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67. Jahrgang, 51–52/2017, 18. Dezember 2017

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Meere und Ozeane

Aletta Mondré · Annegret Kuhn Michael Paul OCEAN GOVERNANCE ARKTIS UND SÜDCHINESISCHES MEER: Christopher Zimmermann · Nadine Kraft RESSOURCEN, SEEWEGE MEERESFISCH: NACHHALTIG UND ORDNUNGSKONFLIKTE GENUTZT ODER VOM Günter Warsewa AUSSTERBEN BEDROHT? DIE LOKALE KULTUR Johanna Kramm · Carolin Völker DER EUROPÄISCHEN PLASTIKMÜLL IM MEER: HAFENSTADT ZUR ENTDECKUNG EINES Felix Schürmann UMWELTPROBLEMS RAUM OHNE ORT? Ulrike Kronfeld-Goharani MEERE IN DER DER SCHUTZ GESCHICHTSFORSCHUNG DER TIEFSEE VOR NEUEN HERAUSFORDERUNGEN

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Meere und Ozeane APuZ 51–52/2017

ALETTA MONDRÉ · ANNEGRET KUHN MICHAEL PAUL OCEAN GOVERNANCE ARKTIS UND SÜDCHINESISCHES Wie die Global Governance ist auch die Ocean MEER: RESSOURCEN, SEEWEGE UND Governance von einer ausgeprägten Mehr­ ORDNUNGSKONFLIKTE ebenenpolitik gekennzeichnet. Lokale, nationale Sowohl in der Arktis als auch im Südchine­ und globale Strukturen wirken zusammen, und sischen Meer gibt es eine Konstellation, die es ist eine Vielzahl an staatlichen und nichtstaat­ Konflikte zwischen den Großmächten USA mit lichen Akteuren beteiligt. Russland beziehungsweise China begünstigt. Seite 04–09 Während in der Arktis Kooperation bislang gelingt, ist die Lage in Asien deutlich brisanter. Seite 29–34 CHRISTOPHER ZIMMERMANN · NADINE KRAFT MEERESFISCH: NACHHALTIG GENUTZT ODER VOM AUSSTERBEN BEDROHT? GÜNTER WARSEWA Wilder Meeresfisch ist ein wertvolles Nahrungs­ DIE LOKALE KULTUR DER EUROPÄISCHEN mittel, dessen Nutzung auch aus ökologischer HAFENSTADT: GEMEINSAMES ERBE EUROPAS Sicht unbestreitbare Vorteile hat. Die Anstren­ Die europäische Hafenstadt repräsentiert eine gungen für eine nachhaltige Bewirtschaftung und Tradition des Austauschs und der Balance von die Reduzierung der Umweltauswirkungen der Kooperation und Konkurrenz. Obwohl viele Fischerei lohnen sich. Hafenindustrien inzwischen verschwunden Seite 10–16 sind, wird die hafenstädtische lokale Kultur auf vielfältige Weise fortgeschrieben. Seite 35–40 JOHANNA KRAMM · CAROLIN VÖLKER PLASTIKMÜLL IM MEER: ZUR ENTDECKUNG EINES UMWELTPROBLEMS FELIX SCHÜRMANN Der nordpazifische „Müllstrudel“ aus Plastik­ RAUM OHNE ORT? partikeln gilt als eines der drängendsten MEERE IN DER GESCHICHTSFORSCHUNG Umweltprobleme. Auch wenn noch nicht Anders als das Land trägt die See nur wenige gesichert ist, wie schädlich Mikroplastik für den sichtbare Spuren der Vergangenheit. Dennoch Menschen ist, gibt es ausreichend Argumente, gibt es eine lange Tradition der historiografi­ etwas gegen die Vermüllung der Ozeane zu tun. schen Auseinandersetzung mit den Meeren. Seite 17–22 Maritime Geschichte ermöglicht auch frische Perspektiven auf die globalisierte Gegenwart. Seite 41–46 ULRIKE KRONFELD-GOHARANI BLAUER REICHTUM IN GEFAHR: DER SCHUTZ DER TIEFSEE VOR NEUEN HERAUSFORDERUNGEN Schwarze Raucher, Manganknollen, Kobalt­ krusten: Die Tiefsee lockt mit Rohstoffen, die immer stärker nachgefragt werden. Noch ist wirtschaftlich lohnender Abbau Zukunfts­ musik – aber der Wettlauf um die Erkundung hat bereits begonnen. Seite 23–28 EDITORIAL

Die Weltmeere sind nicht nur komplexe Ökosysteme und als solche vielfältige Lebensräume für unzählige Tierarten, sondern auch für den Menschen extrem wichtig: Seit Jahrtausenden dienen sie als Nahrungsquellen und Rohstoffliefe­ ranten, zugleich waren und sind sie globalisierte Wirtschaftsräume, Schauplätze von Kriegen und Auseinandersetzungen, Rückzugs- und Sehnsuchtsorte sowie Inspirationsquellen für Kunst und Literatur. Heut­zutage werden sie zunehmend schlicht als Müllkippe missbraucht. Mit den verschiedenen Nutzungen der Meere, die Länder und Gesellschaften sowohl voneinander trennen als auch miteinander verbinden, sind zahlreiche politische Fragen verknüpft. Entsprechend groß ist die Vielfalt der internatio­ nalen Regulierungsbemühungen, die sich unter „Ocean Governance“ zusam­ menfassen lassen. Es geht dabei um so unterschiedliche Dinge wie sich über­ schneidende Hoheitsansprüche – wie aktuell in Ostasien –, die Aushandlung von Fischfangquoten, die Ausweisung von Lizenzen für den kommerziellen Meeresbergbau (oder um Regelungen zu deren Verhinderung), aber auch um gemeinsame Anstrengungen zum Erhalt der ökologischen Vielfalt. Diesen und weiteren Themen widmen sich die Autorinnen und Autoren der sieben Beiträge, die in dieser Ausgabe versammelt sind. Die Texte hat die Redak­ tion im Rahmen eines Call for Papers zum Ende des Wissenschaftsjahres „Meere und Ozeane“ ausgewählt. Angesichts der Angebotsfülle sind sie zwangsläufig nur Inseln in einem schier unendlichen Themenozean. Aber als solche können sie manch „Schiffbrüchigem“ einen ersten Halt bieten, um sich in den umliegen­ den Gewässern und für weitere Themenreisen zu orientieren.

Johannes Piepenbrink

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OCEAN GOVERNANCE Aletta Mondré · Annegret Kuhn

Während die Menschheit sich die meiste Zeit da­ Zum einen erheben Küstenstaaten exklusive rauf beschränkte, Herrschaft über feste Land­ Ansprüche auf die sie umgebenden Meereszo­ massen zu etablieren, haben in den vergange­ nen; zum anderen regulieren Staaten sowohl ein­ nen Jahrzehnten die Bemühungen zugenommen, zeln als auch kollektiv vielerlei Nutzungen der Herrschaft auch über Meeresgebiete zu erlangen. Ozeane. Diese beiden grundverschiedenen Ord­ Für einige Staaten gleicht das umgebende Meer nungslogiken bestehen parallel: einerseits der einem Grenzraum, der ihr Herrschaftsgebiet Anspruch auf die alleinige Entscheidungshoheit von anderen trennt. In der Vergangenheit aller­ über abgegrenzte Meeresgebiete, also eine räum- dings ermöglichten die Ozeane als zentrale Ver­ liche Ordnungslogik; andererseits die Möglich­ bindungswege überhaupt erst politische Großrei­ keit, Befugnisse für bestimme Tätigkeiten in­ che wie das Römische Reich in der Antike und ternational zu verabreden, also eine sektorale die Kolonialreiche ab der Frühen Neuzeit. Ent­ Ordnungslogik. lang wichtiger Seehandelswege bildeten sich nicht So ist es eine Sache, exklusive Rechte in einer zwangsläufig zentralisierte Herrschaftsverbände, räumlich genau definierten Zone zu beanspru­ durch den regelmäßigen Austausch entstanden chen, etwa das Recht auf Fischfang. Grundsätz­ jedoch gemeinsame Kulturräume, wie beispiels­ lich genießen Staaten in ihrem Küstenmeer (bis weise in Südostasien, und politisch bedeutsa­ zu zwölf Seemeilen ab der eigenen Küste) allei­ me Netzwerke wie die Hanse. Auch die Ozeane nige Verfügungsrechte. In der sich anschließen­ selbst sind politische Räume. Sie sind sowohl na­ den Ausschließlichen Wirtschaftszone (200 See­ türliche Verbindung als auch Abgrenzung – nicht meilen ab der eigenen Küste) fallen den jeweiligen nur zwischen Landmassen, sondern auch zwi­ Staaten ebenfalls viele Nutzungsrechte und Sorg­ schen politischen Gemeinschaften, die vielfältige faltspflichten zu, während die Nutzung des Mee­ und miteinander konkurrierende Ansprüche auf res jenseits dieser Gebiete – in der Hohen See – sie erheben, aber über jeweils eigene Regelwerke allen Staaten freigestellt ist. Eine andere Sache verfügen. hingegen sind sektorale Abkommen, die nur ei­ Es stellt sich damit die Frage, welche Akteure nen bestimmten Nutzungsbereich regulieren. für sich beanspruchen, verbindliche Entscheidun­ Ein Beispiel hierfür sind die zwischenstaatlichen gen über die zahlreichen menschlichen Aktivitä­ Abkommen, in deren Rahmen Anrainerstaaten ten im Ozean treffen zu können – und wie sich Fangquoten für einzelne Fischarten in gemein­ ihre unterschiedlichen Interessen moderieren las­ sam befischten Meeresgebieten vereinbaren. Die­ sen. In diesem Beitrag bieten wir einen Überblick se Abkommen regulieren nicht grundsätzlich den über die komplexe Architektur der internationa­ Fischfang, sondern eben nur die zulässige Fang­ len Ocean Governance. Unter Ocean Governance menge der betreffenden Arten. Räumliches und fassen wir alle Regeln, Gesetze, Institutionen und sektorales Ordnungsprinzip gelten in großen politische Maßnahmen, die die Weltmeere betref­ Meeresräumen also zugleich. fen. Die außerordentlich hohe Komplexität der Hinzu kommen weitere Regulierungsautoren Ocean Governance ergibt sich aus den Spannun­ über und unterhalb der gesamtstaatlichen Ebe­ gen zwischen vielfältigen Nutzungsansprüchen ne: etwa Behörden wie die Fischereibehörden der und Bemühungen um den Schutz des Meeres und Bundesländer oder zwischenstaatliche Organisati­ seiner Bewohner, den unterschiedlichen Reich­ onen wie die Europäische Union. In der Folge gilt weiten von Regulierungsvorschriften und der in sehr vielen Meeresgebieten eine Vielzahl von Pluralität der Regulierungsautoren. Bestimmungen unterschiedlicher Regelungsauto­ Hinzu kommen zwei grundsätzlich unter­ ren gleichzeitig, deren Zielvorgaben sich im bes­ schiedliche regulatorische Herangehensweisen: ten Fall überschneiden und im schlechtesten Fall

04 Meere & Ozeane APuZ widersprechen. Gleichzeitig bestehen aber auch naler Fischereimanagement-Organisationen. Zu­ Lücken, sodass nicht alle gegenwärtigen Nutzun­ sätzlich gibt es internationale Abkommen zum gen ausreichend reguliert sind. Insbesondere man­ Schutz einzelner Fischarten und Bestimmungen, gelt es an effektiver Koordination zwischen den wie Hafenstaaten illegalen und unkontrollierten bestehenden Institutionen und der Konkretisie­ Fischfang verhindern sollen. In diesem Sektor be­ rung allgemeiner Prinzipien. So ist beispielsweise stehen besonders viele Regulierungen mit unter­ das Vorsorgeprinzip, das einen schonenden Um­ schiedlicher Reichweite. gang mit natürlichen Ressourcen und die Vermei­ Auch andere Wirtschaftsbranchen haben ei­ dung von Umweltgefahren fordert, zwar Leitbild nen engen Bezug zum Meer und fallen somit internationaler Umweltpolitik – aber es ist höchst unter Ocean Governance. Die Handelsschiff­ umstritten, welche konkreten Handlungen mit fahrt bildet das Rückgrat der Globalisierung, diesem Prinzip (un)vereinbar sind. rund 90 Prozent aller Güter werden auf dem See­ Die Architektur von Ocean Governance um­ weg transportiert. Das große Handelsvolumen fasst somit Regelungsautoren auf mehreren Ebenen: erfordert die Instandhaltung und den Ausbau lokale Akteure wie Kommunen, Territorialstaaten, der Infrastruktur einschließlich eines möglichst regionale Zusammenschlüsse wie den Arktischen einheitlichen Rechtsrahmens. Diesen stellt die In­ Rat, in dem unter anderem die fünf Arktisanrai­ ternationale Seeschifffahrtsorganisation der Ver­ ner, weitere interessierte Staaten wie auch nicht­ einten Nationen (IMO) bereit. Das Internationale staatliche Akteure kooperieren, sowie zwischen­ Übereinkommen zur Verhütung der Meeresver­ staatliche Organisationen wie beispielsweise die schmutzung durch Schiffe (MARPOL) sowie das Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Internationale Übereinkommen zum Schutz des Vereinten Nationen (FAO). Auf denselben Ebenen menschlichen Lebens auf See (SOLAS) sind zen­ agieren auch zivilgesellschaftliche Akteure. So en­ trale Konventionen für die internationale Schiff­ gagieren sich manche Nichtregierungsorganisatio­ fahrt. nen vor allem für lokale Anliegen, während ande­ Nach schwierigen Jahren infolge der Finanz­ re weltweit aktiv sind. Selbstverständlich gehören krise ab 2008 ordnet sich die Schifffahrtsbranche zu dieser Gruppe nicht nur umweltpolitische Akti­ gerade neu. Durch Fusionen und Übernahmen vistinnen und Aktivisten, sondern auch Interessen­ konzentrieren sich die Marktanteile in weni­ verbände der maritimen Wirtschaft. gen großen Allianzen zwischen den noch beste­ henden Reedereien. Der Kostendruck befördert VIELFÄLTIGE den Wechsel zu sogenannten Billigflaggen – das THEMENBEREICHE heißt, Schiffe werden in Ländern mit kostengüns­ tigeren Vorschriften registriert. Eine Folge davon Die Regulierung von Fischfang ist ein zentrales sind ein geringes Lohnniveau für die internatio­ Thema von Ocean Governance. Hinzu kommt nalen Schiffsbesatzungen sowie niedrigere Um­ der Bereich der Aquakultur, also die Zucht von weltstandards. Auch an dieser Stelle wäre eine Fischen, Muscheln, Krebsen und Garnelen. Ei­ einheitliche internationale Regulierung vorteil­ nerseits leistet dieser rasch wachsende Wirt­ haft. Die Krise schlägt sich ebenfalls für Schiff­ schaftsbereich einen Beitrag zur Nahrungsmit­ bauer nieder, denen vor allem schrumpfende Auf­ telsicherheit und schafft für lateinamerikanische tragsvolumina zu schaffen machen. Die deutsche und asiatische Länder neue Zugangsmöglich­ Schiffbaubranche schnitt 2016 im internationalen keiten zum Weltmarkt. Andererseits verursacht Vergleich jedoch erfolgreich ab, was vor allem an die intensive Bewirtschaftung ökologische Schä­ lukrativen Nischen liegt. In Deutschland spielen den durch die zusätzliche Belastung der Ozea­ zusätzlich die Zulieferer mit 70 000 Beschäftig­ ne mit Nährstoffen, Kot und Antibiotika. Für ten eine wichtige wirtschaftliche Rolle. Die boo­ die Zuchtbecken sind in subtropischen und tro­ mende Kreuzfahrtbranche hingegen trägt nicht pischen Ländern oftmals Mangrovenwälder ge­ nur zum Wirtschaftswachstum bei, sondern auch rodet worden, was wiederum den Küstenschutz zum Anstieg der Treibhausgasemissionen. Über­ gefährdet. Zuständigkeiten auf lokaler und staat­ haupt sind Umweltschäden und eine intensivere licher Ebene sind bereits benannt worden, auf Ressourcennutzung an den Zielorten Begleiter­ internationaler Ebene fällt dieser Bereich vor scheinungen des am Meer orientierten (Massen-) allem in die Zuständigkeit der FAO und regio­ Tourismus.

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Die Energiegewinnung fossiler Brennstoffe POLITIKFELD (Erdgas, Erdöl und Methanhydrat) aus dem Meer MEERESPOLITIK? verspricht einerseits Unabhängigkeit von bisheri­ gen Öl- und Gasproduzenten, andererseits wohnt Die aufgezeigten Themenbereiche Fischerei und der Förderung aus dem Ozean das Risiko großer Aquakultur, Schifffahrt und Ressourcenausbeu­ Umweltschäden inne. Offshore-Windkraftanla­ tung sind ebenso zentrale Bestandteile von Mee­ gen und neue Technologien wie Strömungskraft­ respolitik wie Meeresüberwachung, Meeres- und werke bieten Alternativen zu fossilen Brennstof­ Küstentourismus und nicht zuletzt auch der Be­ fen. Diese ziehen allerdings Beeinträchtigungen reich der Meeresforschung. Damit – und ange­ für die Schifffahrt sowie für Seevögel und Mee­ sichts der zunehmenden politischen Relevanz restiere nach sich, sodass Nichtregierungsorga­ und Präsenz von Meerespolitik – stellt sich die nisationen auf einen Konflikt zwischen diesen Frage, ob man von einem eigenständigen Poli­ Energiequellen und Artenschutz verweisen. Ein tikfeld sprechen kann. Bislang sind die Entschei­ Zukunftsthema dreht sich um den Abbau von dungskompetenzen nach Bereichen auf verschie­ Metallen (insbesondere Kupfer) vom Meeresbo­ dene Behörden und Ministerien verteilt, sodass es den. Während die Internationale Meeresboden­ zu Reibungsverlusten kommt. Insbesondere die behörde (ISA) für den Meeresboden der Hohen norddeutschen Bundesländer bemühen sich in­ See einen Regulierungsrahmen bereitstellt, fehlt zwischen jedoch um eine integrierte Meerespo­ es in vielen Staaten noch an spezifischen nationa­ litik. Die Bundesregierung beschloss 2011 einen len Vorschriften für den Tiefseebergbau innerhalb „Entwicklungsplan Meer“, der sich als Strategie ihrer Hoheitsgewässer. für die Förderung einer kohärenten deutschen Im Zuge der fortschreitenden Erschließung Meerespolitik versteht und diese als Querschnitts­ solcher marinen Ressourcen besteht die Ge­ aufgabe definiert. Vor allem aber treibt die Euro­ fahr einer Zuspitzung internationaler Konflikte päische Union Anstrengungen in dieser Richtung um Ausbeutungs- und Nutzungsrechte, in de­ seit über zehn Jahren voran und hat durch unter­ nen nicht nur Staaten, sondern auch verschie­ schiedliche Verordnungen einen Rechtsrahmen dene nichtstaatliche Akteure Interessen verfol­ für eine Zusammenführung der vormals getrennt gen. Auch hier zeigt sich ein wachsender Bedarf betrachteten Politikbereiche geschaffen. nach einer umfassenden internationalen Regu­ Dass die Bestrebungen von der überstaatli­ lierung. Der 1996 gegründete Arktische Rat gilt chen Ebene ausgehen, ist wenig verwunderlich. einigen Beobachtern in diesem Zusammenhang Da der Ozean sämtliche Landmassen umgibt und als vorbildhaft, obwohl das politische Man­ verbindet, ist Meerespolitik von Natur aus trans­ dat dieses regionalen Forums Sicherheitsfragen national. Zwar rechtfertigen einige ozeanografi­ ausschließt. Das Regionalforum des Verbandes sche Messergebnisse (etwa zu Salzgehalt, Gezei­ Südostasiatischer Nationen (ASEAN) hingegen ten, Strömungen) eine Untergliederung, dennoch sieht sich explizit auch für Sicherheitsfragen zu­ sind die Weltmeere miteinander verbunden. Da­ ständig, war bislang aber dennoch nicht in der durch wirken sich viele lokale Einwirkungen frü­ Lage, die Auseinandersetzungen zwischen der her oder später auch in entfernten Gebieten aus. Volksrepublik China und mehreren südostasia­ Zu kleinen Teilchen zerriebener Plastikmüll zum tischen Staaten um Inseln und Atolle im Südchi­ Beispiel verteilt sich überall im Ozean und sinkt nesischen Meer beizulegen. Vor allem umstrit­ auf den Meeresboden hinab. In den berüchtigten tene Seegrenzen und das Streben nach größeren Müllstrudeln in den subtropischen Meereswir­ Meeresgebieten bergen erhebliches Konfliktpo­ beln verfängt sich schätzungsweise nur ein Pro­ tenzial. 01 Weitere Sicherheitsrisiken, die inter­ zent des Mülls. Hinzu kommen ähnliche Nut­ nationale Abstimmung erfordern, sind Piraterie zungsweisen in zahlreichen Küstengebieten, und maritimer Terrorismus. Hierzu hat selbst sodass viele Menschen und Staaten mit densel­ der UN-Sicherheitsrat bereits Abwehrmaßnah­ ben Auswirkungen konfrontiert sind. Aufgrund men angeordnet, was die Bedeutung dieser Pro­ des intensiven Einsatzes von Düngemitteln und bleme unterstreicht. Gülle in der Landwirtschaft gelangen Nitrate und Phosphate über die Flüsse ins Meer. In de­ 01 Vgl. Aletta Mondré, Forum Shopping in International Disputes, ren Mündungsgebieten wachsen aufgrund der Basingstoke 2015, S. 9 f. Überdüngung (Eutrophierung) zunächst die Al­

06 Meere & Ozeane APuZ gen, und später sinkt der Sauerstoffgehalt stel­ internationalen Organisationen für Teilbereiche lenweise so stark ab, dass dort weder Fischfang von Meerespolitik zuständig ist. Auf der inter­ noch Muschelernte möglich sind. Auch wenn po­ nationalen Ebene befassen sich viele Sonderor­ litische Maßnahmen zur Eindämmung dieser Be­ ganisationen beziehungsweise Programme der lastungen einen positiven Beitrag zum Zustand Vereinten Nationen mit Meerespolitik. Eben­ des Ozeans leisteten, ist auch offensichtlich, dass falls unter Ägide der Vereinten Nationen handel­ einzelstaatliche Lösungen keine umfassende Ab­ te eine Vielzahl von Staaten zwischen 1973 und hilfe schaffen können. Selbst wenn ein Staat die 1982 das Seerechtsübereinkommen (SRÜ) aus. Klärung von Abwasser im Alleingang sicherstellt, Diese „Verfassung der Meere“ trat 1994 in Kraft; beeinträchtigen die Einleitungen anderer Staa­ bis November 2017 sind dem umfassenden Ab­ ten das Meer weiterhin. Die gegenseitige Abhän­ kommen 168 Staaten beigetreten. 04 Der Vertrag gigkeit wird zwar in räumlicher Nachbarschaft legt das räumliche Ordnungsprinzip zugrunde besonders deutlich, doch die Notwendigkeit und regelt, welche Nutzungen in welchen Zonen gemeinsamen Handelns ist auch über große Di­ zulässig sind. Da viele Nutzungen des Ozeanes in stanzen gegeben. Unzureichendes Abfallmanage­ zusätzlichen sektoralen Vereinbarungen geregelt ment in einem entfernten Staat bedeutet letztlich sind, löst das SRÜ die beschriebene Problematik für alle mehr Müll im Meer. aber nicht auf. Es bedarf einer Koordination al­ Die deutliche Mehrheit aller Länder sind Küs­ ler politischen Maßnahmen, um der Gefahr der tenstaaten, nur ungefähr ein Drittel hat keinen Fragmentierung ­entgegenzutreten. Zugang zum Meer; fast die Hälfte der Mensch­ Anhand der Beispiele Meeresumweltschutz heit lebt in einer Küstenregion. Dieser Umstand und Fischerei werden wir in den folgenden Ab­ unterstreicht die Bedeutung von Ocean Gover­ schnitten sowohl die Fragmentierung als auch nance sowie die an sich guten Voraussetzungen Reformversuche für mehr Koordination im inter­ für internationale Kooperation. Ausdrücklich nationalen Mehrebenensystem der Ocean Gover­ sei auch auf die konzeptionelle Nähe zwischen nance verdeutlichen. Ocean Governance und Global Governance ver­ wiesen. Denn zentrale Kennzeichen von Global FRAGMENTIERUNG Governance sind eine ausgeprägte Mehrebenen­ UND KOORDINATION politik mit einem Zusammenspiel von lokalen, nationalen und globalen Governancestrukturen Der Bereich Meeresumweltschutz wird auf glo­ sowie der Beteiligung einer Vielzahl staatlicher baler Ebene zentral durch das SRÜ geregelt. Die und nichtstaatlicher Akteure. Kritische Stimmen rechtliche Verantwortung für die Meeresumwelt unterstreichen dabei immer wieder die hohe, so­ in den küstennahen und -fernen Gewässern wird wohl vertikale als auch horizontale strukturelle dabei primär den Küstenstaaten zugeschrieben, Fragmentierung. 02 Ähnliches gilt für die ausdiffe­ die das „souveräne Recht [besitzen], ihre natürli­ renzierten Strukturen von Ocean Governance, 03 chen Ressourcen im Rahmen ihrer Umweltpoli­ für die sich die gleichen Herausforderungen stel­ tik und in Übereinstimmung mit ihrer Pflicht zum len, nämlich in der Vielschichtigkeit legitime und Schutz und zur Bewahrung der Meeresumwelt kollektiv verbindliche Entscheidungen herzu­ auszubeuten“. 05 Auch für die Gebiete jenseits na­ stellen. So müssen Zielkonflikte zwischen un­ tionaler Hoheitsgewalt, also für die Hohe See und terschiedlichen Nutzungen und Umweltschutz den im SRÜ als „Gebiet“ bezeichneten Meeres­ sowie die Interessen verschiedenster Akteure boden unter der Hohen See, legt das SRÜ einige austariert werden. Verpflichtungen zur internationalen Zusammen­ Zurzeit dominiert auf allen Entscheidungs­ arbeit zum Schutz des Meeres fest, ohne allerdings ebenen noch die sektorale Ordnungslogik, so­ konkrete Kooperationsformen zu nennen. Weite­ dass eine Vielzahl von Behörden, Ministerien und

04 Dem SRÜ nicht beigetreten sind unter anderem die USA und 02 Vgl. Frank Biermann et al., The Fragmentation of Global die Türkei: die USA wegen (inzwischen obsoleter) Regelungen zum Governance Architectures: A Framework for Analysis, in: Global Tiefseebergbau; die Türkei, weil sie aufgrund des Ägäiskonflikts mit Environmental Politics 4/2009, S. 14–40. Griechenland bis heute einen grundsätzlichen Rechtsanspruch auf 03 Vgl. Julien Rochette et al., Regional Oceans Governance eine Zwölf-Meilen-Zone als Küstengewässer ablehnt. Mechanisms: A Review, in: Marine Policy 60/2015, S. 9–19. 05 SRÜ, Teil XII, Abschnitt 1, Artikel 193.

