in ei- behandelt der Reihe nach Hallstatt, das nem absonderlichen Buch gesetzten General- Landgericht Wildenstein, Ischl, Ebensee Waldbeschau gänzlich ins Werk gerichtet und und Gmunden. Der Beitrag z. B. über beständiglich erhalten auf dass dardurch dem Hallstatt beginnt mit einer geschichtli- Allmächtigen zu ein mehrer Anzahl Leuth er- chen Einführung, die dann zum Salzberg nehret und dabey auch unser Lands-fürstliches sowie zum Schien- und Vermessungswe- Cammer-Guet und Einkommen gebessert 7 sen überleitet. Die Entlohnung der Ar- werde.“ beiter und die Arbeitszeit werden gere- Einige inhaltliche Besonderheiten gelt, die Bedingungen im Pfannhaus, bei seien herausgehoben, so z. B. ein bemer- den „Pfieseln“ und im Hallstätter Spital kenswerter, die Sozialgesetzgebung des (anno dazumal eher einem Altersheim späten 19. Jahrhunderts antizipierender vergleichbar) werden neu festgelegt. An- schließend wird die Holzarbeit themati- siert, u. a. erhalten die Verweser genaue „Instructionen“. 7 Reformationslibell 1656, S. 2.

143 Passus über die Vorsorge für verletzte Nutzbau vor; Adelige konnten sich mit Arbeiter: ihren Residenzen (Cumberland, Toskana „Wann ein oder anderer Arbeiter in weh- etc.) erst ab dem ausgehenden 19. Jahr- render Arbeit geschädigt wird oder Schaden hundert ankaufen bzw. ansiedeln. nimbt, und der Bader gebraucht werden muss, Weisungen an die jeweiligen Markt- so wirdet ihm das Arztlohn ... bezahlet und sol- richter bzw. Hofschreiber zielten u. a. auf len ihme daneben auch die Tagwerk die er unter die Vereitelung von Zusammenrottun- wehrender Cur des empfangenen Schadens ver- gen ab, welche die öffentliche Ordnung saumen muss, gutgemacht werden.“8 So gese- störten und anscheinend besonders zur hen, war der Posten bei der Saline kri- Faschingszeit handgreiflich ausarteten: senfest. Kein Wunder, dass trotz des „Und damit dem gemeinen Pöbel zu heimblichen kärglichen Lohns fast jeder danach Practicen und Meutereyen nicht raum und statt strebte, dort unterzukommen. gegeben werden, soll der Hofschreiber mit sambt Mit dem Reformationslibell von den anderen Ambthleuthen und Marktrichtern 1656 wurde gleichzeitig die Abschottung keines Weges nicht gestatten, sondern mit Ernst der Region nach außen festgeschrieben. verhüten, dass der gemeine Pöbel weder heimb- Die Saline konkurrierte auf dem interna- lich noch öffentlich Zusammenkünfte in großer tionalen Markt, man wollte tunlichst Anzahl oder sonst Versammlungen fürnehme, seine Betriebsgeheimnisse wahren. Die sonderlich aber sollen sie das herumbgehen mit Verfügung, „dass niemand frembder und un- dem Spill und den Fahnen, dass sich etwa das bekannter ohne des Hofschreibers oder Markt- Bergvolk auf einen und das andere Bürgerge- richters wissen beherbergt werde,“9 formu- sindt anderen theills auf zweyen Partheyen zu lierte das viel zitierte „Betretungsverbot“ Fastnachtzeiten gebraucht, daraus dann, wie des Salzkammergutes. Die Region war fürkombt, vor zeiten ein wilder Rumor und für Fremde fortan weitestgehend abge- Todtschlag erfolgt, gänzlich ab und einstellen.“11 schlossen, wer sie bereisen wollte, der Die Reformationslibelle sind im Ori- musste sich beim Salzoberamt in Gmun- ginal u. a. in der Ischler Salinendirektion den oder beim Verwesamt in Hallstatt ei- (Bibliothek), im Oberösterreichischen nen Pass besorgen. Dieser Anachronis- Landesarchiv und in der Wiener Hof- mus wurde erst 1825 mit dem aufkom- kammer einzusehen. menden Bäderwesen abgeschafft. Von Bedeutung ist auch das Ansied- lungsverbot für Adelige: Vom Fürstenbesitz zum „Ärar“ „Solle einiger nobilitierter Persohn im Cam- mergut sich niederzulassen ohne unser Special Das Salzkammergut als Staat im vorwissen nicht erlaubt seyn, zumahlen es die Staate geriet mit Ende des 18. Jahrhun- Erfahrnheit gezeigt, dass hiedurch kein Nutzen, derts zunehmend ins Kreuzfeuer der Kri- sondern vielmehr Schaden tue erwachsen. tik. Vor allem den Aufklärern, die für ei- Wann aber einer solchen Persohn solche Spezial nen „logischen Staatsaufbau“ und gegen Concession gnädigst ertheilt wurde, so wollen wir, dass solche Persohnen sich dem Salzambt- 8 mann dahin unterwürfig zu machen haben ...“10 Ebd., S. 413. 9 Ebd., S. 208. Deswegen herrschte in der Region 10 Ebd., S. 312. über Jahrhunderte reiner Zweck- und 11 Ebd., S. 208.

144 jegliche Sonderregelung kämpften, wa- Bis zum Ende der Grundherrschaft ren die Reformationslibelle ein Dorn im Wildenstein (1850) vollzog sich dann die Auge, weil sie „jede Transparenz, Nach- allmähliche Verschiebung des Bedeu- vollziehbarkeit und Gleichheit mit ande- tungsakzents hin zur geografischen ren Einheiten vermissen“ ließen. Deshalb Landschaft, zum unberührten Natur- begannen die Aufklärer nach dem öster- raum Salzkammergut. reichischen Erbfolgekrieg gezielt Bre- schen in das Gefüge zu schießen. Beson- ders die Linzer Behörden stießen sich an Die geografische Landschaft der „exemten“ (= rechtsfreien) Land- Salzkammergut schaft im Süden, die Wien quasi als Ex- klave unterstellt war. 1757 gelang es der Kurz vor 1800 kamen die ersten Rei- Linzer Landeshauptmannschaft, die senden in das Salzkammergut (Schultes, dritte Instanz der Rechtsprechung von Humboldt, Leopold von Buch u. a.) und derHofkammeransichzuziehen,mit fanden eine fast unerschlossene, erst von dem durchaus nachvollziehbaren Argu- wenigen Touristen besuchte Landschaft ment, dass das Beschreiten dieses vor. Rechtsweges für viele Salzkammergut- Das erste Mal in einem Lexikon ge- bewohner wegen des weiten Wegs nach nannt wird das Salzkammergut als geo- Wien faktisch unmöglich sei. Trotzdem grafische Landschaft expressis verbis bestätigte Maria Theresia das „Grundge- 1791: Salzkammergut = ein mit Gebirgen und setz“ – die Reformationslibelle – aus- Seen ganz umschlossener Ort, in welchem die drücklich. Die Integration nach Ober- allgemein bekannten oberennsischen, an Salz österreich und das Ende des Staates im trächtigen, Berge gelegen. Dieses Salzgebieth Staate waren indes nicht mehr aufzuhal- grenzt gegen Norden an das Hausruckviertel, ten. Schon in den 1770er-Jahren wander- gegen Nordost an den , gegen Ostsüd ten das Polizei- und das Steuerwesen und Süden an Obersteyermark, gegen Südwest nach Linz. Es war dann Joseph II., der ra- an Salzburg und gegen Westen abermals an das dikale Reformer, der die letzten Rechts- Hausruckviertel.13 relikte eilends aus der Verfassung tilgte. In den 1820er-Jahren erregte das Ge- Mit der Aufhebung der Reformations- biet die Aufmerksamkeit von Ärzten, die libelle setzte Joseph II. 1786 den Schluss- den positiven Einfluss der Sole auf die strich unter eine jahrhundertelange ei- Gesundheit des Menschen beobachtet genständige und teilweise skurrile Ent- hatten. Prominente Gäste machten die wicklung. 1782 übertrug er das Kammer- Region zusehends bekannt und zogen gut endgültig an den Staat. andere nach. Früher war zwischen dem Besitz des Der gestiegenen Aufmerksamkeit Monarchen und dem Staatsbesitz nicht trugen auch die Schriftsteller Rechnung. unterschieden worden – beides bildete eine Einheit. Nun differenzierte man, und damit erlosch der alte, ursprüngli- 12 Von lateinisch „aerarium“, alte Bezeichnung der Staatskassa und des Staatsvermögens im wei- che Rechtsbegriff vom „Privatbesitz“ des testen Sinn. Monarchen. Die Region wandelte sich 13 Luca, I., 1791: Geographisches Handbuch von zum „Ärar“.12 dem österreichischen Staate. – Wien, S. 486.

145 In den 1820er-, 1830er- und 1840er-Jah- Namen des äußeren Kammerguts führen – bil- ren erschienen zahlreiche Salzkammer- det die südwestliche Ecke des Landes Österreich gut-Reiseführer von sehr unterschiedli- ob der Enns, zwischen den Herzogthümern cher Qualität. Manche Autoren nahmen Salzburg und Steiermark.“19 es mit der Wahrheit nicht so genau, Eine Straßenkarte um 1830 gibt kor- schrieben ungeniert von anderen ab, bei rekt die damalige regionale Ausbreitung einigen muss man sogar annehmen, des Salzkammergutes wieder – als Land- dass sie persönlich nie vor Ort waren. In schaft vom Süden des Traunsees bis allen Ausführungen dominiert die land- zum Dachstein. Nach heutigem Kennt- schaftliche Sicht des Salzkammergutes nisstand wurde der geografische Aus- unter Hervorhebung der Naturschönhei- druck „Salzkammergut“ hier übrigens ten. zum ersten Mal auf einer Karte ver- Das Salzkammergut firmierte in der merkt. touristischen Frühzeit übrigens auch als Nach 1850 wurde der attraktive „österreichische Schweiz“. Lange hielt Name auf zunehmend viele angren- sich die erstmals 1809 aufgetauchte Be- zende Gebiete ausgedehnt. Lassen wir zeichnung14 nicht (höchstens bis in die den Gmundner Arzt Krackowizer (um 1830er-Jahre, in Lexika bis um 1850), 1900) zu Wort kommen, der zusammen- denn man wollte das Odium einer fassend auch den Wandel vom fürstli- schlechten Kopie möglichst umgehend chen Besitz zur touristischen Destination loswerden. beschreibt: „Der Ausdruck ,Kammergut‘ be- deutete einst kurzweg einen Besitz, der dem Der wissbegierige Schultes stellt obersten Landesherrn gehörte, und seine Erträg- 1809 fest: Das Ländchen ist nur ein kleines nisse in dessen Kammer lieferte ... Auf dem Bo- Fleckchen von nicht vollen 12 Qm (Anm.: ca. den Oberösterreichs bildete seit Jahrhunderten 2 680 km ). Es bildet die südwestliche Ecke von die Herrschaft Wildenstein, deren Landesherr- Oberösterreich, da wo dieses schöne Land an lichkeit kurz gesagt den heutigen Gerichtsbezirk Steyermark und an das vorige Erzstift Salzburg Ischl umfasste, den Kern eines solchen landes- grenzt.15 Korrekt und penibel gibt Schultes die Grenzen des Salzkammergutes wie- 14 Schultes, Josef August: Reisen durch Ober- der, ebenso die Einwohnerzahl.16 Vom österreich in den Jahren 1794, 1795, 1802, 1803, 1804 und 1808, Tübingen 1809. angrenzenden Ausseer Land notiert er: 15 Ebd.,S.10. Als sie nach Aussee kamen, befanden sie sich 16 Ebd. wieder in einem Salzkammergut.17 Hier ist 17 Ebd.,S.38. also noch von zwei Kammergütern die 18 Wirtschaftlich war das Ausseer Hallamt 1750 Rede!18 Schon um 1820 jedoch finden bis 1762 und 1825 bis 1850 dem Gmundner Salzamt unterstellt, weiters war das Ausseer wir die begriffliche Differenzierung „in- Land von 1938 bis 1948 bei Oberösterreich. neres“ und „äußeres“ Salzkammergut, 19 Steiner, J., 1820: Der Reisegefährte durch die auf deren Einhaltung z. B. der Mondseer österreichische Schweiz oder das obderennsi- Forstmeister Steiner bereits resolut sche Salzkammergut in historisch-geogra- „Das innere Salzkammergut – zu wel- phisch-statistischer, kameralistischer und pitto- pochte: resker Hinsicht. Ein Taschenbuch zur Beglei- chem Gmunden und dessen Umgebungen nicht tung in diesen Gegenden. – Linz , S. 62. Weitere gehören und die eigentlich wohl fälschlich den Auflagen 1829 und 1832.

146 Abbildung 2: Straßenkarte von 1829.20 fürstlichen Kammergutes ... In neuerer Zeit be- Landschaft zu bezeichnen.22 Salzkammer- gann man den Namen ,Salzkammergut‘ auch gut: auch die österreichische Schweiz genannt, auf das westliche Nachbargebiet desselben aus- ein zum österreichischen Lande ob der Enns ge- zudehnen. So spricht man gegenwärtig von höriges Alpenland ... an der Grenze von Salz- ,Salzkammergutseen‘ und zählt hiezu unter an- burg und Steiermark, den südlichen Theil des deren auch den Mond- und Attersee samt Um- ehemaligen Traunkreises bildend, jetzt zur Be- gebung, also Gegenden, die niemals ein landes- fürstliches Kammergut gewesen sind. Wir kön- nen daher auf Grund des oben Gesagten diese 20 Quelle: picta. Österreich auf alten Kar- Bezeichnung lediglich als einen touristischen Be- ten und Ansichten. Ausstellung der Karten- griff gelten lassen, der dem Bedürfnis des stei- sammlung der Österreichischen Nationalbi- genden Fremdenverkehrs zuliebe ohne genaue bliothek, Prunksaal. 11. Mai bis 8. Oktober 1989. Handbuch und Katalog, S. 132. geographische Abgrenzung geschaffen worden 21 Krackowizer, F., 1898: Geschichte der Stadt ist, mit dem eigentlichen Wesen des alten oö. Gmunden, Bd. I. – Gmunden, S. 7 f. Salzkammergutes aber Nichts gemein hat.“21 22 Im Brockhaus von 1817, 1826 und 1830 sucht man den Ausdruck Salzkammergut vergeblich, Schon in den ersten Lexika um 1850, erst 1847 erscheint er. Die Aufnahme in den die das Salzkammergut erwähnen, ist Brockhaus unterstreicht den gewachsenen Be- der Trend erkennbar, das Gebiet als kanntheitsgrad.

147 zirkshauptmannschaft Gmunden hörig.23 Zu- das Salzkammergut nun weit bis nörd- sätzlich wird auch das steirische Salz- lich des Traunsees reichen. kammergut genannt: Das sogenannte stei- Mit dem Bau der Eisenbahn (1877) ermärkische Salzkammergut oder der nordwest- erhöhte sich das Gästeaufkommen liche Theil des Herzogthums Steiermark hat sprunghaft, die meisten Orte verstanden zum Hauptorte Aussee.24 sich bereits als Fremdenverkehrsorte. In den 1870er-Jahren war das Salz- Die Region „wuchs“ weiter, die natur- kammergut bereits weiter angewachsen, räumliche Abgrenzung erstreckte sich der klingende touristische Name auf die schon auf den Attersee, den Mondsee umliegende Landschaft übertragen. Ein und den Wolfgangsee. Touristikfachmann der Gegenwart: „Mit Salzkammergut = eine österreichische Al- der Entwicklung des FV (= Fremdenver- penlandschaft, im weiteren Sinn das obere kehrs, Anm. d. Verf.) im 19. Jhdt. setzte – Traungebiet in Oberösterreich, Steiermark und bildlich gesprochen – das Salzkammergut be- Salzburg mit etwa 2350 qkm, wovon gegen 16 trächtliche Jahresringe an, weil man im Laufe Prozent auf den steirischen und 12 Prozent auf der Zeit immer mehr Landstriche, Dörfer, Berge den salzburgischen Anteil entfallen, im engeren und Seen zu dem in Mode gekommenen Reise- Sinn nur das Gebiet um die Alpenseen in Ober- land hinzurechnete.“25 Mittlerweile zählte österreich mit 680 qkm.28 man die Gegend bis zum Traunsee und Salzkammergut = österr. Kalkalpenland- Gmunden dazu, ferner St. Wolfgang, schaft, das Fluß- und Seengebiet der oberen wobei man auch oft mit dem Konjunktiv Traun, im südlichsten Zipfel Oberösterreichs, oder einschränkenden Formulierungen z.T. auch auf steirischem und salzburgischen wie „wird gewöhnlich dazugerechnet“ Boden.29 hantierte. Hier wird ganz klar das Dreiländer- Ebenso angefügt wurde das Ausseer eck als Kontinuum verstanden, gegen- Land. Die zwei Kammergüter diesseits über dem administrativen Kammergut und jenseits des Pötschen wurden mehr hatte sich das geografische beinahe und mehr als Einheit betrachtet: schon vervierfacht. Salzkammergut = ein im Erzherzogtum Dem Stellenwert des Tourismus trug Österreich ob der Enns, an der Grenze von Stei- der 1891 – zehn Jahre vor dem OÖ. ermark und Salzburg gelegenes Alpenland. In Fremdenverkehrsverband – gegründete landschaftlicher Hinsicht wäre auch das steiri- Salzkammergut-Verkehrsverband vor- sche Salzkammergut (Aussee) dazuzurechnen.26 Salzkammergut = grenzt gegen Süden und Osten an Steiermark, gegen Westen an Salz- 23 Allgemeine Realiencyclopädie oder Conversati- burg, gegen Norden an das Hausruckviertel onslexikon für das katholische Deutschland, Oberösterreichs und bildet die südwestliche Ecke Regensburg 1848, 8. Bd. 24 Ebd. des Traunkreises. Eigentlich besteht das S. nur 25 Pilz, K., 1991: Festschrift Salzkammergut-Ver- aus den 3 Districten Ischl, Ebensee und Hall- kehrsverband 1891–1991. – Bad Ischl, S. 25. statt, doch wird gewöhnlich die Stadt Gmunden 26 Meyers Lexikon, Leipzig 1878, 3. Aufl. mit dem Pfleggerichte Orth unter dem Namen 27 Allgemeines Deutsches Reallexikon oder Con- des äußeren Kammergutes dazugerechnet.27 versationslexikon für alle Stände, Regensburg 1872, 3. Aufl. Mit den Reiseführern zogen die Kar- 28 Brockhaus, 1895. ten nach. Manche Kartografen ließen 29 Herders Konversationslexikon 1901.

148 ausblickend Rechnung; Mitglieder von endgültig nach rein wirtschaftlichen Er- der ersten Stunde an waren Atterseer wägungen behandelt und strukturiert. und Mondseer Gemeinden. Das weitere regionale „Größenwachstum“ stand dementsprechend unter rein touristi- Die Tourismusdestination schen Gesichtspunkten. An den Rändern Salzkammergut arrondierte sich die Region, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts rechnete man Das neue Tourismusgesetz in Ober- den Attergau, das Almtal und Bad Mit- österreich versetzte dem geografischen terndorf dazu. Salzkammergut als Identifikationsmo- Kurz nach dem Krieg wurde man dell den Todesstoß. Das Bundesland sich der Notwendigkeit einer größenmä- wurde in Tourismusregionen eingeteilt: ßigen Beschränkung des Salzkammer- Salzkammergut, Mühlviertel, Pyhrn- gutes allmählich bewusst. Um inflationä- Eisenwurzen, Inn- und Hausruckviertel. ren Tendenzen vorzubeugen und den Alle Tourismusgemeinden mussten sich manchmal schon beliebig eingesetzten, einer Region zuordnen. Dies führte d. h. verschwommen gewordenen Be- dazu, dass manche Regionen Exklaven griff wieder zu konkretisieren, griff man erhielten, nämlich Tourismusgemeinden, auf die geografischen Grundlagen zu- die von Nichttourismusgemeinden um- rück. geben waren. Der verdiente Goiserer Kurdirektor Per Gesetz wurden dem Salzkam- Karl Pilz schrieb hiezu: mergut angereiht: Bad Wimsbach- „Im Jahre 1955 wurde das Verbandsgebiet Neydharting, Berg im Attergau, genauer abgegrenzt . . . Bei dieser Festlegung , , Oberhofen am ging man nach dem Kriterium vor, dass nur Irrsee, Oberwang, , Vöckla- jene Gebiete zum Verband gehören sollten, die bruck und Vöcklamarkt. Einige Gemein- direkt oder indirekt durch die Traun entwässert den, die zuvor vergeblich versucht hat- werden und die innerhalb einer gedachten ten, zum Salzkammergut zu kommen, Grenze liegen, die vom steirischen Grimming standen nun am Ziel ihrer Bestrebungen. bis zum Gipfel des Dachsteins und längs der hingegen war beispielsweise Bundesländergrenze zum Gamsfeld zieht, dann laut Definition keine Tourismusge- über den hohen Zinken zum Nordende des meinde mehr und gehörte deshalb nicht Fuschlsees reicht und von dort zur Landesgrenze (mehr) zur Region. und zum Schobersberg, weiters über St. Geor- Mit dieser Einbeziehung neuer Ge- gen, Seewalchen, Kammer-Schörfling und meinden wurden die im Jahre 1955 fest- Vorchdorf, das Almtal aufwärts bis zum Gro- gelegten Grenzen gesprengt. Dem ßen Priel und zurück zum Grimming. Im Laufe Wachstum auf oberösterreichischer Seite der Zeit mussten daher mehrmals Ansuchen um stand die Abtrennung der steirischen einen Verbandsbeitritt von Fremdenverkehrsge- und Salzburger Kommunen gegenüber, meinden, die außerhalb dieser Grenzen liegen, die natürlich nicht mehr Mitglied eines abgelehnt werden.“30 rein oberösterreichischen Verbandes Verbindlich blieb diese Ansicht bis 1990. Mit dem OÖ. Tourismusgesetz wurde der Topos Salzkammergut fortan 30 Pilz, K., 1991 (Anm. 25), S. 20.

149 Abbildung 4: Das Salzkammergut 1850–2002 (eigener Entwurf). sein konnten. Glücklicherweise hatte onseinheiten zu schaffen, wurde ein man sich mit dem Salzkammergut-Ver- wirtschaftliches Mosaik unter einer ein- kehrsverband (dessen Auflösung schon heitlichen Marketingstrategie aus dem diskutiert worden war) ein taugliches Boden gestampft, die jeweilige lokale Ei- Mittel zur landerübergreifenden Zusam- genheiten, geschweige denn Identitäten menarbeit erhalten. faktisch ausblendete, von der Bevölke- Die geografische Aufteilung auf drei rung mehrheitlich nicht mitgetragen Bundesländer und somit drei Verwal- wurde und so zu einer nahezu völligen tungskörper in fernen Landeshauptstäd- Orientierungslosigkeit beitrug. Die ei- ten schuf dessenungeachtet ein Langzeit- gentliche Kernregion – das Kammergut problem, das sich zum Gutteil behördli- der Salzproduktion – trat gegenüber den cher Unflexibilität verdankt. Randgemeinden in den Hintergrund. In der – prinzipiell löblichen – Ab- Die alten, ursprünglichen Orte hielten sicht, sich als internationales Tourismus- als Zugpferde, klingende Namensgeber ziel besser zu positionieren und zu die- her (und tun dies vielfach bis heute). sem Zweck größere regional bzw. topo- Spätestens seither kann es auf die grafisch zusammenhängende Destinati- Frage „Was ist das Salzkammergut?“

150 Abbildung 5: Das Salzkammergut seit 2003 (eigener Entwurf). keine befriedigende Antwort mehr ge- inkorporiert, in den Jahren 2001 und ben. Wer sollte sie auch festlegen? Ein 2002 schlossen sich Pichl-Kainisch nahezu ausschließlich auf dem Touris- und Pürgg an, somit hält die Mitglieder- mus und seiner Eigendynamik basieren- zahl im Verband bei 55 Kommunen. Die des Konstrukt, das natürlichen Grenz- Tourismusdestination Salzkammergut verläufen und Zugehörigkeiten sowie reicht heute offiziell von der Stadtgrenze Aspekten und Überlegungen in dieser Salzburgs (Koppl) bis ins steirische Richtung entschieden zu wenig Raum Ennstal. gibt, ist und bleibt für viele unbefriedi- gend.31 31 Eine sehr verdienstvolle Diplomarbeit unter- Das Salzkammergut ist bisher von suchte dies Anfang der 1990er-Jahre: Pauli, A., 3532 auf 44 Gemeinden angewachsen. 1992: Das Salzkammergut. Ein Begriff im Wan- 1998 kamen acht Salzburger Gemeinden del der Zeit. Raumbezogene Urteilsstereotype und Mental Maps. – Dissertation, Salzburg. zum Verkehrsverband, 2000 wurde 32 Unter „Mondseeland“ sind Tiefgraben, Inner- Schwanenstadt als neue Tourismus- schwand und St. Lorenz subsumiert, weshalb gemeinde der Region Salzkammergut zum reinen Zählergebnis drei hinzuzählen sind.

151 Mit 1. Jänner 2003 wurde die Touris- kammergut, wer repräsentiert es? – Eine musregion Salzkammergut aufgelöst, GmbH, viele Orte,33 die sich aus Werbe- schied aus dem oö. Verband aus und bil- gründen zusammengeschlossen haben? dete die eigene Salzkammergut Marke- Das Salzkammergut, eine künstliche Re- ting Tourismus GmbH. Diese GmbH. gion? Wie die Entwicklung weitergeht, bereinigte einige Fehler der Vergangen- vermag niemand zu sagen. Eine Gefahr heit, indem sie das Gebiet arrondierte allerdings scheint sich inzwischen abzu- und in zehn Subregionen einteilte, die zeichnen: Die Verstärkung der Zentrifu- nun touristisch kooperieren. galkraft durch eine gegebene Vielzahl Dennoch erheben sich, was Akzep- von Subregionen könnte über kurz oder tanz und Sinnhaftigkeit im Überbau be- lang zur Restaurierung früherer Verhält- trifft, auch hier Fragen. Bei aller willkom- nisse, d. h. zum Zerfall in mehrere „Salz- menen Rückbesinnung auf Ureigenes, kammergüter“, führen. wie z. B. geografische Gegebenheiten Hatte, hat das Eingangszitat des His- (Seengebiet Salzkammergut), bleibt of- torikers Koch vielleicht doch weg- und fen, weshalb die neue Klammer ausge- richtungweisende, um nicht zu sagen, vi- rechnet eine Gesellschaft mit beschränk- sionäre Bedeutung? „ ...es gibt nur ein ter Haftung sein soll. Was ist das Salz- Salzkammergut.“ (!)

33 Zur Zeit (September 2006) sind es 53, knapp 40 in den 10 Subregionen und etwa 12 im nördlich anschließenden Gürtel.

152 Der „Steinerne Engel“ von Gramastetten

Von Thomas Schwierz

Noch vor 100 Jahren war der „Stei- schenken. Diese Stelle heißt noch immer „Für- nerne Engel“ jedem Gramastettner ein red“, und das Bauernhaus hat auch noch den Begriff. Die Existenz der verloren gegan- Namen „Füreder“. genen Steinplastik lässt sich heute nur noch anhand einer Sage und einer Zeichnung aus der Feder von Hugo Zum Standort des Engels Gielge belegen. Gielge bildete eine annä- hernd lebensgroße Engelsfigur ab, die Der ursprüngliche Standort des En- auf einer Steinsäule stehend mit Zeige- gels lässt sich tatsächlich genau rekons- finger und ausgestrecktem rechten Arm truieren. Früher gelangte man über einen in eine bestimmte Richtung weist, wäh- schmalen Weg von der Marktkreuzung rend sie in der linken Hand eine Märty- entlang der heutigen Urtlstraße und des rerpalme hält (Abb. 1). Kreuzwegs beim Oberstetterkreuz zur Linzer Straße. Die alte Straße nach Wal- Die genannte, von der Gramastett- ding führte den Schmiedberg hinunter.2 ner Lehrerin Luise Stelzmüller 1933 auf- Wo sich heute die breite Waldinger gezeichnete Sage vermischt, wie wir spä- Straße befindet, dehnte sich hinter und ter sehen werden, bei einigen Dingen unterhalb des Maurerbäckerhauses 1 Realität und Phantasie: (heute Brandl, Schmiedberg 1) ein Obst- Die Richtstätte am Kalvarienberg garten aus, der zum Niedermayrhaus (später Gasthaus Lackner, heute Raiffei- Allgemein berichtet man, daß am Kalva- senbank) gehörte (Abb. 2).3 Auf diesem rienberg, westlich etwas unterhalb des heutigen Grundstück stand ein Schuppen. Dieser Kirchleins die Richtstätte war. Am Ausgang wurde 1887 der Freiwilligen Feuerwehr des Marktes, wo sich heute das Zeughaus der zur Verfügung gestellt und als Depot ad- Feuerwehr befindet, stand ein fast lebensgroßer aptiert (Abb. 3, 4).4 1899 erhielt die da- Engel und zeigte mit dem Schwert in der Hand malige Besitzerin des Obstgartens, Ma- warnend hinaus zur Richtstätte. ria Kitzmüller, von der Gemeinde, wel- Diese Figur stand noch vor zwei Jahrzehn- che die Straße verbreitern wollte, die ten im Garten eines Bürgerhauses und wurde dann nach Linz verschachert. Die Strecke, wo der Engel stand, bis zum 1 Stelzmüller, L. Sagen aus Gramastetten. Manu- Bauernhaus Füreder führt noch immer den Na- skript Gramastetten 1933. men „Urtl“ (Urteil). Wenn der Hinrichtungs- 2 OÖLA. Indikationsskizzen und Urmappe zum zug bei diesem Bauernhaus vorbeikam, durfte Franziszeischen Kataster, KG Gramastetten. 3 der Besitzer für den armen Sünder fürsprechen. OÖLA. FRZK 264. Franziszeischer Kataster, KG Gramstetten. Konnte er eine Guttat aus dessen Leben berich- 4 Chronik der FF Gramastetten. Im Privatbesitz ten, gelang es mitunter, demselben das Leben zu der Fam. Gielge. Gramastetten.

153 Aufforderung zur Abtretung des an die damals noch sehr schmale, neue Waldin- ger Straße angrenzenden Gartenteils.5 Kitzmüller vererbte 1901 Haus und Gar- ten Stefan Lackner, der nach seiner Ver- ehelichung im Februar 1902 Maria Lack- ner als Mitbesitzerin des Anwesens im Grundbuch anschreiben ließ.6 Am 1. De- zember 1902 verkauften Stefan und Ma- ria Lackner der Gemeinde Gramastetten den gewünschten Grund, auf dem sich auch der alte Feuerwehrschuppen be- fand.7 Dieses Depot wurde 1946 abgetra- gen. 1952 erhielt die Feuerwehr das neue Zeughaus.8 An jener Stelle der heutigen Straße, wo das alte Depot lag – und die- ses meinte Luise Stelzmüller 1933 –, muss der Steinerne Engel einst gestan- den sein. Versteht man Stelzmüllers Text richtig, fand der Engel nach Errichtung des alten Feuerwehrhauses und bis zu seinem Verkauf im Jahre 19079 einen neuen Zufluchtsort im Garten eines Bür- gerhauses, entweder im Bereich des Gasthofs Lackner oder im ehemaligen Gielge-Garten, wo 1990 das Lebensmit- telgeschäft Prima-Kauf, „Eichkatzlmarkt“ genannt, gebaut wurde (heute Spar- Markt). Für die zweite Version spricht eine Überlieferung, wonach der Engel am Eck des Gielge-Gartens große Be- deutung für den Tischler Alexander Kai- ser erlangt hatte. Der selige „Tischler

5 Bezirksgericht Urfahr-Umgebung. Grund- buchsurkunden des BG , GZ 626/1903. 6 Bezirksgericht Urfahr-Umgebung. Grundbuch der KG Gramastetten, EZ 74. 7 Bezirksgericht Urfahr-Umgebung. Grundbuch der KG Gramastetten, EZ 74. 8 Chronik der FF Gramastetten. Im Privatbesitz der Fam. Gielge. Gramastetten. Abb. 1: Der Steinerne Engel in der Zeichnung von 9 Gielge, H. Die Kirche Gramastetten. Manu- Hugo Gielge. skript um 1970.

154 Abb. 2: Indikationsskizze (Urmappe) zum Franziszeischen Kataster.

Xandl“ war demzufolge öfters „nicht Im Josephinischen Lagebuch ver- mehr licht“ vom Wirtshaus heimgekom- zeichnete man 1787 sämtliche Grund- men und hatte auf dem schweren Weg stücke mit Namen. In der Flur „Fischkal- nach Hause beim Steinernen Engel Trost ter“, die sich zwischen dem heutigen und letzte seelische Stärkung gesucht, Schmiedberg und der Waldinger Straße bevor er sich der Obhut seiner gestren- den Hang hinunter erstreckte, findet gen Ehefrau überantwortete.10 man unterhalb des besagten Obstgar- Die Indikationsskizze (Urmappe) aus dem Jahre 1825 gibt den Nieder- mayr-Obstgarten (Parzelle 259) wieder, 10 Mitteilung von Herbert Ginterseder, Grama- der zum Bau der Waldinger Straße ver- stetten. kleinert wurde. Der Markt endete an der 11 OÖLA. Indikationsskizzen und Urmappe zum Kreuzung.11 Franziszeischen Kataster, KG Gramastetten.

