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SWR2 Wissen Traum und Abgrund Das Leben der Schauspielerin Carola Neher Von Marianne Thoms

Carola Neher, eine Lieblingsschauspielerin Bert Brechts, flieht vor den Nazis nach Moskau, gerät in stalinistischen Terror und stirbt, nach fünf Jahren Lagerhaft, entkräftet an Typhus.

Sendung: Freitag, 28. September 2012, 8.30 – 8.58 Uhr Wiederholung, Donnerstag, 02.08.2018 Redaktion: Udo Zindel Regie: Andrea Leclerque Produktion: SWR 2012

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

MANUSKRIPT

Regie: Musikblende Klaviermusik Chopin, darüber sprechen:

Carola: Man nehme eine beliebige schöne Frau und lasse sie über die Bühne gehen. Sie wird über ihre eigenen Beine und Gedanken stolpern. Sie ist aus ihrem Element gekommen, ein Fisch auf dem Land. Aber wir Schauspielerinnen sind erst auf der Bühne in unserem Element – wir stolpern nur im Leben.

Ansager.: Traum und Abgrund – Das Leben der Schauspielerin Carola Neher, 1900 bis 1942. Eine Sendung von Marianne Thoms.

Sprecherin:

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Die gebürtige Münchnerin ist schön, intelligent und hochbegabt. Schon als Kind träumt sich Carola Neher in die Welt des Theaters. Niemand kann sie aufhalten – weder ihr herrschsüchtiger Vater, ein Musiker, noch die besorgte Mutter, eine Gastwirtin. Ihr Bruder Josef sagt über sie:

Zitator: Die wäre in jedem Fall Schauspielerin geworden. Und wenn sie im nächsten Jahr daran gestorben wäre.

Sprecherin: Mit hemmungslos vitaler Darstellungslust erobert Carola Neher ab ihrem 20. Lebensjahr Bühne für Bühne: Baden-Baden, Nürnberg, München, Breslau – immer zielstrebig mit dem Blick auf . Mit frechem Vergnügen nutzt sie auch ihre Anziehungskraft auf Männer. In der brodelnden Berliner Kunstszene der zwanziger Jahre kommt die Schauspielerin ihrem Bühnentraum so nahe wie nie zuvor. Vom Publikum bejubelt, von Kritikern in den Theaterhimmel gehoben, ahnt sie nichts von dem Abgrund des stalinistischen Terrors, in den sie wenige Jahre später stürzen wird.

Regie: Ende der Musikblende

Sprecherin: Carola Nehers Karriere beginnt 1920 am Kurtheater in Baden-Baden. Nach den Worten ihres Biografen Matthias Wegner geschieht das „mit einem eigenwillig inszenierten Sprung“.

OT 01 Matthias Wegner: Ja, sehr schön, wenn man dabei gewesen wäre. Zum einen muss man, glaube ich, ihren Hintergrund betrachten. Sie kommt ja aus einem Musikhaushalt, hat also mit der Kunst Berührung, wird aber ganz anders ausgebildet, nämlich bei einer Bank. Und da muss ein Durst nach Befreiung, eine Gier nach einem anderen Leben aufgetreten sein, um dieser Büroeinfachheit zu entfliehen. Das ist das eine. Das andere ist, dass sie enorm auf Männer gewirkt hat und wo immer sie auftrat, sofort Entzücken hervorrief. Sie hat also diesen Sprung nach Baden-Baden gemacht in dem sicheren Instinkt, dass sie durch ihr Auftreten, durch ihren Charme schon dahin kommt, wo sie hin will. Und prompt haben die sie ja auch vom Fleck weg engagiert.

Sprecherin: Da es in Baden-Baden aber immer nur bei kleinen Rollen bleibt, katapultiert Carola Neher ihren unbändigen Spieltrieb kurzerhand ins wirkliche Leben. Sie inszeniert sich für die Öffentlichkeit des eleganten Kurbads als femme fatale, kleidet sich raffiniert, zeigt freizügig ihre schönen Beine. Übermütig streut sie Gerüchte, die Freundin eines reichen Russen, ein andermal eines aufregenden Franzosen oder gar das Modell eines bekannten Malers zu sein. Offenherzig gesteht sie:

Carola: Ich kam nach Baden-Baden in einem billigen Fähnchen. Wenig später wohnte ich schon im Grandhotel. Denn ich war ein junges Mädchen. Schamlos, völlig schamlos.