07 APuZ 51–52/2017 re, deutlich spezifischere Aspekte von Meeresum­ Angesichts der Fragmentierung des Meeres­ weltschutz auf globaler Ebene lassen sich hingegen umweltschutzes und der immer wieder starken im Rahmen des Internationalen Übereinkommens Kritik daran, lassen sich in den vergangenen Jah­ zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch ren einige neuere Initiativen für eine verbesserte Schiffe (MARPOL) von 1973 finden. – vor allem intersektorale – Koordinierung und Auf regionaler Ebene wird der marine Um­ Kohärenz unterschiedlicher politischer Regelun­ weltschutz durch vier internationale Konventio­ gen und Maßnahmen ausmachen. Ein Beispiel da­ nen geprägt: der 1976 unterzeichneten Barcelo­ für ist die Einrichtung des Fisheries and Environ­ na-Konvention zum Schutz des Mittelmeeres vor mental Forum innerhalb der HELCOM im Jahr Verschmutzungen sowie der Helsinki-Konvention 2008, das nicht nur Kommunikationsplattform zum Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebiets zwischen Fischereipolitik und mariner Umwelt­ (HELCOM), der Konvention zum Schutz der politik ist, sondern ebenso Ausgangspunkt für ge­ Meeresumwelt des Nordostatlantiks (OSPAR) und meinsam abgestimmte Maßnahmen. Auch lässt der Bukarest-Konvention zum Schutz der Meeres­ sich eine verstärkte Koordinierung der strategi­ umwelt des Schwarzen Meeres, die alle 1992 ver­ schen Ziele von HELCOM und OSPAR auf der abschiedet wurden. In jüngerer Zeit werden diese einen Seite sowie MSRL auf der anderen Seite be­ Abkommen zunehmend durch Anstrengungen der obachten. 07 Nach wie vor gilt jedoch, dass die ma­ Europäischen Union zum marinen Umweltschutz rine Umweltpolitik von zu wenig internationaler ergänzt. So wurde 2008 die Meeresstrategie-Rah­ Abstimmung und Kooperation geprägt ist, was menrichtlinie (MSRL) zum Schutz, zum Erhalt und sich nicht zuletzt in wiederkehrenden interorgani­ – wo möglich – zur Wiederherstellung der Meeres­ sationalen Konflikten zeigt – etwa zwischen dem umwelt erlassen. Die MSRL wiederum wurde 2014 Regional Seas Programme des Umweltprogramms teilweise in die EU-Richtlinie zur Schaffung eines der Vereinten Nationen (UNEP) und dem FAO- Rahmens für die maritime Raumplanung integriert Fischereiausschuss über Fischerei, marinen Um­ (Meeresraumordnungsrichtlinie, MRO). Bisher weltschutz und Meeresschutz­gebiete. 08 gibt es jedoch keinen einheitlichen Ansatz, Meeres­ Die internationale Fischereipolitik selbst ist umweltschutz in die MRO einzubinden. 06 ein Politikfeld, das bis heute durch eine extrem In Deutschland wird der marine Umwelt­ hohe innere Fragmentierung gekennzeichnet ist. schutz auf nationaler Ebene primär vom Rahmen Während auf globaler Ebene der 1965 gegründe­ der Nationalen Strategie zur Nachhaltigen Nut­ te Fischereiausschuss der FAO für Fragen der Fi­ zung und zum Schutz der Meere von 2008 ge­ scherei und Aquakultur zuständig ist, gibt es auf prägt. Darüber hinaus hat Deutschland 2009 als regionaler Ebene eine Vielzahl an internationalen erster Mitgliedsstaat der Europäischen Union Fischereikommissionen und -ausschüssen, deren – gemäß der Aufforderung in der MSRL – eine Mandate sich auf räumlich abgegrenzte Meeres­ nationale maritime Raumordnung erlassen. Die­ gebiete beziehen. So existieren allein für das Ge­ se legt Ziele und Grundsätze der wirtschaftli­ biet des Atlantischen Ozeans fünf zwischenstaat­ chen und wissenschaftlichen Nutzung der Meere, liche Institutionen, die sich mit der Regulierung der Seeschifffahrt sowie zum Schutz der Meeres­ der Fischbestände zur Optimierung des Fisch­ umwelt fest. Auf Länderebene gibt es zudem in fangs und zur Erhaltung der Fischressourcen be­ den norddeutschen Bundesländern unterschied­ fassen. 09 Mitgliedsstaaten der jeweiligen Regio­ liche Ansätze zum Meeres- und Küstenschutz, nalorganisationen sind nicht nur Anrainerstaaten, die meist im Rahmen von Landesentwicklungs­ sondern auch Staaten, die in den jeweiligen Mee­ plänen formuliert werden und in zunehmendem Maße von dem Anspruch geprägt sind, unter­ 07 Vgl. Kjell Grip, International Marine Environmental Gover- schiedliche Nutzungsansprüche von Schifffahrt, nance: A Review, in: Ambio 4/2017, S. 413–427. Tourismus, Energiegewinnung sowie marinem 08 Vgl. Stephen M. Redpath et al. (Hrsg.), Conflicts in Conserva­ Umwelt- und Tierschutz abzustimmen und mit­ tion: Navigation Towards , Cambridge 2015. einander in Einklang zu bringen. 09 Und zwar: der Fischereiausschuss für den östlichen Mit- telatlantik (CECAF), die Fischereikommission für den westlichen Mittelatlantik (WECAFC), die Kommission für die Fischerei im 06 Vgl. Kyriazi Zacharoula et al., The Integration of Nature Nordostatlantik (NEAFC), die Organisation für die Fischerei im Conservation into the Marine Spatial Planning Process, in: Marine Nordwestatlantik (NAFO) sowie die Kommission für die Fischerei Policy 38/2013, S. 133–139. im Südostatlantik (SEAFO).

08 Meere & Ozeane APuZ resregionen in verstärktem Maße Fischfang be­ lenwert der Meerespolitik deutlich zugenom­ treiben. Für das Management bestimmter Fisch­ men. Im Sommer 2017 fand die erste Konferenz arten wie beispielsweise Lachs und Pollack, vor der Vereinten Nationen zum Schutz des Ozeans allem aber für Thunfisch, gibt es nochmals eigene statt, und im September desselben Jahres ernann­ regionale Fischereiorganisationen. 10 te der UN-Generalsekretär mit Peter Thomson Auf der Ebene der Europäischen Union gibt sogar einen Sondergesandten für den Ozean. In es die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP), deren laufenden internationalen Verhandlungen über Anfänge in den 1980er Jahren liegen. Nachdem weitere Abkommen sollen bestehende Regulie­ sie vor allem aufgrund der andauernden Überfi­ rungslücken geschlossen und beispielsweise das schung und unzureichender Kohärenz mit den Management von Meeresschutzgebieten verbes­ nationalen Fischereipolitiken lange Zeit schar­ sert werden. fer Kritik ausgesetzt war, wurde ab 2009 ein Re­ Zurzeit erscheint marine Raumplanung als formprozess eingeleitet. Dieser sollte letztlich zu vorherrschende Lösungsstrategie, um die sekto­ einer besser koordinierten sowie nachhaltigeren rale Ordnungslogik aufzuweichen und in desig­ Fischereipolitik führen, um eine Erholung der nierten Räumen eine bessere Koordination der Fischbestände zu ermöglichen. In diesem Kon­ intensivierten Nutzungsansprüche und eine ein­ text strukturierte die EU um und betonte den in­ heitliche Regulierung zu erreichen. Dabei werden tegrativen Ansatz in der neu benannten Gene­ unter Einbeziehung betroffener Akteure sämtli­ raldirektion für maritime Angelegenheiten und che Aktivitäten und deren Auswirkungen in ei­ Fischerei (MARE). All diese Institutionen mit nem genau bestimmten Gebiet zusammen be­ unterschiedlichen Governancestrukturen konn­ trachtet und reguliert. Der große Vorteil dieser ten die Überfischung der Meere bislang jedoch Herangehensweise besteht in dem aktiven Bemü­ nicht eindämmen. hen, verschiedene Interessen einschließlich des Meeresschutzes auszutarieren. Allerdings könnte AUSBLICK sich daraus wiederum eine fortschreitende Frag­ mentierung ergeben, die dann eher räumlich als Sowohl beratende als auch politische Akteure wie bisher sektoral strukturiert ist. Die Transnati­ nehmen die Fragmentierung in der Ocean Gover­ onalität von Ocean Governance erfordert jeden­ nance als problematisch wahr. Aufgrund der skiz­ falls eine gemeinschaftliche Herangehensweise, in zierten parallelen Ordnungslogiken von Raum der einzelne Staaten mit in der Praxis bewährten einerseits und Sektor andererseits sowie ange­ Governancemechanismen positive Beispiele ge­ sichts des Mehrebenensystems bedarf es großer ben könnten. Anstrengungen und politischen Willens, um Ab­ hilfe zu schaffen. Und überall dort, wo eine an­ gemessene Regulierung besteht, bedarf es einer konsequenten Umsetzung der Vorschriften. Die Hinwendung zu einer integrierten Meerespoli­ tik bietet eine vielversprechende Perspektive für eine bessere Koordination zwischen den viel­ ALETTA MONDRÉ fältigen Nutzungsansprüchen und zahlreichen ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Regulierungsautoren. Schwerpunkt internationale Meerespolitik an der In jüngster Zeit gewann Meerespolitik erheb­ Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Aktuell lich an internationaler Bedeutung. So entstan­ forscht sie zur Architektur von Ocean Governance den neue zivilgesellschaftliche Organisationen und der Regulierung von Tiefseebergbau. wie das Global Ocean Forum, die unter ande­ [email protected] rem politische Empfehlungen unterbreiten. Auch für politische Entscheidungsträger hat der Stel­ ANNEGRET KUHN ist promovierte Politikwissenschaftlerin und lehrt und forscht mit den Schwerpunkten internationale 10 Etwa die Organisation für die Lachserhaltung im Nordatlantik (NASCO), die Internationale Kommission für den Schutz des atlan- Meerespolitik und Governance natürlicher Ressour- tischen Thunfischs (ICCAT) oder die Kommission für die Erhaltung cen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. von Südlichem Blauflossenthun (CCSBT), um nur einige zu nennen. [email protected]

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MEERESFISCH: NACHHALTIG GENUTZT ODER VOM AUSSTERBEN BEDROHT? Christopher Zimmermann · Nadine Kraft

„Nur noch 100 Kabeljaue in der Nordsee“; nen Anlagen an Land, in Teichen oder in offe­ „Fisch und Meeresfrüchte könnten bis 2048 ver­ nen Netzkäfigen im Meer stattfindet, durchaus schwunden sein“. 01 Nicht nur Schlagzeilen wie mit anderen Tiermastanlagen vergleichen: Eine diese, sondern auch Wissenschaftler zeichnen große Anzahl Tiere wird auf kleinstem Raum ge­ teilweise ein extrem düsteres Bild vom Zustand halten, Krankheiten können sich ausbreiten, die der Meeresfischbestände. 02 Gerade in den um­ Umwelt leidet unter Kot und Futtermitteln. Die weltbewussten Gesellschaften Nordeuropas gilt Probleme sind jedoch lösbar. Seit jeder einzel­ der Konsum von wildem Meeresfisch daher viel­ ne Fisch geimpft wird, finden sich beispielswei­ fach als fragwürdig. Und auch der Hauptverursa­ se in norwegischem Zuchtlachs erheblich weni­ cher des kritischen Zustandes der Meere ist aus­ ger Antibiotika als in Geflügel oder Kälbern. 06 gemacht: die Fischerei. 03 Das Verfahren ist automatisiert, aber aufwändig. Die Nutzung von Fisch hat zweifellos vie­ Dennoch lohnt es sich für die Industrie: Antibio­ le Vorteile – vor allem in Hinblick auf die Prote­ tika sind teuer – und Konsumenten zunehmend inversorgung der wachsenden Weltbevölkerung: kritisch gegenüber Medikamentenrückständen in Kein anderes Nutztier setzt Futter effizienter in Lebensmitteln. für den Menschen verwertbare Nahrung um als Was bleibt, ist die Tatsache, dass Aquakultur­ Fische. Ein Lachs etwa bildet pro 1,2 Kilogramm fische in Gefangenschaft leben. Wildfische hinge­ eingesetzter Nahrung ein Kilogramm Körper­ gen leben bis zu dem Moment, in dem sie dem Fi­ masse. Bei Rindern ist die sogenannte Konversi­ scher ins Netz gehen, ein vollständig natürliches onsrate ungleich höher, sie brauchen mindestens Leben – ganz so, wie es die meisten Rehe und das Vierfache. 04 Will man nicht gänzlich auf tie­ Wildschweine tun. Ihr Konsum hat also auch eine risches Protein verzichten, ist Fischkonsum aus ethische Dimension, die zu berücksichtigen ist. ökologischen Gründen also positiv. Auch ge­ sundheitlich bietet Wildfisch Vorteile: Er ist reich ZUSTAND DER an leicht verdaulichem Protein und – je nach WELTFISCHRESSOURCEN Art – an Omega-3-Fettsäuren. Allerdings kön­ nen Fische aus einigen Gebieten Schadstoffe wie Aber wie kann einerseits der weltweite Fisch­ Schwermetalle anreichern, vor allem, wenn sie konsum gefördert werden, wenn andererseits wie Haie, Thune und Schwertfische weit oben Schreckensszenarien von leergefischten Meeren in der Nahrungskette stehen oder wenn sie ei­ die Runde machen? Auskunft darüber gibt der nen hohen Fettgehalt aufweisen. Dennoch raten alle zwei Jahre von der Ernährungs- und Land­ Ernährungsgesellschaften dazu, mindestens ein­ wirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen mal pro Woche (fetten) Meeresfisch zu essen – (FAO) veröffentlichte SOFIA-Report (kurz für auch während der Schwangerschaft: Der Verzicht „The State of the World Fisheries and Aquacul­ auf Meeresfisch habe für die fötale Entwicklung ture“), der einzig seriösen Quelle für den Zu­ mehr Nachteile als die mögliche Kontamination stand der Weltfischbestände. Nach dem jüngsten mit Umweltgiften. 05 Bericht von 2016 (Daten von 2014) befinden sich Der weltweite Fischkonsum wird zunehmend von den rund 500 Beständen, über die es ausrei­ aus gezüchteten Fischen gedeckt. Dabei lässt sich chende Daten gibt, 31 Prozent im roten Bereich. die sogenannte Aquakultur, die in geschlosse­ Das heißt, sie sind überfischt, kollabiert oder sich

10 Meere & Ozeane APuZ erholend. Nur elf Prozent der Bestände haben Für Europas Meeresgebiete ergibt sich ein noch Entwicklungsmöglichkeiten, könnten also ähnliches Bild: Während 2007 etwa ein Viertel bei intensiverer Fischerei einen höheren Ertrag der Bestände nach MSY und damit nachhaltig be­ liefern (underfished). Und weitere 58 Prozent wirtschaftet wurde, war es 2013 bereits mehr als sind maximal genutzt (fully fished). 07 die Hälfte. 10 In der Ostsee bereiten den Fischerei­ In der öffentlichen Darstellung, vor allem biologen aktuell von 14 kommerziell genutzten durch Umweltverbände, werden diese 58 Prozent Fischbeständen nur noch zwei Sorgen. Dies sind häufig dem roten Bereich zugeschlagen. Die grif­ ausgerechnet die beiden für die deutsche Küs­ fige Schlussfolgerung lautet dann: „Fast 90 Pro­ tenfischerei wichtigsten Bestände, Hering und zent der Weltfischbestände sind überfischt oder Dorsch der westlichen Ostsee. Aber auch für die­ bis ans Limit genutzt.“ Die maximale Nutzung ist se sind die Aussichten gut, dass sie bis 2020 oder jedoch weder schlecht noch gefährlich. Die Be­ kurz darauf in den grünen Bereich gebracht wer­ urteilung der FAO bezieht sich auf den maxima­ den. Seit der jüngsten Reform der gemeinsamen len nachhaltigen Dauerertrag (Maximum Sustain­ Fischereipolitik der EU 2013 sind sowohl das able Yield, MSY), 08 ein Bewirtschaftungskonzept MSY-Bewirtschaftungsziel als auch der Zeitrah­ für marine Fischbestände. Darin wird anerkannt, men, in dem es erreicht werden soll, festgeschrie­ dass Meeresfisch ein wertvolles Nahrungsmittel ben – und die Maßnahmen zeigen Wirkung. für den Menschen ist, das der gesamten Mensch­ Ein Manko haben die Daten der FAO jedoch: heit gehört und so genutzt werden sollte, dass Sie machen nicht sichtbar, dass unter den Bestän­ möglichst viel davon zur Verfügung steht. Die den im roten Bereich überdurchschnittlich vie­ Optimierung erfordert jedoch gesunde Fisch­ le große Raubfische wie Thun, Schwertfisch und bestände in einem gesunden Meeresökosystem. Kabeljau sind. Entwicklungsmöglichkeiten haben Bis 2020 sollen deshalb möglichst alle Bestände hingegen vor allem Arten, die für den menschli­ in diesem „optimalen“ Zustand, also nachhaltig 09 chen Konsum kaum direkt geeignet sind. Dazu und „maximal genutzt“ sein. Wenn es nach der zählen Sprotten, Sandaale und Sardellen, die über FAO und der Fischereibiologie geht, ist „maxi­ den Umweg Fischmehlproduktion und Lachsfar­ mal genutzt“ der wünschenswerte Zustand. men den Weg auf unsere Teller finden. Die ertrag­ reichsten Bestände der Welt sind überwiegend in gutem Zustand, schließlich gibt es in der globalen 01 Just 100 Cod Left in North Sea, 16. 9. 2012, www.telegraph. co.uk/​9546004/Just-100-cod-left-in-North-Sea.html; John Roach, Fischwirtschaft ein großes wirtschaftliches Inte­ Seafood May Be Gone by 2028, Study Says, 2. 11. 2006, https:// resse, nicht alle paar Jahre eine neue Quelle für news.nationalgeographic.com/news/2006/11/061102-seafood- teuren Fisch suchen zu müssen. threat.html. Den größten Teil der Anlandungen machen 02 Vgl. Ransom A. Myers/Boris Worm, Rapid Worldwide Massenfischarten wie Hering, Seelachs und Ka­ Depletion of Predatory Fish Communities, in: Nature 6937/2003, S. 280–283; Boris Worm et al., Impacts of Biodiversity Loss on beljau aus. Ihr Fang wird unlukrativ, lange bevor Ocean Services, in: Science 5800/2006, S. 787–790. kritische Bestandsgrößen erreicht sind. Wenn also 03 Vgl. Benjamin S. Halpern et al., A Global Map of Human Im- die Wissenschaftler von „kollabierten Beständen“ pact on Marine , in: Science 5865/2008, S. 948–952. sprechen, meinen sie, dass sich diese unter Um­ 04 Vgl. World Food and Agriculture Organization (FAO), Cultured Aquatic Species Information Programme: Salmo salar, 2004, www.fao.org/fishery/culturedspecies/Salmo_salar/en; Joel 08 Der MSY ist seit dem UN-Nachhaltigkeitsgipfel in Johannes- K. Bourne, How to Farm a Better Fish, 2014, www.nationalgeo- burg 2002 international anerkannter Bewirtschaftungsansatz für graphic.com/foodfeatures/aquaculture; Dan W. Shike, Beef Cattle die nachhaltige Nutzung mariner lebender Ressourcen. Das Ziel ist Feed Efficiency, 2013, http://lib.dr.iastate.edu/cgi/viewcontent.cgi? die optimale Nutzung eines Bestandes. Er ergänzt den seit 1992 article=1027&context=driftlessconference. etablierten Vorsorgeansatz (Precautionary Approach, PA), durch 05 Vgl. U. S. Food and Drug Administration, New Advice: Pregnant den beispielsweise verhindert werden soll, dass Fischbestände zu Women and Young Children Should Eat More Fish, 10. 6. 2014, klein werden. www.fda.gov/forconsumers/consumerupdates/ucm397443.htm. 09 Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wird seit dem Abschlussbericht 06 Vgl. World Health Organization (WHO), Vaccinating Salmon: der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung 1987 („Brundt- How Norway Avoids Antibiotics in Fish Farming, Oktober 2015, land-Report“) für ein ausgewogenes ökologisches, ökonomisches www.who.int/features/​2015/antibiotics-norway/en; The Norwegi- und soziales Handeln verwendet, das künftigen Generationen an Veterinary Institute, Use of Antibiotics in Norwegian Aquacul- vergleichbare oder bessere Lebensbedingungen sichern soll. ture, Oslo 2016. 10 Vgl. Scientific, Technical and Economic Committee for Fisheries 07 Vgl. FAO, The State of World Fisheries and Aquaculture 2016 (STECF), Monitoring the Performance of the Common Fisheries (SOFIA), Rom 2016, www.fao.org/​3/a-i5555e.pdf. Policy, STECF-16-05, Luxemburg 2016.

11 APuZ 51–52/2017 ständen für viele Jahre nicht mehr ökonomisch gen. Der Europäische Aal steht inzwischen auf nutzen lassen. Wie lange die Erholung dauert, Anhang II der CITES-Artenschutzliste, 11 Han­ lässt sich kaum vorhersagen – der Zustand kann del und Export sind damit stark reguliert. Den­ sich rasch ändern. Schon deshalb sollten Fischbe­ noch werden nach wie vor viele Glasaale für den stände jährlich begutachtet werden. direkten Konsum, für den Besatz von Mästereien Eine Handvoll mariner Arten ist tatsächlich oder für den Wiederbesatz (restocking) 12 gefan­ durch menschliches Handeln vom Aussterben gen. Jeder Aal aus einer Aquakultur stammt tat­ bedroht. Als Paradebeispiel galt lange Zeit der für sächlich also aus Wildfang, weil sich Aale in Ge­ die Sushi-Herstellung begehrte Blauflossen­thun. fangenschaft nicht reproduzieren. Wegen der enormen Preise lohnte sich auch noch Auch wenn die Fischerei nicht der Hauptver­ die Jagd auf den „letzten Thunfisch“, betonten ursacher der prekären Situation ist – die durch sie Umweltverbände. Inzwischen erholen sich die verursachte Sterblichkeit ist die einzige, die sofort Bestände allerdings wieder – zum einen, weil die abgestellt werden kann. Dennoch schlugen sämt­ Fangmengen ausreichend gesenkt wurden, zum liche Anstrengungen, die Fischart in ihrem Be­ anderen aber auch, weil sie einige Jahre lang mehr stand zu schützen, bislang fehl. Die Vermutung Nachwuchs produzierten. Auch einige Seepferd­ liegt nahe, dass der Ernst der Lage in der Poli­ chenpopulationen in Südostasien sind akut vom tik schlicht noch nicht erkannt wurde, weil es zu Aussterben bedroht. Obwohl sie von Schnorch­ häufig vorkam, dass vermeintlich vom Ausster­ lern ohne Hilfsmittel gefangen werden – die ben bedrohte Arten sich wieder erholten. Wer zu kleinste Fischereiform, die es überhaupt gibt –, oft hört: „Der Wolf kommt“, reagiert nicht mehr, wird den Tieren zum Verhängnis, dass sie nur lo­ wenn er wirklich kommt. kal vorkommen und sich mit ihnen als Aphrodi­ siakum auf dem asiatischen Markt extrem hohe UMWELTAUSWIRKUNGEN Preise erzielen lassen. DER FISCHEREI Auch Europa hat eine in ihrem Fortbestand bedrohte kommerziell genutzte Art: den Euro­ Auch wenn die intensive Befischung fast keine päischen Aal. Neben dem erheblichen wirtschaft­ Bestände in der Existenz gefährdet, kann die Fi­ lichen Interesse spielt dabei auch der unfassbar scherei dennoch erhebliche Auswirkungen auf komplexe Lebenszyklus des Aals eine Rolle: Er das Meeresökosystem haben. Und wie fast immer, gelangt als Larve aus der subtropischen Sargas­ wenn es um das Meer geht, werden diese Einflüs­ sosee im westlichen Atlantik bis an die europä­ se als negativ wahrgenommen. Der Lebensraum ischen Küsten und steigt dort als sogenannter Meer fasziniert uns Menschen, und die Achtsam­ Glasaal in die Flüsse auf. Im Süßwasser nach Jah­ keit gegenüber selbigem ist zum Sinnbild unseres ren geschlechtsreif geworden, beginnt er den lan­ Umgangs mit dem Planeten insgesamt geworden. gen Rückweg ins Meer und stellt dort die Nah­ Besonders heikel sind unerwünschte Beifän­ rungsaufnahme ein. In der Tausende Kilometer ge, also Fische, Vögel, Meeressäuger oder mari­ entfernten Sargassosee muss er in einer bestimm­ ne Reptilien, die unbeabsichtigt ins Netz gehen ten Mondphase ankommen, damit es zu einer und darin umkommen. In einigen Fällen haben erfolgreichen Paarung kommt und der Zyklus Bestände der höheren Wirbeltiere dadurch so kri­ von Neuem beginnen kann. Auf seiner Wande­ tische Größen erreicht, dass selbst der Fang ein­ rung ist der Aal zahlreichen Gefahren ausgesetzt, zelner Tiere die Bestandserholung beeinträch­ vor allem im Süßgewässer: etwa durch Turbinen tigen kann. Ein bekanntes Beispiel ist die kleine von Wasserkraftwerken, Schwimmblasenpara­ siten oder hormonaktive Substanzen, die durch 11 CITES = Convention on International Trade in Endangered Abwässer in Flüsse gelangt sind und zu einer ver­ Species of Wild Fauna and Flora, Washingtoner Artenschutz- änderten Fetteinlagerung oder verzögerten Rei­ abkommen 1973. Arten, die in Anhang I gelistet sind, dürfen fung führen. Diese Faktoren spielen eine weitaus nicht gehandelt werden, für solche aus Anhang II gelten strenge größere Rolle für die Gesamtsterblichkeit der Art Regularien. als die Fischerei. 12 Restocking (engl. Wiederauffüllung) meint das Aussetzen von andernorts gefangenen und ggf. in Gefangenschaft aufgezogenen Das Aufkommen von Glasaalen in europä­ Fischen. Die Kosten für solche Programme sind erheblich, und es ist ischen Flussmündungen ist in den vergangenen unklar, ob hierdurch tatsächlich ein Beitrag zur Aufrechterhaltung 50 Jahren um mehr als 90 Prozent zurückgegan­ der natürlichen Reproduktion des Europäischen Aals geleistet wird.

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Schweinswalpopulation in der östlichen Ostsee. satz. In der Fischerei haben sich Fangbeschrän­ In solchen Fällen ist die Gesellschaft gefragt, die kungen in Form von Höchstfangmengen – auch Interessen gegeneinander abzuwägen: Hier das Quoten genannt – oder als Begrenzung des Fi­ Überleben einer Population gegen die Belange schereiaufwandes (Seetage, Maschinenleistung) der Fischerei und der Konsumenten. bewährt. Unterstützt werden solche Beschrän­ Die meisten Auswirkungen auf das Ökosys­ kungen durch technische Vorschriften etwa zur tem dürften bei nachlassendem Fischereidruck Gestaltung der Fanggeräte oder durch die Schlie­ verschwinden: Überfischte Bestände können sich ßung von Gebieten oder Zeiträumen, in denen erholen, und selbst ein durch Grundschleppnetze nicht gefischt werden darf. Idealerweise schafft beeinträchtigtes Habitat am Meeresboden wächst das Fischereimanagement die richtigen Anreize, nach. Einige Auswirkungen jedoch sind irrever­ damit Fischer sich zum eigenen Vorteil an die Re­ sibel, führen also zu einer dauerhaften Verän­ geln halten. derung. Im Südpolarmeer beispielsweise hat die Ein erfolgreiches Fischereimanagement sorgt Übernutzung der Bartenwale in den 1950er Jah­ zunächst dafür, dass immer ausreichend Eltern­ ren die Vermehrung der Krabbenfresser-Robben tiere 14 vorhanden sind, um der statistischen befördert, die sich wie die Wale von Krill ernäh­ Wahrscheinlichkeit eines Jahrgangsausfalls vor­ ren. Das Ökosystem ist nun zwar in einem an­ zubeugen – und zwar auch bei unvorteilhaften deren Zustand stabil. Der Mensch aber kann mit Umweltbedingungen, auf die das Management den Robben nichts anfangen, während der Wal keinen direkten Einfluss hat. Diese spielen al­ wirtschaftlich nutzbar war. lerdings nur in wenigen Meeresgebieten, etwa Ein weiteres Beispiel: Vor der nordamerika­ der Ostsee, eine entscheidende Rolle: Hier sind nischen Ostküste führte der Zusammenbruch Salz- und Sauerstoffgehalt begrenzende Fakto­ der Kabeljaubestände Anfang der 1990er Jahre ren. Die Bewirtschaftung muss umso vorsichti­ zu einer Ausbreitung der sich rascher reprodu­ ger erfolgen, je variabler die Umweltbedingungen zierenden Garnelen. Dem Aufschrei unter den sind und je größer ihr Einfluss auf die Entwick­ Fischern folgte bald stille Zustimmung: Mit den lung der Bestände ist. Zudem darf entsprechend Garnelen verdienen die Fischer deutlich mehr dem Vorsorgeansatz 15 nur dann bis an die Gren­ Geld als zuvor mit Kabeljau, wenn auch mit zen der Bewirtschaftungsziele gefischt werden, weniger Beschäftigten. Und die Kabeljau-Bei­ wenn ausreichend wissenschaftliche Informatio­ fänge in der Garnelenfischerei, die mit klein­ nen vorhanden sind. maschigen Netzen betrieben wird, stabilisieren Fischbestände werden produktiver, sie wach­ den Zustand zusätzlich. Ein solcher Einfluss der sen also besser, wenn man sie befischt. Die maxi­ Fischerei ist auch andersherum möglich: Durch male Überschussproduktion (surplus production) Übernutzung der Fischbestände an der Basis des wird bei ungefähr 30 bis 35 Prozent der ursprüng­ Nahrungsnetzes, also durch die exzessive Befi­ lichen, unbefischten Populationsgröße erreicht. schung kleiner Schwarmfische, kann es eben­ Dieser Wert ist daher die Zielgröße des MSY-Ma­ falls zu gravierenden Änderungen im Ökosys­ nagements. Dieser Rahmen lässt es zu, dass der tem kommen. 13 Mensch jährlich zwischen 20 und 40 Prozent ei­ nes Bestands entnehmen kann, ohne zu tief in das ROLLE DES natürliche Nahrungsnetz einzugreifen. Erst bei FISCHEREIMANAGEMENTS der Hälfte des MSY-Referenzwerts, wenn ein Be­ stand also auf etwa 17 Prozent seiner ursprüng­ Nun sind Ökosysteme nie stabil, auch natürli­ lichen Populationsgröße geschrumpft ist, wird che Fischbestände wachsen und schrumpfen, und die die Bestandsgröße kritisch. Das heißt, die sta­ das völlig ohne menschliches Zutun. Menschliche tistische Wahrscheinlichkeit schwacher Nach­ Umweltauswirkungen vollständig abzustellen, ist wuchsjahrgänge steigt („Limit-Referenzpunkt“). zudem utopisch. Das Handeln so zu steuern, dass Gibt es viele andere Nutzer der Ressource Fisch, diese Auswirkungen so weit wie möglich redu­ ziert werden, ist hingegen ein realistischer An­ 14 Ausgedrückt als „Laicherbiomasse“ – das Gesamtgewicht der erwachsenen, am Laichgeschäft (also der Nachwuchsproduktion) 13 Vgl. Daniel Pauly et al., Fishing Down Marine Food Webs, in: teilnehmenden Tiere eines Bestandes. Science 5352/1998, S. 860–863. 15 Zum Vorsorgeansatz siehe Anm. 8.

