Rudolf Böhlke, Joachim Spill, Gerd W. Stürz: Das Entfesselte Wirtschaftswunder. Ein Gedanken
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278 Bücher . Zeitschriften Rudolf Böhlke, Joachim Spill, Die Hoffnung von Böhlke, Spill und Stürz auf Gerd W. Stürz: Das entfesselte die wunderbare Erlösung von den Problemen des angeschlagenen Sozialstaats ruht auf drei Wirtschaftswunder. Ein Gedanken- Säulen – Wirtschaftswachstum, Privatisierung spiel zur Zukunft Deutschlands, und Politik als Management. Diese Säulen Gustav Kiepenheuer Verlag wiederum gründen alle auf einer gemeinsa- Leipzig 2003, 192 S., (17,90 €) men Basis: auf der erschreckend naiven und im Kern anti-demokratischen Idee der Verbe- triebswirtschaftlichung der Gesellschaft. Die Ausgerechnet das Land mit der günstigsten »Deutschland AG« wird so aus dem Sprich- Entwicklung der Lohnstückkosten unter allen wortschatz umstandslos in die Wirklichkeit G8-Nationen, der »Exportweltmeister« Deutsch- überführt und als alternativlose gesellschaftli- land, hat allergrößte Probleme mit seinen che Daseinsform für alle Ewigkeit verallge- Sozialsystemen. Das pfeifen die Spatzen in- meinert. Die Regierung – eigentlich der Auf- zwischen von allen Dächern. Ob im Bildungs- sichtsrat der »Deutschland AG« – besteht aus bereich, bei der Krankenversicherung oder Experten, die nicht Minister, sondern »Pro- beim Rentensystem – von der anhaltend hohen jektleiter« heißen und die alle vier Jahre ge- Massenarbeitslosigkeit gar nicht zu reden –, meinsam einen, von Wirtschaftsprüfern (vor- überall ist der Reformdruck gewaltig. Daß nun zugshalber von der Ernst & Young AG!?) ausgerechnet die Regierung die Reform-Taube testierten »Geschäftsbericht« vorlegen und in der Hand hielte, kann jedoch niemand ernst- diesen dann von der Aktionärsversammlung haft behaupten. Nie wurde dieses Land so (genannt: »Bürgerausschuß«; bestehend aus schlecht regiert wie heute – die Halbwertzeit »Fachleuten der Wirtschaft, des Finanzwe- der mit Berufung auf ein hilfloses Kommis- sens, der Hochschulen, der Kultur sowie der sionsgewese schließlich verkündeten ›Reform‹- sozialen Bereiche«; alle sind vertreten, Unter- Projekte ist so niedrig, daß ein einfacher Ta- nehmer, Juristen und natürlich Steuerberater, schenrechner genügt, um herauszufinden, daß nur der einfache Mitbürger offenbar nicht!? – die verheißene Wirkung (wenn sie überhaupt vgl. S. 11) diskutieren lassen. Am Ende folgt eintritt) noch vor dem Ende der gegenwärtigen die Neuwahl des Aufsichtsrats. ›And the win- Legislaturperiode verpufft sein wird. ner is?‹ – Natürlich die jedem politischen Um all dies noch ein weiteres Mal detailliert Theater abholde Partei der Freien Bürger mit zu beschreiben und eindringlich Veränderungen (nur noch) 68,84 Prozent der Stimmen anzumahnen, dazu bedurfte es des vorliegenden (2,7 Prozent weniger als vier Jahre zuvor! – Buches wahrlich nicht. Die Fakten sind hinläng- vgl. S. 183). Dies alles geschieht im Jahre lich bekannt. Es kommt jedoch darauf an, wie 2018. Grundlage für diesen wunderbaren ge- sie interpretiert werden. Und genau die Art und sellschaftlichen Wandel ist die »Rückbesin- Weise, wie das allgemein Bekannte gedeutet nung auf tradierte Tugenden und Werte« wird – nämlich in Form einer konservativen (S. 180), von Intellekt, Geschick und (Hand- Utopie –, macht den Reiz des »Gedankenspiels« werks)Fleiß und der konsequente Umbau des der drei Manager-Autoren von der Ernst & Sozialstaats zur »privatisierten Solidarge- Young AG aus. Das Rezept, das sie der geneig- meinschaft« (S. 18); jener »Glücksgesell- ten Öffentlichkeit zumuten, erweist sich aller- schaft« (S. 118 passim), in der der »notorische dings als ideologisch-bornierte Mixtur aus klein- Antikapitalismus der 68er-Generation« (der bürgerlichem Traditionalismus, anti-demokrati- am aktuellen deutschen »Niedergang« insbe- schem Marktfundamentalismus und naivem sondere Schuld ist) endlich durch eine ›allge- Wunderglauben – überhaupt scheint in den meine Besessenheit vom Kapitalismus‹ und Köpfen deutscher Bourgeois spätestens seit dem durch »gesunden Nationalgeist« (S. 120) er- Nachkriegs»wirtschaftswunder« und dem »Fuß- setzt und überwunden wurde. Alle sind wis- ballwunder« von Bern 1954 der Wunderglaube sensgesellschaftlich vernetzte und digitali- den Realitätssinn weitgehend verdrängt zu ha- sierte Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft, ben. Ohne »Wunder« geht offenbar gar nichts schämen sich wieder, der Solidargemeinschaft mehr. zur Last zu fallen, haben ihre Rentenan- Bücher . Zeitschriften 279 sprüche längst den internationalen Finanz- bare deutsche Natur und gehören abgebaut!) märkten überantwortet und freuen sich an noch den Sozialstaat; was er braucht ist Wirt- Sport und Spiel – sofern sie Zeit dafür haben, schaftswachstum (sieben Prozent pro Jahr denn mit der dekadenten Spaßgesellschaft war mindestens – egal wo es herkommt und wel- schon 2014 ein für alle Mal Schluß. che Folgen es zeitigt). Welch eine Utopie! – Wir wären endlich Und was ist mit dem Nichtwissensarbeiter, wieder wer; und zwar keine pazifistischen, mit dem, der nicht per Computer wählt, und anti-amerikanischen Weicheier in der »alter- was mit Menschen mit Behinderung? Wer nativen Kuschelecke«, sondern Vorreiter kapi- weiß? – Im Wunderbuch kommen sie jeden- talistischer Ideale und natürlich Exportwelt- falls nicht vor! Da diese Gruppen zusammen meister (Fußballweltmeister darf 2018 Polen eh nur um 60 Prozent der Bevölkerung aus- werden, aber nur wenn Deutschland ins End- machen, handelt es sich offensichtlich um eine spiel kommt, versteht sich!). zu vernachlässigende Größe, deren Einbezie- Die Basis dieser Utopie ist in der Vorstel- hung nur geeignet wäre, die schöne Utopie in lungswelt der Autoren längst vorhanden. Da eine häßliche Illusion zu verwandeln… wäre zum Beispiel das ›wunderbare‹ deutsche So einfältig die Vision der drei Wirtschafts- Schulsystem, das auf gar keinen Fall durch die prüfer von der »ewigen kapitalistischen ›sozialistische‹ Ganztags-Gesamt-Schule mo- Glücksgesellschaft« auch daherkommen mag, dernisiert werden darf. Statt dessen bedürfe eines macht sie mit allem Ernst deutlich: Nicht es wieder der Erziehung zu Zucht, Fleiß und nur im Kanzleramt und in linken Studier- Ordnung, um bei PISA an die Spitze zu kom- stuben wird über die Lösung der anstehenden men. Ferner könnten wir auf den bekannter- Probleme nachgedacht. Der Kampf um die maßen nicht nur dichtenden, sondern auch geistige Hegemonie bei der unausweichlich denkenden ›deutschen‹ Intellekt (auch »Lei- notwenigen Überwindung des Reformstaus stungsdenken« genannt!) zählen, der durch die hat längst mit aller Schärfe begonnen – und sozialen Entsicherung des einzelnen nur wie- alle politischen Lager sind gut beraten, die an- dererweckt werden mußt, statt in der Spaß- deren ›Wettbewerber‹ nicht zu unterschätzen. gesellschaft dem Spieltrieb zu erliegen. Und ARNDT HOPFMANN schließlich wäre da das individuelle Gewinn- und Geltungsstreben – wer möchte sich schließlich heute noch »Prolo« nennen lassen, Klaus Kinner (Hrsg.): wenn es endlich gilt, wieder ›wer‹ zu sein? Es lebe das (wieder erlaubte) »gesunde nationale Menetekel 17. Juni 1953, Selbst-Bewußt-Sein« (S. 180)! Rosa-Luxemburg-Stiftung Widersprüche bei der Herleitung ihrer Sachsen e. V. Leipzig 2003, »Glücksgesellschaft« stören die Autoren we- 333 S. (14 €) nig – der familiengebundene Selbstverwerter seiner Arbeitskraft muß natürlich räumlich und einkommensmäßig ›dynamisch‹ sowie Mit der nunmehr 4., der erst kürzlich publi- unbedingt ›flexibel‹ sein, er muß sein Geld zierten durchgesehenen und korrigierten 3. Auf- ausgeben, um die Konjunktur anzukurbeln lage, ist der zur Konferenz der Rosa-Luxem- und gleichzeitig möglichst viel auf seine kapi- burg-Stiftung Sachsen »Menetekel 17. Juni talsgedeckte Rente sparen und er braucht nur 1953« im Frühjahr vorgelegte »Reader« über ein borniertes, auf seine spätere Verwertung seine Vorläufer weit hinausgewachsen: Genau zugeschnittenes Crash-Kurs-Wissen, das aller- besehen liegt vor uns nicht mehr ein beglei- dings auf möglichst breiter akademischer Bil- tendes Lesematerial, sondern ein »ordentliches«, dung beruhen sollte. Was er aber auf jeden ein komplettes Buch, das einen wesentlichen Fall nicht braucht, ist ein ›Anspruchsdenken‹, Teil der Diskussion im linken Spektrum über was seine soziale Sicherung angeht. Der mo- das Gedenkereignis erschließt. Mit zwei Ein- derne Wissensarbeiter braucht weder eine le- schränkungen: Die Autoren bewegen sich in benswerte Umwelt (die Windgeneratoren, den Bahnen der – hier nützlicher- und begrü- zum Beispiel, verschandeln nur die wunder- ßenswerterweise abgedruckten – Erklärung 280 Bücher . Zeitschriften des Parteivorstandes der PDS zum 50. Jahres- risch-theoretischer Art sind Schütrumpfs tag des 17. Juni 1953 »Sozialismus entsteht in Überlegungen zur Rolle der Arbeiterklasse. Er und aus der Gesellschaft« und der der bei die- kommt zu dem Resultat, daß diese sich in den sem angesiedelten Historischen Kommission Juni-Tagen einen privilegierten Platz bis zum »Der 17. Juni – eine spontane Arbeitererhe- Untergang der DDR erkämpfte, indem sie der bung«. Und: Die politische Geschichte und SED die Macht überließ und sich selbst sozia- die literarische Reflexion stehen weiterhin im ler Sicherheit vergewisserte. Angelika Klein Blickfeld, so daß wirtschafts-, sozial- und stellt auf dichter archivalischer Basis die hart- ideologiegeschichtliche Aspekte peripher blei- näckige Arbeiterrevolte im Bezirk Halle dar, ben. Letzteres ist schlicht zu respektieren, da den Protest der Arbeiter gegen deren Verurtei- man praktisch schwerlich von Konferenzen lung als »faschistischer Putsch« einbegriffen. mit begrenztem Umfang eine komplette Dar- In nunmehr zwei Beiträgen