155 Abb. 3: Auf einer Planskizze der Marktkreuzung aus dem Jahre 1926 verzeichnete Hugo Gielge das alte Depot. tens die „Urthlwiesen“ und den „Urthl- natz Oßberger (Cons.-Nr. 18; heute: Dr. lußacker“ (spätere franziszeische Parzel- Reiter, Marktstraße 30) eingetragen lennummer 271 und 280) des Joseph (Abb. 2).12, 13, 14 Der Flurname „Urthl“ be- Pühmann auf der „Pühmannbehausung“, Cons.-Nr. 33 (heute: Dr. Schwarz, Marktstraße 31). Weiters sind je eine 12 OÖLA. Josephinisches Lagebuch, KG Grama- „Urthlwiesen“ (Parz. 269 und unterer Teil stetten. 13 OÖLA. Indikationsskizzen und Urmappe zum der Parz. 271) des Gottfried Hofkirchin- Franziszeischen Kataster, KG Gramastetten. ger (Cons.-Nr. 20; vor dem Abbruch 14 OÖLA. FRZK 264. Franziszeischer Kataster, KG 2003: Koller, Marktstraße 34) und des Ig- Gramstetten.

156 Abb. 4: Das alte Feuerwehrdepot im Jahre 1946. Vor dem Maurerbäckerhaus rechts ist noch einer der Wasserkaare zu erkennen. deutet, auch in dieser Schreibweise, Ur- gegen den Kalvarienberg rufen jene Zeit ins Ge- teil und legt den Schluss nahe, dass sich dächtnis zurück, als an jenem Anger das Todes- hier die Gramastettner Gerichtsstätte be- urteil ein letztesmal ausgesprochen wurde; voll- fand, wo unter freiem Himmel Recht ge- zogen soll es an jener Stelle worden sein, wo sich sprochen wurde. jetzt das Kirchlein auf dem Kalvarienberg er- hebt. Im Zusammenhang mit dem Bau der Die lokale Gerichtsbarkeit Bergkirche nennt Schiller einen Galgen- bühel:16 Eine ausführliche Beschreibung der Auf dem sogenannten Galgenbühel östlich lokalen Gerichtsbarkeit findet sich in der vom Markte wollte die Pfarrgemeinde Grama- Arbeit des Wilheringer Paters Professor stetten einen Kreuzweg mit einem Kirchlein er- Dr. Leopold Schiller („Zur Geschichte richten. der Pfarre Gramastetten“), die 1929 er- schien:15 Die Inhaber von Waxenberg hielten hie 15 Schiller, L. Zur Geschichte der Pfarre Grama- und da auch die landgerichtlichen Versammlun- stetten. In: Beiträge zur Landes- und Volks- gen in Gramastetten ab und urteilten dort über kunde des Mühlviertels. Band 13 (1929). S. 122. 16 Schiller, L. Zur Geschichte der Pfarre Grama- schwere Verbrechen. Die Flurnamen Urtlwiese stetten. In: Beiträge zur Landes- und Volks- und Urtlpoint östlich vom Orte in der Richtung kunde des Mühlviertels. Band 13 (1929). S. 203.

157 Weiters erfährt man über die Ände- leute den Zehent nur schütter, andere erst nach rungen nach der Markterhebung 1518:17 langerer Zeit geben u. etliche mit Gewalt und Wichtig waren die rechtlichen Folgen für Frevel ganz verweigern, und habe um Urtheil die neuen Bürger. Sie blieben zwar immer noch gebeten. Von dem erbarn Geding wurde zu Untertanen der Herrschaft Waxenberg, erfreu- Recht erfunden, der Abt habe den Zehent auf ten sich aber von nun an einer gewissen Selb- dem Felde zu heben; wer sich nicht fügt, werde ständigkeit. Nur bei todeswürdigen Verbrechen bei seiner Herrschaft belangt und falls diese dem wurden sie vor das Landgericht Waxenberg ge- Kloster nicht Recht verschafft, beim Landrichter zogen; in kleineren Fällen übte der Markt selbst zu Wächsenberg. die niedere Gerichtsbarkeit aus. Die Bürger Die nicht mehr existierende Origi- wählten aus ihrer Mitte einen Marktrichter nalurkunde trug das Siegel des Land- und mehrere Räte, die sich vor den übrigen richters. durch den Titel Ratsbürger auszeichneten. Rich- ter, gleichsam Bürgermeister, gab es zwar auch schon früher im Dorfe Gramastetten; 1476 Gegenüberstellung von Sage und wird Thoman, der Richter zu Gramastetten, ge- historischen Gegebenheiten nannt. „Richter und Rat“ lautet seit 1518 die amt- Dass die ganze Strecke zwischen liche Bezeichnung für das Marktgericht. Es bil- Standort des Steinernen Engels und dete die erste Instanz in den Gerichtsfällen; es dem Bauernhaus Fiereder „Urtl“ gehei- nahm das erste Verhör bei Verbrechen vor; Eh- ßen hätte, lässt sich anhand der Flurna- renbeleidigungen, Ruhestörungen, Grenzstrei- men nicht belegen. Ebenfalls problema- tigkeiten kamen vor das Marktgericht, und erst tisch ist die Geschichte vom Galgenhü- wenn da keine Erledigung erzielt werden konnte, gel. Leopold Schiller formulierte ja ging die Sache an die höhere Berufungsinstanz, schon sehr vorsichtig, wenn er schrieb: an das Landgericht Waxenberg. „vollzogen soll es (das Todesurteil) an je- Von der „Landschranne“ in Grama- ner Stelle worden sein, wo sich jetzt das stetten ist ein Gerichtsprotokoll überlie- Kirchlein auf dem Kalvarienberg erhebt.“ fert. Unter Schranne verstand man das Dokumente, die diese Überlieferung be- Gericht selbst, aber auch eine Bank oder legen, fand er offensichtlich keine. Der einen Tisch, wo Richter und Schöffen gemeinsame Richtplatz der Landgerichte tagten.18 Der Sitzungsplatz war mit Wildberg und Waxenberg war der Gal- 20 Schranken eingefriedet und von den Zu- genbühel in Oberneukirchen. Der Gal- schauern abgegrenzt. Das Gramastettner gen von Oberneukirchen dürfte der be- Protokoll vom 14. Juli 1416 ist hier in ei- ner in verständliche Sprache übertrage- nen Abschrift aus einem Wilheringer 17 Schiller, L. Zur Geschichte der Pfarre Grama- Kopialbuch wiedergegeben:19 stetten. In: Beiträge zur Landes- und Volks- kunde des Mühlviertels. Band 13 (1929). S. 123. Michael Oberhaimer, Landrichter zu 18 OÖLA. Oberösterreichische Weistümer. V. Teil. Waechsenberck, urkundet: S. 371. 19 Es sei vor ihm erschienen zu Greymhartste- OÖLA. 40e. Wilheringer Urkunden 1364–1499. n 991. ten in der Landschranne der Anwalt des Abtes 20 Kollros, E. Im Schatten des Galgens. Weitra von Wilhering klagend, daß mehrere Zehent- 1999. S. 107, 108.

158 deutendste des Mühlviertels gewesen kundliche Erwähnung und somit ur- sein, denn der Gerichtssprengel reichte sprüngliche Schreibart enthält das Lich- bis nach Böhmen hinein. Selbst von Ur- tenhager Urbar des Jahres 1504, wo der fahr wurden Delinquenten zur Hinrich- Hofname „Fueroder“ lautete.26 „Eder“ tung gebracht. Dass auf dem Grama- weist auf eine Öde, eine unbebaute Ge- stettner Kalvarienberg ebenfalls ein Gal- gend hin.27 „Für“ entspricht dem heuti- gen stand, ist somit mehr als unwahr- gen „vor“. „Füreder“ bedeutet somit, dass scheinlich. Dies hätte in den Flurnamen sich der einstige Ansiedler vor der Öde einen Niederschlag finden müssen. Der (Flur „Füredt“), also am Rand des unbe- Winkel zwischen Kreuzweg und Linzer bauten Landes (heutige Ortschaft Türk- Straße, wo die Bergkirche gebaut wurde, stetten), niedergelassen hatte.28 gehörte zum Bauernhof Haslinger.21, 22 Wie dem Josephinischen Lagebuch zu entnehmen ist, trugen die dortigen Wie- Die Frage nach dem Alter der sen- und Ackerparzellen im Jahre 1787 Engelsfigur allesamt „völlig harmlose“ Namen.23 Eine mögliche Erklärung für den befrem- Bis zur Revolution von 1848, die zur denden Namen des Hügels könnte sich Abschaffung der Grundherrschaft und aus einer Hinrichtung während des Gründung der Bezirksgerichte führte, zweiten Bauernkriegs ergeben: Graf übten die Grundherrschaften die Ge- Gotthard von Starhemberg hatte 1597 richtsbarkeit aus. Da sich der Engel zu Hans Pfoser aus Zaglau, einen der auf- Beginn des 20. Jahrhunderts offensicht- ständischen Bauern, in Gramastetten – lich lukrativ verkaufen ließ, muss er an einem Kirschbaum – hängen lassen. halbwegs gut erhalten gewesen sein. Ob der Kirschbaum tatsächlich auf dem Kalvarienberg stand, wissen wir nicht. Dafür könnte sprechen, dass die Erhe- 21 OÖLA. FRZK 264. Franziszeischer Kataster, KG bung vom Ort aus leicht erreichbar ist Gramstetten. und eine markante Lage aufweist. Doch 22 OÖLA. Indikationsskizzen und Urmappe zum bleibt auch diese Erklärung Spekula- Franziszeischen Kataster, KG Gramastetten. tion.24 23 OÖLA. Josephinisches Lagebuch, KG Grama- Nicht minder problematisch er- stetten. 24 Schiller, L. Zur Geschichte der Pfarre Grama- scheint die Erklärung des Namens „Füre- stetten. Beiträge zur Landes- und Volkskunde der“ oder „Fiereder“ als Fürsprecher für des Mühlviertels, Band 13. Rohrbach 1929. S. zum Tode verurteilte Delinquenten. Das 146. Deutsche Namenslexikon führt in die- 25 Bahlow, H. Deutsches Namenslexikon. Suhr- sem Zusammenhang den Namen „Für- kamp-Taschenbuch 65, Baden-Baden 1985. S. 144, 152. derer“ oder „Förderer“ an, was sich vom 26 OÖLA. LAFR 333. Starhemberger Urbare, HS mittelhochdeutschen „vürderer“ ableitet 101. Herrschaft Liechtenhag 1504/16. und so viel bedeutet wie Förderer, Unter- 27 Bahlow, H. Deutsches Namenslexikon. Suhr- stützer, aber auch Forderer, also Kläger, kamp-Taschenbuch 65, Baden-Baden 1985. 25 S. 110. der vor Gericht fordert. Der Grama- 28 OÖLA. Schiffmann, K. Historisches Ortsna- stettner Bauernhof heißt nicht „Fürde- men-Lexikon des Landes Oberösterreich. 1. rer“, sondern „Füreder“. Die erste ur- Band, S. 291; 3. Band, S. 462.

159 Sonst gäbe es auch kaum eine so detail- Kreuzwegstationen, das heilige Grab in lierte Zeichnung. Wenn die Steinplastik der etwas abseits liegenden Grabkapelle im Freien stand, war sie der Witterung und die Kreuzigungsgruppe am Hochal- ausgesetzt. Der Engel kann also nicht tar der Bergkirche. steinalt gewesen sein. Die Zeit, da der Landrichter auf dem „Urtl“ in Gramastet- ten unter freiem Himmel Recht sprach, Die Frage nach dem Schöpfer des lag schon einige Jahrhunderte zurück Steinernen Engels und wurde vom Engel wohl kaum „mit- erlebt“. Dass die Figur mit gezücktem Wenn man die Engelsfigur der ersten Schwert warnend zum „Galgenhügel“ Hälfte des 19. Jahrhunderts zuordnet zeigte, muss in die Welt der Phantasie verwiesen werden, zumal sie auf Gielges Zeichnung gar kein Schwert trägt. Vom Erscheinungsbild her entspricht die Plas- tik einer biedermeierlichen Schöpfung (1. Hälfte des 19. Jh.).29 Betrachtet man die Zeichnung genau, wird gut vorstell- bar, dass der Steinerne Engel in Wahr- heit weit „frommere“ Bestimmung er- füllte und von seinem Standort im Pri- vatgarten aus mit erhobener rechter Hand den Gläubigen in der Karwoche den Weg zum Kalvarienberg wies. Schließlich hielt der Himmelsbote in der linken Hand einen Palmzweig.

Der Gramastettner Kalvarienberg

In den Jahren 1831 bis 1834 erbaute die Pfarrgemeinde Gramastetten auf dem Hügel südöstlich des Marktes eine Kalvarienbergkirche.30 Die Kreuzwegsta- tionen waren ursprünglich in einem Oval um die Bergkirche angeordnet. Zu einem nicht näher bekannten, späteren Zeitpunkt veränderte man die Aufstel- Abb. 5: Die Religio im Stiftshof von Wilhering. lung zugunsten der noch heute beste- henden Kreuzweganlage zwischen Markt und Bergkirche. Die Ausstattung 29 Mitteilung von Dr. Berhard Prokisch, OÖ. Lan- desmuseum. der Bergkirche war dem Bildhauer Franz 30 Prokisch, B. Pfarrkirche und Kalvarienbergkir- Xaver Schneider übertragen. Er schuf in che in Gramastetten. Ein Führer zu den Denk- den Jahren 1833 bis 1834 die Reliefs der mälern. Linz 1986. S. 25.

160 Abb. 6: Engel am Ölbergrelief des Kreuzwegs in St. Margarethen.

Abb. 7: Engel am Hochaltar der Pfarrkirche Hartkirchen. und mit dem Kalvarienbergprojekt der Stiftshof in Wilhering, der Engel am Öl- 1830er-Jahre in Verbindung bringt, muss bergrelief des Kreuzwegs von St. Marga- man die Plastik konsequenterweise rethen oder die beiden Engel am Hochal- Franz Xaver Schneider zuschreiben.31 Im tar der Pfarrkirche in Hartkirchen Œuvre des Bildhauermeisters finden sich stilistisch durchaus vergleichbare 31 Mitteilung von Dr. Berhard Prokisch, OÖ. Lan- Engelsplastiken, wie die Religio im desmuseum.

161 Abb. 8: Engel vom alten Altar der Gramastettner Pfarrkirche.

(Abb. 5, 6, 7).32, 33 Für die Gramastettner Oberösterreichs in der ersten Hälfte des Pfarrkirche schuf Schneider 1834 einen 19. Jahrhunderts.35 Hochaltar, der allerdings 1882 wieder entfernt wurde. Von diesem Werk sind Danksagung ebenfalls zwei aus Holz geschnitzte En- Für die fachkundliche Beratung und gel erhalten geblieben (Abb. 8).34 den Hinweis auf das Werk von F. X. Schneider sage ich Dr. Bernhard Der aus Schlesien stammende Meis- Prokisch, OÖ. Landesmuseen, aufrich- ter F. X. Schneider (1789–1847) hatte etli- tigsten Dank! che Jahre an der Akademie in Wien zu- gebracht, bevor er 1833 ein neues Wir- Abbildungsnachweis kungsfeld in Gramastetten fand. Schnei- Abb. 1, 3, 4: Privatbesitz der Familie Gielge, Gra- der, der sich später in Linz niederließ, mastetten. gilt als die zentrale Persönlichkeit auf Abb. 2: OÖLA. dem Gebiet der sakralen Bildhauerkunst Abb. 5–8: Thomas Schwierz.

32 Mitteilung von Dr. Berhard Prokisch, OÖ. Lan- desmuseum. 33 Prokisch, B. Studien zur kirchlichen Kunst im 19. Jahrhundert. Dissertation an der philosophi- schen Fakultät der Universität Wien. Wien 1984. Teil I, S. 45, 46. 34 Prokisch, B. Pfarrkirche und Kalvarienbergkir- che in Gramastetten. Ein Führer zu den Denk- mälern. Linz 1986. S. 11. 35 Prokisch, B. Studien zur kirchlichen Kunst im 19. Jahrhundert. Dissertation an der philosophi- schen Fakultät der Universität Wien. Wien 1984. Teil I, S. 40–49.

162 Jungfernfahrt vor 100 Jahren: die Waldbahn Offensee

Von Franz Gillesberger*

Während der ersten Hälfte des ver- es schon früher, allerdings gestaltete sich gangenen Jahrhunderts, knapp sechs der Kohlentransport über den Traunsee Dezennien hindurch, waren im Salz- als zu schwierig und damit zu teuer) kammergut Massen von Nutzholz auf fand die Holztrift ein jähes Ende. Für die dem Schienenweg durch die wildroman- aus den Salinenwäldern kommenden tische Natur talwärts gerollt. Die Wald- Hölzer mussten andere Abnehmer ge- bahn Offensee, zu diesem Zweck mit er- funden werden. Die jährlich zum Ein- heblichem materiellem Aufwand ge- schlag geplanten 15.000 fm Holz sollten schaffen, behielt längere Zeit den Status nun als Nutzholz verkauft werden. Weil einer technischen Vorzeigeeinrichtung aber das Holz beim Triften stark beschä- und wäre heute wohl eine Sehenswür- digt wurde und dadurch enorm an Wert digkeit der besonderen Art. Zur Hun- verlor, stellte man den Schwemmbetrieb dertjahrfeier der offiziellen Inbetrieb- endgültig ein. Auf rasch erbauten, einfa- nahme seien hier die Geschichte dieser chen Forststraßen sollten Pferdefuhr- kleinen Bahn, die Umstände ihres Baus werke das Holz liefern. Dass die Trans- und die Etappen ihrer weiteren Entwick- portergebnisse unbefriedigend waren, lung kurz dargestellt. leuchtet ein. Wie allgemein bekannt, war der al- Aus diesem Grund reiften Pläne, lergrößte Teil des im Salzkammergut ste- eine Waldbahn zu errichten. 1895 pro- henden Holzes für die Sudhütten in jektierte die Firma Siemens & Halske Ebensee bestimmt. Die Bringung er- eine schmalspurige Waldeisenbahn für folgte ursprünglich fast immer per Trift. elektrischen (!) Betrieb. Aber erst 1899, Aus dem 17.500 ha umfassenden Sali- als nach einem verheerenden Hochwas- nenwald im Forstverwaltungsbezirk Of- ser die Forststraßen stark vermurt und fensee der „K. k. Forst- und Domänendi- unbenützbar wurden – dem Grießeneck- rektion Gmunden“ gelangte das Holz bach musste sogar ein neues Bachbett zuerst auf gut ausgebauten Triftstrecken, gegraben werden, weshalb für den Ab- dann auf dem Offenseebach und dem transport der Schottermassen eine 1.400 Frauenweißenbach in die Traun, um Meter lange Rollbahn entstand –, erst schließlich zu den Salinen transportiert dann dachte man ernsthaft an den Bau zu werden. Im Ebenseer Heimatmuseum der Waldbahn. In derselben Spurweite (museum.ebensee) sind alle Triftgewäs- der Rollbahn, nämlich 790 mm, erfolgte ser im Ebenseer Einzugsgebiet kartogra- die Verlängerung der Strecke zum Holz- fiert. Durch die Umstellung der Salzpro- duktion auf Kohlenfeuerung mit dem Bau der Kronprinz-Rudolf-Bahn (1877 – * Der Autor ist promovierter Historiker und Lei- Versuche, mit Braunkohle zu heizen, gab ter des Ebenseer Heimatmuseums.

163 transport. Zum Teil nützte man die Tras- eine Höchststeigung von 39,4 (!) Pro- sen der zugeschütteten, weil nicht mehr mille auf. Der Mindestkurvenradius lag benötigten, Wasserriesen. bei 60 Metern. Fünf Brücken waren in Bereits 1902 war eine 3,6 km lange Holzbauweise ausgeführt, zwei als ei- Strecke vorhanden, die 17 Promille serne Traversenbrücken. Über die Offen- Durchschnittsgefälle aufwies. Gefahren seebachklamm führte eine 27 Meter wurde mit dem Pferdezug. Die guten Be- lange eiserne Fachwerkbrücke. Eine be- triebsergebnisse beschleunigten den stehende Straßenbrücke aus Stein wurde weiteren Ausbau der Rollbahn. Der k. k. mitverwendet. Die Baukosten allein für Forstmeister Franz Juza wurde beauf- die Strecke (ohne Fahrzeuge und Hoch- tragt, die Bahn zu projektieren. In Eigen- bauten) betrugen 250.000 Kronen. regie errichtete die Bauabteilung der Obwohl die Betriebsergebnisse der Forstverwaltung die 11,85 km lange Pferdeeisenbahn durchaus zufriedenstel- Hauptstrecke aus dem Bringungsgebiet lend waren, wurde Anfang 1908 die „Zu- bis zur Bahnstation Steinkogl der Bahn- stimmung zur Einführung des Lokomo- linie Attnang-Puchheim–Stainach-Ird- tivbetriebes zwecks Ersparnis an Be- ning. Das war auch die Baurichtung, triebskosten“ vom zuständigen Ministe- alsovoninnennachaußen.DieWald- rium eingeholt. Am 16. und 17. Juli 1908 bahn erhielt eine im „Einvernehmen mit erfolgte eine kommissionelle Begehung, der k. k. Staatsbahndirektion in Linz er- danach wurde die bauliche Veränderung stellte Betriebsinstruktion vom 28. 11. der Brücken vorgeschrieben. Im Juni 1905“. 1909 fand eine „technisch-polizeiliche Überprüfung“ der Waldbahn statt, ab 22. Juni wurde der Lokomotivbetrieb Offizielle Inbetriebnahme am provisorisch bewilligt. Das Zugfahrzeug 26. November 1906 erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 35 km/h, mit 95 Tonnen Anhänge- Im Jänner 1906 wurde schließlich last immerhin stolze 5 km/h. auch vom Eisenbahnministerium die Be- triebsbewilligung erteilt, mit 26. Novem- Für Interessierte die technischen Daten ber selbigen Jahres startete der offizielle der Lokomotive: Fahrbetrieb. Pferde zogen die leeren Wa- Ct-Zwillingsnassdampflokomotive, gen zu den Ladestellen, nach der Bela- gebaut von Krauss & Comp. in Linz dung rollten die zwölf damals vorhande- Baujahr: 1907 nen Doppelgarnituren (Tragfähigkeit je Fabriknummer: 5696 3,5 t), mit einem Bremser besetzt, zum Spurweite: 790 mm Holzaufsatzplatz Steinkogl. Neben ei- Anzahl der Siederohre: 46 nem 250 Meter langen, normalspurigen Leistung: 30 PS Anschlussgleis bestanden hier noch zwei Fassungsraum der Wasserkästen: 430 l schmalspurige Umladegleise von 379 Gesamtgewicht, leer: 7.000 kg Metern Länge, eine Wagenremise und Gesamtgewicht, ausgerüstet: 8.650 kg eine Aufenthaltshütte. Höchstzulässige Fahrgeschwindigkeit: Die Strecke der Waldbahn wies eine 10 km/h Mindeststeigung von 6 Promille und Kaufpreis: 12.250 Kronen, 2 % Skonto

164 DiealteDampflokomotive.

Die Vorschrift, dass bei der Talfahrt 2.100 fm. An der Bahnstrecke waren in des beladenen Zuges jeder zweite Wa- den Kriegsjahren naturgemäß kaum gen gebremst und die gesamte Garnitur Ausbesserungsarbeiten erfolgt – die neu hinter der Lokomotive sein müsse, errichteten Strecken ausgenommen. wurde nicht immer eingehalten. 1919 war die Kohleversorgung der Lo- 1912/13 kam an der Steinbachklamm komotive ungenügend (in erster Linie eine schwierig zu bauende Seitenlinie mussten natürlich die Wohnungen bzw. hinzu; Kosten: 45.000 Kronen. Eine Haushalte versorgt werden), weshalb 1,2 km lange Strecke in die Peser Au das Staatsamt empfahl, sie mit Holz zu folgte 1916, und als 1917/18 ein Sturm in feuern, welches ja ausreichend vorhan- der noch nicht aufgeschlossenen Moo- den wäre. Dieser Vorschlag erwies sich sau etwa 15.000 fm warf, kam auch diese jedoch als undurchführbar. Sonderstrecke zur Ausführung. Von der Die Österreichischen Daimler Moto- Entladestelle dieser 1,3 km langen Son- renwerke AG boten daraufhin zwei Mo- derstrecke gelangte das Holz über eine torfeldbahnwagen als Ersatz für die Holzriese zum Ladeplatz Steinbachl, wo- Dampflokomotive an. Da eine Betriebs- bei die Riese einen Höhenunterschied kostenersparnis zwar versprochen, bei von 100 Metern zu überwinden hatte. einer Überprüfung aber nicht erreicht Lag die jährliche Frachtmenge vor wurde, kamen die beiden Fahrzeuge nur dem Ersten Weltkrieg bei 8.500 bis auf der Sonderstrecke Moosau zum Ein- 10.000 fm, fiel die Förderleistung wäh- satz, alle Transporte auf der Haupt- rend des Krieges auf durchschnittlich strecke blieben, sobald sich die Versor-

165 Diesellokgarnitur mit lustiger Fahrgesellschaft. gung mit Kohle gebessert hatte, der eine „Bahn mit beschränkt öffentlichem Krauss-Maschine vorbehalten. Verkehr“ umzuwandeln. Nach Interven- Insgesamt bestand die Waldbahn tion der Österreichischen Bundesforste Offensee aus der Hauptstrecke bis zum erteilte das Bundesministerium für Han- Steinbachl und den Seitenlinien in die del und Verkehr erst am 16. November Peser Au und nach Brunneck. Auswei- 1929 die Erlaubnis zur Beförderung von chen bzw. Abstellgleise gab es in Stein- Personen, allerdings nur zwischen kogl – hier auch einen Lokschuppen –, in 1. April und 30. November – für den der Bernau, in Offensee-Waidsteganger Holztransport wurde die Betriebserlaub- und Lochbach-Ausweiche. Zusammen nis für das ganze Jahr bestätigt. mit den Seitenlinien hatte die Waldbahn eine Länge von 17,5 km. Für den Personenverkehr war eine Das ehemalige kaiserliche Jagdhaus zweiachsige Motordraisine zur Wald- am Offensee beherbergte ab 1919 eine bahn gekommen. Sie hatte eine verlän- Kinderheilstätte, das nahe Forsthaus eine gerte Plattform und einen ausschwenk- „Labestation“. Um die Patienten, das baren Fahrersitz. Das mit einem 6-PS- Pflegepersonal und die Ärzte, aber auch Motoraggregat von Austro-Daimler ver- das Forstpersonal mitbefördern zu kön- sehene Gefährt bot sechs Fahrgästen nen, war man bestrebt, die Waldbahn in Platz.

166 führungen über Zug- und Verschub- dienst, Abwicklung des nun beschränkt möglichen Personenverkehrs, Untersu- chung der „Fahrbetriebsmittel“, Signal- vorschriften und „Anordnungen für den Bahnerhaltungs- und Aufsichtsdienst“. Nach jeweils fünf Jahren war die Gel- tungsdauer immer wieder zu verlängern. Die Bahn galt in der Monarchie und in der Ersten Republik geradezu als Mu- sterbetrieb. Bei zahlreichen Exkursionen wurde die Waldbahn Offensee präsen- tiert und zur Nachahmung empfohlen. Auch nach dem Einmarsch der Nazi- truppen im Jahr 1938 wurde sie forciert. 1941 kam als Ersatz für die alte Krauss- Maschine eine Diesellokomotive, gebaut von der Firma Deutz, mit der Fabrik- nummer 36844. Ein Jahr später wurde die Dampflok endgültig aus dem Ver- kehr gezogen. Nach dem Zweiten Weltkrieg muss- Schwerer Holztransport per Diesellok. ten die Baulichkeiten und der Oberbau Für Interessierte auch hier einige zusätz- der Bahn wieder in Ordnung gebracht liche Daten: werden, und ein paar Jahre fuhr sie aber- mals wie eh und je. Baujahr: 1929 Doch bereits 1953 fiel ein schwerwie- Hersteller: Österreichische Daimler gender Entschluss. Nach Rentabilitätsbe- Motorenwerke AG (Austro-Daimler), rechnungen und einer ökonomischen Wr. Neustadt Gegenüberstellung (Erneuerung der Antrieb: luftgekühlter Zweizylinder- Waldbahn oder Forststraßenausbau) ent- viertaktmotor Nr. 9973 schied man zugunsten des Straßenaus- Vergaser: A. D. 8065 baus. Zündung: Bosch Type ZE 2 Nr. 2309640 Getriebe: zwei Vor- und zwei Rückwärts- Letzter Betriebstag: 10. Juli 1954 gänge Handbremse wirkte auf beide Achsen Die Strecke wurde rasch abgebaut, Gewicht: 1,5 t die noch verwendbaren Fahrzeuge – dar- unter die Deutz-Diesellok – kamen zur Höchstzulässige Fahrgeschwindigkeit: Waldbahn Reichraming. Der Rest wurde 12 km/h verschrottet. Die neue Betriebsordnung galt ab Die Trasse der Waldbahn ist noch 1. März 1930. Sie enthielt genaue Aus- heute zum Teil erkenn- bzw. begehbar

167 Das winzigste Fahrbetriebsmittel, die Draisine. und gibt eine Ahnung von der interes- Mein Dank gilt dem langjährigen santen Streckenführung. Obmann des Ebenseer Alpenvereins, Die Bahn wäre heute eine Touristen- Siegfried Swoboda. Durch seine Orts- attraktion für sich, doch leider ist auch kenntnis war es möglich, die alten Flur- dieses Stück Alt-Ebensee inzwischen na- namenzurekonstruierenundzulokali- hezu spurlos verschwunden. sieren.

168 Ein Mühlviertler als Hauslehrer in Czernowitz Das Lebensschicksal des Dr. Josef Dessl in der ausgehenden Donau- monarchie

Von Reinhold J. Dessl

Auf Einladung des Büros für kultu- Wechselvolle Geschichte relle Auslandsbeziehungen des Landes Oberösterreich wurde Mitte Oktober Die Bukowina („Buchenland“) war 2005 im Linzer Volkshaus Auhof-Dorn- 1774 als Teil des Osmanischen Reiches ach ein Czernowitz-Abend veranstaltet. von Österreich annektiert worden und Das „Jüdische Orchester Czernowitz“ hatte 1850 eine eigene Landesverfassung gastierte mit traditionellen jiddischen bekommen. Dieses Land am äußersten Liedern und Volksweisen; eine Foto- östlichen Zipfel der österreichisch-unga- ausstellung „Einst und jetzt – Alte und rischen Monarchie wurde dadurch ein neue Ansichten von Czernowitz“ wurde eigenes Kronland. Die forcierte Ansied- eröffnet. lung galizischer Juden machte Czerno- witz in der Folge zur einzigen europäi- Jahrzehntelang schien die einst blü- schen Hauptstadt mit einer relativen hende Kulturmetropole und Hauptstadt Mehrheit an jüdischer Bevölkerung. Da- des altösterreichischen Kronlandes neben gab es ein buntes Gemisch deut- Bukowina dem Bewusstsein der euro- scher, ruthenischer (ukrainischer), rumä- päischen Öffentlichkeit entrückt zu sein. 1 Aus dem Vorwort zu dem Buch von Cecile Cor- Erst durch den Zerfall der Sowjet- don, Helmut Kusdat (Hrsg.): An der Zeiten Rän- union und den Sturz der Diktatur Ceau- der. Czernowitz und die Bukowina. Geschichte – Litera- sescus in Rumänien wurden jene Ge- tur – Verfolgung – Exil, Wien 2002, 9. Stellvertre- biete, die einst die Bukowina ausmach- tend für die umfangreiche Literatur seien hier weiter erwähnt: Helmut Braun (Hrsg.): Czerno- ten, wieder frei bereisbar. „Seither begibt witz: Die Geschichte einer untergegangenen Kulturme- sich eine ständig wachsende Zahl von tropole, Berlin 2005. Schon früher setzt sich mit Reisenden auf die Suche nach familiären Czernowitz auseinander: Martin Pollack, Nach Wurzeln, nach Relikten einst blühender Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthe- Kulturen oder nach Spuren jener Schrift- nen. Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Wien 1984, steller, Wissenschaftler und Künstler, die 131–151. Ein interessanter Reisebericht noch wesentlich zur Entstehung des ,Mythos vor der Öffnung findet sich bei Ernst Trost, Das Czernowitz‘ beigetragen haben. Eine blieb vom Doppeladler. Auf den Spuren der versunke- Fülle von Publikationen (Bücher, Zei- nen Donaumonarchie, Wien 1984 (7.Auflage 1988), 52–72. Wichtige Internetadressen für Quellen tungsartikel, Dokumentarfilme) unter- und Literatur zum Thema Czernowitz und schiedlichster Art und Qualität inspiriert Bukowina sind: www.bukowina.info und und begleitet sie dabei.“1 www.czernowitz.de.

