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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 23±24/2006 ´ 6. Juni 2006

Bertolt Brecht

Hermann Beil ´ Gçnter Erbe Brecht spielen

Jan Knopf Brecht im 21. Jahrhundert

Marc Silberman Die Tradition des politischen Theaters in Deutschland

Sabine Kebir Brecht zwischen den Systemen

Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Editorial

Am 31. Oktober 1947 bestieg in Washington das Flugzeug, das ihn zurçck nach Europa bringen sollte. Am Vortag hatte er die Befragung vor dem ¹House Committee on Un-American Activitiesª çber sich ergehen lassen. Die Furcht war groû, dass im beginnenden Kalten Krieg mit Brechts Stçcken und Drehbçchern der Kommunismus auf dem Broadway und in Hollywood einziehen kænnte. Dabei hatte sich Brecht, von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, in den USA aller politi- schen Aktivitåten enthalten.

Seit den zwanziger Jahren Marxist, sah er sich zeitlebens poli- tischen Systemen gegençber, die sein Werk entweder zu verein- nahmen oder zu vernichten drohten. Die Machthaber der jungen DDR feierten Brechts Rçckkehr und die Grçndung des Berliner Ensembles. Doch Brecht erkannte rasch die Widersprçche zwi- schen Anspruch und Wirklichkeit des staatsoffiziellen Sozialis- mus. Als Augenzeuge des Volksaufstandes vom Juni 1953 bekun- dete er zunåchst seine Verbundenheit mit der SED, distanzierte sich aber von der Partei, als ¹die groûe Gelegenheit, die Arbeiter zu gewinnenª, nicht genutzt wurde.

Brechts Todestag jåhrt sich am 14. August 2006 zum fçnfzigs- ten Mal. Der aufklårerische Impetus des ¹Stçckeschreibersª ge- winnt nach dem Ende der globalen Systemauseinandersetzung unter verånderten gesellschaftlichen Bedingungen neuen Reiz. Den Status eines Klassikers des modernen Theaters hat Brecht långst inne. Es ist verblçffend, wie modern Brechts Stçcke wir- ken, nåhert man sich ihnen ohne den ideologischen Ballast, der die Rezeption lange dominierte.

Hans-Georg Golz nonª studierte ich immer wieder, weil ich Brecht spielen dachte, meine Theatergier bekåme so eine ra- tionale Grundlage. Durch Brecht lernte ich, çber Theater nachzudenken. Aber ich betrieb Hermann Beil kein systematisches Brecht-Studium. Es war ein lustvolles Wechselspiel, das auch nie von im Gespråch mit der zeitweise herumgeisternden Parole ¹Brecht ist outª gehemmt wurde. Es gab ja regelrechte Symposien, die beweisen wollten, Gçnter Erbe wie çberholt Brecht sei. Ich fand das immer låcherlich.

Welche Stationen durchlief Ihre Beschåfti- err Beil, Sie arbeiten seit 1965 als Dra- gung mit Brecht? H maturg an verschiedenen Theatern, lei- teten zusammen mit Claus Peymann von Meine Beschåftigung mit Brecht war nie 1986 bis 1999 das Wiener Burgtheater und planmåûig, aber permanent, und eine ståndige sind seit der Spielzeit 1999/2000 am Berliner Herausforderung. Kaum kam ich, mit 22 Jah- Ensemble (BE) tåtig. Sie fçhren selbst Regie, ren, an das Frankfurter Theater, hatte ich mit treten als Rezitator auf und sind der Autor Brecht zu tun, sei es die Mitarbeit an Pro- des Buches ¹Theaternarren leben långerª. grammheften fçr Brecht-Auffçhrungen, sei es Wann wurden Sie zuerst mit dem Werk Ber- die detaillierte Beobachtung einer ganzen tolt Brechts bekannt? Auffçhrungsserie des ¹Galileiª, sei es das Ge- språch mit Teo Otto und Hermann Beil Gewiss durch mein çber Brecht. Eine besondere Brecht-Aufgabe Geb. 1941; Dramaturg, Regis- Gymnasium, die Wil- war meine Mitarbeit an einer groûen Ausstel- seur und Rezitator; Theatersta- helm von Oranien- lung mit dem Thema ¹Brecht in der Bundes- tionen: Frankfurt am Main, schule in Dillenburg, republikª. Das war eine Wanderausstellung Basel, Bochum, Stuttgart, Salz- dort leitete ich eine im Auftrag von Inter Nationes und des Goe- burg (Festspiele), 1986 bis 1999 Zeit lang die Schul- the-Instituts. Die Ausstellung wurde erstmals Co-Direktor am Burgtheater bibliothek, und da- im Frankfurter Theaterfoyer gezeigt, dann in Wien, seit 1999 am Berliner En- durch kam mir viel vielen Stådten und Låndern. Es erschien ein semble. 1995 (gemeinsam mit Literatur in die mehrsprachiger Katalog, dessen Konzeption Claus Peymann) Berliner Thea- Hånde. Darçber hi- ich mitformulierte, dessen Beitråge ich gestal- terpreis, 1996 Deutscher Kriti- naus interessierte ich tete und redigierte. Mit Brecht'scher List un- kerpreis. mich sehr fçr das terliefen Rudi Seitz und ich die damals noch Theater, las die Kriti- herrschende Hallsteindoktrin, indem wir Gçnter Erbe ken und erfuhr sehr ganz selbstverståndlich Brechts Inszenierun- Dr. phil., geb. 1943; Privatdo- frçh vom Frankfurter gen am BE ausfçhrlich dokumentierten. Aus zent an der Freien Universität Schauspiel, das unter dieser intensiven Beschåftigung mit Brecht , Institut für Soziologie. und durch Harry floss dann ganz natçrlich die ståndige Bereit- Hektorstraûe 20, 10711 Berlin. Buckwitz in den fçnf- schaft, Brecht in Basel, Stuttgart, Bochum [email protected] ziger und sechziger und am Burgtheater aufzufçhren. Jahren ein bedeutsa- mer Auffçhrungsort der Brecht'schen Stçcke Ist es fçr Sie mit einem besonderen Gefçhl gewesen ist. Die Tatsache, dass die Frankfur- verbunden, am Theater am Schiffbauerdamm ter CDU damals gelegentlich einen Brecht- zu arbeiten? Ist in diesem Haus noch etwas Boykott oder die Absetzung von Brecht- vom Geist Brechts spçrbar, zum Beispiel Stçcken, çbrigens vergeblich, forderte, Brechts Forderung nach Freundlichkeit? weckte natçrlich zusåtzlich mein Interesse. Natçrlich ist es ein besonderes Gefçhl, sozu- Hatte Brecht Bedeutung fçr Sie zu Beginn sagen auf ¹geheiligtemª Boden, Brecht am Ihrer Arbeit am Theater? BE aufzufçhren. Es ist vor allem eine beson- dere Verantwortung. Nicht Selbstgewissheit, Mich interessierten und faszinierten Brechts sondern ståndige Selbstprçfung bedeutet fçr theoretische Øuûerungen. Das ¹Kleine Orga- mich, am BE zu sein.

APuZ 23±24/2006 3 Hat sich am Berliner Ensemble Ihr Verhåltnis Die Brecht-Auffçhrungen des Berliner En- zu Brecht geåndert? sembles erfreuen sich beim Publikum groûer Beliebtheit. Werden Brechts plebejische Stç- Mein Verhåltnis zu Brecht hat sich nicht ge- cke, auch solche mit einer kommunistischen åndert, gewiss aber vertieft und verbreitert. Lehre wie ¹Die Mutterª, entgegen Brechts Ich staune immer mehr çber die ungeheure dramaturgischer Absicht nicht heute kulina- Denk- und Lebensleistung dieses Dichters. risch aufgenommen?

Fçr Brecht ist die Funktion des Theaters Un- Das Wort ¹kulinarischª stært mich, weil es terhaltung und Belehrung. Der Zuschauer soll falsch ist. Jenes kulinarische Theater, das sich nicht einfçhlen. Das Spiel soll Vorgånge, Brecht bekåmpft, habe ich persænlich weder die ihm vertraut sind, verfremden. Was halten kennen gelernt, noch habe ich es selbst prak- Sie von diesem Konzept? Ist das Theater nicht tiziert. Entscheidend ist doch, ob Theater immer Verfremdung? Phantasie hervorruft, Phantasie bewegt, ob Theater Geist und Herz inspiriert. Dafçr sind Natçrlich ist Theater immer Verfremdung, alle theatralischen Mittel nætig und legitim. sei es in der Verdichtung, sei es durch den spielerischen Umgang mit der Wirklichkeit. Max Frisch sprach mit Blick auf Brecht von Brecht hasste eine dumpfe, wohlige, gefållige der durchschlagenden Wirkungslosigkeit eines Einfçhlung, was aber nicht heiût, er sei gegen Klassikers. Meinen Sie, dass der Einfluss der Gefçhl. Die Emotionen, die Gefçhle, die Massenmedien und der Unterhaltungskultur Brechts Theaterstçcke auslæsen, haben etwas diesen Prozess beschleunigt hat? Hellwaches, Bewegendes. Die Erschçtterung durch das Telefonat der ¹jçdischen Frauª [in Max Frisch hat in seiner berçhmten Rede ¹Furcht und Elend des Dritten Reichesª] 1964 auf der Frankfurter Tagung der Drama- drçckt nicht nieder, sondern ist eine Form turgischen Gesellschaft auch die Fiktion der Erkenntnis. durchgespielt, das Theater sei plætzlich ge- schlossen, und viele wçrden sich nun fragen, Sie wçrden also nicht der Auffassung Adornos was denn fehle, wenn es das Theater nicht zustimmen, Brechts ¹didaktischer Gestusª sei mehr gåbe. So wirkungslos sind Klassiker autoritår? eben nicht, denn warum wurde von der DDR-Obrigkeit selbst einem Brecht eine Brecht ist nicht unverbindlich. Er hat die gro- ¹Urfaustª-Auffçhrung verboten? Das Thea- ûen gesellschaftlichen Umbrçche, Verwerfun- ter ist als Ort des unmanipulierten Wortes gen, Katastrophen leibhaftig studiert, miterlebt immer gefåhrdet, aber dadurch wirkungsvoll. und çberlebt. Er nimmt dezidiert Stellung, aber Massenmedien und Unterhaltungskommerz weil er ein groûer Poet ist, ist er nie autoritår. kænnen dem Theater nichts anhaben. Aller- Brecht kennt auch den Selbstzweifel. Er hat dings darf das Theater seinen Wert, seine aber nie den Anspruch und den moralischen Mæglichkeiten, seine Kraft nicht leichtfertig Auftrag an die Kunst vergessen. Seine Kunst verschleudern, indem es den Massenmedien will ¹eingreifendes Denkenª sein, um einen Be- nachlåuft, indem es sie nachahmt. griff Ernst Schumachers zu zitieren. Der frçhe Brecht betrachtete die Werke der Brecht forderte vom Schauspieler, dass er sich Klassiker als Stoff oder Material, das man das Wissen seiner Zeit um die menschlichen unter neuen Gesichtspunkten darstellen solle. Zusammenhånge aneigne und die Kåmpfe der Der spåte Brecht hingegen forderte, ihren Klassen mitkåmpfe. Als Zuschauer wçnschte Ideengehalt herauszubringen. Erscheinen er sich den mitdenkenden, aktivierbaren Zeit- Ihnen manche Stçcke Brechts durch ihren genossen. Gibt es diese Schauspieler und diese Ideengehalt nicht antiquiert? Sind sie ande- Zuschauer heute noch? rerseits aber nicht so poetisch, dass man sie einfach spielen muss? Brechts Forderung an die Schauspieler und Zuschauer ist nach wie vor gçltig. Ich mache Gerade bei Brecht sind Ideengehalt und poe- mir auch gar keine Sorgen. Es gibt den mit- tische Form nicht voneinander zu trennen. denkenden Schauspieler und es gibt den mit- Fçr uns heutige Theatermacher ist es eine denkenden Zuschauer. sehr reizvolle Aufgabe, eine heutige Spiel-

4 APuZ 23±24/2006 form zu finden. Eine Mozart-Oper spielt sich schon seit langer Zeit als ein hæchst aktueller auch nicht von selbst vom Blatt. Autor gespielt. Der Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen, die sich auf den Brecht meinte, die alten Werke håtten ihre ei- Sozialismus berufen haben, bedeutet ja nicht, genen Werte, ihre eigene Skala von Schænhei- dass die groûen sozialen Fragen der Mensch- ten und Wahrheiten. Welche Skala von Schæn- heit gelæst sind. Im Gegenteil, diese Fragen heiten und Wahrheiten gilt es heute bei Brecht haben sich in Europa verschårft. In der Bun- zu entdecken? desrepublik Deutschland gibt es seit Jahren fçnf Millionen Arbeitslose und irrsinnige Un- Klarheit des Denkens, Eleganz und Anmut ternehmergewinne. In Frankreich læsen sich der Form. Unabweisbarkeit durch die Kraft Unruhen, Krawalle und generalstreikåhnliche des Ausdrucks. Menschliche Anteilnahme, Demonstrationen ab. Anlass sind groûe so- die nicht sprachlos bleibt, sondern Wortge- ziale Probleme und Spannungen. Brecht war walt hervorruft. sich wie kein zweiter Dichter dieser Mensch- heitsprobleme bewusst, er stellte seine Fragen. Als Max Frisch Brecht in Zçrich Arbeitersied- Die Grçnde zu diesen Fragen existieren ver- lungen zeigte, war dieser anfangs verwundert schårft, ungelæst. çber soviel Komfort. Dann fçhlte er sich durch den Komfort mehr und mehr belåstigt. Brecht hat sich, auch und gerade in seiner Ihn empærte, dass die Arbeiter auf diesen Emigration, den dringlichen Fragen seiner Schwindel hereinfielen. Fçhren die revolutio- Zeit gestellt. Und weil er fçr seine theatrali- nåren Anforderungen, die Brecht an die Ar- schen Untersuchungen groûe poetische, pa- beiter stellt, nicht zu einer Verzeichnung sei- rabelhafte Formen gefunden hat, kænnen ner proletarischen Bçhnenfiguren? wir seine Stçcke immer wieder neu auffçh- ren. Fçr mich ein leuchtendes Beispiel: Brechts proletarische Bçhnenfiguren sind ¹Mutter Courage und ihre Kinderª am Ber- immer auch poetische Bçhnenfiguren, Figu- liner Ensemble mit der wunderbaren Car- ren seiner Denkspiele. Sie sind kein Ab- men-Maja Antoni. (Brecht hat die tollsten klatsch der Wirklichkeit, sie sind eine Mæg- Rollen geschrieben, geradezu archetypische lichkeit. Erfindungen.) Der Regisseur Claus Pey- mann inszenierte nicht gegen das Stçck ± Was halten Sie von Friedrich Dçrrenmatts was vielleicht einigen unserer Berufsnærgler Satz: ¹Brecht denkt unerbittlich, weil er an behagt håtte ±, sondern er inszenierte mit vieles unerbittlich nicht denktª? der Energie und mit der Phantasie des Stçcks. Ich halte ¹Mutter Courageª fçr ein Dieser Satz gilt eher fçr Dçrrenmatt selbst. Menschheitsdrama wie ¹Antigoneª oder Brecht denkt nåmlich unerbittlich, weil er un- ¹Nathan der Weiseª. erbittlich an vieles denkt, an das sonst nicht gedacht wird. Im Programmheft des BE zu ¹Die heilige Johanna der Schlachthæfeª werden globa- Durch den Untergang des ¹Realsozialismusª lisierungskritische Passagen eines Buches von ist die Marx'sche Lehre verschçttet worden. Jean Ziegler abgedruckt. Spricht die heutige Wenn man nicht bestreitet, dass Marx in sei- Globalisierung fçr eine zusåtzliche Aktualisie- ner Analyse des Kapitalismus aktuell geblie- rungsmæglichkeit des Brecht'schen Theaters? ben ist, ist dann nicht auch Brecht aktuell? Dichter kænnen Zukçnftiges ausmalen, bzw. Als Brechts ¹Heilige Johanna der Schlachthæ- das Zukçnftige in der Gegenwart aufspçren. feª postum 1959 von Gustaf Grçndgens in Goethe hat im 5. Akt von ¹Faust IIª die mær- Hamburg uraufgefçhrt worden ist, lobte man derischen Prozesse der Industrialisierung allgemein die theatralische Qualitåt der Auf- hæchst eindringlich dargestellt. Die Aktualitåt fçhrung, aber allgemein, zumindest in West- der Brecht'schen ¹Johannaª liegt in Brechts deutschland, wurde das Stçck als långst çber- Analyse der wirtschaftlichen Lage von 1930/ holt und wirtschaftlich total falsch bezeichnet. 1931/1932. Zehn Jahre spåter, wir spielten es in Bochum, war das Stçck plætzlich wieder aktuell. In der Um Brecht zu verstehen, braucht es einen so genannten ¹Dritten Weltª wird Brecht Sinn fçr das Geschichtliche seiner Stçcke. Was

APuZ 23±24/2006 5 bedeutet dies fçr die heutige Inszenierungs- Jan Knopf praxis?