13 APuZ 51–52/2017 etwa Seevögel, und hat der Bestand eine Schlüs­ gen verteilt werden, fehlt dem einen Fischer im­ selstellung im Nahrungsnetz, wie das für viele mer gerade die Quote, die ein anderer zur Verfü­ kleine Schwarmfische gilt, muss die Bewirtschaf­ gung hat. tung vorsichtiger erfolgen. Eine Reduzierung auf Die in einigen Regionen ökonomisch bedeut­ 70 Prozent der Ausgangsbiomasse ist dann ein same, aber weitgehend unregulierte Freizeitfi­ besseres Bewirtschaftungsziel. 16 scherei, etwa beim Dorsch der westlichen Ostsee, wird erst neuerdings im Management berück­ HERAUSFORDERUNGEN FÜR DAS sichtigt. Die Angler bringen mittlerweile beinahe FISCHEREIMANAGEMENT die Hälfte der gefangenen Dorschmenge an Land und haben damit einen erheblichen Einfluss auf Die Bestimmung von Referenzpunkten ist schon den Bestandszustand. komplex, wenn man nur einzelne Arten iso­ In jedem Fall braucht ein vernünftiges Fi­ liert betrachtet, wie das derzeit geschieht. Noch schereimanagement einen langen Atem. Die Be­ komplizierter wird es, wenn mehrere, miteinan­ wirtschaftungsregeln sollten unabhängig von der der interagierende Arten gemeinsam optimal ge­ Festsetzung der Fangmengen für das nächste Jahr nutzt werden sollen. Die Modelle für diesen An­ erfolgen. Die Versuchung für die Politik ist sonst satz stehen inzwischen zur Verfügung, aber in zu groß, kurzfristige Vorteile wie hohe Quoten im vielen Fällen gibt es keine optimale biologische nächsten Jahr in den Vordergrund zu stellen. Lang­ Lösung. Bislang ist noch nicht einmal geklärt, fristige Bewirtschaftungspläne haben sich bewährt, was genau das Ziel der Optimierung ist: Sind es wie die positive Entwicklung der meisten europä­ die Erträge aus der Fischerei, ausgedrückt in An­ ischen Fischbestände zeigt. Noch besser funktio­ landeerlös, Fanggewicht oder Protein, wie sie die niert das Management, wenn konsequent die rich­ reichen Nordeuropäer bevorzugen? Oder sind tigen Anreize geschaffen werden. So wurden 2013 es die Beschäftigtenzahlen, die für die Südeuro­ Rückwürfe in den meisten europäischen Fische­ päer mit hoher Jugendarbeitslosigkeit im Vor­ reien verboten. Seither muss jeder gefangene Fisch dergrund stehen? Es sind auch völlig andere Be­ an Land gebracht werden, wichtiger aber: Er muss wirtschaftungsziele denkbar, etwa die Stabilität auf die Quote angerechnet werden. Ist diese ausge­ der Fangmengen, wie sie vor allem für die stand­ schöpft, steht der Kutter still. Die Regel macht den orttreue Kleinfischerei wichtig ist. Die lässt sich unerwünschten Beifang teuer, und der Anreiz ist bei natürlich schwankenden Bestandsgrößen al­ groß, ihn genau dort zu reduzieren, wo es am sinn­ lerdings nur mit langfristig geringeren Fangmen­ vollsten ist: im Wasser. gen erkaufen. Technische Entwicklungen unterstützen nach­ Selbst wenn es gelänge, ein Ökosystem so ein­ haltiges Fischen: etwa selektive Netze, die fast zustellen, dass es sich auf solche Vorgaben opti­ ausschließlich die gewünschten Fische fangen; mieren ließe: Die Interessen in der Fischerei und oder Fanggeräte, die die Auswirkungen auf den in den Gesellschaften sind so unterschiedlich, Meeresboden reduzieren, indem elektrische Im­ dass es fast unmöglich ist, sich auf ein Ziel zu ei­ pulse für das Aufscheuchen von Plattfischen oder nigen. Die Skandinavier wollen eine Ostsee vol­ Nordseegarnelen eingesetzt werden statt schwe­ ler Sprotten und Heringe, weil sie für diese Arten rer Scheuchketten. Der Fischer spart zudem die größten Fanganteile haben. Deutsche und Po­ Treibstoff. Akustische Signalgeber, sogenann­ len bevorzugen dagegen Dorsch, weil der wert­ te Pinger, halten Schweinswale von Stellnetzen voller ist. In vielen gemischten Bodenfischereien fern, damit sie nicht ertrinken, vertreiben die Tie­ treten zudem unvermeidlich Beifänge auf. Einige re aber unter Umständen aus Teilen ihres Lebens­ davon sind wertvoll und erwünscht, andere dage­ raums. Jede positive Maßnahme kann wieder an­ gen vermeintlich oder tatsächlich für den Fischer dere negative Effekte haben. Am Ende wird ein wertlos. Sie gehen als Rückwurf (discard) wie­ gesellschaftlicher Konsens benötigt, welche Um­ der über Bord, meist tot oder sterbend. Und da weltauswirkungen noch akzeptabel sind. Dafür die Fangquoten nach historischen Anlandemen­ bedarf es einer unvoreingenommenen Analyse, gesondert für jede Zielfischart und für jedes Ge­

16 Vgl. Anthony D. M. Smith et al., Impacts of Fishing Low-Trophic biet, ökologisch, ökonomisch und sozial. Pau­ Level Species on Marine Ecosystems, in: Science 6046/2011, schale Lösungen wie etwa die Ablehnung von S. 1147–1150. Grundschleppnetzen oder die Verdammung gro­

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ßer Fahrzeuge als „Monstertrawler“ erscheinen Bewährt hat sich hingegen die Beteiligung schlüssig, verbauen jedoch den Weg für kreative von Verbrauchern und Handel am Versuch, Fi­ Lösungsansätze. scherei nachhaltiger zu gestalten. Durch den Kauf von Produkten aus vorbildlichen Fische­ ALTERNATIVE reien werden Anreize für eine Transformation BEWIRTSCHAFTUNGSANSÄTZE der Fischerei insgesamt geschaffen. Die Ein­ kaufsratgeber der Umweltverbände bieten Ori­ Vermeintlich noch stärkere Anreize werden ge­ entierung, haben aber den Nachteil, dass sie schaffen, wenn die Nutzungsrechte privatisiert stark pauschalisieren müssen, um für Konsu­ und damit handelbar werden. Island ist diesen menten überhaupt nutzbar zu sein. Hinderlich Weg gegangen. Die Bedingungen waren ideal, weil sind zudem der permanente Aktualisierungsbe­ die soziale Kontrolle in dem bevölkerungsarmen darf und die jeweils vertretene Ideologie. So lis­ Staat hoch und die Fischerei sehr transparent ist. tet jedes Produkt, das aus Grund­ Dennoch führte die Privatisierung in kurzer Zeit schleppnetzfischereien kommt, rot, obwohl zur Überkapitalisierung und Konzentration der der Bestand in hervorragendem Zustand und Fangrechte in den Händen weniger Besitzer. Die die Umweltauswirkungen akzeptabel sein kön­ Westfjorde, vormals fast ausschließlich von der nen. Einen verlässlicheren Ansatz beschrei­ kleinen Küstenfischerei geprägt, sind inzwischen tet die Nachhaltigkeitszertifizierung, wie sie weitgehend entvölkert. Eine Universallösung ist der Marine Stewardship Council (MSC) seit dieser Ansatz daher nicht, schon gar nicht in Re­ nun 20 Jahren erfolgreich betreibt: Hier lässt gionen wie der Nordsee, in der zahlreiche Flot­ sich eine Fischerei freiwillig anhand eines wis­ ten mit unterschiedlichen nationalen Interessen senschaftsbasierten Nachhaltigkeitsstandards verschiedene Lebensstadien von Nutzfischen be­ bewerten und wird bei Erfüllung von Min­ fischen. Auch für die Ostsee, in der die Küsten­ destkriterien (die auf die FAO zurückgehen) fischerei über den Wert der Anlandung hinaus zertifiziert. Der Durchbruch gelang, als sich im­ erhebliche Bedeutung für die Förderung des Tou­ mer größere Teile des Handels verpflichteten, rismus hat und daher erhalten bleiben sollte, ist nur noch zertifizierte Ware zu verkaufen – auch dieser Ansatz nicht geeignet. Viele europäische auf Druck der Umweltverbände. Regierungen, darunter die deutsche, haben sich deshalb gegen handelbare Rechte in der Fische­ PROBLEME KLIMAWANDEL rei entschieden. UND MÜLL Ein Ansatz für die nachhaltige Nutzung der Meere, den Umweltverbände propagieren, sind Wie sich der Klimawandel auf die Fischbestände großräumige, fischereifreie Schutzgebiete Ma( ­ auswirken wird, lässt sich schwer vorhersagen. rine Protected Areas, MPAs). Der Nutzen für die Temperatur- und Wasserspiegelanstieg sowie Biodiversität von Meeresgebieten, insbesonde­ Versauerung setzen Fische und Fischerei schon re in sensiblen Habitaten, ist unbestritten. Aber heute unter Druck. 17 Der Anstieg des Meeres­ um als Managementinstrument zu taugen, müss­ spiegels vergrößert zwar den Lebensraum der ten durch die Schutzzonen die Erträge im Ge­ Fische, macht den Zugang zur Ressource durch samtgebiet gesteigert oder wenigstens stabilisiert die Zerstörung der Küsten-Infrastruktur aber werden. Das konnte bisher nicht nachgewiesen schwieriger. Die Versauerung hat Auswirkun­ werden – unter anderem, weil an den Grenzen gen auf alle Kalkbildungsprozesse, also auch der MPAs nun intensiver gefischt wird. Bei den auf die Entwicklung schalenbildender Meeres­ wenigen positiven Beispielen wurde gleichzeitig organismen, von denen viele wichtige Nährtie­ der Fischereiaufwand proportional reduziert – re der Fische sind. Durch die Erwärmung ver­ dies hätte aber auch ohne Gebietsschließung eine ändern Fischbestände ihre Verbreitungsgebiete, vergleichbar positive Wirkung auf die Fischbe­ oft ohne dass die Fischerei ihnen folgen könn­ stände gehabt. Global betrachtet muss man da­ te. Auch direkte Effekte vor allem auf die Ju­ von ausgehen, dass Schutzzonen vor der Haus­ tür zur Verlagerung der Fischerei in schlechter 17 Vgl. William W. L. Cheung/Gabriel Reygondeau/Thomas L. bewirtschaftete Gebiete führen, denn der Bedarf Frölicher, Large Benefits to Marine Fisheries of Meeting the 1.5 °C an Meeresfisch bleibt hoch. Global Warming Target, 6319/2016, S. 1591–1594.

15 APuZ 51–52/2017 gendstadien von Fischen sind bekannt. So wur­ Konsumenten zu aktivieren. Sie birgt aber die de gerade für den Hering der westlichen Ostsee Gefahr, dass sich der Verbraucher frustriert ab­ beschrieben, dass die steigende Temperatur die wendet und dass pauschale Lösungen propagiert wesentliche Ursache für die seit Jahren nachlas­ werden, nur weil sie einfacher kommunizier­ sende Nachwuchsproduktion dieses wichtigen bar sind. Die politikberatende Wissenschaft soll­ Fischbestandes ist. 18 te sich vor diesen Übertreibungen hüten, da sie Der Eintrag von Kunststoffen ist für das ma­ sonst unglaubwürdig wird. 20 Tatsächlich ist der rine Ökosystem insgesamt gravierend. Für die Zustand der Weltfischressourcen besser als land­ kommerzielle Nutzung der Fischbestände wird läufig angenommen. die Vermüllung des Ozeans dagegen eher überbe­ Wilder Meeresfisch ist ein gesundes, wertvol­ wertet. Mikroplastikpartikel werden vom Fisch les Nahrungsmittel, dessen Nutzung auch aus aufgenommen wie Sandpartikel, beide werden ökologischer Sicht und mit Blick auf die Welt­ unverändert ausgeschieden. Es gibt bislang kei­ ernährung unbestreitbare Vorteile hat. Die An­ ne Hinweise, dass Kunststoffe in die Muskula­ strengungen für eine nachhaltige Bewirtschaftung tur gelangen – im Gegensatz zu den enthaltenen und die fortwährende Reduzierung der Umwelt­ Weichmachern. Da wir die Innereien von Fischen auswirkungen der Fischerei lohnen sich – und nicht essen, landet auch das Mikroplastik nicht auch der Verbraucher kann durch informierten auf unseren Tellern. Anders ist dies bei Muscheln, Konsum zum langfristigen Erhalt der Ressource die wir mitsamt Darm verzehren. Fische kön­ Meeresfisch beitragen. nen Kunststoffpartikel jedoch mit Nahrung ver­ wechseln. Da diese aber keinen Nährwert haben, könnte es sein, dass Fischlarven mit plastikgefüll­ tem Magen verhungern. Eine schwedische Studie, die dies überzeugend belegte, musste allerdings jüngst zurückgezogen werden. Die Autoren hat­ ten ihre Ergebnisse mindestens überhöht. 19

FAZIT

Die Nutzung mariner lebender Ressourcen eig­ net sich als Thema, um in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Balance zwischen Schutz und Nutzung der Umwelt zu erzeugen – auch und ge­ rade, weil uns der Lebensraum Meer so viel we­ CHRISTOPHER ZIMMERMANN niger vertraut ist als das Land, wo wir uns an ist promovierter Biologe und Leiter des Thünen- die Veränderung durch den Menschen längst ge­ Instituts für Ostseefischerei in Rostock. Er ist wöhnt haben. Umweltverbände, Handel und In­ Delegierter des Internationalen Rates für Meeres- dustrie haben das erkannt und den Meeresfisch forschung und als solcher für die wissenschaftliche zum Symbol für nachhaltige Nutzung gemacht. Fangempfehlung für die genutzten lebenden Übertreibung ist dabei ein probates Mittel, die Ressourcen des Nordostatlantiks mitverantwortlich. Er berät Ministerien und Parlamente ebenso wie 18 Vgl. Julian Dodson et. al., Environmental Determinants of Lar- Handel, Industrie und Umweltverbände. val Herring (Clupea harengus) Abundance and Distribution in the [email protected] Western Baltic Sea, in: Limnology and (submitted). 19 Vgl. Oona M. Lönnstedt/Peter Eklöv, Environmentally Relevant of Microplastic Particles Influence Larval Fish NADINE KRAFT Ecology, in: Science 6290/2016, S. 1213–1216; Martin Enserink, ist Historikerin und Kulturwissenschaftlerin und Fishy Business. Accusations of Research Fraud Roil a Tight-Knit in Hamburg als freie Redakteurin und Autorin für Community of Ecologists, in: Science 6331/2017, S. 1254–1257, verschiedene Zeitschriften und Tageszeitungen www.sciencemag.org/content/​355/​6331/​1254.full. tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind nachhaltiges 20 Aktuelle Informationen zum Zustand der für den deutschen Markt wichtigen Fischbestände und alle Aspekte der nachhaltigen Wirtschaften, das Meer und die Schiffe darauf Nutzung sind – ohne Einkaufsempfehlung – auf dem Angebot des sowie Skandinavien und Hamburg. Thünen-Instituts zu finden: www.fischbestaende-online.de. [email protected]

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PLASTIKMÜLL IM MEER Zur Entdeckung eines Umweltproblems Johanna Kramm · Carolin Völker

Es ist erst wenige Jahre her, dass mehrere Medi­ Im Folgenden werden wir nachzeichnen, wie en von der Entstehung eines „achten Kontinents“ sich das Thema „Plastik im Meer“ aus einem zu­ berichteten. Dieser bestehe aus allerlei Unrat und nächst unsichtbaren Phänomen dahingehend ent­ Müll, vor allem Plastikmüll, der sich durch die wickelt hat, dass es gegenwärtig als eine der größten Meeresströmung im Nordpazifik gesammelt habe. Umweltbedrohungen wahrgenommen wird. 04 Da­ Die Vorstellung eines neuen Kontinents beflügel­ nach werden wir einen Blick auf die damit verbun­ te einige zunächst: Niederländische Architekten denen Risiken und Ängste werfen, um abschlie­ entwickelten Visionen, den Plastikmüll einzusam­ ßend Fragen der Verantwortung zu diskutieren. meln, um neuen Wohnraum auf einer Insel aus re­ cyceltem Material zu gewinnen. Und der junge WISSENSCHAFTLICHER Erfinder Boyan Slat entwarf eine Art marine Plas­ BEIFANG tikmüllauffanganlage, die er durch Crowdfunding finanzierte. Inzwischen ist bekannt, dass das Plas­ Die Entdeckung von Plastikobjekten auf dem of­ tik im Nordpazifik keine tragende, kontinentar­ fenen Meer, weitab von menschlichen Lebensräu­ tige Fläche bildet, sondern eher eine „Plastiksup­ men, geschah eher zufällig und unerwartet. Die pe“. Wegen der Strömungen sammelt sich darin ersten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, vor allem sogenanntes Mikroplastik, das entweder die Anfang der 1970er Jahre unabhängig vonei­ durch den Zerfall von Plastikmüll entstanden ist nander mit Plastik im Meer in Berührung kamen, oder bei dem es sich um verlorengegangenes Plas­ waren von unterschiedlichen wissenschaftlichen tikgranulat handelt. 01 Dieses aus dem Meer her­ Fragestellungen angetrieben. auszuholen, wird als zu aufwendig und kostspie­ So war der norwegische Ethnograf Thor lig angesehen. Zudem würden durch die Filtration Heyer­dahl mit seinem Team eigentlich zu einer auch kleine, für die Meeresökologie wichtige Le­ Atlantiküberquerung in einem Papyrusboot an­ bewesen herausgefischt. 02 getreten, um den Nachweis zu führen, dass schon Wie der Klimawandel ist auch das Problem die alten Ägypter dazu in der Lage gewesen wä­ des mikroskopisch kleinen, aber umfangreichen ren. Doch Heyerdahls Reisen blieben vor allem Plastikmüllaufkommens in den Meeren und Oze­ deshalb in Erinnerung, weil er mitten auf dem anen ein „Hyperobjekt“. Der Begriff wurde von Atlantik auch abseits der gängigen Schiffsrouten dem US-amerikanischen Philosophen Timothy Ölklumpen und andere synthetische Materialien Morton eingeführt und bezeichnet Dinge, die entdeckte und die Verschmutzung des Ozeans öf­ sich in Zeit und Raum so ausdehnen, dass sie für fentlichkeitswirksam dokumentierte. 05 den Menschen (lange Zeit) nicht unmittelbar er­ Edward Carpenter vom Woods Hole Oceano­ fahrbar sind. Im Fall der „Plastiksuppe“ trifft dies graphic Institute in Massachusetts und seine Kol­ in zweierlei Hinsicht zu: Zum einen sind die Par­ leginnen und Kollegen hatten ursprünglich den tikel zu klein, als dass sie direkt sichtbar wären, Einfluss von Atomkraftwerken auf marine Küs­ zum anderen ist die Partikelansammlung in Aus­ tenökosysteme untersuchen wollen. Um Proben dehnung und Tiefe zu groß, um direkt „fassbar“ von aquatischen Organismen und Fischeiern zu zu sein. 03 Den Naturwissenschaften kommt bei nehmen, setzten sie Netze ein, die das Oberflä­ Hyperobjekten daher eine entscheidende Rol­ chenwasser durchkämmten. In diesen Netzen le zu. Sie müssen das Problem „entdecken“ und fanden sie jedoch nicht nur das, wonach sie such­ Wege finden, es sichtbar zu machen, etwa durch ten, sondern auch kleinere Partikel aus Plastik, Messinstrumente. die sie als „pellets“, „spherules“ oder „particles“

17 APuZ 51–52/2017 beschrieben. 06 Ihre Funde führten sie richtiger­ Mensch und Tier – etwa durch die Möglichkeit, weise auf Plastikgranulat zurück, das durch die dass es in die Nahrungskette gelangt – schätzten kunststoffproduzierende Industrie in die Um­ Wissenschaftler als gering ein. So wurde der um­ welt gelangt war. hertreibende Kunststoffmüll zunächst nicht als Größere Plastikgegenstände im Meer wurden Schadstoff, sondern vor allem als ein ästhetisches erstmals 1973 von Ozeanografen und Ozeano­ Problem wahrgenommen. grafinnen der kalifornischen Scripps Institution of Oceanography erwähnt. Auch diese Entde­ VOM HILFSMITTEL ZUM ckung war ein wissenschaftlicher „Beifang“: Die FORSCHUNGSGEGENSTAND Forscher hatten eine Expedition unternommen, um auf hoher See in einem vom Menschen un­ Anfangs noch nicht als großes Problem wahrge­ beeinflussten Ökosystem Phytoplanktongemein­ nommen, wurden die Plastikobjekte im Meer in schaften zu untersuchen. Da viele Küstengewäs­ den darauffolgenden Jahrzehnten auch nicht als ser bereits mit Chemikalien verschmutzt waren, Forschungsgegenstand angesehen. Vielmehr ge­ sollten die Proben weit auf dem Pazifik genom­ wannen sie zunächst als wichtiges Instrument men werden. Auf dem Rückweg hatte die Crew in der Ozeanografie an Bedeutung. Die Wissen­ viel Zeit, das Meer zu beobachten. 600 Meilen schaft machte sich die Objekte als „Schwimmer“ von der Zivilisation entfernt entdeckten sie men­ zunutze: Turnschuhe und Badeenten aus verlo­ schengemachte Gegenstände wie Plastikflaschen, renen Schiffscontainern halfen US-amerikani­ eine Kaffeekanne und einen alten Ballon. Um sich schen Ozeanografen in den 1990er Jahren, ihre die Zeit zu vertreiben, führte die Crew ein Log­ Modelle für Meeresströmungen und Ozeanzir­ buch, in dem alle Funde mit Ort und Zeit einge­ kulationen abzugleichen. 09 Interessanterweise tragen wurden. Die Ergebnisse veröffentlichte die konnten die Forscher anhand der so erstellten Gruppe um Elizabeth Venrick schließlich in der Meeresstrommodelle eine Akkumulationszo­ Fachzeitschrift „Nature“. 07 ne voraussagen, in der Gegenstände und Müll Es wurde vermutet, dass die Funde entwe­ aufgrund der Strömungen für Jahrzehnte zirku­ der durch direkte Abfallentsorgung oder durch lieren würden. Diese Zone im Nordpazifik, die die Säuberung von Schiffstanks in die Ozeane ge­ heute auch als „Müllstrudel“ oder im Englischen langt waren. Eine Verbindung mit der Meeres­ als „garbage patch“ bezeichnet wird, existierte strömung wurde in den ersten wissenschaftlichen also bereits vor ihrer Entdeckung als eine theo­ Publikationen nicht hergestellt. 08 Auch die vom retische Annahme. 10 Plastik ausgehende gesundheitliche Gefahr für Während die Ozeanografen die Plastikgegen­ stände für ihre Modellierungen nutzten, war ein japanischer Wissenschaftler an einem anderen 01 Vgl. United Nations Environment Programme (UNEP), Marine Plastic Debris and Microplastics: Global Lessons and Research to Aspekt von Plastik in der Umwelt interessiert. Inspire Action and Guide Policy Change, Nairobi 2016, S. 71. Der japanische Chemiker Hideshige Takada ar­ 02 Auffanganlagen wie die von Boyan Slat entworfene könnten beitete in den 1990er Jahren zu sogenannten per­ dennoch sinnvoll sein, um in stark verschmutzten Küstenregionen sistenten organischen Schadstoffen (persistent größere Plastikteile aus dem Wasser zu fischen. organic pollutants, POPs). Zu ihnen zählen das 03 Vgl. Timothy Morton, Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis 2013. Pestizid DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) 04 Vgl. Plastikmüll im Meer: „Eines der größten Probleme unserer oder auch PCB (polychlorierte Biphenyle), die Zeit“, in: Augsburger Allgemeine, 18. 3. 2016, www.augsburger- lange als Weichmacher in Kunststoffen oder La­ allgemeine.de/id37269322.html. 05 Vgl. Thor Heyerdahl, Atlantic Ocean Pollution and Biota Observed by the „Ra“ Expeditions, in: Biological Conservation 09 Vgl. James Ingraham, Getting to Know OSCURS, REFM’s Oce- 3/1971, S. 164–167. an Surface Simulator, in: Alaska Fisheries Science Center, 06 Vgl. Edward Carpenter et al., Polystyrene Spherules in Coas- Quarterly Report 2/1997, S. 1–14; Curtis Ebbesmeyer/Eric tal Waters, in: Science 4062/1972, S. 749 f. Scigliano, Flotsametrics and the Floating World: How One Man’s 07 Vgl. Elizabeth Venrick et al., Man-made Objects on the Sur- Obsession with Runaway Sneakers and Rubber Ducks Revolutio- face of the Central North Pacific Ocean, in: Nature 5387/1973, nized Ocean Science, New York 2010; De Wolff (Anm. 8), S. 46. S. 271. 10 Vgl. Ingraham (Anm. 9); Robert Day/David Shaw, Patterns 08 Vgl. Kim De Wolff, Gyre Plastics. Science, Circulation and in the Abundance of Pelagic Plastic and Tar in the North Pacific the Matter of the Great Pacific Garbage Patch, San Diego 2014, Ocean, 1976–1985, in: Marine Pollution Bulletin 18/1987, S. 37. S. 311–316; De Wolff (Anm. 8), S. 47.