169 nischer, polnischer, ungarischer und an- und doch zeigt die Lebensgeschichte derer Volksgruppen. Das großteils fried- dieses Wissenschaftlers, dass mit Czer- liche Zusammenleben der Völker vor nowitz ein Stück Altösterreich, „an der dem Ersten Weltkrieg wurde durch die Zeiten Ränder“ gelegen,3 wieder in greif- nachfolgenden blutigen Ereignisse jäh bare Nähe kommt. unterbrochen. 1918 fiel die Bukowina an Rumänien, 1940 besetzte die Sowjet- union die Nordbukowina mit Czerno- Auf dem Weg nach Czernowitz witz. 1941 wurde die Nordbukowina von Rumänien zurückerobert; Massen- Nicht erst durch das Konzert des Jü- morde an den Juden und Deportationen dischen Orchesters und auch nicht erst folgten. 1944 befreite die Rote Armee durch den Hinweis auf den Namensge- Czernowitz, die Nordbukowina blieb ber der Schumpeterstraße ist mir der bei der Sowjetunion. Seit 1991 ist Czer- Städtename Czernowitz nahe gebracht nowitz eine Gebietshauptstadt der unab- worden, sondern schon von Kindheit an hängigen Ukraine mit ca. 265.000 Ein- bin ich damit vertraut. In meinem Eltern- wohnern. haus in der Mühlviertler Gemeinde Sonnberg ist das Andenken an meinen Bei der Präsentation des „Jüdischen 1914 – kurz nach Ausbruch des Ersten Orchesters Czernowitz“ am 14. Oktober Weltkrieges – in Galizien gefallenen Gro- 2005 im Volkshaus Auhof-Dornach ßonkel Dr. Josef Dessl immer noch le- wurde einleitend auf die neuen Verbin- bendig. dungen im zusammenwachsenden Eu- Von 1907 bis 1911 studierte der Bau- ropa hingewiesen, die in gewisser Weise ernsohn Josef Dessl Rechtswissenschaf- an ehemalige, sehr enge Berührungs- ten an der Universität in Czernowitz und punkte der Vergangenheit anknüpfen legte als solcher auch Prüfungen bei Jo- können. Als kleines Beispiel für ein Bin- seph Alois Schumpeter ab, wie die deglied zwischen Linz und Czernowitz mehrfache Unterschrift Schumpeters im wurde die Namensgebung für die nahe Inskriptionsbuch und in den Prüfungs- dem Volkshaus gelegene Schumpeter- zeugnissen4 bestätigt. Um sich das Stu- straße erwähnt. Joseph Alois Schumpe- dium leisten zu können, war Josef Dessl ter (1883–1950) war Volkswirtschaftsleh- Angestellter in der Familie des Landes- rer, Universitätsprofessor und viel gele- präsidenten Oktavian Regner Freiherr 2 sener Buchautor. Seine erste Professur von Bleyleben (1866–1945) und Beamter trat Schumpeter von 1909 bis 1911 in in der dortigen Landesregierung. Czernowitz an, bevor er nach Graz wechselte und kurze Zeit auch als Fi- nanzminister in der Ersten Republik tä- tig war. Als man 1965, ein Jahr vor der 2 Richard Swedberg, Joseph A. Schumpeter. Eine Bio- Eröffnung der nahe gelegenen Johannes- graphie, Stuttgart 1994. Kepler-Universität, die Schumpeter- 3 S. das erwähnte Buch in Anm. 1. 4 Dieses und die folgenden erwähnten Doku- straße nach dem berühmten National- mente sowie das veröffentlichte Bildmaterial ökonomen benannte, hatte man sicher finden sich im persönlichen Archiv der Familie nicht seine Czernowitzer Jahre im Auge; Dessl, Sturmweg 1, 4180 Zwettl.

170 Josef wurde am 23. Oktober 1888 als nichts geworden sei; stattdessen sei er siebtes von zehn Kindern den Eheleuten gleich zur Familie Bleyleben gekommen: Anton und Elisabeth Dessl auf dem „Ich wurde telegrafisch schon für die Fe- Sturmgut geboren.5 Als Taufpate fun- rien auf meinen dauernden Posten beru- gierte Josef Penn (1835–1914), „Gutsbe- fen und musste . . . schon Mittwoch ab- sitzer und bürgerlicher Müllner“ aus reisen und zwar nach Jundorf bei Brünn Zwettl, der für seine weiten Reisen bis zu von Bleyleben, der dort eine Villa be- hin nach Jerusalem noch heute bekannt wohnt. Im September werden wir nach ist. Wie bei seinem legendären Taufpaten Czernowitz fahren.“6 sollte auch bei Josef Dessl der Wirkungs- grad weit über die eigene Heimatge- meinde hinausgehen. Hauslehrer, Student und Aufgrund seiner Begabung und Landesregierungsbeamter durch die Vermittlung seines geistlichen Onkels P. Lukas Kaar kam Josef nach Über seine ersten Eindrücke von dem Besuch der Volksschule Zwettl mit Czernowitz schrieb Dessl auf einer Karte dem Schuljahr 1899/1900 in das neu ent- an seine Mutter: „Nachdem ich Ihnen stehende Stiftsgymnasium Wilhering, von Brünn aus keine Ansicht geschickt das zu diesem Zeitpunkt die ersten drei habe, so will ich dies hiermit nachholen. Klassen führte. Die Prüfungen mussten Die Kirchen sind teils jüdisch, teils orien- die Schüler am Staatsgymnasium in talisch, teils katholisch. Czernowitz liegt Linz ablegen, wo sie als Externisten ge- an einem Abhange.“ Am 28. September führt wurden. Josef blieb dem Stift und 1907 inskribierte Josef an der juridischen Abt Theobald Grasböck (1892–1915) Fakultät der k. k. Universität zu Czerno- zeitlebens zu Dank verpflichtet. Auch witz. Seine Wohnanschrift war fortan mit anderen Angehörigen des Stiftes das Gebäude der Landesregierung, wo war er in Verbindung, wie etwa mit dem er zusammen mit der Familie Bleyleben späteren Abt Bernhard Burgstaller und ihren Angestellten untergebracht (1938–1941), der zur gleichen Zeit in war. Als nach einem Brand das Gebäude Wilhering die Schule besuchte. 1908 mit einem dritten Stock versehen Ab der vierten Klasse war Josef ganz wurde, schrieb Josef an seinen Vater: am k. k. Staatsgymnasium in Linz und „Wir (Familie von Bleyleben; Anm. d. A.) wohnte bei einer Kostfrau. Am 22. Juni bewohnen nun den ganzen ersten 1907 maturierte er mit Auszeichnung, Stock.“ trat aber nicht – wie vielleicht von man- Oktavian Regner von Bleyleben war chen erwartet worden war – in die Fuß- von 1904 bis 1911 Landespräsident der stapfen seines geistlichen Onkels, son- dern entschied sich für das Studium der Rechtswissenschaften. 5 P. Reinhold Dessl, Der Sturmhof in der Gemeinde In einem Dankbrief an Abt Theobald Sonnberg (Bezirk Urfahr-Umgebung/Oberösterreich). Grasböck „für alle erwiesenen Guttaten“ Ein Beitrag zur Geschichte eines Bauernhauses im Wandel der Zeiten, hg. im Eigenverlag, Grama- schrieb Josef Dessl am 27. Juli 1907 aus stetten 2000. Jundorf bei Brünn, dass es mit einer Feri- 6 Stiftsarchiv Wilhering, Akte Abt Theobald enstelle als Hauslehrer in Vichtenstein Grasböck.

171 Kartengruß von Josef Dessl an seine Mutter Elisabeth.

Bukowina, wie man den Statthalter dort er bei weiterem Aufenthalte dort erkran- titulierte. Als solcher war er der Chef der ken könne. Ich hatte durch Zufall einen politischen Verwaltung des Kronlandes: ausgezeichneten Hofmeister9 für ihn, der der Statthalterei (in der Bukowina „Lan- desregierung“), der Bezirkshauptmann- schaften, der Statutarstädte und der Poli- 7 Diese Aufzeichnungen befinden sich im Besitz zeidirektionen. In den 1940er-Jahren von Alfred und Karl Anton Bleyleben, Wien. schrieb er seine Erinnerungen an diese Die Josef Dessl betreffenden Auszüge wurden Zeit in seinen „Lebensaufzeichnungen“7 dem Verfasser dankenswerter Weise zur Verfü- nieder. Darin wird auch ausdrücklich gung gestellt. Ein Teil dieser Lebenserinnerun- „Herr Dessl“ erwähnt und auf die Um- gen wurde veröffentlicht unter dem Titel „Meine Zeit als Landespräsident der Bukowina“ stände verwiesen, die zu dessen Bestel- bei: Cecile Cordon, Helmut Kusdat, a. a. O., lung führten: 23–34. 8 8 Neben dem Sohn Max hatte die Familie drei „Meine Kinder wuchsen allmählich Töchter. heran und gediehen prächtig. Max hatte 9 Die Bezeichnungen „Hauslehrer“ und „Hof- ich zu Weihnachten 1905 aus Kalksburg meister“ waren ursprünglich identisch: „Ein herausgenommen, weil er dort nach un- Hofmeister (lat. Magister, Praefectus curiae) ist ein Hauslehrer im Mittelalter, der auch für Be- serer Versetzung nach Czernowitz ei- treuung außerhalb des Schulbereichs verant- gentlich ganz verlassen war, die Kost wortlich ist.“ (de.wikipedia.org/wiki/Hofmei- nicht vertrug und der Arzt erklärte, dass ster)

172 Meldungs- und Inskriptionsbuch von Josef Dessl. bei Bylandt10 gedient hatte, gefunden, ung von Max von Bleyleben (1883– der selbst die Universität besuchte und 1969) zuständig; eine Aufgabe, die er al- gleichzeitig den Unterricht meines Soh- lem Anschein nach zur vollsten Zufrie- nes leitete. Er wurde uns allen während der vier Jahre ein lieber Hausgenosse, 10 Es ist damit Graf Artur Bylandt-Rheidt (1854– den ich dann noch bei der Finanzdirek- 1915) gemeint, der von 1902 bis 1904 Statthalter tion in Linz unterbrachte, als mein Sohn von Oberösterreich und 1905/06 Innenminister das Gymnasium beendet hatte. Wir wa- war. Was dieser „Dienst bei Bylandt“ bedeutet, ist bis jetzt unerklärlich. Es könnte höchstens ren sehr betrübt, als wir im November eine Art „Nachhilfeunterricht“ in der Familie 1914 die Nachricht bekamen, dass Herr Bylandt gewesen sein, den Josef Dessl neben Dessl, so hieß er, in Galizien gefallen sei.“ seinem Gymnasialstudium gab; allerdings war er bis 1904 in Wilhering stationiert. Bleyleben Josef Dessl war also vier Jahre für die könnte sich schlicht und einfach auch geirrt ha- schulische und außerschulische Betreu- ben.

173 Windischgarsten aufhielt, schickte ihm Max einen herzlichen Kartengruß, mit dem er ihn einlud, wieder bei der Familie von Bleyleben auf ihrem Sommersitz in Brünn Urlaub zu machen. Auch Okta- vian Regner von Bleyleben schickte ei- nen Kartengruß an den Einjährig-Freiwil- ligen. Neben seinem Studium und seinem „Familienanschluss“ im Haus von Bleyle- ben war Josef auch „Mitglied der Lan- desregierung der Bukowina“, wie dies Graf von Ezdorf in seinem Beileids- schreiben an die Familie Dessl vom 15. Dezember 1914 ausdrückte. In man- chen Kartenanschriften wird Dessl als k. k. Landesregierungsbeamter bezeich- net. Damit sind wohl Aufgaben im Ver- waltungsapparat des Landespräsidenten gemeint.

Jähes Ende eines jungen Lebens

Nach Beendigung der Universitäts- studien in Czernowitz absolvierte Josef Dessl seinen Militärdienst. Als er seinen Einsatz als Einjährig-Freiwilliger abge- schlossen hatte, kam er – wie erwähnt Max von Bleyleben (aufgenommen am 27. März auf Vermittlung von Octavian Regner 1910). von Bleyleben – zur Finanzdirektion Linz. Als k. k. Finanzkonzepts-Praktikant denheit aller erfüllte. Das Verhältnis von war er bei der k. k. Bezirkshauptmann- Josef und Max wird man als freund- schaft Vöcklabruck beschäftigt. Am schaftliches bezeichnen dürfen. Verschie- 20. Mai 1914 wurde er zum Vorsitzen- dene Kartengrüße und Fotos geben da- den-Stellvertreter der Erwerbssteuer- rüber Auskunft. So existiert etwa ein Kommission III. und IV. Klasse des poli- Foto, wo man beide beim Schilaufen tischen Bezirks Vöcklabruck und der sieht, was für Josef wohl eine neue Einkommenssteuer-Schätzungskommis- Sportart war. Auch nach seinem Aufent- sion desselben Bezirks ernannt. Schließ- halt in Czernowitz blieben sie durch Kar- lich promovierte er am 23. Mai 1914 an ten und Briefe in Verbindung. Als Josef der deutschen Universität in Prag zum sich 1913 als Einjährig-Freiwilliger in Doktor der Rechte. Aus Briefen erfahren

174 Karte, die Oktavian von Bleyleben 1912 an Josef Dessl sandte. wir, dass er auch der tschechischen Spra- der ihn sofort tötete. Er lebte nicht eine che mächtig war. Minute mehr. Ich kann Ihnen nicht be- Das viel versprechende Leben von schreiben, wie sehr mich dieser Anblick Dr. Josef Dessl fand am 21. Oktober berührte. Ich . . . lief in meine Deckung 1914 auf einem Schlachtfeld bei Nisko zurück und weinte vor Schmerz wie ein am San, im Gebiet des heutigen Polen, kleines Kind. Es war furchtbar für ein jähes Ende. Franz Schenkenfelder, mich...“ ein Verwandter Dessls, der mit ihm in Josef Dessl, der als „Fähnrich in der derselben Kompanie war, schildert in ei- Reserve im k. u.k. Infanterie-Regiment nem Brief an die Familie die genaueren Nr. 14“ starb, wurde wohl auch in der Umstände des Todes seines „Vetters“: Nähe seines Sterbeortes in einem Krie- „Ich hatte bald eine Deckung bei einem gergrab beigesetzt. In einem Holzkoffer Bauernhause und richtete mich so gut mit seiner Namensaufschrift und dem als möglich dort ein, d. h. ich holte mir Hinweis auf seinen militärischen Rang Stroh vom Hause und polsterte mein wurden seine Habseligkeiten an seine Fa- Erdloch aus. Das gleiche machten auch milie gesandt, in deren Besitz sich der die anderen. Mein lieber Vetter lag unge- Koffer noch heute befindet. Eine Reihe fähr 80 Schritte von mir links und stand von Beileidsbriefen langte bei Familie auf und wollte sich von meinem Bauern- Dessl ein. Michael Breuer, k. k. Hofrat hause auch Stroh holen. Er machte viel- und Finanzdirektor-Stellvertreter, offen- leicht 20 Schritte und im selben Moment sichtlich ein Vorgesetzter Josefs, schrieb erhielt er einen Schuss durch den Kopf, an Anton Dessl: „Der gute Josef war ein

175 frommer Christ, ein charaktervoller Verbindung von Linz mit Czernowitz Mann, eine edle Seele, ein äußerst tüchti- nichts Außergewöhnliches gewesen war. ger, hervorragend begabter, höchst ge- Als Mühlviertler Bauernsohn in Czerno- wissenhafter Beamter und Soldat.“ Graf witz verbrachte Josef Dessl einen Ab- von Ezdorf, Vorstand des Präsidialbüros schnitt seines kurzen Lebens am Rande der k. k. Landesregierung der Bukowina, der Donaumonarchie an einem Ort, der kondolierte im Namen der Bukowiner wenige Zeit später ganz aus dem Blick- Landesregierung. feld rückte. Nur mühsam können durch die neueren politischen Veränderungen Der Erste Weltkrieg, der das Zusam- jetzt wieder Bande geknüpft werden. In- menleben der Völker Europas für viele sofern hat sich durch das Gastkonzert Jahrzehnte so massiv veränderte, been- der Czernowitzer jüdischen Musiker dete damit auch unbarmherzig das Le- wieder ein Kreis geschlossen, der allzu ben eines jungen Mannes, für den die lange unterbrochen war.

176 Deutsche Kinderjahre im Mühlviertel Oder:DieGenesiseinerPrägung

Von Helga Passon

1. Ankunft

An einem strahlend schönen Vor- den Freistädter Bahnhof donnerten wie- frühlingstag im März 1945 standen wir der Flugzeuge und lösten bei mir erneut schwitzend und verdreckt auf einem den Reflex des Festhaltens aus: um Got- Bahnsteig in Freistadt. „Wir“ – das war tes Willen, nur nicht loslassen, auch meine Mutter Hildegard Passon (1904– wenn von allen Seiten gestoßen und ge- 1962), die uns am 18. Jänner 1945 bei ei- drängt wurde! siger Kälte im letzten Zug der Deutschen Das nächste Erinnerungsbild lässt Reichsbahn aus Beuthen/Oberschlesien mich einen Raum in einer Baracke des (heute Bytom, Polen) herausgebracht Freistädter Flüchtlingslagers, stützende hatte; alleine und im Treck, auf Lkws der Holzpfosten und viele Etagenbetten er- deutschen Wehrmacht, auf Bauernwa- kennen. Ich liege auf einem Strohsack, gen, zu Fuß und in Güterwaggons hatte quäle mich mit anhaltender, wolkenartig sie mit sicherem Instinkt einen Weg in aufsteigender Übelkeit, häufigem Erbre- Richtung Westen gesucht, immer auf der chen und spüre immer wieder die kühle Flucht vor der Roten Armee. „Wir“ – das Hand der Mutter auf meiner Stirn. Nicht war auch ich, die ich mehr beobachtet lange danach verließen wir das Lager. und erlebt hatte, als ein sechsjähriges Ich sehe einen Leiterwagen mit Frauen, Kind verkraften kann. „Wir“ – das war kleinen Kindern und Rucksäcken vor nicht zuletzt meine am 30. August 1944 mir. Ich liege auf Gepäckbündeln, wäh- geborene Schwester Marlies, die als rend meine Mutter, den Kinderwagen Säugling am hilflosesten den zahlrei- schiebend, hinter uns geht. Traurig und chen erschreckenden Eindrücken einer bitter höre ich sie sagen: „Nun sind wir Flucht ausgeliefert gewesen war. Ich Zigeuner.“ Ich konnte damals mit dieser weiß, wie ich mich auf jenem Bahnsteig Bemerkung nichts anfangen, habe sie an den Kinderwagen klammerte, in dem aber aus irgendeinem Grund behalten . . . sie lag. In ihrer fest geschlossenen Baby- Man hob mich wieder auf den Leiterwa- faust sollte meine Mutter später beim gen. Ich weiß nicht mehr, wer ihn lenkte, ersten gründlichen Baden ein zer- ob mehrere Wagen1 das Lager verlassen quetschtes Stück Weißbrot finden, eine hatten, wer alles organisierte. Ich ent- Kostbarkeit, die uns lange zuvor ein mit- sinne mich nur, dass viele von uns leidiger Mensch in den Sudeten oder in Flüchtlingen auf mehrere Dörfer verteilt Böhmen geschenkt hatte – meines Wis- sens an dem Tag, als wir einen Tiefflie- gerbeschuss überlebt hatten. Auch über 1 Aufz. d. Verf.

177 Mutter Pammer, links vorn, im Kreise von Familienangehörigen, Kindern und Kindeskindern. Hinter ihr stehend meine Mutter, Hildegard Passon. Die Aufnahme datiert aus 1947, dem Jahr unserer Abreise nach Deutschland. wurden und die Verhandlungen darüber Gehöft. Die nächste Erinnerung lässt ein auf der Straße stattfanden. Die Bauern- großes, freundliches Gesicht, umrahmt häuser im Umkreis waren quasi bis unter von einem hellen Kopftuch, über mir er- den Dachfirst mit deutschen Frauen und scheinen. Eine süße Masse wird auf Kindern belegt. Wir drei hatten immer meine Lippen geschmiert, dann der Hals noch keine Unterkunft und wurden, so- wie der einer Gans massiert. Kurz darauf weit ich mich erinnere, auch in der Ge- kann ich wieder schlucken, ohne zu er- meinde Hirschbach vorerst abgelehnt. brechen. Mutter Pammer erschien mir Ein Mann erklärte jedoch beruhigend: wie ein guter Geist oder ein riesiger „Es gibt da noch eine gute Frau.“ Danach Schutzengel. Nach wie vor schreibe ich hörte ich erstmals den Namen, der für ihr hohen Anteil an meiner Spontanhei- mein Leben ungeahnte Bedeutung ge- lung bzw. vollständigen Genesung zu. winnen sollte: „Mutter Pammer“, Bäue- (Noch 2002 konnten bei mir erstaunli- rin auf dem Andregut in Thierberg. cherweise Abwehrstoffe gegen Hepatitis Es ging steil bergan, und irgend- A nachgewiesen werden!) Als ich wieder wann hielten wir vor einem größeren in der Lage war zu laufen, instruierte

178 mich Mutter Pammer, wie ich die „Medi- Schwierigkeiten erlebte ich im Mühlvier- zin“ selber mixen könne: frisches Eigelb tel eine ganz und gar neue Welt. mit Zucker in einer Tasse schlagen, fer- In meiner oberschlesischen Heimat tig. Das sollte ich mir zubereiten, wann Beuthen hatten wir als vermögenslose immer ich Appetit hatte. Ich weiß genau, „kleine Leute“ eine bescheidene Drei- wie ich mich darüber wunderte, dass es Zimmer-Mietwohnung, die für meinen außer meiner Mutter plötzlich wieder ei- Vater als mittleren Beamten in der Fi- nen anderen Menschen gab, der sich um nanzverwaltung gerade eben erschwing- mich sorgte . . . lich gewesen ist. Dennoch war ich dort Fürchterlich war für mich allerdings als ein in gewisser Weise verwöhntes mein erster Schultag im Mai 1945 in Kind, eben als Stadtkind, herangewach- Schenkenfeldens Volksschule. Unter Trä- sen. Im Mühlviertel war die Situation nen machte ich mich alleine auf den Weg eine grundlegend andere und – wie sich hinab ins Dorf, mich ständig umdre- bald nach meiner körperlichen Wieder- hend, um der Mutter zu winken, und herstellung zeigen sollte – für mich in mir dabei die Arme schmerzhaft verren- vielerlei Hinsicht interessantere. Als der kend. Meine Mutter stand zunächst vor verstörende Somnambulismus, eine dem Andregut, winkte zurück, ging Folge meiner Erkrankung, abzuklingen dann oben auf dem Berg einen Feldweg begann, erwachte ich immer seltener als entlang, um mir mit den Augen folgen Schlafwandlerin im Nachthemd auf der zu können, bis ich unten im Tal im Haus Stiege, neben dem Kachelofen in der der Pirklbauers verschwand, wo ich die Stube oder gar vor dem Misthaufen Luisi und den Peppi abholte. Als ich am draußen auf dem Hof. (Nie war dabei et- Nachmittag von der „schulischen Feuer- was passiert, weil mich stets jemand taufe“ zum Andregut zurückkam, stellte sanft geweckt hatte.) ich aufatmend fest, dass keinem von uns dreien etwas Furchtbares widerfahren war... 2. Arbeit Körperliche Gesundung, soziale Nach meiner Genesung arbeitete ich Kontakte und der Vergleich zwischen – wie alle Dorfkinder – in der Landwirt- vorherigen und späteren Erfahrungen schaft. Es begann mit leichten Tätigkei- bestimmen heute meinen Blick auf die- ten wie dem Hüten von Kühen. Der sen Lebensabschnitt. Er begann mit der Knecht Michi, Michael Elmecker,3 er- Ankunft bei Familie Pammer am 9. April klärte mir, worauf ich zu achten hatte. Er 19452 in Hirschbach und endete mit un- gab mir eine Peitsche, die so groß wie ich serer Rückkehr nach Deutschland im November 1947. Nicht nur retrospektiv betrachtet war jene relativ knappe Zeit- 2 Hofchronik des Andregutes an der Leiten, spanne, so merkwürdig es bei den kärg- Thierberg 9, Gemeinde Hirschbach, Band 2, lichen materiellen und sonstigen Bedin- verfasst von Kons. Johann Pammer, S. 222. 3 Er war es auch gewesen, der uns am 9. April gungen anmuten mag, für mich ein 1945 aus dem Flüchtlingslager Freistadt abge- Stück goldener Kindheit. Trotz aller holt hatte. Johann Pammer, Hofchronik (wie Ängste, Probleme, Engpässe und Anm. 1), S. 222.

179 Meine Mutter, Schwesterchen Marlies und ich – wohlgenährt und mollig im Sommer 1947 vor dem Andre- gut in Thierberg.

180 zu sein schien und herrlich knallte. Ich die Pferde striegeln, füttern und auch an- sehe mich auf einer Wiese mit vielen schirren. Zum Anlegen der Kummetkis- Blumen am Thierberg gegenüber dem senwarichzuklein,sodassmichMichi Hof der Familie Pammer im Gras liegen, dazu auf eine Kiste stellte. Oft begleitete die am blauen Himmel dahin ziehenden ich ihn auf dem Leiterwagen, hörte sein weißen Wolken beobachtend, während „Hüa, hüa!“, das laute Schnalzen mit der das Vieh friedlich vor sich hin kaut. Zunge und wünschte mir, einmal selbst Langweilig wurde es nie, da mir die kutschieren zu können. Vorerst musste Dorfbuben gezeigt hatten, wie man Pfei- ich mich aber mit den Rindern zufrieden fen, Flöten und vieles andere schnitzt. geben. Als ich schließlich einmal auf ei- Außerdem hatte ich in einem Straßen- nem Kälbchen reiten wollte, lernte ich graben ein ziemlich verschmutztes Heft- das Fliegen, wurde um Erfahrungen und chen mit deutschen Landserliedern ge- einige blaue Flecken reicher. Oft schaute funden. Dieses wurde nun durchbuch- ich auf dem Hof auch beim Dengeln der stabiert, fast auswendig gelernt und zur Sensen zu. Der monotone metallische Grundlage einer musikalischen Bildung Klang gefiel mir. Aber weder das Schär- gemacht. Ich erkannte die sonderbare fen noch der Umgang mit der Sense Schrift wieder, die mir in Beuthen stets wurde mir je erlaubt. Dafür weihte mich ein Rätsel gewesen war, wenn ich in den Michi in die Handhabung des Beils ein, vielen dicken Notenbänden auf dem mit dem ich bald trefflich umzugehen Klavier meiner Eltern geblättert hatte. lernte. Also versuchte ich jetzt, Noten zu singen Besonders lag mir an der Gesell- und entzifferte neugierig die Texte. schaft von Hans, Mutter Pammers älte- Meine Gesundung, den Beginn mei- stem Sohn, der mich häufig auf seinem ner Hirtentätigkeit und den Fund des holzgasbetriebenen Traktor mitnahm. Heftes kann ich auf Anfang Mai datie- Der Jungbauer genoss meine allergrößte ren, da am 9. Mai 1945 endlose Scharen Achtung und Sympathie. Er probierte von Wehrmachtsangehörigen auf der immer etwas aus und war für mich der Flucht vor den Russen das Mühlviertel bewunderte Erfinder der Elektrizität (ob- in Richtung Bayern durchquerten4 und wohl ich es damals schon besser wusste). alles wegwarfen, was für sie überflüssig So wurde der matte Schein der alten Pe- oder (politisch) gefährlich war. troleumlampen in der Stube eines Abends durch willkommen strahlend- Wenn ich die Tiere zum Melken auf helles Licht abgelöst, auch wenn es den Hof getrieben hatte, half ich im Kuh- manchmal etwas flackerte. Vor allem stall, mit größtem Vergnügen aber im aber umgab den Jungbauern etwas Ge- Pferdestall nebenan. Hier standen u. a. heimnisvolles; zufällig hatte ich mitbe- zwei prächtige, mir gewaltig erschei- kommen, wie er und Michi einen Wehr- nende Zuchthengste, vermutlich Trakeh- machts-Pkw, wahrscheinlich Strandgut ner. Knecht Michi, der Herr des Pferde- der im Mai 1945 zurückgefluteten deut- stalls, den ich anfangs für brummig ge- schen Soldaten, nächtens unter das fri- halten hatte, erwies sich nun als erfreu- lich aufgeschlossen und beantwortete geduldig alle meine Fragen. Ich durfte 4 Ebd.,S.220f.

181 sche Heu in der Scheune schoben. Dort größere Entfernung tatsächlich riechen überstand der Wagen auch eine Suchak- konnte, weshalb sich mir die anderen tion der mit langen Stangen ausgerüste- Kinder bei den Waldgängen gerne an- ten Besatzungssoldaten. Das also war schlossen. wohl die Quelle der neuen, „hauseige- Der Feldarbeit näherte ich mich zu- nen“ Elektroenergie! Ich hatte ebenfalls erst einmal aus der „Jaus’n-Perspektive“. vieles auf der Straße aufgelesen und Mit einem Korb voller Speck und Brot nutzte es mit Freude. Warum sollte Hans in der einen, einem Krug Most in der an- nicht das Gleiche tun? Ein Auto fand ich deren Hand ging ich zu den Wiesen und jedoch viel abenteuerlicher als mein klei- Feldern des Andreguts, auf denen ge- nes Liederbuch. rade gearbeitet wurde. Ich sah, wie Zu meinen Aufgaben im Wohnhaus scheinbar mühelos die Schnitter das gehörte neben dem anfänglichen Putzen Gras mit elegantem Schwung in fast der Öllampenzylinder und dem Kon- gleichmäßig ausgerichtete Streifen fallen trollieren der Mausefallen bis hinauf zur ließen. Noch heute steigen diese Bilder Tenne unter anderem das tägliche Ein- vor mir auf, wenn der Rasen vor meinem sammeln der Eier, wo immer sie die Balkon gemäht wird, der Duft des frisch Hühner abgelegt hatten. So lernte ich geschnittenen Grases aber leider zu das Gehöft bis in seinen letzten Winkel schnell mit diesem im Sack des Rasen- kennen. Den Schwalben und ihren Jun- mähers verschwindet. Zum „Heu ma- gen begegnete ich in deren Nestern auf chen“ gehörte das Wenden des an der Augenhöhe, nachdem ich eine Möglich- Oberfläche bereits getrockneten Grases. keit entdeckt hatte, unter dem Strohdach Bewaffnet mit einem langen Holzrechen voller Taubenkot hindurch ins Freie zu fand ich mich eines Tages in einer Reihe klettern. Höhe schreckte mich nicht, da mit etlichen Frauen und Mädchen, um sich mein Lieblingsplatz ohnehin hoch im gleichen Tempo wie diese die Wiese oben in einem alten, großen Nussbaum abzuschreiten und das Gras zu drehen. vor dem Haus befand. Sehr gerne half Am Ende angekommen, schwenkten wir ich beim Mosten und beim Krautschnei- um, jede von uns nahm sich für den den, mit weniger Begeisterung beim Rückweg wieder einen Heustreifen vor, „Buttern“, das mir zu anstrengend war. den sie im Rhythmus mit den anderen Für Michi schnitt ich selbst gezogenen wendete. Bald wurde mir diese Arbeit je- Tabak, drehte Zigaretten, anfangs sogar doch zu stark, weil die Sonne fast uner- mit der Hand. Küchendienst absolvierte träglich vom Himmel brannte und eine ich am liebsten außerhalb der Küche, doppelte Anstrengung erforderte. und zwar im Wald, wenn ich, besonders Ausgesprochene Unlust verursachte am fleischlosen Freitag, wie alle Dorfkin- mir das Korndreschen, bei dem sich die der fürs Mittagessen „sorgte“. Ohne zerkleinerten Grannen spitz und scharf Mühe füllten wir unsere Körbe mit Pil- durch die Kleidung tief in die ver- zen oder Blaubeeren, die damals im schwitzte Haut bohrten. Ebenfalls unan- Forst am Hirtstein noch in Mengen genehm war das Schweineschlachten, wuchsen. Stolz war ich auf meinen Ruf, weil wir während des Abschabens der eine Nase für die von mir so geliebten Borsten im warmen, blutigen Wasser des „Schwammerln“ zu haben, die ich auf Trogs mit Suppenkellen hantieren muss-

182 ten. Der Ekel hielt sich freilich in Gren- ernte, bei der nach dem Auflesen der zen, da ich Fleisch schätzte und auf der Erdäpfel etliche ins Feuer wanderten und Flucht zu lange gehungert hatte. Insge- noch auf dem Feld verzehrt wurden. Am samt mochte ich die landwirtschaftli- lustigsten fand ich das Krauttreten, wenn chen Tätigkeiten jedenfalls sehr und Kinder und Erwachsene – mit sauber ge- habe deshalb vor allem die positiven Er- waschenen Füßen – in die steinernen lebnisse dauerhaft gespeichert. Wie Bottiche mit gesalzenem Weißkraut stie- freute ich mich etwa, als es mir zum er- gen, um dieses zu stampfen. Bei Treib- sten Mal gelang, nur mit Hilfe von jagden wurden wir Kinder als Treiber Strohhalmen meine ersten Getreidegar- eingesetzt und liefen laut „hoi, hoi, hoi“ ben zu binden und zu „Mandln“ aufzu- rufend durch die Wälder. Die Geweihe stellen! Von da an konnte ich auch im des erlegten Rotwildes wurden zu Knöp- Wald Reisig bündeln. Beim Brechen des fen für Janker verarbeitet, die aus den im Flachses hatte ich großes Vergnügen an Frühjahr 1945 aufgelesenen Uniform- den beweglichen Dreschflegeln, mit de- stücken genäht werden konnten. Ich be- nen ich wegen der fehlenden körperli- kam ein feldgraues Winterkleid und ei- chen Kraft aber gewiss nicht viel zu- nen – aus einem aufgetrennten Soldaten- stande brachte. Effektiver war ich bei- pullover gefertigten – Pulli mit grünem spielsweise beim Reinigen und „Karden“ Norwegermuster. des Leinens, wozu mich die Bauersleute Zu den notwendigen Herbstarbeiten entsprechend oft heranzogen. zählte die Beschaffung robusten Schuh- werks, damit wir uns im Winter auch au- Mit geradezu flammender Bereit- ßerhalb des Gehöfts bewegen konnten. schaft führte ich die Aufträge von Mut- Das Besohlen meiner abgetragenen und ter Pammer aus. Geschützt durch eine ohnehin bereits zu klein gewordenen dicke Hornhaut, die sich vom ständigen Schuhe war nicht mehr möglich. Also Barfußgehen unter den Füßen gebildet schnitzte mir Michi aus hartem Buchen- hatte, lief ich eifrig über die abgeernteten holz neue Sohlen, auf die das alte Ober- Stoppelfelder, schrieb die Anzahl der leder genagelt wurde. Meine Füße blie- „Mandln“ auf und sah mit Genugtuung, ben sogar im kältesten Winter wunder- wie die Bäuerin meine Angaben in eine bar warm, wuchsen jedoch weiter be- „Kladde“ übertrug. (Zwei ähnliche Hefte drohlich. Auch klebte trockener Schnee sollte mir Mutter Pammer später anläss- an den Holzsohlen und ließ uns Schul- lich unserer Rückkehr nach Deutschland kinder, die wir ja alle so ausgestattet wa- schenken, wo sie dann leider verloren ren, immer „größer werden“. Ständig gingen, als wir 1947/48 wiederholt aus- war einer von uns schimpfend mit dem geplündert wurden.) Abschlagen der „Stelzen“ befasst, so Freude bereitete mir im Herbst auch dass sich der eigentlich „nur“ einstün- das Füllen der als Matratzen benutzten dige Schulweg nach ins Strohsäcke, von denen ich anfangs in Unendliche zu dehnen schien. Eines Ta- der Nacht immer „abstürzte“, weil sie ges wurden wir dann mit Skiern ausge- prall gestopft waren und ich noch nicht rüstet, die wir scherzhaft „Fassdauben schwer genug war, um sie einzudrücken. mit Schnurbindung“ nannten. Die Ein Vergnügen für sich war die Kartoffel- Kneissl- oder Head-Skier mit Sicher-

183 heitsbindung, die ich mir 15 Jahre später Wohnhaus von einem köstlichen Duft leisten konnte, sollten nicht mehr Freude erfüllt. Hatte ich Glück, kam ich gerade bereiten als jene einfachen Latten, mit rechtzeitig, um den für mich schönsten denen wir nicht bloß den Schulweg be- Teil des Backtages zu erleben: Die Türen, wältigten, sondern auch Abfahrtsrennen die vom Hausflur und von der Stube in und Skisprungwettbewerbe veranstalte- die „schwarze Kuchl“ führten, standen ten. offen. Drinnen sah ich die Backofentür Irgendwann erhielt ich wunder- in der verrußten Wand unter dem hohen schöne graue Filzstiefel. Die gleichen Rauchfang mit den herrlichen Specksei- tauchten erstaunlicherweise auch bei ten ebenfalls geöffnet. Die langen Holz- meinen Thierberger Schulkameraden scheite, die in den frühen Morgenstun- auf, so dass sich ihre Herkunft wohl mit den lichterloh gebrannt und den Ofen den Ereignissen von 1945 erklären ließ, erhitzt hatten, waren nun zu Aschehäuf- mit gemeinschaftlich requirierten bzw. chen zerfallen, zwischen denen gold- versteckten „Funden“. Eine Folge der rie- braune Brotlaibe lagen. Mutter Pammer sigen Stiefel, die nur mit drei Paar dicken holte die Laibe mit einem Holzschieber Wollsocken zu tragen waren, bestand für heraus und warf sie einzeln in eine be- mich darin, dass ich das Stricken erler- reitstehende flache Strohschüssel. Diese nen musste. Zu Beginn empfand ich das flog nun innerhalb einer Menschenkette, als eine Katastrophe, fand aber bald Ge- von einem Armpaar zum nächsten, bis fallen daran, mit den Frauen in der war- hinauf zur Tenne. Ich sah immer zu, dass men Stube am großen Tisch vor dem ich am Ende stand, da ich dann von der „Herrgottswinkel“ zu sitzen, die fallen dicken Kruste eines jeden warmen Bro- gelassenen Maschen zu suchen und den tes schnell etwas kosten konnte, sobald Gesprächen der Erwachsenen zu lau- ich mich hinunterbeugte, um die Laibe schen. (Der nahezu allgemeine, unauf- auf dem Tennenboden reihenweise zum haltsame Verlust handwerklicher Fertig- Auskühlen abzulegen. Wie fade nahm keiten und Kenntnisse, die noch gestern sich gegen diese Köstlichkeit das „Fa- zum selbstverständlichen Alltagsrüst- brikbrot“ aus, das wir hernach in zeug bereits der Kinder gehört hatten, Deutschland zu kaufen bekamen! Wenn wurde mir Jahre später als Haupt- ich in den 1960er-Jahren vom Skilaufen schullehrerin drastisch vor Augen ge- aus den Tauern, der Silvretta oder aus führt.) Tirol zurückkehrte, hatte ich in meinem Wenn ich morgens in die Stube her- Rucksack immer auch Koriander- und unterkam, um zur Schule zu gehen, sah Kümmelbrot, Sorten, die damals nur ich Mutter Pammer mit ihren Töchtern in Bayern und Österreich erhältlich Nandl und Frieda an manchen Tagen waren. über einen hölzernen Backtrog gebeugt. Auch der Waschtag, zu dem das Bis zu den Ellenbogen steckten die Bleichen auf der Wiese gehörte, brachte Frauen im zähen Brotteig, den sie mit Aufgaben mit sich, die ich bewältigen größter Anstrengung kneteten. Dies war konnte, und wenn es nur das vorsichtige körperliche Schwerstarbeit. Nach mei- Besprengen der weißen Teile mit der ner Rückkehr am Nachmittag war der Gießkanne war – sorgsam, darauf be- Trog verschwunden und das ganze dacht, keine Fußspuren zu hinterlassen.