Um Brecht zu verstehen, muss man einfach Brecht im seine Texte genau lesen. Nicht anders als bei Shakespeare, Goethe, Schiller oder Bçchner. Das Umfeld, die Entstehungszeit, die jeweili- 21. Jahrhundert ge Intention zu studieren, ist ja eine Selbst- verståndlichkeit. Selbstverståndlich ist es aber auch, die Differenz von damals und heute zu n Brechts letztem Originalstçck Turandot reflektieren. Wir kænnen doch nicht so tun, I oder Der Kongreû der Weiûwåscher (1954) als ob zwischen einer Urauffçhrung 1804 gibt es eine Szene, in der die Tuis ¹auf dem oder 1927 und heute keine Zeit vergangen ist. Strichª gehen und ihre Meinungen verkaufen: Ich meine jetzt nicht Besserwisserei, aber ¹Es kostet nur drei Yen und geht im Stehen.ª jedes groûe Werk enthçllt sich immer wieder (GBA 9,147) 1 Tuis ± gebildet aus der abge- neu und gibt seine Geheimnisse immer wie- kçrzten Umstellung von ¹intellektuellª in der anders preis. Und jedes groûe Werk, und ¹tellekt-uell-inª ± nannte Brecht diejenigen sei es ein kurzes Gedicht, zieht auch Bedeu- Geister, die stur an tungsschichten an. Wir veråndern uns und ihren Ûberzeugungen blicken mit unseren Erfahrungen auf Litera- festhalten, und ginge Jan Knopf tur, auf Kunst. darçber auch die Welt Dr. phil., geb. 1944; Professor unter. für Literaturwissenschaft an der Auf dem Spielplan des BE stehen neben Universität Karlsruhe, Leiter der Brecht auch Samuel Beckett und Thomas Es ist eine Farce, Arbeitsstelle Bertolt Brecht Bernhard. Unterscheiden sich die Stçcke dass ausgerechnet (ABB), Kollegium am Schloss, Brechts in ihrer Weltsicht und Welthaltigkeit Bertolt Brecht, der Bau II, Universität Karlsruhe, nicht sehr von den Werken der beiden Ge- sich schon als Schçler Kaiserstraûe 12, nannten, oder gibt es auûer Trennendem auch çber Meinungen lus- 76128 Karlsruhe. Verbindendes? tig machte, weil sie so [email protected] wenig mit den Tatsa- Bekanntlich hat Becketts ¹Warten auf chen çbereinstimm- Godotª Brecht so interessiert oder irritiert, ten, auf eine Weltanschauung, die des Marxis- dass er ¹Godotª bearbeiten wollte. Alle drei mus nåmlich, festgelegt worden ist, obwohl Autoren ± Brecht, Beckett, Bernhard ± sind er als kritischer Materialist stets dafçr plådiert in ihrer jeweiligen Haltung zur Welt sehr ver- hat, dass die Anschauungen der gesellschaftli- schieden. Da gibt es scharfe Trennungslinien. chen Wirklichkeit zu entnehmen sind und Gemeinsam aber ist ihnen der Humor. Es dass sie sich mit dieser ståndig veråndern ± sind groûe Humoristen. Und es sind Nein- und auch veråndert werden mçssen. Weltbil- Sager. Brecht sagt Nein zur Hoffnungslosig- der seien viel zu mickrig, als dass die Welt in keit. Aber sein Nein geht weiter. Aus der Er- sie hinein passe, und moralische Ûberzeugun- kenntnis der Lage versucht Brecht Folgerun- gen seien vor allem dazu da, sich realiter gen zu ziehen. Brecht sagt: ¹Glçck ist Hilfeª, nicht an sie zu halten. Sogar das Bçhnenbild d. h., er will Hilfe, Abhilfe schaffen. 1 Im Folgenden werden nur die Brecht-Zitate jeweils Håtten Sie gern ein Glas Wein mit Brecht ge- unmittelbar nachgewiesen. Zit. nach: Bertolt Brecht, trunken? Werke. Groûe kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bånden, hrsg. von Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus-Detlef Mçller, Ber- Ich weiû nicht, ob Brecht ein Weintrinker ge- lin±±Frankfurt/M. 1988±2000; zitiert als: wesen ist, er mochte wohl sehr gern bayeri- GBA Band-, Seitenzahl. Weitere fçr diesen Beitrag be- sches Bier, Paulaner am liebsten. Aber wenn nutzte Literatur: Hans Bunge (Hrsg.), Brechts Lai-tu. er mich je zu einem Glas Wein eingeladen Erinnerungen und Notate von Ruth Berlau, Darm- håtte, håtte ich es gewiss als groûe Ehre emp- stadt±Neuwied 1985; Friedrich Dieckmann, Wer war funden und den Wein still getrunken. Brecht?, Berlin 2003; Jan Knopf (Hrsg.), Brecht- Handbuch. Fçnf Bånde, Stuttgart±Weimar 2001± 2003; Ernst Schumacher, Mein Brecht, Berlin 2006; Manfred Wekwerth, Die Unertråglichkeit des folgen- losen Denkens, in: Ossietzky (2006) 4.

6 APuZ 23±24/2006 benannte Brecht um in ¹Bçhnenbauª, um von Elisabeth Hauptmann, jede Assoziation zum ¹Weltbildª auszu- kænnte man sagen, dass sie dahin zurçckge- schlieûen. Und als 22-Jåhriger witzelte er: kehrt sind, woher sie ursprçnglich stammten: ¹Ich vergesse meine Anschauungen immer ins imaginåre Dixieland, durch dessen Jazz wieder, kann mich nicht entschlieûen, sie aus- Weill die Anregung zu seiner Musik erhielt. wendig zu lernen.ª (GBA 26,139) Sie sind zu anonymem Liedgut geworden, das weltweit pråsent ist. Dies liegt nicht zu- letzt auch am Text, der vulgår, frech, humor- Nicht fçr Meinungen, sondern fçr voll, z. T. falsch ist, aber zur Musik so passt, Geschmacklosigkeiten dass er mit ihr eine widersprçchliche Einheit bildet. (Dadurch, dass die Texte ¹einfachª 1998 hatte sich das deutsche Feuilleton nach sind, lassen sie sich auch gut çbersetzen, z. B.: der Feier des 100. Geburtstags entschlossen, ¹Ja, mach nur einen Plan! / Sei nur ein groûes Brecht endgçltig zu Grabe zu tragen, nach- Licht! / Und mach dann noch 'nen zweiten dem es nach der ¹Wendeª meinte, er sei mit Plan / Gehn tun sie beide nicht.ª GBA dem Untergang des Sozialismus ohnehin 11,145) Diese Einheit ist deshalb immer wie- gleich mit erledigt. Dieser Untergang aber der neu herausfordernd, weil Text und Musik fand nur in den Hirnen der hiesigen Tuis sich aneinander reiben und vielfache Interpre- statt; die Kçnstler und ihr Publikum weiger- tationen ermæglichen, die çbrigens z. B. ten sich, den ideologischen Trends hinterher- durch Max Raabe oder neuerdings durch die zulaufen. Hartnåckig (und vorsåtzlich) wird Gruppe ¹Slutª so klingen, als habe man die immer wieder behauptet, Brecht wçrde nicht Lieder zuvor noch nie gehært. gespielt; doch ein Anruf beim Suhrkamp Ver- lag kann das Gegenteil belegen. Dass Sånger Die Beliebtheit der ¹klassischenª Stçcke wie Max Raabe (1999), Robbie Williams wiederum hångt einerseits mit den håufig (2001) oder jetzt Campino von den ¹Toten damit verbundenen hoch attraktiven Rollen Hosenª (2006) Brecht/Weill neu interpretie- fçr die Schauspielerinnen und Schauspieler ren, hat ebenso wenig mit Sozialismus oder zusammen, andererseits aber auch damit, dass Marxismus zu tun wie die Tatsache, dass er sie groûe Geschichten erzåhlen, also traditio- neben oder nach William Shakespeare der nell eine Fabel aufweisen. Die neuere For- meistgespielte Autor auf unseren Bçhnen ge- schung zu Brecht hat diese Tatsache dazu be- blieben ist. Zwischen 1971 und 1979 lagen nutzt, Brecht z. B. gegen Heiner Mçller oder beide mit je 12 000 Auffçhrungen vorn; Goe- auch Harold Pinter als ¹vormodernen Dich- the 5 000, Henrik Ibsen als bester Auslånder terª auszuspielen, dabei aber nicht bemerkt, 6 000 Auffçhrungen (neuere Vergleichszahlen dass Brecht ± auch in seinen theoretischen liegen leider nicht vor). Øuûerungen ± am Primat des Historischen festhielt, weil er dessen Beliebigkeit schon bei Die Brecht-Feierlichkeiten, die in diesem den Nationalsozialisten als verhångnisvoll Jahr zum 50. Todestag vorgesehen sind, und einschåtzte: Wenn es ¹Sinnª gibt, dann ge- zwar weltweit (einschlieûlich Korea und schichtlichen, also von Menschen gemachten Japan), lassen sich nicht mehr zåhlen, alles in und vertretenen. Die ¹modernenª Sinn- und allem, wie es aussieht, werden sie die Zahl Geschichtslosigkeiten waren Folgen der Ost- von 1998 weit çbersteigen. Dass unsere Zeit West-Konfrontation, wonach jede Verånde- fçr Marxismus besonders anfållig sei, låsst rung des Status quo die Gefahr einer Weltka- sich indes wohl kaum behaupten. Es muss tastrophe in sich barg. Diese Zeit ist jedoch folglich andere Grçnde dafçr geben, dass vorbei. Dass Stçcke mit Fabeln fçr die Spiel- Brecht neu einstudiert wird und die Ergeb- barkeit, aber auch fçr das Schauvergnçgen nisse vom Publikum mit Vergnçgen und in der Betrachter mehr hergeben, zeigt der Ver- Massen abgenommen werden. gleich mit Samuel Beckett oder Eug ne Ionesco, die weitgehend von den Bçhnen ver- Beim Musiktheater fållt die Antwort ver- schwunden sind: Die Zeit fçr Leere und Sinn- mutlich leichter als fçr Brechts ¹klassischesª losigkeit (die hat die Spaûkultur çbernom- Theater. Fçr die Lieder, vor allem die mit men) ist erst einmal vorbei. Und die Ge- Kurt Weill, und das heiût da vor allem die schmacklosigkeiten der Massen wurzeln Songs aus der Dreigroschenoper, aus Aufstieg allemal tiefer in der Wirklichkeit als der Ge- und Fall der Stadt Mahagonny und aus schmack der Intellektuellen.

APuZ 23±24/2006 7 Nicht fçr das gute Alte, sondern fçr setzungª der Marx'schen Zyklentheorie (im ¹Kapitalª) gedeutet worden ist, um eine ± ¹Ford-Schrittª sehr ¹westlicheª, aus den USA kommende ± Cornerspekulation handelt. Sie funktioniert Die Brecht-Rezeption in Deutschland und weitgehend nur mit lebensnotwendigen damit auch die æffentliche Debatte in den Waren, die bei einem Ûberangebot von Spe- Feuilletons, wenn da von Brecht çberhaupt kulanten vollståndig aufgekauft und dann ¹in noch die Rede ist, hat sich in den vergangenen die Ecke gestelltª (gecornert) werden. Ist der ± sagen wir: zehn ± Jahren ungeheuer polari- Markt leer, kann der Spekulant die Preise siert, und zwar so, als ob es die welthistori- ziemlich beliebig nach oben treiben, weil er schen Ereignisse von 1989/90 nicht gegeben immer nur wenig Ware auf den Markt wirft håtte. und damit die Nachfrage nach oben treibt. (Weizencorner waren schon Ende des 19. Die alte Brecht-Garde der DDR, zu der Jahrhunderts in den USA sehr beliebt und sich nun auch einige Jçngere aus den west- læsten weltweit Hungersnæte aus.) Die Zei- deutschen Bundeslåndern gesellt haben, tungsausschnitte und weiteres Material, das kommt immer mehr zu der Ûberzeugung, Walter Brecht 1925 bei einem Aufenthalt in Brechts kritisches Potenzial lasse sich nur da- den USA im Auftrag seines Bruders Bertolt durch erhalten, dass fçr ihn und sein Werk sammelte, sind im Bertolt-Brecht-Archiv aus- weiterhin das Banner des Marxismus hochge- reichend dokumentiert, ganz abgesehen halten wird. Der Regisseur und langjåhrige davon, dass der Begriff ¹Cornerª bzw. ¹cor- Intendant des Berliner Ensembles am Schiff- nernª zweimal im Stçck selbst vorkommt. Es bauerdamm, Manfred Wekwerth, von 1986 ging in der Heiligen Johanna eben gerade bis 1989 Mitglied des Zentralkomitees der nicht um die Darstellung eines Geschichtsge- SED und seit 2001 im Øltestenrat der PDS, setzes (wie Marx beanspruchte), sondern pocht in seiner jçngsten Rezension zu Ernst darum, auf åsthetische Weise vorzufçhren, Schumachers Buch ¹Mein Brechtª mit stolz- mit welcher Skrupellosigkeit die kapitalisti- geschwellter Brust auf den Dichter der Arbei- schen Geschåfte gemacht werden, çber Lei- terklasse und rçhmt den Autor, dass er die chen gehend. Damit ist der bisherige Haupt- Dinge endlich wieder beim Namen nennt, beleg fçr Brechts Marxismus in seinem Werk also von Arbeiterklasse und Revolution hinfållig geworden. spricht. Schumacher hatte schon 1955 ein di- ckes Buch (600 Seiten) geschrieben, in dem er Der ¹theoretischeª Hauptbeleg fçr den Be- Brecht bis 1933 Stçck fçr Stçck vorrechnete, ginn von Brechts Marx-¹Studiumª (ab 1926) wie wenig die Arbeiter in ihnen vorkamen. stammt von 1935 und ist eine derart alle Brecht hat Schumacher dann den Gefallen Daten durcheinander wirbelnde, rçckblicken- getan, in die spåte Fassung von Trommeln in de Schrift (GBA 22,138±140), dass ihre Win- der Nacht wenigstens einen Arbeiter (namens digkeit bei genauerer Lektçre geradezu ins Paule), den aber auch nur nach dem Hærensa- Auge sticht (freilich ist sie sehr gut formu- gen, hineinzuschmuggeln. liert). Weitere Øuûerungen Brechts, etwa, Marx sei sein erster Zuschauer gewesen, oder Dass Brecht marxistisches Vokabular be- er habe erst nach dem Lesen des ¹Kapitalsª nutzt hat ± das er aber weniger der Lektçre seine eigenen Stçcke verstanden, sind typi- (von Studium kann keine Rede sein), sondern sche Brecht-Jokes, denen man in den Schrif- mehr seinen, z. T. auch kommunistischen, ten der zwanziger Jahre ståndig begegnet. Freunden verdankte ±, gehært zu den Wider- Brecht hat immer wieder davor gewarnt, ihn sprçchen, die noch zu klåren sind. Dass zu ernst zu nehmen ± aber Humor war schon Brecht aber gleichzeitig ± nåmlich ebenfalls immer so eine Sache. in den zwanziger Jahren ± um die einschnei- denden Verånderungen des Kapitalismus Be- Schwerwiegender ist freilich, dass Brecht scheid wusste, ist inzwischen in aller Klarheit die amerikanische kapitalistische Ideologie, erarbeitet, wird aber eben von der Brecht-Re- auf ækonomischer Seite vertreten durch zeption weitgehend ignoriert. Ich habe schon Henry Ford (Fordismus), auf psychologi- vor fast zwei Jahrzehnten nachgewiesen, dass scher Seite vertreten durch John B. Watson es sich bei der Wirtschaftshandlung der Heili- (Behaviorismus), recht gut kannte und auch gen Johanna der Schlachthæfe, die als ¹Um- in seinen Werken verarbeitete. Mit dem For-

8 APuZ 23±24/2006 dismus war verbunden, dass nach der Erfin- nåchst die ¹Groûe kommentierte Berliner dung des Flieûbands die industrielle Massen- und Frankfurter Ausgabeª (GBA), die 1988 produktion mæglich wurde. Diese hatte je- noch als deutsch-deutsche Ausgabe (in der doch nur Sinn, wenn sich damit auch ein Bundesrepublik: Suhrkamp Verlag, in der Massenkonsum verband. Also benætigte man DDR: Aufbau-Verlag) in textgleichen Bånden Kåufer, und dafçr konnte man verelendete begonnen und 1998 (bzw. 2000 mit dem Er- Arbeiter nicht brauchen. Fords Idee war, die scheinen des Registerbands) abgeschlossen Waren billig zu machen und gleichzeitig wurde. Erstmals zeigten sich nicht nur der die Arbeiter besser zu entlohnen, was er mit immense Umfang und die Vielseitigkeit von einem Schlagwort der Zwanziger Jahre Brechts Werk, sondern auch die Unhaltbar- die ¹Entfeudalisierung des Daseinsª nannte. keit des traditionellen ¹Brecht-Bildsª, das Den Profit machte man vor allem damit, dass durch die alten Ausgaben liebgewonnen wor- man sich das Geld çber die Waren wieder zu- den war. Diese waren nach dem bçrgerlichen rçckholte. Das war ± auch in Europa spåte- Erbrecht als Editionen ¹letzter Handª her- stens nach dem Ersten Weltkrieg ± das Ende ausgebracht worden, wonach der letzte Wille der Arbeiterklasse, auch wenn Wekwerth sie des Autors gilt. Es waren also prinzipiell die weiterhin hochgehalten haben mæchte. Die spåten Texte als Grundlagen gewåhlt worden Arbeiter definierten sich nicht mehr çber ihre (so z. B. der Baal von 1918 in einer Fassung Arbeit, sondern çber ihren Konsum und die von 1955). Viele Fragmente erschienen so, als Freizeit, ihn, den Konsum, genieûen zu kæn- seien sie abgeschlossene Werke (z. T. von Eli- nen, denn ohne mehr Freizeit fçr alle wåre sabeth Hauptmann ¹zu Endeª geschrieben Massenkonsum nicht mæglich gewesen. bzw. geordnet), die Schriften waren zu The- Damit war die Marx'sche Verelendungstheo- menkomplexen vereint, die Geschlossenheit rie, aber auch die Zyklentheorie, erledigt. und Systematik suggerierten. Nicht mehr der ¹starke Armª des Arbeiters trieb die Råder (besser: die Flieûbånder) an, Die GBA dagegen hat die Texte in ihre Zeit sondern der Konsum. Der Behaviorismus se- zurçckgestellt, indem die Textgrundlagen ge- kundierte, indem er die Mittel dafçr bereit- wåhlt wurden, die zeitgenæssisch wirksam stellte, die Konsumption psychologisch anzu- waren. Zugleich læste sie alle Komplexe auf, treiben, etwa durch Verpackungen und Re- die nicht unmittelbar auf Brecht zurçckgin- klame, die dafçr sorgten, dass die Leute sich gen, ordnete chronologisch und brachte die auch das kauften, was sie nicht brauchten ± Fragmente als solche, sodass z. B. die theore- und so ist es noch heute. tischen Schriften nun einen bunt gemischten Haufen aller mæglichen Themen darstellen Brecht hat u. a. im Dreigroschenprozeû und zeigen, dass die meisten Ûberlegungen (1931) Fordismus und Behaviorismus als ¹re- an der praktischen Arbeit orientiert waren, volutionårª beschrieben (verbunden freilich hauptsåchlich zur Selbstvergewisserung dien- mit der Hoffnung, dass auch diese Revolution ten, keine Weltanschauung formulierten und einmal çber die Leiche des Kapitalismus keine geschlossene Theorie ergaben. Dazu ge- gehen werde; GBA 21,478). Ausdrçcklich hært auch die kollektive Arbeit Brechts, der thematisiert ist der Fordismus u. a. in seinem sich zunehmend nicht mehr als Dichter ver- satirischen Gedicht 700 Intellektuelle beten stand, der zur Schaffung seiner Werke nur einen Últank an. Auch die Tuis, so kurz sein Griffel und Papier benætigte, sondern zum Inhalt, haben endlich die neuen Realitåten er- Organisator eines Arbeitsteams wurde, in kannt und beschlossen, die technischen Er- dem Spezialisten tåtig waren, die zugleich die rungenschaften zu ihren neuen Gættern zu ersten Kritiker wurden. machen, freilich in den alten Formen und ¹Im Namen der Elektrifizierung / Des Ford- Nichts blieb dem Zufall çberlassen. Auch schritts und der Statistikª (GBA 11,176). das ¹Plagiatª hat ausgedient; es figuriert in Fortschritt schrieb sich von da an mit ¹dª. der Wissenschaft inzwischen als ¹Intertextua- litåtª und gilt als ein Merkmal fçr hohe Qua- Obwohl die Angebote vorliegen, wird litåt. Kronzeuge dafçr ist Johann Wolfgang weiterhin hartnåckig an Brecht und seinem Goethe, der gegençber dem Franzosen Fried- Werk ¹Weltanschauungª exekutiert. Die For- rich Soret (çberliefert in Eckermanns Gesprå- schungslage zu Brecht hat sich nåmlich in- chen) åuûerte, er habe sich fçr seine Werke zwischen einschneidend veråndert. Da ist zu- çberall und bei jedem bedient, und so sei

