Traum Und Abgrund Das Leben Der Schauspielerin Carola Neher Von Marianne Thoms

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Traum Und Abgrund Das Leben Der Schauspielerin Carola Neher Von Marianne Thoms SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Traum und Abgrund Das Leben der Schauspielerin Carola Neher Von Marianne Thoms Carola Neher, eine Lieblingsschauspielerin Bert Brechts, flieht vor den Nazis nach Moskau, gerät in stalinistischen Terror und stirbt, nach fünf Jahren Lagerhaft, entkräftet an Typhus. Sendung: Freitag, 28. September 2012, 8.30 – 8.58 Uhr Wiederholung, Donnerstag, 02.08.2018 Redaktion: Udo Zindel Regie: Andrea Leclerque Produktion: SWR 2012 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. MANUSKRIPT Regie: Musikblende Klaviermusik Chopin, darüber sprechen: Carola: Man nehme eine beliebige schöne Frau und lasse sie über die Bühne gehen. Sie wird über ihre eigenen Beine und Gedanken stolpern. Sie ist aus ihrem Element gekommen, ein Fisch auf dem Land. Aber wir Schauspielerinnen sind erst auf der Bühne in unserem Element – wir stolpern nur im Leben. Ansager.: Traum und Abgrund – Das Leben der Schauspielerin Carola Neher, 1900 bis 1942. Eine Sendung von Marianne Thoms. Sprecherin: 1 Die gebürtige Münchnerin ist schön, intelligent und hochbegabt. Schon als Kind träumt sich Carola Neher in die Welt des Theaters. Niemand kann sie aufhalten – weder ihr herrschsüchtiger Vater, ein Musiker, noch die besorgte Mutter, eine Gastwirtin. Ihr Bruder Josef sagt über sie: Zitator: Die wäre in jedem Fall Schauspielerin geworden. Und wenn sie im nächsten Jahr daran gestorben wäre. Sprecherin: Mit hemmungslos vitaler Darstellungslust erobert Carola Neher ab ihrem 20. Lebensjahr Bühne für Bühne: Baden-Baden, Nürnberg, München, Breslau – immer zielstrebig mit dem Blick auf Berlin. Mit frechem Vergnügen nutzt sie auch ihre Anziehungskraft auf Männer. In der brodelnden Berliner Kunstszene der zwanziger Jahre kommt die Schauspielerin ihrem Bühnentraum so nahe wie nie zuvor. Vom Publikum bejubelt, von Kritikern in den Theaterhimmel gehoben, ahnt sie nichts von dem Abgrund des stalinistischen Terrors, in den sie wenige Jahre später stürzen wird. Regie: Ende der Musikblende Sprecherin: Carola Nehers Karriere beginnt 1920 am Kurtheater in Baden-Baden. Nach den Worten ihres Biografen Matthias Wegner geschieht das „mit einem eigenwillig inszenierten Sprung“. OT 01 Matthias Wegner: Ja, sehr schön, wenn man dabei gewesen wäre. Zum einen muss man, glaube ich, ihren Hintergrund betrachten. Sie kommt ja aus einem Musikhaushalt, hat also mit der Kunst Berührung, wird aber ganz anders ausgebildet, nämlich bei einer Bank. Und da muss ein Durst nach Befreiung, eine Gier nach einem anderen Leben aufgetreten sein, um dieser Büroeinfachheit zu entfliehen. Das ist das eine. Das andere ist, dass sie enorm auf Männer gewirkt hat und wo immer sie auftrat, sofort Entzücken hervorrief. Sie hat also diesen Sprung nach Baden-Baden gemacht in dem sicheren Instinkt, dass sie durch ihr Auftreten, durch ihren Charme schon dahin kommt, wo sie hin will. Und prompt haben die sie ja auch vom Fleck weg engagiert. Sprecherin: Da es in Baden-Baden aber immer nur bei kleinen Rollen bleibt, katapultiert