184 Ich half bei Gartenarbeiten, erntete Spa- entfernt gelegenen Wiese. Ich springe lierobst, Holunderblüten und -beeren, auf den Wagen und fahre peitschenknal- Hasel- und Walnüsse. Ich liebte die Fülle lend durch das große Hoftor, das ich zu- der bunten Blumen auf den Wiesen, die vor mit Mühe geöffnet hatte. Als ich leuchtenden Korn- und Mohnblumen mich in jagender Fahrt auf dem steilen auf den Getreidefeldern, die Vergiss- Feldweg zum Kettenbach hinunter wie- meinnicht und die Butterblumen an den derfand, war meine Hochstimmung Bachläufen. Regelmäßig versuchte mir schlagartig verflogen. Jetzt erst wurde meine Mutter zu erklären, warum es mir bewusst, dass ich zum ersten Mal al- nicht so großartig war, wenn ich sie stän- lein kutschierte und der Weg unten im dig ins Haus brachte, um die Vasen zu Tal nach einer Kurve über eine kleine füllen... Brücke ohne Geländer und ohne Be- Ebenso nachhaltig ist mir ein Erleb- grenzungsmauer führt. Ich verwünschte nis aus 1946 oder 1947 im Gedächtnis. meine Großmäuligkeit, musste mir jäh Wir saßen eines Sonntags im Frühsom- große Angst eingestehen. Stimmen die mer nach dem Mittagessen vor dem Kommandos? Schnalze ich richtig? Wohnhaus gemeinsam in der Sonne; Führe ich die Zügel überhaupt korrekt? Paul, ein junger Mann, der wunderschön Was muss ich denn machen, damit die jodeln konnte, sang leise vor sich hin; je- Räder nicht von der schmalen Brücke mand spielte Akkordeon. Plötzlich stand rutschen? Schließlich war ich überzeugt, Michi auf, zeigte auf eine Wolke, die am dass es nur ein Vorwärts und kein Zu- blauen Himmel erschien, und sagte et- rück mehr gab. Ich schaffte es. Auf der was, das sehr besorgt klang. Alle spran- anderen Seite des Tales fuhr ich so gen auf. Ich begriff, dass ein Unwetter schnell wie möglich zu der Bergwiese befürchtet wurde und das Heu, das zwi- hinauf, wo ich lachend und mit freudi- schen der Kamplmühle und der kleinen gen Rufen begrüßt wurde. Das Heu war Ansiedlung Prechtleinschlag lag und am bereits zusammengerecht und wurde ei- nächsten Tag eingefahren werden sollte, ligst aufgeladen. Michi brachte die hohe in hohem Maße gefährdet war. Als Mi- Fuhre zum Andregut. Kaum waren die chi eilig die Arbeiten einteilte, fragte je- Tore geschlossen, prasselte schon heftig- mand, wer denn mit dem Leiterwagen ster Regen gegen die Fenster. Ich aber nachkommen solle. In die Stille hinein war glücklich. Natürlich dachte ich nicht höre ich mich noch heute aufgeregt piep- daran, dass die Pferde gut abgerichtet sen: „Ich!“ Deutlich sehe ich vor mir die waren, den Weg bestens kannten und weit aufgerissenen Augen meiner Mut- sich deshalb von mir, einem herumzap- ter, die ratlos von einem zum anderen pelnden und laut schreienden Kind, blickte, während Michi mir lächelnd zu- nicht irritieren ließen. Ich sah mich als nickte. „Das kann ich!“, rufe ich noch die Retterin der Heuernte, hatte meine entschlossen meiner Mutter zu, und Angst überwunden, eine große Heraus- renne zum Pferdestall. Während ich die forderung bestanden und genoss Hengste anschirre, um rasch anzuspan- die allseitige Anerkennung in vollen nen, laufen die Erwachsenen mit Rechen Zügen. und Heugabeln über der Schulter schon Sicher fällt das, was die Dorfkinder auf dem kürzesten Weg zu der relativ und ich taten, aus moderner Sicht unter

185 „Kinderarbeit“. Da ich aber nie wirklich bezogen waren, zu systematisieren. Die überfordert wurde und lernen durfte, Bauernhöfe, auf denen sie lebten, muss- mich abzugrenzen, ohne an Akzeptanz ten die Schulkinder nach der Natur einzubüßen, fühlte ich mich keineswegs zeichnen. So lernten wir die Mühlviert- ausgenutzt. Die Arbeit und die gleich- ler Hoftypen, den Vierkant- und den sam automatische Einbindung ins bäuer- Dreikanthof, aber auch das Baumaterial liche Leben lassen mir diese Phase mei- der dunkel gefleckten Gebäude sehr gut ner Nachkriegszeit vielmehr bis heute und konkret kennen. Der „Herr Lehrer“6 tatsächlich als „golden“ erscheinen. Oft unterrichtete absolut handlungsorien- und oft musste ich als Lehrerin in tiert; Selbsttätigkeit und Eigeninitiative Deutschland an meine Mühlviertler hat er konsequent praktiziert und geför- „Barfuß-Kindheit“ zurückdenken; nie dert, was ich damals als etwas ganz Nor- und nimmer hätte ich sie gegen die mei- males hinnahm. Welch ein Qualitätsun- ner vor allem in materieller Hinsicht terschied zwischen dem Schenkenfelde- überversorgten Schüler eintauschen mö- ner Unterrichtsmodell und dem der gen – denn dem Leben in unserer Wohl- Wuppertaler Volksschule, die ich ab standsgesellschaft fehlt Wesentliches. In April 1948 besuchte . . .! Dort musste ich den 1990er-Jahren sagte mir eine erfah- meine schönen österreichischen DIN- rene Schulärztin nach der Untersuchung A4-Zeugnisblätter abgeben, um sie ge- meiner Klasse sinngemäß: „Nach dem gen ein kleines blaues Zeugnisheft ein- Krieg machten uns die vielen unterer- zutauschen. Trotz mehrmaliger Nach- nährten Kinder große Sorgen; heute frage habe ich die Dokumente nie zu- wissen wir, dass das viel schlimmere rückbekommen. Sie enthielten vermut- Problem die gesundheitlichen Folgen ei- lich gute Zensuren und besaßen für mich ner unverkennbaren Wohlstandsver- vor allem deshalb hohen Wert, weil sie wahrlosung sind.“5 belegten, dass ich viele verschiedene Fä-

3. Schule und Freizeit 5 Es handelte sich um Frau Dr. Janssen, Schulärz- tin beim Städtischen Gesundheitsamt in Wup- In die Volksschule Schenkenfelden, pertal. Noch als Pensionistin hatte sie in Vertre- zu jener Zeit eine „lehrplanmäßig wenig tung für erkrankte Kollegen Untersuchungsauf- träge übernommen und überblickte somit einen gegliederte Landschule“, ging ich außer- Zeitraum, der von der Nachkriegsära bis zur ordentlich gern. Klar steht vor mir, wie deutschen Wiedervereinigung 1989/90 reichte. ich zu Hause Tabellen, Zeichnungen und 6 Wie mir ein Schulkamerad, Hans Flodl, im Juli Notizen zu Tieren und Nutzpflanzen an- 1988 mitteilte, hieß unser Lehrer Josef Pammer; fertigte, mit Beobachtungsaufgaben er war mit Mutter Pammer nicht verwandt und wurde von uns wie seinerzeit üblich respektvoll durch Ställe, Scheunen und andere nur mit „Herr Lehrer“ tituliert. Dass dies eine Wirtschaftsräume lief und dort oder bei enge Lehrer-Schüler-Bindung keineswegs aus- Tisch die Erwachsenen befragte. Ther- schloss, zeigte sich unter anderem auch daran, mometer und Barometer, aber auch die dass mich Josef Pammer dann 1988 als pensio- nierter Volksschuldirektor, Konsulent der oö. Stubenuhr mit ihren schweren Gewich- Landesregierung und Freistädter Senioren- ten benutzte ich, um viele Klimafeststel- bundobmann in einem sehr netten persönli- lungen, die auf bestimmte Tageszeiten chen Schreiben als „Frau Kollegin“ ansprach.

186 cher kennengelernt hatte. In meiner neuen Klasse hingegen wurde weder „Naturkunde“ noch „Erdkunde“ gelehrt, schon gar nicht im Stil des erarbeitenden Unterrichts, sondern eine Art „Heimat- kunde“. Bitter vermisste ich das freie Le- ben, das ich in meiner kleinen Dorf- schule geführt hatte. Bereits der Weg dorthin war die reinste Freude gewesen. Wenn ich den Berg vom Andregut hinunterlief, stan- den der Peppi und seine Schwester Luisi oft schon wartend mit ihren Schulta- schen vor dem Tor, um mit mir durch das lang gezogene kleine Straßendorf Thierberg zu gehen. Von anderen Gehöf- ten kamen die übrigen Schulkameraden, so dass wir schließlich als lärmende kleine Horde der Anhöhe zustrebten, von der aus wir nach Schenkenfelden hinuntersehen konnten. Damals schloss sich dahinter ein tiefer Hohlweg mit ei- nem „Marterl“ an. Nie vergaßen wir un- ser „Gelobt sei Jesus Christus“, wobei wir Mädchen knicksten und die Buben ei- nen Diener machten. Meist hatten wir auch für irgendeinen Schabernack „auf Im strahlend weißen Kleid, mit Kränzchen und bun- die Schnelle“ Abbitte zu leisten. Unter- ter Kerze: Bild von meiner Kommunionfeier am wegs war uns nicht selten ein schimpfen- 18. Mai 1947. der Bauer mit drohend geschwungener Heugabel hinterher gelaufen, weil wir ter der Aufmerksamkeit der „Flodl-Bäue- entweder seine Heuhaufen zerstört oder rin“ zu verdanken, die rasch und ener- die zur Wiesenbewässerung aufgestau- gisch Hilfe für die deutsche Flüchtlings- ten Bäche von ihren kleinen Dämmen frau organisierte. „befreit“ hatten . . . Ein Mindestmaß an Respekt und An den obgenannten Hohlweg Achtung den Erwachsenen gegenüber knüpft sich aber auch die Erinnerung an war uns durch Schule und Familie aner- eine Beinahe-Tragödie: Hier wäre meine zogen, und auch der Herr Pfarrer, der Mutter einmal fast umgekommen, als sie den Religionsunterricht erteilte, trug auf dem Weg nach Schenkenfelden in ei- dazu nicht unwesentlich bei. Obwohl im nen der für das Mühlviertel typischen Grunde ein humorvoller Mensch, be- heftigen Schneestürme geriet, vom hielt er uns stets im Blick. Nichts entging Wege abkam und in den Schneemassen „Hochwürden“, so dass er während des versank. Ihre Rettung hatte meine Mut- Beichtunterrichts mit gar vielen Beispie-

187 len aufwarten konnte, in denen wir uns und die Welt war für mich völlig in Ord- grinsend wieder erkannten . . . Am nung. Auch viele andere Feierlichkeiten 18. Mai 1947 war meine Kommunion- waren religiös motiviert und besaßen zu- feier. Ich konnte all die schönen geliehe- gleich oder dennoch eine heitere Seite; nen Dinge tragen, die zu diesem Fest ge- fromme Strenge und Verbissenheit, der hörten, das weiße Kleid, das zarte Kränz- ich dann in Wuppertal begegnen sollte, chen von Frieda und die bunte Kerze erlebte ich im Mühlviertel, trotz man- von Edi. Als wir Kommunionkinder am cher uns fremder Rituale, nicht. Weißen Sonntag unter den Blicken von Am Palmsonntag trugen wir Kinder Gemeinde und Eltern langsam zum Al- „Palmkatzlstaudn“ in die Kirche. An tarraum der Kirche in Schenkenfelden zirka 50 cm langen dünnen Ästen hatten schritten,fühlteichmichreinwieeinEn- wir am Tag zuvor Weidenkätzchen und gel. Am Nachmittag gab es ein gemein- grüne Lärchenzweige befestigt. Diese sames Kaffeetrinken, zu dem Mutter Gebinde sahen wie kleine Besen aus und Pammer neben anderem noch eine wurden von unserem Pfarrer gesegnet. große Kanne Rahm beigesteuert hatte. Anschließend gingen wir auf die Felder, Der Pfarrer strahlte, wir Kinder auch, steckten die „Palmkatzln“ in den Boden

Festlich-frohe Ausfahrt vom Andregut. Rechts auf dem Kutschbock, die Bierflasche schwingend, der „Herr des Pferdestalls“, Knecht Michi, der mich in viele Belange des bäuerlichen Arbeitsalltags geduldig eingewiesen hatte. Das Bild entstand gegen Ende der 40er-Jahre.

188 und waren davon überzeugt, dass der nen die Versteckmöglichkeiten in Scheu- Segen auf diese Weise verbreitet wurde, nen, Ställen, Wäldern und Höhlen zu die Feldfrüchte gegen alle Naturkatastro- sein. Eingehüllt in alte Pferdedecken roll- phen geschützt waren. Ich bekam viele ten wir uns die Bergwiesen hinunter; die gefärbte Ostereier, von Mutter Pammer Felsen des Hirtsteins eigneten sich für ohnehin, aber auch von den Nachbarn, riskante Kletterübungen; in den Scheu- denen ich den nötigen Ackersegen nen sprangen wir von Mauerabsätzen ebenso gebracht hatte. und Dachsparren ins Stroh. Vieles ent- Das Schlagen des Osterfeuers in der wickelte sich vom harmlosen Spiel zu dunklen Kirche, die dann unter dem lau- Wettkampf oder Mutprobe und wurde ten Halleluja des Kirchenchors jäh feier- mit kleineren oder größeren Verletzun- lich erstrahlte, die fröhlichen Erntedank- gen bezahlt. Mit ausgesprochener feste mit den aufgeputzten Leiterwagen, „Angstlust“ hockten wir an langen Win- die Gaben, die wir Kinder zum Altar tru- terabenden in den dunklen Scheunen, gen, den „schiachen Krampus“, der den erzählten uns erfundene Gespensterge- Nikolaus begleitete, die nächtlichen schichten, fürchteten den Heimweg und Schlittenfahrten (von Thierberg nach wiederholten auf ihm all das Schaurige zur Christmette, wofür Mi- immer wieder. Außer dem Spielen liebte chi die Hengste über und über mit ich das Basteln. Wurde ein Dorffest vor- Glöckchen geschmückt hatte), die Turm- bereitet, flochten Frauen und Mädchen bläser (die bereits im Wald hinter Precht- aus Tannenzweigen nahezu unendlich leinschlag zu hören waren), die Sternsin- lange Girlanden für Kutschen, Hausein- ger – alles das lernte ich erst im Mühl- gänge, Pferdefuhrwerke und Holzpfos- viertel kennen. Auch hatte ich den Ein- ten. Wir benötigten Unmengen von bun- druck, dass sich hier sogar die normalen tem Krepp-Papier, das mit Geschick zu Sonntage in besonders festlicher Weise Blumen verarbeitet wurde. von den Werktagen abhoben. Nach dem Kirchgang und der „Beischlsuppe“ im Ein auch für mich großes Fest schien Gasthaus neben der Kirche von Schen- es zu werden, als Nandl, die älteste Toch- kenfelden oder Reichenthal gab es ein ter von Mutter Pammer, am 22. Mai sonntägliches Mittagessen auf dem An- 19477 heiratete. Für mich war vorgese- dregut, nachmittags und abends Tanz hen, im Brautwagen mitzufahren. Aller- auf irgendeiner Tenne, und immer dings fand ich es nach dem Rosenbas- machte „der Dauner“ mit seinem Akkor- teln richtig, zwischendurch noch mit den deon Musik. Ich sehe mich noch heute anderen Dorfkindern einige Mutproben heimlich und sehnsüchtig auf die vielen zu veranstalten. Ich sprang vom höch- Tanzenden starren. Eigentlich sollten wir sten Punkt des Scheunendaches in eine Kinder abends im Bett liegen, aber im Heugabel und lag am Hochzeitstag mit Verstecken und Anschleichen waren wir einer Knieverletzung weinend im Bett, immer besser als alle Erwachsenen ge- während unten in der Stube und drau- wesen... Auch sonst übertrafen die Spielgele- genheiten in Thierberg jene in der Stadt 7 Johann Pammer, Hofchronik (wie Anm. 1), bei weitem. Nahezu unbegrenzt schie- S. 188.

189 Anna Barth, Mutter Pammers älteste Tochter, zeigt 1988 vom Andregut hinab auf die Dorfstraße, den Schulweg der Kinder von Thierberg, der eineinhalb Jahre auch der meine gewesen war.

ßen auf dem Hof die geliebte Akkorde- Wunder zu hoffen. Es geschah! Als ich onmusik erklang. am nächsten Morgen ahnungslos in die Stube kam, gratulierte Mutter Pammer Mein siebenter Geburtstag am liebevoll und schenkte mir eine hellblaue 1. Juni 1945 war gleichzeitig mein erster Glasperlenkette. Und einer meiner Geburtstag nach unserer Flucht gewe- Schulkameraden überreichte mir ein sen. Am Vorabend hatte mich meine duftendes, kleines Sträußchen Walderd- Mutter hinter die Scheune geführt, um beeren, die er bereits in aller Herrgotts- mir unter vier Augen niedergeschlagen frühe am Hirtstein gepflückt hatte . . . mitzuteilen, dass ich morgen kein Ge- schenk erhalten würde. Ich wusste, wie Meine „abweichende“ Nationalität arm wir waren, dass Mutter schon lange hatte mich, das einzige Hochdeutsch weder Geld noch etwas zum Tauschen sprechende Schulkind, ebenso wenig be- besaß, erinnerte mich, wie oft ich wäh- helligt wie praktisch die gesamte Umge- rend der Flucht auf der Straße um Essen bung. Für mein Gefühl klappte die Ver- gefleht hatte. Tapfer versicherte ich, dass ständigung mit den anderen Kindern ich ganz gewiss nicht enttäuscht sein gut genug. Unbekümmert schmetterte würde. Dies hinderte mich aber nicht, ich das „Oh, du mein Österreich!“ unter vor dem Einschlafen doch noch auf ein der rot-weiß-roten Fahne bei einem

190 Schulfest auf der Wiese zwischen Schule den Panzer gesetzt. Jetzt holten sich auch und Kirche mit.8 die anderen Kinder ihre Riegel ab. Zu Hause erfuhr ich, dass wir amerikani- schen Soldaten begegnet waren, und 4. Besatzung wurde wegen meines „Leichtsinns“ aus- geschimpft. Dennoch mochte ich die Dringend und permanent wurden Amerikaner.9 wir Kinder vor Gefahren auf dem Schul- weg gewarnt. Gemeint war jedoch kei- Andere Erinnerungen aus der Besat- neswegs der – ohnehin nicht vorhan- zungszeit sind eher schlaglichtartig. dene – Straßenverkehr, sondern die Prä- Zum Beispiel sehe ich uns alle eines senz der Besatzungssoldaten. Sollten wir abends in der dämmerigen Stube sitzen welche sehen, hatten wir sofort einen und bange auf etwas warten. Wir hören großen Bogen zu machen und unser Ziel in der Ferne unbekannte Geräusche, ge- auf Umwegen zu erreichen. hen hinaus auf die hinter dem Wohn- Eines Tages im Sommer 1945 er- haus leicht ansteigende Wiese. Von hier spähten wir auf dem Heimweg jenseits aus können wir über das Tal hinweg die der Anhöhe zwischen Schenkenfelden Straße nach Leonfelden erkennen. Auf und Thierberg in der Mitte der allmäh- ihr bewegt sich in der Dunkelheit eine lich abfallenden Hochebene außerhalb schier endlose Kette von Lichtern, be- des Dorfes tatsächlich einen Panzer. gleitet von Kettenrasseln und Motoren- Also schlugen wir uns seitwärts in den geräusch, in Richtung Königschlag. Je- Wald Richtung Kalvarienberg und Hirt- mand sagt, dass sie nun da seien. „Sie“, stein. Wie es kam, dass wir unsere Pläne das waren die Russen. Ich spürte eine 10 änderten, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls dumpfe Angst in mir aufsteigen. brachen wir den Umweg ab, traten an Vage zusammenhängende Erinne- den Waldrand und sahen zwischen uns rungsfetzen betreffen die russischen Sol- und dem nun ziemlich nahen Panzer ein daten, wie sie von der Kamplmühle oder Getreidefeld. Gut versteckt, wie wir aus dem Wald zwischen Prechtleinschlag glaubten, krochen wir durch das hoch und Thierberg kamen. In meinem Ge- stehende Korn auf das stählerne Unge- dächtnis erscheinen sie stets als dunkle tüm zu. Zwei Soldaten, die Helme lässig in den Nacken geschoben, lachten und winkten uns mit etwas zu. „Neger!“ – 8 Diese Schulfeier muss 1945 stattgefunden ha- dachte ich entsetzt und wunderte mich, ben. dass so schwarze Menschen so schöne 9 Seit dem 5. Mai 1945 zogen amerikanische Pan- weiße Zähne haben konnten. Dann sah zereinheiten durch Hirschbach. Am 10. Mai wurden hier „ungefähr 60 Amerikaner“ einquar- ich, dass die Soldaten Schokoladeriegel tiert. Vgl. Johann Pammer, Hofchronik (wie in den ausgestreckten Händen hielten. Anm. 1), S. 220 f. Der Kampf zwischen der Angst vor den 10 Ende Juli 1945 hatten sich die Amerikaner aus fremden Männern und dem unbändigen der Gemeinde Hirschbach zurückgezogen. Am 1. August wurde die bei Freistadt verlaufende Verlangen nach der lange entbehrten Sü- Demarkationslinie aufgelöst, so dass nun auch ßigkeit währte nur kurz. Ich sprang auf, das nördliche Mühlviertel von den Russen be- erhielt die Schokolade und wurde auf setzt war. Ebd., S. 234.

191 Gestalten zwischen den Bäumen unter- drehung, kam an den Tisch und setzte halb des Hofes oder auf der Wiese hinter sich neben mich auf die Bank. Entsetzt der Scheune. Immer wurden dann hastig ließ ich mich von ihm auf den Schoß zie- dicke Balken vor die Tore gelegt und die hen. In gebrochenem Deutsch fragte er Türen verriegelt. Die lauten Gewehrkol- Verschiedenes, das ich auch artig beant- benschläge hörten wir kurz darauf bis in wortete. Schließlich wollte er wissen, wo die Stube hinein. Unvergessen ist mir, mein Vater sei. „In russischer Gefangen- wie Hans mit erhobenen Armen neben schaft“, sagte ich – und hätte diese Worte dem Eingangstor an der weißen Wand am liebsten gleich wieder verschluckt. des Wohnhauses steht. Er trägt eine ei- Ich fürchtete, den Mann herausgefordert genartige weiße Armbinde. Russische zu haben. Er jedoch schaute mich Soldaten beschimpfen ihn laut und zei- freundlich an, griff in seine Hosentasche gen immer wieder auf die Sirene. Der und schenkte mir einen Apfel. Nun Jungbauer pflegte damit die Bewohner stellte ihm Mutter Pammer einen Holz- unten in Thierberg jedes Mal zu warnen, teller mit Brot und Butter hin. Er aß sehr wenn Russen in der Nähe des hoch gele- hastig, mit offensichtlichem Heißhunger, genen Hofes auftauchten.11 Hans wurde was mich wunderte, da er doch zu den Gott sei Dank nicht erschossen, die Sol- Siegern gehörte, wie mir bekannt daten rückten wieder ab . . . war...12

Eines Vormittags saß ich am großen Tisch in der Stube. Ein russischer Soldat 5. Meine Familie kam herein und verlangte etwas zu es- sen. Mutter Pammer, die sich am Kachel- Unsere umfangreiche schlesische Fa- ofen zu schaffen machte, gab ihm ein milie war über alle vier Besatzungszonen Stück Brot. Das reichte dem Mann nicht, verstreut, und die Verwandten, die sich und er bedeutete der Bäuerin, dass er mit uns bis ins Flüchtlingslager Freistadt mehr wolle. Sie lehnte ab, darauf steu- durchgeschlagen hatten, fanden bereits erte er die Tür neben dem Herd an, die 1945 den Weg zurück nach Deutschland. zu der „schwarzen Kuchl“ mit den Mutter, Marlies und ich, die wir bis zum Speckseiten im Rauchfang führte. Mut- Spätherbst 1947 geblieben sind, beka- ter Pammer stellte sich resolut davor. men Hunger und Not erst ab da wieder Der Soldat war viel größer und kräftiger zu spüren. Der Vater war mir immer als sie, wollte sie zur Seite drängen und hatte die Bäuerin wohl auch schon be- rührt. Sie indes hob sich auf die Zehen- 11 Über den Ort Hirschbach erwähnt die Hofchro- spitzen und schlug den Mann mit dem nik, dass sich die Bewohner beim Einmarsch der Russen versteckten und sich „jeder scheute“, kleinen Milchtopf, den sie zufällig in der mit Letzteren „in Berührung zu kommen“, da Hand hielt, so wuchtig auf den Kopf, die neuen Besatzer „verschiedenes Gesindel“ dass sich die Milch über Gesicht und mitbrachten, überall „Bauernhäuser ausgeraubt, Uniform ergoss. Ich war furchtbar er- Frauen vergewaltigt, Männer geschlagen wur- den und der Bürgermeister an den Folgen von schrocken und rechnete mit dem Verletzungen starb“. Ebd., S. 235. Schlimmsten. Der Soldat aber schüttelte 12 Dieser Vorfall muss sich 1946 zugetragen ha- sich nur, trat zurück, machte eine Viertel- ben.

192 noch fremd – und vor allem abwesend, auf langen Brettern unter der Stuben- jetzt wegen seiner Kriegsgefangenschaft; decke reifte. Zu all dem aßen wir das in dass er noch lebte, hatten wir erst 1946 Hälften auf dem Tisch liegende Brot, wo- erfahren. von sich jeder mit dem Messer der Wie Mutter Pammers älteste Tochter Länge nach halbe Scheiben schnitt. bei jedem meiner späteren Besuche be- Wurde der Brotlaib angeschnitten, deu- tonte, war meine Mama eine „brave, flei- teten Mutter Pammer oder meine Mut- ßige“ Frau gewesen. Ich selbst erinnere ter mit dem Brotmesser immer ein Kreuz mich gut, dass sie angeordnete Arbeiten an. Dies und die von uns allen stehend innerhalb und außerhalb des Hauses wi- gesprochenen Tischgebete habe ich nie derspruchslos verrichtete, obwohl diese als leere Zeremonie empfunden, da ich mit ihren aus Schlesien gewohnten Tä- auf der Flucht zu ausgiebig gehungert tigkeiten meist nichts zu tun hatten. hatte . . . Mutter unterschied sich darin erheblich Mutter Pammer, ihre erwachsenen von manchen anderen deutschen Flücht- Kinder und der Michi zählten für mich lingsfrauen . . . ganz natürlich „zur eigenen Familie“. Gegessen wurde gemeinsam am gro- Überhaupt vereinnahmte ich sämtliche ßen viereckigen Tisch vor dem Herr- Thierberger als eine Art Verwandtschaft gottswinkel – auf dem Speiseplan stan- und sprach, im Gegensatz zu meiner den Buchteln, Strudel, Sterz, eine Reihe Mutter, rasch auch deren Dialekt. Auf von Knödelarten oder „G’sölchts“, zu den Höfen meiner Schulkameraden ging dem mittags verschiedene Beilagen ka- ich wie selbstverständlich ein und aus. men. Im Nu liebte ich alle Mehlspeisen, Kein Haus im Dorf war abgeschlossen, insbesondere die Krapfen. Diverses man kam ohne Hindernis in jede Stube. kannte ich aus Schlesien, so die selbst Wenn jedoch jemand rief „D’ Zgeiner hergestellten Nudeln. Anderes, wie die kemman!“, wurde schnell die Wäsche Kombinationen von Süßem und Salzi- von der Bleiche geholt, jedes Tor mit Bal- gem, etwa die mit Zwetschken gefüllten ken verrammelt und auf unserem Hof Erdäpfelknödel, die auch noch in der nach meiner Schwester gesucht. „Zigeu- Fettpfanne gebraten wurden, war für ner“ standen in dem Ruf, kleine Kinder mich sehr gewöhnungsbedürftig. Mit zu stehlen . . . Skepsis erfüllte mich anfangs u. a. die Tatsache, dass die vor dem Haus wach- senden Brennesseln nicht nur Unkraut, 6. Abschied sondern auch als Nahrungsmittel ge- schätzt waren. Ungewohnt war für mich Irgendwann im Jahre 1947 erfuhr ebenfalls, dass es zum Frühstück kein Mutter durch die übliche 30-Worte-Post- Brot mit Marmelade gab, sondern eine karte von meinem Vater, dass er Aus- Milchsuppe, mal süß, mal mit Kümmel. sicht auf Entlassung aus der Kriegsge- Zur „Jausn“ am Abend gehörte ein Stück fangenschaft hatte. Er wollte nicht nach Räucherspeck, das wir uns auf einem Österreich, und schon gar nicht in die Holzteller zurechtschnitten, außerdem russische Zone, sondern nach Wuppertal Käse, der aus Topfen hergestellt und mit in der Nähe von Köln, also ins britische Kümmel gewürzt worden war, bevor er Besatzungsgebiet, wo eine Tante von

193 ihm lebte. Jetzt strebte meine Mutter nach Ausreise, so sehr sie sich zuvor für die Verlängerung unserer Aufenthaltsge- nehmigung eingesetzt hatte.13 Ich erin- nere mich, dass nun öfter fremde Flücht- lingsfrauen auf das Andregut kamen und einmal sogar eine komische Wahr- sagerin mitbrachten, die Karten legte. Ich begriff überhaupt nichts, wurde oft aus der Stube geschickt, merkte jedoch, dass die Familie Pammer inständig versuchte, meine Mutter von etwas abzubringen. Eines Tages aber saß ich mit ihr, Marlies und anderen Deutschen auf einem Lei- terwagen, den Hans kutschierte. Als wir nach Einbruch der Dunkelheit in einem Wald oberhalb einer Schlucht hielten, in die ein steiler Weg hinabführte, den die ersten Frauen und Kinder bereits hinun- ter stiegen, sprach Hans erneut ernst auf meine Mutter ein. Plötzlich trat der Ein Passfoto zum Andenken. Mutter Pammer über- Mond hinter den Wolken hervor und sandte es meiner Mama vermutlich 1948 – nach un- tauchte den Wald in ein sehr helles Licht. serer Ankunft in Wuppertal. Mutter, Marlies und ich, die wir als Letzte oberhalb des Einstiegs standen, 13 Letzteres belegt auch ihr Antrag vom 6. Februar kletterten wieder auf den Wagen, und 1946 an die Bezirkshauptmannschaft Freistadt, wir fuhren zurück. Ich erinnere mich der offensichtlich positiv beschieden wurde. 14 Im Sommer 1988 bin ich an den Ort unseres deutlich an meine Erleichterung. Als ich ersten versuchten Grenzübertritts (bei Koller- endlich von außen durch eines der klei- schlag), erneut in Begleitung von Hans Pammer, nen Fenster in die gemütliche Stube des zurückgekehrt. Mit seiner Hilfe stellte ich fest, Andreguts blickte, wo die Familie Pam- wie genau ich mich an die Schlucht erinnerte, mer um den Esstisch saß, wurde mir aber auch an Gesprächsfetzen, die ich mitge- hört hatte. Die kleine, nach Kriegsende ca. 1.100 richtig klar, was geschehen war: Wir hat- Einwohner zählende Gemeinde Hirschbach war ten den gefahrvollen Versuch eines ver- damals mit Flüchtlingen (etwa 1.200!) überfüllt botenen Grenzübergangs nach Bayern gewesen und hatte deren Ausreise deshalb in letzter Sekunde abgebrochen . . .14 prinzipiell nach Kräften unterstützt. Dabei be- half man sich wegen des Fehlens legaler Mög- lichkeiten und der Ortsunkenntnis der deut- Nur verschwommene Erinnerungen schen Frauen oft mit „Umwegen“. Um uns drei habe ich an die Zeit zwischen diesem machte sich Hans Pammer, der solche in aller Abenteuer und unserer endgültigen ille- Heimlichkeit abgewickelten Aktionen mitorga- galen Ausreise. Wieder tauchten fremde nisierte und mit durchführte, jedoch Sorgen, da wir auf seinem Hof gelebt hatten. Zur Überlas- Frauen auf; es ging um Geld und um ei- tung der Gemeinde Hirschbach mit Flüchtlin- nen Eisenbahnzug. Jedenfalls sehe ich gen vgl. Johann Pammer, Hofchronik (wie mich an einem sehr dunklen Tag im No- Anm. 1), S. 220.