18 Meere & Ozeane APuZ cken dienten. 11 Aufgrund ihrer Langlebigkeit sind und seine Arbeit: Moore gründete die Nichtregie­ die – wie man mittlerweile weiß: krebserregenden rungsorganisation Algalita und begann, Artikel und teilweise hormonell wirksamen – Stoffe inzwi­ über das Thema zu veröffentlichen. Viele Wissen­ schen weltweit nachweisbar. Eine Kollegin machte schaftler zeigten sich zunächst skeptisch gegen­ Takada auf Plastikgranulate aufmerksam, die sie am über seiner Arbeit. 16 Dennoch gelang es Moore Strand gefunden hatte. Da Kunststoffe und POPs mit dem Bild des Müllteppichs inmitten des Oze­ wasserabweisend sind, lag die Vermutung nahe, ans, den Medien auch als „Insel des Mülls“ oder dass sich Schadstoffe an Kunststoffen ansammeln. „achten Kontinent“ bezeichneten, 17 in der Öffent­ Und in der Tat enthielt das Granulat, das Takada lichkeit ein Problem zu umreißen, das bald von nun untersuchte, eine große Menge an POPs. 12 weiteren Wissenschaftlern aufgegriffen wurde. Inspiriert von den Ergebnissen gründete Ta­ kada das Netzwerk International Pellet Watch, 13 MIKROPLASTIK: dem aus aller Welt gefundenes Granulat zur Ana­ RISIKEN UND ÄNGSTE lyse geschickt werden konnte. Zunächst war Ta­ kada vor allem daran interessiert, die Verbrei­ Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass tung von Schadstoffen zu kartieren und damit es sich bei dem Plastikteppich nicht um eine An­ ein globales Monitoringsystem aufzubauen. Das sammlung größerer Objekte handelte, sondern eher Kunststoffgranulat an sich sah er dabei gar nicht um eine Konzentration unzähliger kleinerer Plas­ als Schadstoff an. Erst im Zuge der Auseinander­ tikteilchen in der gesamten Wassersäule, also von setzung mit einer kritisch fragenden Öffentlich­ der Oberfläche bis zum Grund. 2004 bezeichne­ keit entschied sich Takada, dass das Pellet-Watch- te ein Team um den britischen Meeresbiologen Ri­ Projekt auch Kunststoff als einen möglichen chard Thompson diese Partikel in einem Artikel für Schadstoff berücksichtigen sollte. 14 Dies fiel in „Science“ erstmals als „Mikroplastik“. 18 Angesichts die Zeit, in der sich das Verständnis des Materi­ der steigenden Plastikproduktion und der Langle­ als Kunststoff zu ändern begann: Anfangs als ein bigkeit des Materials hielten die Autorinnen und homogener, integrer Stoff angesehen, zeigte sich Autoren ein wachsendes Ausmaß der Verschmut­ allmählich, dass die Bestandteile von Kunststof­ zung für sicher. Zugleich wiesen sie auf Unklarhei­ fen nicht für immer in ihnen gebunden bleiben. ten in Bezug auf mögliche Umweltauswirkungen Neben der Polymerart sind Kunststoffe mit wei­ hin, etwa ob toxische Substanzen von Plastik in die teren Chemikalien wie Weichmachern, Flamm­ Nahrungsmittelkette gelangen können. schutzmitteln und Farbstoffen versetzt, die „mi­ Seither ist die Zahl der Studien zum Vorkom­ grieren“ können. 15 Das einst sehr positive Image men und zu den Auswirkungen von Mikroplastik der Kunststoffe begann sich nun zu wandeln. exponentiell gestiegen. 19 Mikroplastik wurde in Es bedurfte aber noch eines weiteren Ereignis­ immer mehr Ökosystemen entdeckt, seien es Tief­ ses, bis sich das Problemverständnis von Grund seesedimente oder Binnengewässer. 20 Die Frage auf änderte – der Entdeckung des Müllstrudels auf aber, ob Mikroplastik tatsächlich ein (öko)toxi­ dem Pazifik durch den Ozeanografen und Kapi­ kologisches Risiko für die Umwelt ist, kann auch tän Charles Moore. Auf dem Rückweg von einer 13 Jahre nach dem Erscheinen des Artikels von Regatta in Hawaii durchfuhr Moore 1997 zufäl­ lig die vorausgesagte Akkumulationszone und be­ 16 Vgl. De Wolff (Anm. 8), S. 56 f. obachtete viele schwimmende Plastikobjekte. Die­ 17 Vgl. Lindsey Hoshaw, Afloat in the Ocean, Expanding Islands ses Erlebnis markierte einen Wendepunkt für ihn of Trash, 9. 11. 2009, www.nytimes.com/​2009/​11/​10/science/​ 10patch.html; Bryan Walsh, The Truth About Plastic, 10. 7. 2008, www.time.com/time/magazine/article/​0,9171,1821​664,00.html. 11 POPs zeichnen sich durch Anreicherung im Gewebe (Bioak- 18 Vgl. Richard Thompson et al., Lost at Sea: Where is All the kumulation), Langlebigkeit (Persistenz) und Giftigkeit (Toxizität) aus. Plastic?, in: Science 5672/2004, S. 838. Sie sind seit 2001 verboten. 19 Vgl. Johanna Kramm/Carolin Völker, Understanding the Risks 12 Vgl. De Wolff (Anm. 8), S. 52. of Microplastics. A Social-Ecological Risk Perspective, in: Martin 13 Siehe www.pelletwatch.org. Wagner/Scott Lambert (Hrsg.), Freshwater Microplastics: Emerging 14 Vgl. De Wolff (Anm. 8), S. 55. Environmental Contaminants?, Cham 2018. 15 Vgl. Martin Wagner/Jörg Oehlmann, Endocrine Disruptors 20 Vgl. Lisbeth van Cauwenberghe et al., Microplastic Pollution in Bottled Mineral Water: Total Estrogenic Burden and Migra- in Deep-Sea Sediments, in: Environmental Pollution 182/2013, tion from Plastic Bottles, in: Environmental Science and Pollution S. 495–499; Thomas Mani et al., Profile Along the Rhine River, in: Research 16/2009, S. 278–286. Scientific Reports 5/2015.

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Thompson et al. nicht abschließend beantwortet grundeliegenden Studien umstritten sind und kei­ werden. Unabhängig davon wird Mikroplastik in nerlei Hinweise auf gesundheitliche Auswirkungen der breiten Öffentlichkeit als Gesundheitsrisiko bieten, 26 können überhöhte Risikowahrnehmun­ und umweltschädlich wahrgenommen. 21 gen befördern. Dass Mikroplastik unsere Lebens­ Dies wird auch bedingt durch wissenschaftli­ mittel bereits verunreinige, legen auch überspitz­ che Studien, in denen mögliche Risiken dikutiert te Bildmontagen von Umweltorganisationen nahe. werden. 22 In der öffentlichen Darstellung wird die Mediale Aufmerksamkeit erregten ebenfalls Ver­ Verschmutzung durch Plastikmüll dann oft mit po­ öffentlichungen einiger Wissenschaftlerinnen und tenziellen negativen Wirkungen gleichgesetzt, ohne Wissenschaftler in den USA, die den dortigen poli­ dabei Wirkschwellen (Konzentration, ab der eine tischen Kampf um das Verbot von Mikroplastik in Substanz eine Wirkung zeigt) und umweltrelevante Kosmetika begleiteten. Vor allem die anschauliche Expositionskonzentrationen (Konzentration, der Hochrechnung, dass die USA über Kläranlagen täg­ ein Organismus in der Umwelt ausgesetzt ist) zu lich Mikroplastik in solchen Mengen in die Umwelt berücksichtigen. Tatsächlich wurden negative Ef­ emittierten, dass damit mehr als 300 Tennisplätze fekte im Labor erst bei Konzentrationen nachge­ abgedeckt werden könnten, 27 sorgte für einen Auf­ wiesen, die um ein Vielfaches höher liegen, als Mi­ schrei. Ob die öffentliche Empörung ohne den bild­ kroplastik in der Umwelt vorkommt. 23 Die einzige starken Vergleich genauso groß gewesen wäre, ist Studie, die negative Effekte im umweltrelevanten fraglich: Denn ohne Hochrechnung liegen die Wer­ Bereich auf Fische nachweisen konnte und 2016 te bei 0,1 Partikeln pro Liter behandeltem Abwasser. ebenfalls in „Science“ erschien, wurde wegen Täu­ Für das dortige Verbot von Mikroplastik in Kosme­ schungsverdachts und wissenschaftlich unsauberer tika reichte schließlich die bloße Darstellung, dass Arbeitsweise inzwischen wieder zurückgezogen. 24 Plastikpartikelchen aus den Kosmetikprodukten in Dass Mikroplastik letztendlich auch vom Men­ die Umwelt gelangten. (Öko)toxikologische Nach­ schen aufgenommen werden kann, scheint auf den weise waren dafür nicht erforderlich – anders als es ersten Blick plausibel: Zooplankton nimmt Mik­ sonst für Chemikalien der Fall ist. roplastik auf, wird von Fischen gefressen, die wie­ All dies führt dazu, dass immer mehr Menschen derum von Menschen verzehrt werden. Wissen­ Mikroplastik als Gefahr betrachten und das Thema schaftlich betrachtet bietet diese Darstellung jedoch mit Ängsten besetzt ist – ungeachtet der Tatsache, auch Unsicherheiten. So scheiden Organismen Mi­ dass eine abschließende Risikobewertung durch die kroplastik auch wieder aus, und der Magen des Fi­ Wissenschaft noch aussteht. Für die wissenschaft­ sches, in dem sich das Mikroplastik befindet, wird liche Risikokommunikation ist diese Sachlage eine in den meisten Fällen nicht verzehrt (ausgenommen große Herausforderung: Auf der einen Seite soll die Muscheln und Krustentiere). 25 Grundsätzlich wird Bevölkerung nicht unbegründet über mögliche Ge­ durch die starke Fixierung auf Mikroplastik ausge­ sundheitsschäden in Besorgnis versetzt und sollte blendet, dass Organismen in der Umwelt auch vie­ Mikroplastik im Wasser nicht per se als toxisch an­ len natürlichen Partikeln oder anderen Substanzen gesehen werden. Auf der anderen Seite aber darf das ausgesetzt sind, die ähnliche Effekte haben können. Thema (Mikro-)Plastik in der Umwelt keinesfalls Hier spielt auch die mediale Vermittlung eine verharmlost werden. Vielmehr gilt es in den Blick Rolle. Nachrichtenmeldungen etwa, in denen über zu nehmen, dass der langfristig hohe Konsum von Mikroplastik in Bier und Trinkwasser berichtet Plastikprodukten zu einer immer größeren Akku­ wird, ohne ausreichend zu erörtern, dass die zu­ mulation in der Umwelt führt, was so oder so einen gravierenden Eingriff in die Ökosysteme bedeutet.

21 Vgl. Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), BfR Consumer Monitor 2/2016; Kramm/Völker (Anm. 19). 26 Vgl. etwa Heike Dittmers, Mikroplastik in Mineralwasser und 22 Vgl. Albert Koelmans et al., Risks of Plastic Debris: Unravelling Bier, 2. 6. 2014, www.ndr.de/mikroplastik134.html. Fact, Opinion, Perception, and Belief, in: Environmental Science 27 Rochman et al. gingen von acht Billionen Partikeln pro Tag and Technology 51/2017, S. 11 513–11 519. aus. Später wurde diese Zahl auf acht Milliarden korrigiert und 23 Vgl. ebd. der Tennisplatzvergleich durch eine siebenmalige Erdumrundung 24 Vgl. Martin Enserink, Paper About How Microplastics Harm ersetzt. Vgl. Chelsea Rochman et al., Scientific Evidence Supports Fish Should Be Retracted Report Says, 28. 4. 2017, www.science- a Ban on Microbeads, in: Environmental Science and Technology mag.org/news/​2017/​04/paper-about-how-microplastics-harm- 18/2015, S. 10 759 ff.; dies., Correction to Scientific Evidence fish-should-be-retracted-report-says. Supports a Ban on Microbeads, in: Environmental Science and 25 Vgl. Koelmans et al. (Anm. 22). Technology 24/2015, S. 14 740.

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Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF); Bildnachweis: Projektträger Jülich, Forschungszentrum Jülich GmbH (im Auftrag des BMBF); Datenquelle: Zahlen aus 2010 | Jambeck Research Group, University of Georgia; Spiegel Online, 12. 5. 2015, www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/interaktive-weltkarte-wo-der-plastikmuell-herkommt-a-1018215.html

ALLE AUGEN len. 29 Dies ist wenig überraschend, da Asien auch AUF ASIEN? den größten Anteil an der globalen Plastikpro­ duktion aufweist. Viele asiatische Schwellenländer Um das Plastikmüllproblem nachhaltig zu bearbei­ wie Vietnam und Thailand zeichnen sich durch ten, sollten neben der Risikobewertung die Ursa­ ein hohes Wirtschaftswachstum und das Heraus­ chen der Meeresverschmutzung genauer betrachtet bilden kon­sum­starker Bevölkerungsschichten aus. werden. Schätzungen zufolge stammen nur 20 Pro­ Damit geht eine höhere Nachfrage nach Plastik­ zent des Mülls in den Meeren aus der Fischerei und produkten einher. 30 Wachsende Produktion und der Seefahrt und 80 Prozent aus Quellen an Land. zunehmender Konsum stehen dabei oft einem Der Plastikmüll gelangt durch unsachgemäße Ent­ unzureichenden Abfall- und Abwassermanage­ sorgung, unzureichend gemanagte Deponien, feh­ ment gegenüber. 31 Der Diagnose durch die Stu­ lendes Abfall- oder Abwassermanagement, aber die folgte umgehend die Kritik: Durch den Fokus auch durch Tourismus sowie über Flüsse, Nieder­ auf Asien sei eine Verlagerung der Verantwortung schlagswasser und Wind in die Ozeane. 28 und eine Ablenkung von der Abfallsituation und Welche Länder sind für den Eintrag ins Meer der Ressourcennutzung in westlichen Ländern zu hauptsächlich verantwortlich? Einer Studie der befürchten, denn hier sei die produzierte Abfall­ Umweltwissenschaftlerin Jenna Jambeck et al. zu­ menge pro Kopf viel höher als in vielen asiatischen folge wurden allein 2010 rund 30 Millionen Ton­ nen Plastikmüll unsachgemäß entsorgt und davon 29 Vgl. Jenna Jambeck et al., Plastic Waste Inputs from Land into geschätzte fünf bis 13 Millionen Tonnen Plastik­ the Ocean, in: Science 6223/2015, S. 768–771. müll vom Land in die Weltmeere eingetragen, mit 30 Vgl. Stefan Giljum/Franz Stephan Lutter, Globaler Ressourcen­ konsum: Die Welt auf dem Weg in eine „Green Economy“?, in: Asien als Region mit den höchsten Eintragszah­ Geographische Rundschau 5/2015, S. 10–15. 31 Vgl. McKinsey/Ocean Conservancy, Stemming the : Land- 28 Vgl. UNEP (Anm. 1). based Strategies for a Plastic-free Ocean, o. O. 2015.

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Ländern. 32 Zwar sei es naheliegend, aus der Studie FAZIT den Schluss zu ziehen, die Verantwortung für den Plastikmüll im Meer vor allem in Asien zu suchen Um das Hyperobjekt „Plastiksuppe“ zu begreifen, und als Lösung den Aufbau der dortigen Abfallin­ helfen neben wissenschaftlichen Instrumenten wie frastruktur zu propagieren. Dies allein würde je­ Wasserbeprobungen mit Hilfe von Netzen auch doch die internationalen Zusammenhänge und Modelle, Hochrechnungen, Metaphern und ein­ globalen Warenströme außer Acht lassen. drucksvolle Bilder von vermüllten Stränden unbe­ Tatsächlich verschärfen westliche Staaten wohnter Archipele im Pazifik. Der Plastikstrudel das Problem zusätzlich, da sie große Mengen an im Südpazifik hält der Konsum- und Wegwerfge­ Plastik­abfall nach Asien exportieren, vor allem sellschaft den Spiegel vor. Die medial verbreite­ nach China. 33 Dort wird es meist in klein- und ten Bilder von in Plastik gefangenen Schildkröten mittelständischen Unternehmen recycelt, was oder Robben lösen eine direkte Betroffenheit aus wiederum eine Quelle für Einträge von Plastik­ und veranschaulichen die globalen ökologischen granulat ins Abwasser ist. 34 Zudem wird noch Konsequenzen unserer Konsumgewohnheiten. immer ein Großteil der Plastikverpackungen in Auch wenn wissenschaftlich noch nicht ab­ Europa und den USA produziert. Die meisten schließend geklärt ist, ob und wie schädlich Mi­ global agierenden Unternehmen, die darüber ent­ kroplastik in der Umwelt für Wasserorganismen scheiden, wie die Verpackungen ihrer Produkte und letztendlich für den Menschen ist, gibt es aus­ beschaffen sind, haben ihren Hauptsitz in Europa reichend Argumente, etwas gegen die zunehmen­ und den USA. 35 Und Kunststoffverpackungen, de Vermüllung der Umwelt und insbesondere der vor allem von Konsumgütern, machen den größ­ Ozeane zu tun – sei es aus ästhetischen, morali­ ten Teil des gesamten Plastikmülls aus. Im Sinne schen, ökonomischen oder anderen Gründen. ihrer Verantwortung für das Produkt- und Mate­ Dies sollte jedoch nicht dazu führen, dass Din­ rialdesign sollten diese global agierenden Unter­ ge in Vergessenheit geraten, die im Gegensatz zu nehmen eine führende Rolle bei der Suche nach Mikroplastik nachgewiesenermaßen negative Ef­ Lösungen übernehmen und technologische Inno­ fekte auf aquatische Organismen haben, wie zum vationen zur Trennung und Wiederverarbeitung Beispiel die Belastungen durch Schwermetalle, von Kunststoffen voran­treiben. organische Stoffe, Nitrat, Überfischung oder den Die hier skizzierten Ansatzpunkte könnten Klimawandel. Die Bekämpfung des Meeresmülls und sollten unter dem Begriff der „erweiterten kann auch als eine Chance begriffen werden, be­ Produktverantwortung“ diskutiert werden. Da­ stimmte gesellschaftliche Strukturen umzugestal­ rin kommt zum Ausdruck, dass auch jene Un­ ten. Dazu gehört das Abfallmanagement genauso ternehmen, die die Ware in Umlauf bringen, wie eine Bewusstseinsbildung der Produzenten eine Verantwortung für das Produkt und sei­ und Konsumenten für die Folgen ihrer Produkti­ ne Auswirkungen auf die Umwelt tragen. Als onsweisen und ihres Konsumverhaltens. positiv kann bewertet werden, dass eine solche Produktverantwortung zunehmend in interna­ tionalen Abkommen thematisiert wird und auch JOHANNA KRAMM im G20-Aktionsplan zur Meeresvermüllung von ist promovierte Humangeografin und Nachwuchs­ 2017 eine zentrale Stellung einnimmt. gruppenleiterin am ISOE-Institut für sozial-ökolo­ gische Forschung in Frankfurt am Main. Sie forscht zu Plastikmüll an der Schnittstelle von Wissenschaft 32 Ein Beispiel zum Vergleich: In Deutschland beträgt die produzier- und Politik. te Abfallmenge etwa 1,6 Kilogramm pro Person und Tag, davon sind [email protected] elf Prozent Plastikabfall. In Indonesien sind es rund 0,5 Kilogramm, davon ebenfalls elf Prozent Plastikabfall. Vgl. Statistisches Bundesamt, Pressestelle, Zahl der Woche, 1. 7. 2014; Jambeck et al. (Anm. 29), CAROLIN VÖLKER S. 769. ist promovierte Ökotoxikologin und Nachwuchs­ 33 China hat vor, die Einfuhr von Plastikabfall für Recyclingzwe- gruppenleiterin am ISOE-Institut für sozial-ökolo­ cke stark einzuschränken. gische Forschung in Frankfurt am Main. Ihr Arbeits- 34 Vgl. Costas Velis, Global Recycling Markets: Plastic Waste, Wien 2014. schwerpunkt ist die Bewertung der Umwelt­risiken 35 Vgl. World Economic Forum, The New Plastics Economy, Genf von Mikroplastik. 2016. [email protected]

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BLAUER REICHTUM IN GEFAHR Der Schutz der Tiefsee vor neuen Herausforderungen Ulrike Kronfeld-Goharani

Seit dem „Zeitalter der Entdeckungen“ im 15. und jener Tage war die „Valdivia“-Expedition von 1898 16. Jahrhundert haben es mutige Menschen immer bis 1899, auf der mehr als 4000 Arten aus antarkti­ wieder gewagt, in die Finsternis der Tiefsee zu stei­ schen Gewässern neu erfasst wurden. gen, um die Wunder und Schätze einer verborge­ Als das deutsche Forschungsschiff „Meteor“ nen Welt zu erkunden. Als einer der Ersten begann 1920 zu einer Expedition aufbrach, ahnte man James Cook auf seinen Reisen zwischen 1766 und noch nicht, welch bahnbrechende Entdeckun­ 1779 in den Pazifik und die Arktis mit einer syste­ gen damit verbunden sein würden. Die systema­ matischen Bestandsaufnahme der natürlichen Res­ tische Untersuchung des Meeresbodens mit Hil­ sourcen. 1818 holte der britische Forscher Sir John fe von Echolotverfahren führte zur Entdeckung Ross Wurm- und Quallenarten aus 2000 Metern des Mittelozeanischen Rückens, eines vulkanisch Wassertiefe herauf. Obwohl damit nachgewiesen aktiven Gebirgszuges, der auch Spreizrücken ge­ war, dass Leben in solchen Tiefen noch vorkommt, nannt wird, da an seiner Achse stetig neue ozeani­ postulierte 1843 der britische Naturforscher Ed­ sche Kruste gebildet wird. Dieses Phänomen, das ward Forbes aufgrund eigener Untersuchungen, auf weiteren Forschungsreisen auch im Indischen bei denen die Anzahl der Lebewesen mit der Tiefe und Pazifischen Ozean nachgewiesen wurde, abgenommen hatte, dass es unterhalb von 550 Me­ stützt die Theorie der Plattentektonik, wonach tern Tiefe kein Leben mehr gebe. Dies wurde 1850 die Erdoberfläche aus einer Reihe von Platten ge­ durch den Norweger Michael Sars widerlegt, der bildet wird, die sich in ständiger Bewegung befin­ vor den Lofoten in 800 Metern Tiefe eine reiche den. Werden die Platten gegeneinandergedrückt, Unterwasserwelt entdeckte. kann dies starke Erdbeben verursachen – wie un­ Eine Menge neuer Erkenntnisse lieferte eini­ längst in Mittelamerika, wo die sogenannte Ko­ ge Jahre darauf die „Challenger“-Expedition von kosplatte sich unter die Nordamerikanische Plat­ 1872 bis 1876, die erste große Unternehmung zur te schiebt und am 8. September 2017 ein starkes Erkundung der Tiefsee. Im Auftrag der Royal Soci­ Beben in Mexiko auslöste. Die Theorie der Plat­ ety in London und der Britischen Admiralität soll­ tentektonik erklärt, warum die heutigen Konti­ te die Forschungsreise mögliche Hindernisse und nente so aussehen, als hätten sie einst wie Teile ei­ Gefahren bei der Verlegung von Seekabeln untersu­ nes Puzzles zusammengehört. Die Ergebnisse des chen. Dazu wurde ein multidisziplinäres Forscher­ Deep Sea Drilling Projekts von 1968 bis 1983, das team aus Zoologen, Botanikern und Chemikern mit dem US-amerikanischen Bohrschiff „Glomar eingesetzt, die auf mehr als 70 000 zurückgelegten Challenger“ im Golf von Mexiko, im Südatlantik, Seemeilen eine große Menge an Daten sammelten. im Pazifischen und im Indischen Ozean, im Mit­ Erstmals in der Geschichte der Ozeanografie wur­ telmeer und im Roten Meer umgesetzt wurde, be­ den dabei Teile des Meeresbodens kartiert, zudem stätigten die Theorie der Kontinentaldrift und die bislang unbekannte unterseeische Gebirge und Le­ Erneuerung des Meeresbodens an den Mitteloze­ bewesen entdeckt. Wissenschaftliche Neugier er­ anischen Rücken. regten unter anderem kartoffelförmige Knollen, die vom Meeresboden gewonnen wurden und erst ERTAUCHTES später – dann unter der Bezeichnung Manganknol­ WISSEN len – an Bedeutung gewinnen sollten. Bis heute gilt die „Challenger“-Expedition als größtes naturwis­ Die Tiefsee mit ihren Geheimnissen weckte im­ senschaftliches Projekt in der Zeit vor dem Zweiten mer auch Sehnsüchte, in die unbekannten Tiefen Weltkrieg. Die bedeutendste deutsche Expedition hinabzutauchen. Erste Versuche unternahmen

23 APuZ 51–52/2017 die US-Amerikaner und Otis Bar­ wurde. Hintergrund waren die für die U-Boot- ton. Sie stiegen 1930 mit einer von Barton ent­ Technologie benötigten Tiefseekarten, Echolot- worfenen Stahlkugel 435 Meter in die Tiefe hin­ und Sonarverfahren. Die technologischen Ent­ ab, wo sie Garnelen und Quallen entdeckten. Bei wicklungen kamen auch der wissenschaftlichen weiteren Tauchgängen 1934 und 1948 gelang es Forschung zugute. ihnen, bis in Tiefen von 923 und 1370 Metern vor­ Unvergessen sind auch die Fernsehdoku­ zudringen. 1960 stellten der Schweizer Ozeano­ mentationen ab Ende der 1960er Jahre über graf Jacques Piccard und der US-amerikanische den französischen Meeresforscher Jacques-Yves Erfinder Don Walsh einen neuen Rekord auf, als ­Cousteau, der von seinem Schiff „Calypso“ aus sie mit dem Tauchboot „Trieste“ 10 911 Meter in in die Tiefe hinabtauchte, eine aufregende Un­ den Marianengraben im westlichen Pazifik hin­ terwasserwelt filmte und diese in unsere Wohn­ abtauchten und selbst in dieser Tiefe noch Fische zimmer brachte. Sein Wissen über die Meere und andere Lebewesen beobachteten. Damit wa­ veröffentlichte er in zahlreichen Büchern, unter ren Piccard und Walsh nahezu bis an den tiefsten anderem in Bestsellern wie „The Silent World“ Punkt vorgestoßen, der bei 11 034 Metern liegt. (1953), „The Living Sea“ (1963) oder „The Die durchschnittliche Tiefe der Tiefsee beträgt World Ocean“ (1985). hingegen „nur“ rund 3800 Meter; etwa fünf Pro­ Heute liefern modernste Fächerecholot- und zent sind tiefer als 6000 Meter. Seitensichtsonargeräte in Kombination mit Sa­ Bei einer Tauchfahrt mit dem US-amerika­ tellitenmessungen, Bohrungen für geophysika­ nischen Tauchboot „Alvin“ östlich der Galapa­ lische Untersuchungen, Strömungsmessgeräten, gos-Inseln im Pazifischen Ozean wurden 1977 chemischen Sensoren, Temperatur-, Druck- und auf dem Mittelozeanischen Rücken in 2000 Me­ Salzgehaltsmessgeräten regelmäßig umfangreiche tern Tiefe Hydrothermalfelder gefunden. Mehr Informationen über den Meeresboden und die als 400 Grad heißes Wasser, angereichert mit he­ darüberliegende Wassersäule. Verkabelte Mess­ rausgewaschenen Metallen aus dem umgeben­ stationen senden ihre Daten in Echtzeit rund den Gestein, schießt hier aus tiefen Spalten in um den Globus. Die Entwicklung von robusten der Erdkruste hervor. Mineralstoffe und Schwe­ Tauchbooten hat zudem die direkte Beobachtung felverbindungen, die den Rauch schwarz färben, der Lebensvielfalt in der Tiefsee und den Blick haben bis zu 40 Meter hohe Schlote aufgeschich­ auf leuchtende Fische und Quallen, meterlange tet. Die Umgebung dieser sogenannten Schwar­ Röhrenwürmer, tieftauchende Pottwale und Rie­ zen Raucher mutet zunächst lebensfeindlich an. senkalmare ermöglicht. Umso überraschender war die Entdeckung, dass die Hydrothermalfelder eine große Lebensviel­ SCHÄTZE falt beherbergen: Riesenmuscheln, Garnelen, DER TIEFSEE Seespinnen, Quallen und Seeanemonen leben hier in pechschwarzer Nacht und bei Tempera­ Trotz des immensen Erkenntnisgewinns in den turen um den Gefrierpunkt. Später stellte sich vergangenen Jahrzehnten ist die Tiefsee – der gar heraus, dass diese Tiefseeorganismen sich weitaus größte Lebensraum der Erde – noch im­ direkt oder indirekt von den Schwefelbakterien mer vergleichsweise wenig erforscht. 01 Aller­ ernähren: Chemo- statt Fotosynthese lautet die dings hat das, was bisher über die mineralischen Devise. Ressourcen bekannt ist, die Tiefsee – angesichts Seitdem haben 40 Jahre Meeresforschung in steigender Rohstoffpreise, eines schwieriger unterschiedlichen Disziplinen dazu beigetragen, werdenden Abbaus in schwer zugänglichen Re­ unser Wissen über die Tiefsee allmählich zu er­ gionen oder politisch instabilen Staaten und ein weitern. Wesentlich daran beteiligt waren inter­ höherer Wertstoffanteil der Tiefseebodenschät­ nationale Programme, etwa im Rahmen der In­ ze – verstärkt in den Fokus des internationalen ternational Decade of Ocean Exploration von Interesses gerückt. Buchveröffentlichungen und 1971 bis 1980 zur Erforschung der lebenden und nicht lebenden Ressourcen. Eine besondere Rol­ 01 Vgl. United Nations Environment Programme, Ecosystems and le spielte dabei die Physikalische Ozeanografie, Biodiversity in Deep Waters and High Seas, UNEP Regional Seas die in der Ära des Kalten Krieges im Kontext von Reports and Studies 178/2006, S. 10, https://wedocs.unep.org/ Fragen zur nationalen Sicherheit stark gefördert bitstream/handle/​20.500.11822/​11811/rsrs178.pdf.