APuZ 23±24/2006 9 denn sein Werk das ¹eines Kollektivwesensª, Sozialismus der DDR noch heute festnageln das halt den Namen Goethe trage. zu wollen, ist der reine Hohn. Die DDR war der kleinbçrgerlichste Staat, den sich die Deut- Auch die Behauptung, die Frauen håtten schen bisher geleistet haben. die Werke fçr Brecht geschrieben, ist nicht haltbar. Sie stammt von ¹Forschernª, die kein Fçr Brecht dagegen gilt: Nachdem nach einziges Original in der Hand gehalten 1989/90 Informationsquellen zugånglich haben, denn Brechts Hand ist in den rund wurden, die vorher ± aus ¹guten Grçndenª ± 200 000 Blåttern des Nachlasses çberall prå- versteckt waren, wissen wir heute, dass der sent. So ist beispielsweise çbersehen worden, Kulturfunktionår Wilhelm Girnus im Mai dass Ruth Berlau (Brechts ¹Lai-tuª) Dånin 1951 von Walter Ulbricht persænlich den war und nur bedingt ± sowohl orthogra- Auftrag erhielt, ¹Brecht Hilfe zu leistenª, phisch als auch in der Syntax und Wortwahl ± was so viel hieû, ihn zu bespitzeln. 1954 be- die deutsche Sprache beherrschte (was keines- grçndete Girnus die Ûberlassung des Thea- wegs gegen sie spricht). Sie konnte also ters am Schiffbauerplatz mit den Worten: sprachlich zu Brechts Werk kaum etwas bei- Man mçsse Brecht ¹nicht irgendeine kleine tragen (angeblich stammt ja Brechts po- Quetsche, sondern ein richtiges Theater etischstes Werk, Der kaukasische Kreidekreis, geben, damit er seinen Primitivismus und Pu- weitgehend von ihr, wobei nicht in Frage ge- ritanismus nicht durch mangelnde Technik stellt sein soll, dass sie ihm verwertbare Rat- entschuldigen kannª. Girnus versprach, im schlåge gab). So sehr ich Hans Bunge, der ¹Neuen Deutschlandª, dem ¹Zentralorgan das gleichnamige Buch herausgegeben hat, der SEDª, ¹entsprechende Kritikenª der schåtze, doch es handelt sich um eine Auffçhrungen des BE zu veranlassen. Das Verfålschung, wenn Bunge so tut, als gebe war dann auch der Fall, wenn nicht einfach er Berlau im Original wieder (dies ist Hoch- Brechts Theaterarbeit gleich ganz verschwie- deutsch); auch die Gedichte und weitere gen wurde. Auch Brechts Haltung zum 17. Texte hat Bunge stillschweigend ins Juni 1953 bedarf einer grundlegenden Revisi- Hochdeutsche çbersetzt. Umgekehrt stam- on (dazu aber ist hier nicht der Ort). men die Texte von Berlaus Buch ¹Jedes Tier kann esª von Brecht; dieser brachte ihre Vorlagen auf das notwendige sprachliche Nicht fçr Innerlichkeit, sondern fçr Niveau. Haltungen

Auf der neuen Textgrundlage der GBA, die Die Sonderausgabe der GBA und das neue viele Texte Brechts erstmalig zugånglich mach- ¹Brecht-Handbuchª wurden im September te, entstand das fçnfbåndige ¹Brecht-Hand- 2003 in der Berliner Akademie der Kçnste buchª (2001±2003) an der Arbeitsstelle Bertolt der Úffentlichkeit vorgestellt. Versammelt Brecht (ABB) in Karlsruhe, an dem 68 For- war auch die alte und neue orthodoxe Brecht- scherinnen und Forscher aus acht Låndern Garde, die auch in der Diskussion die Mei- mitgearbeitet haben. Darin wird versucht, den nung vertrat, dass die neue Ausgabe zu ¹un- Blick auf einen ¹neuenª Brecht, ohne Ideolo- çbersichtlichª (um es vornehm auszudrç- gie, zu lenken. Ûber den ideologischen Debat- cken) und wenig benutzerfreundlich sei und ten war nåmlich vergessen worden, dass Brecht dass das alte ± mein ± Brecht-Handbuch væl- ein groûer Kçnstler, auch Sprachkçnstler, war lig ausreiche (ich hatte als Allein-Autor 1980 und eine vællig neue, dem Stand der damaligen und 1984 ein zweibåndiges ¹Brecht-Hand- technologischen Entwicklung angemessene buchª herausgebracht). Tatsåchlich hatten Østhetik ausgebildet hatte, die nicht nur noch sich auch potenzielle Beitråger zum neuen der Entdeckung harrt, sondern auch (indirekt, Handbuch aus diesen Kreisen geweigert, die sozusagen unbewusst) dafçr gesorgt hat, dass GBA zu benutzen (was dazu fçhrte, dass ich sein Werk ¹standhåltª. Brecht vertrat mit ihnen die Vertråge gekçndigt habe). Friedrich Schiller die Auffassung, dass der Mensch erst dann wirklich Mensch sei, wenn Da aber die alten Verhåltnisse nicht restau- er spielt, und dass alle Kçnste dazu da seien, rierbar sind, muss der alte Marxismus mit zur græûten aller Kçnste, der Lebenskunst, neuem Glauben verbunden werden, denn die beizutragen. Einen solchen Mann auf den fins- neue deutsche Glåubigkeit liegt offenbar teren Bierernst des nie real existiert habenden ganz im Trend. Das begann 2002, als auf den

10 APuZ 23±24/2006 Brecht-Tagen in Berlin ± die Fortsetzung der sammenhången Frauen stærende Faktoren Brecht-Tage der DDR ± ¹Brechts Glaubeª sind, werden sie in der Maûnahme, das natçr- auf dem Programm stand. Philosophen, lich ein ¹Passionsspielª ist, einfach beseitigt. Theologen, Publizisten und Literaturwissen- In Klammern merkt Dieckmann an: ¹Eine schaftler hærten sich ± weitgehend zustim- Frau, die den vier Agitatoren am Ende der mend ± an, wie der Chefredakteur von ¹Sinn ersten Szene beigesellt ist, verschwindet spur- und Formª, Sebastian Kleinschmidt, aus- los, ehe sie ein Wort hat sagen kænnen.ª fçhrte, dass Brecht in der ¹Geschichtsphilo- Denn zu beweisen war: ¹Die Liebe zum sophie des Marxismusª das ¹geistige Mittelª Tode, die hier [bei der Tætung des jungen Ge- zur Weltverånderung gefunden habe. In der nossen, J. K.] aus einer Welt voller Schmerzen ¹Verheiûungª, die ¹Antagonismen der men- hilft, findet unter jungen Månnern statt.ª schlichen Existenz zu çberwindenª, liege gar Tatsåchlich verschwindet die Dame im ¹der theologische Glutkern der Lehreª Stçck nicht, denn schon in der 2. Szene er- (nach Ernst Bloch): ¹An dieser Glut hatte hålt sie einen Namen: ¹Anna Kjersk aus auch sein [Brechts] Denken ideologisch Kasanª, und nach der Spielanleitung des Feuer gefangen.ª Dieses aufgeblasene Pa- Stçcks ist die Frau bis zum Ende dabei (sie thos, vermischt mit theologischem Vokabu- gehært zu den vier Agitatoren), denn sie hat, lar, ist so ¹unbrechtischª, wie man es sich wie es im Personenverzeichnis heiût, ¹die nur denken kann. Aber es musste einmal ge- vier Agitatoren, nacheinander auch als: Der sagt sein, dass Brecht eben doch kein Un- junge Genosseª, also auch den jungen Ge- glåubiger war. nossen, zu spielen (was zur raffinierten Spielanlage des Stçcks gehært), ganz abgese- 2003 folgte Friedrich Dieckmann mit dem hen davon, dass die spåteren Szenen ohne Buch ¹Wer war Brecht?ª, das den Anspruch sie nicht mehr gespielt werden kænnten: Es erhebt, den Autor dort gefunden zu haben, fehlte eine Person! ¹wo er am verborgensten ist: in den Stçcken, in denen er, in theatralisch verwandelter Ge- stalt, sein Innerstes preisgibtª. Dass zu Marx Meine These lautet: Brecht hat den Unter- notwendig Hegel gehært, hatte Brecht seinen gang des Sozialismus deshalb çberlebt, weil Ziffel in den Flçchtlingsgespråchen ausfçhren sein Werk sich darauf nicht festlegen lieû ± lassen. Schon bei Hegel in der Vorrede zur bei allem Bemçhen der orthodoxen Brecht- ¹Phånomenologieª wåre nachzulesen gewe- Rezeption. Mit dem Untergang der DDR ist sen, dass, wer ¹sich auf das Gefçhl, sein in- ihr der Boden entzogen worden, und der Ver- wendiges Orakel, beruftª, ¹dem weiter nichts such, auf traditionelle Positionen modische zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich Innerlichkeiten zu pfropfen, zeigt seine Un- finde und fçhle: mit anderen Worten, er tritt haltbarkeit schon in der Manipulation der Be- die Wurzel der Humanitåt mit Fçûen. Denn grçndungen. die Natur dieser ist, auf die Ûbereinkunft mit anderen zu dringen.ª Auch die Linguis- Da Brecht kein Glåubiger, sondern ein ge- tik hat långst erwiesen, dass mit Sprache sellschaftskritischer Realist war ± nicht ohne ¹Inneresª nicht mitteilbar ist, weil die Spra- Widersprçche, die hier aber nicht Thema sein che intersubjektiv und nicht subjektiv ist. konnten ±, bleibt sein Werk schon ganz vor- (Thomas Manns Spåtwerk etwa ist ohne das dergrçndig aktuell: als Kapitalismuskritik. ironische Spiel mit dieser Tatsache nicht zu denken.) Der global siegreiche Kapitalismus hat Das kænnte noch gerade durchgehen, leben Brechts These, dass Kapitalismus immer wir doch wieder in Zeiten von Befindlichkei- auch und immer wieder Krieg bedeute, ten und ¹Anliegenª (letzteres Wort fçhrte durchaus nicht widerlegt. Die Kriege, die auch die Hitliste von Dolf Sternbergers nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ¹Wærterbuch des Unmenschenª an). Schlim- gefçhrt worden sind und auch heute gefçhrt mer wird es, wenn die Texte Brechts interpre- werden, beweisen das Gegenteil. Und es tatorisch verstçmmelt werden, wenn etwa zu zeichnet sich ab, dass nicht nur diese Krie- beweisen ist, dass zumindest die Homoerotik ge, sondern auch unsere Verhåltnisse vom (wenn nicht die Homosexualitåt) zu Brechts Tuismus langsam wieder zur Realitåt zu- ¹Innerstemª gehært habe. Da in solchen Zu- rçckfçhren.

APuZ 23±24/2006 11 Nicht fçr Klassizitåt, sondern fçr ¹Menschenbilder wurden von ihm erfunden, die sich wie Archetypen einprågen: der Rich- Offenheit ter Azdak, der Arturo Ui, der Puntila, die Mutter Courage, das gespaltene Wesen der Vom verstorbenen Verleger des Suhrkamp Shen Te/Shui Taª; die Reihe lieûe sich fortset- Verlags, Siegfried Unseld, stammt die Einstu- zen, und dies sogar mit Figuren aus Gedich- fung Brechts als ¹Klassiker der Vernunftª, ein ten wie z. B. die Marie A. oder die ¹Judenhu- Slogan, mit dem der Verlag çber Jahrzehnte reª Marie Sanders, nicht zu vergessen die hinweg fçr seine Brecht-Ausgaben warb. Der Prosa mit der unwçrdigen Greisin. Archety- Slogan war durchaus zutreffend, insofern pen heiût, dass Brecht auf åsthetische Weise Brecht immer wieder fçr und an die mensch- ¹Menschenbilderª geschaffen hat, die zum liche Vernunft plådierte und sich dafçr ein- bleibenden Bestand der Menschheit gehæren setzte, dass statt kriegerischer Læsungen von werden ± wie die Gestalten aus der Bibel, wie Konflikten die menschliche Vernunft einge- die Helden Shakespeares, Goethes oder setzt werden sollte, um zu friedlichen und Schillers. Das heiût auch fçr die Werke, dass humanen Ergebnissen zu kommen. Aber er sie als Ganzes zum Bestand der haltbaren charakterisiert durchaus nicht sein Werk; Weltliteratur zu zåhlen sind. Als solche aber denn in diesem tummeln sich geradezu die haben sie vordergrçndige Aktualitåt nicht Unvernçnftigen. nætig.

Schlagende Beispiele dafçr sind Galilei und Klassische Werke zeichnen sich dadurch die Courage. Galilei, der zwar viel Vernçnfti- aus, dass sie in der jetzigen und in den kom- ges çber den Sinn und Zweck seiner Wissen- menden Zeiten immer wieder (auch im Auf- schaft zu sagen hat, verråt sie dann aber lieber und-Ab) zu neuen Deutungen und bei Thea- im Zweifelsfall, wenn es um das eigene Wohl terstçcken zu neuen Inszenierungen heraus- geht. ¹Wer die Wahrheit nicht weiû, der ist fordern, die Aspekte freilegen, an die bis bloû ein Dummkopf. Aber wer sie weiû und dahin noch niemand gedacht hat. Vor allem in sie eine Lçge nennt, der ist ein Verbrecher!ª, diesem Sinn werden Brechts groûe Werke sagt Galilei selbstbewusst (GBA 5,271), um immer aktuell bleiben. sich dann in die Reihe der Verbrecher zu be- geben.

Noch deutlicher wird die Unvernunft in Mutter Courage und ihre Kinder. Obwohl die Courage im Lauf der Zeit alle Kinder an den Krieg verliert und ihr Geschåft immer schlechter wird, beschlieût sie am Ende bis- sig, wieder in den Handel zu kommen. Fçr ihre Unvernunft steht das nachhaltige Schlussbild, als sich die Courage ± nun ganz allein ± vor den Wagen spannt und dem Krieg hinterher zieht. In der DDR der fçnf- ziger Jahre gab es fçr Brecht von Seiten der Kulturbçrokratie herbe Schelte, weil dieser sich partout weigerte, die Courage einsichtig werden zu lassen. Da dort der ¹positive Heldª (das Vorbild) gefordert wurde, reihte sich Brecht aus Sicht der SED in die Reihe der unverbesserlichen Pessimisten ein. (Brecht hatte nach dem Faschismus Fçhrer und Vorbilder grçndlich satt: Er brauchte keine Leithammel.)