194 vember 1947 erneut zwischen Gepäck unter, bis wir nach einem neuerlichen il- auf einem Leiterwagen sitzen, den die legalen Grenzübertritt die sowjetische beiden Hengste zogen. Ich weiß nicht, Zone hinter uns ließen und am Morgen wer diesmal lenkte. Merkwürdigerweise des 1. April 1948 im zerbombten, bri- habe ich auch hier keine einzige tisch kontrollierten Wuppertal unser Ziel Erinnerung an eine Verabschiedung – erreichten, nach zweimaligen Diebstäh- nicht im Dorf, und nicht einmal von der len völlig mittellos, ausgeplündert bis Familie Pammer. Wir fuhren auf der auf das, was wir am Leibe trugen. Damit Höhe des Andregutes am Garten vorbei war meine Kindheit beendet, nicht nur und schließlich über den von abgeernte- deren „goldene Periode“ . . . ten Apfelbäumen gesäumten Feldweg in Richtung Freistadt. In Urfahr bestiegen wir einen Güterzug – vor uns auf der 7. Direkte und indirekte Auswirkungen nördlichen Seite der Donaubrücke russi- sche Soldaten. An alles Weitere entsinne Ungefähr die Hälfte meiner Kindheit ich mich lediglich bruchstückhaft: Ir- war auf jene Jahre entfallen, da die NS- gendwo überquert unser Zug, „schwarz“, Diktatur zusammenbrach und sich auf wie gesagt wird, die Grenze nach Bay- den Trümmern des „Großdeutschen Rei- ern, somit zwischen dem sowjetisch be- ches“ neue Staaten konstituierten. Un- setzten Teil Österreichs und der ameri- sere im Jänner 1945 beginnende Flucht kanischen Zone Deutschlands; ich lese aus Oberschlesien hatte durch Böhmen, „Nürnberg“, „Würzburg“, „Hof“ auf gro- die heutige Republik Tschechien und die ßen Schildern von Bahnhöfen, die wir wieder entstehende Republik Österreich mit erhöhter Geschwindigkeit durchfah- über die sowjetische bis in die britische ren; gehalten wird immer auf offener Zone Deutschlands geführt. Die Bruchli- Strecke, oft stundenlang, meist nachts; nien einer zerfallenden Ordnung, an de- ich höre die flüsternden Gespräche der nen sich zugleich die Spaltung Europas Flüchtlingsfrauen, die von „Königsberg“ zu vollziehen begann, hatten wir mehr- und den „Sowjetrussen“ sprechen; mals überschritten. Wiederholt hatten schließlich spüre ich (noch heute) kör- meine Familie und ich dabei schockie- perlich, wie weh es tut, aus einem fahren- rende Konfrontationen mit Gewalt er- den Zug zu springen und vom eigenen lebt, und ein besonderes, sensibles Ge- Rucksack in den Schotter neben den spür für Gewalt oder Bedrohung ist mir Bahngleisen gedrückt zu werden; ich davon für den Rest meines Daseins ge- fühle nochmals die riesige Erleichterung blieben. in dem Moment, als ich meine Mutter Dass das für mich damals Unbe- mit meiner Schwester im Arm hinter mir greifliche und unweigerlich auch mit der bemerke; ich spüre die lähmende Mü- Frage nach Schuld oder Ursache Ver- digkeit beim stolpernden Marsch über knüpfte auf „Politik“ zurückging, das Bahnschwellen – hohe Geleise und viel habe ich erst nach meinem zehnten Le- zu große Steine, zwischen denen die bensjahr verstanden, wenn mein Vater Füße immer wieder stecken bleiben. Als mit seinen Bekannten oder Brüdern er- es Abend wird, lese ich „Magdeburg“. regte Gespräche führte, in denen dieser Wir kamen bei Verwandten in Köthen Begriff fiel . . . Im Umgang mit „Vergan-

195 genheit“ ist sogar der sorgfältigste, wis- grationsanstrengungen erbringen, etwa senschaftlich geschulte Zeitzeuge nicht die Anpassung an drei neue Schulen in- gefeit gegen emotionale Irritation, Fehl- nerhalb von lediglich zwei Jahren. In Kö- einschätzung, Verdrängung und Vorur- then und monatelang auch „im Westen“ teil. Johannes Fried, der 2004 die Grund- war unser Aufenthalt illegal gewesen; züge einer geschichtswissenschaftlichen nur mein Vater besaß als ehemaliger Gedächtniskritik vorlegte, fordert darin Kriegsgefangener einen Entlassungs- eine intensivierte interdisziplinäre For- schein für Wuppertal. Bei vielen Behör- schung, eine „neurokulturelle Ge- dengängen, zu denen er mich meist mit- schichtswissenschaft“, denn die Verfor- nahm, hörte ich, wie von ihm verlangt mungsmacht des individuellen wie des wurde, seine Familie nach Köthen zu- kollektiven Gedächtnisses führe fast rückzuschicken, wie uns eine sofortige zwangsläufig zu einer doppelten Selekti- Abschiebung in die sowjetisch besetzte on,15 das heißt zur unbewussten Verände- Zone angedroht, Zuzugsgenehmigung, rung von Erinnerungsinhalten. Lebensmittelmarken und der Berechti- Es steht außer Zweifel, dass ich an gungsschein zum Beziehen einer Woh- der „goldenen Mühlviertler Phase“ zu- nung verweigert wurden. Seinerzeit nächst mit kompromisslos emotionaler, nahm ich nur wahr, dass wir uner- kindlicher Einseitigkeit festgehalten wünscht waren – und konnte erst nach habe. So konnte ich meiner ersten Wup- Jahrzehnten die sozioökonomische pertaler Lehrerin erst Jahre später ge- Zwangslage verstehen, in der sich die recht werden,16 nachdem ich gelernt zerbombten, mit Flüchtlingsströmen hatte, in unterschiedlichen Zugehörig- konfrontierten Städte Westdeutschlands keiten zu leben, Distanz zum eigenen befanden. Als Kind hatte ich nur meine Selbst zu entwickeln und dank schu- eigene Ausgrenzung gesehen und allen lischer Bildung differenzierter zu ur- Wuppertalern die schlimmsten Absich- teilen. ten unterstellt . . . In die Familie Pammer, in die kleine Erinnerungen, oft durch erlebnis- Thierberger Dorfgemeinschaft fühlte ich oder erwartungsbedingte Interpretation mich nach unserer Entwurzelung durch verformt, wirken prägend, ob sie nun die überstürzte Flucht 1945 relativ objektiv „wahr“, „gültig“ sind oder nicht. schnell auch deshalb integriert, weil Sie tauchen aus den Tiefenschichten des diese neue Welt überschaubar war und Bewusstseins auf, fügen sich in Motiv- mir einen sozial festen Platz bot. Der bündel ein, wenn im Lebensvollzug adä- zweite Bruch in meinem Leben erfolgte 1947 durch eine diesmal zwar vorberei- tete, von mir aber lange Zeit nicht akzep- 15 Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung – tierte Ausreise. Sie führte uns aus einer Grundzüge einer historischen Memorik, Mün- familienähnlichen, traditionellen agrari- chen 2004, S. 358–393. schen Sphäre in Verhältnisse, die für 16 Diese Lehrerin war etwa 40 Jahre älter als ihr mich unübersichtlich, urban und unge- Mühlviertler Berufskollege Josef Pammer und hatte nicht wie jener 45, sondern 60 Kinder zu ordnet waren. Unter den Bedingungen unterrichten. Sie unterstützte meine Eltern mit höchster existenzieller Unsicherheit Lebensmitteln und tat vieles, um mich zu för- musste ich immer wieder neu große Inte- dern.

196 quate Herausforderungen auftreten und Vater hoffte, bei dieser Gelegenheit Be- dazu zwingen, Position zu beziehen. kannte und Freunde wiederzufinden, Auch eine noch so getreuliche Rück- minderte meine Ablehnung nicht im Ge- schau kann den subjektiven Faktor nicht ringsten. Unter anderem gab es da in ausschalten, ihn allenfalls verkleinern. den Reden der Vertriebenenfunktionäre Dies wird mir besonders jetzt im Blick einen Ton, den ich erst während meines auf manche meiner Wertungen und Ent- Geschichtsstudiums kritisch einordnen scheidungen deutlich, die politisch aus- konnte. Die durchgängig benützte For- kristallisierten, letztlich aber im Vorpoli- mulierung „der Russe“ war mir als erstes tischen wurzeln dürften. Ich wähle unter aufgefallen und aufgestoßen; vielleicht mehreren kurz drei signifikante Bei- lag es daran, dass ich Russen erlebt spiele aus. hatte, die ich sehr fürchtete, aber auch solche, die sich mir gegenüber durchaus 1. Als wir am Morgen des 18. Jänner freundlich verhielten . . . Dann waren da 1945 im Begriff gewesen waren, unsere die von den Ältesten benützten Formu- oberschlesische Wohnung zu verlassen, lierungen „der Wuppertaler“ oder auch riss meine Mutter das Hitlerbild im „der Niedersachse“, pauschal als negati- Schlafzimmer von der Wand, warf es auf ves, ausgrenzendes Gegenbild zu uns den Boden, trat mit dem Stiefelabsatz Flüchtlingen verwendet . . . Meine Eltern darauf und ließ Glassplitter und Bild lie- waren schließlich klug genug, mich nicht gen. Dann gingen wir bei 20 Grad Kälte mehr zu den Jugendveranstaltungen der hinaus auf die vereiste Straße. Diesen Landsmannschaft zu schicken . . . Vorfall registrierte ich vor allem deswe- gen, weil meine stets auf Ordnung be- 3. Als sozial ein wenig „rebellische“ dachte Mutter etwas zerschlagen hatte Studentin fühlte ich mich zu der 1967 in und es auch noch liegen ließ; verstehen Westdeutschland einsetzenden Studen- konnte ich nichts, hatte auch keine Gele- tenbewegung und deren antiautoritären genheit für Fragen . . . In Form von Hun- Zielen zunächst sehr hingezogen – bis ger und Gewalt war mir schon früh das diese Bewegung im Sommer 1968 zu- Elend begegnet, das wir diesem „Hitler“ nehmend zu Gewalttätigkeiten überging verdankten, ehe ich genau erfuhr, um und deutsche Studenten in Frankfurt wen es sich hier eigentlich handelte, und buchstäblich zum Völkermord an den bevor der erste „Kriegsgegner“ persön- Juden aufriefen.17 Der Frankfurter Philo- lich in mein Leben getreten ist. In Kind- soph und Soziologe Theodor Adorno heit und Jugend fiel mir bei bestimmten konstatierte an dieser Bewegung, der er Anlässen immer die Zerstörung dieses große Sympathien entgegenbrachte, be- Bildes ein, die ich heute quasi als meine schwichtigend bis entschuldigend ein erste Unterrichtsstunde in politischer „Quäntchen Wahn . . . dem das Totalitäre Bildung betrachte. 2. Die von der schlesischen Lands- mannschaft auch in Wuppertal schon 17 Asher Ben-Natan, Brücken bauen – aber nicht Ende der 1940er-Jahre organisierten Tref- vergessen. Als erster Botschafter Israels in der fen, die ich anfangs mit meinen Eltern Bundesrepublik (1965–1969), Düsseldorf 2005, besuchte, mochte ich nicht. Dass mein S. 132.

197 teleologisch innewohnt“.18 Ich allerdings sah ein beträchtliches Quantum funda- mentalistischen Wahns bereits in diesen gewalttätigen Unruhen, vor allem aber in den folgenden Straßenkämpfen und im RAF-Terrorismus der 1970er-Jahre . . . Von meinen 36 „Lehrerjahren“ waren die letzten elf, in denen ich das Ordina- riat in einer Förderklasse ausübte, die er- füllendsten gewesen; die ersten Schüler stammten aus Südosteuropa, die späte- ren teils aus dem gesamten Mittelmeer- raum, aus Zentral- und Ostasien sowie aus Schwarzafrika. Manchmal befanden sich in dieser Lerngruppe Kinder und Ju- gendliche aus bis zu zehn verschiedenen Staaten bzw. Ethnien. Sie beherrschten wenig oder gar kein Deutsch, waren oft noch nicht einmal in ihrer Mutterspra- che alphabetisiert worden, hatten häufig keine schulische Sozialisation erfahren. Gemäß dem didaktischen Grundkon- „Die Zeit im Mühlviertel, das dort Erfahrene und zept ging es um Spracherwerb und He- von dort Mitgenommene ist zum unverlierbaren Teil ranführung an die Kultur Deutschlands meines Lebens geworden.“: Helga Passon (Foto unter größtmöglicher Achtung jeweili- 2006). ger Eigenarten – also nicht um „Zwangs- germanisierung“, sondern um Hilfestel- mit zunehmendem Wissen bildeten sich lung zu legitimer soziokultureller Ein- zwar differenziertere Wertungsmuster bürgerung. Als das gegebene Mittel aus, die aber immer in diese ursprüngli- (auch gegen den ungebremsten Vor- che „Gefühlserfahrung“ eingebettet blie- marsch eines diffusen „Multi-Kulti!“) er- ben. Wenn meine Mutter Zufriedenheit wies sich dabei exakt jene vernünftige über den verlorenen Krieg äußerte, da Balance zwischen Forderung und Förde- wir andernfalls „vor jedem Briefkasten rung, die ich dem Prinzip nach schon im hätten stramm stehen müssen“, hatte Mühlviertel kennen gelernt hatte . . . mich dies als Kind sehr belustigt, hinter- Ausgrenzung und Integration, Ge- her jedoch von ihrer Hellsichtigkeit walt und Humanität – aus diesen pola- überzeugt. Nie kam ich in der Frage nach ren Extremen speisten sich die prägen- der Ursache unseres nicht gerade leich- den Erfahrungen meiner Kinderjahre ten Schicksals zu einer grundsätzlich ab- 1945 bis 1947. Die historisch-politische Frage nach der Kardinalursache war für „Hitlerbild- mich unter Rückgriff auf das 18 Zitiert nach Gerd Koenen, Das Rote Jahrzehnt – Erlebnis“ im Jänner 1945 recht früh beant- Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967– wortet. Durch das Heranwachsen und 1977, Köln 2001, S. 35.

198 weichenden Einschätzung, und kein ein- mende Zweifel, Stürme, Spannungen ziges Mal musste ich in dieser Hinsicht und Bedrängnisse aushalten zu können. die eigene Haltung wirklich umstoßen. Ich hatte inmitten eines weitgehenden, Vielleicht sahen meine Wuppertaler Tan- vielschichtigen Zusammenbruchs das ten in mir deshalb, mitunter indigniert, Privileg, diese Festigkeit, die auch Halt ein „altkluges, naseweises“ Kind, das „lie- und Verlässlichkeit bedeutet, auf dem ber mit den politisierenden Männern“ Andregut fast zwei Jahre hindurch per- der umfangreichen Verwandtschaft re- sönlich zu erleben. Wenn ich heute die dete . . . Im Mühlviertel hatte mir nie je- Genesis nicht zuletzt meiner politischen mand derartige Vorwürfe gemacht, Einstellung zu erkunden suche, dann möglicherweise habe ich solche aber nur sind die Verbindungslinien zu jener Zeit nicht herausgehört; es kann auch sein, der Geborgenheit unauslöschlich gegen- dass die Wuppertaler Tanten sogar recht wärtig. Für die inneren Signale, Orientie- hatten. rungspunkte und Wegmarken, die mir Auf jeden Fall war mir in Thierberg aus Mutter Pammers Welt mitgegeben das Empfinden vermittelt worden, als In- wurden, weiß ich mich insofern zu im- dividuum angenommen, im Einklang merwährender Dankbarkeit verpflichtet mit mir und mit der Welt zu sein. Ein – als Mensch, deutsche Staatsbürgerin, Kind muss Stabilität erfahren, um kom- Lehrerin und Pädagogin!

199 „objektiv subjektiv“ DAS FORUM DER MEINUNGEN

Heimat – in vielen Gegenden Zur Analyse eines Begriffs

Von William Mason

Ich wohne in einem alten Haus im Da Deutsch für mich keine Mutter- tiefsten Mühlviertel, einer wunderschö- sprache ist, scheint das Problem mit der nen Gegend, auch wenn der Winter dort Übersetzung nicht unwesentlich zu sein. oft vier oder fünf Monate dauert. Die Ab und zu werde ich gebeten, Texte ins Nachbarfamilie hatte früher eine kleine Englische zu übersetzen, und jedes Mal Landwirtschaft, die sie vor einigen Jah- hoffe ich, mit Begriffen wie „Gemütlich- ren als unrentabel aufgeben musste. Jetzt keit“ nicht konfrontiert zu werden. Alle ist der Nachbar nur noch Autospengler. Möglichkeiten, die man ausprobiert, Vor einiger Zeit fragte ich ihn, wohin er sind irgendwie unzulänglich, und das im Sommer auf Urlaub fahren würde, gilt auch für das Wort „Heimat“. „Home“ und er antwortete: „Warum soll ich wo- ist offensichtlich zu normal, zu banal – anders hinfahren, wo es doch hier so es kann auch „zuhause“ bedeuten –, und herrlich ist?“ Ich wollte mich damals die Alternativen sind entweder zu nicht auf eine lange Diskussion einlassen plump – „roots“ zum Beispiel – oder zu und sagte einfach: „Ja, recht hast du.“ In altmodisch und pathetisch: „homeland“ der Tat verreist unser Nachbar kaum, oder „fatherland“ (sogar in Englisch und ich habe den Eindruck, dass er un- klingt dieses zu deutsch). glücklich ist, sobald er nicht im eigenen Bett schlafen kann. Ich kann diese Ein- Für Mitteleuropa, wo Völkervertrei- stellung zur Heimat durchaus respektie- bungen oder die gewaltsame Über- ren und bin manchmal sogar etwas nei- nahme des eigenen Landes früher keine disch, obwohl die Sache für mich natur- Seltenheit war, ist der Heimatbegriff viel- gemäß ein wenig anders aussieht. leicht von vornherein bedeutungsvoller Heimat ist etwas Besonderes. Die und mit größerem Pathos verbunden als meisten werden dem zustimmen, doch in Großbritannien, wo solche schreckli- sei zunächst der Begriff an sich einge- chen Ereignisse seit dem 11. Jahrhundert hender beleuchtet. Meint „Heimat“ bloß kaum mehr passiert sind. etwas Geografisches oder schwingen da auch andere Aspekte mit? Im Zusammenhang mit dem Pro- blem des Übersetzens möchte ich ein Zi- Ein Zitat vorweg: tat von Kurt Tucholsky bringen: „Heimat“ ist ein deutsches Wort, in kaum eine Fremdsprache übersetzbar, darin vergleich- „Heimat ist dort, wo man zur Erde Du bar der „Gemütlichkeit“. sagen kann.“

200 Die Sache mit dem Du Stelle, wohin amerikanische Präsidenten und Operntenöre die Hand zu legen Hier stellt sich eines der allerheikels- pflegen. ten Probleme: Was macht der Übersetzer Wo liegt also mein metaphorisches mit dem Du? Herz? Da es im Englischen den Unter- schied zwischen „Du“ und „Sie“ nicht Ichkannmicheigentlichnicht gibt, sind drüben viele gesellschaftliche entsinnen, je ein stark ausgeprägtes Situationen notwendigerweise ganz an- geografisches Heimatbewusstsein ge- ders, und alle Versuche, eine „Eins-zu- habt zu haben. Eine Ausnahme gab es eins-Korrespondenz“ zu finden (Vorna- höchstens im ländlichen Haus meiner men verwenden zum Beispiel), schlagen Großmutter, die wir einmal im Jahr be- fehl. Für Deutschsprachige ist dieses Du suchten. Die Kombination von Haus eine ganz entscheidende Sache, die man und Großmutter war unschlagbar, und als Ausländer nicht unterschätzen darf – ich besuche dieses Haus noch immer in auch unsereiner ist in dieser Hinsicht an- meinen Träumen. fangs mehrmals ordentlich ins Fettnäpf- Geboren wurde ich in London, es chen getreten. waraberkaumzuerwarten,dassich Das Duzen hat also durchaus mit mich als Junge mit der Stadt identifizie- dem gegenständlichen Thema zu tun. ren würde, nachdem ich dort nur zehn Denken wir an die Passage aus dem Tage – als Säugling – zubrachte. Aber zweiten Akt der „Fledermaus“, die mit auch mit Bristol – 200 Kilometer westlich „Brüderlein und Schwesterlein“ beginnt: von London –, wo ich meine ganze Bei einer Party schlägt Dr. Falke vor, Schulzeit verlebte, habe ich mich nicht dass die Mitglieder dieser mehr als an- wirklich identifiziert und mir zum Bei- geheiterten Gesellschaft, die sich tags- spiel den fürchterlichen Dialekt der über alle siezen, einander für diese eine Stadt nie aneignen können. Bedingt Nacht das Duwort geben sollen. Und durch fünf Umzüge in elf Jahren, habe daraus entsteht eine ursentimentale Ge- ich auch nie in einem bestimmten Stadt- mütlichkeit, die den Bezug zu unserem teil Wurzeln geschlagen. Thema klarmacht; denn bei diesem ge- Was mir heutzutage beim Besuch wagten sprachlichen Schritt geht es um Bristols noch Heimatgefühle erweckt, nichts anderes als um das Heimatgefühl. das sind ein paar bestimmte Straßen, die Aus meiner Erfahrung kann ich auf meist mit heimlichen Aktivitäten meiner jeden Fall sagen, dass Heimat nicht nur Jugendzeit verbunden sind – etwa die geografisch festzulegen ist. Insofern, als Kneipe, wo ich mich als 15-Jähriger zum jeder von uns ein Gefühl von Zugehörig- ersten Mal als 18-Jährigen ausgegeben keit, Vertrautheit und Geborgenheit habe, um zu einem illegitimen „Pint of braucht – wenn auch in unterschiedli- beer“ zu gelangen. Das Bier hat mir nicht chem Ausmaß –, ist Heimat sogar le- wirklich geschmeckt. Der Betrug aber, benswichtig. „Home is where the heart dessen Erfolg auf meine Körpergröße is“ sagt man bei uns. Gemeint ist natür- zurückzuführen war, hat mir große Ge- lich nicht die linke Seite der Brust, jene nugtuung bereitet.

201 Das Bestimmende an Urerlebnissen freien Zugang zu allen Colleges, und jede Strecke zu Fuß führte täglich durch In jenem Alter, sagen wir zwischen die prächtigen Höfe dieser erstaunlichen 15 und 20 Jahren, empfindet man alles Bauten aus dem Mittelalter und der Re- am intensivsten. Die Musik, die man naissance. Das tägliche Erleben dieser hört, die Romane, die man liest, sind von Gebäude erzeugte in mir ein Gefühl, als einmaligen Gefühlen durchdrungen, die würdedieganzeStadtmirpersönlich in dieser Intensität nicht wiederkehren. gehören, als wäre ich irgendwie in ihren Diese Erlebnisse, die einen das Leben historischen Kontext eingebettet. Ich lang begleiten, sind sicher auch eine hatte Cambridge in der Folge lange Zeit Form von Heimat. leider nur selten besucht; als ich neulich Ein Zitat, das für mich absolut zu- wieder in die Stadt kam, war ich scho- trifft: ckiert und traurig, dass die Colleges nun „Zur Heimat gehört die Erinnerung, die ins kaum noch für Touristen zugänglich unterbewusste Gedächtnis eingebrannte Mi- sind – außer zu gewissen Zeiten gegen schung aus Geschmack, Geruch, Geräuschen.“ Eintrittsgebühr. Rückblickend stelle ich fest, dass die Wenn ich heute nach meiner Her- „sinnlichen Qualitäten“ der anderen kunft gefragt werde, sage ich meistens: Orte, an denen ich in dieser (englischen) „aus London“, wo ich dann 21 Jahre nach Lebensphase wohnte, ihrerseits ein ganz meiner Geburt wieder angekommen bin. besonderes Heimatgefühl in mir erweck- In London blieb ich acht Jahre lang, zu- ten. Das gilt speziell für meine drei Jahre erst noch als Student. Da ich keine kon- in Cambridge, wo ich Musik studierte, kreten Berufsvorstellungen hatte, schien und ebenso für die fünf kurzen Monate es mir vernünftig, die Entscheidung zu davor, die ich in Dartington verbrachte, verschieben und erst einmal Gesang zu einem wunderschön gelegenen ländli- studieren. Fast gleichzeitig begann ich chen Kulturzentrum in der Grafschaft professionell zu singen und lernte dabei Devon. In diesen beiden Orten war es wenig später im Rundfunkchor meine mir damals, als ob ich nie anderswo ge- Frau kennen. Geht es um Heimatfor- lebt hätte. Die Menschen, die ich dort schung, ist sie eigentlich ein viel interes- kennenlernte, waren mir sehr wichtig, santeres „Studienobjekt“, und deshalb doch hatte dabei sicher ein starker ästhe- sei kurz in Richtung Süden abge- tischer Faktor mitgespielt; das lag teils schweift. an der Landschaft, die mich besonders in Dartington so bezaubert hat, aber Vor 40 Jahren hat Jean, meine Frau, auch – und vielleicht vor allem – an den ihre Heimat, Neuseeland, verlassen, um Gebäuden, an der Architektur. Meine in England Gesang zu studieren. Die äl- Liebe zu historischen Gebäuden wurde teren Bekannten und Verwandten hatten unter dem Eindruck der Baujuwelen von ihr damals gesagt: „Ah, du gehst nach Cambridge entschieden vertieft und Hause!“ „Going home“ besaß für einge- führte zu einer nicht immer vernünftigen wanderte Neuseeländer nur eine Bedeu- Schwäche für alte Häuser zum eigenen tung – nach Großbritannien zu reisen, Gebrauch. Damals in Cambridge hatte woher die meisten Familien ursprünglich jeder Student – und jeder Besucher – gekommen waren. Obwohl in vielen Fäl-

202 len kein einziges Familienmitglied (seit das hat dem Land sicher gutgetan. Es der Einwanderung der Vorfahren vor wäre heute nicht mehr möglich, das un- über 100 Jahren) je Europa besucht hatte, gewöhnliche Geschenk zu bekommen, wurde die Nabelschnur dorthin nie ab- mit dem Jeans Mutter die Tochter im getrennt, und jede Neuseeländerin, jeder Jahr 1970 überraschte: Es war damals Neuseeländer hatte automatisch „zwei nämlich noch immer spottbillig, ein gan- Heimaten“. Etliches daran erscheint zes Lamm einfach 20.000 Kilometer im heutzutage etwas absurd – zum Beispiel Paket zu schicken. die Unsitte, zu Weihnachten das traditio- nelle englische Essen mit Truthahn und Was ist also meine Heimat, und wie Plumpudding mitten am Meeresstrand wichtig ist sie für mich? Das sind Fragen, zu servieren, wo des schönen Wetters die sich jeder stellt, der emigriert ist, be- wegen für gewöhnlich gefeiert wurde. sonders, wenn er die Hälfte seines Le- Und auf den Weihnachtskarten fanden bens im Ausland verbracht hat. Und das sich neben europäischen Vögeln Schnee- trifft bei mir genau zu: Vor 29 Jahren männer und Schlittenfahrer abgebildet. und mit 29 Jahren verließ ich mit Frau und Kindern unsere Wohnung in Nord- Bei Jean war diese Ausrichtung be- london und zog nach Heidelberg um, sonders ausgeprägt, da sie in der Volks- wo ich einen zweijährigen Vertrag an der schule eine Engländerin zur Lieblings- Oper bekommen hatte. Meine Deutsch- lehrerin hatte, die ihr die ganze Welt der kenntnisse beschränkten sich auf ein englischen Literatur eröffnete. Als ich paar Liedertexte und das Libretto des Jean das erste Mal begegnete, war ich ersten Aktes von Wagners „Parsifal“, ein überrascht, bei ihr keinen neuseeländi- Werk, das ich zusammen mit einem schen Akzent zu erkennen. Später hat Freund mühevoll zu übersetzen versucht mir ihre Mutter verraten, dass Jean als hatte. Keine idealen Voraussetzungen für Kind immer einen englischen Akzent das Anmelden einer Familie beim Aus- hatte. Ich nehme an, das war auch auf länderamt – auswendig konnte ich, die Lehrerein zurückzuführen. Auf jeden glaube ich, nur einen Heine-Text aus der Fall – als Jean nach sechswöchiger „Dichterliebe“: „Ich will meine Seele tau- Schiffsreise erstmals in London gelandet chen in den Kelch der Lilie hinein.“ Ein war, hatte sie tatsächlich das Gefühl, tolles Gedicht, aber für den Kampf bei nach Hause zu kommen, und ist in Eu- und mit Behörden nicht sonderlich ge- ropa geblieben. eignet. Heutzutage ist die Situation für junge Neuseeländer und Neuseelände- rinnen sicher anders. Das Land hat in Sehnsucht als Grundelement den vergangenen 30 Jahren eine ganz an- dere Identität angenommen – mit engen Die ersten paar Wochen in einem Kontakten zu Asien und zur pazifischen fremden Land, besonders wenn man der Umgebung. Mit dem Beitritt Großbri- Sprache nicht mächtig ist, sind naturge- tanniens zur Europäischen Union wurde mäß ziemlich schwierig, und unsere Hei- Neuseeland gezwungen, neue Märkte mat in England war uns nie so bewusst, für seine Agrarprodukte zu suchen, und so nah wie in dieser Zeit. Ich habe neu-