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Sprecherin: Es ist, als nehme sie vorweg, was sie später unnachahmlich in Brechts Dreigroschenoper singen wird.

OT 02: Ja, da kann man sich doch nicht nur hinlegen! / Ja, da muss man kalt und herzlos sein. / Ja, da könnte so viel geschehen / Ja da gibt’s überhaupt nur: Nein. Nein!

Sprecherin: Nach zwei Bühnenjahren in Baden-Baden wagt die temperamentvolle Kleindarstellerin einen zweiten Karrieresprung. Sie will nach München, an die experimentierfreudigen Kammerspiele. Dort wird mit Frank Wedekinds Dramen die bürgerliche Moral angegriffen, dort werden politische Themen durch Regisseure wie kritisch auf die Bühne gebracht. Carola Neher will nichts sehnlicher, als an diesem Theater eine gute Schauspielerin werden.

Carola: Denn wenn ich ein Ziel sehe, dann will ich es auch erreichen!

Sprecherin: Wild entschlossen schreibt sie der Theaterleitung:

Carola: Ich komme nächste Woche zu Ihnen nach München und werde Ihnen so gut gefallen, dass Sie mich engagieren. Damit Sie wissen, wie ich aussehe, lege ich meine Fotos bei.

Sprecherin: Die schwarzhaarige, glutäugige Bewerberin könne zwar singen und tanzen, aber nur mäßig schauspielern, findet der stellvertretende Direktor Rudolf Frank. Aber selbst er muss der Wagemutigen bald bescheinigen:

Zitator: Carola ließ sich nicht aus der Fassung bringen, studierte unsere besten Schauspielerinnen und sah überrascht: Die sind, wie sie sind! Das kann ich auch! Brecht war entzückt, ihre Kaltschnäuzigkeit entsprach seiner Neigung und Theorie.

Sprecherin: 1923 arbeitet Bertolt Brecht an den Kammerspielen als Dramaturg und Regisseur. In der jungen Carola Neher sieht er sofort die entwicklungsfähige schauspielerische Begabung, die er für seine Vision vom realistischen, epischen Theater braucht. Zwischen beiden entsteht eine Arbeits- und Liebesbeziehung, für die es nur wenig Belege gibt. Das bestätigt auch die Schriftstellerin Karin Wieland, die für ihre Biografie Carola-Nehers Archive durchforscht hat:

OT 03 Karin Wieland:

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Das einzige Dokument, das wir über diese Zeit haben, ist der Film, den sie gemeinsam gemacht haben, 1923, „Mysterien eines Friseursalons“. Und wenn man sich diesen Film anschaut, ja, da bekommt man etwas mit von der Spielfreude der Neher. Beide wollten etwas Neues, beide waren im Aufbruch begriffen. Die Wege der beiden trennten sich dann. Brecht geht 24 nach Berlin, und die Neher geht nach Breslau.

Sprecherin: Doch vorher tritt sie noch einmal in den Münchner Kammerspielen in Frank Wedekinds „Büchse der Pandora“ auf. Im Parkett sitzt der Dichter , mit bürgerlichem Namen Alfred Henschke. Wie ein Blitz trifft den Mann die Liebe. Er schickt rote Rosen in Carola Nehers Garderobe, wirbt um sie und dichtet sehnsüchtig:

Zitator: Ich komme von Dir, ich fahre zu Dir./ Ich spüre, dass ein Herz an meinem schlägt./ Hinter den Schläfen donnert der Niagara meiner Sehnsucht.

Sprecherin: Für Carola ist es fürs erste nur ein reizvoller Flirt mit dem zehn Jahre älteren, empfindsamen Mann, der sich selbst als Schwärmer der Tat und Revolutionär der Seele bezeichnet. Er schreibt Gedichte und Romane. Berühmt sind seine Kabarett- Texte, mit denen er nationalistische Auswüchse geißelt und das kleine Glück und die reale Not der kleinen Leute beleuchtet. Klabund ist ein besessener Schreiber, getrieben von einem unstillbaren Erfolgs- und Lebenshunger. Denn seit seinem 16. Lebensjahr verzehrt ihn die damals unheilbare Krankheit Tuberkulose. Im schweizerischen Davos findet er immer wieder nur vorübergehende Erleichterung. Aber er hatte sich schon früh geschworen:

Zitator: Der Teufel soll mich frikassieren, wenn die Krankheit je Einfluss auf mein wirkliches Leben gewinnen sollte.