Wenn man von Brechts Klassizitåt reden will, dann schlage ich vor, lieber Harry Buck- witz zu folgen, der bereits 1980 feststellte:

12 APuZ 23±24/2006 Marc Silberman und der wichtigsten theoretischen Reflexio- nen çber politische Kultur im 20. Jahrhundert Die Tradition im deutschen Theater angestellt. Zweifellos sticht Bertolt Brecht (1898± 1956) als Deutschlands hervorragendster des politischen Dramatiker und Denker in der Tradition des politischen Theaters hervor. In den folgenden Anmerkungen untersuche ich seinen Beitrag Theaters in zum politischen Theater in Deutschland sowie seinen Einfluss nach seinem Tod vor 50 Jahren, insbesondere auf die Arbeit von Hei- Deutschland ner Mçller, der nicht nur als Brechts bester Schçler, sondern auch als sein hårtester Kriti- ker betrachtet werden kann. olitik im modernen deutschen Theater P scheint eine långere und intensivere Ge- Was heiût politisches Theater? schichte als in vielen anderen Nationen und Kulturen zu haben. Theaterwissenschaftler An der Schnittstelle von Kunst, Unterhaltung und -historiker erklåren diesen Unterschied und Ideologie gelegen, sind alle Theaterstç- mit der Tatsache, dass sich Politik in cke ihrem ausdrçcklichen Inhalt oder dem Deutschland kaum historischen Wesen ihrer Auslassungen nach einmal auf der Straûe, politisch. Und ebenso vertritt das Theater po- Marc Silberman sondern vielmehr B.A., Ph.D., geb. 1948; litische Werte, denn seine Konventionen ver- håufig in Darstellun- schieben sich mit der Zeit als Reaktion auf Professor für neuere deutsche gen auf dem Theater Literatur und deutsche Film- eine verånderte gesellschaftliche Realitåt. sowie im leidenschaft- Folglich enthalten sogar Inszenierungen der geschichte an der University of lichen Dialog der Phi- Wisconsin in Madison. harmlosesten eskapistischen Phantasien poli- losophen ereignete. tische Botschaften, indem sie die Werte des German Department, 818 Van Die radikal emanzipa- Hise Hall, University of Wiscon- Status quo verstårken. Von dieser abstrakten torische Botschaft der Perspektive aus gesehen wirkt das Theater sin, Madison, WI, 53706, USA. Aufklårung fand ihre [email protected] wie eine gebrochene Linse, die mehr oder we- Verwirklichung nicht niger deutlich die Bedçrfnisse, Wçnsche und in einer Revolution Øngste einer Gesellschaft zu einem gegebe- wie in Amerika und nen Zeitpunkt offenlegt. in Frankreich, sondern in Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti (1772), Friedrich Eine engere Definition dagegen betrachtet Schillers Råuber (1781) und Georg Bçchners nur jene Stçcke als politisch, die von politi- Dantons Tod (1835). schen Vorgången oder aktuellen gesellschaft- lichen Fragen handeln. Diese funktionale De- Die Klassenkåmpfe, die in den meisten finition begrenzt politisches Theater auf die europåischen Låndern in nationale Einheit Stçcke, die von oppositionellen Gruppen mit mçndeten, wurden im zerstçckelten Deut- der Absicht der Verånderung politischer Ver- schen Reich in Inszenierungen von Gerhart håltnisse produziert werden. Im Extremfall Hauptmanns Die Weber (1892), Carl Stern- kænnte diese Definition sogar noch weiter auf heims Vorkriegssatiren und Georg Kaisers Agitations- und Propagandastçcke be- Gas (1918) ausgetragen. Selbst als sich die Po- schrånkt werden, die absichtsvoll versuchen, litik doch auf Deutschlands Straûen abspielte ein Publikum durch die Manipulation von ± im Spartakus-Aufstand 1918/19, in der po- Mythen, Symbolen und Gefçhlen zu beein- larisierten Gewalt am Ende der Weimarer Re- flussen. Eine dritte Definition setzt das politi- publik, im Volksaufstand in der DDR 1953, sche Theater von passiv zu konsumierender bei der Auûerparlamentarischen Opposition Unterhaltung ab. Fçr diese Art des Theaters in der Bundesrepublik wåhrend der spåten ist das intellektuelle Argument das Marken- sechziger Jahre, bei der friedlichen Revoluti- on in der DDR 1989 ±, wurden einige der Ûbersetzung aus dem Amerikanischen: Hans-Georg aufregendsten politischen Inszenierungen Golz, Bonn.

APuZ 23±24/2006 13 zeichen einer åsthetischen Praxis, die darauf den Klassenkampf und den Gewinn an kol- besteht, die Zuschauerinnen und Zuschauer lektiver Freiheit aus Sicht der Arbeiterklasse zum Denken zu erziehen, nicht unbedingt wiedergeben sollten. Vorschlåge zur Demo- darauf, etwas Bestimmtes zu denken. kratisierung der Theaterkultur, wie sie Wse- wolod E. Meyerhold, Sergej Tretjakow, Wla- Diese und andere mægliche Definitionen dimir Majakowski und der ¹Proletkultª in sind nie ganz voneinander zu trennen. Zudem Moskau entwickelt hatten, sickerten nach stimmen die Absichten eines Dramatikers Berlin ein. Regisseure wie Leopold Jessner mæglicherweise nicht immer mit den Wirkun- produzierten die klassischen Stçcke von gen auf die Zuschauer çberein, wenn diese Shakespeare und Schiller als Unterrichtsstun- çber Politik bzw. çber politisches Theater den fçr die neue Demokratie, wåhrend Pisca- nachdenken. Folglich ist es notwendig, auch tors ¹Totaltheaterª innovative Technologien die oppositionellen Praktiken, die seine Stç- und neue Medien ins Theater einfçhrte. cke enthalten, sowie die Strategien zur Einbe- Nicht nur etablierte Håuser wie die Volks- ziehung des Publikums zu erklåren, wenn bçhne, das Deutsche Theater und das Groûe man Ûberlegungen zur Tradition des politi- Schauspielhaus, sondern auch kurzlebige schen Theaters und ganz besonders zu Gruppen wie ¹Die Tribçneª, ¹Das proletari- Brechts Beitrag anstellen mæchte. sche Theaterª, ¹Die junge Bçhneª, ¹Die Gruppe Junge Schauspielerª und ¹Truppe Anfang der zwanziger Jahre, als Brecht sich 31ª spielten regelmåûig politische Stçcke und als Dramatiker einen Namen machte, erlebten politisierten Inszenierungen, nicht zu reden die Theater in Deutschland den Ûbergang von von den vielen politischen Kabaretts jener der Gesellschaftskritik der Naturalisten und Zeit. Zudem schrieben Ernst Toller, Údæn Expressionisten zu verstårkten Bemçhungen von Horvath, Marie-Luise Fleiûer, Friedrich um ein alternativ-oppositionelles politisches Wolf und andere viele Stçcke, welche die ge- Theater. Die Existenz zweier gut organisierter sellschaftliche Dynamik der Weimarer Ge- Parteien der Arbeiterklasse (SPD und KPD) sellschaft sezierten und das Publikum zum sowie die starken kulturellen Bindungen zwi- politischen Denken herausforderten. schen der jungen Sowjetunion und dem neuen, republikanischen Deutschland schufen den Rahmen fçr eine beispiellose Blçte poli- ¹Øndere die Welt, sie braucht es!ª tisch motivierter Tåtigkeit in allen Bereichen (Die Maûnahme, 1930) der kçnstlerischen Produktion. Die kulturel- len Aktivitåten der Linksparteien zielten auf Als Brecht begann, sich in den frçhen zwan- ein enges, operatives Konzept politischer ziger Jahren einen Ruf zu erwerben, wurde er Kunst, das die Instrumente von Agitation und von der Avantgarde wegen seiner Versuche, Propaganda als Waffen der Klassenaufklårung Kunst und gesellschaftliche Praxis miteinan- fçr das Proletariat modernisieren sollte. ¹Das der zu verbinden, rasch anerkannt. Stçcke rote Sprachrohrª, eine Gruppe, die aus der wie Trommeln in der Nacht, Im Dickicht der kommunistischen Jugendorganisation ent- Stådte, Mann ist Mann und Die Dreigro- standen war, çbernahm das sowjetische Agit- schenoper gehæren hinsichtlich ihrer histo- prop-Modell bei der Umsetzung neuer For- risch bestimmten Diagnose gesellschaftlicher men der Massenerziehung und politischen Umstånde wie der Beschreibung der Struktur Fortbildung im Theater. Inspiriert von Open- (und Zerstærung) menschlicher Beziehungen Air-Auffçhrungen in der nachrevolutionåren zu den radikalsten. Mit seiner ausdrçcklichen Sowjetunion, in der Theater nicht nur als Hinwendung zum Marxismus Ende der kçnstlerisches, sondern auch als politisches zwanziger Jahre begann Brecht damit, theo- Ereignis angesehen wurde, fçhrte Erwin Pis- retische Konzepte als Teil eines græûeren Pro- cator im Jahr 1924 die ¹Revue Roter Rummelª jektes zu entwickeln, das innovative Formen als Wahlkampfhilfe fçr die KPD auf; ein Jahr des Theaters sowie seine politische Agenda spåter produzierte er die Revue ¹Trotz alle- zur Gesellschaftsverånderung ausdrçcken demª, mit der im Juli 1925 der KPD-Parteitag sollte. Brechts Theater war intellektuell sehr eræffnet wurde. ambitioniert und zielte darauf, die Beziehun- gen zwischen einem selbstzufriedenen Publi- Andere experimentierten mit neuen Kon- kum und einer dramatischen Tradition, die zepten einer ¹proletarischen Østhetikª, die auf Unterhaltung basierte, zu kappen. Der

14 APuZ 23±24/2006 ¹Verfremdungseffektª, die Vorstellung des Kreativitåt lebte von Krisen und erhielt die Gestus, der auf einer konstruierten Bezie- græûte Inspiration von der Zuspitzung der hung zwischen Schauspielern, Zuschauern Widersprçche. Dafçr entwickelte er immer und dem Autor beruht, sowie Montagetech- neue dynamische, poetisch-åsthetische For- niken waren Elemente von Brechts neuem men. ¹Eingreifendes Denkenª abstrahiert von ¹Epischen Theaterª, zu dessen Markenzei- einer solchen Dynamik; es bezeichnet eine chen antimimetische, antirealistische und an- Einstellung, die nicht nur nach Kontemplati- tiillusionåre Auffçhrungen wurden. on und Erkenntnis verlangt, sondern auch nach Anwendung und Wirkung und ist dem- ¹Eingreifendes Denkenª lautet die zentrale nach das Ergebnis besonderer åsthetischer Kategorie in Brechts Ûberzeugung, nach der Formen, die den Adressaten (den Leser, das man die Welt veråndern mçsse. 1 Dieses Kon- Publikum, den Schauspieler) durch einen ana- zept entstand wåhrend der frçhen dreiûiger lytisch-distanzierenden Prozess in Bewegung Jahre, in einer Phase, die vielleicht Brechts versetzen. produktivste war, und wurde in verschiede- nen Formen und mit unterschiedlichen Zielen Viele, vielleicht sogar alle Stçcke Brechts wåhrend der Exilzeit (1933±1948) und nach sind unmittelbar ¹politischª, denn sie behan- seiner Rçckkehr nach Ostdeutschland (1949± deln spezielle politische Themen. Die Ge- 1956) umgesetzt. Zum Verståndnis dieser Ka- wehre der Frau Carrar (1937) etwa spielt tegorie ist es zunåchst wichtig, die wider- wåhrend des Spanischen Bçrgerkriegs, Der sprçchliche Verbindung von ¹Eingreifenª Aufstieg des Arturo Ui (1941) behandelt Hit- und ¹Denkenª herzustellen. ¹Denkenª be- lers Weg an die Macht, Die Tage der Kom- schreibt die kontemplative Verbindung zu mune (1949) zeigt die Pariser Commune von einem Objekt, einem Ereignis oder gar zur 1871. Aber diese Vorstellung des Politischen Welt; es markiert vor allem die Distanzierung ist zu eng. Brechts politisches Interesse er- von Subjekt und Objekt. Ûber etwas nachzu- schæpfte sich nicht in den Einzelheiten einer denken, befærdert Analyse und Logik, die historischen Situation. Vielmehr nutzte er be- jenes ¹etwasª de- und danach re-konstruie- stimmte historische Ereignisse, um eine poli- ren. In der langen Tradition der Philosophie tische Einstellung auf Seiten seiner Leser und der Aufklårung ist das Cogito (¹Ich weiûª) Zuschauer zu erzeugen, die nach Verånde- der Ausgangspunkt wie die Grundlage des rung strebt. Im weiteren Sinne war das Thea- Subjektes. Brecht, der die Unbeståndigkeit ter fçr Brecht das Gegenteil von Langeweile einer ¹Dialektik der Aufklårungª 2 unmittel- und Lethargie. Alle seine Stçcke und Schrif- bar erfuhr, empfand diese Definition mensch- ten zielen gegen die Institutionen der Kunst, licher Existenz als zu beschrånkt. die er als grundsåtzlich konservativ betrachte- te. Seine praktische Arbeit bestand darin, Wi- ¹Eingreifenª ist das Gegenteil von ¹Den- dersprçche zu produzieren, Texte neu zu kenª, denn es beschreibt eine Handlung. Aus lesen und die Passivitåt des Publikums zu der Sicht des Subjektes bezieht sich das Ein- durchbrechen. greifen darauf, das Objekt, den Lauf der Er- eignisse oder den Zustand der Welt zu verån- Als Abstraktion beschreibt das Konzept dern. ¹Eingreifendes Denkenª ist typisch fçr des ¹Eingreifenden Denkensª eine dramati- Brechts antagonistische Weltsicht. Seine sche Struktur, die ein dialektisches Verstånd- nis von Gesellschaft hervorbringt, aber es 1 Der Begriff ¹eingreifendes Denkenª oder ¹Ein- wird problematisch, wenn wir einen besonde- greifenª taucht wiederholt in Brechts Schriften der ren Inhalt fçr die Struktur identifizieren Jahre 1930 bis 1933 auf; vgl. z. B. Eingreifendes Den- mæchten. Welche åsthetischen Formen kann ken (1931), in: Bertolt Brecht, Werke, Berlin-Frank- furt/M. 1988 ff., Bd. 21, S. 524 f., und Anmerkungen zu man heute noch benutzen? Gibt es ein be- ¹Die Mutterª (1933), ebd., Bd. 24, S. 188. stimmtes Set von Techniken oder Stilelemen- 2 ¹Die Dialektik der Aufklårungª ist der Titel einer ten, die Brecht in den dreiûiger, vierziger und Reihe von Essays von Max Horkheimer und Theodor fçnfziger Jahren fçr bestimmte historische W. Adorno, die sie im Exil in den USA schrieben; zu- und gesellschaftliche Situationen entwarf und erst auf Deutsch veræffentlicht: Amsterdam 1947. Ihre die heute noch gçltig sind? Solche Fragen las- These lautet, dass die Ursprçnge faschistischer Gewalt in den Prozessen der Rationalisierung und Entfrem- sen sich nicht abstrakt und allgemein gçltig dung zu suchen sind, die durch die Aufklårung in Gang beantworten. Die ¹Politik des Theatersª ± gesetzt worden seien. ¹Eingreifendes Denkenª ± wird in Deutsch-

APuZ 23±24/2006 15 land eine andere als etwa in den USA sein An dieser Stelle mçssen wir uns Brechts mçssen, denn es handelt sich nicht um eine Utopismus zuwenden, ist dies doch der Ort, Formel, sondern um eine Einstellung zur Er- an dem die Fåhigkeit, sich fundamentale Ver- fahrung und zur Vorstellungskraft. ånderungen vorzustellen, ihre Lçcken, sys- tembedingte Beschrånkungen und Unzulång- lichkeiten offenbart. 4 Die Utopien der Mo- ¹Die Widersprçche sind derne strebten danach, das Subjekt in seiner die Hoffnungen!ª Anomie und Entfremdung durch die Vorstel- lung eines Nicht-Ortes auûerhalb der Realitåt (Der Dreigroschenprozess, 1931) zu rehabilitieren, in der das Ideal der Einheit zwischen Arbeit und Leben, zwischen Indivi- Brechts konzeptionelles Denken kann nicht duum und Kollektiv, zwischen Kunst und mit isolierten dramaturgischen Effekten ver- Politik, zwischen Úkonomie und Moral do- wechselt bzw. darauf reduziert werden. Alle miniert. In den zwanziger Jahren hatten deut- Bestandteile einer Auffçhrung ± Schauspiel- sche Schriftsteller wie Alfred Dæblin and kunst, Kostçme, Requisiten, Musik ± waren Hermann Broch musterhafte Techniken ent- Teil eines groûen Projektes auf der Suche wickelt, um durch das Zusammenflieûen von nach innovativen Formen fçr das Theater, ein mythischer und zeitgenæssischer Zeit und Projekt, das untrennbar mit Brechts (undog- durch das Auflæsen von Ortsspezifika in ein matischem) Marxismus und seiner Agenda allegorisches Universum einen zeitlosen der Gesellschaftsverånderung verknçpft ist. Raum in ihrer Prosa zu schaffen. Brecht war ein radikaler Parteigånger des Wandels, und die Art und Weise, wie er sich Auch Brecht verhålt sich auf den ersten diesen vorstellte und wie er ihn darstellte, Blick indifferent zu Zeit und Ort, wandelt er hångt mit den Einschrånkungen zusammen, doch von einem mythischen Chicago zum denen seine Experimente unterlagen, wåh- Kaukasus oder nach China, und spielt er rend er eine Alternative zur existierenden Ge- doch mit Anachronismen in Die heilige Jo- sellschaftsordnung projizierte. hanna der Schlachthæfe (1932) und in Mutter Courage und ihre Kinder (1939) sowie in sei- Heute leben wir in einer anderen Wirklich- nen vielen Adaptationen. Und trotzdem be- keit. Diese ist gekennzeichnet durch die sich steht er auf der Unterscheidbarkeit von Zeit ausdehnende Kraft des globalen Kapitalis- und Ort, um neue Einsichten in strukturelle mus, die Hegemonie der Marktmechanismen, Beziehungen und zwischen historisch vermit- das Wachstum der Kommunikationstech- telten Besonderheiten zu gewinnen. ¹Ver- nologien sowie die Tendenz zur Ablæsung fremdungª und ¹Von-Auûen-Sehenª sind der klassenorientierten zu einer Politik der Brechts wichtigste Werkzeuge, um die Wahr- Identitåt und des Lifestyles. Traditionelle nehmung zu historisieren und zu zeigen, dass Vorstellungen wie Aufklårung, Pådagogik, sich die Vergangenheit von der Gegenwart Fortschritt, Vernunft und historisches Han- unterscheidet und letztere, eben weil sich die deln ± grundlegende Pfeiler von Brechts Visi- Vergangenheit veråndert hat, ebenfalls verån- on der Gesellschaftsverånderung ± sind von derbar ist. postmodernen Vorstellungen in Frage gestellt worden, weil sie ¹universalistischeª, repressi- Zweifellos ist diese Weltsicht eng verbun- ve Meistererzåhlungen im Dienste der herr- den mit einer tiefen Einfçhlung in den Ûber- schenden Eliten seien. Ist Brecht noch rele- lebenskampf des Menschen, den Brecht als vant, wenn er doch mit seinem eigenen Pro- Exilant wåhrend des Dritten Reiches selbst jekt offenbar keinen Erfolg hatte? Sein zu spçren bekam. Sie bietet einen kreativen Scheitern scheint auûer Frage zu stehen, zu- Raum, den auch die Modernisten mit ihrer mindest nach Walter Benjamins Begriff von Reaktion auf Modernisierung und Industria- Geschichte, die demnach eher mit den Mit- teln des Fehlschlags und weniger mit denen des Erfolgs voranschreitet. 3 4 Zu Brechts Utopismus vgl. Friedrich Dieckmann, Brechts Utopia. Exkurs çber das Saturnische, in: ders., Hilfsmittel wider die alternde Zeit, Leipzig±Weimar 3 Vgl. Walter Benjamin, Ûber den Begriff der Ge- 1990, S. 135±177, sowie Barbara Buhl, Bilder der Zu- schichte, insbes. These XIII, in: ders., Gesammelte kunft: Traum und Plan. Utopie im Werk Bertolt Schriften, Frankfurt/M. 1974, Bd. I:2, S. 691±704. Brechts, Bielefeld 1988.