203 lich einen Satz gelesen, der dies gut aus- oder Bräuche, und wir haben uns be- drückt: müht, etwa zu Weihnachten möglichst „Das eigentliche Heimatgefühl ist Heim- oft in England zu sein. Es spielte dabei weh. Heimat hat ihren Ort in der Vergangen- eine große Rolle, dass unsere Kinder das heit und in der Zukunft, selten jedoch in der Ge- erhielten, was für uns selbst seinerzeit im genwart.“ Kindesalter wichtig gewesen war. Nach einigen Jahren jedoch haben wir erkannt, In einer solchen Situation, wo alles dass Weihnachten auf dem europäischen sehr fremd erscheint, bildet man sich ein, Festland, und besonders in Österreich, ohne gewisse vertraute Dinge überhaupt viel schöner und mit ungleich mehr Ge- nicht auskommen zu können. Dazu schmack gefeiert wird: Der Schmuck, kam, dass damals in England alles viel der Tannenbaum, der Schnee (manch- billiger war als in Deutschland. Zu viert mal zu viel des Guten, aber ziemlich zu- war es wesentlich günstiger, mit dem verlässig zu Weihnachten) – sogar der Auto als mit dem Flugzeug nach Eng- Kitsch ist geschmackvoller! land zu reisen – heutzutage ist das an- ders –, und wir kamen nach jedem Eng- landbesuch mit einem voll beladenen Der Sprachfaktor Wagen zurück. Zum Gepäck gehörten „unentbehrliche“ Lebensmittel wie Rice- Ein wichtiger Aspekt meiner Heimat- Crispies, Marmite, Heinz Baked Beans, beziehung ist die englische Sprache, die Steaks und Kidney-Pies. Es ist ironisch, ein „Zuhause“ bildet, wo immer man dass unser Bedürfnis nach „nostalgischer sich befindet. Je mehr man sich mit der Kost“ genau dann den Nullpunkt er- eigenen Sprache beschäftigt – und be- reichte, als dieses schreckliche Zeug sonders mit der Literatur –, desto mehr auch in Österreich erhältlich zu werden stellt sie eine Heimat dar. Ich muss geste- begann. Auch via Internet geht es heute hen, dass noch heute 90 Prozent der Bü- in puncto Versorgung leichter. Ich be- cher, die ich lese, in meiner Mutterspra- kam neulich per Post Informationen che abgefasst sind. Diese Präferenz ent- über eine Organisation namens „Distant springt zugegeben teilweise einer gewis- Brits“, also „Ferne Briten“. Per E-Mail sen Faulheit, aber auch einer wohltuen- kann man dort alles das bestellen, was den kulturellen Verbundenheit mit guter einem in der Fremde fehlt. „Was pas- englischer Literatur. Dieses Gefühl ist siert“, wird im Firmenprospekt gefragt, besonders ausgeprägt bei bestimmten „wenn ein heftiges Verlangen nach einer Büchern, die ich früh entdeckt habe und bestimmten Speise die Oberhand ge- immer wieder lese – den Romanen von winnt? Es ist wie ein Juckreiz, bei dem Jane Austen, zum Beispiel. Kratzen verboten ist. Alle unsere Le- Was es psychologisch ausmacht, bensmittel sind urbildlich britisch, und nicht wirklich eine Muttersprache zu ha- nur ein wahrer Brite versteht sie zu wür- ben, das wurde uns klar in unserer zwei- digen!“ ten Station in Deutschland – auf dem Am Anfang in Deutschland war das Land in einem kleinen, langweiligen Ort Heimweh oft verbunden mit der in der Nähe von Würzburg, dessen ein- Erinnerung an bestimmte Situationen zige Besonderheit drei Sauerkrautfabri-

204 ken waren. Die Wohnung unterhalb der In dieser Zeit verbrachten wir oft die unsrigen bezog nach einigen Monaten ganzen Sommerferien – erst sechs, dann eine Familie mit ungewöhnlichem Na- acht Wochen – bei Freunden und Ver- men – zufällig, so dachten wir, der Name wandten in England. Wir wollten die eines berühmten Dirigenten. Zu unserer Kontakte dorthin auch für unsere zwei Überraschung stellte sich heraus, dass es Söhne aufrechterhalten, und es wurde sich bei dem neuen Nachbarn nicht nur uns schnell klar, dass wir hiefür ein eige- um den Sohn dieses Dirigenten han- nes englisches Zuhause brauchten. So delte, sondern dass er gleichzeitig mit kauften wir am Anfang unserer Linzer mir in Cambridge studiert hatte. Er hat Zeit ein uraltes Haus in einem sehr male- zweifellos ein sehr interessantes Leben rischen Dorf in Nordengland, wo wir gehabt, da sein Vater mal in Böhmen, uns einige Jahre hindurch für jeweils mal in Italien, München und in London zwei Monate total zuhause fühlten. Man Opernchef war und die Familie stets mit knüpft in England auf dem Lande rasch ihm ging. Kontakte, die Nachbarn waren sehr of- fen und hilfsbereit, und es war eine Der Sohn beherrschte mehrere Spra- schöne Zeit. chen gut, keine aber perfekt. Er behaup- Eine ganz andere Erfahrung mit tete selber, nicht zu wissen, welche seine Nachbarn hatten wir ein paar Jahre spä- „beste Sprache“ wäre, vermutete jedoch, ter, als wir einen kleinen, etwas verfalle- es wäre das Englische. Einmal bat er uns, nen Turm in Umbrien kauften. Das Haus seine Bewerbung für eine Professur an nebenan gehörte einem Künstler aus der einer renommierten amerikanischen gleichen, oben erwähnten nordengli- Universität zu lesen und eventuell zu schen Region, und es schien uns logisch, korrigieren. Wir waren erschrocken zu dass wir vieles gemeinsam haben wür- sehen, wie schwach sein Englisch war, den. Die Aussicht auf diesen neuen Kon- und hatten irgendwie ein schlechtes Ge- takt war uns umso willkommener, als wissen, so viele Fehler bei einer so wich- wir trotz Opernerfahrung die italieni- tigen Bewerbung auszubessern. So pein- sche Sprachen nicht wirklich beherrsch- lich es uns war – er hat unsere Korrektu- ten. Unsere Erwartungen wurden aber ren auf das Freundlichste akzeptiert. gründlich enttäuscht. Der Nachbar ent- Überhaupt konnte er äußerst charmant puppte sich als grob, falsch, unehrlich sein, doch schien er, vor allem im Famili- und überempfindlich – kurzum als so enkreis, sehr unstabil und reizbar und unmöglich, dass die Begegnung mit ihm versuchte, seine Unsicherheiten wie ein über 20 Jahre hinweg einen bitteren verwöhntes Kind mit autoritären An- Nachgeschmack hinterlasssen hat. sprüchen wettzumachen. Inwiefern bei der Charakterbildung dieses Menschen Das war sehr schade, weil wir uns in eine gewisse Heimatlosigkeit mitgespielt Italien ansonsten besonders wohl ge- hat, konnten wir natürlich nicht wissen. fühlt haben. Der Turm wurde renoviert, Die Erfahrung hat uns aber davon über- meine Frau legte einen reizvollen Garten zeugt, dass eine echte Muttersprache an, wir erforschten die vielen zauberhaf- wohl doch ein fundamentales, essenziel- ten Städte in der Gegend (wo zum Bei- les Gut bedeutet. spiel Piero della Francesca gearbeitet

205 hatte), und unsere Italienischkenntnisse seit der Thatcher-Periode nicht mehr wuchsen – langsam. Zu unseren Freun- richtig zusammen (Margret Thatcher hat den wurden viele Italiener und Italiene- bekanntlich gesagt: „There is no such rinnen und auch englische bzw. auslän- thing as society“), viele junge Leute stei- dische Familien, die sich dort niederge- gen aus oder driften in die Kriminalität lassen hatten, unter ihnen eine ganz und oder in die Drogenszene ab, weil sie gar „exotische“: Danny und Molly, indi- mangels Zukunftsperspektive verzwei- scher Abstammung und aus Südafrika feln. gebürtig, waren Schuldirektor bzw. Eine andere bedauerliche Erschei- Schulinspektorin in London gewesen nung, die mit dem Tod von Prinzessin und genossen nun in einem kleinen um- Diana erstmals auf das Allgemeinste brischen Dorf die verdiente Pension. Die sichtbar wurde, ist die entsetzliche Ge- einheimische Bevölkerung stand den fühlsduselei, der jeder zweite Engländer „exotischen Zuwanderern“ anfangs zu verfallen neigt. Das Ausmaß und die reichlich skeptisch gegenüber, doch bald Intensität der zur Schau gestellten Trauer wurden beide allgemein beliebt, da sie über das Schicksal eines Menschen, den nicht nur reizende Personen waren, son- die meisten Engländer überhaupt nicht dern auch großes Interesse für italieni- gekannt haben, deuten auf ein massives sche Kultur im weitesten Sinn zeigten. Bedürfnis, sich mit dem Leben von Pro- minenten zu identifizieren. Die hier wal- Diese italienischen Erfahrungen ha- tende maßlose Übertreibung wurde zu- ben uns darin bestätigt, dass es nur auf letzt beim tragischen Ende des Fußball- die Person ankommt, nicht auf die Her- stars George Best offenbar, der sich zu kunft. Es gibt überall liebenswürdige Tode getrunken hatte. und unmögliche Menschen. In England gibt es relativ viele, die von der Überle- genheit ihres Landes überzeugt sind und Eine Zustandsqualität? meinen, dass sie von Ausländern nichts lernen können. Das ist der Hauptnähr- Ich bin trotzdem immer wieder boden für den sturen britischen Wider- gerne in England, obwohl ich zum ge- stand gegen jede nachhaltige Integration genwärtigen Zeitpunkt keinen großen innerhalb der EU. Diese Überheblichkeit Drang verspüre, wieder in meiner ei- – deutlicher vorhanden als etwa in gentlichen Heimat zu leben. Vielleicht Österreich – verbindet sich bei jungen wird sich das in einigen Jahren ändern. Leuten leider häufig mit auffallenden Bil- Ich glaube aber nicht, denn die Welt ist dungsdefiziten: So wackelt das engli- so klein geworden, dass man es heute sche Schulsystem in letzter Zeit ge- kaum nötig hat, in einem bestimmten waltig. Land zu leben, um es zu erleben. Die Fast jeder Auswanderer ist naturge- Frage, ob der Begriff „Heimat“ in einer mäß der Meinung, sein Land sei vor die globalisierten Welt überhaupt noch zeit- Hunde gegangen, seitdem er es verlas- gemäß ist, steht tatsächlich im Raum. sen hat. Es ist aber nicht zu leugnen, dass Über E-Mail oder ein stark verbilligtes England heute ein anderes Land ist als Telefonsystem ist man in ständigem noch vor 30 Jahren. Die Gesellschaft hält Kontakt mit fast jedem Ort der Welt. Es

206 kostet genauso wenig, nach Neuseeland Ich genieße aber auch ein gesundes zu telefonieren wie nach Passau. Via In- Leben in einer wunderschönen Umge- ternet kann ich Bücher aus England be- bung und habe vor allem das Glück, in stellen, die in drei Tagen das Mühlviertel meiner Arbeit nicht nur Identität und erreichen, und ich pflege zusätzlich den eine gewisse Anerkennung zu finden, Kontakt zu meiner Muttersprache über sondern – zumindest in der Lehrtätigkeit die Unterrichtstätigkeit meiner Frau so- – mich als nützlich fühlen zu dürfen. wie durch regelmäßige Aufträge als Eng- Freunde sind ebenfalls enorm wichtig, lischsprecher für Tonaufnahmen. Außer- und hier bildete die Sprache lange ein dem genieße ich eine rege Auseinander- Hindernis für das Knüpfen von ganz en- setzung mit dem englischen Theater gen Freundschaften. Vor allem der Hu- durch die Shakespeare-Arbeit meines äl- mor hängt intim mit der jeweiligen Spra- teren Sohnes, während mich der zweite che zusammen und lässt sich verlustfrei Sohn beim Cricket und Rugby auf dem kaum in eine andere überführen. Aus Laufenden hält. Unsere Söhne verbrach- diesem Grund haben wir immer noch ten übrigens ihre gesamte Schulzeit in viele, aber bei weitem nicht alle unserer Österreich und studierten dann mehrere besten Freunde im Ausland. Dieser Jahre in England bzw. Schottland. Ein kleine Mangel wird durch einen großen Sohn wohnt noch hier, hat aber Bühnen- und stimulierenden Bekanntenkreis hier- stücke in beiden Sprachen geschrieben, zulande wettgemacht – wir teilen viele der andere arbeitete zwischendurch ei- Interessen, sogar an der österreichischen nige Zeit in England bzw. Irland und lebt Politik. Dadurch fühlen wir uns in eine jetzt in Deutschland. Zweisprachigkeit lebendige soziale Struktur eingebettet. ist ein kostbares Geschenk, vielleicht so- Abschließend zunächst noch eine gar ein Stück verlorene Heimat wert. schöne Definition der idealen Heimat – eine, die für meine Heimat hier in Öster- Wir leben nun seit 24 Jahren in reich beinahe zutrifft: Österreich, und dieses Land ist mir all- „Man fühlt sich an diesem Ort als Person mählich zu einer Heimat geworden. Mit ernst genommen, geschätzt, geliebt und verstan- der Zeit haben wir ein sehr abwechs- den. Und vor allem wird dort eine Sprache ge- lungsreiches Leben aufgebaut, das uns sprochen, die man versteht, in der man seine Be- sehr gefällt. Ein kurzes Zitat in diesem dürfnisse artikulieren kann.“ Zusammenhang: Die „mühlviertlerische“ Sprache al- „Der Begriff der Heimat hat viel mit ele- lerdings haben wir nie richtig gelernt, mentaren Bedürfnissen der Menschen zu tun. und diesen Nachteil hat meine Frau vor Dies sind unter anderem die Sehnsucht nach einigenJahrenwiefolgtzuspürenbe- Anerkennung und Identität, Gefühle der Gebor- kommen: Kurz vor unserer Übersiede- genheit und des Einklangs mit der unmittelba- lung von Linz auf das Land wollte Jean ren Lebensumgebung.“ bei einem extrem urigen Bauernhof im Dorf unserer Wahl Eier kaufen, klopfte Ich glaube, hier die meisten dieser an die Tür und trat, da keine Antwort Bedürfnisse befriedigt zu sehen. Freilich, kam, etwas nervös in die Stube ein. Da die erste und wichtigste Quelle der Ge- wurde sie mit einer Szene aus einem borgenheit liegt in meiner Familie. Breughel-Gemälde konfrontiert; ein

207 winziger alter Mann, umringt von drei kurzen „Ausflug ins Mittelalter“ machen, Frauen in blutigen Schürzen, stand am um ein Stamperl mit dem Schweine- Tisch mit einem Beil über seinem Kopf. schlachter zu trinken. Sie hatten gerade ein Schwein ge- Das allerletzte Wort überlasse ich schlachtet. Alles erstarrte – auf beiden dem Schweizer Schriftsteller Arthur Seiten –, bis meine Frau schließlich die Häny: Frage „Haben Sie Eier?“ mit quietschen- „Heimat ist nicht einfach vorhanden, sie ist der Stimme herausstieß. „Nein!“, kam es auch niemals fertig, sondern in einem gewissen barsch zurück, worauf sie die Flucht er- Maße immer wieder neu zu erschaffen, neu auf- griff. Hinterher wurde Jean von unserem zubauen, auf jenen Fundamenten, die wir nicht Nachbarn aufgeklärt: „Du hättest sagen zerstören können, ohne uns selbst zu zerstören.“ sollen, wer du bist, nämlich das ,Schei- merhäuslweiberl‘, dann wären sie sicher freundlicher gewesen.“ Und der Nachbar Bearbeitete Textfassung eines Impulsreferats, hatte recht – mittlerweile sind wir herz- gehalten bei der Jahrestagung 2006 des Forums lich willkommen, wann immer wir einen Oö. Volkskultur Ende März im Stift Reichersberg.

208 „objektiv subjektiv“ DAS FORUM DER MEINUNGEN

Die „organisch gewachsene“ alte Stadt?

Von Rainer Reinisch

Der Städtebau der mittelalterlichen eignet, wurden abgebrochen oder für die Gründungen in Bayern, Österreich, der neue Bewohnerschaft gründlich verän- Tschechei, Ungarn und vor allem in Ita- dert und nach deren Bedürfnissen um- lien ist höchst rätselhaft. Schon die adaptiert. Stadtgrundrisse erscheinen in ihrer Un- Militärische Anlagen sind bis in die regelmäßigkeit und ihrer Ungeometrie heutigen Tage für zivile Wohnzwecke nicht auf Vorbilder zurückführbar. We- schlecht geeignet. Kasernen lassen sich der auf die orthogonalen Städte im alten kaum veräußern und stehen zudem auf Griechenland, noch auf Pompeji oder wertvollem städtischen Grund, sodass Rom. Römische Städte an der Nord- sich der Abbruch (zwecks Anlage eines grenze des Großreiches waren ebenfalls Neubaus) rentiert. keine Vorstufe oder gar modellhaft. Es bleibt die Frage, woher die Vorbil- Diese Städte waren Militär-Camps, ei- der für die Gestaltung und Organisation gentlich als Lager oder Forts zu bezeich- der mittelalterlichen Städte eigentlich nen. Ihre Geometrie mit den zwei sich kamen. Keine von ihnen gleicht einer an- kreuzenden Hauptstraßen entsprach deren, kein Grundriss, kein Straßennetz dem militärischen Erfordernis des lässt ein geometrisches System erken- schnellen Ausreitens und Ausmarschie- nen, das allgemein angewandt wurde. rens. Außerdem waren diese Camps ge- Auch in ihrer Funktion gleich geartete meinschaftlich organisiert, zentralbe- Gebäude wie Rathäuser oder Markthal- heizt und eher großen Klöstern ver- len wurden nicht kopiert, sondern in im- gleichbar. mer neuen Variationen für die jeweilige Die rundum in Holzhäusern lebende Stadt konzipiert und gestaltet. Platzfor- keltische Bevölkerung konnte nach Ab- men und Straßenzüge wurden aus- zug der Römer mit diesen steinernen nahmslos jedes Mal anders, einzigartig Monstern nichts anfangen und verwen- entworfen und geformt. dete sie als Steinbruch, höchstenfalls als Eine simple und unkundige Erklä- Stallungen. Dort, wo in Stadtgrundris- rung läge darin, die Städte als gewachsen sen das römische Lager noch ablesbar und in kleinen Schritten weitgehend un- ist, darf desgleichen nicht von seiner In- geplant größer geworden anzusehen. besitznahme als Bausubstanz ausgegan- Dies ist aber die Ausnahme, die gerade gen werden. Allenfalls das Straßennetz für Hofmarken gelten kann, wo sich war verwertbar, die Kasernen und Ge- Bauern und Handwerker im Schutze meinschaftsräume waren für eine indivi- eines Schlosses, einer Burg oder eines dualistische zivile Gesellschaft nicht ge- großen Klosters weitgehend ungeordnet

209 ansiedelten und nicht für die eigene Ver- Rippenfigurationen nicht ausnahmslos teidigung vorsorgen mussten, weil sie gleich gemacht? hinter den mächtigen Mauern Zuflucht finden konnten. Optimale Regelwidrigkeit Tatsächlich ist die Idee von der ge- wachsenen, ungeplanten Stadt in der Obwohl das Abweichen von der jüngsten Fachliteratur mit vielen Beispie- Exaktheit des rechten Winkels und der len widerlegt. Die Gründer, ob nun Fürs- geraden Flucht oft in lediglich „homöo- ten oder andere Herrscher, besaßen ge- pathischer“ Größenordnung erfolgte, naue Vorstellungen von der Größe, Or- war die Vermeidung purer Geometrie ganisation und den Wehrbauten ihres das obligate Gestaltungsprinzip. Da- künftigen Marktes oder einer neuen durch wurden Spannung und eine ge- Stadt, die ihnen ja auch Geld einzubrin- wisse Rätselhaftigkeit erzeugt, welche – gen hatte. Die Städte sind bei ihrer und wenn auch nur geringfügig – die Gründung durchwegs bewusst geplant Langeweile des allzu Regelhaften durch- und, trotz aller „Unregelmäßigkeit“, brachen. Zugleich gelang so die sicht- nicht im so genannten Wildwuchs ent- bare Unterscheidung oder Absetzung standen. (Die fachliche Qualifikation der des bürgerlichen Ambientes von der sa- Baumeister und Geometer hätte die Rea- kralen Strenge der Klöster und Kirchen. lisierung von Entwürfen nach exakter Die mittelalterlichen Städte sind, Geometrie von alters her mühelos er- Kunstwerken ähnlich, unverwechselbare laubt.) Warum aber gibt es keinen Proto- Individualitäten. Kein Detail gleicht dem typ für einen Marktplatz? Weshalb sind in einer anderen Stadt, keine Gasse oder die Platzwände nicht in der Flucht, son- Straße einer anderen, sogar im gleichen dern weichen immer von der Geraden Ort. Jede Stadt ist bewusst als Einzig- ab? Wozu verlaufen Straßen, die ein Tor artigkeit, als Besonderheit angelegt – das mit dem Marktplatz verbinden, nicht ge- Prinzip der „optimalen Regelwidrigkeit“, rade, sondern gekrümmt? Warum sind des Abgehens von jeder Gleichförmig- bauliche und funktionelle Schwerpunkte keit und der Vermeidung stereotyper aus den Mittelpunkten und allfälligen Wiederholung, lässt sich überall nach- Achsen genommen? Warum gleicht vollziehen. keines der aneinander gereihten Bür- Natürlich sind Städte gewachsen. gerhäuser dem anderen? Wozu hat man Oft aus kleinen Anfängen nichtummau- die Simshöhe am Dach und die Höhen- erter Siedlungskerne, meist bei Straßen- lage der Fenster von Haus zu Haus va- kreuzungen oder Flussübergängen. Aber riiert? schon die erste Befestigung orientierte Weshalb haben die Baumeister, die sich an klaren Vorstellungen von der bei Kirchen und Klöstern höchste geo- Anzahl der Parzellen, der verbleibenden metrische Präzision bewiesen, bei den Freiflächen, Wehrgänge, Brunnen und Bürgerhäusern nicht einmal die Lot- Straßenführungen. Nichts geschah bei rechte eingehalten und die Häuser „tan- den Konzeptionen leichtfertig, unbe- zen“ lassen? Warum haben sie auch bei sorgt oder gar fahrlässig. Der Fürst und gotischen Kirchenfenstern die steinernen seine Berater wussten, was sie mit der

210 Gründung von Städten oder Märkten je- Gewaltakte, um störende bis zerstörende weils bezweckten. (Nicht selten waren Eingriffe, auch wenn sie heute oft nicht bau- bzw. siedlungswillige Bürger gar mehr als solche empfunden werden nicht vorhanden und mussten in die (können). neuen Städte „gezwungen“ werden. Bau- Per definitionem organisches Wachs- ern etwa lockte man mit der Garantie an, tum ist jedenfalls bei den alten Städten dort zu den Marktagen ihre Waren frei nicht zu finden. Einzusetzen begann es verkaufen zu können; viele entkamen so erst ab dem Zeitpunkt, da die Stadtmau- der Fron und der Abhängigkeit vom ern, bedingt durch die moderne Kriegs- Grundeigentümer, vom Fürsten oder der technik, ihren Zweck verloren, die Frei- Kirche. Wo das „Privatisierungsangebot“ flächen vor den Bastionen ihren Sinn als nicht fruchtete, wurde zuweilen direkter Schussfeld für die Artillerie einbüßten Druck ausgeübt, um die Mindestbesie- und der Krieg zum wesentlichen Teil von delung einer Stadt zu gewährleisten.) der Luft aus geführt werden konnte. Seither wird vor den ehemaligen Mau- Genaue Zielvorgaben und Pläne wa- ern organisch erweitert. Es wird ins Land ren dann auch bei jeder Stadterweite- hinausgebaut. Siedlungssplitter reiht rung unabdingbare Voraussetzung: Wie sich an Siedlungssplitter. Notwen- viele Häuser sollen dazukommen, wie dige Infrastruktureinrichtungen werden verlaufen die Straßenzüge, wo werden nachgerüstet. Es entstehen keine Plätze, neue Tore angeordnet, wo neue Plätze, keine Alleen, Freiflächen folgen dem Zu- wo situiert man die hervorstechenden fallsprinzip, und die machtvollen Ge- Bauzentren für die Markthalle, einen Pa- schäftsgebiete mit ihren Supermärkten last oder eine Kirche. Ein organisches erfordern einen Autoverkehr, den die Wachstum konnte es bei den Städten Kunden gern vermeiden würden, wenn schon von der Aufgaben- und Zielset- sie nur könnten. zung her nicht geben. Erst im 20. Jahrhundert hat sich das sogenannte organische Wachstum un- Kahlschlag durch „inneres Wachstum“ eingeschränkt durchgesetzt – mit der weltweiten und weltstadtweiten Absage Angesprochen werden muss indes an systematische Methoden und Kon- eine sehr bestimmte Art von Wachstum, zepte. Das Ausmaß der unkontrollierten, die für mittelalterliche Städte oft einen explosionsartigen Erweiterungen über- „Kahlschlag“ bedeutete, nämlich jenes trifft jenes der alten, ursprünglichen nach innen hin: Dort, wo Fürstbischöfe, Städte schnell um das Hundertfache und die Kirche oder weltliche Herrscher in- mehr. Andererseits ist auffällig, dass der nerhalb der befestigten Stadt ihre Prunk- Altstadtkern als historisches und archi- bauten zur Geltung bringen wollten, hat- tektonisches Erbe nach wie vor für die je- ten ganze Häuserzeilen und ganze weils ganze Siedlungsregion als „Etikett“ Wohnviertel zu weichen. Dies führte zu oder „Identifikationsmerkmal“ gerade- durchaus beeindruckenden Ergebnissen, stehen muss. Städte, deren historische hatte aber mit gesunder Entwicklung Reste im Wald der Hochhaustürme nichts zu tun; es handelte sich dabei um kaum noch auszumachen sind, werben

211 vor allem auch touristisch just mit der die lukrativsten Aufträge dort winken, Attraktivität dieser Relikte. wo die Abrissbirne zuschlagen darf, ist Zwischen Zerstörung, Aushöhlung diese Berufsgruppe eher auf der Seite und dem aufrichtigen Bemühen um ihre der Altstadtzerstörer vertreten. Dabei ar- Bewahrung drohen die steinernen Do- gumentiert sie gerne u. a. damit, dass kumente des historischen Städtebaus so- schon zur Zeit der Renaissance und des wie geschichtlicher Baukunst mittler- Barock ebenfalls in die Altstädte „hinein- weile in steigendem Maß zur Materie ei- gebaut“ wurde, was zur „Qualität dieser ner Forschung zu werden, der „das Ob- Zonen nur beigetragen“ habe. jekt“ fehlt. Kaum eine Stadtverwaltung verfügt über eine vollständige Häuser- chronik und exakte Bauaufnahmen, Gebot der Stunde ebenso kaum über Baualterpläne – die Grundlagen zur Erforschung der sozio- Dieses innere organische Wachstum logischen Nutzungsgeschichte und für kann und sollte unseren Altstädten in bau- bzw. kunsthistorische Ermittlungen den meisten Fällen erspart bleiben, denn sind vielfach bereits alarmierend schüt- sie haben über Jahrhunderte Zeit gehabt, ter. Dazu kommt, dass bei unreflektiert, eine gültige Form zum Abschluss zu ohne entsprechende Voranalyse, durch- bringen. Sie bedürfen keiner zusätzli- geführten baulichen Änderungen im chen Aufmotzung durch modische Altstadtbereich die Stadtarchäologie Kurzzeitgestaltungen, auch wenn diese häufig ungefragt bis tatenlos zusehen von sogenannten Star-Architekten ver- muss. Selten werden ihren Experten aus- fasst worden sind. Deren gestalterische reichende Mittel und vor allem die nö- Potenz entfalte sich besser dort, wo die tige Zeit genehmigt, die sie zur wissen- Kollegenschaft organische Wachstumszonen schaftlich akribischen, effizienten Durch- rund um die Altstädte zu Architektur- führung ihrer Arbeit brauchen würden. brachen verkommen ließ. Mehr denn je zeigt sich das Thema Altstadterhaltung im Sog eines Mei- Die historischen Altstädte, die ge- nungs-, Interessens- und Richtungskon- plant und geordnet als Gesamtkunst- flikts von schwerwiegender, gesell- werke entworfen wurden, bedürfen ganz schaftspolitisch relevanter Dimension. im Gegensatz zu den Rufen „fortschrittli- Während Politiker lauthals verkünden, cher“ Politiker einer musealen Zuwen- die Altstadt dürfe „kein Museum wer- dung und Pflege. Am urban bebauten den“, und darunter die ungehemmte Ein- Gesamtraum gemessen verschwindend pflanzung von Hotel- oder Bürokästen kleine Bereiche, vermitteln sie Selbstver- in die historischen Schutzzonen verste- ständnis, reflektieren und bezeugen sie hen, halten der Denkmalschutz und die Identität. So ist die Forderung höchst zu- Verantwortlichen der Behörden so weit kunftsweisend: „Die Altstädte müssen wie irgend möglich dagegen. Architek- Forschungsgegenstand und als ,Museen ten finden sich als Handlanger oder Voll- einer historischen Stadtbaukunst‘ mög- zugsorgane in beiden Lagern, da aber lichst unverändert erhalten bleiben!“

212 Buchbesprechungen

Hans Falkenberg: Die schöne Kathi. Ein schau- wie geschickt eingesponnener Details lassen die rig-erotischer Roman aus dem Mühlviertel des Frage, ob bzw. inwieweit hier Dichtung und Wahr- 19. Jahrhunderts. 2., verbesserte Auflage, 156 Seiten. heit verschmolzen sind, zweitrangig erscheinen. Verlag Institut für Alltagskultur, Fürth (Bayern) 2006. Spannende, unterhaltsame Belletristik für alle, die Kontaktadresse/Bezugsquelle: HansFalkenbergPØaol.com Freude am Außergewöhnlichen, Atemberauben- oder Tel. (0 72 85) 587. ISBN 3-927332-28-3 den und Bizarren haben! C. G.