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Medienberichte haben Hoffnungen auf den Res­ Als Massivsulfide und Sulfidschlämme wer­ sourcenreichtum in der Tiefe geweckt und die den erkaltete Schwefelverbindungen bezeichnet, Illusion entstehen lassen, entstandene Engpäs­ die in 500 bis 4000 Metern Tiefe in der Umgebung se auf dem Land damit ausgleichen zu können. von Schwarzen Rauchern auftreten und wegen Nicht nur spektakuläre Buchtitel wie „Gold­ ihres hohen Wertstoffgehalts an Kupfer, Gold, rausch in der Tiefsee“ oder „Schatzkammer Silber und Zink begehrt sind. Tiefsee“ stellen Vergleiche zur US-amerikani­ Gas- oder Methanhydrate bilden sich unter schen Pionierzeit im 19. Jahrhundert her, auch hohem Druck und bei niedriger Temperatur in die bekannte amerikanische Tiefseetaucherin 350 bis 5000 Metern Tiefe und sind in der Öl- und stellte einmal fest: „So little of the Gasindustrie seit Langem bekannt. Die eisähnli­ ocean has been seen, it is like the early days of che Substanz, die auch in Permafrostböden vor­ exploring the American West.“ 02 Jedoch, so der kommt, bildet Schichten von einigen 100 Metern britische Science-Fiction-Schriftsteller Arthur Mächtigkeit. Es wird angenommen, dass im Mee­ C. Clarke, seien moderne Tiefsee-Goldgräber resboden riesige Mengen Kohlenstoff in Form nicht mit denen des Wilden Westens vergleich­ von Methanhydraten lagern, in der Größenord­ bar. Vielmehr handele es sich heute um milli­ nung vergleichbar mit den weltweiten Kohlevor­ onenschwere Unternehmen, die Armeen von räten. Einige Staaten wie Japan, China, Indien, Angestellten beschäftigten, um die wirtschaftli­ Südkorea und Taiwan unternehmen große An­ che Nutzbarkeit der mineralischen Ressourcen strengungen, um die Hydratvorkommen in ihren – Manganknollen, Kobaltkrusten, Massivsulfi­ Hoheitsgebieten zu erkunden. de, Sulfidschlämme und Gashydrate – zu erkun­ Auch die lebenden Ressourcen der Tiefsee den. 03 Doch was genau sind die begehrten Schät­ sind von großem Interesse. Über 90 Prozent der ze, die die Tiefsee birgt? in den Ozeanen entdeckten Biomasse besteht aus Manganknollen sind kartoffelförmige Mi­ Mikroorganismen, Bakterien, Viren, Pilzen und neralienklumpen, die sich aus verschiedenen Mikroalgen, deren Erforschung für Anwendun­ Metallen – unter anderem Mangan, Eisen, Ko­ gen in der Medizin, Pharmazie, Kosmetik, im balt und Kupfer – zusammensetzen und un­ Pflanzenschutz und als Nahrungsergänzungs­ terhalb von 4000 Metern auf dem Meeresbo­ mittel immer gefragter sind. So hat beispiels­ den verstreut zu finden sind. 1978 initiierte das weise das renommierte US-amerikanische Mee­ amerikanisch-kanadisch-japanische Konsortium resforschungszentrum Scripps in San Diego ein SEDCO erste Fördertests und zeigte, dass Tief­ Patent auf einen Wirkstoff aus Fächerkorallen seebergbau technisch grundsätzlich möglich ist. gegen Hautreizungen angemeldet, den der Kos­ Innerhalb weniger Tage wurden 800 Mangan­ metikkonzern Estée Lauder in einer Hautcreme knollen gefördert – was jedoch zu wenig ist, um verarbeitet. wirtschaftlich zu sein. Dazu müssten im glei­ chen Zeitraum rund 5000 Knollen gefördert RISIKEN FÜR werden. DIE UMWELT Bei den Kobaltkrusten handelt es sich um Ablagerungen von Mangan, Eisen, Kobalt, Kup­ Aus den Erfahrungen an Land ist bekannt, dass fer, Nickel, Platin und Spurenmetallen auf vulka­ Bergbau nicht ohne Beeinträchtigung der Umwelt nischen Substraten, die in 1000 bis 3000 Metern möglich ist. Neben Lärm, Abraum und zerstörter Tiefe an den Flanken submariner Vulkane auftre­ Landschaft treten in der Tiefsee weitere Faktoren ten und wegen ihres relativ hohen Kobaltgehal­ hinzu: Als kritisch wird die mögliche Trübung des tes interessant sind. Allerdings wäre ein Abbau Seewassers angesehen, die durch den Einsatz von an den schroffen und steilen Vulkanhängen tech­ Bergbaumaschinen am Meeresboden entstehen nisch schwieriger als das Einsammeln von Man­ könnte, wenn Bodensedimente aufgewirbelt, zer­ ganknollen am Meeresboden. wühlt und umgelagert werden. Der Teil, der in die Wassersäule gelangt, könnte durch Meeresströmun­ gen im Bodenbereich verdriften. Noch ist unklar, 02 Zit. nach Gary Kroll, America’s Ocean Wilderness: A Cultural History of Twentieth-Century Exploration, Lawrence 2008, S. 1. welche Auswirkungen die Trübung des Meerwas­ 03 Vgl. Arthur C. Clarke, The Challenge of the Sea, New York sers auf Tiefseelebewesen hat – etwa die Einschrän­ 1960, S. 121. kung der Biolumineszenz, also die Fähigkeit von

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Meerestieren, Licht zu erzeugen, von der angenom­ INTERNATIONALES men wird, dass sie zur Kommunikation eingesetzt SEERECHT wird. Erste Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Tiefseeorganismen weniger anpassungs­ 1945 erklärte der US-Präsident Harry Truman, fähig sind und daher längere Zeiträume benötigen, dass die USA alle natürlichen Ressourcen ihres um sich von schädlichen Umweltauswirkungen zu Kontinentalschelfs beanspruchen. Damit mach­ erholen. Auch andere Prozesse in der Tiefsee lau­ te er die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam, fen aufgrund kleiner Sedimentationsraten und sehr dass auf dem Meeresboden mehr als nur Fisch zu geringer Strömungsgeschwindigkeiten nur lang­ holen ist. Rasch folgten zahlreiche weitere Küs­ sam ab, sodass Spuren am Meeresboden viele Jah­ tenstaaten und formulierten eigene Gebiets- und re erkennbar bleiben. So zeigten Untersuchungen Nutzungsansprüche – mit jeweils unterschied­ eines simulierten Manganknollenabbaus 1989 vor lichen Auffassungen davon, wie groß das eige­ der peruanischen Küste, dass die am Meeresboden ne Anspruchsgebiet sei. So beanspruchten 1973 verursachten Spuren auch 2015 noch so deutlich zu schließlich über 60 Staaten eine Zone von jeweils erkennen waren, als wären sie gerade erst erzeugt zwölf Seemeilen um die eigene Küste, 15 Staaten worden. Zwar hatte im Untersuchungsgebiet eine eine Zone zwischen vier und zehn Seemeilen, und Wiederbesiedelung stattgefunden, aber bestimmte einige wenige Staaten wie Island erhoben gar An­ Arten fehlten. Offenbar hatte sich die ursprüngli­ spruch auf eine 200-Seemeilen-Zone. 05 che Lebensgemeinschaft auch nach 26 Jahren nicht Die Übersichtlichkeit des zuvor mehrere regenerieren können. 04 Jahrhunderte gültigen Prinzips des freien Meeres In der Umgebung von Schwarzen Rauchern (mare liberum) war damit endgültig dahin. 1609 ist eine große Vielfalt von Leben entdeckt wor­ hatte der niederländische Gelehrte Hugo Gro­ den. Zum Teil handelt es sich um Arten, die nur tius (1583–1645) die freie Nutzung der Meere in bestimmten Meeresgebieten vorkommen. Der durch alle Länder vorgeschlagen. Dieses Prinzip Abbau von Kobaltkrusten oder Sulfidschlämmen, wurde nur durch die Einführung der Drei-Mei­ der nur mit schwerem Gerät möglich ist, würde len-Zone eingeschränkt, die auf den niederländi­ diese einzigartige Lebenswelt langfristig schädi­ schen Rechtsgelehrten Cornelis van Bynkershoek gen. Umweltschützer befürchten, dass unter Um­ (1673–1743) zurückging. Demnach sollte eine ständen einzelne Arten verschwinden könnten, Nation Hoheitsrechte über den Teil des Küsten­ bevor sie überhaupt kennengelernt werden. Zwar meeres beanspruchen können, den sie mit der gibt es derzeit noch keine ausgereifte Technologie, Reichweite von Kanonenkugeln – damals etwa um Kobaltkrusten von den Seebergen zu brechen, drei Seemeilen – verteidigen konnte. Obwohl nir­ aber Japan, China und Russland haben bereits gendwo schriftlich festgelegt, wurde diese Rege­ 2013 Anträge an die Internationale Meeresboden­ lung lange Zeit als Gewohnheitsrecht anerkannt. behörde ISA gestellt, um diese zu erkunden. Als unzulänglich erwies sie sich spätestens, Auch der mögliche Abbau von Gashydraten als in den 1950er Jahren einige Fischgründe er­ ist mit erheblichen Risiken für die Umwelt ver­ schöpft waren und einzelne, vom Fischfang stark bunden. Zunächst müsste gewährleistet sein, dass abhängige Staaten ihre Hoheitsrechte auf größe­ die Förderung bei konstanten Druck- und Tem­ re Seegebiete ausdehnten. Dies löste eine Reihe peraturverhältnissen erfolgt, um zu verhindern, von Konflikten aus, zum Beispiel die sogenann­ dass die Gashydrate aufbrechen und Methan­ ten Kabeljaukriege zwischen Großbritannien gas – ein 15- bis 30-fach klimawirksameres Gas und Island, die erst in den 1970er Jahren befriedet als Kohlendioxid – in die Atmosphäre entweicht. werden konnten. Aber auch die fortschreitende Eine plötzliche Methangasfreisetzung könnte zu­ Technologisierung, die Konkurrenz um marine dem zur Destabilisierung von Kontinentalhängen Ressourcen und Räume, Umweltaspekte sowie führen und die Gefahr von Erdrutschen und Tsu­ Spannungen zwischen den beiden Supermächten namis erhöhen. zur Zeit des Kalten Krieges führten zu zahlrei­ chen seerechtlichen Auseinandersetzungen.

04 Vgl. Gerd Schriever, Tiefseebergbau: Risiken und Gefahren für die Umwelt?, 17. 2. 2017, www.wissenschaftsjahr.de/2016-17/ aktuelles/das-sagen-die-experten/tiefseebergbau-risiken-und- 05 Vgl. John Hannigan, The Geopolitics of Deep Oceans, Cam- gefahren-fuer-die-umwelt.html. bridge 2016, S. 51.

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Im Rahmen der Vereinten Nationen wur­ cen außerhalb der staatlichen Hoheitsgebiete und de bereits ab 1945 eine verbindliche internati­ Ausschließlichen Wirtschaftszonen regelt. Mit onale Regelung gesucht. 1958 und 1960 fanden seinem Inkrafttreten wurde die internationale die ersten beiden Seerechtskonferenzen in Genf Meeresbodenbehörde ISA mit Sitz in Kingston statt, die allerdings nicht den gewünschten Er­ auf Jamaika eingerichtet. Aufgabe der Behörde ist folg brachten. Auf der UN-Generalversammlung es, die Bodenschätze zu verwalten, den Tiefsee­ am 1. November 1967 erregte vor allem die Rede bergbau zu regulieren und den Schutz der Um­ des maltesischen Botschafters Arvid Pardo Auf­ welt für das gemeinsame Erbe der Menschheit zu sehen: Er vertrat die Meinung, die Ressourcen gewährleisten. des Meeres müssten zum „gemeinsamen Erbe der Obwohl die ISA keine Gerichtsbarkeit über Menschheit“ erklärt werden und nur für friedli­ die Erkundung des kommerziellen Potenzials che Zwecke genutzt werden dürfen. Ferner sollte biologischer Ressourcen (Bioprospektion) oder ein Teil des Gewinns aus der Nutzung der Tief­ die Entdeckung von biologischen Ressourcen hat seeressourcen in einen Fonds eingezahlt wer­ – diese Begriffe tauchen im SRÜ gar nicht auf –, den, um arme Länder oder solche ohne Zugang verfügt sie über das alleinige Recht, Schürflizen­ zum Meer an den Schätzen der Tiefsee zu beteili­ zen in internationalen Gewässern zu vergeben. So gen. 06 Es folgten mehr als ein Jahrzehnt dauernde kann ein Staat oder eine Firma ein 150 000 Qua­ Verhandlungen, bis 1982 das Internationale See­ drat­kilo­meter großes Gebiet am Meeresboden rechtsübereinkommen (SRÜ) verabschiedet wur­ auswählen und unter Vorlage eines Arbeitsplans de. Dem SRÜ, das 1994 in Kraft trat, sind über das Erkundungsrecht für 15 Jahre bei der ISA 160 Staaten und die Europäische Union beigetre­ beantragen. Anträge können abgelehnt werden, ten – nicht jedoch die USA, nachdem US-Präsi­ wenn schwere Schäden für die Umwelt befürch­ dent Ronald Reagan 1983 erklärt hatte, dass ein­ tet werden oder Zonen für andere Nutzungen zelne Regelungen zum Tiefseebergbau gegen die vergeben sind. Mit der Vergabe der Lizenzen ist Interessen der Industriestaaten verstießen. die Regelung verbunden, dass die Lizenznehmer Das SRÜ regelt nahezu alle Bereiche des See­ die Hälfte des gesamten Gebietes, das sie auf ei­ völkerrechts, unter anderem die Abgrenzung der gene Kosten erkunden, spätestens nach acht Jah­ verschiedenen Meereszonen in Küstenmeer (bis ren wieder an die ISA zurückgeben müssen – als zu zwölf Seemeilen), Anschlusszone (bis zu 24 Ausgleichsleistung für benachteiligte Staaten im Seemeilen), Ausschließliche Wirtschaftszone (bis Sinne des gemeinsamen Erbes der Menschheit. zu 200 Seemeilen), Festlandsockel und Hohe See. Seit 2006 ist auch Deutschland Besitzer eines so­ Ferner regelt es die Nutzung dieser Gebiete durch genannten Claims, der etwa zweimal so groß wie Schifffahrt, Fischerei, Wissenschaft, Seekabelverle­ Bayern ist. Es geht um die Exploration polyme­ gung, den Schutz der Meeresumwelt und den Tief­ tallischer Knollen in der Clarion-Clipperton- seebergbau. Allerdings weist das Abkommen auch Zone, einem Gebiet im Zentralpazifik zwischen eine Reihe von Schwächen auf, da es Regelungen Hawaii und Mexiko, wo mehrere Staaten – vor­ nur für die mineralischen Ressourcen des Meeres­ wiegend große Industrieländer – Erkundungs­ bodens und darunterliegender Schichten festlegt, lizenzen erworben haben. entgegengesetzt zu Pardos Forderung, lebende und Um die Wirtschaftlichkeit einer zukünftigen nicht lebende Ressourcen einzubeziehen. Ferner Ernte der Manganknollen zu prüfen, werden ver­ fehlen Angaben zu einer militärischen Nutzung schiedene Explorationsmethoden eingesetzt, un­ der Hohen See, und auch in Bezug auf Maßnah­ ter anderem Fächerecholotverfahren vom Schiff, men zum Meeresschutz, etwa der Einrichtung von tiefgeschleppte Systeme mit Side-Scan-Sonarver­ Meeresschutzgebieten, weist das SRÜ Defizite auf. fahren, Videoschlitten und Kastengreifer zur Pro­ benentnahme. Wegen der Größe des Claims kön­ LIZENZIERUNG nen nur Teilgebiete exploriert werden, der Rest muss mit Hilfe statistischer Verfahren ermittelt Trotz aller Kritik am Seerechtsübereinkommen werden, beispielsweise um die Knollendichte am ist es derzeit die einzige internationale Verein­ Meeresboden zu bestimmen. Im Fokus der deut­ barung, die die Nutzung mineralischer Ressour­ schen Untersuchungen steht auch eine Bestands­ aufnahme der Bodenlebewesen. Die Entnahme 06 Vgl. ebd., S. 55. von Tieren sowie Genanalysen und Beobachtun­

27 APuZ 51–52/2017 gen sollen klären helfen, wie viele Arten vorkom­ ausgleich mariner genetischer Ressourcen, des men und wie groß ihr Verbreitungsgebiet ist. Naturschutzes, Umweltverträglichkeitsprüfun­ Während die ISA derzeit eine unkontrollier­ gen und vor allem die Einrichtung von Schutzge­ te Ausbeutung des Meeresbodens auf der Hohen bieten auf der Hohen See regeln soll. See verhindert, befindet sich der kommerzielle Grundlage dafür ist die Konvention zur Bio­ Bergbau in den Ausschließlichen Wirtschaftszo­ logischen Vielfalt von 1992, deren Zweck die Er­ nen von Staaten wie Namibia, Neuseeland und haltung der Vielfalt der Ökosysteme, ihrer Arten Mexiko bereits in den Startlöchern. Am weitesten und der genetischen Diversität innerhalb einzel­ fortgeschritten sind die Vorbereitungen des ka­ ner Arten ist und die eine gerechte Aufteilung der nadischen Unternehmens Nautilus Minerals. Für Vorteile gewährleisten soll, die sich aus der Nut­ ein in der Bismarcksee gelegenes Gebiet inner­ zung genetischer Ressourcen ergeben. Es mag da­ halb der Hoheitsgewässer von Papua-Neuguinea durch der Eindruck entstehen, die Biodiversitäts­ – als Solwara 1 bezeichnet – besitzt das Unter­ konvention sei das geeignete Instrument, marine nehmen seit 2009 eine Umweltgenehmigung und Schutzgebiete auszuweisen. Dies trifft auch für seit 2011 eine Bergbaulizenz. Solwara 1 ist reich die Bereiche nationaler Gerichtsbarkeit zu, nicht an Schwarzen Rauchern mit Metallsulfidvorkom­ aber für die Hohe See und den Meeresboden jen­ men. Hier sollen riesige Fräsen bereits erlosche­ seits des Festlandsockels. Die geltenden Freihei­ ne Schlote abbauen. Anschließend soll das zer­ ten der Hohen See wie das Flaggenstaatsprinzip, kleinerte Material zu einem Spezialschiff an die demzufolge Schiffe ausschließlich der Hoheits­ Meeresoberfläche gepumpt werden. Mit dem Be­ gewalt der Staaten unterliegen, unter deren Flag­ ginn der kommerziellen Produktion wird ab 2019 ge sie fahren, und die Regelungskompetenz der gerechnet. 07 Doch dies ist nicht das einzige Vor­ Meeresbodenbehörde werden durch die Konven­ haben von Nautilus. So plant das Unternehmen tion nicht außer Kraft gesetzt. nach eigenen Angaben den Erwerb weiterer Li­ Bisher ist es nur im Rahmen des Übereinkom­ zenzverträge, unter anderem in den Hoheitsge­ mens zum Schutz der Meeresumwelt des Nord­ wässern von Fidschi, Tonga, den Solomon-Inseln, ostatlantiks von 1992 (OSPAR) gelungen, 2010 Vanuatu und Neuseeland. sechs Schutzgebiete im Nordostatlantik außerhalb der nationalen Hoheitsgebiete der Vertragsstaa­ SCHUTZMAẞNAHMEN ten auszuweisen. Dadurch wird ein Gebiet, das flächenmäßig größer als Deutschland ist und sich Bis Anfang der 1970er Jahre galt die weit ver­ durch eine große Vielfalt an Wildtieren, Kaltwas­ breitete Annahme, der Ozean sei aufgrund sei­ serkorallen, Seebergen und hydrothermalen Quel­ ner Größe und seines Ressourcenreichtums len auszeichnet, unter Schutz gestellt. Trotz dieses weder durch Übernutzung noch durch Meeres­ Erfolgs bleibt es jedoch ungewiss, ob und wann verschmutzung gefährdet. Heute wird jedoch ge­ ein neues Durchführungsübereinkommen zum schätzt, dass bereits 60 Prozent der Weltmeere SRÜ zustande kommt. Dazu müsste es gelingen, genau dadurch geschädigt sind. 08 Es bedarf also eine Einigung unter allen bedeutenden Akteuren, dringend eines besseren Schutzes. Das internatio­ die auf der Hohen See tätig sind, zu erzielen. nale Seerecht regelt zwar die Bewirtschaftung des Das ist schwierig, aber nicht unmöglich, wie Meeresbodens und seines Untergrundes jenseits aktuelle Verhandlungen bei den Vereinten Na­ der Hoheitsgewässer, nicht aber die Nutzung der tionen zeigen, die das Ziel haben, Schutzgebiete lebenden Ressourcen. Um diese Regelungslücke auch auf der Hohen See einzurichten. zu schließen, wird an einem Durchführungsüber­ einkommen zum SRÜ gearbeitet, das Fragen zur nachhaltigen Nutzung, zu Zugang und Vorteils­ ULRIKE KRONFELD-GOHARANI ist promovierte Ozeanografin und wissenschaftliche 07 Vgl. Nautilus Minerals Inc., Pressemitteilung, 12. 10. 2017, www. Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften nautilusminerals.com/irm/PDF/1930_0/Nautilusprovidesproject­ der Universität Kiel. Sie ist Mitglied der Exzellenz­ update. initiative „Ozean der Zukunft“ und arbeitet in einem 08 Vgl. Intergovernmental Oceanographic Commission of UNESCO et al., A Blueprint for Ocean and Coastal Sustainability, Forschungsprojekt zu Fragen der Nachhaltigkeit Paris 2011, S. 8, www.unesco.org/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/SC/ auf der Hohen See. pdf/interagency_blue_paper_ocean_rioPlus20.pdf. [email protected]

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ARKTIS UND SÜDCHINESISCHES MEER: RESSOURCEN, SEEWEGE UND ORDNUNGSKONFLIKTE Michael Paul

Anders als im schwer zugänglichen Nordpolar­ in der Arktis sind jedoch ähnlich brisant wie die meer fand im Südchinesischen Meer schon in der expansiven Ambitionen der Volksrepublik Chi­ Antike ein reger Handelsverkehr statt. In Ostasi­ na im Südchinesischen Meer. Im Kern handelt es en hat es ähnliche Bedeutung wie das Mittelmeer sich um latente, „eingefrorene“ Konflikte. Aber für Europa. Daher überrascht es nicht, dass die auf­ wie in Ostasien der Inselkonflikt krisenhafte Ele­ strebende Großmacht China das sino-amerikani­ mente entwickelt, weil die von den USA geprägte sche Verhältnis schon vor der Amtseinführung des Weltordnung an Bindungs- und Durchsetzungs­ gerade gewählten US-Präsidenten Donald Trump kraft verliert, so wecken schmelzende Polkappen im Dezember 2016 einer ersten Belastungsprobe in gleichermaßen Begehrlichkeiten und Besorgnis­ diesem pazifischen Randmeer unterzog. 01 Der desi­ se. Die Konfliktpotenziale sind vielfältig, denn gnierte US-Außenminister Rex Tillerson versprach so wie das Südchinesische Meer verfügt auch daraufhin „klare Signale“, was chinesische Macht­ die Arktis über reiche Ressourcen, beide bieten ansprüche betreffe; der Bau künstlicher Inseln im wichtige Seewege für weltweite Handelsverkeh­ Südchinesischen Meer müsse gestoppt werden. 02 re und sind mit Ordnungskonflikten verbunden, Der Ausbau chinesischer Außenposten war die eng mit der Großmachtrivalität zwischen den in der Tat beispiellos. Anrainerstaaten wie Viet­ USA, China und Russland verknüpft sind. nam haben in der Vergangenheit zahlreiche Stütz­ Worin sind also maßgebliche Ursachen für punkte im Südchinesischen Meer errichtet und diese potenziellen Konflikte begründet, wie ist erweitert, allerdings geschah dies über viele Jah­ die gegenwärtige Lage einzuschätzen, und welche re hinweg und in vergleichsweise geringem Um­ Perspektiven sind damit verbunden? fang. Im chinesischen Fall wurden in wenigen Monaten mehr als zehn Millionen Kubikmeter USA, CHINA, RUSSLAND: Zement auf Riffen im Gebiet der Spratly-Inseln GEMEINSAME UND verbaut. Die chinesische Führung ließ Sand und KONKURRIERENDE INTERESSEN Gestein vom Meeresboden saugen und auf Ko­ rallenriffs oder hinter künstlich errichteten Stütz­ Das wachsende Interesse am Nordpolarmeer und mauern aufschütten. Bis März 2015 wurde eine am Südchinesischen Meer findet zu einer Zeit Gesamtfläche von über zwölf Quadratkilome­ statt, in der Großmächte wieder intensiver um tern geschaffen, die der Kommandeur der US-Pa­ Macht und Einfluss konkurrieren. Während die zifikflotte als „Große Sandmauer“ bezeichnete. 03 USA bemüht sind, die Position als größte Wirt­ Darin spiegelt sich ein gewisses Verständnis für schafts- und Militärmacht aufrechtzuerhalten, die maritime Sicherheitslage Chinas wider, aber haben China und Russland in den vergangenen auch die Besorgnis nach der russischen Krim- Jahren militärisch aufgerüstet, um territoriale An­ Annexion, dass Peking in Zukunft eine ähnlich sprüche in der Peripherie ihrer Länder im Kon­ aggres­sive Politik betreiben könnte. fliktfall verteidigen zu können und über die eigene In der Arktis dagegen herrscht bislang eine Region hinaus Machtprojektion entfalten zu kön­ friedliche Zusammenarbeit der Anrainerstaa­ nen. Die Ausbeutung der russischen Arktisregi­ ten, und im Vergleich zum Westpazifik wächst on ist für Moskau zudem wichtig, um die natio­ die Bedeutung arktischer Ressourcen und See­ nale Wirtschaft zu stärken. Allerdings erschweren wege erst langsam. Russlands Gebietsansprüche langfristige Trends auf den Energiemärkten sowie

29 APuZ 51–52/2017 der Ukraine-Konflikt (inklusive der Sanktionen 21,2 Millionen Quadratkilometern; als Klima- infolge der Krim-Annexion) die dafür notwendi­ und Landschaftszone beträgt ihre Größe 26 Mil­ ge finanzielle und technologische Unterstützung lionen Quadratkilometer, davon acht Millionen westlicher Firmen. Asien bietet sich als alternati­ Land und 18 Millionen Meer. Das Nordpolar­ ve Quelle potenzieller Investoren und als Absatz­ meer wird von fünf Polarstaaten eingerahmt: markt an. Dadurch wird eine sino-russische Zu­ Kanada, Dänemark (Grönland), USA (Alaska), sammenarbeit zunehmend attraktiv. 04 Russische Föderation (Sibirien) und Norwegen Während in der Arktis militärische Fähig­ (Spitzbergen). keiten eine untergeordnete Rolle spielen, ist im Der Klimawandel ist in der Arktis deutlich Südchinesischen Meer eine Militarisierung des bemerkbar und macht diesen Raum auch zum Territorialkonflikts eingetreten. Dies spiegelt Indikator für den geopolitischen Wandel. 06 Das sich in der Ausstattung der chinesischen Außen­ schmelzende Polareis ermöglicht dort mehr Ak­ posten ebenso wider wie in den „Freedom of tivitäten, und das Meer ist zunehmend schiffbar. Navigation“-Einsätzen der US-Marine innerhalb Die Nordwestpassage vor Kanada vom Pazifik der Zwölf-Meilen-Zone der neu geschaffenen bis zum Atlantik und die Nordostpassage vor der chinesischen Stützpunkte. Das zivil-militärische Küste Sibiriens waren im August 2008 erstmals Spektrum dieser Einsätze reicht von der diploma­ gleichzeitig eisfrei. Allerdings bieten diese Passa­ tischen Note zur Klarstellung oder Rücknahme gen nicht generell kürzere und günstigere Wege: geltend gemachter Ansprüche bis hin zum Ein­ So ist zwar der Seeweg von London nach Yoko­ satz von Küstenwache und Marine. Damit reagie­ hama durch die Nordostpassage rund 7500 Kilo­ ren die USA auf „exzessive“ maritime Ansprüche meter kürzer als durch den Suezkanal, aber der Chinas. Allerdings fordern sie mit dem Einsatz Seeweg von Rotterdam nach Singapur ist durch ihrer Marine die Einhaltung von Bestimmungen die Nordwestpassage etwa 4000 Kilometer länger des Seerechtsübereinkommens (SRÜ) ein, 05 ohne als durch den Suezkanal. 07 Eine konkurrenzfähi­ dieses bislang selbst ratifiziert zu haben. ge Alternative zu den Südrouten sind arktische Eröffnen sich mit dem schmelzenden Polareis Seewege also nicht unbedingt. in Zukunft nicht nur neue Zugänge zu wertvollen Aufgrund der zurückgehenden Eisbedeckung Ressourcen und Seewegen, sondern ähnlich wie in des Nordpolarmeers werden Lagerstätten an Öl, Südostasien auch neue Konfliktrisiken? Wie kön­ Gas und Mineralien mittelfristig nutzbar. Da­ nen einvernehmliche Regelungen für gegensätzli­ durch erhalten Territorialfragen größere Bedeu­ che Interessen der Anrainerstaaten gefunden und tung. Große Teile des arktischen Meeresbodens Vertragsregime errichtet oder gestärkt werden? und des Meeresuntergrunds liegen jenseits nati­ onaler Hoheitsbefugnisse und haben gemäß der Arktis Seerechtskonvention als „gemeinsames Erbe der Die Arktis ist geografisch durch den nördlichen Menschheit“ einen besonderen Status. Die Fest­ Polarkreis begrenzt und umfasst ein Gebiet von landsockelgrenzkommission (FSGK) ist das zen­ trale Gremium für die Bestimmung der Gren­ zen der Anrainerstaaten, innerhalb derer sie die 01 China hatte am 15. Dezember 2016 nahe dem Scarborough- natürlichen Ressourcen des Meeresbodens und Riff eine Unterwasserdrohne der USNS Bowditch beschlagnahmt, die der Erfassung ozeanografischer Daten dient. des Meeresuntergrunds exklusiv erforschen und 02 Vgl. Michael Forsythe, Rex Tillerson’s South China Sea nutzen können. Die seit 1997 existierende Kom­ Remarks Foreshadow Possible Foreign Policy Crisis, in: New York mission gibt Empfehlungen ab, aufgrund derer Times, 12. 1. 2017. ein Küstenstaat seinen Festlandsockel über die 03 Vgl. Michael Paul, Eine „Große Sandmauer“ im Südchinesi- im SRÜ als Regelfall vorgesehene Maximalgren­ schen Meer? Politische, seerechtliche und militärische Aspekte des Inselstreits, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie 9/2016. ze von 200 Seemeilen ausdehnen kann. Das In­ 04 Vgl. Camilla T. N. Sørensen/Ekaterina Klimenko, Emerging Chinese-Russian Cooperation in the Arctic, Stockholm International Peace Research Institute, SIPRI Policy Paper 46/2017. 06 Vgl. Rob Huebert et al., & International 05 Eingefordert werden insbesondere das Recht der friedlichen Security: The Arctic as a Bellwether, Center for Climate and Energy Durchfahrt (Artikel 17), das Recht der Transitdurchfahrt (Arti- Solutions, Arlington Mai 2012. kel 38), die Freiheiten der Schifffahrt und des Überflugs in einer 07 Vgl. Willy Østreng et al., Shipping in Arctic Waters. A Com- Ausschließlichen Wirtschaftszone (Artikel 58) sowie die „Freiheit parison of the Northeast, Northwest and Trans Polar Passages, der Hohen See“ (Artikel 87). Berlin–Heidelberg 2013, S. 50, S. 52.