16 APuZ 23±24/2006 lisierung teilten und in dessen Folge Entfrem- und die Isolation der nicht-sozialen Antihel- dung zur Stilfigur utopischen Denkens den der frçhen Stçcke (Baal, Garga, Kragler, wurde. Brechts Stçcke, insbesondere die spå- Fatzer) drçcken Kritik am bçrgerlichen Sub- ten Parabeln, konstruieren Situationen, die jekt aus, ohne in die modernistische Læsung den Ûbergang von einer historisch çberhol- zu verfallen, den Massen durch die Flucht in ten Zeit aufzeigen sowie die Widersprçche einen Hyperindividualismus entgehen zu zwischen altem, seinerzeit funktionalem Ver- wollen. Ende der zwanziger Jahre und insbe- halten und neuen Situationen unterstreichen. sondere mit den experimentellen Lehrstçcken Dieses Missverhåltnis zwischen historischer der frçhen Dreiûiger formulierte Brecht eine Zeit und der Zeit des Subjektes wird durch Alternative zu einer derart subjektivistischen, Utopie vermittelt, nicht, um ein repressives antibçrgerlichen Sichtweise. Diese Alternati- System zu reformieren, sondern um es zu ve bestand in der Kollektivitåt, die sich aus transformieren, indem sie die Menschen er- dem Bewusstsein der Individuen ableitet, das måchtigt, ihre Gegenwart zu verstehen, um durch die Dynamik des Kampfes der Massen sie zu veråndern. Darin liegt Brechts Dialek- in Klassenbewusstsein transformiert wird. An tik: sein Bemçhen, sich etwas vorzustellen, die Stelle des gesellschaftlichen Chaos und was noch nicht realisierbar ist, aber bereits der individuellen Entwurzelung tritt ein Kon- unausweichlich scheint. Sein negativer Mo- sensmodell des Gehorsams dem Kollektiv ge- ment ist die Kritik bçrgerlicher Formen und gençber (¹Einverståndnisª); das neue Indivi- ihrer reaktionåren Folgen, sein positiver, zu- duum wird nicht als Gegensatz zur Masse, gleich auch sein problematischster Moment sondern erst durch sie konstituiert. ist die Utopie. Brechts Vision einer menschlicheren Ge- Die Abwesenheit des Idealzustands liefert sellschaft verånderte sich unter dem Druck die utopische Energie fçr das Projekt der Mo- neuer Formen der politischen Herrschaft in derne. Und doch wird hier die andere Seite den dreiûiger Jahren, insbesondere angesichts der Utopie sichtbar: Kunst und Literatur der des Aufstiegs des Faschismus. Seine Utopie Moderne sind von Negativitåt gekennzeich- wurde immer abstrakter. Brecht versuchte net, von der grundlegenden Geste, das Nicht- vergeblich, auf çberzeugende Weise eine al- repråsentierbare (ou + topos = Nirgendwo, ternative Ordnung zu entwerfen, die dem die Abwesenheit eines Ortes) repråsentieren zeitgenæssischen Faschismus etwas entgegen- zu wollen. Schock, Revolution und der ¹neue zusetzen gehabt håtte. Die Ablehnung des Menschª bezeichnen åsthetische Strategien Teils zu Gunsten des Ganzen ± die Opferung fçr dieses unerreichbare Ziel. Die Utopien des Individuellen zu Gunsten des Kollektivs der Moderne werden durch die Vorstellung in den ¹Lehrstçckenª ± verkehrte sich zu angetrieben, Kunst und Leben miteinander einer veråchtlichen Analyse der zusammen- zu versæhnen oder sie zumindest miteinander brechenden alten Ordnung in Furcht und zu verbinden. In dieser Gleichung wird Elend des III. Reiches (1938), im historischen Kunst als Paradigma nichtentfremdeter Ar- Romanfragment Die Geschåfte des Herrn Ju- beit angesehen, die individuelle Selbstver- lius Caesar (1938/39) und im ebenfalls frag- wirklichung und -kontrolle am besten reali- mentarischen Buch der Wendungen (1935± siert. 1942).

Der politischen Avantgarde verpflichtet, Ins Exil getrieben und erschçttert çber die zielte Brecht jedoch auf eine andere Utopie, Schrecken des Nationalsozialismus, konzen- auf eine, die Kunst und gesellschaftliche Pra- trierte sich Brecht auf neue Mæglichkeiten xis integrieren wçrde. Natçrlich entsprang der Darstellung, weniger auf die Errichtung diese Vision einer historischen gesellschaftli- einer neuen Ordnung. Einerseits scheint der chen Situation, und sie durchlief im Laufe der formale Reduktionismus der Parabel-Stçcke Zeit wichtige Bedeutungsverschiebungen. Als aus jener Periode als eine Art Schutzschild Zeuge des Zusammenbruchs der alten Ord- gegen die unertråglichen Widersprçche der nung und des problematischen Zustands der Realitåt zu wirken, andererseits dezentrali- neuen wåhrend der zwanziger Jahre in sierte der Wechsel von Gegenstand und Tech- Deutschland fçhlte sich Brecht durchaus von nik zu bewusster eingesetzten Formen der der Vorstellung der Erlæsung durch die Ver- ¹Verfremdungª das Verhåltnis von Text und neinung des Selbst angezogen. Der Exzess Publikum, indem die utopische Vorstellungs-

APuZ 23±24/2006 17 kraft in die Zuschauer selbst hineinverlegt tisches Modell zum Beispiel untergråbt die wird. Der Prolog zu Der kaukasische Kreide- starke marxistische Tradition, nach der Dia- kreis, geschrieben 1944, aber erst 1949 veræf- lektik stets zur ¹Aufhebung der Widersprç- fentlicht, formuliert lapidar die politische und cheª drånge. Brechts Definition des Epischen poetische Utopie, die Brecht mit seinen spåte- Theaters in den dreiûiger Jahren ± mit der ren Stçcken in den Blick nahm. Die Mitglie- Trennung der Elemente und der Betonung der der Kolchose repråsentieren ein vorweg- der positiven Qualitåt des Fragments auf- genommenes, kollektives Schicksal, in dem grund seiner Offenheit fçr das Publikum ± ist Kunst und Arbeit zu gleichwertigen Formen ebenso wie die spåtere Revision des ¹Ko-Fa- der Produktion freier Subjekte geworden bulierensª des Publikums im Dialektischen sind. Zwar wurden wåhrend des Krieges Theater in den fçnfziger Jahren ein Beispiel vielerlei Annehmlichkeiten rationiert; das seiner Wertschåtzung fçr den Widerspruch Geschichtenerzåhlen ist angesichts der exis- als produktives Element, nicht als Aussetzen tenziellen Bedrohung jedoch eine Notwen- oder Harmonisieren der Gegensåtze. 6 Seine digkeit. Darstellung, Østhetik und Vorstel- Neuformulierung des Kollektivs als intersub- lungskraft werden zu politischen Handlun- jektives ¹Zusammenlebenª einer Gemein- gen, die einen åhnlichen Gebrauchswert wie schaft betont die Verortung von Subjekten, die Arbeit erlangen. In seinen theoretischen die sich beståndig als Subjekte im Konflikt Schriften charakterisierte Brecht 1940 diese mit und im Widerspruch zu anderen reprodu- Kollektivitåt als ¹Zusammenlebenª. Nach zieren. Fçr Brecht war die Vorstellung eines dem Krieg stellten seine Bemçhungen am autonomen Subjektes vor allem etwas Kon- Berliner Ensemble das praktische Theatermo- struiertes, und das demonstrierte er in der dell fçr ein derartiges Kollektiv dar ± zumin- Umwandlung dramatischer Figuren wie Je- dest in Rohform. 5 raiah Jip in Mann ist Mann, Fatzer und dem Papst in Leben des Galilei sowie in seinem Brecht wurde Ende der zwanziger Jahre Begriff des ¹Gestusª, der die Beziehung zwi- Marxist. Wie der frçhe Marx kritisierte er den schen dem Selbst und der Geschichte proble- Kapitalismus nicht von einem antikapitalisti- matisieren sollte. schen Standpunkt aus, sondern definierte ihn als materielle Antriebskraft, als Motor, der Brecht war kein blauåugiger Utopist, son- immer ausgefeiltere Produktionsverhåltnisse dern ein Intellektueller, der seine kritischen hervorbringt. Und doch gibt es eine idealisti- Mæglichkeiten durch die Erfahrung von Ge- sche Kontinuitåt im marxistischen utopischen winn und Verlust, von politischen Umstçrzen Denken, die auch Brecht zu Eigen war. Sie und historischen Brçchen entwickelte. Der setzt voraus, dass jeder die Interessen des Zusammenbruch der Sowjetunion und des Kollektivs aufgrund seiner eigenen, funda- versteinerten Sozialismus ist eine machtvolle mentalen und unverwechselbaren Klassen- Anklage gegen den traditionellen linken Uto- identitåt teilt, wåhrend doch die hoch diffe- pismus. Aber Brechts Projekt einer gerechte- renzierten Interaktionen in einer derartigen ren, egalitåren Gesellschaft wollte niemals gesellschaftlichen Konstellation eine viel fertige Antworten auf die Frage liefern, wie komplexere Verschachtelung von Bedçrfnis- man die Welt verbessern kænnte. Seine Schrif- sen, Forderungen, Sorgen und Wçnschen ten dienen eher als Vorlagen dafçr, wie man nahe legt. in einer historischen Situation, die als unhalt- bar empfunden wird und des Wandels bedarf, Auch Brecht bestand auf einer politisch-so- die richtigen Fragen formuliert. Obwohl er ziologischen Klassendefinition als primåren an die Kraft der Vernunft glaubte, welche die hegemonialen Ausdruck von Identitåt, ob- Menschen in die Lage versetzen soll, die sie wohl ihm die Komplexitåt des Subjektes umgebenden Probleme zu erkennen und zu durchaus bewusst war. Sein gesamtes drama- læsen, war er doch weder ein engstirniger Ra- tionalist, noch glaubte er naiv an die Unaus- 5 Ûber ¹Zusammenlebenª vgl. Der Messingkauf weichlichkeit des gesellschaftlichen Fort- (1942/43), in Brecht, Werke (Anm. 1), Bd. 22/2, S. 774. schritts und der menschlichen Emanzipation. Die Vorstellung wird vom ¹Philosophenª als grund- Wie sein ¹Eingreifendes Denkenª zeigt, stellt legendes Matrerial der dramatischen Darstellung ein- gefçhrt. Vgl. auch den letzten Eintrag (Nr. 77) in: Kleines Organon fçr das Theater (1948), ibid., Bd. 23, 6 Vgl. [Vom epischen zum dialektischen Theater 2], in: S. 97. ebd., S. 300.

18 APuZ 23±24/2006 Brechts Glaube an die Vernunft ein funktio- orthodoxen Bild des Sozialistischen Realis- nales Konzept dar, das die Individuen in die mus. Nach Brechts Tod und den erfolgrei- Lage versetzt, dieses Interesse zu verfolgen chen Tourneen des Berliner Ensembles nach und so zu handeln, mit anderen Worten: Es Paris 1954 und London 1956 wurde sein geht um ein vernunftgeleitetes Handlungs- Werk als Modell des politischen Theaters ak- prinzip, das weder Leidenschaft noch Ge- zeptiert, soweit es sich der faschistischen Ver- fçhle ausschlieût. gangenheit und dem westlichen Kapitalismus widmete, nicht aber, wenn es den realen So- zialismus zum Gegenstand hatte. Hier liegen Die Nachgeborenen die Ursachen fçr die Versuche, den politi- schen Brecht von seinen kçnstlerischen Tex- Brechts Gesamtwerk gilt als ¹work in pro- ten zu trennen und beide gegeneinander aus- gressª, und daher kænnen sein politisches zuspielen. Theater und seine Politik auf dem Theater nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Im Westen nahm die Brecht-Rezeption, in Das gilt vor allem fçr die vielen Versuche, einer vom Kalten Krieg geteilten Welt, not- Brecht fçr die unterschiedlichsten Zwecke zu wendigerweise einen anderen Verlauf. Mitte instrumentalisieren. Die Brecht-Forschung der sechziger Jahre war Brecht im Osten als und die Brecht'sche Theaterpraxis haben eine offizielle Ikone des Sozialistischen Realismus lange Geschichte in der Nachkriegszeit, mit je- versteinert, wåhrend im Westen seine Neu- weils klar zu identifizierenden politischen entdeckung durch eine junge politische Ge- Ûberzeugungen, Verschiebungen und Revisio- neration bevorstand, die genug hatte vom nen, in Ost wie in West. Im geteilten Deutsch- verstaubten und dominanten Erbe des bçr- land folgte die Rezeption einem deutlichen, gerlichen Humanismus. Fçr manche wurde sich gegenseitig aufwiegenden Muster. Einge- Brecht zum Sprungbrett fçr eine alternative, bettet in einen Kontext aus widerstreitenden kritische Art zu denken, fçr andere zur und widersprçchlichen Diskursen blçhte ein Waffe in den ideologischen Kåmpfen der doppeltes Brecht-Bild inmitten der Ost-West- Linken. Spannungen. Die Widersacher waren von einer aggressiven Rhetorik voller Anklagen und Wåhrend der siebziger Jahre kam es zur Selbstgerechtigkeit gekennzeichnet: auf der Erneuerung: Eine Generation junger Schrift- einen Seite der politische Brecht, auf der ande- steller in der DDR, geschult im dialektischen ren der Dichter; hier der Rebell, dort der Stali- Denken und der Sprache Brechts, bezog sein nist; hier der veraltete Brecht im Museum, dort Erbe auf die Gegenwart. In der Bundesrepu- die umfassende Kritik am Status quo. blik war der anfångliche Enthusiasmus fçr den klassischen Brecht des Berliner Ensemb- Groûe Teile der Brecht-Rezeption in Ost les erloschen, und es dominierten der frçhe wie West litten unter dieser dogmatischen Brecht und die im Osten weitgehend igno- Definition des Politischen, die enge und pole- rierten Lehrstçcke die Aufmerksamkeit fort- mische Positionen entweder fçr oder gegen schrittlicher Theater und Wissenschaftler. Bis die Politik des Stçckeschreibers hervor- zu den achtziger Jahren war Brecht in beiden brachte. Solche Positionen haben die Eigen- deutschen Staaten zum Bestandteil des jewei- schaft, die innovative, experimentelle Energie ligen Kanons geworden. Sein Werk wurde von Brechts Projekt abzuwçrgen, noch bevor wissenschaftlich-professionell untersucht und sie sich entwickeln kann. wurde ironischerweise selbst Teil des Systems von ideologischer Autorisierung und Legiti- Die Regierung in der DDR nutzte Brechts mierung in den Universitåten und æffentlich Rçckkehr nach Berlin sowie die Einrichtung subventionierten Theatern. Seine Geschich- des Berliner Ensembles fçr einen groûen Pro- ten, Stçcke und Gedichte wurden in Schul- pagandacoup, repråsentierte Brecht doch eine anthologien aufgenommen. Literaturwissen- starke Kontinuitåtslinie zu den Linksintellek- schaftler und Theaterhistoriker wandten sich tuellen der Weimarer Republik. Und trotz- Brecht zu, vergleichbar mit anderen Denkern dem betrachteten die Kulturfunktionåre der und Schriftstellern im deutschen Pantheon. SED Brechts Politik und Østhetik bis zu sei- Es kann nicht verwundern, dass bald ein nem Tod am 14. August 1956 mit Argwohn, Ûberdruss an Brecht und seinem Werk ein- passte sein ¹Formalismusª doch nicht zum setzte.