Sprecherin: Er hatte vor Carola schon viele Liebesbeziehungen, aber nun plagen ihn doch Zweifel, ob er die quicklebendige Schauspielerin trotz seiner Krankheit für sich gewinnen kann. Schließlich hat sie für eine Rolle auf der Bühne noch jeden Verehrer stehen lassen.

Carola: Nicht nur in meiner Kunst bin ich tyrannisch, auch in der Liebe…

Sprecherin: …sagt sie und lässt die heißen Münchner Sommernächte mit Klabund hinter sich. Zu verlockend ist das Engagement an dem als Sprungbrett gerühmten Breslauer Lobe- Theater. Bald spielt sie dort die Hauptrolle in George Bernhard Shaws „Cäsar und Cleopatra“:

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Zitator: Ein Katzenkind, schmeichlerisch und raubtierhaft, mit heiterer Gier nach Glück und dunklem Rachetrieb – mit sprunghafter Anmut.

Sprecherin: Kritiken dieser Art befeuern die Erfolgssüchtige. In Shaws „Heiliger Johanna“ darf sie dann endlich auch ihre erste wirkliche Charakterrolle spielen – mit großem Erfolg, im immer vollbesetzten Haus. Tagsüber probt sie, abends spielt sie, bis spät in die Nacht, sie ist in ihrem Element.

Carola: Jedenfalls gibt es neben der Sache, die mich gerade beschäftigt, nichts anderes für mich, nichts, was mich privat zu beschäftigen vermöchte.

Sprecherin: Aber zu Hause wartet Klabund. Der Dichter ist ihr nach Breslau gefolgt, obgleich das nasskalte Klima Gift für seine kranke Lunge ist. Er will mit der Frau, die inzwischen seine Liebe erwidert, leben. Er will Zeit mit ihr verbringen, will Gespräche, will die Wärme ihrer Sinnlichkeit spüren. Darauf wartet er, Nacht für Nacht. Der Schauspielerin gibt ihr Nachhause kommen zu dem Geliebten zwar Geborgenheit, aber sein ungeduldiges Warten setzt sie auch unter Druck. Eines Tages entlädt sie sich in der Klage:

Carola: 50 mal „Johanna“ und immerzu Klabund. Das Maß ist voll!

Sprecherin: Just in dieser Zeit erkrankt Carola lebensgefährlich an einer Blinddarmentzündung mit nachfolgender Blutvergiftung. Klabunds seelische Not und die Angst, die ihn nicht von der Seite seiner Geliebten weichen lässt, führen zu einem schweren Blutsturz. Als beide diese Krise überwunden haben, antworten sie mit einem Gruß an das Leben: Sie heiraten. Glücklich dichtet Klabund:

Zitator: Dein Blick, der mich umarmte/ Dein Schoß, der mich erwärmte/ Dein Arm, der mich umschlungen/ Dein Wort, das mich umsungen/ Gehört wohl mir/ Ist alles meins.

Sprecherin: Doch sie leben oft weit voneinander getrennt, verursacht durch ihre Gastspiele und seine häufigen Kuraufenthalte. Eifersucht quält sie. Über diese von Spannung getragene Liebe sagt Matthias Wegner, der beide in seiner Doppelbiografie porträtierte:

OT 04 Matthias Wegner: Es wird von allen Zeitgenossen immer darauf hingewiesen, wie charmant und liebenswert Klabund sein konnte. Insofern passten sie, wenn man die Gesundheit mal weglässt, ja durchaus zusammen. Also sie passten in ihren beiderseitigen Qualitäten des Charmierens, ich sage das ohne negativen Beigeschmack, und in 5 ihrem Kunsthunger wunderbar zusammen. Auseinander gerieten sie gelegentlich wegen ihrer nahezu unstillbaren Flirtsucht, ohne jemals auf die Idee zu kommen, diese Ehe zu Bruch gehen zu lassen. Es gibt ja diese spärliche Korrespondenz mit der Pensionswirtin in Davos, aus der man erkennen kann, dass sie diesen Mann nie hat fallen lassen.