Carola Neher ihren unbändigen Spieltrieb kurzerhand ins wirkliche Leben. Sie inszeniert sich für die Öffentlichkeit des eleganten Kurbads als femme fatale, kleidet sich raffiniert, zeigt freizügig ihre schönen Beine. Übermütig streut sie Gerüchte, die Freundin eines reichen Russen, ein andermal eines aufregenden Franzosen oder gar das Modell eines bekannten Malers zu sein. Offenherzig gesteht sie: Carola: Ich kam nach Baden-Baden in einem billigen Fähnchen. Wenig später wohnte ich schon im Grandhotel. Denn ich war ein junges Mädchen. Schamlos, völlig schamlos. 2 Sprecherin: Es ist, als nehme sie vorweg, was sie später unnachahmlich in Brechts Dreigroschenoper singen wird. OT 02: Ja, da kann man sich doch nicht nur hinlegen! / Ja, da muss man kalt und herzlos sein. / Ja, da könnte so viel geschehen / Ja da gibt’s überhaupt nur: Nein. Nein! Sprecherin: Nach zwei Bühnenjahren in Baden-Baden wagt die temperamentvolle Kleindarstellerin einen zweiten Karrieresprung. Sie will nach München, an die experimentierfreudigen Kammerspiele. Dort wird mit Frank Wedekinds Dramen die bürgerliche Moral angegriffen, dort werden politische Themen durch Regisseure wie Bertolt Brecht kritisch auf die Bühne gebracht. Carola Neher will nichts sehnlicher, als an diesem Theater eine gute Schauspielerin werden. Carola: Denn wenn ich ein Ziel sehe, dann will ich es auch erreichen! Sprecherin: Wild entschlossen schreibt sie der Theaterleitung: Carola: Ich komme nächste Woche zu Ihnen nach München und werde Ihnen so gut gefallen, dass Sie mich engagieren. Damit Sie wissen, wie ich aussehe, lege ich meine Fotos bei. Sprecherin: Die schwarzhaarige, glutäugige Bewerberin könne zwar singen und tanzen, aber nur mäßig schauspielern, findet der stellvertretende Direktor Rudolf Frank. Aber selbst er muss der Wagemutigen bald bescheinigen: Zitator: Carola ließ sich nicht aus der Fassung bringen, studierte unsere besten Schauspielerinnen und sah überrascht: Die sind, wie sie sind! Das kann ich auch! Brecht war entzückt, ihre Kaltschnäuzigkeit entsprach seiner Neigung und Theorie. Sprecherin: 1923 arbeitet Bertolt Brecht an den Kammerspielen als Dramaturg und Regisseur. In der jungen Carola Neher sieht er sofort die entwicklungsfähige schauspielerische Begabung, die er für seine Vision vom realistischen, epischen Theater braucht. Zwischen beiden entsteht eine Arbeits- und Liebesbeziehung, für die es nur wenig Belege gibt. Das bestätigt auch die Schriftstellerin Karin Wieland, die für ihre Biografie Carola-Nehers Archive durchforscht hat: OT 03 Karin Wieland: 3 Das einzige Dokument, das wir über diese Zeit haben, ist der Film, den sie gemeinsam gemacht haben, 1923, „Mysterien eines Friseursalons“. Und wenn man sich diesen Film anschaut, ja, da bekommt man etwas mit von der Spielfreude der Neher. Beide wollten etwas Neues, beide waren im Aufbruch begriffen. Die Wege der beiden trennten sich dann. Brecht geht 24 nach Berlin, und die Neher geht nach Breslau. Sprecherin: Doch vorher tritt sie noch einmal in den Münchner Kammerspielen in Frank Wedekinds „Büchse der Pandora“ auf. Im Parkett sitzt der Dichter Klabund, mit bürgerlichem Namen Alfred Henschke. Wie ein Blitz trifft den Mann die Liebe. Er schickt rote