APuZ 23±24/2006 19 ¹Brecht gebrauchen, ohne ihn zu vermied Mçller, was als typischer Bestandteil des Epischen Theaters galt: Lieder, ferner Fi- kritisieren, ist Verratª guren, die sich selbst vorstellen, und Mo- (Heiner Mçller, Fatzer +/± Keuner, 1982) mente, in denen das Publikum unmittelbar angesprochen wird. Die frçhen dialektischen Unter Theater- und Literaturkritikern gilt Parabel-Stçcke lieûen Brechts Verallgemeine- Heiner Mçller (1929±1995) als Brecht-Nach- rungen hinter sich und versuchten, dem zeit- folger par excellence. Er folgte wohl am engs- genæssischen Publikum die ¹Verånderbarkeit ten den Fuûstapfen seines ¹Lehrersª, und der Weltª als Alltagspraxis unter neuen ge- markierte doch als ¹Nachgeborenerª den sellschaftlichen Bedingungen zu verdeutli- Antagonismus der Nachfolge. Wie Brecht chen. Heiner Mçller im Rçckblick 1976: lieû sich Mçller niemals durch die Erfolge an- ¹Bei uns [in der DDR] gibt es im Theater derer Schriftsteller einschçchtern, und seine zwei Richtungen. Die eine kann man auf Originalitåt wie seine Identitåt waren ein Ibsen zurçckfçhren, die andere auf Brecht. Produkt der intensiven Auseinandersetzung Und es ist vielleicht selbstverståndlich ge- mit den Vorlåufern. Das oft zitierte ¹Ge- worden, dass man manchmal gar nicht mehr språch mit den Totenª beschreibt die Tatsa- weiû, was man alles von Brecht çbernom- che, dass jeder einzelne von Mçllers Texten men hat.ª 8 eine Antwort auf andere literarische Texte darstellt, am intensivsten auf jene Brechts, In den sechziger Jahren verschob Mçller und als solche sind sie ein Versuch, die bis Brechts unterbrochene, unstimmige Struktu- heute unerfçllte Vergangenheit wieder zu be- ren immer weiter, bis die Textlçcken zwi- leben. Aber Brecht war kein Modell fçr Mçl- schen Sprechen und Schweigen zu domi- ler, er funktionierte fçr ihn vielmehr als nieren begannen und bis verbale Ellipsen es ¹Klåranlageª. 7 Es ist mæglich, Brechts Ein- erlaubten, Handlung mit Dialog zu kon- fluss in fast jedem Stçck von Mçller zu erken- trastieren. Die Formen des Dramas wurden nen, und doch ist jedes unterschiedlich und immer offener, und die dramaturgische Struk- ein Original. Anders gesagt: Mçller formu- tur warb um die Zuschauerinnen und Zu- lierte håufig seine eigenen Projekte, indem er schauer als Mitproduzenten des Stçckes. Brecht erweiterte und kritisierte. Nach der staatlichen Zensur von Die Um- siedlerin und dem Ausschluss aus dem Obwohl er niemals unmittelbar mit Brecht Schriftstellerverband wandte sich Mçller in zusammengearbeitet hatte (Mçller war 1951 seiner Isolation Brechts Modell des ¹Lehr- als Meisterschçler vom Berliner Ensemble stçcksª aus den dreiûiger Jahren zu. Es galt abgelehnt worden), war der heiû begehrte als Mittel, die Beziehung zwischen Individu- Platz an Brechts Theater zweifellos hæchst at- um und Gesellschaft zu untersuchen, zwi- traktiv fçr den jungen, wissbegierigen und schen Wissen und Macht. Philoktet (1965), schçchternen Mçller. Seine Karriere als Thea- Der Horatier (1969) und Mauser (1970) sind terautor begann in der Tradition des Theaters, Experimentalstçcke, die Brechts klare Argu- das Brecht in ¹Das kleine Organonª be- mentationsstruktur als Mittel adaptieren und schrieben hatte: orientiert an einer diskonti- das Publikum einladen, am Lernprozess teil- nuierlichen, episodischen Dramaturgie und zuhaben. am pådagogischen Anspruch der Historisie- rung. Die frçhen ¹Gegenwartsstçckeª wie Aber auch Mçllers Kritik des Lehrstçcks Der Lohndrçcker (zusammen mit Inge Mçl- wird sichtbar: als Ablehnung der paternalisti- ler, 1957), Korrektur (1958) und Die Umsied- schen Haltung des Autors, die den Plot um lerin (1961) nahmen nicht Zuflucht zu eine vorgefasste Moralstunde um unentschie- Brechts rationalistischen Erklårungen çber dene Figuren und spannungsvolle Handlun- die Motive von Figuren, sondern enthçllten gen herum konstruiert. Seine Lehrstçcke eher deren Widersprçche in einem an Brecht widmen sich der Schwierigkeit und der Am- geschulten ¹Sprachduktusª. Zur selben Zeit bivalenz des moralischen Urteils und erfinden

7 Heiner Mçller, Man muû nach der Methode fragen. 8 Heiner Mçller, Einen historischen Stoff sauber ab- Gespråch mit Werner Heinitz çber das Thema Brecht schildern, das kann ich nicht. Ein Gespråch beim Wis- und die Dramatik der Gegenwart (1983), in: ders., Ge- consin Workshop in Madison/USA (1976), in: ders., sammelte Irrtçmer 2, Frankfurt/M. 1990, S. 27. Gesammelte Irrtçmer, Frankfurt/M. 1986, S. 33.

20 APuZ 23±24/2006 aporetische Strategien der Offenheit und des der Nicht-Diskursivitåt der Postmoderne. In Zweifels. Wåhrend diese Stçcke mit Brechts der Tat haben Quartett (1981), Verkommenes Lehrstçcken den thematischen Schwerpunkt Ufer Medea Material Landschaft mit Argo- gemeinsam haben ± Gewalt und die Notwen- nauten (1982) oder Bildbeschreibung (1984) digkeit, in gespannten politischen Situationen nur noch wenig mit den Ideen und Techniken auch tæten zu mçssen ±, spiegeln sie gleich- von Brechts politischem Theater gemein. zeitig die allmåhliche Absetzbewegung von Mçller fand, dass Brechts heuristische Figur Brechts Parabeln wider. des asozialen Protagonisten, der Widersprç- che çberwinden kann und daher Lehren çber- Nach dem Fçhrungswechsel in der DDR mittelt, sich nicht långer als Provokation eig- Anfang der siebziger Jahre kehrte Mçller im nete. Selbst die Position des Autors als Indivi- Zuge der neuen Kulturpolitik noch einmal duum war fçr ihn nur noch ein Mittel zur zum Theater zurçck. Zunåchst arbeitete er Ausçbung von Macht und Beherrschung, und am Berliner Ensemble, dann an der Volks- so schrumpfte die kritische, politische Rolle bçhne. Die Stçcke, die er in jener Dekade des Autors und Kçnstlers. schrieb ± etwa Zement (1973, eine neue Sicht auf die bolschewistische Revolutionsge- Zugleich war aber die Vorstellung des Sub- schichte, åhnlich wie Brechts Die Mutter), jektes als Garant von Sinn im historischen Die Schlacht (1974, eine Aktualisierung von Prozess fçr Mçller nur bedeutsam çber den Brechts Furcht und Elend des III. Reiches), Umweg çber Brecht. In seinen spåten Stç- Die Hamletmaschine (1977, eine Reduktion cken wird die Illusion des Individuums bis und Adaptation von Shakespeares Hamlet) zum Øuûersten getrieben: Texte sind voll- oder Der Untergang des Egoisten Johann Fat- ståndig entpersonalisiert, ohne Sprecher, sze- zer (1978, eine Verschiebung von Brechts nische Unterteilungen oder Handlungen. Fragment çber die Anarchie nach dem Ersten Stattdessen fçhrt Mçller die Selbst-Diskursi- Weltkrieg in die Zeit der terroristischen vitåt von Sprache und Bildern ein, die den Roten Armee Fraktion der siebziger Jahre) ±, herrschenden Diskurs untergråbt und der beschåftigen sich mit explizit ¹politischenª Kooptation von (historischen) Subjekten Themen. widersteht.

Doch Mçllers kritisch-produktives Ver- Mçllers Stçcke sind wie die von Brecht in håltnis zu Brecht wurde immer mehr zu einer epochalen Kollision von Vergangenheit einer Praxis, in der dramaturgische Struktu- und Gegenwart entstanden. Beide wollten auf ren explodieren und mit Traumsequenzen, ihre Art zwischen dem Alten und dem Neuen mythischen ¹Intermedienª und Szenen des in einer Zeit des Wandels vermitteln. Fçr beide Wahnsinns und der Ekstase angereichert war das politische Theater in Deutschland nie- werden. Das programmatische Ziel lag mals nur eine Frage von politischen Inhalten darin, das Publikum zu çberwåltigen, damit oder Themen. Vielmehr wollte es verstehen, es nicht långer auf einfache und vereinfa- wo und wie das kulturelle Terrain herausgefor- chende Konstruktionen von Sinn zurçck- dert wird. Mçller fand bei Brecht innovative greifen kann. Diese Entwicklung war sym- Wege, um Geschichte zu untersuchen und den ptomatisch fçr die tiefe Krise, in die Mçller Lauf der Geschichte als verånderbar sichtbar angesichts einer Gesellschaft geraten war, in zu machen. Wåhrend seine Mittel nicht långer der die Geschichte zu stagnieren und das zu funktionieren schienen, war die Art und Verhåltnis von Autor, Bçhne und Publikum Weise, Sinn historisch zu verorten ± selbst die geradezu institutionell gelåhmt zu sein multiplen, selbstreflexiven Sinngebungen der schien. Postmoderne ± fçr Mçller in Brechts Werk be- reits angelegt. Um 1980 hatte Mçller in gewisser Hinsicht die politische Aufladung der Brecht'schen Pa- Diese Tradition des politischen Theaters, rabeln erschæpft. Er versuchte nun einen behaftet mit den Konflikten und Brçchen Neuanfang, der als radikaler Bruch mit des Jahrhunderts, in dem Brecht und Mçller Brecht beschrieben wurde, als Schritt in Rich- lebten, wird wieder relevant, wenn es eine tung von Artauds Theater der Grausamkeit, historische Situation, die von ideologischer als eine Abkehr vom rationalistischen Ver- Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet ist, er- måchtnis der Aufklårung und als Ankunft in laubt, die Verhåltnisse radikal in Frage zu

APuZ 23±24/2006 21 stellen, ohne sich um neue Sicherheiten zu Sabine Kebir kçmmern. Diese Tradition des politischen Theaters wird nicht von fertigen Rezepten bestimmt, sondern von der Mæglichkeit, uns Brecht und die unserer eigenen Kreativitåt bei der Deutung der historischen Vorgånge zu bedienen. politischen Internetempfehlungen des Autors: Systeme www.brechtsociety.org: International Brecht Society; m Gegensatz zur Frankreich-Feindschaft www.heinermueller.de: I des offiziellen Deutschland sah sich Ber- Heiner Mçller-Gesellschaft. tolt Brecht in der Tradition der Aufklårung. Er wollte eine intellektuelle Kunst, die sich mit den Bedrångnissen der Zeit auseinander setzte. Fçr seine Generation, die wåhrend des Ersten Weltkriegs herangewachsen war, waren das die Fragen nach den Ursachen von Kriegen und unheil- vollen sozialen Spal- tungen. Sabine Kebir Dr. phil. habil., geb. 1949; Brechts Denkma- Privatdozentin an der Johann xime war der Zweifel. Wolfgang Goethe-Universität Trotz der Nåhe, die Frankfurt/Main; er gelegentlich zu freie Publizistin in Berlin. den Måchtigen hatte, Wiclefstraûe 30, 10551 Berlin. suchte und vertrat er [email protected] eigenståndige Positio- www.sabine-kebir.de nen. Fçr Brecht war die Autonomie des spezialisierten Denkens ± zu dem fçr ihn die Kunst zåhlte ± die Voraus- setzung radikaler Demokratie. In der Weima- rer Republik profilierte er sich rasch als ¹Bçr- gerschreckª, weil seine frçhen Stçcke keine festen Charakterbilder, sondern die Abhån- gigkeit des Einzelnen von den gesellschaftli- chen Verhåltnissen und Zwången zeigten. In Mann ist Mann wird ein Kunde, der einen Fisch kaufen will, unterwegs zu einem Solda- ten gemacht. Zunåchst war es noch kein ås- thetischer Kniff, dass es Læsungen im Stçck nicht gab: Der Autor wusste selber keine.

In der Hauspostille, seiner ersten Gedicht- sammlung, stehen die Menschen einsam in der Welt, einander feindlich gesinnt. Aus einer von 1926/27 stammenden Notiz spricht Skepsis gegen die sozialdemokratischen Ver- sprechungen der Zeit: Zwar sei ¹die kapitalis- tische Klasse in Europa verbrauchtª, aber ¹das Glçck in kleine Stçcke zerschneidenª sei auch keine Læsung: ¹Wenn Proletarier in ¹frischgestrichenen Einheitshçtten hocken

22 APuZ 23±24/2006 zwischen Grammophonen und Hackfleisch- treffenª. Dagegen sollten seiner Auffassung bçchsenª, sei das kein Glçck, ¹denn es fehlt nach auch sozialistisch orientierte Kçnstler die Chance und das Risiko (. . .), das Græûte ¹unbekçmmert (. . .) machen, was ihnen Spaû und Sittlichste, was es gibt.ª 1 machtª. Aber nur diejenigen wçrden ¹gute Arbeit liefernª, die die ¹Spannungenª der Epoche im Hinterkopf håtten. 3 Der enga- Frçhe Politisierung gierte Kçnstler war fçr ihn keineswegs pars pro toto, Teil eines Ganzen, sondern ein eng Brechts Politisierung verstårkte sich, nach- spezialisierter Intellektueller. Das bedeutete dem er am 1. Mai 1927 von der Wohnung des zunåchst die Behauptung einer unabhångigen befreundeten Soziologen Fritz Sternberg aus Position gegençber Publikumserwartungen, beobachtet hatte, wie die Berliner Polizei in wirkte aber auch der kçnftigen Vereinnah- eine verbotene Arbeiterdemonstration schoss mung durch Macht und Ideologien entgegen. und einige Menschen tætete. Der KPD beizu- Mit seinen Lehrstçcken schuf Brecht sperrige treten kam fçr ihn nicht in Frage. Aber er sah dramatische Vorlagen mit unlæsbaren Wider- in ihr die Kraft, welche die Vereinzelung und sprçchen, die auch von Laienspielgruppen politische Ohnmacht der Unterschichten be- und Schulen gespielt werden konnten. Durch enden kænnte. Wenige Wochen nach dem Er- Rollenwechsel konnten die Spieler auch die folg mit der Dreigroschenoper bat Brecht den Situation der anderen Figuren nachvollziehen. KPD-kritischen, aber der Partei angehæren- Dabei konnten Haltungen erlernt werden, die den Autor Bernhard von Brentano um eine fçr die Demokratie grundlegend sind. ¹kleine Sammlung von Literatur (. . .), aus der man als Intellektueller die Grundzçge der Als dramatisch empfand Brecht, dass materialistischen Dialektik studierenª kæn- immer neue technische Mæglichkeiten der ne. 2 Als seinen wichtigsten Lehrer betrachte- Kommunikation entstanden, die Mçndigkeit te er lebenslang den Rechtswissenschaftler und demokratischen Austausch zwischen den und Philosophen Karl Korsch, welcher der Bçrgern håtten færdern kænnen. Er befçrch- KPD-Opposition (KPD-O) angehærte und tete aber, dass sich z. B. das Radio zum Ins- basisdemokratische Konzepte verfocht. trument seichter Unterhaltung und schlei- chender Manipulation entwickeln kænnte. Bei der Lektçre von Lenin und Marx be- 1927 forderte er, dass es ¹an die wirklichen merkte er bei sich selbst Widerstånde, fçhlte Ereignisse nåher herankommenª mçsse: etwa sich aber philosophisch angezogen, weil hier mit der Ûbertragung von Reichstagssitzun- die Gegensåtze der Realitåt zumindest richtig gen, Prozessen, Disputationen zwischen benannt seien. ¹Mehr, als den ,Standpunkt` Fachleuten oder Interviews. Die ¹phantasti- einzunehmen, dass hier die fruchtbaren Ge- schen Summen, die das Radio an æffentlichen gensåtze liegen, ist meiner Meinung nach der Geldernª einnehme, erforderten auch æffent- Kunst dieser (. . .) Ûbergangszeit nicht gestat- lich Rechenschaft. 4 tet.ª Brechts Einstieg in den Marxismus er- folgte nicht auf der Basis der damals zirkulie- Die Intellektuellen, von denen Brecht sich renden Heilsvisionen, sondern auf hegeli- politisch schulen lieû, hielten die Sowjetunion anischer Grundlage. Er favorisierte nicht wegen des Mangels an Demokratie nicht fçr Fortschritt durch Identifikation mit Idealen, richtungweisend fçr Deutschland. Diesen sondern durch bewusste Teilnahme am Kråf- Makel lasteten sie aber weniger dem System tespiel von Widersprçchen, auch wenn sie sich als der Unterentwicklung des Landes an. als unauflæsbar erwiesen und Kompromisse Brecht setzte fortan immer zu groûe Hoff- erforderten. Deshalb schloss er sich nicht dem nungen auf eine emanzipatorische Entwick- Bund proletarischer Schriftsteller an, bemçh- lung, die durch die Nationalisierung von Pro- ten sich die Mitglieder dieser Organisation duktionsanlagen und Ressourcen ausgelæst doch darum, ¹die Ansichten der Proletarier zu werden kænne.

1 Bertolt Brecht, Werke. Groûe kommentierte Berli- 1929 errangen die Nationalsozialisten in ner und Frankfurter Ausgabe (GBFA), hrsg. von Wer- Thçringen einen groûen Wahlerfolg. Die Wei- ner Hecht u. a., Berlin±Weimar±Frankfurt/M. 1988± 1998, Bd. 21, S. 140±141. 2 Brecht an Bernhard von Brentano, Sept./Okt. 1928, 3 GBFA 21, S. 142±145. in: GBFA 28, S. 310. 4 Ebd., S. 215±217.