Carola: Gestern wollten wir uns zum 150. Mal scheiden lassen. Ist aber nichts draus geworden. Ich liebe ihn doch!

Sprecherin: Klabund will Carola in seiner poetischen Nachdichtung des chinesischen Märchens „Kreidekreis“ als Haitang auf der Bühne sehen. Im September 1925 ist es soweit. Mit dem Publikum zusammen hängt er an ihren Lippen, als sie verhalten und innig die Botschaft von einer gerechten Ordnung im Zeichen von Menschlichkeit und Liebe spricht:

Carola: Verborgenes ward durch Liebe offenbar/ Die Dunkelheit ward durch Liebe klar/ Die Liebe macht die Lügner stumm/ Die Liebe bringt die Hoffahrt um/ Die Liebe brennt wie Sonn so sehr/ Die Liebe rast wie Sturm im Meer/ Die Liebe bringt den Tod zu Fall/ Und Liebe, Liebe überall.

Sprecherin: 40 Bühnen erwerben die Aufführungsrechte von Klabunds „Kreidekreis“. Der Erfolg ist für beide wichtig und bessert zudem ihre stets knappe Kasse auf. Carola und der Dichter wollen nun Berlin erobern. In der als Welthauptstadt der Kunst gepriesenen Metropole haben Theater, Revuen und Kabaretts Hochkonjunktur. Glanz und Glimmer der Erfolgreichen verdecken die sozialen und politischen Gegensätze im Trugbild der goldenen zwanziger Jahre. Der gerade gewählte Reichspräsident Paul von Hindenburg trauert um die verlorene Monarchie; der nach einem gescheiterten Putsch aus dem Gefängnis entlassene strebt unvermindert nach Diktatur. Carola Neher und Klabund suchen in Berlin die Nähe progressiver Regisseure wie oder Max Reinhard, links orientierter Dichter wie Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger und erneut Bertolt Brecht. Der Ruhm der Schauspielerin ist ihr vorausgeeilt. Sie kann sich vor Rollenangeboten kaum retten.

Zitator: Eine befreiende Freude geht von ihr aus, sie schenkt sich und sie beschenkt uns und soll uns willkommen sein im Theater .

Sprecherin: So schreibt die „Deutsche Allgemeine Zeitung“. Carola Neher spielt komödiantische und Charakterrollen auf allen bedeutenden Bühnen Berlins. Sie schafft es sogar an das verstaubte Wiener Burgtheater. In Gegenwartsstücken von Shaw, Strindberg oder Wedekind gestaltet sie ihre Figuren modern und frei von Pathos. Damit ist sie der damaligen Zeit so nahe, wie kaum eine andere Darstellerin. Klabund entwirft seiner Frau neue Hauptrollen: Die Marusja in dem Revolutionsdrama „Brennende Erde“ oder das bezaubernde Indianermädchen in „Kukuli“. Oft will er nur Gelegenheit 6 haben, sie seine Worte sprechen zu hören, sie lächeln und weinen zu sehen. Die Presse lobt Carolas „brillante Leistung“. Kritiker nennen sie:

Zitator: „Temperamentvoll bis in die Fingerspitzen, mit Spott um den Mund und Tränen in den Augen, kinderernst und ganz Frau“. „Blitzend von Klugheit und Humor, mit frivoler Lust am Spiel“.

Sprecherin: Nur der einflussreiche Kritiker Herbert Ihering hält eine Warnung für angebracht:

Zitator: Sie hat alles, was man für schmissige Rollen wünschen kann. Aber sie spielt mehr eine Figur für sich als eine Figur in einem dramatischen Gefüge.