30 Meere & Ozeane APuZ teresse der Arktisstaaten liegt naturgemäß darin, die acht Arktisstaaten im Mai 2012 die Zustän­ die Kontrolle über ihre Territorien zu festigen digkeit bei der Seenotrettung (Arctic Search and und den Festlandsockel zu erweitern. Statt zu Rescue Agreement), ohne damit einer Regelung konkurrieren, arbeiten sie aber auf Grundlage der konfligierenden territorialen Ansprüche vor­ des internationalen Rechts zusammen, um ihre greifen zu wollen, wie im Vertrag explizit erklärt Ansprüche durchzusetzen. Daher gibt es derzeit wird. Damit gibt es zwar Anzeichen wachsender zwar Anlässe, aber keinen besonderen Grund militärischer Aktivitäten in der Arktis, sie die­ zur Sorge, dass ein Territorialkonflikt eskalieren nen aber meist als Ausgleich für mangelnde zivi­ könnte. le Fähigkeiten und belegen keinen „neuen Kalten Ein zwiespältiges Beispiel bietet Russland, das Krieg“. 09 Die Arktisstaaten bleiben vielmehr um nach dem Beitritt zur Seerechtskonvention 2001 friedlichen Interessensausgleich bemüht. bei der FSGK die Anerkennung eines Festland­ sockels beantragt hat, der sich weit über 200 See­ Südchinesisches Meer meilen hinaus erstreckt. Im August 2007 folgte Das Südchinesische Meer ist mit 3,5 Millionen eine spektakuläre Polarmission, die zur Samm­ Quadratkilometern etwas größer als das Mit­ lung von Beweisen führen sollte, dass der Sibiri­ telmeer und das Schwarze Meer zusammen. en vorgelagerte Lomonossow-Rücken (ein auch Als pazifisches Randmeer wurde es in ähnli­ von Dänemark und Kanada partiell beanspruch­ cher Weise zum gemeinsamen Dreh- und An­ tes Unterseegebirge) die natürliche Fortsetzung gelpunkt einer Region, die sich durch große po­ des russischen Festlandes sei. Dabei wurde in über litische, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse 4000 Metern Tiefe von einem U-Boot aus eine Vielfalt auszeichnet. Im 21. Jahrhundert bildet russische Flagge auf den nordpolnahen Meeresbo­ es den Hauptverkehrsweg für die prosperie­ den gesetzt. Die Krim-Annexion sieben Jahre spä­ renden ostasiatischen Ökonomien. Wer dieses ter hat die Ansprüche Moskaus politisch noch bri­ Meer beherrscht, kontrolliert einen entschei­ santer gemacht und verdeutlicht, dass auch aus der denden Teil der Weltwirtschaft. Arktis ein Ort werden könnte, an dem Koopera­ Mehr als 60 000 Schiffe mit Handelsware im tion durch Konkurrenz verdrängt wird. 08 Wert von über 5,3 Billionen US-Dollar (davon Im Kalten Krieg war der Nordpol in den 1,2 Billionen aus dem US-Handel sowie etwa Ost-West-Konflikt einbezogen, und noch heu­ 900 Milliarden aus dem europäischen Außen­ te überqueren die Flugbahnen amerikanischer handel) passieren es jährlich. Das entspricht und russischer Interkontinentalraketen die Ark­ fast einem Drittel des Welthandelsvolumens. Es tis, strategische Unterseeboote manövrieren un­ gewährleistet die Versorgung nord- und süd­ ter der Eisdecke, und Frühwarnsysteme beobach­ ostasiatischer Staaten mit Energieträgern und ten den Raum. Alaska bildet einen Schwerpunkt Rohstoffen, denn der arktische Seeweg ist nur der US-Raketenabwehr, und russische Untersee­ zeitweise nutzbar. Durch die Straße von Ma­ boote nutzen das Eis als Schutz, um die nuklea­ lakka als indo-pazifische Transitroute werden re Zweitschlagsfähigkeit zu bewahren. Entgegen mehr als ein Drittel des global verfügbaren Roh­ den 2007 geweckten Befürchtungen haben die öls und über die Hälfte des verflüssigten Erd­ Arktisstaaten in den vergangenen Jahren aber ihre gases zu den Staaten der ostasiatischen Wachs­ Zusammenarbeit verstärkt. tumsregion transportiert. Der im Oktober 1996 gegründete Arktische Aber auch das Meer selbst enthält viele Res­ Rat besteht aus den fünf Polarstaaten und Island sourcen. Neben reichen Fischgründen (zehn sowie Schweden und Finnland. Hinzu kommen Prozent des weltweiten Fangs von Speisefisch) sechs indigene Gruppen als permanente Teil­ vermutet der staatliche chinesische Ölkonzern nehmer sowie zahlreiche Beobachter, darunter China National Offshore Oil Corporation unter Deutschland seit 1998 und China seit 2013. In dem Meeresboden ein Vorkommen von 125 Mil­ einem ersten verbindlichen Abkommen regelten liarden Barrel Öl. Wegen der wachsenden Nach­ frage wurde schon in den 1980er Jahren mit Hin­

08 Einen Überblick bieten der Themenschwerpunkt „Die Arktis: regionale Kooperation oder Konflikt?“, in: Sicherheit und Frieden 09 Vgl. Siemon T. Wezeman, Military Capabilities in the Arctic: 3/2015 und der Sammelband von Linda Jakobson/Neil Melvin A New Cold War in the High North?, SIPRI Background Paper, (Hrsg.), The New Arctic Governance, Oxford 2016. Stockholm 2016.

31 APuZ 51–52/2017 weis auf diese fossilen Energieträger das Risiko na und Russland verfolgt werden, können im Fol­ eines Ressourcenkonflikts betont. 10 genden nur grob dargelegt werden. Das ist auch Die herausragende Bedeutung als Seeweg dem Umstand geschuldet, dass China bislang kein und Ressourcenspeicher macht das Südchinesi­ Dokument zur arktischen Politik vorgelegt hat. sche Meer und seine zwei größten Inselgruppen – Paracel im Norden und Spratly im Süden – zum Vereinigte Staaten Streitobjekt sich überschneidender Gebietsan­ von Amerika sprüche von China und Taiwan, den Philippinen, Alaska ist mit 1718 qkm die flächenmäßig größ­ Malaysia, Brunei und Vietnam sowie Indonesi­ te Exklave der Welt und macht die USA zu ei­ en, das selbst keinen Anspruch erhebt. In einigen nem arktischen Anrainerstaat. Im Osten grenzt Fällen hat es deswegen bereits nationalistische Alaska an Kanada, im Westen an das Beringmeer, Ausschreitungen und militärische Auseinan­ im Norden an das Nordpolarmeer und im Süden dersetzungen gegeben. Außer Brunei haben alle an den Golf von Alaska. Asien und Nordameri­ Staaten, die Gebietsansprüche erheben, auf Ko­ ka sind sich in der Beringstraße am nächsten, und rallenriffen und Sandbänken diverse Gebäude er­ beide Kontinente sind an ihrer engsten Stelle nur richtet und zum Teil militärisch gesichert. 85 Kilometer voneinander entfernt. Die im Verband Südostasiatischer Staaten Trotz der geografischen Nähe zu Russland (ASEAN) organisierten Staaten und China ha­ nehmen arktische Sicherheitsfragen in der US- ben im November 2002 eine gemeinsame Erklä­ Verteidigungspolitik bislang nur eine untergeord­ rung zu Verhaltensregeln im Südchinesischen nete Rolle ein – militärische Sicherheit wurde in Meer unterzeichnet (Declaration on the Conduct einem Bericht über nationale Strategieziele für die of Parties in the South China Sea, DoC). Unter Arktis 2015 gar nicht erwähnt. US-Streitkräfte in dem Vorsitz Indonesiens waren 2011 Richtlinien Alaska gehören zum Pazifikkommando (USPA­ für ihre Umsetzung erarbeitet worden, es konn­ COM), dessen Hauptquartier auf Hawaii liegt. te aber keine Einigung über einen verbindlichen Die US-Marine legt mittelfristig (2020–2030) den Verhaltenskodex erzielt werden. 11 Die DoC blieb operativen Schwerpunkt auf Seenotrettung und seither die Ausnahme von der Regel, dass China Einsätze bei Unglücksfällen. Aber wie im Süd­ strittige Fragen eher bilateral zu klären versucht. chinesischen Meer werden auch hier „Freedom of Aus chinesischer Sicht ist der Bilateralismus ein Navigation“-Einsätze für möglich erachtet, etwa sinnvolles Verhandlungsprinzip: Es ermöglicht aufgrund der von Kanada und Russland bean­ China, seinen Status als Großmacht einzubringen spruchten Seewege. 12 und die auf Peking ausgerichteten Zentrum-Peri­ Nach wie vor ist die Arktis wichtig für die pherie-Beziehungen in Ostasien zu stärken. Al­ US-Luft- und Raketenabwehr. Dazu gehören lerdings stößt das ruppige Verhalten gegenüber zwei große Luftwaffenbasen (Air Base, ASEAN-Staaten selbst im eigenen Land auf Kri­ AFB) in Alaska, nämlich Eielson AFB und El­ tik, da es unnötig viele Nachbarstaaten verärgert mendorf AFB, sowie Fort Greely. Erstere soll habe und den USA einen Grund biete, sich unter ab 2020 neue F35A-Kampfflugzeuge aufnehmen, anderem durch „Freedom of Navigation“-Ein­ dabei dient aber nicht die Arktis, sondern der Pa­ sätze stärker in diesem Raum zu engagieren. zifik und damit China als Bezug. Nur wenige Flugzeuge der US-Küstenwache überwachen die AKTEURE: ÄHNLICHKEITEN Beringstraße und die Arktis, in der allerdings eine UND UNTERSCHIEDE gewisse Präsenz wiederhergestellt werden soll. 13 Anders als die russische Flotte von 40 Eisbre­ Die unterschiedlichen und zum Teil gegensätzli­ chern verfügen die USA auch nur über einen ein­ chen Interessen und Ziele, die von den USA, Chi­ zigen schweren Eisbrecher. Aufgrund seines Territoriums, der Anmel­ 10 Vgl. Michael Paul, Kriegsgefahr im Pazifik? Die maritime dung von Gebietsansprüchen und dem Aus­ Bedeutung der sino-amerikanischen Rivalität, Baden-Baden 2017, bau der arktischen Infrastruktur hat Moskau ei­ S. 200 ff. 11 Eckpunkte eines verbindlichen Verhaltenskodex (Code of Conduct, CoC) wurden erstmals 1992 vereinbart. Die Probleme 12 Vgl. U. S. Navy, Arctic Roadmap 2014–2030, Washington DC liegen unter anderem darin, dass die rechtliche Lage unterschied- 2014, S. 18; Wezeman (Anm. 9), S. 17. lich ausgelegt wird. 13 Vgl. Wezeman (Anm. 9), S. 18.

32 Meere & Ozeane APuZ nen so großen Vorsprung, dass Russland schon respektiert werden müsse. Dabei bleibt strit­ als „arktischer Hegemon“ bezeichnet wurde. 14 tig, ob militärische Aktivitäten von Drittstaa­ Dies muss Washington aber langfristig nicht ten wie im Küstenmeer (im Rahmen „friedlicher stören. Es werden noch viele Jahre vergehen, Durchfahrt“ gemäß Artikel 17 SRÜ) auch in den bis regelmäßige Handelsrouten eingerichtet Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) der werden können, und weder Technik noch Kli­ Staaten verboten sind. China fordert von den ma erlauben derzeit eine kostengünstige Nut­ USA, solche Operationen in ihrer AWZ einzu­ zung der reichen Lagerstätten. Washington er­ stellen, und es kam wiederholt zu Zwischenfäl­ schwert sich die Lösung anstehender Probleme len im Luftraum und auf See – zuletzt im Ok­ und die Durchsetzung eigener Interessen aller­ tober 2017, als die US-Marine ein „Freedom of dings dadurch, dass es die Seerechtskonventi­ Navigation“-Manöver nahe chinesischer Au­ on nicht ratifiziert hat. Damit kann auch nicht ßenposten abhielt. versucht werden, die Grenzen des erweiterten Politisch hat China mit seinen Maßnahmen Festlandsockels im nationalen Interesse festzu­ zur Landgewinnung gegen die DoC-Verhaltens­ legen, so wie dies Norwegen und Russland be­ regeln von 2002 verstoßen. Auf dem ASEAN- antragt haben. 15 Gipfel im April 2015 in Kuala Lumpur wurde China daher erstmals in der Geschichte der Or­ Volksrepublik China ganisation von seinen südostasiatischen Nachbar­ China ist von Rohstoffen ähnlich abhängig wie staaten kritisiert: Die Landgewinnung habe Ver­ von Seewegen. Peking verfolgt in der Arktis dazu trauen ausgehöhlt und könne Frieden, Sicherheit bislang eine vorsichtige und zurückhaltende Po­ und Stabilität im Südchinesischen Meer gefähr­ litik. Allerdings gibt es Anzeichen, dass sich die den. Es stellt sich daher die Frage, ob sich lang­ aufwachsende Großmacht künftig stärker enga­ fristig das Völkerrecht oder das Recht des Stärke­ gieren will: Die erste Fahrt eines Containerschiffs ren durchsetzen wird – das ideale Ergebnis wäre durch die Nordostpassage im August 2013, die indes eine einvernehmliche Lösung im Sinne aller Errichtung permanenter Forschungsstationen Anrainerstaaten. und die regelmäßige Präsenz des Forschungs­ Die maritimen Territorialstreitigkeiten bil­ schiffs „Polar Dragon“ weisen darauf hin. Im Juli den einen latenten Konflikt, der die Hoffnungen 2017 wurde erklärt, eine „arktische Seidenstraße“ auf ein von wachsendem Wohlstand geprägtes („Ice Silk Road“) errichten zu wollen. 16 asiatisch-pazifisches Jahrhundert rasch beenden Strittig ist die Lage im Südchinesischen Meer: könnte. Sie sind außerdem ein Testfall für die Fra­ Das Schiedsgericht in Den Haag hat am 12. Juli ge, ob Chinas außenpolitische Ambitionen mili­ 2016 im Fall „Philippines vs. China“ festgestellt, tärische Gewalt auslösen. Wie Peking seine wach­ dass die historischen Ansprüche der Volksrepu­ sende Macht nutzt und welche Reaktion es auf blik nicht, wie behauptet, mit dem SRÜ überein­ sein Handeln erfährt, schafft Präzedenzfälle und stimmen und daher rechtlich unwirksam seien. Verhaltensmuster, die das künftige Zusammen­ Schon davor war aber klar, dass das (See-)Recht wirken der Akteure im indo-pazifischen Raum, allein die Streitigkeiten nicht lösen kann. Hinzu aber darüber hinaus auch in den polaren Regio­ kommt der Konflikt mit den Vereinigten Staa­ nen bestimmen. ten, seit die damalige US-Außenministerin Hil­ lary Clinton im Juli 2010 die freie Schifffahrt im Russische Föderation Südchinesischen Meer zum nationalen Interesse Die offizielle russische Arktispolitik legt ihren erklärt und betont hatte, dass das Völkerrecht Schwerpunkt auf nichtmilitärische Herausfor­ derungen und spricht der Zusammenarbeit der

14 James Kraska, The New Arctic Geography and U. S. Strategy, Arktisstaaten hohe Bedeutung zu. Die im Ver­ in: ders. (Hrsg.), Arctic Security in an Age of Climate Change, gleich zur Zeit des Kalten Krieges maßvolle ma­ Cambridge u. a. 2011, S. 247. ritime Aufrüstung kann dem Schutz nicht nur ei­ 15 Vgl. Ronald O’Rourke, Changes in the Arctic: Background and ner extrem langen Außengrenze, sondern auch Issues for Congress, Washington, DC 2017, S. 14 ff. der überwiegend in der Arktis stationierten stra­ 16 Vgl. Sanna Kopra, China’s Arctic Interests, in: Lassi Heininen (Hrsg.), Arctic Yearbook 2013, Akureyri 2013, S. 107–124; tegischen Unterseeboote der russischen Nord­ China’s Ice Breaker Returns After First Arctic Rim Circumnavigation, flotte und ihrer Einsatzräume im Konfliktfall zu­ 10. 10. 2017, www.globaltimes.cn/content/​1069635.shtml. geordnet werden. Russland hat seit 2014 viele der

33 APuZ 51–52/2017 nach 1990 geschlossenen Stützpunkte reaktiviert PERSPEKTIVEN und ist nach wie vor der Anrainer mit den meis­ ten und am besten für die Arktis geeigneten Ein­ Die Arktis wird weiterhin ein unwirtlicher Ort satzmitteln. Dennoch ist davon auszugehen, dass bleiben, schwer zugänglich und weit entfernt von dies kein Merkmal für ein geplantes expansives den geoökonomischen Zentren der Welt. Auf­ Vorgehen ist, sondern dem Schutz weitläufiger kommende Konflikte in der Arktis können ver­ Außengrenzen und darin befindlicher Ressour­ mutlich mit friedlichen Mitteln beigelegt wer­ cen dient. 17 den, sodass Arktis und Antarktis wahrscheinlich Aufgrund der umfangreichen Lagerstätten die einzigen Orte auf der Erde bleiben, die kei­ an wertvollen Rohstoffen wie Erdöl, Erdgas, ne kriegerische Geschichte kennen. Anders als im Gold, Diamanten, Nickel, Kupfer und Platin Südchinesischen Meer befestigt dort bislang kein verfügt die russische Arktis über großes wirt­ Staat neue Außenposten, sucht in der Ausschließ­ schaftliches Potenzial. Schon heute werden fast lichen Wirtschaftszone anderer Länder nach Öl 60 Prozent der exportierten Rohstoffe im Nor­ oder raubt deren Fischbestände. Die Aussicht auf den des Landes gefördert. Annähernd alle arkti­ eine diplomatische Lösung arktischer Territorial­ schen Erdgaslagerstätten befinden sich vor den konflikte ist daher gut. russischen Küsten, größtenteils in einer Tie­ Es ist zwar nicht auszuschließen, dass die an­ fe von über 500 Metern. In der Arktis lagern gespannten Beziehungen zwischen den NATO- 91 Prozent des russischen Erdgases und 80 Pro­ Staaten und Russland auch in der Arktis zu Kon­ zent der nachgewiesenen industriell abbaubaren flikten führen, 19 aber die Lage im Nordpolarmeer Gasmengen. Der arktische Raum ist für Russ­ ist völlig anders als in der Ostsee oder im Schwar­ land damit von existenzieller Bedeutung, da zen Meer. Allein schon die klimatischen Bedin­ der Energiesektor die tragende Säule der wirt­ gungen machen eine militärische Auseinanderset­ schaftlichen Entwicklung ist; Rohstoffe domi­ zung in der Arktis zu einem hypothetischen Fall. nieren den russischen Export, und ein Großteil Noch sind sowohl der Zugang als auch der Ab­ des Staatshaushaltes stammt aus den Einnahmen transport von Öl, Gas und Mineralien zu aufwän­ aus dem Erdölexport. Neue Exportkapazitäten dig, als dass sich dafür ein Streit lohnt. Anderer­ gewinnt Russland durch den Bau der Pipeline seits bietet das Eis auch Schutz und hat bislang „Sila Sibiri“ („Kraft Sibiriens“), die Gas nach eine Militarisierung der Arktis verhindert. China transportieren soll. 18 Der Sicherheitsaspekt wird im Vergleich zum Auch sicherheitspolitisch nimmt die Zusam­ Südchinesischen Meer deutlich, dessen Groß­ menarbeit mit China deutlichere Form an, wie teil von China nicht nur aufgrund dortiger Res­ gemeinsame Flottenmanöver („Joint Sea“) im sourcen und Seewege, sondern insbesondere aus Südchinesischen Meer zeigen. Moskau verfolgt Gründen der nationalen Sicherheit beansprucht in diesem Territorialkonflikt zwar eine Politik wird. Dadurch hat China einen Ordnungskon­ der Neutralität, auch um südostasiatische Käu­ flikt ausgelöst, dessen Beilegung auch im Inte­ fer russischer Rüstungsgüter nicht zu verärgern, resse der Anrainer aufgrund bestehender Regime will aber wie Peking gegenüber Washington das möglich wäre. Die Seerechtskonvention ist nicht Recht auf eine eigene Einflusssphäre deutlich nur zur Regelung arktischer Streitfragen nützlich, machen. sondern sollte auch in Asien zur Streitbeilegung genutzt werden.

17 Vgl. Wezeman (Anm. 9), S. 13–15. 18 Vgl. Deutsch-Russische Außenhandelskammer et al., Russland in Zahlen, Sommer 2017, http://my.page​2flip.de/​3687734/​1156​ 0794/​11827861/​html5.html#/1; Valerij Piljawskij, Die Arktis im MICHAEL PAUL Fokus der geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen Russlands, ist promovierter Politikwissenschaftler und Senior Moskau 2011, S. 1. Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik 19 Vgl. Helga Haftendorn, NATO and the Arctic: Is the Atlantic Al- der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in liance a Cold War Relic in a Peaceful Region Now Faced With Non- Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Kriegs- Military Challenges?, in: European Security 3/2011, S. 337–361; Mike Safton, Why the Next NATO-Russia Crisis Could Go Down gefahr im Pazifik? Die maritime Bedeutung der in the Arctic, in: The National Interest, 28. 9. 2016; Wezeman sino-amerikanischen Rivalität“ (2017). (Anm. 9), S. 23. [email protected]

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DIE LOKALE KULTUR DER EUROPÄISCHEN HAFENSTADT: GEMEINSAMES ERBE EUROPAS Günter Warsewa

Von der Wirtschaft bis zur Ausbildung spezifi­ men, Werte, Bedeutungen, durch „Culture, In­ scher Mentalitäten und Kulturformen spiegeln formal Rules and History“. 02 Das bedeutet, dass gesellschaftliche Strukturen und ihre Funktionen lokale Wirtschafts- und Sozialstrukturen, lokales die Auseinandersetzung mit natürlichen, geo­ Institutionenarrangement und lokale Kultur in­ grafischen und klimatischen Bedingungen wi­ einandergreifen, sich gegenseitig stützen und re­ der. Um die Chancen von Küstenlagen zu nut­ produzieren und so dafür sorgen, dass typische zen und deren Risiken zu minimieren, haben sich Charakteristika entstehen und eine enorme Stabi­ dort spezifische Siedlungs-, Wirtschafts- und so­ lität und Prägekraft entfalten. ziale Organisationsformen herausgebildet: Ha­ „Lokale Kultur“ in diesem Sinne ist das En­ fenstädte, Kaufmannsgesellschaften, spezialisier­ semble gemeinsamer Praktiken, Symbole und Be­ te Produktions- und Verarbeitungsindustrien, deutungen, Sprachformen und Einstellungen, in Dienstleistungsfunktionen oder Institutionen wie denen sich kollektiv geteilte Erwartungen, Nor­ Hafenverwaltungen, spezialisierte Börsen, Fisch­ men und Konventionen gleichermaßen ausdrü­ märkte, Seeversicherer, Seenotrettungs- oder cken und reproduzieren. Sie umfasst materielle Deichverbände und viele andere mehr. In der An­ Artefakte, etwa typische Kunstgegenstände, Ge­ tike vor allem im Mittelmeerraum, ab dem Mit­ bäudeformen oder Trachten, ebenso wie kollekti­ telalter verstärkt in Nord- und Westeuropa setzte ve Werte und gemeinsame Grundüberzeugungen, sich die funktionale Spezialisierung von Hafen­ die sich ihrerseits in alltäglichen oder besonde­ städten fort. ren Praktiken widerspiegeln. 03 Die soziale Ein­ Bereits Max Weber wies darauf hin, dass auf der bettung in diesen Rahmen bedeutet, dass jenseits Grundlage ihrer jeweiligen Wirtschafts- und So­ von subkulturellen Differenzen und sozialen und zialstrukturen unterschiedliche Typen von Städ­ ökonomischen Interessengegensätzen ten – Residenz-, Konsumenten-, Produzenten-, Händlerstädte – zu identifizieren seien. Daneben –– erstens Zugehörigkeit hergestellt wird und beschrieb Weber aber auch die Gemeinsamkeiten, mit wechselseitigem Vertrauen und Verläss­ die ein zentrales Charakteristikum der abendlän­ lichkeit einhergeht, dischen Stadt ausmachen würden: Hier hätten sich –– zweitens Kooperationen auf gemeinsamen jene typischen Institutionen entwickelt, die – wie Handlungsorientierungen und Konventio­ der Markt mit spezifischen Zugangs- und Funk­ nen aufbauen können und tionsregeln, Gerichtsbarkeit, Verbandscharakter –– drittens Entscheidungen über wirtschaftlich und Selbstverwaltung sowie Bürgerstatus – eine oder politisch bedeutsame Alternativen in der historischen Vorbedingungen des modernen der Regel innerhalb eines kollektiv akzep­ Kapitalismus gewesen seien. 01 tierten Rahmens getroffen werden. Gestalt und Entwicklung von Städten werden in dieser Perspektive durch das Zusammenwir­ Insofern ist davon auszugehen, dass lokale Kul­ ken von Institutionen und Wirtschafts- und So­ tur das Handeln individueller und kollektiver zialstrukturen bestimmt. Immer werden aber die Akteure in gewissem Umfang lenkt, in einen lo­ Entwicklungspotenziale dieses Zusammenwir­ kal begrenzten, aber gemeinsam gültigen Rahmen kens begrenzt, verstärkt, korrigiert, ergänzt oder stellt und so als ein Steuerungs- und Koordinati­ kompensiert durch einen Rahmen geteilter Nor­ onsmechanismus funktioniert, der die Entwick­