Ihre Exekution in der Mühlviertler Gemeinde Hofkirchen, wo sie laut Amtseintragung „am 29. April 1848 auf der Anhöhe bei Marsbach öf- Adolf J. Merkl: Gesammelte Schriften. Dritter fentlich gehängt wurde“, ist verbriefter Bestandteil Band: Verwaltungsrecht – Zeitgenossen und Gedanken. der oberösterreichischen Justizgeschichte, desglei- 1. Teilband. Berlin 2006: Verlag Duncker & Humblot, chen der Grund für Anklage und Schuldspruch: 822 Seiten, gebunden, EUR 98,–. Die junge Katharina Müllener (oder Mühleder) hatte sich aus Kummer, Enttäuschung und Ver- Adolf J. Merkl gehört so wie Hans Kelsen zweiflung über eine trostlose Ehe ihres Gemahls und Alfred Verdroß zu den großen österreichi- mit Gift entledigt. Eine Tafel bei den Galgenlinden schen Rechtsgelehrten vornehmlich der ersten „auf der Scheibe“ erinnert noch heute an das amt- Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre Bücher hatten lich bescheinigte Ende der schönen, lebens- und eine Ausstrahlung, die heute noch nachwirkt. liebeslustigen Frau, deren sterbliche Hülle laut of- Merkl (1890–1970) ist vor allem Verwaltungs- fizieller Aufzeichnung noch an Ort und Stelle der rechtler. 1999 wurde sein Standardwerk „Allge- Erde übergeben worden war. Wenig später indes meines Verwaltungsrecht“ neu aufgelegt. fanden Ortsbewohner das Grab leer, und das sollte fortan Gerüchte nähren, wonach es bei die- Über das Juristische hinaus war Merkl, der ser Hinrichtung nicht mit rechten Dingen zuge- von der Dichtung Goethes, Schillers und anderer gangen sei . . . literarischer Größen durchdrungen war, ein bril- lanter Stilist. Und das macht auch die Lektüre sei- Aus diesem Datenmaterial hat der Wahl- ner kleineren Schriften, wie jener aus dem Jahr Mühlviertler Hans Falkenberg unter Zuhilfe- 1916 über die Einführung der Sommerzeit, frisch nahme von Verhandlungsprotokollen, Gerichts- und lebendig. Die Sommerzeit haben wir wieder – akten, Memoiren und schriftstellerischer Eigen- so wie die in Merkls Schriften wiederholt behan- phantasie eine knisternde, schaurig-erotische delte Verwaltungsreform, etwa in dem Aufsatz Story geformt, die nunmehr in zweiter Auflage „Verwaltungsreform und zwecklose Verwaltung“ vorliegt. Der flüssig geschriebene, durchgehend aus dem Jahr 1921. Wie zeitgemäß sind die zwei mit Bildern und Zeichnungen illustrierte Roman folgenden Sätze daraus: „Das alte Problem der taucht das Schicksal der „Kathi“ in ein völlig ande- Verwaltungsreform ist bei der heutigen wirtschaft- res, überraschendes Licht; die Exekution wird als lichen und politischen Lage ein Beamtenproblem perfekt inszenierte Täuschung geschildert, toll- und Finanzproblem geworden.“ (S. 99) Oder: kühn ausgeheckt und umgesetzt von Mülleners „Um ein ganz anderes Gebiet zu berühren“ – zu- Liebhaber, der sich nach dem gelungenen Trick vor war es um die gewerberechtlichen Befähi- zusammen mit seiner quicklebendig gebliebenen gungsnachweise gegangen –, „sei nur die Frage Freundin in abenteuerlicher Flucht über Italien bis aufgeworfen, wie viele Finanzbeamten der Kom- nach Hamburg durchgeschlagen und mit der zwi- pliziertheit unserer Steuer- und Gebührenvor- schenzeitlich kurzerhand zur „Gräfin“ mutierten schriften ihren Lebensunterhalt verdanken.“ Kathi nach dramatischer Schiffsreise eine neue (S. 102) Erst jüngst, 85 Jahre später, war aus Minis- Existenz in den Vereinigten Staaten von Amerika termund zu vernehmen, die Erbschaftssteuer aufgebaut hat. koste mehr als sie bringt! Der lockere Erzählton, feine psychologische Merkl, Sohn eines Forstakademikers, war Facettierungen und die Fülle ebenso interessanter Naturschützer der ersten Stunde, so in „Vom Ster-

213 ben der Bäume“ (aus 1920, S. 653) über viele Sta- Rill/Schäffer: Bundesverfassungsrecht. Grund- tionen (S. 659, 663, 665, 675, 681, 715, 749) bis „Er- werk inkl. 4. Lieferung. Stand: 30. 6. 2006. Ca. reichtes und Erstrebtes im Naturschutz“ (aus 1929, 1.800 Seiten, Lose-Blatt-Sammlung. Gesamtwerk S. 809). EUR 218,–. Memmer/Kern (Hrsg.): Patientenverfügungs- Mit dem – hoffentlich bald – folgenden zwei- Gesetz. Stärkung oder Schwächung der Patien- ten Teilband dieses Verwaltungsrechtsbandes tenrechte? 148 Seiten, broschiert, EUR 24,90. wird die 1993 begonnene Ausgabe der „Gesam- Jeweils Wien 2006, Verlag Österreich, vormals Verlag der melte(n) Schriften“ abgeschlossen werden. Wohl k. u. k. Hof- und Staatsdruckerei. dank des Ansehens von Herbert Schambeck, der In der medizinischen und rechtlichen Praxis sie mit Dorothea Mayer-Maly und Wolf-Dietrich wurden schon bisher häufig Patientenverfügun- Grussmann herausgibt, konnte das vorliegende gen errichtet. Damit sollten aussichtslose Behand- Werk ebenfalls in Berlin bei Duncker & Humblot lungen durch die „Apparatemedizin“ ausgeschlos- erscheinen. Auch eine verlegerische Leistung! sen werden. Daraus ergaben sich zahlreiche Josef Demmelbauer schwierige rechtliche und ethische Probleme ins- besondere für die Ärzte. Das am 1. Juni 2006 in Kraft getretene Patientenverfügungs-Gesetz will nun Klarheit schaffen. Es unterscheidet verbindli- Muzak/Pinter (Hrsg.): Fremden- und Asylrecht. che und nur beachtliche Patientenverfügungen. Stand: 1. 4. 2006. Wien 2006, Verlag Österreich. Lose- Das Gesetz ist kurz, von praktischer Bedeutung Blatt-Sammlung, 1.080 Seiten, EUR 110,–. sind nur 15 von 19 Paragrafen. Wer aber glaubt, nun sei alles klar, den verwundert die Heftigkeit, Wie in letzter Zeit bei jeder großen Wahl „hü- mit der dieses Gesetz während seiner Entstehung ben und drüben“ (Karl Kraus) hat auch bei der angegriffen wurde. Ein Beispiel dafür ist die auf Nationalratswahl am 1. Oktober 2006 das Thema S. 53/54 des Buches von Memmer/Kern nachzule- Asyl, Zuwanderung, illegale Ausländerbeschäfti- sende „Resolution an Herrn Bundeskanzler Wolf- gung u. ä. eine große Rolle gespielt. Folglich weist gang Schüssel“. Bei dieser Begleitmusik werden auch das Fremdenrecht eine besondere Dynamik sich viele die Errichtung einer Patientenverfügung auf. 35 Jahre wurde das aus 1954 stammende überlegen. Wer sich genau informieren will und Fremdenpolizeigesetz kaum geändert. Dann die Juristensprache nicht von vornherein unleid- führte die Ostöffnung seit Ende 1989 mit ihrer Mi- lich findet, kann eine – verständliche – inhaltliche gration und dem daraus resultierenden Druck auf Darstellung des Gesetzes, wofür das Gesetzblatt den Arbeitsmarkt zu einer fast hektischen Gesetz- nicht einmal drei vollgedruckte Seiten benötigt, in gebung, im Wesentlichen markiert durch das Auf- der Österreichischen Juristen-Zeitung 2006, Heft enthaltsgesetz (mit einer erstmaligen Quotenrege- 14/15, studieren; hier werden allerdings fast zwölf lung für die Zuwanderung) und das Fremdenge- Seiten in Anspruch genommen. Hintergrund die- setz 1992. Nach nur fünf Jahren kam es zur Zu- ses Gesetzes ist der verfassungsrechtliche Schutz sammenführung der darin geregelten Bereiche in des Lebens, der von seinem Beginn bis zum Ende das Fremdengesetz 1997 mit dem Ziel „Integration reicht. Wann tritt der Tod ein? „In Österreich hat vor Neuzuzug“. Beide Gesetze wurden wiederholt sich . . . das Abstellen auf den Gesamthirntod et- novelliert. Mit Wirkung vom 1. Jänner 2006 ist abliert, mit dem die integrative und zentrale dann das sogenannte Fremdenrechtspaket 2005 in Steuerung des Organismus endet.“ So Kneihs bei Kraft getreten: Hierbei wurde das Fremdenrecht der Kommentierung des Artikels 2 der Europäi- wieder aufgeteilt in ein Niederlassungs- und Auf- schen Menschenrechtskonvention (= MRK), des- enthaltsgesetz (NAG) und in ein Fremdenpolizei- sen erster Satz lautet: „Das Recht jedes Menschen gesetz. Dazu kamen bedeutsame Änderungen des auf das Leben wird gesetzlich geschützt.“ Diese Ausländerbeschäftigungsgesetzes. Das Asylge- Kommentierung ist ein Teil des großen Kommen- setz wurde verschärft. Der gegenständliche Kom- tars von Rill/Schäffer zum Bundesverfassungs- mentar aus dem Verlag Österreich, der seit Jahren recht, der laufend erweitert und ergänzt wird, so bewährt und nun vollständig erneuert ist, könnte, zuletzt durch die 4. Lieferung, die das – auf meh- wenn die Diskutanten nur wollten, der Fremden- reren Gebieten allerdings noch unbearbeitete – frage ein objektives Fundament zugrunde legen. Werk auf den Stand 30. Juni 2006 gebracht hat. Josef Demmelbauer Josef Demmelbauer

214 Wegbereiter. Heinrich Gleißner 1945–1955. vielen Heuhaufen und zwei Lämmern abgebildet. Autoren: Dr. Elisabeth Mayr-Kern, Mag. Alfred Es fehlt das übliche Vorwort, doch der Einfüh- Pittertschatscher. Herausgeber: Kulturverein rungsaufsatz des Herausgebers Hermann Scheu- Heinrich-Gleißner-Haus. 229 Seiten, Verlag Rudolf ringer (neben Stephan Gaisbauer) behandelt auch Trauner, Linz. EUR 22,–. ISBN 3-85487-808-7 den Ausgangspunkt und die Zielsetzung dieses Sein Name ist mit dem Wiederaufbau Ober- neuen Sammelbandes. Dieses sind die Darstel- österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg wie kein lung einer peripheren ostmitteleuropäischen zweiter verbunden, unter seiner Ägide wurde vie- Landschaft und die Erinnerung an ihre sprachlich- les vorgezeichnet, das unser Land und die Politik historische Verbindung mit dem zentralen Mittel- der Volkspartei heute wesentlich prägt, von einem europa, besonders mit Bayern und Österreich. starken christlich-sozialen Fundament bis hin Der Band „Karpatenbeeren“ mag von einer zum engagierten Einsatz für eine moderne Wirt- Tagung im Linzer Adalbert Stifter-Haus über Ge- schaft oder eine lebendige Kulturszene. Dennoch schichte, Sprache und Kultur der Karpatendeut- hatte eine umfassende Biographie Heinrich Gleiß- schen ausgehen, doch er nahm auch viele andere ners (1893–1984) auf dem Büchermarkt lange, fast Beiträge auf und wurde so zu einer repräsentati- zu lange, gefehlt – und umso überzeugender ven Darstellung der deutschen Sprache und ihrer wurde die Lücke im Jubiläumsjahr 2005 geschlos- Sprecher in dieser Region. Er erinnert an die mo- sen. Während Alfred Pittertschatscher einleitend nografisch gedachte Abhandlung „Die siebenbür- Lebenslauf, Charakterprofil und Vermächtnis des gischen Landler. Eine Spurensicherung“, Band in späteren Landeshauptmanns oder – besser – „Lan- zwei Teilen; Wien, Köln, Weimar: Böhlau-Verlag desvaters“ (1945–1955) unter anderem anhand 2002. Deshalb bietet Scheuringer anhand von von Zeitzeugenberichten minuziös aufrollt, folgt Karten und einer eingehenden Analyse eine Ein- Elisabeth Mayr-Kern in mehreren, nahtlos inein- führung in die Geschichte der Karpatenregion ander greifenden Einzelkapiteln den teils dramati- und ihre wechselnde Zugehörigkeit zu Ungarn, schen, schicksalhaften Stationen, Herausforde- der Tschechoslowakei, Rumänien und der rungen und Ereignissen, an denen sich Gleißners Ukraine. Hiefür stehen die historischen Begriffe politischer Stil ebenso formte wie die Kontur ei- Oberungarn, Marmarosch, Transkarpatien, Kar- ner durch und durch großen, bei aller Integrität pato-Ukraine (im heutigen Zakarpatska oblast) und Prinzipientreue im Kern heiter-humorvollen und die Stadt Oberwischau (im nordrumänischen Gesamtpersönlichkeit. Privates und Halb-Privates Kreis Maramures¸). (z. B. der Schlussabschnitt „Oberösterreicher und Aus sprachlicher Sicht besteht die deutsche Oberösterreicherinnen erinnern sich an Dr. Hein- Sprachinsel in der Karpato-Ukraine aus Ansied- rich Gleißner“) komplettiert das durchgehend lungen, in mehreren Schüben, auf die oberungari- ausgezeichnet bebilderte Porträt, das sich in seiner schen Güter des aus Würzburg stammenden Gra- kompetent aufbereiteten Detailfülle nicht zuletzt fen Schönborn: auch als ein Standardwerk zur jüngeren oö. Zeit- 1. Mehrere Dörfer um die Burg Munkatsch geschichte empfiehlt. C. G. wurden im 17. Jahrhundert mit bairischen, später mit ostfränkischen Sprechern besiedelt, wonach sich im Laufe der Zeit eine bairisch-österreichi- sche Stadtsprache durchsetzte. Hans Gehl, Tübingen: Karpatenbeeren. Bairisch- österreichische Siedlung, Kultur und Sprache in 2. Im 18. Jh. wurden zur Zeit von Schönborn den ukrainisch-rumänischen Waldkarpaten. Linz, südlich von Munkatsch ostfränkische Dörfer an- Stifterhaus, 2006. 479 Seiten, mit einer CD, zahlreichen gelegt. Lediglich Bardhaus wurde vom nieder- Karten, Tabellen und Illustrationen. österreichischen Waldviertel aus besiedelt. ISBN 3-900424-53-5 3. Im 19. Jh. wurden im Karpatenbergland Der metaphorische Titel „Karpatenbeeren“ nördlich von Munkatsch bairische Auswanderer lässt an den Sammelband „Linzer Schnitten“ den- aus dem Böhmerwald angesiedelt. ken, der die Beiträge zur 8. Bayerisch-österreichi- 4. Für die Marmarosch wurden von der unga- schen Dialektologentagung von 2001 in Linz ent- rischen Hofkammer ab 1775 bairische Siedler aus hält. Diesmal ist statt einer unscheinbaren Beere – Oberösterreich, insbesondere dem Salzkammer- als Erkennungszeichen des bekannten Kuchens – gut, angeworben. Sie gründeten Deutsch-Mokra freilich der Ausblick auf eine Gebirgswiese mit und Königsfeld (Ukraine) sowie die Sekundär-

215 siedlung Oberwischau in der südlichen, heute ru- Auf den einführenden, eine gute Übersicht mänischen, Maramures¸. bietenden Beitrag von Hermann Scheuringer: Den zweihundertjährigen deutschen Siedlun- Deutsche Sprache in den ukrainisch-rumänischen Wald- gen wurde durch den Zweiten Weltkrieg und die karpaten folgt die mehr subjektive Betrachtung von Sowjetherrschaft (Aussiedlung und Deportation Eugenie Kain: Im toten Winkel der Zeit. Dieser Zu- nach Sibirien sowie Massenexodus aus Rumänien stand ist bedingt durch den osteuropäisch ge- nach 1990) das Rückgrat gebrochen. Heute gibt es dehnten Zeitbegriff, die ausgiebige Grenzkon- funktionierende deutsche Gemeinschaften nur trolle, Umstellungen (der Uhr auf osteuropäische noch um Munkatsch und in Oberwischau, wenn- Zeit oder der Eisenbahnzüge auf die russischen gleich alle Sprecher natürlich vielsprachig sind. Breitgleise), zudem durch die allgemeine An- Die Aufnahmen für den „Sprachatlas von nahme der bis heute weiterwirkenden Mentalität Oberösterreich“ dokumentierten vor allem die und Lebensweise nach sieben Jahrzehnten Kom- von Ober- und Niederösterreich aus besiedelten munismus. Die übliche wissenschaftliche Auf- Sprachinseln. Es folgen die aus Böhmen und Fran- listung und Analyse von Fakten hat in diesem Bei- ken aus besiedelten Sprachinseln. Der wichtigste trag einer Aneinanderreihung von stimmungsvol- Explorator, der Wiener Wilfried Schabus, stellt in len Bildern und Erinnerungen Platz gemacht. „Karpatenbeeren“ seine Erkenntnisse vor. Desglei- Ähnliches gilt für den folgenden Beitrag von chen Georg Melika aus Uzˇhorod, der seine jahr- Wilfried Schabus: Erinnerungen eines Dialektologen. zehntelange Forschungsarbeit den Dialekten und Deutsch Mokra und Königsfeld im Frühling 1997. Der der Kultur der Karpatendeutschen gewidmet hat. Forscher wendet sich 1994, nach dem Abschluss Schließlich bietet Anton-Joseph Ilk die umfas- der dialektologischen Fragebucharbeit mit den sendste historisch-volkskundliche, aber auch Holzarbeitern, Nachkommen von Ansiedlern aus sprachliche Darstellung seiner Heimatstadt Ober- dem Salzkammergut, auch zeitgeschichtlichen wischau. Die Historikerin Gertraude Schmitzber- Fragen zu. Diese werden anhand des gewundenen ger steuert eine akribische Erforschung der Tätig- Lebenswegs der Familien Zauner (Margaretha keit oberösterreichischer Waldarbeiter in der Ma- und Stefa´ni) bzw. Zepezauer (der letzten Holzfäl- ramuresch bei. ler) sowie des Schicksals von Valentin und Abra- Die Reihe der weitere Beiträge und ihrer fach- ham Motjovicˇ, der das Lager Buchenwald über- kundigen Autoren ist erfreulich lang und ermög- lebt hat, behandelt. Eingebunden ist die Schilde- lichte die Ausdehnung des Bandes auf 479 Seiten. rung der wechselvollen Zeiten vom österreichi- Selbstverständlich übersteigt eine ausführliche schen Galizien bis zur heutigen Karpato-Ukraine. Besprechung aller 24 Beiträge den Rahmen einer In dem noch vorhandenen salzkammergütleri- Rezension. Sie kann lediglich die Vielfältigkeit der schen Dialekt spiegeln sich die politischen Kon- Ansätze und Arbeitsweisen sowie die Ergebnisse stellationen und nachbarschaftlichen Kontakte und den Wert der Beiträge summarisch darstellen. der vergangenen zwei Jahrhunderte wider. Deutsch Mokra heißt heute Komsomolsk. 1. Komplexer, gut fundierter Inhalt der Beiträge Nicht alle verbannten Alt-Salzkammergütler Wenngleich keine thematische Gliederung er- kehrten aus der sibirischen Verbannung zurück, sichtlich ist und wohl auch nicht beabsichtigt war, erzählt Wilfried Schabus in seinem Bericht über eine umfasst der Band mehrere Themenbereiche be- Forschungsreise in das Westsibirische Tiefland. „Heimat züglich der Deutschen in den ukrainisch-rumäni- Sibirien“ – das gilt noch heute für einige der im schen Waldkarpaten. Der Untertitel präzisiert: Jahr 1946 deportierten Mokraner aus den Wald- „Bairisch-österreichische Siedlung, Kultur und karpaten, die der Forscher 2005 in Paljanowo und Sprache“. Entsprechend den Zielsetzungen des Lugowoj besucht. Die Familien von Paulina „Sprachatlas von Oberösterreich“, auf den die in- Schneider, Julia Kolesnik, geb. Zepezauer, und die tensive Erforschung dieser Sprachinsel zurück- anderen in das westsibirische Gebiet Tjumen De- geht, liegen die Schwerpunkte jedoch hauptsäch- portierten mussten sich ihr Dorf selbst aufbauen lich auf der Sprache, dann auf der Volkskultur und in harter Arbeit selbst eine Lebensgrundlage und der Interkulturalität in der multiethnischen schaffen. Sie haben diese äußerst schweren Jahr- Region sowie auch auf der Erforschung des ge- zehnte überdauert, leben heute in Mischehen, schichtlichen Rahmens für die Entstehung und sprechen kaum noch aktiv Deutsch und wollen Entwicklung der deutschen Siedlungsgemein- bzw. können nicht mehr nach Deutschland aussie- schaften. deln.

216 Die linguistischen Beiträge nehmen einen be- österreichische Mundart mit oberösterreichisch- deutenden Platz in „Karpatenbeeren“ ein. Dabei mittelbairischen und im Speziellen salzkammer- handelt es sich um die ausführliche Beschreibung gütlerischen Merkmalen darstellt. der Dialekte in diesem Siedlungsgebiet. Die Re- Der Erforschung der deutschen Sprachinsel gensburger Forscher Ulrich Kanz, Alfred Wild- in Nordrumänien widmete sich Julia Unger im feuer und Julie Zehetner stellen als Gemein- Winter 2006 und schrieb darauf den Beitrag Der schaftsarbeit Bairische und fränkische Sprachinseln in Sprachgebrauch der ZipserInnen von Oberwischau. Es ist der Transkarpaten-Ukraine vor. Die Autoren besuch- ihre Diplomarbeit mit soziolinguistischen Zielset- ten im August 2005 mehrere Dörfer mit deutsch- zungen, die den Zusammenhang zwischen Spra- sprachigen Einwohnern um Munkatsch, um die che und Gesellschaft sowie Sprachgebrauch und hier gesprochenen Dialekte aufzunehmen. Die Gesprächssituation untersucht. Die Auswertung Sprache der Siedler aus Franken, aus dem Böh- ergab, dass das „Zipserische“ in Oberwischau merwald und dem Salzkammergut wird als noch immer die wichtigste Rolle im familiären „Schwobisch“ bezeichnet, wenngleich sie ihre Sprachgebrauch einnimmt, doch die Zunahme fränkische bzw. bairische Eigenständigkeit behal- der deutsch-rumänischen Mischehen einen wach- ten hat. In den deutsch-böhmischen Siedlungen senden Einfluss des Rumänischen selbst im Pusnjak, Hrabow, Blaubad/Sinjak, Unterhrabov- Sprachgebrauch der Nachbarschaft und im Freun- nitz, Dorndorf, Schwalbach und Dubi gibt es, deskreis bewirkt. Durch die geringe Zahl der ver- nach der anhaltenden Aussiedlungswelle (heute bliebenen Deutschsprachigen ist die Verkehrs- leben weniger als 5000 Deutsche in Transkarpa- sprache in der Zipserei (ein Stadtviertel von Ober- tien), kaum noch deutsch-böhmische Mundart- wischau) bereits Rumänisch. sprecher, außer einigen Alten und deutschstäm- Die deutschen Sprachformen von Oberwi- migen Ukrainern, die noch bairisch verstehen. Die schau können anhand authentischer Texte ver- Auswertung der Aufnahmen weist für die folgt werden. So verwendet Johann Traxler in sei- deutsch-böhmischen Siedlungen einen bairischen nem Erinnerungstext Pan Tuli am Pergl das mittel- Dialekt aus, der den heutigen Mundarten des bairische „Zipserisch“, das er in seiner Jugend zu Bayerischen Waldes und des Böhmerwaldes Hause erlernt hat. In der Beschreibung von Orten gleicht. Weitere Forschungsaufenthalte in den und Erlebnissen in der Oberwischauer „Zipserei“ kommenden Jahren werden die Erkenntnisse über werden schwer verständliche Mundartwörter diese Sprachinseln erweitern. durch 126 Fußnoten erläutert. Der gesamte Text Wilfried Schabus stellt in seiner Kurzbeschrei- bietet Forschern eine wertvolle Vorlage für vielsei- bung des mittelbairischen Dialekts von Bardhaus/Barbovo tige sprachliche und ethnologische Untersuchun- fest, dass diese Ortschaft südlich von Munkatsch gen an. aus Niederösterreich besiedelt wurde. Er führte Die folgende standardsprachliche Erzählung 2002 eine standardisierte Erhebung nach dem Fra- von Johann Traxler, Weihnachten daheim, hält Ober- gebuch für die bairischen Mundarten in Öster- wischauer Sitte und Brauchtum aus der Zeit nach reich und Südtirol durch. Zusätzlich zu den wert- dem Zweiten Weltkrieg fest, was auch die an- vollen Tonaufnahmen notiert der Autor, im Ge- schließenden Gedichte, Heimat und Mutters Ge- spräch mit den Dorfbewohnern, umfassende so- burtstag, in anderer Form tun. Ihnen ist übrigens zial-ökonomische und ethnologische Moment- ein poetischer Reiz nicht abzusprechen. aufnahmen der Sprachgemeinschaft, die auch Die bisher vorgestellten Beiträge haben zwar nach mitteleuropäischer Zeit lebt. Schabus be- verschiedene methodische Ansätze, doch allen schreibt auch Die alt-salzkammergütlerischen Dialekte kann eine entsprechende Dokumentation, ein aus- von Deutsch-Mokra und Königsfeld. Im Gegensatz zu gewogener Inhalt und eine überschaubare Präsen- den protestantischen „Transmigranten“ des tation und Analyse der Fakten bescheinigt wer- 18. Jahrhunderts aus dem Salzkammergut, aus de- den. nen die siebenbürgischen Landler hervorgingen, waren die Vorfahren der Mokraner Katholiken, die von der ungarischen Hofkammer zur Bele- 2. Vielseitige Darstellung der regionalen bung der Holzwirtschaft nach Mokra und Königs- Besonderheiten feld angesiedelt wurden. Aus der Analyse der In der Beschreibung einer multiethnischen Aufnahmen und Sprachproben geht hervor, dass Region ist der Hinweis auf sprachliche und kultu- der Dialekt in Mokra und Königsfeld eine alt- relle Interferenzen unerlässlich, zu denen es im

217 Verlauf des langzeitigen Zusammenlebens ge- Verhaltensregeln, denen sich jeder Holzarbeiter, kommen ist. So haben schon einige der vorge- sei es in seinem Arbeitsbereich (Meister und Lehr- stellten Beiträge auf Lehnwörter aus benachbarten linge, Bruderlade, Todesfall), im Gemeindeleben Sprachen in den bairischen bzw. fränkischen (Kirche und Schule, Richter und Geschworene, Siedlungsmundarten hingewiesen. Es gibt auch Nachtwächter, Gerichtsboten, Hilfe bei Naturka- einige Aufsätze, die sich der Erforschung der in- tastrophen) und im persönlichen Bereich (Heuauf- terkulturellen Wechselwirkung widmen, doch die bewahrung, Sauberkeit im Ort und in den Häu- Grundlage dafür wird durch die historischen sern, Kleiderordnung) zu unterwerfen hatte. Je- Übersichten von mehreren Autoren gelegt. weils im Anschluss werden Art und Höhe der Strafe für die Übertretung von Geboten angeführt Zum Einführungsbeitrag von Hermann und im 32., dem Abschlussartikel, in Form einer Scheuringer gesellt sich inhaltlich der auf 25 Sei- Liste zusammengefasst. Die Satzungen beziehen ten angelegte Aufsatz von Anton-Joseph Ilk: Die Maramuresch und ihre Geschichte bis zum Ende des 14. sich auf Deutsch-Mokra und Königsfeld in der Zeit ab 1777, als die Holzarbeiter aus dem Salz- Jahrhunderts. Gemäß seiner Zielsetzung geht der kammergut ankamen. Beitrag von der geografischen Lage des heutigen Verwaltungskreises Maramusches aus und be- Das Waldamt versetzte einen Teil der Holzar- schreibt dessen wichtigste Städte Baia Mare (Neu- beiter aus Mokra und Königsfeld Ende 1778 nach stadt/Nagyba´nya), Sighetu Marmat¸iei (Sighet/ Oberwischau. Leopold Karl Römisch aus Gmun- Ma´rmarossziget; vgl. ung. sziget „Insel“) und den wurde zum Waldmeister des Oberwischauer Bors¸a (Pfefferfeld/Borsa) samt den Persönlichkei- Walddistriktes ernannt, der auch die ausgedehn- ten, die daraus hervorgegangen sind. Im Jahre ten Wälder des Wassertales umfasste. Im Jahre 2002 betrug die Gesamtbevölkerung 510.109 Ein- 1780 wurde Römisch versetzt und Rentmeister wohner, davon 82 Prozent Rumänen, 9 Prozent Franz Szmolinski Waldmeister von Oberwischau. Ungarn, 6,7 Prozent Ukrainer, 0,38 Prozent Deut- Es gab neben dem Rentmeister noch einen Finanz- sche, 1,9 Prozent andere. Im Jahre 1910 gab es beamten, den Materialschaffer (für Buchhaltung noch 60.000 Juden; der Nobelpreisträger Elie Wie- und Korrespondenz), einen Waldaufseher (um sel stammt aus Sighet. Waldschäden zu verhindern und die Waldarbeiter im Holzschlag zu überwachen), Haiducken (Ge- Der Autor skizziert die Geschichte des histo- richtsdiener und Sicherheitsorgane), Meister und rischen Marmatien, der Marmarosch, die 1918 Meistersknechte. Das Waldamt verfügte über ent- von Ungarn abgetrennt und zwischen Rumänien sprechende Geh- und Reitwege und Hütten als und der Ukraine aufgeteilt wurde. Die ältesten Unterkünfte für die Arbeiter im Holzschlag. Auch schriftlichen Quellen erwähnen das Gebiet erst- die Pflichten und Löhne der Waldarbeiter waren mals vor etwa 800 Jahren, wenngleich archäologi- genau festgelegt. Floßleute beförderten die sche Quellen bis in die Jungsteinzeit zurückrei- Stämme mittels Flößen auf der Theiß abwärts bis chen. Die Frühgeschichte umfasst das 12. und 13. Tokaj und Szolnok. Die Bevölkerung aus ober- Jahrhundert, und schon im 13. Jahrhundert sind österreichischen Ansiedlern in Oberwischau war an der Theiß deutsche Siedler ansässig. nicht stabil, denn die Lebensbedingungen waren Gertraude Schmitzberger bringt „Satzungen“ schwer und es gab viele Katastrophen, Epidemien für die oberösterreichischen Waldarbeiter in der Maramu- und Unfälle. Eine aufschlussreiche Zusammenfas- resch und Beiträge zur Organisation der Waldwirtschaft sung und eine Quellenangabe schließen den Bei- in der Marmarosch. Oberwischau und sein Waldamt im trag ab. letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Die Organisation Aufgrund der geschichtlichen Grundlagen der Waldwirtschaft im drittgrößten Komitat der konnte die kulturelle Situation und die Wechsel- österreichisch-ungarischen Monarchie geht aus wirkung zwischen den zusammenlebenden Natio- einem umfangreichen Archivmaterial im Wiener nalitäten erforscht und dargestellt werden. So un- Hofkammerarchiv, im Budapester Staatsarchiv tersuchte Georg Melika, der Nestor der karpaten- und aus einer „Chronologia Rei Cameralis Mar- deutschen Forschungen (siehe u. a. OÖ. Heimat- matica“ des Kameralbeamten Franz Reti (8 Bde.) blätter, Heft 1/2-2006), zusammen mit seiner im Nationalarchiv von Cluj-Napoca hervor, das Schülerin Olga Hvozdyak, Leiterin des Germanis- die Autorin erforscht und ausgewertet hat. Die tiklehrstuhls der Universität Uzˇhorod, die Interkul- Satzungen beginnen mit einer allgemeinen Einlei- turelle Wechselwirkung im multiethnischen Transkarpa- tung und behandeln in den einzelnen Artikeln tien. Am Anfang steht eine Betrachtung über den

218 Verbreitungsweg kultureller Einflüsse durch inter- Die vielseitigen Ansatzpunkte der Arbeit und linguale Kontakte in multiethnischen Regionen, die Verknüpfung von historischen, sozialen und vor allem durch Sprachkontakte auf Arbeitsstel- kontaktlinguistischen Aspekten sind bemerkens- len, bei Kinderspielen und in ethnisch und konfes- wert. Ein Exkurs bietet eine kurze geschichtliche sionell gemischten Ehen. Interkultureller Aus- Entwicklung Siebenbürgens und der Maramu- tausch findet hier im alltäglichen Haushalt, bei resch sowie einen Abriss über Entwicklung und Hausarbeiten, in den Bereichen Kochkunst, Klei- Bedeutung des Bergbaus in dieser Region. dung und bei familiären Festen statt. Eine Unter- Ein ähnliches Forschungsthema behandeln suchung der ethnischen Mischung im Stadtteil Kurt Druckenthaner und Anton-Joseph Ilk in der Pudhorod von Munkatsch und im nahegelegenen wissenschaftlich fundierten Untersuchung: Åchter- Dorf Kutschawa ergab, dass von 286 untersuchten holz, Kulı´bn und Habo´u. Die Fachsprache der Holzarbei- Familien 83 gemischt waren (von 56 deutschen Fa- ter im Wassertal. Wenngleich das Forstwesen der milien waren es 11), wobei der ruthenische Ein- wichtigste Arbeitsbereich im Wassertal war, ist die fluss am nachhaltigsten ist. Slowaken und Deut- Forstterminologie der Oberwischauer Zipser bis- sche sind in Sprachinseln über das ganze Gebiet her kaum untersucht worden. Der Fluss Wasser Transkarpatiens verstreut. Das entlehnte Wortgut kommt aus den Ostkarpaten durch das Wassertal in den transkarpatischen Idiomen breitet sich aus, und mündet bei Oberwischau in die Wischau, ei- ist jedoch nicht gleichmäßig verteilt. nen Nebenfluss der oberen Theiß. Die Vielfalt der analysierten Beispiele ist be- Die Autoren gehen von ihren Vorarbeiten eindruckend. Das Fehlen einer Auflistung der aus, die sie durch Interviews in Oberwischau, in zahlreichen Abkürzungen erschwert aber das Ver- der Slowakei und Deutschland ergänzten. Ausge- ständnis des Textes. hend vom historischen Zusammenhang werden Ivan Colos untersucht Hybridbildungen und die untersuchten forstwirtschaftlichen Termini aus vollsubstituierte Transfers in den bairischen Mundarten Oberwischau mit ihren Entsprechungen im Salz- des Theresientals. Die recht theoretische Arbeit be- kammergut und in Deutsch Mokra verglichen. handelt die Möglichkeiten der ganzen oder teil- Der Aufbau des wissenschaftlich kompakten Auf- weisen Entlehnung von lexikalischen Elementen, satzes wird durch leserfreundliche Gliederung in Anlehnung an Weinreich, Haugen und Harlass/ und erläuternde Illustrationen geprägt, wobei die Vater. akribisch erläuterten Fachtermini jeweils um einen Rodica-Cristina T¸urcanu bietet eine hervorra- Überbegriff angeordnet werden. Solche Leitter- gende Untersuchung: Zu den bairisch-österreichischen mini sind etwa: Kulı´bn „Waldarbeiterunterkunft im Überlieferungen auf Grund von Sprach- und Kulturkon- Holzschlag“, Keimann „Hüttenbesorger“, Kaskat- takten, Arbeitsbeziehungen und Technologietransfers in ärzähler „Geschichtenerzähler“, Wåsserriesn „höl- Baia Mare und Umgebung. Es geht hier um Sprach- zerne, halbröhrenförmige Kanäle zum Schwem- kontakte in der Umgebung von Baia Mare, insbe- men der Baumstämme“, Streifn „Holzziehen mit sondere um deutsche Entlehnungen in den unga- dem Pferd“, Kaschı´tzn „Uferverbauung aus Rund- rischen und rumänischen Dialekten der Region. stämmen“. Heute gibt es lediglich noch 0,4 Prozent deutsche Muttersprachler in der Gegend, also stammen die Bedingt durch die Nationalität der Waldar- deutschen Entlehnungen aus der Vergangenheit. beiter im Wassertal enthält das erstellte „Forstlexi- Baia Mare war im Habsburgerreich eine privile- kon“ (mit 275 Artikeln) eine Mischung von ca. 65 gierte Stadt und ein führendes Zentrum der Berg- Prozent bairisch-deutschen, 20 Prozent zipserisch- bauindustrie. Hierher kamen westliche Technolo- slowakischen, 20 Prozent rumänischen, 2 Prozent gie, spezifisches Fachwissen und – jahrhunderte- ungarischen Einträgen, während ca. 5 Prozent aus lang – auch fremde Arbeitskräfte. Baia Mare weiteren Sprachen stammen. Für die Schreibung wurde so zum Schmelztiegel mitteleuropäischer wurde das bewährte, einfache Transkriptionssys- Sprachen und Kulturen. Im Rahmen der Arbeits- tem für das Wischaudeutsche von Johann Traxler beziehungen entstanden konfliktfreie Sprach- verwendet. Die grammatischen Angaben sind und Kulturkontakte. Auch nach der Wende von korrekt, und die etymologische Herkunft aus den 1989 stammen die Geschäftspartner und ausländi- verschiedenen Sprachen der Region wurde zufrie- schenGesellschafteninBaiaMareundUmge- denstellend ermittelt. bung mehrheitlich aus dem deutschsprachigen Natalia Holovcˇak analysiert in ihrem Beitrag Raum. Die deutschen Familiennamen in Transkarpatien. Durch