Sprecherin: Außerhalb der Bühne glänzt die Diva in eleganten Roben auf Gesellschaften. Sie zeigt sich am Arm des ehemaligen kaiserlichen Kronprinzen Wilhelm oder amüsiert sich unter Diplomaten im Haus des Außenministers Gustav Stresemann. Zu ihrem Freundeskreis zählen Feudale und Großbürger ebenso wie linke Intellektuelle und Kommunisten. 1928 bietet Bertolt Brecht Carola Neher die Rolle der Polly in seiner Dreigroschenoper an. Warum der Dramatiker für die Uraufführung dieses Gangster- Epos sie und keine andere haben will, erklärt Karin Wieland so:

OT 05 Karin Wieland: Also ich habe ein Zeitungsinterview mit ihm gefunden, von 1927, Und das endet so: Brecht legt eine Platte auf und er spielt dem Journalisten ein Lied vor, interpretiert von Carola Neher. Er war interessiert an dieser Stimme. Und wenn man sich das heute anhört, also die Lieder, die sie in der Dreigroschenoper singt, dann weiß man, dass er gewusst hat: Ich brauche diese Frau, die das vorträgt. Weil – die Stimme der Neher war einzigartig.

OT 06 Pollys Lied von der Seeräuber-Jenny: Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen/ Und ich mache das Bett für jeden/ Und Sie geben mir einen Penny, und ich bedanke mich schnell/ Und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel/ Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden./ Aber eines Abends wird ein Getös´ sein am Hafen/ Und man fragt, was ist das für ein Getös´?/ Und man wird mich lächeln sehn bei meinen Gläsern/ Und man sagt: Was lächelt die dabei?/ Und ein Schiff mit acht Segeln/ Und mit fünfzig Kanonen wird liegen am Kai.

Sprecherin: Mitten in der Probenarbeit zur Dreigroschenoper ruft ein Telegramm die Schauspielerin nach Davos, wo Klabund seinen Kampf gegen die Tuberkulose verliert. Carola hält seine Hand, als er im Morgengrauen des 14. August 1928 stirbt.

Carola:

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Ich bin zuinnerst einsam. Der einzige Mensch, der mich kannte und verstand, den ich liebte und verehrte, ist fort.

Sprecherin: Erst im Folgejahr ist sie in der Lage, als großartige Polly in der Dreigroschenoper aufzutreten, „in vollkommener Einheit von Stil und Ausdruck“, lobt (bei O.C. auf S. 9) Kritiker Herbert Ihering. Brecht schreibt für Carola Neher noch die Rolle der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“. Er entwirft ihr die Gestalt jenes zuerst noch sanften Mädchens der Heilsarmee, das auf der Seite der streikenden Arbeiter in die Börsenschlachten auf den Fleischmärkten von Chicago eingreift, zwischen oben und unten vermitteln will – und scheiternd die Unmöglichkeit erkennt:

OT 07 Carola Neher im Hörspiel: Denn es ist eine Kluft zwischen oben und unten, größer als/ Zwischen dem Berg Himalaja und dem Meer/ Und was oben vorgeht/ Erfährt man unten nicht/ und nicht oben, was unten vorgeht./ Und es sind zwei Sprachen oben und unten/ Und zwei Maße zu messen/ Und was Menschengesicht trägt/ Kennt sich nicht mehr.

Sprecherin: Dieser Ausschnitt stammt aus einer Hörspielfassung, die mutige Redakteure des Berliner Rundfunks 1932 sendeten, weil Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe“ vor dem Hintergrund der tobenden Weltwirtschaftskrise nicht auf der Bühne aufgeführt werden darf. In diesem Jahr fordern Vertreter von Banken, Industrie und Junkertum von Reichspräsident Hindenburg, bald die Macht an Adolf Hitler und die NSDAP zu übertragen. Am 19. November warnt Hitler persönlich den Reichspräsidenten während einer Unterredung:

Zitator: Es ist durchaus im vaterländischen Interesse, dass meiner Bewegung die Leitung zufällt. Sonst kommt Deutschland in die größte Gefahr. Dann würde es 18 Millionen Marxisten und darunter vielleicht 14 bis 15 Millionen Kommunisten geben. Und bald wäre eine Revolution da.