35 APuZ 51–52/2017 lung der Städte beeinflusst. Im Falle der euro­ wahrgenommen wurde, gehörte mit dem ständi­ päischen Hafenstädte kann gezeigt werden, dass gen Wechsel von Ankommen und Wegfahren in die historische Entwicklung nicht nur besonde­ den Hafenstädten zu einer Normalität, die das re Ausprägungen einer „hafenstädtischen“ Kul­ Handeln nach innen wie nach außen prägte. So­ tur hervorgebracht hat, sondern dass die loka­ wohl für das Gelingen von Seefahrt und Fernhan­ len hafenstädtischen Kulturen auch einen Prozess del als auch für das erfolgreiche Funktionieren der Angleichung durchlaufen haben, durch den des Knotenpunktes und Umschlagplatzes selbst sie sich insgesamt von der Kultur binnenländi­ besitzt bis heute die Fähigkeit zum profitablen scher Städte unterscheiden. 04 Die kulturelle Kon­ kulturellen Austausch mit fremden Menschen ein vergenz der Hafenstädte in Europa beruht zum besonderes Gewicht. einen auf dem jahrhundertelangen Austausch Gleichwohl waren und sind mit Seefahrt und zwischen diesen Städten, der Übernahme bezie­ Fernhandel immer auch beträchtliche Risiken für hungsweise Adaption von Wissen, Techniken Mensch und Material, für die getätigten Investi­ und Praktiken und zum anderen auf institutiona­ tionen, die physische und soziale Existenz und lisierten Formen der Kooperation in Seehandels­ den sozialen Status verbunden. Die Folgen von gesellschaften, Städtebünden und Netzwerken Risikoereignissen – Schiffs- und Ladungsver­ wie der Hanse. luste, Wertverluste durch die Veränderung von Märkten oder politische Interventionen – kon­ FUNKTIONALE zentrierten sich wie auch die erzielten Gewinne SPEZIALISIERUNG in den Hafenstädten. Die daraus resultierenden Unsicherheiten waren und sind kaum individuell Solange der Seetransport die einzig mögliche, si­ und nie vollständig beherrschbar. Daher haben cherste oder schnellste Art der Überwindung sich in den Hafenstädten im Verlauf der Jahr­ großer Distanzen war, war ihre Funktion als hunderte vielfältige Strategien zur Reduzierung Knotenpunkt verschiedener Ströme ein zentra­ und zum rationalen Umgang mit unvermeidli­ les Charakteristikum von Hafenstädten. Hier chen Gefahren entwickelt – etwa durch die poli­ traf eine Vielfalt an Gütern, Kapital, Informati­ tische Absicherung von Handelsprivilegien oder onen, Menschen und kulturellen Einflüssen zu­ durch Versicherungen und die Verteilung von sammen, und es entwickelten sich spezifische Fä­ Risiken auf möglichst viele Schultern. Daher ist higkeiten und Kompetenzen im Umgang damit. es kein Zufall, dass die modernen Formen von Von der Begutachtung und Qualitätsbewertung Bank- und Versicherungswesen in Hafenstädten exotischer Waren über die Funktion von Hafen­ teils „erfunden“, teils erheblich weiterentwickelt ärzten und Quarantänebehörden bis zu den di­ wurden, um „bis dahin unbestimmte und un­ versen Amüsierangeboten in den hafennahen wägbare Gefahren einzugrenzen, zu benennen Rotlichtvierteln war der Umgang mit Fremdheit und gewissermaßen rechenhaft – berechenbar – ein selbstverständlicher Teil der Alltagspraxis in zu machen“. 05 den Hafenstädten. Was anderswo als Ausnahme Vielfältige Formen der Risikoteilung und ge­ genseitigen Risikoabsicherung haben zur He­ rausbildung einer gemeinsamen Wertebasis bei­ 01 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 19805 (1921/22), S. 727–741. getragen, in der ausgeprägter Gemeinsinn sowie 02 Peter A. Hall/David Soskice, An Introduction to Varieties of kalkulierte Risiko- und Kooperationsbereit­ Capitalism, in: dies. (Hrsg.), Varieties of Capitalism. The Institutional schaft eine wichtige Rolle spielen. Der Zusam­ Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001, S. 1–70, menschluss regional verteilter Kaufleute zur hier S. 12 f. ursprünglichen Kaufmanns- und späteren Städte­ 03 Vgl. Florence R. Kluckhohn/Fred L. Strodtbeck, Variations in Value Orientations, Evanston 1961; Edgar H. Schein, Organi- hanse ist als ein solcher Mechanismus der Risi­ zational Culture and Leadership, San Francisco 1992²; Günter koteilung zu interpretieren. Kaufleute und Städte Warsewa, The Culture of the Port City, in: ders. (Hrsg.), City on bildeten ein außerordentlich modernes und flexi­ Water. Lectures and Studies from the European Urban Summer bles Netzwerk, das in der Lage war, über Jahr­ School, September 2015 at the University of Bremen, Breslau 2016, S. 18–35. 04 Siehe hierzu und für ausführliche empirische Belege Günter 05 Adalbert Evers/Helga Nowotny, Über den Umgang mit Warsewa, Lokale Kultur und die Neuerfindung der Hafenstadt, in: Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft, Raumforschung und Raumordnung 5/2010, S. 373–387. Frank­furt/M. 1987, S. 34.

36 Meere & Ozeane APuZ hunderte eine mächtige politische Rolle in Eu­ Autonomie und eigenständige Regelung innerer ropa einzunehmen. Gleichzeitig war das sich und äußerer Angelegenheiten zu beharren. Ei­ ständig verändernde Verhältnis von Kooperation genständigkeit und Handlungsfähigkeit verstärk­ und Konkurrenz zwischen den beteiligten Ak­ ten wiederum das ausgeprägte Selbstbewusstsein, teuren, die „Kooperation der Egoisten“, 06 aber das sich schichtübergreifend, gleichsam als Eigen­ auch ein Grund dafür, dass die beteiligten Städte schaft des Ortes, in vielen Hafenstädten ausbil­ niemals das Zustandekommen einer dauerhaften dete. Ausdruck dieses besonderen Selbstbewusst­ und verbindlichen politischen Institutionalisie­ seins sind beispielsweise die formellen Titel der rung der Hanse zuließen. 07 deutschen Stadtstaaten Bremen und Hamburg Für Hafenstädte galt ferner schon seit Jahr­ als Freie beziehungsweise Freie und Hansestadt, hunderten, was für andere Städte erst mit den die auf deren nach wie vor bestehenden Sonder­ Globalisierungsprozessen der zurückliegenden status innerhalb des Nationalstaates verweisen. Jahrzehnte virulent wurde: Physische Erreichbar­ Einen ähnlichen Status konnte sich lange auch keit (accessibility) sowie informationelle Zugäng­ die Hansestadt Danzig bewahren, die sich nach lichkeit und globale Verbindungen (connectivity) dem Aufstand gegen den Deutschen Orden im sind bestimmende Variablen für die lokale Ent­ 15. Jahrhundert nur deshalb unter den Schutz der wicklung. 08 Hier war man sich dieses Zusammen­ polnischen Krone stellte, um sich vielfache Pri­ hangs schon früher bewusst, und deshalb beruht vilegien und im Vergleich zu den anderen polni­ ein zentraler Bestandteil kollektiver Identität auf schen Städten weitgehende politische Unabhän­ der existenziellen Bedeutung, die die Sicherung gigkeit zu sichern. 09 von Zugänglichkeit und Erreichbarkeit für sie Optimale Bedingungen für Handhabung, La­ besitzt. gerung, Verkauf und Transport von Waren aller Die dafür erforderlichen Kompetenzen und Art zu schaffen, ist eine weitere Zweckbestim­ Kapazitäten – differenzierte Funktionssysteme mung der Hafenstadt, die spezifische, aber über­ wie zum Beispiel Wasserbau, Gewährleistung all ähnliche räumliche und physische Strukturen von Sicherheit der Schifffahrt, Schiffbau, Um­ hervorgebracht hat. Aus baulichen Formen, tech­ gang mit Transport- und Logistiktechnologien nischen Vorkehrungen und verkehrlichen Infra­ bis hin zur hoheitlichen Regelung von Zoll- und strukturen setzte sich in jeder historischen Epo­ Steuerangelegenheiten oder der Bewältigung der che ein typisches Bild zusammen: „Lagerhäuser komplexen rechtlichen Probleme des internatio­ gab es über das ganze Amsterdamer Stadtgebiet nalen Seehandels – versammelten sich in der Re­ verstreut, aber am stärksten konzentrierten sie gel am Ort des Geschehens, und nur hier konnte sich auf den künstlichen Inseln, die im späten 16. das reibungslose Zusammenspiel dieser Kompe­ und frühen 17. Jahrhundert an der Hafenseite an­ tenzen und Funktionsbereiche organisiert wer­ gelegt wurden. Sie waren (und sind es in gewis­ den. Bis heute ist dieser Umstand Grundlage sem Maß noch heute) eine merkwürdige Welt im dafür, dass Hafenstädte vielfach gegenüber zen­ Kleinen, ein Gemisch aus Speichern, Werfthöfen, tralen, (national)staatlichen Kontroll- und Regu­ Holzplätzen, Seilerbahnen und Schuppen zum lierungsansprüchen einen besonderen Status gel­ Trocknen und Räuchern von Heringen.“ 10 tend machen und behaupten können. Unmittelbar an die Hafenanlagen schließen Ein spezifisches „hafenstädtisches“ Selbstbe­ sich die typischen Hafenviertel, Märkte, Lager­ wusstsein beruht mithin auf dem Wissen um die hallen sowie die Wohngegenden von Hafen- besondere Bedeutung des Hafens und die spezifi­ und Werftarbeitern an. Die Struktur von Straßen sche Funktion der Stadt als Kompetenzzentrum und später Eisenbahnanlagen ist auf die Funkti­ für reibungslosen Hafen- und Handelsbetrieb. on des Hafens ausgerichtet. In den Hafenstäd­ Diese Funktion ermöglichte es vielen Hafenstäd­ ten entwickelten sich eigene Gebäudetypen, die ten, über lange Perioden erfolgreich auf relative für die Kombination von Wohnen, Lager- und Handelsbetrieb optimiert waren. Der Eindruck eines besonderen Stadtcharakters wird schließ­ 06 Angelo Pichierri, Die Hanse – Staat der Städte, Opladen 2000, S. 117. 07 Vgl. ebd., S. 63 ff. 09 Vgl. Mark Girouard, Die Stadt, Frank­furt/M.–New York 1987, 08 Vgl. Robert L. Fishman, Die befreite Megalopolis. Amerikas S. 146. neue Stadt, in: Arch+ 109–110/1991, S. 73–83, hier S. 80 ff. 10 Ebd., S. 158 f.

37 APuZ 51–52/2017 lich durch die unterschiedlichen in der Stadt ver­ hervorgehoben; und vom Guggenheim-Museum streuten Symbole – von den üblichen Schiffsdar­ in Bilbao bis zur Elbphilharmonie in Hamburg stellungen über die architektonischen Formen werden ikonenhafte Architektur und (hoch)kul­ der Speicher und Lagerhäuser bis zur typischen turelle Funktionen durch exponierte Lage am Skyline der Masten, Schornsteine, Kräne und Wasser und maritime Symbolik in ihrer Wirkung Werftanlagen – bei der Gestaltung von privaten bestärkt. Spektakuläre Kulturproduktionen nut­ wie öffentlichen Orten unterstrichen. zen die maritime Atmosphäre, um eine besondere Erlebnisqualität zu erzeugen. LOKALE KULTUR ALS Deutlich wird an diesen wie an vielen an­ ERNEUERUNGSRESSOURCE deren Beispielen, dass die heutigen Prozesse des „Placemaking“ und des „Imagebuilding“ All jene Gegenstände und Symbole, die die Stadt­ auf die Indienstnahme der lokalen Kultur an­ gestalt dauerhaft prägen und in denen sich die gewiesen sind. 12 Großprojekte wie die Dock­ spezialisierten Funktionen der Hafenstadt wider­ lands in London oder in Dublin, der Port Vell spiegeln, tragen zur Herstellung und Verselbst­ in Barcelona oder der Porto Antico in Genua, ständigung einer typischen lokalen Kultur bei. die Überseestadt in Bremen oder die Hafencity Doch viele dieser kulturellen Ausdrucksformen in Hamburg schaffen dort neue Orte, wo ehe­ funktionaler Spezialisierung verlieren mit aktu­ mals der working port die ökonomische Basis ellen Entwicklungen ihren ursprünglichen Sinn­ der Stadt war und ihre Identität prägte. Indem gehalt – weil die soziale Trägerschaft bestimmter an diesen Stellen eine neue, der globalisierten kultureller Praktiken und ihrer Symbolisierun­ Informations-, Wissens- und Dienstleistungs­ gen sich auflöst; weil der Rahmen geteilter Be­ gesellschaft angepasste Basis – der living port – deutungen, Konventionen und Praktiken sei­ etabliert wird, symbolisieren die zahlreichen nerseits durch neue kulturelle Einflüsse und Revitalisierungsprojekte Modernität und Zu­ Dynamiken – etwa die global wirksamen Prozes­ kunftsorientierung. Unverwechselbarkeit und se der „McDonaldisierung“ oder „Disneyfizie­ eine ortstypische Aufenthalts- und Erlebnis­ rung“ – gesprengt wird; oder weil der ökonomi­ qualität erlangt die entstehende Mischung aus sche Strukturwandel dessen Grundlage zerstört Marinas, Bürolofts, Wohnanlagen, Shopping hat. Tatsächlich wurden viele Hafenfunktionen Malls, Multiplex-Kinos, Food Courts, Kon­ aus den Städten ausgelagert, typische Industrien gresszentren, Museen, Großaquarien aber nur verschwanden, und ehemals stabile Hafenquar­ dadurch, dass sich all dies in den restaurierten tiere gerieten in eine Abwärtsspirale. Schuppen und Hafenanlagen abspielt oder sich Dennoch wird die Entwicklung hafenstädti­ die Formen zeitgenössischer Architektur mari­ scher lokaler Kultur in dem Maße fortgeschrie­ timer und lokaler Symbolik bedienen. So soll ben, in dem die Inszenierung von Besonderheit der maritime Charakter des Ortes wahrnehm­ zum Bestandteil einer postindustriellen Kultur- bar bleiben. und Geschichtsindustrie wird. Lokale Kultur ist Die Erneuerungs- und Revitalisierungspro­ zum einträglichen Wirtschaftsfaktor geworden jekte müssen nicht zuletzt der Tatsache Rech­ und der Ort ihrer Verwertung zur „ausgestellten nung tragen, dass den Hafenstädten die Exklusi­ Stadt“, 11 die sich ihren dauerhaften und tempo­ vität ihrer Knotenfunktion abhandengekommen rären Nutzern als Ort des Erlebens vermeintlich ist. Neuere Transport- und Kommunikations­ unverfälschter hafenstädtischer Kultur anbietet. mittel haben ihre eigenen Netze und Knoten aus­ Im Zuge von Modernisierungs- und Revitalisie­ gebildet und bewirkt, dass sich die weltweiten rungsprozessen werden Fischmärkte zu Touris­ tenattraktionen; „gläserne“ Werften laden zum 12 Vgl. Eugene J. McCann, The Cultural Politics of Local Besichtigen oder zur Beteiligung am Schiffsbau Economic Development. Meaning-Making, Place-Making, and ein; Schiffsparaden, Hafenfeste, maritime Wochen the Urban Policy Process, in: Geoforum 33/2002, S. 385–398; werden gefeiert; traditionelle Symbole hafenstäd­ Tim Richardson/Ole B. Jensen, Linking Discourse and Space. tischer Kultur werden im Stadtbild besonders Towards a Cultural Sociology of Space in Analysing Spatial Policy Discourses, in: Urban Studies 40/2003, S. 7–22; Gunila Jivén/Peter J. Lackham, Sense of Place, Authenticity and Cha- 11 Michael Müller/Franz Dröge, Die ausgestellte Stadt. Zur racter. A Commentary, in: Journal of Urban Design 1/2003, Differenz von Ort und Raum, Basel–Boston–Berlin 2005. S. 67–81.

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Ströme von Gütern, Kapital, Menschen und In­ ger Bürgermeister Pawel Adamowicz etwa zu­ formationen voneinander entkoppeln und nicht rück, dass die polnische Solidarność-Bewegung mehr zwangsläufig an den Hafenstandorten zu­ ihren Ursprung gerade in der Hafenstadt hatte: sammentreffen. Damit wird das, was einst selbst­ „Diese Bewegungen der Solidarność haben hier verständlich war, nun zum Gegenstand beson­ ihre Wurzeln – nicht in Stettin, Breslau oder derer Anstrengungen: In Konkurrenz mit allen Warschau. Es ist ein Freiheitsgeist in Danzig, anderen (Groß-)Städten müssen sich Hafenstädte der sich in einem traditionell tiefen Misstrau­ um die Knotenfunktionen stärker bemühen, zum en zu den Regierenden ausdrückt, und diesen Beispiel indem sie sich in Umfang und Qualität Freiheitsgeist gibt es in Danzig schon seit vielen von Infrastrukturen, Dienstleistungen und sons­ Jahrhunderten.“ 14 tigen Angeboten auf wachsende zeitweilige Be­ Ihre lokale Kultur scheint den Hafenstäd­ sucher- und Nutzergruppen einstellen und deren ten auch eine Reihe weiterer immaterieller Res­ Nutzungsinteressen entgegenkommen. 13 sourcen bereitzustellen, die im postindustriellen Was früher Pilger, Kaufleute, Ein- und Aus­ Standortwettbewerb von Nutzen sein können: wanderer, Soldaten oder Seefahrer in den Ha­ Liverpool ist es gelungen, als europäische Kul­ fenstädten waren, sind heute die Arbeitspendler turhauptstadt 2008 seine herausragende Bedeu­ und Migranten, Businesspeople, Studierenden, tung für die Entwicklung der Popmusik, die sich Städtetouristen, Fußballfans, Festival- und Kul­ nur auf der Grundlage seiner spezifischen lokalen turbesucher, Kongress- und Wissenschaftsno­ Kultur ausbilden konnte, zu einem international maden. Damit scheint die Differenz zwischen anerkannten Markenzeichen zu machen. Barcelo­ „Fremdheit“ und „Zugehörigkeit“ auch in den na, Bilbao und Genua präsentieren sich als zeit­ binnenländischen Städten zusehends zu ver­ gemäße Zentren eines weltweiten Kultur-, Kon­ schwimmen, aber Vielfalt und Verschiedenheit gress- und Städtetourismus. In Hamburg hat sich werden hier kaum als gemeinsamer und geteil­ St. Pauli zu einem weit überregional bekannten ter Erfahrungshintergrund wahrnehmbar. Die vielfältigen Amüsier- und Kulturstandort entwi­ lokale Kultur der Hafenstadt, die schon immer ckelt, der einerseits mit dem alten Image des „ver­ eine „globalisierte“ war, schließt dagegen eine ruchten“ Rotlichtviertels wirbt und andererseits verbreitete Vertrautheit mit Rollen- und Per­ längst passende Angebote für alle sozialen Mili­ spektiv­ wechseln­ ein, die es verschiedenen Ty­ eus und Unterhaltungsansprüche bereithält. pen von Fremden und Zuwanderern ermög­ Nachdem sie bis dahin nur wenige Abwei­ licht, sich relativ schnell und unkompliziert in chungen von historischer Routine zugelassen das soziale Gefüge einzufinden und zur He­ hatten, bemühten sich viele Hafenstädte seit dem rausbildung einer ortstypischen Kultur beizu­ Niedergang ihrer traditionellen ökonomischen tragen. Im Unterschied zu anderen Gemeinwe­ Basis verstärkt um außerordentliche „Events“ sen scheint die Hafenstadt somit noch immer wie Olympiaden, Weltausstellungen oder die Er­ ein wirksameres Identifikations- und Integrati­ nennung zur europäischen Kulturhauptstadt. Ne­ onsangebot zu eröffnen. ben den erhofften Image- und Marketingeffekten Im Selbstbild wie in der Außenwahrneh­ geht es dabei vor allem darum, neue Ressourcen mung wird zudem eine typische Mischung für ihre eigene Handlungsfähigkeit zu mobilisie­ aus ausgeprägtem Selbstbewusstsein, republi­ ren und eine eigenständige Modernisierungs- und kanischer Gesinnung und „freiem Geist“ als Strukturwandelstrategie zu entwickeln. Eine die­ Element der lokalen Kultur der Hafenstädte ser Ressourcen war und ist die Konzentration betrachtet. Das Handeln in selbstbewusster Un­ der relevanten Akteure auf ein gemeinsames Ziel abhängigkeit entspricht dabei nicht nur der At­ und die Bündelung von Kräften zur Erreichung titüde lokaler Eliten; auf eine klassenübergrei­ dieses Ziels. Dabei zeigt sich, dass solche großen fende Eigenschaft des Ortes, den „freien Geist Anstrengungen immer noch auf die lokale Kul­ einer alten seit Langem selbständigen und auch tur der Kooperation und des Gemeinsinns zu­ selbstbewussten Hansestadt“ führte der Danzi­ rückgreifen können. Eine wichtige Ressource, die

13 Vgl. Guido Martinotti, Four Populations. Human Settlements 14 „Es gibt Ressentiments gegenüber Deutschland“, Interview von and Social Morphology in the Contemporary Metropolis, in: Bettina Röhl mit Pawel Adamowicz, in: Cicero 11/2004, S. 56 ff., European Review 1/1996, S. 3–23. hier S. 56.

39 APuZ 51–52/2017 im Rahmen dieser Festivalisierung des Struktur­ stärken und den aktuell sich krisenhaft verschär­ wandels überdies mobilisiert wird, sind die viel­ fenden Tendenzen der Divergenz in Europa zu fachen finanziellen Unterstützungen, die aus un­ begegnen. terschiedlichen Quellen kombiniert werden. Die Das Motto „Einheit in Vielfalt“, das sich die hafenstädtische Tradition der vielfachen Außen­ Europäische Union auf die Fahnen geschrieben beziehungen als Grundlage für relative Unabhän­ hat, ist historisch am ehesten in und zwischen gigkeit und innere Handlungsfähigkeit mag sich den europäischen Hafenstädten realisiert worden. dabei als hilfreich erwiesen haben. Kulturelle Ressourcen spielen dabei insofern eine wesentliche Rolle, als sie nach wie vor dazu bei­ TRÄGER KULTURELLER tragen, die Handlungsfähigkeit einer Stadt nach KONVERGENZ IN EUROPA innen wie nach außen zu erhalten oder zu stärken und damit gleichzeitig die Basis für produktive Selbstverständlich stimmen die lokalen Kultu­ Kooperationsbeziehungen zu schaffen. Gleiches ren der europäischen Hafenstädte nicht in al­ gilt für die Staaten, die sich zu einem Verbund wie len beschriebenen Charakteristika überein und der EU zusammenschließen. Aus der Entwick­ manche dieser Charakteristika bedürften einer lung der europäischen Hafenstadt ließe sich vor präziseren empirischen Überprüfung. Dennoch diesem Hintergrund unter anderem lernen, dass zeichnet sich ein idealtypisches Bild ab, das sich selbstbewusstes Beharren auf Eigenständigkeit in spezifischer Ausprägung von Außenbezie­ und die pragmatische „Kooperation der Egois­ hungen ebenso wie in besonderen inneren Struk­ ten“ keinen Gegensatz darstellen müssen, sofern turen ausdrückt. Die europäische Hafenstadt re­ die wechselseitigen Beziehungen nicht durch ein­ präsentiert eine jahrhundertelang gewachsene seitiges Dominanzstreben geprägt werden und Tradition des Austauschs, des wechselseitigen gemeinsame Institutionen tatsächlich als Träger Voneinander-Lernens und der pragmatischen gemeinsamer Interessen funktionieren und aner­ Balance von Kooperation und Konkurrenz. kannt werden. Nach innen wirkt die in der maritimen Traditi­ on verankerte Fähigkeit zum Konsens und zur sozialen und kulturellen Integration als ein Me­ chanismus, der bis heute eine Gemeinsamkeit von Interessen herstellt, reproduziert und zu ihrer Durchsetzung beiträgt. So wird etwa für Hamburg festgestellt, dass hier „eine politische Kultur, die zum Konsens fähig ist und die gro­ ße Vergangenheit in die Gegenwart integriert“, Teil eines „über Jahrhunderte stabilen Selbstver­ ständnisses von der Stadt“ sei. 15 Während der vergangenen Jahrzehnte hatte dieses nach wie vor lebendige maritime kulturel­ le Erbe als Ressource der Erneuerung eine wich­ tige Funktion für die Bewältigung der Struktur­ wandelkrise in den Hafenstädten. Gleichzeitig repräsentiert die lokale Kultur der Hafenstadt aber auch einen wesentlichen Bestandteil gemein­ samer europäischer Kultur und Identität, und in­ sofern könnte die Rückbesinnung darauf geeignet GÜNTER WARSEWA sein, das Bewusstsein für die historischen Pro­ ist promovierter Soziologe und Direktor des zesse der kulturellen Konvergenz in Europa zu Instituts Arbeit und Wirtschaft (iaw) der Univer- sität Bremen. Seine aktuellen Arbeitsgebiete sind die Stadt- und Regionalsoziologie, Arbeits- und 15 Marianne Rodenstein, Die Eigenart der Städte – Frankfurt und Hamburg im Vergleich, in: Helmuth Berking/Martina Löw (Hrsg.), Industriesoziologie sowie Governance und der Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Wandel von Institutionen. Frank­furt/M.–New York 2008, S. 261–311, hier S. 299. [email protected]

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RAUM OHNE ORT? Meere in der Geschichtsforschung Felix Schürmann

„Where are your monuments?“, fragt der Schrift­ Straßen; Kriege, aber keine Gräber. Gemessen an steller Derek Walcott das Meer in seinem Ge­ der Ortsfülle des Landes trägt die See nur weni­ dicht „The Sea Is History“. Das Meer schweigt, ge Spuren des Vergangenen. In der Retrospektive Walcott gibt selbst die Antwort: „The sea has wirkt das historische Geschehen auf den Mee­ locked them up.“ 01 In den Wracks versunkener ren dem Gebiet seines Entspringens auf seltsame Schiffe, Boote und Flugzeuge materialisiert sich Weise entrückt. Ein Raum ohne Ort, so scheint die Geschichtlichkeit mariner Räume, ebenso in es fast. Seekabeln oder künstlichen Riffs. An der Seite In verflüssigter Umgebung mangelt es an ver­ solcher Überreste finden sich seit einigen Jahren festigten Orten, an Wissensspeichern und Erinne­ die artefaktischen Resultate von Bestrebungen, rungszeichen, von denen Geschichtserzählungen in den Meeren Museums-, Kunst- und Archiv­ ihren Ausgang nehmen können. Welche Wege be­ räume zu schaffen: Im Schwarzen Meer etwa ha­ schreitet die Geschichtsforschung, um in Anbe­ ben ukrainische Taucher ab 1992 dutzende Büs­ tracht dieser Herausforderungen die Meere als ten sozialistischer Größen versenkt – und so ein historische Räume zu fassen? Wo liegt der histo­ Unterwasser-Pantheon der zerfallenen Sowjet­­ rische Ort des Ozeans? union entstehen lassen. Vor , Cancún, Lanzarote und den Bahamas baut der britische ARENEN Künstler Jason deCaires Taylor seit 2006 sub­ UND VERKEHRSWEGE marine Skulpturenparks, die das Verhältnis des Menschen zu seiner meeresökologischen Um­ Mit den Meeren haben sich Historiker schon welt thematisieren. in der Frühphase der Verwissenschaftlichung Spuren von Vergangenheit offenbaren auch der Geschichtsschreibung befasst. Anfang des die Oberflächen der Meere. Als vergegenständ­ 19. Jahrhunderts aber beschränkte sich ihr Inte­ lichte Zeugnisse menschlicher Arbeit erheben resse auf wenige Bereiche des historischen Ge­ sich von ihnen etwa die skelettartigen Ruinen schehens zur See, vor allem auf den militärischen: aufgegebener Bohrplattformen oder Seebrücken. Unter dem Eindruck der Napoleonischen Krie­ Auch zeigen Besuche von Veteranengruppen an ge (1792–1815) entstanden vor allem in Großbri­ Schauplätzen einstiger Seeschlachten, dass sich tannien und Frankreich ab den 1820er Jahren oft kollektive Erinnerung selbst an die unbebaute mehrbändige Abhandlungen über die Seeschlach­ Meeresoberfläche zurückbinden lässt. ten der zurückliegenden Jahrzehnte und ihre Und dennoch: Die Zahl der realen wie imagi­ Hauptprotagonisten. 03 So besehen erschien der nären Orte, an denen Vergangenheit zu Raum ge­ Meeresraum als weitere Arena des Ringens zwi­ ronnen ist, 02 bleibt in marinen Seeschaften hinter schen Völkern, Staaten und „großen Männern“, der in kontinentalen Landschaften zurück. Jede in dem man seinerzeit die eigentliche Geschichte Stadt offenbart in ihrer baulichen Gestalt zeitli­ zu erkennen meinte. che und kulturelle Schichten. Jeder Acker kann Die Beschäftigung mit dem Maritimen weite­ über den agrarischen Wandel vergangener Zei­ te sich in der zweiten Jahrhunderthälfte auf zivi­ ten Auskunft geben. Jeder Baum, jede Bank, jede le Bereiche der Seefahrt aus, etwa auf die Han­ Wiese vermag einen Menschen an intime Erleb­ delsschifffahrt und den Walfang. 04 In der dabei nisse seiner individuellen Lebensgeschichte zu er­ vorherrschenden (national)ökonomischen Be­ innern. Und die Meere? Auf ihnen gab und gibt es trachtung galten die Meere zuvorderst als Wirt­ Grenzen, aber keine Zäune; Verkehr, aber keine schaftsräume und Verkehrswege. Stärker als in