219 die Auswertung von Archivalien, Übersiedler- Geige und Harmonika noch gelegentlich erklingt. listen, kirchlichen Registerbüchern und standes- Auf sechs kleingedruckten Seiten werden die in amtlichen Dokumenten aus der Zeitspanne 1730 Deutsch-Mokra und Umgebung aufgezeichneten bis 2000 konnte die Autorin 1930 Familiennamen Lieder aufgeführt. Neuerkenntnisse könnten auch von Deutschen ermitteln. Davon haben 1520 ein bei künftigen Feldforschungen durch Zufalls- deutsches Etymon, 410 sind fremdsprachliche Fa- funde gewonnen werden. miliennamen. Der Beitrag gibt einen Überblick Der herausragende Kenner der Wassertaler über sprachgeografische Eigenheiten, schriftliche Lebens- und Arbeitswelt und der Oberwischauer Variabilität, Semantik und strukturelle Bildungs- kulturellen Überlieferungen, Anton-Joseph Ilk, typen der in Transkarpatien belegten Familienna- stellt in drei zusammenfassenden Beiträgen men. mündliches Volksgut seiner Landsleute vor, das Einige Beiträge der Bereiche Lied- und Er- bereits in früheren Publikationen erschienen ist. zählforschung sind der überlieferten mündlichen 1. Wirklichkeit im Banne der Phantastik. Realität Volkskultur in den Waldkarpaten gewidmet. So und Phantasie im Alltag der Zipser aus dem Wassertal. schreibt Klaus Petermayr einen Aufsatz Zur Musik Hier werden die drei Erzählformen der Zipser im der Altsalzkammergütler im Teresvatal (Ukraine). Aus- Wassertal präsentiert. Erstens Mära, märchenhafte gehend von der musikalischen Situation im inne- Erzählungen, Wunder- und Zaubergeschichten ren Salzkammergut um 1770, wo es weltliche, vor mit fiktionalem Inhalt. Zweitens Kaska, sagenhafte allem Tanzmusik, und geistliche Musik, Lieder Erzählungen, in denen unter Einschmelzung ru- der Gesangsbücher und figurale Kirchenmusik mänischer, ungarischer und slawischer Motive gab, sind seit den 1920er-Jahren mehrere Ansätze phantastische Wesen – Dämonen, Drachen, Rie- zur Erforschung der deutschen Musik in Trans- sen, Wåldweibln und Wåldmandln, Werwölfe, He- karpatien festzustellen. Dabei standen die Mokra- xen und Feen – in Erlebnissen des Erzählers darge- ner Lieder und die Ortschaften im Teresvatal im stellt werden. Dabei werden auch soziale Zusam- Vordergrund. Aus dem Salzkammergut wurden – menhänge gezeigt und Kritik an der harten sozia- nach Johannes Künzig und Franz Zepezauer – vor len Wirklichkeit geübt. Drittens Gschichtn, d. h. allem geistliche Brauchtumslieder (Weihnachts- schwankähnliche, humorvoll-kritische kurze Er- und Neujahrslieder) sowie der Landler als Tanz- zählungen, die keinen Anspruch auf Glaubwür- musik mitgenommen. Ebenfalls Jodler, Almrufe digkeit erheben. Als Beispiel wird der Text „Lieb und Gstanzln. Für das Standardlied der There- åber [oder] Ordnung“ gebracht. Der ehemalige sientaler Wenn der Schnee von der Olma wegga geht Holzfäller und Volkserzähler aus dem Wassertal muss eine Entstehungszeit nach 1820 angenom- Alexander Brandis lebt noch immer in der mythi- men werden. Es gehört zum Repertoire, das sich schen Welt der Waldarbeiter, die aber nach der seit der Siedlungsgründung bis um 1900 ange- Aussiedlung fast aller der früheren ca. 6000 Wi- häuft hat und das möglicherweise auch Eigen- schaudeutschen allmählich erlischt. schöpfungen der Mokraner enthält. 2. Die drei Faschingsmänner. Zipser Brauchtum aus Da das Jodeln zu allen Alm- und Gebirgsbe- Oberwischau in mündlicher Überlieferung. Das Brauch- wohnern gehört und nicht auf Flugblättern aufge- tum der Zipser im Wassertal stammt aus der ober- zeichnet wurde, nimmt Petermayr an, dass die in österreichischen Urheimat und wurde unver- Deutsch-Mokra überlieferten Formen aus dem fälscht bewahrt. Die „Trei Faschingsmänner“, auch Salzkammergut mitgebracht wurden. Das musi- Patron- oder Schutzmänner genannt, nämlich Tär kalische Repertoire im Teresvatal erhielt erst im Fåschingssunntåg, Fåschingsmontåg und Fåschings- 20. Jahrhundert Zuwachs durch Flugblätter, Jahr- dienståg, sind Personifizierungen der drei Fa- märkte und auswärtige Tätigkeiten der Bewohner. schingstage, deren Auftrag es ist, die schwerstar- Erst ab den 1920er-Jahren kamen durch die Wan- beitenden Holzfäller zur Ruhe und Entspannung dervogel- und Jugendbewegung deutsche Volks- zu zwingen. Missachtung der Ruhetage sollte be- lieder nach Deutsch-Mokra und Königsfeld; da- straft werden, doch meistens genügte schon eine durch wurde das alpenländische Liedgut ver- Verwarnung der Schuldigen durch die „Patron- drängt. Nach der Aussiedlung assimilierten sich männer“. Diese wachten auch im Holzschlag und die wenigen Verbliebenen mit Ungarn, Russen in der Siedlung über ihre Schutzbefohlenen, wie und Ukrainern. Liederhefte erinnern an das Stern- an einem Beispiel gezeigt wird. singen und andere musikalische Traditionen. Ein Das Faschingsbrauchtum der Wischauer Relikt ist der Kiramarsch, der bei Hochzeiten mit Zipser wird in mehreren Abschnitten dargestellt:

220 Faschingsgebäck (Krapfen), Zåmlegn (geselliger Fa- men in Transkarpatien und der Maramuresch. Je- schingsabend von Verwandten, Nachbarn und der Beitrag bringt seine – zum Großteil sehr um- Freunden), Matschka´raner (Kostümierte, die sich zu fangreiche – Literaturliste, wobei die allgemeine Faschingsgesellschaften einstellten), Versprechung Bibliografie des Bandes (S. 357–479) eine Zwi- (Verlobung) und Purim (Karnevalsfeier der Juden, schenbilanz der bisherigen Arbeiten zur Ge- zur Erinnerung an die Befreiung aus persischer schichte, Kultur und Sprache der bairisch-öster- Unterdrückung, wobei jüdische Geschäftsleute reichischen Sprachinseln im nordöstlichen Karpa- auch deutsche Kunden und Nachbarn beschenk- tenbogen bietet und auch Anregung zu weiterer ten). Dazu der Spruch: Heit is Purim, / Moring is Beschäftigung mit dem Vielvölkerraum an der aus. / Kibt’s mir a Kräpl / Und stoßt’s mich hinaus. Die oberen Theiß und darin besonders der Rolle der Anmerkungen zu diesem Abschnitt enthalten um- Deutschen geben soll. fangreiche Ausführungen über die Geschichte des Ein Vorwort hätte angesprochen, dass dem Wassertals, der Marmarosch und Oberwischaus. Band eine wissenschaftliche Tagung vorausging, 3. Ti plindi Wirtstochter. Herbergsspiel nach einer bei der freilich nur eine kleine Anzahl von Refera- alten Oberwischauer Volkserzählung. Anton-Joseph Ilk ten mit außerdem beschränktem Umfang vorge- hat dieses Krippenspiel zusammen mit Ehren- tragen werden kann. Diese Referate wurden ver- traud Mittermair nach einer überlieferten Volkser- mutlich erweitert und mit Einbezug aller weiterhin zählung bearbeitet. Die von Johann Traxler in No- verfügbaren fachbezogenen Arbeiten zu einer ten gesetzten Schlusslieder „Gloria in excelsis möglichst enzyklopädischen Darstellung der er- Deo“ und „Grünet Felder, grünet Wiesen“ waren forschten Region in einem Band gestaltet. Wenn von den Einwanderern aus dem Salzkammergut in dem vergleichbaren Doppelband von 2002 mitgebracht worden und in Oberwischau sehr be- über die siebenbürgischen Landler die wissen- liebt. Die plindi Wirtstochter wurde bei den Weih- schaftlichen Abhandlungen einer Anzahl von Lai- nachtsfeiern 2005 in Ingolstadt und Singen im wi- en-Erinnerungsbeiträgen gegenüberstehen, sind schaudeutschen Dialekt aufgeführt, ein schönes die Autoren der vorliegenden Beiträge ausnahms- Beispiel für Brauchtumspflege bei Aussiedlern los Forscher, die ihr Thema, auf verschiedene Art, aus Osteuropa. Auch die jährliche Begegnung der methodisch behandeln und auch inhaltlich zu un- Oberwischauer Heimatortsgemeinschaft in terschiedlicher Konsistenz und Aussagekraft ge- Deutschland und der von Johann Traxler und An- langen. Ein Ordnungsprinzip für die 24 zum Teil ton-Joseph Ilk jährlich zweimal herausgebrachte recht umfangreichen Beiträge ist nicht erkennbar. „Wassertaler Heimatbote“ (eine Schrift im Format Dennoch wäre eine thematische Gliederung der A5 für die Mitglieder der HOG Oberwischau) tra- historischen, linguistischen und ethnologischen gen zum Zusammenhalt der früheren Gemein- Beiträge über den ukrainischen und rumänischen schaft und zur Weiterführung ihrer kulturellen Teil der Waldkarpaten, vor allem für Leser ohne Traditionen bei. Vorkenntnisse, sicher hilfreich, doch nicht unbe- dingt erforderlich gewesen. Das Fehlen eines Au- torenverzeichnisses mit Kurzbiografien verhin- 3. Gesamtgestaltung des Bandes dert eine bessere Zuordnung der Beiträge zu den Nach der Kurzbesprechung aller Beiträge Voraussetzungen der Verfasser. Das sollte gele- dieses historischen Bandes muss die erfolgreiche gentlich nachgeholt werden. Die beigelegte CD Kooperation zwischen der Redaktion (Stephan mit Texten und Originalstimmen von 18 Inter- Gaisbauer, Hermann Scheuringer, Lisa Kollmer viewpartnern ergänzt das vorgelegte Material und und Gertraude Schmitzberger) und den zahlrei- bietet eine Gelegenheit zur Weiterführung der chen Autoren aus Österreich, Deutschland, der fachbezogenen Untersuchungen. Ukraine sowie Rumänien hervorgehoben werden. Die komplexe redaktionelle Arbeit wurde erfolg- Fazit: Den Autoren und der Redaktion ist es reich gemeistert. Zahlreiche Kunstfotos des Ober- gelungen, einen fast enzyklopädischen, inhaltlich österreichers Hans Kumpfmüller lockern den Text schwergewichtigen und dennoch ansprechenden, auf und tragen zum besseren Verständnis der – überschaubaren Sammelband über Sprache, Ge- nicht alltäglichen – Materie bei. schichte, Volkskunde und Musik der multiethni- Hervorzuheben sind die historischen und ak- schen Region oberes Theißbecken und besonders tuellen Karten, die Dokumentationsfotos und die der deutschen Bevölkerungsgruppe dieses Gebie- Konkordanzlisten der mehrsprachigen Ortsna- tes vorzulegen, der den wissenschaftlichen Stan-

221 dards entspricht, als Nachschlagewerk unersetz- Ausführlichkeit durchdokumentiert. Die einzel- bar ist und sicher als Grundlage für weiterfüh- nen Beiträge geben Einblick in das Werden der je- rende Forschungen in diesem Bereich dienen weiligen Institutionen, widmen sich mit protokol- wird. larischer Genauigkeit dem Anstaltsalltag, den Rezensionsaufsatz von Hermann Scheuringer Aufnahmekriterien, erzieherischen Leitprinzipien sowie deren konkreter Umsetzung v. a. durch Ar- beit und Beschäftigung als anerkannte Grundlage Museum Lauriacum – Textband zur Schausamm- individueller Läuterung. lung „Römerzeit“, Hrsg.: Mag. Dr. Gerhard Bisher unveröffentlichte archivalische und li- Winkler. Pressebüro & Verlag Korosa, Enns/Salzburger terarische Quellentexte sowie eine Reihe von Ab- Druckerei, EUR 15,–. ISBN 3-901025-66-X bildungen finden sich ergänzend im Anhang der Der Katalog zur römerzeitlichen Schau- mit Statistik bestens ausgestatteten Publikation, sammlung im Ennser Museum Lauriacum („For- die auch den allmählichen, zeitweilig durch Rück- schungen in Lauriacum“, Bd. 12, 2 = Sonder- schläge unterbrochenen Wandel des staatlichen band I/2) wurde Anfang dieses Jahres auf Initia- Strafvollzugsbegriffs hin zu „umfassender Reso- tive sowie mit finanzieller Unterstützung der zialisierung und Reintegration“ in heutigem, mo- Oberösterreichischen Landeskulturdirektion um dernem Sinne sehr gut sichtbar macht. den bis dahin ausständigen ersten Band (Sonder- C. G. band I/1) ergänzt und damit in willkommener Weise komplettiert. Acht zusammenfassende Arbeiten erstrangi- Renate Grasberger: Bruckner-Bibliographie II ger Fachleute zu Themen rund um die Geschichte (1975–1999) und Nachträge zu Band I (bis 1974) und Kultur Lauriacums vereinigend, beleuchtet (Anton Bruckner Dokumente und Studien, Band 12). der Textband, dessen Zustandekommen sich dem Wien: Musikwissenschaftlicher Verlag, 2002. 249 Seiten. herausgeberischen und redaktionellen Engage- ISBN 3-900270-61-9 ment des Präsidenten der Gesellschaft für Landes- Renate Grasberger: Bruckner-Ikonographie, kunde von Oberösterreich, Gerhard Winkler, ent- Teil 2: 1925 bis 1946. Nachträge zu Teil 1: Um scheidend mitverdankt, auf 132 Seiten Hoch- 1854 bis 1924 (Anton Bruckner Dokumente und Stu- glanzpapier unter anderem den „Ostalpenraum dien, Band 14). Wien: Musikwissenschaftlicher Verlag, als Teil des Römischen Reiches“, den Donaulimes, 2004. 243 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und „Lauriacum und die Legio II Italica“, die zivilen Faksimile. ISBN 3-900270-67-8 Siedlungsräume, das Stadtrecht sowie Münz- oder Tierknochenfunde in Lauriacum. Renate Grasberger hat sich im Rahmen ihrer Per se zusätzliche Akzente zur Bedeutung des Mitarbeit im ABIL auch der zeitaufwändigen Ennser Römermuseums einbringend, ist der Grundlagenforschung rund um Anton Bruckner – neueste Baustein innerhalb des bereits seit Länge- mittlerweile schon einige Jahrzehnte – gewidmet. rem vorliegenden Katalogwerks wissenschaftlich Alle ihre Publikationen tragen die Kennzeichen ih- Interessierten unbedingt ans Herz zu legen. rer peniblen Gründlichkeit, ihres großen Weit- C. G. blicks und wissenschaftlicher Zuverlässigkeit. Schon im 1985 publizierten ersten Band zur Bruckner-Bibliographie (vgl. OÖ. Hbl. 44/1990, Gerhard Ammerer / Alfred Stefan Weiß (Hrsg.): S. 72–74) hat die Autorin die bis 1974 erschienene Strafe, Disziplin und Besserung. Österreichische Bruckner-Literatur gesichtet und erschlossen. Da- Zucht- und Arbeitshäuser 1750 bis 1850. Peter Lang mit hat sie vielen Wissenschaftern ein unerläss- GmbH, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frank- liches Hilfsmittel an die Hand gegeben. Diesem furt am Main 2006. 288 Seiten. ISBN 3-631-54136-8 stellt sie in bewährter Weise nun einen weiteren Strafvollzugs- und Disziplinierungsmecha- Band an die Seite, der die Publikationen zwischen nismen der österreichischen Justiz vom Zeitalter dem 150. und 175. Geburtstag Bruckners erfasst. Maria Theresias bis zum Ende des Biedermeier In diesen Zeitraum fällt auch das Jahr 1996 mit werden hier am Beispiel der großen Zucht- und dem 100. Todestag Bruckners, aus dessen Anlass Arbeitshäuser in Wien, Innsbruck, Graz, Klagen- zahlreiche Konzertveranstaltungen, Tonträgerauf- furt, Salzburg und Linz mit wissenschaftlicher nahmen und wissenschaftliche Aktivitäten die Li-

222 teratur beachtlich bereichert haben. Durch tref- und ergänzende Bezüge zu Bildern im ersten fende und kenntnisreiche Auswahl aus der un- Band geboten. Der „Anhang“ bietet mit einem überschaubaren Anzahl von Publikationen, die Verzeichnis der Künstler, einer Chronologie der auch im Fall der Bruckner-Literatur teilweise weit Abbildungen, Literaturangaben und einem um- verstreut und schwer auffindbar und zugänglich fassenden Register (Personen, Orte und Institutio- sind, hat sie den Mittelweg zwischen optimaler, nen, Werke Bruckners) eine vorzügliche Erschlie- aber nicht erreichbarer Vollständigkeit und ßung des gesamten Inhaltes. Erfreulich, dass ein (un-)bedeutenden Kleinstpublikationen wie Zei- dritter Band in Aussicht gestellt ist. tungsartikel oder Konzerteinführungen beschrit- Karl Mitterschiffthaler ten. Letztere wurden nur dann aufgenommen, wenn sie Grundsätzliches zu Leben und Werk Ernst Hilmar / Margret Jestremski (Hrsg.): Bruckners bringen. Dankenswerter Weise hat R. Schubert-Enzyklopädie. Mit einem Geleitwort Grasberger auch Publikationen aufgenommen, von Alfred Brendel (Veröffentlichungen des Internatio- deren Titel keinen expliziten Bezug zu Bruckner nalen Franz-Schubert-Instituts, Bd. 14). [2.] Überarbei- oder dessen Umfeld aufweisen, Querbezüge je- tete und wesentlich erweiterte Ausgabe. Tutzing, Hans doch in erwähnenswertem Ausmaß enthalten; Schneider, 2004. 2 Bände, 953 Seiten mit Abbildungen, diese gelten als Neuentdeckungen innerhalb der Faksimile und Notenbeispielen. ISBN 3-7952-1155-7 Bruckner-Literatur. Hier werden auch die Schwie- Mit dem im Jubiläumsjahr 1997 (200. Ge- rigkeiten einer solchen Sammeltätigkeit bewusst, burtstag Schuberts) publizierten Schubert-Lexi- die gerade bei A. Bruckner sehr weit ausholen kon haben die Herausgeber ein schon lange beste- muss, jedoch bei systematischem Suchen sehr oft hendes Desiderat erfüllt; noch im selben Jahr war leer ausgeht; das zeigt der immerhin 60 Seiten eine zweite unveränderte Auflage nötig. Da auch umfassende Nachtrag zum 1. Band (bis 1975). In diese bald vergriffen war und im Schubert-Jahr aller Bescheidenheit spricht die Autorin die Dan- 1997 zahlreiche Publikationen mit neuen Erkennt- kesworte an zahlreiche Helfende aus und ersucht nissen erschienen waren, entschloss man sich zu schließlich die Leser, allfällige Ergänzungen und einer überarbeiteten Fassung mit einem neuen Ti- Berichtigungen mitzuteilen. Ein breit gefächertes tel. Kurz vor der Auflösung des Internationalen Sach- und Schlagwortregister ermöglicht eine ge- Franz-Schubert-Instituts konnte die jetzt zweibän- zielte Suche. Um die Titel der Publikationen über dige „korrigierte und textlich wesentlich erwei- das Register rascher erreichen zu können, wäre terte Ausgabe“ als Schubert-Enzyklopädie er- das Durchnummerieren der Titel wünschenswert scheinen. Die Erweiterungen umfassen zusätzliche gewesen. 50 Stichwörter (nunmehr 850) und 424 in der Auch zum 2. Band der Bruckner-Ikonogra- Schubert-Literatur wenig oder kaum bekannte phie muss nicht mehr viel gesagt werden. Nach Abbildungen. dem ersten, die Abbildungen aus den Jahren Es erübrigt sich, die seinerzeit in einer Rezen- 1854–1924 umfassenden Band (vgl. OÖ. Hbl. sion (OÖ. Hbl. 51/1997, S. 293–295) genannten 45/1991, S. 102 f.) hat R. Grasberger einen zweiten, Vorzüge und Schwachstellen zu wiederholen. Mit der die Abbildungen der Jahre 1925–1946 (50. To- der Wahl des Begriffes „Enzyklopädie“ hat man destag Bruckners) umfasst, vorgelegt. Wer mit sich ein höheres Ziel gesteckt als tatsächlich er- akribischer Gründlichkeit das Anliegen verfolgt, reicht. Um diesem Begriff gerecht zu werden – En- Bruckner-Abbildungen möglichst lückenlos zu zyklopädie bezeichnet eine umfassende Darstel- präsentieren, entdeckt immer wieder Unbekann- lung des gesamten Wissensstoffes aller Diszipli- tes, sodass zum ersten Band einige Bilder nachge- nen – hätte man doch viele Artikel überarbeiten tragen werden können. Der zweite Band bringt und erweitern müssen. Der Blick auf einige mit 145 Reproduktionen unterschiedlichster Origi- Oberösterreich verbundene Personen und Institu- nale, wie Büsten, Reliefs, Medaillenprägungen, tionen zeigt jedoch, dass der Text der Artikel weit- Gemälde, Zeichnungen, Zeitungsdrucke, Fotos u. gehend unverändert übernommen wurde. Ledig- dgl. Dazu zählen auch einige nicht erhaltene Bil- lich die Literaturangaben wurden ergänzt – aller- der, die jedoch in der Literatur erwähnt sind. Der dings in einer unzureichenden Art. Die von Rita Textteil bringt einen aufschlussreichen Kommen- Steblin verfasste Studie „Unknown Documents tar zu den Abbildungen. Neben den üblichen An- about Kremsmünster Students in the Schubert gaben werden unter den Anmerkungen Nach- Circle“ (in: Schubert-Perspektiven. Wiesbaden weise zur Entstehung der jeweiligen Abbildung 2002, 2. Heft, S. 57–116) ist lediglich beim Artikel

223 „Kremsmünster“ angeführt, nicht jedoch unter bildungen aus zeitgenössischen Drucken vermit- den Personen, über die Steblin umfangreiches teln einen guten Einblick in das Leben dieser Zeit. neues biografisches Material erschlossen hat. Die- Bedenkt man die Intention des Autors, der ses blieb leider auch in den entsprechenden Perso- dieses Buch als Begleiter durch die Ausstellung nenartikeln unberücksichtigt. gedacht hat, vermisst der Ausstellungsbesucher Die 424 eingefügten Abbildungen, die in der eine übersichtliche Beschreibung der interessan- Schubert-Literatur nicht bekannt sind, bedeuten ten Exponate. Leider verliert die sonst lobens- trotz ihres kleinen Formats einen Gewinn. Das werte Gründlichkeit manchmal das eigentliche Namenregister und das Werkregister ermöglichen Thema etwas aus dem Blick. So manche Wieder- den Zugang zu weiteren Informationen, die nicht holung, relativ ausführliche Behandlung neben- durchStichwortezufindensind.DasNamenre- sächlicher Details (z. B. Ahnen, Kalenderreform gister erfasst Personen, Institutionen und einige (!) auf S. 51 und S. 72 ff.) und inhaltliche „Sprünge“ Orte. Steyr z. B. fehlt, obwohl mehrere Personen vermitteln den Eindruck einer nicht klaren Struk- aus Steyr angeführt werden. Institutionen nicht tur, was letztlich dem Leser Probleme bereitet. unter den Ortsnamen zu finden ist ungewohnt Hier ist man aufgefordert, sich selbst Abschnitte und unübersichtlich. Zudem hätte die Trennung wie Biographie (Kindheit, kulturelles Umfeld, des umfangreichen (44 Seiten) Namenregisters in Ausbildung, künstlerischer Werdegang), literari- Personen- und Ortsregister ebenfalls der Über- sches und musikalisches Schaffen (Musik in Beers sichtlichkeit gedient. Leider hat man die Chance, literarischen Werken) und Beschreibung der Ex- die Schwachstellen einer Erstausgabe wettzuma- ponate herauszusuchen. Zu den vielen Abbildun- chen, nicht ausreichend wahrgenommen. gen würde man sich manchmal ausführlichere Karl Mitterschiffthaler und klarere Kommentare wünschen. Die erzäh- lende Ichform zur Darstellung der eigenen For- schungsarbeit klingt in einem wissenschaftlichen Helmut Pachler: Johann Beer 1655–1700. Ein Ba- Buch ziemlich ungewohnt. Alles das mindert den rock-Musiker aus dem Attergau. Sonderdruck der Wert des Buches nur wenig; wer Orientierung „Mitteilungen des Heimatvereins Attergau“, Attergau- über Johann Beer sucht, der darf diese 180 Seiten Zeitreise. St. Georgen i. A., Helmut Pachler, 2005. 180 nicht übergehen. Karl Mitterschiffthaler Seiten mit zahlreichen Abbildungen und Faksimile. Aus Anlass des 350. Geburtstages des Hof- musikers, Schriftstellers, Musiktheoretikers und Komponisten Johann Beer hat der Heimatverein Ingrid Lenzenweger: Schörfling. Eine musikali- Attergau im Jahr 2005 seinem genius loci eine sche Dorfkultur. Mit Beiträgen von Wolfgang Ausstellung „Johann Beer 1655–1700. Die Music Stöckl und Klaus Petermayr. Oberösterreichische studiren / was ist sinnreicher?“ in St. Georgen gewid- Schriften zur Volksmusik, Band 3. Hgg. v. Oberösterrei- met. Sie wurde vom Autor dieses Buches, einem chischen Volksliedwerk durch Klaus Petermayr. Linz, Germanisten, konzipiert und gestaltet. Das hand- Oberösterreichisches Volksliedwerk, 2005. 136 Seiten mit liche Büchlein ist als Begleiter durch die Ausstel- zahlreichen Fotografien, Faksimile und Notenbeispielen. lung gedacht, aber nicht als Ausstellungskatalog ISBN 3-9501624-3-7 in vertrauter Weise angelegt. Dem Autor war es Die ursprünglich als Diplomarbeit an der ein besonderes Anliegen, die vielfältigen Doku- Musikuniversität Wien entstandene Forschungs- mente den Bewohnern St. Georgens zugänglich arbeit liegt hier überarbeitet und erweitert vor. zu machen und verständlich zu präsentieren. Vielleicht hat gerade dieser Umstand die geografi- Als Vorzüge dieses handlichen Büchleins sche Eingrenzung verlangt, sodass das mit Schörf- wird man die Erfassung des gegenwärtigen Stan- ling nahezu zusammengewachsene Seewalchen des der Forschung, den Überblick über die wis- nicht stärker in die Untersuchung eingebunden senschaftliche Literatur und das derzeit gültige wurde. Sicherlich gäbe es hier manche Austausch- Werkverzeichnis (S. 113 ff.) schätzen. Im Vorder- beziehungen, Parallelen u. dgl. im Kulturleben grund steht das Bemühen des Autors, die Biogra- beider Orte ausfindig zu machen. Die Autorin hat phie Beers durch umfangreiche eigene Archiv- aber mehrmals auf bekannte analoge Erscheinun- und Quellenstudien mit vielen neuen Aspekten gen in Orten der Attersee-Region hingewiesen. möglichst umfassend darzustellen. Die zahlrei- Die Vielfalt des Musiklebens eines Dorfes ist chen Zitate aus Originaltexten und Faksimileab- in dessen Geschichte und Sozialstruktur veran-

224 kert; dazu stellt die Autorin immer wieder ent- rühmten Wallfahrtsort Vierzehnheiligen nördlich sprechende Bezüge her. Sie vergisst auch nicht von Bamberg in der Oberpfalz verehrt werden, den Blick in die adelige Musikpflege auf Schloss und zwar die Heiligen Achatius, Ägidius, Barbara, Kammer. Allerdings hat hier die äußerst dürftige Blasius, Christophorus, Cyrikcus, Dionysius, Er- Quellenlage das Bemühen um die Erforschung asmus, Eustachius, Georg, Katharina, Margareta, der Musikkultur früherer Zeiten nur in einem sehr Pantaleon, Vitus. Daneben gibt es aber auch ver- geringen Ausmaß unterstützt. So war über das schiedene andere Heilige, die in eine Vierzehner- adelige Musikleben in Renaissance und Barock Nothelferreihe aufgenommen wurden, so auch fast nichts in Erfahrung zu bringen. Erst aus dem unser hl. Florian. Dieser Tatsache wird von der 19. und 20. Jahrhundert sind Besuche und Auf- Autorin ebenso Rechnung getragen wie der Frage, tritte prominenter Künstler, etwa Franz Liszt oder warum es gerade vierzehn Nothelfer sind, die so Elisabeth Schwarzkopf, bekannt. verehrt werden. Hauptthema der Darstellung ist die musikali- Selbstverständlich erhielt die berühmte Wall- sche Dorfkultur, die Pflege der Volksmusik ab un- fahrtsstätte zu den Vierzehn, die sich im Erschei- gefähr 1940. Diese zeitliche Grenze ergab sich nungsbild als Kinder um den Jesusknaben scha- durch die Erinnerungen der noch erreichbaren ren, ein eigenes Kapitel, und zwar unter dem Titel Gewährsleute. Die Autorin hat sich in dankens- „Christologie: Auf die Mitte kommt es an“, womit werter Weise die Mühe gemacht, allen in Schörf- auch der theologische und nicht nur der religions- ling in diesen sechs Jahrzehnten musikalisch Täti- geschichtliche Hintergrund in den einzelnen Dar- gen – unanbhängig von der Dauer und Breiten- stellungskapiteln zum Ausdruck kommt. Das wirkung ihrer Aktivitäten – nachzugehen. Sie reichhaltige Brauchtum um die vierzehn Heiligen, stellt von den einzelnen Musikensembles deren hier mehr auf die einzelnen Personen bezogen, Entwicklung, Musiziergut, deren selbst initiierte ihre Bedeutung im Bruderschaftswesen, in der Auftritte und Mitwirkung bei verschiedenen An- Wallfahrt, ja im alltäglichen Leben wird ebenso lässen ausführlich dar. Musikkapelle, Liedertafel, umfangreich behandelt, wenngleich unter nicht Gesangsquartette, Kirchenchor, kleinere Forma- immer gleich erkennbaren Kapitelüberschriften. tionen für Unterhaltungsmusik, Einzelpersonen und Musiklehrer lässt sie samt den Bezügen zur Literarische Kostbarkeiten, Gebete, Lieder, Festkultur und zum Brauchtum Revue passieren. die allesamt einen, mehrere oder alle vierzehn Eng damit verbunden ist auch der Volkstanz, Nothelfer zum Inhalt haben, wurden desgleichen wozu Klaus Petermayr als Spezialist einen kleinen ausführlich gesammelt und getreulich wiederge- Beitrag beisteuert. Auf die sprachlichen Besonder- geben. Die vielen kunsthistorisch oft durchaus heiten der Region bzw. des Ortes geht ein Beitrag sehr bedeutenden Bildwerke, die eine Nothelfer- über den lokalen Dialekt von Wolfgang Stöckl gruppe zum Inhalt haben, werden vor allem in ein. durchwegs hervorragend aufgenommenen und Es wäre zu wünschen und zu hoffen, dass drucktechnisch einwandfrei reproduzierten Ab- diese Forschungsarbeit Anregung und Muster für bildungen dem Betrachter näher gebracht. Leider solche anderer Orte wird. Vielleicht hat dazu auch wurden so manche kleine Fehler in der ersten Auf- die Publikation in der Reihe des Oberösterreichi- lage, auf die u. a. vom Rezensenten hingewiesen schen Volksliedwerkes beigetragen. wurde (z. B. Obsaurs liegt im Oberinntal, nicht in Karl Mitterschiffthaler Südtirol; es heißt richtig Hrastovlje, Sarnthein), in der Neuauflage nicht berücksichtigt. Im Kapitel „Gruppendarstellung der Nothel- Rosel Termolen / P. Dominik Lutz: Nothelfer. Pa- fer“ wurden aufgrund der rund 20-jährigen Doku- trone in allen Lebenslagen. 2., erweiterte und völlig mentationsarbeit von P. Dominik Lutz die von neu gestaltete Auflage. Lindenberg i. A.: Kunstverlag Josef ihm eruierten fast 2500 Nothelferobjekte, und Fink, 2006. 216 Seiten mit vielen Farb- und Schwarz- zwar nur die Vierzehnergruppen, aufgelistet. Da- weißabbildungen, 21 x 29,7 cm, EUR 25,50. bei hat sich gegenüber der ersten Auflage einiges vermehrt, und auch die länderweise Einteilung Das großformatige, aufwändig gestaltete und wurde richtiggestellt. Aus dem zusätzlich gemel- reich illustrierte Buch beschäftigt sich, wie schon deten Gallspach wurde leider Gailspach, auch so das Titelbild zeigt, mit der Gruppe der „Vierzehn manch anderer mitgeteilte Fehler wurde in diesem Nothelfer“, wie sie besonders eindrucksvoll im be- Verzeichnis beibehalten. Aus 1765 Verehrungs-

225 stätten in der Bundesrepublik, die nach Postleit- Von solchen „Kleinigkeiten“ abgesehen, zahlen aufgelistet sind, und 700 außerhalb wur- bleibt ein durchaus positiver Eindruck, an dem den aus richtig 2465 in der ersten Auflage bei an- der schon erwähnte so reichhaltige und bestens geblich gleich gebliebener Anzahl 2472 in der wiedergegebene Bildteil großen Anteil hat sowie „verbesserten“; nachzählen darf man ohnehin die Vielfalt der behandelten Themen um die so nicht. Für Österreich sind (rund) 320 angeführt, weit verbreitete und viel verehrte Nothelfer- darunter auch gar nicht so wenige aus Oberöster- gruppe. reich. Dietmar Assmann

226 KULTUR

OÖ. HEIMATBLÄTTER 2006 HEFT 3/4 Beiträge zur Oö. Landeskunde I 60. Jahrgang I www.land-oberoesterreich.gv.at I 2006 HEFT 3/4 OÖ. HEIMATBLÄTTER HEIMATBLÄTTER OÖ.