Sprecherin: Carola Neher, die sich mit Politik eher gefühlsbetont auseinander setzt, lehnt Hitler ab. Auf Massenveranstaltungen der KPD-Zeitung „Rote Fahne“ tritt sie mit Texten von Brecht auf. Seitdem gilt sie in der Öffentlichkeit als Sympathisantin der Kommunisten. 1932 besucht sie die Marxistische Arbeiterschule in Berlin, um Russisch zu lernen. Ihr Lehrer ist Anatol Becker, ein junger Ingenieur und überzeugter Kommunist. Sie sagt, es sei vor allem seine Sache, die sie ernst nehme. Aber sie verliebt sich auch in diesen sportlichen, gut aussehenden Mann, der sich in das ferne Moskau sehnt und der für den Kommunismus sogar sein Leben riskieren würde. Die Schauspielerin ist fasziniert von ihm und seinen Idealen. Ihre Neigung zu linken Ideen ist für ihren Biografen Matthias Wegner durchaus schlüssig:

OT 08 Matthias Wegner: In ihrer ganzen Begeisterung für Neues und Anderes und auch in ihrer Menschlichkeit war die Begegnung mit dem Kommunismus, die ja in Berlin der späten zwanziger und dreißiger Jahre durchaus stark war, als Alternative zu der 8

Verführung durch die Nazis, in ihr bestimmt sehr lodernd. Und vor allem war sie ja umgeben, wenn man nur an Brecht denkt, von Menschen, die dieser Hoffnung und dieser Utopie der solidarischen Menschengemeinschaft anhingen. Die Mischung zwischen Aufgeschlossenheit, humanem Empfinden und sozialer Utopie, angesteckt von ihrer Umgebung, das alles hat sie für den Marxismus offen gemacht. Hinzu kam dann die erotisch gefärbte Beziehung zu Anatol Becker. Sie war angesteckt von der Begeisterung für das russische soziale Experiment, um es mal vorsichtig zu sagen. Und ich fürchte, sie ist absolut blauäugig nach Moskau gereist.

Sprecherin: „Schöner als hier ist es vielleicht“, sagt Carola ahnungslos zu der befreundeten Berliner Schauspielerin Else Eckesberger. Wie hätte sie auch wissen können, was erst viele Jahrzehnte später ans Licht der Öffentlichkeit kam: Dass Josef Stalin ein unvorstellbares Terrorregime errichtete, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Er ließ sie als so genannte Sowjetfeinde beiseiteschaffen, um das angeblich einmalige sozialistische Experiment für alle Klassenbrüder in der Welt zu retten. Funktionärseliten und Geheimdienste waren seine Mittäter. Schon 1928 hat Stalin seinen gefürchteten Opponenten Leo Trozki ins Ausland verbannt, weil der die Stalin heilige These vom möglichen Sieg des Sozialismus in nur einem Land bestritt und provokant fragte, wann der Parteiführer seine Gegner auf die Guillotine zu bringen gedächte? Und in der Tat lässt Stalin seine Gegner schon bald danach nicht mehr einfach nur ausweisen. Sie werden als „trotzkistische Konterrevolutionäre“ gnadenlos ausgemerzt. Stalin führt Krieg gegen das eigene Volk und schutzsuchende Emigranten. Reinhard Müller schreibt in seinem Buch „Menschenfalle Moskau“:

Zitator: Der schrankenlose Terror führte zu Massenoperationen gegen so genannte antisowjetische Elemente, die nach festgelegten Kontingenten zu Lagerhaft im Gulag oder zum Tod durch Erschießen verurteilt wurden.

Sprecherin: In dieses perfide Räderwerk geraten selbst treue Kommunisten, sogar enge Vertraute Stalins und auch Emigranten, unter ihnen auch Carola Neher und Anatol Becker. Schnell sieht die erfolgsverwöhnte Schauspielerin in Moskau ihre Träume von einer neuen Bühnenkarriere zerrinnen. Gelegentlich darf sie in der Filmgesellschaft „Meshrapom“ als Regieassistentin arbeiten oder Schauspielunterricht in dem von geleiteten Emigrantentheater „Kolonne Links“ geben. Mit ihrem Mann Anatol wohnt sie in einem trostlosen Zimmer am Rande der Stadt. Sie schlafen auf dem blanken Fußboden. Carola leidet doppelt, denn sie ist nach mehreren Fehlgeburten wieder schwanger. Im Spätsommer 1934 entflieht sie der Moskauer Tristesse auf einer Kurzreise nach Prag. In der Pension „Arosa“ kommt es zu einer folgenschweren Begegnung mit dem gerade aus Moskau geflohenen deutschen Trotzkisten Erich Wollenberg. Diesen kritischen Kommunisten hat der sowjetische Geheimdienst NKWD zum Kopf einer erfundenen Terror-Organisation erklärt, die Stalin nach dem Leben trachte. Jeder Kontakt mit ihm gilt als konterrevolutionär. Wollenberg erinnert sich später:

Zitator:

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Carola bat mich, ihr in Moskau die Adresse einer kinderlieben Familie zu geben, die sich um ihr erwartetes Baby kümmern könnte, während sie arbeitete. Ich nannte ihr den Namen eines meiner ältesten politischen Freunde: Hermann Taubenberger, der als leitender Ingenieur seit 1925 in der Sowjetunion lebte.