APuZ 23±24/2006 23 marer Demokratie schien im Begriff, sich sel- seit 1924 sozialdemokratisch regierten Dåne- ber abzuschaffen. Mit Walter Benjamin konzi- mark die faschistischen Bewegungen, aber pierte Brecht zwischen Herbst 1930 und Frçh- auch die Linke. Das Kænigliche Theater Ko- jahr 1931 die Zeitschrift ¹Krise und Kritikª. penhagen stellte fçr Brechts Heilige Johanna Hier sollte die Rolle der Intellektuellen in den der Schlachthæfe zwar einen Vertrag aus. Weil kommenden Auseinandersetzungen definiert jedoch der Fleischexport nach Deutschland werden. Fachleute sollten die Krise der Demo- eine Hauptsåule der dånischen Volkswirt- kratie aus wissenschaftlicher, kultureller und schaft darstellte, kam es hinter den Kulissen kçnstlerischer Sicht analysieren. Die Zeit- zu heftigem Streit um das Stçck, und die Auf- schrift sollte keinen populistischen Standpunkt fçhrung kam nicht zustande. des Proletariats verfechten, sondern allein den der Intelligenz. Unter den angesprochenen Bei der Premiere von Die Rundkæpfe und Autoren waren Hanns Eisler, Kurt Weill, die Spitzkæpfe (1936) im kleinen Theater Rid- Georg Luk™cs, Karl Korsch, Herbert Marcuse, dersalen applaudierte zwar die linke und Erwin Piscator, Fritz Sternberg, Theodor W. linksbçrgerliche Szene, aber danach kam es Adorno, Karl August Wittfogel und Siegfried zu massiven antisemitischen Demonstratio- Kracauer. Alfred Kurella 5 war der einzige nen dånischer Nazis vor dem Theater und zu unter ihnen, der die KPD-Linie vertrat. Ausfållen der rechtsextremen Presse gegen den ¹Judenª bzw. ¹Semigrantenª Brecht. Die Schon Anfang der dreiûiger Jahre hatten acht Tage spåter im Kæniglichen Theater Brecht und Benjamin den Fortschrittsbegriff stattfindende Premiere von Die sieben Tod- der Sozialdemokraten und die eschatologi- sçnden der Kleinbçrger wurde nach nur zwei sche Siegesgewissheit der Kommunisten ab- Auffçhrungen abgesetzt. Der berçhmte Cho- gelehnt. Sie sahen, dass Katastrophen und reograph Harald Lander beståtigte, dass auf furchtbare Rçckschritte mæglich waren, und den dånischen Gesandten in Berlin Druck zweifelten an der ¹unendlichen Perfektibilitåt ausgeçbt worden war. 9 der Menschheitª. Das Zeitschriftenprojekt scheiterte letztlich an der Verschårfung der Fçr Brecht war klar, dass es keine profes- politischen Situation. 6 sionellen Auffçhrungen seiner Stçcke an då- nischen Bçhnen mehr geben wçrde. Vergeb- Demokratie und Faschismus lich versuchte er, das 1937 mit seiner Gelieb- ten Ruth Berlau verfasste Kriminallustspiel Alle wissen alles unter Pseudonym zur Auf- 1933 suchte Brecht zunåchst nach Exilmæg- fçhrung zu bringen. Auf den ersten Blick lichkeiten in Frankreich. Er folgte aber bald geht es in dem Stçck um Klatsch und Verrat seiner Frau Helene Weigel, die eine Einla- unter Nachbarn. Das Stçck hat aber eine dung ihrer Freundin und Mentorin Karin Mi- zweite, kryptische Ebene. Ich konnte zeigen, chaelis 7 nach Dånemark angenommen hatte. dass Brecht hier das diabolische Zusammen- Schon im April 1933 hatte Alfred Rosenberg, spiel der Spitzelsysteme von Deutschland Chefideologe des neuen NS-Regimes, deut- und der Sowjetunion anvisierte. 10 Mehrere lich gemacht, dass man von Dånemark und Freunde waren auf Grund von Denunziatio- den anderen skandinavischen Låndern er- nen verhaftet worden, darunter die Schau- warte, sich nicht in eine ¹internationale spielerin Carola Neher 11 und Ernst Ott- deutschfeindliche Frontª einzureihen, son- walt 12, der eine Weile Brechts Nachbar in dern dem ¹rassen- und blutsverwandten Skovsbostrand bei Svendborg gewesen war. Volkª die Hand zu reichen. 8 Die Machtçber- Brecht musste damals den Verdacht hegen, nahme der Nationalsozialisten stårkte in dem dass der in die Schweiz emigrierte Bernhard

5 Alfred Kurella (1895±1975) hatte seit 1919 Funk- von Brentano durch Indiskretionen in westli- tionen in der internationalen kommunistischen Ju- chen Zeitungen çber angeblich Hitler-freund- gend- und Kulturbewegung inne; in der DDR war er Kulturfunktionår. 9 Harald Lander an Harald Engberg, 23. 1. 1963, in: 6 Vgl. Erdmut Wizisla, Benjamin und Brecht, Frank- ebd., S. 175. furt/M. 2004, S. 268 ff. 10 Vgl. meinen Kommentar in: GBFA 18, S. 1060. 7 Karin Michaelis (1872±1950) schrieb Romane zur 11 Carola Neher (1900±1942) wurde am 25. Juni 1936 Emanzipation von Frauen und Kindern. verhaftet. Brecht erfuhr davon Anfang 1937. 8 Zit. nach: Harald Engberg, Brecht auf Fçnen. Exil in 12 Ernst Ottwalt (1901±1943), Mitarbeit an Kuhle Dånemark 1933±1939, Wuppertal 1974, S. 23. Wampe, ging 1934 in die Sowjetunion.

24 APuZ 23±24/2006 liche Briefe, die Ottwalt ihm aus der Sowjet- zunehmen. Stattdessen schlug er ± åhnlich union geschickt haben sollte, an dessen Ver- dem Impuls zur Zeitschrift ¹Krise und Kritikª haftung indirekt mitschuldig sei. 13 Manche ± die Grçndung einer Diderot-Gesellschaft der unliebsam gewordene Emigranten wie vor, in der sich Intellektuelle zu einem interna- Ottwalds Frau Waltraut Nicolas wurden von tionalen Netzwerk zusammenschlieûen und Stalin nach Deutschland ausgewiesen und eine neue, der modernen Aufklårung ver- kamen dort in Konzentrationslager. Berlau pflichtete Enzyklopådie herausgeben sollten. bezeugte spåter, dass sie Brecht mit dem so- wjetischen Botschafter bekannt gemacht Wenn Dånemark in den Sog eines Anpas- habe. Es sei ¹sehr peinlichª fçr sie gewesen, sungsprozesses an den çbermåchtigen Nach- dass er als erstes ¹nach Carola Neher fragte, barn geriet, lag das auch am regen Kulturaus- ob man feststellen kænnte, wo sie istª. 14 tausch. 1938 wurden die Hamletfestspiele in Helsingùr von auch in Dånemark beliebten Brecht beschrånkte seine Zusammenarbeit deutschen Stars bestritten. Der Bçrgermeister und Auseinandersetzung mit der Sowjetuni- von Helsingùr empfing den in weiûer Parade- on auf die Literatur. Neben Johannes R. Be- uniform erschienenen Reichsfeldmarschall cher und dem in die USA emigrierten Lion Hermann Gæring, der die Schauspieler Gus- Feuchtwanger war er Mitherausgeber von taf Grçndgens, Marianne Hoppe und Hein- ¹Das Wortª, einer in Moskau edierten Zeit- rich George begleitete, wie einen Staatsgast. schrift, in der deutschsprachige Exilautoren Obwohl Gærings Privatjacht Brechts Wohn- publizierten. Feuchtwanger hatte als Beo- sitz auf der Insel Fçnen passiert hatte, erregte bachter an einem der Moskauer Schaupro- sich dieser in seinem Journal çber etwas an- zesse æffentlich erklårt, dass er das Verfahren deres: In den Moskauer Zeitschriften ¹Das fçr echt halte. Brecht war skeptischer: ¹Wenn Wortª und ¹Internationale Literaturª wurde man von mir verlangt, dass ich etwas Beweis- ein Konzept von ¹Sozialistischem Realismusª bares glaube (ohne den Beweis), so ist das, verfochten, in dem er namentlich als deka- wie wenn man von mir verlangt, dass ich denter ¹Formalistª gebrandmarkt wurde und etwas Unbeweisbares glaube: ich tue es in dem es keinen Raum mehr fçr eine emanzi- nicht.ª 15 patorisch orientierte Østhetik gab. 16

Dass die westlichen Demokratien Hitler Auch aus Briefen Walter Benjamins geht und Mussolini nicht daran hinderten, massive hervor, dass Brecht 1938 die sowjetische Kul- militårische Mittel fçr Franco einzusetzen, turpolitik ¹als katastrophal fçr allesª erkannt der gegen die gewåhlte spanische Koalitions- hatte, ¹wofçr wir uns seit 20 Jahren einset- regierung geputscht hatte, war fçr Brecht ein zenª. 17 Unter gewichtigen Vorbehalten såhen Zeichen, dass sie sich åhnlich wie die Weima- er und Brecht die Sowjetunion aber noch frei rer Republik dem Faschismus nicht konse- von ¹imperialen Interessenª und deshalb quent entgegenstellten. Auf den Internationa- ¹noch als Agentin unserer Interessen in len Schriftstellerkongressen zur Verteidigung einem kçnftigen Kriege wie in der Verzæge- der Kultur in Paris 1935 und 1937 vertrat er rung dieses Krieges. (. . .) Dass diese Agentin die viele schockierende These, dass Kapitalis- die denkbar kostspieligste ist, indem wir sie mus in Faschismus umschlagen kænne. Im Ge- mit Opfern bezahlen mçssen, die ganz beson- gensatz zu anderen Autoren hielt er es fçr ders die uns als Produzenten naheliegenden falsch, aktiv am Spanischen Bçrgerkrieg teil- Interessen schmålern, das zu bestreiten wird Brecht ebenso wenig in den Sinn kommen, wie er erkennt, dass das gegenwårtige russi- 13 Vgl. Bernhard von Brentano an Brecht, 23. 1. 1937, sche Regiment das persænliche mit all seinen in: Bertolt-Brecht-Archiv (BBA) in der Akademie der 18 Kçnste, Signatur 481/4, und Brechts Antwort, 10. 2. Schrecken ist.ª 1937, in: GBFA 29, S. 8 f. 14 BBA 2166/89±90. Brecht versuchte, den einfluss- reicheren Feuchtwanger zur Rettung Nehers ein- 16 GBFA 26, S. 312 f., S. 315±317; siehe auch GBFA zuspannen: GBFA 29, S. 13, S. 30 ff. Ihretwegen 29, S. 109. schrieb er noch einmal 1952 an Wladimir Semjonow, 17 Walter Benjamin an Gretel Karplus (spåter Berater der sowjetischen Kontrollkommission in der Adorno), 20. 7. 1938, in: ders., Gesammelte Briefe, DDR, GBFA 30, S. 118±119. Neher starb im Juni 1942 Frankfurt/M. 1995±2000, Bd. VI, S. 138. in einem sowjetischen Arbeitslager bei Orel. 18 Walter Benjamin an Max Horkheimer, 3. 8. 1938, 15 GBFA 18, S. 169. ebd., S. 148.

APuZ 23±24/2006 25 Weil er eine baldige Besetzung Dånemarks nannte Brecht Furcht und Elend des Dritten befçrchtete, 19 ging Brecht im April 1939 nach Reichs; das sei allerdings ein Anti-Hitler- Schweden. Die Hoffnung, dass dieses wesent- Stçck und komme wegen des Paktes mit lich måchtigere Land Hitler sein Eisenerz ver- Deutschland sicher nicht in Frage. Brechts weigern wçrde, beståtigte sich nicht. Sein An- Gespråchspartner vermittelten Berlau den tikriegsstçck Mutter Courage und ihre Kinder Eindruck, dass sie vom baldigen Kriegsbe- wagte keine skandinavische Bçhne mehr auf- ginn und dem Ende des Freundschaftspaktes zufçhren. Seinem Journal vertraute er an, dass çberzeugt waren. 24 der einen Tag vor Hitlers Einmarsch in Polen ratifizierte Nichtangriffspakt zwischen Berlin Dass Brecht, der nach Stalins Maûstab und Moskau seitens der Sowjetunion das Trotzkist war, 1941 unbehelligt durch das ¹fçrchterliche Stigma einer Hilfeleistung an Land des Gulag in die USA reisen konnte, den Faschismusª trage. ¹Ich glaube nicht, dass hatte er wohl seiner Freundschaft zu Feucht- mehr gesagt werden kann, als dass die Union wanger zu verdanken. Stalin wollte sich zwei- sich eben rettete, um den Preis, das Weltprole- fellos die Loyalitåt dieses weltberçhmten Au- tariat ohne Losungen, Hoffnungen und Bei- tors erhalten. Da Brecht seit Jahren weder stand zu lassen.ª Als Stalin zwei Wochen spå- prestigetråchtige Auffçhrungen noch Publi- ter Ostpolen besetzte, war er çberrascht, dass kationen im Westen hatte, sah der Kreml in dies in ¹einer eigentçmlich napoleonischen ihm noch keinen åhnlich einflussreichen In- Formª vor sich ging. 20 tellektuellen.

Obwohl die Sowjetunion nun doch wie eine imperialistische Groûmacht agierte, ¹Unamerikanische Tåtigkeitª hoffte er weiterhin, dass sie sich gegen Hitler behaupten wçrde. Die rasche Kapitulation In den USA war Brecht fast unbekannt, er Frankreichs schockierte ihn. Fçr die ver- fçhlte sich wie ¹Lenin im Praterª 25 und hatte zwickte Lage der skandinavischen Lånder, Probleme, seinen Lebensunterhalt zu sichern. die sich zwischen einem Bçndnis mit der So- Er fand aber unter den Emigranten immer wjetunion oder mit Hitler entscheiden muss- wieder Kçnstler, die in der Filmindustrie Er- ten, machte er die Appeasementpolitik Groû- folg hatten und bereit waren, mit ihm Dreh- britanniens verantwortlich. 21 Da sich die bçcher zu entwerfen und ihre Verbindungen Demokratien vom Faschismus bis zur Selbst- in die Studios spielen zu lassen. Obwohl er aufgabe unter Druck setzen lieûen, lehnte er vor allem an das Geld zu denken hatte, das er die These, nach der Demokratie und Faschis- verdienen musste, hielt er daran fest, den Plot mus Gegensåtze seien, weiterhin ab. 22 jeweils so zu konstruieren, dass die menschli- chen Beziehungen vor allem auf den ækono- Als Brecht 1941 auf seiner Reise in die mischen Voraussetzungen basierten. USA in Moskau Michail Apletin traf, den fçr Verbindungen mit dem Ausland zuståndigen Brecht trat zwar wie Orson Welles und Vertreter des Schriftstellerverbandes, schlug Charles Chaplin fçr die rasche Errichtung dieser ihm eine bezahlte Zusammenarbeit fçr einer zweiten Front in Westeuropa ein, doch das KGB in den USA vor. Brecht lehnte ab, trotzdem wçhlten ihn die Parallelen zwischen betonte jedoch, sich niemals antisowjetisch Hitler und Stalin auf: ¹In gewisser Hinsicht betåtigen zu wollen. 23 Ruth Berlau begleitete treten die Øhnlichkeiten der beiden groûen ihn mehrfach zu solchen Gespråchen. Sie be- Bewegungen Faschismus und Bolschewis- richtete spåter, dass niemand versucht habe, mus, welche den planwirtschaftlichen Ten- seine Entscheidung zu beeinflussen, in die denzen entsprechend die neuen autoritåren USA zu gehen. Auf die Frage, ob er ein Staatsgebilde geschaffen haben, mehr hervor Stçck habe, das gedruckt werden kænne, als ihre Unåhnlichkeiten.ª 26 Sie inspirierten sich gegenseitig: ¹Im Faschismus erblickt der Sozialismus sein verzerrtes Spiegelbild. Mit 19 Dånemark wurde erst ein Jahr spåter, am 9. April 1940, nahezu widerstandslos besetzt. 20 GBFA 26, S. 344 f. 24 Vgl. John Fuegi, Brecht & Co., Hamburg 1998, 21 Ebd., S. 372. S. 576. 22 GBFA 27, S. 266 f. 25 Ebd., S. 71 23 BBA 2166/82. 26 Ebd., S. 20.

26 APuZ 23±24/2006 keiner seiner Tugenden, aber allen seinen Las- Angesichts seines permanenten Misserfolgs tern.ª 27 in den amerikanischen Filmstudios ist es merkwçrdig, dass Brecht 1947 vom ¹Aus- Dass Brecht besonders die mit dem New schuss zur Untersuchung unamerikanischer Deal in den USA entstandene Form der De- Tåtigkeitª des amerikanischen Repråsentan- mokratie aber keineswegs mit Weimar gleich- tenhauses vernommen wurde; Brecht galt je- setzte und nicht pauschal verwarf, geht aus doch als geistiges Einfallstor des Kommunis- dem Rat hervor, den er Ruth Berlau gab, als mus in Hollywood. Wåhrend des Exils in den sie am 9. Mai 1942 auf einem internationalen USA war er jahrelang bespitzelt worden. Frauenkongress gegen den Faschismus Ruth Berlau, die ihn zum Shoreham-Hotel in sprach: ¹Sag in der Rede, dass Demokratie Washington begleitete, wo Brecht sich mit 18 nicht etwas ist, was man hat oder nicht hat, weiteren Regisseuren und Drehbuchautoren sondern etwas, um das man ståndig kåmpfen auf die Befragung vorbereitete, berichtete, muss, wenn man es hat. Der Kampf gegen dass ¹vielleicht zwei von ihnen wussten, wer den Faschismus wird gewonnen durch De- das warª. Mit Hilfe der Anwålte wurde fest- mokratie, viel Demokratie, mehr Demokra- gelegt, dass Brecht als Einziger die Frage tie, breiteste Demokratie. Erzåhl, wie sehr ge- nach der Parteizugehærigkeit beantworten schwåcht der Kampf Frankreichs gegen die sollte, da unklar war, ob er als Auslånder Invaders wurde durch die Aufgabe der De- Aussagen verweigern konnte. Dass er die mokratie.ª 28 Als US-Pråsident Franklin D. Frage wahrheitsgemåû negativ beantwortete, Roosevelt starb, drçckte er sein Bedauern empærte vor allem kommunistische deutsche darçber aus, dass mit ¹dem Tod des aufge- Emigranten, 31 die darin eine freche Postulie- klårten Demokratenª die ¹Fçhrung der De- rung der Unabhångigkeit der Intellektuellen mokratien an Churchillª çbergehe. 29 von der Parteilinie sahen.