41 APuZ 51–52/2017 der Marinegeschichtsschreibung schien so die Das freilich hing auch mit einem Wandel verbindende Dimension des Meeresraums auf, des Verständnisses davon zusammen, was Ge­ wie sie Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum schichte ausmacht. In Frankreich entwarfen ewigen Frieden“ (1795) prominent herausgestellt Historiker ab den 1920er Jahren das ambitio­ hatte. nierte Programm einer Histoire totale: Die bis Indes verhalfen die geopolitischen Rivalitä­ dahin isoliert voneinander beforschte Politik-, ten des hochimperialistischen Zeitalters der Ge­ Militär-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturge­ schichtsschreibung über Seemächte und Seekriege schichte sollte in ganzheitliche Großanalysen ab etwa 1890 zu einem neuerlichen Popularitäts­ zusammengeführt werden. In diesem Sinne un­ schub. Untersuchungen über Flottenpolitik und tersuchte Fernand Braudel in seinem 1949 er­ Taktikentwicklung galten den politischen und schienenen Hauptwerk über die mediterrane militärischen Eliten Europas und der Vereinigten Welt des 16. Jahrhunderts das Mittelmeer als Staaten als wertvolle Ratgeber; am Vorabend des Kristallisationsraum politischer, wirtschaftli­ Ersten Weltkrieges zählten manche Marinehisto­ cher, gesellschaftlicher und kultureller Struk­ riker zu den einflussreichsten Intellektuellen ih­ turveränderungen. Anders als in Studien zur rer Zeit. 05 Marinegeschichte und zur Wirtschafts- und So­ Weil aber das Geschehen auf See im Welt­ zialgeschichte der Seefahrt begriff Braudel das krieg entgegen verbreiteter Erwartungen keine Meer nicht als Behältnis, in das sich vom Land entscheidende Rolle spielte, mehrten sich nach ausgehende Vorgänge gewissermaßen verlänger­ 1918 die Zweifel am Anwendungsnutzen der Ma­ ten. Vielmehr galt es ihm als geohistorisches Be­ rinegeschichtsschreibung. Zugleich sahen sich dingungsgefüge, auf das Menschen ihr Handeln Marinehistoriker alter Schule mit neuen Ansät­ orientierten und das die Geschichte seinerseits zen des Zugriffs auf ihre Themen konfrontiert. umfassend prägte. 07 In Deutschland etwa analysierte Eckart Kehr die wilhelminische Flottenpolitik als imperiales, von NETZWERKE Kapitalinteressen durchwirktes Projekt. In den UND WELTEN Vereinigten Staaten reüssierte Elmo Hohman mit einer sozialhistorischen Untersuchung über Ar­ Nicht nur diese Perspektivierung des Meeres soll­ beitsbedingungen einfacher Seeleute. 06 Zwar fan­ te sich als wegbereitend erweisen. Auch die sie den Studien über Seeschlachten, Marinestrategien überwölbende Idee, die Ursprünge historischer und bedeutende Offiziere weiterhin ihr Publi­ Prozesse in transmaritimen Bewegungen und kum – und finden es bis heute. Doch ihre Ver­ Beziehungen und mithin im transitären Dazwi­ fasser handelten sich mehr und mehr den Ruf de­ schen zu suchen – anstatt von einer territorialen tailversessener Kanonenzähler ein, die über den Verwurzelung auszugehen –, inspiriert die Ge­ Tellerrand ihres Spezialgebiets hinaus wenig über schichtsforschung bis heute. die eigentliche Geschichte zu sagen hätten. Nicht wenige der an Braudels Mittelmeer­ welt orientierten Untersuchungen befassen sich ebenfalls mit Nebenmeeren, etwa mit der Ost­ 01 Derek Walcott, Selected Poems, New York 2007, S. 137. see oder dem Schwarzen Meer. 08 Bereits 1959 02 Zur Idee der raumgewordenen Vergangenheit siehe Walter Benjamin, Das Passagen Werk, Gesammelte Schriften, Bd. 5, aber konturierte der US-amerikanische Histori­ Frank ­furt/M. 1982, S. 1041. ker Robert Palmer auch einen der Ozeane als Ge­ 03 Prominente Vertreter der ersten Generation von Marinehisto- schichtsraum: Die demokratischen Revolutionen rikern sind etwa Edward Pelham Brenton, Charles Cunat, Alberto des späten 18. Jahrhunderts analysierte er als at­ Guglielmotti und William James. lantisches Phänomen. 09 Diese und daran anknüp­ 04 Vgl. etwa William Schaw Lindsay, History of Merchant Shipping and Ancient Commerce, 4 Bde., London 1874–1876; fende Beschwörungen des Atlantiks als histori­ Alexander Starbuck, History of the American Whale Fishery from Its Earliest Inception to the Year 1876, Waltham 1878. 07 Vgl. Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditer- 05 Breite Rezeption erfuhren etwa Darstellungen von Julian Cor- ranéen à l’epoque de Philippe II., 3 Bde., Paris 1949. bett, Alfred Thayer Mahan, Philip Howard Colomb, Raoul Castex 08 Vgl. Charles King, The Black Sea, Oxford 2004; Michael und Cesáreo Fernández Duro. North, Geschichte der Ostsee, München 2011. 06 Vgl. Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894– 09 Robert R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution. A 1901, Berlin 1931; Elmo P. Hohman, The American Whaleman, Political History of Europe and America, 1760–1800, Bd. 1: The New York u. a. 1928. Challenge, Princeton 1959.

42 Meere & Ozeane APuZ sches Band 10 standen zunächst unverkennbar im Perspektive legten Peter Linebaugh und Marcus Zeichen des Kalten Krieges. Häufig auf den bri­ Rediker 14 Jahre später den imposanten Entwurf tisch-imperial geprägten Nordatlantik und ide­ einer „Geschichte des revolutionären Atlantiks“ engeschichtliche Fragen verengt, ließen sie sich vor. Geteilte Erfahrungen und Motive vereinten unschwer als traditionsbildende Rechtfertigungs­ demnach verschiedene Gruppen von Besitzlosen erzählungen für das Konzept einer westlichen über das Meer hinweg zu einem atlantischen Pro­ Wertegemeinschaft lesen. letariat, das im 17. und 18. Jahrhundert als Anta­ Bald jedoch löste sich die Geschichtsschrei­ gonist zur Formierung der kapitalistischen Welt­ bung zum Atlantik aus ihrem ideologischen Ent­ wirtschaft auftrat. 16 stehungszusammenhang. Studien über die atlanti­ Betrachtungen der übrigen Weltmeere als schen Imperien der iberischen Seemächte 11 und die Geschichtsräume ließen nicht lange auf sich war­ transmaritimen Beziehungen afrikanischer und la­ ten. Bereits 1961 reüssierte der mauritische Ar­ teinamerikanischer Gesellschaften erweiterten das chivar Auguste Toussaint mit einer Geschichte Forschungsfeld nicht nur regional, sondern auch des Indischen Ozeans. 17 Daran anknüpfend und thematisch – unter anderem um religions- und mi­ den Ansatz von Braudel erweiternd analysierte grationsgeschichtliche Aspekte. 12 Überdies bilde­ der indische Historiker Kirti Chaudhuri in den te sich seit Ende der 1960er Jahre ein Forschungs­ 1980er Jahren die Welt des Indischen Ozeans als zweig zum atlantischen Sklavenhandel heraus, 13 ein räumliches System, in dem über Jahrhunder­ dessen Einsichten in raumsystemische Zusammen­ te gewachsene, durch die Monsunwinde rhyth­ hänge auch Studien zum Atlantikhandel etwa mit misierte Fernhandelsbeziehungen weitreichende Zucker, Mais oder Tabak befruchtet haben. 14 migratorische, religiöse und kulturelle Verflech­ Parallel zu diesen Entwicklungen versuchten tungen hervorgebracht haben. 18 Manche Ge­ Historiker, auch den Widerstand gegen die be­ sellschaften, die weit entfernt voneinander am schriebenen westlichen Ordnungsmodelle atlan­ und mit dem afro-asiatischen Meer lebten, ver­ tisch herzuleiten. 1986 identifizierte Julius Sher­ band oft mehr untereinander als mit benachbar­ rard Scott die Kommunikation unter Seeleuten, ten Gesellschaften im Landesinnern. Von dieser Hafenarbeitern und weiteren Subalternen als ent­ Beobachtung her haben Historiker des Indi­ scheidenden Faktor dafür, dass sich Nachrichten schen Ozeans die „litorale Gesellschaft“ (Küs­ über soziale Unruhen in der Zeit der Haitiani­ tengesellschaft) als spezifischen Typus histori­ schen Revolution in Windeseile über das Karibi­ scher Gesellschaften konzeptualisiert. 19 Fragen sche Meer verbreiteten. 15 In Erweiterung dieser nach der Übertragbarkeit dieses Ansatzes, den distinktiven Merkmalen des Indiks und seiner Stellung im globalen Zusammenhang haben vie­ 10 Vgl. John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine le weitere Studien angeregt. 20 Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975. 11 Vgl. Pierre Chaunu/Huguette Chaunu, Séville et l’Atlantique 16 Vgl. Peter Linebaugh/Marcus Rediker, The Many-Headed (1504–1650), 12 Bde., Paris 1955–1960. Hydra. Sailors, Slaves, Commoners, and the Hidden History of the 12 Einen Überblick gibt Bernard Bailyn, Atlantic History, Cam- Revolutionary Atlantic, Boston 2000. bridge 2005. Seither erschienen u. a. Thomas Benjamin, The Atlan- 17 Vgl. Auguste Toussaint, Histoire de l’Ocean Indien, Paris 1961. tic World. Europeans, Africans, Indians and their Shared History, 18 Vgl. Kirti N. Chaudhuri, Asia before Europe. Economy and 1400–1900, Cambridge 2009; Susanne Lachenicht, Hugenotten Civilization of the Indian Ocean from the Rise of Islam to 1750, in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Cambridge 1990. Frühen Neuzeit, Frankfurt/M.–New­ York 2010; Ulrike Schmieder/ 19 Vgl. Michael Pearson, Littoral Society, in: Journal of World Hans-Heinrich Nolte (Hrsg.), Atlantik. Sozial- und Kulturgeschichte History 4/2006, S. 353–373. in der Neuzeit, Wien 2010. 20 Einschlägig sind insbesondere die Arbeiten von Edward 13 Für einen Wegbereiter vgl. Philip Curtin, The Atlantic Slave Alpers, Gwyn Campbell, Ashin Das Gupta, Kenneth McPherson Trade, Madison 1969. und Michael Pearson. Zur in Deutschland und Österreich betrie- 14 Vgl. Alfred Crosby, The Columbian Exchange: Biological and benen Forschung siehe Roderich Ptak, Die maritime Seidenstraße. Cultural Consequences of 1492, Westport 1972; Sidney Mintz, Küstenräume, Seefahrt und Handel in vorkolonialer Zeit, München Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History, New 2007; Dietmar Rothermund/Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Hrsg.), York 1985; Marcy Norton, Sacred Gifts, Profane Pleasures: A His- Der Indische Ozean. Das afro-asiatische Mittelmeer als Kultur- tory of Tobacco and Chocolate in the Atlantic World, Ithaca 2008. und Wirtschaftsraum, Wien 2004; Jan-Georg Deutsch/Brigitte 15 Vgl. Julius S. Scott, The Common Wind. Currents of Afro- Reinwald (Hrsg.), Space on the Move. Transformations of an Indian American Communication in the Era of the Haitian Revolution, Ocean Seascape in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, Dissertation, Duke University 1986. Berlin 2002.

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Ebenfalls in den 1960er Jahren avancierte der ner hermeneutisch orientierten Kulturgeschichts­ Pazifik zum Gegenstand der Geschichtsschrei­ forschung entwickelte sich in den 1980er Jahren bung. 21 Unter dem Eindruck der zeitgleichen zu einem zentralen Spannungsfeld innerhalb der Unabhängigkeitswerdung weiter Teile der ozea­ Geschichtswissenschaft. Wahlweise in Opposi­ nischen Inselwelt orientierten sich dahingehen­ tion oder Ergänzung zu der Tendenz, maritime de Studien früh an postkolonialen Theorie- und Welten und Netzwerke den Panoramaperspekti­ Kritikansätzen. Ein in Canberra begründeter ven sozialhistorischer Großentwürfe einzuverlei­ Forschungsstrang legte das Hauptgewicht auf das ben, erkundeten Historiker – und immer häufi­ Handlungsvermögen indigener Inselgesellschaf­ ger auch Historikerinnen – den Geschichtsraum ten; schulenbildende Kontroversen entbrannten Meer verstärkt in kultur-, alltags- und mikroge­ um die Gewichtung der europäischen Kolonial­ schichtlichen Betrachtungen. präsenz und um die Erklärung der Tötung des In einer Kulturgeschichte der Küste zeigte Seefahrers James Cook 1779 auf Hawaii. 22 Ne­ Alain Corbin 1988, wie sich in Europa der lan­ ben sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Un­ ge als bedrohlich gefürchtete Grenzraum zwi­ tersuchungen, die meist auf Inseln fokussierten, schen Land und Meer im Zuge von Aufklärung entstanden bald auch kulturgeschichtliche Stu­ und Romantik in einen Sehnsuchtsort verwan­ dien. 23 Diese griffen nicht nur die selbstreflexi­ delte. Wie die neuzeitliche „Meereslust“ über die ven Ansätze der Kultur- und Sozialanthropolo­ Ebene populärer Imaginationen hinaus die ma­ gie auf, sondern konzeptualisierten auch Schiffe terielle Gestalt von Küsten verändert hat, legte und Strände als spezifische Typen historischer der Landschaftshistoriker John Stilgoe am Fall Kontaktzonen. 24 Nicht zufällig finden sich un­ Neuenglands eindrucksvoll dar. 26 Untersuchun­ ter den Vordenkern der historisch-anthropologi­ gen, die Meeres- und Küstenräume in Anleh­ schen Strömung der Geschichtsforschung man­ nung daran als Projektionsflächen für Phantasien, che Historiker des Pazifiks. 25 Wünsche und Emotionen in den Blick nehmen, können sich auf eine Überlegung von Michel GEGENRÄUME Foucault stützen. Schon in den 1960er Jahren UND EIGENWELTEN hatte der französische Philosoph die Bedeutung der neuzeitlichen Seefahrt als „Reservoir für die Die in der Historiografie zum Pazifik früh beob­ Phantasie“ herausgestellt und Schiffe als idealty­ achtbare Polarisierung zwischen einer empirisch pisches Beispiel für sein Konzept der „Hetero­ ausgerichteten Sozialgeschichtsforschung und ei­ topien“ benannt: randständige Orte, die in einer Gesellschaft als normabweichend gelten und sich deshalb in besonderem Maße eignen, Illusionen 21 Vgl. etwa Ron G. Crocombe, Land Tenure in the Pacific, einer anderen Wirklichkeit anzuregen. 27 Oxford 1971; Jim Davidson, Problems of Pacific History, in: Journal of Pacific History 1/1966, S. 5–21; Harry Maude, Of Islands Einen kulturgeschichtlichen Zugriff auf das and Men, Melbourne 1968; Dorothy Shineberg, They Came for Meer, der dieses in ähnlicher Weise als Gegen­ Sandalwood. A Study of the Sandalwood Trade in the South-West raum begreift, legte 1993 der britische Soziologe Pacific, 1830–1865, Melbourne 1967. Paul Gilroy vor. In seiner Studie über die He­ 22 Vgl. Kerry Howe, The Fate of the „Savage“ in Pacific Historio- rausbildung der Schwarzen Diaspora in der Fol­ graphy, in: New Zealand Journal of History 2/1977, S. 137–154; Alan Moorehead, The Fatal Impact. An Account of the Invasion of ge des Sklavenhandels konzipierte er den Atlan­ the South Pacific, 1767–1840, New York 1966; Gananath Obey- tik als Entstehungsraum einer Gegenkultur zur esekere, The Apotheosis of Captain Cook. European Mythmaking westlichen Moderne. 28 Gilroys „Black Atlan­ in the Pacific, Princeton 1992; Marshall D. Sahlins, How „Natives“ tic“ begründete einen Forschungszweig zur Ge­ Think. About Captain Cook, for Example, Chicago 1995. schichte afro-atlantischer Selbstverständigung 23 Einen Überblick geben Donald Denoon et al. (Hrsg.), The Cambridge History of the Pacific Islanders, Cambridge 1997. und inspirierte weitere Diasporastudien, etwa 24 Vgl. Greg Dening, Islands and Beaches. Discourse on a Silent Land – Marquesas 1774–1880, Honolulu 1980. Zum Konzept der 26 Vgl. Alain Corbin, Le territoire du vide. L’occident et le désir Kontaktzone in der meeresbezogenen Geschichtsforschung siehe du rivage, 1750–1840, Paris 1988; John R. Stilgoe, Alongshore, Gesa Mackenthun/Bernhard Klein (Hrsg.), Das Meer als kulturelle New Haven–London 1994. Kontaktzone, Konstanz 2003. 27 Vgl. Michel Foucault, Die Heterotopien, der Utopische Körper. 25 Vgl. Greg Dening, History’s Anthropology. The Death of Wil- Zwei Radiovorträge, Berlin 2013, S. 7–22. liam Gooch, Lanham–London 1988; Marshall D. Sahlins, Historical 28 Vgl. Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Metaphors and Mythical Realities, Ann Arbor 1981. Consciousness, Cambridge 1993.

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über die Iren in der Atlantischen Welt („Green Gesetzgebungen und Rechtsordnungen, Schiff­ Atlantic“). 29 In seiner großen Frage- und Beob­ fahrtsunternehmen, Hafen- und Transportin­ achtungsreichweite steht Gilroys Ansatz den fra­strukturen sowie die Geschlechterkultur der sozialhistorischen Studien über die Welten der Seefahrt – letztere popularisiert etwa durch die Weltmeere durchaus nahe. Als lohnender Weg, britische Historikerin Jo Stanley. 32 Jüngere For­ kultur- und sozialgeschichtliche Perspektiven schungszweige befassen sich mit der Geschich­ zusammenzuführen, sollte sich indes das mikro­ te von Tauchen und Surfen, von Yachtsport und geschicht­liche Verfahren erweisen. So hat der Kreuzfahrttourismus, vom Lesen und Schreiben australische Historiker Greg Dening in einer an Bord, von Schiffstieren, Meeresgöttern, Mu­ Studie über die berühmt gewordene Meuterei sikkulturen – die Liste ließe sich schier endlos auf der „Bounty“ 1789 im Südpazifik das Schiff fortführen. als eine Bühne metaphorisiert, auf der sich neu­ zeitliche Sozialpraktiken und Kulturtechniken AKTEURE in nuce studieren lassen. 30 UND LEBENSRÄUME Das in den 1980er Jahren zunehmende For­ schungsinteresse an Schiffen – in Deutschland Obschon manche Forschungsstränge und Zu­ als „Schifffahrtsgeschichte“ gefasst – speiste sich gangsweisen noch gar nicht genannt sind – etwa auch aus aufsehenerregenden Funden der Un­ aus der Umweltgeschichte oder der Alten und terwasserarchäologie, Nachbauten historischer Mittelalterlichen Geschichte –, zeigt sich deut­ Wasserfahrzeuge und außerwissenschaftlichen lich: Trotz ihrer relativen Ortsarmut entziehen Impulsen wie der Präsenz maritimer Sujets in der sich die Meere dem Zugriff der Geschichtswis­ Populärkultur. Im Zusammenspiel mit der Res­ senschaft keineswegs. Den einen historischen Ort taurierung historischer Segel- und Dampfschiffe des Ozeans gibt es indes nicht, vielmehr schei­ in einer wachsenden Zahl maritimer Museen er­ nen sich die Perspektiven auf den Geschichts­ fuhren zugleich die Technik- und Wirtschaftsge­ raum Meer beständig zu vervielfältigen und schichte der Seefahrt einen Aufschwung. 31 auszudifferenzieren. Aus der Beschäftigung damit kam 1986 der Und heute? Unter den in jüngster Zeit er­ Anstoß für die Gründung einer internationalen starkten Forschungsbereichen erkennt gerade Maritime Economic History Group, aus der die die Globalgeschichte den Meeren eine eminen­ heutige International Maritime History Associ­ te Bedeutung zu – resultierten doch Prozes­ ation hervorging. Um die Vereinigung und ihre se globaler Interaktion und Integration für den Zeitschrift, das „International Journal of Mariti­ längsten Teil der Geschichte aus transmaritimen me History“, formierte sich eine neuartige For­ Bewegungen. 33 Globalgeschichtliche Untersu­ schungsrichtung, die maritime Geschichte. Ihr chungen, die in Anlehnung an Verfahren der geht es gewissermaßen um Spezialisierung ohne mobilen Ethnografie den Bewegungen von Men­ Verengung: Mit der Marinegeschichtsschreibung schen, Objekten oder etwa Metaphern folgen, 34 verbindet sie der Anspruch, das meeresbezoge­ vermögen die Meere aus dem Containerraum- ne historische Geschehen in seinen spezifischen Denken zu lösen, das manche Forschungen etwa Eigenheiten zu durchdringen – anstatt die Meere zur atlantischen Geschichte noch immer durch­ bloß ergänzend in sozial- oder kulturgeschichtli­ wirkt. Allerdings durchdringen auch die glo­ che Großerzählungen zu integrieren. Anders aber balhistorischen Studien die maritime Dimen­ als die klassische Marinegeschichte bietet die ma­ ritime Geschichte eine breite thematische Offen­ heit. Zu ihren Dauerthemen zählen der Arbeits- 32 Vgl. Jo Stanley, Women and the Royal Navy, New York 2017. und Lebensalltag auf Schiffen, meeresbezogene 33 Vgl. Patrick Manning, Global History and Maritime History, in: International Journal of Maritime History 1/2013, 29 Vgl. Peter D. O’Neill/David Lloyd (Hrsg.), The Black and Green S. 1–22. Atlantic, Basingstoke 2009. 34 Vgl. Robert Harms, The Diligent. A Voyage Through the 30 Vgl. Greg Dening, Mr Bligh’s Bad Language, Cambridge Worlds of the Slave Trade, New York 2002. Zur mobilen Ethno- 1992. grafie vgl. James Clifford, Routes. Travel and Translation in the 31 Vgl. Lars U. Scholl (Hrsg.), Technikgeschichte des industri- Late Twentieth Century, Cambridge 1997; George E. Marcus, ellen Schiffbaus in Deutschland, 3 Bde., Hamburg–Wiefelstede Ethnography in/of the World System, in: Annual Review of Anthro- 1994–2014. pology 24/1995, S. 95–117.

45 APuZ 51–52/2017 sion ihrer Themen unterschiedlich tief. Durch mögen nichtmenschlicher Entitäten etwa an der den Rückgriff auf Einsichten der maritimen Ge­ Geschichte des Walfangs zeigen: Indem Wale in schichte gelangen manche frische Perspektiven ihrem Wanderungsverhalten die Routen ihrer auf das Gewordensein der globalisierten Gegen­ Jäger maßgeblich vorbestimmten, gestalteten sie wart. 35 Viele Untersuchungen aber bringen die die ab Mitte des 18. Jahrhunderts global dimen­ Meere kaum als distinktive Geschichtsräume zur sionierte Topografie des Walfangs ihrerseits mit. Geltung. Der Schifffahrts- und Fischereihistori­ Einen mittelbaren Anteil hatten die Tiere folg­ ker Ingo Heidbrink spricht von dieser Leerstelle lich auch am Provianthandel der Walfänger mit als dem „blauen Loch“ der Globalgeschichtsfor­ Küstengesellschaften, von denen manche da­ schung; zu ihren Ursachen zählt er einen Man­ durch erst in maritime Interaktionsnetze einge­ gel an meereskundlichem Wissen unter Histori­ bunden wurden. 40 kerinnen und Historikern. 36 Am Thema des Walfangs erweist sich zuletzt Unterzieht man jenes meereskundliche Wis­ exemplarisch, wie die Geschichtsforschung über sen seinerseits einer Historisierung, so erweitert die Meere durch die Erweiterung ihrer Themen sich der Blick auf den Geschichtsraum Meer um und Herangehensweisen ein vielversprechendes zusätzliche Facetten. Die Geschichte der wissen­ Potenzial für die inner- und interdisziplinäre Zu­ schaftlichen Exploration des Antarktischen Oze­ sammenarbeit aufgebaut hat. So haben Forsche­ ans etwa offenbart, dass dieser den Forschenden rinnen und Forscher aus der Geschichtswissen­ eine Fülle von Antizipations- und Anpassungs­ schaft und der Meeresbiologie von 2000 bis 2010 handlungen abverlangte – vom Bau geeigneter gemeinsam Logbücher nordamerikanischer Wal­ Schiffe über die Konstruktion passender Instru­ fänger ausgewertet, um Einsichten in die histori­ mente bis hin zur Entwicklung angemessener schen Bestandsgrößen und Migrationswege von Verfahren der Datenerhebung. 37 Studien zur Wis­ Walpopulationen zu gewinnen. 41 Ähnlich ange­ sensgeschichte, einem derzeit ebenfalls stark be­ legte Kooperationsprojekte nutzen die auf Schif­ forschten Feld, legen es angesichts solcher Prä­ fen geführten Wetteraufzeichnungen, um histori­ gekräfte nahe, die Meere ihrerseits als Akteure in schen Klimaveränderungen nachzuspüren. 42 Im historischen Prozessen zu begreifen. 38 Zeichen des Klimawandels und der fortschreiten­ Dazu kann die Wissensgeschichte – und den Zerstörung mariner Lebensräume scheint die nicht nur sie – an Ideen von Bruno Latour an­ meeresbezogene Geschichtsforschung auch wie­ knüpfen. Der französische Soziologe hat die so­ der unter Anwendungsgesichtspunkten gefragt ziale Welt als ein Netzwerk konzipiert, das auch zu sein. Der Marinegeschichtsschreibung des Dinge und Tiere agierend ausgestalten. 39 Auf die 19. Jahrhunderts ist sie damit näher gerückt, als Meere gewendet lässt sich das Handlungsver­ ihre Vertreterinnen und Vertreter es selbst wohl erwartet hätten.

35 Vgl. Charles C. Mann, 1493. Uncovering the New World Columbus Created, New York 2011; Lincoln Paine, The Sea and Civilization. A Maritime History of the World, New York 2013. 36 Vgl. Ingo Heidbrink, Closing the „“. Maritime History as a Core Element of Historical Research, in: International Journal of Maritime History 2/2017, S. 325–332. 37 Vgl. Pascal Schillings, Der letzte weiße Flecken. Europäische Antarktisreisen um 1900, Göttingen 2016. 38 So einige Beiträge in Alexander Kraus/Martina Wink- ler (Hrsg.), Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2014. 39 Zunächst in Bruno Latour, Les microbes. Guerre et paix suivi de irréductions, Paris 1984. 40 Vgl. Felix Schürmann, Der graue Unterstrom. Walfänger und FELIX SCHÜRMANN Küstengesellschaften an den tiefen Stränden Afrikas, 1770–1920, ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Frank­furt/M.–New York 2017. Mitarbeiter an der Universität Kassel. 2017 41 Vgl. Tim D. Smith et al., Spatial and Seasonal Distribution of erschien seine Monografie „Der graue Unterstrom. American Whaling and Whales in the Age of Sail, in: PLoS ONE 4/2012. Walfänger und Küstengesellschaften an den tiefen 42 Siehe etwa www.oldweather.org oder http://icoads.noaa. Stränden Afrikas, 1770–1920“. gov/reclaim. [email protected]

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