Sprecherin: Ende Dezember 1934 wird Carolas und Anatol Beckers Sohn Georg geboren, ein gesundes Kind, das die Eltern auf bessere Zeiten hoffen lässt. Doch die Schlinge ist gelegt. Ausgerechnet der einstige Gefährte Klabunds aus der Anfangszeit des Berliner Kabaretts, Gustav von Wangenheim, wird zum Denunzianten. Nachdem mehrere Schauspieler der „Kolonne Links“ verhaftet worden sind, wird auch er vom NKWD zur Einvernahme bestellt und gibt zu Protokoll:

Zitator: Carola Neher halte ich für eine Abenteuerin, die nach ihrer ideologischen Einstellung nichts Gemeinsames mit der Kommunistischen Partei hat. Ihre politische Einstellung ist antisowjetisch. Zum Beispiel sagte die Neher: „Ich war im Regierungsgebäude und sah, wie diese dort lebten. Bin ich schlechter als sie? Die Menschen, wenn sie nicht dumm sind, können sehen, dass auch eine sowjetische Bourgeoisie existiert.“ Äußerungen dieser Art hörte ich oft von der Neher.

Sprecherin: Auch ihr Kontakt und der ihres Mannes zu Erich Wollenberg kommen bei der Vernehmung zur Sprache. Anatol Becker wird im Mai 1936 verhaftet. Man wirft ihm vor, er habe als Mitglied der Wollenberg-Terrororganisation mit Hermann Taubenberger und anderen ein Attentat auf Stalin geplant. Unter Folter wird ihm ein absurdes Geständnis abgepresst, Namen werden erzwungen, in das vom Geheimdienst vorgefertigte Protokoll wird eine Verbindung zur deutschen Gestapo hinein montiert. Danach wird Anatol Becker erschossen. Vergeblich sucht Carola Neher nach ihrem Mann. Am 25. Juni wird auch sie verhaftet und wegen angeblicher Kurierdienste für den Trotzkisten Wollenberg zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Ein Brief mit der Adresse Hermann Taubenbergers dient als Beweis. Am Ende ihres Prozesses, der nur knapp 25 Minuten dauert, wird die entsetzte Frau vergeblich sagen:

Carola: Ich bitte das Gericht, mir den Beweis zu ermöglichen, dass ich kein antisowjetischer Mensch bin. Ich bitte, mir das zu glauben.

Sprecherin: Hilflos muss sie ihren kleinen Sohn einem Kinderheim überlassen. Ihr Selbstmordversuch im Gefängnis schlägt fehl. Sie hofft auf die Hilfe von Freunden, auf eine Intervention Bertolt Brechts. Der schreibt aus seinem dänischen Exil an Lion Feuchtwanger, der in sowjetischen Kreisen einiges Ansehen genießt:

Zitator: Könnten Sie etwas für die Neher tun, die in Moskau sitzen soll, ich weiß allerdings nicht weswegen, aber ich halte sie nicht gerade für eine den Bestand der Union

10 entscheidend gefährdende Person. Wenn Sie nach ihr fragten, würde das schon nützen. Ich selber habe von niemandem eine Antwort erhalten, was ich nicht schätze.

Sprecherin: Feuchtwanger schreibt zurück, er könne über den Verbleib der Neher nichts sagen. Wie sich nach der Öffnung sowjetischer NKWD-Akten herausstellte, wurde auch Brecht damals als „Trotzkist“ geführt. Hätte er auf Grund seiner Prominenz Carola nicht dennoch helfen können? Karin Wieland meint:

OT 09 Karin Wieland: Ich glaube nicht, dass er ihr hätte helfen können, nicht mehr als das, was er getan hat. Wer war Brecht im Gegensatz zu Stalin? Hätte er eine Audienz bekommen? Und hätte er dann darum gebeten, Carola Neher zu begnadigen? Ich glaube es nicht. Und insofern denke ich auch nicht, dass er sich über Gebühr für die Neher eingesetzt hätte. Aber das, was ihm möglich war, hat er getan. Also ihm nun eine Schuld zu geben, dazu neige ich jedenfalls nicht.