Mit der sich seit 1944 entwickelnden Zu- sammenarbeit mit dem Schauspieler Charles Zurçck nach Europa Laughton an Leben des Galileo Galilei gelang Brecht in den USA ein einziges erfolgreiches Unmittelbar nach seiner Vernehmung reiste Projekt. Das Stçck weist auf die gesellschaft- Brecht in die Schweiz. Dort erhielt er einen liche Verantwortung der Wissenschaft hin. Brief des sowjetischen Kulturoffiziers Ale- Nach dem Atombombenabwurf auf Hiro- xander Dymschitz, der ihm in der SBZ Un- schima und Nagasaki traf es auf Publikums- terstçtzung anbot. 32 Nach der Lektçre eines interesse und kam 1947 mit groûem Erfolg Buchs çber die Verarbeitung der Franzæsi- zur Auffçhrung. schen Revolution durch Goethe und Schiller notierte er: ¹Noch einmal keine eigene [Re- Nach dem Krieg brachten sich die Groû- volution] habend, werden nun wir die russi- måchte rasch fçr die vorhersehbare Welt- sche zu ,verarbeiten` haben, denke ich schau- konkurrenz auch auf kulturellem Gebiet in dernd.ª Wie weit Deutschland von einer eige- Stellung. Da die Sowjetunion keinen sozialis- nen Revolution entfernt war, zeigte sich fçr tischen Separatstaat, sondern die Neutralisie- ihn darin, dass es an ¹Kritik des Nationalso- rung ganz Deutschlands anvisierte, konzi- zialismusª mangele, der stattdessen mit dem pierte sie fçr die Besiegten eine andere Kul- Sozialismus gleichgesetzt werde. Es komme turpolitik als die, die in der Sowjetunion aber darauf an, die Idee der Nationalisierung selbst herrschte. Davon und von seiner nach von Produktionsanlagen zu unterscheiden auûen loyalen Haltung sollte Brecht profitie- von Hitlers ¹Nationalisierung fçr den ren. Aus einem Brief an Michail Apletin geht Kriegª. 33 In seinen Augen waren die ¹Ver- hervor, dass er im Sommer 1945 bereits ein gasungslager des IG-Farben-Trusts (. . .) Mo- allgemeines Angebot auf berufliche Hilfe er- numente der bçrgerlichen Kultur dieser Jahr- halten hatte. 30 zehnte.ª 34 Die franzæsische Bourgeoisie habe ¹lieber unter der preuûischen Elite als unter

27 Ebd., S. 158. 31 BBA 2166/133±144. 28 GBFA 29, S. 228. 32 Vgl. Alexander Dymschitz an Brecht, 23. 11. 1947, 29 GBFA 27, S. 223. in: Nachlass Victor Cohen im BBA, o. Sg. 30 Brecht an Michail Apletin, Sept. 1945, in: Brecht- 33 GBFA 27, S. 258±259. Nachlass Victor Cohen im BBA, o. Sg. 34 Ebd., S. 268.

APuZ 23±24/2006 27 dem franzæsischen Mob lebenª wollen, und Buch des vergangenen Jahres, nannte er Maos zwar ¹in der schåbigsten und schwåchlichsten Aufsatz ¹Ûber den Widerspruchª. Im Gegen- Weiseª. 35 Immer noch hoffte er, dass das Pro- satz zu Stalin hatte Mao die Lehre Hegels letariat eine neue Wirtschaftsform aufbauen von den unversæhnlichen Widersprçchen kænne. Ein ¹befohlener Sozialismusª, meinte nicht aus seinem Denksystem eliminiert. er, sei besser ¹als gar keinerª. 36 Noch 1949 hatte Brecht das Berliner En- Dass Brecht unter Sozialismus etwas ande- semble (BE) gegrçndet und war in die entste- res verstand als die Elite der kçnftigen DDR, hende DDR çbergesiedelt. Das BE gastierte stellte sich schon im Herbst 1948 heraus, als im Juni 1950 erfolgreich in Braunschweig, er als Gast am Deutschen Theater in Berlin Hannover und Wuppertal, einen Monat spå- Mutter Courage und ihre Kinder inszenierte. ter in Dçsseldorf. Ein Teil der Westpresse rief Wegen eines Aufbauliedes geriet er in Kon- zum Brecht-Boykott auf, der aber nie ganz flikt mit dem Leiter der Freien Deutschen Ju- durchgesetzt wurde. Von vielen Deutschen gend, Erich Honecker. Dieser fçrchtete, dass wurde sein Theater als weitgehend autono- die Zeile ¹Und kein Fçhrer fçhrt uns aus mer Experimentierraum gesellschaftlicher dem Salatª Assoziationen zwischen Hitler Phantasie wahrgenommen. Da Brecht Peter und der neuen Fçhrung wecken wçrde. Da Suhrkamp zu seinem Hauptverleger machte, Brecht einen Selbstverwaltungssozialismus konnte er die Verbreitung seines Werks in ohne eine alles erdrçckende ¹fçhrendeª Bç- ganz Deutschland sichern. Beim Aufbau-Ver- rokratie verfolgte, ånderte er nichts. 37 Die am lag konnten die Bçcher frçhestens zwei Jahre 11. Januar 1949 unter Anwesenheit der Kul- spåter erscheinen. Es gehært zu den groûen turoffiziere aller Besatzungsmåchte stattfin- Verdiensten Helene Weigels, dass sie nach dende Premiere von Mutter Courage mit He- Brechts Tod trotz des Drucks der DDR-Fçh- lene Weigel in der Titelrolle wurde zum be- rung auf der unzensierten Edition auch der deutendsten deutschen Theaterereignis der politisch brisanten Texte bestand. Nachkriegszeit. Trotzdem schrieb ein Teil der ostdeutschen Literaturkritik, dass das Stçck 1953 zum Pråsidenten des gesamtdeutschen den Anforderungen des in der Sowjetunion PEN gewåhlt, startete Brecht Initiativen herrschenden Sozialistischen Realismus nicht gegen die atomare Aufrçstung. 1956 rief er in gençge. Es wurde bemångelt, dass die Cou- einem viel beachteten Brief an den Pråsiden- rage zu keiner Erkenntnis komme. Dass Fritz ten des Deutschen Bundestages, Eugen Gers- Erpenbeck, Friedrich Wolf und Alfred tenmaier, fçr einen Volksentscheid in beiden Kurella gerade den zentralen Punkt der Teilen Deutschlands gegen die Wiederbewaff- Brecht'schen Østhetik missbilligten ± die mes- nung auf. 38 Die politische Entwicklung in sage sollte nicht autoritår von der Bçhne der Bundesrepublik hielt er fçr Restauration. kommen ±, war kein Zufall. Sie waren aus Zugleich sah er aber auch, dass sich der deut- dem sowjetischen Exil zurçckgekehrt und sche Sozialismus nicht als Selbstorganisation nahmen den Formalismusstreit der dreiûiger und Kooperation, sondern nach sowjetischem Jahre auf deutschem Boden wieder auf. Modell entwickelte. Aufgeklårte Marxisten meinten weiterhin, dass Sozialismus nicht mit Doch die kulturpolitische Landschaft in weniger, sondern mit mehr Demokratie als der SBZ war noch nicht ganz erstarrt. Abge- Kapitalismus funktionieren mçsse. Es ist cha- sehen vom Publikumserfolg unterstçtzten an- rakteristisch fçr Brecht, dass er in einem Auf- dere Kritiker Brecht, etwa der junge Wolf- ruf an Schriftsteller und Kçnstler, gesamt- gang Harich. Garant dieser relativen Offen- deutsche Verhandlungen zu fordern, diese auf heit war weiterhin die Besatzungsmacht, die ihr spezielles Terrain verwies. Sie sollten die noch bis 1952 eine Neutralisierung ganz ¹vællige Freiheitª des Buches, des Theaters, Deutschlands anstrebte. Von allen Kçnstlern der bildenden Kunst, der Musik und des verstand es Brecht am besten, die unter- Films verlangen. Fçr nætig hielt er nur eine schiedlichen Interessenlagen auszunutzen. Einschrånkung: keine Freiheit fçr Kriegsver- 1952, anlåsslich einer Umfrage çber das beste herrlichung und Vælkerhass in der Kunst. 39

35 Ebd., S. 239. 36 Ebd., S. 285. 38 GBFA 23, S. 415±416. 37 Ebd., S. 293. 39 Ebd., S. 155 f.

28 APuZ 23±24/2006 Dass in der Dynamik des Kalten Krieges plant und produziert werden konnte. 45 Die auch im Westen die ¹vællige Freiheitª der Absetzung der ¹Stunde der Akademieª im Kunst keineswegs gesichert war, zeigten die Frçhjahr 1956 war wohl schon Folge seiner vielen Diskriminierungen, die Kçnstler erlit- Krankheit. ten, wenn sie auch im Osten auftreten woll- ten. Energisch trat Brecht gegen die Staatli- Zweifelsohne hatte er sich die Autoritåt che Kunstkommission der DDR auf, die zur Durchsetzung dieses lange umkåmpften Kunst sowohl nach inhaltlichen als auch Projekts durch die Annahme des Stalin-Frie- nach formalen Kriterien zensierte, wenn sie denspreises im Dezember 1954 verschafft. gegen den Sozialistischen Realismus verstieû. Anerkannt wurde damit weniger sein Werk, Laut Brecht mçsse dieser ¹viele Spielarten das in der Sowjetunion nur rudimentår çber- haben oder ein Stil bleiben und bald durch setzt und gedruckt worden war, 46 sondern Monotonie eingehenª. 40 Erneut wehrte er sein Engagement gegen die Aufrçstung mit Kulturpopulismus ab: ¹Wir hæren immerzu konventionellen und atomaren Waffen. Die ,Unser Arbeiter wçnscht das und das`. ,Das Preisverleihung im Mai 1955 stand im Zei- und das widersteht dem gesunden Sinn uns- chen der beginnenden Entstalinisierung. Rç- res Arbeiters.`ª 41 Darin sah er Parallelen zur licke erinnerte sich: ¹Ûber die Gesichter der nationalsozialistischen Kunstpolitik: ¹Was ist Anwesenden, hauptsåchlich Kçnstler, ging der Unterschied zwischen entarteter Kunst ein Låcheln, als Nikolai Ochlopkow[ 47] zum und volksfremder Kunst?ª 42 Rednerpult trat und zu Brecht sprach ± wuss- te doch jeder, dass zwanzig Jahre zuvor sein Erbost, dass das ¹Neue Deutschlandª nach Theater wåhrend einer Brecht-Inszenierung dem 17. Juni 1953 nur den Teil seines Briefs geschlossen worden war.ª 48 an Walter Ulbricht abdruckte, der als Erge- benheitsadresse missverstanden werden Obwohl Brecht wesentliche Mångel und konnte, entschloss er sich, sich an die westli- Verbrechen des Sowjetsystems seit langem che Presse zu wenden. Er beauftragte seine kannte, erschçtterten ihn die Enthçllungen Mitarbeiterin Kåthe Rçlicke, dem schwedi- Nikita Chruschtschows auf dem XX. Partei- schen Journalisten Erwin Leiser eine Erklå- tag der KPdSU zutiefst. Rçlicke beschaffte rung zu çbergeben, in der er klar machte, die in der DDR nicht publizierte Rede aus dass er die Unzufriedenheit der Arbeiter als Polen und diskutierte sie mit Brecht im Kran- berechtigt ansehe und die Demonstrierenden kenhaus. 49 Plætzlich waren viele Dinge, die ¹nicht mit den Provokateuren [aus dem We- auch gut Informierten kaum bekannt waren, sten] auf eine Stufe gestelltª werden dçrften. 43 parteioffiziell beståtigt. Letzte Gedichte, in Doch Rçlicke hielt das Schreiben ± wahr- denen Stalin als der ¹verdiente Mærder des scheinlich im ¹Parteiauftragª ± zurçck. 44 Volkesª bezeichnet wurde, zeigen, dass Brecht begriffen hatte: Auch die ¹Nationali- Eine Folge des 17. Juni war die Auflæsung sierungª der Produktionsmittel in der stali- der Staatlichen Kunstkommission und die Er- nistischen Form hatte immense Menschen- richtung eines Kulturministeriums, an dessen rechtsverbrechen hervorgebracht. Die Eman- Spitze Johannes R. Becher stand. Trotz seiner zipation der Produzenten war Utopie einst zwiespåltigen Rolle beim Moskauer geblieben. ¹Wortª hatte Brecht ihm dort am ehesten ver- traut und hoffte, mit seiner Hilfe zensurfreie Zonen durchzusetzen. Wieder trat er fçr eine Reform des Rundfunks ein. Es gelang ihm, in 45 Ingrid Pietrzynski, ¹Der Rundfunk ist die Stimme langwierigen Kåmpfen eine Sendereihe zu der Republik . . .ª Brecht und der Rundfunk der DDR etablieren, die 1955 vollkommen autonom 1949±1956, Berlin 2003. 46 Eine Brecht-Edition erschien erst 1963±1965. von der Deutschen Akademie der Kçnste ge- 47 Nikolai Pawlowitsch Ochlopkow (1900±1967) war Schauspieler und Regisseur, Leiter des Realistischen Theaters; Schçler von Wsewolod E. Meyerhold. 40 Ebd., S. 442. 48 Begegnungen. Brecht-Portråts in Wort und Bild 41 Ebd., S. 196. von Gerda Goedhart und Kåthe Rçlicke-Weiler, Z42/ 42 Ebd., S. 143. BBA, S. 172. 43 Ebd., S. 250. 49 Ebd., S. 142. 44 Vgl. Werner Hecht, Brecht-Chronik, Frankfurt/M. 1997, S. 1065.

APuZ 23±24/2006 29 Informationen B6897F 290 zur politischen Bildung

1. Quartal 2006

Fußball – mehr als ein Spiel

B6897F B6897F Informationen Informationen 289 zur politischen Bildung 287 zur politischen Bildung

4. Quartal 2005 2. Quartal 2005

Volksrepublik China Umweltpolitik Herausgegeben von der Bundeszentrale fçr politische Bildung Adenauerallee 86 53113 Bonn.

Redaktion Dr. Katharina Belwe Dr. Hans-Georg Golz (verantwortlich fçr diese Ausgabe) Dr. Ludwig Watzal Sabine Klingelhæfer Andreas Kætzing (Volontår) Telefon: (0 18 88) 5 15-0 oder (02 28) 36 91-0

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Wasser * Nachforderungen der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte

* Abonnementsbestellungen der Wochenzeitung einschlieûlich Frank Kçrschner-Pelkmann APuZ zum Preis von Euro 19,15 halbjåhrlich, Jahresvorzugspreis Der Traum vom schnellen Wasser-Geld Euro 34,90 einschlieûlich Mehrwertsteuer; Kçndigung Hermann Lotze-Campen drei Wochen vor Ablauf Wasserknappheit und Ernåhrungssicherung des Berechnungszeitraumes;

Holger Hoff ´ Zbigniew W. Kundzewicz Die Veræffentlichungen Sçûwasservorråte und Klimawandel in Aus Politik und Zeitgeschichte stellen keine Meinungsåuûerung Lena Partzsch des Herausgebers dar; sie dienen lediglich der Unterrichtung und Partnerschaften ± Læsung der globalen Wasserkrise? Urteilsbildung.

Lena Horlemann ´ Susanne Neubert Fçr Unterrichtszwecke dçrfen Virtueller Wasserhandel zur Ûberwindung der Wasserkrise? Kopien in Klassensatzstårke herge- stellt werden. Christiane Fræhlich Zur Rolle der Ressource Wasser in Konflikten ISSN 0479-611 X Bertolt Brecht APuZ 23±24/2006

Hermann Beil ´ Gçnter Erbe 3-6 Brecht spielen Wie aktuell ist Brecht? Wie inszeniert man heute seine Stçcke? Welche Skala von Schænheiten und Wahrheiten gilt es bei Brecht zu entdecken? Der Dramaturg Hermann Beil antwortet auf Fragen des Kultursoziologen Gçnter Erbe.

Jan Knopf 6-12 Brecht im 21. Jahrhundert Nachdem die ideologischen Debatten um Brecht nach der ¹Wendeª erledigt schienen, wird Brechts kritisches Potenzial im 21. Jahrhundert wieder verstårkt çber einen orthodoxen Marxismus definiert, der mit einer Theologie der Inner- lichkeit verbunden wird. Der Beitrag plådiert stattdessen fçr einen ideologiefrei- en Umgang mit Brechts Werk.

Marc Silberman 13-22 Die Tradition des politischen Theaters in Deutschland Brechts Stçcke und seine Dramaturgie waren innovativ, weil sie nicht auf dem politischen Gehalt, sondern auf åsthetischen Praktiken beruhten, die das Publi- kum einladen, die Welt in Frage zu stellen und sie zu veråndern. Heiner Mçller war Brechts scharfsinnigster Schçler und anregendster Kritiker.

Sabine Kebir 22-29 Brecht und die politischen Systeme Brecht hielt in allen politischen Systemen des 20. Jahrhunderts strikte Unabhån- gigkeit der intellektuellen und kçnstlerischen Arbeit fçr unabdingbar. Seine Au- tonomie als Intellektueller sicherte er sich in der DDR durch taktisches Ausnut- zen von Interessengegensåtzen zwischen der Besatzungsmacht und ihren Statt- haltern.