Rosen in Carola Nehers Garderobe, wirbt um sie und dichtet sehnsüchtig: Zitator: Ich komme von Dir, ich fahre zu Dir./ Ich spüre, dass ein Herz an meinem schlägt./ Hinter den Schläfen donnert der Niagara meiner Sehnsucht. Sprecherin: Für Carola ist es fürs erste nur ein reizvoller Flirt mit dem zehn Jahre älteren, empfindsamen Mann, der sich selbst als Schwärmer der Tat und Revolutionär der Seele bezeichnet. Er schreibt Gedichte und Romane. Berühmt sind seine Kabarett- Texte, mit denen er nationalistische Auswüchse geißelt und das kleine Glück und die reale Not der kleinen Leute beleuchtet. Klabund ist ein besessener Schreiber, getrieben von einem unstillbaren Erfolgs- und Lebenshunger. Denn seit seinem 16. Lebensjahr verzehrt ihn die damals unheilbare Krankheit Tuberkulose. Im schweizerischen Davos findet er immer wieder nur vorübergehende Erleichterung. Aber er hatte sich schon früh geschworen: Zitator: Der Teufel soll mich frikassieren, wenn die Krankheit je Einfluss auf mein wirkliches Leben gewinnen sollte. Sprecherin: Er hatte vor Carola schon viele Liebesbeziehungen, aber nun plagen ihn doch Zweifel, ob er die quicklebendige Schauspielerin trotz seiner Krankheit für sich gewinnen kann. Schließlich hat sie für eine Rolle auf der Bühne noch jeden Verehrer stehen lassen. Carola: Nicht nur in meiner Kunst bin ich tyrannisch, auch in der Liebe… Sprecherin: …sagt sie und lässt die heißen Münchner Sommernächte mit Klabund hinter sich. Zu verlockend ist das Engagement an dem als Sprungbrett gerühmten Breslauer Lobe- Theater. Bald spielt sie dort die Hauptrolle in George Bernhard Shaws „Cäsar und Cleopatra“: 4 Zitator: Ein Katzenkind, schmeichlerisch und raubtierhaft, mit heiterer Gier nach Glück und dunklem Rachetrieb – mit sprunghafter Anmut. Sprecherin: Kritiken dieser Art befeuern die Erfolgssüchtige. In Shaws „Heiliger Johanna“ darf sie dann endlich auch ihre erste wirkliche Charakterrolle spielen – mit großem Erfolg, im immer vollbesetzten Haus. Tagsüber probt sie, abends spielt sie, bis spät in die Nacht, sie ist in ihrem Element. Carola: Jedenfalls gibt es neben der Sache, die mich gerade beschäftigt, nichts anderes für mich, nichts, was mich privat zu beschäftigen vermöchte. Sprecherin: Aber zu Hause wartet Klabund. Der Dichter ist ihr nach Breslau gefolgt, obgleich das nasskalte Klima Gift für seine kranke Lunge ist. Er will mit der Frau, die inzwischen seine Liebe erwidert, leben. Er will Zeit mit ihr verbringen, will Gespräche, will die Wärme ihrer Sinnlichkeit spüren. Darauf wartet er, Nacht für Nacht. Der Schauspielerin gibt ihr Nachhause kommen zu dem Geliebten zwar Geborgenheit, aber sein ungeduldiges Warten setzt sie auch unter Druck. Eines Tages entlädt sie sich in der Klage: Carola: 50 mal „Johanna“ und immerzu Klabund. Das Maß ist voll! Sprecherin: Just in dieser Zeit erkrankt Carola lebensgefährlich an einer Blinddarmentzündung mit nachfolgender Blutvergiftung. Klabunds seelische Not und die Angst, die ihn nicht von der Seite seiner Geliebten weichen lässt, führen zu einem schweren Blutsturz. Als beide diese Krise überwunden haben, antworten sie mit einem Gruß an das Leben: Sie heiraten. Glücklich dichtet
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