Sprecherin: Die einst gefeierte Schauspielerin trägt nun die Häftlingsnummer 59.783. Schuldlos muss sie fünf Gefängnisse voller zahlloser Leidensgefährten durchstehen. Am 14. September 1939 schreibt sie aus der Zelle 23 in Wladimir eine Eingabe an den Regierungschef der UdSSR, Molotow:

Carola: Seit meiner Verhaftung sind alle meine Bitten um einen direkten Briefverkehr mit meiner Mutter, auch mit dem Schriftsteller Bert Brecht abgelehnt worden. Ich hatte also keine Möglichkeit, ihnen die Begründung des Urteils, das gegen mich verhängt wurde, mitzuteilen. Ich möchte meine siebzigjährige Mutter wenigstens durch eine Mittelung über mich beruhigen. Ich bitte um die Erlaubnis, mich diesbezüglich an das Rote Kreuz zu wenden oder meiner Mutter direkt zu schreiben.

Sprecherin: Ihr Hilferuf verschwindet in den Akten. Geheimdienstkreise erwägen nun, die intelligente, immer noch schöne Frau als Agentin nach Nazideutschland zu schleusen. Energisch lehnt Carola Neher ab:

Carola: Nein! Niemals! Wo denken Sie hin. Ich eigne mich nicht für solche Tätigkeit!

Sprecherin: Sie wird an die Wolga verlegt und von dort weiter in ein Gulag-Lager bei Orjol in Zentralrußland. Dort begegnet ihr Hilde Duty, die später darüber schreibt:

Zitator: Alle Anstrengungen der Gefangenen bestanden nur im Überleben. Carola trug sehr viel dazu bei. Sie rezitierte Gedichte, erzählte von ihren Rollen, ihrer Theaterarbeit, aus ihrem Leben. Am meisten beschäftigte sie die Sorge um ihren Sohn.

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Sprecherin: Am 10. März 1941 schreibt die verzweifelte Mutter an den Leiter eines Moskauer Kinderheims:

Regie: Musikblende, folgender Text darüber:

Carola: Unterzeichnete ist die Mutter des deutschen Knaben Becker, Georg Anatolowitsch, geboren 1934 in Moskau. Da ich bereits lange nichts über meinen Sohn erfahren habe, bitte ich Sie, mir folgende Fragen zu beantworten: Wie entwickelt sich mein Sohn physisch und geistig? Wie steht es mit seiner Gesundheit? Womit beschäftigt er sich? Lernt er schon schreiben und lesen? Sie verstehen, ich warte voller Ungeduld auf den Tag, an dem ich ihm direkt schreiben kann. Weiß er etwas von seiner Mutter? Ich bitte Sie sehr, mir das letzte Foto von ihm zu schicken. Ist er musikalisch? Zeichnet er auch? Wenn ja, schicken Sie mir bitte ein Bild, das er gezeichnet hat! Ich danke Ihnen aus vollem Herzen für alles Gute, was Sie für mein geliebtes Kind tun können.

Sprecherin: Als die Gefangene in das Straflager Sol Iletzk nahe der kasachischen Grenze deportiert wird, trägt sie ein winziges Foto ihres Sohnes bei sich. Es ist der letzte kostbare Besitz aus ihrem zu Ende gehenden Leben. Am 26. Juni 1942 stirbt Carola Neher gebrochen und ausgezehrt an Typhus. Wie eine böse Ahnung wirkt nun, was sie zu Beginn ihrer großartigen Karriere gesagt hat:

Carola: Wir Schauspielerinnen sind auf der Bühne in unserem Element. Wir stolpern nur im Leben.

Regie: Ende der Musikblende

Sprecherin: 17 Jahre nach Carola Nehers Tod gibt das sowjetische Militärkollegium lapidar bekannt:

Zitator: Das Urteil gegen sie ist nach neu entdeckten Umständen aufgehoben. Die Angelegenheit ist abgeschlossen wegen der Nichtexistenz des Verbrechens.

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